Kollektive Entscheidungsprozesse 9783534402045, 9783534402069, 9783534402052, 3534402049

Kollektive Entscheidungsprozesse entwickeln nicht selten eine Komplexität, die die Komplexität ihres Entscheidungsgegens

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Kapitel 1: Einführung
Entscheidungshandeln
Voluntarismus oder Determinismus
Taten oder Prozesse
Entscheidungsforschung
Theoretische Zugänge
Empirische Forschung
Vorgehen
Kapitel 2: Das Kollektive
Individuelle und Kollektive Entscheidungen
Unhintergehbarkeit
Rationalitätsfallen
Handlungslogiken
Das Kollektiv als Akteur
Kollektiver Geist
Organisationale Identität
Moral und Personschaft
Ebenenvermittlung
Individuelle und kollektive Vorstellungen
Erwartungen und Wirkungen
Regelung und Verständigung
Kapitel 3: Entscheidungen als Prozesse
Charakteristika des kollektiven Entscheidungsgeschehens
Die Lokalisierung der Entscheidung
Verschachtelung
Inkrementalismus
Inhalte und Prozessmerkmale
Teilnehmer
Verlauf kollektiver Entscheidungsprozesse
Prozessmerkmale
Typisierungen
Abgrenzungen
Basis-Aktivitäten
Kapitel 4: Einflussgrößen, Strukturen, Mechanismen
Die Beeinflussung des Entscheidungsprozesses
Mechanismen des Entscheidungshandelns
Die Natur von Mechanismen
Die Pluralität von Mechanismen
Die Bestandteile von Mechanismen
Handlungsstrukturen und Handlungssituationen
Strukturelemente
Situationselemente
Basiselemente der Sozialstruktur
Kapitel 5: Aufmerksamkeit
Phänomene
Aufmerksamkeit für Probleme
Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Definition
Kollektive Aufmerksamkeit
Einflussfaktoren
Handlungsstruktur
Handlungssituation
Theoretische Ansätze
Ökonomie der Aufmerksamkeit
Organisationen als Systeme verteilter Aufmerksamkeit
Endogen bestimmte Unaufmerksamkeit
Strukturwirkungen
Organisation
Kultur
Macht
Personen
Kapitel 6: Die Definition des Problems
Phänomene
Sprechen als Handeln
Stilfragen in der Problembegegnung
Die kollektive Definition der Situation
Einflussfaktoren
Handlungsstruktur
Handlungssituation
Theoretische Ansätze
Informieren, argumentieren, revidieren
Klären, verhandeln, rationalisieren
Erwarten, einrahmen, verankern
Strukturwirkungen
Organisation
Kultur
Macht
Personen
Kapitel 7: Die Handhabung von Problemen
Phänomene
Qualität
Regeln
Verhalten
Einflussfaktoren
Handlungsstruktur
Handlungssituation
Theoretische Ansätze
Dominanz
Regulierung
Dynamik
Strukturwirkungen
Organisation
Kultur
Macht
Personen
Kapitel 8: Die Umsetzung von Entscheidungen
Phänomene
Akteure der Entscheidung und Akteure der Umsetzung
Partizipation als Scharnier
Entscheidungen und kein Ende
Einflussfaktoren
Handlungsstruktur
Handlungssituation
Theoretische Ansätze
Entscheidungen und Heuchelei
Elemente der Umsetzung: Intelligenz, Aktivität, Ressourcen
Logik der Umsetzung: Teilnehmer, Prämissen, Regeln
Strukturwirkungen
Organisation
Kultur
Macht
Personen
Kapitel 9: Der Lauf der Dinge
Geschehen und Entscheiden
Kräftefelder und Mechanismen
Literatur
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 9783534402045, 9783534402069, 9783534402052, 3534402049

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Albert Martin

Kollektive Entscheidungsprozesse

Albert Martin

Kollektive Entscheidungsprozesse

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar

wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2019 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Einbandabbildung: © vectortau - istockphoto.com Satz und eBook: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40204-5 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-40206-9 eBook (epub): 978-3-534-40205-2

Inhalt Kapitel 1: Einführung ......................................................................................... 9  Entscheidungshandeln ............................................................................... 11  Voluntarismus oder Determinismus ................................................. 11  Taten oder Prozesse .............................................................................. 16  Entscheidungsforschung ............................................................................ 20  Theoretische Zugänge .......................................................................... 20  Empirische Forschung ......................................................................... 25  Vorgehen ...................................................................................................... 35  Kapitel 2: Das Kollektive .................................................................................. 38  Individuelle und Kollektive Entscheidungen .......................................... 38  Unhintergehbarkeit .............................................................................. 45  Rationalitätsfallen ................................................................................. 51  Handlungslogiken................................................................................. 55  Das Kollektiv als Akteur............................................................................. 61  Kollektiver Geist.................................................................................... 66  Organisationale Identität ..................................................................... 69  Moral und Personschaft ....................................................................... 72  Ebenenvermittlung ..................................................................................... 75  Individuelle und kollektive Vorstellungen ........................................ 76  Erwartungen und Wirkungen ............................................................. 79  Regelung und Verständigung.............................................................. 82  Kapitel 3: Entscheidungen als Prozesse .......................................................... 86  Charakteristika des kollektiven Entscheidungsgeschehens .................. 87  Die Lokalisierung der Entscheidung .................................................. 87  Verschachtelung.................................................................................... 90  Inkrementalismus ................................................................................. 92  Inhalte und Prozessmerkmale............................................................. 95  5

Teilnehmer ............................................................................................ 98  Verlauf kollektiver Entscheidungsprozesse .......................................... 100  Prozessmerkmale ................................................................................ 101  Typisierungen ..................................................................................... 107  Abgrenzungen..................................................................................... 117  Basis-Aktivitäten....................................................................................... 122  Kapitel 4: Einflussgrößen, Strukturen, Mechanismen ............................... 126  Die Beeinflussung des Entscheidungsprozesses ................................... 126  Mechanismen des Entscheidungshandelns .......................................... 130  Die Natur von Mechanismen ........................................................... 130  Die Pluralität von Mechanismen ..................................................... 133  Die Bestandteile von Mechanismen ................................................ 138  Handlungsstrukturen und Handlungssituationen .............................. 141  Strukturelemente ................................................................................ 143  Situationselemente ............................................................................. 146  Basiselemente der Sozialstruktur ..................................................... 148  Kapitel 5: Aufmerksamkeit ............................................................................ 162  Phänomene ................................................................................................ 162  Aufmerksamkeit für Probleme ......................................................... 163  Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Definition ................................ 165  Kollektive Aufmerksamkeit .............................................................. 167  Einflussfaktoren ........................................................................................ 170  Handlungsstruktur ............................................................................. 171  Handlungssituation............................................................................ 173  Theoretische Ansätze ............................................................................... 176  Ökonomie der Aufmerksamkeit ...................................................... 177  Organisationen als Systeme verteilter Aufmerksamkeit ............... 179  Endogen bestimmte Unaufmerksamkeit ........................................ 182  Strukturwirkungen ................................................................................... 185  Organisation........................................................................................ 185  Kultur ................................................................................................... 188  Macht ................................................................................................... 193  Personen .............................................................................................. 197 

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Kapitel 6: Die Definition des Problems ........................................................ 201  Phänomene ................................................................................................ 201  Sprechen als Handeln ......................................................................... 202  Stilfragen in der Problembegegnung................................................ 206  Die kollektive Definition der Situation ............................................ 208  Einflussfaktoren......................................................................................... 212  Handlungsstruktur ............................................................................. 212  Handlungssituation ............................................................................ 215  Theoretische Ansätze................................................................................ 221  Informieren, argumentieren, revidieren.......................................... 221  Klären, verhandeln, rationalisieren .................................................. 224  Erwarten, einrahmen, verankern ...................................................... 228  Strukturwirkungen.................................................................................... 230  Organisation ........................................................................................ 230  Kultur ................................................................................................... 235  Macht .................................................................................................... 239  Personen ............................................................................................... 243  Kapitel 7: Die Handhabung von Problemen ............................................... 246  Phänomene ................................................................................................ 246  Qualität ................................................................................................. 248  Regeln ................................................................................................... 253  Verhalten.............................................................................................. 256  Einflussfaktoren......................................................................................... 261  Handlungsstruktur ............................................................................. 262  Handlungssituation ............................................................................ 269  Theoretische Ansätze................................................................................ 275  Dominanz ............................................................................................ 275  Regulierung.......................................................................................... 283  Dynamik ............................................................................................... 289  Strukturwirkungen.................................................................................... 299  Organisation ........................................................................................ 299  Kultur ................................................................................................... 302  Macht .................................................................................................... 307  Personen ............................................................................................... 310 

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Kapitel 8: Die Umsetzung von Entscheidungen ......................................... 315  Phänomene ................................................................................................ 315  Akteure der Entscheidung und Akteure der Umsetzung ............. 318  Partizipation als Scharnier ................................................................ 320  Entscheidungen und kein Ende........................................................ 322  Einflussfaktoren ........................................................................................ 326  Handlungsstruktur ............................................................................. 328  Handlungssituation............................................................................ 330  Theoretische Ansätze ............................................................................... 333  Entscheidungen und Heuchelei ....................................................... 333  Elemente der Umsetzung: Intelligenz, Aktivität, Ressourcen ...... 335  Logik der Umsetzung: Teilnehmer, Prämissen, Regeln ................ 342  Strukturwirkungen ................................................................................... 345  Organisation........................................................................................ 345  Kultur ................................................................................................... 348  Macht ................................................................................................... 353  Personen .............................................................................................. 356  Kapitel 9: Der Lauf der Dinge ....................................................................... 361  Geschehen und Entscheiden ................................................................... 361  Kräftefelder und Mechanismen .............................................................. 364  Literatur............................................................................................................ 368 

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Kapitel 1: Einführung Entscheidungen begründen Krieg und Frieden, Wohlstand und Elend, Freiheit und Willkür. Gesetze werden verabschiedet, Abgaben erhoben, Mittel werden zugeteilt. Entscheidungen bestimmen die Programmatik von Parteien, die Ziele von Organisationen, die Tagesordnung von Gremien, das Vorgehen von Aktionsgruppen, das Zusammenleben von Familien. In allen sozialen Gruppierungen werden Entscheidungen getroffen. Unternehmen entscheiden darüber, welche Marktstrategien sie verfolgen wollen, ob sie investieren, Innovationen vorantreiben, Personal einstellen usw. Jede Gruppe entscheidet darüber, wer dazugehören soll, wer welche Aufgabe übernimmt und sie entscheiden nicht nur konkret über inhaltliche Fragen, sondern auch darüber, wie man zu Entscheidungen kommt. Entscheidungen verändern das Leben, Entscheidungen bestimmen darüber, welchen Beruf man ergreift, welche Bücher man liest, wie heftig man arbeitet, was man mit sich und seiner freien Zeit anfängt, wen man trifft, wem man aus dem Weg geht, was man mit seinem Geld macht, wie man seine Wohnung einrichtet, wie man seine Kinder lobt, ob man ein Vorhaben verschiebt oder nicht, ob man links oder rechts abbiegt, ob man lügt, bekennt oder schweigt usw. Entscheidungen gibt es im Großen und im Kleinen, wobei kleine Entscheidungen große Wirkungen haben und große Entscheidungen folgenlos bleiben können. Entscheidungen betreffen die unterschiedlichsten Dinge, schreckliche Verbrechen ebenso wie die größten Wohltaten, das Alltägliche wie das Außergewöhnliche, das Banale wie das Erhabene, das Vorhersehbare wie das Ungewisse. Und Entscheidungen betreffen alle Themen: Geld, Liebe, Gesundheit, Politik, Arbeit, Lebensführung, soziales Engagement usw. Um Entscheidungen geht es offenbar in allem, wo immer Menschen etwas tun oder nicht tun. Da liegt die Frage nahe, ob sich über diese vielen verschiedenartigen Entscheidungen überhaupt etwas Gemeinsames sagen lässt, etwas, das allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann. Und die Komplikationen steigen naturgemäß, wenn es sich nicht um Entscheidungen einzelner Personen handelt, sondern um kollektive Entscheidungen, um die sich ein mitunter kaum 9

noch überschaubarer Teilnehmerkreis gruppiert, in dem die Teilnehmer zu unterschiedlichen Zeiten, bei unterschiedlichen Gelegenheiten, mit je eigenen Interessen, in persönlicher Betroffenheit (als Beauftragte, als Rollenträger), mehr oder weniger direkt, offen oder verdeckt mit selektiven und nicht immer leicht durchschaubaren Aktionen in den Entscheidungsprozess eingreifen. Wobei sich das Wesen der kollektiven Entscheidung nicht darin erschöpft, dass mehrere Akteure an der Entscheidung beteiligt sind, denn Entscheidungen betreffen und binden nicht nur die Entscheider, sondern auch Dritte, diese nicht selten sogar deutlich mehr als die Entscheider selbst. Streng genommen, sollte man daher die von einer Entscheidung Betroffenen und deren Reaktionen in die Betrachtung mit einbeziehen. Eigentlich lässt sich das gar nicht vermeiden, jedenfalls sofern man die Umsetzung einer Entscheidung nicht ausblenden will. In einem weiteren Sinn betrifft das Kollektive außerdem den Einfluss, den das Sozialsystem insgesamt auf die Entscheidungsfindung nimmt. Letztlich gibt es in diesem Sinn gar keine individuellen Entscheidungen, weil das Soziale, wenn schon nicht materiell, dann doch immer mental präsent ist, etwa als Beobachtung, Erwartung oder Norm. Und auch auf die Wirkungsseite hin sind individuelle Entscheidungen letztlich immer auch kollektive Entscheidungen, weil es praktisch keine noch so privaten Entscheidungen gibt, die in ihren Folgen nicht auch andere Personen betreffen. Angesichts der Vielzahl, Verschiedenheit und Vielschichtigkeit der Kräfte, die auf einen Entscheidungsprozess einwirken, gesellt sich zur Frage, ob es überhaupt allgemeingültige Erkenntnisse über die Entscheidungsfindung geben kann, die Frage nach der Komplexität. Gemeint ist damit die Frage, ob es möglich ist, zu robusten Aussagen zu gelangen, die in der Lage sind, das Zusammenwirken der zahlreichen und oft auf unterschiedlichen Verhaltensebenen angesiedelten Einflussgrößen bündig zu beschreiben. Mit beiden Fragen muss sich die Forschung über kollektive Entscheidungsprozesse auseinandersetzen. Sie stößt damit auf etliche Probleme, aber, wie das vorliegende Buch zeigen soll, hat man es dabei nicht mit unlösbaren Problemen zu tun.

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Entscheidungshandeln Was tun, wenn das Erkenntnisobjekt gar kein Objekt, sondern ein Subjekt ist? Subjekte bestimmen ihr Verhalten nach eigenem Ermessen, sie gehorchen keinen vorgegebenen Verhaltensgesetzen, sie geben sich die Regeln, nach denen sie sich verhalten, selbst und heben sie nach Gutdünken auch wieder auf. Bereits in dem Wort „Entscheidung“ steckt der Anspruch auf Selbstbestimmung, man entscheidet sich selbstbewusst für das eine, obwohl man sich auch für etwas Anderes entscheiden könnte. Wie sollte es unter diesen Umständen möglich sein, Aussagen zu treffen, die das menschliche Verhalten erklären und vorhersagen können? Um diese Frage geht es im nächsten einführenden Abschnitt. Der darauffolgende Abschnitt behandelt die Frage, was eine Entscheidung ist, ob es sinnvoll ist, mit der Entschlussfassung einen besonderen Verhaltensakt herauszuheben, was es heißt, dass sich mit der Entscheidung zahlreiche Aktivitäten verbinden und wie man sich deren Ineinandergreifen vorstellen muss.

Voluntarismus oder Determinismus Die voluntaristische Sicht bedient sich bei der Erklärung des Verhaltens der Gründe, die Personen zur Wahl ihres Verhaltens veranlassen. Die deterministische Sicht fragt dagegen allgemeiner nach den Ursachen des Verhaltens, wobei Gründe natürlich auch Ursachen sein können, aber eben nicht die einzigen und oft nicht die eigentlich entscheidenden. Der herkömmlichen Entscheidungstheorie liegt schon von ihrer Anlage her eine streng voluntaristische Sicht zugrunde, schließlich geht es bei Entscheidungen um die bewusste und willensgesteuerte Festlegung auf ein bestimmtes Verhalten. Und diese Festlegung erfolgt, so die übliche entscheidungstheoretische Annahme, auf der Grundlage eines Abwägungsprozesses, über dessen Ergebnis die Gründe entscheiden, die für die eine oder andere Verhaltensalternative sprechen. Letztlich läuft ein Entscheidungsproblem auf die Frage zu, welcher Alternative der Vorzug zu geben ist. Im Kern geht es also darum, einen Beschluss zu fassen. Dieser Beschluss entsteht aber nicht aus 11

dem Nichts heraus, er gründet vielmehr in vielen nicht selten disparaten Überlegungen. Dazu gehört z.B. die Frage, ob es überhaupt einen Anlass gibt, über eine Entscheidung nachzudenken. Damit verknüpfen sich viele weitere Fragen, auf die man im Zuge der Entscheidungsfindung eine Antwort geben muss: Bin ich mit meiner Situation zufrieden oder nicht, was stört mich, was fehlt, was wäre wünschenswert? Wie können mögliche Verbesserungen aussehen? Habe ich ein klares Bild von der Handlungssituation? Welche Informationen brauche ich, um mir darüber Klarheit zu verschaffen? Wo kann ich mich informieren? Wie verlässlich sind die Informanten und Informationen? Welches Hintergrundwissen muss ich mir zulegen? Mit welchen Lösungen wäre ich zufrieden? Welche (Teil-) Ziele muss ich erreichen? Sind die Ziele realistisch? Was kann ich tun? Muss ich überhaupt etwas tun oder ändern sich die Umstände und ergibt sich daraus von selbst eine Lösung? Welche Handlungsmöglichkeiten habe ich? Welche Mittel stehen mir zur Verfügung? Habe ich genügend Zeit? Welche Wirkungen haben welche Handlungsweisen? Gibt es irgendwelche Nebenwirkungen? Ist mit Spätfolgen zu rechnen? Wie wird die Umwelt auf mein Verhalten reagieren? Kann ich mit Unterstützung rechnen? Was könnte das Erreichen des Ziels vereiteln? Habe ich hinreichend Fähigkeiten, kann ich mir die fehlenden Fähigkeiten aneignen, kann ich Unterstützung bekommen? Habe ich genug Ressourcen für die Umsetzung meiner Entscheidung? Was geschieht, wenn meine Bemühungen scheitern? Kann ich Handlungsmotivation aufbauen und wie kann ich dafür sorgen, dass sie mir bei auftretenden Schwierigkeiten nicht verlorengeht? Kann ich dem Erfolgsdruck standhalten? Wie gehe ich mit Unsicherheit um, mit Zweifeln, mit Rückschlägen? Stehen mir Ausstiegsoptionen zur Verfügung? Weihe ich jemanden in meine Pläne ein? Passen mein Vorhaben und mein Vorgehen zu meinem Selbstbild? Wie sind meine Mittel moralisch zu bewerten? Wie umfänglich muss ich mein Vorgehen planen? Welche Strategien sollten meine Handlungsschritte anleiten? Gibt es alternative Handlungspfade? Alle diese Fragen richten sich an die eigene souveräne Person, die Herr über ihr Tun oder wenigstens über ihr Wollen ist. Selbst die Art und Weise, wie man mit den Antworten auf diese Fragen umgeht, und welche der genannten und welche weiteren Fragen man lieber vernachlässigt, bestimmt der Akteur selbst. Um das Zustandekommen einer Entscheidung zu erklären, sollte es aus dieser Sicht genügen, die Akteure nach den Antworten auf die angeführten Fragen und nach ihren Gründen für die getroffene Entscheidung zu befragen. Ob dies allerdings hinreicht, 12

kann man bezweifeln und zwar unabhängig von den methodischen Problemen einer solchen Befragung (die hier nicht interessieren sollen). Denn, so kann man einwenden, ob jemand seine Motive immer durchschaut, ob er weiß, was er tut oder sich auch nur Rechenschaft über seinen Informationsstand und seine Absichten gibt, kann man bezweifeln. Andererseits muss man darin kein Argument gegen den Voluntarismus sehen. Dieser verlangt nämlich nicht, dass der Akteur einen objektiven Blick auf alle Umstände und auch auf sich selbst hat. Verlangt wird lediglich, dass der Akteur überhaupt einen Bewusstseinsprozess durchläuft und – und das ist der wesentliche Punkt – dass er sich in seiner Entscheidung darauf stützt. Hilfreich ist es, zwei Formen des Voluntarismus und zwei Formen des Determinismus zu unterschieden. Diese seien an der Frage erläutert, wie Entscheider mit dem Zeitdruck umgehen, der nicht selten auf wichtigen Entscheidungen lastet. Voluntarismus 1: Gemäß dieser Auffassung fragt der Akteur: „Wie viel Zeit bleibt mir für die Entscheidung?“ Seine Überlegungen führen ihn zu der Überzeugung, dass er erheblich weniger Zeit hat, als ursprünglich gedacht. Er zieht daraus die Schlussfolgerung, dass er alles andere, was nichts mit dem Entscheidungsproblem zu tun hat, liegen lassen sollte, dass er seine Anstrengungen verdoppeln sollte usw. und es sind diese Überzeugungen, die die angeführten Verhaltensweisen dann auslösen. Determinismus 1: Der Akteur empfindet Zeitdruck und es ist diese Empfindung, die seine Handlungen unmittelbar lenkt, er vermehrt seine Anstrengungen oder er stellt sie – gelähmt von dem Druck – ganz ein, er sucht Hilfe, engt seine Informationssuche ein usw. und zwar je nach seinen ihm eigenen Dispositionen. Voluntarismus 2: Der Akteur empfindet Zeitdruck und zieht daraus die Schlussfolgerung, dass darunter die Qualität der Problembearbeitung leiden dürfte, weswegen er nach einigem Nachdenken zu dem Schluss kommt, dass er einen Freund um Hilfe bitten sollte. Determinismus 2: Der Akteur empfindet Zeitdruck und zieht daraus die Schlussfolgerung, dass darunter die Qualität der Problembearbeitung leiden dürfte, weswegen er beschließt, einen Freund um Hilfe zu bitten. Er kommt zu diesem Entschluss aber nicht etwa, weil er darüber gründlich nachgedacht hat, sondern aufgrund seiner Neigung, immer dann, wenn er in Schwierigkeiten gerät, quasi reflexhaft Hilfe bei seinen Freunden zu suchen. Und, selbst wenn er gründlich 13

darüber nachdenkt, ist das Ergebnis dieses Denkens nicht seine eigene Leistung, er wird vielmehr zu einem bestimmten Denkergebnis hingedrängt. Er denkt nicht, es sind seine Dispositionen, die für ihn denken. Gemäß der voluntaristischen Sicht führen Überzeugungen zu Schlussfolgerungen, die dann konkrete Verhaltensweisen veranlassen. Gemäß der deterministischen Sicht wird Verhalten dagegen nicht durch Schlussfolgerungen, sondern letztlich durch Empfindungen bestimmt. In der die Entscheidung bestimmenden Handlungskette tauchen zwar auch mentale Aktivitäten und Schlussfolgerungen auf, diese werden aber letztlich doch wieder von Empfindungen bestimmt. Welche Position, der Determinismus oder der Voluntarismus, der menschlichen Natur am ehesten spricht, lässt sich kaum allgemein belegen, wenngleich die üblicherweise diskutierten philosophischen Argumente eher für den Determinismus sprechen (aus der Vielzahl von Abhandlungen vgl. z.B. Kane 2011; Miles 2015; Russell 2017). Aber so grundsätzlich muss man das gar nicht entscheiden. In konkreten Situationen des Entscheidungshandelns scheint oft klar zu sein, welcher Anteil dem bewussten Wollen und welcher Anteil Kräften zukommt, denen man ausgeliefert ist, ob man sich dessen bewusst ist oder nicht. In der empirischen Forschung herrscht die deterministische Sichtweise, was sich schon darin zeigt, dass es primär darum geht, die „Determinanten“ des Entscheidungsverhaltens zu identifizieren. Und in den theoretisch gestützten Studien ist es im Grundsatz nicht anders, wenn man sich darum bemüht, die Wirkungsweise von Größen wie dem Anspruchsniveau, der Selbstwirksamkeit, Motiven, Einstellungen, Normen usw. nachzuweisen. Paradoxerweise ist es gerade die klassische Entscheidungstheorie, die die handelnde Person zum Verschwinden bringt. Danach sind es nämlich nicht Personen, die handeln, deren Entscheidungen werden vielmehr bestimmt von deren Präferenzen, Verhaltensalternativen und den damit verknüpften Ergebniserwartungen. Ausgehend von diesen Größen gerät die Entscheidungsfindung zum Rechenexempel. Der einzig determinierende Faktor jeder Entscheidung ist die Nutzenmaximierung, jenseits dessen bleibt kein Verhaltensspielraum. Von einem Willensbildungsprozess ist nirgendwo die Rede. Die Neigung, diesen zu ignorieren, ist besonders ausgeprägt, wenn es um die kollektive Entscheidungsfindung geht. Man bedient sich bei deren Analyse nämlich gern der fiktiven Figur des kollektiven Akteurs, der aber eigentlich keine Personeigenschaften hat, sondern eher so etwas wie der Träger von Interessen ist. Man 14

kann damit zu guten Erklärungen kommen, denn wenn man die Umstände und die Interessenlage kennt, ist es eigentlich gleichgültig, wer die Entscheidung trifft und was sich die Entscheider im Einzelnen dabei denken. Das gilt mitunter selbst bei sehr wichtigen Entscheidungen, etwa in der Außenpolitik. Ole Holsti schreibt: Die „Außenpolitik ist die nach außen gewendete Manifestation der heimischen Institutionen, Ideologien und weiterer Attribute der Politik.“ Und: „Namen und Gesichter wechseln, Interessen und politische Orientierungen nicht“ (Holsti 1976, 28). Tatsächlich ist es aber Holsti selbst, der diese Auffassung relativiert. In vielen Situationen komme es, so Holsti, sehr wohl darauf an, was die einzelnen Akteure bewegt, wie sie die Situation wahrnehmen und welche Schlüsse sie daraus ziehen. Dazu gehören die meisten Nichtroutine-Situationen, Entscheidungen des Spitzenpersonals, Situationen der Unsicherheit und Mehrdeutigkeit, Belastungssituationen und Situationen, in denen es um die langfristig zu verfolgenden Strategien geht. Wie sich aus dem Zusammenwirken mehrerer Akteure eine gemeinsam getragene Entscheidung ergibt, ist die eigentlich interessante Frage. Ob es sinnvoll ist, davon zu sprechen, dass sich dabei ein kollektiver Wille herausbildet, wird in Kapitel 2 näher untersucht. Zuvor sei jedoch noch ein grundlegender Einwand gegen den Voluntarismus, sei er nun individuell oder kollektiv gemeint, angeführt. Er betrifft die Bedeutung, die man der Rolle von Entscheidungen zuerkennen will und richtet sich gegen die Vorstellung, das soziale Geschehen werde primär durch Entscheidungen vorangetrieben, es sei gewissermaßen deren Geschöpf. Tatsächlich seien Entscheidungen aber oft nur der Schaum auf der Wellenkrone, die untergründige Strömung werde von Kräften verursacht, die wesentlich bedeutsamer sind als der Wille der Entscheider, der letztlich nur den Bewegungen der sozialen Verhältnisse folge. Diese Behauptung enthält mehr als ein Körnchen Wahrheit, sie lässt sich durch zahlreiche Beobachtungen bestätigen. Aber auf der anderen Seite findet man die Fälle, in denen Entscheidungen lanciert, inszeniert und instrumentalisiert werden. Sie sind damit also Gegenstand eines strategischen Willens und besitzen entsprechend einen voluntaristischen Akzent. Hinter einer solchen Benutzung von Entscheidungen steht häufig nicht etwa die Absicht, irgendwelche Beschlüsse umzusetzen. Stattdessen geht es primär darum, vermittels eines präsentablen Anlasses, Anhänger zu mobilisieren oder darum, zu demonstrieren, wer das Sagen hat oder auch darum, externen Forderungen nachzukommen, um sich mit offiziell beglaubigten Entscheidungen Legitimität zu sichern (Brunsson 2006, 175 ff.). 15

Taten oder Prozesse Ronald Howard schreibt: „Entscheiden ist das, was man tut, wenn man nicht weiß, was zu tun ist“ (Howard 1980, 4). Das ist zwar ein schönes Bonmot, es transportiert aber ein recht enges Verständnis vom Entscheiden. Es suggeriert, Entscheidungen seien immer herausgehobene Ereignisse, die sich vom sonstigen Verhalten deutlich abgrenzen. Außerdem kann man aus dem Zitat die Auffassung herauslesen (die Howard nicht teilt), man müsse sich angesichts des Unwissens eben festlegen, also das Abwägen beenden und die Tat wagen. Als drittes könnte man meinen, es ginge ausschließlich um den Entschluss, also um das Ergebnis, d.h. um die Auflösung des Entscheidungsproblems. Alle drei Auffassungen werden der Komplexität, die mit dem Entscheiden verbunden ist, nicht gerecht. Im gängigen Bild hat ein Entscheidungsprozess einen eindeutigen Beginn (jemand bemerkt ein Problem, das einer Lösung bedarf) und ein eindeutiges Ende (man fasst einen Beschluss, der Handlungen veranlassen soll, um das Problem in einer bestimmten Weise zu lösen). Um die Entscheidung bemüht sich ein fester Kreis von Teilnehmern, die ein Interesse an der Lösung des Entscheidungsproblems haben, manchmal aber auch nur die eigenen Interessen akzentuieren, die innerhalb der gegebenen Machtstrukturen miteinander vermittelt werden. Entscheidungen werden demnach „getroffen“, ihnen geht ein Abwägungsprozess voraus, in dem sich der Entscheider vergegenwärtigt, welche Ziele er mit der Entscheidung anstrebt und mit welchen Mitteln, Beschränkungen, Erwartungen und Einwänden, Neben- und Folgewirkungen bei der Umsetzung der Entscheidung zu rechnen ist. Er berücksichtigt dabei die Handlungsalternativen, die ihm zur Verfügung stehen und damit auch die Möglichkeit, überhaupt keine (neue) Entscheidung zu treffen, sondern alles so zu belassen, wie es ist. Diese Beschreibung vermag formal ganz gut charakterisieren, was man üblicherweise unter einer Entscheidung versteht, der Wirklichkeit des Entscheidungshandelns entspricht sie allerdings nur bedingt. Denn nach dem beschriebenen Muster werden nur sehr wenige Entscheidungen getroffen, obwohl dies natürlich durchaus vorkommt etwa bei der Überlegung, sich eine neue Wohnung oder einen anderen Arbeitsplatz zu suchen, bei der Schulwahl, beim Auto- oder beim Hauskauf usw. Ähnliches gilt nicht nur für individuelle 16

Entscheidungen, sondern auch für die Entscheidungen von Organisationen. Wenn ein Unternehmen einen Betrieb schließt, dann geht dem in aller Regel eine Entscheidung im beschriebenen Sinn voraus, ebenso bei der Personalauswahl oder bei der Gewinnverwendung. Diese Beschreibung liefert also keine völlig verkehrte Sicht der Dinge. Im Gegenteil, für viele Situationen ist sie (annäherungsweise) zutreffend. Das gilt aber nicht für die interessanten und wichtigen Entscheidungen, also für Entscheidungen, die von elementarer Bedeutung für das betreffende Sozialsystem sind und die dessen Handeln und dessen Zukunft nachhaltig bestimmen. Derartige Entscheidungen sind nämlich vornehmlich in Situationen angesiedelt, die von erheblicher Unsicherheit geprägt sind. Die Unsicherheit ergibt sich sowohl aus der Unbestimmtheit der Ziele, als auch, und vor allem, aus dem häufig sehr eingeschränkten Verständnis über die Zusammenhänge, die das Geschehen und damit die möglichen Verhaltensergebnisse bestimmen. Unter diesen Voraussetzungen werden kollektive Entscheidungsprozesse schnell unübersichtlich. Sie ziehen zahlreiche Teilnehmer an, die sich bei unterschiedlichen Entscheidungsgelegenheiten in je spezifischen Konstellationen zusammenfinden. In den Initiativen, Diskussionen und Beratungen vermischen sich die vielfältigsten Themen, die nicht immer mit der jeweiligen Problemlage wirklich verknüpft sind. Inhaltlich findet man eine Gemengelage von mehr oder weniger unverbindlichen Erörterungen, ernsthaften Grundsatzdebatten, abstrakten Strategiekonzepten, Absichtserklärungen, Plänen und pedantischen Detailbeschreibungen. Dabei durchmischt das politische Element das sachlich motivierte Bemühen, zu tragfähigen Lösungen zu gelangen. Die Teilnehmer loten wechselseitig ihre Positionen aus, es bilden sich Koalitionen, es kommt zu offiziellen Verhandlungen und zu heimlichen Absprachen. Mehr oder weniger subtile Machtmittel werden benutzt, um unliebsame Meinungen zu unterdrücken, unbequeme Personen zu diskreditieren und unhintergehbare Fakten zu schaffen. Das Taktieren schlägt unvermeidlich auf die inhaltliche Diskussion durch, so dass oft nicht mehr klar ist, was als fundierte Berichterstattung gelten kann und an welcher Stelle man gezielten Fehlinformationen aufzusitzen droht. Die Qualität der schließlich gefundenen Lösungen hängt in einem derartigen Prozess von mancherlei Unwägbarkeiten und Zufälligkeiten ab, von der Möglichkeit auf Sachverstand und verlässliche Informationsquellen zuzugreifen, von der Frage, ob sich Promotoren finden, die ein starkes intrinsisches Interesse an guten Lösungen haben und nicht zuletzt auch von 17

Sympathien und Animositäten zwischen den Beteiligten, von Ambitionen und Eitelkeiten, von den Emotionen, die die Entscheidungsthematik weckt und von den persönlichen Einstellungen, die sich daraus ergeben. Das kühle Abwägen, das man sich wünscht, damit aus der Auseinandersetzung mit dem Entscheidungsproblem wohlabgewogene und alle Seiten befriedigende Lösungen erwachsen, ist bei Entscheidungen, bei denen es um etwas geht (und bei denen man sich das umso mehr wünscht), daher alles andere als die Regel. Um eine Entscheidung zu ringen, ist etwas anderes, als eine Entscheidung zu treffen. Entscheidungen werden eben nicht leidenschaftslos durchkalkuliert, sondern herbeigesehnt, angeordnet, erzwungen, vermieden, erduldet, erkämpft, hintertrieben, akzeptiert und ignoriert. Die Entscheidungsfindung ist nicht nur Lösungs-, sondern oft auch Sinnsuche. Außerdem sind Problemlösungen nicht umsonst zu haben, sie binden mitunter erhebliche materielle und zeitliche Ressourcen. Sie verlangen unter anderem Aufmerksamkeit, die nicht unbegrenzt zur Verfügung steht, weil sich die Akteure in aller Regel gleichzeitig mit mehr als nur einem einzigen Problem zu beschäftigen haben und weil sich Probleme, die einer Entscheidung bedürfen, nur selten in einer wohlgeordneten und vorhersagbaren Reihenfolge einstellen. Außerdem beansprucht die Lösung unbestimmter, komplexer und gravierender Probleme erhebliche Energien, zumal sich das eine infrage stehende Problem in aller Regel mit vielen anderen Problemen verkettet, mit Problemen, die ebenfalls oft dringend nach einer Lösung verlangen. Insgesamt ergibt sich damit ein gänzlich anderes Bild von der Natur eines kollektiven Entscheidungsprozesses als das der eingangs angeführten Vorstellung eines Entscheidungen treffenden Gremienwesens. Entscheidungsprozesse sind eng eingebunden in den Ereignisstrom einer Organisation, sie sind oft weniger das Mittel, diesen zu lenken als vielmehr eines seiner Produkte. Das gilt selbst für hochstrukturierte Entscheidungsprozesse. So kann man zwar versuchen, die Entscheidungsfindung strikt zu reglementieren, die formal durchdeklinierte Abwicklung von Entscheidungsprozessen ist substanziell aber von wenig Bedeutung, wenn sie sich nicht mit den Vorgängen, Prozessen, Strukturen, Handlungsbereitschaften, Ideologien und institutionellen Regeln verknüpfen, die letztlich das Geschehen eines Sozialsystems bestimmen. Daher ist es auch nicht sinnvoll, sich bei der Betrachtung von Entscheidungen nur auf deren vermeintlichen Abschluss, also auf den Entschluss zu konzentrieren. „Die Auswahl einer Alternative scheint der Endpunkt der Entscheidung zu sein, aber der Begriff Entscheidung begrenzt sich nicht auf die endgültige Auswahl. 18

Entscheidungen beziehen sich vielmehr auf die Aktivitäten, die zur Auswahl beitragen …“ (Thompson/Tuden 1959, 196). Diesem Zitat ist allerdings noch etwas hinzuzufügen, denn eine Entscheidung ist nicht nur dann eine Entscheidung, wenn es auch zu einem Entschluss kommt (vgl. u.a. March/Romelaer 1976). Tatsächlich laufen viele der Aktivitäten, die zu einem Entschluss führen sollten, ins Leere, die sie motivierenden Probleme werden aufgeschoben, verwandelt, vergessen, geleugnet, umdefiniert usw. und diesen Aktivitäten kommt oft die größere Wirkung zu als irgendwelchen Vereinbarungen und Beschlüssen: „Öffentlich bekundete strategische Entscheidungen, die die Entschlossenheit zum Handeln bekunden, haben oft weniger Substanz als das Unterlassen von Entscheidungen (‚non-decisions‘) …“ (Pinfield 1986, 386). Denn der formale Beschluss, etwas zu tun oder zu unterlassen (eine Stellenausschreibung zu veranlassen, einen Vertrag zu unterzeichnen, einen Plan zu verabschieden usw.), ist nur ein äußerer Vorgang und nicht etwa der eigentliche Akt der Entscheidung. Die Verabschiedung einer Entscheidung ist nur ein besonders sichtbarer Punkt innerhalb eines längeren Willensbildungsprozesses. Und dieser erweist sich in aller Regel nicht etwa als Abfolge starker Gedanken und Taten, sondern eher als Kristallisierungsprozess, in dessen Verlauf nach und nach bestimmte Verhaltenstendenzen Kontur gewinnen und sich gegen andere Verhaltenstendenzen durchsetzen (vgl. u.a. Simon 1981, 239 ff.). Die zur Begründung der getroffenen Entscheidung angeführten Beweggründe sind entsprechend häufig alles andere als abgeklärte Resultate umfänglicher Problemlösungsprozesse, sondern lediglich Fassaden, die Rationalität suggerieren sollen, wo lediglich Rationalisierungen zu finden sind. Das bedeutet nicht, dass der formalen Bekanntgabe einer Entscheidung keine Bedeutung zukommt. Im Gegenteil, sie kann das Geschehen nachhaltig beeinflussen und im buchstäblichen Sinn die Welt verändern. Man denke nur an Kriegserklärungen, die Verabschiedung groß angelegter Sozialreformen oder umfänglicher Infrastrukturmaßnahmen oder – im kleineren Maßstab auf der Unternehmensebene – an Firmenübernahmen, die Neuausrichtung der Produktpolitik oder den Wechsel der Geschäftsführung. Die starke Wirkung, die von diesen Entscheidungen ausgehen kann, sagt allerdings nichts darüber, ob sie tatsächlich auch das Resultat gut kalkulierter Erwägungen sind. Die Lektüre von Geschichtsbüchern und die Analyse unternehmerischer Entscheidungsprozesse lässt häufig eher das Gegenteil vermuten. Und nicht immer sind wichtige Entscheidungen, die gern auch als „strategische Entscheidungen“ bezeichnet werden, wirklich wirksam im 19

intendierten Sinn. Das liegt zum einen daran, dass Entscheidungen oft nicht konsequent umgesetzt werden und zum anderen daran, dass die Ausführung von Entscheidungen kein Selbstgänger ist, sondern auf Widerstände stößt, die erst noch zu überwinden sind, was zu unerwarteten Ergebnissen führt, die Verhaltenskorrekturen und damit neue Entscheidungen notwendig machen. Mit einem Entschluss ist also nicht etwa Schluss, die Umsetzung einer Entscheidung wirkt auf diese zurück. Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass man sich bei der Analyse von Entscheidungen nicht auf die Tatsächlichkeit eines Beschlusses beschränken sollte, sondern dass man Entscheidungen nur dann gerecht wird, wenn man sie als Prozesse versteht, die oft keinen eindeutigen Beginn und ein festes Ende haben. Die damit verbundenen Fragen werden ausführlicher in Kapitel 3 behandelt.

Entscheidungsforschung Theoretische Zugänge Entscheidungstheoretische Abhandlungen finden sich in praktisch allen Wissenschaften, die sich mit sozialen Phänomenen beschäftigen. In der Sozialpsychologie findet man entsprechende Beiträge vor allem in der Gruppenforschung. In der Soziologie finden sich entscheidungsorientierte Ansätze, wenn es um die Verknüpfung von System- und Handlungstheorie geht sowie in den Ansätzen, die sich der in den Wirtschaftswissenschaften wurzelnde Rational-Choice Theorie bedienen. Die Politologie analysiert die Willensbildung in den politischen Gremien auf den verschiedenen Ebenen des Staatswesens sowie das Entscheidungsverhalten der politischen Akteure. Außerdem befasst sie sich mit Fallanalysen von exemplarischen und historisch bedeutsamen Entscheidungen. Hierbei ergeben sich naturgemäß enge Verbindungen mit den Geschichtswissenschaften. Und schließlich findet man auch in den Wirtschaftswissenschaften entscheidungstheoretische Beträge, die, soweit sie über die entscheidungslogisch inspirierten Modellanalysen hinausgehen, vor allem der Organisationsforschung zuzurechnen sind. In der organisationsbezogenen Entscheidungsforschung versammeln sich 20

mehr oder weniger einträchtig verschiedene Disziplinen und theoretische Traditionen. Das ist leicht zu verstehen, da die meisten gesellschaftlich relevanten Entscheidungen nun einmal in Organisationen getroffen werden. Einen ersten umfassenden Entwurf zu einer entscheidungsorientierten (deskriptiven) Unternehmenstheorie findet man in dem von Richard Cyert und James March verfassten Buch „A Behavioral Theory of the Firm“ aus dem Jahr 1963. Tatsächlich handelt es sich dabei nicht, wie im Buchtitel suggeriert wird, um einen allgemeinen verhaltensorientierten, sondern um einen entscheidungstheoretischen Ansatz, eine Gleichsetzung, die sich aus der Auffassung der Autoren über die Natur von Unternehmen und Organisationen erklärt. Organisationen sind danach vor allem Systeme, in denen es darum geht, Entscheidungen zu treffen (Cyert/March 1964, 289). Tatsächlich sind Organisationen (und damit auch Unternehmen) aber nicht einfach und ausschließlich Entscheidungsagenturen, sondern einiges mehr, z.B. Stätten der beruflichen Entfaltung, Arbeitswelten, in denen es um den Erwerb des Lebensunterhalts geht und Institutionen der Macht. Die Betonung des Entscheidungsaspektes durch Cyert und March dürfte sich daraus erklären, dass sie mit ihren Ausführungen an die mikroökonomische Tradition anknüpfen, in denen es um Unternehmen geht, die als Wirtschaftssubjekte begriffen werden, also als Akteure, die nach größtmöglicher Rendite streben (bzw. durch Marktkräfte dazu gezwungen werden). Um dies zu erreichen, müssen sie „rationale“ Entscheidungen über Produkte, Preise und Mengen treffen und für die optimale Ausstattung mit Produktionsmitteln sorgen. In den idealisierten Modellen der Mikroökonomie schrumpft diese Aufgabe zu einer Optimierungsrechnung. Das Unternehmensgeschehen wird als Black-Box betrachtet. Welche internen Vorgänge die unternehmerischen Entscheidungen hervorbringen, ist ohne Interesse. Mit ihrer Theorie der Unternehmung machen sich Cyert und March daran, die Black-Box etwas durchsichtiger zu machen. Sie bleiben zwar dabei, dass Unternehmen wohldefinierte Präferenzordnungen aufweisen und nach einer Maximierung des Ertrags streben, im Hinblick auf die Informationsausstattung weichen sie allerdings vom konventionellen mikroökonomischen Modell ab. Sie unterstellen also nicht vollkommene Information, sondern sehen in der Informationsbeschaffung und Informationsverarbeitung eine wesentliche Aufgabe eines Unternehmens. Um die entsprechenden Prozesse abzubilden, rekurrieren Cyert und March auf die im jeweiligen Unternehmen geltenden Regeln. Damit meinen 21

sie zum einen Beobachtungsregeln. Diese richten sich auf Ereignisse der Umwelt und bestimmen darüber, welchen Tatbeständen eine Organisation Aufmerksamkeit widmet und welchen nicht. Zum anderen geht es um Suchregeln, deren Gegenstand mögliche Handlungsweisen sind und die außerdem festlegen, welche Kriterien an mögliche Lösungen anzulegen sind. Gegen diese Betrachtungsweise lässt sich wenig einwenden. Es ist allerdings festzustellen, dass die Entscheidungsfindung in Organisationen nicht ausschließlich regelbestimmt ist. Der Regelbegriff dient den Autoren nur der Vereinfachung, als hoch aggregiertes Konstrukt, das der Komplexität des organisationalen Geschehens zwar nicht wirklich gerecht wird, es aber immerhin ermöglicht, der Analyse des Entscheidungsgeschehens eine gewisse Tiefenschärfe zu geben. Möglich wird dies auch durch die gesonderte Betrachtung von Teilaktivitäten des Entscheidungsprozesses. Neben den bereits erwähnten Prozessen der Aufmerksamkeitslenkung und der Lösungsfindung stellen Cyert und March insbesondere die Zielbestimmung heraus. Diesbezüglich stellen sie auch explizit auf einen kollektiven Aspekt der Entscheidungsfindung ab: die Herausbildung von Zielen, auf die man sich im Zuge von Verhandlungen und Koalitionsvereinbarungen verständigt. Auf die Umsetzung von Entscheidungen gehen sie dagegen nicht ein. Ebenso wenig behandeln sie die Frage, wie die organisationalen Akteure die sie bewegenden Entscheidungsprobleme wahrnehmen und definieren (die Festlegung auf bestimmte Ziele ist diesbezüglich ein eher nachgelagerter Prozess). Durch diese Beschränkungen in der Betrachtung bleiben in diesem ersten Entwurf von Cyert und March zentrale Themen einer verhaltenswissenschaftlichen Organisations- und Entscheidungstheorie zunächst ausgeblendet. Ob es überhaupt so etwas wie eine umfassende Theorie organisationaler Entscheidungsprozesse geben kann, kann man grundsätzlich bezweifeln. Es gibt schließlich aus guten Gründen auch keine überzeugende umfassende Theorie der Gesellschaft, der Macht, der Kultur usw. Entsprechend wird es auch keine allumfassende Theorie organisationaler oder allgemeiner kollektiver Entscheidungsprozesse geben. Als vielgestaltige und vielschichtige und nicht selten disparate Gebilde lassen sich kollektive Entscheidungsprozesse aus einem einzelnen Blickwinkel heraus nicht umfänglich erfassen. Es ist daher leicht zu verstehen, dass die Studien der Entscheidungsforschung jeweils nur auf ausgewählte Aspekte des Geschehens abstellen (Janis 1989, Eisenhardt/Zbaracki 1992, Nutt/Wilson 2010, Shepherd/Rudd 2014). Das ist im Übrigen kein Qualitätsmangel und auch kein Hindernis, um zu wertvollen Einsichten über dieses Erkenntnisobjekt zu gelangen. 22

Auf einer abstrakten Ebene beschreibt Graham Allison drei verschiedene „Modelle“, die in der Erforschung des Entscheidungsverhaltens von Regierungen zum Zug kommen. „Analytiker denken (großenteils implizit) über die Außen- und Militärpolitik innerhalb der Begrifflichkeit von konzeptuellen Modellen – was sich nachhaltig auf den Inhalt ihres Denkens auswirkt“ (Allison 1969, 689). Als Metapher benutzt Allison das Schachspiel. Der Beobachter sieht nur die Züge auf dem Schachbrett, nicht aber die Überlegungen und Motivationen der Spieler. Plausiblerweise erwartet er aber ein durchdachtes, strategisches Vorgehen. Nachdem er mehrere Spiele beobachtet hat, stellt er fest, dass verschiedene Figuren ihre je eigenen oft stereotypen Züge machen und er gewinnt den Eindruck, dass sie eher disparaten Taktiken folgen, so als ob gleichzeitig mehrere Spieler am Werk sind und dabei ihr je eigenes Spiel spielen. Und dann beobachtet er noch Züge, die der jeweils betrachteten Seite gar keinen Spielvorteil, sondern sogar Nachteile einbringen, womit es aber bestimmten Figuren gelingt, sich machtvoll in Szene zu setzen. Man fragt sich in diesem Fall, ob die Spieler einer Seite wirklich ein gemeinsames Interesse verfolgen oder gar gegeneinander spielen. In Tabelle 1.1 sind die drei Modelle skizziert. Modell I Das Modell des rationalen Akteurs Entscheidungen sind Handlungen eines einheitlichen Akteurs. Modellelemente sind Probleme, Ziele, Strategien und die Situationslogik.

Modell II Das Modell der Organisationsprozesse Entscheidungen sind der „Output“ des organisationalen Funktionsgefüges. Modellelemente sind Stellen, Funktionen, Standardprozeduren, Strukturen, Pläne, Programme.

Modell III Das Modell der bürokratischen Politik Entscheidungen sind das Ergebnis der „Bargaining Games“ politischer Akteure. Modellelemente sind Teilnehmer, Aktionen, Wahrnehmungen, Status, Leistungen, Handlungskanäle. Es gibt Züge, die gar Man „sieht“, wie sich ein Man „erkennt“ Spielroutikeinen Sinn zu ergeben nen, die immer wieder einzelner Spieler auf die scheinen, aber offenbar von ganz bestimmten jeweilige Situation einstellt Konstellationen ausgelöst die Position von einzelnen und alles tut, um zu geFiguren verbessern. werden. winnen. Metapher: Der Beobachter sieht nur die Bewegungen auf einem Schachbrett.

Tab. 1.1: Perspektiven der Entscheidungsforschung nach Allison (1969) 23

Im ersten Modell sind die Elemente und Determinanten des Geschehens relativ leicht zu fassen: Probleme, Ziele und Strategien sind die konzeptionellen Kernelemente einer jeden Entscheidung. Das zweite Modell rückt von den Akteuren eines Entscheidungsprozesses etwas ab und stellt die Elemente der Entscheidungsstruktur heraus. Im dritten Modell werden die Teilnehmer wieder eingeführt, diesmal aber wesentlich differenzierter als im ersten Modell, nämlich mit ihren individuellen Eigenheiten und ihrer sozialen Verankerung. Entsprechend wirklichkeitsnäher, dafür aber auch erheblich komplexer und weniger leicht zu durchschauen, gestaltet sich das Bild des kollektiven Entscheidens für Forscher, die dem Modell III folgen. Allison will die verschiedenen Hintergrundvorstellungen nicht gegeneinander ausspielen. So gäbe es durchaus Situationen, in denen man z.B. mit den Annahmen des Modells I gut arbeiten könne. Einen etwas anderen Zugang zur Beschreibung der Entscheidungsforschung wählen Paul Koopman und Jeroen Pool. Sie beziehen sich dabei explizit auf die Entscheidungsfindung in Organisationen. Wie Allison sprechen sie etwas missverständlich von „Modellen“, meinen damit aber ebenso eher so etwas wie Hintergrundvorstellungen, die die konkreten Untersuchungen der Forscher prägen (Koopman/Pool 1991). Wie vielen anderen auch, dient ihnen die einfachste normative Variante der Entscheidungstheorie als Folie, die sie benutzen, um die Besonderheiten der anderen Ansätze herauszustellen (vgl. z.B. Schoemaker 1993). In diesem „klassischen Modell“ gibt es nur einen Entscheider, dieser hat nur ein Ziel, das sich außerdem quantitativ beschreiben lässt. Es gibt eine begrenzte Zahl von Alternativen, die der Entscheider im Übrigen kennt und für die sich entscheiden („berechnen“) lässt, welches die beste Lösung ist. Das Informations-Modell stellt dagegen auf die beschränkten Informationsverarbeitungskapazitäten ab und beschäftigt sich mit den daraus resultierenden Defekten und den Bemühungen der Akteure, damit umzugehen. Das Organisations-Modell stellt das Beharrungsstreben von Organisationen heraus und begreift die Lösungssuche im Wesentlichen als Aushandlungsprozess. Das Bürokratische Modell rekurriert auf die im Entscheidungsprozess jeweils zum Zug kommenden Verhaltensroutinen und auf die Rollenverteilung der Akteure. Das Mülleimer-Modell beschreibt das verwickelte und nur beschränkt steuerbare Zusammenwirken der durch die Organisation ziehenden Ströme von Problemen, Lösungen, Akteuren und Entscheidungsgelegenheiten. Das Politische Modell begreift Entscheidungen als Ausdruck von Machtprozessen, das Partizipations-Modell befasst sich mit organisationsinternen 24

Institutionen der Interessenvermittlung, das Phasen-Modell beschäftigt sich mit den Hauptaktivitäten im Rahmen eines Entscheidungsmodells, ob und inwieweit sich diese miteinander verkoppeln und das Sinn-Modell stellt auf die Interpretationsleistungen der an einem Entscheidungsprozess Beteiligten ab. Tatsächlich lassen sich die damit benannten (und viele weitere) Aspekte des Entscheidungsgeschehens nicht säuberlich voneinander trennen, in der Fülle der Realität sind sie immer alle gleichzeitig präsent. Dies spiegelt sich auch in der empirischen Forschung zu kollektiven Entscheidungsprozessen. Hier kümmert man sich nämlich oft nicht um diese Grundausrichtungen, sondern verwendet in ein und derselben Studie Variablen, die mehreren der angeführten Grundkonzeptionen zuzuordnen sind. Und auch bei der Erklärung der zwischen diesen Variablen gefundenen Zusammenhänge geht man häufig eklektizistisch vor.

Empirische Forschung Empirische Untersuchungen zur Entscheidungsfindung in und von Organisationen wurden erstmalig Anfang der 1960er-Jahre durchgeführt. Zuvor gab es zwar schon vereinzelte Abhandlungen, die allerdings auf lediglich mehr oder weniger gut ausgearbeiteten Erfahrungsberichten beruhten (Devons 1950; Thompson 1950; Kaplan/Dirlam/Lanzilotti 1958). Die ersten wissenschaftlichen Studien im engeren Sinn sind explorativ angelegt und betrachten nur wenige Fälle. Richard Cyert, Herbert Simon und Donald Trow (1956) und Jakob Marschak (1962) beispielsweise beschreiben jeweils einen einzigen Entscheidungsprozess. Richard Cyert, William Dill und James March (1958) gehen auf vier Fälle ein (vgl. auch Cyert/March 1963), und in der Studie von Eugene Carter (1971) werden sechs Entscheidungsprozesse analysiert. Es gibt aus dieser Zeit allerdings auch umfänglichere Studien. So analysiert William Gore (1956) immerhin 33 Entscheidungen und Samuel Trull (1966) über 100 Fälle, wobei er allerdings die Datengewinnung nicht näher beschreibt und die Determinanten des „Entscheidungserfolgs“, die er anführt, leider in etwas undurchsichtiger Weise diskutiert. In der Dissertation von Nicholas Nicolaidis (1960) werden sogar 332 Entscheidungen betrachtet. Als Datengrundlage dienen ihm kurze Fallbeschreibungen, die von Studenten auf der Grundlage persönlicher Beobachtungen oder mithilfe von Interviews zu erstellen waren. Entsprechend breit ist das Themenspektrum und mehr oder weniger zufällig 25

auch der Aspekt der Entscheidungsfindung, der in den jeweiligen Fallstudien hervorgehoben wird. Resümierend kommt Nicolaidis zu folgendem Ergebnis: „Auf der Basis der durchgeführten Analyse erweist sich, dass eine organisationale Entscheidung in Wahrheit aus einer Galaxie zahlloser individueller Entscheidungen besteht. Einige dieser Entscheidungen werden im Buch der organisationalen Aktivitäten ‚registriert‘, während andere im inneren Heiligtum der menschlichen Psyche verborgen bleiben. Wann und wo eine Entscheidung beginnt und wann und wo sie endet, ist nicht immer klar“ (Nicolaidis 1960, 173). Trotz der methodischen Einschränkungen der angeführten frühen Studien liefern diese ein Bild von der Entscheidungsfindung in Organisationen, das auch in späteren, umfänglicheren Studien immer wieder reproduziert wird (vgl. hierzu die in Kapitel 5 bis 8 zitierte Literatur, aber z.B. auch weitere Einzelfallstudien wie die von McKie 1973, Hall 1984, Nutt 2002). Danach verfolgen die Entscheider über den Umweg der Propagierung organisationaler Ziele primär ihre eigenen Ziele. Sie handeln politisch und strategisch und rechtfertigen und verbergen ihre Absichten mithilfe eines vorgeblich rationalen Argumentationsstils. Die Fundierung der Entscheidungen ist oft mangelhaft. Das liegt häufig daran, dass die Informationsbeschaffung Kosten verursacht, die man gern vermeidet und daher auch die Güte der Informationen und die Zuverlässigkeit der Informationsquellen nur unzureichend hinterfragt. Mögliche Handlungsalternativen werden nicht systematisch gegenübergestellt, vielmehr erfolgt eine Art sukzessiver Ausscheidungswettbewerb zwischen den ins Spiel gebrachten Handlungsmöglichkeiten. Die Alternativen werden nicht anhand klar formulierter Entscheidungskriterien beurteilt, man orientiert sich vielmehr gern an Präzedenzfällen, an anderen Entscheidern, an Traditionen, an den eigenen Interessen und vor allem an den Wünschen der Hierarchie. Entscheidungsprozesse sind zirkulär und komplex, sie gleichen eher der Fermentbildung als einem strukturierten Vorgehen. Nicht selten beginnt der Prozess der Entscheidungsfindung bereits mit der Lösung. Lösungen müssen nicht richtig, sie müssen vor allem plausibel sein und den Bezugsgruppen einleuchten. Für den Fall des Scheiterns werden in die Propagierung von Lösungen mögliche Rechtfertigungen vorsorglich schon eingebaut. Die Problemwahrnehmung erfolgt nicht aufgrund objektiver Analysen, sondern ist eine Funktion der herrschenden Doktrin, des Statussystems und der etablierten Kontrollprozeduren. Zu einer Problembearbeitung kommt es erst, wenn der durch das Problem ausgelöste Druck nicht mehr ignoriert werden kann und wenn er die vermutlich 26

auftretenden Kosten der Missachtung übersteigt. Welche Überlegungen bei der Entscheidungsfindung den Ausschlag geben, ist schwer vorherzusagen, es können sachbezogene Überlegungen sein, aber auch Programm-Überlegungen, politische Überlegungen oder Überlegungen, die sich aus der Unternehmensphilosophie ergeben. Die kollektive Zustimmung zu einer Entscheidung speist sich ebenfalls nicht aus deren objektiver Qualität, sondern daraus, ob sie aus dem Blickwinkel der jeweiligen Partialinteressen nutzbringend erscheint. In der Beurteilung der infrage kommenden Entscheidungsalternativen vermischen sich mehr oder weniger gut begründete Erwartungen und mehr oder weniger offen eingestandene Hoffnungen und Befürchtungen. Ein großes Hindernis, sich einem Problem zu widmen, ergibt sich aus dem Tatbestand, dass die Problembearbeitung den Problemdruck zunächst nicht senkt, sondern eher ansteigen lässt. Die Neigung, ein Problem voranzubringen, wird außerdem durch die Pluralität der Interessen in Organisationen blockiert. Entsprechend große Bedeutung kommt den Machtbedürfnissen der Akteure zu. Allerdings ist Macht selten personalisiert, sondern in Gruppen, d.h. in Machtzentren konzentriert. Die Macht kommt selten in unverhüllter Form zum Tragen, Entscheidungen werden vielmehr ideologisch eingebunden und gerechtfertigt. Die Ausformulierung einer einmal beschlossenen Lösung wird häufig nicht von den Entscheidern selbst vorgenommen, sondern subalternen Stabsabteilungen und ausführenden Stellen überlassen. Die Suche nach Informationen erfolgt oft wenig systematisch, sie wird eher von spezifischen Ereignissen ausgelöst und nicht angeleitet durch eine ausformulierte Problemlösungsstrategie. Lösungen werden primär nach ihrer Machbarkeit und nicht etwa im Hinblick auf ihre Leistungsfähigkeit beurteilt. Diese und ähnliche Beschreibungen haben ihre problematischen Seiten. So wird häufig nicht recht klar, auf welche weiterführenden Erkenntnisse sie abzielen. Beispielsweise wird einerseits beschrieben, dass die Entscheider in aller Regel den gegebenen Alternativenraum nicht ausschöpfen, in der Erarbeitung von Handlungsmöglichkeiten also deutliche Schwächen erkennen lassen (Cyert/Dill/March 1958, 326; 337 f.). Gleichzeitig wird aber auch angeführt, dass sich die Entscheider umfänglich mit der Auslotung von Alternativen beschäftigen (Cyert/Simon/Trow 1956, 246 f.). Offenbar wird die Bedeutsamkeit einer fundierten Handlungsvorbereitung also doch erkannt. Wichtiger als derartige Unstimmigkeiten ist in unserem Zusammenhang, dass das kollektive Element in der Entscheidungsfindung oft nicht deutlich herausgearbeitet wird. Die Aussage beispielsweise, dass mit der 27

Nähe zum Entschluss die Informationstätigkeiten anwachsen (Cyert/Dill/March 1958, 338), kann ja nicht nur für den kollektiven, sondern auch für den individuellen Fall Geltung beanspruchen. Verschiedentlich werden soziale Einflüsse immerhin angesprochen, wenngleich nicht unbedingt vertieft. So geht es in der eben angeführten Studie auch um die Rolle von expliziten und impliziten Erwartungen. Die Autoren schildern unter anderem den Entscheidungsprozess bei der Beauftragung einer Beratungsfirma. Zunächst wird eine bestimmte Firma A näher ins Auge gefasst und man kommt zu dem Schluss, dass sie alle wichtigen Kriterien erfüllt, die eine Beauftragung rechtfertigen. Nun wird aber vonseiten der Führung der Vorschlag gemacht, eine weitere Firma B auf ihre Eignung hin zu untersuchen. Wie sich herausstellt, weist diese keine besonderen Vorzüge gegenüber der Firma A auf, sie erhält dessen ungeachtet dann doch den Auftrag. Warum? Offenbar haben die Entscheider die unverbindliche Aufforderung, auch die Firma B in Betracht zu ziehen, als Präferenzäußerung der vorgesetzten Stelle verstanden, der man aus verständlichen Gründen entsprechen wollte. Ähnlich gelagert war ein anderer Fall. In ihm kommt das strategische Element, bestehenden Erwartungen entsprechen zu wollen, noch deutlicher zum Ausdruck. In diesem Fall ging es um den Vorschlag, der von einem Beratungsunternehmen entwickelt wurde. Er beschränkte sich auf die Gegenüberstellung von zwei im Wesentlichen ebenbürtigen Handlungsalternativen. Das Management war damit allerdings nicht zufrieden, sondern verlangte eine eindeutige Stellungnahme, die daraufhin auch geliefert wurde und zwar mit der Begründung, dass mit der präferierten Alternative angeblich weniger „unsichere Kosten“ einhergingen. „Der Punkt ist nicht etwa, dass die Berater ihre Daten verfälscht hätten. Sie hätten sich zweifellos geweigert, so etwas zu tun und die Organisation hätte das auch nicht gebilligt. Aber sie mussten beurteilen, welche unsicheren Kosten und Ersparnisse zu berücksichtigen waren. Und diese Beurteilung wurde ganz sicher … davon beeinflusst, welchen Eindruck die Berater über die Einstellungen und Vorlieben des Managements gewonnen hatten“ (Cyert/Dill/March 1958, 336). Auch in der Politologie findet der entscheidungstheoretische Ansatz schon relativ früh einige Aufmerksamkeit. Erwähnt werden müssen hier zunächst die Studien der amerikanischen Gemeindeforschung (vgl. Lynd/Lynd 1929; Dahl 1961; Presthus 1964; Clark 1968; Freeman 1968; Nuttall/Scheuch/Gordon 1968). Floyd Hunter (1953) untersuchte mithilfe der „Reputationsmethode“ die Machtstrukturen in Atlanta. Daran entzündete sich ein methodischer Streit, der Untersuchungen zur 28

Erfassung der Machtstrukturen stimulierte, die sich auf die Analyse von Entscheidungsprozessen stützten. Hierbei wurde allerdings kaum eine elaborierte Entscheidungsforschung betrieben. Im Wesentlichen ging es um die Untersuchung der Frage, welche Personen an wichtigen gemeindepolitischen Entscheidungen partizipieren. Immerhin zeigen diese Studien die Schwierigkeiten auf, die wichtigen und relevanten Entscheider zu identifizieren. Die Befragung von funktionalen Entscheidungsträgern ist beispielsweise nur bedingt hilfreich, zumal keineswegs ausgemacht ist, dass die relevanten wichtigen Personen überhaupt sichtbar in Aktion treten (vgl. zu einem Überblick Ammon 1967). Anzuführen sind außerdem Fallstudien zum Handeln von Verwaltungen und öffentlichen Einrichtungen (Thompson 1950; Banfield 1961; Wildavsky 1964, 2004; Baldridge 1971). Unbeschadet von den methodisch bedingten Einschränkungen erbringen diese Fallstudien inhaltlich beachtenswerte Einsichten. Ein gutes Beispiel hierfür liefert die Analyse der Tätigkeit des Office of Price Administration der Vereinigten Staaten im Zweiten Weltkrieg durch Victor Thompson. Diese Behörde hatte die Aufgabe, kriegsbedingten Knappheiten der Güterversorgung durch Rationierungsmaßnahmen zu begegnen. Die hierbei gemachten Erfahrungen kollidierten mit gängigen Vorstellungen. So stieß beispielsweise das verbreitete legalistische Denken an seine Grenzen. Es stellte sich nämlich heraus, dass es, anders als von vielen Behördenmitgliedern unterstellt, nicht genügt, eine möglichst ausführliche und detaillierte Liste von Vorgaben, Pflichten und Ausnahmeregeln zu formulieren, und darauf zu hoffen, dass die davon betroffenen Personen und Stellen sich in ihrem Verhalten darauf kenntnisreich und klaglos einstellen. Unterschätzt wurde auch die Bedeutung der Art und Weise, wie ein Beschluss kommunikativ vermittelt wurde. Bei der Überarbeitung der Regeln zur Heizölzuweisung entfiel beispielsweise eine Passage, die sich mit dem besonderen Zuschlag für Kleinkinder befasste. Daraus entstand der Eindruck, dass nun die besondere Bedürftigkeit der Kleinkinder missachtet werde. Tatsächlich waren die besonderen Familienverhältnisse aber nur in einer anderen Berechnungsweise berücksichtigt worden, so dass ein gesonderter Kleinkinderzuschlag zu einer Doppelberücksichtigung geführt hätte. Ein anderer Punkt betrifft die Einsicht, dass es den von einer Maßnahme betroffenen Personen nicht nur um deren Folgen ging, sie wollten vor allem eine Begründung für die Maßnahme. Auch hierzu ein Beispiel. Bei den Benzinzuweisungen erhielten Ärzte und Geistliche besondere (unterschiedliche) Kontingente. Für die Ausüber der Glaubensgemeinschaft der 29

„Christian Science“ war nun festzulegen, ob sie eher als Therapeuten oder eher als Seelsorger einzustufen waren. Hätte man sie den Heilberufen zugeordnet, so hätten viele andere Gruppen aus dem Bereich der Heilberufe ebenfalls besondere Ansprüche geltend gemacht, so dass man die Christian Science Ausüber der Geistlichkeit zuordnete. Nicht selten kam es auch auf einfache Formulierungen an. So erwies es sich als ungünstig, den Ärzten und Geistlichen vorzugeben, dass sie ihr Fahrzeug prinzipiell nur für dienstliche Zwecke verwenden sollten. Akzeptanz fand die Vorschrift erst, als davon die Rede war, dass sie ihr Fahrzeug ausschließlich für dienstliche Zwecke verwenden sollten, obwohl, wie sich jedermann vorstellen konnte, daraus keinerlei Verhaltensänderungen resultieren würden. Als ausgesprochen konträr zur herrschenden Lehre erwies sich das Verhältnis von Stab und Linie. Die Tätigkeit des Stabs erschöpfte sich nämlich keineswegs in bloßer Informationssammlung und Entscheidungsvorbereitung, Stäbe erteilten vielmehr, so die Erfahrung von Thompson, wesentlich häufiger Anweisungen als die Führungskräfte, deren ureigenste Aufgabe bekanntlich in der Steuerung der Organisation besteht. Und umgekehrt im Verhältnis zu den Mitarbeitern in den operativen Einheiten, waren die Stäbe auch keineswegs auf einem besseren Informationsstand, die Expertise steckte vielmehr unmittelbar vor Ort, an den einzelnen Arbeitsplätzen. Besonderen Wert legt Thompson auf die Feststellung, dass die klassische Unterscheidung zwischen der politischen und der administrativen Ebene nicht trägt. Die Administration erfüllte nur bedingt die Aufträge der Politik, und wenn, dann in Ausfüllung der weiten Interpretationsspielräume, die ihr eingeräumt wurden. Sie war nicht das Vollzugsorgan der von der politischen Leitung getroffenen Entscheidungen, wesentliche Entscheidungen wurden vielmehr in der Administration getroffen, ungeachtet der Tatsache, dass der formelle Entscheidungsakt auf der Führungsebene angesiedelt war. Um Einzelfallstudien besonderer Art geht es bei der Rekonstruktion historisch bedeutsamer Entscheidungen, etwa zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, zum Überfall auf Pearl Harbour, zur Kriegsführung in den Weltkriegen, zur KubaKrise, zum Bau der Atombombe usw. (Snyder/Paige 1958; Neustadt 1960; Tuchman 1962; Wohlstetter 1962; Williamson 1969; Horelick/Johnson/Steinbruner 1973; Whaley 1973; Allison/Zelikow 1999; Clark 2013). Die Studien bemühen sich in aller Regel, das Geschehen gewissenhaft nachzuzeichnen, wodurch viel und detailreiches Wissen ausgebreitet wird, naturgemäß aber auch die theoretische Linie leicht verlorengeht. Neben diesen Fallstudien finden sich vereinzelt Versuche, zu 30

quantifizierbaren Ergebnissen zu gelangen. Herauszuheben ist hier die Studie von Michael Haas (1974). In seiner Analyse von 32 zwischenstaatlichen Konflikten verwendet er zur Kennzeichnung der gesellschaftlichen und strukturellen Gegebenheiten 65 entscheidungsbezogene und eine immense Fülle von weiteren Variablen, die unter Zuhilfenahme von statistischen Verfahren verdichtet und deren Beziehungen untereinander kausalanalytisch ausgewertet werden. Untersucht werden auf diese Weise Zusammenhänge zwischen dem Ausmaß der bedrohten Interessen, der kulturellen Distanz, der Kenntnis des Gegenübers, Frustrationserlebnissen und Gewalt. In der Literatur über das Zustandekommen von Gruppenentscheidungen nimmt die Studie von Robert Bales und Fred Strodtbeck aus dem Jahr 1951 zweifellos eine besondere Rolle ein. Die Autoren nehmen dabei eine Phasenbetrachtung vor: Gruppen sind darauf angewiesen, zunächst eine gemeinsame Orientierung zu finden, anschließend geht es um die Beurteilung, Diskussion und Bewertung der ins Spiel gebrachten Lösungen und schließlich geht es darum, den Meinungsaustausch und das Vorankommen zu strukturieren und zu kontrollieren. Tatsächlich zeigte sich in den von den Autoren untersuchten Gruppen, dass kontrollbezogene Aktivitäten in der Phasenfolge ansteigen, orientierungsbezogene Aktivitäten dagegen abnehmen. Außerdem steigt im Zuge der Annäherung an eine Lösung die Häufigkeit sowohl von positiven als auch von negativen Emotionen. Zum Einsatz kommt in dieser Studie ein Beobachtungsschema zur Analyse der Interaktionen der Gruppenmitglieder. Bei den aufgabenbezogenen Interaktionen geht es um Fragen und Antworten, die die Gruppenmitglieder erbitten und finden. Orientierungsfragen richten sich zum Beispiel auf die Weitergabe und die Bestätigung von Informationen. Um zu einer Bewertung zu gelangen, werden die Kollegen gebeten, ihre Meinungen und Analysen vorzutragen und bei den Kontrollfragen geht es um konkrete Vorschläge und Anweisungen. Erfasst werden außerdem sozio-emotionale Aspekte wie Zustimmung, Spannungen, Humor, Unterstützung, Feindseligkeit usw. (ein überarbeitetes Schema findet sich bei Bales und Cohen 1982). Nicht wenige Studien zur Gruppenentscheidung befassen sich mit dem (etwas banalen) Streit darum, ob Gruppenentscheidungen oder Individualentscheidungen besser sind. Behandelt werden außerdem bestimmte Effekte und Defekte von Gruppenentscheidungen (Gruppendenken, Konformitätsstreben, Risikoverschiebung, Meinungspolarisierung, Minderheiteneinfluss, Konflikteskalation). Themen sind außerdem der Umgang mit Informationen, das Kommunikationsverhalten und 31

die Logik und Empirie in der Aggregation der individuellen Präferenzvorstellungen sowie das Strategieverhalten aus spieltheoretischer Sicht (Murnighan 1982; McGrath 1984; Baron/Kerr/Miller 1992; Guzzo/Salas 1995; Castellan 2014). Der Prozesscharakter der Gruppenentscheidung wird in diesen Abhandlungen allerdings nicht sonderlich herausgestellt. Ein weiteres Forschungsfeld ist der Einfluss der Gruppenzusammensetzung auf die Entscheidungsfindung (Martin 1998), auf die auch in der sogenannten Top-Management Team Forschung abgestellt wird. Thematisiert werden hierbei Wirkungen, die von der Zusammensetzung der Führungsgruppe ausgehen können, wobei hauptsächlich soziografische Variablen (Alter, sozio-ökonomisches Herkommen, fachliche Ausrichtung der Gruppenmitglieder usw.), aber auch verschiedene psychologisch bedeutsame Größen (Überzeugungen, Werthaltungen, Sympathie usw.) betrachtet werden (Hambrick/ Mason 1984; Hambrick 2007; Carpenter/Geletkanycz/Sanders 2004; Nielsen 2010). In der deutschsprachigen betriebswirtschaftlichen Literatur entwickelt sich eine stärkere empirische Ausrichtung erst in den späten 1960er-Jahren und sie befasst sich interessanterweise sehr stark mit der Entscheidungsfindung in Organisationen. Angestoßen wurden die entscheidungsorientierten Arbeiten sehr stark durch die Rezeption der umfänglichen Monografie von Werner Kirsch über „Entscheidungsprozesse“ (Kirsch 1970, 1971), sowie durch die Studien des Forscherkreises um Eberhard Witte (u.a. Witte 1972; Bronner 1973, Hauschildt 1977). Inzwischen gibt es eine kaum noch überschaubare Zahl entscheidungstheoretisch unterlegter empirischer Untersuchungen zu einem umfänglichen Themenspektrum, z.B. zum Einfluss von Steuergesetzen auf das unternehmerische Entscheidungsverhalten, zur Verwendung von Informationen des Rechnungswesen bei betrieblichen Entscheidungen, zur Börseneinführung von Tochtergesellschaften, zum Abbruch von Forschungs- und Entwicklungsprojekten, zum Kauf von Industrieanlagen, zur Standortwahl, zur Internationalisierung, zum Beitritt zu Verbänden, zur Bedeutung ökologierelevanter Kriterien bei der Entscheidungsfindung und vielen weiteren heterogenen Themen aus dem gesamten Gebiet und allen Funktionsfeldern der Betriebswirtschaftslehre. Schwerpunktmäßig angesiedelt sind die meisten entscheidungsorientierten Studien allerdings – auch international – in der Organisationsforschung. Es dominiert auch hier sehr stark eine Managementorientierung, was sich in dem Bemühen niederschlägt, Zusammenhänge zwischen der Art und Weise der 32

Entscheidungsfindung und dem Erfolg eines Unternehmens zu finden. So zeigen verschiedene Studien beispielsweise, dass es sich auszahlt, wenn Unternehmen ein möglichst rationales Vorgehen wählen und zwar selbst und gerade dann, wenn der Handlungsdruck groß ist (z.B. Bourgeois/Eisenhardt 1988, Dean/ Sharfman 1996). Lee Roy Beach und Terence Mitchell (1978) gehen bei ihrer Analyse des Entscheidungsverhaltens etwas differenzierter vor. Sie unterscheiden zwischen analytischen und nicht-analytischen Entscheidungsstrategien. Während im ersten Fall umfängliche Überlegungen angestellt und entscheidungsunterstützende Methoden zum Einsatz kommen, folgen Letztere einfachen Regeln, dem Zufall, Konventionen oder schlicht der Gewohnheit. Auf der anderen Seite stehen die Anforderungen der Entscheidungsaufgabe, Anforderungen, die vom Entscheidungsproblem und Anforderungen, die von der Entscheidungsumwelt ausgehen. Zur ersten Gruppe gehören Faktoren wie Mehrdeutigkeit, Komplexität, Instabilität und fehlende Vertrautheit mit dem Problem. Zur zweiten Gruppe gehören Faktoren wie Irreversibilität, Bedeutsamkeit und Verantwortlichkeit. Zunächst gelte, so die Autoren, ein linearer Zusammenhang, d.h. je anforderungsreicher die Entscheidungsaufgabe, desto analytischer sei das Entscheidungsverhalten. Im Extremfall kippe dieser Zusammenhang allerdings, d.h. für komplexe, äußerst vieldeutige Probleme gelte das genaue Gegenteil. Letztlich verantwortlich für die Wahl der Handlungsstrategie seien Nutzen-Kosten-Überlegungen. Eine analytische Entscheidungsstrategie sei naturgemäß aufwändiger als eine nicht-analytische und diese Kosten würden gegenüber dem Nutzen, den eine Lösung verspricht, verrechnet. Implikationen dieser Überlegungen wurden in verschiedenen Experimenten geprüft (u.a. Smith/Mitchell/Beach 1982). Paul Nutt interessiert sich für die Frage, warum es so häufig zu Fehlentscheidungen kommt. Zur Beantwortung dieser Frage hat er über 400 Entscheidungen in Organisationen untersucht. Danach liegt eine Hauptursache für Fehlentscheidungen in der voreiligen Festlegung auf ein bestimmtes Verhalten. Es fehle sehr häufig die notwendige Sorgfalt in der Klärung der Situation, der Analyse möglicher Barrieren und der Beachtung der Folgen auch für die Interessengruppen (Nutt 2010). Vielen Studien geht es, wie in den angeführten Beispielen, weniger allgemein um Einflussfaktoren als spezieller um Erfolgsfaktoren bzw. Misserfolgsfaktoren, womit sich die Frage verbindet, was man unter erfolgreichen Entscheidungen verstehen will. Bei schlecht-definierten Entscheidungen ist es schon rein begriffslogisch 33

nicht möglich, die einzig richtige oder die beste Entscheidung zu bestimmen, weil nicht nur die Problembestimmung, sondern auch die Lösungsbestimmung bei derartigen Entscheidungen letztlich vom Definitionswillen der Akteure abhängt. Statt des Entscheidungserfolgs kann man natürlich auch die Güte des Entscheidungsprozesses als Erfolgsmaßstab heranziehen. Ein eindeutig bestes Erfolgskriterium gibt es aber auch diesbezüglich nicht. Manchmal kann man froh sein, dass es überhaupt zu einer Entscheidung kommt oder umgekehrt, dass eine Entscheidung abgewendet wurde, manchmal kommt es auf die Zeitdauer an, ein andermal auf die Verträglichkeit mit anderen Entscheidungen, auf Konfliktvermeidung, auf Risikobegrenzung, auf die im Zuge der Problembeschäftigung gemachten Lernerfahrungen usw. Ein Problem mit der Erfolgs- bzw. Misserfolgsforschung besteht darin, dass die Liste der infrage kommenden Größen sehr lang und, was deren theoretische Fundierung anbetrifft, fast beliebig ist. Sie reicht, was das kollektive Element angeht, von Fragen der Verträglichkeit der Persönlichkeiten der Teilnehmer an einem Entscheidungsprozess, über Merkmale, die die Beziehung zwischen den Teilnehmern betreffen, Fragen der Aufgabenteilung, des sozialen und aufgabenbezogenen Umgangs miteinander, die Ressourcenausstattung, Methodenkenntnisse, sozialstrukturelle Gegebenheiten und situationsbezogene Besonderheiten. Außerdem sind die Wirkungen der vielen Determinanten, die in den Studien zum Entscheidungsverhalten behandelt werden, oft alles andere als eindeutig, nur bedingt gegeben, nicht selten gegenläufig oder sogar widersprüchlich. So ist es beispielsweise hilfreich, möglichst viele Informationen zusammenzustellen, um einer Entscheidung die notwendige Wissensbasis zu geben. Man kann die Informationssuche aber auch übertreiben. Ebenso ist es normalerweise gut, Informationen zu teilen, aber nicht immer, da bestimmte Informationen den Entscheidungsprozess blockieren, Zweifel säen und die Motivation untergraben können. Wenn man das Vorgehen im Entscheidungsprozess einer strikten Regulierung unterwirft, dann kann das zu einer Beschleunigung führen, andererseits aber die Erkundung unkonventioneller Lösungen behindern usw.

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Vorgehen Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit den Kräften, die auf kollektive Entscheidungsprozesse einwirken und deren Verlauf bestimmen. Zunächst ist daher zu klären, was das Kollektive an der Entscheidungsfindung überhaupt ausmacht, was unter dem Prozesscharakter der Entscheidungsfindung zu verstehen ist und was man sich vorzustellen hat, wenn man von der Beeinflussung eines Entscheidungsprozesses spricht. Diese drei Fragen werden in den folgenden drei Kapiteln behandelt. In Kapitel 2 geht es um das individuelle Verhalten im Kontext des Sozialen, um den kollektiven Akteur und die Vermittlung von Individual- und Kollektivebene. Kapitel 3 befasst sich mit den Schwierigkeiten und Möglichkeiten, kollektive Entscheidungsprozesse abzugrenzen, sie theoretisch und empirisch zu beschreiben. Eingegangen wird außerdem auf die Basisaktivitäten, die den Verlauf von Entscheidungsprozessen bestimmen. Diese Basisaktivitäten werden in den Kapiteln 5 bis 8 näher betrachtet. Eine weitere Grundlegung findet sich in Kapitel 4. Hier werden wichtige Einflussgrößen zusammengestellt, die in den folgenden Kapiteln 5 bis 8 – dann bezogen auf die dort behandelten Basisaktivitäten – näher betrachtet werden. Zuvor erfolgt noch eine kritische Betrachtung zu Fragen der Logik von Einflussbeziehungen. Idealerweise sollte es der wissenschaftlichen Forschung darum gehen, grundlegende Mechanismen des kollektiven Entscheidungshandelns zu identifizieren. Auf dem Weg dahin bleibt aber noch einiges zu tun. Ein weiteres Thema von Kapitel 4 betrifft die besondere Bedeutung von Entscheidungsstrukturen für die Entscheidungsfindung. Der Strukturaspekt nimmt auch in den Ausführungen in den Kapiteln 5 bis 8 großen Raum ein. Tabelle 1.2 zeigt das Vorgehen in diesen Kapiteln.

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Basisaktivitäten im Entscheidungsprozess Aufmerksamkeit

Beschreibung und Erklärung Phänomene Einflussfaktoren Theorien

Definition

Phänomene Einflussfaktoren Theorien

Handhabung

Phänomene Einflussfaktoren Theorien

Umsetzung

Phänomene Einflussfaktoren Theorien

Empirische Studien zu Strukturwirkungen Organisation Kultur Macht Personen Organisation Kultur Macht Personen Organisation Kultur Macht Personen Organisation Kultur Macht Personen

Tab. 1.2: Übersicht über das Vorgehen in den Kapiteln 5 bis 8 Die vier Basisaktivitäten werden ausführlich und in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen und Ausprägungen beschrieben. Danach wird untersucht, welche Wirkungen den im Kapitel 4 beschriebenen Einflussfaktoren zukommen. Anschließend werden theoretische Ansätze vorgestellt, die versuchen, in der Vielfalt der Phänomene eine gewisse Ordnung zu finden. In weiteren Abschnitten werden konkrete Studien vorgestellt, die sich mit dem Strukturaspekt der Entscheidungsfindung befassen. Es handelt sich, aus Sicht des Verfassers, um 16 exemplarische Studien, in denen sich die Möglichkeiten, aber auch die Schwierigkeiten zeigen, zu belastbaren Aussagen über die Bedeutung von sozialen Strukturen für die kollektive Entscheidungsfindung zu gelangen. Das Kapitel 9 beschließt das Buch mit einigen Überlegungen zur Einordnung des Entscheidungshandelns, seiner Bestimmtheit und seiner Wirkmächtigkeit. Entscheidungen werden in ihrer Bedeutung nicht selten überschätzt. Schließlich nehmen sich Menschen gern wichtig, ebenso wie ihr Tun. Vieles spricht allerdings 36

dafür, dass Entscheidungen oft nur äußere Erscheinungsformen des Wirkens anderer, größerer Kräfte und mächtigerer Strömungen sind. Allgemein lässt sich diese Frage wohl nicht beantworten, denn zweifellos vollziehen viele Entscheidungen nur nach, was ohnehin schon im Gang ist, aber es gibt auch Entscheidungen, auf die es ankommt, die dem Geschehen eine eigene Dynamik verpassen. Nicht selten wünscht man sich, dass sie anders ausgefallen wären und bei näherer Betrachtung stellt sich meist heraus, dass es oft an Kleinigkeiten und manchen Zufälligkeiten liegt, ob ein Entscheidungsprozess die eine oder die andere Richtung nimmt. Das heißt nicht, dass man dem ausgeliefert wäre, es heißt aber, dass nicht nur die Inhalte einer Entscheidung, sondern auch die Wendungen, die ein Entscheidungsprozess nehmen kann, höchste Aufmerksamkeit verdienen.

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Kapitel 2: Das Kollektive Individuelle und Kollektive Entscheidungen Was sind „kollektive“ Entscheidungen? Die Antwort scheint offenkundig zu sein: Von einer kollektiven Entscheidung spricht man dann, wenn zwei oder mehr Personen gemeinsam eine Entscheidung treffen. Aber so recht klar ist damit noch nichts, denn was soll das heißen, gemeinsam eine Entscheidung zu treffen? Ist damit gemeint, dass die Entscheidung einvernehmlich getroffen wurde? Und setzt eine Entscheidung eine deutlich artikulierte Entschließung voraus? Soll man Vereinbarungen, die nicht mit einem förmlichen Beschluss besiegelt werden, sondern auf einer impliziten Verständigung beruhen, nicht als Entscheidungen gelten lassen? Und was bedeutet in diesem Fall (und auch sonst) Mitwirkung an einer Entscheidung? Spielen Personen, die in der einen oder anderen Form in das Entscheidungsgeschehen verwickelt sind (als Informanten, Ratgeber, Beobachter, Aufseher, Lobbygruppen, Störtrupps, Unterstützer, Leidtragende und Profiteure einer Entscheidung), keine Rolle, weil sie kein förmliches Mitsprache- oder gar Stimmrecht haben? Wer also trifft kollektive Entscheidungen? Die Personen, die sich zu einer vereinbarten Zeit, an einem vereinbarten Ort zu einem vereinbarten Thema treffen, Informationen austauschen, diskutieren, beraten, verhandeln und schließlich einen Beschluss fassen? Diese Personen auch. Aber die geschilderte Situation ist schließlich nicht die einzige und wahrscheinlich die am wenigsten bedeutsame, wenn es um wirklich „entscheidende“ Weichenstellungen geht. Das formelle Entscheidungsgeschehen vermittelt nämlich oft nur das äußerlich sichtbare Bild eines sich eher im Verborgenen abspielenden Geschehens. In offiziell dazu anberaumten Sitzungen werden zwar tatsächlich oft Beschlüsse gefasst, die diesen Beschlüssen zugrundeliegenden Entscheidungen (jedenfalls die wichtigen) sind jedoch oft bereits im Vorfeld getroffen worden und zwar nicht von allen, die formell dazu 38

autorisiert sind, sondern von einem engeren Kreis einflussreicher Personen und mitunter auch von Personen und Gruppierungen, deren Wirken sich dem Blick verschließt, die gewissermaßen im Hintergrund ihre Fäden ziehen. Die größte Bedeutung hat aber die alltägliche Handlungspraxis, in der die Entscheidungen, die in ihr zum Tragen kommen, oft gar nicht als solche wahrgenommen, nicht thematisiert und auch nicht weiter reflektiert werden. Handeln und Entscheiden gehen hier eine innige Verbindung ein und ob das Handeln dem Entscheiden oder das Entscheiden dem Handeln vorausgeht, lässt sich oft gar nicht genau sagen. So kommt es manchmal zu abrupten Brüchen im Ereignisstrom, ohne dass hierzu ein formaler Beschluss getroffen wird, und zwar einfach durch eine „entschlossene“ Tat, die dem Geschehen eine neue Richtung gibt. Meistens gehen (latentes) Entscheiden und Handeln aber Hand in Hand und zwar ohne dass damit ein großes Aufsehen verbunden wäre. In der Summe der vielen Mikrohandlungen ergibt sich gewissermaßen schleichend eine neue Ausrichtung, was allerdings oft erst in der Nachbetrachtung deutlich wird. Man kann in diesem Fall von einer unbestimmten Bestimmtheit sprechen. Sie findet sich, in anderer Ausprägung, auch im Ausweichverhalten, im Unterlassen, in den sogenannten Non-Decisions. Im Ignorieren von Handlungsaufforderungen überlässt man sich den Geschehensabläufen und trifft damit durchaus Entscheidungen, wenngleich man das oft nicht recht wahrhaben will. Damit stellt sich erneut die Frage nach „dem Entscheider“. Wenn sich gar nicht genau nachvollziehen lässt, welche Entscheidungen im Einzelnen den Verhaltenspfad einer Gruppe oder einer Organisation bestimmen, wenn sich Verhaltensweisen also aus der inneren Logik des jeweiligen sozialen Systems heraus entwickeln, ist es dann nicht folgerichtig, wenn man von Entscheidungen des jeweils betrachteten Systems (der Gruppe, der Organisation) spricht? Und gilt das auch für Gremienentscheidungen? Man sagt zwar, der Aufsichtsrat, die Regierung, das Gericht, das Amt etc. habe die und die Entscheidung getroffen, aber ist das – jenseits juristischer Als ob Unterstellungen – eine sinnvolle Redeweise? Denn tatsächlich können nur Personen Entscheidungen treffen. Selbst wenn eine Personenmehrheit (etwa mittels einer Abstimmung) in einer formell dazu autorisierten Gruppe einen Entschluss fasst, sind es immer die einzelnen Personen, die entscheiden. Und wenn man verstehen will, wie ein kollektiv erarbeiteter Entschluss zustande kommt, dann wird man darauf rekurrieren müssen, was die einzelnen Personen bewegt und zu ihrem Tun veranlasst. 39

Mit dieser Feststellung soll die Bedeutung der Sozialsphäre für das individuelle Handeln nicht in Abrede gestellt werden, sie zu überschätzen, fällt im Gegenteil äußerst schwer. Man kann sogar so weit gehen zu behaupten, dass letztlich jede und sei es die eigenwilligste Individualentscheidung letztlich kollektiv abgestützt, eingebunden oder verankert ist. So mag der Leiter einer Organisation mit umfänglichen Vollmachten ausgestattet sein und daraus den Anspruch ableiten, selbstherrlich schalten und walten zu dürfen. Ob das möglich ist, hängt aber maßgeblich davon ab, ob man ihn lässt und davon, ob es ihm gelingt, sich die notwendige Unterstützung für seine Vorhaben zu beschaffen. Und falls sich eine autoritäre Herrschaft etablieren sollte, dann liegt das an dem kollektiven Versäumnis, Checks und Balances zu implementieren, die Machtakkumulation und Machtmissbrauch in Schach halten können. Das kollektive Element gerät in diesen Fällen, obwohl durchaus präsent, leicht aus dem Blick, wie auch immer dann, wenn sich eine Person durch ihre Taten besonders hervortut. Als Beispiel sei der Fall von Nick Leeson angeführt, der, mit erheblicher krimineller Energie ausgestattet, hochriskante Spekulationsgeschäfte an der Börse in Singapur abwickelte und damit seinen Arbeitgeber, die englische Barings-Bank, in den Ruin trieb (Leeson/Withley 1996). Leeson handelte allein und dennoch nicht allein. Zwar wird in den Beschreibungen der Vorgänge, wohl zurecht, darauf hingewiesen, dass das Management der Bank seinen Angestellten weitgehend unbeaufsichtigt walten ließ (unter anderem wegen der Erfolgsmeldungen und weil die Barings-Manager selbst wenig von den Börsengeschäften Leesons verstanden). Gänzlich unaufmerksam und untätig waren seine Vorgesetzten allerdings nicht, immerhin musste Leeson diese ja täuschen und die Verluste, die er machte, auf einem Geheimkonto verstecken. Leeson war also durchaus nicht der einsame Spieler, der sich außerhalb seines sozialen Bezugsfelds bewegen konnte. Die Teilnehmer an einem Entscheidungsprozess finden sich in recht unterschiedlichen Konstellationen zusammen. Tabelle 2.1 gibt eine Übersicht. Es handelt sich dabei um eine bloße Auswahl, wobei außerdem noch zu bedenken ist, dass überall dort, wo „Person“ steht, auch „Gruppe“, „Koalition“, „Partei“ oder „Organisation“ stehen kann. Was mit der Übersicht deutlich gemacht werden soll, ist jedenfalls, dass wir es mit sehr vielfältigen Ausgangssituationen kollektiven Entscheidens zu tun haben und sich entsprechend das Verhältnis des Einzelnen zum Kollektiv auf eine je besondere Weise darstellt. Im folgenden Abschnitt wird auf einige herausgehobene Aspekte dieses Verhältnisses eingegangen. 40

Kollektive Entscheidung Eine Person trifft eine Entscheidung „für sich“, ohne die primäre Absicht, das Verhalten Dritter zu beeinflussen (was sich aber nicht vermeiden lässt). Eine Person trifft eine Entscheidung „für sich“ mit der bewussten Inkaufnahme von Folgen für Dritte.

Beispiele Johann Wolfgang Goethe entschließt sich, Schriftsteller zu werden.

Paula entschließt sich, nachdem ihre Kinder alle eingeschult sind, ihre zwischenzeitlich aufgegebene Berufstätigkeit wieder aufzunehmen. Eine Person trifft eine Entscheidung Paula unternimmt Schritte, um ihrer mit der expliziten Absicht, das Verhal- Tochter deren Verehrer abspenstig zu ten Dritter zu beeinflussen (ohne diese machen. davon in Kenntnis zu setzen). Eine Person trifft eine Entscheidung Paul entzieht dem langzeitstudierenden mit der expliziten Absicht, das Verhal- Sohn die finanzielle Unterstützung. ten Dritter zu beeinflussen (mit in Kenntnissetzung). Zwei oder mehrere Personen treffen Jurij Schiwago und Larissa Antipowa eine Entscheidung „nur für sich unter- gehen ein (platonisches) Liebesverhälteinander“, ohne die primäre Absicht, nis ein. das Verhalten Dritter zu beeinflussen (was sich aber nicht vermeiden lässt). Eine Person beschließt, das Verhalten Paul mischt sich trotz großer VorbeDritter stillschweigend zu dulden. halte nicht in die Erziehung seiner Enkelkinder ein. Es gibt ein stillschweigendes Einver- Paul unternimmt als Verkaufschef nehmen über eine verbreitete kollek- nichts, wenn seine Mitarbeiter den Eintive Praxis. käufern ihrer Kunden „persönliche Extra-Prämien“ für den Fall zusagen, dass ein anvisierter Großauftrag zustande kommt. Es gibt ein stillschweigendes Einver- Mitglieder eingespielter Teams übernehmen zwischen zwei oder mehr Be- nehmen ungefragt ihre Aufgaben. teiligten im Hinblick auf ein gemeinsames Vorgehen. 41

Probleme werden vom Kollektiv verleugnet. Probleme werden kollektiv verschoben.

Man vermeidet Tabu-Themen, richtet sich in Lebenslügen ein usw. Der Klimawandel ist das Problem künftiger und nicht der jetzigen Generationen. Es kommt zu einem kollektiven Fest- Man glaubt an „Wunderwaffen“ und halten an Hirngespinsten. „Endsiege“. Personen, die auf Probleme aufmerk- Kassandra findet kein Gehör. sam machen, werden ausgegrenzt. Es erfolgt eine implizite Abstimmung. Ein Entscheidungsgegenstand wird so lang besprochen, bis jedem klar ist, wer sich durchsetzen wird (ohne dass ein formeller Beschluss gefasst werden muss). Eine Person wird ermächtigt/gebeten, Paul bittet Paula, das Geld seiner Famidie Entscheidung für eine andere Per- lie nach freiem Belieben möglichst geson oder eine Gruppe zu treffen. winnbringend anzulegen. Eine Person trifft eine Entscheidung Der Verhandlungsführer wird ermächim Auftrag und im Namen der Gruppe tigt, die Konditionen einer Vereinbarung als deren Repräsentant. mit dem Verhandlungspartner nach eigenem Gutdünken auszuhandeln und festzulegen. Eine Person trifft eine Entscheidung in Der Trainer einer Fußballmannschaft Ausübung ihrer Rolle. bestimmt die Aufstellung. Zwei oder mehr Personen treffen ihre Helena liebt Demetrius, Demetrius liebt je eigenen (miteinander verketteten) Hermia, Hermia liebt Lysander, LysanEntscheidungen. der liebt Helena (jedenfalls eine Zeit lang). Jede der Personen will die von ihr geliebte Person für sich gewinnen. Zwei oder mehr Personen treffen ihre je Überdurchschnittlich viele Personen eigenen (miteinander verketteten) Ent- wollen ihren Wunsch nach einem Eigenscheidungen, ohne voneinander und heim verwirklichen, es kommt zu einem von ihren Entscheidungen wechselsei- Bau-Boom und steigenden Grundtig zu wissen. stückspreisen.

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Zwei oder mehr Personen treffen Entscheidungen zum selben Entscheidungsgegenstand ohne Kenntnis davon, ob oder dass andere Personen ebenso handeln bzw. nicht handeln. Zwei oder mehr Parteien treffen Entscheidungen, die denen der jeweils anderen Partei widersprechen.

Zwei oder mehr Personen treffen nebeneinanderher auseinanderlaufende Entscheidungen. Eine Person trifft eine Entscheidung für eine Gruppe. Eine Gruppe trifft eine Entscheidung.

In einer Organisation schwirren Gerüchte umher, Informationen werden bestätigt, zurückgehalten, widerrufen usw. Die Regierung von Großbritannien strebt einen Nord-Süd-Gürtel, die Regierung von Frankreich strebt einen OstWest-Gürtel von Kolonien in Afrika an. Es kommt zur Faschoda-Krise. Die Kollegen in der Verkaufsabteilung buchen ihre Urlaubsreisen so unglücklich, dass es im August zu einer erheblichen Unterbesetzung kommt. Der Bergführer beschließt, die Tour wegen schlechten Wetters abzubrechen. Der Skat-Treff Trumpf beschließt, einen Ausflug ins Skatmuseum zu unternehmen. Der Vorstand beschließt, den Produktionsstandort in Altstadt aufzugeben.

Ein hierzu autorisiertes Gremium trifft eine Entscheidung im Namen und für eine Organisation. Eine nicht autorisierte Gruppe trifft Der Finanzchef und der stellvertretende eine Entscheidung für die Organisa- Geschäftsführer beschließen eigenmächtion. tig, außerordentliche Erträge in Junk Bonds anzulegen. Eine Organisation trifft eine Entschei- Der Bundestag beschließt ein Gesetz. dung. Tab. 2.1: Arten kollektiver Entscheidungen (Auswahl)

Wie bereits angeführt, ist es fraglich, ob wichtige Entscheidungen einer Person überhaupt je Individualentscheidungen im Wortsinn sein können. Schließlich ist der Mensch sozial determiniert. Ein historisch besonders eindrückliches Beispiel liefert der Befehl des amerikanischen Präsidenten Truman, die Atombombe in 43

Hiroshima abwerfen zu lassen. Die mit dieser Entscheidung befassten Akteure sahen darin, bis auf wenige Ausnahmen, gar kein sonderliches moralisches Problem, ein Tatbestand, der schon einiges über die Macht des Sozialen besagt, wenn man bedenkt, dass heutzutage der Atombombenabwurf für viele Personen als moralisch absolut verwerflich gilt. Ein weiterer Punkt betrifft die Entscheidungsgewalt des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Ihm obliegt die letzte Entscheidungskompetenz und es ist spekuliert worden, ob nicht ein anderer Präsident (etwa der Vorgänger Roosevelt) anders entschieden hätte. Truman galt als eher weicher Mann. Robert Lifton, der sich mit der Hiroshima-Entscheidung intensiv beschäftigt hat, beschreibt ihn so: „Truman fühlte sich genötigt, seine eher empfindsame oder ‚weibliche‘ Seite mit unerschrockenem, scheinbar hartem männlichen Verhalten zu unterdrücken.“ Auf den Einwand der ihn interviewenden Journalisten: „Aber Sie wollen doch nicht die Entscheidung zum Abwurf der Bombe mit psychologischen Problemen des Präsidenten erklären?“ antwortet er: „Nein, meines Erachtens ist die Hiroshima-Entscheidung Teil einer Gräueltaten heraufbeschwörenden Situation ... Truman sah sich dem Druck kollektiver Energien und Leidenschaften ausgesetzt, die in ihrer Summe darauf hinausliefen, eine Entscheidung zum Einsatz der Bombe zu treffen“ (Lifton 1995). Das Beispiel zeigt außerdem, dass die Bedeutung des Kollektiven sich nicht allein aus dem Tatbestand speist, dass man es mit mehreren Personen mit unterschiedlichen Interessen zu tun hat. Rein logisch ergibt sich daraus noch kein Unterschied zur Erklärung des Entscheidungsverhaltens von Individuen, denn schließlich stecken auch in jedem Menschen widerstreitende nicht kompatible Strebungen und auf eine wirklich konsistente Präferenzordnung kann auch der einzelne Entscheider nur selten zurückgreifen. John Elster beispielsweise geht so weit zu behaupten, dass man die Konflikte, die sich daraus für das individuelle Verhalten ergeben, als Collective Action Problem sehen kann (Elster 1985). Die Literatur, die sich mit den sozialen Aspekten des Entscheidungsverhaltens beschäftigt (vgl. Goldstein und Hogarth 1997, 35), behandelt vor allem Fragen wie die, ob Gruppen bessere Entscheidungen treffen als Einzelpersonen, ob die Urteilsfindung von Personen vom sozialen und organisationalen Kontext beeinflusst wird, ob also beispielsweise schon allein die Anwesenheit anderer Personen Auswirkungen hat und ob man sich anders entscheidet, wenn man glaubt oder weiß, dass man von Dritten beurteilt wird, wie das kulturelle Umfeld die Entscheidungsfindung prägt usw. Untersucht werden außerdem Prozesse der Entscheidungsfindung in 44

Gruppen, Muster der Verhandlungsführung und Konfliktverläufe, die Bedeutung von Bezugsgruppen und Bezugspersonen für das Entscheidungsverhalten usw. Worin das jeweilige Besondere des „Sozialen“ besteht, darauf geben die meisten Studien allerdings keine allgemeine und klar konturierte Antwort. Mittelbare Hinweise auf die Bedeutung des sozialen Kontextes für die Entscheidungsfindung ergeben sich aus den Eigenheiten sozialer Systeme. Die individuelle Entscheidungsfindung, sofern man überhaupt davon sprechen kann, nimmt ihren je eigenen Verlauf in Ansammlungen und Versammlungen, Massen und Gruppen, Freundeskreisen und Arbeitszusammenhängen, Klassen und Milieus, in Wirtschaftsunternehmen, in Universitäten, Kooperativen, Kulturbetrieben, Vereinen, Wohltätigkeitsorganisationen, beim Militär, in Behörden, sozialen Verbänden, in Ausschüssen und Kabinetten, in Planungsstäben und Exekutivorganen usw. Der soziale Kontext kanalisiert das Denken und Handeln, er engt die mentalen und materiellen Bewegungsräume nicht nur formal, sondern auch inhaltlich ein. Das hat seine Vorzüge, vermittelt es doch Handlungssicherheit und entlastet von mentalem und moralischem Aufwand. Die Nachteile liegen aber ebenfalls auf der Hand, sie ergeben sich vor allem aus dem Erwartungsdruck des sozialen Umfelds, dem man sich kaum entziehen kann, wenn man nicht Missbilligung und Isolation riskieren will. Jedenfalls braucht es einiges an Willenskraft und Durchsetzungsvermögen, um sich von den Zumutungen der sozialen Ansprüche zu emanzipieren.

Unhintergehbarkeit Entscheidungen und Handlungen werden durch das jeweilige institutionelle Gefüge, in das sie eingebettet sind, stark vorgeprägt. Die soziale Vorprägung menschlichen Handelns hat allerdings noch einen wesentlich tieferen Grund, sie ergibt sich schlichtweg aus der sozialen Natur des Menschen, daraus, dass er als „nicht festgestelltes Mängelwesen“ (Arnold Gehlen) in einem langen Prozess erst noch lernen muss, auf dieser Welt einigermaßen zurechtzukommen. Das kann er nicht allein, er ist auf sein soziales Umfeld angewiesen, das ihm „beibringt“, wie man sich verhalten kann, darf und muss und wie man zu denken und zu fühlen hat. Es geht in diesem Lernprozess nicht um einen Lehrstoff, den man sich mehr oder weniger flüchtig aneignen kann, um ihn nach Belieben wieder zu vergessen. 45

Die Prägungen, die man im Heranwachsen erfährt, lassen sich nicht einfach wieder abschütteln, sie werden vielmehr Bestandteil der Persönlichkeit und bestimmen damit sehr stark, wie man Situationen beurteilt, wie man mit neuen Erfahrungen umgeht, bei welchen Gelegenheiten man sich wohlfühlt, wovor man zurückschreckt und was man tun will. Wie bedeutsam die soziale Programmierung ist, spürt man deutlich bei der Konfrontation mit einer anderen Kultur. Sich als Neuling darin zurechtzufinden, seine neue Umgebung zu verstehen, die Gedankengänge und Motivationen der Fremden nachzuvollziehen, fällt oft äußerst schwer. Selbst Kulturanthropologen, die gewissermaßen Profis im Dekodieren und Analysieren fremder Kulturen sind, haben da ihre Probleme, wie die Kontroversen um die richtige Deutung typischer Verhaltensweisen, der Gebräuche, Sitten und Traditionen der von ihnen untersuchten Stämme und Gesellschaften belegen (vgl. z.B. Layton 1997; Sidky 2004). Man ist sich nicht einmal einig darüber, ob eine objektive kulturvergleichende Forschung überhaupt möglich ist (Göller 2014). Das geht manchmal so weit, dass externen Beobachtern generell die Fähigkeit abgesprochen wird, eine fremde Kultur verstehen zu können. Die Vertreter dieser Inkommensurabilitätsthese (vgl. u.a. Hollis/Lukes 1982; Hoyningen-Huene/Sankey 2001; Povinelli 2001) neigen allerdings zu Übertreibungen, schließlich lässt sich Fundamentalkritisches auch über das Verstehen der eigenen Kultur sagen, denn wer kann schon sagen, worin sie sich begründet, in welcher Weise sie von uns Besitz ergreift, an welchen Stellen und warum sie unser Verhalten lenkt? Da bleibt vieles widersprüchlich, rätselhaft und verborgen. Festgehalten werden kann jedenfalls, dass das menschliche Verhalten kulturdurchtränkt ist und damit das Kollektiv im Medium kulturell geprägter Denkund Antriebsmuster selbst in vorderhand rein individuellen Entscheidungen immer präsent ist. Und zwar selbst dann, wenn man wirklich allein ist, wenn also gar niemand da ist, der darauf achtet, dass soziale Vorgaben, Gewohnheiten und Standards zur Geltung kommen. Robinson Crusoe verhielt sich nicht zufällig wie ein Engländer. Stammte Robinson aus Ostindien, aus dem Jemen oder aus Grönland, und Daniel Defoe ebenfalls, wir hätten es sicher mit anderen Verhaltensweisen Robinsons und anderen Schilderungen seiner Eigenheiten zu tun. Das Kollektive manifestiert sich aber nicht nur als mentaler Hintergrund, sondern auch in der direkten Konfrontation mit Ansprüchen, die die soziale Umwelt wie selbstverständlich an uns richtet. Und diesbezüglich findet man natürlich 46

auch Widerstand. Nonkonformisten, Aussteiger und Rebellen stellen sich gegen die sozialen Zumutungen, sie bestehen auf ihrem Eigenrecht und suchen nach Wegen, diesem Geltung zu verschaffen. Sie heben damit aber, näher betrachtet, die Macht des Sozialen nicht etwa auf, ihre Auflehnung und die Kraft, die sie für ihr Anderssein-Wollen aufwenden müssen, zeigen im Gegenteil, wie stark die sozialen Kräfte sind. Im Übrigen richtet sich der Protest in aller Regel auch gar nicht darauf, ein völlig von jedem sozialen Bezug abgeschottetes Individualreich zu etablieren, sondern darauf, sich mit Gesinnungsgenossen zusammenzutun, um ein alternatives Soziotop zu schaffen, in dem zwar andere Regeln, aber durchaus Regeln, zur Geltung kommen, gegen die man dann ebenfalls nur gegen den Preis des Orientierungsverlusts, der Ausgrenzung und der Bestrafung verstoßen darf. Ähnlich paradox präsentiert sich ein Alltagsphänomen, das wohl jeder kennt. In unserer Gesellschaft wird dem individuellen Streben und der Ausbildung einer eigenen Persönlichkeit großer Wert beigemessen. Man soll etwas Besonderes, möglichst etwas Einzigartiges sein oder zumindest darstellen. Kaum jemand wird sich zu seiner Mittelmäßigkeit und zu seiner Willfährigkeit bekennen. Offenbar existiert ein starker Druck, sich dem gleichfalls starken sozialen Druck nach Einordnung entgegenzustellen. Es handelt sich hierbei allerdings nur um eine sehr abgeschwächte Paradoxie, weil niemandem gestattet wird, seinen Nonkonformismus zu weit zu treiben, er darf sich letztlich nur in eingehegten Bezirken (in Stilfragen, Allüren, Hobbies, Konsumgewohnheiten …) entfalten, in denen er keinen Schaden anrichten kann. Die Bedeutsamkeit sozial definierter Vorprägungen des Handelns zeigt sich auch in dessen enger Bezugnahme auf soziale Schemata und Skripts. Unter einem sozialen Schema versteht man eine Menge von Erwartungen, die sich auf ein bestimmtes Thema richten, Skripts sind Schemata über Ereignisse und Abläufe. Schemata und Skripts sagen einem, womit man zu rechnen hat, worauf man sich einlässt. Einladungen zu einer Party oder zu einem Mitarbeitergespräch zum Beispiel rufen je eigene und relativ prägnante Bilder hervor. Unterschiedliche Vorstellungen werden beispielsweise auch geweckt, je nachdem ob man zu einer Anhörung geladen oder zu einem Verhör vorgeladen wird. Ohne den Rekurs auf Schemata und Skripts kann man sich ein einigermaßen geordnetes Verhalten gar nicht vorstellen. Sie fließen in die Definition der Situation ein und füllen sie mitunter völlig aus. So folgen viele manuelle und geistige Verrichtungen (Montagearbeiten, die Ausarbeitung einer Klageschrift, Programmiertätigkeiten usw.) einem 47

ausgeklügelten Schema. Neben elaborierten Schemata gibt es eine Fülle einfacher Schemata und Skripts, die das Verhalten zwar nicht voll umfänglich bestimmen, ihm aber doch eine Richtung geben können. So macht es beispielsweise einen Unterschied, ob bei der Planung des nächsten Urlaubs das Erholungs- oder das Erlebnisschema zum Zug kommt. Schemata und Skripts sind gewissermaßen Denk- und Verhaltensmoleküle, die je nach Konstellation erstens unterschiedliche und zweitens komplexe Verhaltensweisen hervorbringen können. Schemata und Skripts geben vor, welchen Informationen man vertrauen kann, wie man auf Misserfolge reagieren, welchen Gedankengängen man folgen soll usw. Sofern sie sozial verankert sind (und das sind sie in aller Regel), dienen sie auch der Verhaltensabstimmung. Studenten und Professoren, die zu einer Vorlesung zusammenkommen, wissen, was in einer derartigen Veranstaltung geschieht und richten sich darauf ein. Happenings scheinen, damit verglichen, einen chaotischen Verlauf zu nehmen, aber letztlich folgen sie nur anderen Regeln, die den Beteiligten durchaus geläufig sind. Aber nicht immer stimmen die Schemata der an einem sozialen Ereignis Beteiligten überein, obwohl es, dem Wortsinn nach, der Fall zu sein scheint. So wissen die Beteiligten an einer Verhandlung „eigentlich“, was „harte Verhandlungen“ sind: Es geht nur zäh voran, man verliert sich in vielen Details, nähert und entfernt sich von den Kernforderungen, demonstriert Entschlossenheit, zeigt sich betroffen und empört, spricht ins Unreine, macht Kompensationsangebote, deutet Kompromisse an und weist sie zurück, um sich schließlich doch einer Vereinbarung anzunähern. Das ist dann zwar alles anstrengend, aber gewissermaßen auch normal. Unerfreulich wird es allerdings, wenn das skizzierte Schema nur auf der einen Seite so verankert ist. Wenn die andere Seite unter einer harten Verhandlung nicht das zähe Ringen um eine wechselseitig akzeptable Lösung versteht, sondern meint, deren Wesenskern bestehe in der Niederwerfung des Gegners, dann kommen die Verhandlungspartner nicht zusammen, sie reagieren auf die Vorstöße der anderen Partei gewissermaßen falsch, ihre Erwartungen werden enttäuscht und es kommt nicht zu einer gemeinsamen Verständigung, sondern zu erheblichen Frustrationen. In der Image-Theorie von Lee Roy Beach und Terence Mitchell (vgl. ausführlicher Kapitel 7) geht es um die Bedeutung von Schemata, die sie „Images“ nennen, für die Entscheidungsfindung. Die Autoren heben heraus, dass sich Menschen mit ihren Entscheidungen oft nicht lange herumschlagen. Sie greifen auf vorgeprägte 48

Lösungshilfen zurück und kommen damit auf einem recht direkten und unproblematischen Weg zu ihren Entscheidungen. Das erste der vier Images, auf die die Autoren eingehen, bezieht sich auf grundlegende Werte und Überzeugungen. Im organisationalen Kontext geht es dabei um das „Selbstverständnis der Organisation“. Das zweite Image richtet sich auf Ziele, das dritte auf mögliche Pläne zur Zielerreichung und das vierte auf die Folgen, die sich aus einer Verwirklichung der Verhaltenspläne ergeben könnten. Wie man unschwer erkennt, beziehen sich diese Images auf die Grundkonzepte der Entscheidungstheorie: motivationale Grundlagen, Ziele, Alternativen, Ergebnisse. Als psychologische Konstrukte sind sie jedoch reichhaltiger als die Kategorien der ökonomisch-statistischen Entscheidungstheorie. So erschöpfen sich die grundlegenden Motivationen zum Beispiel nicht im strikten Eigeninteresse. Auch lassen sich die Images nicht auf ganz spezifische Inhalte reduzieren, sie umfassen vielmehr ein breites Spektrum von sehr abstrakten bis zu sehr konkreten Vorstellungen. Das Selbstverständnis einer Organisation verorten Beach und Mitchell beispielsweise nicht nur im Erfolgsstreben, sondern ebenso am Interesse an guten Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen, die Ziele umfassen so unterschiedliche Bereiche wie das allgemeine Unternehmenswachstum und die Umsatzentwicklung in einem speziellen Produktsegment. Die Orientierung an Images vermittelt den Mitgliedern einer Organisation Verhaltenssicherheit und sie vereinfacht deren Entscheidungsfindung beträchtlich. Handlungsoptionen, die nicht zu den in der Organisation geltenden Images passen, kommen von vornherein nicht infrage und soweit man sich innerhalb der Verhaltensspielräume bewegt, die von den Images definiert werden, kann man sich mit den Kollegen gut verständigen. Die Orientierung an den gemeinsamen Images erleichtert entsprechend auch die Koordination der Abläufe und Projekte in einer Organisation. Was bedeutet das für die kollektive Entscheidungsfindung? Beach und Mitchell geben sich angesichts der Tücken der Kommunikation und der Omnipräsenz des Politischen keinen Illusionen hin – und sie wollen daher auf diese Frage keine umfänglichen Antworten geben. Sie beschränken sich in ihren Ausführungen stattdessen auf eine, wie sie es nennen, „idyllische“ Vorstellung über kollektives Entscheiden, d.h. sie betrachten z.B. in keiner Weise das unübersichtliche Geschehen, das sich mit den verschachtelten Prozessen des kollektiven Erkennens, Ignorierens, Voranbringens, Unterdrückens, Behauptens, Interpretierens usw. von entscheidungsrelevanten Informationen und Meinungen verbindet. Sie beziehen 49

ihre Überlegungen auf klar abgrenzbare Gruppen und Gremien, die anlassbezogen zusammenkommen, um darüber zu entscheiden, ob sie, angesichts eines vorbestimmten Ziels, einem zur Diskussion stehenden Vorhaben zustimmen wollen. Weiter setzen sie voraus, dass sich alle Mitglieder dieser Gruppen gleichermaßen von den von den Autoren angeführten Images leiten lassen. Auch zur Frage, wie aus der vereinfachten Bedingungskonstellation eine kollektive Entscheidung entsteht, geben die Autoren keine nähere Auskunft. Sie stellen lediglich heraus, dass selbst in der von ihnen als quasi optimal unterstellten Form der Ko-Orientierung die Entscheidungsfindung oft alles andere als reibungslos verläuft. Allein aufgrund der Positionen, die die Entscheidungsteilnehmer in der Organisation einnähmen, entwickelten sie je spezifische Perspektiven, die sich trotz der gemeinsamen Bezugsbasis nicht ohne Weiteres vertragen. Es bleibt damit unbestimmt, wie sich die Autoren den Weg zu einer Übereinstimmung vorstellen. Letztlich rekurrieren sie auf wechselseitige Überzeugungsversuche und Diskussionen (Beach/Mitchell 1990, 19). Muss man, angesichts dieses Ergebnisses, die Bedeutung kognitiver Schemata relativieren? Was man festhalten kann, ist jedenfalls, dass Schemata, sofern sie abstrakt bleiben und sich auf wenig gehaltvolle Inhalte (wie z.B. das vorgebliche Selbstverständnis eines Unternehmens) beziehen, sich tatsächlich nur lose mit dem konkreten Verhalten verbinden lassen. Das schmälert allerdings keineswegs die Bedeutung, die Schemata und Skripts ganz allgemein zukommt. Es erweist sich allerdings als notwendig, den Situationsbezug der jeweils aufgerufenen Schemata zu berücksichtigen. Ähnlich wie Schemata und Skripts, aber in umfänglicherem Sinn, lenken Rollenvorgaben das Handeln und das umso mehr, je mehr eine Rolle quasi zu einem Teil der Persönlichkeit wird. Das ist manchmal fast unvermeidlich, weil viele Rollen nicht nur ein äußerlich korrektes Auftreten (als Geschäftsführer, Regisseur, Assistent, Berater …), sondern darüber hinaus die aktive Übernahme der Rolle und deren überzeugende Ausführung verlangen. Der emotionalen Seite kommt dabei eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu, mitunter kann der Rollenzwang nämlich äußerst belastend sein. Andererseits hat der Rückzug auf eine Rolle auch eine handlungsentlastende Funktion (Dreitzel 1980). Und abgesehen von Extremfällen eröffnen Rollen den Rollenträgern durchaus Handlungsspielräume. Innerhalb dieser Spielräume herrscht aber keinesfalls individuelle Willkür, weil auch die Ausfüllung von Handlungsspielräumen sozialen Regeln gehorcht, 50

deren Verletzung nicht einfach geduldet wird (s.u.). Zwar sollten Regeln nicht verwechselt werden mit Geboten und Verboten, Befehlen, Vorschriften und Anweisungen. Verglichen mit derartigen Vorgaben sind soziale Regeln wesentlich offener, flexibler und unbestimmter. Das macht sie jedoch nicht beliebig. Man kann sie zwar übertreten und mitunter kommt es auch zu häufigen und kollektiven Regelverletzungen, wirklich akzeptiert werden diese aber erst, wenn die Regeln, an die man sich nicht mehr halten will, ihren Geltungsanspruch tatsächlich schon verloren haben. Auch hierbei, bei der Auflösung von Regeln, ebenso wie bei deren Etablierung spielen Regeln eine maßgebliche Rolle, man spielt in diesem Fall gewissermaßen nur ein anderes Spiel mit eigenen Regeln.

Rationalitätsfallen Regelorientiertes Verhalten schließt Verhalten, das auf das Eigeninteresse bezogen ist, nicht aus. So geht es beispielsweise in sportlichen Wettkämpfen, die bekanntlich hoch reguliert sind, um nicht mehr und nicht weniger als ums Gewinnen. Die Teilnehmer lassen sich auf das Risiko ein, als Verlierer vom Platz zu gehen, weil sie der Ruhm (oder auch der materielle Gewinn), der sich mit dem Sieg verknüpft, dazu verlockt. Die Gesellschaft goutiert solche Wettbewerbe, weil sie ihr Unterhaltungsmöglichkeiten liefern. Und im ernsteren Leben wird Egoismus ebenfalls geduldet und gefördert, weil man davon ausgeht, dass die gesellschaftlichen Gewinne, die aus dem individuellen Erfolgs- und Durchsetzungsstreben erwachsen, die individuellen Blessuren der Niederlagen, die sich mit dem Wettbewerbskampf unvermeidlich verbinden, aufwiegen. Man kann also davon sprechen, dass das individuelle und von Egoismus getriebene Nutzenstreben, das man gemeinhin als Rationalverhalten bezeichnet, auch in einem sozialen Sinn als rational gelten kann. Das gilt allerdings, wie angedeutet, nur in einem eingeschränkten Sinn, nämlich dann, wenn institutionelle Sicherungen dafür sorgen, dass der Wettstreit gezähmt und in sozial verträgliche Bahnen gelenkt wird. Im Übrigen entsteht soziale Rationalität nicht hauptsächlich aus dem Gegeneinander, sondern aus dem Miteinander. Gemeinsam erreicht man bekanntlich (meistens) mehr als allein. Die Hoffnung auf gegenseitige Unterstützungsleistung ist oft der Hauptgrund dafür, sich mit anderen zusammenzutun. Billigerweise erwartet man dann ebenso, seinen gerechten Anteil am erzielten Mehrwert zu erhalten. Das ist aber unsicher. 51

Denn mancher überlässt das Kuchenbacken bekanntlich gern den anderen, ohne sich dann beim Kuchenessen ebenso zurückzuhalten. Faulenzen, Trittbrettfahren und Absahnen sind Gefahren und Versuchungen, die der gemeinschaftlichen Zielverfolgung fast naturhaft anhaften. Und weil beides im Sinne der individuellen Nutzenmehrung „rational“ sein kann, es also gleichermaßen vernünftig zu sein scheint, sich kooperativ an der Mehrung des Gemein- und damit auch des Eigenwohls zu beteiligen bzw. sich auf Kosten der anderen schadlos zu halten, spricht Philipp Herder-Dorneich (1992) von Rationalitätsfallen. Als Beispiel führt er die Kontrollproblematik aus Sicht der Eigentümer eines Unternehmens an. Die Eigentümer verbindet das gemeinsame Interesse an einem guten Betriebsergebnis und ein entsprechendes Interesse an einer Kontrolle des Managements. Bei einer größeren Zahl von Eigentümern wird die Kontrolle zum Kollektivgut, von dem jeder profitiert, zu dessen Erbringung aber nicht unbedingt jeder die Kosten tragen will. Eine Lösung besteht darin, einen Kontrolleur zu bestimmen und die daraus entstehenden Kosten auf alle umzulegen. Nun ist aber schon die Auswahl des Beauftragten ein Kollektivgut und entsprechend findet man nicht immer die notwendige Bereitschaft, sich an dessen Erbringung zu beteiligen, so dass im Extremfall gar kein Kontrollorgan eingesetzt wird. Auch für dieses Problem gibt es aber Lösungen. Ein Beispiel ist die gesetzliche Vorschrift zur verpflichtenden Einsetzung eines Aufsichtsrats wie im Aktienrecht. Allerdings ist ein Aufsichtsrat wiederum selbst ein Kollektiv, in dem nicht jeder bereit ist, sich seinen Aufgaben mit großem Engagement zu widmen. Eine mögliche Lösung für dieses Problem besteht darin, dem Vorsitzenden eine besondere Stellung einzuräumen, die ihm z.B. erlaubt, Drückebergerei zu ahnden. Nicht jeder will aber einen starken Vorsitzenden, zumal man sich damit wieder ein neues Kontrollproblem einhandelt. Ein schwacher Vorsitzender wiederum ist zu nichts nütze. Man sieht an diesem Beispiel, dass selbst zunächst banal erscheinende Probleme der kollektiven Regulierung verwickelt und mehrschichtig sein können und die Rezepte, die man zur Einhegung des Opportunismus anwendet, die Probleme nicht unbedingt lösen, sondern sie – auf einer anderen Ebene – manchmal nur reproduzieren. Das angeführte Beispiel betrifft die schwierige Kontrollrationalität im Verhältnis von Prinzipal und Agent. Ähnliche Probleme gibt es im Verhältnis einer Person zu sich selbst und im Verhältnis zu anderen – sich auf gleicher Ebene befindlichen – Personen. Das Verhältnis zu sich selbst betrifft vor allem die Schwierigkeit, unterschiedliche Bedürfnisse gegeneinander abzuwägen und kurz52

und langfristige Wirkungen des eigenen Verhaltens richtig einzuschätzen. Dieser Fall scheint trivial, denn hier scheint sich der Entscheider einfach zu „irren“. Eine nutzenadäquate Gewichtung der lang- und kurzfristigen Wirkungen würde das Dilemma (kleine Belohnung jetzt, große Belohnung später) auflösen. Hierin steckt jedoch ein echtes Problem, weil es keine verlässliche Diskontierungsmethode des langfristigen Nutzens gibt. Die Zukunft ist prinzipiell ungewiss. Und wie könnte man daher jemanden davon überzeugen, dass die Konsequenzen des Verhaltens, die sich erst in einer unabsehbaren Zukunft einstellen, überhaupt von Relevanz sind. Dass sich Menschen „rational“ verhalten und damit gegen ihre Interessen verstoßen, zeigt sich insbesondere in den Fällen, in denen jeder auf seinen Vorteil aus ist und daraus kollektiv (und damit wieder für jeden einzelnen) erhebliche Nachteile entstehen. Beispiele hierzu finden sich im Alltag eines jeden Menschen. In den ökonomischen Wissenschaften allerdings besteht eine starke Tradition, sich gerade an der kontraintuitiven Kuriosität der Verneinung des Egoismusdefekts zu erbauen. Die gängige Auffassung ist nämlich, dass in einer Marktwirtschaft aus der engstirnigen Verfolgung individueller Interessen kollektive Wohlfahrt erwächst. Der Markt besorgt als „unsichtbare Hand“ einen Ausgleich, ja sogar eine Steigerung sowohl der allgemeinen als auch der individuellen Bedürfnisbefriedigung. Fehlt ein soziales Regulativ (wie beispielsweise der Markt), kommt es dagegen leicht zu Beeinträchtigungen für das Gemeinwohl. An der Nutzung von Gemeingut, also von Gütern, auf die jeder ohne Einschränkung Zugang hat, lässt sich dies gut veranschaulichen. Garrett Hardin (1968) greift hierzu ein Beispiel von William Foster Lloyd auf, welches dieser im Jahr 1833 beschrieben hat. Angenommen verschiedene Viehzüchter nutzen gemeinsames Weideland. Bei der Entscheidung, seine eigene Herde zu vergrößern, wird sich ein einzelner Viehzüchter von der folgenden Überlegung leiten lassen: Welchen Nutzen habe ich, wenn ich meiner Herde ein weiteres Exemplar hinzufüge? Der Nutzen hat einen positiven und einen negativen Teil. Die positive Komponente besteht in der Möglichkeit, ein weiteres Tier zu verkaufen (was den eigenen Nutzen um einen angenommenen Wert von +1 Nutzeneinheiten erhöht). Die negative Komponente entsteht aus der Belastung des Weidelands durch die zusätzliche Nutzung durch ein weiteres Tier (Überweidung). Da der Effekt dieser Überweidung jedoch von allen Herdenbesitzern gemeinsam getragen wird, erreicht der negative Nutzen nur einen Bruchteil von -1. Folgt jeder Herdenbesitzer dieser 53

Überlegung, so wird es früher oder später zu einer Vernichtung des Weidelands kommen. Der individuellen Nutzenverfolgung steht anfangs kaum etwas im Weg. Solange genug Weideland zur Verfügung steht, tritt keine Nutzeneinbuße auf. Bei einer Ressourcenverknappung verändert sich dies in manchmal dramatischer Weise, was aber nicht zwangsläufig dazu führt, dass die Menschen von ihrem einmal eingeübten Nutzenkalkül lassen. Dies ist bekanntlich in vielerlei Hinsicht auch die Situation, in der wir heute leben. Es gibt praktisch keine freien Güter mehr (saubere Luft, unbelastetes Wasser, reiche Fischgründe, artenreiche Wälder). Der beschriebene Mechanismus der dysfunktionalen kollektiven Aneignung mag trivial erscheinen. Dass er leicht einsehbar ist, ist aber nur das eine, letztlich wichtig ist es, so Hardin, dass diese Einsicht auch Folgen hat, also sich im Handeln bemerkbar macht. Das ist aber leider nicht zu erwarten, weil die kollektive Nutzeneinbuße nicht unmittelbar, sofort und sichtbar in Erscheinung tritt. Eine Verhaltensänderung fällt auch deswegen nicht leicht, weil der individuelle Verzicht (auf ein zusätzliches Stück Vieh, auf „Entsorgung“ von umweltschädigenden Stoffen usw.) zwar die Gesamtsituation verbessert, aber die NichtVerzichter daraus einen relativen Vorteil ziehen können. Neben die persönliche Nutzeneinbuße tritt für den gemeinwohl-orientierten Bürger also gegebenenfalls noch eine soziale Benachteiligung. Es führt daher kein Weg daran vorbei, die Freiheit des Verhaltens einzuschränken. Den Appell an das Gewissen und die Vernunft hält Hardin für wirkungslos. Stattdessen komme man um Verbote nicht herum, eine Aussage, die Hardin dann doch wieder einschränkt, denn manchmal genüge auch ein System abgestufter Bestrafung gemeinwohlschädigenden Verhaltens. Im Detail ergeben sich daraus fast zwangsläufig neue Problemlagen. So kann der bürokratische Aufwand, der notwendig ist, die Sanktionen durchzusetzen, unverhältnismäßig hoch sein. Außerdem können Personen mit einem höheren Einkommen Geldstrafen leichter verkraften als einkommensschwächere Personen, womit gewissermaßen Schädigungsprivilegien einhergehen. Und schließlich kann man auch nicht unterstellen, dass alle die gleiche Wertschätzung für Gemeingüter aufbringen. Wie auch immer, das soziale Arrangement bestimmt maßgeblich das Verhalten der Individuen. Im günstigen Fall erwächst aus der individuellen auch eine kollektive Rationalität. Im ungünstigen Fall kommt es zu einer Aushöhlung der sozialen Substanz, zu Ungerechtigkeiten und zu disruptiven Konflikten. 54

Handlungslogiken Man findet Rationalitätsfallen nicht nur in der Entgegensetzung von Individualund Sozialinteresse, sondern überall dort, wo sich verschiedene Handlungslogiken kreuzen. Im einfachsten Fall geht es um unverträgliche Ziele der Beteiligten. In komplexeren Fällen kommen konträre Überzeugungen und Werthaltungen ins Spiel, nicht selten geht es auch um Fragen der sozialen Identität und um das Selbstverständnis der Akteure. Beispiele liefern, wie oben schon angesprochen, unverträgliche Rollenvorstellungen. Wenn sich ein Geschäftsführer als Unternehmer versteht, sein Kompagnon dagegen als Bürokrat agiert, dann werden selbst in gemeinsamem Einverständnis getroffene Entscheidungen in der Ausführung nicht die Ergebnisse erbringen, die sich die Entscheider vorgestellt haben. Aber auch identische Rollenvorstellungen sind nicht immer hilfreich. Wenn sich alle Mitglieder einer Gruppe nur als kreative Ideengeber verstehen, dann wird dies gemeinsame Projekte nicht voranbringen. Umgekehrt sind gegensätzliche Rollenkonstellationen nicht unbedingt schädlich. Das bürokratische und das unternehmerische Element, das durch unterschiedliche Akteure vertreten wird, kann auch zu produktiven Konflikten führen, die zu einer intensiven Auseinandersetzung mit einem Entscheidungsproblem Anlass geben. Generell kann man darauf hoffen, dass sich Spannungen zwischen verschiedenen Weltsichten und Interessen in dialektischer Weise als produktiv erweisen. Damit dies funktioniert, ist man allerdings auf Regeln angewiesen, die verhindern, dass es zu einem Ausagieren beziehungsloser Egoismen kommt, auf Regeln, die die Beteiligten dazu bringen, Konflikte konstruktiv auszutragen. Normalerweise sollte das gelingen. Schwierig wird es allerdings, wenn Konflikte strukturell verankert sind. Das macht es den Beteiligten schwer, die Ansprüche, die sie an eine Entscheidung herantragen, zu reduzieren. Ein Beispiel dafür sind Verhandlungsführer, die nicht in eigenem Namen, sondern als Vertreter einer Interessengruppe auftreten. Sie müssen gewissermaßen in zwei Richtungen verhandeln, einerseits müssen sie versuchen, mit ihren „gegnerischen“ Verhandlungspartnern ein Einvernehmen zu erreichen, sie müssen das schließlich erzielte Verhandlungsergebnis aber auch den Mitgliedern ihrer Interessengruppe vermitteln. Sie können die Erwartungen ihrer Basis jedenfalls nicht ignorieren und das engt naturgemäß den Spielraum ihrer

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Verhandlungen ein. Die hieraus resultierende Schwäche kann sich andererseits auch als Stärke erweisen, weil sie den Verhandlungspartnern signalisiert, wo die Grenzen ihrer Verhandlungsmöglichkeiten liegen. Wenn diese die Verhandlungen nicht scheitern lassen wollen oder können, dann werden sie in gewisser Weise erpressbar. Die Verhandlungen zum Koalitionsvertrag der Regierungsparteien im Deutschen Bundestag im Februar 2018 liefern hierfür ein anschauliches Beispiel. Mit der Abbildung von Interessenlagen befasst sich die sogenannte Spieltheorie. Sie stellt idealtypische Überlegungen dazu an, welche Resultate zu erwarten sind, wenn sich die Verhaltenstendenzen der Interaktionspartner überkreuzen. Die Idee dahinter ist, dass Menschen aufeinander reagieren. Die soziale Umwelt ist nicht einfach gegeben und sie ist nicht passiv. Man sollte damit rechnen, dass der Interaktionspartner strategisch denkt, so wie man sich selbst ja auch über die Verhaltensoptionen des Gegenübers ein Bild macht, um sich darauf einstellen zu können. Je nachdem welche Verhaltensweisen dann gewählt werden und zusammentreffen, ergeben sich je spezifische Verhaltensergebnisse mit erfreulichen oder weniger erfreulichen und nicht selten überraschenden Konsequenzen. Viel diskutiert wird das sogenannte Gefangenendilemma. Das Besondere an der diesem Dilemma zugrundeliegenden Handlungskonstellation ist, dass dann, wenn beide Interaktionspartner, die aus ihrer jeweiligen Sicht dominante (also die im Vergleich bestmögliche) Alternative wählen, es zu einem suboptimalen Ergebnis für beide Parteien kommt. Stehen die Partner beispielsweise vor der Frage, ob sie bei einem gemeinsamen Projekt kooperieren oder die Kooperation verweigern wollen, dann empfiehlt es sich – in der speziellen Gefangengendilemma-Situation! – in jedem Fall, nicht zu kooperieren, gleichgültig ob der Kooperationspartner kooperiert oder nicht. Am besten ist es zweifellos, wenn beide Partner kooperieren, aber besser schneidet man ab, wenn nur der andere kooperiert, wenn man ihm also z.B. die ganze Arbeit überlassen, während man sich selbst mit vergnüglicheren Dingen beschäftigen kann. Am Ungünstigsten ist es aber zweifellos, selbst ausgenutzt zu werden und weil man sich dieser Gefahr nicht aussetzen will, wird man besser nicht kooperieren. Wenn beide aufgrund ihrer durchaus rationalen Kalkulation nicht kooperieren entgeht ihnen aber der Gewinn, der sich bei beiderseitiger Kooperation hätte ergeben können. Es gibt eine ganze Reihe von denkbaren Konstellationen, die die Überlegungen der Spieler auf ihre je spezifische Weise beeinflussen. Glenn Snyder und Paul Diesing (1977) benutzen das spieltheoretische Vokabular, um bedeutsame weltpolitische Ereignisse und die darin sich spiegelnden Interessenlagen zu beschreiben. Sie betrachten dabei sowohl Gegner-Spiele als auch Allianz-Spiele. In Gegner-Spielen geht es um die 56

Verteilung eines Gutes zwischen zwei Parteien. In Allianz-Spielen richtet sich das gemeinsame Interesse der beiden beteiligten Parteien gegen eine dritte Partei. Die Gefangenen-Dilemma Situation ist ein typisches Gegner-Spiel. Als Beispiele hierfür betrachten die Autoren den Konflikt zwischen Frankreich und Deutschland in der Marokko-Krise von 1911 und den Konflikt zwischen der Sowjetunion und den USA in der Berlin-Krise von 1958 bis 1962. In Abbildung 2.1 ist als weiteres Beispiel für ein Gegner-Spiel das sogenannte „Chicken-Game“ angeführt. Daneben findet sich mit der Darstellung der Konstellation des Beschützer-Spiels ein Beispiel für ein AllianzSpiel. Im sogenannten „Chicken-Game“ geht es um die Alternativen „Auf seinen Forderungen beharren“ oder „Nachgeben“. Wollen beide Parteien nicht nachgeben, droht das denkbar schlechteste Ergebnis und zwar für beide Parteien. Sollte sich eine der beiden Parteien durchsetzen, dann sichert sie sich das denkbar beste Ergebnis, während die andere Partei schlecht abschneidet. Eigentlich ist es vernünftig, wenn beide Parteien nachgeben. Das erscheint den Parteien in konkreten Fällen aber oft wenig attraktiv, weil dieses zweitbeste Ergebnis hinter dem bestmöglichen oft stark zurückbleibt. Snyder und Diesing erläutern hierzu als Beispiele die Konflikte zwischen England und Frankreich auf der einen und Deutschland auf der anderen Seite anlässlich des Münchner Abkommens im Jahr 1938, sowie die Konflikte zwischen der Sowjetunion und den USA in der BerlinKrise 1948 und in der Libanon-Krise 1958.

Abb. 2.1: Beispiele für spieltheoretische Konstellationen (Die Zahlen drücken die Präferenz der Akteure bezüglich der sich aus den jeweiligen Verhaltenskombinationen ergebenen Ergebnisse aus: 4=größte Präferenz, 1=geringste Präferenz) 57

Mit der Blockade der Zugangswege nach Berlin im Jahr 1948 beabsichtigte Stalin, zum Vier-Mächte-Status zurückzukehren, also die gemeinsame Kontrolle über Gesamtdeutschland zurückzugewinnen und zu verhindern, dass sich Westdeutschland zum Westen hin orientiert. Außerdem wollte er die Fortführung von Reparationsleistungen. Auf die Einverleibung West-Berlins hätte Stalin gegebenenfalls verzichtet, falls die USA dies als Bedingung für ihr Stillhalten eingebracht hätten. Für Stalin ergab sich aus der Kombination „Festhalten an der Blockade“ und „Einlenken der USA“ der höchste denkbare Gewinn (Nutzenwert 4). Für die USA stellte sich das naturgemäß anders dar. Die Duldung der Blockade wäre als Demütigung empfunden worden und der Verzicht auf die Vereinigung Westdeutschlands und dessen Anbindung an den Westen kam nicht infrage; die Bewahrung des Berlin-Status, wie sie von Stalin ins Spiel gebracht wurde, war kein wirklicher Anreiz (Nutzenwert 2). Aus amerikanischer Sicht wäre die Aufhebung der Blockade zweifellos die beste Lösung gewesen (Nutzenwert 4). Dies wäre aber für die russische Seite einer Demütigung gleichgekommen, verbunden mit der Aussicht, dass die Westintegration fortgeführt worden wäre (Nutzenwert 2). Andererseits war es für beide Seiten am wenigsten attraktiv, auf ihren jeweiligen Verhaltenslinien zu beharren, wenn dies auch der Gegner tat, weil damit der Ausbruch von Kriegshandlungen drohte, die leicht eskalieren konnten (Nutzenwerte für beide Seiten 1). Denkbar war schließlich noch ein Kompromiss, z.B. dergestalt, dass man Westdeutschland zwar eine gewisse Autonomie gestattete, die gemeinsame Verwaltungshoheit für ganz Deutschland jedoch nicht abgegeben hätte. Angesichts der anderen Alternativen wäre das für beide Seiten noch einigermaßen tragbar gewesen (Nutzenwerte für beide Seiten 3). Im „Beschützer-Spiel“ (Protector Game) geht es darum, ob die Verhaltensstrategien des stärkeren und des schwächeren Partners zusammenstimmen oder nicht. Folgt der schwache dem starken Partner, dann profitieren beide, der starke etwas mehr als der schwache. Folgt der starke dem schwachen Partner, dann kann der schwache Partner profitieren, für den starken Partner ist das Ergebnis allerdings nicht attraktiv. Als Beispiele betrachten Snyder und Diesing u.a. das Verhältnis von Russland und Serbien in den Jahren 1908 und 1914, die Beziehungen zwischen den USA auf der einen und Frankreich und England auf der anderen Seite anlässlich der Suez-Krise 1956 und die Beziehung zwischen den USA und der Bundesrepublik Deutschland in der Berlin-Krise im Jahr 1961. Als weiterer Fall kann das Verhältnis der USA zu Taiwan im Jahr 1958 angeführt werden. 58

Chiang Kai-shek war von den Truppen Maos auf die Insel Taiwan zurückgedrängt worden. Er hatte starkes Interesse daran, mit seiner Armee auf das chinesische Festland zurückkehren zu können und hoffte dabei auf eine massive Unterstützung durch die USA (Nutzenwert 4). Die USA hatten allerdings kein Interesse an einer unkalkulierbaren Verwicklung in das Kriegsgeschehen, zumal man nicht wissen konnte, wie die Sowjetunion darauf reagieren würde (Nutzenwert 1). Ohne Unterstützung der USA drohte Chiang bei einer Rückkehr auf das Festland jedenfalls eine verheerende Niederlage (Nutzenwert 1). Würde Chiang seinen Willen ohne Rückendeckung der USA durchsetzen, blieb den USA immer noch die Möglichkeit, den Rückzug abzusichern und Taiwan vor Vergeltungsmaßnahmen zu bewahren. Die USA würden davon sogar profitieren, weil damit ihr Status als Beschützer gestärkt würde (Nutzenwert 3). Der Status quo war für die USA allerdings die weitaus beste Alternative (Nutzenwert 4). Für Chiang bedeutete sie allerdings das Ende jeder Hoffnung auf eine Rückkehr, immerhin wurde in dieser Situation jedoch seine Sicherheit durch die USA gewährleistet (Nutzenwert 3). Die USA hätten Chiang auch unbeschränkte Unterstützung zusagen können, das wäre im Fall, dass sie von Chiang auch ausgenutzt würde, wie bereits angeführt, aber alles andere als wünschenswert. Und auch wenn Chiang stillgehalten hätte, schien es aus USA-Sicht nicht besonders attraktiv, ihm unbeschränkte Unterstützung zuzusagen, schließlich drohte die Gefahr, dass Chiang damit zu unüberlegten Aktionen veranlasst würde (Nutzenwert 2). Wie die Beispiele zeigen, lassen sich internationale Krisen und die damit implizierten Entscheidungsprämissen der Akteure mithilfe des spieltheoretischen Vokabulars recht prägnant abbilden. Lassen sich daraus aber auch Voraussagen über das Verhalten der Akteure ableiten? Man könnte argumentieren, dass sich das Verhalten aus der jeweiligen Situationslogik ergibt. Im Gefangenen-DilemmaSpiel beispielsweise ist die dominante Alternative, wie beschrieben, die Kooperation zu verweigern. Empirisch bestätigt sich dies aber häufig nicht, weder im Experiment noch in realen Anwendungssituationen (vgl. u.a. Peterson 2015). Man kann die widersprüchlichen Experimentalergebnisse so interpretieren, dass Personen nicht von vornherein rational im Sinn von egoistisch sind, sondern der Kooperation einen hohen Eigenwert zumessen oder zumindest davon ausgehen, dass ihre Partner nicht ausschließlich berechnend sind. In konkreten Anwendungsfällen ist die Situation nochmals anders zu sehen. Hier fällt es schwer, eindeutige Handlungsfolgen und diametral entgegengesetzte Verhaltensalternativen 59

zu identifizieren. Die Wirkungen der Verhaltensweisen sind vielfältig und werden von vielen Situationsgegebenheiten mitbestimmt. Ähnliches gilt für die Abgrenzung der beiden einander entgegengestellten Handlungsalternativen. Auch diesbezüglich gibt es oft viele Optionen und Abstufungen und sie werden selten in Reinform, sondern unter je verschiedenen Begleitumständen und ergänzenden Kommunikationen und Handlungen ausgeführt. In der obigen Skizzierung der Berlin-Krise beispielsweise kommt die von den Amerikanern schließlich gewählte Alternative (der Aufbau einer Luftbrücke) gar nicht vor. Und in der zweiten Marokko-Krise im Jahr 1911, die dem Schema des Gefangenen-Dilemmas entsprach, kam es nicht zur Konfrontation, sondern zu einem Kompensationsgeschäft, das beiden Seiten die Möglichkeit bot, einigermaßen das Gesicht zu wahren (allerdings nicht bei allen politischen Gruppierungen). Dies ist ohnehin immer zu bedenken, auch in verfahrenen Situationen ist es normalerweise möglich, die Kommunikation (und sei es auf verborgenen Kanälen) aufrechtzuerhalten und gegebenenfalls über Seitenabsprachen zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen. Ein prominentes Beispiel dafür ist die im Zuge der Kuba-Krise erfolgte geheime Absprache zwischen der sowjetischen und der amerikanischen Führung, nach dem Abbau der russischen Raketen auf Kuba im Gegenzug die Stationierung der amerikanischen Raketenstellungen in der Türkei aufzugeben. Eine weitere Möglichkeit, die Situation zu entschärfen und sich nicht der sich aufdrängenden aggressiven Stimmungslage auszuliefern, besteht darin, einfach abzuwarten. Situationen verändern sich und möglicherweise bieten sich Gelegenheiten, wieder aufeinander zuzugehen, z.B. dann, wenn sich auf irgendeinem anderen Feld ein gemeinsames Interesse auftut. Spieltheoretische Untersuchungen müssen die Frage beantworten, was sie genau betrachten, die objektiv gegebene Handlungssituation oder die Wahrnehmung dieser Situation durch die Beteiligten. Das macht einen erheblichen Unterschied. Wenn die Akteure davon ausgehen können, dass der Interaktionspartner die objektive Situation zu analysieren versucht und dazu auch die Möglichkeit hat, dann ist das eine gute Voraussetzung dafür, dass beide Parteien eine ähnliche Lageeinschätzung vornehmen. Wenn es dagegen um die subjektive Wahrnehmung geht, stellt sich die Aufgabe, die jeweilige Wahrnehmung des Interaktionspartners zu ergründen, eine Aufgabe, die nicht so leicht zu lösen ist. Nach Snyder und Diesing wurde beispielsweise die Suez-Krise vonseiten der USA als „Beschützer-Spiel“, vonseiten Frankreichs und Englands dagegen als „Führungs-Spiel“ (wonach sich die USA in ihrem Verhalten 60

den europäischen Vorgaben anpassen sollten), interpretiert, ein Missverständnis, das zu erheblichen Misshelligkeiten in der westlichen Allianz führte. Paradoxerweise kann es aber auch hilfreich sein, nicht zu wissen, wie die andere Seite denkt, sondern ihr eine bestimmte Haltung zu unterstellen. Alexander George (1969) schildert als Beispiel das Bild, das sich die amerikanische Führung lange Zeit im Hinblick auf die Absichten und Vorstellungen der russischen Führung (deren „Operational Code“) gemacht hat. Danach hätten die Sowjetführer in jedem der sich einstellenden Konflikte entschlossen und zielstrebig das jeweils Maximale für sich herauszuholen versucht, weswegen man sich ihnen ebenso entschlossen entgegenstellte. Tatsächlich war das Handeln der östlichen Seite aber von einer Optimierungsstrategie bestimmt, von einem Ausloten der Möglichkeiten (so jedenfalls George 1969, 210 f.). Hätte man dies auf westlicher Seite richtig gesehen, dann hätten sich die Führer der westlichen Welt möglicherweise zu einem kompromisslerischen Auftreten verleiten lassen, von dem die sowjetische Seite wesentlich mehr profitiert hätte als von dem – obwohl auf falschen Prämissen beruhenden – unnachgiebigen Verhalten. Was ist aber, angesichts der angeführten kritischen Bemerkungen, der Erkenntnisbeitrag spieltheoretischer Betrachtungen? Zur Verhaltensvoraussage taugen sie nur unter sehr spezifischen Bedingungen. Dennoch können sie einen erheblichen Erklärungsbeitrag leisten. Gemäß Snyder und Diesing sind die spieltheoretischen Konstellationen die Anker- und Ausgangspunkte der Akteure, auf die sie bei der Entwicklung ihrer Verhandlungsstrategien Bezug nehmen. Es handelt sich dabei um Zuspitzungen in der Einschätzung der gegebenen Lage. Als solche sind sie wichtige Elemente in der Definition der Situation und übernehmen damit, im Zusammenwirken mit weiteren Überlegungen, eine wichtige handlungsleitende Funktion.

Das Kollektiv als Akteur Staaten schützen ihre Bevölkerungen, schließen Abkommen, führen Krieg. Unternehmen sind Weltmarktführer, erschließen neue Geschäftsfelder, hinterziehen Steuern. Die Börse reagiert verhalten, skeptisch, euphorisch. Parteien erarbeiten Grundsatzprogramme, sind verzweifelt, streben nach Macht und Einfluss. Schulen engagieren sich für den Umweltschutz, Generationen begehren auf, die 61

Arbeiterklasse resigniert, das Bürgertum ruht sich aus, der Kegelklub beschließt, sich aufzulösen, die Gewerkschaft kündigt Widerstand an, die Automobilindustrie mauert. Der kollektive Akteur ist überall. Aber gibt es ihn überhaupt? Steckt in der Neigung, sozialen Systemen Akteurseigenschaften zuzuschreiben, nicht eigentlich nur sprachliche Bequemlichkeit? Es ist einfacher zu sagen, ein Unternehmen sei dabei, sich auf dem amerikanischen Markt zu engagieren, als zu vermelden, dass die Mitglieder der Geschäftsführung beschlossen haben, sich mit Vertretern eines in Chicago angesiedelten Handelsunternehmens zu treffen, um über einen Vertrag zur Aufnahme eines hauseigenen Produkts in das Sortiment des Handelsunternehmens zu beraten. Und es hört sich beeindruckender an, wenn ein Staat gegen einen anderen Staat Krieg führt, als wenn man sagt, dass der Kriegsminister die Mobilmachung befohlen hat. Aber steckt nicht auch Wahrheit in der Behauptung, soziale Systeme seien Akteure? Der Geschäftsführer handelt nicht autonom, sondern im Namen seines Unternehmens, Staaten überdauern, während Regierungen gehen, die Bank diktiert die Konditionen der Kreditvergabe, nicht der kleine Kreditsachbearbeiter, die Bergwerksgesellschaft erschließt, fördert, verarbeitet und vermarktet die Kohle, nicht der einzelne Bergmann usw. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das Verhältnis zwischen individuellen und kollektiven Akteuren zu bestimmen. Die erste besteht darin, sich darum nicht weiter zu kümmern, sondern den kollektiven Akteuren einfach mit Verweis auf deren unbestreitbare Wirkung eine eigene Existenz zuzuschreiben. Gruppen, Organisationen, Märkte, Institutionen usw. handeln. Man kann dies sozial-ontologisch zu begründen versuchen, man kann auf eine derartige Fundierung aber auch verzichten und im Sinne einer Als-Ob-Philosophie argumentieren, also schlichtweg auf die möglichen Erklärungsleistungen verweisen, die ein solcher Ansatz erreichen kann. Organisationen folgen eben ihrer je eigenen Logik: International tätige Investmentbanken haben eine andere Eigentümerstruktur, wenden sich an andere Kunden, tätigen andere Geschäfte, gehen andere Risiken ein als regional verankerte Genossenschaftsbanken – und zwar unabhängig von den Personen, die in diesen Banken arbeiten. Bei der Erklärung des Verhaltens von Organisationen (und anderen sozialen Systemen) kann man demnach den üblichen Weg gehen, d.h. man identifiziert wirkungsmächtige Merkmale von Organisationen (Marktmacht, strategische Ausrichtung, verfügbare Ressourcen, gesetzlich verankerte Beschränkungen usw.), beschreibt deren Zusammenwirken und leitet daraus Aussagen über mögliche Verhaltensweisen ab. Etwas ambitionierter sind 62

Ansätze, die versuchen, einem sozialen System Akteurseigenschaften zuzuschreiben, die man sonst nur Personen zuschreibt. Danach können Organisationen planen, sie lernen, haben Überzeugungen, Selbstvertrauen usw. Sehr weit geht hierbei beispielsweise Raymond Cattell (1948). Er gibt der Akteurseigenschaft von sozialen Systemen sogar einen Namen, er nennt sie, um damit die Einheitlichkeit des sozialen Akteurs zum Ausdruck zu bringen, „Syntality“ (als Verschmelzung der Begriffe „Personality“ und „Totality“). Als Begründung für die organische Einheit von Gruppen (womit Cattell soziale Gruppen insgesamt meint, also nicht nur Kleingruppen) führt er eine ganze Reihe von Überlegungen an. So bewahre eine Gruppe Gewohnheiten und Strukturen, auch wenn sich die Mitgliedschaft verändere, Gruppen hätten ein Gedächtnis, sie lernten, sie lösten Probleme, sie entwickelten Bedürfnisse (z.B. Überleben, Besitz, Aggression und Schutz), entwickelten Stimmungen (z.B. Kampfeslust), aus denen sich die emotionalen Energien der Gruppe speisten. Gruppen hätten außerdem einen Willen und würden in einer Art und Weise nachdenken, die dem menschlichen Denken analog sei. Das Argument, dass Personen, anders als künstlich geschaffene Systeme, Naturwesen sind und dass es so etwas wie ein Gruppenbewusstsein nicht gibt, lässt er nicht gelten, jedenfalls spräche dies nicht dagegen, Gruppen als eigenständige Verhaltenseinheiten zu begreifen und zu analysieren. Vom Grundgedanken her ähnlich, aber doch in eingeschränkter Form, beschreiben Gilad Chen und Celile Gogus (2008) parallele Motivationskonstrukte auf der Individualebene und auf der Gruppenebene. Ein Beispiel ist die Wirksamkeitsüberzeugung, d.h. die Überzeugung, den Erfolg einer Handlung maßgeblich beeinflussen zu können. Selbstwirksamkeit könne sich sowohl auf die eigene Person als auch auf die Gruppe beziehen. Beide Größen hätten ähnliche Wirkungen, man könne also auch in beiden Fällen dieselben theoretischen Ansätze zur Anwendung bringen. Allerdings sei dies nur sinnvoll, so die Autoren, wenn die Gruppenmitglieder alle die gleiche Wirksamkeitsüberzeugung aufwiesen – was natürlich eine erhebliche Einschränkung ist. Chen und Gogus sprechen daher etwas abgeschwächt nur von „geteilten“ Überzeugungen bezüglich der von ihnen betrachteten Verhaltensgrößen. Doch selbst wenn alle Gruppenmitglieder wirklich dieselben Überzeugungen haben sollten, ist sehr zu bezweifeln, dass daraus stets das gleiche Verhalten resultiert. Wenn beispielsweise eine Person von ihren Fähigkeiten überzeugt ist, dann wird sie ihre Aufgaben aktiv angehen, wenn sie dagegen von den Fähigkeiten der Gruppe überzeugt ist, dann steht ihr ja auch die 63

Möglichkeit offen, sich zurückzuhalten und den anderen Gruppenmitgliedern die Aufgabenbewältigung zu überlassen. Die Verhaltensprozesse, die sich innerhalb einer Person mit deren Überzeugungen verbinden, sind nicht dieselben wie die, die das Zusammenwirken der Gruppenmitglieder betreffen oder, anders ausgedrückt, der Willensbildungsprozess einer Person folgt psychologischen, der Willensbildungsprozess in einer Gruppe folgt sozialpsychologischen Regeln. Im individuellen Fall haben wir es mit Akteuren zu tun, die sich durch ein Selbstbewusstsein, ein Gedächtnis und ein Gewissen auszeichnen, kollektive Akteure haben diese menschlichen Eigenschaften nicht. Wenn man ihnen dennoch ähnliche Eigenschaften zuschreiben will, dann gelingt dies nur mit erheblichen begrifflichen Verrenkungen. Die analog für soziale Systeme verwendeten Begriffe geben jedenfalls etwas anderes wieder, als die psychologischen Begriffe, die ersonnen wurden, um das Verhalten von echten Personen zu beschreiben. Möglicherweise erklärt sich das Vorgehen von Chen und Gogus aus dem positivistischen Forschungsverständnis, das aus ihren Ausführungen hervorscheint (und das auch die Überlegungen von Cattell prägt). Sie sprechen nämlich fast ausschließlich über die Variablen, die in Motivationsstudien verwendet werden und über mögliche Zusammenhänge zwischen diesen Variablen. An keiner Stelle gehen sie aber darauf ein, was diese Zusammenhänge erst hervorbringt. Das Variablendenken ist in den empirischen Verhaltenswissenschaften stark verbreitet und schlägt sich in der Suche nach empirisch nachweisbaren Korrelationen zwischen den Variablen nieder, die dann aus einer manchmal sehr großen theoretischen Distanz heraus „gedeutet“ (und nicht etwa „abgeleitet“) werden. Die Erkundung und Diskussion der Mechanismen, die für die gefundenen Korrelationen verantwortlich sind, bleiben dabei auf der Strecke. Um das Verhältnis von Person und System aufzuklären, bleibt nur ein dritter Weg, nämlich die Untersuchung der Frage, wie Handlungen und Handlungsdispositionen von sozialen Aggregaten aus den Handlungsdispositionen und Handlungen Einzelner entstehen. Wobei man die Frage nach den Handlungsdispositionen auf der einen und den konkreten Handlungen auf der anderen Seite, getrennt behandeln sollte. Für bestimmte Fragestellungen ist es durchaus sinnvoll, analog zu Persönlichkeitseigenschaften auch relativ dauerhafte Handlungsbereitschaften von sozialen Systemen zu betrachten. Aber man wird diese nicht überzeugend definieren können, wenn man hierbei, neben den Relationen, die die einzelnen Akteure verbinden, nicht auch die Handlungsdispositionen der einzelnen Akteure 64

berücksichtigt. Wobei man sorgfältig darauf achten muss, was genau man mit den jeweils betrachteten Handlungsdispositionen meint. Wenn man z.B. untersucht, warum manche Gruppen häufig äußerst riskante Entscheidungen treffen, dann ist es zwar der direkteste Weg, die Risikobereitschaft der Teilnehmer dafür verantwortlich zu machen. Es gibt daneben jedoch auch andere Gründe dafür, warum es in einer Gruppe, einem Gremium, einer Kommission immer wieder zu riskanten Gruppenentscheidungen kommt. Wenn die Gruppenmitglieder beispielsweise die negativen Konsequenzen einer falschen Entscheidung nicht tragen müssen, wenn der Teilnehmerkreis häufig wechselt, die Gruppenbindung gering ist, wenn keine klaren Verantwortungsstrukturen existieren, dann ergibt sich die notorische Unempfindlichkeit einer Gruppe gegen Risiken nicht aus der hohen Risikobereitschaft ihrer Mitglieder, sondern aus der Opportunitätsstruktur in Verbindung mit einem normalen Nutzenstreben, das sich gegebenenfalls mit einem geringem Verantwortungsbewusstsein paart. Ähnliches gilt für viele andere Gruppeneigenschaften. Die Konsensbereitschaft einer Gruppe resultiert nicht notwendigerweise aus einem hohen Konsensbedürfnis der Gruppenmitglieder, die Ursache für die Unberechenbarkeit und Instabilität einer Gruppe liegt nur selten in der psychischen Labilität der Gruppenmitglieder, die Attraktivität einer Gruppe hat nur in speziellen Fällen etwas mit der Attraktivität der Teilnehmer zu tun usw. Dennoch gibt es auch den Fall einer engen thematischen Verwandtschaft von Handlungsdispositionen auf individueller und gruppenbezogener Ebene. Als Beispiel sei die Feindseligkeit genannt. Damit sich ein feindseliges Klima in einer Gruppe breitmacht, genügt es manchmal, dass ein einzelnes, womöglich herausgehobenes Gruppenmitglied antisoziale Verhaltensweisen an den Tag legt. Das kann nämlich dazu führen, dass auch bei den übrigen Gruppenmitgliedern die Hemmschwelle für eigensüchtiges Verhalten sinkt, was einen sich selbst verstärkenden Effekt gegenseitiger Antipathie auslöst. Aggressives Verhalten hat ebenfalls oft zur Folge, dass es erwidert wird und sich entsprechend ausbreitet. Gleiches gilt für Übellaunigkeit, Misstrauen und Kritiksucht (vgl. zu derartigen Effekten Felps/Mitchell/Byington 2006). Negative Verhaltensweisen einzelner Personen übertragen sich leider häufiger auf die ganze Gruppe als positives Vorbildverhalten. Was die zweite Frage, also die Frage nach den Handlungsgründen und Handlungsursachen einer Gruppe angeht, hierfür spielen Gruppendispositionen zwar 65

durchaus eine Rolle, aber nur in derselben Art und Weise, wie dies analog auch für das Verhältnis von Handlungsdispositionen und Handlungen auf der Individualebene gilt. So wie risikofreudige Personen nicht immer riskante Entscheidungen treffen, so setzen risikounempfindliche Gruppen mitunter durchaus auf Sicherheit usw. Bei der Erklärung konkreter Entscheidungen fließen immer viele Faktoren zusammen, die in je spezifischer Weise die Dynamik und den Inhalt der Entscheidungsfindung bestimmen. Wir haben es daher hier, wie auch sonst immer, mit dem Grundproblem im Verhältnis individuellen und kollektiven Entscheidens zu tun, nämlich mit der Frage, welche Mechanismen dafür verantwortlich sind, dass aus den Handlungsbereitschaften der einzelnen Systemmitglieder ein Ergebnis hervorgeht, das als Entscheidung der Gruppe, der Organisation usw. gelten kann. Hierauf werde ich weiter unten noch näher eingehen.

Kollektiver Geist William McDougall erörtert in seinem Buch „The Group Mind“ aus dem Jahr 1920 verschiedene Argumente, die für die Auffassung vorgebracht werden, dass soziale Systeme so etwas wie einen eigenständigen und autonom wirksamen Gruppengeist aufweisen. Aus seiner eigenen Überzeugung macht er kein Hehl. „Denkt ein System … will es, fühlt es und handelt es? Meine Antwort … ist, dass es all diese Dinge tut“ (McDougall 1927, 10). Häufig zu hören ist beispielsweise das Argument, dass soziale Systeme selbst dann Bestand haben, wenn (im Extremfall auch alle) Personen das System verlassen und durch andere Personen ersetzt werden oder anders ausgedrückt: Eine Organisation (eine Schule, eine Behörde, eine Unternehmung) bewahrt ihren Charakter normalerweise auch dann, wenn die Akteure wechseln. Das ist zweifellos richtig, nur ergibt sich daraus kein Beleg für die These vom eigenständigen Gruppengeist. Die logische Kopplung fehlt auch bei der gut nachvollziehbaren Analogie im Verhältnis von Teil und Ganzem: „Ich würde einen Wald nicht einen kollektiven Baum nennen, sondern würde darauf bestehen, dass ein Wald, ein Gehölz oder ein Hain in elementarer Weise ein kollektives Leben hat. Ein Wald bleibt derselbe Wald nach hundert oder nach tausend Jahren, all seine Bäume, die ihn ausmachen, mögen unterschiedliche Individuen sein und doch dürfte und wird der Wald als Ganzes das Leben jedes einzelnen Baumes verändern, durch die Speicherung der Feuchtigkeit, durch 66

den Schutz vor heftigen und kalten Winden, durch die Beherbergung verschiedener Pflanzen und Tiere, die auf die Bäume einwirken und so weiter“ (McDougall 1927, 13). Tatsächlich mag ein Wald ein eigenes Leben oder eigentümliche Eigenschaften haben, daraus ergibt sich allerdings kein bündiges Argument dafür, dass er auch ein eigenständiges Wesen ist. Abenteuerlich erscheint aus heutiger Sicht eine weitere Analogie, auf die McDougall eingeht. Danach sei auch eine einzelne Person aus einzelnen Zellen aufgebaut, die jeweils für sich ein eigenständiges Leben führten, und gemeinsam dennoch einen einheitlichen menschlichen Geist hervorbrächten. Entsprechend entstehe aus der Vereinigung von Personen auch eine mit eigenem Denken und Willen ausgestattete soziale Gruppierung. „Die Struktur und Organisation des Gemeinschaftsgeistes ist in jeder Hinsicht so mental oder psychisch wie die Struktur und Organisation des individuellen Geistes“ (McDougall 1927, 15). So richtig deutlich wird nicht, weshalb McDougall einem sozialen System ein eigenständiges Wesen zuerkennt. Gewisse Anhaltspunkte liefern seine Überlegungen zum Niveau des mentalen Lebens einer sozialen Gruppe oder Gruppierung. Einer zufälligen Ansammlung von Menschen, einer Menge oder Masse spricht McDougall keine besonderen mentalen Fähigkeiten zu, anders ist dies bei organisierten Gruppen (der Begriff der Gruppe bezieht sich bei McDougall auf alle Formen von sozialen Systemen, also nicht etwa vornehmlich auf Kleingruppen). Er nennt fünf Bedingungen, die dafür sorgen, dass sich ein niveauvolles mentales Leben eines sozialen Systems entwickeln kann: eine gewisse zeitliche Beständigkeit, ein bestehendes Gruppenbewusstsein der Mitglieder des sozialen Systems, die Existenz ähnlicher Gruppen, die als Kontrast oder auch als Rivalen der eigenen Gruppe gelten können, die Existenz von Traditionen, Sitten und Gewohnheiten und schließlich eine Ausdifferenzierung der Gruppenfunktionen und eine Spezialisierung der Gruppenmitglieder. Nun vermitteln diese Faktoren (Dauerhaftigkeit und Unterscheidbarkeit der Strukturen, Koordination, Normierung und Motivierung (!) des Verhaltens und der Entscheidungen der Gruppenmitglieder) tatsächlich den Eindruck, als gingen von der sozialen Gruppe wirkmächtige Kräfte aus und es mag naheliegen, dafür einen selbsttätigen und aktiven überindividuellen Akteur verantwortlich zu machen. Aber deswegen ist eine Gruppe dennoch kein lebendes Wesen und schon gar mit einem selbsttätig wirksamen Verstand oder gar einer „Seele“ (McDougall 1927, 7) ausgestattet. Insgesamt betrachtet sind die diesbezüglichen Überlegungen von McDougall nicht sehr kohärent, während er einerseits alltagssprachlich stark aufgeladene 67

Begriffe wie Geist, Bewusstsein, Verstand oder Seele als Gruppeneigenschaften reklamiert, finden sich andererseits auch sehr blasse Begriffsfestlegungen ohne großen ontologischen Ballast. Als Beispiel sei die folgende Definition genannt: „In etwa kann der menschliche Geist als organisiertes System mentaler oder zweckorientierter Kräfte definiert werden und in diesem Sinne kann man sagen, dass jede hoch organisierte menschliche Gesellschaft einen kollektiven Geist besitzt“ (McDougall 1927, 9). Dieser abstrakten Aussage braucht man keine besondere Skepsis entgegenzubringen, es stellt sich hierbei allenfalls die Frage, ob man in diesem Zusammenhang den anspruchsvollen Ausdruck „Geist“ („Mind“) bemühen sollte. Ein spezieller Punkt sei wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung noch besonders herausgestellt. Er betrifft die zweite der genannten förderlichen Bedingungen für eine „Höherentwicklung“ der Gruppe, den Gemeinschaftsgeist („Group Spirit“ oder „Esprit de Corps“) als „… Gefühl der Hingabe an die Gruppe im Gemüt aller ihrer Mitglieder …“ (McDougall 1927, 63). Zweifellos stärkt die Identifikation der Gruppenmitglieder mit der Gruppe oder die Verinnerlichung der Gruppenziele die „Schlagkraft“ z.B. einer militärischen Einheit. Sie ist aber weder notwendig noch gar hinreichend für die Erreichung der Gruppenziele. McDougall selbst weist beispielsweise darauf hin, dass in Wirtschaftsorganisationen der Gemeinschaftsgeist („Group Spirit“) auf dem denkbar geringsten Niveau verharrt (McDougall 1927, 90). Nun wird man andererseits zugestehen müssen, dass Wirtschaftsorganisationen mit zu den effektivsten Organisationen gehören, was jedenfalls zeigt, dass sich die „Intelligenz eines Systems“ nicht auf die Ausprägungen eines Gemeinschaftsgeistes reduzieren lässt. Und nebenbei sei angemerkt, dass die vorbehaltlose Identifikation mit einer Gruppe die Entscheidungsfindung erheblich beeinträchtigen kann, wie Janis (1972) am Beispiel des Gruppendenkens eindrücklich zeigt (Martin/Bartscher-Finzer 2004). Äußerst skeptisch im Hinblick auf die Vernunft von sozialen Gruppierungen äußert sich Gustave Le Bon in seinem Buch „Psychologie der Massen“ aus dem Jahr 1895. „Allein durch die Tatsache, Glied einer Masse zu sein, steigt der Mensch … mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinab. Als einzelner war er vielleicht ein gebildetes Individuum, in der Masse ist er ein Triebwesen, also ein Barbar“ (Le Bon 2009, 38). Massen haben wenig lobenswerte Eigenschaften, triebhaft, erregbar, leichtgläubig, unduldsam, launisch und unfähig zu logischem Denken lassen sie sich vom Überschwang der Gefühle treiben (Ebenda, 40 ff.). 68

Andererseits: „Wenn nun die Masse imstande ist, Mordtaten, Brandstiftungen und Verbrechen aller Art zu begehen, so ist sie ebenso zu Taten der Hingabe, Aufopferung und Uneigennützigkeit fähig, sogar in höherem Maße als der einzelne“ (Ebenda, 60). Unter „Massen“ versteht Le Bon im Übrigen nicht zusammenhangslose Ansammlungen, sondern alle denkbaren sozialen Gruppierungen, sofern sie nur eine gemeinsame mentale Ausrichtung oder eine wie immer geartete, mitunter auch nur eine rudimentäre, Organisation aufweisen. Zu ungleichartigen Massen zählen danach z.B. Straßenansammlungen, Geschworenengerichte, Wähler und Parlamente. Sekten, Kasten und Klassen sind dagegen Beispiele für gleichartige Massen. Alle diese Gruppierungen haben ihre je eigenen Defekte, Versammlungen sind z.B. häufig sehr wankelmütig, Berufskasten (die Priesterkaste, das Militär usw.) unbelehrbar (man würde heute vielleicht sagen: „borniert“). Letzteres sei nicht selten schlimmer: „Wir haben die Macht der Massen zu fürchten, aber noch mehr die Macht gewisser Kasten! Die Massen lassen sich vielleicht überzeugen, die Kasten geben niemals nach“ (Le Bon 2009, 161). Bezüglich der Mechanismen, die den Einzelnen veranlassen, der Masse (mehr oder weniger willenlos) zu folgen, bleibt Le Bon undeutlich. Er rekurriert hierbei vor allem auf das Phänomen der emotionalen Ansteckung, auf eine Art von Massenhypnose, auf kollektive Halluzinationen und Suggestion.

Organisationale Identität In der Organisationstheorie hat der Begriff der „Organisationalen Identität“ eine gewisse Karriere gemacht. Wenn man einer Organisation eine Identität zubilligt, dann verleiht man ihr wie selbstverständlich die Eigenschaft natürlicher Wesen. Organisationen sind dann nicht nur künstliche Gebilde, sondern eigenständige Akteure. Bei Stuart Albert und David Whetten, die das Konzept der organisationalen Identität eingeführt haben (Albert/Whetten 1985, Whetten 2006), sind es offenbar immer die Organisationen und nicht etwa Personen, die die Organisationale Identität definieren. So fragen Albert und Whetten nicht etwa danach, wie Personen, sondern wie Organisationen die Identitätsfrage beantworten (Albert/ Whetten 1985, 266). Und auch Hamilton/Gioia behaupten, dass die Organisationale Identität einen fundamentalen Einfluss auf die Situationswahrnehmung der Organisation hat (Hamilton/Gioia 2010, 148) und sie behaupten weiter, es sei zu 69

wünschen, dass die Überzeugungen und Werthaltungen der Entscheider mit denen der Organisation übereinstimmten (Ebenda, 146). Die gängige Vorstellung ist aber doch die, dass es bei der organisationalen Identität nicht um die Selbstzuschreibung eines wie immer gearteten kollektiven Akteurs Organisation geht, sondern um Vorstellungen der Organisationsmitglieder und interessierter Gruppen, d.h. um deren Vorstellungen darüber, durch welche charakteristischen Merkmale sich die infrage stehende Organisation besonders auszeichnet (vgl. Gioia/Schultz/Corley 2000). Die „Organisationale Identität“ ist in diesem Sinn das Ergebnis einer kollektiven Deutungsleistung, also nicht etwa eine inhärente Eigenschaft der Organisation, sondern die Gemengelage mehr oder weniger homogener individueller Zuschreibungen. Es wäre daher besser, wenn man in Bezug auf Organisationen nicht von deren Identität, sondern von Identitätszuschreibungen spräche. Aber auch das ist keine glückliche Begriffswahl und zwar deswegen nicht, weil Zuschreibungen in aller Regel nicht frei von strategischen Absichten sind. Deklarationen darüber, „was unsere Organisation ausmacht“, sind nämlich oft nichts anderes als Mittel im Kampf um die Deutungshoheit, die für die jeweils eigene Interessenverfolgung instrumentalisiert wird. Unabhängig von diesem politischen Element ist es dennoch von Interesse, welche Bilder sich die Organisationsmitglieder von ihrer Organisation machen. Entsprechende Vorstellungen gründen in oft nicht klar voneinander geschiedenen (irrtumsbehafteten) Vermutungen über die Charakteristika einer Organisation und in (ideologiegefährdeten) Wunschvorstellungen. Man spricht dabei leicht über unterschiedliche Dinge. Dies gilt auch für die drei begriffsbildenden Aspekte, die Albert und Whetten zur Eingrenzung ihres Identitätsbegriffs herausstellen. Konstitutiv für die Organisationale Identität seien danach nur solche Charakteristika, die zentral, überdauernd und abgrenzend sind. Welche Merkmale aber zentral sind (die Produkte, die Moral, das Lohnniveau usw.), welche als dauerhaft gelten können (von welchen Zeiträumen ist die Rede, geht es z.B. nur um die Vergangenheit oder auch um die Zukunft) und durch welche Merkmale man sich von anderen Organisationen abgrenzt, bleibt letztlich den Einschätzungen der Organisationsmitglieder überlassen. Inhaltlich bleibt der Begriff der Organisationalen Identität jedenfalls völlig unbestimmt. Problematisch am Konzept der Organisationalen Identität ist außerdem, dass die Qualität der Zuschreibungen sehr unterschiedlich sein kann, denn nicht alle Zuschreibungen sind wirklich fundiert und sie werden häufig auch nicht ernsthaft und nachdrücklich vertreten. 70

Viele damit verbundenen Vorstellungen sind oberflächlich, zufällig und flüchtig. Für die Frage, wie sich das Kollektive im sozialen Geschehen manifestiert, mögen das aber eher nachgeordnete Probleme sein. Wichtiger ist, von welchem Punkt an man von einem Konsens in den Vorstellungen über den (gewünschten) Charakter der Organisation sprechen kann. Und wer genau die Bestimmungsleistungen erbringt, wer als Teilnehmer einer Organisation zählt, welche internen und externen Anspruchsgruppen sich an der Identitätsbestimmung beteiligen, ob deren Mitglieder alle die gleiche „Stimme“ haben und wie sich deren Einschätzungen wechselseitig vermitteln. Es ist sicher kein Zufall, dass es in den empirischen Studien, die mit dem Konzept der Organisationalen Identität arbeiten, vor allem um den engeren Führungskreis geht und um dessen Vorstellungen über das, was seine Organisation ausmachen könnte und sollte. Aber es ist nicht nur die Unbestimmtheit, die dem Begriff der Organisationalen Identität anhaftet, sondern vor allem auch sein ideologischer Gehalt, der ihn fragwürdig macht. So setzt die Frage danach, „wer wir sind“ (die zur Bestimmung der organisationalen Identität angeblich herangezogen wird), bereits die Bereitschaft zur Unterordnung unter ein „Wir“ voraus, eine Bereitschaft, die gar nicht vorliegen muss, die aber offenbar wie selbstverständlich eingefordert werden kann und – so wird verschiedentlich argumentiert – auch eingefordert werden sollte, weil sie sich angeblich als Erfolgsfaktor erwiesen hat (Hamilton/Gioia 2010, 149). Ideologie kommt bereits durch die Semantik ins Spiel: Identität ist ein zentraler humanistischer Wert und wenn diese eigentlich nur Personen zukommende Eigenschaft auf Organisationen übertragen wird, dann gibt man ihnen eine Würde, die ihnen nicht zukommt. Um die Bedeutung der Bilder (also der „Images“) von einer Organisation herauszustreichen, braucht es keine derartige Überhöhung des letztlich doch künstlichen und entsprechend veränderbaren Gebildes „Organisation“. Der Glaube, man gehöre einer machtvollen Organisation an, die in Verfolgung ihrer missionarischen Wahnideen über Recht und Moral stehe, hat bekanntlich schon zu den schlimmsten Entgleisungen in der Geschichte geführt. Besonders fatal ist, wenn Menschen ihre persönliche Identität mit ihrer Organisationszugehörigkeit verknüpfen und sich damit zu willfährigen Elementen einer distanzlosen Manipulationsmasse herabwürdigen. Und das ist das schlimmste ideologische Gift, das in der Propagierung der sogenannten Organisationalen Identität steckt, dass sie nämlich auf die Vereinnahmung der persönlichen Identität abzielt. 71

Zusammengefasst: Der Begriff der Organisationalen Identität ist, was seine Verwendungsweise anbetrifft im höchsten Maß fragwürdig, was den sachlichen Gehalt angeht, ist er, soweit er darauf abzielt, den Charakter von Organisationen zu bezeichnen, substanzlos und, soweit er darauf abzielt, kollektive Zuschreibungen zu kennzeichnen, nicht gerade glücklich gewählt. Die Einsicht, dass derartige Zuschreibungen sehr wirkungsmächtig sein können, ist außerdem nicht sonderlich neu. Das berühmte Thomas-Theorem stellt diesen Gedanken bereits in aller Deutlichkeit heraus: Was Menschen als wirklich definieren, ist für sie auch wirklich (vgl. Merton 1995). Wenn es aber um Bestimmungsleistungen von Personen geht, dann sollte man sie auch als solche sehen und nicht Begriffe verwenden, die die Versuchung nähren, Fiktionen einen eigenständigen ontologischen Status zu geben.

Moral und Personschaft Tragen kollektive Akteure („Kollektive“, „Korporationen“) Verantwortung für ihr Tun? Diese Frage unterstellt bereits, dass Kollektive überhaupt etwas tun können, dass sie eigenständige Akteure sind, die Pläne und Absichten entwickeln können sowie den Willen und die Fähigkeit besitzen, ihre Vorhaben zielstrebig zu verfolgen. Im Bereich des Rechts wird dieser Fiktion durch die Figur der „Juristischen Person“ materiell Geltung verschafft. Juristische Personen (Vereine, Anstalten, Kapitalgesellschaften usw.) sind Träger von Rechten und Pflichten, sie können Verträge schließen, klagen und verklagt werden, sie haften für das, was sie tun und sie können verboten werden. Juristische Personen sind also – per Definition – rechtsfähige Gebilde. Rechtsphilosophisch ist zwar umstritten, ob juristische Personen tatsächlich selbst handeln oder aber ihre Organe oder letztlich doch die Personen, die die Organe besetzen und das Unternehmen vertreten. Metaphysische Brisanz steckt in dieser Frage aber nicht, letztlich dient das Konstrukt der Juristischen Personen nämlich lediglich der Rechtsvereinfachung. Spekulationen über die ontologische Selbstständigkeit von Kollektiven braucht es dazu nicht. In der sozialphilosophischen Literatur findet man dagegen dezidiert anderslautende Auffassungen. Peter French geht diesbezüglich sehr weit, er sieht in Korporationen nicht nur kollektive Akteure, deren Handlungen mit denen von Personen vergleichbar seien, er verleiht einer Korporation sogar den Status einer 72

moralischen Person. Er argumentiert dabei wie folgt (French 1992): Die moralische Eigenschaft eines Akteurs ergibt sich aus seiner Fähigkeit, Intentionen zu entwickeln. Organisationen haben diese Fähigkeit und zwar aufgrund von zwei Tatbeständen, zum einen aufgrund der Existenz einer internen Entscheidungsstruktur und zum anderen aufgrund der Geltung von Anerkennungsregeln. Die interne Entscheidungsstruktur sorgt für die Bereitstellung und Bearbeitung von Informationen und für die Herausbildung einer Einstellung zur jeweils gegebenen Handlungssituation. Die Autorisierung des Handelns erfolgt in den jeweiligen Entscheidungsgremien entsprechend der in der Organisation festgelegten Zuständigkeiten und gemäß gegebener Abstimmungsprozeduren. Ob die jeweiligen Entscheidungen als genuine Entscheidungen der Korporation gelten, hängt von den herrschenden Anerkennungsregeln ab. Zur Veranschaulichung seiner Überlegungen betrachtet French die Entscheidung einer Ölgesellschaft, einem Kartell beizutreten. Die interne Entscheidungsstruktur sieht in diesem Beispiel Mehrheitsentscheidungen im Vorstand vor. Wenn zwei der drei Geschäftsführer dem Kartellbeitritt zustimmten, dann – so French – habe man es mit einer Entscheidung zu tun, die nicht nur die Geschäftsführer auf den Weg gebracht haben, sondern die auch von der Korporation selbst getroffen wurde. Allerdings nur, und damit kommen die oben angeführten Anerkennungsregeln zum Zug, wenn diese Entscheidung zu der in diesem Unternehmen etablierten Politik passe, etwa dem Ziel, alles zu tun, was die Gewinnsituation verbessert. Es sei dabei gänzlich gleichgültig, von welchen Motiven die Personen sich bei ihrer Entscheidung leiten lassen und auch, ob diese mit der Interessenlage der Korporation übereinstimmten. Selbst falls einer der Befürworter bestochen worden sei, berühre dies den Charakter der Entscheidung des kollektiven Akteurs in keiner Weise. Wie man sieht, sind es in der Vorstellung von French Strukturen und Regularien, die das Regiment führen, in ihnen manifestieren sich die Interessen, Wünsche und Ziele des korporativen Akteurs, die dieser durch „Aktivierung seines Personals“ zu erreichen sucht. Dass Strukturen, Verfahrensweisen und kollektive Überzeugungen für das organisationale Handeln eine kaum zu überschätzende Bedeutung besitzen, daran besteht kein Zweifel, die metaphysischen Schlussfolgerungen über die Personalität von kollektiven Akteuren, die French zieht, stehen allerdings auf äußerst schwachen Füßen. Mit den von ihm verfolgten Argumenten ließe sich auch einem Computerprogramm Personschaft zuschreiben. Selbst die einfachsten Programme z.B. zur Berechnung einer Formel treffen bestimmte 73

„Entscheidungen“ (z.B. darüber, welche Subroutinen aufgerufen werden sollen), und prüfen (bei etwas umfangreicheren Berechnungen), ob die einzelnen Programmschritte dazu beitragen, das infrage stehende Problem einer Lösung näherzubringen (und zwar mithilfe von Überwachungs- und Steuerungsprozeduren) oder ob andere Prozeduren aufzurufen sind, wenn sich der Lösungsweg als untauglich erweist. Die Tatsache, dass ein Computerprogramm einen Zweck hat und einem Ziel zustrebt, macht es nicht zu einem Akteur, geschweige denn zu einem mit moralischem Anspruch. Damit ein Akteur überhaupt normativ ansprechbar ist, muss er nämlich neben einer wie immer gearteten Zielstrebigkeit eine Reihe von weiteren Fähigkeiten mitbringen, d.h. er muss unter anderem über ein hinreichendes Wissen verfügen, um eine Handlungssituation überhaupt einschätzen zu können, er muss in der Lage sein, die Folgen seines Handelns abzuwägen, er muss seine Entscheidungen frei treffen können und bei der Umsetzung seiner Absichten besonnen agieren (Seebaß 2001). Das sind alles Eigenschaften, die nur Menschen zukommen. Zwar wird in der Literatur unbefangen davon gesprochen, dass Organisationen Wissensbestände pflegen, Intelligenz besitzen, Lernfähigkeit aufweisen und Strategien verfolgen, aber das sind letztlich alles nur Metaphern und sehr krude Analogien. Organisationen haben weder Geist noch Gewissen, Organisationen sind künstliche Gebilde, die sich in ihrer Tatsächlichkeit nicht einfach ignorieren lassen, die aber für nichts verantwortlich sind, jedenfalls nicht im moralischen Sinn. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei angemerkt, dass mit der Ablehnung der Idee von der Personschaft sozialer Systeme nicht auch die Wirkmächtigkeit sozialer Aggregate geleugnet werden soll. Georg Simmel beispielsweise wendet sich gegen eine ausschließlich individualistische Betrachtungsweise des sozialen Geschehens (Simmel 2008). Kollektivgebilde seien schließlich die zentralen Untersuchungsobjekte der Sozialwissenschaften und wie anders als auf der kollektiven Ebene ließe sich die Geschichte von Parteien, von sozialen Bewegungen, von Glaubensgemeinschaften oder die Frage nach der Lage von Wirtschaftszweigen und dem Geschehen in den vielfältigen Untergruppierungen der Gesellschaft sinnvoll behandeln? Nur hat das eine nichts mit dem anderen zu tun. Selbstverständlich verliert das von Simmel aufgeworfene Problem zur Beschreibung geschichtlicher Vorgänge und Entwicklungen nicht seine Bedeutung, wenn man in den von ihm angeführten Gebilden keine eigenmächtigen Akteure zu sehen vermag. Man kann deren Einfluss und deren Geschick aber sehr wohl beschreiben 74

und erklären, ohne in ihnen eigenständige Akteure zu sehen. Jedenfalls muss man hierzu nicht eine eigene Ontologie des Holismus bemühen (Jaeggi/Celikates 2017).

Ebenenvermittlung Was bestimmt das Verhältnis von individueller und kollektiver Handlungsebene? Es gibt vielfältige Antworten auf diese Frage. Man findet stark formal geprägte Ansätze, die auf ausgewählte, im Idealfall mathematisch modellierbare Zusammenhänge und Mechanismen der Aggregation von individuellen zu kollektiven Verhaltensweisen eingehen. In einem direkten und sehr speziellen Sinn der Aggregation befassen sich Abhandlungen über formale Verfahren mit der Beschlussfassung in Jurys, Versammlungen und Wahlveranstaltungen, die nicht selten eine sehr vertrackte Logik aufweisen (Elster 2013). Daneben findet man eine ganze Reihe von abstrakten, gewissermaßen vortheoretischen oder auch programmatischen Ansätzen, die nicht so sehr auf Einzelergebnisse abzielen, sondern darauf gerichtet sind, ganz generell die Macht oder auch die Nichtigkeit des Sozialen zu dramatisieren. Wesentlich nüchterner argumentieren empirisch arbeitende Forscher, die sich mit Korrelationen zwischen Variablen unterschiedlicher Handlungsebenen befassen. Häufig interessiert sie die Frage, welche positiven oder negativen Wirkungen sich mit einer bestimmten sozialen Konfiguration verknüpfen, welche Bedeutung also z.B. der Zusammensetzung der von ihnen betrachteten Gruppierungen zukommt, ob soziale Institutionen auch die Funktionen erfüllen, für die sie gedacht sind, welche Steuerungsmechanismen zu welchen Ergebnissen führen. Die theoretischen Diskussionen zur Aggregationsproblematik sind mitunter stark philosophisch oder ideologisch aufgeladen, sei es, weil die Autoren einer bestimmten Sozialontologie anhängen, oder sei es, dass sie ein bestimmtes gesellschaftspolitisches Interesse verfolgen, was leicht dazu führt, dass sie ihr jeweiliges Anliegen mit bemüht ausgewähltem empirischem Material argumentativ zu unterfüttern suchen. Wie auch immer, letztlich von Interesse sind immer die Mechanismen, die die individuelle und die soziale Handlungsebene miteinander verknüpfen. Auf drei grundlegende Vermittlungsinstanzen sei im Folgenden kurz 75

eingegangen, auf die Bedeutung von Erwartungen, die Funktion von Regeln sowie auf die Orientierung an kollektiven Vorstellungen (auf die umfängliche Literatur zum Mikro-Makro-Verhältnis sei an dieser Stelle nur verwiesen, vgl. u.a. Opp 1979; Alexander u.a. 1987; Macy/Flache 2009).

Individuelle und kollektive Vorstellungen Menschen übernehmen kollektiv verankerte Vorstellungen. Sie teilen sie gewissermaßen mit ihren Mitmenschen, was das soziale Miteinander und den Prozess der gemeinsam zu treffenden Entscheidungen erheblich vereinfacht. Sie übernehmen diese Vorstellungen allerdings nicht blind, streng genommen ist es ihnen gar nicht möglich, diese blind zu übernehmen. Das wird allerdings oft ganz anders gesehen. Unter anderem von William McDougall, auf dessen Überlegungen bereits oben eingegangen wurde. Er schreibt: „… sowohl Lévy Bruhl als auch Cornford begehen den großen Fehler anzunehmen, dass das mentale Leben des zivilisierten Menschen von jedem Individuum in einer rein rationalen und logischen Weise geleitet wird, sie übersehen die Tatsache, dass wir ebenso in weiten Teilen von kollektiven Vorstellungen bestimmt werden …“ (McDougall 1927, 74). Individuen machen sich, so McDougall, generell kaum Gedanken über die von der Gesellschaft vorgegebenen Denk- und Verhaltensmuster („ready made ideas“). Bestimmte Situationskonstellationen lösen demnach, wenn man so will, ganz mechanisch die dazu bereitliegenden, von der Gesellschaft sanktionierten Verhaltensprogramme aus, ohne dass diese überhaupt noch reflektiert werden.

76

Kollektive Vorstellungen

Bewertung,  Reflexion und Interpretation durch die handelnde Person

Situation

Individuelle Vorstellungen

Situation

Individuelles Verhalten Abb. 2.2: Die Vermittlung kollektiver und individueller Vorstellungen Nach McDougall haben wir es also sehr häufig mit einer direkten Beziehung zwischen dem Kollektiven und dem Individuellen zu tun (linker oberer Kasten), eine „Vermittlung“ zwischen diesen beiden Handlungsebenen findet praktisch nicht statt, kollektive Vorstellungen sind mit Handlungssituationen ganz unmittelbar verbunden und werden fraglos von den Gruppenmitgliedern übernommen. Realistischer ist die genau umgekehrte Auffassung. Danach lässt sich der menschliche Geist überhaupt nicht umgehen, er bewertet, reflektiert und interpretiert immer und zwar sowohl die Vorstellungen als auch das Verhältnis, die Entsprechung oder Passung von Situation und Vorstellung. Zweifellos geschieht das nicht immer sehr umfänglich, sondern oft nur oberflächlich und routinehaft, aber ohne den Weg über eine individuelle Schaltstelle gehen kollektive Vorstellungen nicht in die Handlungen von Menschen ein. Objekte der subjektiven Reflexion sind außerdem und nicht zuletzt die eigenen Vorstellungen. Man nimmt diese nicht einfach zur Kenntnis, um ihnen dann ohne Weiteres zu folgen. Menschen haben 77

nämlich die Fähigkeit, sich selbst, die eigenen Motive, Überzeugungen, Gewohnheiten, Neigungen und Präferenzen infrage zu stellen. Diese Fähigkeit zur Reflexion und Selbstreflexion lässt sich nicht einfach abschalten, so wenig, wie sich andere Fähigkeiten wie z.B. die Intelligenz oder der Temperatursinn beliebig außer Kraft setzen lassen. Um Reflexion und Selbstreflexion zurückzudrängen, bedarf es besonderer Anstrengungen und diese sind nicht unbedingt immer erfolgreich. Statt kollektiven Vorstellungen von vornherein eine unbefragte Autorität zuzuschreiben, wäre daher erst noch zu klären, ob sich das individuelle Denken tatsächlich immer geschmeidig den kollektiven Gedankenangeboten zuwendet, um sich gedankenlos deren Führung zu überlassen – und wovon das eigentlich abhängt. Die Scham, lediglich willenloser Teil einer dumpfen Masse zu sein, muss einem erst ausgetrieben werden, was aber leider manchmal zu gelingen scheint. Aber grundsätzlich lässt sich die natürliche Distanz zwischen dem Eigenen und dem Kollektiven nicht beseitigen. Das hat Folgen für die Definition der Situation und damit für die Einschätzung, ob die kollektiven Vorstellungen in einer gegebenen Situation überhaupt relevant sind. So kann man z.B. unterschiedlicher Auffassung darüber sein, ob ein feindseliger Akt eines Dritten wirklich so gravierend ist, dass man sich, um der eigenen Ehre willen, dafür rächen muss. Oder um ein historisches Beispiel zu nehmen: Die Auffassung, die Weigerung der serbischen Regierung, einer gerichtlichen Untersuchung des Sarajewo-Attentats unter Beteiligung österreichischer Beamter zuzustimmen, sei ein hinreichender Kriegsgrund, wurde durchaus nicht einhellig geteilt. Sie setzte sich zwar durch, aber auch das war keinesfalls unvermeidbar. Man kann sich gegen herrschende Auffassungen wehren und sie lassen sich grundsätzlich auch immer erschüttern. Und dass man als Person nicht nur die Marionette sozialer Kräfte ist, lässt sich insbesondere dann erspüren, wenn dem Sentiment auch Taten folgen sollen. Zwar lässt sich selbst dann, wenn es ernst wird, die Verantwortung für das eigene Denken und Handeln leugnen oder abschieben. Aber die Schutzbehauptung, langes Nachdenken über seine Entscheidungen sei nicht notwendig und führe nur zur Verwirrung, es sei besser, einfach dem Bewährten, seinen Erfahrungen, seiner Natur (oder seinen Instinkten) zu folgen, ist nicht nur für Außenstehende unglaubwürdig. Zusammengefasst: Vorgängige Denk- und Handlungsmuster haben einen großen, manchmal übermächtigen Einfluss auf das individuelle Handeln. Sie sind allerdings nicht unhintergehbar. Nicht der Reflex, sondern die Reflexion ist die 78

angemessene Verhaltensweise. Aber die eigentlich interessante Frage ist nicht so sehr, unter welchen Umständen sich Menschen dazu entschließen, kollektive Programmierung zu hinterfragen, sondern wie es kommt, dass Menschen die Hürden, die ihr Denkvermögen gegen soziale Überformung und mentale Infiltration in Stellung bringen kann, häufig so willig überwinden.

Erwartungen und Wirkungen Ein weiterer Pfad zur Vermittlung zwischen dem Individuellen und dem Sozialen führt über Erwartungen. Niemand träumt in seinem Tun nur so vor sich hin, auch wenn es interessant oder verführerisch klingen mag, einfach etwas zu tun, um gespannt darauf zu warten, was sich daraus ergibt. Irgendeine und sei es eine noch so rudimentäre Erwartung an die Folgen des eigenen Handelns hat man immer. Und soweit sie sich in einem gemeinsamen Umfeld bewegen, gleichen sich die Erwartungen der Menschen weitgehend. Das macht ihr Verhalten berechenbar und trägt wesentlich zur Verhaltensabstimmung bei. Allerdings haben Erwartungen auch ihre Tücken. Was man befürchtet, tritt häufig ein, gerade weil man es befürchtet. Insbesondere negative Erwartungen rufen oft genau das Verhalten hervor, das ihnen Recht gibt. Wer glaubt zu versagen, wird versagen, wer das Unglück erwartet, öffnet ihm die Tür usw. In einem instruktiven Aufsatz erläutert Thomas Schelling verschiedene Mechanismen sich selbst erfüllender Erwartungen. Als Beispiele für solche Erwartungen nennt er unter anderem: „Wenn Menschen erwarten, dass Kaffee knapp wird, dann wird Kaffee knapp“ und „Wenn Menschen glauben, dass niemand mit einem südlichen Akzent eine Parteiennominierung für die U.S.-Präsidentschaft erhält, dann wird niemand mit einem südlichen Akzent diese Nominierung erhalten“ (Schelling 1998, 38 f.). Weiter schreibt er: „Ich bin nicht nur sicher, dass es tausende von … (möglicherweise wahren) Aussagen über sich selbst erfüllende Erwartungen gibt, sondern auch, dass es (mindestens) mehrere Dutzend unterschiedliche Mechanismen gibt, die diesen zugrunde liegen“ (Ebenda, 39 f.). Jede der vielen von Schelling reklamierten Aussagen zu sich selbst erfüllenden Erwartungen kann wahr sein. Ob sie Geltung erlangen, erweist sich aber erst nach Klärung der jeweils gegebenen näheren Umstände oder anders ausgedrückt: Mechanismen, die die jeweiligen Zusammenhänge produzieren, werden eben nicht immer ausgelöst. 79

Schelling interessiert sich vor allem für die sozialen Mechanismen, die aus individuellen Erwartungen kollektiv geteilte Handlungen entstehen lassen, Handlungen, die die ihnen zugrunde liegenden und vorauslaufenden Erwartungen gewissermaßen nachträglich auch „bestätigen“. Ein sehr häufig zur Anwendung kommender Mechanismus gründet im Knappheitsprinzip. Das Beispiel der Kaffeeknappheit wurde bereits erwähnt, der „Bankenrun“ folgt der gleichen Logik. Wenn die Bankkunden alle gleichzeitig ihr Geld abheben, ist plötzlich keines mehr da. Ähnliches gilt für alle begrenzten und begehrten Ressourcen: „Wenn jedermann glaubt, man müsse frühzeitig eintreffen um einen Sitzplatz zu erhalten, dann muss man frühzeitig eintreffen, um einen Sitzplatz zu erhalten“ (Ebenda, 39). In diesen Beispielen sind es immer die einzelnen Personen, die für sich ihre Entscheidung treffen. Das Kollektive ist dabei aber mitnichten ausgeblendet: Es sind ja gerade die Erwartungen über das mutmaßliche Verhalten „der anderen“, die das eigene Verhalten motivieren. Das Handeln ist gewissermaßen durch das Kollektiv bestimmt, das Kollektiv agiert dabei aber völlig unkoordiniert, wenngleich nicht regellos. In dem folgenden Beispiel geht es um einen anderen Mechanismus: „Wenn Menschen glauben, dass Frauen, die auf der Straße rauchen, Strichmädchen sind, dann sind die einzigen Frauen, die auf der Straße rauchen Strichmädchen“ (Ebenda, 38). Das Wirkprinzip gründet in diesem Fall auf starken Konventionen, deren Missachtung bestraft wird. Auch in diesem Fall stimmen sich die einzelnen Personen nicht ab, sie schließen also z.B. keine Vereinbarungen hinsichtlich des Rauchens in der Öffentlichkeit. Die Entscheidung, auf das Rauchen in gewissen Situationen zu verzichten, ist deswegen aber keinesfalls autonom, sie orientiert sich vielmehr unmittelbar am Kollektiv – hier an dessen Normen und dessen Sanktionspotenzial. In einer ganzen Reihe von sich selbst erfüllenden Erwartungen kommen Kräfte zum Zug, die eine (ungeplante) Koordination des Verhaltens bewirken. Ein Beispiel: „Wenn junge Männer glauben, sie müssten nicht kochen lernen, weil die Frauen, die sie heiraten werden, kochen gelernt haben und wenn junge Frauen glauben, dass junge Männer das glauben, dann müssen junge Männer nicht kochen lernen“ (Ebenda). Und ein weiteres Beispiel: „Wenn Wissenschaftler, Ingenieure und internationale Wirtschaftsleute glauben, dass Englisch die gemeinsame Sprache der Wissenschaftler, Ingenieure und des internationalen Geschäftslebens sein wird, dann wird Englisch die Sprache der Wissenschaftler, Ingenieure und 80

internationalen Wirtschaftsleute“ (Ebenda, 38 f.). In beiden Fällen geht es um die Unterordnung unter eine soziale Praxis. In diesen Fällen sind es also nicht quasi autonome, aus der Situation heraus gebildete Erwartungen und nicht die darauf gegründeten Entscheidungen, die das kollektiv zu beobachtende Phänomen hervorbringen (Mädchen lernen kochen, alle lernen Englisch), man folgt vielmehr den jeweils herrschenden Traditionen, die bestimmte Erwartungen hervorbringen, die Entscheidungen veranlassen, die die Geltung dieser Traditionen bekräftigen. Es sind nicht die Erwartungen, die eine bestimmte Praxis veranlassen, es ist umgekehrt so, dass die Ausübung einer bestimmten Praxis, die in sie inkorporierten Erwartungen immer wieder neu bestätigt. Eine Praxis entsteht aber nicht etwa aus dem Nichts (etwa aufgrund zufällig gebildeter Erwartungen), sie ist vielmehr in allgemeinere kulturelle Muster eingebettet und sie erhält sich nur, soweit sie durch ein charakteristisches Geflecht institutioneller Gegebenheiten abgestützt wird. Die Hegemonie des Englischen in vielen Wissenschaftsdisziplinen beispielsweise gründet sich auf die zunehmende Internationalisierung des Konferenzbetriebs, die staatliche Förderung internationaler Projekte, die Schwäche der muttersprachlichen Disziplin, das schon allein rein quantitativ zu verzeichnende Übergewicht englischsprachiger Zeitschriften und die nachrangige Würdigung einheimischer Zeitschriftenbeiträge bei der Mittel- und Stellenvergabe. Bei all dem ist außerdem zu beachten, dass Erwartungen nur Entscheidungsprämissen sind, dass sich aus Erwartungen also nicht automatisch ganz bestimmte Entscheidungen „ableiten“ lassen, und zwar einfach deswegen nicht, weil Erwartungen oft unterschiedliche Schlüsse zulassen. Wenn alle Mitglieder einer Gruppe erwarten, dass sich die übrigen Mitglieder mit ihrer Leistung zurückhalten, wird sich jeder einzelne wohl ebenfalls zurückhalten: ein typisches Beispiel für eine sich selbst erfüllende Erwartung. Wenn man andererseits erwartet, dass sich alle anderen anstrengen werden, wird man sich dann ebenfalls anstrengen? In diesem Fall hätten wir es ebenfalls mit einer sich selbst erfüllenden Erwartung zu tun, und dieses Mal sogar mit einer positiven! Man kann sich das gut vorstellen. Wer befürchtet, sich mit einer Leistungszurückhaltung allein zu stellen und damit zu blamieren, wird dies nicht tun. Kollektiv geteilte Erwartungen über einen hohen Einsatz führen daher – unter Umständen – kollektiv zu einer hohen Einsatzbereitschaft. Es kommt aber, wie vermerkt, auf die Umstände an. Ökonomen gehen fast instinktmäßig davon aus, dass Personen zum Trittbrettfahren neigen. Wer erwartet, dass sich bereits seine Kollegen ins Zeug legen, ruht sich danach 81

gern auf deren Leistungen aus und hält sich mit seinem eigenen Einsatz (unauffällig) zurück. Wenn jeder so denkt, kommt es zu einer sich selbst widerlegenden Erwartung (alle erwarten den Einsatz der [anderen] Gruppenmitglieder, niemand folgt jedoch dieser Erwartung). Um die Wirkung von Erwartungen zu verstehen, muss man also immer einen ganzen Satz weiterer Bedingungen kennen und zu diesen Bedingungen gehören in aller Regel elementare individuell und kollektiv bestimmte Tatbestände. Im zuletzt genannten Beispiel etwa die Transparenz, die Möglichkeit und die Bereitschaft, die eigene Leistungszurückhaltung zu verbergen.

Regelung und Verständigung Menschen sind den sozialen Kräften, die auf sie einwirken, nicht naturhaft ausgeliefert. Sie können das soziale Miteinander regeln und sie tun das auch. Die soziale Welt ist eine Regelwelt (zur Bedeutung sozialer Regeln vgl. u.a. Zhou 1997, Duschek u.a. 2012, Becker 2014). Sie funktioniert nicht perfekt, aber sie sorgt dafür, dass Menschen miteinander auskommen, gemeinsame Projekte angehen und erfolgreich zu Ende bringen können. Viele der Regeln, denen sie folgen, sind den davon betroffenen Personen gar nicht unmittelbar bewusst, sie haben sie nicht entworfen und vereinbart, sie mögen sie auch nicht unbedingt, mitunter leiden sie sogar unter ihrem Diktat, sie halten sie aber ein. Auch bezüglich der Regeln gilt, und seien sie noch so sehr eingewoben in ein kollektiv Unbewusstes, dass sie zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht und prinzipiell auch verändert werden können, obwohl sich das, insbesondere bei tief in der Kultur verwurzelten Regeln, häufig als eine schwierige und darüber hinaus als langwierige Angelegenheit erweist. Das liegt auch daran, dass Regeln nicht isoliert im Raum hängen, sondern normalerweise mit vielen weiteren Regeln verknüpft sind, Veränderungen also oft ein ganzes Geflecht sich wechselseitig stützender und zur Beharrung tendierender Elemente betreffen. Dessen ungeachtet ist das soziokulturelle Regelwerk einem ständigen Wandel unterworfen. Regeln werden neu ausgelegt, verlieren ihre Trag- und Wirkkraft, wenn sich die sozialen Verhältnisse verändern, sie erodieren, wenn sie nicht oder nur selten zur Anwendung kommen, Beachtung, Zustimmung und Wirkungskraft schwinden. Sie können aber auch reanimiert werden. Dass Regeln im Fluss sind, bedeutet allerdings nicht, dass sie, so lange sie gelten, nicht sehr strikt sein 82

könnten. Andererseits gibt es viele Regeln, für die sich fast beliebige Ausnahmen finden lassen. Überhaupt unterscheiden sich Regeln in vielerlei Hinsicht, es gibt allgemeingültige Regeln und Regeln, die nur für bestimmte Personengruppen oder spezielle Situationen gelten, der Verpflichtungsgrad schwankt, ebenso die Art und Härte der Bestrafung von Regelverletzungen, es gibt vage und präzise Regeln, zentrale und periphere Regeln, Regeln, über die man sprechen und diskutieren kann und darf und Regeln, die mit einem Tabu belegt sind, leicht und schwer verständliche, einfache und komplexe Regeln usw. Ein wesentlicher Unterschied scheint zwischen Regeln zu bestehen, die mit voller Absicht eingeführt und vereinbart werden und Regeln, die sozusagen unter der Hand und unbemerkt übernommen, eingeübt, anerzogen usw. werden und deren Inhalt man auf Anhieb oft gar nicht recht beschreiben kann. Im Konkreten verschwimmt die Unterscheidung dieser beiden Regelsorten oft, weil auch Regeln, die man gemeinsam erarbeitet und verpflichtend etabliert hat, sich von ihrem ursprünglichen Vereinbarungszweck lösen, gewohnheitsmäßig beachtet werden und somit das Inventar unhinterfragter kollektiver Gepflogenheiten bereichern. Umgekehrt können die im Lauf der Zeit und der gewohnheitsmäßigen Anwendung im Bewusstseinshintergrund sedimentierten Regeln wieder hervortreten und damit zum Gegenstand bewusster Gestaltung werden. Dahinter steht dann natürlich ein konkretes Interesse. Die Überarbeitung und Verabschiedung dieser oder neuer Regeln löst aber noch kein Problem. Erstens muss die Regel auch geeignet sein, das damit verknüpfte Ziel zu erreichen. Zweitens muss klar sein, unter welchen Umständen die Regel zur Anwendung kommen soll und drittens muss die Regel auch befolgt werden. Das sind alles andere als triviale Anforderungen. Zum ersten ist zu sagen, dass es, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, d.h. um ein gewünschtes Verhalten hervorzurufen, oft bessere Mittel als Regeln gibt, beispielsweise attraktive Anreize, die Übertragung von Verantwortung, die Gewährung von Hilfe und Unterstützung. Zum zweiten: Regeln müssen, damit sie diesen Namen verdienen, durchgesetzt werden. Wenn in einem Unternehmen Regeln zu einer verantwortlichen Unternehmenspolitik erlassen werden, das Management aber in Bestechungsskandale verwickelt ist, dann erschüttert das naturgemäß das Regelvertrauen; wenn ein Schüler sich vor allem durch Faulheit hervortut und das ohne Konsequenzen bleibt, wird er weiter lernunwillig bleiben usw. Und zum dritten: die Situationsbeschreibung ist sozusagen schon begriffsnotwendig ein elementarer Bestandteil jeder Regel. Ob eine gegebene Situation die Voraussetzungen der Regelanwendung erfüllt, ist aber nicht selten umstritten und 83

oft nicht einfach zu entscheiden. Vor der Einleitung eines Insolvenzverfahrens ist beispielsweise zu klären, ob dem Schuldner tatsächlich Zahlungsunfähigkeit droht. Ob eine Person eine Auszeichnung erhalten soll, setzt voraus, dass sie sich tatsächlich vorbildhaft verhalten hat, ob jemand in Haft genommen wird, verlangt, dass die Haftgründe hinreichend sind usw. In einer Bank kann z.B. die Regel gelten, dass immer dann, wenn ein Kredit faul zu werden droht, man dem zuständigen Kundenberater die Sache aus der Hand nimmt und sie einem Spezialistenteam überträgt. Dahinter kann die gute Absicht stehen, zu verhindern, dass der bislang zuständige Mitarbeiter nicht in die Sunk Cost Falle läuft, also dem Kunden weitere Kredite gibt, damit sich der Kunde „erholen“ kann, um schließlich die alten Kredite zurückzahlen zu können (Staw/Sutton 1993, 369 f.). Die Regel tritt aber nicht von selbst in Kraft. Irgendjemand in der Bank muss das Problem mit den faulen Krediten bemerken und die Regel zur Anwendung bringen. Zwar können hier Informationssysteme zum Zug kommen, aber die bloße Meldung, dass fällige Zinszahlungen ausgeblieben sind, ist noch kein hinreichender Anlass für die Regelanwendung. Außerdem kann der Kundenberater versuchen, die Regelanwendung zu unterlaufen, indem er die Sache in ein günstiges Licht stellt oder sonstwie versucht, den Fall zu behalten. Und er muss auch gar nicht auf einen formal relevanten Anlass warten, sondern schon vorher, genervt von dem säumigen Kreditnehmer, die Profis direkt bitten, den Fall zu übernehmen. Man kann innerhalb der Bank die Regel auch ignorieren, etwa weil die Bankangestellten überlastet sind oder weil eine andere Regel greift (vorrangige Angelegenheiten sind zuerst zu behandeln, der Kreditnehmer gehört zu einer besonderen Kundengruppe, die eine Sonderbehandlung erhält usw.). Jedenfalls verstehen sich Regeln nicht von selbst, sondern bedürfen der Erwägung und angesichts der Auslegungsschwierigkeiten immer auch weiterer Formen der Verständigung. Die Notwendigkeit, immer eine persönliche Verständigung über die anzuwendende Regel zu suchen, lässt sich auch nicht durch eine Steigerung der Regeldichte beheben. Im Gegenteil, niemand wird sich eine Überregulierung wünschen. Wenn man hofft, dass die Klarheit dadurch steigt, dass man sein Regelsystem durch eine größere Ausdifferenzierung und Detaillierung immer dicker macht, dann gibt man sich jedenfalls einer Illusion hin. Je komplexer ein Regelwerk ist, desto mehr Widersprüche sind in ihm zu finden und je umfangreicher der Regelkanon ist, desto schwieriger wird es, festzustellen, welche Regel konkret zum Zug kommen sollte. Regeln sind keine Computerprogramme, Personen 84

keine Computer und die Lebensrealität ist kein Datenpool. Angesichts der vielen Unwägbarkeiten von Entscheidungen, der jenseits aller Regelungen bestehenden Interessenvielfalt, den unausweichlichen Veränderungen der Verhältnisse müssen immer auch Wege der Verständigung genommen werden, die jenseits von Regelvereinbarungen verlaufen. Auch die Regelanwendung selbst braucht Engagement, das nicht verordnet werden kann: Regeln, sofern sie etwas bewirken sollen, müssen angewandt, bestätigt, verstärkt, hinterfragt und immer wieder neu justiert werden.

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Kapitel 3: Entscheidungen als Prozesse Entscheidungen befassen sich mit Problemen. Einfache Probleme sollten durch einfache Entscheidungen aus der Welt geschafft werden können. So geschieht das meistens auch. Jedoch nicht immer und weil es vorkommt, dass dem einen etwas als höchst einfach gilt, was dem anderen als nahezu unlösbar erscheint, können sich insbesondere im kollektiven Fall vermeintlich leicht lösbare Probleme zu veritablen Problemkomplexen auswachsen. Aber auch hier gibt es ein andererseits, nämlich insofern, als die Regularien, die das soziale Leben durchziehen, auch zu einer Vereinfachung der kollektiven gegenüber der individuellen Entscheidungsfindung beitragen kann. Wenn individuelle Unbestimmtheit kollektiver Gewissheit weicht oder weichen muss, heißt das nicht, dass persönliche Zweifel verschwinden, sie werden auf der kollektiven Ebene der Auseinandersetzung mit dem Problem aber nicht mehr zugelassen. In offen gehaltenen Entscheidungsprozessen hat man es im kollektiven Fall dessen ungeachtet in aller Regel mit einer komplexeren Problemlage zu tun, als im individuellen Fall. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand. Zum einen resultiert aus der Multiplikation der beteiligten Parteien eine breitere Problemsicht, womit eine Vervielfältigung der zu berücksichtigenden Problemaspekte einhergeht und zum anderen steckt in fast jeder kollektiven Entscheidung ein Konfliktpotenzial, was die Suche nach einer alle Seiten befriedigenden Lösung naturgemäß ebenfalls erschwert. Wie auch immer, kollektive Entscheidungen erschöpfen sich in den wenigsten Fällen in – auf einen Punkt und zu einem fixen Zeitpunkt hin – kondensierten Beschlussfassungen, zu denen die dazu autorisierten Personen, ohne sich vorher miteinander ausgetauscht zu haben, zusammenkommen, um die Hand für oder gegen das eine oder andere Vorhaben zu heben. In allen auch nur einigermaßen komplexen Fällen geht es immer auch darum, die Natur des Problems zu erkunden, die Folgen möglicher Handlungen abzuschätzen, einen Verhaltensplan zu erarbeiten und mit den 86

Widrigkeiten seiner Umsetzung zurechtzukommen. Abgesehen davon, muss erst noch dafür gesorgt werden, dass überhaupt die Notwendigkeit eingesehen wird, sich mit einem bestimmten Problem befassen zu müssen. Kollektive Entscheidungen kann man daher nur dann verstehen, wenn man die vielfältigen mit der Entscheidungsfindung verknüpften Aktivitäten betrachtet, wenn man also Entscheidungshandeln als ein Prozessgeschehen begreift. Als kollektives Phänomen weist es darüber hinaus eine Reihe von Merkmalen auf, die seine Analyse zusätzlich erschweren.

Charakteristika des kollektiven Entscheidungsgeschehens Wann genau hat sich etwas entschieden oder wurde etwas entschieden? Gibt es so etwas wie isolierte Entscheidungen oder verknüpfen sich nicht alle Entscheidungen mit weiteren Entscheidungen zu einem Entscheidungsgeflecht? Markieren Entscheidungen wirkliche Wendepunkte im Geschehensablauf oder vollziehen sie nur formal nach, was ohnehin nicht aufzuhalten ist? Welche Bedeutung haben die Inhalte einer Entscheidung für den Entscheidungsverlauf? Und schließlich: Wer sind die entscheidenden Personen, wer entscheidet und wer hält sich warum aus einer Entscheidung heraus?

Die Lokalisierung der Entscheidung Entscheidungen sind eingebettet in einen Strom vielfältiger, mehr oder weniger eng miteinander verknüpfter und nicht immer gleichlaufender Aktivitäten in unterschiedlichen Verhaltensarenen und Zeitbezügen, veranlasst von einer Vielzahl von Akteuren mit je spezifischen Interessen, Aufmerksamkeitsspannen und Einflusspotenzialen. An welcher Stelle im Geflecht des Geschehens die „eigentliche“ Entscheidung für ein bestimmtes Handeln zu lokalisieren ist, lässt sich entsprechend nicht immer leicht feststellen. Dazu kommt, dass es, wie bereits erläutert, nicht so auf sehr formale Akte der Beschlussfassung (so sich solche überhaupt 87

ausmachen lassen) ankommt, als vielmehr auf die Denk- und Verhaltensprozesse, die das Entscheidungsgeschehen in eine bestimmte Richtung drängen. Ob sich bezüglich dieser Denk- und Verhaltensprozesse immer ein Kipppunkt ausmachen lässt, der die „entscheidende“ Wendung bringt, kann man bezweifeln. Bedeutsame Entscheidungsprozesse gleichen oft Projekten, von denen sich nicht klar sagen lässt, an welchem Punkt sie beginnen, wohin sie laufen und wann und wie sie enden. Als Beispiel sei das Vorhaben von Thyssen-Krupp zum Aufbau und Betrieb eines Stahlwerks in Brasilien angeführt (vgl. die Fallschilderung von Blasberg und Kotynek 2012), das sich über mehr als zwölf Jahre hinzog und im Jahr 2017 durch den Verkauf an eine dritte Firma ein Ende fand. Das Projekt erbrachte einen Gesamtverlust von 8 Mrd. Euro und gilt daher als eine der größten Fehlinvestitionen der deutschen Industrie. Aber welches Element in dem umfänglichen Entscheidungsprozess kann man dafür verantwortlich machen? Die Geschäftsidee klang durchaus einleuchtend. Der in Brasilien gefertigte Rohstahl sollte in Deutschland und in den USA veredelt werden. Die Rohstoffe waren vor Ort vorhanden, womit sich erhebliche Transportkosten für Erz und Kohle sparen ließen. Die Löhne waren niedrig, die Steuerbelastung war gering. Das Wachstum der Schwellenländer und der (seinerzeitige) weitere Ausbau der Automobilindustrie in Brasilien ließ außerdem einen anhaltenden Stahlboom erwarten. Derartig großdimensionierte Investitionsprojekte werden nun aber nicht nur aufgrund solcher Überlegungen und am grünen Tisch entschieden. Man sucht vielmehr den Kontakt zu möglichen Geschäftspartnern, tritt in Vorverhandlungen ein, macht Vertragsentwürfe, bemüht sich darum, Konsortien zusammenzustellen, erkundet die rechtlichen Regelungen und die Möglichkeit, zu Sondervereinbarungen zu kommen, erstellt Arbeits-, Kapazitäts- und Zeitpläne, berät sich mit Behörden, Planungsbüros, Unternehmensberatern, Lieferanten und Logistikunternehmen sowie mit Produktions- und Handwerksunternehmen, die als Subunternehmer tätig werden könnten. Die Ergebnisse dieser Aktivitäten gehen in laufend zu überarbeitende Kalkulationen und Wirtschaftlichkeitsberechnungen ein, so dass sich nach und nach ein greifbares Bild über die Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Projektverwirklichung herausbildet. Wurde nun im vorliegenden Fall etwas „falsch“ gemacht, wurden wichtige Aspekte übersehen, leichtfertig übergangen oder völlig verkehrt eingeschätzt? Der Hauptverantwortliche, der damalige Sprecher des Vorstands, sieht das anders: „… er würde mit dem damaligen Wissen alles wieder so machen“ (Blasberg/ 88

Kotynek 2012, 14). Offenbar sahen das andere ebenso. McKinsey verfertigte eine Machbarkeitsstudie und kam zu einem positiven Ergebnis und an der Börse kam es nach Bekanntwerden des Vorhabens zu einer deutlichen Steigerung des Aktienwerts. Waren es also widrige unvorhersehbare äußere Umstände, die zum ökonomischen Scheitern des Projekts führten, die Wirtschaftskrise, der Nachfragerückgang in der Automobilindustrie, der massive Aufbau der chinesischen Stahlindustrie, steigende Löhne, die ungünstige Entwicklung der Wechselkurse, die schlechte Zuarbeit von Zulieferern und Geschäftspartnern? Jedenfalls konnte das Stahlwerk den Betrieb nicht zum anvisierten Zeitpunkt und nicht mit den vorgesehenen Kapazitäten aufnehmen. Die hohen Fixkosten konnten daher nur unzureichend gedeckt werden, die Produktionskosten verdreifachten sich, es kam immer wieder zu Störungen des Produktionsprozesses usw. Eine Lesart des Falles ist, dass die Probleme nicht so sehr in der Grundsatzentscheidung lagen, sondern vor allem in der Umsetzung: Planvorgaben wurden nicht eingehalten, die Schwierigkeiten im Umgang mit Kooperations- und Geschäftspartnern wurden nicht angemessen angegangen, die Zentrale wurde über den Fortgang der Baumaßnahmen und über die Budgetsituation unzureichend und zum Teil falsch informiert. So gesehen gründete der Misserfolg nicht zuletzt in personellen Fehlentscheidungen, d.h. in der Besetzung wichtiger Managementpositionen mit den falschen Personen. Damit ist man allerdings als Entscheider nicht entlastet, denn die Verantwortlichkeiten für ein derart großformatiges Projekt ist ein zentrales Element der Hauptentscheidung und nicht nur eine Umsetzungsfrage. Es spricht wenig für die Qualität einer Entscheidung, wenn sich mit ihr nicht auch klare und gut begründete Vorstellungen über die Frage verknüpfen, mit wem man die Entscheidung zum Erfolg führen kann. Und Gleiches gilt für die Frage, wie man eine Entscheidung zum Erfolg führen will. Damit ist ein weiterer Punkt angesprochen, der den Misserfolg des Brasilien-Engagements maßgeblich mit verursachte, nämlich die Vergabe des Bauauftrags für die Kokerei an eine chinesische Firma, die diesem Auftrag in keiner Weise gewachsen war und letztlich eine „schrottreife“ Leistung ablieferte. Diesbezüglich kamen Versäumnisse zum Zug, die im engeren Sinn in der Umsetzungsphase anzusiedeln waren (z.B. der Verzicht auf eine regelmäßige und sorgfältige Überwachung der Bautätigkeit besagter Firma). Aber die Beauftragung selbst lässt sich kaum als inhaltlich und zeitlich nachgelagerte Angelegenheit einstufen – die Kokerei ist schließlich eine der zentralen Anlagen des Gesamtkomplexes „Stahlwerk“ –, sondern ein wesentliches 89

Element der Hauptentscheidung, sich aus Kostengründen in Brasilien anzusiedeln. Dass man sich für den Billiganbieter und nicht etwa für den konzerneigenen Qualitätsanbieter entschied, drückt nichts anderes als das Bemühen aus, an allen und selbst an den unpassendsten Stellen eine Niedrigkostenstrategie zu fahren. Ebenso wenig waren die Schwierigkeiten mit dem sumpfigen Baugrund lediglich Umsetzungsprobleme, bloß weil sie erst im Zuge der Baumaßnahmen deutlich wurden. Die Kalkulationen, die eine Entscheidung fundieren, sollten schließlich von einem realistischen Bild über die anfallenden Erschließungskosten ausgehen. Das angeführte Beispiel sollte deutlich machen, dass sich in umfänglichen Entscheidungsprozessen nicht ohne Weiteres feststellen lässt, wann genau welche Teilentscheidung getroffen oder nicht getroffen wird und in welcher Weise sie die Gesamtentscheidung prägt. Möglicherweise gibt es von Anfang an ein starkes Commitment für ein Projekt, also nahezu unverbrüchliche Festlegungen bereits, bevor wichtige Sachverhalte geklärt sind. Die Informationssammlung und -aufbereitung ist dann nicht mehr unvoreingenommen, was dazu führt, dass Ungereimtheiten ausgeblendet werden, um sich das schöne Wunschbild erhalten zu können. Doch auch gänzlich unabhängig davon, letztlich wird mit dem Fortführen eines Projekts jeden Tag neu die ursprüngliche Entscheidung bestätigt, was bei fehllaufenden Projekten naturgemäß besonders misslich ist, jedenfalls dann, wenn man sich den Misserfolg nicht eingestehen will, weil man fürchten muss, als Verlierer dazustehen. Inwieweit dies für den vorliegenden Fall gilt, kann allerdings angesichts der vorliegenden Informationen nicht gesagt werden.

Verschachtelung Entscheidungen stehen selten für sich. Als Elemente des Ereignisstroms, der eine Organisation durchflutet, verknüpfen sie sich mit zahlreichen Geschehnissen, auch mit solchen, die (vordergründig betrachtet) in einem allenfalls lockeren thematischen Zusammenhang mit der infrage stehenden Entscheidung stehen. Generell sind Entscheidungen vielfach untereinander verbunden. Um eine bestimmte Entscheidung treffen zu können, müssen manchmal andere Entscheidungen schon getroffen sein, Entscheidungen ergeben oft nur im Verbund mit anderen Entscheidungen einen Sinn, Entscheidungen fließen ineinander über, sie werden durch andere Entscheidungen revidiert, modifiziert, ergänzt usw. Dabei sind die 90

Entscheidungen in ihrem Verhältnis zueinander von unterschiedlichem Gewicht, sie haben unterschiedliche Reichweiten und auch ihre logischen und empirischen Bezüge sind durchaus vielfältig, zumal der Auflösungsgrad der Entscheidungen, d.h. die Prägnanz und die Reichhaltigkeit der miteinander verbundenen Entscheidungsprobleme sehr unterschiedlich sein kann. Um eine gewisse Klärung der Beziehungen zwischen Entscheidungstatbeständen und Entscheidungsbezügen herzustellen, unterscheiden Mark Kriger und Louis Barnes (1992) sechs verschiedene Ebenen der Entscheidungsfindung und damit sechs verschiedene Arten von Entscheidungen: Entschlüsse, Entscheidungsaktivitäten, Entscheidungsgelegenheiten, Mini-Entscheidungen, Entscheidungsprozesse im engeren Sinn und das Entscheidungs-Theater. Die Entscheidungen auf Ebene 1 kennzeichnen Kriger und Barnes als Sofort-Entscheidungen (Go or No Go Entscheidungen), als Entschlüsse, die festlegen, ob eine konkrete Handlung durchgeführt oder aber unterlassen wird. Beispiele sind die Festsetzung von Preisen, die Unterschrift unter einen Vertrag und die Weitergabe von Informationen. Zu beachten ist, dass Ebene 1 Entscheidungen nicht unbedingt minder wichtige oder nebensächliche Entscheidungen sind, sie können im Gegenteil zentrale Bedeutung haben und nachfolgenden Entscheidungen die Richtung vorgeben. Entscheidungsprozesse auf der Ebene 2 umfassen Aktivitäten, in deren Verlauf oft mehrere Ebene 1 Entscheidungen getroffen werden. Beispiele hierfür sind das Verfassen eines Schreibens, informale Treffen, Telefongespräche. Derartige Entscheidungen beanspruchen in der Regel mehrere Minuten bis mehrere Stunden. Ebene 3 Entscheidungsprozesse („decision events“) ziehen sich dagegen mehrere Tage hin. Typische Beispiele hierfür sind Verhandlungen und die Ausarbeitung, Diskussion und Verabschiedung von Vorlagen für Vorstandssitzungen. Ebene 4 Entscheidungen („Mini-Entscheidungen“) können sich über mehrere Monate erstrecken. Entscheidungen dieser Dimension betreffen beispielsweise Firmenübernahmen oder das Schmieden von Unternehmenskooperationen. Erst Ebene 5 Entscheidungen bezeichnen Kriger und Barnes als Entscheidungen im engeren Sinn. Es seien dies Entscheidungen, die Firmenleiter üblicherweise meinen, wenn sie auf bedeutsame und komplexe Entscheidungen in ihren Organisationen angesprochen werden. Ebene 5 Entscheidungen ziehen sich nicht selten über Jahre hin und betreffen vor allem strategische Neuausrichtungen. Auf Ebene 6 angesiedelt sind schließlich „Entscheidungs-Theater“, an denen mitunter ganze Generationen von Managern und Mitarbeitern mitwirken und die die gesamte Unternehmensentwicklung 91

umfassen können. Das Entscheidungsgeschehen und entsprechend die Einteilung in verschiedene Entscheidungsebenen lässt sich so gesehen als mehr oder weniger kohärentes Sammelsurium von Stücken, Akten, Szenen, Auftritten, Sätzen, Ausrufen und Gesten beschreiben. Soweit diese Betrachtung trägt, mag sie hilfreich sein. Andererseits ist die Abgrenzung, die Kriger und Barnes im Hinblick auf die Entscheidungsebenen vornehmen, nicht allzu präzise und entsprechend dürfte es nicht immer leichtfallen, die konkret ablaufenden Entscheidungshandlungen diesen Ebenen eindeutig zuzuordnen. Außerdem sind nicht alle Entscheidungen in einer Organisation immer in ein benennbares „Drama“ eingebunden, eine Entscheidung der 3. Ebene kann in eine Entscheidung der 4. Ebene übergehen, groß angelegte strategisch gemeinte Entscheidungen können in wenig spektakuläre Beschlüsse münden, unterschiedliche Entscheidungen auf derselben Ebene können sich miteinander verschränken usw. Die Betrachtung von Kriger und Barnes hat also ihre Grenzen. Sie liefert aber immerhin die wertvolle Einsicht, dass man Entscheidungsprozesse oft nur verstehen kann, wenn man den Kontext beachtet, der von anderen Entscheidungen gesetzt wird (vgl. auch Langley u.a. 1995).

Inkrementalismus Inkrementalismus bezeichnet ein vorsichtiges, am Vertrauten orientiertes Agieren. Es werden nur solche Verhaltensweisen in Erwägung gezogen, die die eigene Lage nicht grundsätzlich und nicht allzu sehr verändern. Als weiteres Merkmal inkrementalen Verhaltens wird häufig außerdem die Passivität der Akteure herausgestellt: Sie sind nicht proaktiv, sondern verhalten sich abwartend, sie stellen sich den Problemen, so wie sie kommen. Statt zielstrebig gründlich erarbeitete Pläne zu verfolgen, reagieren sie ad hoc auf der Grundlage der eben verfügbaren Möglichkeiten. Wenn man von einer Strategie, die hinter diesem Verhaltensmuster steckt, sprechen kann, dann ist es die Strategie des Durchwurstelns (Lindblom 1959, 1968, 1979). Charles Lindblom moniert, dass die normativen Modelle der Entscheidungstheorie das tatsächliche, d.h. das oft eben inkrementale Entscheidungsverhalten gar nicht zur Kenntnis nehmen, sondern unbekümmert ein umfängliches Rationalverhalten unterstellten. Das dahinterstehende Forschungsparadigma sei völlig verfehlt. Zwar ließen sich kleindimensionierte und klar abgrenzbare, wohl-definierte Probleme durchaus oft mit dem Rationalmodell angehen (etwa die typischen 92

Aufgaben, die im Bereich des Operations-Research behandelt werden), zu den wirklich bedeutsamen Problemen lieferten die entsprechenden Methoden jedoch keine Antwort und das dahinterstehende Verhaltensmodell sei völlig unangemessen. Angesichtes der Komplexität realer Probleme, sei es einfach illusorisch, von kohärenten Präferenzmustern auszugehen, zu denken, man könne alle verfügbaren Alternativen kennen und die damit verknüpften Handlungsschritte ausarbeiten und zu glauben, dass man in der Lage sei, alle möglichen Wirkungszusammenhänge zu durchschauen. Tatsächlich scheitert man häufig schon an der viel einfacheren Aufgabe, die jeweils gegebenen Handlungsbedingungen und Handlungsvoraussetzungen richtig zu erfassen. Die Fähigkeiten und Möglichkeiten, mit größter Umsicht und vollständiger Rationalität zu agieren, sind also durchaus beschränkt. Dessen ungeachtet findet man in der Realität auch mutige und weit ausgreifende Entscheidungen, die darauf zielen, die gegebenen Verhältnisse hinter sich zu lassen oder grundsätzlich zu ändern. Ob diese Entscheidungen eine vernünftige Grundlage haben, ist eine zweite Frage. Beschränkte Rationalität ist nur eine wichtige Ursache für inkrementales Verhalten, man sollte beides nicht gleichsetzen. Außerdem steckt in einem bedächtigen und schrittweisen Vorgehen nicht selten eine eigene Rationalität. Es ist oft erfolgversprechender, nach Lösungen im Nahbereich zu suchen, als sich im Ungewissen des Fernerliegenden möglicherweise zu verlieren. James Quinn propagiert einen „logischen Inkrementalismus“ (Quinn 1980, 1981). Danach sei es sehr zu empfehlen, auch angesichts großer Herausforderungen, nicht hektisch zu reagieren. Um Klarheit über einen Sachverhalt zu erlangen, braucht es oft Zeit, die man sich nehmen sollte. Überstürztes Handeln, das auf ungenauen und unvollständigen Informationen beruht, hat bekanntlich so manches Unheil angerichtet. Eine Politik der kleinen Schritte schafft den Raum, der notwendig ist, um sich untereinander inhaltlich und zeitlich abzustimmen, politische und emotionale Barrieren abzubauen und für Verständnis, Akzeptanz und Commitment zu sorgen (Quinn 1981, 47 f.). Verantwortlich für die empirische Bedeutung des Inkrementalismus sind zum einen die beschränkten Informationsverarbeitungskapazitäten der Akteure und zum anderen die Unsicherheiten, die sich aus der Komplexität und Undurchschaubarkeit der Problemsituation ergeben können. Entsprechend wird man annehmen dürfen, dass sich in komplexen Problemlagen häufiger inkrementale Strategien finden werden als in Situationen, in denen man es mit einem klar umrissenen Problem zu tun hat und in denen man sich zutraut, das Problem erfolgreich lösen zu können. 93

Quinn und Lindblom beschreiben nicht nur die empirische Befundlage, ihre Ausführungen enthalten auch eine normative Akzentuierung. Das darin zum Ausdruck kommende Misstrauen gegen einen überhöhten Rationalitätsanspruch lässt sich gut verstehen, schließlich geht es bei weitreichenden Entscheidungen um das Wohlergehen von vielen Menschen und entsprechend ist es zwingend, das Machbare und das Verantwortbare nicht aus dem Blick zu verlieren und sich entsprechend bei seinen Entscheidungen auf das Überschaubare zu begrenzen. Allerdings muss man sich auch fragen, ob die Ablehnung des Rationalitätsanspruchs nicht auf einem Missverständnis beruht. Rationales Vorgehen impliziert nicht notwendig den Anspruch auf vollständige Information und auf eine völlig kohärente Präferenzordnung. Es ist im Gegenteil wenig rational, uneinlösbare Anforderungen an die Entscheidungsfindung zu stellen, so wie es auf der anderen Seite ebenfalls wenig rational ist, auf jede Analyse zu verzichten und sich von leeren Konventionen oder wechselnden Stimmungen leiten zu lassen. Die Forderung nach Rationalität kann gute Dienste tun, wenn sie als regulative Leitidee verstanden wird. Als solche enthält sie auch das Wissen von ihren Grenzen. Der Anspruch auf ein möglichst rationales Vorgehen sollte also nicht mit der weltfremden Forderung nach gottgleicher Weisheit verwechselt werden. Verlangt wird „lediglich“ eine vernunftgeleitete Willensbildung. Als hilfreich erweist sich dabei die Beachtung bestimmter Regeln der Willensbildung und die Nutzung von Verfahren und Methoden, die gewährleisten, dass das infrage stehende Problem von mehreren Seiten betrachtet wird, dass mögliche Lösungen gegeneinander abgewogen werden und dass die legitimen Interessen der direkt und indirekt Betroffenen zum Zug kommen können. Dabei ist nicht auszuschließen, dass der Einsatz vorgeblich rationaler Methoden (die ebenfalls immer unvollkommen sind) strategisch missbraucht wird. Rationales Handeln braucht daher immer auch eine bestimmte Haltung der Akteure, nämlich das Bemühen, sachdienliche und gerechte Lösungen zu finden und die Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen, also Vorstellungen und Vorgehensweisen infrage zu stellen, wenn sie sich nicht bewähren. Hierzu gehört es unter Umständen, sich gegen ein unverhältnismäßig aufwändiges und behäbiges Entscheidungsverfahren zu stellen und in misslichen Situationen, in denen sich keine bessere Lösung hervortut, eine Entscheidung zu treffen, die ins ohnehin Ungewisse führt. Leichtfertig sollte man damit allerdings nicht umgehen, denn unbedacht ist das Gegenteil von mutig. 94

Inhalte und Prozessmerkmale Beeinflusst der Entscheidungsgegenstand die Art und Weise der Entscheidungsfindung? Die Antwort scheint naheliegend zu sein. Wenn die Entscheidungen Personen betreffen, geht man anders vor als bei Geldangelegenheiten. Und langfristige Geldanlagen werden wieder anders behandelt als Ausgaben für täglich neu benötigte Verbrauchsgüter. Konsequent weitergedacht würde das bedeuten, dass man Aussagen über den Verlauf von Entscheidungsprozessen immer relativieren müsste, je nachdem, womit sie sich befassen, also z.B. mit Kriegshandlungen oder Handelsabkommen, mit der Freizeit oder mit der Arbeit, mit der Arbeitszeit oder der Arbeitssicherheit, mit der Produktentwicklung oder der Abfallentsorgung, mit dem Einkauf oder dem Verkauf, mit Strafsachen oder Zivilverfahren, mit Einstellungen oder Entlassungen, mit Lohnerhöhungen oder Lohnkürzungen, mit der Stilllegung oder dem Aufbau von Betriebsstandorten, mit der Fuhrparkerneuerung oder mit der Reparatur von Werkzeugmaschinen, mit der Einführung von Regelungen oder mit Fragen der Überwachung der Regeleinhaltung, mit Budgetkürzungen oder mit Budgeterweiterungen usw. Zweifellos geben die angeführten Inhalte und Themen einem Entscheidungsprozess eine je eigene Note. Aber das gilt auch für gänzlich andere Merkmale eines Entscheidungsprozesses, also z.B. für die verfügbare Zeit, den Neuigkeitsgrad, die Parallelität anderer Probleme und Prozesse, das verfügbare Wissen, die Hierarchieebenen, auf denen die Entscheidungen angesiedelt sind usw. Was begründet die Bedeutsamkeit dieser Faktoren? Um diese Frage zu beantworten, muss man auf Merkmale zurückgreifen, die ganz generell den Verlauf eines Entscheidungsprozesses bestimmen. Wenn man also z.B. erklären will, warum größere Finanztransaktionen eine intensivere Behandlung erfahren als z.B. die Urlaubsregelung, dann hat das etwas damit zu tun, dass die Akteure im ersten Fall schlimmere Konsequenzen befürchten, wenn sie einen Fehler machen, als im zweiten Fall. Entscheidend ist also die Wichtigkeit, die die Akteure einer Entscheidung beimessen. Ob eine wichtige Entscheidung im Finanzsektor angesiedelt ist, dem man meistens – aber nicht immer – eine hohe Wichtigkeit beimisst, oder in einem anderen Bereich, ist daher zweitrangig. Man wird allen Entscheidungen vermehrt Aufmerksamkeit schenken, so man sie als wichtig einschätzt, also z.B. auch Entscheidungen bei der Besetzung von Spitzenpositionen oder 95

auch Entscheidungen im Hinblick auf gerichtliche Auseinandersetzungen, die sich nicht mit Nebensächlichkeiten beschäftigen. Es sind also Merkmale der Entscheidungsprobleme und der Möglichkeiten des Umgangs damit, auf die es ankommt. In Abbildung 3.1 sind einige bedeutsame Merkmale zusammengestellt, von denen anzunehmen ist, dass sie das Entscheidungsgeschehen maßgeblich beeinflussen. Bemerkenswert ist dabei, dass die angeführten Merkmale nicht nur für einzelne, sondern für alle Phasen eines Entscheidungsprozesses gleichermaßen von Bedeutung sind.

Bemerken

Sinngeben

Anmutung Relevanz Wichtigkeit

Dringlichkeit

Signifikanz

Kapazität Schwierigkeit Fähigkeit

Planen

Handeln

Abb. 3.1: Kernmerkmale von Entscheidungsprozessen Bevor man sich einem Problem zuwendet, muss man es als relevant – für sich – erachten, also eine Beurteilung vornehmen, die sich im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Problem durchaus ändern kann. Ob ein Problem Beachtung findet, bestimmt sich außerdem sehr stark nach dessen Anmutungsqualität, also nach der Frage, wie es sich präsentiert, ob die Signale, die auf die Existenz eines Problems hindeuten, positive oder negative Gefühle auslösen. Und Gefühle sind es, die häufig den Ausschlag dafür geben, ob man sich von einem Problem abwendet 96

oder umgekehrt, dass man sich mit ihm besonders intensiv beschäftigt. Aber auch nüchterne, gewissermaßen emotionsneutrale, Wichtigkeitsbeurteilungen haben ihren Stellenwert. Unwichtige Problem kann man leicht ignorieren oder zumindest zurückstellen. Bedeutsam ist außerdem die Signifikanz eines Problems, d.h. das Ausmaß, in dem der gegebene Ist-Zustand vom gewünschten Soll-Zustand abweicht. Die Veränderung dieser Größe dürfte in einem Entscheidungsprozess die größte Aufmerksamkeit finden, drückt sie doch den Fortschritt aus, den man im Bemühen um eine Problemlösung macht. Kommt man nicht voran, wird man sich irgendwann über alternative Vorgehensweisen Gedanken machen. Eine weitere zentrale Größe ist die Dringlichkeit eines Problems. Sie gewinnt ihre Bedeutung aus dem Tatbestand, dass Probleme miteinander konkurrieren. Außerdem werden im Zuge der Befassung mit einem Problem oft gleichzeitig weitere Probleme angesprochen und ein und dasselbe Problem kann in mehreren parallellaufenden Entscheidungsprozessen thematisiert werden. Jedenfalls kann man es sich nur in den seltensten Fällen erlauben, sich ausschließlich mit einem einzigen Problem zu befassen. Es ist die empfundene (variable) Dringlichkeit, die darüber entscheidet, womit man sich – soweit es möglich ist – beschäftigt. Und auf diese Möglichkeiten kommt es ebenfalls an, also u.a. auf die freien Bearbeitungskapazitäten. Hat man es mit einem schwierigen Problem zu tun und sind außerdem die Problemlösungsfähigkeiten beschränkt (was sich oft erst erweist, wenn man sich mit einem Problem intensiver beschäftigt), dann führt das naturgemäß zu Komplikationen und zu einer Veränderung des Vorgehens. Im kollektiven Fall nehmen die angeführten Größen mitunter eine recht komplexe Gestalt an. So wird die Überzeugung einer einzelnen Person, dass man sich mit einem bestimmten, weil wichtigen Problem befassen sollte, von anderen Personen nicht unbedingt geteilt, wenn diese mehrheitlich anderen Problemen ein deutlich höheres Gewicht beimessen. Auf Mehrheiten kommt es allerdings nicht immer an. Oft genügt es, um Wirkung zu erzielen, den Eindruck zu vermitteln, dass die Mehrheit eine bestimmte Auffassung vertritt. Auch können einzelne Akteure, um ihm Bedeutung, Aufmerksamkeit und Wirkmächtigkeit zu verschaffen, ein bestimmtes Thema bewusst forcieren. Dazu kommt, dass der Frage, ob ein Problem als wichtig oder unwichtig zu gelten hat, ein politisches Element innewohnt, weil das Herausstellen eines misslichen Problems die Möglichkeit eröffnet, sich als Problemlöser zu profilieren oder die Gelegenheit verschafft, anderen Akteuren Versäumnisse und Unfähigkeit vorzuhalten. Schließlich sind Wichtigkeitsurteile Ausdruck 97

von politischen Überzeugungen, die immer wieder in Erinnerung zu rufen, ein wichtiges Mittel in der politischen Auseinandersetzung ist. Ähnliche Überlegungen ergeben sich nicht nur bezüglich der Wichtigkeit, sondern auch bezüglich der anderen in Abbildung 3.1. angeführten Größen. Ein beliebtes Manöver ist es beispielsweise, ein bestimmtes Problem als besonders dringlich hinzustellen, um von anderen, womöglich wichtigeren Problemen abzulenken. Überhaupt ist zu bedenken, dass es vielfältige Wechselbezüge zwischen den angeführten Größen gibt. So kann z.B. die Konfrontation mit einem bestimmten Problem äußerst schmerzhaft sein – weil es unangenehme Gefühle weckt, weil peinliche Geschehnisse zutage treten, weil Tabus angesprochen werden müssen – was nicht selten dazu führt, dass man dieser Auseinandersetzung ausweicht und sich lieber einem erfreulicheren Thema zuwendet. Angesichts vorderhand unlösbarer Probleme lenkt man den Blick ohnehin gern auf Nebenschauplätze, auf denen man sich dann mit Ersatzhandlungen Luft zu verschaffen sucht.

Teilnehmer Eine Entscheidung steht und fällt mit den Teilnehmern am Entscheidungsgeschehen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Personen, die eine bestimmte Entscheidung herbeiführen wollen, sehr darauf achten (sofern sie über hinreichenden Einfluss verfügen), wer in ein bestimmtes Gremium, eine Kommission, eine Entscheidungsgruppe gewählt oder delegiert wird. Zu diesem Problemkreis gehört im weiteren Sinn auch das Streben von vielen Vorgesetzten, sich ein Alleinbestimmungsrecht zu sichern und die Mitarbeiter nur bei randständigen und letztlich wenig bedeutsamen Angelegenheiten in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Und formal an einem Entscheidungsprozess teilzunehmen, heißt auch noch nicht viel, weil es letztlich auf die Partizipationsrechte ankommt und diese sind nicht immer sehr umfänglich, sondern können z.B. auf das Recht auf (bestimmte) Informationen beschränkt sein. Weitergehend sind die Rechte auf Anhörung, auf Beratung und schließlich auf die gleichberechtigte Beteiligung bei der Entschlussfassung, wobei es dann nochmals einen Unterschied macht, wie das Mitbestimmungsrecht konkretisiert wird, ob man also ein Vetorecht hat, welche Mehrheitsregeln gelten und ob die Möglichkeit besteht, Minderheitenvoten einzubringen. Doch obwohl die Beteiligung also durchaus beschränkt sein kann, 98

sollte man deren Bedeutung nicht unterschätzen. Selbst wenn es nur um Informationsrechte geht, dürften Beratungen anders verlaufen, als wenn kein Außenstehender Einblick in das Entscheidungsgeschehen zuerkannt bekommt. Betrachtet man neben der formalen noch die informale Seite, wird das Bild schnell unübersichtlich. In einen einigermaßen komplexen Entscheidungsprozess fließen viele Informationen ein und sie stammen aus vielen Quellen, von Informanten, Analysten, Datenlieferanten, Kommentatoren, Beratern, Sachverständigen, Interessenvertretern, Anwälten, Behörden, Kammern, Verbänden, Kollegen, Vorgesetzten, Stäben, Ausschüssen, Beschwerdestellen, Führungszirkeln, interessierten Kreisen, grauen Eminenzen und selbst von Bekannten und Verwandten. Die Informationen, Ratschläge, Prognosen, Argumente usw. sind durchaus nicht alle von gleicher Qualität, auch ist der Weg, auf dem sie in den Entscheidungsprozess einfließen, oft sehr verschlungen. Ob die vielfältigen Informationen, die auf einen Entscheidungsprozess einströmen, aufgenommen oder abgewiesen werden, ist zumindest zu einem Teil selbst wieder Ergebnis eines Entscheidungsprozesses. Das gilt auch grundsätzlich für die Öffnung des Entscheidungsprozesses für interessierte Teilnehmer. Und umgekehrt gilt dasselbe: Nicht jeder hat ein starkes Bedürfnis, an einer Entscheidung mitzuwirken (und nicht immer). Zumal wenn die Gefahr besteht, dass ein Entscheidungsprozess scheitert oder zu unerwünschten Konsequenzen führt, für die man als Mitwirkender dann verantwortlich gemacht wird. Prekär ist die Situation nicht zuletzt für Beauftragte (also z.B. Gewerkschaftsvertreter bei Tarifverhandlungen), die, falls sie sich nicht durchsetzen können, mit dem Unmut der von ihnen vertretenen Personengruppe rechnen müssen. Und in Situationen, in denen Zivilcourage gefragt ist, ist der Wunsch nach Teilnahme ebenfalls nicht sonderlich stark. Es ist immer wieder betrüblich, wenn sich nach irgendwelchen Skandalen herausstellt, dass sich nur wenige Personen gegen fragwürdige Praktiken stellten, obwohl viele davon Kenntnis hatten. Bernard Bass nennt einige wichtige Faktoren, die Personen dazu bringen oder davon abhalten können, sich an einem Entscheidungsprozess zu beteiligen (Bass 1983, 49). Eine fundamentale Voraussetzung für die Teilnahme ist beispielsweise ein gewisses Insiderwissen, denn, wenn man nicht weiß, „was läuft“, kann man schwerlich mitlaufen. Eine weitere Bedingung ist für viele Personen außerdem, ob sich die Investitionen in Zeit und Mühe, die sich mit der Beteiligung an der Entscheidungsfindung verbinden, überhaupt lohnen. Daneben muss die Chance 99

bestehen, das Ergebnis der Entscheidungsfindung zu beeinflussen. Manchmal gründet das Hauptmotiv für die Mitwirkung an einem Entscheidungsprozess in der Möglichkeit, mit Personen in Kontakt zu kommen, zu denen man ansonsten keinen Zugang hat. Eine gewisse Bedeutung hat außerdem das bei manchen Personen stark ausgeprägte Kontrollbedürfnis, also der tief verankerte Wunsch, die Übersicht zu behalten und Einfluss zu nehmen. Personen, die sich in vielen Gremien, Ausschüssen und Kommissionen aufhalten, dürften sich diesbezüglich besonders auszeichnen. Es ist natürlich ebenso möglich, dass hinter einem ausgeprägten Präsenzverhalten ein besonderes Verantwortungsbewusstsein steckt.

Verlauf kollektiver Entscheidungsprozesse Was ist interessant an einem kollektiven Entscheidungsprozess? Vielen Studien geht es primär um dessen Ergebnis, also darum, ob die Entscheidung dazu beiträgt, die Ziele, die man sich gesetzt hat, auch zu erreichen. Im wirtschaftlichen Kontext lauten die entsprechenden Fragen: Werden die geeigneten Maßnahmen ergriffen, um die Kosten- und Ertragsziele zu erreichen, verbessert sich die Effizienz der Abläufe, die Produktivität der Arbeit, der Marktauftritt, die Liquidität usw.? Oft steht eines dieser Ziele im Brennpunkt, was nicht immer gut ist, weil reine Ein-Ziel-Entscheidungen selten gute Entscheidungen sind, d.h., weil eigentlich jede Handlungssituation immer verlangt, nicht nur einem, sondern vielen Gesichtspunkten gleichermaßen Rechnung zu tragen. Da die unterschiedlichen Ziele aber selten ungetrübt harmonieren, wird man um Kompromisse nicht herumkommen. Das ist manchmal schwer zu vermitteln, aber unvermeidlich, zumal im kollektiven Fall, da hier nicht nur widerstreitenden Sachgesetzlichkeiten zu folgen ist, sondern nicht selten auch unterschiedliche Interessen gegeneinanderstehen. Was also als gute Entscheidung zu gelten hat, ist oft nicht einfach zu entscheiden. Gleiches gilt angesichts widerstreitender Zielsetzungen nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im politischen, kulturellen, sozialen und privaten Bereich. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei angemerkt, dass aus dem Tatbestand, dass die Qualitätsbestimmung oft schwierig ist, nicht folgt, dass man nicht zwischen guten und schlechten Entscheidungen unterscheiden kann und soll. 100

Qualitätsunterschiede findet man nicht nur im Ergebnis, sondern auch im Vorgehen. Das sind ja auch keine unabhängigen Größen. Die Art und Weise, wie ein Entscheidungsproblem angegangen und behandelt wird, bestimmt zwar nicht völlig, aber doch zu einem nicht unerheblichen Teil über die Güte der schließlich gefundenen Lösung. Von einem strikt rationalen Standpunkt aus kommt es, so jedenfalls die Normative Entscheidungstheorie, vor allem darauf an, dass sich die Entscheider Klarheit über ihre Ziele verschaffen, Alternativen erkunden und deren Konsequenzen bedenken (vgl. z.B. Cyert/Simon/Trow 1956). Von den Akteuren wird also verlangt, dass sie sich eine umfängliche und solide Informationsbasis verschaffen, auf die sie ihre Entscheidung gründen können und sorgfältig (miteinander) abwägen, welches Vorgehen sich angesichts ihrer Werte und Ziele am ehesten empfiehlt – wobei das Aufwands-Ertragsverhältnis der Entscheidungsfindung selbst ebenfalls mit zu berücksichtigen ist. Man sollte also nicht das bestmögliche Ergebnis anstreben, wenn dessen Ermittlung und Realisierung deren Mehrgewinn gegenüber einer weniger attraktiven Lösung aufzehren dürfte. Dass die genannten Anforderungen an einen Entscheidungsprozess vernünftig sind, dürfte kaum Widerspruch erregen. Sie sind allerdings einigermaßen abstrakt und wie sie empirisch umzusetzen sind, wäre im konkreten Anwendungsfall immer erst noch zu klären. Außerdem sind sie einer Zweck-Mittel-Rationalität verpflichtet, die manchem als zu eng erscheint. Tatsächlich werden in der Literatur zahlreiche weitere Qualitätsmerkmale kollektiver Entscheidungsprozesse diskutiert. Zum Teil sind sie als Konkretisierung des Rationalitätspostulats gedacht, zum Teil sollen sie diese allerdings auch ergänzen.

Prozessmerkmale Entscheidungsprozesse können sich mit abstrakten Vorhaben, Prinzipien und Richtungsfragen oder aber mit konkreten Problemen, speziellen Gegenständen und Details beschäftigen. Entscheidungsprozesse verlaufen schwergängig oder geschmeidig, zielfokussiert oder erkundungsorientiert, spontan oder regelgeleitet, stressbeladen oder entspannt, transparent oder undurchsichtig, sie sind offen für Ideen und Teilnehmer oder unzugänglich und verriegelt, sie unterscheiden sich in ihrem Sinnhorizont, ihrer analytischen Tiefe, in der Komplexität der Lösungsbemühungen, der Konflikthaltigkeit und dem affektiven Ton. Alle diese und 101

viele weitere Faktoren sind in der Lage, einen Entscheidungsprozess nachdrücklich zu bestimmen. Das gilt sowohl in zeitlicher Hinsicht als auch im Hinblick auf die Aktivitäten, die einen Entscheidungsprozess ausmachen. Was die zeitliche Dimension angeht, gibt es Entscheidungsprozesse, die sich lang hinziehen, es gibt aber auch Entscheidungsprozesse, die sehr rasch abgeschlossen werden. Manche Entscheidungsprozesse werden häufig unterbrochen, andere werden in einem Zug abgewickelt, es gibt Entscheidungsprozesse, die stetig verlaufen und Entscheidungsprozesse, die stocken, beschleunigen, dahineilen, abbremsen und auslaufen, Prozesse, in denen sich Ruhephasen regelmäßig oder unregelmäßig mit Phasen hektischer Betriebsamkeit abwechseln usw. Die angeführten Eigenschaften eines Entscheidungsprozesses haben viele wechselseitigen Bezüge. So werden konfliktbeladene Entscheidungsprozesse länger dauern (aber nicht immer), regelgeleitete Prozesse verlaufen reibungsloser, ein auf Erkundung bedachtes Vorgehen bewegt sich auf vielen Nebenpfaden, die nicht immer zusammenführen usw. Um den Verlauf eines Entscheidungsprozesses zu beschreiben, werden in aller Regel die einzelnen Tätigkeiten betrachtet, die einen „guten“ Entscheidungsprozess ausmachen, es wird also z.B. untersucht, ob grundlegende Aufgaben angenommen, vollständig und sorgfältig bearbeitet wurden und ob die ergriffenen Maßnahmen folgerichtig aufeinander aufbauen. Man orientiert sich dabei häufig an Phasenschemata, die darauf abzielen, die Logik von Problemlösungsprozessen zu beschreiben. Man kann damit recht gut nicht nur die Qualität des Ergebnisses, sondern auch die Qualität des Prozesses der Entscheidungsfindung beschreiben. Auf ein wenig rühmliches Beispiel geht E. Frank Harrison (1975) ein. Er beschreibt das Vorgehen bei der Entwicklung und Beschaffung eines neuartigen Militärflugzeugs durch die US-amerikanische Regierung Anfang der 1960er-Jahre, den sogenannten TFX-Fall (Tactical Fighter Experimental). Das Überschall-Jagdflugzeug sollte sowohl in der Luftwaffe als auch in der Marine eingesetzt werden. Man versprach sich durch eine möglichst hohe Komponentenkompatibilität beträchtliche Kosteneinsparungen. Als problematisch erwies sich bei der Zielfestsetzung, dass sie trotz erheblicher Bedenken von Seiten der militärischen Führung durch den Verteidigungsminister McNamara einseitig beschlossen wurde. An der Ausschreibung beteiligten sich sechs Hersteller. Recht früh erfolgte allerdings eine Eingrenzung auf die Angebote von Boeing und General Dynamics. Naturgemäß ging es nicht darum, die Alternativen einfach hervorzuholen und nebeneinanderzustellen, 102

sie mussten ja erst noch entwickelt werden und sie erwiesen sich erwartungsgemäß als äußerst komplexe Gebilde. Die sorgfältige Ausarbeitung der Alternativen wurde allerdings durch enge zeitliche Vorgaben beeinträchtigt. Im Lauf eines Jahres kam es zu mehreren Überarbeitungen. Letztlich legte jede der beiden Firmen vier Vorschläge vor. An der Begutachtung waren sechs Stellen beteiligt. Die militärische Seite präferierte in allen Belangen die Boeing-Pläne. Die endgültige Auswahl erfolgte aber durch die zivilen Stellen im Pentagon. McNamara ignorierte die Empfehlung der Militärs und entschied sich für das Angebot von General Dynamics. „Die Reaktion der Militärführer war vorhersagbar und einheitlich – Überraschung, Unglauben und Groll darüber, dass ihr kollektives professionelles Urteil so offensichtlich missachtet wurde. Eine unglaubliche Menge an politischer Entrüstung folgte. Das Thema füllte fast sechs Monate lang die Titelseiten der Zeitungen.“ (Harrison 1975, 278 f.). Das änderte aber nichts an der Entscheidung. McNamara verfügte über eine außergewöhnliche Reputation, die nicht dadurch beeinträchtigt wurde, dass er zugestand, selbst nur eine grobe Beurteilung der Entwürfe vorgenommen zu haben. Die Vertragsabwicklung erfolgte routiniert und problemfrei. Die konkrete Ausführung erwies sich allerdings alles andere als unproblematisch. Die kalkulierten Kosten pro Flugzeug stiegen von 4,5 auf 16 Millionen Dollar, die Flottenversion kam nicht zustande, die Luftwaffenversion geriet zu schwer, die Fluggeschwindigkeit war unbefriedigend, die Manövrierfähigkeit entsprach nicht den Erwartungen. Von den anvisierten 1.700 Flugzeugen wurden nur 240 ausgeliefert. In praktisch allen Phasen des angeführten Entscheidungsprozesses steckten erhebliche Probleme. Bereits die Zielsetzung war unrealistisch, weil, wie man vorher hätte wissen können, die spezifischen Anforderungen von Marine und Luftwaffe letztlich nicht miteinander kompatibel waren. Die Alternativengenerierung litt an der engen Vorgabezeit. Außerdem geriet die Alternativenbeurteilung zwar aufwändig, d.h. es wurden Unmengen an Informationen gesammelt, aufbereitet und verwertet, die wenigen, wirklich wichtigen Informationen wurden dagegen leider übersehen. Die Beschlussfassung ignorierte die im Zuge der Erörterungen gewonnenen Einsichten, sie erfolgte autoritativ gegen den Rat der Fachleute. Die Probleme in der Umsetzung erklären sich zum Teil sicher aus der Komplexität des Vorhabens, ihre Ursachen stecken aber auch in den suboptimalen Prozessen in den vorangegangenen Phasen. Die Risiken, die in dem Gesamtprojekt steckten, wurden generell unterschätzt, und was noch schwerer wiegt, man konnte seinerzeit 103

schon bezweifeln, dass zur damaligen Zeit überhaupt ein begründeter Bedarf für die Neuentwicklung eines Jagdbombers bestand. B. Aubrey Fisher setzt bei der Analyse der kollektiven Entscheidungsfindung in Gruppen einen etwas anderen als den sachlogischen Schwerpunkt. Er unterscheidet vier Phasen: die Orientierungsphase, die Konfliktphase, die Kristallisierungsphase und die Verstärkungsphase (Fisher 1970, Ellis/Fisher 1994). In der ersten Konfrontation mit einem Problem weiß man nicht sofort, wie die anderen Gruppenmitglieder zu diesem Problem stehen. Um sich nicht sozial auszugrenzen, wird man sich daher mit allzu klaren Positionierungen zurückhalten, man bleibt in seinen Äußerungen mehrdeutig und unbestimmt, man möchte sich nicht vorschnell festlegen, sondern will erst noch herausfinden, wie das Problem allgemein gesehen wird. Man ist darauf bedacht, Einverständnis und Interesse an der Meinung der anderen zu signalisieren. Es geht hierbei allerdings weniger um tatsächliche Zustimmung, als darum, ein positives Gruppenklima zu erhalten und sich nicht vorzeitig zu zerstreiten. Es geht um Erkundung und Klärung, aber auch darum, vorsichtig seine Einstellungen zu dem Problem anzudeuten. Die Orientierungsphase wird von einer Phase des Konflikts abgelöst. Die Gruppenmitglieder haben sich eine Meinung gebildet und sie sehen, in welche Richtung die Gruppe gehen will. Man äußert seine Auffassung ganz direkt, sucht Koalitionspartner, versucht, sich durchzusetzen. Nicht selten kommt es zu einer Polarisierung, in der der Konflikt bewusst gesucht wird, in dem Überlegungen und Argumente vorgebracht werden, die die eigene Position stützen und die Position der Kontrahenten unterminieren. Die Konfliktlinien verlaufen dabei nicht rein an der Sache entlang, die Kontrahenten gruppieren sich vielmehr häufig entlang ihrer sozio-emotionalen Bindungen. In der Kristallisierungsphase schwächen sich die Gegensätzlichkeiten ab und die Fronten bröckeln. Man wird konzilianter im Ton und in den Auffassungen. Als wesentliches Kennzeichen dieser Phase kann das Wiederaufleben mehrdeutiger Äußerungen gelten. Anders als in der Orientierungsphase dienen sie nun aber nicht dem Ausloten möglicher Auffassungen, sondern dem Abrücken von den in der Konfliktphase so vehement vertretenen Ansichten. Einen abrupten Meinungswechsel zu vollziehen, ist psychologisch sehr schwer, es braucht einen Prozess der wechselseitigen Annäherung und selbst wenn dieser Prozess nicht wirklich substanzielle Fortschritte bringen sollte, hilft doch häufig eine verbale Neujustierung. In der abschließenden Verstärkungsphase werden die letzten Zweifel an der Entscheidung beseitigt, gelegentlich geäußerte negative Vorbehalte werden durch positive Äußerungen 104

neutralisiert, man bestärkt sich gegenseitig in der Auffassung, nun eine gute Lösung gefunden zu haben und die emotionale Lage entspannt sich. Zweifellos laufen nicht alle Gruppenentscheidungsprozesse in der angeführten Weise ab. Nicht immer erreicht man einen Konsens, Konflikte eskalieren, Minderheitsmeinungen werden zur Seite gedrängt, Verbitterung macht sich breit, eine Einigung kommt zwar zustande, aber nur, weil für das Nachgeben Ausgleichsleistungen erbracht werden usw. Auch kommt es nicht immer zu einer Polarisierung, Probleme werden nicht immer freimütig und offen angesprochen, Entscheidungsprojekte werden aufgeschoben oder abgebrochen, sie versanden oder nehmen eine gänzlich neue, unerwartete Richtung. Dessen ungeachtet hat das Schema von Fisher seine Vorzüge. Es stellt die sozialpsychologische Seite der kollektiven Entscheidungsfindung heraus, die Notwendigkeit, auch jenseits der konkret strittigen Themen miteinander auszukommen, die Bedeutsamkeit des Entscheidungsklimas, Fragen der Gesichtswahrung und der Schwierigkeit, eine einmal eingenommene Position wieder aufzugeben. Besonders herauszustellen ist außerdem die Einsicht, dass Gruppenentscheidungen entstehen und nicht etwa getroffen werden: „Wenn man eine Entscheidungsgruppe beobachtet, sei es als Teilnehmer oder als Nichtteilnehmer, und sagen soll, wann genau die Gruppe ihre Entscheidung trifft, dann wird man feststellen, dass dies eine sehr anspruchsvolle bis unmögliche Aufgabe ist. Irgendwann werden Sie sagen können, dass die Gruppe ihre Entscheidung bereits getroffen hat, selbst wenn die Gruppenmitglieder weiter diskutieren. Selbst Gruppen, die Vorgaben folgen, wissen nicht genau, wann sie ihre Entscheidung getroffen haben“ (Ellis/Fisher 1994, 156 f.). Für Henry Mintzberg, Duru Raisinghani und André Théorêt (1976) grenzt sich die Entschlussfassung deutlicher von den übrigen Aktivitäten ab. Die Ergebnisse ihrer Studie zur strategischen Entscheidungsfindung in Organisationen zeigen, dass es bei der Abwägung zwischen verschiedenen Handlungsalternativen nur selten „analytisch“ zugeht, dass also nicht systematisch erwogen wird, welche möglichen Konsequenzen sich mit den verschiedenen Alternativen verbinden, wie wahrscheinlich die Konsequenzen tatsächlich eintreten werden und wie sie im Licht der gegebenen Ziele und Wertvorstellungen zu beurteilen sind. Es dominieren vielmehr intuitive Beurteilungen (judgments), denen die Akteure gegebenenfalls im Rahmen von Verhandlungsprozessen Geltung verschaffen. Insgesamt unterscheiden Mintzberg, Raisinghani und Théorêt in Anlehnung an Simon (1965a) drei Hauptphasen: neben der Entschlussfassung (die sie „Selektion“ 105

nennen), die Identifikation und die Entwicklung. Die Identifikationsphase umfasst die Wahrnehmung, die das Problem überhaupt erst in den Blick nimmt, und die Diagnose, in der man sich tiefergehend mit der Natur des Problems beschäftigt. In der Entwicklungsphase geht es um die Suche nach Verhaltensoptionen und weiterführend um eine detailliertere Ausarbeitung von Handlungsplänen. Die Selektionsphase beinhaltet ein eher oberflächliches Screening (etwa im Hinblick auf die Machbarkeit), die bereits oben angesprochene Beurteilung der Handlungsalternativen und die Autorisierung der schließlich zu treffenden Entscheidung. Parallel zu den beschriebenen Aktivitäten und damit verschränkt existieren nach Mintzberg, Raisinghani und Théorêt die drei Hilfsroutinen der Kontrolle, der Kommunikation und der politischen Einflussnahme. Im Kern orientiert sich das Beschreibungsschema der Autoren an der quasilogischen Abfolge von Problemlösungsprozessen. Um überhaupt aktiv zu werden, muss es eine Handlungsnotwendigkeit geben, daraufhin werden Handlungsmöglichkeiten ausgearbeitet und schließlich wird die hierbei gefundene Lösung umgesetzt. Allerdings verstehen auch Mintzberg, Raisinghani und Théorêt die von ihnen beschriebene Phasenabfolge nicht als starres Schema. In der deutschsprachigen Literatur wurde das sogenannte Phasen-Theorem, das eine strikte zeitliche Reihung der angeführten Tätigkeiten unterstellt, von der Forschergruppe um Eberhard Witte einer kritischen Analyse unterzogen (vgl. z.B. Witte 1968). Ebenso wie andere Forscher ermitteln auch Mintzberg, Raisinghani und Théorêt in ihrer Studie zahlreiche Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Phasen. Ursächlich für Verhaltenszyklen, für Feedback-Schleifen und das Vorund Zurückspringen im Entscheidungsprozess seien Probleme der Verständigung unter den Akteuren und Misserfolge im Bemühen, zu einer tragfähigen Lösung zu gelangen (zur Ausdifferenzierung von Entscheidungsphasen und zu deren Bezügen vgl. u.a. Grün/Hamel/Witte 1972, Quinn 1980, Bass 1983). Auch zur Beschreibung der ethischen Entscheidungsfindung in Organisationen bedient sich die wissenschaftliche Literatur einer Phasenbetrachtung. Thomas Jones beispielsweise integriert verschiedene Ansätze in das 4-Phasen-Modell von James Rest (Rest 1986, Jones 1991, Zhong u.a. 2006). Unterschieden wird in diesem Modell zwischen der Wahrnehmung, also der Feststellung, dass überhaupt ein moralisches Problem vorliegt, der moralischen Urteilsfindung, der Herausbildung moralisch fundierter Absichten und schließlich dem moralischen Handeln selbst. Gerade die Analyse des moralischen Aspekts der Entscheidungsfindung 106

zeigt deutlich, dass alle Teilphasen gleich wichtig sind. Das beginnt bereits im ersten Punkt, der Wahrnehmung. Weil in vielen gängigen Praktiken moralische Probleme stecken, über die man leicht und gern hinwegsieht, bedarf es nämlich eines unbestechlichen Wahrnehmungsvermögens und eines starken Wahrnehmungswillens, um überhaupt nur das für eine moralisch fundierte Entscheidung notwendige Problembewusstsein zu entwickeln. Und dass die moralische Urteilsfindung nicht immer einfach ist, erkennt man unter anderem daran, dass viele Entscheidungen in moralische Dilemmata führen und außerdem daran, dass es bei der Beantwortung moralischer Fragen in besonderem Maße darauf ankommt, nicht über die Besonderheiten der jeweiligen Entscheidungssituation hinwegzusehen. Und schließlich gilt, zumal bei moralischen Fragen, dass die besten Absichten nichts nützen, wenn es an der Umsetzung der Vorsätze hapert.

Typisierungen Die Merkmale von Entscheidungsprozessen werden verschiedentlich zur Typisierung genutzt (Tabelle 3.1). Die Typologie von Paul Nutt (1984) basiert auf einer Untersuchung von 78 Entscheidungsprozessen in Organisationen. Sie setzt unmittelbar an den verschiedenen Phasen eines Entscheidungsprozesses an. Vollständig durchlaufen wird die Sequenz der wichtigsten fünf Entscheidungsaktivitäten (Formulierung, Entwicklung, Detaillierung, Implementierung und Bewertung) nur beim Typ der Neuerung. Das historische Modell ist dadurch gekennzeichnet, dass man eine bereits anderswo praktizierte Lösung für sein Problem sucht, diese an die jeweils eigene Situation anpasst und ausführt. Eine eigenständige Entwicklung einer Lösung erübrigt sich, weil man auf bereits bewährte Lösungen zurückgreift. Aus demselben Grund entfällt eine systematische Prüfung. Bei der Regallösung entfällt ebenfalls die Entwicklungsphase. Man nimmt gewissermaßen mehrere vorfabrizierte Lösungen aus den Regalen, vergleicht sie, prüft die Möglichkeiten für eine situationsgerechte Anpassung und wählt die aus, die am besten den eigenen Bedürfnissen entspricht. Im Bewertungsmodell entfällt nicht nur die eigenständige Entwicklung, sondern auch die Detaillierung, also die Ausarbeitung einer situationsgerechten Lösung. Besondere Bedeutung kommt der Bewertung zu. Diese richtet sich sowohl auf die Funktionstüchtigkeit der Lösung als auch auf die ökonomischen Vor- und Nachteile. Beim Suchmodell schließlich entfallen alle Spezifikationen, 107

man sucht eine Lösung für sein Problem und übernimmt sie ohne großartige Änderungen und tiefergehende Prüfungen. Die Beschreibung der von Mintzberg, Raisanghani und Théorêt untersuchten 25 Entscheidungsprozesse stellt ebenfalls stark darauf ab, welche Aktivitäten in den jeweiligen Entscheidungsprozessen besonders herausstechen. Die Autoren kommen damit zu ähnlichen Entscheidungstypen wie Nutt. Daneben berücksichtigen sie aber auch den Machtaspekt (der den politischen Prozess dominiert) und den Fluss der Entscheidungsfindung, der insbesondere im dynamischen Prozess häufig unterbrochen wird. Besonders akzentuiert wird der Verlaufsaspekt auch in der Typologie von Hickson, Butler, Cray, Mallory und Wilson (1986). Zur Beschreibung der von ihnen betrachteten 150 Entscheidungsprozesse verwenden sie zehn Variablen: die Fachkenntnis, die Qualität der verwendeten Informationen, die Proaktivität in der Informationsgewinnung, den formalen sowie, unabhängig davon, den informalen kommunikativen Austausch, den Spielraum für Verhandlungen, die Hierarchieebene, auf der die Entscheidung angesiedelt ist, die Dauer des Entscheidungsprozesses, sowie Unterbrechungen und Widerstände. Daraus ergeben sich drei Merkmalscluster, die sich entlang der Dimensionen „Stetigkeit des Prozesses“ und „Streubreite“ anordnen lassen. Sporadische Prozesse sind danach von vielen zeitlichen Diskontinuitäten geprägt, die Informationen sind vielfältig und zum Teil disparat, der Informationsaustausch erfolgt sehr stark über persönliche Kontakte. Flüssige Prozesse sind, was die Stetigkeit angeht, das Gegenbild zu den sporadischen Prozessen. Inhaltlich geht es allerdings ebenfalls um anspruchsvolle Themen. Zum Informationsaustausch werden viele Meetings anberaumt. Kanalisierte Prozesse weisen ein deutlich kleineres Themenspektrum auf, gefragt ist vor allem Expertenwissen. Paul Shrivastava und John Grant (1985) heben in ihrer Studie zur strategischen Entscheidungsfindung in 32 Organisationen zwei Aktivitäten besonders heraus: das Sich-Vertrautmachen mit dem Problem und die Entwicklung einer Problemlösung. Beide Aktivitäten vereinigen sich zu mentalen Problem-LösungsMengen (Problem Solution Sets). Die Studie der Autoren zeigt, dass der Prozess der Entscheidungsfindung maßgeblich von der Herausbildung und Durchsetzung dieser mehr oder weniger ausdifferenzierten P-S-Sets bestimmt wird. Je nach Nutzung der verfügbaren Informationsquellen ergeben sich verschiedene „Modelle“. Das Autokratische Modell wird von den Autoren wie folgt beschrieben: 108

„Im Rahmen des Autokratiemodells war ein einzelner Schlüssel-Manager der Hauptakteur. Der gesamte Prozess kreiste um seine Präferenzen und Handlungen. Es wurden nur sehr wenige P-S-Sets kreiert, da die Problemsicht des Managers unkritisch übernommen wurde. Einige wenige Personen (häufig die Mitarbeiter des Managers) beteiligten sich an der Lösungsfindung und an der Beschaffung der vom Manager erwünschten technischen und finanzbezogenen Informationen … Zum Zuge kamen intuitive Bewertungen, Managementsysteme wurden zur Beurteilung der Alternativen kaum benutzt. Die endgültige Entscheidung wurde von dem Manager getroffen, der auch für die Implementierung verantwortlich war“ (Shrivastava/Grant 1985, 103). Im Bürokratiemodell findet sich ein regelgeleitetes Vorgehen, die Lagebeurteilung wird dokumentiert und kommuniziert, man bemüht sich, im Rahmen der vorgegebenen Prozeduren und mithilfe der verfügbaren Instrumente eine konsensuale Lösung zu finden. Im Planungsmodell werden die Entscheidungen von Planungs- und Fachexperten initiiert und vorangetrieben, im Politikmodell geht es bei der Entscheidungsfindung nicht nur um die Durchsetzung der jeweiligen Interessen, sondern auch um den Streit um die Qualität und die Angemessenheit der die Entscheidung fundierenden P-S-Sets. Autoren und Typisierungs- Typenbeschreibung merkmale Nutt 1984 Historisches Modell: Gewünscht sind bewährte Lösungen, intensive Beurteilungen finden nicht Kombination der dominierenden Entscheidungsphasen statt. Regallösung: Es erfolgt eine Auswahl aus Standardlösungen, die der Situation angepasst werden. Bewertungsmodell: Aus dem Repertoire gebrauchsfertiger Lösungen erfolgt eine kritische Auswahl. Suchmodell: Gebrauchsfertige Lösungen werden ohne weitergehende Bewertung übernommen. Neuerungsmodell: Alle Entscheidungsphasen werden vollständig durchlaufen.

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Autoren und Typisierungs- Typenbeschreibung merkmale Mintzberg, Raisanghini und Théorêt 1976 Entscheidungsfluss und die Dominanz bestimmter Teilphasen

Sackgasse: Eine eigentlich einfache Lösung kann sich nur schwer durchsetzen, weil sie blockiert wird. Politisierter Prozess: Der Prozess wird durch politische Interventionen immer wieder aufgehalten. Suchprozess: Das Problem wird klar spezifiziert, gesucht wird eine gebrauchsfertige Lösung. Modifizierter Suchprozess: Eine gebrauchsfertige Lösung wird in begrenztem Umfang modifiziert. Entwicklungsprozess: Im Mittelpunkt steht die Entwicklung komplexer und innovativer Lösungen. Blockierter Entwicklungsprozess: Die gefundenen Lösungen stoßen auf starken externen Widerstand. Dynamischer Entwicklungsprozess: Der Prozess ist sehr komplex und wird immer wieder aufgehalten.

Hickson, Butler, Cray, Mallory und Wilson 1986 Stetigkeit des Prozesses und Streubreite der Aktivitäten

Flüssiger Prozess: Der Prozess läuft reibungslos, es gibt kaum Widerstände und Unterbrechungen. Sporadischer Prozess: Der Prozess läuft sprunghaft, es gibt Widerstand und häufige Unterbrechungen. Kanalisierter Prozess: Die Themen sind weniger komplex und weniger herausgehoben.

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Autoren und Typisierungs- Typenbeschreibung merkmale Shrivastava und Grant 1985 Die Entwicklung und Verwendung von Problem-Lösungs-Mengen (Problem Solution Sets, P-S-Sets) und die Informationsnutzung

Autokratiemodell: Es dominiert ein P-S-Set, die Lösungssuche nutzt kaum Systemressourcen. Bürokratiemodell: Regeln sorgen für die Diffusion von P-S-Sets und die Nutzung von Informationen. Planungsmodell: P-S-Sets sind anfangs wenig entwickelt, es gibt vielfältige Lösungsbemühungen. Politikmodell: P-S-Sets sind stark interessengeleitet. Lösungen orientieren sich am persönlichen Wissen.

Hart 1992 Rollenverständnis der Akteure und die unterschiedliche Gewichtung der Elemente rationaler Strategieentwicklung

Befehlsstil: Das Management-Mitarbeiter-Verhältnis entspricht dem Kommandanten-SoldatenModell. Alle wichtigen Elemente der Strategiefindung kommen zum Zug. Kulturstil: Das Management-Mitarbeiter-Verhältnis entspricht dem Verhältnis von Trainer und Spieler. Die Betonung liegt auf den Strategieelementen Mission, Vision und Zielsetzung. Rationalstil: Das Management-Mitarbeiter-Verhältnis entspricht dem Verhältnis von Chef und Mitarbeiter. Die Betonung liegt auf den Strategieelementen Planung, Struktur und Prozess. Kommunikationsstil: Das Management-Mitarbeiter-Verhältnis entspricht dem Verhältnis von Unterstützer und Teilnehmer. Die Betonung liegt auf den Strategieelementen Struktur, System und Prozess. Generativer Stil: Das Management-MitarbeiterVerhältnis entspricht dem Verhältnis von Sponsor und „Unternehmer“. Die Betonung liegt auf den Strategieelementen Prozess und Mitarbeiter.

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Autoren und Typisierungs- Typenbeschreibung merkmale Thompson und Tuden 1959 Berechnung: Die Bürokratie wickelt die zur Unsicherheit der Präferenzen Entscheidungsfindung notwendigen Aktivitäten routiniert und regelgeleitet ab. und Kausalerwartungen Urteilsbildung: Die dominante Koalition setzt sich nach z.T. aufwändigen und mühsamen Beratungen durch. Kompromiss: Die beteiligten Gruppen streben vermittels repräsentativer Beteiligung der Betroffenen nach tragfähigen Lösungen. Inspiration: Die Komplexität der Sache und das Fehlen klarer Strukturen zwingen dazu, ungewohnte Wege zu gehen und neuartige Lösungen zu finden. Tab. 3.1: Typisierung von Entscheidungsprozessen Die angeführten Typisierungen basieren auf den Ergebnissen empirischer Studien. Stuart Hart (1992) unternimmt den Versuch einer Integration der vorliegenden theoretischen und empirischen Einsichten. Seine Überlegungen stellen darauf ab, dass die Entscheidungsfindung maßgeblich vom Rollenverständnis der Führung und komplementär dazu von der Rollenzuweisung an die Mitarbeiter geprägt wird. Elementare Bedeutung haben daneben die Grundbausteine einer elaborierten Strategieentwicklung und Strategieverfolgung. Hart unterscheidet zwischen fünf Verhaltensstilen. Der Befehlsstil entspricht den normativen Vorstellungen von einer starken Führung, die ihrem Willen zweckorientiert und systematisch Geltung verschafft. Das Top-Management nimmt die Kommandantenrolle ein, die Mitarbeiter erweisen sich als gute Soldaten. Das Vorgehen bei der Entscheidungsfindung leitet sich aus einer klaren Mission ab, das Entscheidungsprojekt folgt einer deutlich artikulierten Vision, die Ziele werden spezifiziert, man geht bei der Situationsanalyse und Lösungsfindung analytisch vor, die Problembearbeitung folgt klaren Strukturvorgaben, die im Managementsystem steckenden Ressourcen (Instrumente, Datenbanken usw.) werden intensiv genutzt und die 112

Mitarbeiter werden mit ihrem Know-how in die Entscheidungsfindung einbezogen. Die anderen von Hart betrachteten Verhaltensstile akzentuieren jeweils bestimmte der angeführten Elemente. Der kulturelle Verhaltensstil betont die Mission, die Vision und die Zielsetzung, der rationale Stil Verfahren und Methoden (Planung, Struktur und System), der kommunikative Stil (transactive mode) zeichnet sich durch intensiven Informationsaustausch und strukturell unterfütterte Lernanstrengungen aus. Der generative Prozess setzt auf die Eigenständigkeit der Mitarbeiter, diese sollen gewissermaßen wie Intrapreneure agieren. Zu beachten ist, dass Hart organisationstypisches Entscheidungsverhalten beschreibt, d.h. er betrachtet vor allem die strukturellen Gegebenheiten, die in Organisationen das Entscheidungsgeschehen prägen. Einzelne Entscheidungsprozesse können damit durchaus von dem in Organisationen sonst üblichen Schema abweichen, letztlich seien sie aber doch alle auf den gleichen Grundton abgestimmt. Andererseits räumt Hart ein, dass sich in verschiedenen Bereichen einer Organisation durchaus verschiedene Entscheidungsstile herausbilden können, jedenfalls soweit sie mit je spezifischen Anforderungen konfrontiert sind. Je größer die Fähigkeit einer Organisation sei, unterschiedliche Stile nebeneinander zu verfolgen bzw. sie miteinander zu kombinieren, desto größer sei ihre Anpassungsfähigkeit und damit ihr Leistungspotenzial. In dieser Aussage kommt die stark voluntaristische Sicht zum Tragen, die die Ausführungen von Hart bestimmt.

Erklärungsansätze Gleichwohl unternimmt Hart den Versuch, das Zustandekommen der unterschiedlichen Entscheidungsstile jenseits des Gestaltungswillens der Akteure zu erklären. Er wählt hierzu im Wesentlichen einen kontingenztheoretischen Erklärungsansatz. Danach werden die Entscheidungsstile stark von äußeren Bedingungen (der Umwelt, der Unternehmensgröße, der Entwicklungsstufe) bestimmt. So eignet sich z.B. der Befehlsstil kaum für Großunternehmen in komplexen Umwelten. Das ist schon allein deswegen plausibel, weil der Befehlsstil auf eine einzelne Führungsperson abgestimmt ist, die naturgemäß nur über eine sehr eingeschränkte Informationsverarbeitungskapazität verfügt, weshalb der Befehlsstil nur in überschaubaren Verhältnissen funktionieren kann. Der prozedurale Stil (um ein anderes Beispiel zu nennen) ist dagegen aufwändig und eignet sich daher 113

nur bedingt für Situationen, die rasche Reaktionen und Innovationen erforderlich machen. Man findet den prozeduralen Stil daher eher in saturierten Unternehmen, in denen genügend Spielräume für die damit verbundenen Aktivitäten bestehen. Letztlich steckt in der kontingenztheoretischen Argumentation die Vorstellung von einem optimalen Fit und die Überlegung, dass starke Umweltkräfte (Anspruchsgruppen, der Markt usw.) einen starken Anpassungsdruck erzeugen, so dass Organisationen in ihren jeweiligen Umwelten mit ihren je eigenen Anforderungen den dazu passenden Entscheidungsstil entwickeln werden. Nutt bemüht bei der Erklärung seiner Entscheidungstypen einen stärker akteursorientierten Ansatz. Grundlegend sei das Bemühen um Unsicherheitsvermeidung. Dazu gehöre das Streben, möglichst rasch zu einer Entscheidung zu kommen. Entsprechend mache man es sich – aus pragmatischen Gründen – oft recht leicht, d.h. wo immer das möglich erscheint, begnügt man sich damit, eine bereits vorhandene Lösung zu übernehmen oder diese allenfalls zu modifizieren. Mintzberg, Raisanghini und Théorêt sehen die Bestimmungsgründe für die von ihnen ermittelten Entscheidungsverläufe zum Teil ähnlich wie Nutt. Danach orientieren sich die Akteure an den Anforderungen, die von den Problemen ausgehen, die die Entscheidung motivieren. Entsprechend sucht man manchmal einfach nach Standardlösungen, ein andermal muss man einigermaßen brauchbare Lösungen erst noch entwickeln. Neben diesen quasi kognitiven Ursachen wird von Mintzberg, Raisanghini und Théorêt aber auch die Bedeutung der dynamischen Faktoren betont, die auf das Entscheidungsgeschehen einwirken: die Unterbrechungen, die von äußeren Umständen verursacht werden, die zeitliche Taktung, die von den Teilnehmern zu verantworten ist und die Schwierigkeiten, die sich aus prozessinhärenten Komplikationen ergeben, aus fehlendem Feedback, aus Fehlern und aus mangelndem Wissen und Verstehen. Shrivastava und Grant erwähnen eine ganze Reihe weiterer Erklärungsgrößen, ohne diese allerdings näher zu spezifizieren. Der Entscheidungsverlauf wird danach von politischen und zwischenmenschlichen Gegebenheiten bestimmt, von der Ressourcenausstattung, von internen Prozeduren (Budgets, Sanktionen, Plänen) und Umweltbedingungen. Hickson, Butler, Cray, Mallory und Wilson gehen auf zwei Hauptursachen ein: auf die politische Bedeutung des jeweils betrachteten Entscheidungsproblems und auf dessen inhaltliche Komplexität. Hochpolitische und komplexe Entscheidungen erfordern sowohl eine extensive als auch eine intensive Auseinandersetzung mit 114

Problemen und Menschen, entsprechend wenig berechenbar ist der Gang der Dinge. Wenn man mit einem Entscheidungsproblem dagegen gut vertraut ist und sich daran keine Interessenkonflikte festmachen, wird man einen eher flüssigen Verlauf des Entscheidungsprozesses erwarten dürfen. James Thompson und Arthur Tuden stellen bereits in einer Publikation aus dem Jahr 1959 auf ganz ähnliche Bestimmungsgründe für die Herausbildung von Entscheidungstypen ab. Auf der einen Seite geht es um Unsicherheiten über Ursache-Wirkungszusammenhänge und auf der anderen Seite um die Übereinstimmung in den Präferenzen. Unproblematisch ist der Fall, wenn die Präferenzen der Akteure übereinstimmen und wenn man ähnliche Überzeugungen im Hinblick auf Konsequenzen alternativer Verhaltensweisen hat. Dann wird die Entscheidung mehr oder weniger zu einer Routineangelegenheit, die an die Stellen delegiert wird, die mit den jeweils sich stellenden Problemen am besten vertraut sind. Den passenden organisationalen Rahmen liefert die Bürokratie. Herrscht dagegen Unklarheit oder Dissens über die relevanten Ursache-Wirkungsbeziehungen, dann muss ein Weg gefunden werden, um die unterschiedlichen Sichtweisen miteinander zu vermitteln. Mitunter muss ein mühsamer Problemlösungsprozess durchlaufen werden, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Die Beschlussfassung durch die dominierende Koalition geschieht (bei gegebenem Konsens über die anzustrebenden Ziele) im Zuge von Abstimmungen über die Interpretation der vorliegenden Daten, Fakten und vermuteten Zusammenhänge. Der Entscheidungsmodus ist die Urteilsfindung, die passende Struktur die Kollegialstruktur. Unter Umständen kommt man um Mehrheitsbeschlüsse nicht herum. Uneinigkeit über die Präferenzen verlangt, will man die Kooperationsbeziehung nicht gefährden, die Fähigkeit zur Kompromissbildung. Es reicht in diesem Fall nicht aus, Faktenfragen zu klären, man muss auch Kompromisse hinsichtlich der Ziele erarbeiten. Der passende Entscheidungsmodus ist die Verhandlung. Hierzu wiederum passt am besten die repräsentative Struktur, d.h. es müssen Regeln installiert werden (Gremien, Abordnung von Interessenvertretern, Kommunikationsmittel, Meinungsbildungsrunden), die dafür sorgen, dass Ziele und Lösungsvorschläge der Betroffenen artikuliert werden und zur Geltung kommen und dass kompromissfähige Lösungen gefunden werden können. Besteht schließlich weder Einigkeit in den Überzeugungen noch in den Präferenzen, dann gerät eine Organisation in eine höchst prekäre Lage, aus der man nur durch „Inspiration“ herauskommt. Thompson und Tuden führen zwei typische Reaktionsweisen an: Entweder man 115

imitiert das Verhalten erfolgreicher Organisationen oder aber man holt sich externe Beratung ins Haus. Dabei übersehen die Autoren eine weitere Alternative, die im gegebenen Fall empirisch die größte Bedeutung haben dürfte, dass sich nämlich eine machtvolle Gruppe durchsetzt und Strukturen etabliert, die ihren Interessen am besten dienen. Thompson und Tuden beziehen sich bei ihren Betrachtungen auf die Struktur der Gesamtorganisation, was nicht völlig überzeugt, weil sich diesbezüglich oft nur schwache Bezüge zu konkreten Entscheidungen ergeben. Schließlich sind in aller Regel alle vier angeführten Entscheidungstypen in einer Organisation zu finden und Organisationen sind durchaus flexibel und ummanteln diese unterschiedlichen Entscheidungstypen auch mit der passenden Struktur (bedienen sich also einmal der bürokratischen, ein andermal der kollegialen Regulierung usw.). Problematisch an der Typisierung von Thompson und Tuden ist außerdem der normative Einschlag, den ihre Ausführungen aufweisen, so, wenn sie von idealen, zweckmäßigen oder angemessenen Strukturen sprechen, etwa weil sie sach- oder auch soziallogisch zu den entsprechenden Entscheidungstypen passen. Ob sich die unterstellte Harmonie tatsächlich einstellt, wäre aber erst noch zu untersuchen. Thompson und Tuden interessieren sich primär für den Strukturaspekt, für die Passung von Organisations- und Entscheidungsstruktur. Die Bedeutung von Komplexität und Interessen haben aber auch Auswirkungen auf die Ausdifferenzierung von Entscheidungsprozessen. Dies konnte anhand der Daten einer Studie über 31 Weiterbildungsentscheidungen von Unternehmen (Weber u.a. 1994) gezeigt werden (Martin 1996). Zur Abbildung des Differenzierungsgrads dienten in dieser Studie drei Variablen: die Konfliktoffenheit als Ausdruck der Möglichkeit, viele verschiedene Aspekte in den Entscheidungsprozess einzubringen, die Zahl der betrachteten Alternativen und die Bearbeitungsintensität. Wie zu erwarten war, verband sich ein komplexes Entscheidungsproblem, an das sich starke Interessengegensätze ankoppelten, mit einem sehr ausdifferenzierten Prozessgeschehen. Gleiches galt für die Fälle, in denen das Problem zwar komplex, die Interessengegensätze allerdings gering waren. Ausschlaggebend für die Frage, wie ausdifferenziert ein Entscheidungsprozess ausfällt, erwies sich also die Komplexität der Entscheidungsthematik. Umgekehrt, und anders als zu vermuten, kam es bei interessenbedingten Gegensätzen in den Auffassungen nicht ebenfalls zu einer starken Ausdifferenzierung der Entscheidungsfindung – wenn das Problem sehr einfach war! Ein Problem, das sehr leicht zu durchschauen ist, bietet nur wenig 116

Interpretationsspielräume. Wenn sich im Hinblick auf seine Lösung starke Interessengegensätze auftun, dann kann dies leicht dazu führen, dass sich die Standpunkte verhaken und der darin begründete Konflikt ausufert und eskaliert. Dass dies geschieht, wird die Hierarchie vermeiden wollen und dafür sorgen, dass die Angelegenheit rasch entschieden wird.

Abgrenzungen Entscheidungsprozesse sind vielschichtige, verschlungene, fragmentierte, dynamische und nebulöse Gebilde. Daraus zu schließen, man könne nichts Triftiges und Genaues über dessen Natur und Erscheinung sagen, wäre aber voreilig. Richtig ist allerdings, dass die Unübersichtlichkeit des Entscheidungsphänomens zu Missverständnissen einlädt, zu mangelnder Klarheit, worüber genau man spricht. Auf fünf mögliche Missverständnisse sei im Folgenden kurz hingewiesen. Sie betreffen den Unterschied zwischen Entscheiden und Auswählen, das Verhältnis von Entscheiden und Problemlösen, die Abgrenzbarkeit einzelner Entscheidungsphasen und die Bedeutung von Querschnitttätigkeiten. Entscheiden wird nicht selten mit Auswählen gleichgesetzt. Exemplarisch dafür ist die einfache Kaufentscheidung, also z.B. die Wahl zwischen verschiedenen Schokoladensorten. Unterstellt wird dabei häufig, dass der Konsument über die Eigenschaften der Produktalternativen gut informiert ist und dass er in der Lage ist, seine Präferenzen in eine eindeutige Ordnung zu bringen. Diese Annahmen geraten allerdings schon bei etwas komplexeren Konsumgütern (z.B. bei der Auswahl eines Mobiltelefons) ins Wanken. Das liegt nicht nur daran, dass man es hier mit einer ganzen Reihe von nicht immer einfach zu bewertenden Produktmerkmalen zu tun hat, sondern auch daran, dass man einigen Suchaufwand betreiben muss, um sich überhaupt einen Überblick über die auf dem Markt befindlichen Alternativen zu verschaffen. Eine neue Dimension erhält die Entscheidungsaufgabe, wenn gar keine fertigen Alternativen vorliegen, wenn man diese gewissermaßen erst schaffen muss. Die Ausarbeitung von Verhaltensalternativen gleicht einem Konstruktionsvorgang und als solcher kann die Alternativengenerierung unterschiedliche Tiefe und Detaillierung annehmen. Als Beispiel sei die Strategieentwicklung angeführt. Sie kann oberflächlich sein und sich darin erschöpfen, einige abstrakte Leitlinien zu formulieren, sie kann aber auch darauf abzielen, vor 117

dem Hintergrund sorgfältig konzipierter Szenarios, detaillierte Pläne und Alternativpläne auszuarbeiten, die nicht nur Vorgaben machen, sondern auch näher spezifizieren, was getan werden muss, damit die Handlungspläne verwirklicht werden können. Dazu gehört dann die umfängliche Gewinnung, Verarbeitung und Weitervermittlung von Informationen. Will man das Zustandekommen einer Entscheidung wirklich erklären, dann kann man die vielfältigen Aktivitäten, die sie ausmachen, nicht ausblenden. Das bedeutet allerdings nicht, dass es für manche Fragestellungen nicht sinnvoll sein kann, sich im engeren Sinn auf die Betrachtung von Wahlakten zu beschränken. Wenn beispielsweise alle Positionen geklärt sind und es letztlich nur darum geht, wer sich bei einer Abstimmung durchsetzt, dann ist es durchaus hilfreich zu wissen, welchen Einfluss Abstimmungsregeln auf die zu treffende Wahl haben. Und zur Situationsklärung kann die spieltheoretische Durchdringung strategischer Positionen und Möglichkeiten einen großen Beitrag leisten (Holler/Illing 2009, Eisenführ/Weber/Langer 2010). Zum Verhältnis von Problemlösen, Handeln und Entscheiden schreibt William Starbuck: „Entscheidungen erkennt man an ihrem Ende: der Entscheidung. Entscheiden und Problemlösen ist also nicht dasselbe … Entscheidungen können Probleme lösen, ohne dass sie zu einer Handlung führen und Probleme können gelöst werden, ohne dass eine Entscheidung getroffen wurde … Menschen treffen viele ihrer Entscheidungen erst, nachdem sie bereits zu handeln begonnen haben und nachdem einige Konsequenzen ihrer Handlungen sichtbar werden. Wenn sie einen Verhaltenskurs eingeschlagen haben, halten sie ihn für den einzig angemessenen Weg, sie wählen also nicht. Sie bemerken möglicherweise gar nicht, dass sie unterschiedlich unterwegs sind, zum Teil, weil Organisationen große Aktionen in viele kleine Stücke zerlegen und zum Teil, weil die individuellen Akteure einfach banalen Programmen folgen. Aber in der Rückschau können sie erkennen, dass tatsächlich Verhaltensalternativen bestanden, weshalb sie annehmen, dass sie eine Entscheidung getroffen haben“ (Starbuck 1985, 339). Wenn sich Problemlösen, Entscheiden und Handeln tatsächlich so verwirren, wenn Problemlösen und Entscheiden nichts miteinander zu tun haben und wenn es eine Frage der Interpretation sein sollte, ob man überhaupt eine Entscheidung getroffen hat, dann stellt sich natürlich die Frage nach der Trennschärfe dieser Begriffe und danach, welchen Sinn es haben kann, das Zustandekommen von Entscheidungen, Problemlösungen und Handlungsweisen erklären zu wollen (vgl. z.B. die Diskussion 118

von Mintzberg/Waters/Pettigrew/Butler 1990). Man muss diese negative Sicht aber nicht übernehmen, sondern kann darauf bestehen, dass die Begriffe durchaus Unterschiedliches bezeichnen, dessen ungeachtet aber auch eng aufeinander bezogen sind. So ist zuzugestehen, dass Entscheidungen keine Problemlösungen sind. Dennoch haben sie etwas mit Problemen zu tun. Sie fungieren nämlich als Mittel, d.h. Entscheidungen sind Problembewältigungs-Versuche. Ähnliches gilt im Verhältnis von Handeln und Entscheiden. Handlungen sind Versuche, Entscheidungen umzusetzen. Und weil Versuche gelingen oder misslingen können, sollte man von einer Handlung nicht unmittelbar auf eine damit deckungsgleiche Entscheidung zurückschließen. Bei dieser Beschreibung braucht man im Übrigen nicht von einem voluntaristischen Verständnis des Entscheidungsaktes auszugehen. Entscheidungen sind, wie bereits beschrieben, selten eindeutig zu lokalisierende und bewusst herbeigeführte Ereignisse, sie bilden sich vielmehr innerhalb der Bewegungen im Ereignis- und Handlungsstrom heraus und stehen meist schon vor einem formalen Beschluss fest, oft sind sie damit auch gar nicht identisch. Erkennen kann man sie nur an bestimmten Indikatoren, die die Richtung anzeigen, in der sich das Wollen der Akteure bewegt und verstetigt. Möglicherweise lässt sich aber auch ein solcher Verstetigungsprozess gar nicht ausmachen. So kann man einen Beschluss fassen und hat damit dennoch keine Entscheidung getroffen. Es kann aber auch sein, dass der Beschluss zum Anlass genommen wird, sich innerlich doch festzulegen. In dem oben angeführten Zitat behauptet Starbuck, dass man eine Entscheidung an ihrem Ende, also an der „Entscheidung“ (oder besser: an dem Beschluss) erkennen könne. Das kann aus den eben genannten Gründen bezweifelt werden. Es ist nur forschungstechnisch einfacher, Entscheidungen an einem Beschluss festzumachen und sein Zustandekommen gewissermaßen von diesem vermeintlichen Ende her zu analysieren. Und selbstverständlich verdienen folgenreiche Entscheidungen oder Beschlüsse (Kriegserklärungen, gesetzliche Verbote, die Besetzung von Führungspositionen, Unternehmensfusionen, Betriebsschließungen usw.) eine nähere Betrachtung und eine Analyse ihres Zustandekommens. Man macht dabei aber leider oft den Fehler, zu meinen, alles sei auf die infrage stehende Entscheidung zugelaufen, so als sei diese gewissermaßen zwangsläufig getroffen worden. Eine nähere Betrachtung des Geschehens erbringt dagegen nicht selten, dass es leicht auch hätte anders kommen können, dass Kleinigkeiten und Zufälle bestimmen, welcher konkrete Beschluss das (vorläufige) Ende des Entscheidungsgeschehens markiert. 119

Umgekehrt ist es oft nicht einfach, den Anfang eines Entscheidungsprozesses zu bestimmen. So können beispielsweise als problematisch wahrgenommene Sachverhalte Anlass geben, Veränderungswünsche zu artikulieren, die, nachdem sie einige Aufmerksamkeit erregt haben, auch wieder zurückgedrängt und vergessen werden, um möglicherweise später und in anderen Zusammenhängen und Konstellationen wieder aufgegriffen zu werden. Ein realistisches Bild des Entscheidungsgeschehens relativiert den Beginn und das Ende von Entscheidungsprozessen. Entscheidungsprozesse sind Bestandteile eines umfassenderen Ereignis- und Handlungsstroms. Mitunter gewinnen sie Kontur und heben sich vor dem allgemeinen Handlungshintergrund deutlich ab, nicht selten verbinden sie sich aber auch kaum unterscheidbar mit vielen anderen Geschehnissen, ohne deswegen allerdings ihre verhaltenstreibende Kraft zu verlieren. Die empirisch tätigen Entscheidungsforscher sind sich durchgängig darin einig, dass es klar abgegrenzte Entscheidungsphasen und festgefügte Phasenfolgen nicht gibt. Marshall Scott Poole (1983) beispielsweise begreift Gruppenentscheidungen als eine Folge von miteinander verschränkten Aktivitäten. Die Aktivitäten widmen sich den verschiedenen Aufgaben, die sich bei der Erarbeitung einer Entscheidung stellen. Dazu gehört, neben den „klassischen“, unmittelbar auf den Sachaspekt gerichteten Aufgaben (die Problemanalyse, der Entwurf von möglichen Lösungen), z.B. auch mehr oder weniger regelmäßig die Reflexion des Vorgehens. Ebenso bedeutsam sind Aktivitäten, die den sozialen Aspekt der Entscheidungsfindung betreffen: die Beziehungspflege mit den Teilnehmern an einem Entscheidungsprozess, der Umgang mit Konflikten und Bemühungen zur Bewahrung der sozialen Integration. Werden derartige sozio-emotionale Aufgaben nicht befriedigend bearbeitet, dann bleibt dies nicht folgenlos für die Entscheidungsqualität. Der Verlauf eines Entscheidungsprozesses wird aber, wie oben bereits angesprochen, nicht allein von der Aufgabenerledigung, sondern auch durch vielfältige geplante und ungeplante Anlässe zur Unterbrechung der Entscheidungstätigkeit bestimmt, von der Ablenkung durch andere Aufgaben, von Zeitplänen, sozialen Verpflichtungen, Konflikten, Stress und Handlungsdruck. Von einer stetigen, systematischen und eindeutig lokalisierbaren Entscheidung kann daher oft keine Rede sein. Poole spricht konsequenterweise nicht davon, dass Entscheidungen getroffen werden, sondern davon, dass sich Entscheidungen entwickeln. Auch die einzelnen Tätigkeiten innerhalb der verschiedenen Entscheidungsaktivitäten lassen sich streng genommen nicht als isolierbare Handlungseinheiten 120

begreifen, denn jede einzelne Aktivität greift immer auch auf andere Aktivitäten zu, also auch auf Aktivitäten, die gemäß Phasenlogik eigentlich erst früher oder später zum Zug kommen sollten. So wird bei der Ausarbeitung von Alternativen oft schon die Machbarkeit mit ins Kalkül gezogen und ebenso die Notwendigkeit, sich für die gefundenen Lösungen rechtfertigen zu müssen (vgl. z.B. Clark/Shrode 1979). Ähnlich wird bei der Wahl einer Alternative häufig mit erwogen, wie man sie stärker machen kann, als sie vorderhand erscheint. Man polstert die Entscheidung gewissermaßen ab, indem man mögliche Umsetzungsschwierigkeiten in die Alternativenwahl einfließen lässt (vgl. z.B. Svenson 1992). Aber nicht immer, nicht selten werden Machbarkeitsüberlegungen auch bedenkenlos zurückgestellt, zumal dann, wenn man die Umsetzung einer Entscheidung delegieren und sich aus der Verantwortung herausstehlen kann. Man kann Entscheidungsphasen auch ganz bewusst ausfallen lassen, sich also z.B. die Mühe ersparen, die aufzubringen ist, um zu einem einigermaßen fundierten Urteil zu kommen (Kleinmuntz/Thomas 1987). Statt sich mit langwierigen Diagnosen abzugeben, wird einfach gehandelt, was paradoxerweise nicht immer unvernünftig ist, jedenfalls dann nicht, wenn eine Diagnose ohnehin kein klares Bild zu liefern in der Lage ist. Das kann man sich dann auch sparen und dazu übergehen, etwas auszuprobieren (ein Medikament, eine Therapie), um sich so schrittweise und „nachträglich“ einer brauchbaren Diagnose anzunähern. Wie ja ohnehin ein einigermaßen komplexer Entscheidungsprozess immer ein iterativer Prozess sein wird. Die wechselseitige Durchdringung der Entscheidungsphasen wird, wie von Mintzberg, Raisinghani und Théorêt beschrieben, durch verschiedene Teilprozesse, die gewissermaßen quer zum Phasenverlauf angeordnet sind, ergänzt und befördert. Die wohl wichtigsten Querschnittsaktivitäten betreffen den Umgang mit Informationen, die in allen Entscheidungsphasen mit mehr oder weniger großem Nachdruck gesammelt, aufbereitet, interpretiert, weitergegeben und in Erinnerung gerufen werden. Eine weitere wichtige Querschnittsaktivität richtet sich auf die Rechtfertigung des Entscheidungshandelns. Auch sie betrifft alle Entscheidungsphasen, denn im kollektiven Zusammenwirken bei der Entscheidungsfindung geht es nicht nur um die Rechtfertigung der schließlich getroffenen Entscheidung, sondern auch darum, warum man bestimmte Informationen ausblendet, warum man bestimmten Entscheidungskriterien einen größeren Stellenwert einräumt als anderen, wie man seine Auffassungen begründet usw. Die Ansprüche, die man an die Plausibilität von Rechtfertigungen stellt, sind ebenso 121

variabel wie die Ansprüche an die Qualität von Informationen. Ray Crozier (1989) ist zwar der Meinung, dass zur Rechtfertigung des eigenen Handelns oft das einfachste Argument ausreicht, sieht aber durchaus, dass man sich auch an den Erwartungen des jeweiligen Publikums ausrichten muss. Manchmal genügt der lapidare Hinweis auf die Alternativlosigkeit, manchmal empfiehlt sich die Berufung auf die Vorschriften, manchmal möchten die Beteiligten aber differenziertere Ausführungen zum Kosten-Nutzen-Verhältnis des Vorgehens. Genutzt wird gern der Vergleich mit wenig attraktiven Verhaltensalternativen, weil damit das eigene Handeln in ein besseres Licht gestellt wird. Außerdem bemüht man sich normalerweise darum, wenigstens den Anschein eines rationalen Vorgehens zu wahren.

Basis-Aktivitäten Nicht nur Gruppenforscher und Organisationstheoretiker, sondern auch Politikwissenschaftler arbeiten bei der Beschreibung von Entscheidungen mit dem Phasenschema. Ein Beispiel ist das Schema von Ronald Nuttall, Erwin Scheuch und Chad Gordon (1968). Es umfasst 25 Stufen mit so unterschiedlichen Tätigkeiten wie der Ermittlung der Werthaltungen der Akteure, der Entwicklung einer Strategie im Hinblick darauf, wie man den Entscheidungsprozess angehen sollte und der Suche von Unterstützung und Legitimation bei verschiedenen Kommunikationsanlässen. Eine Besonderheit dieses Schemas ist, dass die Autoren den einzelnen Phasen Rollen zuordnen, die von Teilnehmern an einem Entscheidungsprozess jeweils auszufüllen sind: Initiator, Kritiker, Planer, technischer Experte, Prognostiker, Stratege, Sprecher, Vermittler, Verhandler, Experte für sozio-emotionale Beziehungen, Organisator, Sprecher, Propagandist, Strafinstanz, Antreiber, Analytiker, Kämpfer, Gelehrter, Unterstützer, symbolischer Führer, Türöffner usw. Wie schon mehrfach erwähnt, ist die Liste der innerhalb eines Entscheidungsprozesses zum Zug kommenden Tätigkeiten sehr lang. Und es kann nicht gesagt werden, welcher dieser Tätigkeiten allgemein und immer die größte Bedeutung zukommt. Manchmal kommt es darauf an, eine subtile Lösung zu finden, deren Entwicklung viel Sachverstand braucht, ein andermal sind die Details einer Lösung belanglos und es kommt vor allem darauf an, Unterstützung für das gewünschte 122

Vorgehen zu gewinnen, andere Entscheidungen verlangen vor allem Durchsetzungsfähigkeiten usw. Welche der Entscheidungstätigkeiten verdienen also besondere Beachtung? Es gibt zu dieser Frage, wie gesagt, keine allgemeingültige Antwort. Wenn man Entscheidungshandeln aber aus der Perspektive der Problembehandlung betrachtet, dann gibt es einige Eckpunkte, die man nicht außer Acht lassen kann. Sie bezeichnen fast begriffslogisch das „Schicksal“ eines Problems: die Aufmerksamkeit, die einem Problem zuteilwird, die Problemdefinition, der Umgang mit dem Problem und das konkrete Entscheidungshandeln (dessen Umsetzung). Ein Problem tritt gewissermaßen erst ins Leben, wenn man ihm Aufmerksamkeit schenkt. Ohne Zuwendung zu einem Problem verliert ein Entscheidungsprozess seinen Gegenstand. Der Aufmerksamkeit kommt mitunter ein größerer Stellenwert zu als dem Denken. Herbert Simon jedenfalls meint, dass es leichter sei, die Entscheidungen von Personen durch die Lenkung ihrer Aufmerksamkeit als durch Änderung ihrer Überzeugungen zu beeinflussen (Simon 1997, 171). Und Daniel Goleman schreibt: „Unser Denken und Tun wird begrenzt durch das, was wir nicht bemerken. Und da wir nicht bemerken, dass wir nichts bemerken, können wir diesbezüglich kaum etwas ändern bis wir bemerken, wie das Nichtbemerken unser Denken und Tun prägt“ (Goleman 1985, 24). Ganz bewusst wird im vorliegenden Buch die Aufmerksamkeit herausgestellt und nicht etwa die Wahrnehmung. Die Wahrnehmung setzt nämlich eine größere Interpretationsleistung voraus, ein Punkt, der bereits in die Sphäre der Problemdefinition reicht. Bei der Aufmerksamkeit geht es zunächst einfach, aber doch ganz entscheidend darum, ob ein Problem überhaupt einen Zugang in das Entscheidungssystem findet. Die nähere Eingrenzung des Problems, d.h. die Problemdefinition bestimmt die Handlungsziele der Akteure und liefert den Maßstab für die Beurteilung des Handlungserfolgs. Für die Problembearbeitung ist sie von höchster Bedeutung, sie bestimmt die Problemsicht, geht mit einer Vorstrukturierung der Gedanken einher und setzt durch die dadurch bedingte mentale Vorprägung den Rahmen, in dem sich die Entscheidungsfindung bewegt. Ein Beispiel für die Bedeutung der Rahmung findet sich im folgenden Fall (Clarke 1988, 27 f.): Im Jahr 1981 verursachte ein Brand in der elektrischen Schaltanlage eines achtstöckigen Bürogebäudes in Binghamton eine erhebliche chemische Verunreinigung mit hohen Anteilen an PCB und Dioxin. Der durch das Feuer entstandene Ruß breitete sich im gesamten Gebäude aus und setzte sich auch in den entlegensten Winkeln fest. 123

Die in den folgenden Wochen anberaumten Dekontaminationsversuche erwiesen sich als äußert aufwändig und als letztlich nicht vollständig leistbar. Interessant in unserem Zusammenhang ist, dass die zuständige Behörde zwei Tage nach dem Brand eine Gruppe unausgebildeter Hilfskräfte zur Reinigung in das Gebäude schickte. Die zuständigen Personen nahmen an, das Gebäude sei einfach nur „schmutzig“ und könne entsprechend von einem normalen Reinigungstrupp gereinigt werden. Und auch für die Art und Weise, wie ein Problem angegangen wird, d.h. die Problemhandhabung, liefert der Fall Anschauungsmaterial. Der Einsatz von normalem Reinigungspersonal folgte der üblichen organisationalen Logik, vermeintlich bekannte Probleme mit den gegebenen Standardprozeduren lösen zu wollen. Auf die tatsächlich gegebene Problematik war niemand vorbereitet. So blieb die Frage lange Zeit umstritten, ab welchem Zeitpunkt das Gebäude wieder freigegeben werden sollte, d.h. ab wann das Gesundheitsrisiko als hinreichend gering anzusehen war (tatsächlich wurde das Gebäude erst im Jahr 1994 wieder genutzt). Es gab insbesondere keine eindeutige Risikoabschätzung, auf die sich eine entsprechende Entscheidung stützen konnte. Wie das Risiko zu bestimmen war und was als akzeptables Risiko zu gelten hatte, war vielmehr Gegenstand von Verhandlungen zwischen einer ganzen Reihe von Akteuren (Landesverwaltung, Gesundheitsund Umweltbehörden, Politiker, Bürgerinitiativen). Die Risikoeinschätzung war also keine feststehende Größe, die gewissermaßen als unabhängige Variable in das Entscheidungskalkül eines eindeutig zu bestimmenden Entscheidungsträgers einging. Sie war vielmehr äußerst unbestimmt und die Diskussionen darüber waren von den unterschiedlichen Überzeugungen und Interessen der Beteiligten geprägt. Die Risikoeinschätzungen waren entsprechend nicht so sehr darauf gerichtet, die Entscheidungsfindung anzuleiten, sondern darauf, die eigenen Auffassungen und Handlungen zu rechtfertigen. Bei der Problemhandhabung geht es also nicht allein um die Lösungssuche, sondern auch um Zuständigkeiten, Überzeugungen, Verhandlungen usw. Und idealerweise auch um die Handlungsplanung, also um Aufgaben, Regeln, Zeitpläne, Methoden, Hilfsmittel usw., also um die mentale und praktische Handlungsvorbereitung. Darauf sollte ja schließlich alles hinauslaufen, auf die substanzielle Problembewältigung durch konkretes Handeln. Die Absichtsformulierung (und sei sie auch in Protokollen oder Dokumenten festgehalten) und deren Umsetzung sind aber durchaus unterschiedliche Dinge mit ihrer eigenen Logik. Erstens zeigen sich 124

viele Schwierigkeiten mit einer Entscheidung erst in der Konfrontation mit der Widerständigkeit der Dinge und außerdem kommen bei der Umsetzung oft noch weitere Akteure ins Spiel, die jenseits der von anderen getroffenen Entscheidungen ihre eigenen Ziele verfolgen. Die mit einer Entscheidung verknüpfte Absicht kann sich damit leicht verändern, zusätzliche Problemaspekte finden Aufmerksamkeit, die Problemsicht verändert sich, die Verhaltensstrategien werden den Umständen angepasst oder anders ausgedrückt: Unter Umständen muss der Entscheidungsprozess neu aufgerollt werden. In Abbildung 3.2 sind die Basis-Aktivitäten eines Entscheidungsprozesses nochmals schematisch zusammengefasst. Angeführt sind wie in Abbildung 3.1 Faktoren, die die „Phasenübergänge“ zwischen den Aktivitäten und damit die Dynamik eines Entscheidungsprozesses bestimmen. Außerdem finden sich Einflussfaktoren, die auf die einzelnen Aktivitäten einwirken, sowie strukturelle und personenspezifische Hintergrundfaktoren, die wiederum die Ausprägungen dieser Einflussfaktoren bestimmen.

Abb. 3.2: Basisaktivitäten eines Entscheidungsprozesses Es handelt sich dabei um Faktoren, die in der einschlägigen Literatur sehr häufig diskutiert werden, wobei es sich allerdings nur um eine exemplarische Auswahl handelt. In den Kapiteln 5 bis 8 wird auf die Basisaktivitäten näher eingegangen. 125

Kapitel 4: Einflussgrößen, Strukturen, Mechanismen Die Beeinflussung des Entscheidungsprozesses Vassilis Papadakis, Ioannis Thanos und Patrick Barwise (2010) geben einen Überblick über mögliche Determinanten der Strategischen Entscheidungsfindung in Organisationen (zu ähnlichen Übersichten vgl. Rajagopalan/Rasheed/Datta 1993; Shepherd/Rudd 2014). Als häufig untersuchte Einflussfaktoren gehen sie auf Umweltvariablen wie Unsicherheit, Dynamik und Feindseligkeit ein, sie nennen Variablen des organisationalen Kontextes (Einsatz von Management-Instrumenten, Organisationsstrukturen, Organisationskultur, Größe der Organisation), der Merkmale des Entscheidungsobjekts (Bedeutsamkeit, Entscheidungsmotive, Vertrautheit mit der Entscheidung) und Eigenschaften des Entscheidungsteams (Diversität, Zugehörigkeitsdauer, Persönlichkeitseigenschaften). Als abhängige Variablen der von ihnen analysierten 46 Studien dient vor allem die Vollständigkeit (Comprehensiveness) des Entscheidungsprozesses, aber auch, ob das Entscheidungsgeschehen regelgeleitet abläuft, ob mehrere Hierarchieebenen in die Entscheidungsfindung eingebunden sind und ob es zu einer Politisierung und zu größeren Meinungsverschiedenheiten über die richtige Lösung kommt. Die inhaltlichen Ergebnisse sind einigermaßen enttäuschend. Viele Aussagen bleiben oberflächlich, sind mitunter banal und lassen häufig einen großen Deutungsspielraum. Zu den banalen Ergebnissen gehört beispielsweise die Einsicht, dass es sich lohnt, sich schon bei der Entscheidungsfindung Gedanken über die Umsetzung der Entscheidung zu machen. Wenig tiefgründig sind auch die Studien, die zeigen, dass Umweltgegebenheiten wie Unsicherheit und Dynamik sich auf den Erfolg der Entscheidungen auswirken. Auch die Untersuchungen zur Zusammensetzung der Teilnehmer an einem Entscheidungsprozess sind oft nicht sonderlich 126

erhellend. So stellt sich eine gewisse Ratlosigkeit ein, wenn man erfährt, dass sich kognitive Diversität angeblich negativ auf die Planung auswirkt (zu einer umfänglichen Metaanalyse der Erfolgswirkungen von Diversität in Gruppen vgl. van Dijk/ van Engen/van Knippenberg 2012). Aber eigentlich ist es nicht erstaunlich, dass man dann, wenn man sehr viele Beziehungen untersucht, auch eine ganze Reihe von kontraintuitiven Ergebnissen findet. So ermitteln Vassilis Papadakis, Spyros Lioukas und David Chambers in ihrer Studie überraschenderweise eine positive Korrelation zwischen der Krisenhaftigkeit einer Situation und der Zahl der bei der Suche nach einer Lösung einbezogenen Hierarchieebenen. Üblicherweise geht man davon aus, dass in einer Krise das Top-Management die Angelegenheit an sich zieht und also nachgelagerte Stellen gerade nicht an der Entscheidung beteiligt. Die Autoren versuchen ihr Ergebnis damit zu erklären, dass es auf den Grad der Schwere der Krise ankäme. Da in ihrer Studie Krisen allenfalls ein mittleres Ausmaß annähmen, gälte eine andere Logik, d.h., in mittleren Krisen sei es durchaus angebracht, die Expertise des mittleren Managements zu nutzen und sie in die Entscheidungsfindung einzubeziehen (Papadakis/Lioukas/Chambers 1998, 131). Man kann darin eine typische Ad-hoc-Erklärung sehen. Man kann der Argumentation der Autoren aber auch etwas abgewinnen, immerhin unternehmen sie den Versuch, eine weitere Variable in die Analyse einzubeziehen, um das zunächst unverständliche Ergebnis besser zu verstehen. Allerdings wird man, wie gerade der beschriebene Fall zeigt, mit der zusätzlichen Berücksichtigung von eher zufällig herausgegriffenen Situationsbedingungen, nicht zu wesentlich tieferen Erkenntnissen gelangen. Die Black-Box wird mit Erklärungen der beschriebenen Art nicht durchsichtiger, sondern allenfalls größer. Letztlich bleibt man durch die bloße Hinzunahme von weiteren Variablen auf der Beschreibungsebene, nur, dass man dann eben nicht lediglich zwei, sondern mehrere Variablen und deren Zusammenhänge betrachtet. Über die Logik, die diese Zusammenhänge hervorbringt, ist damit noch nichts gesagt. Wissenschaft möchte aber nicht nur beschreiben, sondern auch erklären. Man könnte nun argumentieren, dass die Identifikation von Bestimmungsgrößen doch ein bedeutsamer Schritt in diese Richtung ist. Schließlich geht es dabei um die Ermittlung von Faktoren, die dafür verantwortlich sind, dass ein Entscheidungsprozess diese oder jene besonderen Merkmale aufweist, die also z.B. dafür sorgen, dass ein Entscheidungsprozess einen bestimmten und keinen anderen 127

Lauf nimmt. Tatsächlich dringt die Erforschung kollektiver Entscheidungsprozesse aber nur sehr selten zu Bestimmungsgrößen vor, die gewissermaßen immer und überall gelten. Untersucht werden, wie oben exemplarisch angeführt, vielmehr Einflussgrößen, von denen einmal eine stärkere, ein andermal eine schwächere Wirkung ausgeht und die nicht selten auch gar keinen Einfluss auf das Entscheidungsgeschehen nehmen. Man kommt außerdem über Mittelwertbetrachtungen nicht hinaus. Über den konkreten Einzelfall lässt sich damit gar nichts sagen. Statt von Einflussgrößen spricht man daher besser nur von potenziellen Einflussgrößen, wobei allerdings noch näher zu bestimmen wäre, was mit dem Begriff „Einfluss“ genau bezeichnet werden soll. Die Alltagssprache jedenfalls kennt diesbezüglich zahlreiche Begriffe mit je eigenen Bedeutungen und Bedeutungsakzenten. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien in alphabetischer Reihenfolge einige genannt: abbrechen, ablenken, abnutzen, abschwächen, abspalten, abstoßen, anstecken, anstoßen, anziehen, auflösen, aushöhlen, auslösen, bedingen, beeinflussen, beschleunigen, bestimmen, bewirken, bremsen, drängen, einstimmen, erleichtern, erzeugen, fördern, formen, fügen, hervorheben, interagieren, katalysieren, kompensieren, nähren, prägen, verbrauchen, stimulieren, überdecken, unterbrechen, unterdrücken, verbergen, verdrängen, vereinigen, verhindern, vermitteln, verkleben, verschleiern, verstärken, verursachen, voraussetzen, vorbereiten. In der empirischen Forschung begnügt man sich prosaisch mit der Ermittlung von Korrelationen (vgl. die genannten Übersichtsaufsätze). Verschiedentlich findet man auch Aussagen über Effektstärken (etwa in Form von Prozentzahlen der erklärten Varianz), oft begnügt man sich aber mit dem Nachweis eines „signifikanten“ Zusammenhangs. Letzteres findet man insbesondere in multivariaten Betrachtungen. Ein Hauptgrund für diese Bescheidenheit liegt darin, dass die Erklärungsbeiträge einzelner Faktoren immer geringer werden, je mehr Faktoren gleichzeitig in die Analyse einfließen (rein formal liegt das an den Interkorrelationen, die die Erklärungsfaktoren normalerweise aufweisen). Angesichts der Vielzahl der auf einen Entscheidungsprozess einwirkenden Kräfte, die wiederum nicht unabhängig voneinander sind, braucht man sich über die geringe Erklärungskraft, die einzelnen Einflussfaktoren zukommt, nicht sonderlich zu wundern. Vielleicht sollte man in der Forschung einerseits zwar bescheiden, andererseits aber auch anspruchsvoller sein als bislang. So sollte man sich von dem Gedanken 128

verabschieden, man könne mit der Suche nach wirkungsstarken Einflussfaktoren zu wirklich allgemeingültigen Erkenntnissen gelangen. Zweifellos haben Größen wie die Teilnehmerzahl, die Komplexität der Thematik, die Interessenvielfalt usw. Auswirkungen auf einen Entscheidungsprozess, sie betreffen aber nur Verhaltenstendenzen, gelten also nicht für jeden Fall und außerdem können die angenommenen Effekte je nach den vorliegenden Handlungsbedingungen leicht in ihr Gegenteil umschlagen. Es wäre daher nur konsequent, die Handlungsbedingungen explizit in die Erklärung einzubeziehen. Und genauer betrachtet sind viele der in der Literatur betrachteten Einflussgrößen tatsächlich eher Elemente (!) der Handlungssituation und damit Anwendungs-Voraussetzungen für das Wirksamwerden tieferliegender Kausalprozesse. Und damit kommt der angesprochene höhere Erklärungsanspruch zum Zug. Es genügt dann nämlich nicht, in statistischen Analysen mögliche Einflussbeziehungen zu erkunden, um diesen anschließend eine theoretische Deutung angedeihen zu lassen. Zu wünschen ist vielmehr, das Bedingungsgefüge für das Wirksamwerden konkret wirksam werdender Ursachen herauszuarbeiten. Gerald Smith beschreibt die Sachlage wie folgt: „Theoretische Erklärungen der Problemidentifikationen sollten überzeugende Argumente dafür liefern, warum bestimmte Probleme erkannt bzw. nicht erkannt wurden. Die vorliegende Forschung beschreibt den Prozess der Problemidentifikation anhand von Variablen, die die Ergebnisse dieses Prozesses beeinflussen. Aber Beschreibung ist nicht Erklärung und beeinflussende Variablen sind nicht immer plausible Ursachen. Darin spiegelt sich die Ursache-Bedingungs-Unterscheidung von Mackie (1980). Damit ein Feuer entstehen kann, muss es Sauerstoff geben, aber man wird die Ursache für den Ausbruch eines Feuers kaum dem Sauerstoff zuschreiben. Ursachen sind intrusive und ungewöhnliche Ereignisse, während Bedingungen die üblicherweise zu erwartenden Zustände sind …“ (Smith 1989, 28). Es geht aber nicht nur um Ursachen, sondern ebenso um die Abfolge und Verkettung kausalbedingter Vorgänge. Auch hierfür sei ein Beispiel angeführt. Vicky Baier, James March und Harald Sætren führen aus, dass unternehmenspolitische Vorhaben oft mit überhöhten Erwartungen einhergehen. Das resultiert aus dem Bemühen, das Vorhaben gegenüber konkurrierenden Vorhaben attraktiver erscheinen zu lassen, was sich aber als ein durchaus zweischneidiges Vorhaben erweist: „Übersteigerte Erwartungen bezüglich der Programme, die die Unterstützung der politischen Entscheidungsträger gefunden haben, erhöhen die Wahrscheinlichkeit 129

nachfolgender Enttäuschungen. Große Erwartungen motivieren das Handeln, aber große Erwartungen sind auch Einladungen zur Enttäuschung. Enttäuschungen bewirken nun aber nachgerade eine Erosion der Unterstützung …“ (Baier/March/ Sætren 1986, 205). Darüber sind sich die Akteure durchaus im Klaren, was dazu führt, dass die Beeinflussung der Erwartungen zu einem politischen Mittel wird (Ebenda). Die Zusammenhänge sind mitunter also durchaus verwickelt. Korrelationsanalysen leisten kaum einen Beitrag, sie aufzuklären. Besser geeignet ist die Betrachtung grundlegender Verhaltensmechanismen und deren Verknüpfung mit den jeweiligen Situationsbedingungen.

Mechanismen des Entscheidungshandelns Die Natur von Mechanismen Will man wissen, wie etwas funktioniert, warum etwas geschieht, dann ist die Kenntnis der für das Geschehen verantwortlichen Mechanismen äußerst hilfreich. Mechanismen haben etwas mit den Prinzipien zu tun, die Wirkungen erzeugen und Vorgänge lenken. Mechanismen sind Kausalzusammenhänge, die bei gegebenen Bedingungen in determinierter Weise ein System vom Zustand Z0 in den Zustand Z1 versetzen. Mechanismen sind keine Gesetze, sie sind Manifestationen von Gesetzen unter spezifischen Bedingungen. Letzteres bedeutet, dass ein Mechanismus immer erst in Gang gesetzt werden muss, dass er nicht unentwegt, überall und unter allen Umständen abläuft. Oder anders ausgedrückt: Für die Wirksamkeit eines Mechanismus gilt die ceteris paribus Klausel. Das entwertet die Kenntnis von Mechanismen allerdings nicht, es verlangt vom Forscher lediglich, was eigentlich selbstverständlich sein sollte, dass er sich nämlich mit dem Sachverhalt, den er erklären will, gewissenhaft beschäftigt, mit seiner Beschaffenheit und mit seiner Einbettung in das umfassendere Geschehen. Kausalaussagen sind jedenfalls der Kern der Mechanismenbetrachtung. Deswegen beschreibt aber nicht jede Kausalbetrachtung einen wirklichen Mechanismus. Man kann zwar beobachten, dass viele Menschen bei beginnendem Regen ihren Regenschirm aufspannen, aber es ist nicht der Regen, der den Griff zum Regenschirm herbeiführt. 130

Davon abgesehen, sind derart banale Geschehnisse aus wissenschaftlicher Sicht völlig uninteressant, denn auch bei der Suche nach den Mechanismen des Verhaltens geht es nicht um banale Phänomene, sondern um tiefergehende Erkenntnisse. Es geht darum, in die „Black Box“ zu blicken, in der sich abspielt, was die beobachtbaren Ereignisse verbindet. Es ist daher nur dann sinnvoll, von einem Mechanismus zu sprechen, wenn in ihm ein fundamentales Wirkprinzip zur Geltung kommt, also Vorgänge angesprochen sind, die die infrage stehenden Phänomene in essenzieller Weise hervorbringen. Verschiedentlich findet man die Vorstellung, Mechanismen unterschieden sich wesentlich von Gesetzmäßigkeiten. Man könne sie zwar für Erklärungen, aber nicht für Voraussagen verwenden. So behaupten Gerald Davis und Christopher Marquis: „Mechanismen werden, anders als Theorien, nicht falsifiziert; sie werden vielmehr als Instrumente der Erklärung verwendet ...“ (Davis/Marquis 2005, 340). Das Zitat ist sprachlich etwas unglücklich, schließlich lassen sich z.B. auch Gesetze nicht falsifizieren und entsprechend auch nicht Mechanismen. Falsifizieren lassen sich nur Aussagen, aber nicht die Phänomene, die sie beschreiben. Aber das ist nur ein nebensächlicher sprachlogischer Aspekt. Was die inhaltliche Behauptung angeht: Selbstverständlich kann man falsche Vorstellungen über Mechanismen haben und man findet daher in der Literatur auch viele falsche (und häufig ungeprüfte) Behauptungen über das Wirksamwerden und die Wirkungslogik von Mechanismen und diese Behauptungen lassen sich entsprechend kritisieren und auch prüfen. Jedenfalls sollte man sich um deren empirische Prüfung bemühen. Und wie bereits angeführt, sollte man sich bei der Identifikation und Beschreibung von Mechanismen selbstverständlich von theoretischen Überlegungen leiten lassen. Aussagen über Mechanismen sind schließlich die Kernbausteine von Theorien (ausführlicher Martin 2012, 2018 sowie u.a. Nagel 1961, Bunge 1967, Elster 1989, Schmitt/Florian/ Hillebrandt 2006, Gerring 2007, Kalter/Kroneberg 2014). Im Zusammenhang mit kollektiven Phänomenen interessiert nicht zuletzt, wie sich die Ebene des individuellen Handelns mit der Ebene der sozialen Wirkungen vermittelt. Zur Beantwortung dieser Frage betrachten Peter Hedström und Richard Swedberg (1996) das Zusammenwirken von drei MechanismusFormen. Die erste Gruppe von Mechanismen nennen sie Handlungsformierungs-Mechanismen. Sie sind auf der individuellen Ebene angesiedelt und betreffen das Zusammenwirken und die spezifischen Kombinationen von Wünschen, Überzeugungen und Handlungsmöglichkeiten. Die beiden anderen Grundformen 131

von Mechanismen beziehen sich auf die soziale Sphäre. Bei der ersten Gruppe geht es um das Makro-Mikro-Verhältnis, also um die Beeinflussung des individuellen Verhaltens durch soziale Gegebenheiten. Hedström und Swedberg nennen die Klasse der hier zur Geltung kommenden Mechanismen SituationsMechanismen: „Der individuelle Akteur ist einer spezifischen sozialen Situation ausgesetzt und diese Situation beeinflusst ihn oder sie in einer besonderen Weise.“ (Hedström/Swedberg 1996, 23). Eine Untergruppe bilden die Überzeugungsformierungs-Mechanismen, also Mechanismen, die die Herausbildung von individuellen Auffassungen, Ansichten und Wissenselementen bewirken. Als Beispiel nennen Hedström und Swedberg die Entstehung von sich selbst bestätigenden Prophezeiungen. Daneben unterscheiden die Autoren Präferenz-FormierungsMechanismen und Möglichkeitsschaffende Mechanismen. Im ersten Fall geht es um die soziale Beeinflussung von Werten und Bewertungen (z.B. um die Orientierung an Referenzgruppen), im zweiten Fall um die Entstehung von Handlungsgelegenheiten. Ein Beispiel hierfür ist die Möglichkeit der Gestaltung, die sich einem Vorgesetzten eröffnet, wenn er eine frei werdende Stelle besetzen darf. Die dritte Mechanismengruppe (Transformations-Mechanismen) betrifft das MikroMakro-Verhältnis, also die Frage, wie sich sozial bedeutsame Phänomene aus dem Zusammenwirken individuellen Verhaltens ergeben können. Als Beispiel nennen Swedberg und Hedström die Übernutzung von gemeinschaftlich genutzten Ressourcen. Interessanterweise gehen Hedström und Swedberg nicht auf Mechanismen ein, die gleichermaßen und simultan alle drei Aspekte betreffen, also die Verknüpfung individueller Mechanismen mit Mechanismen, die kollektive Tatbestände schaffen, die wiederum auf die individuelle Ebene zurückwirken (vgl. z.B. Schmid 2006). Dabei ist dies der Normalfall: Das Soziale gibt es nicht ohne das Individuelle und das Individuelle ist nachhaltig durch das Soziale geprägt. An einem Beispiel, das Hedström und Swedberg selbst erwähnen, lässt sich dies sehr gut demonstrieren: Bei den sogenannten sich selbst erfüllenden Vorhersagen geht es zunächst um die Herausbildung einer Absicht. So kann es in wirtschaftlich turbulenten Zeiten unter Umständen zu einer erheblichen Verunsicherung kommen, die die Bankkunden zu einer Räumung ihrer Konten veranlassen kann. Dadurch tritt eine Verknappung der Geldversorgung ein, die von den übrigen Anlegern bemerkt wird und diese veranlasst, ihr Geld ebenfalls in Sicherheit zu bringen, was schließlich zur Zahlungsunfähigkeit der Banken führen kann, wodurch sich die wirtschaftliche Lage weiter verschlechtert usw. 132

Die Pluralität von Mechanismen Selbst ein äußerst robuster Mechanismus kommt nicht immer zum Zug. Das mindert seine Bedeutung allerdings nur bedingt. Denn wenn er in Gang kommt, so jedenfalls die intuitive Bedeutung, die man mit dem Wort „Mechanismus“ verbindet, dann läuft er auch „unbeirrt“ oder „unaufhaltsam“ ab. Umso bedeutsamer ist die Situationsklärung, also die Frage, ob die Auslösebedingungen eines Mechanismus vorliegen und ob gegebenenfalls irgendwelche Störeinflüsse den Ablauf des Mechanismus beeinträchtigen. Festgehalten sei jedoch zunächst lediglich, dass Mechanismen, metaphorisch gesprochen, miteinander konkurrieren, dass je nach Bedingung einmal der eine, ein andermal ein anderer Mechanismus zum Zug kommt. Ein Beispiel soll diesen Gedanken illustrieren. James Dean und Mark Sharfman (1993) untersuchten in 24 Industrieunternehmen den Verlauf von 57 strategisch bedeutsamen Entscheidungen. Im Mittelpunkt der Studie stand die Frage, welche Einflussfaktoren dafür verantwortlich sind, ob ein Entscheidungsprozess durch eine mehr oder weniger große Rationalität geprägt ist. Zur Kennzeichnung dieser sogenannten „prozeduralen Rationalität“ dienten den Autoren das Ausmaß der Informationssuche und die Sorgfalt in der Analyse der verwendeten Informationen. Geprüft wurden unter anderem die beiden folgenden Hypothesen: – –

Die prozedurale Rationalität steht in einem positiven Zusammenhang mit dem Wettbewerbsdruck. Die prozedurale Rationalität steht in einem positiven Zusammenhang mit externer Kontrolle.

Die erste Hypothese begründen die Autoren mit den Konsequenzen, die eine richtige bzw. eine falsche Entscheidung haben kann. Bei hohem Wettbewerbsdruck sind diese oft höchst bedeutsam, schließlich kann man es sich kaum leisten, einen Fehler zu machen, wenn die Konkurrenz nicht schläft. Also wird man seine Entscheidungen wohl erwägen. Die zweite Hypothese wird durch einen Signaleffekt begründet. Wer von Dritten kontrolliert wird, muss demonstrieren, dass er gewissenhaft und vernünftig handelt. 133

Nun stellte sich aber heraus, dass beide Hypothesen empirisch nicht haltbar waren, ja, dass die unterstellten Zusammenhänge keine positiven, sondern negative Vorzeichen aufwiesen. Dean und Sharfman veränderten daher ihre Argumentation und brachten nun eine weitere Variable ins Spiel: die Möglichkeit der Akteure, die Situation zu beeinflussen. Externe Kontrolle und feindselige Wettbewerbsbedingungen schränken die Einflussmöglichkeiten der Unternehmensführung ein, es sei daher nicht erstaunlich, dass Akteure, denen nur wenige Handlungsalternativen blieben, sich nicht sonderlich um einen rationalen Entscheidungsprozess bemühten. Konsequenzen  von  Fehlentscheidungen

Abhängigkeit  von den  Kontrolleuren

Sorgfalt in der  Entscheidungsfindung

Demonstration  der  Zuverlässigkeit Umfänglichkeit  des  Entscheidungs‐ prozesses

Wettbewerbs‐ druck

Externe  Kontrolle

Zugewinn ausführlicher  Erörterungen

Zugewinn ausführlicher  Erörterungen

Einschränkung  der  Handlungsmöglichkeiten

Einschränkung  der  Handlungsmöglichkeiten

Abb. 4.1: Alternative Mechanismen bei der Bestimmung des Ausmaßes von Problemlösungsaktivitäten im Entscheidungsprozess Ob es sinnvoll ist, aufgrund eines einzelnen Befundes eine These zu verwerfen, sei bezweifelt, zumal sich Dean und Sharfman bei der Auswertung ihrer Daten der Korrelationsanalyse bedienen, die, wie bereits ausgeführt, nur auf einer Durchschnittsbetrachtung beruht. Entsprechend finden sich in den Daten von Dean und Sharfman sowohl hypothesenkonforme als auch nichthypothesenkonforme Fälle. Es könnte also sein, dass im einen Fall der Mechanismus zum Zug kommt, den Dean und Sharfman bei ihrer Hypothesenformulierung im Auge hatten und in einem anderen Fall derjenige Mechanismus seine Wirkung entfaltet, den sie in ihrer revidierten Begründung anführen (vgl. Abbildung 4.1). Dass sich eine Korrelation ergibt, die eher zu der revidierten Hypothese passt, kann schlicht daran liegen, dass 134

die Auslösebedingung für den in dieser Hypothese angesprochenen Mechanismus in den untersuchten Fällen häufiger vorliegt. Eine solche Auslösebedingung könnte zum Beispiel, wie von den Autoren selbst angedeutet, der Grad des Wettbewerbsdrucks sein (bzw. das Ausmaß der externen Kontrolle). Infrage kommen daneben natürlich auch andere Größen, etwa freiwerdende Problemlösekapazitäten oder die intrinsische Qualität des Entscheidungsproblems. Allgemeiner gesagt, ein und dasselbe Phänomen kann durch sehr viele und dabei sehr unterschiedliche Mechanismen hervorgerufen werden. Mangelhafte Problembearbeitung kann aus mangelnden Fähigkeiten entstehen, aber auch aufgrund von unzureichender Mittelausstattung, Zerstrittenheit, Machtinteressen, Störungen, Überlastung und vielen weiteren Ursachen. Offenbar gibt es daher nicht den letztlich entscheidenden Mechanismus. So betrachtet, kann leicht der Eindruck der Beliebigkeit entstehen, so, als stünde es jedem frei, irgendeinen Mechanismus am Werk zu sehen. Tatsächlich lässt sich daraus aber kein Einwand gegen die Mechanismen-Betrachtung herleiten. Schließlich ist nicht in jeder Situation auch jeder Mechanismus von Relevanz. Wenn es z.B. keine persönlichen Streitigkeiten gibt, kann daraus ja auch keine Störung der Entscheidungsfindung entstehen. Die Pluralität von Mechanismen und deren Verschränkung mit den Situationsbedingungen stellt erkenntnislogisch jedenfalls kein Problem dar. Es gibt zwei weitere Punkte, die die Mechanismen-Betrachtung zu verwirren scheinen: das Problem der Mechanismen-Verkettung und das Problem der Bedingungskomplexität. Abbildung 4.2 zeigt ein Beispiel für die Verkettung mehrerer Mechanismen. Danach kommt ein Mechanismus erst und nur dann in Gang, wenn zuvor ein anderer Mechanismus abgelaufen ist. Im skizzierten Beispiel kommt es nur dann zu einer umfänglichen und gewissenhaften Bearbeitung eines Entscheidungsproblems, wenn im Entscheidungssystem ein Bewusstsein von der Problemlage entstanden ist, wenn kompetente Akteure sich dazu entschließen, an der Entscheidungsfindung mitzuwirken und wenn sie einen Anreiz haben, sich dabei auch wirklich zu engagieren. Jeder dieser Teilprozesse wird wiederum von bestimmten und oft unterschiedlichen Bedingungskonstellationen angestoßen. Kompliziert wird dieser Sachverhalt noch dadurch, dass diese Wirkungsbedingungen nicht außerhalb des Geschehens einfach bereitstehen, sondern oft erst in dem durch das gesamte Wirkungsgefüge ausgelösten Prozess entstehen. Das erschwert naturgemäß die Analyse, weil man nur dann zu richtigen Schlüssen kommt, wenn man auch die gesamten Zusammenhänge durchschaut. So mag sich in einer empirischen Studie beispielsweise keine bedeutsame 135

Beziehung zwischen der Zahl der Teilnehmer an einem Entscheidungsprozess und der Qualität des Entscheidungsprozesses ergeben. Das ist aber kein Beleg dafür, dass es auf die Entscheidungsbeteiligung gar nicht ankommt. Wie das Beispiel in Abbildung 4.2 zeigt, ist der Beteiligungseffekt ebenso wichtig wie alle anderen Effekte und dass er sich empirisch nicht immer in der beschriebenen Beziehung niederschlägt, kann einfach an der „günstigen“ Bedingungskonstellation in den Zwischengliedern liegen, die den Effekt kompensieren.

Dringlichkeit

Teilnahme‐ entscheidung

Problem‐ lage

Wichtigkeit

Strom der Probleme

Bearbeitungs‐ qualität

Leistungs‐ entscheidung Auslastung

Abb. 4.2: Verkettung von Mechanismen (Beispiel) Das dritte Problem betrifft den Tatbestand, dass viele Mechanismen nur dann überhaupt zur Geltung kommen, wenn ein ganzer Komplex eng miteinander verschachtelter Bedingungen vorliegt. Wenn beispielsweise einzelne Personen Einsichten in einen Entscheidungsprozess einbringen, die dem herrschenden Überzeugungssystem widersprechen, dann wird das die übrigen Teilnehmer nur dann anfechten, wenn die betreffende Person Kompetenz, Glaubwürdigkeit und soziales Gewicht besitzt, wenn die infrage gestellten Überzeugungen nicht tief in kulturelle oder ideologische Überzeugungssysteme eingebunden sind, wenn die neuen Einsichten nicht das Selbstverständnis und die Positionen der Teilnehmer bedrohen, wenn die Kommunikationswege einen offenen Austausch erlauben, wenn überhaupt eine aufnahmefähige 136

Kommunikationskultur herrscht und vielleicht am wichtigsten: wenn die Aussicht besteht, dass eine Veränderung der Überzeugungen verspricht, dass daraus substanzielle Lösungen für das anstehende Problem erwachsen. Ein Merkmal voraussetzungsreicher Mechanismen ist also, dass einzelne und oft schon kleine Störungen im Bedingungsgefüge den Mechanismus außer Kraft setzen können. Zusammengefasst: Die angesprochenen Probleme erschweren den Erkenntnisprozess, sie machen deutlich, dass der Blick auf Geschehnisse, Korrelationen und Abläufe in die Irre führen kann, wenn man die Komplexität des Zusammenwirkens der vielen nicht offen zutage liegenden Einzelmechanismen nicht beachtet. Wenn man die Mechanismen und deren Einbettung in das jeweilige Bedingungsgeflecht allerdings kennt, dann bringt das die Analyse maßgeblich voran und man lässt sich nicht so leicht vom äußeren Anschein beeindrucken. Von besonderem Wert ist die Betrachtung von Mechanismen-Verflechtungen für die Analyse von Geschehensabläufen, also etwa für historische Fragen, weil sich in derartigen Analysen Beschreibung und Erklärung zwanglos verknüpfen. Hilfreich ist die Kenntnis des Mechanismen-Komplexes auch bei der Gestaltung. Sie informiert über die Handlungsvoraussetzungen und insbesondere auch über mögliche Nebenwirkungen praktischen Handelns. Der technische Bereich liefert hierzu wertvolles Anschauungsmaterial. So nehmen eindimensionale Optimierungsansätze die Wirkungen der Implementierung nur ausschnitthaft in den Blick und erzeugen in ihrer Anwendung vielfältige Systemprobleme. Ein durchdachtes Design, das die Fragilität und Fehlbarkeit jeder Technik einkalkuliert, zeigt dagegen auf, welche Vorkehrungen gegen mögliche Störungen Erfolg versprechen. Das ist auch deswegen wichtig, weil technische Systeme immer soziotechnische Systeme sind, deren Probleme nicht zuletzt aus dem Gebrauch entstehen. So missachten Technik-Benutzer häufig nicht nur die mit den technischen Geräten und Einrichtungen gelieferten Gebrauchsanweisungen, sondern entwickeln außerdem ihre je eigene Art im Umgang mit der Technik. Das kann sowohl deren Funktionstüchtigkeit beeinträchtigen, als auch zu einer Gefährdung von Mensch und Umwelt führen. Gutes Technikdesign antizipiert mögliche intendierte und nicht-intendierte Gebrauchsweisen und baut in die technische Lösung nicht nur die zielführenden Programme ein, sondern ebenso Vorkehrungen oder Anti-Programme, die unerwünschte Wirkungen nicht programmgemäßer Verhaltensabläufe auffangen. Dies ist nur möglich, wenn man nicht nur die Mechanismen der Technik, sondern auch die Verhaltensmechanismen der Benutzer in ihrer 137

wechselseitigen Verschränktheit berücksichtigt (Latour 1992). Und was für den Technikgebrauch gilt, gilt nicht weniger für die Implementierung sozialer Praktiken.

Die Bestandteile von Mechanismen Bei der Darstellung von Mechanismen beschränkt man sich oft auf die Erläuterung des Wirkprinzips. Ob es zur Anwendung kommt, hängt allerdings von einer ganzen Reihe weiterer Bedingungen ab. In Abbildung 4.3 sind die wesentlichen Bestandteile eines Mechanismus zusammengestellt. Sie seien am Beispiel der Reziprozität erläutert, das, nach Leonard Hobhouse, als das wesentliche Prinzip der Gesellschaft gelten kann (Hobhouse 1906, 12). Alwin Gouldner geht näher auf die Reziprozitätsnorm ein: „Im Speziellen behaupte ich, dass die Reziprozitätsnorm in ihrer allgemeinen Form, zwei miteinander verbundene minimale Forderungen stellt: (1) Menschen sollen denen helfen, die ihnen geholfen haben und (2) Menschen sollten niemanden beeinträchtigen, der ihnen geholfen hat“ (Gouldner 1960, 171). Wenn man von jemandem eine Gabe empfangen hat, dann erwächst daraus die Verpflichtung, sich dafür erkenntlich zu zeigen, man sollte sie also mit einer Gegengabe ähnlichen Wertes beantworten. In Abbildung 4.3 ist schematisch eine etwas speziellere Aussage angeführt. Sie besagt, dass mit dem Wert der empfangenen Gabe die empfundene Reziprozitätsverpflichtung wächst. Damit wird zwar eine Kausalbeziehung bezeichnet, aber der soziale Mechanismus ist damit noch nicht hinreichend beschrieben. So ist unter anderem anzugeben, worin die unterstellte Kausalität begründet liegt. Es gilt also, das Wirkprinzip (genauer: die substanzielle Wirkkraft) zu benennen. Infrage kommen, je nach theoretischer Fundierung, unterschiedliche Wirkgrößen. Ein Beispiel ist das Streben nach kognitiver Konsonanz. Jedenfalls lässt sich der angeführte Kausalzusammenhang damit erklären. Man muss dazu nur annehmen, dass durch die Gabe kognitive Elemente angesprochen werden, die nicht miteinander verträglich sind und dass die daraus entstehende Wirkung umso größer ist, je größer die Diskrepanz zwischen diesen Elementen ist. Ein Beispiel wäre auf der einen Seite die Überzeugung, dass man soziale Verpflichtungen und Normen einhalten soll und auf der Seite die Einsicht, dass aus der Gabe eine soziale Verpflichtung erwachsen ist, die man (noch) nicht eingelöst hat. Ein gänzlich anderes Wirkprinzip rekurriert dagegen auf die Angst vor Bestrafung, würde man die Gabe nicht erwidern. Auch diese Begründung kann plausibel 138

gemacht werden, worauf ich aber nicht näher eingehe. Angemerkt werden muss an dieser Stelle jedoch, dass alle Bestandteile des betrachteten Mechanismus eng mit dem jeweils betrachteten Wirkprinzip verknüpft sind, dass bei unterschiedlichen Wirkprinzipien also z.B. auch unterschiedliche Anwendungsvoraussetzungen und Störgrößen zu beachten sind. Weitere Elemente eines Mechanismus betreffen das Wertespektrum der betrachteten Variablen. So wäre zu fragen, ob unsere Aussage auch für negative Werte der Gabe gilt, ob es so etwas wie neutrale Wertausprägungen gibt und wie weit sich der Wertebereich in den positiven Bereich hinein erstreckt. Außerdem ist zu fragen, welche Qualität dem Gabenwert zukommt, ob die Gabe als ein essenzielles Gut zu gelten hat oder ob sie allenfalls einen angenehmen Zugewinn verschafft. Ähnliches gilt für die zweite Variable. Zu klären sind also auch hier die Relevanz und Bedeutung des negativen, neutralen und positiven Wertespektrums. Und ebenso wie bei der anderen Variablen, kann man sich auch hier nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ unterschiedliche Wertausprägungen vorstellen. So dürfte es einen Unterschied machen, ob man die Nachdrücklichkeit der Verpflichtung betrachtet oder z.B. die Dringlichkeit. Und schließlich interessiert noch die Wertekorrespondenz: Denkbar ist neben einem linearen Funktionsverlauf z.B. auch ein stufenweiser oder exponentieller Funktionsverlauf.

Geltungsbedingungen

Auslösebedingungen Störgrößen 

Wirkprinzip Stärke der empfundenen Reziprozitätsverpflichtung

Wert der Gabe für den Empfänger Wertespektrum

Teilelemente + Ineinandergreifen

Wertespektrum

Abb. 4.3: Bestandteile sozialer Mechanismen (Beispiel: Reziprozitätsverpflichtung) 139

Die Beschreibung eines Mechanismus muss nicht zuletzt auf dessen Bestandteile und deren Zusammenwirken eingehen. Im vorliegenden Beispielfall gehören dazu zwei fest verankerte Dispositionen, nämlich die Internalisierung der Reziprozitätsnorm und die Existenz einer mentalen Buchführung. Gäbe man sich keine Rechenschaft über das Austauschverhältnis (festgehalten in einer mentalen „Tauschbilanz“), könnte die durch die Gabe induzierte Diskrepanz leicht verdrängt werden. Zum Reziprozitäts-Mechanismus gehören außerdem die Dissonanzempfindung und der Wunsch, sie zu vermindern. Wir haben es bei dem beschriebenen Mechanismus also mit zwei dispositionalen Voraussetzungen, einem Gefühl und einer Motivation zu tun. Notwendig ist außerdem noch ein Wahrnehmungsakt, das Bewusstsein, dass der gegebene Tauschzustand vom gewünschten Tauschzustand abweicht. Und schließlich kommen noch mentale Aktivitäten hinzu. So wird sich der Gabenempfänger sicher die Frage stellen, welche Gründe den Geber zu seiner Gabe bewogen haben. Daraus könnten sich mögliche Störgrößen ergeben, die die kausale Verknüpfung von Gabe und Verpflichtung beeinträchtigen. Wenn man z.B. zu der Auffassung gelangt, die Gabe sei letztlich nur ein Beeinflussungsversuch, dann kann dies leicht zu einer Trotzreaktion führen. Schädlich sind außerdem Misstrauen und Stress. Wer einem anderen misstraut, zweifelt an der Qualität der Beziehung und stellt die Bewertung des Geberverhaltens unter Vorbehalt. Und eine Person, die starken Belastungen ausgesetzt ist, kann die Gabe möglicherweise nicht angemessen würdigen, weil ihre Aufmerksamkeit durch andere Dinge gebunden ist. Neben den situativen Störgrößen gibt es für jeden Mechanismus allgemeine Geltungsbedingungen, die zu beachten sind. So etwa, dass man es mit „normalen“ und nicht etwa mit soziopathischen Beziehungen zu tun hat. Außerdem funktioniert der Mechanismus nicht notwendigerweise unter Personen mit unterschiedlichem sozialen Status, weil sich mit Statusunterschieden häufig auch ein asymmetrischer Anspruch an die Gabenverteilung verknüpft. Einen weiteren Punkt bringt die Ökonomie ins Spiel, die nahelegt, die Reziprozitätsnorm nur für dauerhafte Beziehungen zu reservieren. Bei einmaligen Tauschakten ist jedenfalls die Versuchung groß, ausschließlich auf den eigenen Gewinn zu schauen. Was schließlich die Auslösebedingungen angeht, so ist, laut Theorie, jedes einschlägige Ereignis hinreichend, d.h. das Verpflichtungsgefühl entsteht jedes Mal, wann immer man eine Gabe empfängt, die freiwillig gegeben wird, wenn der Geber selbst also nicht aus einer Verpflichtung heraus handelt oder weil er von Dritten dazu gezwungen wird. Ob dies stimmt und ob auch die anderen Elemente richtig bezeichnet 140

sind, kann natürlich diskutiert werden. So braucht es bei der Auslösebedingung möglicherweise mehr als die bloße Gabe, d.h. in bestimmten Fällen mag ein besonderer Impuls notwendig sein, um die Reziprozitätsverpflichtung zu wecken, sei es, dass andere die Gabe ebenfalls empfangen haben und alle eine Gegenleistung erbringen oder sei es, dass man bei gegebenem Anlass am eigenen Leib erfährt, wie es ist, wenn man eine Hilfeleistung erbracht hat, für die es keinen Dank gab. Zusammenfassend sei festgehalten, dass es nicht genügt, nur die oft allein im Zentrum der Mechanismusbetrachtung stehenden Kausalaussagen zu beachten. Wenn man die Funktionsweise eines Mechanismus verstehen will, muss man alle seine Elemente berücksichtigen und außerdem das Insgesamt der Handlungssituation betrachten, in der der Mechanismus zur Wirkung kommt.

Handlungsstrukturen und Handlungssituationen Entscheidungen werden letztlich immer von Menschen getroffen. Aber sie werden auch immer in einem bestimmten Kontext getroffen. Das muss hervorgehoben werden, weil sich die an einer Entscheidung beteiligten Personen den Kontextbedingungen ihres Handelns oft nur sehr schwer entziehen können. Dabei unterscheidet man zweckmäßigerweise zwischen zwei Komponenten: der Handlungsstruktur und der Handlungssituation. Strukturen entfalten ihren Einfluss gewissermaßen aus der zweiten Reihe heraus, oft, ohne dass man sich ihrer bewusst ist. Sie setzen gewissermaßen die Prämissen des Handelns, sei es, dass man sie als selbstverständliche Gegebenheiten hinnimmt oder sei es, dass sie den Möglichkeitsraum für das Handeln beschränken oder das Verhalten gewissermaßen wie von selbst in vorgegebene Bahnen lenken. Beispiele für soziale Strukturen sind kollektiv geteilte Denkmuster und Werthaltungen, Normen, Regeln und Institutionen sowie materielle Ressourcen und Verfügungsrechte. Strukturen sind ihrem Wesen nach dauerhaft und stabil. Das liegt darin, dass sie normalerweise nicht als isolierte Fragmente existieren, sondern aus sich wechselseitig stützenden Substrukturen bestehen, die wiederum mit anderen Strukturen verschachtelt sind. Man kann Strukturen schon aus diesem Grund nicht so ohne Weiteres verändern. Außerdem kann man sich ihnen nicht entziehen, sie stützen, prägen, durchwirken das soziale Geschehen, penetrant und hartnäckig verquicken sie sich mit jeder einzelnen Handlung. 141

Die zweite, nicht minder bedeutsame Kontextkomponente neben der Struktur ist die Situation. Sie kennzeichnet das Hier und Jetzt, also all das, was im konkreten Zeitpunkt der Entscheidung präsent ist und daher überhaupt nur handlungswirksam werden kann. Auch ein brillanter Student schreibt schlechte Klausuren, wenn er unter Prüfungsangst leidet, man macht Verlegenheitszüge, wenn der geniale Gedanke ausbleibt, alleingelassen, tut man sich schwer, dem von den Anwesenden ausgeübten Konformitätsdruck standzuhalten usw. Entscheidungen müssen in einem abgegrenzten Zeitraum getroffen werden, das schränkt die Möglichkeit ein, alle potenziell zugänglichen Informationen abzurufen, eine Klärung der Präferenzen herbeizuführen, sich wechselseitig auszutauschen und abzustimmen. Dazu kommt, was noch wichtiger ist, dass man es nie isoliert mit einem einzelnen Problem zu tun hat, sondern dass es lediglich Bestandteil einer umfassenderen Problemlage ist, aus der man sich nicht so ohne Weiteres – weder mental noch materiell – zu lösen vermag. Zu der Problemlage gehört also nicht nur das aktuell sich aufdrängende Problem, sondern ein ganzes Set von weiteren Problemen: Probleme, die zurzeit ebenfalls anstehen und keinen Aufschub dulden, Probleme die man zwar in jüngster Zeit bewältigt hat und die mit ihren Erfolgen und Erschütterungen noch deutlich nachwirken, sowie Probleme, die sich absehbar schon ankündigen und gewissermaßen aus der Zukunft her einen Schatten auf das aktuelle Geschehen werfen. In die aktuelle Handlungssituation fließt damit auch viel zunächst Themenfremdes ein: Sensibilitäten, Überzeugungen, Handlungsbereitschaften, Abmachungen, Loyalitäten, Dankbarkeit, Bedauern, Ängste, Hoffnungen, Bedrohungen und vieles mehr. In Abbildung 4.4 findet sich eine Auswahl von Struktur- und Situationselementen, die in der Entscheidungsforschung besondere Beachtung gefunden haben. Bevor näher darauf eingegangen wird, seien drei Punkte besonders herausgestellt. Erstens sind die beiden Kontextdimensionen nicht völlig unabhängig voneinander. Vielmehr werden auch die situativ sich herausbildenden Gegebenheiten sehr stark durch Strukturvorgaben bestimmt. Hierzu gehören auch die beteiligten Akteure mit ihren Dispositionen und Idiosynkrasien. Der zweite Punkt betrifft den Charakter von Kollektivmerkmalen. Kollektive Eigenschaften gibt es sowohl auf der Struktur- als auch auf der Situationsebene. Und der dritte Punkt ist, dass kollektive Eigenschaften einerseits die systembezogene, andererseits aber auch die personenbezogene Seite des kollektiven Geschehens akzentuieren können. 142

Mentale Modelle

Fachliche Ausrichtung

Institutionelle Logik

Handlungsstruktur

Soziale Beziehungen

Positionen Demografie Sozialordnung

Handlungssituation

Mentale Szenerie

Aufmerksamkeit

Themenpräsenz

Problembelastung

Problemdefinition

Bearbeitungskapazität

Informationsmethoden

Problemhandhabung

Informationsqualität

Motivlage

Umsetzung

Handlungsdruck

Systembezogene Kollektivmerkmale

Personenbezogene Kollektivmerkmale

Ziele

Abb. 4.4: Determinanten der Entscheidungsfindung

Strukturelemente Die mentalen Modelle der Teilnehmer an einem Entscheidungsprozess sind ein Strukturmerkmal, sofern sie in der einen oder anderen Weise geteilt werden. Sie kennzeichnen naturgemäß die personenbezogene Seite der Entscheidungsstruktur. Die institutionelle Logik auf der anderen Seite kommt ohne Bezugnahme auf konkrete Personen aus, sie begründet sich in den in einem sozialen System üblichen und fest verankerten Regeln und Verfahrensweisen. Die mentalen Modelle und die institutionelle Logik bilden zusammen, wenn man so will, den geistigen Überbau eines Sozialsystems. Sie setzen allerdings jeweils eigene Akzente. Mentale Modelle sind leichter erschütterbar, jedenfalls was ihre allgemeine Geltung angeht. Die institutionelle Logik, da strukturell verankert und gestützt, lässt sich nicht so leicht außer Kraft setzen. Sie ist z.B. relativ unempfindlich gegen personellen Wechsel und es wird von Neulingen verlangt, dass sie sich der institutionellen 143

Logik fügen und nicht etwa umgekehrt. Doch dessen ungeachtet wird es immer ein Spannungsverhältnis zwischen den ideologischen Grundlagen eines sozialen Systems und den Vorstellungen und Denkweisen seiner Mitglieder geben. Die darin begründete Dialektik kann die Qualität der Entscheidungsfindung nachhaltig verbessern, führt aber nicht selten auch zu Denkblockaden oder umgekehrt zu abgehobener Ignoranz. Konzept

Erläuterung

Mentale Modelle

Vorstellungen über Zusammenhänge, Entwicklungen, Bedeutungen

Institutionelle Logik

Beispiele

Überzeugungssysteme, Schemata, kognitive Landkarten, Kausalvorstellungen … In ein Sozialsystem eingebaute Weltbild, OrganisationsDenk- und Handlungsregula- kultur, Denkrahmen, rien und SelbstverständlichIdeologien, Symbolsyskeiten teme …

Ziele

Angestrebte Zustände und Vorgehensweisen

Positionen

Soziale Stellung, strukturelle Verankerung von Interessen und Betrachtungsweisen

Persönlichkeiten

Tief verwurzelte Dispositionen Persönlichkeitsmerkder Teilnehmer an einem Ent- male, Werthaltungen, scheidungsprozess Einstellungen, Berufsorientierungen … Zusammensetzung der TeilAltersstruktur, geteilte nehmer an einem EntscheiErfahrungen, Ähnlichkeit dungsprozess in Status und Orientierungen …

Demografie

144

Inhaltliche Absichten, präferierte Mittel, intrinsische bzw. instrumentelle Ziele … Formaler Status, soziale Rolle, allgemeines Prestige, spezifisches Prestige …

Soziale Beziehungen Sozialordnung

Verhaltensbestimmende Merkmale des persönlichen Umgangs miteinander Normen und Regeln, die allgemeine Rechte und Pflichten des sozialen Zusammenwirkens bestimmen

Identitäten, Sympathien, Kommunikationsmuster, Vertrauen, Einfluss … Sozialverfassung, Regulierungsform, soziales Institutionensystem …

Tab. 4.1: Bedeutsame Strukturelemente der Entscheidungsfindung Die personelle bzw. systemische Dimension findet sich auch im Gegensatzpaar von Zielen und Positionen (Tabelle 4.1). Es geht auch hier in beiden Fällen um Strukturen, also nicht etwa um die je spezifischen Ziele, die sich auf die Projekte richten, mit denen man sich gerade beschäftigt, sondern um Vorstellungen im Hinblick darauf, was das soziale System (z.B. die Arbeitsgruppe, das Unternehmen, in dem man beschäftigt ist, die Partei, dessen Mitglied man ist usw.) ausmacht, wofür es steht, wohin es sich entwickeln will. Die Positionen (Stellen, Instanzen, Ämter usw.) und die ihnen zugewiesenen Aufgaben und Rollen sind gewissermaßen Materialisierungen des Interesses, dem sozialen System eine Ausrichtung zu geben. Sie repräsentieren die damit verknüpften Interessenlagen und bringen sich oft nachdrücklich in alle Entscheidungsprozesse, an denen sie beteiligt sind, ein. Die nächste Gegenüberstellung thematisiert zwar primär die personelle Zusammensetzung, aber auf unterschiedliche Weise. Im einen Fall geht es um die persönlichen Eigenheiten der Teilnehmer an Entscheidungsprozessen, im anderen Fall um aggregierte Größen. So verknüpft sich z.B. die Zugehörigkeit zu einer Alterskohorte (um nicht von einer „Generation“ zu sprechen) oft mit gemeinsamen Erfahrungen. Ähnlich ist das nächste Gegensatzpaar zu sehen. Hier geht es nicht direkt um die Personen, sondern um die Beziehungen zwischen den Personen, im ersten Fall auf der Ebene der unmittelbaren Begegnungen und Interaktionen, im zweiten Fall auf der Ordnungsebene des Systems. Dass sich hier Unterschiede auftun können, sieht man beispielsweise daran, dass man sich mit seinen Kollegen durchaus gut verstehen kann, selbst wenn man gleichzeitig ein eher distanziertes Verhältnis zu der gegebenen Sozialordnung pflegt. 145

Situationselemente Auch auf der Situationsebene ist es sinnvoll, zwischen der eher systembezogenen und der eher personenbezogenen Seite des kollektiven Geschehens zu unterscheiden. Der erste Punkt in Tabelle 4.2 betrifft das in der Entscheidungssituation vorliegende Problem- und Lösungspotenzial. Die beteiligten Personen machen sich ein Bild von der Problemsituation, an dem sie ihr Denken und Handeln ausrichten und die Systemseite liefert mit den momentan umlaufenden Themen die Kulisse, vor der sich das Entscheidungsgeschehen abspielt. Wenn sich eine Organisation beispielsweise gerade im Sparmodus befindet, dann ist man geneigt, bei notwendigen Investitionen kostengünstige Lösungen vorzuziehen – sofern man überhaupt ans Investieren denkt. Die nächsten in Tabelle 4.2 genannten Punkte betreffen das Können und das Wollen. Sowohl die an einem Entscheidungsprozess beteiligten Akteure als auch das soziale System insgesamt haben Grenzen, was ihre Leistungsfähigkeit angeht und zwar sowohl in inhaltlicher als auch in zeitlicher Hinsicht. Handlungs- und Termindruck z.B. beschränken die Möglichkeiten einer umfänglichen Problembeschäftigung, sie können andererseits aber auch Impulse setzen, die der Intensität der Problembeschäftigung zugutekommen. Neben der Komplexität der Entscheidungsaufgabe, belasten auch widersprüchliche Interessenlagen, und damit die Motive, die sich an das jeweilige Entscheidungsproblem knüpfen, das System und seine Mitglieder. Der vierte der in Tabelle 4.2 genannten Punkte befasst sich gewissermaßen mit dem Rohstoff der kollektiven Auseinandersetzung um die richtige Entscheidung, nämlich mit den zugänglichen bzw. mit den verwendeten Informationen. Dass deren Güte maßgeblich die Entscheidungsqualität beeinflusst, muss wohl nicht besonders betont zu werden.

146

Konzept

Erläuterung

Beispiele

Mentale Szenerie

Tableau der aktuell vorliegenden Probleme, der damit verknüpften Aufgaben und Lösungsansätze Vertrautheit und Penetranz der Problemthematik

Definition der Situation, „Frames“, Handlungsprogramme …

Themenpräsenz

Problembelastung

Bearbeitungskapazität

Problemlatenz, Themennähe, Themenkompetenz, Themenvernetzung …

Aus der Problemlage resultie- Anforderungsqualität, rende Anforderungen und Be- Problemkomplexität, lastungen Stressempfinden, Konflikthaltigkeit … Aktuell verfügbare RessourOrganisationale Intellicen zum Umgang mit der genz, Personalkompetenz, Problemlage Ressourcenausstattung …

Motivlage

Handlungsorientierungen und Interessen der Akteure

Handlungsdruck

Empfundene Notwendigkeit, zu einer Entscheidung zu gelangen

Informationsmöglichkeiten

Wege und Barrieren der Informationsgewinnung

Aktivität, Passivität, Partikularinteressen, Gemeininteresse, Risikobereitschaft … Erwartungsdruck, Termindruck, Problemwichtigkeit, Problemfülle …

Informationsmethoden, Zugang zu Informationen, Vernetzung … Informationsquali- Aktualität, Wahrheit und Ver- Relevanz, Objektivität, tät lässlichkeit der Informationen Belegbarkeit, Robustheit, soziale Validität … Tab. 4.2: Bedeutsame Situationselemente der Entscheidungsfindung

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Diese kurzen Bemerkungen mögen an dieser Stelle genügen. In den folgenden Kapiteln werden alle in den Tabellen 4.1 und 4.2 genannten Einflussgrößen erneut thematisiert und es wird untersucht, in welcher Weise sie die Basisaktivitäten innerhalb des Entscheidungsgeschehens (Aufmerksamkeit, Problemdefinition, Problemhandhabung, Umsetzung) beeinflussen können. Um Basisgrößen geht es auch im folgenden Abschnitt, nämlich um Basiselemente der Sozialstruktur. Auch diese werden in den darauffolgenden Kapiteln erneut betrachtet und es wird untersucht, welche Bedeutung ihnen für die kollektive Entscheidungsfindung zukommt.

Basiselemente der Sozialstruktur Die Strukturen sozialer Systeme werden mitunter bewusst installiert, in aller Regel bilden sie sich aber gewissermaßen hinter dem Rücken der Akteure, d.h. eher unbemerkt und nur nach und nach heraus. Sie sind gewissermaßen Kristallisierungen des kollektiven Handlungsgefüges. Sozialstrukturen fungieren, wie bereits angeführt, als Entscheidungsprämissen. Sie lenken das soziale Handeln, ohne dass ihre Lenkungsfunktion erkannt, geschweige denn infrage gestellt wird, sie definieren gewissermaßen die „Regeln des Spiels“ einschließlich der Identifikation und Ahndung von Regelverletzungen. Strukturen schaffen eine erhebliche Handlungsentlastung, weil die Akteure angesichts eingespielter Verhaltensabläufe nicht jedes Mal neu über die jeweils aktuellen Handlungsvoraussetzungen verhandeln müssen. Problematisch ist das allerdings, wenn die Handlungsanforderungen und die Sozialstrukturen nicht zueinander passen. Die in den Sozialstrukturen steckenden Verhaltensregeln sind dann, aus Sicht des Gesamtsystems, „unvernünftig“ und sie bringen damit auch unvernünftiges Kollektivverhalten hervor und zwar auch dann, wenn jede einzelne der beteiligten Personen durchaus vernünftig handelt. Im Prinzip kann sich jede Verhaltensweise strukturell verfestigen. Die Bevorzugung bestimmter Informationsquellen verdichtet sich zu Kommunikationsstrukturen, aus dem Bemühen zur Leistungsverbesserung entwickeln sich Kontrollstrukturen, das Anerkennungsstreben der einzelnen Akteure findet seinen Niederschlag in Statusstrukturen – und die Art und Weise, wie die Mitglieder eines sozialen Systems Entscheidungen treffen, findet ihren Niederschlag in Entscheidungsstrukturen. Im vorliegenden Buch werden vier Teilstrukturen und 148

deren Bedeutung für die Entscheidungsfindung besonders herausgestellt: die Organisations-, Teilnehmer- und die Machtstruktur sowie die Kultur des jeweiligen sozialen Systems. Organisationsstrukturen sind das operative Regelwerk eines sozialen Systems, die Kultur dagegen dessen mentaler Überbau. Die Teilnehmerstruktur bestimmt sich nach der Zusammensetzung der handelnden Personen und die Machtstruktur ist ein wesentliches Teilelement der sozialen Beziehungsstruktur, also des Verhältnisses der Teilnehmer untereinander und zum Kollektiv insgesamt.

Kultur Person

Sozialbeziehung

Person

Organisation

Abb. 4.5: Basiselemente der Sozialstruktur Organisationsstrukturen unterscheiden sich in ihrer Wirkung im Hinblick auf Tiefe und Breite. Ein Verfahren, das die Zuweisung von Budgetmitteln an bestimmte Leistungsvoraussetzungen knüpft, wirkt unmittelbar und gewissermaßen „zwingend“. Ein hoher Formalisierungsgrad hat dagegen zwar ebenfalls Auswirkungen auf die Entscheidungsfindung, diese fallen allerdings nur indirekt und auch nicht eindeutig aus. Auf der einen Seite verlangsamt die Formalisierung den Entscheidungsprozess, auf der anderen Seite kann sie zu einer erheblichen Qualitätsverbesserung beitragen, etwa dadurch, dass sie Anforderungen z.B. an die Informationsqualität festschreibt oder von den Entscheidern verlangt, ihre 149

Entscheidungskriterien offenzulegen. Ähnlich unterschiedliche und (nicht selten) ambivalente Wirkungen gehen mit den anderen Strukturvariablen einher. Kulturell verankerte Tabus beispielsweise verhindern die Beschäftigung mit bestimmten Themen, andererseits können sie desintegrative Kräfte in Schach halten. Harmloser, aber deswegen nicht unbedeutend, sind beispielsweise Normen der Höflichkeit. Sie sind zweifellos eine „Errungenschaft“ der Kultur, aber in ihrer Wirkung manchmal ebenfalls zwiespältig. Einerseits dienen sie der Versachlichung der Auseinandersetzung, aber andererseits nicht unbedingt der Ehrlichkeit. Auch im Hinblick auf die Teilnehmerstruktur lassen sich oft keine eindeutigen Empfehlungen machen. Treffen Spezialisten einer bestimmten Fachrichtung unter sich eine Entscheidung, dann darf man vielleicht davon ausgehen, dass diese eine gute inhaltliche Qualität besitzt. Ob damit allerdings der Problemkontext, in dem die Entscheidung angesiedelt ist, und der neben Fachfragen oft noch gänzlich andere Anforderungen stellt, immer die notwendige Berücksichtigung findet, kann bezweifelt werden. Manchmal ist es gut, wenn der Teilnehmerkreis aus risikofreudigen, manchmal ist es besser, wenn er aus risikoscheuen Teilnehmern besteht und manchmal ist eine Mischung am besten. Und um schließlich noch auf den in Abbildung 4.5 angeführten vierten Strukturaspekt zurückzukommen: Dass die Qualität der Sozialbeziehungen die Entscheidungsfindung maßgeblich mitbestimmt, wird kaum jemand bestreiten. Das gilt natürlich besonders für die Machtverteilung. So kommt man im Fall stark asymmetrischer Machtbeziehungen und weit auseinanderklaffender Interessenlagen oft zu gänzlich anderen Entscheidungen als bei einer Gleichverteilung der Macht.

Organisation „… Gruppendiskussionen machen es möglich, dass die Gruppenmitglieder ihr Wissen über Entscheidungsalternativen zusammenlegen. Wenn Jack und Jill daher beraten, welchen Weg Sie nehmen sollen, um auf den Berg zu kommen, können sie ihr Wissen über die Hindernisse und Gefahren der verschiedenen Wege kombinieren. Wenn man annimmt, dass jeder Dinge weiß, die der andere nicht weiß, dann wird ihre kollektive Entscheidung besser fundiert sein, als wenn jeder allein eine Entscheidung trifft. Natürlich setzt dieser Vorteil einer kollektiven Wahl voraus, dass Jill und Jack ihr einzigartiges Wissen austauschen und dass Jack 150

Jill zuhört und Jill Jack zuhört. Aber warum sollen sie einander nicht zuhören, wo sie doch beide den Berg sicher ersteigen wollen? Das scheint vernünftig, aber unsere Ergebnisse legen nahe, dass Jack und Jill den Weg wählen werden, der sich als gemäß ihrem gemeinsamen Wissen als vorteilhaft erscheint – d.h. aufgrund der Informationen, die sie beide kennen, bevor sie über die Angelegenheit diskutieren. Darüber hinaus: Diese Lösung, die auf ihrem gemeinsamen Wissen beruht, wird Bestand haben, selbst wenn ihr kombiniertes oder kollektives Wissen deutlich einen anderen Weg empfiehlt“ (Stasser/Titus 2003, 304). Wissensaustausch gelingt nicht von selbst, er muss, wie viele andere Aktivitäten eines kollektiven Entscheidungsprozesses, organisiert werden. Und was für Gruppen gilt, gilt umso mehr für Organisationen. Organisationen brauchen notwendig Strukturen, weil sie sonst schlicht nicht funktionieren. Spontaneität und Regellosigkeit sind gewissermaßen das Antonym von Organisation. Organisationsstrukturen sorgen für Verhaltenssicherheit und das Gelingen koordinierten Handelns. Dabei ist das Spektrum dessen, was mit dem Begriff der Organisationsstruktur bezeichnet wird, sehr weit, und entsprechend werden unterschiedliche Kategorien zu ihrer Beschreibung verwendet. Auf das Gesamtgebilde bezogen, dafür aber sehr verdichtet, sind beispielsweise die Strukturmerkmale Spezialisierung, Formalisierung und hierarchische Ordnung. Spezieller, dafür aber oft wenig vergleichbar, sind dagegen beispielsweise Tätigkeitsbeschreibungen, Verfahrensregeln und Zugangsbeschränkungen. Die Bedeutung von Organisationsstrukturen für die Entscheidungsfindung kann kaum überschätzt werden, wenngleich deren Einfluss oft nur indirekt und vermittelt ist. Auf einer hochaggregierten Ebene unterscheidet James Fredrickson drei Strukturtypen, die Einfachstruktur, die Maschinen-Bürokratie und die Professions-Organisation. In der Einfachstruktur wird „… der strategische Entscheidungsprozess […] ausschließlich von den dominanten Akteuren angestoßen und ist das Ergebnis des proaktiven, auf Chancen ausgehenden Verhaltens“ (Fredrickson 1986, 284). Während in der Einfachstruktur die Zentralisierung das hervorstechende Organisationsmerkmal ist, ist es in der Maschinen-Bürokratie die hohe Regulierungsdichte. In der Bürokratie werden, so der Autor, Entscheidungsprozesse nur angestoßen, wenn die dafür verantwortlichen Variablen durch das formale System überhaupt erfasst werden. Das Hauptmerkmal der Professions-Organisation ist die Komplexität der Arbeitsaufgabe und entsprechend die Beschäftigung von manchmal hochgradig spezialisierten Personen. Probleme, die 151

außerhalb des jeweils eigenen Fachverstands liegen, werden darin leicht übersehen. Die Entscheidungsfindung leidet in diesen Organisationen oft an der Borniertheit der Experten, in der Bürokratie dagegen an der Abneigung, neue Wege zu beschreiten und in der Einfachstruktur an den eingeschränkten Fähigkeiten der Entscheider. Letztlich bringen diese und ähnliche Aussagen angesichts ihres hohen Abstraktionsgrads allenfalls Tendenzen zum Ausdruck. Schließlich gibt es viele Unternehmer in der Einfachstruktur, die durchaus proaktiv und kompetent agieren. Außerdem sind nicht nur Experten in der Professions-Organisation oft borniert, auch die Geschäftsführer und Manager in den anderen Organisationsformen sind nicht frei von Voreingenommenheiten. Die angeführten Strukturmerkmale lassen also durchaus einen breiten Verhaltenskorridor. Dennoch ist ihre Kenntnis nicht ohne Wert, jedenfalls insoweit sie auf Gefährdungen, Hindernisse oder auch nur Besonderheiten in der Entscheidungsfindung hinweisen. Ausgeliefert ist man ihnen nicht. In Bürokratien kann man z.B. Kontrollgremien schaffen und das Rotationsprinzip einführen, Unternehmer können einen Beirat einberufen, ihre Führungskräfte in alle wichtigen Entscheidungen einbeziehen, Professions-Organisationen können ihr Controllingsystem ausbauen, mit einer fach- bzw. managementbezogenen Doppelspitze arbeiten usw. Es gibt, wie bereits angeführt, neben den beispielhaft genannten Makrostrukturen, eine unüberschaubare Menge von Mikrostrukturen, die sich im konkreten Fall zu Entscheidungsstrukturen verdichten (vgl. z.B. Fahey 1981). Ihre Wirksamkeit lässt sich umso besser erkennen, je näher man konkrete Handlungssituationen betrachtet. In dem Fredricksonschen Beispiel wird unter anderem auf die Rollenstruktur angespielt und man kann diesbezüglich z.B. davon ausgehen, dass Unternehmer in mittelständischen Unternehmen eine andere soziale Position besetzen als Manager, von denen das Verhalten von Verwaltungschefs verlangt wird. Im Einzelnen fließen in den konkreten Rollenvorgaben unter anderem der Aufgabenzuschnitt, die Arbeitsteilung, die Verantwortungszuweisung und der Zugriff auf Informationsquellen zusammen, also Größen, die nicht so sehr einzeln und isoliert, sondern besonders in ihrem Zusammenwirken das Entscheidungsverhalten maßgeblich bestimmen können. In den Kapiteln 5 bis 8 werden einzelne Strukturmerkmale einer Organisation und deren Bedeutung für die Entscheidungsfindung an ausgewählten Beispielen näher betrachtet. 152

Kultur „… eine einheitliche Kultur kann ebenso ein Hindernis für das Überleben einer Organisation sein wie eine fragmentierte Kultur. Eine einheitliche Kultur kann schädlich sein, wenn sie Entscheidungen von Personen fördert, die – wie gut sie koordiniert und wie wenig überraschend sie auch sein mögen – nicht die internen und externen Probleme der Organisation thematisiert … eine stark fragmentierte Kultur kann anarchische Verhältnisse schaffen, wenn es der Führung nicht gelingt, die Aktivitäten der Mitglieder zu koordinieren, es wäre, als wolle man einen Sack voll Flöhen hüten“ (Weatherley/Beach 1996, 130). Man kann allerdings bezweifeln, ob die angeführte Unterscheidung hilfreich ist. Warum sollten kulturelle Enge oder ihr vermeintliches Gegenteil, kulturelle Zerstückelung, schon gut sein? Inhaltlich sagt das jedenfalls nicht viel. Die Diskussion darum ist so unergiebig wie es Pauschalierungen zur „Diversity“ sein können. Ähnlich belanglos, wenn nicht sogar mehr, ist der Gebrauch der Floskel von den schwachen und starken Organisationskulturen. Man stellt sich unmittelbar die Frage: stark wofür? Solange ein soziales System existiert, hat es auch eine Kultur, und wenn sie sich nicht markant im Sinne der Gemeinschaftsstiftung präsentiert, dann ist eben dies doch ein Charakteristikum dieses Systems und kann stark ausgeprägt sein, was dann sogar positiv sein darf. Interessanter ist der Inhalt, der Gehalt, die Substanz einer Kultur. Aber was macht eine Kultur aus, aus welchen Elementen setzt sie sich zusammen? Die Liste ist lang und wenig systematisch. Sie umfasst u.a. Anstands- und Benimmregeln, das Arbeits- und Berufsethos, Bildungserfahrungen, Denkmuster, Dogmen, Ehrvorstellungen, Familienbindungen, Gesellungsformen, Gesinnungen, Gewohnheiten, Heldensagen, Identitäten, Ich-Ideale, Ideologien, Institutionen der Arbeitswelt, Interaktionsnormen, das kollektive Gedächtnis, Kommunikationsformen, Konventionen, Kunstgegenstände, Lebensentwürfe, Menschenbilder, Medienauftritte, Mentalitäten, Moralvorstellungen, Mythen, Naturverständnis, Politikstile, Rechtsbewusstsein, Rechtsnormen, Rituale, Selbst- und Fremdachtung, Sozialfürsorge, Sozialtechniken, Sozialisationspraktiken, Statuslinien, Symbole, technische Gerätschaften, Traditionen, Überlieferungen, Überzeugungssysteme, Weltbilder, Werkzeuge, Werthaltungen, Wirtschaftsweisen, Wissensbereiche und -formen, Wohlstands- und Zeitvorstellungen. Angesichts 153

dieser (hier nur ausschnitthaft angedeuteten) Vielfalt ist es nicht erstaunlich, dass die vorfindlichen Versuche, den Begriff „Kultur“ allgemeingültig zu definieren, reichlich unscharf und unbestimmt ausfallen. Und Bemühungen, eine bestimmte Kultur in ein einziges Bild zu fassen und in Gänze bzw. „gesamthaft“ zu beschreiben, müssen zwangsläufig scheitern. Man begnügt sich daher normalerweise damit, es bei einem intuitiven Verständnis von Kultur zu belassen und stellt bei der Beschreibung einer Kultur ausgewählte Merkmale besonders heraus. So kommt man beispielsweise zur Unterscheidung von kollektivistischen im Gegensatz zu individualistischen Kulturen (Chatman u.a. 1998) oder zur Ausdifferenzierung von Konfliktkulturen (kooperativ, dominierend, vermeidend, Gelfand/ Keller/Leslie/de Dreu 2012). Verschiedentlich versucht man, das Kulturphänomen durch Merkmalsprofile näher zu bestimmen. Die Auswahl der dabei verwendeten Merkmale (Führungsstil, Arbeitsbelastung, Belohnungen, Vertrauen usw., vgl. Scott u.a. 2003) beruht dabei allerdings oft eher auf Willkür als auf einem systematischen Gedanken. Das Bemühen, den Grunddimensionen von Kulturen auf die Spur zu kommen, zeigt sich stärker in dem Versuch der Typisierung. Dabei werden oft zwei (selten mehr) tief verankerte Kulturdimensionen näher betrachtet und miteinander kombiniert (zu Instrumenten zur Beschreibung und Erfassung der Organisationskultur vgl. Jung u.a. 2009, Denison/Nieminen/Kotrba 2014). Daniel Denison und Gretchen Spreitzer (1991) stellen beispielsweise auf zwei grundlegende Herausforderungen ab, denen sich jede Organisation stellen muss. Das ist zum einen die Notwendigkeit, das richtige Verhältnis von Stabilität und Wandel zu finden und zum zweiten, sich gleichermaßen sowohl mit den organisationsinternen als auch den organisationsexternen Ansprüchen auseinanderzusetzen (Quinn/Rohrbaugh 1981). Organisationen neigen dazu, sich auf diesen Dimensionen in der einen oder anderen Weise zu positionieren. Daraus ergeben sich vier Kulturtypen: die Gruppenkultur, die Entwicklungskultur, die Rationale Kultur und die Hierarchische Kultur. Einen anderen Akzent setzt die Grid-Group-Theorie von Mary Douglas. Die Kultur ist gemäß dieser Theorie eng verwoben mit der Gestaltung sozialer Beziehungen. Die Grid-Dimension bezeichnet den Umfang und die Dichte der im Sozialsystem verankerten Regelungen und Vorschriften. Die Group-Dimension bezeichnet dagegen das Ausmaß der emotionalen Bindung an das soziale System. Dominiert in einem sozialen System die Reglungsdimension, dann hat man es mit einer fatalistischen bzw. apathischen Kultur zu tun, dominiert 154

die emotionale Bindung, dann liegt eine auf Gleichheit bedachte oder egalitäre Kultur vor. Hierarchische, oder vielleicht besser, kollektivistische Kulturen zeichnen sich sowohl durch eine hohe Regelungsdichte als auch durch eine starke emotionale Bindung aus. In individualistischen oder wettbewerbsorientierten Kulturen sind die beiden Dimensionen dagegen schwach ausgeprägt. Man kann allein schon aufgrund dieser knappen Beschreibung annehmen, dass sich das individuelle und kollektive Entscheidungsverhalten in den vier Kulturen unterschiedlich gestalten dürfte. Sie geben der Denkwelt ihre je eigene Struktur, setzen ihr unterschiedliche Grenzen und legen auf ihre spezifische Weise fest, was als legitimes und illegitimes Verhalten zu gelten hat (Douglas 1970, Thompson/Ellis/Wildavsky 1990). Eine weitere Typisierung stammt von Bernard Bass (1996). Sie verdient deswegen Interesse, weil Bass explizit die Bedeutung der von ihm unterschiedenen Kulturen für die Entscheidungsfindung herausstellt. Auch Bass benutzt zwei Dimensionen für seine Typologie. Im einen Fall geht es um die Elemente, die eine Transaktionale Organisation ausmachen. Die Basis derartiger Organisationen bilden explizite und implizite vertragliche Vereinbarungen. Die Arbeitsbedingungen werden ausdrücklich spezifiziert, es geht um Tausch und Gegentausch, längerfristige Bindungsabsichten gibt es nicht. In der Transformationalen Organisation sind die Mitglieder dagegen an einer langfristigen Beziehung interessiert, es gibt eine ausgeprägte Interessenharmonie, flexible und anpassungsfähige Strukturen. Die Kultur der Transformationalen Organisation bezeichnet Bass (in ihrer Reinform) als „High-Contrast-Kultur“, die Kultur der Transaktionalen Organisation (in ihrer Reinform) als „Bürokratie“. Die Mischformen sind die „Garbage Can-Kultur“ (viele transaktionale und wenige transformationale Elemente) und die „Virtuelle Familien-Kultur“ (wenige transaktionale, viele transformationale Elemente). Durch Berücksichtigung mittlerer Ausprägungen der beiden Dimensionen kommt Bass auf 3x3=9 Kulturtypen (Bass/Avolio 1994). Beispielhaft seien seine Ausführungen zur Entscheidungsfindung in der Garbage Can-Kultur zitiert: „In der Garbage Can-Kultur (Cohen/March/Olsen 1972) gibt es weder eine transformationale noch eine transaktionale Führung. Als Folge … findet man nur intermittierendes Suchverhalten. Welche Diagnosen und Lösungen gefunden werden, hängt davon ab, wer in den Meetings präsent ist. Diskussionen führen häufig zu keinem Ergebnis. Die Beziehungen zwischen den Entscheidungsphasen sind besonders schwach“ (Bass 1996, 162). In der Virtual Family-Kultur ist die Informationssuche 155

umfänglich, man vermeidet frühzeitige Festlegungen auf eine Lösung. Wegen des hohen Commitments bereitet die Durchführung wenig Probleme. Allerdings werden dieser Kultur von Bass auch Schwächen zugeschrieben, insbesondere ein unkoordiniertes Vorgehen, übertriebene Innovationsneigung, ungenügende Kostenkontrolle und unstetes Voranschreiten in der Entscheidungsfindung. In der Bürokratischen Kultur geht es geregelt und entsprechend schwerfällig zu, starkes Gewicht wird auf Präzedenzfälle gelegt. Die High-Contrast-Kultur folgt dem Modell der rationalen Entscheidungsfindung, als problematisch gelten Bass in dieser Kultur lediglich die relativ häufigen Rücksprünge, das Abbremsen und wieder Beschleunigen des Entscheidungsprozesses, was sich aber nicht vermeiden lässt, wenn man sich mit einem Entscheidungsproblem intensiv auseinandersetzt. Man muss mit derartigen Aussagen vorsichtig sein und sollte Pauschalisierungen vermeiden. Auf dem Abstraktionsniveau, auf dem sie angesiedelt sind, können sie nur Tendenzen beschreiben, denn bürokratische Regeln fördern nicht nur die Trägheit, sie können Entscheidungsprozesse manchmal ebenso beschleunigen, übergroßes Commitment kann Irrationalitäten erzeugen, wenig strukturiertes Vorgehen kann dabei helfen, Konflikte zu entschärfen usw. In konkreten Situationen versammeln sich viele Elemente. Neben kulturellen spielen also auch gänzlich andere Einflussgrößen eine Rolle und möglich ist überdies, dass sich Teilelemente einer Kultur auch widersprechen und wechselseitig konterkarieren können.

Macht „Bevor ich als Berater für Kennedy tätig war, glaubte ich, wie die meisten Akademiker, dass der Prozess der Entscheidungsfindung vor allem eine intellektuelle Angelegenheit ist und alles was man zu tun habe, sei, in das Büro des Präsidenten zu gehen und ihn von der Richtigkeit der eigenen Sichtweise zu überzeugen. Ich bemerkte bald, dass diese Auffassung so gefährlich unreif ist, wie sie häufig vorkommt“ (Kissinger, 1979, 39). Dass die Machtverhältnisse einen maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidungsfindung haben, wird kaum jemand bestreiten wollen (als Auswahl aus den vielen einschlägigen Abhandlungen vgl. Bachrach/Baratz 1963, Eisenhardt/Bourgeois 1988). Macht ist ein starkes Argument und es ist nicht nur sprachlich eine Tautologie, was sich in einem spanischen Sprichwort 156

ausdrückt, das den Sachverhalt auf den Punkt bringt: „Wer die Macht hat, hat die Macht.“ Das bedeutet nicht, dass Macht immer zu spüren ist, es bedeutet aber, dass Macht immer präsent ist. Wenn die Macht den eigenen Zielen im Weg steht, kann man sie zwar mitunter überlisten, was aber nur zeigt, dass man sie dann auch überlisten muss. Ebenfalls bedeutet es nicht, dass die Machthaber ihre Macht immer einsetzen, was viele Gründe haben kann und z.B. von den Opportunitätskosten der Machtausübung abhängt (March 1966, 60). Außerdem ist der Machteinsatz nicht immer wirksam, was ebenfalls viele Gründe haben kann (Martin/ Drees 1999, 17-26). Und wenn er wirksam ist, dann ist er es nicht immer in der gewünschten Weise. Dies zeigt eine Studie von Wolfgang Scholl, in der unter anderem untersucht wird, ob der Machteinsatz der Umsetzung von Innovationsvorhaben förderlich ist. Scholl unterscheidet zwischen einer förderlichen, die Absichten der Teilnehmer am Entscheidungsprozess unterstützenden Einflussnahme und einer hinderlichen, die Absichten der anderen Teilnehmer ignorierenden oder störenden Einflussnahme. Im ersten Fall spricht er von Beeinflussung, im zweiten Fall von Machtausübung. In den untersuchten Innovationsprozessen hat die Einflussnahme normalerweise positive, die Machtausübung dagegen negative Wirkungen. Allerdings gibt es eine Einschränkung: Wenn die Fähigkeit zur Umsetzung der Entscheidungen gering ist, dann kann sie durch Machtausübung verbessert werden, für Prozesse, in denen die Fähigkeiten dagegen ohnehin schon hoch sind, wirkt Machtausübung dagegen kontraproduktiv (Scholl 2004, 134 f.). Nach Pfeffer (1981, 67-95) ist eine Grundvoraussetzung für den Machteinsatz, dass die Angelegenheit eine gewisse Bedeutung für die Beteiligten hat. Sinn habe der Machtgebrauch außerdem nur dann, wenn auch ein Konflikt vorliegt, wenn also zwischen den Beteiligten überhaupt irgendwelche Interdependenzen existieren, wenn es um knappe Ressourcen geht, wenn es unterschiedliche Vorstellungen über die Ziele und die Mittel der Zielerreichung gibt. Außerdem muss jede der Parteien über ein gewisses Machtpotenzial verfügen, denn wenn die Macht einseitig verteilt ist, werden kaum offene Auseinandersetzungen stattfinden. Die Macht wirkt dann gewissermaßen in der Stille, sie setzt sich, ohne Widerstand zu erfahren, kraft ihres schieren Gewichts durch. Außerdem muss man bedenken, dass einseitige Macht nicht selten sogar als legitim gilt (z.B. in der VorgesetztenMitarbeiter-Beziehung, in der Ausübung bestimmter Ämter usw.) und daher als Verhaltenskategorie gar nicht ins (kritische) Bewusstsein der Akteure dringt 157

(Farrell/Petersen 1982). Und wo sich Zweifel an der Legitimität andeuten, da werden die Mächtigen immer reklamieren, dass sie zum Wohl des Ganzen handeln (Pettigrew 1973, 16). In einem politischen Kontext ist die machtvolle Einflussnahme auf Entscheidungsprozesse ohnehin der Normalzustand. Das beginnt mit der Lancierung vorgeblicher Probleme und der Unterdrückung anderer Probleme, setzt sich fort in der taktischen Platzierung von Themen, Informationen und Entscheidungsanlässen und mündet in die Beanspruchung von Autorisierungsrechten. Kompromisse, Geschäfte auf Gegenseitigkeit und Gehirnwäsche sind gängige Mittel, um Zustimmung zu einer Entscheidung zu erlangen. Oft bleibt in der politischen Auseinandersetzung außerdem unklar, welche Entscheidungen getroffen wurden und zwar selbst dann, wenn formale Beschlüsse vorliegen, denn es gehört zu den Gepflogenheiten der Politik, Dinge voranzutreiben, zurückzunehmen, zu verwirren und zu verwässern (Baldridge 1971). Auch hier ist allerdings wieder zu differenzieren, weil sich die politischen Systeme in Organisationen nicht alle gleichen. Henry Mintzberg (1984) beispielsweise beschreibt sechs unterschiedliche Machtkonfigurationen, die sich aus den Machtverhältnissen von internen und externen Koalitionen sowie der Entwicklungsstufe einer Organisation ableiten: die Autokratie, die missionarische Organisation, die Organisation als Instrument, die Meritokratie, das geschlossene System und die politische Arena. Dass die Entscheidungsfindung in einer Autokratie anderen Regeln folgt als beispielsweise in einer politischen Arena (die im Wesentlichen dem von Baldridge beschriebenen Bild entspricht), dürfte sich von selbst verstehen.

Person „Als ich meine Generäle zusammengerufen hab, in den Krieg einzugreifen auf Gedeih und Verderb, glaubst du, ich hab das ewig hin und her gewälzt? Glaubst du, ich hab mich mit meiner Frau beraten? Glaubst du, ich hab erst gebetet? Ich entscheide das jetzt, hab ich gesagt, und dann hab ich es entschieden, und gleich darauf hab ich die Gründe nicht mehr gewusst, aber die waren auch egal, weil es entschieden war! Und schon standen die Generäle vor mir und haben Vivat gerufen, und ich hab gesagt: Ich bin der Löwe aus der Mitternacht“ (Kehlmann 2017, 305). Gustav Adolf entscheidet allein. So ist jedenfalls das Bild, das vorgeblich 158

bedeutende Männer gern von sich zeichnen. Und wer wollte bezweifeln, dass es bei Entscheidungen auf die Person ankommt? Und ebenso kommt es bei kollektiven Entscheidungen auf die Personen an. Duncan, König von Schottland, wird bei Macbeth übernachten. Bei den Eheleuten Macbeth hat sich der Gedanke festgesetzt: Duncan soll den nächsten Tag nicht mehr erleben! Lady Macbeth spricht ihn aus. Macbeth weicht aus: „Wir sprechen noch davon.“ Aber seine Frau insistiert: „Blick hell und licht; Misstraun erregt verändert Angesicht. Lass alles andre mir.“ Und später, als Macbeth neue Zweifel kommen: „Schraub deinen Mut nur bis zum höchsten Grad, und es misslingt uns nicht.“ Macbeth lässt sich bereden, er verdrängt seine Zweifel (Shakespeare, Macbeth. Erster Akt, 5. und 7. Szene, übersetzt von Dorothea Tieck). Eine andere Frau, ein anderer Macbeth, die Entscheidung wäre anders ausgefallen. Bei der Beschreibung und Erklärung der US-Entscheidung zum Korea-Krieg stellt Glenn Paige (1968) die Bedeutung der Persönlichkeit der Hauptakteure besonders heraus: Truman, als besonnener, auf gründliche Beratung bedachter Präsident, der sich bei seinen Entscheidungen gern auf Lehren aus der Geschichte bezog, Acheson als Außenminister, ein eigenständiger Kopf, der andererseits die Vorrangstellung des Präsidenten vorbehaltlos akzeptierte und Johnson als Verteidigungsminister, der es versäumte, eine realistische Lagebeurteilung zu liefern. Zusammen mit der im Beraterstab insgesamt herrschenden Erwartung, dass sich der Präsident als starker entschlossener Führer erweise, war dies eine Konstellation, die die Beratungen der U.S.-Regierung in der Woche vom 24. bis 30. Juni 1950 stark prägte. Man kann sich jedenfalls vorstellen, dass eine andere Zusammensetzung des Beraterstabs auch leicht zu anderen Entscheidungen geführt hätte. Wer alles zum Teilnehmerkreis einer Entscheidung gehört, bleibt selbst dann wichtig, wenn sie von einer einzelnen Person dominiert wird, weil sich in diesem Fall natürlich die Frage stellt, warum sich die Teilnehmer an der Entscheidung überhaupt dominieren lassen, schließlich könnten (andere) Teilnehmer auch Widerstand leisten. Es ist jedenfalls nicht nur die Dominanz, die den Einfluss einzelner Personen erklären kann. Danny Miller, Cornelia Dröge und Jean-Marie Toulouse (1988) beispielsweise zeigen in einer Studie, dass sich die Leistungsmotivation des Geschäftsführers positiv auf ein rationales Vorgehen im Entscheidungsprozess auswirkt. Wie sich dieser Einfluss an die übrigen Teilnehmer eines Entscheidungsprozesses vermittelt, wäre aber erst noch zu klären. Möglicherweise 159

ist es das Vorbildverhalten oder es sind Prozesse der sozialen Ansteckung, die dafür verantwortlich sind. Denkbar sind aber auch organisatorische Vorgaben oder Disziplinierungsmaßnahmen durch die Geschäftsführung. Ein Schwerpunkt der Forschung zur Gruppenzusammensetzung bildet das Thema „Diversity“. Häufig findet man die Empfehlung, möglichst heterogen zusammengesetzte Entscheidungsgruppen zu bilden. Die dafür angeführten Begründungen sind leicht nachzuvollziehen, schließlich haben heterogene Gruppen Vorteile im Hinblick auf Vielfalt und Differenziertheit der eingebrachten Perspektiven, etwa auch im Hinblick auf die Einschätzung der Anforderungen, die von dem jeweiligen Umfeld einer Organisation gestellt werden. Francis Milliken und David Vollrath machen diesbezüglich aber eine Einschränkung und zwar für die Fälle, in denen eine Situation nicht als analysierbar gilt, in denen also keine fundierten Prognosen möglich sind. In diesen Fällen komme es vor allem auf die Akzeptanz einer einheitlichen Beurteilung, also eben nicht auf Vielfalt, an (Milliken/Vollrath 1991, 1242). Auch dieses Argument hat einiges für sich, man kann es aber auch leicht missbrauchen, um Forderungen nach Entscheidungsbeteiligung abzuwehren. Im Übrigen ist die Forschungslage alles andere als einheitlich: „Zu jeder Studie, die eine positive Wirkung der Gruppen- oder Teamdiversität beschreibt (im Hinblick auf Leistung, Innovation oder Kohäsion), gibt es immer mindestens eine Studie, die die gegenteilige Wirkung nahelegt, neben weiteren Studien, die überhaupt keinen Effekt finden“ (Guillaume u.a. 2013, 129). Eigentlich ist das auch nicht verwunderlich, weil große Unterschiedlichkeit zu Verständigungsproblemen führen kann, weil Diversität die Prozesskosten vermehrt (vgl. z.B. Miller/Burke/Glick 1998, 42) und weil es Situationen gibt, in denen sprichwörtlich zu viele Köche den Brei verderben. Welcher Effekt der Diversität sich schließlich durchsetzt, hängt also maßgeblich von den jeweils gegebenen Struktur- und Situationsbedingungen ab. Im Übrigen geht die Betrachtung der „Gruppenzusammensetzung“ zumal bei komplexeren Entscheidungsprozessen an der Realität vorbei. Hier hat man es nämlich nicht mit einer stationären Gruppe zu tun, die aufeinander eingespielt ist und die in gemeinschaftlicher Verantwortung entscheidet. Vielmehr lassen sich angesichts der Vielzahl der an einer Entscheidung beteiligten Personen oft keine klaren Gruppengrenzen ziehen. Die Teilnehmer gehören häufig unterschiedlichen Hierarchieebenen an, kommen aus unterschiedlichen Bereichen und bringen ihre je eigenen Interessen, die ihnen aufgetragenen Direktiven sowie ihr je eigenes 160

Engagement mit. Außerdem sind sie oft nur zeitweise und an unterschiedlichen Stellen an der Entscheidung beteiligt. Und die Personen, die letztlich autorisiert sind, einen Beschluss zu fassen, verfügen deswegen nicht notwendigerweise auch über eine große Autonomie, da sie in aller Regel unter Beobachtung stehen und mit der mehr oder weniger offenen Einflussnahme von dritter Seite rechnen müssen (Jackson 1992, Hambrick 1992). Das soll aber nicht heißen, dass der Zusammensetzung des Teilnehmerkreises keine Bedeutung zukommt. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist nur so, dass sich gerade am Beispiel der Teilnehmerstruktur zeigt, dass es nicht genügt, isoliert eine einzelne Variable herauszupicken, um damit das kollektive Entscheidungsverhalten erklären zu wollen. Abschließend sei nochmals darauf hingewiesen, dass jede Handlungssituation in eine Vielzahl von Strukturen eingebettet ist, die alle ihre je spezifische Wirkung entfalten können. Ob diese Strukturen allerdings tatsächlich handlungswirksam werden, ist nicht sicher. So wie die Handlungsdispositionen der beteiligten Akteure nicht fraglos und immer zur Geltung kommen, sind auch nicht alle latent vorhandenen Strukturelemente unmittelbar verhaltenswirksam. Sie müssen, analog zu den individuellen Handlungsdispositionen, gewissermaßen erst „angeschaltet“, d.h. in die Handlungssituation eingebracht werden. Strukturen sollten daher nicht als starre Objekte betrachtet werden, die das Handlungsgeschehen gewissermaßen von deren Rand her begrenzen und kanalisieren. Sie sind vielmehr Teil des Ereignis- und Handlungsstroms und damit dynamischen Kräften ausgesetzt, wodurch es im Zuge von Entscheidungsprozessen zu wechselnden Strukturkombinationen mit ihren je spezifischen Verhaltenswirkungen kommen kann.

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Kapitel 5: Aufmerksamkeit Phänomene Was man nicht weiß, macht einen nicht heiß, sagt man. Aber das ist allenfalls eine halbe Wahrheit, denn es gilt mindestens ebenso: Was man jetzt nicht weiß, macht einen mitunter später erst richtig heiß. Dass man achthaben muss auf das, was um einen herum und was mit einem selbst geschieht, wird normalerweise jeder einsehen. Beim Autofahren, beim Schachspielen, in Verhandlungen und überhaupt fast immer muss man „aufpassen“, will man fatale Konsequenzen vermeiden. Nicht weniger bedeutsam ist die Aufmerksamkeit – jenseits von solchen konkreten Aktivitäten – im Hinblick auf Vorgänge, die sich eher im Verborgenen, lautlos und schleichend abspielen, also im Hinblick auf Fragen wie welche Richtung das eigene Leben nimmt, wohin sich eine soziale Beziehung entwickelt, warum sich die Strukturen einer Organisation immer mehr verfestigen usw. Dass es häufiger als gewünscht an der Aufmerksamkeit hapert, weiß jeder aus eigener Erfahrung und springt bei der Betrachtung des Weltgeschehens ohnehin ins Auge. Kassandra wurde nicht ernst genommen, Cäsar ignorierte die Warnung des Auguren Titus Vestricius Spurinna vor den Iden des März, mit dem Überfall auf Pearl Harbour hat niemand gerechnet, die Weltwirtschaftskrise Ende der 1920erJahre hat niemand vorausgesehen. Ganze Industriezweige verschlafen technische Entwicklungen (man denke nur an die Schweizer Uhrenindustrie und ihr Verhältnis zur Digitalisierung), Banken verstehen ihre eigenen Produkte nicht (was geschehen kann, wenn A-, B- und C-wertige Schuldverschreibungen in undurchsichtige Derivaten verschmolzen werden, hat die in den USA ausgelöste Sub-Prime-Krise deutlich gemacht), Planer übersehen Kostengrößen und Finanzierungslücken (man kann das bei fast allen Großprojekten beobachten), die Forschergemeinde nimmt wertvolle Entdeckungen nicht zur Kenntnis (das geschieht jeden Tag), Genies im Bereich von Literatur und Kunst werden anfangs ohnehin fast immer verkannt. 162

Aufmerksamkeit für Probleme Nach grandiosen Misserfolgen, schlimmen Unglücksfällen, Untaten und Katastrophen erheben sich in immer gleicher Weise Stimmen, die meinen, was geschehen sei, habe man schon vorher wissen können, deutliche Hinweise seien übersehen worden, die Verantwortlichen hätten versagt. Das mag mal stimmen, aber nicht immer. Die Aufmerksamkeitsspanne hat natürliche Grenzen, Informationen geben nicht von selbst ihren Gehalt preis, sie müssen oft erst noch aufgeschlüsselt werden, um überhaupt verständlich zu sein und außerdem ist die Fähigkeit, die Relevanz von Ereignissen einzuschätzen, begrenzt. Wissen im Nachhinein ist dagegen billig. Dessen ungeachtet empfiehlt es sich selbstverständlich, Mängel in der Aufmerksamkeit zu vermeiden. Ein anschauliches Beispiel für Aufmerksamkeitsdefizite innerhalb von Organisationen liefert eine Studie über die Produktpolitik bei der Mercedes Büromaschinen Werke AG (Knie/Buhr/Hass 1992). Im Jahr 1921 wurde die erste elektrische Schreibmaschine des Unternehmens, das Modell „Elektra“ eingeführt. Wie sich herausstellte, war das Gerät technisch unausgereift und sehr reparaturanfällig. In der Firmenzentrale in Berlin häuften sich entsprechend die Reklamationen. In der Fabrikationsstätte in Zella-Mehlis wollte man sich davon aber nicht beeindrucken lassen. In einem Schreiben des Fabrikleiters an den Prokuristen findet sich folgende Passage: „Es dürfte sich dringend empfehlen, – damit wir nicht auf Irrwege geleitet werden –, wenn den Reklamationen, die von den Vertretern kommen, nicht immer ohne weiteres Glauben geschenkt wird“ (Ebenda, 18). Als Grund für die Abwehr der Mahnungen rekurrieren die Autoren auf die je eigene Logik an den beiden Standorten. Im Verkauf und in der Zentrale war man naturgemäß am Markterfolg interessiert. Die Produktion war von anderen Zielsetzungen bestimmt: „Den einmal ausgewählten Mechanismus galt es für den Dauerbetrieb zu stabilisieren und nach fertigungstechnischen Gesichtspunkten zu optimieren. Die regelmäßig eintreffenden Erweiterungsvorschläge aus Berlin, Kundenwünsche hin oder her, wirkten sich auf diese Bemühungen eines ‚fertigungsgerechten Konstruierens‘ eher störend aus, sollte eine immer gleichbleibende maschinelle Qualität reproduziert werden“ (Ebenda, 33). 163

Als Anlässe, Impulse, Auslöser für Entscheidungen gelten in der einschlägigen Literatur auf der einen Seite bedrohliche Situationen und auf der anderen Seite sich bietende attraktive Gelegenheiten – sofern sie bemerkt werden und sich die Aufmerksamkeit darauf richtet. Man spricht im Unternehmenszusammenhang gern auch von Risiken und Chancen, wobei hier in aller Regel eine enge auf die jeweiligen Akteursinteressen bezogene Sicht zum Ausdruck kommt. Betrachtet werden vor allem Risiken, die man beherrschen und Marktchancen, die man sich nicht entgehen lassen will. Allgemeiner gesprochen können sowohl der Wunsch nach Verbesserung als auch der Wunsch nach Abwehr einer Verschlechterung der Verhältnisse Entscheidungsprozesse anstoßen. Aber, wie gesagt, notwendig ist dafür, dass man hierauf auch seine Aufmerksamkeit richtet. Letztlich steht am Beginn jeder Verhaltensänderung das Bemerken einer Diskrepanz. Das ist manchmal ganz konkret. Wenn etwa das alte klapprige Auto wieder einmal nicht anspringen will, dann denkt man intensiver über einen Neukauf nach, ein attraktives Objekt wirkt anziehend, geht einem das Geld aus, spürt man den Mangel usw. Manchmal ist es aber auch ein nur vages Ungenügen, das den Verhaltensimpuls setzt. Ob genau bestimmt oder nur vage empfunden, es sind Diskrepanz-Empfindungen (Störungsgefühle, Anspannung, Überraschung, Verwirrung, Beklemmung, Anmutung, Verlangen, Versprechen, Sehnen usw.), die uns darauf aufmerksam machen, dass im Verhältnis zwischen dem, was sein sollte und dem, was tatsächlich gegeben ist, etwas nicht stimmt. Abweichungen zwischen Soll und Ist nennt man etwas farblos „Probleme“. Probleme müssen, trotz der mit diesem Begriff verknüpften negativen Konnotationen, nicht grundsätzlich unerfreulich sein. Ein begehrenswertes Ziel vor Augen zu haben, kann unerfreulich sein, weil unbefriedigtes Verlangen Schmerzen bereiten kann, was aber nicht bedeutet, dass das damit verbundene Problem und das daraus folgende Bestreben, diesem abzuhelfen – also das angestrebte Ziel zu verfolgen und den „Mangel“ zu beheben –, nicht auch als höchst erfreuliche Herausforderung begrüßt werden kann. „Problematisch“ an Problemen ist allenfalls der Antrieb, der sich mit ihnen verknüpft, das Ungenügen, das ihnen zu eigen ist. Probleme drängen auf ihre Beseitigung, in ihnen steckt der elementare Antrieb für jegliches Verhalten. Und es sind in diesem Sinn die Probleme, auf die sich die Aufmerksamkeit richtet oder die ihr entgehen. Denn nicht jede Soll-Ist-Diskrepanz wird (unbeschadet der formalen Definition) als so problematisch eingeschätzt, dass sie eine nähere Betrachtung verdient. Sie muss unter anderem im 164

Wortsinn „beachtlich“ sein, also z.B. Schwankungen der Befindlichkeit, die als normal empfunden werden, einigermaßen übertreffen. Außerdem muss mit ihr eine spürbare Handlungsaufforderung, d.h. eine gewisse Dringlichkeit einhergehen. Diese beiden Merkmale sind, nach Auffassung von David Cowan (1986), wesentliche Voraussetzungen dafür, dass einem Problem Beachtung geschenkt wird. Als weitere Bestimmungsgrößen nennt er eine gewisse Beständigkeit (das Problem will nicht verschwinden) und das zeitliche Anwachsen des Problemdrucks. Für Gerald Smith (1989) kommt es vor allem auf die Wichtigkeit an, die dem Problem zugeschrieben wird und auf die Schwierigkeit, zu einer Lösung zu gelangen. Problemen, die sich leicht bewältigen lassen (möglicherweise sogar nebenher), wird demnach keine nähere Beachtung geschenkt. Die angeführten Bestimmungsgrößen setzen aber bereits eine nähere Kenntnis von der Natur des Problems, mit dem man es zu tun hat, voraus, womit sich die Frage stellt, wodurch sich die Aufmerksamkeit für ein Problem von der Wahrnehmung und der Definition des Problems unterscheidet. Angemerkt sei, dass das Spektrum der Aktivitäten, die sich auf die Informationssuche und die Problemidentifikation beziehen sehr breit ist, es reicht z.B. von eher passiven zu stark proaktiven Verhaltensweisen. In der angelsächsischen Literatur zur organisationalen Entscheidungsfindung werden unter anderem die folgenden Aktivitäten diskutiert: noticing, scanning, viewing, focusing, categorising, interpreting, diagnosing, encoding, concep-tualising, sense-making (vgl. Cowan 1986, Smith 1989, Starbuck/Milliken 1988, Weick/Sutcliffe 2006, Ocasio 2011), worauf an dieser Stelle aber nicht näher eingegangen werden soll.

Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Definition Es ist oft nicht von vornherein klar, worauf uns die oben angeführten DiskrepanzErlebnisse hinweisen wollen, worin die Probleme genau bestehen, die für die Empfindungen des Ungenügens jeweils verantwortlich sind. Das muss man dann erst herausfinden und dabei kann man sich natürlich irren. Allerdings scheint sich hier ein logisches Problem zu ergeben. Wenn es bei der Aufmerksamkeit um die Identifikation von Problemen geht, muss man dann nicht zumindest schon ein gewisses Problemverständnis haben, damit so etwas wie Aufmerksamkeit überhaupt entstehen kann? Aufmerksamkeit braucht tatsächlich ein Objekt, 165

freischwebende Aufmerksamkeit gibt es nicht (es sei denn, man möchte Aufmerksamkeit und Wachsamkeit gleichsetzen). Auf ein Problem aufmerksam zu werden, bedeutet dennoch nicht, dass man es auch versteht. Wer sich immer häufiger abgeschlagen und müde fühlt, kann darüber immer weniger einfach hinweggehen. Wie er das Problem wahrnehmen wird, ist eine andere Frage, er kann seine Abgeschlagenheit beispielsweise dem Wetter zuschreiben, beruflichem Stress oder auch seiner etwas unordentlichen Lebensführung. Die Wahrnehmung gibt dem Objekt, dem Ereignis, der Information, dem Problem, ein mehr oder weniger prägnantes Etikett und ermöglicht damit eine mehr oder weniger vorläufige Einordnung. Doch was diese Wahrnehmung für die betreffende Person tatsächlich bedeutet, wäre von dieser erst noch zu klären, d.h. die Definition des Problems verlangt von ihr eine (mentale) Festlegung, z.B. darüber, welche beruflichen Belastungen es im Einzelnen sind, die das Erschöpfungsgefühl hervorrufen, ob die als kritisch eingeschätzten Wetterbedingungen tatsächlich gegeben sind, welche Lebensgewohnheiten für die mentale und körperliche Erschöpfung verantwortlich gemacht werden können. Diese Fragen gehen über die bloße Registrierung eines Problembefunds, also über das, was man Aufmerksamkeit nennt, hinaus, sie dienen der Klärung der Problemlage, der näheren Bestimmung des Problems. Auf der Problemdefinition fußt alles weitere Verhalten. Der Auflösungsgrad kann dabei stark variieren, die Problemdefinition kann also reichhaltig, tief und präzise sein oder auch dünn, oberflächlich und ungenau. Man kann z.B. bei einer groben Einordnung stehenbleiben und – um das genannte Beispiel für körperliches Unbehagen nochmals zu bemühen – dem Wetter die Schuld geben und entsprechend auf angenehmeres Wetter warten. Oder man könnte etwas tiefer gehen und es dabei dennoch bei einer vorläufigen Definition belassen, etwa indem man für die Beeinträchtigung eine normale Befindlichkeitsschwankung verantwortlich macht und sich vornimmt, einfach mal früher zu Bett zu gehen. Jedenfalls ist es die Problemdefinition, die das Verhalten bestimmt und nicht die Aufmerksamkeit und auch nicht die Problemwahrnehmung. Dessen ungeachtet sind alle drei Teilprozesse von gleicher Bedeutung, schließlich kann man sich in allen Punkten irren: bezüglich der Relevanz auffälliger Informationen, in der Zuordnung dieser Informationen zu Problemen und in der schließlich erfolgenden Problemdefinition. Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Definition haben jedoch ihre je eigenen Funktionen und werden von unterschiedlichen Verhaltensmechanismen gelenkt. Das schließt nicht aus, dass die drei Teilprozesse mitunter zeitlich zusammenfallen 166

und sich dann in ihrem Inhalt kaum unterscheiden. Das geschieht häufig dann, wenn man mit bestimmten Vorgängen sehr vertraut ist, oder wenn man nachdrückliche Erfahrungen in ähnlichen Situationen gemacht hat. So mag ein erfahrener Mechaniker außergewöhnliche Motorgeräusche sofort bemerken und ihnen auch unmittelbar eine Ursache (etwa einen Lagerschaden) zuordnen. Beispiele für den zweiten Fall findet man im Verhalten von Personen, die schon oft schlimme Kränkungen erlitten haben, daher in jeder kritischen Bemerkung eine Bedrohung wittern und nicht selten überempfindlich reagieren. Nun ist es in komplexeren Fällen nicht immer einfach, konkrete Vorgänge einzuordnen. So kann man beispielsweise unterschiedlicher Auffassung darüber sein, ob die Schweizer Uhrenindustrie die Digitalisierung der Zeitmessung tatsächlich verschlafen hat (also kein Sensorium für diese Entwicklung hatte und ihr daher keine Aufmerksamkeit schenkte), ob in der Digitalisierung kein großes Problem gesehen wurde, z.B. weil man sich auf die eigenen unbestreitbar exzellenten feinmechanischen Fähigkeiten und deren Wertschätzung durch die Käufer verließ oder ob man das Problem falsch definierte, weil man meinte, die Digitalisierung hätte allenfalls für den niedrigpreisigen Massenmarkt einige Bedeutung. Man wird wohl davon ausgehen können, dass allen der angeführten Elemente ein gewisses Gewicht zukam, wenngleich nicht bei allen Akteuren gleichermaßen.

Kollektive Aufmerksamkeit Geht man vom Einzelfall auf die Betrachtung von kollektiven Entscheidungen über, dann sieht man sich mit einer ganzen Reihe von Fragen konfrontiert. Ein Kollektiv ist kein Superorganismus, der – ausgestattet mit einem auf mentale Integration bedachten Empfindungszentrum und mit der Fähigkeit zur Selbstreflexion – darauf bedacht ist, die auf ihn einströmenden Informationen sinnvoll zu ordnen und die ihm innewohnenden Strebungen zu einem selbstbewussten Willen zu bündeln. Zwar vermitteln Gruppen und Organisationen mitunter den Eindruck zielorientierten Handelns, des Ordnungsstrebens und des Bemühens um Selbsterhaltung. Die Natur dieser überindividuellen Phänomene ist jedoch eine gänzlich andere als die vermeintlich ähnlichen Phänomene im individuellen Fall (vgl. Kapitel 2). Das gilt umso mehr für die zeitlich und strukturell semi-stabilen sozialen 167

Systeme, die durch die Teilnehmer an Entscheidungsprozessen gebildet werden. Kollektive Aufmerksamkeit ist also nicht Aufmerksamkeit des Kollektivs. Was bedeutet kollektive Aufmerksamkeit aber dann? Genügt es, wenn eine einzelne Person innerhalb eines sozialen Felds auf ein Problem aufmerksam wird? Oftmals genügt das sicher nicht, jedenfalls dann nicht, wenn es ihr nicht gelingt, ihr Problembewusstsein anderen und möglichst allen anderen Beteiligten zu vermitteln. Wie viele Personen müssen ihre Aufmerksamkeit auf ein Problem richten, damit man von einer kollektiven Aufmerksamkeit sprechen kann? Dazu lässt sich kaum eine schlüssige Aussage treffen, es kommt diesbezüglich nicht auf irgendwelche Mehrheitsverhältnisse, sondern auf die Handlungswirksamkeit an und um diese zu erreichen, genügt unter Umständen dann doch die Aufmerksamkeit einer einzelnen Person. Jedenfalls sofern sie sich als erfolgreiche Promotorin des Problembewusstseins erweist. Oftmals muss dieses erst noch geschaffen werden, es muss im Entscheidungssystem Platz greifen, Probleme müssen – jedenfalls im Groben – verstanden und als relevant eingestuft werden und sie müssen als handhabbar erscheinen. Als Promotorin von Problemen braucht eine Person daher sozialen Einfluss und die Fähigkeit zur Plausibilisierung und möglichst auch zur Verdringlichung von Problemen. In dem Versuch, ein Problem zu platzieren, steckt zweifellos oft auch ein politisches Element. Jedenfalls ist es fast unumgänglich, die Existenz ungelöster und dringender Probleme ins Bewusstsein zu heben, wenn man ein Thema voranbringen will. Andererseits kann es für ein interessengeleitetes Handeln ebenso nützlich sein, Aufmerksamkeiten zu vermeiden, also von Problemen, deren Bekanntwerden und deren Aufarbeitung einem möglicherweise schaden könnten, abzulenken. Im Übrigen bedarf es nicht immer heftiger Überzeugungs- oder Überredungsbemühungen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Manchmal genügt es, dass ein Missstand bekannt wird, damit sich alle Blicke darauf richten. Wirkung zeigen auch Äußerungen von herausgehobenen Personen, ebenso finden Verlautbarungen, die im Rahmen speziell hierzu anberaumter Informationsveranstaltungen getroffen werden, ein starkes Echo und dasselbe gilt für allgemein zugängliche und prominent platzierte Meldungen in Presse und Medien. Doch meistens geht es gar nicht um solche Schlaglichter auf Einzelereignisse, empirisch wesentlich häufiger bildet sich ein Problembewusstsein nur sehr allmählich heraus (Van de Ven/Hudson 1985, 442 f.). Eine Ahnung von der Problemtiefe kann dessen ungeachtet bei passender oder unpassender Gelegenheit immer wieder einmal 168

aufblitzen. Und schließlich stolpert man häufig eher zufällig über ein Problem, z.B. wenn man gerade mit einem ganz anderen Problem beschäftigt ist und dabei nicht weiterkommt oder wenn man in der gemeinsamen Projektarbeit mit Problemen konfrontiert wird, die einem vordem völlig unbekannt waren. Nun kann Aufmerksamkeit sehr flüchtig sein und man muss sich fragen, ob jedes kurz aufflackernde Interesse an einer Sache wirklich Beachtung verdient. Warum sich in bestimmten Gruppen und Organisationen ein hoher Durchsatz von eigentlich belanglosen Aufgeregtheiten zeigt, ist zwar eine interessante Frage, für die Analyse von bedeutsamen Entscheidungsprozessen ist diese Frage aber eher nebensächlich. Aufmerksamkeit, die diesen Namen verdient, muss sich festsetzen, also Anlass für eine tiefergehende Beschäftigung sein, auch wenn diese dazu führen sollte, dass man sich von dem infrage stehenden Problem wieder abwendet. Ob ein Problem in diesem Sinn wirklich Aufmerksamkeit gefunden hat, kann man z.B. daran erkennen, wie häufig es thematisiert wird, ob es bei vielen Gelegenheiten angesprochen, in Dokumenten, Verlautbarungen und Veröffentlichungen erwähnt wird, kurz, ob es Eingang in Überlegungen, Tätigkeiten und Interaktionen findet. Allerdings sind dies nur äußerlich sichtbare Hinweise. Es kann auch sein, dass die Abwesenheit des Themas in der öffentlichen Kommunikation täuscht. Wenn es beispielsweise nicht möglich ist, zwanglos über ein Problem zu sprechen, wenn man es verdrängen muss, wenn man ihm auszuweichen versucht, dann ist das ein sicheres Zeichen dafür, dass es „untergründig“ durchaus präsent ist und auf die eine oder andere Weise seine Wirkung entfaltet. Das entscheidende Kriterium dafür, ob ein Problem Aufmerksamkeit findet, ist seine Wirkung, d.h. dass es die Handlungssituation der Beteiligten verändert, in deren Situationsdefinition berücksichtigt wird und in den Entscheidungsprozess Eingang findet. Das bedeutet allerdings nicht, dass ein Problem im Zuge eines Entscheidungsprozesses nicht wieder aus dem Blick geraten kann (um dann an anderer Stelle erneut aufgegriffen zu werden). Angesichts der Dynamik, die Entscheidungsprozesse entwickeln können, ist das sogar eher normal. Die Aufmerksamkeit und der Grad der Aufmerksamkeit sind also auch zeitlich variable Größen.

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Einflussfaktoren Bei der Betrachtung von Einflussfaktoren ist zunächst daran zu erinnern, dass es keine einfache Aufgabe ist, Dingen immer die Aufmerksamkeit zu widmen, die sie verdienen. Der Informationsfluss ist unbeständig und ungeordnet, die eingehenden Informationen sind oft unvollständig, ihre Bedeutung lässt sich nicht immer sofort ermessen, ihr Wahrheitsgehalt ist unbestimmt und vor allem drohen sie, eingebettet in eine kaum zu bändigende Informationsflut, schlichtweg wegen der beschränkten Informationsverarbeitungskapazitäten unterzugehen. Was man an Informationen erhält, ist daher oft nicht dasselbe, wie das, was man braucht und auch nicht dasselbe, wie das, was man will (Aguilar 1967). In den einschlägigen Studien geht es vor allem darum, warum es Entscheider und Entscheidungsgremien nicht selten an der notwendigen Aufmerksamkeit fehlen lassen. Ebenso schädlich kann es aber auch sein, einer Sache, die es vielleicht gar nicht verdient, zu viel Aufmerksamkeit zu widmen. Schließlich bindet Aufmerksamkeit Kräfte, die besser anderswo und anderswie eingesetzt werden könnten. Ein weiteres Problem mit der Aufmerksamkeit ergibt sich aus einem unpassenden Auflösungsgrad. Eine zu grobe Auflösung verführt zu Pauschalurteilen, etwa wenn kritische Anfragen als Bedrohung aufgefasst oder wenn sie als unvermeidliches Genörgel abgetan werden. Eine zu feine Auflösung geht dagegen oft mit einer Überforderung einher. Wenn beispielsweise Berichte oder gar Berichtssysteme allzu detailliert sind, dann führt das nicht selten dazu, dass sie gänzlich ignoriert werden (Lyles/Mitroff 1980). Auch in einer zu hohen oder zu niedrigen Aufmerksamkeitsschwelle stecken Probleme. Mancher ist darauf fixiert, jede und sei es die geringste Kontobewegung angstvoll zu beobachten, andere denken an ihr Geld nur dann, wenn sich ihr Kontostand dem Nullsaldo nähert und wieder andere werden erst dann auf ihr Geldverhalten aufmerksam, wenn die Bank ihnen die Kreditlinie kürzt. Neben den genannten, gibt es eine ganze Reihe weiterer Aspekte der Aufmerksamkeit, die ihr ein je eigenes Gepräge geben, z.B. den Grad der Aufmerksamkeit, die Prägnanz des Eindrucks, die Bedeutung, die man ihm zumisst, seine Tiefe und das Ausmaß, in dem die Aufmerksamkeit die Akteure in Beschlag nimmt. Aber wie gesagt, am meisten Aufmerksamkeit findet 170

in der Literatur die fehlende oder die zu geringe Aufmerksamkeit, sei es, dass man Probleme zu spät oder gar nicht erkennt. Die Ursachen, die für Mängel in der Aufmerksamkeit verantwortlich gemacht werden, umfassen ein breites Spektrum (Aguilar 1967, Cowan 1986, Dutton/Duncan 1987, Starbuck/Milliken 1988, Smith 1989, D‘Aveni/MacMillan 1990, Milliken/Vollrath 1991, Ocasio 1997, Cho/Hambrick 2006. Zu einer Übersicht der Wirkungen unzureichender Aufmerksamkeit vgl. Ocasio 2011. Besondere Beachtung finden hierbei Leistungsmerkmale von Organisationen, also z.B. der finanzielle Erfolg, Innovationen und die Erschließung neuer Märkte). Auf einige ausgewählte Bestimmungsfaktoren der Aufmerksamkeit sei im Folgenden kurz eingegangen. Die Darstellung orientiert sich an den in Abbildung 4.4 und den Tabellen 4.1 und 4.2 angeführten Größen.

Handlungsstruktur Den Überzeugungen, Alltagstheorien und mentalen Modellen der an einer Entscheidung beteiligten Personen kommt naturgemäß eine große Bedeutung für die Aufmerksamkeitslenkung zu, da sie das Denken, die Wahrnehmung und die Urteilsbildung unmittelbar beeinflussen. Besondere Wirkungskraft haben Kausalvorstellungen. Wenn das Management beispielsweise davon überzeugt ist, dass der Erfolg ihres Unternehmens entscheidend vom Engagement der Mitarbeiter bestimmt wird, dann wird es sensibler auf die wachsende Unzufriedenheit der Belegschaft reagieren, als wenn man in den Mitarbeitern lediglich eine austauschbare Ressource sieht. Nun sind die Alltagstheorien und mentalen Modelle eng an Personen gebunden. Ob sie sich als „herrschende Meinung“ etablieren können, ist nicht ausgemacht. Sie können immerhin geteilt werden und damit das kollektive Handeln bestimmen. Als „echte“ kollektive Eigenschaft kann dagegen die institutionelle Logik gelten. Patricia Thornton und William Ocasio verstehen unter diesem Begriff sozial konstruierte, historisch gewachsene Muster von Praktiken, Annahmen, Werten, Überzeugungen und Regeln, die dem sozialen und individuellen Handeln Sinn und Bedeutung geben (Thornton/Ocasio 1999, 804). Die Autoren erläutern dies am Beispiel von wissenschaftlichen Buchverlagen der USA. Danach vollzog sich in den 1970er-Jahren ein Wandel von einer Herausgeber- zu einer Marktlogik. Innerhalb der Herausgeberlogik gilt das Verlegen von Büchern als Profession, innerhalb der Marktlogik dagegen als Geschäft. Im ersten Fall ergeben 171

sich Ansehen und Selbstbestätigung aus der in der Sache begründeten Reputation, im letzteren Fall aus der Marktstellung. Im einen Fall geht es um die Beschäftigung von Lektoren und Redakteuren, die dem Verlag ein persönliches Gepräge geben, im anderen Fall um die Beschäftigung von Personen, die in der Lage sind, die Gewinnmargen zu steigern. Organisches Wachstum auf der einen steht gegen aggressiv herbeigeführtes Wachstum und Unternehmenskauf auf der anderen Seite, die Führung durch selbstständige Eigentümer steht gegen die Führung durch angestellte Manager. Mit der institutionellen Logik verknüpft sich naturgemäß ein jeweils spezifischer Blick auf die eigene Tätigkeit und die Entwicklungen im Umfeld. Innerhalb der Herausgeberlogik konzentriert sich die Informationsgewinnung auf persönliche Kontakte mit Verlegern und Autoren. Innerhalb der Marktlogik liegt das Hauptaugenmerk dagegen auf der Marktbeobachtung und der Einhaltung von möglichst quantitativ fixierten Leistungsgrößen. Die jeweilige Ausrichtung fließt naturgemäß auch in die konkrete Entscheidungsfindung ein. Bei Thornton und Ocasio finden sich hierzu einige Beispiele, die die Stellenbesetzung betreffen. So können sie zeigen, dass die Frage, ob es zu Neubesetzungen im Management kommt, innerhalb der Herausgeberlogik stärker von der Auflagenstärke und der Ausdifferenzierung der Organisation bestimmt wird, innerhalb der Marktlogik dagegen eher von der Wettbewerbsintensität und dem Umfang an Akquisitionen. Abstrakt formuliert kann dies als Beleg dafür gelten, dass je nach der institutionalisierten Logik andere Leistungsmerkmale Beachtung finden. Eine weitere wichtige Determinante der Aufmerksamkeit ist die jeweilige Zielsetzung. Ziele richten das Verhalten aus und sie lenken damit auch die Aufmerksamkeit. Gegebenheiten und Ereignisse, die mit der Zielverfolgung in enger Verbindung stehen, gewinnen besondere Beachtung, Geschehnisse, die damit nichts oder nur wenig zu tun haben, geraten dagegen an den Rand des Blickfelds und haben es entsprechend schwer, sich Geltung zu verschaffen. Ein ähnlicher Selektionseffekt geht von den Zuständigkeiten aus, die die Rechte und Pflichten von Personen in bestimmten Positionen festlegen. Wer für bestimmte Aufgaben verantwortlich ist, konzentriert sich eben hierauf, Sachverhalte, die andere Positionen und Stellen betreffen, werden ausgeblendet. Auch schickt es sich nicht, z.B. einen Kollegen auf Auffälligkeiten hinzuweisen, die dessen Aufgabengebiet betreffen, ein derartiges Verhalten wird unter Umständen gar als ungehörige Einmischung empfunden. Die Zuständigkeitsbeschränkung findet sich nicht nur im formellen Bereich, sondern ist auch eine soziale Bestimmungsleistung. So lässt 172

sich beispielsweise erklären, warum Vorgesetzte, Informationen, die von den ihnen wiederum vorgesetzten Stellen stammen, größere Beachtung schenken als Informationen, die ihnen ihre Untergebenen zukommen lassen (Porter/Roberts 1976). Auch die fachliche Ausbildung, die jemand erworben hat, lenkt den Blick. Selbst schon innerhalb bestimmter Funktionsfelder findet man Akzentuierungen der Aufmerksamkeit. So richten beispielsweise Personen im Marketing ihren Blick eher auf Marktkräfte, Personen aus dem Controlling dagegen eher auf Rationalisierungspotenziale. Psychologen achten in Personalangelegenheiten auf andere Aspekte als Juristen, Techniker in der Produktentwicklung auf andere Aspekte als Kaufleute. Im Bemühen um Vielfalt wird daher häufig empfohlen, eine möglichst heterogene Zusammensetzung des Top Managements zu gewährleisten. Aber auch das hat zwei Seiten, denn je heterogener die Auffassungen und Meinungen sind, desto schwerer ist es, sie miteinander zu vermitteln. Das hängt auch von den sozialen Beziehungen unter den Teilnehmern an einem Entscheidungsprozess ab. Freundschaften können zu einer übertriebenen Nachsicht für die Unaufmerksamkeit des Partners führen und Feindschaften zu Ignoranz. In flüchtigen Beziehungen nimmt man es (unter Umständen) mit der Sorgfalt nicht zu genau, in dauerhaften Beziehungen kann die sich einschleichende Routine mit einem Nachlassen der Aufmerksamkeit einhergehen. Sozialbeziehungen spielen auch auf der Systemebene eine große Rolle. In autoritären Verhältnissen beispielsweise werden viele Beobachtungen aus Furcht vor negativen Reaktionen nicht weitergegeben, in Sozialordnungen, die durch scharfe Auseinandersetzungen gekennzeichnet sind, werden Nebensächlichkeiten gern aufgebauscht usw.

Handlungssituation Signale und Informationen kommen in unterschiedlicher Stärke vor. Intensive, penetrante Signale lassen sich kaum ignorieren und Informationen, die einen direkt ansprechen, hohe Anschaulichkeit besitzen und einen lebendigen Eindruck machen, behaupten sich leicht gegenüber noch so informationshaltigen, aber kaum erkennbaren und möglicherweise halb-verborgenen Hinweisen. Was sich als relevantes Thema präsentiert oder zumindest Anschlussfähigkeit zu aktuellen Themen behaupten kann, das gewinnt besondere Aufmerksamkeit. Diese Aussage verweist auch auf die Empfängerseite, es kommt nämlich nicht nur auf die Reizstärke 173

an, sondern auch auf die Sensibilität der Teilnehmer an einem Entscheidungsprozess, darauf, womit diese sich aktuell beschäftigen, auf deren Empfänglichkeit, auf die mentale Szenerie, die die Entscheidungsteilnehmer aufgebaut haben und in der die Information ihren Platz finden muss. Eine ähnliche Korrespondenz gibt es zwischen der Problemauslastung und der Bearbeitungskapazität. Die Problembelastung der einzelnen Akteure bestimmt sich nicht nur aus der Informationsfülle, sondern vor allem auch aus den Fähigkeiten, den Informationsstrom zu bändigen. Daneben gibt es systembedingte Begrenzungen der Problemlösungskapazitäten der einzelnen Akteure, der Gruppe, der Organisation. Diese bestimmen sich unter anderem danach, ob auch geeignete Mittel und Techniken zur Verfügung stehen, damit die relevanten Informationen registriert und weitergegeben werden können und außerdem danach, ob man auf externe Unterstützung zugreifen kann. Die Ausstattung mit informationstechnischer Infrastruktur ist zwar wichtig, ebenso bedeutsam ist allerdings das methodische Know-how, also der sachgerechte Umgang mit den Methoden zur Informationsgewinnung und -verarbeitung. Starbuck und Milliken (1988) führen das folgende Negativbeispiel an: Das Management eines erfolgreichen Unternehmens für mechanische Rechenmaschinen wollte wissen, ob das seinerzeitige Aufkommen elektronischer Rechenmaschinen eine Bedrohung ihres Geschäfts darstellte. Es beauftragte die Vertriebsleute, hierzu die Einstellungen ihrer Kunden zu erfragen. Die Verkäufer berichteten fast einmütig, dass die Kundschaft nach wie vor die mechanischen Geräte bevorzugte und entsprechend kein Handlungsbedarf bestünde – und das, obwohl die Zahl der Kunden deutlich zurückging! Und manchmal stehen einfach nur Informationen minderer Qualität, also z.B. vage und kaum belastbare Informationen, zur Verfügung. Dann ist man geneigt, sie entweder zu ignorieren oder selektiv nur die Informationsfragmente zu beachten, die den eigenen Interessen und Auffassungen entgegenkommen. Nicht nur die Informationslage, sondern auch die Handlungsanforderungen bestimmen die Aufmerksamkeit. Ein hoher Handlungsdruck hat zwiespältige Wirkungen. Der empfundene Zwang, Ergebnisse zu liefern, führt häufig zu einer Verengung der Problemperspektive, zum Ausblenden von augenscheinlich weniger relevanten Gesichtspunkten. Allerdings kann ein starker Handlungsdruck auch das Bedürfnis aktivieren, Distanz zu nehmen, um sich einen besseren Überblick über die Problemlage zu verschaffen. Unterschiedliche Wirkungen auf die Aufmerksamkeit hat ebenfalls die jeweilige Motivlage. Man kann darauf bedacht sein, bedrohlich 174

wirkenden, peinlichen oder mit Tabus belegten Themen auszuweichen, man kann sich aber auch zwingen, ganz bewusst nach Anzeichen Ausschau zu halten, die man eigentlich lieber nicht so gern zur Kenntnis nimmt. Neben den soeben beschriebenen Größen gibt es zahlreiche weitere Einflussfaktoren, die die Aufmerksamkeit der Forscher gefunden haben (vgl. die oben angeführten Autoren). So u.a. die Möglichkeiten zum Erfahrungsaustausch, die Einflussnahme durch Promotoren, die Glaubwürdigkeit der Informationssender, die Wachsamkeit der Akteure und deren Zerstreutheit, ihr Misstrauen, der Erfahrungshintergrund, Stereotype, Mythen, Tabus, Sitten, Bräuche, Sprachgewohnheiten und Sprach-Codes, die Kategorisierung von Problemen, das Streben nach Perfektionierung sowie Besonderheiten der Situation wie Erfolg, Krisen, die Einwirkung und die Berechenbarkeit der Umwelt, das emotionale und geistige Klima sowie die Art und Weise, wie Planungsprozesse organisiert sind und Dimensionen der Organisationsstruktur wie Formalisierung, Standardisierung, Zentralisierung usw. Alle diese Faktoren stehen in vielfältigen Wechselbeziehungen untereinander. So geraten Organisationen oder Gruppen, die von einer Erfolgswelle getragen werden, normalerweise unter einen geringeren Handlungsdruck als Organisationen oder Gruppen, die um ihren Bestand ringen müssen. Ein anderes Beispiel ist die enge Beziehung zwischen den mentalen Modellen der Akteure und den Etiketten, die man den Ereignissen verpasst (dem „Labeling“) und die diese dann als problematisch oder unproblematisch erscheinen lassen. So wird man die feindseligen Äußerungen einer Person als Provokation empfinden oder als Fensterrede abtun, als Botschaft, die gar nicht an einen selbst, sondern an dessen Klientel gerichtet ist, je nachdem, in welchen Kontext man die Äußerungen stellt. In der Gesamtbetrachtung ergibt sich ein Bild, wie man es häufig in den Sozialund Verhaltenswissenschaften vorfindet. Es lassen sich zahlreiche Einflussfaktoren identifizieren, diese Faktoren decken ein breites Spektrum von Verhaltensebenen und Verhaltensbereichen ab und es lassen sich plausible Begründungen für die empirisch gefundenen und theoretisch unterstellten Beziehungen finden. Allerdings sind drei Einschränkungen zu machen. Erstens bleiben die Aussagen über die unterstellten Beziehungen oft unbestimmt, d.h. sie müssen, um nachvollziehbar zu sein, in aller Regel erst noch spezifiziert werden (welche Ziele genau beeinflussen die Aufmerksamkeit, mit welchen Merkmalen lässt sich die Problembearbeitungskapazität eines sozialen Systems näher beschreiben und welche 175

dieser Merkmale sind für die Aufmerksamkeitslenkung verantwortlich usw.). Zweitens handelt es sich durchweg um Tendenzaussagen, es geht in ihnen um „Neigungen“, also nicht um notwendige und unverbrüchliche Zusammenhänge. Und drittens kommen die Einflussfaktoren oft gar nicht zum Zug, zum Beispiel, weil ihr Wirksamwerden von weiteren Variablen blockiert wird, weil ihre Wirkung vom Vorliegen bestimmter, manchmal sehr spezieller Bedingungen abhängig ist und weil das Verhalten generell nicht so sehr von einzelnen Faktoren, sondern immer von dem Insgesamt der in einer Situation wirksamen Kräfte bestimmt wird. Es ist daher nicht sinnvoll, die angeführten Determinanten der Aufmerksamkeit „Einflussfaktoren“ zu nennen, denn es handelt sich in aller Regel nur um potenzielle Einflussfaktoren. Das gibt ihnen zwar einen anderen Stellenwert, macht sie deswegen aber nicht bedeutungslos, denn ob immer oder nur potenziell wirksam, bei der Analyse einer gegebenen Handlungskonstellation kann ihre Berücksichtigung gute Dienste leisten.

Theoretische Ansätze Die meisten theoretischen Abhandlungen über die Aufmerksamkeit richten sich auf das Verhalten von Personen. Die Größen, die in den entsprechenden Modellen zum Zug kommen (vgl. z.B. Cowan 1986, Smith 1989), lassen sich aber prinzipiell, zumindest versuchsweise, auch auf ein kollektives Niveau bringen. Eine Variable wie die empfundene Wichtigkeit eines Problems kann, kollektiv gesehen, z.B. als kulturbedingte Prioritätensetzung gelten, das individuelle Anspruchsniveau als sozialer Standard usw. Um eine solche Analogsetzung kollektiver und personenbezogener Theorien bzw. Modelle soll es im Folgenden aber nicht gehen. Stattdessen werden drei Ansätze beschrieben, die von vornherein auf den kollektiven Aspekt der Aufmerksamkeit abheben. Der erste Ansatz stellt auf den ökonomischen Aspekt des Aufmerksamkeitsproblems ab. Er macht deutlich, wie wichtig es ist, sich mit der Frage zu befassen, welchen Problemen man seine Aufmerksamkeit widmen sollte und welchen nicht. Eine befriedigende Antwort auf diese Frage liefert er allerdings nicht. Der zweite Ansatz geht auf wichtige Strukturelemente ein, die die kollektive Aufmerksamkeit kanalisieren. Der dritte Ansatz führt aus, dass organisationale Regeln primär handlungs- und nicht etwa 176

problemlösungsorientiert sind, und dass sich daher in Organisationen oft keine sonderlich intelligente Aufmerksamkeitslenkung findet.

Ökonomie der Aufmerksamkeit Brian Loasby macht darauf aufmerksam, dass einem Entscheidungsprozess bereits eine Entscheidung vorgelagert ist, nämlich die Entscheidung, dass man sich mit dem infrage stehenden Problem überhaupt befassen will (Loasby 1967). Aus ökonomischer Sicht ist diese zweistufige Betrachtung sinnvoll, weil Entscheidungen nicht umsonst zu haben sind, denn schließlich verursacht die nähere Befassung mit einem Problem Entscheidungskosten und diese wird man nur dann tragen wollen, wenn sie geringer sind als der Ertrag, den hervorzubringen die Befassung mit dem Problem verspricht. Man möchte keine Kraft und Zeit verschwenden, um sich mit unwichtigen oder unlösbaren Problemen zu befassen. Und um zu fundierten Entscheidungen zu gelangen, braucht es Kraft und Zeit oder, um es ökonomisch auszudrücken: Es entstehen mitunter beträchtliche Kosten sowohl handfest materieller als auch psychologischer Art. Sich auf eine Problemsituation einzulassen, Handlungsalternativen zu erarbeiten, sich auf eine Vorgehensweise zu einigen, Veränderungen einzuleiten, Unruhe, Unverständnis, Machtkämpfe, Zerwürfnisse und sonstigen Unbill auszuhalten, der mit Entscheidungen einhergehen kann, ist aufwändig und auch nicht sonderlich erfreulich. Dazu kommt, dass die verfügbaren Problembearbeitungskapazitäten begrenzt sind, man also notgedrungen Prioritäten setzen und entsprechend die Alternativkosten im Auge haben muss, also zu bedenken hat, was sich erreichen ließe, wenn man sich nicht dem infrage stehenden Problem, sondern mit anderweitigen Aktivitäten beschäftigen würde, mit Aktivitäten, die möglicherweise einen größeren Ertrag abwerfen. Und schließlich muss man mit dem Wissen auskommen, das man hat und das nie vollständig ist. Und man kann nur auf die Problemlösungsfähigkeiten bauen, die einem zur Verfügung stehen und die normalerweise ebenfalls sehr beschränkt sind. Dies führt dazu, dass man eher auf Probleme achthat, die im handlungsbezogenen Nahbereich angesiedelt sind und Probleme, die ferner liegen und auch nur langfristig wirksame Entwicklungen betreffen, weniger Aufmerksamkeit und Zuwendung finden. Denn mit den kurzfristig sich stellenden Problemen lässt sich 177

besser umgehen, sie stammen in der Regel aus dem Tagesgeschäft, mit dem man vertraut ist, es gibt klare Erfolgsmaßstäbe und auch die Erfolgsaussichten der eigenen Handlungen lassen sich gut abschätzen. Für (subjektiv) ferner liegende Probleme gilt das genaue Gegenteil. Um sich mit ihnen zu beschäftigen, braucht es daher eine besondere Rechtfertigung. Die fällt nicht immer leicht, weil Probleme, die jenseits des vertrauten Handlungsfelds liegen, sich oft nur vage bestimmen lassen und weil sie nicht unübersehbar den Horizont ausleuchten, sondern sich mehr oder weniger im Verborgenen entwickeln. Außerdem beansprucht auch die Behandlung von Problemen, die noch weit weg liegen, Kapazitäten, die meistens eher knapp sind, und um die schon die vielen Kurzfristprobleme konkurrieren, mit denen man sich herumschlagen muss. Besonders fatal wirkt sich die bevorzugte Zuwendung zu Kurzzeit-Problemen aus, wenn man sich ohnehin schon in einer prekären Situation befindet. Die unmittelbar bedrängenden Probleme fordern höchste Aufmerksamkeit, so dass kein Raum mehr für die Beschäftigung mit strukturell bedingten Problemen bleibt, mit Problemen also, die eine breite Perspektive brauchen und möglicherweise nach einer fundamentalen Neuausrichtung verlangen. Durch kurzfristiges Manövrieren verbessert sich eine strukturell bedingte Problemlage nicht, es verschärft die Schwierigkeiten, in die man geraten ist und führt leicht in eine sich selbstverstärkende Abwärtsspirale. Zusammengefasst: Man kann sich nicht mit allen Problemen befassen. Es ist daher sinnvoll, sich immer auch Gedanken darüber zu machen, welche Probleme besondere Aufmerksamkeit verdienen. Die bewusste Konzentration auf ausgewählte Probleme dient dazu, mit den vorhandenen Problemlösungskapazitäten hauszuhalten und sie dient dazu, sich darüber Klarheit zu verschaffen, welche Prioritäten man setzen sollte. Es gilt, die Entscheidungskosten gegen den Entscheidungsertrag abzuwägen. Diese Rechnung erweist sich allerdings als nicht ganz einfach, weil sie voraussetzt, dass man sowohl die Kosten als auch die Erträge einigermaßen kennen kann. „Eigentlich“ verlangt also bereits die „Vorentscheidung“ – also die Entscheidung, ob man einem Problem überhaupt Aufmerksamkeit schenken sollte, einen mitunter umfänglichen Entscheidungsprozess, was etwas paradox ist, weil es ja darum geht, unnötigen Entscheidungsdruck zu vermeiden. Für die Auflösung dieses Paradoxons gibt es kein wirklich befriedigendes Entscheidungskalkül. Ein Rat, der sicher nicht falsch ist, wäre der, dass man sich von den aktuell sich stellenden Problemen nicht völlig vereinnahmen lässt, sondern Kapazitäten vorhält, um zu erkunden, welche langfristig wirksamen Probleme 178

sich auftun können. Allerdings gilt es auch diesbezüglich, Übertreibungen zu vermeiden. Es ist gut, sich immer wieder das Gesamttableau der sich aktuell stellenden und der sich möglicherweise erst noch entwickelnden Probleme vor Augen zu halten. Dabei gilt es aber, die richtige Balance zu halten: „Wenn die Bestandsaufnahme zu häufig erfolgt, beeinträchtigt man die Bemühungen, die alltäglichen Probleme möglichst effizient zu bewältigen, wenn die Bestandsaufnahme zu selten erfolgt, dann werden die Grundlagen des Erfolgs unterminiert“ (Loasby 1967, 255). Dieser Gedanke hat Sinn nicht nur aus einer ökonomischen, sondern auch aus einer psychologischen Sicht. Aufmerksamkeit ist kein Wert an sich, sondern steht im Dienst des Handelns. Würde man den zahllosen Dingen und Reizen, die unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen wollen, nachgehen, ließe sich kaum eine Absicht konsequent weiterverfolgen, das Handeln wäre ein ständiger Kampf mit dem Chaos. Um die Balance zu halten, muss man daher auch mit seiner Aufmerksamkeit klug umgehen (vgl. z.B. Tipper 1992).

Organisationen als Systeme verteilter Aufmerksamkeit Herbert Simon schreibt: „Die Informationsverarbeitungssysteme unserer heutigen Welt schwimmen in einer außerordentlich fetten Suppe von Informationen … In einer solchen Welt sind nicht Informationen die knappen Ressourcen; knapp sind die Verarbeitungskapazitäten zur Beachtung der Informationen. Aufmerksamkeit ist der wichtigste Engpass der organisatorischen Tätigkeit, und der Engpass wird immer schmaler und schmaler, je mehr wir uns der Spitze der Organisation nähern. …“ (Simon 1981, 306). Bedeutsam ist die Aufmerksamkeit einfach deshalb, weil Probleme, denen man keine Aufmerksamkeit widmet, nicht angegangen werden. Andererseits löst Aufmerksamkeit als solche noch keine Probleme, im Gegenteil, es gibt keine freischwebende Aufmerksamkeit, die Signale, Reize, Informationen, die Beachtung verlangen, lenken die Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte der Situation und blenden damit andere Aspekte aus und sie lenken darüber hinaus gewissermaßen reflexhaft oder aus Gewohnheit das Handeln schon von vornherein in eine bestimmte Richtung. Simon nennt als Beispiel den Leiter der Feuerwehr, der die mangelnde Ausstattung der Stadtfeuerwehr beklagt und in bester Absicht und mit voller Überzeugung mehr Mittel einfordert, dabei aber keinen Gedanken darauf verschwendet, ob das benötigte 179

Geld nicht vielleicht doch besser für die Finanzierung anderer, wichtigerer Aufgaben der Stadt verwendet werden sollte (Simon 1981, 125 f.). Es sind aber nicht nur die beschränkten Kapazitäten, die die Informationsaufnahme und -verarbeitung erschweren. Es ist eher die beschränkte Intelligenz, die Probleme macht und dem unaufhörlich auf Organisationen einfließenden Datenstrom nicht gerecht wird. Speicherkapazitäten lassen sich multiplizieren, Aufmerksamkeit dagegen allenfalls organisieren. Aus einer praktischen Sicht stellt sich die Frage, wie man das am besten macht. Aus einer auf Aufklärung bedachten Sicht wäre jedoch zunächst zu untersuchen, welche Tatbestände die kollektive Aufmerksamkeit beanspruchen, wie kollektive Aufmerksamkeit erzeugt und beeinflusst wird. Einen Erklärungsversuch unternimmt William Ocasio. Er hebt in seiner Analyse vor allem den strukturellen Aspekt hervor, weil dieser die Entscheidungsfindung in Organisationen maßgeblich bestimme, er spricht nachgerade von Aufmerksamkeitsstrukturen und meint damit alle sozialen, ökonomischen und kulturellen Strukturen, die die Zuordnung von Zeit, Anstrengungen und inhaltlichen Überlegungen der Teilnehmer an Entscheidungsprozessen bestimmen (Ocasio 1997, 195). Im Einzelnen rechnet Ocasio zu diesen Strukturen Akteure, Spielregeln, Positionen und Ressourcen. Diese Strukturelemente oder auch „Aufmerksamkeitsregulatoren“ beeinflussen Themen und Lösungsvorschläge, Interessen und „Identitäten“ sowie Prozeduren und Kommunikationen. Die von Ocasio erwähnten Strukturelemente sind zweifellos alles wichtige Elemente organisationaler Entscheidungsprozesse. Wie man sich das Zusammenwirken dieser Größen im Einzelnen vorstellen kann, dazu gibt Ocasio leider nur vereinzelte und eher vage Hinweise. So ordnet er beispielsweise die Anreize, die in einer Organisation gesetzt werden, den Spielregeln zu. Die Anreize, so Ocasio, lenken die Aufmerksamkeit so, dass sich die Entscheider mit Themen und Aktivitäten beschäftigten, die „vom Unternehmen“ in höchstem Maß erwünscht sind (Ebenda, 198 f.). Das kann man wohl bezweifeln, schließlich vergeht kaum ein Tag, an dem man nicht mit neuen Nachrichten über die betrüblichen Wirkungen von Fehlanreizen konfrontiert wird, also von Anreizen, die eben nicht zu dem führen, was für eine Organisation wünschenswert wäre. Wie auch immer, man kann sich leicht plausible Beziehungen zwischen den von Ocasio angeführten Größen vorstellen, so zum Beispiel, dass Auffassungen von Personen in hierarchisch höheren Positionen mehr Wertschätzung erfahren als Auffassungen von Personen in marginalen Positionen, dass eine Regel, die aggressives Wettbewerbsverhalten vorsieht, im 180

Zweifel auch dazu führt, dass Manager mit fragwürdigen Taktiken wie dem Preisdumping operieren, dass in Unternehmen, die über eine reiche Ressourcenausstattung verfügen, mehr in Innovationen investiert wird als in Unternehmen, die hart ums finanzielle Überleben kämpfen usw. Letztlich liefert Ocasio mit dem Ansatz, Organisationen als Systeme verteilter Aufmerksamkeit zu betrachten, lediglich ein konzeptuelles Modell, das sich auf reichlich abstrakte Begriffe stützt (Ebenda, 204), nicht aber ein theoretisches System empirisch fundierter Aussagen. Ocasio weist zwar auf wichtige Bestimmungsgrößen hin, die das organisationale Geschehen beeinflussen, er geht aber nicht auf die Wirkprinzipien ein, die die von ihm betrachteten Strukturen und die Aufmerksamkeit von Entscheidern notwendig miteinander verbinden. Außerdem wird nicht recht klar, was die von Ocasio angeführten Strukturelemente im Vergleich zu anderen denkbaren Strukturmerkmalen besonders auszeichnet. Und undeutlich bleibt auch sein Aufmerksamkeitsbegriff. Für ihn umfasst Aufmerksamkeit nicht nur das Bemerken, sondern auch das Ver- oder Entschlüsseln und das Interpretieren, sowie die Zuweisung von Zeit und Handlungen, also die Frage, womit man sich beschäftigt, mit welchen Plänen, Routinen, Projekten, Programmen und Verfahren (Ebenda, 189). Ocasio geht es damit um weit mehr als um das Aufmerksam-Werden auf mögliche Probleme, nämlich um eine allgemeinere Form der Aufmerksamkeit, die sich auf alle entscheidungsrelevanten Aktivitäten richten kann (Ebenda, 195; vgl. hierzu auch March/Olson 1976, die ebenfalls mit einem sehr umfänglichen Aufmerksamkeitsbegriff operieren, wobei es diesen Autoren vor allem um die Beteiligung am Entscheidungsprozess geht). In gewisser Weise ist das nachvollziehbar, denn man kann ja argumentieren, dass ein Problem gelöst ist, wenn man auf eine Problemlösung aufmerksam geworden ist. Dagegen spricht aber, dass Problemlösen mehr verlangt als Aufmerksamkeitsarbeit, man muss sich unter anderem und zuvörderst darum bemühen, das Problem einigermaßen zu verstehen, man muss recherchieren, nachdenken, planen, Lösungsschritte festlegen, deren Vernetzung erkunden, klären, welche Mittel zur Problemlösung notwendig sind, deren Verfügbarkeit sicherstellen, Unterstützung einwerben, zeitliche Restriktionen beachten usw. Zwar ließe sich auch bezüglich all dieser Teilaspekte sagen, es ginge dabei immer um Aufmerksamkeit, also z.B. für die Verfügbarkeit der Mittel, die Zeit usw. Tatsächlich lässt sich in einem umfassenden Sinn Aufmerksamkeit für alles reklamieren, man könnte also z.B. auch von einer Aufmerksamkeit für bestimmte Theorien sprechen, für deren Implikationen, für 181

das mögliche Missverstehen der Theorien, für die Qualität der Theorien, für Regeln, für deren Auslegung, für Ausnahmen usw. Nur führt eine derartige Überladung des Aufmerksamkeitsbegriffs naturgemäß zu seiner völligen Entleerung. Da ist es besser, eher enger zu bleiben und den Aufmerksamkeitsbegriff für das Gewahrwerden von Problemen zu reservieren, während man z.B. Prozesse wie die Zuwendung zu einem Problem, die Abwendung von einem anderen eher unter dem Begriff der Absichtssteuerung und damit der Problemhandhabung und nicht der Aufmerksamkeit zuordnet.

Endogen bestimmte Unaufmerksamkeit William Starbuck stellt in seinen organisationstheoretischen Überlegungen die intrinsischen, d.h. der Natur von Organisationen immanenten, Charakteristika heraus. Dazu rechnet er insbesondere das Streben von Organisationen nach Berechenbarkeit und Verstetigung. Organisationales Handeln geschieht, so Starbuck, in zwei Modi: Der Problemlösungsmodus nimmt seinen Ausgang in der Identifikation von Problemen, für die dann in einem mehr oder weniger elaborierten Prozess Lösungen gesucht werden. Dieser Modus sei allerdings nur sehr selten anzutreffen. Viel häufiger agierten Organisationen im Handlungserzeugungsmodus. In diesem Modus dienen Probleme nicht als Handlungsursachen, sondern lediglich als Rechtfertigung für das Tätigwerden. Im Zuge ihrer Entwicklung bilden sich in Organisationen Handlungsdispositionen heraus, die deren Aktivitäten gewissermaßen ungefragt bestimmen. „Organisationen entwickeln Handlungsgeneratoren, d.h. automatisierte Verhaltensprogramme, die keine informationsträchtigen Stimuli benötigen, weil sie allein schon durch Stellenbeschreibungen, Uhren und Kalender aktiviert werden. Konsequenterweise handeln Organisationen meistens unreflektiert und schablonenhaft“ (Starbuck 1983, 93). Organisationen müssen das Verhalten ihrer Mitglieder aufeinander abstimmen. Eben dazu dienen Verhaltensprogramme, auf die man sich verlassen kann und die einen möglichst reibungslosen Ablauf gewährleisten. Aber Verhaltensprogramme lassen sich nicht einfach und auf einfache Anordnung hin implementieren und exekutieren. Sie bilden sich vielmehr in einem Prozess der ständigen Überarbeitung heraus, werden dabei reichhaltiger, verzahnen sich miteinander und lassen sich daher nicht mehr so ohne Weiteres wieder außer Kraft setzen. Auf 182

der mentalen Ebene gilt dies auch für das, was Starbuck „Probleme“ nennt. Probleme sind, so Starbuck, ideologische Moleküle, die sich aus Werthaltungen, Kausalüberzeugungen, Sprachregelungen und Wahrnehmungsmustern zusammenfügen, zu kristallinen Strukturen verbacken und sich nur schwer auflösen und verändern lassen (Ebenda, 95). Sie fungieren als in sich stimmige Deutungsmuster, die dazu dienen, dem organisationalen Geschehen und den eigenen Handlungen Sinn zu verleihen. Hinter den jeweiligen Verhaltensprogrammen (den Handlungsgeneratoren) stehen also jeweils Wahrnehmungs- und Begründungsmuster, auf die man bei Bedarf zurückgreifen kann, um das jeweilige Vorgehen zu legitimieren. Konkret muss man sich das so vorstellen, dass in Organisationen praktisch für alle Aufgabenbereiche (Kundenkontakte, Investitionen, Personalauswahl, Produktgestaltung, Preisfindung usw.) Verfahren und Vorgehensweisen existieren, die nicht ständig hinterfragt, sondern einfach ausgeführt werden. Es ist daher nicht diese Praxis, sondern die Abweichung davon, die Begründungsnotwendigkeiten erzeugt. Und wenn sich beabsichtigte und unbeabsichtigte Neuerungen nicht mit der gängigen Problemsicht vereinbaren lassen, dann wird es ihnen nicht gelingen, sich durchzusetzen. Letztlich verweisen Denk- und Handlungsebene wechselseitig aufeinander, sie verändern sich, wenn überhaupt, nur bruchstückhaft und gemeinsam. Sich auf Verhaltensänderungen einzulassen (Starbuck spricht von „Unlearning“), fällt selbst einzelnen Personen nicht leicht, Organisationen tun sich damit naturgemäß noch wesentlich schwerer. Ereignisse, die Veränderungen veranlassen können, müssen eindrücklicher sein als im individuellen Fall (Ebenda, 96 f.). Denn erstens führen die organisationalen Handlungsgeneratoren ein Eigenleben, gegen die der Einzelne wenig ausrichtet, sie begründen eine eigene Realität, die sich gegen äußere Einflussnahme abschottet und ein Reflektieren über ihre Existenzberechtigung behindert. Zweitens bedürfen Veränderungen einer expliziten Rechtfertigung, sie müssen sich gegen die Interessen der davon betroffenen Akteure durchsetzen und eine eigene Logik begründen können. Drittens sind Organisationen, um eine einigermaßen funktionierende Kommunikation und eine nachvollziehbare Dokumentation der Vorgänge zu gewährleisten, darauf angewiesen, mit vereinfachten Wahrnehmungs- und Denkkategorien zu arbeiten, die subtileren Überlegungen nur begrenzt Raum geben. Ein weiterer Punkt ergibt sich aus der Komplexität von Organisationen. Komplexität erzeugt Unsicherheit und um die Stabilität des Gebildes nicht zu gefährden, werden Experimente eher gemieden. Daneben führt die Ausdifferenzierung von 183

Organisationen dazu, dass sich die Teile voneinander abkoppeln, was leicht dazu führt, dass sich die Auffassungen der Führung von den Realitäten der Basis lösen. Ein weiterer interessanter Punkt ist, dass Personen auf den niedrigeren Hierarchieebenen oft komplexere (wenngleich nicht unbedingt logisch stringentere) Ideologien entwickeln als ihre Vorgesetzten, was die Verständigung zwischen den Hierarchieebenen nicht erleichtert. Und schließlich gehört es zum Wesen von Organisationen mit einer einheitlichen Ideologie, dass Dissens und Abweichung als Bedrohung angesehen und bestraft wird. Organisationen reduzieren also Aufmerksamkeit. Andererseits gibt es unter anderem und gerade in Unternehmen oft ein umfangreiches Berichtswesen, das darauf gerichtet ist, mögliche Abweichungen vom Erfolgspfad frühzeitig zu bemerken. Allerdings wird auch diese Aufgabe und deren Erledigung durch Verfahren und Programme (also Handlungsgeneratoren) gesteuert. Sie sorgen zwar dafür, dass Daten und Kennziffern dokumentiert, weitergereicht und diskutiert werden. Nicht diskutiert werden damit aber auch die damit verknüpften Vorstellungen und Kausalvermutungen, also die Grundlagen für die Interpretation der Daten. Und darauf, auf die ideologischen Moleküle, kommt es maßgeblich an, denn Zahlen als solche sagen nichts, sie lassen sich immer in der einen oder anderen Weise ausdeuten. Zusammengefasst lässt sich festhalten: Organisationen entwickeln nicht so sehr Problemlösungskompetenzen als vielmehr Handlungsbereitschaften. Die in den organisationalen Regelungen, Verfahren und Vorgehensweisen verankerten Handlungsgeneratoren und das damit verbundene Problemverständnis sorgen dafür, dass sich die Aufmerksamkeit auf vermeintlich bewährte Handlungsabläufe richtet. Was außerhalb des etablierten Denkrahmens liegt, wird dagegen wenig beachtet, und wenn doch, dann soweit wie möglich wegerklärt.

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Strukturwirkungen Organisation Timo Vuori und Quy Hay (2016) haben eine umfangreiche „retroaktive Feldstudie“ über den Niedergang des Mobiltelefongeschäfts der Firma Nokia vorgelegt. Um zu den notwendigen Informationen zu gelangen, führten sie (nach der Aufarbeitung schriftlich vorhandener Quellen) Interviews mit zahlreichen der beteiligten Personen. Ziel der Interviews war die Rekonstruktion der Ereignisse, die zu der Misserfolgsgeschichte von Nokia beigetragen haben. Nokia war über ein Jahrzehnt lang Weltmarktführer, verlor dann aber immer größere Marktanteile und verkaufte schließlich im Jahr 2014 seine Mobiltelefonsparte an Microsoft. Viury und Huy machen für diese Entwicklung ein verfehltes Managementhandeln verantwortlich, das sie wiederum primär auf strukturelle Ursachen zurückführen. Der Einführung des iPhone durch die Firma Apple und den damit ausgelösten Entwicklungen im Mobilfunkgeräte-Markt hatte Nokia nichts entgegenzusetzen. Die großen Vorteile, die Nokia in der Funktechnik aufwies, verloren im Lauf der Zeit ihre Bedeutung. Als zunehmend wichtiger erwies sich die Software, die auf den Geräten installiert werden konnte. Das im iPhone verwendete Betriebssystem iOS gründete auf der bewährten Software der Apple-Computer, das von Nokia entwickelte Symbian-System, das auf die Nokia-Mobilfunkgeräte zugeschnitten war, konnte, was Modularität, Ausbau- und Anschlussfähigkeit anging, nicht mithalten. Die Produktentwicklung bei Nokia geriet ins Hintertreffen, die Termine für Neuerungen konnten nicht eingehalten werden, die langfristig anvisierten Lösungen wiesen viele Kompromisse auf. Zwar erzielte man mit dem N95 nochmals gute Verkaufserfolge, die Nachfolgegeräte waren allerdings wenig erfolgreich. Das N8, das im Jahr 2010 mit Verspätung eingeführt wurde, mit einem Touch-Screen ausgestattet war und prinzipiell die Funktionalität der Konkurrenzprodukte erreichen sollte, enttäuschte. Die SymbianSoftware geriet an ihre Grenzen und erwies sich als nicht verbesserungsfähig.

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Nach der Analyse von Vuory und Huy gründete der Misserfolg von Nokia nur bedingt auf kognitiver Trägheit und unzureichender Kommunikation, also auf Faktoren, die sonst häufig als Ursachen für Fehlanpassungen in turbulenten Märkten gelten können. Nokia zeichnete sich im Gegenteil durch eine intensive Marktbeobachtung und eine dichte interne Kommunikation und intensive Interaktionen aus. Große Bedeutung schreiben die Autoren dagegen der unstimmigen Aufmerksamkeitsstruktur zu, die sich bei Nokia etabliert hatte. Das Top-Management von Nokia richtete seinen Blick primär auf die Anforderungen, die vom Marktgeschehen sowie vom Aufsichtsrat ausgingen. Das zentrale Objekt der Aufmerksamkeit des mittleren Managements waren dagegen die Anforderungen, die vom Top-Management diktiert wurden. Beide Aufmerksamkeitsobjekte, also sowohl das externe Geschehen als auch das Verhalten des Top-Managements waren Quellen der Beunruhigung. Das Top-Management stand angesichts der Marktdynamik und der Renditeanforderungen unter hohem Erfolgsdruck und gab diesen ungefiltert weiter. Dennoch richtete sich die Besorgnis des mittleren Managements nicht auf eine eventuelle Gefährdung des wirtschaftlichen Erfolgs. Nokia galt als eine der arrogantesten Firmen überhaupt, das eigene Können unterlag keinem Zweifel, der iPhone-Hype wurde als irrational und völlig unangemessen eingeschätzt. Außerdem bewies der große Erfolg die Richtigkeit des eigenen Kurses und bestätigte die sich selbst zugeschriebene Fähigkeit, mit allen Problemen fertig zu werden. Dieser geschönte Blick der Ingenieure und des mittleren Managements auf sich selbst wurde paradoxerweise noch unterstützt durch das TopManagement, das in offiziellen Verlautbarungen die Herausforderungen, die von den Marktakteuren Apple und Google ausgingen, herunterspielten. Das mittlere Management interessierte sich nicht für das Marktgeschehen. Gelegentlich dann doch erfolgende Wortmeldungen dazu wurden durch das Top-Management als Einmischung zurückgewiesen. Das Verhalten des Top-Managements gegenüber dem mittleren Management war nachgerade feindselig und löste massive Ängste aus. Die Kommunikation war extrem aggressiv und vor allem darauf bedacht, die eigenen Ansprüche durchzusetzen. Wer seine Leistungsziele nicht erreichte, musste mit starker Missbilligung, mit Bestrafung und mit dem Verlust des sozialen Status rechnen. Bei den Projektbesprechungen hielt man sich daher als nachgeordneter Manager mit der Schilderung von Problemen, mit denen man zu kämpfen hatte, besser zurück. Außerdem wurde jede Kritik an den Vorhaben und dem Vorgehen der Kollegen strikt vermieden, weil, wie die Erfahrungen zeigten, 186

eine sachliche Auseinandersetzung, zumal im Beisein von Mitgliedern des TopManagements, nicht möglich war. Falls jemand an der Machbarkeit von Projekten zweifelte, fand sich zwecks Profilierung immer ein anderer, der für sich in Anspruch nahm, das Problem lösen zu können. Die Kollegialität hatte entsprechend enge Grenzen, man ließ sich zwar machen, letztlich zählte aber immer das Eigeninteresse und das individuelle Karrierestreben. Aufmerksamkeit des Top‐Managements: Extern

Aufmerksamkeit des mittleren Managements: Intern

Misserfolgs‐ ängste

Dysfunktionale Interaktion

Konflikt‐ ängste

Unrealistischer Leistungsdruck

Falsche Erwartungen Kurzfristhandeln Fähigkeitsdefizite

Unrealistische Leistungsversprechen

Abb. 5.1: Aufmerksamkeitsstrukturen, Angst und Interaktion (vereinfachte und in Details abweichende Darstellung nach Vuory und Huy 2016, 38) Schädlich war die negative emotionale Aufladung nicht zuletzt für die Qualität der Interaktionen. Das Top-Management forcierte seine Ansprüche, das mittlere Management scheute sich, den unrealistischen Ansprüchen ihrer Chefs entgegenzutreten und Probleme offen anzusprechen. Um dem Unmut des Top-Managements auszuweichen, arbeiteten die mittleren Manager am schönen Schein und gaben an, mit ihren Projekten gut voranzukommen, mit dem Ergebnis, dass sich das Top-Management in seinen Ambitionen bestätigt sah. Nicht alle Manager beteiligten sich allerdings an diesem Spiel. Insbesondere Personen mit längerer Betriebszugehörigkeit fürchteten weniger um ihre Stellung und hatten daher weniger Hemmung, ihre Zweifel zu äußern. Weil das Top-Management aber – nicht zuletzt wegen seiner eigenen Ängste – nur an guten Nachrichten interessiert war, ignorierte es die Bedenkenträger und erbaute sich lieber an den Aussagen der jungen aufstrebenden Personen, die eine „Können und machen wir“ Attitüde zur 187

Schau stellten. Trotz oder gerade wegen des hohen Zeitdrucks und des Wunsches, rasch Lösungen präsentieren zu können, kam es zu zahlreichen Kompromissen, was die Leistungsfähigkeit und das Design der Software anging. Als man sich schließlich eingestehen musste, dass man den falschen Weg gegangen war, war es zu spät, umzukehren. In Abbildung 5.1 findet sich eine schematische Darstellung der im beschriebenen Fall wirksamen Verhaltensmechanismen Die Autoren legen Wert darauf, die Ängste der Manager nicht auf individuelle Dispositionen zurückzuführen, sie sprechen explizit von strukturell verankerten Ängsten. Dabei muss die Rollenaufteilung, auf die die Autoren anspielen, wonach sich das Top Management primär um das Marktgeschehen, das mittlere Management sich dagegen primär um die technische Entwicklung kümmerte, nicht prinzipiell nachteilig sein. Beide Perspektiven können sich auch ergänzen, sofern es gelingt, zwischen den Beteiligten einen fruchtbaren Dialog zu organisieren. Das setzt allerdings auch ein entsprechendes Rollenverständnis, ein auf Gleichrangigkeit gründendes Interaktionsverhalten und eine aufrichtige Kooperationsbereitschaft der Manager voraus. Dass es damit bei Nokia nicht zum Besten bestellt war, erklärt sich wohl nicht zuletzt auch aus der Geschichte des Unternehmens, daraus, dass das Unternehmen mit seinem aggressiven Gebaren viele Jahre lang sehr erfolgreich war und dass man bei Nokia nur Karriere machen konnte, wenn man es verstand, den dort gebräuchlichen aggressiven Habitus zur Schau zu stellen. Die mangelhafte Aufmerksamkeit für grundlegende Veränderungsprozesse im Smartphone-Bereich entstand also nicht nur aus Mängeln in der Organisationsstruktur, sondern hatte auch etwas mit Machtfragen, mit persönlichen Dispositionen und mit der Organisationskultur zu tun.

Kultur Claus Rerup (2009) illustriert an einem Beispiel die Bedeutung kultureller Elemente für die Aufmerksamkeit von Organisationen. Es geht ihm in seiner Studie insbesondere um „schwache Signale“, die leicht übersehen oder falsch interpretiert werden, sich aber im Nachhinein als Anzeichen für heraufziehende Krisen entpuppen. Gründe für die Missachtung schwacher Signale liegen, wie der Name schon sagt, in ihrer mangelnden Aufdringlichkeit, aber auch darin begründet, dass man sie nicht einzuordnen weiß, und darin, dass manche Personen die Signale 188

zwar durchaus wahrnehmen, ihre Beobachtung aber nicht weitergeben oder mit ihrer Einschätzung nicht durchdringen, weil es ihnen hierzu an Ressourcen, Macht und Motivation fehlt. Das lässt sich nur ändern, wenn, so Rerup, in einem Unternehmen leistungsfähige Aufmerksamkeitsstrukturen verankert werden. Rerup schlüsselt die organisationale Aufmerksamkeit nach drei Dimensionen auf. Alle drei Dimensionen sind gleich wichtig, fällt eine der Dimensionen aus, dann kann dies nicht dadurch ausgeglichen werden, dass man die beiden anderen Dimensionen besonders stark macht. Die erste Dimension ist die der Stabilität. Damit bezeichnet Rerup eine gewisse Nachhaltigkeit in der Aufmerksamkeit, die Konzentration auf eine Sache, dass man sich nicht ablenken und zerstreuen lässt. Als zweite Dimension führt Rerup die Lebendigkeit („Vividness“) der Aufmerksamkeit an. Gemeint ist damit die Komplexität der Wahrnehmung, dass man in seinen Wahrnehmungen auf fließende, sich ausdifferenzierende und weiterentwickelnde Kategorien zurückgreift, auf Kategorien, die geeignet sind, Ereignisse sachgerecht zu bemerken und zu klassifizieren. Es geht um die Vermeidung von Eindimensionalität, um eine breite und reichhaltige Wahrnehmung, um die Beachtung von Problemfacetten und Problemnachbarschaften, um das Zulassen konkurrierender Interpretationen. Die dritte Dimension ist die Kohärenz der Aufmerksamkeit. Sie ist Ausdruck der Fähigkeit, Stabilität und Lebendigkeit zu koordinieren, individuelle Wahrnehmungen in kollektiven Besitz zu überführen. Kohärenz dient der Sicherung von Ähnlichkeit und Kompatibilität der Wahrnehmungen der verschiedenen Personen, die Vermittlung von Bedeutung über Abteilungen und Hierarchieebenen hinweg. Da die drei Dimensionen sich unabhängig voneinander ausprägen und sich zum Teil in ihrer Ausrichtung sogar widersprechen, kommt es darauf an, sie miteinander in Einklang zu bringen. Rerup spricht davon, die drei Aspekte oder Dimensionen der Aufmerksamkeit zu „triangulieren“, d.h. sie so zu kombinieren, dass es gelingen kann, die sich andeutenden Probleme mit größerer Klarheit und Tiefe zu verstehen. Die Triangulation geschieht nicht von selbst. Damit sie gelingt, braucht es, neben leistungsfähigen Strukturen und Prozessen, permanente, intelligente und kraftvolle Anstrengungen. Zur Veranschaulichung seiner Überlegungen schildert Rerup, wie das dänische Pharmaunternehmen Novo Nordisk im Jahr 1993 in eine schwere Krise geriet. Zur Rekonstruktion der Ereignisse führte der Autor 28 Interviews, analysierte 4.200 Seiten an Dokumenten und nahm an einem 2-tägigen Seminar teil, in dem das Geschehen unternehmensintern diskutiert wurde. Worum ging es in dieser 189

Krise? Novo Nordisk war ein führendes Unternehmen in der Insulin-Produktion und bediente in großem Umfang den u.s.-amerikanischen Markt. Die Importe in die USA wurden zunehmend strenger reglementiert. Die Food and Drug Administration (FDA) hatte hierzu strikte Vorschriften erarbeitet, die sie mit zunehmender Konsequenz zur Anwendung brachte. Bei Novo Nordisk wurde diese Entwicklung lange Zeit nicht ernst genommen. Man konnte (zurecht) auf die einwandfreie Qualität des im Unternehmen produzierten Insulins stolz sein und glaubte daher, die Signale aus den USA ignorieren zu können. In einer Untersuchung mit externen Gutachtern, die im Jahr 1993 wenige Monate vor der offiziellen Überprüfung durch die FDA durchgeführt wurde, stellte sich heraus, dass die Art und Weise, in der das Insulin bei Novo Nordisk hergestellt wurde, in weiten Teilen nicht den Vorschriften der FDA entsprach. Es wurden mehr als 100 Verstöße festgestellt, Probleme gab es vor allem in der Dokumentation des Herstellungsprozesses. Damit drohte der Entzug der Zulassung. Um sich anpassen zu können, wurde die Produktion des Insulins für die USA für sechs Monate gestoppt. Nicht entziehen konnte sich Novo Nordisk der Verpflichtung, die fälligen Insulinlieferungen zu gewährleisten und man musste den Konkurrenten Eli Lilly bitten, dafür einzuspringen. Nach der Umstellung der Produktion erfolgte die Zulassung für den US-Markt im Jahr 1994. Die unmittelbar anfallenden Kosten der Krise betrugen nach Schätzungen ca. 100 Millionen US-Dollar. Warum wurde das Zulassungsproblem, obwohl es sich schon längere Zeit angekündigt hatte, nicht erkannt? Aus den Schilderungen von Rerup ergeben sich vor allem zwei Erklärungslinien. Die erste stellt darauf ab, dass das Unternehmen und insbesondere die Unternehmensführung zur damaligen Zeit mit anderen – drängenden – Problemen beschäftigt war; die zweite hebt auf unternehmenskulturelle Ursachen ab. Die Aufmerksamkeit des Managements war sehr stark durch die Folgewirkungen der Fusion der beiden Firmen Novo und Nordisk aus dem Jahr 1989 gebunden. Wirtschaftlich war die Fusion äußerst attraktiv. Wie häufig bei Fusionen ergaben sich allerdings erhebliche interne Probleme aus der Veränderung der Aufgabenzuschnitte, der Neuverteilung von Verantwortung, der Justierung der Abläufe und der Tatsache, dass man es plötzlich mit Kollegen zu tun hatte, die noch vor Kurzem einer „feindlichen“ Firma angehört hatten. Außerdem wollten die Unternehmenskulturen der beiden Firmen nicht recht zusammenpassen. Während sich bei Nordisk ein formaler und analytischer, zentralistischer und konfliktaffiner Managementstil etabliert hatte, setzte man bei Novo 190

auf Dezentralisierung, Verständigung, Harmonie und Partizipation. Jenseits der sich daraus ergebenden Probleme war man in der neuen Firma stark davon beansprucht, eine neue Marketing-Organisation aufzubauen, die für das vertriebsorientierte Unternehmen von erheblicher strategischer Bedeutung war. Jedenfalls blieb für die Beschäftigung mit den FDA-Regelungen wenig Aufmerksamkeitskapazität. Das stimmt aber nicht ganz, sondern trifft im Wesentlichen nur für die obere und mittlere Managementebene zu. Für diese erlangte das FDA-Thema weder Stabilität noch Lebendigkeit, es blieb gewissermaßen „unterhalb ihres Radars“. Auf der Betriebs- und auf der Produktionsebene war das Thema durchaus präsent. Die dort angesiedelten Personen drangen mit ihren Bedenken aber nicht durch. Das wiederum hatte mit der arroganten Unternehmenskultur zu tun, die sich bei Novo Nordisk eingenistet hatte. „‚Wir waren Weltmeister‘ war die häufigste Aussage, die von unseren Informanten gemacht wurde, wenn es darum ging, zu beschreiben, warum der Firmenerfolg eine Kultur des übersteigerten Selbstbewusstseins und der Unverwundbarkeit hervorgebracht hatte. Diese Kultur motivierte niemanden, Bedenken nachzugehen und sich der Entwicklung von Problemen wiederholt zuzuwenden. Die Manager brachten nicht die Disziplin auf, sich einer detaillierten und umfänglichen Untersuchung von Warnsignalen zu widmen, auf die sie von ihren Mitarbeitern hingewiesen wurden. Das übersteigerte Selbstbewusstsein beeinträchtigte die Qualität von Stabilität, Lebendigkeit und Kohärenz der kollektiven Aufmerksamkeit bei Novo Nordisk“ (Rerup 2009, 882). In der Folge versuchte Nova Nordisk durch eine Reihe von Maßnahmen die Zusammenarbeit und die Weitergabe von Informationen zu verbessern. Dabei setzte man unter anderem auf die Einführung von Leitlinien, die durch verschiedene Maßnahmen unterfüttert werden sollten. Als handlungsleitend wurden Werte wie Verantwortung, Leistungswillen, Ehrlichkeit, Veränderungsbereitschaft usw. propagiert. Derartige Formulierungen blieben naturgemäß abstrakt, etwas konkreter, aber ebenfalls einigermaßen unbestimmt waren die Maßnahmen, die sie ausfüllen sollten: Die Unternehmenseinheiten sollen sich über ihre Praktiken austauschen, es sollen Pläne zur Verbesserung des Arbeitsklimas entworfen werden, es sind Leistungsziele zu definieren, ihre Erreichung soll überprüft werden, Berichte sind weiterzuleiten und zu lesen usw. Dass sich bezüglich dieser Punkte Verbesserungen immer lohnen, ist kaum zu bestreiten. Als Beispiel sei die früher übliche Praxis bei Novo Novartis angeführt, 191

Berichte auf dem Weg nach oben immer mehr zu verknappen, so dass wichtige Punkte oft nur noch als Spiegelstrich unter vielen anderen Spiegelstrichen angesprochen wurden, wodurch naturgemäß die „Lebendigkeit“ der Aufmerksamkeit litt. Als weiteres Beispiel führt Rerup die Etablierung der Rolle des skeptischen Widersachers (die Rolle des devil’s advocate) an, dessen Inhaber die Aufgabe hat, die Schwächen eines Vorschlags, einer Entscheidung oder einer Praxis schonungslos aufzudecken. Rerup merkt aber gleichzeitig an, dass das nur dann eine sinnvolle Maßnahme ist, wenn sie vom Management über Lippenbekenntnisse hinaus auch wirklich angenommen und anerkannt wird. Prinzipien, Regeln, Vorschriften, Zuständigkeiten, Prozeduren usw. müssen gelebt und ausgefüllt werden, ohne kulturelles Fundament bleiben sie bloße Verhaltenshülsen. Das zentrale Defizit im Novo Novartis Fall war die fehlende Kohärenz in der Aufmerksamkeit. Es geht bei der Kohärenz um die wirkungsvolle Verzahnung aller Einheiten und Ebenen einer Organisation und das im Hinblick auf alle Themen und Signale, die irgendeinmal Bedeutung erlangen können. Um die damit verknüpften Aufgaben auch nur annähernd erfüllen zu können, bedarf es, wie Rerup anmerkt, hoher Disziplin und Achtsamkeit. Aber auch in den beiden anderen Aufmerksamkeitsdimensionen, der Stabilität und der Lebendigkeit, steckt ein äußerst hoher Anspruch. Hartnäckig an einem Thema zu bleiben, ihm also stabile Aufmerksamkeit zu schenken und zwar auch dann, wenn das Thema anderen kaum beachtenswert erscheint und wenn es einen selbst gar nicht betrifft, setzt ein hohes Maß an Idealismus voraus. Und dass es einem, wie es das Postulat der Kohärenz verlangt, gelingen soll, anderen Organisationsmitgliedern ein umfassendes Verständnis von einer vielleicht sehr speziellen, vertrackten und schwer zu verstehenden Problemsituation zu verschaffen, ist nicht minder anspruchsvoll und nicht selten einfach unrealistisch. Im Kern trifft diese Kritik auch das Konstrukt des „schwachen Signals“. Zweifellos wäre es wünschenswert, solche Signale rechtzeitig und richtig zu erkennen. Das konkrete Geschehen präsentiert sich allerdings oft vieldeutig und unbestimmt. Das ist ja die Schwäche der schwachen Signale: Man kann sie nicht nur übersehen, sondern auch völlig verkennen. Welche Erkenntnisse liefert die Studie von Rerup? Inhaltlich ist vor allem die Ausdifferenzierung des Aufmerksamkeitskonstrukts hervorzuheben. Sie ist gut nachvollziehbar und sie liefert vielversprechende Ansatzpunkte, um Aufmerksamkeitsdefizite in Organisationen besser zu verstehen. Die theoretische Seite wird aber leider nicht näher ausgeleuchtet. Im Wesentlichen geht es in dem Beitrag 192

von Rerup um die Veranschaulichung der von ihm erörterten Konstrukte. Aus methodischer Sicht stellen sich die üblichen Probleme, die sich mit Fallschilderungen verknüpfen. Bei dem Versuch, die vielschichtigen Vorgänge in eine gewisse Ordnung zu bringen, kommt es fast zwangsläufig zu einer gewissen Stilisierung. So kommen in der Studie kontroverse Auffassungen kaum zu Wort. Es entsteht vielmehr der Eindruck, als sei das Problem der Unaufmerksamkeit ausschließlich im höheren Management zu verorten. Möglicherweise sieht man das dort aber anders. Und vielleicht kann man die Verantwortlichkeit für die Entwicklung von Produktionsstandards nicht allein der obersten Führungsebene zuschieben, denn warum sollte die Verbesserung der Produktionsabläufe nicht auch eine Aufgabe der Betriebsleitung sein?

Macht Macht kann blind machen. Weil sich die Mächtigen für unverwundbar halten, lässt ihre Aufmerksamkeit nach. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass sie erreichen, was sie wollen, dass sie Hindernisse überwinden und sich durchsetzen können. Warum sollten sie sich übermäßig Sorgen machen und ständig auf der Hut sein? Die Geschichte ist voller Beispiele für die Überheblichkeit von Herrschern, die nicht bemerken, wie sich ihre engsten Verbündeten abwenden, von autoritären Regimen, die kein Sensorium für gesellschaftliche Entwicklungen haben und daher nicht wahrhaben wollen, dass sie sich überlebt haben, von geistigen Führern, deren Botschaft löchrig geworden ist und denen man immer weniger glaubt usw. Mächtige Personen erfahren manches auch deswegen nicht, weil man sie fürchtet und so auch ihren Zorn, der sich ein Opfer sucht, wenn man ihnen schlechte Nachrichten überbringt. Aber Macht ist nicht nur ignorant, es gibt auch die eisige Wachsamkeit der Macht, ihr misstrauisches Spähen, die tausend Augen der Mächtigen, die in jeden Winkel schauen. Auch davon weiß die Menschheitsgeschichte viel zu berichten. Eine eindeutige Beziehung zwischen Macht und Aufmerksamkeit gibt es jedenfalls nicht. Was man aber sagen kann, ist, dass es sehr darauf ankommt, worauf die Mächtigen ihren Blick richten, ob sie etwas kaum beachten oder ob sie sich ganz persönlich einer Sache widmen. Jerel Rosati (1981) zeigt dies am Beispiel der vorbereitenden Beratungen der USRegierung zu den SALT-Verhandlungen in den 1960er-Jahren. Die amerikanischen 193

Präsidenten haben zweifellos eine herausgehobene Position in ihrer Regierung, sie können deswegen ihrem Willen nicht freien Lauf lassen und ihn qua Machtwort einfach durchsetzen. Regierungshandeln ist nämlich in hohem Maße bürokratisches Handeln, das selbstherrliches und willkürliches Verhalten stark eingrenzt (Allison/Halperin 1972). In der Regierung wirken neben dem Präsidenten etliche weitere einflussreiche Personen mit, u.a. der Stabschef, der Außenminister, die Minister für Finanzen und Verteidigung und, zumal bei außenpolitischen Fragen, der Sicherheitsberater und der Direktor der CIA. Und falls es gegen deren Widerstand dann doch zu autoritativ angeordneten Weisungen kommt, müssen diese erst noch umgesetzt werden. Und spätestens hier geht kein Weg an der Bürokratie vorbei, die in Gefilden operiert, die häufig außerhalb des Einflussbereichs des Präsidenten liegen. Dessen ungeachtet hat der Präsident ein deutliches Machtübergewicht gegenüber den anderen Entscheidungsträgern und seine Möglichkeiten, einen Entscheidungsprozess zu prägen, sind beachtlich. Eben dies zu zeigen, ist das Anliegen des Beitrags von Rosati. Bei den SALT-Gesprächen (den „Strategic Arms Limitation Talks“) zwischen den USA und der Sowjetunion ging es um die Begrenzung des Baus und der Installation von Langstreckenraketen. Es kam zu einem Abschluss im Jahr 1972 (SALT I). Das SALT II Abkommen von 1979 erweiterte die Vereinbarungen und bezog vor allem auch die Mittelstreckenraketen ein. Das Abkommen wurde zwar von keiner Seite ratifiziert, die Vertragspartner hielten sich aber dennoch an die Abmachungen. Bei den von Rosati betrachteten Beratungen handelt es sich um die den SALT I Beschlüssen vorausgehenden internen Beratungen der USRegierung während der Amtszeiten von Johnson und Nixon. Die beiden Präsidenten unterschieden sich nicht in ihrem Interesse an einer Vereinbarung mit der Sowjetunion, ihr Verhalten unterschied sich aber sehr. Während Nixon das Vorgehen bei der Ausarbeitung der amerikanischen Verhandlungsposition genau verfolgte, hielt sich Johnson aus diesem Prozess fast gänzlich heraus. Es entsprach seinem Stil, auf fertig erarbeitete, eindeutige Lösungen zu warten, um diesen dann zuzustimmen oder sie abzulehnen. Die Verhandlungsposition wurde unter der Leitung von Morton Halperin von einer ad hoc Gruppe erarbeitet, die auf einer mittleren Verwaltungsebene angesiedelt war. Sie hatte die Aufgabe, eine Lösung zu finden, die den Konsens aller Beteiligten fand. Sie führte Gespräche mit Vertretern aus dem Verteidigungsministerium, dem Außenministerium, der Agentur für Waffenkontrolle und Abrüstung und dem CIA. Innerhalb des Verteidigungsministeriums hatte es 194

die Gruppe mit den Joint Chiefs of Staff (JCS) zu tun und mit den Generälen der Teilstreitkräfte. Es waren die Vorstellungen des Pentagon, die sich durchsetzten und zwar aus dem einfachen Grund, weil dieses mit ihrem Interesse an der Beibehaltung des Status Quo das geringste Entgegenkommen zeigte und weil es, wie gesagt, darum ging, eine Konsenslösung zu finden. Die Hauptbeschäftigung der Planungsgruppe war denn auch weniger konzeptioneller als vermittelnder Art, d.h. es ging nicht so sehr um die Schwierigkeiten und Möglichkeiten, die in den anstehenden Verhandlungen mit der Sowjetunion steckten, als vielmehr um die Ausarbeitung einer Lösung, die möglichst keine internen Konflikte heraufbeschwor. „Die Überlegungen richteten sich nicht darauf, was mit Moskau verhandelbar war, sondern darauf, worüber man innerhalb des Pentagon verhandeln konnte“ (Newhouse 1973, 125, zitiert nach Rosati 1981, 242). Nixon hatte einen anderen Entscheidungsstil. Er wollte keine von der Bürokratie ausgearbeiteten entscheidungsreifen Vorlagen, sondern verlangte die Erarbeitung von optionalen Handlungsplänen, die im Gebrauchsfall flexibel eingesetzt werden konnten. Wichtige außenpolitische Entscheidungen sollten im Weißen Haus vorbereitet und besprochen werden. Zu diesem Zweck wurde der Nationale Sicherheitsrat verjüngt und der Leitung von Henry Kissinger anvertraut. Die Ausarbeitung der SALT-Strategie erfolgte mit Hilfe von Memoranden, die sich auf eine gründliche Analyse der sich in den bevorstehenden Verhandlungen stellenden Fragen stützte und verschiedene Handlungsoptionen erörterte. Der Präsident nahm dazu Stellung und gab diesbezügliche Anweisungen. Die Ausführung der auf diesen Analysen basierenden Anweisungen wurde vom Nationalen Sicherheitsrat koordiniert und überwacht. Diese Praxis konnte sich nicht zuletzt deswegen etablieren, weil ein Projekt, das gemäß dem vorher üblichen Vorgehen durchgeführt wurde, ein wenig rühmliches Resultat hervorbrachte, wodurch sich auch das Vorgehen selbst als veränderungswürdig hinstellen ließ. Es ging in diesem Projekt um die Erstellung eines Berichts, der alle wichtigen Facetten einer Rüstungsbegrenzung beleuchten sollte. Dieser Bericht wurde den Informationsbedürfnissen des neuen Präsidenten in keiner Weise gerecht. Außerdem enthielt der Bericht fragwürdige Einschätzungen zur Leistungsfähigkeit der sowjetischen Raketensysteme. Die anschließend unter der neuen Projektstruktur erarbeitete Richtigstellung war dagegen sehr überzeugend und führte dazu, dass innerhalb dieser neuen Struktur weitere Analysen der SALT-Problematik durch wechselnde Arbeitsgruppen unter der Aufsicht des 195

Nationalen Sicherheitsrats durchgeführt wurden. Im Zuge dieser Arbeit wurden neun Optionen erarbeitet, die anschließend zunächst auf vier, dann auf zwei Optionen verkürzt wurden. Da das Weiße Haus mit keiner dieser Optionen zufrieden war, wurde schließlich unter Umgehung der Bürokratie eine weitere Option als endgültige Verhandlungsposition entwickelt. Während des gesamten Prozesses erfolgte eine enge Abstimmung Kissingers mit Nixon. Wir haben es also im vorliegenden Fall mit zwei verschiedenen Vorgehensweisen, eingebettet in zwei verschiedene Entscheidungsstrukturen zu tun. „Der Stil des Präsidenten – das Niveau seiner Aufmerksamkeit und Einbindung – ist die bedeutsamste Bestimmungsgröße der Entscheidungsstruktur. Ein zweiter Faktor von geringerer Bedeutung ist das Niveau der Einbindung einzelner Personen und der Organisation“ (Rosati 1981, 246 f.). Findet der Entscheidungsfindungsprozess eine hohe Aufmerksamkeit durch den Präsidenten, dann wird er, so die Aussage, unabhängig davon, wie die Bürokratie eingebunden wird, den Entscheidungsprozess dominieren. Widmet der Präsident dem Prozess dagegen nur eine geringe Aufmerksamkeit, dann ergibt sich dagegen eine bürokratische Dominanz. Es sei denn, die Bürokratie hält sich, was Aufmerksamkeit und Einbindung angeht, selbst ebenfalls zurück. In diesem, dem häufigsten Fall in der Abwicklung der alltäglichen Geschäfte, spricht Rosati von „lokaler Dominanz“, in der wenige Personen aus nur einer oder zwei Organisationen in wechselnden Konstellationen zusammenwirken. Welche Entscheidungsstruktur sich jeweils etabliert, hängt aber nicht allein von den persönlichen Präferenzen des Präsidenten ab. Eine Regierung ist mit hunderten von Themen gleichzeitig beschäftigt, was fast zwangsläufig dazu führt, dass unabhängig davon, welcher Präsident gerade amtiert, immer auch unterschiedliche Entscheidungsstrukturen zum Zug kommen. Rosati legt außerdem Wert auf die Feststellung, dass es nicht die Entscheidungsstruktur allein ist, die darüber bestimmt, wie ein Entscheidungsprozess tatsächlich abläuft. So waren die SALTBeratungen unter Nixon von Analyse und Rationalität geprägt. Bei der Entscheidung zur Ausweitung des Vietnam-Kriegs, die von Johnson völlig dominiert wurde, gab es dagegen kaum systematische Analysen und es wurde über Alternativen und unterschiedliche Szenarien sehr wenig nachgedacht. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Machtstruktur von einiger Bedeutung dafür ist, welches Thema in einer Organisation Aufmerksamkeit findet, denn es ist der Mächtige, der darüber bestimmt, welcher Frage man sich wie widmet. Die angeführten 196

Fälle können als Beispiele dafür gelten, wie Strukturen (die Machtverteilung) Einfluss auf die Aktivitäten der Akteure (deren Aufmerksamkeit) nehmen und wie sich hieraus wiederum strukturelle Wirkungen (in Bezug auf das Vorgehen im Entscheidungsprozess) ergeben. Bei der Beurteilung der Darlegungen von Rosati ist zu beachten, dass er zu dem beschriebenen Fall keine Primärstudie vorlegt, sondern sich, notwendigerweise selektiv, auf andere Quellen stützt, die sich mit den SALT-Gesprächen intensiver beschäftigt haben. Letztlich geht es ihm auch nicht um sämtliche Details, über die hierbei zu berichten wäre, sondern um ein theoretisches Anliegen. Er wollte zeigen, dass Regierungshandeln nicht nur bürokratisches Handeln ist, wie das in den Politikwissenschaften oft betont wird. Danach ist auch eine herausgehobene Person wie der Präsident der Vereinigten Staaten in ein Regelwerk eingebunden, das ihn in seinem Handeln stark begrenzt und dass er stark darauf angewiesen ist, Zustimmung bei anderen wichtigen Akteuren zu finden. Dagegen wollte Rosati zeigen, dass der Stimme des Präsidenten durchaus erhebliches Gewicht zukommt und dass sein Verhaltensstil das Entscheidungsgeschehen maßgeblich prägen kann.

Personen Letztlich sind es immer Personen, die etwas bemerken oder übersehen. Und im kollektiven Fall sind es ebenfalls Personen und nicht so sehr Systeme, die einander auf etwas aufmerksam machen oder von einer Sache lieber nichts wissen wollen. Welche Personen sich in einem Entscheidungsfeld oder in einer Entscheidungsgruppe aufhalten, ist also alles andere als unbedeutend. Dieser Gedanke bildet die Grundlage der Studie von Theresa Cho und Donald Hambrick (2006). Sie beschäftigt sich mit der Frage, ob tiefgreifende Veränderungen im Unternehmensumfeld mit einer Veränderung der Zusammensetzung des Führungsteams einhergehen und ob sich damit die Wahrnehmung und das Handeln dieser Teams verändern. Konkret betrachten sie die Deregulierungsgesetzgebung der USA aus dem Jahr 1978 und die damit in Gang gesetzten Veränderungen in den Luftfahrtunternehmen. Diesen Unternehmen bescherte die Deregulierung viele neue Freiheiten, aber auch neue, ungewohnte Herausforderungen. Gefordert war vor allem eine stärkere Außenorientierung. Während die Hauptaufgabe des Managements 197

vordem darin bestand, die Leistungen und die Geschäftsabläufe zu optimieren, ging es nun darum, die Flugrouten neu auszuhandeln, Markttests durchzuführen, die Kundenbedürfnisse genauer zu erkunden und die Konkurrenz abzuwehren. Cho und Hambrick sprechen in Anlehnung an Miles und Snow (1978) von der Veränderung weg von einer technischen („engineering“) hin zu einer unternehmerischen („entrepreneurial“) Ausrichtung. Die erkenntnisleitende Frage ihrer Studie lautet, ob es aufgrund der Deregulierung tatsächlich zu einer Verschiebung der Aufmerksamkeit kommt, dass nun weniger die internen Prozesse als vielmehr das Marktgeschehen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerät. Genauer geht es den Autoren darum, zu zeigen, dass sich die personelle Zusammensetzung im Top-Management der Luftfahrtunternehmen im Zuge der Deregulierung veränderte und – das ist ihre Hauptthese – dass diese Veränderung im Management-Team eine Veränderung der Aufmerksamkeitsstruktur bewirkte. Im Einzelnen betrachten sie drei Veränderungen in den Managementteams. Erstens erwarten sie, dass sich die funktionale Ausrichtung der Manager ändert, d.h. dass der relative Anteil der Manager wächst, die für die Außenbeziehungen, also Marketing, Verkauf, Kundendienst, Produktentwicklung, zuständig sind. Zweitens sollten die Spitzenmanager, die nach der Deregulierung beschäftigt wurden, eine im Durchschnitt geringere Zugehörigkeitsdauer zur Luftfahrindustrie aufweisen. Die Idee hinter dieser These ist, dass nach der Deregulierung zunehmend Manager angeworben wurden, die bereits über Erfahrungen in anderen deregulierten Branchen verfügten. Die dritte Veränderung bezieht sich auf die Homogenität des Managementteams. Diese sollte abnehmen, weil zu erwarten war, dass aufgrund der veränderten Anforderungen zunehmend Personen eingestellt werden, die die fehlenden Kompetenzen mitbrachten und weil Personen, die sich aufgrund der Veränderungen nicht mehr wohlfühlten, ihren Arbeitgeber wechseln würden. Tatsächlich können die Autoren anhand ihrer Daten zeigen, dass die angeführten Veränderungen eingetreten waren. Untersucht wurden 30 amerikanische Fluggesellschaften, die im Jahr 1973 einen Mindestumsatz von 100 Millionen US-Dollars erwirtschafteten. Erfasst wurden Daten für die Jahre 1973 bis 1986. Die Informationen über die Zusammensetzung der Geschäftsführung entstammen einer einschlägigen Dokumentensammlung. Zur Erfassung der Aufmerksamkeit wurden die Aktionärsbriefe der Firmen analysiert. Als Vorlage diente eine von den Autoren entwickelte Liste 198

von 75 Wörtern, die im Bedeutungsfeld der unternehmerischen Orientierung und 69 Wörtern, die sich im Bedeutungsfeld einer technischen Orientierung verortet sind. Gezählt wurde, wie häufig Wörter aus diesen Listen in den Aktionärsbriefen auftauchten. Anschließend wurden die beiden Zählergebnisse miteinander ins Verhältnis gesetzt. Neben der Gruppenzusammensetzung und der Aufmerksamkeit wurde eine Reihe von weiteren Variablen erhoben. So wurde über verschiedene Indikatoren erfasst, ob das tatsächliche strategische Verhalten der Unternehmen eher unternehmerische oder eher technische Züge aufwies. Außerdem wurde erfasst, ob eine Umstellung auf eine leistungsorientierte Entlohnung erfolgte und es wurden verschiedene Kontrollvariablen wie die Größe des Managementteams, die Größe des Unternehmens und der Gewinn erhoben. Die Daten aus den einzelnen Jahren wurden als Zeitreihe geordnet und mithilfe von Regressionsrechnungen im Hinblick auf verschiedene zeitliche Entwicklungen und Wirkungsverzögerungen ausgewertet. Die Ergebnisse bestätigen die zentrale Hypothese der Autoren: Veränderungen in der Zusammensetzung des Top-Management Teams gehen mit Veränderungen in der Aufmerksamkeit einher. Und zwar in der vorhergesagten Richtung. Steigt der Anteil an unternehmerisch orientierten Führungskräften, dann wächst auch die Aufmerksamkeit für unternehmerische Themen. Außerdem zeigt sich, dass es die Aufmerksamkeit ist, die das Verhalten bestimmt. Zwar gibt es auch eine direkte Beziehung zwischen den Teamveränderungen und den Veränderungen des strategischen Verhaltens, diese vermindert sich allerdings, wenn man die Wirkung der Aufmerksamkeit mitberücksichtigt oder anders ausgedrückt, die Aufmerksamkeit ist die Variable, die die Beziehung von Teamzusammensetzung und Verhaltensausrichtung erklärt. Bemerkenswert ist außerdem, dass sich die Unternehmen sehr rasch umstellten. Die Deregulierung deutete sich nicht schon lange an, sondern erfolgte recht abrupt, so dass den Unternehmen keine Möglichkeit blieb, sich bedächtig nach und nach darauf einzustellen. Die Autoren betrachteten zu Vergleichszwecken zwei weitere Branchen und deren Aufmerksamkeitsstrukturen. Vor der Deregulierung entsprach das niedrige Niveau der unternehmerorientierten Aufmerksamkeit dem der hoch regulierten Branche der Gasgewinnung. Nur sechs Jahre nach Verabschiedung der Deregulierungsgesetze hatten die Luftfahrtunternehmen aber bereits das hohe Niveau der unternehmerorientierten Aufmerksamkeit im deregulierten Segment der Markenfirmen der Lebensmittelbranche erreicht. 199

Insgesamt betrachtet liefert die Studie von Cho und Hambrick gut nachvollziehbare Ergebnisse. Dabei ist allerdings in Rechnung zu stellen, dass die gefundenen Zusammenhänge statistisch gesehen nicht allzu eng sind. Außerdem wird die Kernvariable, also die Aufmerksamkeit, nur indirekt und mithilfe von Indikatoren gemessen, über deren Interpretation man unterschiedlicher Meinung sein kann – wenngleich man anerkennen muss, dass das Messverfahren durchaus clever ist.

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Kapitel 6: Die Definition des Problems Phänomene Es ist hilfreich, ein Problem genau zu kennen, zu wissen, was nicht stimmt, worin der Mangel besteht, warum die gegebene Situation nicht befriedigend ist. Deshalb bemühen sich Ärzte vor einer Behandlung um eine möglichst eindeutige Diagnose (so hofft man wenigstens). Aber nicht immer hilft eine zutreffende Problemdefinition weiter. Schließlich gibt es ja auch Probleme, für die es keine Lösungen gibt oder keine Lösungen erkennbar sind oder Lösungen nur mit einem unvertretbar hohen Aufwand erarbeitet werden könnten. Was nützt es, die Misere, in der man steckt und aus der man nicht herauskommen kann, bis ins Letzte hinein zu analysieren? Macht dies die Sache nicht noch schlimmer? Und manchmal ist es gar nicht notwendig, eine eindeutige Problemdefinition zu erarbeiten. Gerade im kollektiven Fall kann die Problemanalyse den Problemlösungsfortschritt behindern. Etwa wenn sie Debatten veranlasst, die unvereinbare Positionen (Machtinteressen, Weltanschauungen) sichtbar machen, so dass konstruktive Lösungsbemühungen überhaupt nicht in Gang kommen können. Um ein Problem kraftvoll anzupacken, ist es mitunter gut, wenn die Beteiligten sich nicht allzu lang damit aufhalten, ein Problem bis in seine letzten Verästelungen verstehen und darüber dann auch noch einen vollständigen Konsens erreichen zu wollen. Im Extremfall schöpft jeder der Beteiligten seine Motivation zur Veränderung einer misslichen Situation aus einer anderen Quelle. Außerdem wächst das Problemverständnis oft erst im Zuge der Problembehandlung und möglicherweise entwickelt sich daraus auch eine völlig veränderte Problemdefinition für das Kollektiv oder auch für die einzelnen an der Problembearbeitung beteiligten Personen. Nicht selten unterscheiden sich, selbst nachdem eine Entscheidung schließlich 201

getroffen oder nachdem eine Aktion abgeschlossen wurde, die Auffassungen darüber, welches Problem denn nun konkret gelöst wurde.

Sprechen als Handeln Dazu kommt, dass sich das Geschehen in unterschiedlichen Handlungsfeldern abspielt: der Realität, dem Denken und dem Sprechen. Wie man über eine Problemsituation spricht, hat zweifellos auch etwas damit zu tun, wie man über die Problemsituation denkt, es ist aber nicht dasselbe. Sprechen hat oft eine strategische Komponente, es dient also nicht nur dazu, etwas wiederzugeben, sondern auch dazu, andere zu beeindrucken, sie zu einem bestimmten Denken und Handeln zu veranlassen. Außerdem ist die Sprache nur ein Hilfsmittel des Denkens, und zwar ein höchst unvollkommenes, schließlich fällt es nicht immer leicht, und es scheint manchmal sogar unmöglich zu sein, die treffenden Worte dafür zu finden, was unser Denken bewegt. Neben dem Denken und Sprechen über ein Problem gibt es das reale Problem selbst. Das kann man zwar zu ignorieren versuchen, man kann darüber reden, wie man will und man kann darüber denken, wie man kann, aber man wird es damit nicht abschaffen. Das bedeutet nicht, dass dem Sprechen, also der Kommunikation, der sprachlichen Verständigung über Probleme eine geringe Bedeutung zukäme. Sprache ist nun mal das Medium, auf das man angewiesen ist, um sich kollektiv mit einem Problem auseinanderzusetzen und um sich gegebenenfalls über die Bedeutung des Problems, seine Merkmale und Eigenarten zu verständigen. Man transportiert mit seiner Sprache allerdings nicht nur Verständigungsbereitschaft, sondern auch das eigene Verstehen und Wollen. Um ein Problem, das einem am Herzen liegt, ins Bewusstsein zu rücken, neigt man beispielsweise zu sprachlichen Übertreibungen, man verwendet sprachliche Wendungen, die geeignet sind, die jeweils eigene Sicht der Dinge herauszuheben, andere Auffassungen zu relativieren, zu disqualifizieren oder vergessen zu machen. Man denke nur an die Rhetorik, die aufgerufen wird, wenn es darum geht, Veränderungen in Organisationen durchzusetzen und zu rechtfertigen. Immer geht es dann gleich um das ganz Große: ums Überleben, darum, sich „zukunftssicher“ zu machen, Verkrustungen aufzubrechen, alte Zöpfe abzuschneiden, sich dem Neuen zu stellen usw. Und was das Gesellschaftspolitische anbetrifft, geht es ebenfalls vor allem um die Zukunft, aber 202

auch um Sicherheit, Freiheit, Gerechtigkeit und was der schönen Dinge mehr sind. Ebenso finden sich im alltäglichen Sprechen Wendungen, die Aufmerksamkeit wecken, verstärken, abmildern oder vermeiden sollen. Statt vom Rückzug spricht man lieber von Frontbegradigung, statt von Fettsucht lieber von Gewichtsproblemen, statt von Preiserhöhungen von Marktanpassungen und am besten spricht man von unangenehmen Dingen überhaupt nicht, sondern von Dingen, die davon ablenken. Ein beliebtes Mittel ist, von einem konkreten Problem auf ein Problem überzugehen, das dem infrage stehenden Problem übergeordnet ist, um sich dann innerhalb des sich damit öffnenden Themenfelds einem harmloseren Problem zuwenden zu können. Statt sich von Liquiditätsproblemen erdrücken zu lassen, spricht man also beispielsweise lieber über die Unternehmensstrategie und in diesem Kontext dann über erfolgversprechende neue Projekte. Und statt sich Eheproblemen zuzuwenden, befasst man sich besser mit dem ebenfalls nicht problemfreien Familienleben und dabei dann doch ganz gern mit der Urlaubsplanung. Übertreibung als Mittel der Aufmerksamkeitslenkung findet sich natürlich auch in umgekehrter Richtung: Macht jemand widersprüchliche Aussagen, dann ist er gleich ein Lügner, selbst geringfügiges Fehlverhalten wird zum Skandal erklärt, Absprachen sind Verschwörungen, Misserfolge sind Katastrophen usw. Die Absichten, die hinter solchen Etikettierungen stecken, sind leicht zu durchschauen, aber nicht unbedingt leicht zu unterlaufen. Die sprachlichen Mittel, die bei der Beschreibung eines Problems zum Einsatz kommen, sind aber nicht nur Mittel des Streits, sondern auch der Verständigung. Um Anschlussfähigkeit für eine gemeinsame Problembearbeitung zu schaffen, kann es z.B. hilfreich sein, bei der Problemformulierung zunächst eher vage zu bleiben. Sprachliche Ungenauigkeiten sind manchmal hilfreich, weil sie Klärungsbedarf signalisieren und ein uneinheitliches Sprachverständnis kann Auslöser für eine fruchtbare inhaltliche Auseinandersetzung sein. Man kann dabei nebenbei natürlich auch versuchen, sich sprachlich anzunähern, wichtiger ist allerdings, dass klar wird, in welcher Weise man über eine Problemsituation nachdenkt. Eine vollständige Übereinstimmung in der Beurteilung eines Problems wird es aber dennoch nie geben, weil sich jede Person letztlich immer in einer ganz eigenen Situation befindet und entsprechend auch ihre je eigene Deutung eines Sachverhalts vornehmen wird. Aus dem Tatbestand, dass dem Wahrnehmen und Denken einer Person eine unüberwindliche Subjektivität innewohnt, wird verschiedentlich die (falsche) Schlussfolgerung gezogen, dass sich die objektive 203

Realität dem Erkenntnisvermögen des Menschen entzieht und – weitergehend – es überhaupt keine objektive Realität und entsprechend, auf unser Thema bezogen, keine objektive Problemlage gibt. Problemdefinitionen können im Sinne dieser Sichtweise nicht wahr oder falsch sein, sie können nur mehr oder weniger gut sozial vermittelt also z.B. mehr oder weniger einvernehmlich ausgehandelt sein. Tatsächlich gibt es Probleme, die in dem Bereich angesiedelt sind, der als sozial konstruierte Wirklichkeit gelten kann. Problemlösungen sind in diesem Fall Bestimmungsleistungen (vgl. Hofstätter 1957). Ein Beispiel hierfür sind soziale Regeln, die unerfreuliche Ergebnisse hervorbringen. Es gibt mindestens zwei Möglichkeiten, damit umzugehen. Man kann versuchen, die Regeln zu ändern oder man kann versuchen, einen Ausgleich für die unbefriedigenden Resultate zu erreichen. Als Beispiel sei das Problem der Lohnbestimmung angeführt. Personen, die einen ungerechten Lohn erhalten, können versuchen, dieses Ärgernis abzumildern und sich z.B. in Leistungszurückhaltung üben. Dann lassen sie die Verhältnisse, wie sie sind und richten sich darin irgendwie ein. Sie können aber auch versuchen, die Regeln zu ändern, also die Art und Weise, wie der Lohn festgesetzt wird. Sie können über den Lohn verhandeln und sich darum bemühen, einen gerechteren Lohn und womöglich ein transparentes und akzeptables Lohnsystem durchzusetzen. Dass bei diesen Versuchen die sprachliche Auseinandersetzung eine große Rolle spielt, braucht kaum besonders betont zu werden, denn wer kann schon verbindlich sagen, was „gerecht“ wirklich bedeutet? Jenseits sprachlicher Konventionen bilden Institutionen eine eigene Realität. Im Fall der Lohnfindung spielt beispielsweise das etablierte Tarifvertragssystem eine große Rolle. Institutionen entziehen sich oft dem unmittelbaren Zugriff einzelner Akteure und gewinnen damit einen quasi-objektiven Charakter. Manchmal kann man ihre Wirkungsmacht leicht erkennen, wie in dem angeführten Beispiel, manchmal nehmen sie dagegen auf eher subtile Art Einfluss auf das Handeln der Akteure, zumal dann, wenn sie in tieferliegenden Schichten des Sozialen eingebettet sind. Als Beispiel können erneut Institutionen der Marktwirtschaft angeführt werden. Einerseits legen sie das wirtschaftliche Geschehen nicht bis ins Kleinste fest, sondern eröffnen im Gegenteil viele Spielräume für ökonomisches Handeln. Andererseits setzen sie dem Handeln spürbare Grenzen. Ob beispielsweise ein Arbeitgeber seine Arbeitnehmer am Gewinn seines Unternehmens beteiligt, bleibt letztlich ihm überlassen, Löhne zu zahlen, die das Unternehmen nicht erwirtschaftet, kann er sich allerdings nicht erlauben (jedenfalls nicht langfristig, 204

wenn es keine Unterstützungsleistungen von dritter Seite, also z.B. keine staatlichen Subventionen gibt). Die wirtschaftlichen Gegebenheiten bestimmen aber nicht nur die Handlungsmöglichkeiten, sie beeinflussen auch das Denken und zwar nicht nur das Denken über wirtschaftliche Angelegenheiten, sondern auch das Denken und das Sprechen über viele Tatbestände, die, zumindest auf den ersten Blick, in außerwirtschaftlichen Bereichen angesiedelt sind. Man denke nur an Begriffe, die sich in den alltäglichen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch eingebürgert haben und ihre ökonomische Herkunft eigentlich nicht verbergen, also z.B. Humankapital, Sozialkapital, Vertrauenskapital, politisches Kapital, Bildungsinvestitionen und Bildungsrendite, Betreuungskosten, Integrationskosten, Erziehungsaufwand und Erziehungsgeld, Beziehungsarbeit, Zeitgewinn, Praxistauglichkeit, Selbstoptimierung usw. Auch in Redewendungen findet sich häufig ein ökonomieaffiner Rekurs auf als selbstverständlich geltende Auffassungen und Ansprüche, etwa, wenn man Lehrgeld zahlen muss, wenn man keine Lebenszeit verschwenden, sich auf dem Markt für Ideen, Meinungen und Weltanschauungen behaupten und überhaupt fit wofür auch immer sein soll. Die Probleme, die sich aus tief in der Gesellschaft verankerten Bezügen ableiten, lassen sich nicht einfach außer Kraft setzen. Sie sind, obwohl „lediglich“ sozial begründet, oft der Reichweite der eigenen Handlungsmöglichkeiten entzogen und gewinnen damit, wie bereits angeführt, leicht einen quasi-objektiven Charakter. Häufig verknüpfen sie sich mit Problemen, die im tatsächlichen Sinn objektiv, also in der Natur (und damit auch in der Natur des Menschen) verankert sind, wogegen man durch kommunikative Verständigung nicht ankommt. So kann man einen Staudamm zwar auf vielerlei Art, aber nicht irgendwie und beliebig bauen, Brot backt sich nicht von selbst, Automobile, die ohne Energie auskommen, lassen sich nicht herbeidiskutieren, die körperliche und seelische Belastbarkeit des Menschen ist ebenso begrenzt wie dessen geistige Leistungsfähigkeit, Menschen freuen sich nicht über Beleidigungen, ängstigen sich vor Gefahren, brauchen Zuwendung und Anerkennung, die Zusammenarbeit in Gruppen ist auf Koordinationsbemühungen angewiesen usw. Es empfiehlt sich daher bei der Analyse, nicht nur die soziale Verankerung von Problemen zu beachten, sondern sich auch mit den in der Natur der Dinge liegenden Problemen vertraut zu machen, weil man sonst die Problemlage nicht richtig erfasst und in seinen Bemühungen um ihre Bewältigung Schiffbruch erleiden wird. Das Schönreden von Misserfolgen mag dann zwar wieder helfen, ändert aber nichts an dem Faktum, 205

dass das „eigentliche“ Problem fortbesteht und sich, weil falsch angepackt, noch verstärkt. Nicht weniger bedeutsam als der falsche oder ungenaue sprachliche Zugriff auf Probleme ist das Verschweigen von Problemen. Wenn Probleme buchstäblich nicht zur Sprache kommen, dann ist das aber nicht immer schlecht. Manche Probleme verschwinden von selbst, sie lösen sich gewissermaßen ohne eigenes Zutun auf (z.B. wenn es nicht die Medikamente sind, die einen gesund machen, sondern die Selbstheilungskräfte des Körpers), sie werden glücklicherweise von dritter Seite gelöst (z.B. weil sich auch andere erfolgreich ebenfalls um das Problem gekümmert haben), sie verlieren ihre Bedeutsamkeit (z.B. weil wichtige Anspruchsgruppen ihre Forderungen aufgeben) oder sie geraten in einen freundlicheren Problemkontext (z.B. wenn eine Bedrohung eine Solidarisierungswelle auslöst, die der Bedrohung ihren Stachel nimmt). Probleme kommen und gehen mitunter lautlos und es ist nicht immer ratsam, sie in den Diskurs einzubringen. Probleme totzuschweigen, wenn sie quicklebendig sind und deswegen früher oder später Unruhe machen werden, ist aber auch keine Lösung. Über etwas zu sprechen oder zu schweigen, ist eine Handlung und wie man über etwas spricht oder schweigt ebenfalls. Und wie jede andere Handlung auch, muss sie wohlbedacht werden.

Stilfragen in der Problembegegnung Es gibt oft nicht nur einen Weg, der zum Kern eines Problems führt. Angenommen, in einem Führungsgremium herrsche eine kühle Atmosphäre, es gebe kaum informellen Austausch, die Sitzungen seien spannungsgeladen und ermüdend, jeder sei vor allem darauf bedacht, seine eigene Position abzusichern und sein Ressort gegen Einmischungen abzuschirmen. Dieser Zustand werde von fast allen Beteiligten als problematisch empfunden, auch deswegen, weil man weiß, dass es eigentlich im Interesse aller wäre, besser zusammenzuarbeiten. Wie lässt sich das Problem, das dem beschriebenen Verhalten zugrunde liegt, d.h. welches es ursächlich hervorbringt, näher eingrenzen? Der unmittelbarste Zugang setzt an den sichtbaren Problemsymptomen an, also z.B. an der gereizten Stimmung, an der offenbaren Gleichgültigkeit gegenüber den Belangen der Kollegen oder auch an dem Bemühen, Konflikte zu vermeiden. Je nachdem, welchen dieser Symptome 206

man die größte Bedeutung zumisst, wird man das Hauptproblem vielleicht in personellen Dispositionen (z.B. den egozentrischen Bestrebungen) sehen oder in den Anforderungen der Situation (z.B. dem hohen Belastungs- und Zeitdruck, dem die Kollegen ausgesetzt sind). Durch Hinzufügen weiterer Informationen (z.B. darüber, wann die Ungeduld in den Sitzungen am stärksten ist, ob die An- oder Abwesenheit bestimmter Personen etwas an der Situation verändert usw.) kommt man zu einer modifizierten und vielleicht auch präziseren Eingrenzung. Man kann neben diesem gewissermaßen am Anfang der Problembearbeitung ansetzenden Zugang auch an dessen Ende ansetzen, um das infrage stehende Problem zu verstehen, nämlich an möglichen Lösungen, die einem in den Sinn kommen. Man erkundet die von Beratern angebotenen Therapiemöglichkeiten und überlegt, inwieweit sie in der Lage sein könnten, den unerfreulichen Zustand zu beheben. Zugespitzt formuliert: Aspirin hilft für vieles, und wenn es nicht helfen sollte, kann man es immer noch mit anderen Rezepten versuchen. Man begnügt sich also zunächst mit sehr vagen Hypothesen über mögliche Problemursachen. Angewandt auf unser Beispiel könnte man z.B. versuchen, die Gruppendynamik dadurch zu beleben, dass jeder der Beteiligten abwechselnd über interessante Projekte aus seinem Bereich berichtet (was das Verständnis für die Arbeit der Kollegen verbessern könnte), man kann gemeinsame Aktionen planen (um sich besser kennenzulernen) usw. Im Zweifel muss das nicht helfen, aber da es auch nicht schaden kann, hat man bei der Problemeingrenzung immerhin etwas Sinnvolles getan. Allerdings hat der lösungsorientierte Zugang logischerweise die Konsequenz, dass Probleme, für die auf dem Markt für Lösungen nichts Taugliches zu haben ist, schlichtweg liegenbleiben. Ein dritter Ansatzpunkt zur Problemerkundung ist von theoretischen Überlegungen geprägt. Ausgangspunkt sind die Ansätze der Wissenschaft, die man benutzt, um den vorfindlichen Problemsymptomen eine allgemeingültige Einordnung zu verpassen. So können die Defizite der beschriebenen Situation beispielsweise eine anreiztheoretische Erklärung finden. Man sucht in diesem Fall nach fehlenden oder auch falschen Anreizen, die das unbefriedigende Verhalten innerhalb des Führungsgremiums erklären könnten. Man kann natürlich ebenso einen machttheoretischen oder einen stresstheoretischen Ansatz wählen usw. Einen weiteren Zugang zur Problemerkundung sucht die Unbestimmtheits-Strategie. Sie fußt auf dem Bekenntnis, das Problem wenig oder gar nicht zu verstehen. Es sollen sich alle Personen, die damit ein Anliegen verbinden, offen zu dem Problem äußern, sich austauschen und konstruktiv an 207

der Problemerörterung beteiligen. Das kann recht mühsam werden, neben sachbezogenen Kenntnissen braucht es die Bereitschaft, diese zu teilen, Kraft und Zeit und vor allem Geduld. Aber auch die anderen Strategien haben neben ihren Vorzügen ihre Schwachpunkte. Die problemzentrierte Vorgehensweise birgt die Gefahr in sich, nicht zu den wirklichen Problemen vorzudringen, sondern an Äußerlichkeiten hängen zu bleiben. Bei der theorieorientierten Vorgehensweise lässt man sich gern von den aktuell gängigen (Lieblings-) Theorien leiten und die lösungsorientierte Vorgehensweise verschafft leicht ein trügerisches Gefühl der Sicherheit, obwohl sie oft nur die gegebenen Verhältnisse reproduziert. Der Zugang zu Problemen erweist sich also nicht immer als einfach. Die Sache wird nicht besser, wenn Personen mit unterschiedlichen Definitionsstrategien miteinander zu tun haben. Wer eine umfängliche Problemerörterung betreibt, findet bei Personen, die lieber zielstrebig auf eine Lösung zugehen und ein Problem möglichst schnell abräumen wollen, keine Sympathie. Auch theoretische, als „abgehoben“ angesehene Überlegungen kommen oft nicht gut an und Personen, die nur das unmittelbar Sicht- und Greifbare gelten lassen, kommen nicht gut mit Personen aus, die in allen Dingen immer das Grundsätzliche ergründen wollen. Andererseits steckt in der Verschiedenheit des Problemzugangs auch ein großes Problemlösungspotenzial. Pluralität bringt eine Vielfalt von Gesichtspunkten hervor und beim Umgang mit komplexen Problemen ist das auch notwendig. Es empfiehlt sich daher, nicht nur das sachliche Problem im Auge zu haben, sondern auch darauf zu achten, wie man mit unterschiedlichen Verhaltensstilen umgeht.

Die kollektive Definition der Situation Die Teilnehmer an einem umfänglichen Entscheidungsprozess kommen oft aus unterschiedlichen Kontexten und Situationen und bringen diese in die Entscheidung mit ein. Man hat es dann nicht mit nur einer, sondern mit einer Vielzahl von je eigenen Problemlagen zu tun, die in der kollektiven Definition der Situation ihren Niederschlag finden. In ihr versammeln sich Wissensbestände, Überzeugungen, Motive, Werthaltungen, Einstellungen, Denk- und Verhaltensprogramme. Aus dem Zusammenspiel dieser Elemente ergibt sich ein mehr oder weniger deutliches (subjektives) Bild über die Natur und die Eigenschaften des vorliegenden Problems. Je komplexer das Problem, desto anspruchsvoller ist die notwendige 208

Definitionsleistung und entsprechend unübersichtlicher gestaltet sich der Definitionsprozess. Das gilt im individuellen Fall und umso mehr auch im kollektiven Fall. Wie sich nach und nach eine gemeinsame Problemdefinition herauskristallisiert, lässt sich daher selten wirklich umfänglich und ganz konkret nachzeichnen, schon allein auch deswegen, weil sich viele Einzelschritte intuitiv und unbewusst vollziehen. Dazu kommt, dass man nicht nur über den Entscheidungsgegenstand, sondern auch über die Zusammenarbeit bei der Entscheidungsfindung nachdenkt, über die Rolle, die man dabei spielt, wie sich andere positionieren, wer für das Ergebnis verantwortlich gemacht wird usw. Und diese Überlegungen fließen mit in die Problemdefinition ein, die daher leicht den Charakter eines Verhandlungsprozesses annimmt, weil man sich damit auch sozial und strategisch positioniert. Angesichts dieser Komplikationen könnte man meinen, dass sich ein Kollektiv selten auf eine gemeinsame Problemdefinition verständigt. Das lässt sich so aber nicht bestätigen, denn in aller Regel entwickelt sich im Zuge der Auseinandersetzung mit einem Problem – zumindest im Groben – durchaus ein gemeinsames Problemverständnis. Und zwar aus mindestens zwei Gründen, die nicht ganz unabhängig voneinander sind. Der erste ist eher machtlogischer, der zweite ist argumentationsdynamischer Natur. Was das Erstere angeht: Nicht jeder ist „befugt“, seine Meinung zu sagen, nicht jeder vorgebrachte Gedanke wird (gern) gehört und (besonders) beachtet. Außerdem muss es eine Gelegenheit geben, seine Auffassung vor dem (relevanten) Publikum vorzubringen. Macht bestimmt nicht nur den Zugang zu Ressourcen und Informationen, sondern auch zu Kommunikationsmöglichkeiten und sozialer Unterstützung. Nicht alle denkbaren Deutungsangebote zur Aufhellung einer Problemsituation haben daher die gleiche Chance, in Erwägung gezogen zu werden. Der Pluralität der Auffassungen sind also Grenzen gesetzt und im Zweifelsfall behauptet sich die Problemsicht, die sich den gegebenen Machtverhältnissen fügt. Auch was den zweiten Punkt, die Argumentationsseite angeht, geht es um Macht und zwar um die Macht der Ideologie. Diese nährt sich nicht allein aus verbohrtem Denken, sondern auch aus Sprachgewohnheiten. Es ist kein Zufall, dass Ideologen versuchen, sich der Sprache zu bemächtigen, also bestrebt sind, eine bestimmte Art des Sprechens durchzusetzen und damit die ideologische Haltung zu vermitteln, die hinter den Worten steht. Und eine gemeinsame Ideologie erleichtert naturgemäß die Verständigung auf eine bestimmte Problemsicht. Letztlich lässt sich jedes Problem aus unterschiedlichen Fundamentalpositionen heraus interpretieren 209

und mit den dazu passenden sprachlichen Mitteln etikettieren. Die thematische Besetzung durch eine solche Position und deren sprachliche Aneignung, bestimmen maßgeblich, wie ein Problem zu verstehen und einzuordnen ist. Ein Problem kann beispielsweise als höchst riskante Angelegenheit präsentiert werden, was impliziert, damit äußerst vorsichtig umzugehen. Umgekehrt kann man ein Problem als höchst harmlos darstellen und gegenteilige Auffassungen als risikophobisch brandmarken. Der rhetorischen Aufrüstung, um der eigenen Position Geltung zu schaffen, sind kaum Grenzen gesetzt. Es gibt eine ganze Reihe gängiger Gegensatzpaare, die sich benutzen lassen, um die Natur eines Problems zu bestimmen, um damit die gewünschten Handlungsoptionen zu stärken: Krise gegen Chance, Gründlichkeit gegen Schnelligkeit, Leistung gegen Gerechtigkeit, Fortschritt gegen Stagnation, Innovation gegen Effizienz, investieren gegen sparen, expandieren gegen verstetigen, progressiv gegen konservativ, neu gegen bewährt, modern gegen traditionsbewusst usw. Mit der sprachlichen Vereinnahmung eines Themas gibt man schon bei der Problemanalyse vor, in welche Richtung man die Problembehandlung vorantreiben will. Hierzu knüpft man auch gern Themen und Moden an, die aktuell im Schwang sind oder man beschwört die Beteiligten auf die gerade angesagte strategische Ausrichtung ein (Diversifizierung oder Konzentration auf die Kernkompetenz, Auslagerung oder Eingliederung, Zentralisierung oder Dezentralisierung, Selbstständigkeit oder Kooperation usw.). Die ideologische Einhegung eines Problems gelingt aber nicht immer. Wenn z.B. eine Partei bei einer wichtigen Wahl viele Stimmen verloren hat, ist oftmals strittig, wie erheblich die Verluste sind, bzw. genauer: wie angesichts der gegebenen Umstände das Ausmaß der Verluste zu bewerten ist. Daran schließt sich dann ebenfalls sehr häufig die Frage an, ob für die Stimmenverluste der Spitzenkandidat verantwortlich zu machen ist oder – ganz entgegengesetzt – es eben der Spitzenkandidat war, der weit schlimmere Verluste verhindern konnte. Die Auseinandersetzung darüber wird zwar oft auch mit ideologischen Mitteln geführt, das dahinterstehende Interesse lässt sich allerdings weniger leicht verbergen. Reines Erkenntnisstreben ist es jedenfalls nicht, was die Problemklärung motiviert. Belege lassen sich meist für alle Positionen anführen und wer die seinen besser zu präsentieren weiß, erarbeitet sich damit einen machtpolitischen Vorteil. Wenn sich aber nicht alle überzeugen lassen, worin besteht dann die kollektive Problemdefinition? Zählt die Mehrheitsmeinung? Manchmal wohl, aber es verhält 210

sich mit der Problemdefinition nicht anders als mit der Aufmerksamkeit. Letztlich zählt die Wirkung. Wenn es keine Einigkeit in der Problemdefinition gibt und daraus nichts weiter folgt, dann ist es nicht sinnvoll, von der einen kollektiven Problemdefinition zu sprechen. Und wenn aus der Uneinigkeit Handlungsimpulse entstehen, die eine weitere Befassung mit dem Problem vorantreiben, dann liegen eben mehrere mehr oder weniger gut artikulierte Problemdefinitionen vor. Denkbar ist außerdem, dass die Protagonisten einer Minderheitsmeinung ihre Sicht der Dinge nicht aufgeben, dessen ungeachtet aber stillhalten und sich nicht weiter aktiv einbringen. Oftmals sind Personen mit der herrschenden Sicht der Dinge überhaupt nicht einverstanden, können ihre Alternativdefinitionen aber nicht deutlich artikulieren. Das bleibt nicht ohne Folgen für den weiteren Fortgang, weil sich das latente Unbehagen an der einen oder anderen Stelle unerwartet Ausdruck verschaffen dürfte. Wie überhaupt man auch die Problemdefinition nicht nur aus einer voluntaristischen Perspektive betrachten sollte. Zu glauben, dass es immer ein tiefes Nachdenken über eine Problemsituation gibt, dass darüber allein oder gemeinsam intensiv reflektiert oder dass die Problemlage gar im Diskurs ausführlich beleuchtet wird, zeugt von wenig Realismus. Kollektive Problemdefinitionen kommen deswegen dennoch zustande, sie setzen kein bewusstes Bemühen und schon gar keine ausdrückliche Verständigung voraus. Wie ist das möglich, wie kann man sich einig sein, wenn man sich nicht darauf verständigt? Um dies zu verstehen, muss man nicht das ominöse Konzept des kollektiven Unbewussten bemühen. Denn manchmal liefert die Situation die Problemdefinition gleich mit. Wenn beispielsweise eine Fußballmannschaft von ihrem Gegner ständig überrollt wird, dann werden wohl fast alle Spieler, auch ohne darüber sprechen zu müssen, darin übereinstimmen, dass die Verteidigung überfordert ist. Wenn sich Kundenbeschwerden häufen, die Ware zurückgeschickt wird, die Qualitätskontrolle den hohen Ausschuss bemängelt, dann liegt es nahe, das Produkt und den Fertigungsprozess näher zu inspizieren. Eine große Rolle spielen außerdem etablierte Interpretationsmuster. Sehr plump ist beispielsweise die Neigung, für ein Problem Sündenböcke verantwortlich zu machen. Subtiler ist es, wenn sich die Problemdefinition mit tiefliegenden Überzeugungen, Werthaltungen und emotionalen Dispositionen verknüpft. In einem bestimmten Menschenbild wurzelt z.B. die Auffassung, es könne nur an einer falschen Kommunikation liegen, wenn sich jemand einer doch eigentlich unbestreitbaren Einsicht verschließt. Verschwörungstheoretisch inspirierte Problemanalysen haben in aller 211

Regel einen ideologischen Hintergrund, alltagstheoretische Erklärungen sind oft nicht frei von einer kulturellen Voreingenommenheit. Dass kollektiv vorausgesetzte Problemdefinitionen nicht hinterfragt werden, hat oft auch etwas mit strukturellen Größen zu tun. So können Fachleute in entsprechenden Positionen ihr überlegenes Expertenwissen reklamieren, mächtige Personen versammeln um sich willfährige Gefolgsleute, geistliche Führer usurpieren Deutungshoheiten usw. Manchmal kommt es auch zu einem spontanen Problemkonsens, z.B. bei drohender Gefahr, in Situationen emotionaler Aufwallung und angesichts verführerischer Versprechen. Zusammenfassend sei festgehalten: Das kollektive Unbewusste mag eine Schimäre sein, nicht jedoch das Phänomen, um das es dabei geht, die Existenz von latenten kollektiven Deutungsbereitschaften, die an sich nichts Geheimnisvolles haben, sondern sich gut erklären lassen.

Einflussfaktoren Handlungsstruktur Robert Jervis hat sich eingehend mit Wahrnehmung und Falschwahrnehmung in internationalen Beziehungen beschäftigt. Seine Ausführungen befassen sich zwar mit einer speziellen Problematik, sie lassen sich aber ohne Weiteres verallgemeinern. Außerdem bereitet es keine Mühe, die von ihm diskutierten Einflussfaktoren den im Kapitel 4 beschriebenen Kategorien (Abbildung 4.4) zuzuordnen. Nach Jervis‘ Einschätzung wird die angemessene Beschreibung einer Problemlage häufig durch zwei problematische Verhaltensweisen vereitelt (Jervis 1976, 143 ff.): – –

durch eine vorschnelle Festlegung auf eine bestimmte Problemsicht, durch eine unbedachte Assimilation inkonsistenter Information in vorgegebene Deutungsschemata.

Die Neigung, sich vorschnell ein Urteil darüber zu bilden, was vorliegt, was auf einen zukommt, worum es geht und gehen soll, hängt sehr stark von den Erwartungen ab, 212

mit denen man an eine Situation herantritt. In den Handlungen eines Feindes sieht man immer zuerst das Feindselige, in einer bedrohlichen Situation das Bedrohliche, in einem Leistungskontext das Herausfordernde usw. Unterstützt wird die Neigung, sich ein nur oberflächliches Bild von einer Handlungssituation zu machen, davon, ob die Beobachtung mit dem zur Anwendung kommenden Wahrnehmungsschema kompatibel ist, ob es also zu dem mentalen Modell passt, das man sich von bestimmten Handlungssituationen macht. In einer Konfliktsituation wird man sich leicht in seinem negativen Bild bestätigt fühlen, wenn der Gegner nicht nur materiell, sondern zunehmend auch verbal aufrüstet. Wenn er dagegen eher Signale der Versöhnlichkeit sendet, ist das nicht so einfach zu interpretieren. Aber auch dieses scheinbar widersprüchliche Verhalten kann als Bestätigung einer vorgefassten Meinung gelten, dann nämlich, wenn man in dem Verhalten lediglich Taktik und den Beweis besonderer Tücke sieht. Ganz allgemein wird man davon ausgehen können, dass die Akteure nicht nur auf das äußere Verhalten der anderen blicken. Sie prüfen auch deren Motivation und verzeihen unter Umständen auch ein unglückliches Agieren. Umgekehrt wird man ein freundliches Verhalten normalerweise nicht mit einer freundlichen Absicht verwechseln, zumal in Situationen, die sehr stark von Interessen geprägt sind. Etwas überspitzt formuliert: „Die ganze Kunst der Diplomatie besteht darin, die eigenen Absichten zu maskieren. Und diesbezüglich sind die Engländer Meister. Niemand weiß je was sie vorhaben, weil sie es selbst nicht wissen“ (Lockhard 1933, 154, zitiert nach Jervis 1976, 54). Aber es hilft nichts, auch in Ungewissheitssituationen braucht und hat man seine Theorien, zumindest vorläufige. Der wichtigste Einflussfaktor für die Beurteilung einer Problemlage ist das eigene Weltbild, in dem sich die grundlegenden Überzeugungen vereinigen, mit deren Hilfe man das Geschehen betrachtet und bewertet. Was sich mit dem Weltbild nicht verträgt, hat es schwer, akzeptiert zu werden. Man hat kein Interesse daran, die eigenen Überzeugungen in Zweifel zu ziehen und man beachtet daher nur äußerst ungern die Informationen, die ihnen widersprechen. Deutlich stärker ausgeprägt ist die Neigung, nach Informationen Ausschau zu halten, die einen in seinen Auffassungen bestätigen. Zu beachten ist, dass dieses „konservative“ Verhalten nicht in jedem Fall unvernünftig ist. Informationen sind oft fehlerbehaftet, mehrdeutig oder situationsgebunden, weshalb man seine Theorien nicht schon bei dem ersten widersprechenden Befund aufgeben sollte, zumal nicht immer gewährleistet ist, dass bessere Alternativtheorien zur Verfügung stehen. Es gilt wie 213

so oft auch hier, die richtige Balance zu finden zwischen der Offenheit für neue Informationen und dem Beharren auf Überzeugungen, die sich bislang als nützlich erwiesen haben (vgl. Jervis 1976, 118). Nicht selten findet man in dem Bemühen, sich seiner Auffassungen zu vergewissern, einen Begründungsoverkill, d.h. man munitioniert seine Ablehnung unerwünschter Auffassungen durch ein ganzes Arsenal von Argumenten, ohne dabei darauf zu achten, ob diese mit dem infrage stehenden konkreten Problem überhaupt etwas zu tun haben. Als bestimmend für das Bedürfnis, den eigenen Theorien die Treue zu halten, wie immer sich die Befundlage auch präsentieren mag, stellt Jervis drei Größen heraus: die emotionale Festlegung auf eine bestimmte Art und Weise, das Weltgeschehen zu betrachten, das subjektive Vertrauen in die damit verbundenen Deutungsmuster und die Mehrdeutigkeit der Datenlage (also letztlich die Qualität der vorliegenden Informationen). Er berichtet über zahlreiche Beispiele aus der internationalen Politik, die die Bedeutung der angeführten Verhaltenstendenzen und ihrer Determinanten eindrucksvoll belegen. Andererseits ist es durchaus nicht unmöglich, eine gänzlich andere Haltung zu entwickeln, sich also nicht von der erstbesten (und sei es der eigenen) Auffassung leiten zu lassen, sondern grundsätzlich jede Information und Auffassung einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Man wird sich damit allerdings schwertun, zumal im kollektiven Fall, in dem sich der Wille zum kritischen Diskurs gegen Konformitätsstreben und Gruppendenken durchsetzen muss. Es ist daher sehr zu empfehlen, sich auf diese Situation einzustellen (Schwenk/Cosier 1980). Begünstigt wird die Zurückhaltung in der Problemelaboration durch situative Größen. Ein Beispiel ist ein starker Handlungsdruck, der durch enge zeitliche Vorgaben erzeugt wird. Ein anderes Beispiel sind Kostenargumente, die gegen eine ausführliche und differenzierte Problemdiagnose ins Feld geführt werden. Diese sind nicht immer von der Hand zu weisen und unterfüttern die ohnehin häufig zu beobachtende Erkenntnisgenügsamkeit im Hinblick auf die Problemerkundung („perceptual satisficing“, Jervis 1976, 192). Bei der Diagnose, der Situationsanalyse oder eben der Problemdefinition geht es also auch und nicht zuletzt um Zielsetzungen oder um extern aufgelegte Handlungsbeschränkungen. Für die Erklärung des Verhaltens vereinfacht sich damit paradoxerweise manches, weil man so der Mühe enthoben wird, immer alle psychologischen Details zu berücksichtigen. Wenn man beispielsweise davon ausgehen kann, dass die beteiligten 214

Akteure festgefügte Interessen verfolgen (etwa weil die Positionen, in denen sie sich befinden, kaum etwas anderes zulassen oder weil die Ziele, die die Akteure verfolgen, bekannt sind), dann ist es letztlich gleichgültig, welche konkreten Personen am Entscheidungsprozess beteiligt sind. Das gilt in einem umfassenderen Sinn auch für das Gesamtgefüge, in das die Akteure eingebunden sind, soweit ihm eine ausgeprägte institutionelle Logik innewohnt: „Im Jahr 1920 war Winston Churchill Innenminister und Anführer der Attacken gegen McKenna, den Chef der Admiralität, und dessen Begehren nach einer größeren Marine. Im Jahr 1913 hatten die beiden ihr Amt getauscht und jeder vertrat nun, mit gleicher Überzeugung, die gegenteilige Position“ (Walker 1972, 75).

Handlungssituation Ähnlich lässt sich für sogenannte „starke Situationen“ annehmen, dass sie sich durchsetzen. Starke Situationen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie viele Handlungsoptionen ausschließen und dass sie deutliche Signale aussenden, was von den Akteuren erwartet wird (Cooper/Withey 2009, 63). Oft ist eine starke thematische Präsenz dafür verantwortlich, in welche Richtung man schaut und denkt. Ein Beispiel liefert die Entscheidung der USA, in den Koreakrieg einzugreifen. Noch im Januar des Jahres 1950 hatte der Außenminister Acheson in einer öffentlichen Rede die Politik der USA erläutert, wonach die Vereinigten Staaten in Asien militärisch nur zum Schutz von Japan und den Philippinen tätig würden. Im Juni begann Nordkorea mit seiner Attacke auf Südkorea, woraufhin die Entscheidung zum militärischen Eingreifen der USA getroffen wurde. Ernest May interpretiert die Umorientierung als Wechsel von einer kalkulierten, die Interessen wohl abwägenden, zu einer prinzipienorientierten Politik, die geltend macht, dass man Aggressoren mit einer Appeasement-Politik nicht beikommt und man sie nur mit militärischen Mitteln zum Einlenken bewegen kann (May 1962, 661 f.). Lässt sich jede politische Strategie aber durch Aufruf eines politischen „Axioms“ einfach in ihr Gegenteil verdrehen? Gab es neben der ursprünglichen Position nicht auch schon die Alternative und wurde das besagte Axiom nur deswegen nicht ausgesprochen, weil es im Januar einfach nicht relevant war, wegen der geänderten Situation im Juni dann aber doch? Man kann dies so sehen (Ebenda). Aber sicher spielt bei der Frage nach einer Neubewertung einer Situation 215

auch eine Rolle, dass sich in der neuen Situation neue Fragen stellen, dass man mit Informationen zu diesen Fragen überschwemmt wird, dass die widersprüchlichsten Ansprüche angemeldet werden, dass man die eigene Position neu bedenken muss und sich überlegt, ob sich die neue Situation strategisch nutzen lässt usw. Anders ausgedrückt: Wenn etwas tatsächlich zum Thema wird (wenn in dem angeführten Beispiel Nordkorea nicht nur damit droht, sondern tatsächlich zu Kriegshandlungen greift), dann stellt es sich anders dar, als wenn es nur ein vorgestelltes Thema ist. Generell besteht eine große Gefahr, sich durch Situationsinformationen leiten und im ungünstigen Fall in die falsche Richtung führen zu lassen. Ein tragisches Beispiel für diesen Sachverhalt ist der Abschuss eines libyschen Verkehrsflugzeugs im Jahr 1973 durch zwei israelische Militärmaschinen (vgl. ausführlich Lanir 1991). Der Vorfall resultierte aus einer unglücklichen Verkettung von Zufällen, aber auch aus Missverständnissen, die durch die Ereignisse in der konkreten Situation produziert wurden. Jedenfalls fügte sich das Verhalten der Crew-Mitglieder der Passagiermaschine für die israelischen Soldaten stimmig zu einem verdächtigen und vermeintlich feindseligen Muster. Die libyschen Piloten hatten sich unter anderem aufgrund eines Sandsturms verflogen, waren etwa 100 km von ihrem Kurs nach Kairo abgekommen und bewegten ihr Flugzeug in Richtung israelisches Kernland. Die Piloten der israelischen F4-Kampfjets nahmen Funkkontakt auf, der aber nicht erwidert wurde. Sie versuchten durch entsprechende Flugmanöver, die libysche Maschine in Richtung auf einen israelischen Militärflughafen zu drängen, was ebenfalls nicht gelang. Sie konnten aber Sichtkontakt zum Piloten der Passagiermaschine aufnehmen und es war zu erkennen, dass dieser die Gesten und die Aufforderung zur Landung verstanden hatte (was von dem überlebenden Kopiloten später bestätigt wurde). Die Passagiermaschine blieb allerdings auf ihrem Kurs. Daraufhin feuerten die Israelis Leuchtspurmunition, woraufhin der Pilot des libyschen Flugzeugs einlenkte, die Fahrwerke ausfuhr und zum Landeanflug ansetzte. Plötzlich aber schwenkte er ab, beschleunigte und ging in den Steigflug über, offenbar, so jedenfalls der Anschein, um zu entkommen. Daraufhin forderte die Kommandozentrale in Israel ihre Piloten auf, zu prüfen, ob überhaupt Passagiere an Bord waren. Das erwies sich aber als unmöglich, da alle Jalousien der Passagiermaschine geschlossen waren. Die Israelis schossen nun auf die Flügelspitzen, was aber keinen Kurswechsel bewirkte. Schließlich feuerten sie auf die Tragflächen, was den Piloten der Passagiermaschine zur Notlandung zwang. Diese schien 216

zunächst zu gelingen, dann aber zerschellte das Flugzeug an einer Düne. 108 der 113 Insassen verloren ihr Leben. Die Kampfpiloten hatten alle für derartige Fälle vorgesehenen Schritte befolgt, sie handelten nicht willkürlich, sondern versuchten gewissenhaft, sich Klarheit über die Situation zu verschaffen. Die Einhaltung der Vorschriften vermittelte ihnen ein sicheres Gefühl, sie bewahrte sie aber nicht vor Fehlschlüssen. Ihre Urteilsfindung war außerdem angesichts der allgemeinen politischen Lage vorgeprägt. Israel befand sich fünf Jahre nach dem Sechs-TageKrieg immer noch im Kriegszustand mit Ägypten und unabhängig davon war seinerzeit, wie so oft, die Lage im Nahen Osten durch hohe Spannungen gekennzeichnet. Anlass zur Beunruhigung gab im konkreten Fall zudem der Tatbestand, dass das libysche Flugzeug unbehelligt über ein Sperrgebiet des ägyptischen Luftraums geflogen kam. Das war unverständlich und nährte den Verdacht, dass die Aktion von Ägypten geduldet, wenn nicht sogar unterstützt wurde. Letztlich entscheidet immer die mentale Szenerie, die zum Zeitpunkt des Geschehens aufgerufen wird, wohin sich die Überlegungen bewegen und welche Fragen bei der näheren Bestimmung eines Problems gestellt werden. Was man nicht weiß, kann trivialerweise nicht berücksichtigt werden, was sich in Medien, Gesprächen und Auseinandersetzungen nach vorn drängt, gewinnt besonderes Gewicht, was als besonders relevant gilt, wird näher betrachtet usw. Zur mentalen Szenerie gehören aber nicht nur Informationspartikel, sondern auch Einstellungen, Gefühle, Schemata, Skripts, Heuristiken, Denkroutinen und Verhaltensprogramme. Dabei geht es nicht um die unmittelbare Präsenz dieser psychischen Elemente, sondern um „Markierungen“, die geeignet sind, diese aufzurufen oder ihnen einen Zugang zum Tableau möglicher Einflussgrößen zu bahnen. Die angesprochenen mentalen Elemente haben nicht immer eine tiefe Verankerung im Denken und Verhalten. Oft ohne wirkliche Bodenhaftung, deswegen aber nicht ohne Wirkung, sind Einzelurteile über bestimmte Vorgänge, Aussagen oder über andere Teilnehmer am Entscheidungsprozess (z.B.: „Den langatmigen Ausführungen von Person P muss ich keine Beachtung schenken, sie erschöpfen sich ohnehin in Gemeinplätzen“). Tiefer verwurzelt in grundlegenden Überzeugungssystemen sind dagegen Einstellungen zum Risikoverhalten und zu Qualitätsansprüchen, zur Kooperationsbereitschaft und Vertrauenswürdigkeit usw. Man kann gegen solche manchmal fest in der Psyche einer Person verwurzelten Haltungen angehen, aber das ist oft mühsam. Den Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens, die gewissermaßen dessen Natur ausmachen, kann man dagegen nichts entgegensetzen. 217

Kein Mensch wird beispielsweise auf bedrohliche Situationen mit positiven Gefühlen reagieren. Zwischen diesen beiden Extremen findet sich eine breite Skala der Tiefenverankerung, von bloßen Gewohnheiten, die sich relativ leicht verändern lassen, bis hin zu tief in die Persönlichkeit eingegrabenen und deswegen nur schwer veränderbaren Verhaltensdispositionen. Auf einer mittleren Ebene angesiedelt sind z.B. Attribuierungstendenzen wie das folgende Beispiel: Wenn eine machtvolle Person bei einer Sache nachgibt, dann nimmt man normalerweise an, dass sie dies aus eigener Überzeugung tut, während man bei schwachen Personen für dasselbe Verhalten Umwelteinflüsse verantwortlich macht (Jervis 1976, 36). Man kann sich solchen Schlussfolgerungen nur schwer entziehen. Sie kommen deswegen aber nicht mit Notwendigkeit zum Zug. Man kann z.B. mental dagegen angehen, was manchen Personen leichter, anderen dagegen sehr schwer fällt. Außerdem kommt es zu Attribuierungen der beschriebenen Art logischerweise dann nicht, wenn sie irrelevant sind, wenn also im angeführten Beispiel weder eine besonders starke noch eine besonders schwache Person am Entscheidungsprozess beteiligt ist und auch dann nicht, wenn keine Person nachgibt. Und empirisch irrelevant werden derartige Attribuierungstendenzen, wenn den Beteiligten weder Raum noch Zeit bleibt, um über das Verhalten anderer Personen überhaupt nachzudenken – wie ja die Beschäftigung mit einem Thema immer unter der Restriktion der verfügbaren Kapazitäten, der Problembelastung und dem Handlungsdruck steht, der von den Situationsanforderungen ganz allgemein ausgeht. Ungünstige Bedingungen für die richtige Problemdiagnose ergeben sich daher insbesondere beim Umgang mit komplexen und dynamischen Systemen und in nochmals gesteigerter Form, wenn es zu einer krisenhaften Zuspitzung kommt. Bekannte Beispiele hierfür sind die Reaktorunfälle von Harrisburg und Tschernobyl (Reason 1987, Walker 2004). Die Problembelastung war in beiden Fällen hoch, weil sich viele miteinander vernetzte Probleme gleichzeitig stellten, der Handlungsdruck war angesichts der drohenden Kernschmelze enorm und was die Kapazitäten anging, so wurde insbesondere der zeitliche Spielraum immer enger. Obwohl es sich bei den Besatzungen der beiden Kernkraftwerke um hochqualifizierte Personen handelte, gelang es ihnen nicht, die sich in schneller Abfolge stellenden Probleme vollständig zu verstehen und deren Bedeutung richtig einzuschätzen. Situative Anforderungen können also selbst eingespielte Fachleute überfordern, was die Bedeutung der Sachkenntnis nicht mindert und auch nicht die Bedeutung 218

der Zusammensetzung der Entscheidungsgruppe. Komplexe und vielschichtige Probleme bedürfen einer komplexen und vielschichtigen Diagnose, die am besten von Gruppen erarbeitet werden können, die auf viele unterschiedliche und sich ergänzende Qualifikationen zurückgreifen können und deren Mitglieder sich auch in der Art und Weise, an Probleme und deren Analyse heranzugehen, aufeinander einstellen können. Nun kann sich auch ein kompetentes Entscheidungsteam nicht alle Kenntnisse allein erarbeiten, sondern muss sich auf Informationen, die von dritter Seite kommen, verlassen. Und diese müssen nicht nur zur Verfügung stehen, sie müssen auch angenommen werden. Die Akzeptanz wiederum wird wesentlich bestimmt von der Glaubwürdigkeit der Informationsquellen, die wiederum nicht unerheblich von deren Reputation bestimmt wird, die dann aber nicht etwa ein objektives Qualitätssiegel, sondern häufig eher ein Produkt sozialer Zuschreibung ist. Um Informationen und Informanten richtig beurteilen zu können, braucht man daher auch Methoden der kritischen Prüfung, zumal man davon ausgehen muss, dass ein Informant sein Wissen nicht motivationsfrei weitergibt und weil außerdem die beanspruchte und die tatsächliche Kompetenz durchaus nicht dasselbe sein müssen. Relevant sind die angeführten Fragen nicht zuletzt beim Engagement von externen Beratern. Externe können eine Problemlage unvorbelastet und nüchtern betrachten, während interne Personen oft so in das Geschehen verstrickt sind, dass sie keinen freien Blick mehr haben und im Extremfall betriebsblind geworden sind. Andererseits bringen Berater oft ihre spezielle Sichtweise mit, die sie bei jedem beliebigen Klienten immer in der gleichen Weise geltend machen, ohne sich um eine intime Kenntnis der konkret vorliegenden Gegebenheiten zu bemühen. Sie sehen dann nur das, was in ihrem Beratungsansatz vorgesehen ist und unterliegen damit einer Art Konzeptblindheit. Die angeführten Bestimmungsgrößen stärken oder schwächen sich gegenseitig in ihren Wirkungen. So sind mentale Modelle, Ziele und soziale Beziehungen oft eng miteinander verkettet. Das zeigt sich beispielsweise in den kontroversen Auffassungen darüber, wie man am besten mit einem feindselig agierenden Regime umgehen sollte. Die Theorie der Abschreckung setzt auf starke Streitkräfte, man ist bereit, auch für Dinge zu kämpfen, deren intrinsischer Wert gering ist und man vermeidet jeden Eindruck, der als Schwäche ausgelegt werden kann. Die Eskalationstheorie geht dagegen davon aus, dass es besser ist, jede Provokation zu vermeiden, dass man dem Gegner nicht drohen, sondern ihn überzeugen sollte, 219

dass es sich lohnt, auch nach Rückschlägen dem Gegner immer wieder entgegenzukommen (Jervis 1976, 84). Das Ziel ist in beiden Fällen oft dasselbe, Eindämmung des Konflikts und die Gewährleistung von Stabilität und Sicherheit. Die Strategie der Abschreckung steckt allerdings in einem Dilemma, weil sie beide Parteien zu vermehrter Aufrüstung veranlasst, was das Sicherheitsziel konterkariert. Anders ausgedrückt: Abschreckung kann die Bereitschaft, einen Konflikt kriegerisch auszutragen, deutlich vermindern, gleichzeitig steigt aber das Konfliktpotenzial und damit die Wahrscheinlichkeit, dass sich daraus ein offener Konflikt ergibt. Das Abschreckungsverhalten ist angesichts der nachvollziehbaren Absichten daher nicht im eigentlichen Sinn böse, sondern letztlich tragisch (Butterfield 1951, 19). Politiker, die der Eskalationstheorie anhängen, wollen das Aufschaukeln von Konflikten vermeiden und setzen trotz der damit verbundenen Gefahren auf Befriedung und Zugeständnisse. Das Problem damit ist, dass man dann, wenn man auf einen böswilligen Gegner trifft oder einen Gegner, der das „Appeasement“ der anderen Seite kalkuliert ausnutzt, strategisch in eine ungünstige Situation gerät. Ist man schon zu viele Kompromisse eingegangen, hat man schon zu oft den Gegner „rote Linien“ überschreiten lassen, dann kann man sein Handeln nicht so ohne Weiteres zurücknehmen, auch weil ein möglicher Strategiewechsel wenig glaubwürdig ist. Empirisch gesehen lässt sich nicht entscheiden, welche Strategie besser ist, es gibt Beispiele dafür, dass die Abschreckung den Ausbruch von Konflikten verhindert hat, aber auch Beispiele für die eskalierende Wirkung der Abschreckungsstrategie und für den eben dadurch bewirkten Ausbruch von Konflikthandlungen (zur Rationalität der Abschreckungsstrategie vgl. u.a. Steinbruner 1976). Es ist nicht etwa so, dass die Vertreter der Abschreckungstheorie die Risiken ihrer Strategie nicht kennen würden. An dieser Stelle kommt jedoch ein wichtiges Element in ihrer Definition des Problems zum Zug: Sie beharren oft einfach deswegen auf ihrem Standpunkt, weil sie glauben, dass im gegebenen Fall nicht die Voraussetzungen vorliegen, die den Eskalationstheoretikern recht geben würden (Jervis 1976, 95). Der Anschein, über die richtige Wahrnehmung zu verfügen, wird vertrackterweise durch die Abschreckungsstrategie verstärkt, weil sie die andere Seite zu einem Verhalten veranlasst, das man von einem feindseligen und nach Dominanz strebenden Gegner eben erwartet. Allerdings gibt es in der Einschätzung der Situation durchaus Modifikationen und zwar in Abhängigkeit von den übrigen in Abbildung 4.4 angeführten Einflussfaktoren und zwar insbesondere der strukturellen Bedingungen. Es macht nämlich einen Unterschied, ob die 220

bilateralen Beziehungen aktuell sehr angespannt sind oder ob man einen modus videndi gefunden hat, auf den man sich eingespielt hat. Bedeutung hat außerdem die persönliche Beziehung zwischen den unmittelbar beteiligten Akteuren. Und auch die umfassendere Sozialordnung spielt eine große Rolle, im Fall von Staaten hat man es also mit Fragen wie der zu tun, ob man es mit der Konfrontation von Staatenbündnissen oder ob man es mit einer Vereinzelung der Beziehungen zu tun hat, wie die Bündnispartner agieren, ob es internationale Institutionen gibt, die Kommunikations- und Vermittlungsmöglichkeiten bereitstellen usw. Und schließlich kommt es, wie schon erwähnt, auch maßgeblich auf die Ziele der Akteure an, ob also z.B. neben dem Sicherheitsbedürfnis nicht doch auch der Wunsch nach Dominanz eine Rolle spielt, ob neben politischen nicht auch wirtschaftliche Ziele eine erhebliche Bedeutung haben, wie sich die innenpolitischen Machtverhältnisse gestalten usw.

Theoretische Ansätze Informieren, argumentieren, revidieren Der Problembestimmung kann eine strategische Dimension zukommen oder anders gesagt: Von ihr kann das Schicksal einer Organisation abhängen. Dutton, Fahey und Narayanan (1983) verstehen unter einer strategischen Diagnose („strategic issue diagnosis“) alle Aktivitäten, die darauf gerichtet sind, „Daten in Themen zu überführen“ und deren Bedeutung zu erkunden. Die strategische Diagnose dient dazu, die kollektive Wahrnehmung zu organisieren und die auf eine Organisation einströmenden Ereignisse und Informationen zu interpretieren. Probleme können sich in allen möglichen Bereichen entwickeln, woraus folgt, dass man einen sehr breiten Blick haben muss, um diese überhaupt erkennen zu können (zu weiteren Qualitätskriterien des Diagnoseprozesses vgl. z.B. Milliken/Vollrath 1991, 1237 f.). Außerdem verlaufen strategisch bedeutsame Entwicklungen häufig untergründig, drängen sich nicht auf und lassen sich oft nur in vagen Umrissen erkennen. Nicht nur die Problemlage, sondern auch der Prozess der Bedeutungszuschreibung gestaltet sich daher einigermaßen unübersichtlich. Die Themen wechseln, ebenso die Wahrnehmungen, die verfügbaren Informationen, die 221

Schlussfolgerungen, der Interessentenkreis und deren Aktionen. Das Ergebnis der Problemdiagnose ist weniger flüssig und flüchtig wie der Prozess der Problemdiagnose. Es besteht nämlich aus Festlegungen und zwar auf bestimmte Verhaltensprämissen, grundlegende Annahmen, Kausalvorstellungen, Prognosen und Sprachregelungen (Dutton/Fahey/Narayanan 1983, 315). Die Bedeutung der Problemdiagnose kann daher kaum überschätzt werden, sie gibt den übrigen Aktivitäten im Rahmen von Entscheidungsprozessen Richtung und Schubkraft. Annahmen richten sich auf Daten und Überzeugungen, sie sind gewissermaßen die mentalen Abbildungen der Problem- und Handlungssituation. Sie beruhen nicht immer auf empirischen Belegen, sie werden im Gegenteil – als vorausgesetzte Annahmen – dringend dafür benötigt, Lücken im Wissen zu überbrücken. Sie sind in diesem Sinn oft Als-ob-Fakten, die die Sicherheit vermitteln, die man braucht, um sich an Problemlösungen machen zu können. Auf Kausalvorstellungen ist man angewiesen, um ein Problem überhaupt verstehen zu können, weshalb es entstanden ist, wie man es vermeiden kann, wie man dagegen vorgehen kann. Außerdem geben sie Auskunft über den Handlungsbedarf und den verfügbaren Zeithorizont. Sie dienen zudem als Grundlage für die Vorausschau, für Prognosen und Pläne. So macht es einen Unterschied, ob man den Umsatzrückgang in einer Branche auf dauerhaft veränderte Konsumgewohnheiten zurückführt oder auf Einkommensverschiebungen in der bisherigen Zielgruppe oder auf konjunkturelle Gründe. Kaum zu unterschätzen ist außerdem die Art und Weise, wie über ein Problem gesprochen wird, ob man es als altbekannt oder als völlig neuartig deklariert, ob es als Krise oder als Gelegenheit gilt, ob sich mit ihm Schuldzuschreibungen verknüpfen, ob man es als Randproblem definiert und sich selbst überlässt oder ob man in ihm ein Problem sieht, das die gesamte Organisation betrifft, ob man abfällig darüber spricht oder verständig, ob man in der Diskussion des Problems einen optimistischen, pessimistischen, euphorischen oder zynischen Ton anschlägt usw. Von erheblichem Interesse ist darum, wie der „Output“ der strategischen Diagnose zustande kommt oder anders ausgedrückt, welcher „Input“ in die strategische Diagnose eingeht. Dutton, Fahey und Narayanan stellen diesbezüglich drei Aspekte heraus: die mentalen Modelle („cognitive maps“) der Akteure, bestimmte Aspekte der Problemsituation und das politische Interesse, dass sich mit dem Problem verknüpft. In den mentalen Modellen spiegeln sich die Überzeugungen der Akteure, sie sind die geistige Grundlage, auf die man bei der Beschreibung und Interpretation 222

des Problems und des Problemkontextes Bezug nimmt. Von einem Modell zu sprechen, ist eigentlich nur sinnvoll, wenn die in einem Modell versammelten Konzepte und Kausalvorstellungen einigermaßen strukturiert sind und nicht im Ungefähren verbleiben. Was Klarheit, Logik und empirische Fundierung angeht, findet man aber nicht selten sehr schwache, wenig fundierte und oft auch zu einfache mentale Modelle. Das liegt nicht primär an den mangelnden Fähigkeiten der Akteure oder ihrer geistigen Faulheit, sondern vor allem an der Problemsituation, d.h. daran, dass wirklich bedeutsame Entscheidungsprobleme normalerweise äußert komplex sind, dass sie die Akteure mit neuartigen Herausforderungen konfrontieren und dass die Möglichkeiten, an belastbare Informationen zu kommen, oft beschränkt sind. Die strategische Diagnose hat aber nicht nur eine sachliche Dimension, sondern ist daneben maßgeblich von politischen Interessen geprägt. Welche Sachverhalte bei der Problemerkundung zutage treten, wie ein Problem präsentiert wird, welche Aspekte hervorgehoben, welche ignoriert werden und ob sie überhaupt zur Sprache kommen, kann den Beteiligten nicht gleichgültig sein. Sie werden daher versuchen, sich einzumischen, sei es als offiziell eingesetzte Funktionsträger oder als im Hintergrund des Geschehens agierende anonyme Partisanen ihrer Interessen. In der strategischen Diagnose gibt es viel Dynamik. Teilnehmer tauchen auf und verschwinden wieder, die Inhalte wechseln, werden überarbeitet und infrage gestellt, berichtigt und präzisiert. Verschiedene Methoden kommen zum Einsatz, man argumentiert induktiv, dann wieder deduktiv, arbeitet mit Analogien, rekurriert auf exemplarische Fälle und vermeintliche Erfahrungen. Insgesamt hat man es also mit einem wenig geordneten Prozess zu tun, in dem sich vielfältige, oft nur lose miteinander verbundene Aktivitäten abwechseln und überlagern. Was sich innerhalb dieses Prozesses genau abspielt, unter welchen Umständen welche Aktivitäten besondere Bedeutung erhalten, darauf gehen Dutton, Fahey und Narayanan leider nicht näher ein. Überhaupt beschränken sich die Autoren darauf, Charakteristika und Herausforderungen der strategischen Diagnose zu beschreiben. Zu den empirischen Zusammenhängen machen sie lediglich einige wenige Anmerkungen, wie die, dass nur solche Überlegungen die Chance haben, in die Problemdefinition aufgenommen zu werden, die mit den mentalen Modellen und den Interessen der Beteiligten verträglich sind. Auch bleiben die Aussagen oft unspezifiziert. So etwa die, dass im Zuge der Problemdefinition Lernprozesse stattfinden und sich damit der mentale Input der strategischen Diagnose verändern kann. Welche Bedingungen vorliegen müssen, damit das geschieht, dazu sagen 223

die Autoren nichts. Eine einzelne Begebenheit, die sich mit den jeweiligen Vorstellungen nicht verträgt, wird beispielsweise kaum hinreichen, um das eigene Denken grundlegend zu korrigieren. Damit dies geschieht, sind vielmehr mehrfache und nachdrückliche Erfahrungen notwendig. Außerdem hängen die Bereitschaft und die Fähigkeit, einmal installierte Verhaltensprämissen zu verändern, sehr stark von äußeren Bedingungen ab, z.B. von der Penetranz und der Starrheit bürokratischer Regeln und von der Offenheit des geistigen Klimas. Dutton, Fahey und Narayanan sprechen auch den politischen Aspekt der strategischen Diagnose an, insgesamt widmen sie der sozialen Seite der Problemdefinition aber zu wenig Aufmerksamkeit. Ihre Darstellung vermittelt über weite Passagen den Eindruck, als handele es sich bei der strategischen Diagnose um so etwas wie einen Problemlösungsprozess, in dem sich die Beteiligten darum bemühen, die „richtige“ Diagnose zu stellen. Darum geht es aber oft gar nicht, nicht jede Diagnose ist erwünscht, weshalb in vielen Diagnoseprozessen von einer Vielfalt der Standpunkte und einer Einbeziehung möglichst vieler Personen keine Rede sein kann und stattdessen eher das Gegenteil zu beobachten ist: die Forcierung eines allein gültigen Standpunkts, die Unterdrückung abweichender Meinungen, der Ausschluss lästiger Teilnehmer.

Klären, verhandeln, rationalisieren Marjorie Lyles (1981) verbindet in ihrem Modell „Übergänge in der Problemformulierung“ individuelle und kollektive Elemente der Problemdefinition. Der Prozess, in dem sich eine Problemdefinition herausbildet, beginnt mit der Problemwahrnehmung. Wahrnehmungen sind, so Lyles, zunächst rein individuelle Phänomene. Oft steht am Anfang ein eher unbestimmtes Gewahrwerden, das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Dem schließt sich ein Inkubationsprozess des Abwartens an. In dieser Phase verhält man sich eher passiv, man achtet darauf, ob sich weitere Anzeichen für das Vorliegen eines realen Problems ergeben. Allenfalls verfolgt man tastende Handlungsansätze, in der Hoffnung, dass das Problem wieder verschwindet. Ein Übergangspunkt ist erreicht, wenn sich das Problem nicht mehr ignorieren lässt. Meist geschieht dies, wenn die Signale auch im formellen Wahrnehmungssystem einer Organisation angekommen sind, wenn also in diesem Sinn aus der individuellen eine kollektive Wahrnehmung wird. Dieser Übergangs- oder auch Auslösepunkt führt 224

aber nicht zwingend dazu, dass man sich tatsächlich mit dem Problem beschäftigt, unter Umständen kommt es sogar zu einer Abwendung von dem Problem. Ansonsten ergänzen und überlagern sich drei kollektive Hauptaktivitäten. Das sind zum einen Versuche zur näheren Erkundung der Problemsituation z.B. durch intensives Bemühen darum, mehr und genauere Informationen zu gewinnen. Ob es damit zu einem Erkenntnisgewinn kommt, ist allerdings nicht sicher, was im negativen Fall die weitere Problembearbeitung logischerweise nicht voranbringt. Zweitens kommt es aufbauend auf ein sich herausbildendes oder auch nur gewünschtes Problemverständnis zu einer Rationalisierung der je eigenen Auffassungen, d.h. man sucht und interpretiert Informationen hauptsächlich, um die jeweils eigene Sicht der Dinge zu bestätigen und zu verstärken, aber auch, um sie an die anderen Beteiligten am Entscheidungsgeschehen zu „verkaufen“. Verschiedentlich wird behauptet, dass dies die eigentliche Haupttätigkeit von Managern sei, eine Behauptung, die sich insbesondere in den Fällen nachvollziehen lässt, in denen miteinander konkurrierende Interessen im Spiel sind. Entsprechende Bedeutung haben damit drittens diplomatische Aktivitäten, die darauf gerichtet sind, Unterstützung für die eigenen Auffassungen zu gewinnen. Es kommt zu Verhandlungen und zum Austausch von Zugeständnissen und Versprechen. In der sich daran anschließenden Konfrontationsphase geht es darum, sich auf eine gemeinsame Problemsicht zu einigen bzw. die eigene Auffassung durchzusetzen, sei es in Form einer eher sachbezogenen Diskussion oder im Rahmen einer politisch eingefärbten Debatte. Im Ergebnis kann es dann zu einer einheitlichen, eindeutigen, das weitere Vorgehen bestimmenden Definition kommen oder aber nur zu einer zwar facettenreichen, aber die verschiedenen Auffassungen nur mehr oder weniger und irgendwie synthetisierenden Problembestimmung. Nicht selten führt der gesamte Prozess aber auch zu einer autoritativen Festlegung oder zum Entschluss, das Problem nicht weiter zu beachten. Lyles ist sich im Klaren darüber, dass sie mit dieser Skizze nur eine stilisierte Darstellung des tatsächlichen Geschehens liefert. In Wirklichkeit überlagern und vermischen sich die einzelnen Tätigkeiten und es kommt, so ihre weiteren Ausführungen, in der zeitlichen Abfolge zu Sprüngen und Wiederholungen. In einer Analyse von 33 strategisch bedeutsamen Entscheidungen, ermittelte Lyles fünf typische Rückkopplungsschleifen. Sie sind in Abbildung 6.1 wiedergegeben. Die erste Schleife führt von der kollektiven auf die individuelle Ebene zurück. Dazu kommt es vor allem dann, wenn sich die Beteiligten uneins darüber sind, ob überhaupt ein größeres Problem vorliegt oder aber, auf welche Ursachen das Problem 225

zurückzuführen ist. Als Beispiel führt Lyles ein Unternehmen an, in dem die Frage diskutiert wurde, welche Bedeutung eine mögliche Verschärfung der Vorschriften zur Luftreinhaltung für die eigene Produktentwicklung haben könnte. Weil die Sache aber von Regierungsseite nur schleppend vorangebracht wurde, versiegte die Diskussion und das Interesse im Unternehmen verflüchtigte sich.

Schleife  4

Schleife  2

Wahrnehmung: Gewahrwerden, Inkubation

Schleife  1

Auslöse‐Punkt: Übergang Individuum ‐ Kollektiv

Informationsgewinnung: Erkundung, Diplomatie, Rationalisierung Schleife  3

Konfrontation: Diskussion, Debatte

Entschluss: Konsens, Synthese, Vorgabe, keine Festlegung

Schleife  5

Abb. 6.1: Individuelle und kollektive Definition des Problems (leicht modifizierte Darstellung der Abbildungen von Lyles 1981, 65 und 69) 226

In fast allen der von Lyles untersuchten Fälle finden sich Rückkopplungsschleifen. Meistens ist es allerdings nur eine Schleife, in einigen Fällen sind es zwei und in einem Fall sind es drei Schleifen. Dieser Fall ist insofern instruktiv, als hier generell eine gewisse Unwilligkeit bestand, sich dem Problem überhaupt zuzuwenden. Letztlich ging es darum, einen hochrangigen Manager zu entlassen. Man versuchte, an dieser Konsequenz vorbeizukommen und unternahm den Versuch, anderweitig zu einer Lösung zu kommen, was aber nicht gelang. Die Problemklärung braucht oft ihre Zeit. Lyles berichtet von Fällen, in denen es mehr als fünf Jahre dauerte, bis ein wichtiges Problem kollektiv zur Kenntnis genommen wurde. Viele Fälle schleppen sich dahin, fast drei Viertel der befragten Manager gaben an, das infrage stehende Problem existiere bereits länger als ein Jahr. Und in sehr vielen Fällen wurde über bestehende Probleme nicht offen diskutiert. Welche Qualitäten hat das Modell von Lyles? Positiv herauszustellen ist, dass es das Streben nach einer sachgerechten Erfassung der Problemlage thematisiert, ohne dabei das politische Element zu übersehen, das sich damit fast unlöslich verknüpft. Problemdefinitionen sind Bestimmungsleistungen, sie sind geprägt von Erkundungen, Verhandlungen und dem Wunsch nach Selbstvergewisserung. Das Modell benennt wichtige Teilaktivitäten im Bemühen um das Verstehen, die Verständigung und die Interessenwahrung. Zu den Mechanismen, die diese Aktivitäten miteinander verbinden (oder auch nur hervorrufen), finden sich allerdings nur Andeutungen. So belässt es Lyles bei sehr knappen Aussagen zum Übergang von der individuellen zur kollektiven Problemerfassung. Sie erfolge dann, wenn sich Ungereimtheiten, Mängel, Zielverfehlungen usw. nicht mehr ignorieren ließen und wenn die Probleme von den formalen Überwachungsroutinen erfasst würden. Die Frage ist aber genau die, warum bestimmte Probleme nicht mehr ignoriert werden können und andere doch. Lyles formuliert keine überhöhten Ansprüche für ihr Modell, es geht ihr um Exploration und um einen Bezugsrahmen für ein Thema, das erst noch weiter ausgearbeitet werden muss. Dessen ungeachtet reichert sie ihre Überlegungen mit einigen Hypothesen an, die sie aus ihrer empirischen Beschäftigung mit dem Thema gewonnen hat. Ein Beispiel ist ihre Hypothese, dass das politische Moment vor allem bei schlecht definierten Problemen zum Zug kommt. Damit verknüpft sie die Hypothese, dass es in der Konfrontationsphase zu echten Debatten kommt und gelangt schließlich zu der Auffassung, dass sich durch derartige Debatten die Problemdefinitionen verbessern (Lyles 1981, 74). Tatsächlich mögen in ihren Daten die angeführten Zusammenhänge 227

stecken. Allerdings kann man hierzu allenfalls Tendenzaussagen machen. Denn anders als die angeführten Hypothesen suggerieren, kann man sehr wohl über wohl-definierte Probleme politisch in Streit geraten. Politik findet außerdem nicht vornehmlich in Debatten statt, sie ist im Gegenteil besonders virulent im Verborgenen und erfolgreich, wenn es bereits im Vorfeld von Diskussionen zu Festlegungen kommt. Schließlich liefern Debatten nicht unbedingt wirklich gute Argumente und die richtigen Interpretationen, sie dienen nicht selten auch der Vernebelung und der Durchsetzung machtpolitischer Positionen.

Erwarten, einrahmen, verankern William Starbuck und Frances Milliken (1988) führen etliche Beispiele für grandiose Fehlurteile an, so z.B. die Einschätzung des IBM-Chefs Thomas Watson über die Zukunft des Computer-Geschäfts. IBM entwickelte nach dem Zweiten Weltkrieg lediglich halbherzig und letztlich nur aus Publicitygründen neben seinem Stammgeschäft auch Computer. Watson meinte dazu pointiert, nach seiner Einschätzung beschränke sich der Welt-Bedarf an Computern auf lediglich fünf Exemplare (eine Anekdote, die allerdings umstritten ist). Ähnlich daneben lag Ken Olson, der Präsident von Digital Equipment mit seiner Vermutung, es gebe keinerlei Grund für irgendjemanden, in seiner Wohnung einen Computer aufzustellen (Cerf/Navasky 1998, 230 f.). Hinterher ist man bekanntlich klüger. Aber das stimmt, so Starbuck und Milliken, nur bedingt. Nicht nur die prospektive, sondern auch die retrospektive Betrachtung hat ihre Tücken. Ist man mit seinem Vorgehen gescheitert, dann steigt zwar (normalerweise) die Bereitschaft, Fehler einzugestehen und man ist bereit, über mögliche Mängel in Absicht und Tat nachzudenken. Häufig ist es aber so, dass die Mängel, die einem hierbei ins Bewusstsein treten, schon immer bestanden und nie zu einem wirklich bemerkenswerten Schaden geführt haben. Ob sie als maßgebliche Misserfolgsursachen gelten können, muss daher nicht selten offen bleiben. Und hat man Erfolg mit seinen Handlungen, dann liegt die Schlussfolgerung nahe, man habe alles richtig gemacht, also ein Problem, eine Gelegenheit richtig erkannt, in angemessener Weise analysiert und das richtige Verhalten gewählt. Das ist natürlich kein gültiger Schluss. Anders ausgedrückt, hinterher sieht man vielleicht klarer, aber nicht unbedingt besser, man hat lediglich manchmal das Gefühl, etwas besser zu durchschauen. 228

Die Interpretationsleistung (das „Sensemaking“) wird vom jeweiligen Wahrnehmungsrahmen der Akteure (von deren „Frame“) begrenzt. Starbuck und Milliken stellen drei Effekte heraus: (1) man nimmt wahr, womit man vertraut ist, (2) man nimmt wahr, was man erwartet, (3) man nimmt wahr, was man relevant findet. Der erstgenannte Punkt ist wohl unmittelbar einleuchtend: Techniker achten auf andere Aspekte als Verkäufer, Buchhalter usw., d.h. jeder Spezialist hat seinen eigenen Blickwinkel auf ein Problem. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Starbuck und Milliken Top-Managern einen besonders engen Wahrnehmungsrahmen zuschreiben. Auf den oberen Hierarchieebenen sei man weniger gut mit Fachfragen vertraut, müsse mit Informationsüberlastungen zurechtkommen und könne es sich daher nicht leisten, bei allen Punkten in die Tiefe zu gehen. Außerdem habe man oft keine direkte Berührung mit konkreten Vorgängen und sei deswegen auf die Informationen von Dritten angewiesen und schließlich müsse man als Sprecher der Organisation auftreten und kann in dieser Rolle Dinge oft nur vereinfacht vortragen, was bedauerlicherweise auf das eigene Denken zurückschlage. Was den zweiten Punkt angeht: Menschen bauen auf ihre Erfahrung und erwarten das, was sie ihnen lehrt. Das ist zweifellos vernünftig, jedenfalls sofern sich die Verhältnisse nicht ändern, solange man also annehmen kann, morgen sei alles wie heute. Dass Erwartungshaltungen ganz allgemein wichtig für die Entwicklung eines Problemverständnisses sind, ist im Übrigen leicht nachvollziehbar. Wer denkt, er könne ohnehin nichts ausrichten, wird sich kaum auf eine tiefergehende Analyse eines Problems einlassen, jemand, der glaubt, das eigene Geschick maßgeblich selbst beeinflussen zu können, hat dagegen ein größeres Interesse daran, sich genauer mit dem Problem vertraut zu machen. Und schließlich, was man nicht erwartet, ist manchmal genau das Problem. Starbuck und Milliken nennen als Beispiel das Brechen des Enigma-Codes im Zweiten Weltkrieg. Die deutsche Seite hielt ihre Verschlüsselungstechnik für absolut sicher und suchte für die relativ häufigen Misserfolge militärischer Aktionen entsprechend nach anderen Erklärungen, was der Gegenseite nur Recht sein konnte. Beim dritten Punkt geht es um die jeweils aktuellen, gängigen, herrschenden Mythen (vgl. z.B. Westerlund/Sjöstrand 1979). So ist es zwar erstaunlich, aber vielleicht auch erklärlich, dass Joseph Cullman (der ehemalige Chef des Zigaretten-Konzerns Philip Morris) meinte, Zigarettenrauchen habe positive gesundheitliche Effekte (Cerf/Navasky 1998, 41). Bedeutsam ist der Versuch, bestimmte 229

Auffassungen durchzusetzen vor allem in Umbruchsituationen. Mythen und Ideologien können helfen, das Geschehen einzuordnen und verständlich zu machen. Und sie helfen den Protagonisten des Wandels dabei, ihre Interessen zu verbergen, ihre Handlungen in ein günstiges Licht zu rücken und Probleme, denen man sich nicht stellen will oder kann, wegzuerklären. Ideologien oder Glaubensüberzeugungen halten sich, weil sie das Bedürfnis nach mentaler Ordnung befriedigen und zwar gerade in unübersichtlichen Zeiten. Dazu müssen sie allerdings eine gewisse Flexibilität aufweisen (und sei es auf Kosten interner Widersprüche) und sich auf die jeweilige Situation hin anpassen lassen, also z.B. gleichermaßen die Notwendigkeit des Wandels wie den Wert des Hergebrachten propagieren, Offenheit verheißen, aber auf dem Eigenen beharren, die Komplexität der Probleme anerkennen und dennoch das Verlangen nach einfachen Lösungen bedienen usw. Das Jonglieren mit ideologischen Versatzstücken kann schiefgehen und das genaue Gegenteil bewirken, etwa dann, wenn die Deutungsangebote doch nicht so recht zur tatsächlichen Problemsituation passen wollen. Andererseits ist das Sinnbedürfnis von Menschen sehr stark und daher die Bereitschaft, über ideologische Ungereimtheiten großzügig hinwegzusehen, oft sehr groß.

Strukturwirkungen Organisation Werden Organisationen ethischen Ansprüchen gerecht? Nehmen sie die moralische Aufgabe überhaupt an? Inwieweit dies empirisch der Fall ist und welche moralischen Verpflichtungen man Organisationen auferlegen kann, ist umstritten, zumal unter den unmittelbar betroffenen Akteuren selbst. Dabei macht es einen Unterschied, ob man sich ganz bewusst gegen die Berücksichtigung des moralischen Standpunkts wendet oder ob man ihn deswegen ausblendet, weil man gar nicht auf den Gedanken kommt, dass ihm überhaupt eine Relevanz zukommen könnte. Brooke Hamilton und Eric Berken (2005) schildern und analysieren einen Fall, in dem ethische Gesichtspunkte schon bei der Analyse der Problemlage ausgeblendet und entsprechend auch bei der weiteren Entscheidungsfindung 230

nicht berücksichtigt wurden. Bei dem Versuch, diese Ignoranz zu erklären, verweisen die Autoren nicht zuletzt auf Bedingungen, die in der Organisationsstruktur verankert sind. Im März 1994 änderte die Firma Exxon den Standort ihres Endlagers für die Abfälle, die bei der Gewinnung und Produktion ihrer Produkte anfielen. Statt sie wie bislang in Alabama zu entsorgen, verfrachteten sie die Abfälle in eine Anlage der Firma Campbell Wells-U.S. Liquids, nahe der 300 Seelen Gemeinde Grand Bois in Louisiana. Die Vorschriften zur Abfallentsorgung in Louisiana waren seinerzeit wesentlich weniger restriktiv als in Alabama, was mit einem Kostenvorteil von geschätzt $92 pro Fass verbunden war und damit insgesamt eine Einsparung von $515.200 für die abgelieferten 5.600 Fässer mit sich brachte. Der Transport erfolgte innerhalb weniger Tage in insgesamt 81 Tanklastern. Beim Verladen bei Exxon in Alabama kam eine Person in direkten Kontakt mit der giftigen Flüssigkeit und erlitt schwere Verletzungen an den Augen und an der Lunge. Beim Ausladen trugen die Mitarbeiter Ganzkörper-Schutzanzüge. Die Abfallflüssigkeit wurde in eine offene, flache Grube gepumpt, in der sie mechanisch umgerührt wurde, so dass das Wasser und andere flüchtige Bestandteile verdunsten konnten. Die Entfernung der Anlage zur nächstgelegenen Wohnung betrug etwa 500 Fuß. Es verbreitete sich ein Geruch wie nach faulen Eiern. Eine Frau, die sich zufällig in der Nähe der Entsorgungseinrichtung aufhielt, wurde von den Ausdünstungen erfasst und musste in die Notaufnahme eingeliefert werden. In der Gemeinde wurde Alarm ausgelöst, worauf die Schulkinder in die Turnhalle verbracht wurden, um die Gefahr der Kontamination zu vermindern. Die Einwohner klagten in der Folgezeit über erhebliche Gesundheitsbeschwerden. Ein Anwohner verfasste ein Schreiben an einen ihm bekannten lokalen Exxon Manager und verlangte eine Untersuchung. Darauf erfolgte aber keine Reaktion. Exxon sandte kein Untersuchungsteam nach Grand Bois und nahm auch keinen Kontakt zu den Einwohnern auf. Die staatlichen Behörden gaben bekannt, dass ihre Luftüberwachungssysteme keine gefährliche Konzentration chemischer Stoffe anzeigte. Allerdings war die Messeinrichtung nicht dazu geeignet, Stoffe wie Benzol und Schwefelwasserstoff zu erfassen. Die Vorfälle erregten großes Aufsehen auch in den Medien. Unter anderem erfolgte sogar eine Befassung der Angelegenheit in einem Parlamentsausschuss des Staates Louisiana. Schließlich wurden von einem Anwalt 301 Zivilverfahren auf Schadenersatz wegen der Gesundheitsschädigung angestrengt. Exxon und Campbell 231

Wells machten geltend, dass sie gegen keine Gesetze oder Regelungen verstoßen hatten und daher auch keine Schadenersatzleistungen erbringen würden. Erst Jahre nach den Vorfällen gab es unabhängige wissenschaftliche Untersuchungen, die allerdings zu keinen eindeutigen Ergebnissen kamen. Das Gericht wies die Klagen der Einwohner zurück. Ein Zusammenhang zwischen der Müllentsorgung und langfristigen Gesundheitsbeeinträchtigungen sei nicht nachzuweisen. Die Personen, die ihre Wohnung in der Nähe der Anlage hatten und die Person, die den Dämpfen beim Entladen ausgesetzt war, erhielten eine Entschädigung von insgesamt $130.000 zugewiesen. Die Summe sollte zu gleichen Teilen von Exxon und Campbell-Wells aufgebracht werden. Exxon weigerte sich, seinen Teil zu übernehmen, weil das Unternehmen an den schädigenden Handlungen keinen Anteil hatte. In einer Nachverhandlung kam zutage, dass Exxon den oben angeführten Vorfall beim Beladen der Tankwagen verschwiegen hatte. Daraufhin musste Exxon $325.000 Strafgeld zahlen, das dazu verwendet werden sollte, die angefallenen Gerichtskosten zu begleichen. Das Ministerium für Naturschutz erweiterte die zulässige Pufferzone von der Entsorgungsanlage zu den Wohnungen von 500 auf 1.000 Fuß und für Stoffe mit hohem Benzolgehalt auf 2.000 Fuß. Bei ihrer Analyse des Falls gehen Hamilton und Berken kurz auf drei Erklärungen ein, die sie allerdings für wenig tragfähig halten. Die erste Erklärung macht geltend, Exxon habe eine „gesunde Geschäfts-Entscheidung“ getroffen. Schließlich sei die Entsorgung von petrochemischen Abfallprodukten teuer und es sei daher nur vernünftig, eine kostengünstige Entsorgungsmethode zu wählen, die als sicher gilt und erlaubt ist. Dass die Entscheidung damit wirklich gut begründet ist, wird von den Autoren bezweifelt. Exxon habe zwar nicht mit einer Verurteilung und nicht mit Schadenersatzleistungen rechnen müssen, dafür seien aber erhebliche indirekte Kosten entstanden, und zwar schon rein administrativ dadurch, dass man sich so lang mit dem Fall beschäftigen musste und außerdem durch die gerichtliche Auseinandersetzung, die Abwendung von Kunden, die Beeinträchtigung des Ansehens und der Moral der Mitarbeiter sowie durch verschärfte gesetzliche Regulierungsmaßnahmen. Die zweite Erklärung nennen die Autoren die „Missgeschicks-Erklärung“. Das Verhalten von Exxon beruhte danach auf einer Fehleinschätzung, die jedem großen Unternehmen in einem umkämpften Markt mit umweltpolitischen Fallstricken unterlaufen kann. Diese Erklärung ist insoweit unbefriedigend, als sie die Faktoren, die für die Fehleinschätzung verantwortlich sein können, nicht benennt. Die dritte Erklärung ist die 232

„Schurkenerklärung“, wonach Geldgier und Machtstreben das Verhalten von Unternehmen bestimmen. Auch dieser Erklärung können die Autoren nichts abgewinnen. Schließlich sei Exxon ein sehr erfolgreiches Unternehmen, was kaum möglich wäre, wenn die Mitarbeiter und Manager von Exxon alles Bösewichte wären. Vielmehr handele es sich um gute Menschen im üblichen Sinn, d.h. sie arbeiten schwer, kümmern sich um das Wohl ihrer Familien, engagieren sich in ihren Gemeinden usw. Es ist nachgerade das Anliegen von Hamilton und Berken, zu zeigen, dass man kein Schurke sein muss, um mit seinen Entscheidungen Schaden anzurichten. Es seien vielmehr Besonderheiten der Handlungssituation in Unternehmen, die zu nicht immer klugen Entscheidungen beitrügen. Im gegebenen Fall geht es im Kern um die Frage, warum die moralisch-ethische Dimension ihres Handelns von den Managern von Exxon nicht berücksichtigt wurde und zwar bereits bei der Einschätzung der Problemlage. Es geht also um Mängel in der Problemdefinition. Im Einzelnen geht es um vier Punkte: Warum wurde die Müllentsorgung von Alabama überhaupt nach Louisiana verlegt? Warum wurde der Unfall bei der Verladung in Alabama nicht näher untersucht und warum wurden andere Schadensfälle ignoriert? Warum wurde der Unfall während des Prozesses verschwiegen? Warum ging Exxon nicht auf die Gemeinde zu, warum schickte sie kein Untersuchungsteam nach Grand Bois? Im Wesentlich bieten sich, so Hamilton und Berken, drei Erklärungsansätze für alle diese Fragen an. Der erste macht geltend, dass die Exxon-Manager von der gesellschaftlichen Werteentwicklung abgekoppelt waren. Sie seien noch dem Bild verhaftet gewesen, wonach das Management gewissermaßen als Treuhänder der Eigentümer fungiert. Dass sich inzwischen noch viele weitere Anspruchsgruppen mit legitimen Interessen zu Wort melden, sei seinerzeit noch nicht ernsthaft bis ins Management von Exxon vorgedrungen. Entsprechend hart habe man sich im Prozess verhalten, rein legalistisch argumentiert, alle Zugeständnisse abgewehrt und auch den Kontakt mit den Einwohnern verweigert, da sonst eventuell weitere Begehrlichkeiten hätten entstehen können. Der zweite Erklärungsansatz stellt auf Karriereüberlegungen ab. Exxon hatte in den letzten beiden Jahren 20 Prozent der Belegschaft abgebaut. Die Mitarbeiter fürchteten entsprechend um ihren Arbeitsplatz und es schien nicht ratsam, eingefahrene Prozesse infrage zu stellen. Außerdem empfahl es sich, wenn man vorankommen wollte, sich den im Unternehmen gewünschten Verhaltensstil zu eigen zu machen. Diskussionen über ethische Fragen gehörten jedenfalls nicht zu den sozialen Regeln, die bei Exxon gepflegt und begrüßt wurden. 233

Der dritte Erklärungsansatz richtet sich unmittelbar auf strukturelle Aspekte der Organisation. Hamilton und Berken stellen speziell auf drei Punkte ab: die Prioritätensetzung, die verteilte Entscheidungsfindung und die Abschottung gegen äußere Einflüsse. Was die Prioritäten angeht, so ist zu bemerken, dass Exxon in seinem Unternehmensleitbild die Einhaltung ethischer Standards fest verankert hatte. Gleichzeitig verfolgte Exxon aber auch eine strikte Strategie der Effizienzsteigerung und der Kostenreduktion und, praktisch gesehen, gilt die Effizienz als hartes, die Moral dagegen als weiches Kriterium. Dies umso mehr, als sich ökonomische Größen relativ leicht in Kennzahlen abbilden lassen und weil sie sich (über Mitarbeiterbeurteilungen) konkret in monetären Belohnungen oder Bestrafungen niederschlagen. Ethisch korrektes Verhalten lässt sich dagegen weniger gut abbilden, wirkt eher langfristig und lässt sich daher nicht so leicht nachhalten. Für den konkreten Fall resümieren Hamilton und Berken: „Die Kostenreduktion war so wichtig, dass Fragen nach der Gesundheit aller Wahrscheinlichkeit nach in den Entscheidungsprozess überhaupt nicht ernsthaft einflossen“ (Hamilton/Berker 2005, 399). Ein weiterer Punkt, der dafür sorgt, dass ethische Gesichtspunkte bei der Beurteilung der Problemsituation nicht zum Zug kommen, steckt in der hierarchiebedingten Aufteilung der Zuständigkeiten. Das TopManagement gibt, so auch im Exxon-Fall, strikte und anspruchsvolle Ziele vor. Den darunter angesiedelten Managementebenen kommt die Aufgabe zu, diesen Zielen in eigener Vollmacht gerecht zu werden. Wenn sich diese Ziele nicht auf ethisch saubere Weise erreichen lassen und – dies ist die Voraussetzung – Mechanismen fehlen, diesen Tatbestand plausibel an die höheren Ebenen zurückzuspielen und hierfür auch Akzeptanz zu finden, dann wird man das bei der Definition des Problems natürlich berücksichtigen und moralischen Gesichtspunkten nur wenig Raum einräumen. Als dritte Einflussgröße beschreiben Hamilton und Breker die Neigung von Organisationen, sich gegenüber von außen kommenden Interventionen abzuschotten. Das kann bis zur Dämonisierung externer Anspruchsgruppen führen und der Unterstellung, letztlich ginge es diesen nur um die Aufbauschung von Anlässen, um an das Geld des Unternehmens zu kommen. Gutachten von externen Experten werden angezweifelt, man glaubt letztlich nur den eigenen Leuten. Bei der Beurteilung der Studie von Hamilton und Breker muss auf deren methodische Schwächen hingewiesen werden. Die Autoren hatten, angesichts des heiklen Themas, keinen direkten Zugang zu den internen Entscheidungsprozessen. 234

Sie waren daher auf öffentlich zugängliche Informationen angewiesen, die ihnen nur Hinweise und nicht etwa Belege liefern konnten. Ob die von den Autoren als ursächlich identifizierten Erklärungsfaktoren auch tatsächlich zur Geltung kamen, muss daher offenbleiben. Das Gesamtbild, das Hamilton und Breker entwerfen, ist jedoch stimmig und auch wenn es dem tatsächlichen Geschehen möglicherweise nicht in allen Details gerecht wird, kann man den Autoren immerhin bescheinigen, dass sie ihre Überlegungen in einen tragfähigen Analyserahmen eingebettet haben.

Kultur Jane Dutton und Janet Dukerich (1991) untersuchen an einem Fallbeispiel die Bedeutung der Identität und des Images einer Organisation für die Interpretation und den Umgang mit Problemen, Herausforderungen, Themen („issues“). Die Definition eines „Issues“ richtet sich auf Besorgnisse, Aufgaben, Angelegenheiten („concerns“) in Bezug auf Ereignisse, Entwicklungen und Trends, aus denen sich für die Organisation gegebenenfalls bedeutsame Konsequenzen ergeben könnten (Dutton/Dukerich 1991, 518). Unter der organisationalen Identität verstehen die Autorinnen den Charakter einer Organisation, genauer, die Auffassungen der Organisationsmitglieder darüber, welches die zentralen, dauerhaften und charakteristischen Merkmale ihrer Organisation sind. Das Image bildet sich ebenfalls aus den Überzeugungen der Organisationsmitglieder, es ist deren Vorstellung davon, wie Außenstehende ihre Organisation sehen (Ebenda, 520). Identitäten und Images sind kollektive Bestimmungsleistungen. Sie haben eine starke normative Komponente. Weicht die Organisation in ihrem Handeln von den Vorstellungen und Idealen, die man mit der Organisation verbindet, ab, dann löst dies Störungsgefühle aus. Identitäten lassen sich nicht leicht verändern, sie wurzeln in Traditionen, Ideologien, Wertesystemen, Fähigkeiten und Erfolgen, sie entwickeln sich aus gemeinsamen Erfahrungen und werden von der täglichen Praxis immer wieder neu bestätigt und verfestigt. Man wird sie also nicht so ohne Weiteres aufgeben, zumal sie manchmal eng mit dem Selbstbild der Organisationsmitglieder verknüpft sind. Identitäten sagen den Organisationsmitgliedern, ob ein Issue wirklich wichtig ist, welche Aspekte des Issues als problematisch erscheinen und allgemeiner, welche inhaltliche Bedeutung ihnen zukommt. Das Image hat ähnliche 235

Funktionen. Die Identität und das Image sind wie Spiegel, in denen das organisationale Geschehen reflektiert und ein Bild erzeugt wird, das einem manchmal gefallen kann, manchmal aber auch missfallen muss. Dutton und Dukerich erörtern die Rolle, die Identitäts- und Imagefragen spielen, an einem konkreten Beispiel, dem Umgang mit Obdachlosen durch die Hafenbehörde (Port Authority) von New York und New Jersey in den Jahren 1982 bis 1989. In ihrer Beschreibung und Analyse stützen sich die Autorinnen auf Interviews, Berichte und Memos, Reden, Gespräche mit dem internen Projekt-Team, die Teilnahme an einem Mitarbeiterseminar zum Umgang mit Obdachlosen und auf Presseberichte. Die Port Authority ist ein gemeinwirtschaftliches Unternehmen mit mehreren Tausend Beschäftigten. Sie betreibt und verwaltet u.a. Hafen-Terminals, Busstationen, Bahnstrecken, Flughäfen, das seinerzeitige und jetzige World Trade Center, Brücken- und Tunnelprojekte. Das Unternehmen war schon immer mit dem Obdachlosenproblem konfrontiert, denn zur Szenerie von Verkehrseinrichtungen gehören fast naturhaft immer auch Obdachlose. In den 1980er-Jahren stieg die Zahl der Obdachlosen aber deutlich an. Es gab vermehrt jüngere Obdachlose, sie waren weniger zurückhaltend und neigten nicht selten zu Gewalttätigkeit. In der öffentlichen Wahrnehmung verband sich mit ihrem Auftreten die Angst vor Kriminalität und Drogenmissbrauch. In besonderem Maß war der von der Port Authority betriebene Busbahnhof betroffen. Die Anwesenheit von Obdachlosen sorgte zunehmend für Unmut sowohl bei den Kunden als auch bei den Mitarbeitern. Die Port Authority war im Selbstverständnis ihrer Mitglieder eine professionelle Organisation, die sich durch einzigartige technische Fähigkeiten auszeichnete, eine Organisation, die, so die einhellige Auffassung, denkbar schlecht für die Ausübung von Sozialdiensten geeignet war. In der Selbstwahrnehmung seiner Mitarbeiter war das Unternehmen kundenfreundlich, der Wohlfahrt der Region verpflichtet, moralisch sauber, frei von Skandalen und altruistisch. Die Mitarbeiter waren loyal und stolz auf die Art und Weise, wie bei ihnen Probleme gekonnt und mit Nachdruck angepackt wurden. Dieses Selbstbild prägte maßgeblich den Umgang mit dem Obdachlosenproblem. Eine Reihe von äußeren Entwicklungen machte es notwendig, dem Problem immer mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Dutton und Dukerich unterscheiden fünf sich überlappende Phasen, mit je spezifischen Ereignissen, Einstellungen und Reaktionen. In der ersten Phase war die Zahl der Obdachlosen, die sich gern vor der 236

Hitze des Sommers und der Kälte des Winters in die Gebäude des Busbahnhofs zurückzogen, einigermaßen überschaubar. Man sah im Umgang mit den Obdachlosen primär ein Polizei- und Sicherheits-Problem. Eine gewisse Verschärfung erhielt das Problem nach einer großangelegten Renovierung. Die Obdachlosen boten in ihrer Aufmachung und ihrem Gebaren einen deutlichen Kontrast zu den aufwändig und attraktiv hergerichteten Räumlichkeiten. Man wollte sie dort nicht sehen. Man schulte Polizeikräfte darin, die Obdachlosen wegzuschaffen und in sozialen Einrichtungen unterzubringen. In der ersten Phase definierte man das Problem sozusagen aus dem Verantwortungsbereich der Port Authority hinaus. In der zweiten Phase wurde das Problem dagegen, zumindest ein Stück weit angenommen, man betonte allerdings nach wie vor, dass man keine Sozialeinrichtung sei und auch nicht deren Arbeit übernehmen wolle. Verantwortlich für die modifizierte Haltung war das Auftauchen von Obdachlosen in weiteren Einrichtungen der Port Authority, insbesondere im World Trade Center. Die Kundenbeschwerden häuften sich. Ein neuer Direktor wollte das Problem systematischer angehen. Hauptziel war es, die Lokalitäten für die Obdachlosen unattraktiv zu machen etwa durch Beseitigung von Bänken, durch Beschränkung des Zutritts zu bestimmten Arealen und durch eine engere Zusammenarbeit mit Sozialeinrichtungen. Letztlich veränderte man damit wenig, man führte die eigenen Maßnahmen lediglich mit größerer Konsequenz durch. In der dritten Phase sah man in dem Obdachlosenproblem nicht mehr allein ein Geschäftsproblem, man nahm es auch als moralisches Problem an. Die Situation hatte sich weiter verschärft. In manchen Nächten befanden sich 1.000 Obdachlose auf dem Gelände der Port Authority. „Crack“, eine leicht zugängliche Droge, war in Umlauf gekommen, das Gesetz gegen das Herumstreunen war gekippt worden, die Port Authority bekam wegen unsensiblen Verhaltens gegenüber Obdachlosen eine schlechte Presse. Die Einstellung der Mitarbeiter und Behördenleitung gegenüber dem Problem veränderte sich allerdings nur wenig. Immerhin wurde die humanitäre Seite des Problems stärker in den Blick genommen. Die Port Authority schuf mit dem „Homeless Project Team“ eine zentrale Instanz, die die Mitarbeiter vor Ort entlasten und dafür sorgen sollte, dass die Behördenleitung weniger Zeit mit der Problematik verbringen musste. Außerdem wurde ein Stipendium für ein einjähriges Forschungsprojekt zu der Thematik vergeben. In der vierten Phase wuchs sich das Obdachlosenproblem zu einem regionalen Image-Problem aus, ein Problem, um das sich allerdings niemand so recht kümmern wollte. In diese Zeit fiel 237

ein großangelegtes Investitionsprogramm der Port Authority, das der Erneuerung ihrer Einrichtungen sowie der Stärkung des Images des Wirtschaftsstandorts und dessen Wettbewerbsfähigkeit dienen sollte. In diesem Zusammenhang war auch die Errichtung eines Drop-In Centers geplant, das den Obdachlosen eine alternative Aufenthaltsmöglichkeit bieten sollte. Die Stadt New York hatte sich informell bereit erklärt, die Unterhaltskosten dafür zu übernehmen, zog diese Zusage aber wieder zurück. Die Mitarbeiter waren zunehmend frustriert, weil das Obdachlosenproblem nicht verschwinden wollte. Der Behördenleiter hielt eine Rede, in der er verkündete, dass man das Problem grundsätzlicher anpacken müsse. Die Presse beschuldigte die Port Authority, dass sie am Thanksgiving Day für die Obdachlosen kein Essen arrangiert hatte, obwohl an diesem Tag tatsächlich über 400 Essen ausgegeben worden waren. Schließlich beschloss die Port Authority, das geplante Drop-In Center zu errichten, ungeachtet des Rückzugs der Stadt aus diesem Projekt und obwohl das Projekt auch intern nicht unumstritten war. Im letzten Jahr der von den Autorinnen beobachteten Zeitspanne wurde die Obdachlosigkeit als Problem eingestuft, das die Wettbewerbsfähigkeit der gesamten Region bedrohte. Die Port Authority hatte sich dem Problem intensiv zugewandt, wollte hierzu aber keine große Publicity und agierte nur als stiller Anwalt zur Verbesserung der Lage der Obdachlosen. Im Februar 1989 veröffentlichte Newsweek die Reportage „Der Albtraum der 42. Straße“, in der die Busstation der Port Authority als gefährlicher Ort sowohl für die Pendler als auch für die Obdachlosen angeprangert wurde, als „… Strudel der Hoffnungslosigkeit, Kriminalität und Verzweiflung“ (Dutton/Dukerich 1991, 540). Die Port Authority verstärkte ihr Engagement, unterstützte die Einrichtung eines weiteres Drop-In Centers sowie eines Wohnheims, etablierte Beratungsangebote an den Flughäfen, kooperierte mit anderen Verkehrsunternehmen. Ein Teil der damit verbundenen Aufgaben wurde an ein Dienstleistungsunternehmen übertragen. Diese Maßnahme entsprang dem Wunsch, das eigene Engagement eher zu verbergen. Dennoch wurde die Port Authority zunehmend von allen mit dem Obdachlosenproblem befassten Seiten als Anführer in dieser Sache angesehen. Bei der Port Authority selbst nahm man aber nach wie vor eine ambivalente Haltung zu der ganzen Angelegenheit ein: Man habe zwar erhebliche Mittel für das Obdachlosenproblem aufgebracht, aber eigentlich sei das nicht die Aufgabe der Port Authority. Gleichzeitig lobte man das Engagement und die Art und Weise, wie man damit umging und hielt 238

sich zugute, dass man, zumal verglichen mit anderen Verkehrsunternehmen, eine humane Lösung gefunden habe. Wenn man das Geschehen Revue passieren lässt, fällt der anhaltende Widerstand auf, das gewissermaßen von außen aufgedrängte Problem anzunehmen. Man war stolz auf die professionellen Fähigkeiten der Organisation, maßte sich aber nicht an, über besondere Fähigkeiten in der Sozialarbeit zu verfügen und lehnte es auch ab, sich diese anzueignen. Auf den Schwenk zu größerem Engagement reagierte man mit Unverständnis, konnte das aber schließlich annehmen und Motivation aus einer anderen, der moralischen Seite der organisationalen Identität beziehen. Man hatte zwei Drop-In Center in einer Professionalität und Schnelligkeit eingerichtet, die auch den in der organisationalen Identität verankerten Leistungsgedanken bestätigte. Eine besondere Rolle spielte das organisationale Image. Der Reputationsverlust, der, nebenbei bemerkt, von vielen Organisationsmitgliedern als ungerechtfertigt und verletzend empfunden wurde, gab letztlich den entscheidenden Anstoß, sich dem Problem mit größerer Entschlossenheit zuzuwenden. Die Studie von Dutton und Dukerich zeigt, dass der organisationalen Identität, und damit einem kollektiven Konstrukt, große Bedeutung bei der Deutung konkreter Vorgänge zukommt. In ihren Schilderungen beziehen sich die Autorinnen nicht auf einen ominösen kollektiven Akteur, es wird vielmehr immer deutlich, dass auch die im Kollektiven verankerten Deutungen und Handlungen von konkreten Personen stammen, die nicht in allem konform gehen. Wenn man an der Darstellung etwas vermisst, dann sind das vielleicht Ausführungen, die etwas über die Mikroprozesse sagen, die zu der einen oder anderen Entscheidung führten. Das hätte möglicherweise den Autorinnen die Gelegenheit verschafft, etwas mehr über die Stabilität und Reichweite organisationaler Selbstbilder zu berichten.

Macht Irmtraud Gallhofer und Willem Saris (1997) untersuchen das Zustandekommen einer Reihe von bedeutsamen außenpolitischen Entscheidungen. Sie betrachten hierzu Sitzungsprotokolle und Gesprächsaufzeichnungen der Entscheidungsgremien und analysieren diese anhand eines entscheidungstheoretischen Schemas. Die Wortmeldungen werden zu Handlungseinheiten zusammengefasst und in ihrer zeitlichen Reihenfolge geordnet. Sie werden außerdem danach kategorisiert, ob 239

sich die Beiträge auf die Problemanalyse beziehen, auf mögliche Problemlösungen, auf konfliktäre Punkte oder auf die Umsetzung. Die Autoren erläutern die Inhalte der Aussagen, gehen auf den Problemkontext und die Vorgeschichte ein, ohne die man die Entscheidungsproblematik nicht verstehen würde. Ein besonders krasses Beispiel für ein machtdominiertes Treffen ist die Zusammenkunft der Generalität mit Adolf Hitler am 22. August 1939 in Obersalzberg. Bei diesem Treffen verkündete Hitler seine Absicht, in Polen einzumarschieren. Er schilderte die außenpolitische Lage, wie sie sich aus seiner Sicht darstellte und erläuterte, warum jetzt der richtige Zeitpunkt für militärische Aktionen gekommen sei. Unter anderem führte er aus, Frankreich und England seien schwach, Italien und Spanien seien Verbündete, durch den Hitler-Stalin-Pakt sei die Ostflanke abgesichert, so dass bei einem eventuellen Eingreifen der Westmächte kein Zwei-Fronten-Krieg drohte. Die Notwendigkeit des Kriegs begründete er damit, dass Deutschland mehr Lebensraum brauche und Polens Provokationen ein Ende finden müssten. Insgesamt könne man durch die Besetzung Polens nichts verlieren und nur gewinnen. Er ging auf möglicherweise vom Ausland drohende Gegenmaßnahmen ein, maß diesen aber keine besondere Bedeutung bei. Schließlich drückte er seine Erwartung aus, dass die Armee mit eiserner Entschlossenheit ihre Pflicht tun werde. Nach seinen Ausführungen herrschte Stille. Der Oberbefehlshaber der Luftstreitkräfte ergriff das Wort, äußerte enthusiastische Zustimmung, dankte für die Erläuterung und versicherte, die Armee würde ihre Pflicht tun. Wir haben es hier mit einer im Wortsinn unsäglichen Beratung zu tun. Sie bestand aus einem einzigen Monolog. Wie sich aus späteren Äußerungen etlicher der Beteiligten ergab, waren durchaus nicht alle von der Entscheidung überzeugt. Aber niemand erhob irgendeinen Einwand. Als Gegenbeispiel für eine zwar ebenfalls machtdominierte aber gänzlich andere Art der Entscheidungsfindung schildern die Autoren die Beratungen der amerikanischen Regierung während der Kuba-Krise im Jahr 1962. In der sogenannten Excom-Gruppe (dem Executive Committee of the National Security Council) waren 17 hochrangige Fachleute versammelt. Dazu gehörten ganz bewusst nicht nur Kabinettsmitglieder, sondern auch Personen aus anderen Einrichtungen, von denen wertvolle Beiträge zur Entscheidungsfindung zu erhoffen waren. Die erste Beratungsrunde fand am Vormittag des 16. Oktober statt, am Tag, nachdem die CIA gesicherte Erkenntnisse dafür hatte, dass in Kuba russische Atomraketen stationiert wurden. Großen Umfang nahm die Klärung der Lage 240

ein. Der Präsident griff nur selten in die Diskussion ein, und wenn, dann um nähere Auskünfte zu bekommen, etwa über die Art und Funktionsfähigkeit der Raketen. Er fragte seine Berater aber auch, wie diese die Motivation der russischen Führung einschätzten. Die Diskussion war von großer Offenheit geprägt, die Teilnehmer hatten z.B. keine Scheu, Unwissen einzugestehen. Von den 73 Beiträgen in dieser ersten Sitzung befassten sich 32 mit der Problemlage und deren Klärung (in der zweiten Sitzung am selben Abend waren es 31 der 64 Beiträge). Im Hitlermonolog auf dem Obersalzberg ging es dagegen nur in 4 der 21 angesprochenen Themen um die Problemlage. In den folgenden Beratungsrunden der Excom-Gruppe mit und ohne den Präsidenten wurden acht verschiedene Strategien erarbeitet, wie man auf die Situation reagieren könnte. Die Vorschläge waren eng mit der Problemanalyse verzahnt und wurden durch die jeweils aktuelle Informationslage befeuert, z.B. durch Meldungen der CIA über die verbleibende Zeit, bis die Raketen auf Kuba einsatzfähig waren. Letztlich schälten sich zwei Alternativen heraus. Verteidigungsminister McNamara und die Mehrheit der zivilen Berater präferierten die Schiffsblockade, die Militärs wollten massive Luftschläge durchführen. Der Außenminister Rusk lehnte beide Vorschläge ab. „Angesichts dieser Konfusion, übernahm Minister McNamara die Führung und gab zu verstehen, wie die Gruppe zu einer Lösung kommen sollte. Er war offensichtlich verärgert über den desorganisierten Entscheidungsprozess in der Gruppe und drängte die Mitglieder dazu, analytischer vorzugehen, Alternativen für ein abgestuftes militärisches Vorgehen zu entwickeln und dabei besonders auf die Konsequenzen zu achten. Das wurde von den Teilnehmern akzeptiert“ (Gallhofer/Saris 1997, 72). Kennedy hatte im Zuge der Beratungen seine Positionen mehrfach gewechselt. Auch nachdem er seine Präferenzen ausgesprochen hatte, hinderte er die Excom-Gruppe nicht daran, weitere Alternativen zu erkunden. Schlussendlich übernahm er den Rat seiner engeren Berater und ordnete, wie bekannt, die Schiffsblockade an. Wir haben es hier also mit einem gänzlich anderen Prozess der Entscheidungsfindung, zumal in der Erkundung der Problemsituation, zu tun als beim Obersalzburg-Treffen, das letztlich nur der Verkündung des „Führer“-Willens diente. Im Kennedy-Fall gab es dagegen eine echte und umfängliche Beratung, wobei allerdings auch hier nie außer Frage stand, dass die Entscheidung letztlich beim Präsidenten lag. Gallhofer und Saris heben bei der Erklärung des Unterschieds 241

vor allem auf die unterschiedliche Sensitivität der Amtsinhaber ab, auf deren Bereitschaft, sich Rat anzuhören und kontroverse Auffassungen zuzulassen. Das dürfte aber kaum eine hinreichende Erklärung sein. Neben dem Verhalten der Protagonisten kommt es nämlich noch auf eine Reihe weiterer wichtiger Handlungsvoraussetzungen an. Man sieht dies, wenn man sich fragt, ob sich ein amerikanischer Präsident ein autokratisches Verhalten im Stil Hitlers erlauben könnte. Formal hat auch in den USA der Präsident das letzte Wort in Fragen von Krieg und Frieden. Aber man kann sich nicht vorstellen, dass er seine Entscheidung in diktatorischer Manier durchsetzen und dabei keinerlei Widerstand befürchten müsste. Zwar kann und wird sich jeder Präsident mit Personen umgeben, die seiner politischen Haltung nahestehen und diese werden den Präsidenten normalerweise auch bei seinen Entscheidungen unterstützen. Aber das wird immer eine bedingte Unterstützung sein, zumal die Beteiligten ja auch anderen Personen und Institutionen gegenüber rechenschaftspflichtig sind (der Partei, den Wählern, den Gerichten, der Öffentlichkeit usw.). Die NS-Zeit war eine totalitäre Zeit, alle Institutionen waren gleichgeschaltet, Kontrollinstanzen außer Kraft gesetzt, „Checks and Balances“ gab es nicht. Und in den Beraterkreis, so ihm überhaupt eine Funktion zugemessen wurde, wurden nur eingeschworene Gefolgsleute aufgenommen. Im November 1937 hatte Hitler vor Militärs einige seiner Wahnideen vom Lebensraum des deutschen Volks vorgetragen und konnte damit nicht unbedingt überzeugen. Daraufhin wurden die Skeptiker ausgetauscht, sich selbst ernannte Hitler zum Oberkommandierenden Befehlshaber. Ein weiterer Unterschied bezieht sich auf die einem Abweichler drohenden Sanktionen. In einem demokratischen Staat mit einem starken durchsetzungswilligen und egomanischen Regierungschef ist das Schlimmste, was einem Berater und Mitarbeiter passieren kann, wenn er der vorgegebenen Linie nicht folgt, dass er aus seinem politischen Amt entfernt wird. Das kann dessen berufliche Aussichten beeinträchtigen, muss es aber nicht, weil er ja gegebenenfalls Anerkennung und Unterstützung in einem anderen politischen Lager finden kann. In einem totalitären System drohen dem Abweichler dagegen neben sozialer Ächtung reale Gefahren für Leib und Leben für sich und seine Angehörigen. Zusammengefasst: Die Machtausübung wird auf der einen Seite zweifellos stark geprägt durch die Persönlichkeit des Mächtigen, auf der anderen Seite wird sie aber auch kanalisiert und begrenzt durch das Institutionengefüge, in das die Macht eingebettet ist. 242

Personen Henry Mintzberg und Alexandra McHugh (1985) befassen sich mit der Geschichte des National Film Board of Canada (NFB) von dessen Gründung im Jahr 1939 bis ins Jahr 1975. Dabei geht es um eine spezielle und gleichzeitig sehr umfassende Definition eines Problems, nämlich um die Bestimmung des Betätigungsfelds dieser Einrichtung, d.h. ihrer Aufgaben, ihres „Geschäftsmodells“, ihrer Strategie. In derartigen Bestimmungsleistungen sieht man sehr häufig eine bewusst initiierte und planmäßig herbeigeführte Entscheidung. Diese Sicht der Dinge wird dem Gegenstand, um den es geht, aber nicht gerecht. Die Ausrichtung einer Organisation über die Zeit hinweg ist nur sehr beschränkt Ergebnis zielgerichteten Handelns, sie ergibt sich vielmehr als Kristallisierung von zahlreichen oft nur lose verkoppelten Handlungsschritten und Ereignisketten. Der NFB ist eine staatliche Einrichtung, die sich der Aufgabe widmet, Dokumentarfilme über die Natur und die Kultur Kanadas zu erstellen und zu vertreiben. Wie man sich denken kann, bleibt im Lauf von vier Jahrzehnten in einer solchen Organisation nicht alles beim Alten. Tatsächlich gab es beim NFB einige Bewegung auch in den grundlegenden Strukturen und Strategien. Mintzberg und McHugh unterscheiden sechs Entwicklungsperioden, die, angetrieben von je spezifischen konvergenten und divergenten Kräften, sich im Spannungsfeld zwischen Bewahrung und Veränderung jeweils unterschiedlich positionieren. Unter konvergenten Kräften verstehen die Autoren Kräfte, die für die Herausbildung von gestaltgebenden Mustern verantwortlich sind, divergente Kräfte richten sich dagegen auf die Veränderung dieser Muster. Die Neuausrichtungen des NFB wurde maßgeblich durch Umweltveränderungen beeinflusst. Ein Beispiel ist die Programmgestaltung in den Kriegsjahren. Das sogenannte „Wartime Information Programme“ machte in dieser Zeit über die Hälfte der Produktion aus. Als äußerst bedeutsam erwies sich auch das Aufkommen des Fernsehens. Man ging daran, den TV-Produzenten folgend, z.B. das bisherige Filmformat zu ändern und produzierte nun Sendungen im Umfang von 15 bzw. 30 Minuten und ging auch inhaltlich stark auf die gewünschten Formate ein. Interessanterweise weckte dieser starke Impuls aber auch starke Gegenkräfte. Die Filmproduzenten beklagten die Routinisierung, die mit der Aufnahme von Serienproduktionen verbunden war, die Gefahr der Verflachung, 243

die Themenverschiebung und die Ausdünnung des Programms. All das stand im starken Kontrast zu dem Bedürfnis der Filmemacher nach kreativen und anspruchsvollen Inhalten und einer sorgfältigen Ausgestaltung der Filme. In der Folge ließ sich das NFB denn auch von dem neuen Medium nicht „vereinnahmen“, sondern kehrte wieder zur eigenen Programmatik zurück, zur Produktion einzigartiger und qualitativ hochwertiger Filme. Außerdem wurden die traditionellen Vertriebswege des Filmverleihs über Kinos und öffentliche Einrichtungen gestärkt. Die „Abirrung“, die das neue Medium TV bewirkt hatte, erwies sich in gewisser Weise sogar als funktional, da sie dazu führte, sich auf die eigenen Stärken zu besinnen und an ihnen weiter zu arbeiten. „Mutmaßlich von überragender Bedeutung war das einfache Bedürfnis nach einer sinngebenden Definition“ (Mintzberg/McHugh 1985, 189). Menschen wollen wissen, wofür ihre Organisation steht, sie wollen in einem Umfeld arbeiten, in dem sie sich wohlfühlen können, das zu ihren Neigungen und Strebungen passt. Und im vorliegenden Fall hat sich das Professionsverständnis der Filmschaffenden durchgesetzt. Weder die Führung, noch die Strategie und Planung spielten hierbei eine wesentliche Rolle. Es war das Unbehagen der Organisationsmitglieder mit einer Praxis, die nicht zum Berufsethos passte, die die Rückbesinnung bewirkte. Ohne günstige äußere Bedingungen hätten die Filmemacher aber wahrscheinlich keinen Erfolg gehabt. Beim NFB hat man es mit einer Ad hoc Organisation zu tun, also mit einer Organisationsform, in der Bürokratisierungstendenzen nicht wirklich Platz greifen können. Die Arbeit wird in einer solchen Organisation in starkem Maß von Projektteams getragen. Die Teammitglieder werden, je nach den im Projekt gerade benötigten Kompetenzen, aus den grundständigen Abteilungen rekrutiert. Die Hierarchie hat diesbezüglich nur beschränkt ein Weisungsrecht und stieße bei entsprechenden Interventionen auf wenig Verständnis. Die Koordination erfolgt im Wesentlichen durch persönliche wechselseitige Abstimmung. Versuche zur Standardisierung der Arbeitsprozesse und zur Etablierung enger Kontrollen werden abgewehrt. Die Ad hoc Organisation ist sehr empfänglich für Umwelteinflüsse. Tatsächlich folgte der NFB sehr stark bestimmten Modewellen thematischer und methodischer Art. Daraus erwuchs aber keine bedenkliche Unbeständigkeit. Ein Beispiel für die Forcierung bestimmter Themen war der Aufschwung, den die Nachfrage und die Produktion soziologischer Filme in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre nahm. Aber auch diese Akzentuierungen trugen letztlich zu einer Fokussierung und Stabilisierung bei. Aus all dem folgt nicht, dass die Entwicklung des NFB nicht auch 244

eine andere Richtung hätte nehmen können. Es macht aber doch einen erheblichen Unterschied, ob die Belegschaft ein eigenes und ein ausgeprägtes Selbstverständnis (und nicht ganz unwichtig: ausgeprägte und nicht austauschbare Fähigkeiten) aufweist oder nicht. Jedenfalls hätte es erheblicher Anstrengungen bedurft und zu massiven Verwerfungen geführt, wenn man unter den geschilderten Umständen den Charakter der Einrichtung hätte verändern wollen. Mintzberg und McHugh haben vielfältige Informationen erhoben und illustrative Statistiken zur Entwicklung des NFB erstellt. Dennoch stößt eine solche Einzelfall-Studie an methodische Grenzen. Wie sollten sich auch die vielfältigen und weitverzweigten Aktivitäten und Geschehnisse in einem solchen langen Zeitraum vollständig und mit allen Nuancen, auf die es mitunter ankommt, erfassen lassen? Wir haben es also zwangsläufig mit einer stilisierten Darstellung zu tun und entsprechend fallen die Erklärungen der Autoren für die Übergänge in den Entwicklungsstadien einigermaßen grobkörnig aus. Das gilt z.B. auch im Hinblick auf das von Mintzberg und McHugh postulierte Kohärenzbedürfnis der Mitarbeiter, das in ihren Erklärungen eine zentrale Rolle spielt. Leider gehen die Autoren nicht auf die sich hieran anschließenden Fragen ein, also z.B. darauf, ob das Kohärenzbedürfnis wirklich immer eine hohe Stabilität besitzt (bei welchen Akteuren) und welche konkreten Vorgänge im vorliegenden Fall dafür verantwortlich waren, dass es sich Geltung verschaffen konnte. Ähnlich unbestimmt bleiben die Autoren bei der Frage, wie genau organisationale Gegebenheiten divergierende und konvergierende Kräfte aktivieren und wie aus dem Zusammenwirken der Kräfte ein stimmiges Gesamtgefüge entstehen kann.

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Kapitel 7: Die Handhabung von Problemen Phänomene Führungsgremien arbeiten anders als Expertengruppen. Experten arbeiten oft in Projekten, sie können sich ganz auf diese Aufgabe konzentrieren, sie durchdringen, abarbeiten und sich anschließend mit derselben Hingabe dem nächsten Problem zuwenden. Führungsaufgaben lassen sich nicht so ohne Weiteres planmäßig und strukturiert abarbeiten. Patrick Walker, ehemaliges Mitglied der Regierung Großbritanniens, beschreibt die Arbeit im Kabinett wie folgt: „Im realen Leben behandelt ein Kabinett nicht ein einzelnes Thema, wie bedeutsam dies auch immer sein mag. Es muss sich gleichzeitig einer großen Masse von Problemen stellen, sie diskutieren und lösen … Jedes von ihnen kann die Konfliktlinien im Kabinett vergrößern oder verkleinern und wird damit die Beziehungen zwischen den Kabinettsmitgliedern verändern ... Von jeder Entscheidung kann eine Wirkung auf die Parteien, das Parlament und die Öffentlichkeit ausgehen und damit die erwarteten Reaktionen auf spätere Entscheidungen beeinflussen“ (Walker 1972, 146). Es ist nicht nur die Fülle der Probleme, es sind auch deren Vernetzungen und die Dynamik des Geschehens, die leicht dazu führen, dass der Überblick verloren geht und eine Kontinuität des Handelns kaum noch zu erkennen ist. Walker macht dies mit seiner Schilderung der Entscheidung Großbritanniens vom Januar 1958 deutlich, die Militärstützpunkte östlich von Suez aufzugeben. Dieser Rückzug bedeutete die Abkehr von einer 150-jährigen Geschichte und erschien noch wenige Jahre zuvor undenkbar. Die militärische Präsenz war Ausdruck des weltpolitischen Selbstverständnisses, sie war von den Commonwealth-Ländern erwünscht, sie ermöglichte das rasche Eingreifen bei Konflikten in den Interessengebieten und 246

galt als Stabilitätsfaktor angesichts der prekären Beziehungen unter den Ländern am Persischen Golf. Die Erfolge in den Befriedungsaktionen in Kuweit und Ostafrika wenige Jahre zuvor und die bedeutsame Rolle Großbritanniens im Konflikt zwischen Indonesien und Malaysia sprachen für die Beibehaltung der Militärpolitik. Außerdem war jüngst eine Vereinbarung mit den Vereinigten Staaten getroffen worden, die darauf abzielte, einen gemeinsamen Militärstützpunkt auf dem Britischen Territorium im Indischen Ozean einzurichten. Doch trotz des scheinbar abrupten Schwenks erfolgte die Ablösung von der bisherigen Militärpolitik tatsächlich eher schleichend. Sie wurde ursprünglich lediglich von einer kleinen Minderheit im Kabinett befürwortet, wurde von dieser aber eigentlich nie zu einem wirklichen Thema gemacht. Es waren vor allem zwei Entwicklungen, die letztlich den Umschwung in der Haltung bewirkten und die dann erfolgte Entscheidung hervorbrachten. Das war zum einen die stärkere Zuwendung nach Europa im Zuge des Beitritts zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft – ein Vorgang, der interessanterweise von den Beteiligten so gut wie gar nicht mit der Änderung der Militärstrategie in Verbindung gebracht wurde. Und zum anderen waren es der wirtschaftliche Abschwung sowie die starke Abwertung des Britischen Pfunds und die daraus resultierenden Notwendigkeiten, die Verteidigungsausgaben zu kürzen. „Die wirtschaftliche Notlage veranlasste das Kabinett dazu, eine radikale Veränderung ihrer Verteidigungspolitik in den Blick zu nehmen: sie machte eine Entscheidung explizit, die unbewusst bereits getroffen war, ein Tatbestand, den das Kabinett insgesamt und der Premierminister nicht hatten wahrnehmen wollen“ (Ebenda, 144). Der geschilderte Fall beleuchtet einige interessante Aspekte der kollektiven Entscheidungsfindung. So stellt sich unter anderem die Frage nach dem eigentlichen Problem, auf das die Entscheidung die Antwort sein soll. Der militärische Rückzug war nicht zuletzt eine Reaktion auf die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage. Es handelte sich bei der Rückzugsentscheidung aber nicht etwa um einen Lösungsansatz für das wirtschaftliche Problem. Allenfalls ging es darum, den davon ausgehenden Druck abzumildern. Was war dann aber das „eigentliche“ Problem? Obwohl das nicht explizit von den Beteiligten diskutiert wurde, ging es letztlich um die geopolitische Stellung Großbritanniens, darum, ob man sich noch als Weltmacht oder zukünftig primär als europäische Macht positionieren sollte. So gesehen, scheint es auch im kollektiven Fall möglich, ein Problem unbewusst (oder zumindest unterbewusst) anzugehen. Aktuell und konkret diskutierte Probleme 247

sind nicht selten Manifestationen von tiefer verankerten Metaproblemen, deren Bedeutung und verhaltenslenkende Kraft nur im Nachhinein und aus einer gewissen perspektivischen Distanz heraus erkennbar ist. Ein dritter Aspekt betrifft die Muster, die sich in der Problembehandlung erkennen lassen. Im vorliegenden Fall fällt ein gewisser Widerspruch auf. Einerseits findet man eine nur sehr zögerliche Zuwendung zu dem Problem, andererseits kommt es, angesichts der Dimension der Entscheidung, dann doch zu einem relativ raschen Entschluss. Die Zurückhaltung in der Behandlung des Problems spiegelt sich unter anderem auch in den Erklärungen und Denkschriften der Regierung wider. Während man anfangs noch auf die militärischen Fähigkeiten in der Region abstellt, spricht man in den späteren Verlautbarungen nur noch von der Gewährleistung der allgemeinen Einsatzfähigkeit und zwar, weiter einschränkend, auch nur, insoweit es die jeweiligen Umstände erfordern. Im Weiteren ist auch davon keine Rede mehr, stattdessen geht es um Planungen für neue Arrangements zur Sicherstellung der Stabilität. Schließlich erfolgt dann die Erklärung, dass man sich nun primär auf die Region westlich von Suez konzentrieren will. Der Abschied von der traditionellen Ausrichtung erscheint im Nachhinein als nahezu zwangsläufig, gewissermaßen als Nachvollzug ohnehin bereits vollzogener Entwicklungen. Dennoch fiel dieser neue Realismus offenbar alles andere als leicht, auch mental. Der Premierminister Harold Wilson jedenfalls gestand: „Ich war einer der letzten, der sich überzeugen ließ“ (Ebenda, 144).

Qualität Was ist eine gute Problembearbeitung? Die Normative Entscheidungstheorie hat hierzu eine klare Vorstellung, jedenfalls auf den ersten Blick. Grundlage jeder guten Entscheidung sind danach verlässliche Informationen über alle entscheidungsrelevanten Tatbestände. Man spricht dann gern von vollständiger Information. Eine solche Anforderung mündet aber in eine schlichte Trivialität, denn, wenn man alles weiß, dann gibt es einfach kein Problem. Daneben ist der Anspruch, sich ein vollständiges Bild von der Handlungssituation zu verschaffen, auch unrealistisch. Menschliche Wissensmöglichkeiten sind begrenzt und es gehört zur menschlichen Klugheit, dass man sich dessen bewusst ist. Das heißt aber nicht, dass man sich nicht um ein möglichst realistisches Bild der Entscheidungssituation bemüht. 248

Es ist nur vernünftig, sich eine solide Wissensbasis zu verschaffen, um abschätzen zu können, was man mit seinem Handeln erreichen kann und was nicht. Doch um welches Wissen geht es der Entscheidungstheorie im Einzelnen? Ganz zentral und nicht zuletzt geht es zunächst um das Wissen über einen selbst, d.h. man sollte sich Klarheit darüber verschaffen, was einem wertvoll und was einem nebensächlich erscheint. Die darin steckende Problematik wird häufig nicht weiter thematisiert, weil man offenbar davon ausgeht, dass jedem doch intuitiv klar sei, was er wolle und was nicht oder sogar: was für einen gut ist und was nicht. Beides ist zweifelhaft. Wäre es so, wie unterstellt, dann müsste niemand je bedauern, was er getan hat und wäre es so, dann folgte daraus, dass Menschen sehr einfache Wesen sind, mit wenigen Bedürfnissen, logisch kohärenten Überzeugungen und einer schablonenhaften Persönlichkeit. Im kollektiven Fall wird man ohnehin davon auszugehen haben, dass einheitliche Vorstellungen und Belange nicht der Normalfall sind, dass man also austarieren muss, wo eine gemeinsame Verständigungslinie und eine tragfähige Interessenbasis zu finden sind. Zu bedenken ist außerdem, dass Entscheidungen nicht für die Gegenwart gemacht sind, ihre Folgen vielmehr erst in der Zukunft eintreten, in einer Zukunft, in der man sich selbst möglicherweise verändert hat und in der auch ein anderer als der jetzige Personenkreis von der Entscheidung betroffen sein wird. Damit ist ein zweiter Aspekt des relevanten Wissens angesprochen, nämlich das Wissen von den (kurz-, mittel- und langfristigen) Konsequenzen einer Entscheidung. Manchmal wird das sehr eng gesehen und man betrachtet nur, welche Handlungen dazu dienen können, die jeweils infrage stehenden Ziele zu erreichen. Handeln hat aber in aller Regel nicht nur eine, sondern viele Wirkungen und zwar für verschiedensten Handlungsfelder. Entsprechend muss es darum gehen, auch die Nebenwirkungen zu beachten, die von den eigenen Zielen nicht erfasst werden und ebenso die Spätfolgen, die sich aus einer Entscheidung ergeben können. In vielen Situationen ist es ratsam, sich zu überlegen, welche Strategien andere Akteure verfolgen und wie diese auf das eigene Verhalten reagieren werden. Im eigentlichen Sinn geht es bei der Betrachtung wichtiger Entscheidungen nie nur um die eine oder andere Konsequenz, gefordert ist vielmehr das Denken in Szenarien, in der Berücksichtigung von alternativen Bedingungskonstellationen und in der Beachtung der Wirkungsvielfalt der jeweiligen Handlungsalternativen bzw. Handlungsstrategien. Schließlich sollte man möglichst auch die verfügbaren Handlungsalternativen kennen. Diese liegen, jedenfalls bei komplexeren Problemen, nicht einfach bereit 249

und sie warten nicht darauf, ausgewählt und schlankweg exekutiert zu werden. Gute Alternativen müssen immer erst noch gefunden und erkundet und nicht selten sogar eigens konstruiert werden. Daraus entstehen manchmal äußerst verwickelte Handlungspläne, von denen erst noch gezeigt werden muss, dass sie auch realisiert werden können. Einer gewichtigen Entscheidung geht daher sinnvollerweise erst noch eine Erprobung voraus und man sollte wissen, wie man eine solche Erprobung durchzuführen hat, damit sie auch irgendwelche Erkenntnisse liefert. Und nicht nur die Vorbereitung, auch die Umsetzung der Entscheidung verlangt Wissen, das nicht ohne Weiteres zur Verfügung steht, z.B. über die möglichen Hindernisse, die sich dem Handeln in den Weg stellen können, über die Unterstützung, die man braucht und eventuell auch gewinnen kann, über die Verfügbarkeit von Ressourcen und Methoden, und vor allem auch darüber, ob man über die Fähigkeit verfügt, bei allen Fährnissen, die auf einen zukommen können, die Umsetzung erfolgreich zu Ende zu führen. Damit aber nicht genug. Zu einer Handlung gehört nicht nur deren Ausführung, sondern ebenso wichtig und manchmal wichtiger ist es, Begründungen für sein Tun oder Unterlassen zu finden, Rechtfertigungen, die geeignet sind, Dritte und auch sich selbst zu überzeugen. Um dies leisten zu können, muss man in der Lage sein, auf Hintergrundwissen zuzugreifen, das geeignet ist, das Geschehen einzuordnen und ihm einen nachvollziehbaren Sinn zuzuweisen. Wenn man all dies bedenkt, dann erweist sich das Informationsproblem als gewaltige Aufgabe, die sich nicht so ohne Weiteres und nebenher bewältigen lässt. Man braucht dafür Zeit, die man oft nicht hat und man muss mit Kosten rechnen, die man sich oft nicht leisten kann. Außerdem stellt sich unabhängig von diesem pragmatischen Problem das Erkenntnisproblem, also die Frage, wie man entscheiden kann, ob man bei dem Bemühen um die Informationsgewinnung erfolgreich ist, ob man wirklich alle wichtigen und relevanten Informationen gesammelt hat und ob man darauf vertrauen kann, dass sie sich auch als valide, verlässlich und robust erweisen. Das ist nicht nur ein subjektives Problem, hat also nicht nur etwas mit dem Informationsstand und der Expertise der Teilnehmer und Berater zu tun. Es ergibt sich vielmehr schlicht daraus, dass über die infrage stehenden Zusammenhänge objektiv nur wenige und vorläufige Kenntnisse existieren. Man denke nur an die Schwierigkeiten und den Expertenstreit, der entbrennen kann, wenn man ein innovatives Projekt durchsetzen will. Schon die Frage, ob eine technische Lösung überhaupt machbar ist, bleibt häufig umstritten. Und je komplexer 250

sich das Geschehen gestaltet, desto weniger verlässlich sind Prognosen, etwa zu den bereits angedeuteten Technikfolgen, über Entwicklungen auf den Finanz-, Güter- und Arbeitsmärkten, gesellschaftliche Trends, Klima- und Umweltfragen, politische Stimmungslagen, Gesetzesvorhaben usw. Trotz all der damit angedeuteten Schwierigkeiten, und trotz der nicht aufhebbaren Unbestimmtheit auch von vorgeblich wissenschaftlich gestützten Einsichten, ist es dennoch sinnvoll, sich um eine gute Informationsbasis zu bemühen. In der empirischen Forschung wird das Ausmaß, in dem man sich in einem Entscheidungsprozess um eine möglichst vollständige Informationsgewinnung bemüht, mit dem Konzept der Umfänglichkeit der Entscheidungsfindung (der „Comprehensiveness“), dem aufmerksamen Problemlösen (dem „Vigilant Problem Solving“) oder auch der prozeduralen Rationalität erfasst (Fredrickson/Mitchell 1984, Dean/Sharfman 1996, Martin 1998, Forbes 2007). Das Streben nach einer möglichst umfassenden Problemaufbereitung ist also durchaus begrüßenswert, es ist dabei allerdings deutlich abzugrenzen von einer psychologisch oder sozial motivierten Überspannung des Entscheidungsprozesses. Ein extensives Erwägen aller Details, Möglichkeiten, Wenn und Abers ist nicht immer Ausdruck des Bemühens um eine möglichst gute Entscheidung, sondern kann auch einer irrationalen Risikoangst oder einer generellen Entscheidungsschwäche entspringen (Japp 1992). Rechtfertigen lässt sich recht leicht, dass ein Erkundungs- und Willensbildungsprozess seine Zeit beansprucht. Schließlich lässt sich ja wenig gegen die Auffassung vorbringen, dass mehr Informationen besser sind als wenige. Das gilt aber nur abstrakt, konkret stößt man mit dieser Auffassung nur bedingt auf Gegenliebe. Am besten wäre es natürlich, wenn sich ein Optimum bestimmen ließe, wenn sich also sagen ließe, wann man die Problembearbeitung abbrechen und wann man zum Handeln übergehen sollte. Leider gibt es hierfür kein optimales Verfahren. Unbeschadet solcher Überlegungen, lässt sich aber sagen, dass das ernsthafte Bemühen um gute Informationen im Normalfall auch zu besseren Entscheidungen führt. Allerdings sind Informationen gewissermaßen nur ein Rohstoff, ihr Wert zeigt sich erst im Gebrauch, in der Aufbereitung, in der Vermittlung, in der Sinngebung, in der kollektiven Anstrengung darum, die Informationslage recht zu verstehen und die Zusammenhänge zu begreifen, die den Informationen erst ihre Bedeutung geben. Anders ausgedrückt: Vernünftiges kollektives Entscheiden setzt nicht nur auf fundierte Informationen, sondern auch auf verständiges Argumentieren. Wie vernünftig wird in Entscheidungsgruppen argumentiert? Man 251

kann diesbezüglich skeptisch sein. Robert Axelrod (1977) untersuchte in drei Fallstudien das Zustandekommen außenpolitischer Beschlüsse auf höchster Ebene. Dabei zeigte sich, dass die Teilnehmer an den Beratungen auf die Argumente ihrer Verhandlungspartner so gut wie gar nicht eingingen. Um das Verhandlungsverhalten zu erklären, entwickelte Axelrod ein „Angriffs- und Verteidigungsmodell“. Gemäß diesem Modell geht es den Teilnehmern an einer Diskussion oder Verhandlung primär darum, die eigene Position zu vertreten und zu verteidigen und die Argumente der Akteure, die andere Ansichten als man selbst vertreten, zu attackieren. Die Modellvorstellungen kommen den realen Ereignissen recht nahe. In den von Axelrod betrachteten Fällen gaben sich die jeweiligen Akteure darüber hinaus keine sonderliche Mühe, die eigene Position mit empirischer Evidenz zu untermauern. Und auf die von anderer Seite vorgebrachten Argumente ging man ebenfalls kaum ein. Der Verhandlungspartner wurde ausgiebig mit Kausalbehauptungen traktiert, eine Diskussion dazu gab es aber von beiden Seiten nicht. Die betrüblichen Ergebnisse der Axelrod-Studie sind vor allem auch deswegen bemerkenswert, weil es sich bei den drei betrachteten Fällen um strukturell unterschiedlich gelagerte Fälle handelt. Im ersten Fall ging es um ein „kollegiales Setting“, in dem die Teilnehmer nicht aus der Position und Autorität ihres Amtes heraus argumentieren, sondern rein auf ihre individuelle Überzeugungskraft setzen müssen. Als Beispiel diente Axelrod der Rat für Nationale Sicherheit in Japan, der im Jahr 1970 über die Neuausrichtung der japanischen Militärpolitik zu befinden hatte. Im zweiten Fall handelte es sich um ein „bürokratisches Setting“, in dem die Teilnehmer in ihrer Rolle als Vertreter einer Institution oder eines Amtes agieren. Im konkreten Fall ging es um das British Eastern Committee und dessen Entscheidung über das weitere Engagement in Persien nach Ende des Ersten Weltkriegs. Das dritte Setting betrifft hochkontroverse Aushandlungsprozesse, in denen mitunter wenig zimperlich mit Drohungen und Versprechungen gearbeitet wird. Als Beispielfall hierfür diente Axelrod die Aushandlung des Münchner Abkommens im Jahr 1938, das die von Hitler betriebene Herauslösung des Sudentenlands aus der Tschechoslowakei zum Inhalt hatte. Man sollte meinen, dass das Niveau der Argumentation in den betrachteten Settings unterschiedlich war. Das war aber, wie gesagt, überhaupt nicht der Fall. In den Erörterungen, Gesprächen und Verhandlungen wurde auf die vorgebrachten Argumente nicht wirklich eingegangen. Immer wieder wurde mit mehr oder weniger großen Variationen nur die je eigene Sichtweise vorgebracht, die die Gegenseite aber weder beeindruckte, 252

noch zu einer näheren inhaltlichen Diskussion veranlasste. Angesichts seiner Ergebnisse stellt sich Axelrod die Frage „… ob hochrangige Politiker die Argumente der anderen einfach nicht verstehen oder ob sie einer so ausgeklügelten und gewandten (‚sophisticated‘) Strategie folgen, die wir noch nicht richtig verstehen können“ (Axelrod 1977, 744).

Regeln Man muss bei der Entscheidungsfindung den Dingen nicht einfach ihren Lauf lassen, man kann sie auch lenken. Man kann sich Regeln geben, die darauf abzielen, gute Lösungen zu finden, Lösungen, die sowohl funktionstüchtig sind als auch einen Interessenausgleich gewährleisten. Und dies geschieht natürlich auch. Man findet sowohl ganz bewusst konzipierte generelle als auch aus Gewohnheitshandeln sich herauskristallisierende Regeln und außerdem Regeln, die ad hoc erst in einer konkreten Entscheidungssituation formuliert werden und nur für diese Geltung beanspruchen. Einige Fragen, die durch entsprechende Regeln beantwortet werden müssen, seien beispielhaft genannt: Soll abgestimmt werden oder geht es um Einmütigkeit? Wenn abgestimmt wird: Welche Mehrheitsregeln sollen gelten, gibt es Veto-Rechte usw.? Wer gehört zum Kreis der letztlich für einen Entschluss zuständigen Personen? Ist es im Zweifel nur eine Person? Wer gehört zum weiteren Teilnehmerkreis an der Entscheidungsfindung? Gibt es ein Rederecht? Gibt es ein Interventionsrecht? Gibt es Informationsbeschränkungen und Informationsrechte? Folgt die Entscheidungsfindung einem bestimmten zeitlichen Schema? Wer leitet das Entscheidungsprojekt? Was ist zu tun, wenn man inhaltlich nicht weiterkommt? Wie geht man mit wachsender Unzufriedenheit um, z.B. wenn der Projektfortschritt ausbleibt? Wie soll man sich verhalten, wenn sich abzeichnet, dass sich eine schlechte Entscheidungsalternative durchsetzt? Welche Verhaltensregeln sind einzuhalten, um moralisch fragwürdige Entscheidungen zu verhindern? Das sind viele Fragen, aber längst nicht alle, die im Zuge eines Entscheidungsprozesses auftauchen können und zu denen man sich Regeln geben kann – oder auch nicht. Eine der wichtigeren Fragen betrifft die Arbeitsteilung, also die Überlegung, ob es sinnvoll ist, Teilaufgaben der Entscheidungsfindung auszugliedern und hierfür spezielle Verantwortlichkeiten zu definieren. Aus dem Organisationsalltag kennt man die Trennung zwischen Linien- und Stabsstellen. Die 253

Stäbe stellen das professionelle Wissen bereit, sammeln die für eine Entscheidung wichtigen Informationen, bereiten sie auf und erarbeiten gegebenenfalls ausformulierte Entschlussvorlagen, die dann – allerdings von den Linienstellen – zu bewerten sind. Die Aufgabe, die Entscheidung sachgerecht umzusetzen, wird nach dem Entschluss oft zurück- oder auch weiterdelegiert. Manchmal ist dieses Vorgehen sinnvoll, allerdings gibt es auch Situationen, in denen der damit erzielbare Effizienzgewinn mit erheblichen Nachteilen erkauft wird. Problematisch ist eine strikte Arbeitsteilung insbesondere bei komplexen Entscheidungsproblemen, weil es zu deren Bearbeitung notwendig ist, ständig zwischen der Informationssammlung, der Informationsbewertung, der Erarbeitung von Handlungsoptionen, der Klärung der Ausführungsbedingungen usw. hin und her zu wechseln. Wenn von Stäben quasi entscheidungsreife Vorlagen erarbeitet werden, dann sind die eigentlich für die Autorisierung zuständigen Stellen aus diesem Prozess und aus den damit implizierten Weichenstellungen herausgenommen. Wie sollen diese dann nachvollziehen können, wie gut fundiert die Entscheidungsvorlagen tatsächlich sind? Dazu kommt, dass es „rohe Informationen“ nicht gibt und ihre Aufbereitung kein objektiver Vorgang ist, sondern stark von den Dispositionen und Fähigkeiten der für die Informationsgewinnung verantwortlichen Personen geprägt wird. Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die Frage, wer letztlich für die Entscheidung (und für die Gestaltung des Entscheidungsprozesses) die Verantwortung tragen soll. Sind es nur einzelne Teilnehmer, ist es eventuell sogar nur ein Einzelner (der Projektbeauftrage, der Vorsitzende eines Gremiums, dessen Vorgesetzter usw.) oder finden sich die Teilnehmer an einem Entscheidungsprozess bereit, gemeinsam die Verantwortung für ihre Entscheidung zu übernehmen? Letzteres ist deswegen von Interesse, weil man von den „Verantwortlichen“ erwartet, dass sie ihre Entscheidungen vorbehaltlos vertreten und nach außen geschlossen auftreten. Meinungsunterschiede innerhalb der an einer Entscheidung beteiligten Personen werden unter Umständen durchaus geduldet, wenn nicht gar gewünscht. Ist eine Entscheidung aber getroffen, soll man auch dazu stehen. Dies ist mitunter, zumal in einem politisch verminten Umfeld, ein deutlich zu hoher Anspruch. In der Realität findet man daher – unbeschadet der Tatsache, dass die Forderung nach Geschlossenheit und Geheimhaltung ungeteilte Zustimmung findet – häufig eine Missachtung der damit verbundenen Verhaltensregeln. Vertrauliche Informationen werden nach außen getragen, es wird kolportiert, wer sich für oder 254

gegen etwas gestellt hat, und es kommt im Nachhinein auch nicht selten zu Absetzbewegungen, zu mehr oder weniger deutlich erkennbaren Distanzierungen von der eigentlich gemeinsam getroffenen Entscheidung. Den Beteiligten ist die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit durchaus bewusst, sie sind aber nicht bereit, den Widerspruch aufzulösen, weil es sich mit ihm besser als gegen ihn leben lässt. Man braucht nämlich beides, kollektive Geschlossenheit ebenso wie individuelle Profilierung. Geschlossenheit signalisiert Handlungsfähigkeit, ein zerstrittenes Führungsteam präsentiert sich als orientierungslos und wenig vertrauenswürdig. Durchsetzungsfähigkeit und Willenskraft lassen sich nur mit einer einheitlichen Haltung demonstrieren. Umgekehrt sind Führungspersonen darauf angewiesen, ihr je eigenes persönliches Profil zu pflegen. Das geht aber nur, wenn man den Eindruck vermeidet, man sei austauschbar und lediglich ein williger Gehilfe bei der Durchsetzung fremder Interessen. Auf die eine oder andere Weise wird man daher deutlich machen, dass man die Dinge, um die es bei einer Entscheidung geht, auf seine eigene Weise betrachtet und man bei aller kollektiven Einbindung seinen je eigenen Kurs verfolgt (vgl. Walker 1972, 32-39). Man wird daher beiden Anforderungen ihr Recht geben und sich darum bemühen, im Spannungsverhältnis von Konformität und Abweichung die Balance zu halten. Profilierungswünsche, Machtinteressen, Pragmatismus oder was sonst immer, das Bedürfnis an einer guten Entscheidungsqualität lässt sich davon nicht gänzlich zur Seite drängen. Und, wie oben bereits angeführt, kann eine gute Argumentationskultur dazu beitragen, diesem Bedürfnis entgegenzukommen. Robert Alexy formuliert und erläutert eine Reihe von hilfreichen Regeln, deren Beachtung einen rationalen Diskurs voranbringen kann. Es handelt sich um Regeln zur Logik der Argumentationsführung, Regeln zur Einführung von Argumenten, Regeln zum Übergang auf andere Themen, Regeln zum Ausschluss bestimmter Argumentationsformen (Schmeicheleien, Drohungen usw.) sowie um Vernunftund um Begründungsregeln (Alexy 1983). Ein Beispiel für eine Vernunftregel lautet: Jeder darf jede Behauptung problematisieren (Regel 2.2.1). Ein Beispiel für eine Begründungsregel lautet: Jeder muss den Konsequenzen der von ihm vorausgesetzten oder behaupteten Regeln für jeden zustimmen können (Regel 5.1.1). Man mag seine Zweifel daran haben, ob sich derartige – zum Teil sehr anspruchsvolle – Regeln und ganze Regelkataloge anwenden lassen (man denke allein schon an die Schwierigkeit, sie einvernehmlich einzuführen und Regelverletzungen 255

„einzuklagen“), nicht zu bezweifeln ist allerdings, dass kollektives Argumentieren immer irgendwelchen Regeln folgt und dass es sich lohnt, über deren Zweck und deren Nützlichkeit nachzudenken.

Verhalten Es gibt kein Nicht-Handeln, auch ein Unterlassen ist ein Handeln. Entsprechendes gilt für alle Aktivitäten in einem Entscheidungsprozess. Man kann hinsehen, wegsehen, vorbeisehen; man kann miteinander sprechen, nicht sprechen, über Abseitiges sprechen; man kann denken, Denkverzicht üben, an etwas Anderes denken usw. Außerdem gibt es in der Intensität und der Qualität der Aktivitäten zahlreiche Abstufungen: Man kann sich beiläufig, oberflächlich, selektiv, desinteressiert informieren oder auch regelmäßig, nachdrücklich, breit und engagiert; man kann, was die Abschätzung der Handlungskonsequenzen angeht, davon ausgehen, dass alles bleibt, wie es ist, man kann Trendfortschreibungen vornehmen, der Intuition vertrauen, Expertenmeinungen einholen, Umfragen durchführen, Szenario-Analysen erstellen usw. Man kann den Gesamtprozess zügig voranbringen, man kann ihn gemächlich durchlaufen, abrupt beenden, versickern lassen, in einem Zug zu Ende bringen, ständig unterbrechen oder unterbrechen lassen, ausweiten, einengen, behindern, abwerten, verheimlichen, heraus- oder infrage stellen, ignorieren, anreichern, verschlanken, politisch aufladen, versachlichen, ernst nehmen, instrumentalisieren usw. In einem Wort: man wird in der Realität zahlreiche verschiedene Muster von Versuchen der Problemhandhabung vorfinden, denen manchmal eine einleuchtende Logik zugrunde liegt und oft scheinbar nicht.

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Problem: Eine Person P (eine Gruppierung G) findet für ein bestimmtes Anliegen keine Unterstützung bei vorgesetzten Stellen (in einem Gremium). Verhaltensweisen nach innen

Beispiele für das Verhalten der Person P

Ausweichen (verdrängen, verschieben) Umdefinieren (leugnen, kognitives Manipulieren)

Beispiele für das Verhalten der Gruppierung G

P wartet auf eine günstige Gelegenheit, um ihr Anliegen erneut vorzubringen. Die Ablehnung wird auf Zufälle zurückgeführt. Der Grund für die Ablehnung wird in einem unbedeutenden Punkt gesehen. Umbewerten P nimmt eine Neugewich(ändern der Über- tung der Teilelemente ihrer zeugungen/Wert- Position vor. P relativiert haltungen) die Bedeutung ihres Anliegens. Problemlösen P dringt auf inhaltliche (konventionell, Verbesserungen. P bemüht innovativ) sich darum, dass sie verstanden wird.

Die Mitglieder der Gruppierung einigen sich auf eine Verschiebung. Die Mitglieder der Gruppierung reden sich das Erreichte schön („Wir haben Bewusstsein geschaffen, Flagge gezeigt“). G wendet sich vermeintlich wichtigeren Themen zu. G erarbeitet Paketlösungen, um Teile ihres Anliegens durchsetzen zu können. Mitglieder von G erarbeiten ein neues Positionspapier.

Verhaltensweisen nach außen

Beispiele für das Verhalten der Person P

Beispiele für das Verhalten der Gruppierung G

Ignorieren (ausblenden, Flucht aus dem Feld) Strategisches Vorgehen (Machtaufbau, Normierung)

P vermeidet Situationen, die sie mit dem Problem konfrontieren, das ihrem Anliegen zugrunde liegt. P versucht Überzeugungsarbeit z.B. durch Heranziehung von Gutachten. P versucht, in Führungspositionen zu gelangen.

Die Mitglieder von G vereinbaren, über das Thema nicht weiter zu diskutieren.

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G bemüht sich darum, neue Mitglieder zu gewinnen. G strebt Veränderungen der Verfahrensordnung an.

Taktisches Vorgehen (Verhandlungen, soziale Manipulation) Willfährigkeit (erduldend, mit Überzeugung)

P macht dritten Personen im Gegenzug für Unterstützungsleistungen irgendwelche Versprechungen.

G versucht, die Öffentlichkeit für ihr Anliegen zu mobilisieren. G kündigt Zusammenarbeit bei anderen Problemen auf. P akzeptiert die Mehrheits- G löst sich als Interessengemeinung (mit oder ohne meinschaft auf. G akzeptiert mentalen Vorbehalt). die Mehrheitsmeinung, arbeitet aber an Spezifikationen.

Tab. 7.1: Formen der Problemhandhabung (Beispiele) Ganz bewusst ist dabei von der Problemhandhabung und nicht etwa von der Problemlösung die Rede. Zwar sind Entscheidungsprozesse auch Problemlösungsprozesse, aber angesichts der vielfältigen Anforderungen und Interessen, die sich auf die Lösung eines ein Kollektiv betreffenden Problems richten, ist ein alle Seiten voll befriedigendes Ergebnis kaum wirklich zu erwarten. Kollektive Problemlösungen sind daher in aller Regel Kompromisslösungen und allenfalls vorläufiger Natur. Probleme haben keine Ziele, diese muss sich der Mensch selber geben. Anders ausgedrückt: Probleme drängen lediglich auf ihre Beseitigung. Primär oder zunächst geht es beim Umgang mit Problemen daher darum, den von ihnen ausgehenden Handlungsdruck aufzulösen oder wenigstens zu vermindern. Hierzu ist es nicht unbedingt notwendig (häufig ist es, wie angeführt, auch gar nicht möglich), das Problem wirklich zu lösen. In Tabelle 7.1 sind einige wichtige Handhabungsformen aufgeführt. Dabei handelt es sich nicht um ganz konkrete Aktivitäten, sondern um Klassen von Verhaltensweisen (auf einer mittleren Abstraktionsebene), die im konkreten Fall ein je eigenes Aussehen annehmen können. Die Handhabungsformen richten sich einmal nach innen, sie betreffen also die Art und Weise, in der man ein Problem annimmt, wie man darüber denkt und welche Empfindungen sich damit verknüpfen. Die nach außen gerichteten Verhaltensweisen betreffen die Frage, wie man sich einem Problem stellt und was man tun kann, um den Problemursachen zu begegnen. Wie gesagt, man muss ein Problem nicht unbedingt lösen, um sich eine gewisse Befreiung davon zu verschaffen. Möglicherweise kann man ihm ausweichen und wenn man Glück hat, löst es sich sogar „von selbst“ (d.h. genauer: aufgrund von 258

Entwicklungen und Ereignissen, die nichts mit dem eigenen Handeln zu tun haben) auf. Ein Beispielfall ist der Kollege, der einem ständig Schwierigkeiten macht (weshalb man dessen Kontakt meidet) und der glücklicherweise irgendwann den Arbeitsplatz wechselt. Oder man versucht, bestimmte Teilaspekte eines Problems in einem anderen Licht zu sehen, ihm eventuell sogar positive Seiten abzugewinnen, um damit dem Problem seine Bedeutungsschwere zu nehmen. Als Beispiel sei der schwer erreichbare Vorgesetzte genannt, den man kaum einmal um einen Rat fragen oder um Unterstützung bitten kann, der einen andererseits ungestört die eigene Arbeit tun lässt. Oder man kann, um den Arbeitsdruck zu vermindern, die Ansprüche an die Qualität seiner Arbeit reduzieren. Sichergestellt ist mit den angeführten Manövern natürlich nicht, dass sich das Problem verflüchtigt, es kann, wenngleich zunächst zurückgedrängt, weiterbestehen und sich gegebenenfalls umso deutlicher zurückmelden: Der unangenehme Kollege kann einem als Teampartner zugeteilt werden, der Vorgesetzte vergisst, einem wichtige Informationen zu geben, es stellt sich heraus, dass man zwar kurzfristig seine Qualitätsvorstellungen herunterschrauben konnte, man sein Anspruchsniveau aber eigentlich doch nicht anpassen kann usw. Tatsächlich durchläuft die Problemhandhabung meist mehrere Handlungszyklen und findet ihr Ziel erst, wenn sich eine der Handhabungsformen als dauerhaft belastbar erweist oder wenn sich das Problem aus welchen Gründen auch immer verflüchtigt. Zur Dynamik der Problemhandhabung gehört außerdem, dass die vermeintlichen Lösungen Probleme zwar zur Seite schaffen können, sich damit aber nicht selten neue und andere Probleme in den Vordergrund schieben. Wenn jemand beispielsweise mit seinem Einkommen nicht auskommt, kann er versuchen, dem Problem auf der Einnahmen- oder der Ausgabenseite beizukommen. Er kann, um sein Einkommen zu steigern z.B. mehr arbeiten oder er kann versuchen, seinen Konsum einzuschränken. Möglicherweise kommt seine Haushaltsbilanz damit wieder ins Gleichgewicht. Möglich ist aber auch, dass die höhere Arbeitsbelastung gesundheitliche Probleme verursacht und dass der verordnete Sparzwang kein Verständnis bei den Familienangehörigen findet. Wenn sich ein Problem nicht lösen lässt, wenn sich seine Bearbeitung in die Länge zieht und immer mehr verkompliziert, dann liegt das nicht selten an einer unzureichenden Einschätzung der Problemlage. So ist es vielleicht gar nicht die schlechte Einkommenssituation, die die oben angeführte Beispielperson zu einer weiteren Arbeitsintensivierung nötigt, sondern ihr auf das berufliche Vorankommen fixierter Ehrgeiz. 259

In Tabelle 7.1 werden die Handhabungsformen – anhand eines Beispiels – so gegenübergestellt, wie sie sich im individuellen und wie im kollektiven Fall darbieten. Im kollektiven Fall ergeben sich Besonderheiten allein schon aufgrund der Notwendigkeit, die individuellen Handlungstendenzen auch sozial zu vermitteln. Einer einzelnen Person wird es in der Regel (jedenfalls für eine gewisse Zeit) relativ leicht gelingen, Probleme zu verdrängen, um ihren psychischen Haushalt einigermaßen instand zu halten. Im Fall einer Gruppierung sind solche Verdrängungsprozesse ungleich schwerer aufrechtzuhalten, da sich so gut wie immer irgendwelche Personen finden, die ihr Ungenügen mit dem kollektiven (also sie nur abgedämpft betreffenden) Problem nicht wegdrücken können oder auch aus Gründen der Selbstbehauptung nicht unter dem Tisch halten wollen. Kollektives Verdrängen gelingt in aller Regel nur unter Zuhilfenahme von sozialem Druck, der die Thematisierung der problembehafteten Angelegenheiten zu einer höchst riskanten Angelegenheit macht. Andere Handhabungsformen lassen sich dagegen im kollektiven leichter als im individuellen Kontext umsetzen, etwa die Gewinnung externer Unterstützung. Das Bewusstsein, dass man mit seinem Anliegen nicht allein ist, stärkt die Bereitschaft, sich für sein Anliegen einzusetzen, weshalb man sich auch von Misserfolgen nicht gleich entmutigen lässt. Andererseits bereitet die Vielfalt der in einer Gruppe versammelten Haltungen mitunter große Probleme. Bezogen auf das Beispiel in Tabelle 7.1 kann es sein, dass sich eine Teilgruppe 1 bereits damit abgefunden hat, dass sich manche ihrer Forderungen nicht halten lassen. Sie verfolgt damit einen anderen Problemlösungsansatz als eine Teilgruppe 2, die zum Beispiel noch darauf hofft, auf die Kontrahenten politischen Druck ausüben zu können. Noch unübersichtlicher wird es, wenn eine weitere, dritte Teilgruppe einen Tauschhandel präferiert, um bestimmte Forderungen durchzusetzen, Forderungen, die unglücklicherweise nicht mit denen der Teilgruppe 1 übereinstimmen. Wenn man außerdem die zeitliche Dimension in Betracht zieht, dann kompliziert sich die Situation noch mehr. Im Einzelfall ergeben sich daher oft sehr spezielle Verhaltensverläufe, die sich mit der jeweiligen Gruppendynamik verschränken. Um das Problemhandhabungsverhalten von Kollektiven mit dem Anspruch auf eine gewisse Allgemeingültigkeit beschreiben zu können, sind daher Vereinfachungen nicht zu vermeiden und man muss sich oft mit typisierenden Betrachtungen zufriedengeben.

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Einflussfaktoren Die Qualität des Umgangs mit Problemen bestimmt sich nicht an einem Merkmal allein. Um ein einigermaßen komplexes und schwieriges Problem mit Erfolg anzugehen, braucht es Ambition, Einsatzbereitschaft, Nachdruck, Konzentration und Ausdauer, ebenso wie Findigkeit, Nachdenklichkeit, Vorausschau, Geduld und Lernbereitschaft. Und soweit die Entscheidungsfindung ein kollektives Unterfangen ist, braucht sie darüber hinaus Organisation und Planung, Kooperationsmöglichkeiten und Regeln zur Konflikthandhabung, hinreichende Mittel (Know-how, Methoden, Zeit) und nicht zuletzt ein Mindestmaß an gemeinsamen Zielen. In jedem dieser Punkte stecken Probleme. Ob und in welcher Form sie in Erscheinung treten, hängt von vielen Einflussgrößen ab, die eine je eigene Betrachtung verdienen. Wie oben bereits angeführt, befasst sich die einschlägige Forschung vor allem mit der etwas grobkörnigen Frage, ob die jeweils betrachteten Entscheidungsprozesse einer idealtypischen Rationalität entsprechen, wie „umfänglich“ also Alternativen erarbeitet, Informationen gesucht, Konsequenzen bedacht werden usw. Es geht bei dieser Betrachtung nicht um Maximalanforderungen. „Comprehensiveness“ in der Entscheidungsfindung wird vielmehr als Ausdruck des Wunsches nach einem bestmöglichen Entscheidungsprozess unter Beachtung der jeweils gegebenen Umstände verstanden (Dean/Sharfman 1993, 589). Ein Schwerpunkt der Forschung liegt dabei auf der Frage, ob sich die prozedurale Rationalität in den Ergebnissen niederschlägt oder ob Organisationen, die einen rationalen Entscheidungsstil pflegen, besonders erfolgreich sind (Ismail/ Zhao 2017, einen Überblick über die empirische Forschung zur „Comprehensiveness“ bzw. zur prozeduralen Rationalität liefern Elbanna 2006 und Papadakis/Thanos/Barwise 2010). Generell wird man davon ausgehen können, dass ein strukturiertes und umfängliches Vorgehen zu besseren Ergebnissen führt, eine Erfolgsgarantie gibt es jedoch nicht, weil der Erfolg noch von vielen weiteren Faktoren bestimmt wird. Auf den Zusammenhang zwischen Prozess und Erfolg soll im Folgenden nicht näher eingegangen werden. Stattdessen werden, wie in den anderen Kapiteln auch, Faktoren betrachtet, die auf den 261

Entscheidungsfindungsprozess einwirken können (vgl. zur Übersicht die Abbildung 4.4 im Kapitel 4).

Handlungsstruktur Die Bedeutung der mentalen Modelle der Akteure für die Entscheidungsfindung lässt sich kaum überschätzen. Sie legen unter anderem fest, welche Lösungsalternativen überhaupt in Betracht gezogen werden. Als Beispiel sei die Domino-Theorie genannt, die viele Jahre lang die Außenpolitik der u.s.-amerikanischen Regierung bestimmte und die die Entscheidung, in den Vietnam-Krieg einzugreifen, maßgeblich beeinflusste (Donovan 1974). Die Domino-Theorie entstand im Zuge des Kalten Kriegs nach 1945 und wurde insbesondere von Präsident Eisenhower vertreten. Danach waren alle Länder in der Nachbarschaft von kommunistischen Staaten in der Gefahr, ins kommunistische Lager gezogen zu werden: Falls eines der Länder umfiel, so die Vorstellung, wurden die übrigen Länder wie Dominosteine ebenfalls umgeworfen. Mentale Modelle beziehen sich nicht nur auf allgemeine Wirkprinzipien, sondern auch auf Funktionszusammenhänge, sagen also etwas über das Wirkungsgefüge aus. Sie geben zumindest implizit Auskunft darüber, an welchen Stellen eine Problemlösung ansetzen kann, was vermieden werden sollte und welche Nebenwirkungen gegebenenfalls in Kauf zu nehmen sind. Je stärker ausgearbeitet und je genauer ein solches Modell auf die vorliegenden Bedingungen abgestimmt ist, desto eher kann man von einem konkreten „Anwendungsmodell“ sprechen, das mitunter umfängliche und detaillierte Anweisungen und Verfahrensvorschriften umfasst. Es gibt aber auch sehr schlichte, um nicht zu sagen, grobe Anwendungsformeln, bei denen man sich scheut, von „Modellen“ zu sprechen, obwohl sie es zweifellos sind. Wenn beispielsweise ein Sachbearbeiter unverständliche Kundenanfragen einfach ignoriert, dann steckt dahinter unter Umständen die Vorstellung, dass jemand, der nicht klar artikulieren kann, worum es ihm geht, kein wichtiges Anliegen hat oder aber die Vorstellung, dass jemand, dem etwas wirklich wichtig ist, sich schon nochmal melden wird. Von besonderem Interesse ist natürlich, wie mentale Modelle zur Anwendung kommen, ob sie gewissermaßen nur abgerufen werden, weil sie für bestimmte Situationen vorgesehen sind oder ob sie in der jeweiligen Situation erst ausgearbeitet werden. Ebenso bedeutsam ist die Frage, wie (möglicherweise äußerst 262

disparate) individuelle Modelle miteinander vermittelt werden. Im einfachsten Fall hat man es mit Standardmodellen zu tun, die im jeweils betrachteten Sozialsystem fest verankert, also Bestandteil des Institutionengefüges oder zumindest mit ihm kompatibel sind. Wenn es also etablierte Verhaltensprogramme dafür gibt, wie man mit Reklamationen und Regressforderungen von Kunden umzugehen hat, wie Budgetmittel verteilt werden sollen, wie bei Stellenbesetzungen zu verfahren ist, dann steckt die Qualität der Entscheidungsfindung gewissermaßen in diesen Programmen. Geht es zum Beispiel darum, ein neues Projekt aufzulegen und sich im Wettbewerb gegen andere Projekte zu behaupten, dann wird man dazu im organisationalen Alltag viele Regelungen finden, unter anderem zu Fragen wie der, wer überhaupt antragsberechtigt ist, wie ein Antrag aufgebaut sein muss, welche Kriterien ein erfolgversprechender Antrag erfüllen sollte, welche Gremien zu konsultieren, welche Gutachten einzuholen sind, wie der Finanzierungsplan auszusehen hat usw. Je zahlreicher diese Regelungen, desto mehr Informationen gehen in dieses Antragsprozedere ein und umso „umfänglicher“ ist der Entscheidungsprozess. Damit ist aber keinesfalls gewährleistet, dass sich der beste Projektantrag durchsetzt. Denn in jedem der Regelungspunkte können Voreingenommenheiten stecken, also bestimmte Projekte bevorteilt, andere dagegen benachteiligt werden und zwar auf einer immer unsicheren Basis „objektiver Richtigkeit“. Und das ist mit institutioneller Logik auch gemeint: Nicht, ob und welche Verfahren bei der Entscheidungsfindung zum Einsatz kommen, sondern, welche Art von Entscheidungen bevorzugt oder benachteiligt werden, also welche oft nicht unmittelbar sichtbaren Prämissen in der Verfahrenslogik stecken. Der Einfluss, der von der institutionellen Logik ausgeht, gründet daher auf zweierlei, einmal darauf, dass die in der institutionellen Logik steckende selektive Mentalprogrammierung gar nicht ins Bewusstsein dringt und zum Weiteren darauf, dass es unkonventionelles Denken und Kraft kostet, sich der institutionellen Logik entgegenzustellen. Disziplinierende Wirkungen gehen auch von den Zielen aus, die sich die Teilnehmer an einem Entscheidungsprozess setzen. Sie geben Orientierung und motivieren, so lange nach Lösungen zu suchen, bis die Ziele erreichbar erscheinen. Gründlichkeit ist mit Zielvorgaben aber nicht gewährleistet. Nicht selten lässt man sich nämlich von vorderhand plausibel erscheinenden Versprechen blenden, die man dann nicht weiter hinterfragt. Bleiben die Ziele im Vagen, dann steigt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass man sich lang mit der Suche nach Problemlösungen aufhält. Das ist nicht unbedingt ein Vorteil, denn weil dieser Suche das Halteband 263

fehlt, kommt es leicht zu Lösungen, die nicht recht passen. Besondere Herausforderungen für die Problembearbeitung ergeben sich natürlich dann, wenn die Ziele der Teilnehmer miteinander unverträglich sind. Das Bemühen um eine gute Lösung wird dann leicht vom Streben nach Durchsetzung der je eigenen Interessen verdrängt. Sachkenntnis und Aufklärung erscheinen in diesem Fall weniger attraktiv als Meinungsstärke und Vernebelung, es geht in der Zusammenarbeit dann nicht um wechselseitige Unterstützung und Informationsaustausch, sondern um Taktik und Gewinnenwollen. Wo starke Interessengegensätze aufeinanderstoßen, wird es auch aus einem anderen Grund kaum zu einem ausdifferenzierten Entscheidungsprozess kommen. In Organisationen besteht nämlich nur eine begrenzte Toleranz gegenüber eskalierenden Konflikten. Da diese die Funktionsfähigkeit der Organisation beeinträchtigen können, werden sie im Zweifel von höherer Stelle aus unterbunden. Tatsächlich konnte in einer Studie zu betrieblichen Bildungsentscheidungen eine starke negative Korrelation zwischen dem Ausmaß der Interessengegensätze und der Ausdifferenzierung des Entscheidungsprozesses ermittelt werden (Weber u.a. 1994, Martin 1996). Als robust erwies sich diese Korrelation allerdings nur bei einfachen Problemstellungen. Für komplexe Probleme ergab sich genau das Gegenteil. Erklären lässt sich dieser Befund damit, dass bei komplexen Problemen eine unzweideutige Meinungspolarisierung erschwert wird und man einigen Aufwand treiben muss, um den jeweils vertretenen Standpunkt zu untermauern und plausibel zu machen. Man wird Experten heranziehen, sich auf Statistiken beziehen, Erfahrungsberichte sammeln, Präzedenzfälle bemühen, Kompromissformeln entwickeln, Verhandlungstaktiken einsetzen, Ausgleichszahlungen leisten usw., so dass sich die Auseinandersetzung nicht nur zeitlich ausdehnt, sondern auch inhaltlich auffüllt und überfüllt. Das ist nicht immer erfreulich, nicht selten aber auch produktiv. Das Austragen von Zielkonflikten eröffnet nämlich auch die Möglichkeit, offen für eine Sache einzustehen, Widersprüche deutlich herauszuarbeiten und nach Lösungen zu suchen, die möglichst allen legitimen Interessen entgegenkommen. Ob Zielkonflikte destruktiv oder konstruktiv aufgelöst werden, ist nicht zuletzt eine Frage der Motivlage aller Beteiligten. In Organisationen handeln Personen nicht nur entlang ihrer Ziele, sondern oft auch aus ihrer Position heraus. Wenn z.B. die Planungsabteilung den Auftrag erhält, für ein bestimmtes Projekt eine Wirtschaftlichkeitsanalyse durchzuführen, dann wird sie das tun, aber nur innerhalb der durch diese Aufgabe gesetzten Vorgaben. 264

Sie wird also, wie das bei Wirtschaftlichkeitsberechnungen üblich ist, sich darauf beschränken, die zu erwartenden Aufwendungen und Erträge gegenüberzustellen und gegebenenfalls durch eine Kapitalflussrechnung zu ergänzen. Betrachtet werden also lediglich monetäre Größen, strategische Überlegungen oder moralische Gesichtspunkte fließen in derartige Rechnungen normalerweise nicht mit ein. Und wenn es letztlich nur die Wirtschaftlichkeitsberechnungen sind, die einem Gremium als Entscheidungsgrundlage dienen, wenn sich also niemand findet, der vehement auch nicht-monetäre Überlegungen in die Debatte mit einbringt, dann stärkt das vielleicht die Position der Planer und Controller, aber vermutlich nicht die Problemlösekraft. Rollenvorgaben decken aber nicht das ganze Verhaltensspektrum ab. Daneben kommt den personellen Dispositionen eine manchmal ausschlaggebende Bedeutung für das Problemlöseverhalten zu. Personen sind in ihrer Urteilsfindung zögerlich oder spontan, vorsichtig oder unbekümmert, hartnäckig oder nachgiebig, analytisch oder intuitiv, eigensinnig oder kooperativ usw. mit entsprechenden Auswirkungen auf Sorgfalt, Geduld und Umsicht bei der Erarbeitung von Problemlösungen. Herauszuheben ist besonders die Neigung zu dogmatischem oder umgekehrt zu offenem Denken. Dogmatiker haben ein geschlossenes Weltbild aus fest miteinander verknüpften Überzeugungen, sie bringen wenig Toleranz gegenüber abweichenden Ansichten auf und sind einem starken Autoritätsdenken verhaftet (Rokeach 1960). Personen mit einer derartigen Haltung haben keine Geduld für langwierige Diskussionen, sie schirmen sich gegen unliebsame Informationen ab und drängen auf eine rasche Entscheidungsfindung. Ein Kreis von Dogmatikern entwickelt daher eine enge Problemsicht und agiert in einem engen Lösungsraum. Ähnliches gilt für Entscheidungsgruppen, in denen eine starke Autoritätsperson den Ton angibt, ein Punkt auf dem das sogenannte Gruppendenken-Phänomen basiert (Janis 1972). Es gibt jedoch auch positive Effekte der Gruppenzusammensetzung. So zeigt sich beispielsweise, dass sich Kontinuität in der Besetzung von Führungspositionen positiv auf den Strategiefindungsprozess auswirkt. Interessanterweise gehen James Fredrickson und Anthony Iaquinto in ihrer diesbezüglichen Studie zunächst von einem gegenteiligen Effekt aus. Sie nehmen an, dass eine länger andauernde Zugehörigkeit zu einem Führungsgremium mit einer Routinisierung der Kommunikation einhergeht, dass es zu einer Abstumpfung gegenüber Informationen, die den eigenen Ansichten widersprechen, kommt und man sich auch weniger 265

untereinander austauscht, weil sich im Zeitablauf die Rollenstrukturen verfestigen, was die Notwendigkeit, sich persönlich untereinander abzustimmen, vermindert. Wie bereits angesprochen, wird die aus diesen Annahmen abgeleitete Vermutung, es müsse sich zwischen der Führungskontinuität und der „Comprehensiveness“ eine negative Beziehung ergeben, von den Daten nicht bestätigt. Es ergibt sich stattdessen, für die Autoren überraschend, eine positive Beziehung. Um hierfür eine plausible Erklärung zu finden, rekurrieren Fredrickson und Iaquinto auf positive Wirkungen der Bürokratisierung. So soll sich aus den Erfahrungen, die die Führungskräfte gemeinsam bewältigt haben, ein Lerneffekt ergeben haben, der zu einer Verbesserung der Organisationsstrukturen und -abläufe führte. Und befände sich eine Organisation auf einem erfolgreichen Entwicklungspfad, dann ergäbe sich eine Zunahme der Rationalität gewissermaßen als natürliches Nebenprodukt (Fredrickson/Iaquinto 1989, 521 und 536). Irene Goll und Abdul Rasheed kommen, was den empirischen Befund angeht, zu einem ähnlichen Ergebnis. In einer Befragung von u.s.-amerikanischen Industrieunternehmen ermitteln sie eine positive Korrelation zwischen der durchschnittlichen Zugehörigkeitsdauer zur Geschäftsführung und der „Comprehensiveness“ der Entscheidungsprozesse. Die Autoren vermuten, dass Personen, die länger zusammenarbeiten, lernen, wie wichtig es ist, sich aufeinander einzustellen und dass man unfruchtbare Konflikte besser vermeiden sollte. Ein geordnetes und systematisches Verfahren ist aus dieser Sicht nicht nur gut für die Qualität der Sachlösungen, sondern dient auch der Regulierung der sozialen Beziehungen (Goll/ Rasheed 2005, 1004 f.). Ein Merkmal von Gruppen und Organisationen, das in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit gefunden hat, ist die sogenannte Diversität, womit man schlicht Verschiedenheit oder Vielfalt in der Zusammensetzung einer Gruppe oder in der Demografie einer Organisation meint. Konkret geht es dabei um unterschiedliche Dinge. Viele Studien stellen einfach auf soziografische Merkmale ab und untersuchen, ob und wie sich die Zusammensetzung einer Gruppe nach Alter, Geschlecht oder Beruf auf die Zusammenarbeit auswirkt. Inhaltlich ergiebiger sind Untersuchungen, die auf den jeweiligen Erfahrungshintergrund und die soziokulturellen Verankerungen der Gruppen- oder Organisationsmitglieder abstellen. Ob sich aus diesbezüglichen Unterschieden allerdings direkte Wirkungen auf das gemeinsame Entscheidungsverhalten ableiten lassen, sei dahingestellt. Engere Bezüge sind hinsichtlich von Merkmalen zu erwarten, die die Wahrnehmung und das 266

Denken der Personen betreffen. Viele Forscher sehen in der Diversität eine uneingeschränkt positive Eigenschaft und so gilt es vielen als abgemacht, dass mit einer hohen Diversität auch eine höhere Rationalität von Entscheidungsprozessen einhergeht. Dabei werden aber leicht die Probleme übersehen, die aus einer zu großen Verschiedenheit erwachsen können. Chet Miller, Linda Burke und William Glick ermitteln jedenfalls in verschiedenen Studien ein negatives Ergebnis. Sie betrachten dabei das Ausmaß der kognitiven Diversität in Führungsteams. Unter dem Begriff der kognitiven Diversität subsummieren die Autoren Unterschiede in den Zielen und Unterschiede in den Überzeugungen, die sie zu einer Gesamteinschätzung zusammenführen. Die empirischen Ergebnisse erbringen, dass die Umfänglichkeit der Entscheidungsfindung in den Managementteams mit hoher kognitiver Diversität geringer ausfällt als in den Managementteams mit geringer kognitiver Diversität. Wie ist dieses Ergebnis zu bewerten? Miller, Burke und Glick stellen denkbare positive und negative Wirkungen einer hohen Diversität auf die Entscheidungsfindung gegenüber. Meinungsverschiedenheiten seien zunächst einmal einfach deswegen zu begrüßen, weil sich damit ein umfassenderes Bild der Problemlage ergibt und weil auch mehr Lösungsalternativen eingebracht werden. Wenn man sich nicht einig sei, wird man außerdem mehr Ressourcen in den Entscheidungsprozess stecken, also mehr Informationen beschaffen, Berater beschäftigen usw. Und als drittes Argument führen sie eine doppelt negative Beziehung an, die eine positive Beziehung hervorbringt: Steigt die Diversität in einer Gruppe, dann sinkt deren Kohäsion und mit sinkender Kohäsion steigt die Bereitschaft, gegensätzlichen Auffassungen Geltung zu verschaffen und Problemlösungsaktivitäten zuzulassen, die weniger konsensorientiert und damit vielfältiger und umfänglicher sind. Die Gegenargumente setzen aber ebenfalls an dieser Stelle an. Wenn die unterschiedlichen Auffassungen und Präferenzen sehr weit auseinanderklaffen, dann sinkt oft die Bereitschaft, diese offen auszutragen. Ausgetragen werden sie dennoch, aber hinter den Kulissen und nicht unbedingt mit dem Ziel, eine ausgewogene Lösung zu finden, sondern häufig einzig darum bemüht, die eigenen Positionen durchzusetzen. Die Verständigung wird weiter dadurch erschwert, dass Subgruppen dazu neigen, sich ihr je eigenes Organisationsbild zu verschaffen und je eigene Sprachcodes zu benutzen, was die Kommunikation nicht eben erleichtert (Miller/Burke/Glick 1998, 42). Angesichts der von ihnen ermittelten Ergebnisse kommen die Autoren zu dem Schluss, dass sich in der Summe die negativen Effekte eingeschränkter Kommunikation, schwacher Integration und 267

politischer Winkelzüge gegenüber den möglichen positiven Effekten durchsetzen (Ebenda, 51). Das zeigt im Übrigen, wie wichtig die sozialen Beziehungen für die Entscheidungsfindung sind. Wenn es den Teilnehmern nicht um die gemeinsame Sache, sondern primär darum geht, sich zu profilieren, wenn Rivalität und politische Manöver das Handeln bestimmen, wird man sich kaum dazu bereitfinden, Informationen vorbehaltlos auszutauschen, Schwächen zuzugeben, um Hilfe zu bitten, Manipulationsversuchen und sozialer Ausgrenzung entgegenzutreten. Ganz anders stellt sich die Situation dar, wenn sich die Teilnehmer an einem Entscheidungsprozess als Partner empfinden, wenn sie sich einigermaßen sympathisch sind und wenn eine freundliche und gelöste Atmosphäre herrscht. Eine Grundvoraussetzung konstruktiver Zusammenarbeit ist schließlich das Vertrauen. Es ist ja kein Zufall, dass den Arbeitsparteien vom Betriebsverfassungsgesetz das Gebot vertrauensvoller Zusammenarbeit auferlegt wird. Institutionen wie die des Betriebsrats sind wichtige Elemente der Sozialordnung. Arbeitspolitische Entscheidungen fallen in Betrieben mit und ohne Betriebsrat anders aus, entweder weil der Betriebsrat direkt in die Entscheidungen einbezogen wird oder weil das Management bei seiner Entscheidungsfindung die möglichen Reaktionen der Arbeitnehmervertreter mit bedenkt. Das heißt allerdings nicht, dass sich die Entscheidungsprozesse exakt so abspielen, wie es das Betriebsverfassungsgesetz vorsieht. Es gibt Fälle, in denen die Mitwirkung von Betriebsräten deutlich über die gesetzlichen Vorgaben hinausgeht und es gibt nicht wenige Fälle, in denen sie unterlaufen werden. Über alle Fälle hinweg, macht es aber sicher einen Unterschied, ob es einen gesetzlichen Rahmen für die Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen gibt oder nicht. Es sind jedoch nicht ausschließlich und primär die gesetzlichen Regelungen, die das Verhältnis der Betriebsakteure bestimmen. Nicht minder bedeutsam ist das soziokulturelle Fundament einer Organisation. In auf Gemeinnützigkeit ausgerichteten Nichterwerbsorganisationen werden Lösungen anders erarbeitet als in profitorientierten Unternehmen, in kleinen, regional verankerten Produktivgenossenschaften anders als in vielschichtig organisierten und weltweit agierenden Großkonzernen, in Kaderparteien anders als in Volksparteien usw. Und innerhalb dieser Kategorien finden sich zahlreiche weitere Ausdifferenzierungen, die sich mit bestimmten Entscheidungsstilen verknüpfen. Aber letztlich gibt es im Verhältnis von Sozialordnung und Entscheidung keinen Automatismus. So kann es selbst in gemeinschaftlich 268

ausgerichteten Organisationen, die für sich beanspruchen, alle Mitglieder umfassend in die Entscheidungsfindung einzubeziehen, dazu kommen, dass sich hoch bedeutsame Entscheidungsprozesse dann doch im Hintergrund abspielen und nicht so sehr auf einer systematischen Erarbeitung von Handlungsalternativen beruhen, sondern schlichtweg den Vorlieben einflussreicher Personen folgen. Macht lässt sich nie vollständig einhegen. Die Begründungen, die zu ihrer Legitimierung mit Vorliebe herangezogen werden, haben unmittelbar mit der Komplexität der Entscheidungstatbestände und den vielfältigen Funktionen zu tun, die Entscheidungen erfüllen sollen, nämlich sachlich gute Lösungen zu liefern, Handlungsfähigkeit zu gewährleisten, Geschlossenheit zu signalisieren, Führung zu beweisen, Verantwortung zu übernehmen usw.

Handlungssituation Nicht immer sind die Versuche, dilettantische, uninspirierte, intrigante, nachlässig und ad hoc zustande gekommene Entscheidungen mit hehren Zielen begründen zu wollen, überzeugend. Andererseits sind die Protagonisten normalerweise davon überzeugt, das Richtige zu tun und seien die Argumente, die sie dafür heranziehen, noch so fadenscheinig und eigens zu dem Zweck zurechtgezimmert, sich ein gutes Gefühl zu verschaffen. Wie berechtigt auch immer, Rechtfertigungen sind wesentliche Bestandteile von Entscheidungen, sie gehören mit zur mentalen Szenerie, in der sich die Gedanken der Entscheider bewegen. Entscheidungen stehen nicht für sich, sie stehen immer in einem Bedeutungsraum, in dem sie ihren Platz finden müssen: Weist man einem Entscheidungsproblem eine hohe strategische Bedeutung zu, dann wird man sich ihm mit größerem Elan zuwenden, als wenn man es als nebensächlich einstuft; wenn man sich Unterstützung verspricht, wird man anders vorgehen, als wenn man sich mit den Problemlösungsbemühungen alleingelassen fühlt; innerhalb eines engen Handlungsrahmens wird man andere Handlungsoptionen betrachten als in einer Situation, die einem alle denkbaren Freiheiten lässt; Probleme, die sich mit vielen anderen Problemen vernetzen, wird man anders angehen, als Probleme, die sich separat behandeln lassen. Die in einer konkreten Entscheidungssituation sich entfaltende mentale Szenerie setzt sich aus vielen derartigen Elementen zusammen, was Verallgemeinerungen sehr erschwert. Dessen ungeachtet lassen sich einige 269

prototypische Themen benennen, die dem jeweiligen mentalen Szenarium ihr Gepräge geben. So kann man ein schwieriges Problem als innovative Herausforderung oder als schlimme Prüfung empfinden, man kann sich auf den sachlichen Kern des Problems konzentrieren oder auf die damit verbundenen Machtfragen, den analytischen oder den synthetischen Aspekt akzentuieren, auf Induktion oder Deduktion setzen, Intellektualismus oder Pragmatismus walten lassen usw. Wenn man, um ein weiteres Beispiel zu nennen, die Aufgabe, ein vorliegendes Problem näher zu analysieren, als Detektivarbeit begreift, dann wird man akribisch Daten sammeln, zeitliche Abläufe rekonstruieren, Aussagen hinterfragen, Widersprüche herauspräparieren usw. Versteht man die Aufgabe hingegen als Auftrag, der darauf abzielt, ein Gesamtbild der Problemlage zu erstellen und mit einer Deutungsleistung zu versehen, dann wird man einen wesentlich abstrakteren Lösungsansatz wählen. Dann wird man das Problem aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten und sich weniger von einzelnen empirischen Tatbeständen beeindrucken lassen und stärker übergeordnete konzeptionelle Überlegungen zur Anwendung bringen. Die mentale Szenerie der Teilnehmer an einem Entscheidungsprozess verschränkt sich ganz eng und unvermeidlich mit deren Motivlage. Wenn das Ergebnis der Entscheidung und wenn die Art, wie man sich in die Entscheidungsfindung einbringt, gravierende Konsequenzen für einen selbst haben, dann wird man ein höheres Engagement aufbringen, als wenn die Entscheidungskonsequenzen „nur“ andere Personen betreffen, mit denen man unter Umständen gar nichts zu tun hat. Letzteres muss einem aber auch wieder nicht gleichgültig sein, letztlich ist die Sorgfalt im Umgang mit fremden Interessen eine Frage des moralischen Bewusstseins. Ein wichtiges Element ist jedenfalls das persönliche „Involvement“. Gemeint ist damit das Ausmaß, in dem die Art und Weise, wie man zu einer Entscheidung gelangt, mit der Vorstellung, die man von sich selbst hat, verwoben ist, inwieweit das eigene Handeln also mit dem Selbstbild in Verbindung gebracht wird. In Situationen hohen Involvements werden andere Prozesse angestoßen als in Situationen niedrigen Involvements. Bei einem geringen Involvement begnügt man sich beispielsweise oft damit, mit einfachen Entscheidungsregeln zu operieren. Bei hohem Involvement wird man differenzierter und umfänglicher vorgehen. Unter anderem wird man sich darum bemühen, die schließlich präferierte Alternative mental möglichst robust auszustatten, damit sie nicht schon beim kleinsten Zweifel ihre Attraktivität wieder verliert (Svenson 1992). Es kommt aber nicht nur 270

auf das Ausmaß, sondern auch auf die Art des Involvements an. Bas Verplanken und Ola Svenson (1997) unterscheiden zwischen drei Arten des Involvements: einem wertebezogenen, einem ergebnisbezogenen und einem eindrucksbezogenen. Ein wertebezogenes Involvement liegt vor, wenn in der Entscheidungssituation Einstellungen aktiviert sind, die mit wichtigen Werthaltungen in Verbindung stehen. Ergebnisbezogenes Involvement gründet in der Bedeutung der Entscheidungsergebnisse für die Person und beim eindrucksbezogenen Involvement geht es primär darum, sich gegenüber Dritten möglichst positiv darzustellen. Die angeführten Arten des Involvements implizieren einen unterschiedlichen Umgang mit der Realität. Bei einem hohen Wert-Involvement geht es darum, das eigene Idealbild zu schützen. Es kann dann leicht dazu kommen, dass man bemüßigt ist, sich gegen die eigene Entscheidung zu verteidigen. Ein probates und häufig angewandtes Mittel hierfür ist, die Wirklichkeit so wahrzunehmen, wie man sie sich wünscht, widerstreitenden Situationsdeutungen aus dem Weg zu gehen und kritische Diskussionen zu vermeiden. Sowohl im Hinblick auf das Ergebnis- als auch im Hinblick auf das Eindrucks-Involvement verbietet sich dieses Vorgehen, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen. Speist sich das Involvement aus dem erhofften Entscheidungsergebnis, dann ist man naturgemäß an einer realistischen Einschätzung der Situation interessiert, an Genauigkeit und Vollständigkeit. Beim Eindrucks-Involvement kann man sich an den Fakten auch nicht so ohne Weiteres „vorbeischummeln“, schließlich steht man unter Beobachtung und eine falsche Fakteninterpretation beeinträchtigt das Bild, das andere von einem haben. Man wird aber darauf achten, die Aspekte der Problembehandlung herauszustellen, die einen in einem positiven Licht erscheinen lassen. Was Bestandteil der mentalen Szenerie werden kann, wird nicht zuletzt auch von den Themen bestimmt, die aktuell präsent sind, also davon, welche Probleme, Lösungen und Diskussionen gerade im Umlauf sind. Der Aufdringlichkeit der Gegenwart kann man sich oft nicht entziehen, selbst wenn man das aufrichtig will, selbst wenn man sich also z.B. vornimmt, nicht in engen, sondern in weiten Zeithorizonten zu denken, den Gehalt eines Gedankens nicht mit der herrschenden Meinung zu verwechseln und sich nicht mit flüchtigen, sondern mit nachhaltigen Konzepten auseinanderzusetzen. Dass dies nicht einfach ist, zeigt sich beispielsweise darin, wie bereitwillig „die Praxis“ sich den jeweils gerade gängigen Managementmoden hingibt (Kieser 1997, Collins 2012). Einmal ist es die Konzentration auf das Kerngeschäft, dann wieder die Hereinnahme neuer 271

Geschäftsfelder; einmal sind teamorientierte Produktionsformen „angesagt“, dann wird einer Re-Taylorisierung das Wort geredet; um Manager zu erfolgreicheren Managern zu machen, werden sie „gecoacht“, dann setzt man aber lieber wieder auf monetäre Anreize usw. Aber nicht nur, was diese und ähnliche Trends betrifft, auch in kleinerem Format spielt die zeitliche Ereignisnähe eine große Rolle. Wer in letzter Zeit erlebt hat, dass er mit einem rigiden Verhandlungsstil besser fährt als mit Entgegenkommen, wird es bei einer neuerlichen Gelegenheit erneut mit Härte versuchen. Wer vor Kurzem ein interessantes Seminar zu Methoden der Entscheidungsfindung besucht hat, wird versucht sein, die dort erlernten Methoden auch bei Themen anzuwenden, an die er bislang gänzlich anders herangegangen ist. Wer beobachtet, dass die Konkurrenz ihre Produktion ins Ausland verlagert und sich (dadurch?) deren Gewinnsituation deutlich verbessert hat, wird Produktionsverlagerungen ebenfalls zunehmend attraktiv finden. Unterstützt werden derartige Verhaltenstendenzen durch äußeren Handlungsdruck, insbesondere durch Erwartungshaltungen wichtiger Bezugspersonen und Bezugsgruppen. Wenn der Vorstand von seinen Managern die Umsetzung der Firmenleitlinien verlangt, wenn die Kollegen auf einen bestimmten Verhaltensstil schwören, wenn wichtige Kunden Einfluss nehmen, dann wird man sich dem nur schwer entziehen können. So ist beispielsweise die flächendeckende Einführung von Qualitätsmanagementsystemen in der Automobilindustrie auf den Druck zurückzuführen, den die Hersteller auf ihre Zulieferer ausgeübt haben. Ganz erheblich wirkt sich der Zeitdruck auf die Qualität der Problemlöseaktivitäten aus. Wenn man schnell zu einem Ergebnis kommen muss, dann wird man sich frühzeitig für einen Problemlösungspfad entscheiden, man wird Abkürzungen suchen, Kompromisse machen und weniger kritisch und sorgfältig arbeiten. Nicht selten ist eine Zeitvorgabe ein wesentlicher Bestandteil der Aufgabenbeschreibung, sie definiert damit ganz elementar das Ausmaß der Problemschwierigkeit und der damit verbundenen Problembelastung. Idealerweise begegnet man einer hohen Problemkomplexität mit einer hohen Lösungskomplexität. Oft kehrt sich die Logik aber um, man passt nicht die Lösung an das Problem, sondern das Problem den Lösungsmöglichkeiten an. Das heißt, man stutzt die Komplexität des Problems zurück, zum Beispiel durch Leugnung, Ausdünnung, Verkürzung und Simplifizierung des Problems, mittels Banalisierung und Abwertung. Derartige 272

mentale Manöver stoßen aber an ihre Grenzen, objektiv muss man sich mit komplexeren Problemen mehr abmühen als mit einfachen. Dazu kommt, dass die im engeren Sinn sachbezogene Komplexität auch in die soziale Sphäre hineinreicht und damit die Gesamtkomplexität noch vergrößert. Wenn viele Personen und nicht eine allein von einem Problem betroffen sind, dann wachsen damit ganz von selbst die Anforderungen an eine Lösung und die Notwendigkeit, sich wechselseitig abzustimmen, führt in aller Regel auch zu einer stärkeren Ausdifferenzierung der Entscheidungsaktivitäten. Wie gehen Menschen mit komplexen Problemen um? Eine der Strategien besteht darin, sich primär solchen Aspekten des Problems zuzuwenden, von denen man annimmt, dass man sie auch bewältigen kann. Dahinter steht der Wunsch, die Kontrolle über das Geschehen zu behalten. Das gelingt am einfachsten dadurch, dass man unbestimmten Entscheidungsaufgaben aus dem Weg geht und sich lieber den operativen Entscheidungsaufgaben zuwendet. Mentale Ausweichbewegungen sind nicht von vornherein irrational, sie sind manchmal unabdingbar, um handlungsfähig zu bleiben. Überkomplexität lähmt, wenn einen die Komplexität der Probleme zu überwältigen droht, wird man träge und statt aktiv nach Lösungen zu suchen, schiebt man die Probleme lieber beiseite und hofft auf bessere Zeiten. Aus diesem Grund dürfte es manchmal durchaus vernünftig sein, die Komplexität zunächst auf ein handhabbares Format zu bringen, um sich nach und nach und besser gewappnet der real gegebenen Komplexität stellen zu können. Im kollektiven Fall verschärft sich das Trägheitsphänomen. Denn erstens ist es nicht leicht, andere davon zu überzeugen, ein Problem anzugehen, dessen Bewältigungsmöglichkeiten als höchst unsicher gelten und zweitens wird derjenige, der sich doch vorwagt, auch gern dafür verantwortlich gemacht, wenn er mit seinem Lösungskonzept tatsächlich scheitern sollte. Es muss also nicht verwundern, dass in Organisationen viele wichtige Probleme einfach liegenbleiben. Auch hier kommt es aber sehr stark auf die semantische und emotionale Einbettung der Problembetrachtung an. Sieht man in einem Problem vor allem dessen bedrohliche Aspekte, dann wird man mit ihm anders umgehen, als wenn man in der Lage ist, vor allem auch die Hoffnung machenden Aspekte zu erkennen. Tatsächlich zeigen Studien, dass Manager in einer Krise vorsichtiger und umsichtiger nach Lösungen suchen als in Situationen des wirtschaftlichen Aufschwungs (Elbanna/ Child 2007, 436). 273

Der Motivationskraft kann eine starke Problembelastung ebenfalls abträglich sein. Ernste Krisen machen eine kreative Politik „… wichtiger aber unwahrscheinlicher …“ (Holsti 1971, 62). Man widmet sich mit aller Kraft der Notfallsituation, der Krise, wodurch andere Probleme zurückstehen müssen und auch die langfristigen Konsequenzen nicht bedacht werden. Das ist verständlich und eigentlich fast unvermeidlich, bedenklicher (wenngleich ebenfalls verständlich) ist, dass man, nachdem man die Krise einigermaßen im Griff hat, eine motivationale Ermüdung eintritt, so dass die nach der Rettungstat notwendigen weiterführenden Probleme nicht ebenso energisch angepackt werden. Als Beispiele nennt Holsti die Reaktion von Chamberlain nach dem Münchner Abkommen und das Handeln von Johnson während des Vietnamkriegs. Die Wahrnehmung der Schwierigkeit oder der Komplexität eines Problems hängt „logischerweise“ sehr stark davon ab, über welche Problemlösungsfähigkeiten man in einer gegebenen Situation verfügt. Wenn man mit vielen gravierenden Problemen gleichzeitig zu tun hat, dann wird man sich einem einzelnen Problem nicht mit demselben Nachdruck und derselben Intensität widmen können, als wenn man sich ihm ungeteilt widmen kann. Die aktuell verfügbaren Bearbeitungskapazitäten werden jedoch nicht ausschließlich von der jeweils gegebenen Auslastung, sondern auch sehr stark von den Ressourcen bestimmt, die einem gewissermaßen als Grundausstattung zur Verfügung stehen. So hat ein kleiner Handwerksbetrieb normalerweise größere Schwierigkeiten, seine Finanzierungsprobleme zu lösen als ein prosperierendes Großunternehmen. Unterschiedliche Startvoraussetzungen haben große und kleine Unternehmen in fast allen Belangen betriebswirtschaftlichen Handelns, also z.B. auch bei der Erschließung neuer Märkte, bei der Produktentwicklung, der Personalbeschaffung usw. Weil man in größeren Organisationen auf ein größeres Reservoir von Fachleuten zugreifen kann und weil man mehr Ressourcen hat, um externen Sachverstand einzukaufen, haben kleinere Organisationen Nachteile im Hinblick auf die Informationsbeschaffung und die Methodennutzung. Aber auch hier macht es nicht die Masse. Wenn man mit Informationen überschüttet wird, dann führt dies leicht zu einer Überforderung, was dem Verstehen nicht hilft und vor allem auch die Motivation beeinträchtigt. Und wenn Spezialisten in ihrer Fachsprache über die Köpfe hinweg kommunizieren, ist auch niemandem geholfen. Zugang zu Informationsquellen zu haben, heißt außerdem nicht, die verfügbaren Informationen auch zu nutzen. Zu viele und sich vielleicht sogar noch widersprechende Informationen 274

können einen leicht verunsichern. Gegenüber „anonymen Medien“ haben Menschen ohnehin Vorbehalte, sie bevorzugen Informationen, die von konkreten Personen mit konkreten Erfahrungen stammen und am liebsten von solchen Personen, die auch sonst die eigenen Auffassungen teilen. Sehr gern hört man außerdem, dass man auf dem richtigen Weg ist. Für schlechte Nachrichten, etwa über mangelnde Fortschritte bei der Problembearbeitung, ist man weniger empfänglich. Angeblich wurden zu früheren Zeiten die Überbringer schlechter Nachrichten mitunter sogar erschlagen. So weit geht man heutzutage nicht mehr, aber dass man sich scheut, jemanden mit negativen Informationen zu frustrieren, ist sicher kein Zufall.

Theoretische Ansätze Menschliches Denken ist mitunter höchst verwickelt und außerdem von vielen „Kontingenzen“, d.h. Zufällen, Situationsbedingungen und Eigenheiten, bestimmt. Theorien, die in der Lage wären, Denk- und Entscheidungsprozesse vollständig und detailgetreu abzubilden, wird es jedenfalls nie geben. Theorien sind daher selektiv, sie richten sich auf ausgewählte Aspekte des Geschehens, was aber nicht heißt, dass sie deswegen nicht leistungsfähig sein könnten. Im Folgenden werden drei Theorien vorgestellt, die aus je unterschiedlichen Blickwinkeln wichtige Merkmale der Problembearbeitung beleuchten. Die ersten beiden Theorien befassen sich zwar zunächst nur mit dem Individualverhalten, sie lassen sich aber auch gut zur Analyse kollektiven Verhaltens einsetzen. Die dritte Theorie hebt auf strukturelle Aspekte der Entscheidungsfindung ab, sie geht auf das Verhalten von Einzelpersonen explizit nicht ein, ohne implizite Annahmen über das Verhalten der in einen Entscheidungsprozess einbezogenen Personen, kommt aber auch dieser Ansatz nicht aus.

Dominanz Wie soll man sich verhalten? Es liegt nahe, das zu tun, was – verglichen mit allen anderen Möglichkeiten – die besten Ergebnisse bringt, was aber leider nicht immer einfach zu entscheiden ist. Denn manches mag für die eine, manches für eine 275

andere Alternative sprechen und in der Abwägung der Vor- und Nachteile kann es vorkommen, dass in der Gesamtbewertung mehrere Alternativen eng beieinanderliegen. Das ist problematisch, weil man in diesen Fällen im Nachhinein leicht zu der Überzeugung gelangen kann, die falsche Wahl getroffen zu haben, weil sich z.B. die Nachteile, die man bei der Entscheidung einkalkuliert hat, als bedeutsamer als gedacht erweisen und die Vorteile, die man sich versprochen hat, sich leider nicht wie vorgesehen einstellen. Das Bedauern ist dann groß. Möglicherweise gesellt sich dazu noch Kritik von dritter Seite, die es angeblich ohnehin besser gewusst hat. Um dem Bedauern nach der Entscheidung begegnen zu können, sind Menschen darauf bedacht, die letztlich bevorzugte Alternative bereits im Entscheidungsfindungsprozess stark zu machen und zwar am besten so stark, dass jeder Zweifel daran, die beste Verhaltensalternative gewählt zu haben, im Keim erstickt wird. Dies ist jedenfalls der Grundgedanke, der der Dominanz-Theorie von Henry Montgomery zugrunde liegt (Search for Dominance Structure [SDS] Theory, vgl. Montgomery 1983, 1987, 1989). Danach läuft der Entscheidungsprozess in mehreren Phasen ab. In der ersten Phase (dem „pre-editing“) verschafft sich eine Person einen Überblick über die verfügbaren Handlungsmöglichkeiten und sondert die von vornherein nicht akzeptablen Alternativen aus. Im nächsten Schritt wird nach einer Alternative gesucht, die als vielversprechender Kandidat für das schließlich zu wählende Verhalten gelten kann. Die Attraktivität eines Kandidaten gründet meist auf irgendwie hervorstechenden Merkmalen, die ihn gegenüber anderen Kandidaten auszeichnet. Findet sich eine vielversprechende Alternative, die in keinem wesentlichen Aspekt den anderen Alternativen unterlegen, aber im Hinblick auf wichtige Aspekte überlegen ist, ist der Entscheidungsprozess beendet. Andernfalls kommt es in einem weiteren Schritt zu einer Dominanz-Strukturierung. Hierbei kommen vier Methoden zum Einsatz. Man kann negative Folgen, die mit der präferierten Entscheidungsalternative möglicherweise einhergehen, herunterspielen, die positiven Folgen aufwerten, negative Aspekte durch positive Aspekte wegkürzen und Vorteile durch Abstrahieren auf eine höhere Bedeutungsebene heben. Im letztgenannten Fall werden der Alternative nicht nur immanente Vorteile wie z.B. ein geringer Zeitbedarf bei ihrer Realisierung zugeschrieben, man verknüpft mit ihr außerdem ein höherwertiges Gut wie z.B. einen Freiheitsgewinn. Nach Montgomery ist ein Entscheidungsprozess eine Vorbereitung für eine Handlung. Entsprechend muss es den Akteuren darum gehen, schon bei der Entscheidungsfindung mögliche Schwierigkeiten, die 276

bei der Ausführung der Handlung auftreten können, mit zu bedenken. Der Entscheidungsprozess soll stabile Absichten hervorbringen, die nicht leicht wieder ins Wanken gebracht werden können. Die Dominanz-Strukturierung dient dazu, der Versuchung zu widerstehen, eine einmal getroffene Entscheidung wieder aufzugeben. Wie gut dies gelingt, zeigt sich allerdings erst im konkreten Handlungsvollzug. Entsprechend gibt es gute und schlechte Dominanz-Strukturierungen und es stellt sich die Frage, welche Mühe sich die Akteure damit geben. Auch ist zu fragen, ob es immer zu der gewünschten Abfederung möglichen Bedauerns kommt. Montgomery gesteht zu, dass das nicht immer der Fall ist. Als Ursachen sieht er allerdings weniger die Schwierigkeiten, eine Alternative aufzuwerten und abzupolstern, hierzu entwickelten Menschen vielmehr ein hohes Talent. Wenn jedoch wenig Zeit bleibe, wenn es um Routineentscheidungen gehe oder wenn die Entscheidung nicht sonderlich wichtig sei, dann unterbliebe eine gesonderte, jedenfalls eine aufwändige, Dominanz-Strukturierung. Sie unterbleibt auch, wenn sich schon von vornherein eine äußerst attraktive Alternative aufdrängt. In der vorgelagerten Screening-Phase geht es, wie beschrieben, um eine wichtige Vorentscheidung, nämlich um die Auswahl der vielversprechendsten Alternative, die dann näher zu betrachten ist. Wie diese Auswahl erfolgt, zumal wenn sich mehrere attraktive Alternativen aufdrängen, darauf geht Montgomery leider kaum ein. Ebenso finden sich nur wenige Ausführungen zur Dynamik des Prozesses, also beispielsweise zu der Frage, was geschieht, wenn es nicht überzeugend gelingt, eine Dominanz-Struktur herzustellen. Montgomery belässt es bei dem Hinweis, dass die Auswahl der vielversprechendsten Alternative eine Hypothese sei, die zurückgewiesen werde, falls sie scheitern sollte. Zumindest unvollständig ist die Dominanz-Theorie außerdem im Hinblick auf das Commitment, also im Hinblick auf die Selbst-Verpflichtung, eine einmal getroffene Entscheidung auch tatsächlich auszuführen. Die Theorie von Montgomery unterstellt, dass jede Person ein starkes Interesse daran hat, zu ihren Entscheidungen konsequent zu stehen und den einmal gefällten Entschluss auch unbeirrt zu exekutieren. Das ist aber eine zu starke Annahme. Es gibt nämlich viele Fälle, in denen das Commitment durchaus begrenzt ist, in denen man sich also gar nicht schwer damit tut, seine Auffassungen zu ändern und einen neuen Verhaltenskurs zu verfolgen. Die Dominanz-Theorie befasst sich mit dem Entscheidungsverhalten von Einzelpersonen. Ihre Grundüberlegung trifft für das kollektive Entscheidungsverhalten aber mindestens genauso zu wie für das Individualverhalten. Mehrere Personen 277

auf eine Entscheidung festzulegen, ist nämlich alles andere als einfach, jedenfalls, wenn es nicht nur um eine äußerliche Zustimmung, sondern um eine echte Verpflichtung gehen soll. Da kann es äußerst hilfreich sein, die Entscheidung nicht nur argumentativ, sondern auch psychologisch und sozialpsychologisch zu stärken. Wenn man mögliche negative Aspekte antizipiert und zum Gegenstand der Beratungen macht, dann kann später niemand sagen, man habe es sich mit der Entscheidungsfindung leichtgemacht und niemand kann sagen, er sei schon immer dagegen gewesen, etwa aus Gründen, die in der Diskussion unterdrückt worden seien. Ein Beispiel dafür, dass sich Gruppen auf mögliche Einwände gegen ihre Entscheidungen und auf kritische Nachfragen einstellen, findet sich in der Studie von Ariel Levi und Philip Tetlock (1980). Sie befasst sich mit den Beratungen der japanischen Führungsgremien im Jahr 1941 über das Ergreifen von Kriegshandlungen. Interessant ist vor allem der Vergleich zwischen den Beratungen in den sogenannten Liaison-Konferenzen, in denen Militärführung und Regierung Kriegspläne entwickelten, und den Beratungen in den sogenannten Imperialen Konferenzen, in denen die Pläne dem Kaiser und dessen Beratern präsentiert wurden. Es stellte sich heraus, dass in den letztlich entscheidenden Imperialen Konferenzen die Komplexität der Argumentationsführung deutlich höher war als in den vorauslaufenden Planungskonferenzen. Die Autoren erklären diesen Tatbestand damit, dass in den Entscheidungsrunden verlangt war, die ins Auge gefassten Maßnahmen nicht nur darzulegen, sondern auch zu begründen und zu rechtfertigen. Hierzu genüge es nicht, gemeinsame Werte zu reklamieren, man müsse stattdessen, um überzeugend zu sein, differenziert auf mögliche Probleme und Lösungsmöglichkeiten eingehen. Neben der Stärkung der präferierten Alternative bietet es sich mitunter an, die konkurrierenden Alternativen herunterzureden. Schon dass man Alternativen überhaupt anspricht und diskutiert, zeugt von Geschick, weil man damit zeigt, dass man offen ist und alles prüft. Und man erhält die Gelegenheit, unerwünschte Alternativen zu diskreditieren, womit sich die eigenen Vorschläge als alternativlos darstellen lassen. Zur kollektiven Festigung eines einmal ins Auge gefassten Verhaltenskurses dient aber nicht nur die geschickte Präsentation inhaltlicher Überlegungen, sondern auch die Art und Weise der Argumentationsführung. So vermeidet man am besten alles, was darauf hindeuten könnte, dass man eine Alternative nicht wegen ihrer inhaltlichen Vorzüge präferiert, sondern weil sie perfekt 278

die eigenen Interessen bedient. Als hilfreich erweist es sich außerdem, das Votum für eine Alternative mit Überzeugung vorzutragen. Andererseits empfiehlt sich eine gewisse Zurückhaltung, denn, wenn man eine Position allzu vehement vertritt, dann weckt dies leicht Misstrauen und Widerstand. Auch sollte man sich nie zu sicher sein. Selbst wenn ein Entscheidungsprozess sich ganz in die gewünschte Richtung bewegt, kann es zu Überraschungen kommen. Besonders sollte man Minderheiten nicht unterschätzen, denen es, wenn sie entschlossen und geschlossen auftreten, gelingen kann, Schwächen im Vorgehen auszubeuten, um den Entscheidungsprozess in ihrem Sinn umzulenken. Um die eigenen Präferenzen durchzusetzen und abzusichern, wird nicht selten eine ideologische Überhöhung des Vorhabens versucht. Sofern diese „Veredelung“ anschlägt, lassen sich profane und sogar fragwürdige bis gefährliche Ansinnen in vorgeblich moralische Pflichten ummünzen. Das hängt aber sehr stark davon ab, wie gefestigt die gegebene Sozialverfassung ist und welche Grenzen sie derartigen Manipulationsversuchen setzt, wie überhaupt die Bedeutung der sozialen Voraussetzungen für die Entscheidungsfindung kaum zu überschätzen ist. Dazu gehört beispielsweise die Frage, ob die „richtigen Leute“ als Fürsprecher und Unterstützer für eine Entscheidung gewonnen werden können. Diese stehen dann mit ihrem Namen für die Entscheidung. Ein weiterer beliebter und erfolgversprechender Schachzug ist es, ganz ausdrücklich einen „Verantwortlichen“ für die Durchführung einer Entscheidung zu verpflichten. Das verleiht der Durchsetzung der Entscheidung besonderen Nachdruck, jedenfalls dann, wenn der Verantwortliche die Lorbeeren für den Erfolg einstreichen darf und er für ein mögliches Scheitern auch geradestehen muss. Neben der Dominanz-Theorie von Montgomery gibt es eine ganze Reihe weiterer Theorien, die sich mit der Frage beschäftigen, warum und wie Personen ihre Entscheidungen treffen und sich damit auf ein bestimmtes Verhalten festlegen (Lipshitz 1993, Klein u.a. 1993). Auf eine dieser Theorien, die „Image-Theorie“ von Lee Roy Beach und Terence Mitchell (Beach/Mitchell 1987, Beach 1990, 1998) sei an dieser Stelle noch besonders hingewiesen. Wie die Dominanz-Theorie geht auch die Image-Theorie davon aus, dass Menschen zunächst eine Vorauswahl zwischen möglichen Verhaltensweisen treffen und daran anschließend eine genauere Festlegung des Verhaltenskurses erfolgt. Auch in dieser Theorie geht es um Modifikationen, die an einer getroffenen Entscheidung vorgenommen werden. Diese finden, so die Image-Theorie, allerdings erst im Zuge der Verhaltensausführung statt und sie 279

beruhen auch nicht, wie in der Dominanz-Theorie, auf kognitiven Manipulationen. Es geht dabei vielmehr um Versuche, eine in die falsche Richtung laufende Entwicklung zu korrigieren. Ein weiterer Unterschied zur Dominanz-Theorie betrifft die Referenzgröße. Während die Dominanz-Theorie auf den Vergleich zwischen den Alternativen abhebt, geht es in der Image-Theorie um die Kompatibilität der Verhaltensalternativen mit den „Denkstrukturen“ einer Person. Es geht also darum, ob die verschiedenen Alternativen verträglich sind mit den „Schemata“ und „Images“, die dem Denken einer Person Struktur geben und ihr dabei helfen, die Überlegungen, die im Zuge der Entscheidungsfindung anzustellen sind, zu organisieren. Beach und Mitchell stellen drei Arten von Images besonders heraus. Von fundamentaler Bedeutung sind tief verankerte Prinzipien, die sich eng mit dem jeweiligen Selbstbild und dem individuellen Selbstverständnis einer Person verknüpfen. Aus diesen Prinzipien leiten sich die Kriterien ab, an denen sich eine Entscheidung letztlich messen lassen muss. Dabei geht es nicht nur um einzelne Werthaltungen und Bedürfnisse, etwa in dem Sinn, ob eine Entscheidung dem eigenen Ansehen schaden kann, sondern um Merkmalskomplexe, um ein Gesamtbild (daher der Ausdruck „Images“), also z.B. um die Frage, ob man wirklich so ein Mensch sein will, für den es typisch ist, diese oder jene Entscheidung zu treffen oder um die Frage, ob das infrage stehende Verhalten geeignet ist, einen in seiner Persönlichkeitsentwicklung voranzubringen. Ein zweites Image betrifft die jeweiligen Ziele und ein drittes die Handlungsebene, d.h. die Pläne, die geeignet und wünschenswert erscheinen, um seine Ziele zu erreichen. Auch bei diesen beiden Images handelt es sich häufig um vielschichtige Konstrukte. Bei einem Spiel beispielsweise geht es auf der Zielebene dann nicht nur darum, zu gewinnen, sondern z.B. auch darum, sympathisch zu erscheinen und bei allem Ehrgeiz Souveränität im Umgang mit sich selbst zu beweisen. Und auf der Handlungsebene geht es z.B. nicht nur um Effizienz, sondern auch um Ästhetik und darum, sportlich und ohne Verbissenheit aufzutreten. Gemäß der Image-Theorie werden allerdings nicht konkrete Verhaltensweisen betrachtet, sondern es wird geprüft, ob in einer gegebenen Handlungssituation konkrete Ziele und konkrete Pläne, zu den handlungsleitenden Images (also zu den allgemeinen Zielvorstellungen und den Vorstellungen über wünschenswerte Vorgehensweisen) passen. Je stärker die Ziele und Pläne von den Standards abweichen, desto geringer ist ihre Chance, diesen „Kompatibilitätstest“ zu bestehen. 280

Abweichungen werden summiert (wobei zuvor eine Gewichtung mit deren Bedeutsamkeit erfolgt) und alle Ziele und Pläne, die einen kritischen Schwellenwert überschreiten, werden aus der weiteren Betrachtung ausgeschlossen. Bestehen nur ein einziges Ziel und ein einziger Plan diesen Test, dann kann bereits eine Entscheidung getroffen werden. Kommen dagegen zwei oder mehr Ziele und/ oder Pläne in Betracht, dann werden diese – so Beach und Mitchell – einer Nutzenbetrachtung (einem „Profitability-Test“) unterzogen. Hierbei können verschiedene Bewertungsstrategien und Entscheidungsregeln zum Einsatz kommen, die allerdings alle dem gleichen Zweck dienen, nämlich diejenigen Zielsetzungen und Vorgehensweisen zu ermitteln, die der handelnden Person den größten (subjektiven) Nutzen versprechen. Ein weiterer Test (der „Progression-Test“) dient dazu, Fortschritte in der Zielannäherung zu überwachen. Verglichen werden hierbei die tatsächlichen mit den prognostizierten Entwicklungen, wobei auch hier der Logik des Kompatibilitätstests gefolgt wird. Geringe Abweichungen werden also hingenommen, wenn allerdings ein (subjektiv definierter) Schwellenwert überschritten wird und sich damit zeigt, dass auf dem vorgesehenen Weg die Ziele nicht erreicht werden können, kommt es zu Planmodifikationen. Wenn diese keinen Erfolg versprechen, müssen gegebenenfalls die Ziele verändert oder schlichtweg aufgegeben werden. Ebenso wie die Dominanz-Theorie, dient die Image-Theorie zunächst nur der Erklärung des Verhaltens einzelner Personen. Dessen ungeachtet, lassen sich aber auch aus ihr wichtige Hinweise für die Erklärung kollektiver Entscheidungsprozesse ableiten. Ein erster Punkt betrifft die Entscheidungskriterien, die sich aus den Images ergeben. Im kollektiven Fall hat man es nicht selten mit einer Vielzahl unterschiedlicher Wissensbestände und Anforderungen zu tun. Das hat ambivalente Wirkungen. Einerseits erwachsen aus der kognitiven Vielfalt viele Ideen, die kreative Problemlösungen anstoßen können. Außerdem steckt in der Vielfalt ein hohes Kritikpotenzial, das dafür sorgt, sofern es abgerufen wird, dass die Vorschläge eine strenge Bewährungsprobe bestehen müssen, was deren Qualität nur verbessern kann. Andererseits besteht die Gefahr, dass die Vielfalt der Ansprüche den Handlungsraum dramatisch einschränkt, so dass im Extremfall kein Ziel und kein Plan den Kompatibilitätstest bestehen kann. Als Ausweg bleiben dann nur die Koalitionsbildung, so dass sich wenigstens eine der Anspruchsgruppen durchsetzen kann, oder die Erhöhung der Toleranzschwelle für Abweichungen, wodurch sich immerhin Kompromisse erreichen lassen, mit der Gefahr, dass es zu einer 281

Verwässerung der Lösungen kommt. Das Dilemma lässt sich nicht vollständig auflösen, aber man kann es abmildern etwa dadurch, dass man Regeln vereinbart, wie mit allzu widersprüchlichen Erwartungen umzugehen ist. Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Teilnahme an einem Entscheidungsprozess auf gleichgesinnte Personen zu begrenzen. Möglicherweise bildet sich aber auch eine Binnenkultur heraus, in der eine kritische Auseinandersetzung gar keinen Platz hat. Sei es, weil die Teilnehmer alle den gleichen Denkvorgaben folgen, weil es nicht zum guten Ton gehört, sich zu streiten oder weil Kritik autoritär unterbunden wird. Welche dieser Strategien sich durchsetzt, sagt einiges über die Natur des jeweiligen Sozialsystems aus. Anschließend hieran und kritisch anzumerken ist, dass die Image-Theorie eine beachtliche Portion Idealismus enthält. So mag man zwar wünschen, dass Menschen ihre Entscheidungen im Hinblick auf deren Verträglichkeit mit dem eigenen Selbstbild reflektieren, man muss dem Realitätsgehalt dieser Annahme aber mit Skepsis begegnen. Zur Selbstreflexion gehört, wie oben angeführt, auch die Vorstellung davon, wie man sein will und wohin man sich entwickeln will. Dass man seine Entscheidungen an diesem Selbstideal ausrichtet, ist, um es vorsichtig zu sagen, eine heroische Annahme, jedenfalls eine Annahme, die möglicherweise in Ausnahmesituation, etwa bei wirklich schicksalhaften, die eigene Person unmittelbar betreffenden, Entscheidungen gelten mag, für die allermeisten Entscheidungen aber nur sehr ausgedünnt zutreffen dürfte. Es ist eben viel leichter und vordergründig vorteilhafter, den vorgegebenen äußeren Verhaltensanforderungen zu folgen. Im kollektiven Fall ist man ohnehin nur ein Teilnehmer unter anderen und zudem ist man von den Konsequenzen der Entscheidung oft auch gar nicht unmittelbar betroffen. Mitunter fordert das Kollektiv aber die Einhaltung fundamentaler Prinzipien ein. Das kann laxe Teilnehmer und den Entscheidungsprozess insgesamt auf ein höheres Argumentationsniveau führen, und zwar sowohl in sachlicher als auch in moralischer Hinsicht. Wie alles, hat aber auch das zwei Seiten, weil auch die Berufung auf hehre Glaubenssätze instrumentalisiert werden kann, Heuchelei befördert und zu fundamentalistischen Übertreibungen genutzt werden kann. Resümierend kann festgehalten werden, dass die beiden Ansätze, also die Dominanz-Theorie und die Image-Theorie zwar unterschiedliche Akzente setzen, dass sie einander allerdings nicht widersprechen, sondern sich sogar ergänzen können. Vonseiten der Dominanz-Theorie wird das Bemühen herausgestellt, das 282

eigene Vorgehen – und sei es unter Zuhilfenahme von psychotaktischen Mitteln der Selbstbeeinflussung – im Vorhinein abzusichern. Die Dominanztheorie auf der anderen Seite macht keine Aussagen darüber, woher die Kriterien zur Bewertung der Alternativen stammen. Hier könnten Anleihen bei der Image-Theorie genommen werden, gemäß der die Beurteilungsaufgabe von kognitiven Schemata übernommen wird. Die Image-Theorie andererseits vernachlässigt die Bedeutung von kognitiven Manipulationen. Sie stellt heraus, dass Entscheidungen selbst noch während ihrer Ausführung korrigiert werden können, nimmt aber nicht in den Blick, dass in dieser Phase ebenso kognitive Umdeutungen vorgenommen werden können, etwa auch die, die die Dominanz-Theorie in Bezug auf die Stärkung der präferierten Alternative thematisiert. Andererseits zeigen sich hier gewisse widersprüchliche Verhaltenstendenzen, weil davon auszugehen ist, dass es umso schwerer fällt (zumal kollektiv), einen einmal eingeschlagenen Verhaltenspfad zu verlassen, je mehr dieser im Vorhinein gepriesen wurde. Herauszustellen ist schließlich noch, dass Beach und Mitchell mit ihrer Theorie nicht auf alle einer Person prinzipiell zugänglichen Images abstellen. Es geht darin explizit nur um die in der jeweiligen Handlungssituation präsenten Images (die die Autoren als „Working Images“ bezeichnen, Beach/Mitchell 1996, 6), also um den Rahmen, den die jeweilige Definition der Situation setzt. Was natürlich die Frage provoziert, welche Images in die Definition der Situation aufgenommen werden und wovon das abhängt. In dem Buch von Beach (1990) finden sich hierzu, zum „Decision Framing“, zwar einige Überlegungen, diese bleiben allerdings einigermaßen unbestimmt, weshalb hierauf an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden soll.

Regulierung Probleme stellen sich nicht in eine Reihe und warten geduldig, bis man sich ihnen widmet. Und sie machen sich auch nicht gleich wieder davon. Im realen Leben ist man mit einem unaufhörlichen Strom von Problemen konfrontiert, die sich manchmal ankündigen, die sehr häufig aber auch unerwartet eintreffen. Man kann sie nicht alle gleichzeitig behandeln, man muss also mit der Frage zurechtkommen, wann man sich wie lange welchem Problem zuwenden will und kann und wann es notwendig ist, sich davon wieder abzuwenden, weil man sich besser mit einem anderen der anstehenden Probleme beschäftigen sollte. 283

Dietrich Dörner, Helmut Reh und Thea Stäudel (1983) haben sich mit dieser Frage befasst und ein Modell der Absichtsrangierung vorgelegt, das erklären soll, warum welches Problem angegangen wird, was darüber bestimmt, wann man dessen Bearbeitung zurückstellt, um sich einem anderen Problem zuzuwenden. Eine zentrale Rolle spielt hierbei der Auswahldruck, der von den jeweils verfolgten Absichten ausgeht. Eine „Absicht“ richtet sich auf das Ziel, eine kritische Variable wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Lässt in einem Zeitungsverlag z.B. das Anzeigengeschäft stark nach, dann löst dies Bemühungen aus, den gewünschten Sollwert wieder zu erreichen. Wie angeführt, gibt es aber mehrere Probleme, die oft gleichzeitig auf eine Bearbeitung drängen – oder, anders ausgedrückt, mehrere Absichten, die man gleichermaßen innerhalb eines gegebenen Zeitrahmens verfolgen und zu einem guten Ende bringen muss. Welche der Absichten haben aber zu einem gegebenen Zeitpunkt Vorrang? Im Modell von Dörner, Reh und Stäudel wird die Größe des Auswahldrucks von vier Größen bestimmt, der Wichtigkeit der Absicht, der aktuellen Dringlichkeit der Absicht, der Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Absicht erfolgreich erledigt werden kann und einer Größe, die die Autoren mit dem Ausdruck „Aktualitätsgewicht“ versehen. Die Wichtigkeit wird von den Zielen der handelnden Akteure bestimmt. Je eher diese mit einer bestimmten Absicht fundamentale Ziele erreichen oder unerwünschte Entwicklungen verhindern können, desto wichtiger ist ihnen diese Absicht. So ist es – um bei unserem Beispiel zu bleiben – für fast alle Zeitungen wichtig, einen bestimmten Abonnentenstamm zu besitzen. Was dagegen das Bestreben angeht, sich kulturpolitisch zu profilieren, sind die damit verknüpften Ambitionen manchmal sehr bescheiden. Die Dringlichkeit der Absicht bringt die Zeitdimension ins Spiel. Eine Absicht ist umso dringlicher, je größer die Abweichung vom Sollwert der kritischen Variablen ist und je höher das Tempo ist, in dem diese Abweichung wächst. Je enger der Zeithorizont wird, in dem die Absicht erledigt sein muss, desto mehr gewinnt sie an Dringlichkeit. Dörner, Reh und Stäudel stellen insbesondere auf die aktuelle Dringlichkeit ab. Diese sinkt gewissermaßen schlagartig auf Null, wenn die Zeit zur erfolgreichen Erledigung nicht mehr ausreicht, was sich verführerisch gut anhört, was das Problem aber nicht aus der Welt schafft, sondern eher vergrößert und weitere Probleme hervorbringt. Bedeutsam für den Auswahldruck ist außerdem die (subjektiv geschätzte) Erfolgswahrscheinlichkeit. Diese bestimmt sich nach der verfügbaren Zeit, aber ebenso nach dem Zutrauen, das man in seine Fähigkeit hat, mit dem Problem zurechtzukommen. Die Autoren 284

unterscheiden zwischen einer epistemischen (wissensbasierten) und einer heuristischen (lösungswegbasierten) Fähigkeit. Wichtig ist es, auch hier zu beachten, dass es um die aktuell empfundene Kompetenz, also um eine zeitvariable Größe, geht. Eine weitere Variable im Modell der Absichtsrangierung ist das Aktualitätsgewicht. Im Zuge der gedanklichen Beschäftigung mit einem anstehenden Problem stößt man nicht selten auf die Notwendigkeit, sich auch mit einem anderen Problem zu befassen, was diesem dann eine zusätzliche aktuelle Bedeutung gibt und die Dringlichkeit dieses Problems verstärkt. Die drei angeführten Bestimmungsgrößen Wichtigkeit, Dringlichkeit (einschließlich Aktualitätsgewicht) und Erfolgswahrscheinlichkeit werden multiplikativ verknüpft. Die Absicht, die gemäß dem so errechneten Auswahldruck den höchsten Wert erhält, wird aufgegriffen und bearbeitet. Damit ist aber nicht gewährleistet, dass die gewählte Absicht voll ausgearbeitet und ausgeführt wird. Das Handlungssystem ist vielmehr ständig in Bewegung und die in ihm ablaufenden Prozesse können dafür sorgen, dass die einmal ergriffene Absicht wieder fallengelassen wird und einer anderen Absicht weicht. Mit zunehmender Absichtsoder Problembehandlung steigt nämlich der Erledigungswert, was in einer Rückkopplung den Auswahldruck der betrachteten Absicht senkt und anderen Absichten eventuell ein Übergewicht gibt. Dazu kommt, dass sich aufgrund der Erfahrungen, die man bei der Beschäftigung mit einem Problem macht, die Fähigkeiten verbessern und man außerdem ein realistischeres Bild über die notwendigen Bearbeitungszeiten gewinnt – zwei Prozesse, die wiederum die Erfolgswahrscheinlichkeit und damit den Auswahldruck verändern. Das Modell von Dörner, Reh und Stäudel baut auf gut nachvollziehbaren Annahmen auf. Die Zahl der Variablen ist überschaubar und die unterstellten Kausalitäten sind plausibel. Trotz seiner (relativ) einfachen Struktur lassen sich damit in Abhängigkeit von den Ausgangsbedingungen verschiedenartige und komplexe Entscheidungsverläufe beschreiben. Zu Einsichten verhilft das Modell auch auf einer allgemeinen Ebene. Ein Beispiel betrifft die Wirkung der heuristischen Kompetenz. Ist diese gering, dann besteht die Gefahr, dass Absichten häufig und schnell gewechselt werden, ohne dass Problemlösungen wirklich vorankommen. Die Autoren nennen dieses Verhaltensmuster „thematisches Vagabundieren“. Ohne heuristische Kompetenzen tut man sich, jedenfalls bei komplexen Problemen, sehr schwer. Selbst hohe epistemische Kompetenzen (also ein großes operatives Wissen) helfen da nicht weiter, im Gegenteil, sie führen häufig dazu, dass 285

man sich vor allem solchen Problemen zuwendet, bei ihnen verharrt und sich gewissermaßen dort „einkapselt“, für die man die entsprechenden Kompetenzen hat und dass man den übrigen, aus strategischer Sicht oft viel bedeutsameren, Problemen aus dem Weg geht (Dörner/Reh/Stäudel 1983, 416). Sehr gut erschließt sich aus dem Modell auch das Phänomen, dass man bei einem wichtigen Problem stecken bleiben kann, ohne einer Lösung näherzukommen, wodurch sich naturgemäß der Zeitaufwand vergrößert und wodurch die für die übrigen Probleme zur Verfügung stehende Zeit sinkt und damit die wahrgenommene Erfolgswahrscheinlichkeit für diese Probleme – mit entsprechenden emotionalen Auswirkungen, die sich, wiederum rückgekoppelt, in einer Verminderung der Problemlösungsfähigkeiten niederschlagen. Ein weiterer allgemein bedeutsamer Fall zeigt sich, wenn man bedenkt, dass manchmal der Handlungsdruck sehr hoch ist, so dass sich immer wieder die besonders dringlichen Probleme vorschieben, was naturgemäß zulasten der wirklich wichtigen Probleme gehen kann. Die Dynamik des Problemlösungsverhaltens ergibt sich nicht allein durch die endogen im Modell verankerten Rückkopplungen, sondern auch durch dritte, exogene Größen, die auf die durch das Modell beschriebenen Variablen einwirken. Wenn irgendwelche äußeren Ereignisse fundamentale Ziele bedrohen, verändert sich damit automatisch die Wichtigkeit der Absichten, einengende zeitliche Anforderungen erhöhen die Dringlichkeit, überraschend aufscheinende Problemlösungsbarrieren vermindern die Erfolgswahrscheinlichkeit usw. Eine wichtige Eigenschaft des Dörner-Reh-Stäudel-Modells ist seine Offenheit gegenüber Modellerweiterungen. So verweisen die Autoren etwa auf die Bedeutung des Anspruchsniveaus. Diese Variable dürfte sich relativ leicht in das Modell einfügen lassen. Etwas schwieriger, aber nicht unmöglich, ist es, Momente der Selbstreflexion in das Modell aufzunehmen und ebenso ist es möglich, wie eben schon erwähnt, bestimmte Aspekte der emotionalen Seite der Problemlösungsbemühungen in das Modell einzubauen. Allerdings muss man sich auch wieder davor hüten, Modelle überkomplex anzulegen, weil sich damit die Erkenntnisleistung nicht unbedingt erhöht. Will man über das engere Modell hinausgehende Aspekte berücksichtigen, dann lässt sich dies auch durch ergänzende Modellformulierungen erreichen. Die notwendige Anschlussfähigkeit weist das beschriebene Modell jedenfalls auf. Und man kann es auch für die Analyse kollektiver Prozesse nutzen. Das geht, ohne dass man große Abstriche machen muss, auch ganz direkt, jedenfalls für bestimmte Fälle, in denen es vertretbar erscheint, das 286

Kollektiv als einheitlich agierenden sozialen Akteur zu betrachten. In überschaubaren Gruppen, deren Mitglieder über längere Zeit in einem festen Arbeitsverbund tätig sind, kann man für bestimmte Erklärungszwecke die Details der Zusammenarbeit und die interne Willensbildung ausblenden und für bestimmte Situationen mithilfe dieser Als-ob-Betrachtung durchaus realitätsnahe Beschreibungen des Gruppenverhaltens gewinnen (etwa des Verhaltens von Führungsgremien, Projektteams, aber auch von operativen Teams, die einen Aufgabenbereich kooperativ bearbeiten). Man unterstellt in diesem Fall dann, dass die Gruppe als Verhaltenseinheit auftritt, dessen Mitglieder die Wichtigkeit, die Dringlichkeit und die Erfolgswahrscheinlichkeit (jedenfalls im Großen und Ganzen) einheitlich bewerten und dass auch die Rückkopplungsprozesse so funktionieren, wie es das Modell der Absichtsrangierung für das Individualverhalten beschreibt. In vielen Anwendungsfällen ist man zu dieser Vereinfachung gezwungen, weil sich die Mikroprozesse gar nicht detailliert erschließen lassen. In den Fällen, in denen das Kollektiv stark arbeitsteilig agiert, die anfallenden Entscheidungen nicht alle Akteure in gleichem Maß betreffen, die Teilnehmer an einer Entscheidung aus unterschiedlichen Arbeitszusammenhängen kommen, stößt die Vereinfachung allerdings an Grenzen. Divergierende Ziele gehen mit unterschiedlichen Vorstellungen über die Wichtigkeit der Probleme und Absichten einher, was in aller Regel zu einer Verlängerung der Entscheidungsprozesse führt. Sind die Zielsetzungen der Teilnehmer an einem Entscheidungsproblem unterschiedlich, dann wird man sich beispielsweise leicht an einem Teilproblem „festbeißen“, so dass es, selbst aus nichtigem Anlass zu einem beherrschenden und zeitraubenden Thema werden kann. Die Alternative besteht darin, konflikthaltige Probleme zu meiden, was aber nur bedingt hilfreich ist, weil unerledigte Probleme die unangenehme Eigenschaft haben, sich in der einen oder anderen Form immer wieder zurückzumelden. Unterschiedlich kann auch die Einschätzung der Dringlichkeit ausfallen. Je nachdem, in welchen Projekten man sonst noch steckt, mit welchen Anforderungen beladen man sich dem Entscheidungsproblem widmen kann, beurteilt man den eigenen Lösungsbeitrag unterschiedlich und damit auch die Wahrscheinlichkeit, in einem gegebenen Zeitrahmen zu einem Ergebnis kommen zu können. Im Zweifel steckt jeder der Teilnehmer an einem Entscheidungsprozess in einer je eigenen Problemlage, die das Interesse an der gemeinsam zu bewältigenden Aufgabe abkühlen kann. Im Extremfall kann dies so weit gehen, dass, obwohl allen Teilnehmern 287

die gemeinsame Aufgabe wirklich wichtig ist, diese doch liegenbleibt, weil sich die Teilnehmer gedrängt sehen, vornehmlich ihre anderen, nicht gemeinsamen, Probleme zu behandeln. Oft erklärt sich damit auch, warum man die Beschäftigung mit einem gemeinsamen Problem so lang aufschiebt, bis es zu spät ist. Damit verschwindet dann logischerweise die Dringlichkeit, was die Problemlage aber nicht verbessert, sondern mit neuen – ungelösten – Problemen beschwert. Es kann aber auch passieren, dass sich etliche Teilnehmer des Öfteren aus dem Entscheidungsprozess ausklinken und damit den verbleibenden Teilnehmern das Terrain überlassen, was die Gefahr heraufbeschwört, dass diese zu Lösungen kommen, die die Personen, die sich zeitweise aus der Entscheidungsfindung „verabschiedet“ haben, nicht befriedigen können, woraus sich ebenfalls gravierende Folgeprobleme ableiten. Bezüglich der Erfolgsaussichten lassen sich im kollektiven Fall keine eindeutigen Aussagen machen, weil sich die Fähigkeiten der Teilnehmer zwar ergänzen können, möglicherweise aber auch unverträglich sind. Man denke etwa an die Konfrontation zwischen auf der einen Seite Personen, die gern ihre hohe operative Kompetenz und Kennerschaft herausstreichen und auf der anderen Seite Personen, die wegen der Penetranz der Gegenseite mit ihren eher heuristischen Stärken nicht zum Zug kommen – oder umgekehrt. Frustrationen, verminderte Einsatzfreude und wenig überzeugende Lösungen sind dann oft die Folge. Hier zeigt sich im Übrigen ein Aspekt, der in der Modellformulierung von Dörner, Reh und Stäudel nicht ausdrücklich berücksichtigt wird, dass nämlich die Erfolgswahrscheinlichkeit nicht nur von der verfügbaren Zeit und den sachbezogenen Fähigkeiten bestimmt wird, sondern auch vom sozialen Druck und von der Konsensfähigkeit der Teilnehmer. Welche Wirkung geht von der Variablen „Aktualitätsgewicht“ auf die Absichtsregulierung aus? In Entscheidungsprozessen mit Teilnehmern aus unterschiedlichen Arbeitsbereichen werden viele Aspekte angesprochen, die sich aus den je eigenen Problemlagen ergeben, was die gemeinsame Entscheidungsfindung mit zusätzlichen Problemen konfrontiert, die in homogenen Arbeitsgruppen eher nicht thematisiert werden. Wegen der zusätzlich für diese neuen Themen aufzubringenden Zeit sinkt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Querverbindungen der sich im Problemset befindlichen Probleme ausführlich thematisiert werden können, so dass eine stärkere Konzentration auf das aktuell behandelte Problem erfolgen dürfte und die Häufigkeit des Themenwechsels sinkt. Andererseits 288

vergrößert sich die Menge der anstehenden Probleme, die alle ihren Teil an der Aufmerksamkeit und Zeit der Teilnehmer am Entscheidungsprozess verlangen, wodurch die Durchlaufgeschwindigkeit der Probleme sinkt und sich entsprechend deren Verweildauer erhöht. Der zuletzt genannte Zusammenhang zeigt, dass die Problembearbeitung im engeren Sinn nicht isoliert von den übrigen Elementen eines Entscheidungsprozesses abläuft, sondern auch stark von der Aufmerksamkeit, die ein Problem finden kann, beeinflusst wird. Welche und wie viele Probleme in den „Pool“ an zu bearbeitenden Problemen eingebracht und wie viele Probleme überhaupt bearbeitet werden können, hängt vorgelagert stark von der Zahl und der Herkunft der Teilnehmer an einem Entscheidungsprozess ab. Enge Verbindungen hat die Problembearbeitung außerdem mit der Problemdefinition: Je schwieriger und langwieriger sich ein Problembearbeitungsprozess gestaltet, desto wahrscheinlicher wird es, dass sich die Teilnehmer zu Modifikationen ihrer Problemdefinitionen gedrängt fühlen, womit sich die Zusammensetzung und die Natur der Menge der zu bearbeitenden Probleme und damit wiederum die Problembearbeitung und der jeweilige Auswahldruck verändert. Und schließlich gibt es eine ganze Reihe weiterer Faktoren, die auf den Auswahldruck einwirken, die im Modell von Dörner, Reh und Stäudel nicht berücksichtigt sind. Angeführt sei beispielhaft das Streben, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren und die damit verbundene Motivation, möglichst rasch zu Lösungen zu gelangen. Ein anderes Beispiel ist die Verabschiedung von Verfahrensordnungen, die die Freiheit einschränken, sich mit der Beschäftigung von Problemen beliebig viel Zeit zu lassen. Außerdem ist die Geduld, sich allzu lang mit schwierigen Problemen abzuplagen, generell beschränkt und bei manchen Personen ganz besonders, was sich nicht unerheblich auf das Tempo und die Intensität der Problembeschäftigung auswirken dürfte.

Dynamik Große Aufmerksamkeit hat das sogenannte Mülleimer-Modell in der Forschung über Entscheidungsprozesse in Organisationen gefunden. Diesem Modell liegt ein einfacher Gedanke zugrunde: Probleme brauchen Lösungen, die Lösungen müssen von Personen gewollt werden und es muss Gelegenheiten geben, bei denen die Lösungen beschlossen werden. Dass sich aus dieser überschaubaren Ausgangslage ein 289

recht unübersichtliches Gesamtbild der Entscheidungsfindung ergeben kann, hat einen Grund, der ebenfalls sehr einfach ist, nämlich den, dass diese vier Elemente (Probleme, Lösungen, Teilnehmer, Entscheidungsgelegenheiten) ihrer je eigenen Logik folgen und daher häufig nicht so zusammenstimmen, wie man sich das für ein geordnetes und geradliniges Handeln in Organisationen vorstellt. Das heißt aber nicht, dass – wie manchmal geschrieben wird – das Mülleimer-Modell das Modell des organisationalen Chaos oder der organisationalen Anarchie sei. Es beschreibt lediglich die Komplexität der organisationalen Entscheidungsfindung und hebt dabei einige Faktoren heraus, die für diese Komplexität verantwortlich sind. Und was die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem organisationalen Geschehen angeht, ist das Mülleimer-Modell das Gegenteil einer Kapitulation vor dessen Komplexität, denn es beschreibt (ausgewählte) Mechanismen, die den Umgang mit Problemen in Organisationen bestimmen. Das Modell trägt damit wesentlich dazu bei, wichtige Aspekte des organisationalen Entscheidungsverhaltens besser zu verstehen. Der etwas unglückliche Name des Modells leitet sich von der Vorstellung ab, dass die auflaufenden Probleme von den Teilnehmern an einem Entscheidungsprozess (gewissermaßen den Müllerzeugern und Müllmännern in einem) in die in einer Organisation umlaufenden Entscheidungsgelegenheiten (die Mülltonnen) gekippt und mit deren Hilfe weggeschafft werden. Entsorgt werden die Probleme damit aber nur bedingt, denn konkret werden sie entweder ignoriert oder einfach weggestellt, was dazu führt, dass sie bei einer der nächsten Gelegenheiten erneut auftauchen. Es kommt aber auch vor, dass man die Probleme einer, wenngleich oft nur vorläufigen, Lösung zuführt. Das Modell, das von Michael Cohen, James March und Johan Olsen (1972) formuliert wurde, liegt zum einen als verbale Beschreibung und zum anderen in Form eines Fortran-Programms vor. Die beiden Beschreibungen sind nicht deckungsgleich. Nicht alle der im theoretischen Text ausgeführten Überlegungen finden sich im Computerprogramm wieder. Auch kommt es zu inhaltlich anderen Akzentsetzungen. Das mag zum Teil an Schwierigkeiten und Vereinfachungsnotwendigkeiten der rechentechnischen Umsetzung liegen, zum Teil gewinnen die Aussagen in den beiden Modellformulierungen aber auch eine andere inhaltliche Bedeutung (vgl. ausführlich Martin 1998, 319-337). Ein Beispiel betrifft den Charakter der Problemlösungen. Gemäß der verbalen Beschreibung durchziehen alle vier oben angeführten Elemente in mehr oder weniger geordneter Weise durch das organisationale Geschehen, neben dem Strom 290

der Teilnehmer, Entscheidungsgelegenheiten und Probleme, gibt es danach auch einen Strom von Lösungen. Zu den Lösungen machen die Autoren unter anderem die prägnante Aussage, dass sie aktiv nach Problemen suchen, nicht selten sind es also nicht die Probleme, für die man Lösungen sucht, vielmehr sind Lösungen schon da, die danach Ausschau halten, ob sie nicht irgendeine Anwendung finden können und damit Probleme unter Umständen erst zum Leben erwecken. Beide Aspekte tauchen so im Rechenmodell nicht auf. Es gibt keinen Lösungsstrom und die Lösungen suchen sich auch keine Probleme. Ganz prosaisch werden die Lösungen vielmehr durch die „Energie“ abgebildet, die die Teilnehmer jeweils aufbringen können, um sich den vorhandenen Problemen zu stellen. Ein zweites Beispiel betrifft die Problembehandlung. Tatsächlich geht es in dem Rechenmodell nicht um die individuelle Behandlung der jeweils auftretenden Probleme, es werden also keine Entscheidungen getroffen, wie mit den einzelnen Problemen umzugehen ist. Entschieden wird vielmehr vermittels der Entscheidungsgelegenheiten. Sind Teilnehmer mit ausreichend Energie präsent, dann wird die Entscheidungsgelegenheit mitsamt der in ihr versammelten Problemen summarisch „verabschiedet“. Die Probleme sind damit gelöst. Und wenn in einer Entscheidungsgelegenheit gar kein Problem präsent ist (was durchaus vorkommt), dann wird diese ebenfalls verabschiedet. In der Terminologie des Modells werden die vorhandenen Probleme in diesem Fall „übersehen“. Als eine dritte Möglichkeit, mit Problemen umzugehen, betrachten Cohen, March und Olsen die „Flucht“. Gemeint ist damit der Fall, in dem Probleme von einer durch Probleme überlasteten Entscheidungsgelegenheit zu einer anderen Entscheidungsgelegenheit wandern, so dass die ursprüngliche Entscheidungsgelegenheit durch diese Problementlastung nun verabschiedet werden kann. Im Durchschnitt werden gemäß dem Mülleimer-Modell nur etwa 40 Prozent der Probleme tatsächlich gelöst. Diese Zahl hat natürlich keinen Anspruch auf empirische Richtigkeit, sie errechnet sich schlichtweg aus den Modellgleichungen. Konkret beinhaltet das Simulationsmodel elf exogene und vier endogene Variablen. Bei der ersten endogenen Variablen geht es um die Frage, welche Entscheider sich welchen Entscheidungsgelegenheiten zuwenden. Die zweite endogene Variable beschreibt, welche der einzelnen Probleme konkret Zugang zu welcher Entscheidungsgelegenheit finden. Die beiden übrigen endogenen Variablen betreffen die zur Verabschiedung einer Entscheidungsgelegenheit notwendige Energie und die Energie, die die jeweiligen Teilnehmer in die Entscheidungsgelegenheiten 291

mitbringen. Die Differenz dieser beiden Größen bestimmt die Entscheidungsreife und sie ist eine der Determinanten der genannten zweiten endogenen Variablen, also der konkreten im Prozessverlauf erfolgenden Zuordnung von Problemen zu Entscheidungsgelegenheiten. Als exogene Größen enthält das Modell die Zahl der betrachteten Zeitperioden, einen Lösungskoeffizienten, die in den einzelnen Perioden gegebenen Lösungspotenziale, die Zahl der Entscheidungsgelegenheiten, die Zahl der Probleme, die Zahl der Entscheider, die Reihenfolge der Entscheidungsgelegenheiten, die Problemladung, d.h. die zur Lösung eines Problems notwendige Energie, die Verteilung der Energie auf die Entscheider und schließlich zwei besonders bedeutsame Strukturgrößen: die Regelung, welche Probleme zu welchen Entscheidungsgelegenheiten überhaupt einen Zugang haben und die Regelung, welche Entscheider an welchen Entscheidungsgelegenheiten teilnehmen dürfen. Mit den Modellrechnungen lässt sich eine ganze Reihe von interessanten Informationen über die Qualität der Entscheidungsprozesse in den simulierten Organisationswelten gewinnen. Ein zentrales Qualitätsmerkmal ist die Zahl der nicht gelösten Probleme. Andere Merkmale sind die Problembewegung, d.h. die Häufigkeit, in der Probleme von Entscheidungsgelegenheit zu Entscheidungsgelegenheit durchgereicht wird, die Passivität der Entscheider, d.h. wie häufig Entscheider an Entscheidungen nicht teilnehmen, die Problemlatenz, also wie lange es durchschnittlich dauert, bis ein Problem zu einer Entscheidungsgelegenheit vordringen kann, die Häufigkeit, in der keine Entscheidungen getroffen werden können, die Energieverschwendung, d.h. die bei einer Entscheidung zur Verfügung stehende, jedoch nicht gebrauchte, Überschussenergie. Es handelt sich hierbei um Größen, die bei der Analyse nicht nur simulierter, sondern auch bei der Analyse realer Entscheidungsprozesse in Organisationen erhellende Einsichten erbringen können. Überdies ergeben sich aus den Modellrechnungen interessante Zusammenhänge, die auf den ersten Blick kontraintuitiv erscheinen, sich aber, und das ist die Stärke eines ausformulierten Modells, doch plausibel und transparent nachvollziehen lassen. Ein Beispiel ist die Aussage: „Die wichtigsten und die unwichtigsten Entscheidungen führen überdurchschnittlich häufig zu Fehlschlägen.“ Ursächlich dafür ist, dass wichtige Probleme häufig zu einer Problemüberladung führen, so dass Entscheidungen wegen der beschränkten Lösungsenergie nicht verabschiedet werden können. Unwichtige Entscheidungen finden dagegen häufig keinen Zugang zu Entscheidungsgelegenheiten. Ein weiteres Beispiel betrifft 292

die Wirkungen, die von der Segmentierung der Entscheidungsstrukturen ausgehen. Man kann nämlich nicht alles das, was man sich von einem guten Entscheidungssystem wünscht, gleichzeitig haben. So führt im Vergleich mit einer offenen Struktur die Beschränkung des Zugangs von Problemen zu Entscheidungsgelegenheiten dazu, dass sich weniger ungelöste Probleme im System befinden, dafür verlängert sich aber die Verweildauer der Probleme und meistens auch die Entscheidungszeit. Die Beschränkung des Zugangs der Entscheider zu Entscheidungsgelegenheiten führt dagegen dazu, dass die Probleme kürzere Zeit im System verbleiben, dafür gibt es aber mehr Probleme und auch eine längere Entscheidungsdauer – verglichen mit einer Struktur, die allen Entscheidern Zugang zu allen Entscheidungsgelegenheiten gestattet. Außerdem finden sich viele Interaktionseffekte, also modifizierte Wirkungen der einzelnen Variablen in Abhängigkeit von der Ausprägung der anderen Modellvariablen. Jeder konkrete Fall ist ohnehin – nicht nur im Modell, sondern auch in der Wirklichkeit – von der Gesamtkonstellation der jeweils vorliegenden Gegebenheiten bestimmt, also im Modell von den jeweils vorausgesetzten Parameterwerten und von den in den Variablenverknüpfungen steckenden Beziehungsmustern. Die situationsspezifische Relativierung des Einzelfalls steckt in jedem Modell, also z.B. auch in dem oben beschriebenen Modell der Absichtsrangierung, in dem ja ganz ähnliche Aspekte der Problembearbeitung behandelt werden, wie z.B. der Problemdruck, die Entscheidungsreife und die Frage nach den Bestimmungsgründen für das Aufgreifen, Zurückstellen und Lösen von Problemen. Allerdings setzen die beiden Modelle an verschiedenen Punkten an, um die Problemdynamik zu erklären. Im Modell von Dörner, Reh und Stäudel sind es die zwischen den Modellvariablen bestehenden Rückkopplungsbeziehungen, die die Problembearbeitung bestimmen, im Modell von Cohen, March und Olsen sind es dagegen die nicht enden wollenden Ströme von Problemen, Lösungen, Entscheidungsgelegenheiten und Teilnehmern, die das organisationale Geschehen vorantreiben. Außerdem betrachtet das Mülleimer-Modell das Schicksal der einzelnen und damit oft unterschiedlichen Probleme, das Modell der Absichtsregulierung betrachtet dagegen eher so etwas wie einen abgegrenzten Bereich von Aufgabenfeldern und fragt, welchen Aufgaben (und welchen damit verbundenen Problemen) man sich jeweils zuwendet. In diesem Modell gibt es außerdem einen (individuellen oder auch sozialen) Akteur, dessen wechselnde Situationsbeurteilungen sein Handeln lenken. Im Mülleimer-Modell werden Akteure nur implizit angesprochen und 293

die Betrachtung von deren mentalen und physischen Aktivitäten beschränkt sich auf das zur Verfügungstellen von Lösungsenergie für entscheidungsreife Entscheidungsgelegenheiten. Im Mülleimer-Modell sind es also Strukturgrößen, die die Problembehandlung maßgeblich bestimmen. Das Mülleimer-Modell wurde vor über vier Jahrzehnten entwickelt. Es hat sich rasch einen Platz in den Lehrbüchern zur Organisationstheorie erobert. Dort wird allerdings primär die verbale Variante des Modells vorgestellt und diskutiert. Im Kern gibt es diesbezüglich kaum eine Weiterentwicklung. Ein etwas anderes Bild zeigt sich im Hinblick auf das Simulationsprogramm. In einigen Neuformulierungen geht es darum, die rechentechnische stärker mit der verbalen Version in Einklang zu bringen. Außerdem finden sich angereicherte Versionen, in denen zusätzliche Überlegungen eingebracht werden. Manchmal handelt es sich um einfache Ergänzungen, die die Logik des Modells unangetastet lassen, in anderen Fällen handelt es sich um hybride Modelle, die versuchen, die Überlegungen des Mülleimer-Modells mit anderen theoretischen Ansätzen zu kombinieren. Sridhar Seshadri und Zur Shapira (2012) beispielsweise behalten die Programmstruktur des ursprünglichen Modells bei, führen aber einen Disponenten ein, der sich einen Überblick über den Status der Probleme verschafft und dafür sorgt, dass die Probleme Entscheidungsgelegenheiten zugewiesen werden, in denen ihre Chance, gelöst zu werden, steigt. Thorbjorn Knudsen, Niels Stieglitz und Sangyoon Yi (2012) berücksichtigen in ihrer Modellformulierung, dass die Teilnehmer an Entscheidungsprozessen unterschiedliche Fähigkeiten und Motivationen aufweisen. Geoffrey Morgan und Kathleen Carley (2012) entwerfen ein umfängliches Modell, das Lern-, Partizipations- und Hierarchieeffekte ausdifferenziert und berücksichtigt. Sie formulieren ein Modell, das sich als Agenten-Netzwerk-Modell von der Programmstruktur des Variablen-Modells von Cohen, March und Olsen löst, in der Analyse zwar noch Defekte im Prozessgeschehen berücksichtigt, aber ansonsten stark auf Leistungsgrößen abhebt (zu weiteren und zum Teil sehr unterschiedlichen Modellen vgl. Masuch/LaPotin 1989, Fioretti/Lomi, 2008 und die Beiträge in Lomi und Harrison 2012 insbesondere auch Cohen/March/Olsen 2012). In seiner verbalen Variante ist das Mülleimer-Modell nicht so sehr eine Modellbeschreibung als vielmehr die Skizze eines Modells, das erst noch genauer zu spezifizieren ist. Es fußt außerdem nicht auf ausformulierten Theorien, sondern vermittelt eher so etwas wie ein Hintergrundbild. So wie psychologische Ansätze und Theorien in unterschiedlichen „Menschenbildern“ gründen, so steht hinter 294

organisationstheoretischen Ansätzen immer auch ein bestimmtes „Organisationsbild“. Die empirischen Studien, die sich auf das Modell von Cohen, March und Olsen beziehen, thematisieren denn auch nur im Ausnahmefall spezifische Aussagen dieses Modells, sie rekurrieren vielmehr auf das von ihm vermittelte Bild der organisationalen Entscheidungsfindung. Es geht in diesen Studien in aller Regel nicht um eine Hypothesenprüfung (zumal es sich ohnehin meist um Einzelfallstudien handelt), sondern oft nur um die Frage, ob das von Cohen, March und Olsen skizzierte Bild in einem konkreten Fall tatsächlich zutrifft. Aber meistens geht es darum, bestimmte Entscheidungsphänomene im Licht des Mülleimer-Modells zu betrachten oder auch einfach darum, die Grundgedanken des Modells anhand von bedeutsamen Entscheidungen zu illustrieren (zu Übersichten über einschlägige Studien vgl. u.a. Eisenhardt und Zbaracki 1992 und die Beiträge in Lomi und Harrison 2012, zur [etwas einseitigen] Kritik an der Empirie vgl. Bendor, Moe und Shotts 2001). Als Beispiel sei ein Beitrag von Mie Augier und Jerry Guo angeführt. Die Autoren befassen sich, ebenso wie die oben bereits angeführten Levi und Tetlock, mit den sogenannten Liaison-Beratungen in Japan im Jahr 1941 vor dem Kriegseintritt gegen die alliierten Streitkräfte. Diese Beratungen weisen, so Augier und Guo, alle drei der von Cohen, March und Olsen beschriebenen Merkmale einer „organisierten Anarchie“ auf: Erstens herrscht Unklarheit und Uneinigkeit über die einzuschlagende Politik, zweitens gibt es kein geordnetes Entscheidungsverfahren und drittens wechseln häufig die Teilnehmer und zwar selbst innerhalb einzelner Entscheidungsperioden, was zu einem ständig neuen Umlauf von Ideen, Problemen und Lösungen beiträgt. Zur Illustration ihrer Thesen rekurrieren Augier und Guo auf die Konferenz-Protokolle, die durch Nobutaka Ike (1967) herausgegeben und übersetzt wurden. Als Beispiel für die unklaren Präferenzen nennen sie die Auseinandersetzung über die Frage, wie die japanische Regierung mit der Verweigerung von Gummilieferungen durch die südostasiatischen Staaten umgehen sollte. In der Erörterung dieser Frage fehlte jede klare Linie, was, wie in anderen ähnlich gelagerten Fällen auch, zu einem unbestimmten Entscheidungsaufschub führte. Klare Regelungen fehlten in den Liaison-Beratungen auch im Hinblick auf die Rollen und Befugnisse der Teilnehmer, die aus verschiedenen Bereichen und Hierarchien des Militärs, der Ministerien und der Verwaltung stammten. Außerdem war es nicht unüblich, dass vorgegebene Dienstwege einfach umgangen wurden. So wollte beispielsweise der Stabschef der Flotte eine 295

Stellungnahme zu möglichen Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten abgeben. Er wurde von seinem Minister zurückgehalten, was ihn jedoch nicht davon abhielt, sein Memo dem Außenminister nach der Sitzung ungefragt zukommen zu lassen. Zusammenfassend schreiben Augier und Guo: „Es zeigt sich, dass das japanische Kabinett in dieser Zeit alles andere als ein einheitlicher Entscheidungskörper war, sondern ein fraktioniertes, fragiles Gebilde. Entscheidungen schienen mehr aus dem Zufall als aus Überlegungen heraus zu erwachsen. Die japanischen Führer diskutierten sogar noch eine Woche vor dem Angriff auf Pearl Harbor über Friedensgespräche mit den Vereinigten Staaten. Die Mülleimer-Metapher und Perspektive kann dazu beitragen, die Entscheidungsprozesse der japanischen Seite besser zu verstehen“ (Augier/Guo 2012, 448). Als zweites Beispiel sei die Studie von David Gibson (2012a, b) angeführt. Sie zeigt, dass die Überlegungen von Cohen, March und Olsen nicht nur zur Analyse des Entscheidungsgeschehens auf einer aggregierten Ebene taugen, sondern auch benutzt werden können, Mikroprozesse auf der Ebene der unmittelbaren Interaktionen zwischen den Beteiligten zu beschreiben. Inhaltlich geht es in der Studie von Gibson um das Verhalten der Kennedy-Administration in der Kuba-Krise im Jahr 1961. Als Datengrundlage dienen ihm die Tonaufzeichnungen der Beratungen in der sogenannten ExComm-Gruppe, der die wichtigsten Entscheidungsträger und Berater angehörten. Eine der Handlungsoptionen, um auf die Stationierung von Atomraketen auf Kuba durch die Sowjetunion zu reagieren, war die Errichtung einer Seeblockade. Die Blockade hatte gegenüber anderen Alternativen große Vorzüge und wurde daher von Kennedy auch präferiert. Es gab damit aber ein Problem, denn mit einer Blockade war noch keine einzige der bereits auf Kuba stationierten Raketen beseitigt. Die meisten ExComm-Mitglieder gingen daher davon aus, dass man selbst bei einer erfolgreichen Blockade nicht darum herumkommen würde, die Raketenstellungen auf Kuba zu bombardieren. Das war allerdings riskant, denn möglicherweise konnte es den Angegriffenen im Zuge eines Präventivschlags dann doch noch gelingen, Raketen nach den USA abzufeuern. Diese Gefahr war allen Beteiligten durchaus bewusst, sie wurde aber ausgeblendet und zwar mithilfe einer Verhaltensstrategie, die Gibson eine „Kombination von narrativer Iteration und Unterdrückung“ nennt (Gibson 2012a, 43). Mit dem Begriff der narrativen Iteration belegt er eine Verhaltensweise, die sich darin erschöpft, immer wieder in die Schilderung eines vorgestellten möglichen Geschehensablaufs zu verfallen, wobei so getan wird, als erfolge diese das erste Mal (im vorliegenden 296

Fall ging es also um die Schilderung des möglichen Ablaufs bei einer Seeblockade). Risiken, die im Lauf der Beratungen durchaus zur Sprache kommen können, werden dagegen einfach nicht mehr thematisiert, die Erinnerung an die damit verbundenen Einwände wird unterdrückt. Wenn jemand, im konkreten Fall, die Gefahr eines missglückenden Präventivangriffs ansprach, wurde das Thema von einem anderen Gesprächsteilnehmer weggedrückt. Kennedy selbst war an einer Stelle versucht, darauf einzugehen, korrigierte sich aber sozusagen noch mitten im Satz. Gibson sieht in dem beschriebenen Verhaltensmuster eine Analogie zur mangelhaften Kopplung zwischen Teilnehmern und Entscheidungsgelegenheiten: „So wie Personen ihre Zeit und ihre mentalen Energien nur auf bestimmte und nicht auf alle Entscheidungsgelegenheiten verteilen müssen, so können auch die Teilnehmer an einer Beratung nicht über alles gleichzeitig sprechen … und mäandern daher durch das Dickicht möglicher Themen und Kommentare. Und ebenso wie im Mülleimer-Modell Entscheidungen manchmal dadurch zustande kommen, dass einige Leute unaufmerksam sind, kam in der ExComm-Gruppe eine besonders wichtige Entscheidung dadurch zustande, dass die Gruppe als Ganzes eine besonders wichtige Gefahr aus dem Auge verlor und dass die Bedenken derjenigen, die dieser Unaufmerksamkeit widerstanden, unterdrückt wurden“ (Gibson 2012a, 47). Nicht nur im organisationalen Handlungsstrom, sondern auch im Fluss von Rede und Gegenrede gibt es Verzweigungen, Untiefen, stürmische Passagen und nicht selten auch ein (manchmal nur vordergründig) träges Dahinfließen. Transportiert wird Kluges, Dummes, Abseitiges, Unpassendes, Subtiles und Grobes, es sagt sich nicht immer das Richtige zur richtigen Zeit in der richtigen Umgebung und das ist manchmal im wahrsten Sinn „entscheidend“. Und was man aus dem Mülleimer-Modell (ebenso wie aus der Geschichte) lernen kann, ist, dass es nicht zufällig ist, dass es häufig vom Zufall abhängt, wohin die Reise geht, welches Schicksal einem blüht oder erspart bleibt. Zusammenfassend sei schließlich noch darauf hingewiesen, dass es im Mülleimer-Modell keinen Gegensatz von Individual- und Kollektiv-Verhalten gibt, beide Verhaltensebenen sind in diesem Modell vielmehr eng miteinander verschränkt. So ist beispielsweise das Ausmaß der Teilnehmerfluktuation innerhalb und zwischen den Entscheidungsgelegenheiten zwar eine Strukturgröße, sie bestimmt sich aber letztlich dadurch, dass die Entscheidungsgelegenheiten für die Teilnehmer unterschiedlich attraktiv sind. Auch sind die strukturellen Ausgangsbedingungen, also zum Beispiel die Zuordnungsmatrix von Entscheidungsgelegenheiten und Problemen, 297

nicht naturgegeben, es handelt sich hierbei vielmehr um Rahmungen, die der Gestaltung zugänglich sind. Auch das oft erratische Problemschicksal resultiert aus dem Zusammenwirken von strukturell verankerten Gegebenheiten und individuellen Handlungsdispositionen, unter anderem durch die in einer Entscheidungsgelegenheit versammelte Problemladung und die Lösungsenergie, die die Teilnehmer mitbringen oder eben nicht. Obwohl also das individuelle Element in das durch Strukturvorgaben (wie Zugangsberechtigungen, Zahl und Art der Entscheidungsgelegenheiten usw.) geprägte Modell Eingang findet, kann man sich natürlich wünschen, dass in ihm stärker differenzierte Überlegungen zu individuellen Merkmalen und zur wechselseitigen Abstimmung Platz finden. Eine stärkere Differenzierung lässt sich aber ebenso im Hinblick auf die Strukturgrößen wünschen. Die Aufnahme von weiteren strukturellen, personellen und interaktiven Elementen in das Modell geht allerdings mit einer erheblichen Komplizierung einher und birgt außerdem die Gefahr der theoretischen Überfrachtung. Schließlich sollte der Modellzweck nicht aus den Augen verloren gehen. Es kann nicht darum gehen, konkrete Situationen irgendwie „vollständig“ abzubilden. Modelle stellen nur bestimmte Aspekte der Wirklichkeit heraus und wenn es gute Modelle sind, dann geht es ihnen um wirkungsmächtige Mechanismen. Im Mülleimer-Modell soll das Ineinandergreifen von Struktur- und Prozesselementen plausibel gemacht werden und zwar im Hinblick auf die Abkehr und Zuwendung zu den in einer Organisation umlaufenden Problemen. Das gelingt durchaus überzeugend, obwohl das Modell auch im Hinblick auf diese eingegrenzte Zwecksetzung sehr selektiv bleibt, also nur ausgewählte Aspekte anleuchtet und andere, äußerst wichtige Aspekte ausblendet. So fehlt sowohl im Ursprungsmodell und auch in allen nachfolgenden Erweiterungen und Diskussionen die Berücksichtigung des politischen Elements und der kulturellen Einbettung der organisationalen Entscheidungsfindung. Das muss man aber dem Modell nicht als Schwäche anlasten, sondern kann es als Aufforderung an die weitere Forschung betrachten, das Zusammenspiel von Regulierungen, Macht, Kultur und personellen Konstellationen näher zu beleuchten.

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Strukturwirkungen Organisation Wie bedeutsam sind Organisationsstrukturen für die strategische Ausrichtung von Unternehmen? Mit dieser Frage beschäftigt sich eine Studie von Danny Miller aus dem Jahr 1987. Die Daten der Studie wurden durch Interviews gewonnen, die mit den Geschäftsführern in 97 mittelständischen Unternehmen unterschiedlicher Branchen in Quebec geführt wurden. Zur Charakterisierung der Strategieentwicklung dienten drei Variablen, die auch in anderen Studien immer wieder – in mehr oder weniger modifizierter Form – untersucht werden: die Rationalität der Entscheidungsfindung als Ausdruck von gründlicher Informationsaufbereitung und Klärung der Unternehmensziele, die interaktive Entscheidungsfindung im Gegensatz zu dominierten Entschlüssen und die Proaktivität als Ausdruck vorausschauender, nicht-reaktiver Unternehmenspolitik. Auf die beiden zuletzt genannten Merkmale wird im Folgenden nicht näher eingegangen, es seien lediglich die Ergebnisse im Hinblick auf die Rationalität des Entscheidungsprozesses betrachtet. Als Strukturgrößen wurden vier Variablen betrachtet, die ebenfalls in vielen organisationstheoretischen Studien als besonders bedeutsam herausgestellt werden: der Formalisierungsgrad, das Ausmaß, in dem dezentral entschieden wird, die Existenz integrativer Institutionen und die Komplexität der Organisation. Alle vier Strukturgrößen sollten sich, so die Ausgangshypothese von Miller, positiv auf die Rationalität der Strategieentwicklung auswirken. In der Studie geht es also um die Frage, wie rational Entscheidungsprozesse ablaufen, die dazu dienen, die Strategien der Unternehmen festzulegen. Konkret wurden die Manager danach gefragt, welche Instrumente sie verwenden, um die Unternehmenssituation zu analysieren, wie planvoll sie ihre Zukunft gestalten, wie systematisch sie Trends und Entwicklungen beobachten und ob in ihrem Unternehmen Strategien explizit ausformuliert werden. Den Formalisierungs- und den Dezentralisierungsgrad erfasst Miller mithilfe von in der Organisationsforschung gängigen Skalen (Inkson/Pugh/Hickson 1970). Die integrative Strukturierung wird über die Existenz 299

von „Verbindungspersonal“, Komitees und Task Forces abgefragt. Die Komplexität erfasst Miller anhand der vertikalen Leitungsspanne, der Zahl der Betriebseinheiten sowie dem Anteil des Verwaltungspersonals. Die von Miller vermuteten Wirkungen der vier Strukturmerkmale auf die Rationalität der Entscheidungsfindung lassen sich anhand der erhobenen Daten nicht alle bestätigen. Beachtenswerte Zusammenhänge ergeben sich nur im Hinblick auf die Formalisierung und die integrativen Institutionen. Begründen lässt sich die Bedeutung der Formalisierung durch deren Ordnungsfunktion. Formalisierung sorgt dafür, dass die Entscheidungsfindung nicht regellos abläuft, sie verhindert, dass es z.B. aufgrund des immer präsenten Handlungsdrucks zu übereilten Entscheidungen kommt und sie verlangt, dass man seine Entscheidungen nicht freihändig fällen kann, sondern rechtfertigen muss. Ähnlich wirkt die integrative Strukturierung, sie sorgt dafür, dass die notwendigen Informationen bereitgestellt werden und sie fördert einen konsensorientierten Zielbildungsprozess. Einen empirischen Zusammenhang zwischen der Komplexität des Unternehmens und der Rationalität konnte Miller in seiner Studie nicht finden. Er macht dafür vor allem messtechnische Gründe verantwortlich. Zur Abbildung der Komplexität wurden unter anderem die Zahl der Standorte und das Verhältnis von Verwaltungs- zu Produktionsstellen erfasst. Diese Größen stünden nicht notwendigerweise in einem positiven Zusammenhang mit einer rationalen Entscheidungsfindung, weil sich die Mitarbeiter in den Büros nicht selten auf in Routinen erstarrtes Verwaltungshandeln beschränkten, also einen Verhaltensstil pflegten, der umfänglichen Analysen eher abhold ist. Diese Argumentation läuft darauf hinaus, dass die Indikatoren, die von Miller verwendet wurden, einfach nicht geeignet waren, um die Komplexität der Organisation realitätsgerecht abzubilden. Zwischen der Rationalität der Entscheidungsfindung und der Dezentralisierung findet sich in den empirischen Daten, wie bereits angeführt, ebenfalls kein Zusammenhang. Die Argumente, die Miller zur Erklärung dieses nicht vorhergesehenen Ergebnisses heranzieht, entbehren nicht einer gewissen Willkür. Die Ausgangsbegründung von Miller macht geltend, dass zentralisierte Strukturen oft überlastet seien, es sei daher schlicht ein Gebot der Informationsökonomie, dass die Entscheidungsgewalt verteilt und nicht etwa zentralisiert werde. Da sich dieser Zusammenhang aber nicht nachweisen ließ, nimmt Miller eine Differenzierung der Unternehmen entlang des an ökonomischen Indikatoren gemessenen Unternehmenserfolgs vor und kann nun zeigen, dass in der Gruppe der erfolgreichen 300

Unternehmen der vorhergesagte Effekt durchaus auftritt. Man könnte also annehmen, dass Unternehmen dann besonders erfolgreich sind, wenn bei ihnen der „Fit“ stimmt, wenn also Struktur und Prozess zusammenpassen. Eine weitere (hiermit nicht kompatible) Erklärung für die fehlende Beziehung zwischen Dezentralisierung und Rationalität lässt sich aus einem anderen Hinweis Millers gewinnen. Danach sei davon auszugehen, dass der Fit zwischen Struktur und Entscheidung von äußeren Rahmenbedingungen (insbesondere der Größe und der Komplexität der Unternehmung) bestimmt werde. Aus dieser Annahme lässt sich nun aber folgern, dass einfache, informale und stark zentralisierte Strukturen keinen stark ausgebauten administrativen Apparat mit ausgeklügelten Analysemethoden brauchen. Und aus dieser Sicht löst sich eine strikte Einflussbeziehung auf. Wie ja auch generell davon auszugehen ist, dass mit der Zentralisierung bzw. der Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen keine eindeutigen, sondern sowohl positive als auch negative Auswirkungen einhergehen können und zwar in Abhängigkeit von vielen weiteren Umständen. Bei der Beurteilung der Studienergebnisse ist zunächst kritisch zu vermerken, dass Miller nur vage andeutet, wie seine Hypothesen theoretisch zu begründen sind. Außerdem sind seine Ausführungen zur Interpretation der empirischen Ergebnisse nicht immer leicht nachvollziehbar. Das liegt auch an Messproblemen. Miller betrachtet zur Abbildung einer Variablen sowohl Einzel-Merkmale als auch (durch Faktorenanalysen) aggregierte Größen, wobei die Ergebnisse dieser beiden Betrachtungsebenen nicht immer gleichlaufend bzw. „stimmig“ ausfallen. Als weitere Komplikation kommt hinzu, dass Miller die Geltung seiner Hypothesen davon abhängig macht, ob Unternehmen erfolgreich sind oder nicht, d.h. seine Hypothesen eigentlich nur für erfolgreiche Unternehmen gelten. Auf diese Annahme greift er dann auch im Bedarfsfall zurück, also dann, wenn eine von ihm postulierte Beziehung von seinen Daten nicht bestätigt werden kann. Auf ein Beispiel wurde oben bereits eingegangen. Diese Art des Umgangs mit unerwarteten Ergebnissen wirkt nicht sonderlich überzeugend. Inhaltlich kann man ihr aber durchaus etwas abgewinnen, jedenfalls, wenn man die Millersche Grundannahme teilt, dass es einen optimalen Fit zwischen Struktur und Entscheidung gibt. Die vermuteten Zusammenhänge müssten sich dann in der Tat in erfolgreichen Unternehmen deutlicher zeigen als in weniger erfolgreichen. Wie gesagt, manchmal (aber keineswegs durchgängig) lässt sich das auch zeigen, generell muss aber festgestellt werden, dass auch dann die Korrelationen nicht sonderlich hoch sind. 301

Das ist andererseits auch nicht anders zu erwarten – angesichts der methodischen Schwierigkeiten, die recht abstrakten Größen messgenau abzubilden und auch angesichts der Tatsache, dass es in der Miller-Studie um Strukturmerkmale geht, die kein allzu großes Auflösungsvermögen besitzen und die Organisation nur hinsichtlich ihres Gesamtaufbaus bezeichnen.

Kultur Am 28. Januar 1986 um 11.38 Uhr Ortszeit startete die Raumfähre „Challenger“ zu ihrem zehnten Flug. Nach 73 Sekunden brach sie in etwa 15 km Höhe auseinander. Die Raumkapsel, in der sich die Raumfahrer befanden, stürzte ins Meer. Alle sieben Besatzungsmitglieder kamen ums Leben. Als technische Ursache entpuppte sich ein Qualitätsmangel von zwei Dichtungsringen in der rechten Feststoffrakete. Durch die relativ niedrigen Außentemperaturen verloren sie ihre Elastizität, die vorbeiströmenden heißen Gase ließen die zwei übereinander angeordneten Dichtungsringe erodieren, der in die Atmosphäre austretende Wasserstoff entzündete sich, die Rakete kam ins Schlingern, kollidierte mit dem Treibstofftank, der Gasdruck, der starke Wind und die sich ausbreitenden Flammen rissen die Fähre auseinander. Dass die Dichtungsringe Probleme machten, war der NASA aus vorangegangenen Flügen wohlbekannt. Immer wieder zeigten sich mehr oder weniger starke Abnutzungserscheinungen. Noch am Tag vor dem Challenger-Start meldeten sich Ingenieure der Firma Thiokol, die für die Herstellung der Raketentriebwerke verantwortlich war, und vereinbarten eine Besprechung zu dieser Problematik. An der abendlichen Telekonferenz nahmen Manager und Ingenieure von Thiokol und der NASA teil. Die Ingenieure von Thiokol äußerten Bedenken wegen der herrschenden Temperaturen, die dazu führen könnten, dass die Kunststoffringe zu spröde würden und ihre Funktionsfähigkeit verlören. Einen Start bei Außentemperaturen unter etwa 12 Grad Celsius solle man nicht riskieren (für den frühen Morgen in Cape Canaveral wurden Minusgrade vorausgesagt). Auf die Rückfrage der NASA, wie diese als willkürlich erscheinende Temperatur-Voraussetzung zu begründen sei, gab es keine befriedigende Antwort. Auch sonst äußerten sich die NASA-Manager sehr kritisch zu den vorgebrachten Bedenken. Die Konferenz wurde unterbrochen. Nach einer internen Beratung der Thiokol-Manager gaben diese dann letztlich doch ihr O.K. Die 302

NASA-Manager informierten die NASA-Leitung nicht von diesem Disput, was entsprechend der herrschenden Regeln auch nicht vorgesehen war, da es sich bei dieser Angelegenheit lediglich um ein „Level III Issue“ handelte, also um einen Punkt, der von den beteiligten Managern eigenständig zu regeln war. Wer oder was war für das Challenger-Unglück verantwortlich? Mit dieser Frage beschäftigten sich mehrere Untersuchungskommissionen, unter anderem die Presidential Commission und das Committee on Science and Technology. Die Dokumentation der Materialsammlung, der Anhörungen und vieler zusätzlicher Interviews ist äußert umfangreich und ist in mehreren Bänden niedergelegt (vgl. Vaughan 1997). Für die Presidential Commission zeichnete sich ein klares Bild ab. Danach war die Challenger-Katastrophe die Folge eines Vergehens, der verantwortungslosen Entscheidung, die Challenger-Mission durchzuführen, obwohl man von den technischen Mängeln wusste, die das Vorhaben zu einer höchst gefährlichen Angelegenheit machten. Diese Erklärung fügt sich fugenlos in die Gesamtbeurteilung der Kommission ein, die der NASA eine machohafte Risikokultur bescheinigte, in der Sicherheitsinteressen bedenkenlos zugunsten von ökonomischen Interessen geopfert würden. Auch Diane Vaughan bezieht sich in ihrer Erklärung sehr stark auf die in der NASA vorfindliche Organisationskultur. Sie kommt jedoch zu gänzlich anderen Schlüssen als die Kommission. Für sie ist das Challenger-Unglück nicht Folge eines Vergehens, sondern Folge eines Fehlers, also nicht Ausdruck einer moralischen Verfehlung, sondern Ergebnis eines Systemversagens. Der NASA eine Risikokultur zuzuschreiben, sei völlig verkehrt. Es sei im Gegenteil ein wesentliches Charakteristikum der NASA (und Grundlage ihres Erfolgs), dass alle Prozesse, die im Zuge einer Weltraummission zu durchlaufen sind, ständig und intensiv geprüft werden. Es existiert beispielsweise eine Dokumentation der NASA im Umfang von 122.000 Seiten, die sich ausschließlich mit Sicherheitsvorkehrungen beschäftigt. Außerdem waren und sind vor jedem Start zahllose ausführlich zu dokumentierende Sicherheitsroutinen zu durchlaufen. Dass in der NASA keine Risikokultur herrschte, zeige sich, so Vaughan, unter anderem schon daran, dass die Starttermine häufig verschoben werden (wofür die NASA von der Presse im Übrigen häufig kritisiert wird), eben, weil man immer sehr gewissenhaft auf irgendwelche sich auch nur andeutenden Probleme reagiere. Es ist, so Vaughan, also nicht ein lässiger Umgang mit unzureichend ausgearbeiteten Sicherheitsvorschriften, der für das Challenger-Unglück verantwortlich zu machen ist. Es sei vielmehr so, dass sich innerhalb des Regelsystems eine 303

Normalisierung der Abweichung etabliert habe. Wolle man die Entscheidung zum Start am 28. Februar 1986 richtig verstehen, dann sei es notwendig, sie nicht als Verstoß gegen das Regelsystem zu betrachten, sondern als Beleg für dessen Wirksamkeit. Die Kommission und Diane Vaughan stützen sich in ihrer Analyse auf dasselbe Material und kommen doch zu völlig entgegengesetzten Einschätzungen. Das ist deswegen besonders bemerkenswert, weil Vaughan in ersten Veröffentlichungen ganz auf der Linie des Kommissionsberichts lag (vgl. z.B. Vaughan 1989), aufgrund vertiefter Analysen dann aber davon Abstand nahm. Wie kommt Vaughan zu einer Neubewertung der Vorgänge? Ein Grund liegt in Differenzen beim Geltenlassen vermeintlicher Fakten, ein zweiter in der unterschiedlichen Deutung der Vorgänge im Umfeld des Unglücks und ein dritter Grund ergibt sich aus Unterschieden in der Weite des Blicks auf die Geschehnisse. Ein Beispiel für die unterschiedliche Beurteilung der Faktenlage betrifft den Gegensatz zwischen den Ingenieuren und den Managern in der NASA. In dem Bild der Kommission gehören die beiden Gruppen unterschiedlichen Kulturen an, auf der einen Seite einer professionellen Kultur, die auf die Optimierung der technischen Systeme und damit auch auf höchste Sicherheitsstandards setzt und auf der anderen Seite einer Verwertungslogik, der es primär um Erfolg, Außenwirkung und Befriedigung der Interessen der Geldgeber ankommt. Für Vaughan ist dieses Bild völlig schief, weil es diesen Gegensatz gar nicht gab, weil auch die Manager in aller Regel Ingenieure waren und weil auch die Ingenieure bei ihren Projekten auf Umsetzbarkeit und Ökonomie achteten, weil also von der Existenz zweier, diametral entgegengesetzter Kulturen keine Rede sein konnte. Wie unterschiedlich man das Geschehen deuten kann, zeigt eine Analyse des Sprachgebrauchs. So wurde in der Kommission unter anderem moniert, dass in den NASA-Dokumenten im Hinblick auf die O-Ringe von „akzeptablen Risiken“ die Rede ist, was zeige, dass man bei der NASA offensichtlich Russisches Roulette spiele. Eine nähere Betrachtung der Dokumente erbringt jedoch, dass der Ausdruck „akzeptable Risiken“ nur Element eines technischen Jargons war und eine sehr eingeschränkte Bedeutung aufwies und eben gerade nicht bedeutete, dass man sich um das jeweilige Problem nicht zu kümmern brauche. Die Einstufung eines Problems als akzeptabel war, so Vaughan, im Gegenteil das Ergebnis einer ausführlichen Analyse des Problems und spiegele daher nicht Verdrängung, sondern Aufmerksamkeit wider, sie enthalte mithin die Aufforderung, das Problem 304

weiter im Auge zu behalten. Tatsächlich existiert bei der NASA sogar eine Broschüre aus dem Jahr 1981, die sich ausführlich mit der Einstufungskategorie „Akzeptable Risiken“ befasst. Der dritte und wichtigste Unterschied zwischen der Analyse der Kommission und der von Diane Vaughan betrifft den jeweils aufgespannten Problemhorizont. Während sich die Kommission im Wesentlichen auf die Vorgänge im Umgang mit dem Triebwerksproblem konzentrierte, untersuchte Diane Vaughan, wie die NASA generell mit Problemen umging. Man muss sich das als durchaus mühevolle Arbeit vorstellen, denn um die Vorgänge richtig verstehen zu können, war es notwendig, sich ein gründliches Verständnis über technische Zusammenhänge, über die Organisationsstruktur, die Zusammenarbeit, Normen, Prozeduren und den Sprachgebrauch im innerbetrieblichen Diskurs zu erarbeiten. Im Ergebnis identifiziert Vaughan drei Elemente, die sie für die „Normalisierung der Abweichung“ verantwortlich macht: die Produktion der Kultur, die Kultur der Produktion und das strukturelle Schweigen. Kulturen entstehen, sie entwickeln sich, sie werden gewissermaßen „produziert“. Das gilt auch für den Umgang mit einem Kulturelement wie dem Risiko. Im Fall der NASA wurden die Grenzen der akzeptablen Risiken nach und nach und Stück um Stück ausgedehnt, ein schleichender Prozess, der dafür verantwortlich war, dass Weltraummissionen trotz bestehender (und bekannter) Mängel nicht gestoppt wurden. „Bei der Rekonstruktion der Entscheidungsgeschichte fand ich eine Fünf-Stufen-Sequenz, in der technische Abweichungen – Anomalien in den Dichtungsringen der Triebwerke – zunächst als mögliche Gefahrensignale identifiziert wurden und dann, im Zuge einer ingenieurtechnischen Analyse, als ‚akzeptable Risiken‘ definiert wurden. Diese Entscheidungssequenz wurde Mission um Mission immer wieder durchlaufen. Hier zeigt sich, voll entfaltet, wie die Erosion der Dichtungsringe normalisiert wurden. Die erste Entscheidung, die Risiken zu akzeptieren, etablierte einen quantitativen technischen Standard, der – wenn er in einer erfolgreichen Mission eingehalten wurde – trotz unveränderter Anomalien zu einem Präzedenzfall für zukünftige Flüge wurde. Niemand spielte ‚Russisches Roulette‘. Die technische Analyse von Schädigungen und der andauernde Erfolg überzeugte alle, dass die Flüge sicher waren. Das sich wiederholende Muster war ein Indikator der bestehenden Kultur – in diesem Fall, der Produktion einer kulturellen Überzeugung zur „Risiko-Akzeptanz“ (Vaughan 2004, 328). Das zweite Erklärungselement, die Kultur der Produktion, ist gleichzeitig Ergebnis und Voraussetzung der Kulturproduktion. 305

Dabei geht es um die Art und Weise, wie die einzelnen Projekte, die Planung, die tägliche Arbeit, die Missionen durchgeführt werden. Ein herausstechendes Merkmal im Alltagsgeschehen der NASA war der Kompromiss. Es ging bei konkreten Projekten immer darum, Kosten, Zeit und Sicherheit gegeneinander abzuwägen. Dieser Abwägungsprozess erfolgte mit großer Sorgfalt, aber immer auch im Bewusstsein, dass es perfekte Lösungen nicht geben konnte. Unterschiede zwischen Managern und Technikern gab es diesbezüglich nicht: Alle Mitarbeiter hatten die dieser Arbeitspraxis zugrunde liegende Haltung verinnerlicht und stellten sie nicht infrage. Etwas rätselhaft bleibt allerdings, weshalb diese Praxis, im dem die Probleme mit den Dichtungsringen betreffenden Fall jahrelang Bestand haben konnte. Hier kommt das dritte Element der von Vaughan entwickelten Erklärung zum Zug, das strukturelle Schweigen. Die Kommission warf dem mittleren Management die Unterdrückung von Informationen vor. Nach Vaughan ging es aber nicht um individuelles Schweigen, jedermann habe von dem Problem der Dichtungsringe gewusst. Nicht die Kommunikationswege seien das Problem gewesen, sondern die Interpretation der Informationen. Die Prüfungen der Dichtungsringe erbrachten mehrdeutige Ergebnisse. Zwar fanden sich nach einer der Missionen deutliche Hinweise auf eine Schädigung, die daraufhin erfolgte Nachbesserung schien aber erfolgreich zu sein, denn danach gab es sechs Flüge ohne Beanstandung. Die durchaus bestehenden Hinweise blieben außerdem ohne Nachdruck, weil es immer gelang, Schäden auf Ereignisse zurückzuführen, deren Auftreten sehr unwahrscheinlich war. Und als die Schädigungen häufiger auftraten, wurden sie schon als Routinefälle behandelt, die man im Griff zu haben glaubte. Der „Flight Readiness Review“, der vor jedem Start zu erstellen war, umfasste, auf der Basis von dicken Packen voller Informationen, lediglich zwei Seiten. Risikobewertungen wurden hier nur in kondensierter Form vorgenommen, widersprüchliche und mehrdeutige Daten tauchten nicht mehr auf. Neben den internen Kontrollinstanzen gab es auch externe Prüfer, diese konzentrierten sich allerdings nur auf die Probleme, die von den internen Leuten als schwerwiegend gekennzeichnet wurden. Es lag also auch dem strukturell bedingten Schweigen über die Dichtungsring-Probleme kein Kalkül zugrunde, es ergab sich vielmehr aus der Art und Weise, wie in der NASA Informationen weitergegeben wurden. In der Gesamtbetrachtung kommt Vaughan zu dem Ergebnis, die Challenger-Katastrophe sei nicht durch unmoralische Manager verursacht, die eine kühle und unmoralische Nutzenabwägung vorgenommen hätten, der Unfall habe vielmehr 306

systemische Ursachen, die die einzelnen Akteure und den spezifischen Entscheidungszeitpunkt transzendieren: „Meine Analyse zeigt, wie als selbstverständlich geltende Annahmen, Dispositionen und Klassifikations-Schemata zielorientiertes Verhalten beeinflussen, wie sie (vorrational und vorbewusst) individuellen Entscheidungen vorangehen und diese prägen.“ (Vaughan 2004, 341).

Macht Entscheidungen sind nur so gut, wie die Informationen, auf denen sie gründen. Ausschlaggebend ist jedoch nicht die Menge, sondern die Qualität der Informationen. Das wird häufig übersehen, getreu dem Motto, je breiter die Informationsbasis, je mehr Informationen in eine Entscheidung einfließen, desto besser. Informationen sind außerdem nichts Objektives, nicht hinter jeder Information steckt auch eine Wahrheit. Und viele Informationen sind außerdem nur schwer nachprüfbar. Auch ist es keinesfalls immer lobenswert, wenn Informationen weitergegeben werden, denn Informationen dienen leider auch der Desinformation. Informationen werden strategisch eingesetzt, sie dienen dazu, den Entscheidungskontext zu beeinflussen und sie werden verwendet, um Kontrolle über den Entscheidungsprozess zu erhalten. Informationen sind daher nur bedingt Abbildungen der Wirklichkeit, sondern soziale Konstruktionen, Ergebnisse von Abreden und von Verhandlungen. Informationen zu manipulieren, ist gängige Managementpraxis. Das ist jedenfalls die Überzeugung von Steven Feldman (1988). Er illustriert seine Überlegungen am Beispiel des Machthandelns in einem großen Unternehmen der Telekommunikationsbranche, in dem er als teilnehmender Beobachter tätig war. Im Speziellen berichtet er von einem Streitpunkt über die richtige Organisationsstruktur. Eine Richtlinie des übergeordneten Konzerns verlangte, dass die Telefonshops dem Stabsbereich zuzuordnen seien. In dem betrachteten Unternehmen wurde diese Vorgabe allerdings jahrelang ignoriert. Die Telefonshops verblieben im Verantwortungsbereich eines hoch angesiedelten Linien-Managers, der sie nicht aus der Hand geben wollte, zumal sie mit einem Umsatz von über 300 Millionen Dollar als Schwergewicht im Unternehmen galten und seinem Leiter hohes Ansehen und starke Einflussmöglichkeiten zukamen. Nach erfolglosen Versuchen vonseiten der Stabsmanager, sich diesen Unternehmensteil „anzueignen“ und 307

nach erheblichem Gerangel wurde schließlich eine Sitzung mit allen wichtigen Managern der ersten und zweiten Ebene anberaumt, um die Frage der Zuständigkeit endgültig zu entscheiden. Zu Beginn der Sitzung stellte sich allerdings heraus, dass die Frage bereits entschieden war. Was war geschehen? Der Chef des Stabs hatte im Vorweg dafür gesorgt, dass in einem internen Restrukturierungsplan auch die Neuzuordnung der TelefonShops zum Stabsbereich als beschlossene Sache vermerkt wurde. Dem Geschäftsführer, mit dem ihn eine vertrauensvolle Beziehung verband, hatte der Stabschef versichert, der bisher zuständige Linienmanager sei damit einverstanden, wonach der Plan offiziell verabschiedet wurde. Als der Linienmanager davon erfuhr, war er naturgemäß höchst verärgert. Seine Empörung über die Lügen seines Kollegen nützte nichts, der Geschäftsführer beließ es bei dem einmal verabschiedeten Plan, und die Telefonshop-Sparte wurde dem Stabsbereich zugewiesen. Warum nahm der Geschäftsführer die Entscheidung nicht zurück? Feldman nennt drei Gründe. Der erste Grund hat etwas mit dem Selbstbild und dem Bild zu tun, den das Management nach außen gern abgab. Man verstand sich als Team, das die gute Zusammenarbeit pflegt und Entscheidungen nur nach gründlicher Analyse trifft. Dass interne Konflikte nach außen sichtbar werden, vertrug sich nicht mit diesem Bild. Zweitens hatte der Geschäftsführer auch persönlich kein Interesse, sich in dieser Sache zu exponieren, man hätte ihm ja Naivität und Führungsschwäche vorwerfen können. Drittens war der Geschäftsführer schon längere Zeit dem Druck aus dem Konzern ausgesetzt, die Richtlinie umzusetzen, entsprechend wenig Interesse hatte er daran, hier eine eben bereinigte Konfliktlinie erneut aufzunehmen. Nun hätte man meinen können, dass der bislang verantwortliche Linienmanager aufbegehrt und nachdrücklichen Widerstand organisiert hätte. Das war aber nicht der Fall, man fand vielmehr eine elegante Lösung dadurch, dass dem düpierten Manager zum Ausgleich eine neue, wesentlich verantwortungsvollere Funktion und Stelle angeboten wurde. Damit waren wesentliche Schwierigkeiten vor der entscheidenden Sitzung aus dem Weg geräumt. Dennoch gab es Befürchtungen den Verlauf der Zusammenkunft betreffend, denn schließlich betraf die Entscheidung nicht nur die Führungspersonen, sondern auch das übrige Management und deren Interessen. Die Gefahr, dass sich der vorher aufgestaute Unmut in der Sitzung entladen würde, war jedenfalls nicht von der Hand zu weisen. Tatsächlich kam es jedoch nur bei einer Person zu starken Irritationen und das lag daran, dass diese nicht vorab informiert worden war. Einer der Stabsmanager 308

hatte sich mit allen übrigen Beteiligten jeweils einzeln im Vorweg getroffen und mit diesen besprochen, wie deren jeweilige Interessen gewahrt werden konnten. Das war riskant, weil der Stabsmanager seine Vermittlungsfunktion ohne Wissen seines Vorgesetzten ausgeübt hatte und eine Beschwerde einigen Ärger ausgelöst hätte. Im vorliegenden Fall erwies sich dieses Vorgehen jedoch als gangbar, weil der Vermittler bis vor Kurzem ebenfalls im Linienmanagement gearbeitet hatte und die Betroffenen zu seinem informellen Netzwerk gehörten – bis auf die besagte Person, die erst in der Sitzung von der Entscheidung erfuhr. Diese war im Übrigen auch deswegen nicht eingeweiht worden, weil sie als wenig einflussreich galt. Ganz reibungslos verlief die Sitzung dennoch nicht. Die Diskussion bewegte sich auf zwei Ebenen. Auf der manifesten Ebene ging es um die Lösung „technischer“ Fragen, die sich bei der zu vollziehenden Ablösung aus der Linienorganisation und die Eingliederung in die Stabsorganisation ergaben. Auf einer tieferen Ebene war es aber auch eine politische Diskussion. Weil sich mit jeder einzelnen zu beschließenden Maßnahme Gewinne oder Verluste für die eine oder andere Seite verknüpften, wurden immer diejenigen (vorgeblich sachlichen) Begründungen für eine Lösung vorgebracht, die den eigenen Interessen am meisten dienten. Über die hinter der technischen Diskussion stehenden Interessenkonflikte wurde nicht offen gesprochen. Als gemeinsamer Bezugspunkt, mit dem man seine Argumente für die jeweils präferierten Lösungen unterfütterte, diente das vermeintliche Kundeninteresse, es ging vordergründig also immer um Lösungen für das Firmenwohl, obwohl die Beteiligten dieses doppelbödige Spiel natürlich gut durchschauten. Der geschilderte Fall zeigt sehr schön, dass Informieren, Desinformieren und auch Nichtinformieren wirksame Mittel des Machthandelns sein können. Damit sie es sind, müssen allerdings bestimmte Bedingungen gegeben sein. Dass der Geschäftsführer getäuscht werden konnte, lag mit daran, dass er seinem Stabschef vertraute und dass er die Entscheidung nicht rückgängig machte, lag daran, dass er das Dilemma, in das er geraten war, am besten dadurch auflösen konnte, dass er an der einmal getroffenen Entscheidung festhielt. Dass die Aussprache über die Entscheidung nicht aus den Fugen geriet, war den vorangehenden Informationstätigkeiten und den damit verbundenen Vermittlungsbemühungen zu verdanken. Und maßgeblich natürlich auch an dem Kompensationsgeschäft, also der Beförderung des Hauptkombattanten, der damit das Interesse an einer Konflikteskalation verlor. Dem in der Sitzung dennoch spürbaren Widerstand wurde 309

durch die auf Harmonie bedachte Unternehmenskultur Grenzen gesetzt. Auch der Verzicht darauf, den außerhalb des Netzwerks stehenden Manager zu informieren, erwies sich als geschickter Schachzug. Damit wurde diesem die Möglichkeit genommen, unbequeme Fragen zu stellen, Unruhe zu stiften und eine Koalition gegen die Entscheidung zu schmieden. In der Sitzung selbst stand er dann ganz allein da, eine machtvolle Gegenwehr ließ sich nicht mehr aufbauen. Eine generelle Voraussetzung für erfolgreiche Informationsmanipulation ist Mehrdeutigkeit. Selbst eine offenbare Lüge lässt sich wegerklären, wenn man plausibel machen kann, man habe die Situation anders verstanden, man habe die (missverständlichen) Signale, die die andere Seite ausgesandt habe, wohl falsch eingeschätzt usw. Gelingt es nicht, das Machtspiel wirksam einzuhegen, dann kann Informationsmanipulation allerdings äußerst gefährlich sein. Wer betrügt, gibt zu erkennen, dass er sich nicht an die Spielregeln hält, dass er Werte wie Offenheit und Kooperation offensichtlich verachtet, was der Gegenseite die Rechtfertigung dafür gibt, sich nun ihrerseits nicht an die Spielregeln zu halten, was der Eskalierung von Konflikten Tür und Tor öffnet und zur Stabilisierung einer Beziehung sicher nicht beiträgt.

Personen Gregory Herek, Irving Janis und Paul Huth (1987) analysierten das Verhalten von fünf amerikanischen Präsidenten und deren Beraterstäben in internationalen Krisen im Zeitraum von 1945 bis 1975. Aus einer Liste von 76 Konflikten wurden für jede der fünf betrachteten Präsidentschaften (Truman, Eisenhower, Kennedy, Johnson, Nixon) die vier Krisen ausgewählt, aus denen sich die weitreichendsten Konsequenzen für die USA hätten ergeben können. Als Datengrundlage dienten Beschreibungen von Politologen und Geschichtswissenschaftlern. Zu den analysierten Fällen gehörten unter anderem die Berlin-Blockade 1948, der Suez Krieg 1956, der Bau der Berliner Mauer 1961, der Zwischenfall im Golf von Tonkin 1964 und der Bürgerkrieg in Jordanien 1970. Für den vierten Kennedy-Fall (die Taiwan-Krise 1962) lag nicht genug Material vor, so dass letztlich 19 Fälle in die Analyse einbezogen wurden. Die Qualität der Entscheidungsprozesse wurde am Ideal eines „aufmerksamen Problemlösungsprozesses“ (vigilant problem-solving) gemessen. Damit ist nicht etwa die uneinlösbare Hyperrationalität des homo 310

oeconomicus gemeint, geltend gemacht werden aber durchaus Ansprüche an die Alltagsvernunft, Anforderungen, denen sich verantwortungsvolle Entscheider stellen sollten: eine sorgfältige Suche nach relevanten Informationen, eine kritische Bewertung der Handlungsalternativen, eine sorgfältige Planung, wobei in Rechnung zu stellen ist, dass sich die Umstände und damit die Planungsvoraussetzungen verändern können. Um die Prozessqualität zu beurteilen, richten die Autoren ihren Blick auf mögliche Mängel. Je mehr Mängel ein Entscheidungsprozess aufweist, so die Logik, desto schlechter ist seine Qualität. Im Einzelnen betrachten sie die folgenden sieben Defekte der Entscheidungsfindung: (a) Die Suche nach Handlungsalternativen weist grobe Unterlassungen auf, (b) die Handlungsziele werden unzureichend geklärt, (c) wichtige Kosten und Risiken werden nicht berücksichtigt, (d) die Informationssuche ist dürftig und oberflächlich, (e) die verfügbaren Informationen werden nur selektiv verarbeitet, (f) zurückgewiesene Alternativen haben keine Chance, erneut in die Diskussion eingebracht zu werden, (g) für die Umsetzung der Entscheidung und die dabei zu erwartenden Schwierigkeiten werden keine Handlungspläne entwickelt (Herek/Janis/Huth 1987, 204 f.). Die zentrale Hypothese der Autoren ist, dass aufmerksames Problemlösungsverhalten mit weniger Entscheidungsdefekten einhergeht und damit die Qualität des Entscheidungsprozesses erhöht, was wiederum zu besseren Entscheidungsergebnissen führt. Die Qualität der in ihrer Studie betrachteten Entscheidungen messen die Autoren daran, ob diese zu einer Befriedung der Konflikte beitrug und daran, ob die Entscheidung geeignet war, die Interessen der USA zu wahren. Als unabhängige Variable fungierte in ihrer Studie die Zahl der Defekte. Die Wertbestimmung für die beiden abhängigen Variablen (Befriedung des Konflikts, Wahrung der USInteressen) erfolgte durch zwei unabhängige Fachleuchte für internationale Politik. Die beiden Gutachter unterschieden sich in ihrer politischen Ausrichtung (liberal bzw. konservativ), stimmten aber in 14 der 19 Fälle in ihrer Beurteilung der Ergebnisqualität überein. Von den betrachteten 19 Fällen wiesen acht Fälle eine hohe Prozessqualität (keines oder nur eines der sieben negativen Symptome) auf – so jedenfalls die Analyse der Autoren. In vier Fällen lag eine mittlere (zwei oder drei Symptome) und in sieben Fällen eine geringe Prozessqualität (vier und mehr Symptome) vor. Die Ergebnisqualität war in sieben Fällen (Befriedung des Konflikts) bzw. in neun Fällen (Wahrung der US-Interessen) unbefriedigend, d.h. die von den Präsidenten und ihren Beratern getroffenen Entscheidungen zeitigten 311

in diesen Fällen keine oder eine negative Wirkung. Die Hypothese der Autoren wurde bestätigt, die Korrelation der unabhängigen Variablen (Prozessqualität) mit den beiden abhängigen Variablen (zur Prozessqualität) betrug r=0,62 bzw. r=0,64. Der häufigste Mangel im Entscheidungsprozess war nicht etwa, dass sich die Akteure zu wenig um die Sammlung nützlicher Informationen gekümmert hätten, in allen Fällen wurden nämlich sehr fleißig und intensiv Informationen gesammelt. Als hoch problematisch erwies sich dagegen oft der Informationsgebrauch. Zumal neu eingehende Informationen, die geeignet waren, eine schon einigermaßen gefestigte Wahrnehmung infrage zu stellen, wurden gern übersehen oder ignoriert. Wie aber kommt es dazu, dass manche Entscheidungsprozesse so gut wie keine, andere Entscheidungsprozesse dagegen bedenklich viele Defekte aufweisen? Nach Herek, Janis und Huth können dafür nicht der Ernst der Lage oder die Schwierigkeit des Entscheidungsproblems verantwortlich gemacht werden. Ist es also die personelle Komponente? Es spricht einiges dafür, dass die Qualität eines Entscheidungsprozesses letztlich von den Fähigkeiten der Akteure bestimmt wird. Herek, Janis und Huth lassen diese These aber nicht gelten. In allen von den Autoren betrachteten Fällen war der Teilnehmerkreis hoch qualifiziert. Außerdem schwankte die Qualität der Entscheidungsfindung bei allen fünf Präsidenten und deren Beraterstab gleichermaßen. Es ist andererseits schwer vorstellbar, dass es nicht doch auch auf die Personen ankommt, wenn es um die Qualität der Entscheidungsfindung geht. Leider gehen Herek, Janis und Huth in ihrem Beitrag nicht weiter auf diese Frage ein, wie sie generell der Frage aus dem Weg gehen, wovon die Qualität der Entscheidungsfindung bestimmt wird. Ausführungen hierzu finden sich allerdings in Janis‘ Buch über „Crucial Decisions“. Janis (1989, 1992) rekurriert hierin auf sein „Constraint-Model“. Dieses Modell geht davon aus, dass Menschen durchaus bemüht sind, sich einigermaßen rational zu verhalten (im Sinne des aufmerksamen Problemlösens), dass es aber eine Reihe von Größen gibt, die dieses Streben beeinträchtigen. Dem Problemlösen vorgelagert, gewissermaßen als dessen Voraussetzung, ist die Einschätzung der Wichtigkeit des Problems. Sie bestimmt, welchen Problemen man sich widmet. Die Konzentration auf ausgewählte Probleme ist notwendig, weil man sich nicht allen sich stellenden Problemen gleichzeitig zuwenden kann. Ansonsten kommt es nämlich zu einer Problemüberlastung, die nicht nur erheblichen Stress bewirkt, sondern auch die Qualität der Problemlösungen beeinträchtigt. Im Extremfall entsteht daraus 312

eine Art „Hypervigilanz“, also eine übersteigerte und überreizte Aufmerksamkeit. Die Folge ist überhastetes, orientierungsloses, horizontverengtes, d.h. nur auf kurzfristige Entlastung bezogenes Verhalten. Als wichtig gilt den Teilnehmern an einem Entscheidungsprozess jede Bedrohung, die die Lebensfähigkeit der Gruppe, der Organisation usw. beeinträchtigen könnte, für die sie die Verantwortung übernommen haben. Je größer der Unterschied zwischen dem Ist- und dem Sollzustand von kritischen Variablen, desto wichtiger erscheint das Problem. Wichtigkeit ist allerdings eine Wahrnehmungsgröße, womit einhergeht, dass unverständliche, mehrdeutige und schleichende Entwicklungen in ihrer Wichtigkeit unterschätzt werden. Eine besondere Rolle spielt das Nichtstun, denn es ist immer eine naheliegende Handlungsalternative, das Geschehen sich selbst zu überlassen, zumal wenn man sich selbst keine wichtige Rolle im Geschehensablauf zuzuschreiben vermag. Der eigentliche Prozess der Problembearbeitung wird durch eine Reihe von kognitiven, sozialen und egozentrischen Beschränkungen beeinträchtigt. Beispiele für kognitive Beschränkungen sind fehlende Zeit und Ressourcen, Aufgabenvielfalt und Aufgabenkomplexität, unzuverlässiges Wissen und ideologische Blindheit. Soziale Beeinträchtigungen („affiliative constraints“) ergeben sich aus übertriebenen Bedürfnissen nach Macht, Status, Belohnung und sozialer Unterstützung. Egozentrische Beschränkungen erwachsen aus Gier, Ruhmsucht, emotionaler Erhitzung und Entscheidungsstress. In all diesen Beschränkungen steckt ein kollektives Element. In Gruppierungen, in denen es vor allem um Status- und Machtfragen geht, in denen Angst vor sozialer Ausgrenzung herrscht, in denen alle überlastet sind, in denen die Gedankenfreiheit durch ideologische Verbohrtheit unterdrückt wird und in denen ein reizbares emotionales Klima herrscht, haben es Bestrebungen schwer, sich auf eine objektive, sorgfältige und verständige Problembearbeitung einzulassen. Leider wendet Janis die Überlegungen, die sich aus seinem Constraint-Modell ergeben, nicht konkret auf die 19 Fälle an, die in der Studie von Herek, Janis und Huth beschrieben werden. Es wäre sicher von einigem Interesse zu erfahren, welche konkreten Beschränkungen in diesen Fällen wie wirksam geworden sind. Wie auch immer. Die Überlegungen von Janis sind alle plausibel, sie sind aber nicht der Weisheit letzter Schluss, denn es drängt sich natürlich die Frage auf, warum es überhaupt zu den kognitiven, sozialen und egozentrischen Beschränkungen kommen kann. Janis geht dieser Frage nicht aus dem Weg. Er benennt im Gegenteil 313

eine Reihe von Einflussgrößen („Antezedens-Bedingungen“), etwa eine verfehlte Kommunikationspolitik, bestimmte Persönlichkeitseigenschaften, Normen und Traditionen. Er merkt aber auch an, dass das Wissen hierüber noch sehr gering ist und er empfiehlt der Forschung daher, sich näher mit diesem Problem zu beschäftigen.

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Kapitel 8: Die Umsetzung von Entscheidungen Phänomene Gesagt, getan! Diesem Postulat fügt sich kaum ein Fall kollektiven Handelns. Schon im Handeln einer einzelnen Person ist die Ausführung nur selten die unmittelbare und logische Konsequenz der ihr zugrunde liegenden Entscheidung. Dieser Fall setzt nämlich eine doppelte Eindeutigkeit voraus, erstens eine klare Trennung zwischen Entschluss und Ausführung und zweitens eine völlige Entsprechung der jeweiligen Handlungsvoraussetzungen im Moment der Entschließung und während der Ausführung konkreter Handlungen. Beispiele für Letzteres liefern Spontanentscheidungen als Antworten auf unmittelbare Handlungsaufforderungen („Komm doch mit, wir gehen gerade zu …“ „Die Kirschen sehen aber verlockend aus, da nehme ich ein Pfund davon“). In diesen Fällen verschwimmt allerdings die Grenze zwischen Entschluss und Ausführung. Dieser Tatbestand findet sich auch in vielen Nicht-Spontan-Entscheidungen, insbesondere dann, wenn man sich mit einer Entscheidung „abquält“, Handlungsoptionen immer wieder gegeneinander abwägt, in seiner Urteilsfindung hin und her schwankt. In diesen Fällen übernehmen nicht selten mehr oder weniger zufällig auftauchende Verhaltensanlässe die Funktion, die „eigentlich“ der mentalen Urteilsfindung vorbehalten ist, es ist dann nicht der klar konturierte Wille, es ist die Tat, die in diesem Fall entscheidet. Und dann gibt es noch den Handlungstypus in dem Verhalten und Entscheiden von vornherein unlösbar miteinander verwoben sind, in dem sich Wollen und Tun wechselseitig vorantreiben: Man beschäftigt sich mit einer Aufgabe, entwickelt erste Lösungsansätze, probiert etwas aus, gewinnt ein Gefühl für das Machbare, hat eine neue Idee, erhält Zugang zu bisher nicht vorhandenen Informationen, 315

legt sich fest, zweifelt am Erfolg, ändert seine Haltung, modifiziert sein Vorgehen und so bildet sich allmählich ein Verhaltensmuster heraus, das als Ausdruck dessen gelten kann, was man „eigentlich“ will. Typisch ist dieses Vorgehen für schlecht-definierte Probleme, für kreatives Tun, für den Umgang mit dem Unbekannten, also z.B. für die Versuche, sich in einer fremden Umgebung zurechtzufinden, für das Schreiben eines Buchs, für das Bemühen, sich einen anderen Lebensstil anzueignen usw. Im kollektiven Fall kommt zu diesem Herantasten an das inhaltliche Problem noch die Notwendigkeit, den Weg zu finden, wie man miteinander auskommt, was gemeinsam gangbar ist und ob man sich überhaupt explizit auf ein Verhaltensziel einigen kann und muss. Ein besonderer Fall liegt vor, wenn die Handlung in nichts anderem als in eben der Entscheidung besteht. Beispiele sind die Bekundung einer Auffassung, das Aussprechen von Empfehlungen, die Veröffentlichung einer Programmschrift usw. Dabei geht es manchmal einfach um die Weitergabe von Informationen, ein andermal um Symbolhandlungen, verschiedentlich aber auch um strategische Verlautbarungen, in denen Verlockungen und Drohungen stecken können. Normalerweise findet man derartige Teil-Aktionen innerhalb fast jeder umfänglichen Entscheidungsepisode. Jenseits der angeführten Fälle des In-Eins-Fallens bzw. des Ineinander-Verschwimmens von Entschluss und Ausführung gibt es natürlich ebenso die Fälle, in denen sich die beiden Entscheidungssphären deutlich voneinander abheben. Hier kann schon die rein zeitliche Komponente zu einem Auseinanderfallen von Entschluss und Handeln beitragen. Es können sich dann nämlich leicht Überlegungen einstellen, die eine Absicht ins Wanken bringen („Die Schuhe gefallen mir außerordentlich, ich muss nur vorher noch in der Spielwarenabteilung vorbeischauen“) oder ins Unklare verschieben („Ich muss nachher mal den Meier anrufen, um ihm meine Meinung zu sagen!“). Viele Entschlüsse enthalten außerdem, wie das eben genannte Beispiel, allenfalls umrissartig, was genau getan werden soll. Ob die schließlich veranlasste Handlung tatsächlich den ursprünglichen Absichten entspricht, ist daher eine offene Frage. Dazu kommt, dass die Umsetzung einer Absicht in aller Regel nicht aus einer einzelnen und einfachen Handlung besteht. Im Zuge der Handlungsausführung stellen sich vielmehr häufig vorher nicht bedachte Fragen, die selbst wieder neue mehr oder weniger gewichtige Teilentscheidungen notwendig machen. Wenn man so will, 316

sind die einzelnen Aktivitäten im Rahmen der Umsetzung selbst jeweils von je spezifischen Entscheidungsprozessen geprägt. Das wird dann wie von selbst dazu führen, dass sich das tatsächliche und das anvisierte Vorgehen deutlich unterscheiden, was man an vielen Gesetzesentwürfen, Bauprojekten, Forschungsvorhaben und vielen weiteren Beispielen sehen kann. Dessen ungeachtet ist es manchmal sinnvoll, die vorgesehenen Handlungsschritte möglichst einzuhalten – und manchmal nicht. So kann es vorkommen, dass ein hervorragend ausgearbeiteter Plan scheitert und ein schlechter Plan zum Erfolg führt. James Reason zeigt dies am Beispiel der militärischen Strategien Frankreichs und Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Der deutsche Schlieffen-Plan war gut durchdacht und penibel ausgearbeitet und auf die schwache Seite der französischen Verteidigungslinie gerichtet. Der französische Plan 17 dagegen blieb vage, enthielt keine detaillierte Beschreibung der auszuführenden Handlungsschritte und platzierte die Truppen an ungünstige Ausgangspositionen. Der deutsche Plan scheiterte trotz seiner deutlich besseren Qualität, weil sich die Akteure über wichtige Elemente des Plans hinwegsetzten, der französische Plan erwies sich im Endeffekt als überlegen, weil es die Akteure verstanden, sich auf die jeweils neu stellenden Handlungserfordernisse einzustellen (Reason 1991). Das Verhältnis zwischen Entschluss und Ausführung ist also recht vielgestaltig. Wobei man verschiedene Komplexitätsstufen unterscheiden muss. So gibt es durchaus den Fall, dass eine klare Entscheidung eine unmissverständliche und eindeutige Handlung zum Ziel hat und dies auch erreicht. Wenn also die Entscheidung beispielsweise nur darin besteht, eine Information weiterzugeben, wenn ein Befehl befolgt werden soll, der sich sofort, vollständig und ohne Mühe ausführen lässt, wenn die Umsetzungsschritte einem vorgegebenen und vielfach eingeübten Schema folgen, dann stellt sich normalerweise kein besonderes Umsetzungsproblem. Anders ist dies, wenn die Umsetzung einer Entscheidung unkonventionelles, umsichtiges und reaktionsschnelles Handeln verlangt. Denn wenn man mit der Komplexität der Welt konfrontiert wird, dann ist eine Entscheidung zwar insofern hilfreich, als sie eine Richtung vorgibt, am Ziel ist man damit aber noch lang nicht. Möglicherweise ist aber die Entscheidung an ihr Ende gekommen, bevor sie wirksam werden kann, dann nämlich, wenn sich herausstellt, dass sie sich beim besten Willen nicht verwirklichen lässt. 317

Akteure der Entscheidung und Akteure der Umsetzung Im kollektiven Fall ergeben sich Komplikationen der Umsetzung allein schon dadurch, dass die Personen, die eine Entscheidung ausführen (sollen), nicht unbedingt auch die Personen sind, die die Entscheidung getroffen haben. Tabelle 8.1 zeigt mögliche Konstellationen im Hinblick auf die Entschlussfassung auf der einen und im Hinblick auf die Umsetzung des Entschlusses auf der anderen Seite.

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 … …

Entschluss P1 P1 P1 P2, P3, P4, … P1, P2, P3, … P1, P2, P3, … P1, P2, P3, … P1, P2, P3, … D1, P1, P2, … P1, P2, P3, … ….. …..

Umsetzung P2 P2, P3, P4, … P1, P2, P3, … P1 P1 P1, P4, P5, … P1, P2, P3, … P4, P5, P6, … D1, P1, P2, … D1, P1, P2, … ….. …..

Tab. 8.1: Beteiligung bei der Entschlussfindung und bei der Umsetzung P1 ... Verantwortliche Personen, D1 … Dritte Personen Im einfachsten Fall (1) teilt der Entscheider (P1) dem Ausführer (P2) mit, was er selbst beschlossen und der andere auszuführen hat. Innerhalb eines klar strukturierten Rollenbezugs (Verhältnis von Befehl und Gehorsam, Empfang und Weitergabe von Signalen usw.) sollten sich nur im Ausnahmefall Diskrepanzen zwischen Entschluss und Ausführung einstellen. Problematischer ist der Fall (2), in dem sich die Auszuführenden koordinieren müssen und möglicherweise jeder eine andere 318

Auffassung darüber hat, wie die Entscheidung genau zu interpretieren und in welcher Weise sie auszuführen ist. Der Fall (3) scheint dagegen einfacher gelagert zu sein, weil die „entscheidende“ Person selbst an der Ausführung beteiligt ist. Das führt unter Umständen aber ebenfalls zu Problemen, etwa wenn die Hauptperson im Zuge der Umsetzung ihren Willen ändert oder wenn ihr die übrigen Personen die Hauptverantwortung für die Umsetzung zuschieben. In den Fällen (4) und (5) liegt der kollektive Part auf der Entschlussfassung, die Durchführung obliegt dagegen einer Einzelperson. Die Beauftragung wird im Fall (4) häufig formell vorgegeben, etwa wenn die Ausführung einem Stelleninhaber zugewiesen wird, zu dessen Tätigkeitsbeschreibung es gehört, die mit der Durchführung der Entscheidungen verbundenen Aufgaben auszuführen oder wenn ein externer Vertragspartner vermittels eines spezifischen Vertrags mit der Aufgabe betraut wird. In diesen Fällen kann es leicht dazu kommen, dass die Beauftragten über mehr Expertise als die Auftraggeber verfügen, was sie dazu veranlassen kann, der Umsetzung eine Richtung zu geben, die der von den Entscheidern anvisierten nicht unbedingt entspricht. Im Fall (5) verschärft sich diese Problematik. Hier nimmt eine der beteiligten Personen eine Doppelrolle ein, sie wirkt bei der Entscheidungsfindung mit, die Ausführung obliegt ihr allein, was ihr einen relativ breiten Handlungsspielraum verleiht. Im Fall (6) ist ebenfalls ein Mitglied der Entscheidungsgruppe für die Ausführung verantwortlich, ihm beigesellt sind allerdings weitere Personen. Diesen gegenüber hat die betreffende Person voraus, dass sie schon auf die Entscheidungsfindung Einfluss nehmen konnte und dass sie im Hinblick auf die Auslegung der Entscheidung einen deutlichen Informationsvorsprung geltend machen kann. Im Fall (7) sind alle Beteiligten sowohl in die Entschlussfassung als auch in die Umsetzung eingebunden. Die Trennung zwischen diesen beiden Phasen ist hier häufiger fließend, weil sich im Zuge der gemeinsamen Umsetzung viele Anlässe zu einer Reformulierung ergeben können. Im Fall (8) gibt es keinerlei Überschneidung zwischen der Gruppe der Entscheider und der Gruppe der Umsetzer. Hier entwickelt sich leicht eine je spezifische Gruppendynamik mit entsprechenden Folgen für die Herausbildung divergierender Auffassungen über die Angemessenheit der zu ergreifenden Maßnahmen. In den Fällen (9) und (10) kommt eine neue Kategorie von Teilnehmern am Entscheidungsprozess ins Spiel, dritte Personen, die zwar nicht unmittelbar in die Entscheidungsfindung und auch nicht in die Umsetzung mit eingreifen, aber dennoch eine nicht zu vernachlässigende Funktion ausüben können, z.B. als Beobachter oder Berater oder auch als Kontrolleure. 319

Die angeführten Konstellationen der Entscheidungsbeteiligung begünstigen oder erschweren das Verhalten der Akteure im Hinblick auf das Eingehen von Bündnissen und die Möglichkeit, den Inhalt von Entschlüssen und Plänen weit oder eng zu definieren. Sie schaffen oder behindern den Zugang zu Informationen, sie erweitern oder vermindern die Chancen, Einfluss zu nehmen und Kontrolle auszuüben. Und sie fördern oder beeinträchtigen die Bereitschaft, sich mit der Entscheidung zu identifizieren und seine Arbeitskraft voll für das Gelingen der Handlungsabsichten einzusetzen. Welche Wirkungen sich konkret einstellen, hängt von einer Reihe weiterer Faktoren ab, z.B. davon, ob sich im Verhältnis der verschiedenen Akteure zueinander bereits bestimmte Rollen etabliert haben, ob die Öffentlichkeit Einblick in das Geschehen hat, ob die verschiedenen Pläne und Aktivitäten dokumentiert werden, wie gut sich die Akteure kennen, welche Ziele sie verfolgen und welche Einstellungen und Persönlichkeitseigenschaften sie aufweisen und schließlich und nicht zuletzt setzen die Komplexität des Entscheidungsgegenstands und der anvisierte Zeitrahmen je spezifische Bedingungen für Strenge und Belieben in der Ausführung einmal getroffener Entscheidungen. Festzuhalten ist, dass Entschluss und Ausführung gerade im kollektiven Fall alles andere als in einem 1:1 Verhältnis stehen. Und das gilt selbst in den Fällen, in denen der Entscheider (im Prinzip) über hohe Macht verfügt, um die vorgesehene Ausführung quasi zu erzwingen. In dem Satz von Henry Kissinger kommt dies klar zum Ausdruck: „Außenstehende glauben, dass eine Anweisung des Präsidenten regeltreu ausgeführt wird. Unsinn“ (Halperin 1974, 245).

Partizipation als Scharnier Die Zusammensetzung des Teilnehmerkreises kann sich im Verlauf eines Entscheidungsprozesses stark ändern. Und Entscheidungshandlungen fallen unterschiedlich aus, je nachdem, wer sie ausführt. James March bezeichnet Entscheidungen aus diesem Grund auch als instabile Systeme in Raum und Zeit (March 1994, 161). Entsprechend große Bedeutung hat die Partizipation in allen Phasen des Entscheidungsgeschehens, sie ist ein wichtiges Scharnier, das für Kontinuität und Konsistenz sorgt. Nun steht der Zugang zu Entscheidungsprozessen aber nicht für jedermann offen, er wird vielmehr häufig ganz bewusst eingeschränkt. Die hierbei geltenden 320

Regeln sollen unter anderem verhindern, dass sich die Entscheider persönliche Vorteile verschaffen – etwa wenn über die Verteilung von Aufträgen, Mitteln oder Stellen zu befinden ist. Außerdem besteht ein starkes Interesse daran, dass nur solche Personen an weitreichenden Entscheidungen beteiligt werden, die über den notwendigen Sachverstand verfügen. Daneben hat die Teilnahme oft eine große symbolische Bedeutung, denn sie vermittelt Zugehörigkeit und Status. Die Definition der Partizipationsrechte und deren institutionellen Verankerung ist daher von großer machtpolitischer Relevanz. Eine wichtige Rolle spielt außerdem die Zeit. Man kann nicht überall dabei sein, zumal wenn es viele Anlässe für gemeinsame Entscheidungsaktivitäten gibt. Präsenz ist aber eine bedeutsame Ressource. Nur wer sich zeigt, ist auch ansprechbar, nur wer Interesse am täglichen Geschehen entwickelt, bekommt mit, was sich anbahnt, nur wer anwesend ist, kann Kontakte knüpfen und sich austauschen. Es ist eine Binsenweisheit, dass man allein schon dadurch, dass man ständig da ist, ein erhebliches Einflusspotenzial aufbauen kann. Es gibt aber nicht nur institutionelle und kapazitätsbedingte Beschränkungen im Zugang zu Entscheidungsprozessen, sondern auch motivationale. Wenn man sich nicht zutraut, das Entscheidungsergebnis beeinflussen zu können, wenn man der Entscheidung keine Bedeutung beimisst, wenn es vielleicht bessere Wege gibt, um seine Ziele zu erreichen, als dadurch, die infrage stehende Entscheidung zu forcieren oder zu behindern, dann wird man es sich zweimal überlegen, ob man sich in den Entscheidungsprozess überhaupt einbringen soll. Das gilt zumal im Verhältnis von Entschluss und Umsetzung. So mag es prestigeträchtig sein, an einer bedeutsamen Entscheidung beteiligt zu sein, extrem mühevoll dagegen, sich in die Details und Widrigkeiten der Ausführung wirklich einzubringen. Dass Entscheidungen mit Elan zu einem kraftvollen Entschluss geführt werden, bedeutet jedenfalls nicht, dass dessen Ausführung dann auch mit Nachdruck und Ausdauer betrieben wird. Besonders prekär ist es, wenn die Entschlussfassung nach einem zähen Ringen um eine kompromissfähige Lösung zustande kommt, die Ausführung einem der an der Entscheidung Beteiligten übertragen wird und dieser diese dann willentlich verschleppt. Beliebt ist es, Partizipation als Taktik einzusetzen. Die Idee dahinter ist, dass jemand, der einer Entscheidung zustimmt, eine gewisse Verpflichtung verspürt, die Ausführung zu unterstützen. Das ist umso mehr misslich, als man es oft mit einer nur vorgetäuschten Partizipation zu tun hat. Es werden Meetings durchgeführt, die 321

angeblich der Meinungsbildung dienen, während die Entscheidung schon gefallen ist, man wird aufgefordert, Vorschläge zu erarbeiten, die jedoch allenfalls abgeheftet und nicht wirklich aufgegriffen werden, man wird genötigt, öffentliche Erklärungen zugunsten einer Entscheidung abzugeben usw. Leider haben derartige Praktiken mitunter tatsächlich Erfolg. Wird die Absicht allerdings durchschaut, führt dies nicht nur zur Verstimmung, sondern auch zu (aktiver und passiver) Verweigerung spätestens in der Umsetzungsphase.

Entscheidungen und kein Ende Werden die beschlossenen Maßnahmen in Angriff genommen, dann ist die Entscheidung noch keineswegs an ihr Ende gekommen. Wie beschrieben, müssen im Zuge der Umsetzung der Entscheidung in aller Regel viele weitere Detail- und Zusatz-Entscheidungen getroffen werden, die unter Umständen die Substanz des vermeintlich feststehenden Entschlusses grundlegend verändern können. Und selbst nachdem alle Maßnahmen ergriffen und alle Ausführungshandlungen abgeschlossen sind, ist man mit der Entscheidung noch keineswegs fertig. Für die weitere Zusammenarbeit zählt nämlich nicht das Ergebnis, sondern dessen Ausdeutung: Wie ist das Ergebnis zu bewerten, wer und was ist für den Erfolg oder Misserfolg verantwortlich, was ist gut, was ist schlecht abgelaufen, wer hat Recht behalten? In der rückblickenden Betrachtung kommt es also ganz zentral darauf an, welche Sicht auf die Geschehnisse sich letztlich durchsetzt. Die Auseinandersetzung um die Deutung des Geschehenen ist durchaus keine nichtige Angelegenheit, denn sie bestimmt mitunter darüber, wer sich als Gewinner betrachten darf und wer sich als Verlierer betrachten muss, sie kann zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse führen und sie bestimmt mit darüber, wie man sich gegenüber neuen Herausforderungen positioniert. Bei der rückschauenden Betrachtung geht es also um die Frage, was man aus der Entscheidung zu lernen hat und sie bestimmt entsprechend darüber, wie in Zukunft bei ähnlichen Entscheidungsproblemen vorzugehen ist. Ein prominentes Beispiel ist die Entscheidung der Bundesregierung zu Beginn der 2000er-Jahre, die so genannte AgendaPolitik der rot-grünen Koalition umzusetzen. Nach überwiegender Auffassung hat diese Entscheidung der Reputation der damaligen Regierungspartei SPD erheblich geschadet. Hierauf hat die SPD-Führung unterschiedlich reagiert. Einerseits war zu 322

beobachten, dass selbst ehemalige Kritiker der Hartz-Reformen dazu übergingen, die sich einstellende gesamtwirtschaftliche Verbesserung der Verhältnisse (ob begründet oder nicht, sei hier dahingestellt) auf die „mutige und notwendige“ Agenda-Politik zurückzuführen. Andererseits wurden (in der ab 2013 regierenden großen Koalition und maßgeblich durch die SPD forciert) wesentliche Elemente der Agenda-Politik wieder rückgängig gemacht, wobei dann mehr oder weniger verschämt eingestanden wurde, dass es sich um „Kurskorrekturen“ handele. Dass überhaupt im Nachhinein über Entscheidungen neu befunden werden kann, resultiert aus der Unbestimmtheit des Geschehens. So ist in vielen Fällen gar nicht recht klar, ob überhaupt eine Entscheidung getroffen wurde und wenn, wie die Entscheidung konkret zu verstehen ist. Zweitens kann, will und wird man nicht immer darin übereinstimmen, wie die (vermeintlichen) Konsequenzen einer Entscheidung zu beurteilen sind. Und drittens ist oft umstritten, ob die infrage stehende Entscheidung in einem ursächlichen Zusammenhang mit den tatsächlichen Entwicklungen steht (McCall/Kaplan 1985, 89 ff.). Bei der angeführten Agenda-Entscheidung handelt es sich um eine Paket-Entscheidung. Das erschwert naturgemäß deren Bewertung, weil man je nachdem, welche konkreten Teilelemente der Entscheidung man betrachtet, zu gänzlich unterschiedlichen Auffassungen gelangen kann. Entsprechend konfus gerät dann oft der Meinungsstreit, weil man nicht recht weiß, worüber genau man eigentlich spricht, im Beispiel der Hartz-Gesetze also z.B. über die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II, die Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien zur Arbeitsaufnahme, die Lockerung des Kündigungsschutzes, die Erhöhung der Sozialabgaben der Arbeitnehmer, die Einschränkung von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherungen, die Änderung der Rentenformel, die Änderung der Handwerksordnung usw. Und auch die möglichen Folgen des Maßnahmenpakets umspannen einen weiten Bereich: die Arbeitslosenzahlen, die Zahl der Sozialhilfeempfänger, das Ausmaß prekärer Beschäftigung, die Einkommensunterschiede, das Wirtschaftswachstum, das Sozialklima. Da auch über die Zusammenhänge, die zwischen den Maßnahmen und den Ergebnissen existieren, große Unsicherheit besteht, muss man sich nicht wundern, dass die sich hieraus ergebenden Deutungsspielräume unbefangen ausgenutzt werden. Wenn völlig klar ist, welche Entscheidung wie und warum zu welchen Konsequenzen geführt hat, wird einem Meinungsstreit der Boden entzogen. Man kann dann immerhin versuchen, Zweifel zu wecken, was in aller Regel gelingen kann, 323

zumal wenn es um komplexe Entscheidungen geht, von denen viele betroffen und an denen viele beteiligt sind, die deswegen kaum einheitlich gesehen werden und die von niemandem völlig durchschaut werden können. Je umstrittener und je mehrdeutiger eine Entscheidungssituation ist, desto häufiger wird man jedenfalls nachgehaltene Auseinandersetzungen über die richtige Sicht der Dinge finden. Das liegt aber nicht an der Informationslage. Unbestimmtheit ist kein kausaler Faktor, der von sich aus Dissens und Streit hervorbringt. Es ist vielmehr die widerstreitende Motivationslage, die die Akteure zu entsprechenden Auseinandersetzungen veranlasst. McCall und Kaplan stellen insbesondere auf Reputationserwägungen ab. Da die Ergebnisse einer Entscheidung auf die Entscheider zurückfallen, schreibt man sich die Erfolge gern selbst zu, Fehler will dagegen kaum jemand zugeben, da sie das Ansehen und die Karriere beeinträchtigen können. Damit kommt eine wichtige Verhaltensvoraussetzung ins Spiel, dass nämlich im sozialen Umfeld Fehler nicht geduldet werden oder dass aus psychologischcharakterlichen Gründen heraus die Akteure sich nicht eingestehen können, etwas falsch zu machen – Bedingungen, die leider häufig vorliegen. Gut dastehen wollen, ist jedoch nur eines der Motive, das neben vielen anderen bei der Ausdeutung des Entscheidungsgeschehens zum Zug kommen kann. Allgemeiner kann gesagt werden, dass immer dann Versuche zur Neu- und Umdeutung unternommen werden, wenn ein mit einigermaßen Einfluss ausgestatteter Akteur Nachteile befürchtet, falls er das sich im Umlauf befindliche Bild von der Entscheidung gelten ließe. Möglicherweise ziehen Beobachter des Geschehens unerwünschte Schlüsse (z.B. über die Fähigkeiten der Entscheider), möglicherweise wird das Entscheidungsverhalten als Präzedenzfall gehandelt, der gegen einen verwendet werden kann, möglicherweise wird auch einfach nur der eigene Beitrag nicht angemessen gewürdigt oder es wird der Lorbeer an die falschen Leute verteilt. Nicht selten führt eine „falsche“ Interpretation des Entscheidungsgeschehens zu unmittelbar materiellen Beeinträchtigungen oder Benachteiligungen, was natürlich das Interesse der davon Betroffenen an einer Neubewertung der Entscheidung in besonderem Maß stimulieren dürfte. Manchmal geht es bei der Auseinandersetzung um die richtige Deutung des Entscheidungsgeschehens aber gar nicht um die infrage stehende Entscheidung selbst. Diese wird lediglich benutzt, um einem anderweitigen Interesse Geltung zu verschaffen. Beispiele liefern Kampagnen, die darauf gerichtet sind, eine Person politisch auszubooten und in denen versucht wird, diese für angebliche Fehlentscheidungen 324

verantwortlich zu machen. Das Aufklärungsbegehren dient nur als Vorwand, um die infrage stehenden Vorgänge in einem bestimmten Licht zu präsentieren, sie zu vernebeln und mit Mehrdeutigkeit zu belasten, um beim Publikum Bedenklichkeiten zu schüren. Die Aufarbeitung eines Entscheidungsprozesses kann außerdem dazu benutzt werden, um von anderen brisanten Problemen abzulenken. Wenn es beispielsweise gelingt, die kritische Diskussion einer Entscheidung auf einen eher nebensächlichen Aspekt hinzuführen, dann muss man sich nicht mit der Frage beschäftigen, ob eventuell die Entscheidung insgesamt oder gar die hinter der Entscheidung stehende strategische Ausrichtung nicht stimmt. Die nachträgliche Beschäftigung mit einem Entscheidungsprozess hat also nicht unbedingt etwas mit der Entscheidung selbst zu tun. Sie wird nicht selten auch für dritte, nicht zuletzt auch für machtpolitische Zwecke instrumentalisiert. Ein weiterer Fall, in dem die konkreten inhaltlichen Aspekte in den Hintergrund rücken, liegt vor, wenn die fragliche Entscheidung zum Anlass genommen wird, weltanschauliche Konflikte auszutragen, wenn man also versucht, die Zustimmung oder Ablehnung zu einer Sachfrage zu einer Angelegenheit der richtigen Gesinnung zu machen (oder der Ehre, des Charakters, der Loyalität usw.). Der vorliegende Abschnitt kann nicht abgeschlossen werden, ohne dass noch kurz auf die Frage eingegangen wird, wann denn die Umsetzung einer Entscheidung, und damit der Entscheidungsprozess insgesamt, abgeschlossen ist. Eine allgemeingültige Antwort auf diese Frage gibt es wohl nicht. Am ehesten wird man sagen können, dass die Entscheidung „erledigt“ ist, wenn sich niemand mehr darum kümmert. Nicht selten werden Beschlüsse gefasst, die Ausführung wird aber auf Eis gelegt, bis sich eine günstige Gelegenheit ergibt, das Vorhaben aufzunehmen. Manchmal wird damit auch nur gedroht. Dann sind Entscheidungen, obwohl zunächst nur virtuell, doch noch wirksam. Möglicherweise wird der Beschluss aber auch vergessen oder er wird bewusst verschleppt. Und der vielleicht häufigste Fall ist der, in dem das ganze Vorhaben im Sand verläuft. Wenn niemand mehr darüber spricht, ist es wohl vorbei mit der Entscheidung. Da sich aber im allgemeinen Handlungsstrom die verschiedensten Entscheidungen und Handlungen in oft kaum mehr nachvollziehbarer Weise vermischen, kann es andererseits sein, dass irgendwann an ganz anderer Stelle und im Zusammenhang mit einem gänzlich anderen Entscheidungsprozess doch wieder Themen Bedeutung erhalten, die in dem als abgeschrieben geltenden Entscheidungsprozess behandelt oder gar „gelöst“ worden waren. So gesehen kann fast alles Geschichte werden, die die Zukunft bestimmt. 325

Einflussfaktoren Wovon hängt es ab, ob die Umsetzung einer Entscheidung gelingt oder misslingt? In der Literatur wird ein breites Spektrum von Einflussgrößen diskutiert, die nicht selten als „Erfolgsfaktoren“ bezeichnet werden. Beispiele sind der Einsatz von Motivationstechniken wie die Schaffung von Gemeinschaftserlebnissen und die Stimulierung des Leistungswettbewerbs unter den Organisationsmitgliedern, die Konzipierung „geeigneter“ Anreizstrukturen (Zielvereinbarungen, Bonus-Zahlungen usw.), die Anwendung von Instrumenten des Projektmanagements, die Durchführung von Pilotprojekten, das Design strategiegerechter und umsetzungsaffiner Organisationskulturen oder, unverblümt, das Ausspielen von Machtpositionen (Thompson/Strickland 1990, Cândido/Santos 2011, Hrebiniak 2013). Sehr ausführlich wird in der Literatur zum Projektmanagement, zur Strategieimplementierung und zum organisationalen Wandel auf Umsetzungsprobleme eingegangen. Kotter (1995) sieht Probleme insbesondere im fehlerhaften Managementverhalten. So fehle häufig die klare Zielbestimmung und der politische Wille zu einer konsequenten Umsetzung, die planerische Vorbereitung werde vernachlässigt, die Kommunikation sei völlig unzureichend, auf Hindernisse der Umsetzung werde zu wenig geachtet, man missachte das kulturelle Umfeld und sehe sich zu früh am Ziel. Beer und Nohria (2000) stellen auf die subjektiven Theorien der verantwortlichen Manager ab und empfehlen eine mehr oder weniger subtile Politik von Zuckerbrot und Peitsche. Beer und Eisenstat (2000) sehen sechs „silent killers“ am Werk (u.a. Laisser-faire Verhalten, unzureichende vertikale Kommunikation, fehlende Abstimmung zwischen den Unternehmensbereichen). Corboy und O’Corrbui (1999) warnen vor sieben Todsünden (u.a. unklare Zuständigkeiten, untaugliche Strategien, unverstandene Ziele, Verabschiedung der Entscheider aus der Aufgabe der Umsetzung) und Franken, Edwards und Lambert (2009) stellen die Bedeutung von zehn „generischen“ Elementen der erfolgreichen Strategieimplementierung heraus (u.a. Verantwortungszuweisung, Harmonie im Führungsteam, Konflikthandhabung, detaillierte Planung). Ordnung in diese und ähnliche Sammlungen zu bringen, fällt nicht leicht. Eher konventionell ist die Betrachtung von Bryson und Bromiley (1993), die zwischen 326

Struktur-, Prozess- und Ergebnisvariablen unterscheiden. Als wichtige Strukturvariablen nennen die Autoren unter anderem die Bedeutung des Projekts für die betroffenen Gruppen, die Qualität des Planungsstabs, die Macht der Projektverantwortlichen, die verfügbare Zeit und die Stabilität des politischen und wirtschaftlichen Umfelds. Als Prozessvariablen dienen ihnen neben anderen Größen die Kommunikationshäufigkeit, die Umfänglichkeit des Problemlösungsprozesses, die Einbeziehung der von den Maßnahmen betroffenen Gruppen in den Problemlösungsprozess und die Frage, welche Konfliktstrategie zur Anwendung kommt, d.h. ob die Pläne durch Anweisung und Druck vorangetrieben werden, ob ein möglichst großer Konsens angestrebt wird oder ob man eher bereit ist, mittelmäßige Kompromisse zu akzeptieren, als eine der Gruppen deutlich zu benachteiligen. Wichtige Ergebnisvariablen sind – so die Autoren – unter anderem, ob das Projekt in der vorgesehenen Weise überhaupt abgeschlossen wurde, ob die mit ihm verfolgten Ziele erreicht wurden, ob die Verantwortlichen zufrieden sind und die Lernfähigkeit der Organisation verbessert wurde. Die empirischen Befunde über die Zusammenhänge zwischen diesen Variablen sind mehr oder weniger plausibel, verschiedentlich aber auch kaum nachvollziehbar. So finden die Autoren z.B. keine bedeutsamen Korrelationen mit der Machtvariablen. Das mag nicht zuletzt auch methodische Gründe haben. Analysiert wurden 68 Fallbeschreibungen, die innerhalb von je eigenen Zusammenhängen und mit je eigenen Zielsetzungen erstellt wurden und daher nur bedingt vergleichbar sind. Pinto und Prescott (1990) differenzieren zwischen Erfolgsfaktoren der Implementierung, die sie den Planungsaktivitäten zurechnen und zwischen Erfolgsfaktoren, die sie Taktikvariablen nennen. Zur ersten Gruppe gehören danach die Vorgabe einer klaren Projektmission, die Unterstützung der Maßnahmen durch das Top-Management, die Planung und die Klientenberatung. Die taktische Seite betrifft stärker die unmittelbare Handlungssphäre: die personelle Ausstattung, die Aufgabenspezifizierung, die Kontrolle, die Kommunikation und das „TroubleShooting“. Als Datengrundlage dienen den Autoren die Ergebnisse einer schriftlichen Befragung von 408 Projektmanagern. Danach erweist es sich – bezogen auf den Implementierungserfolg – als günstig, wenn in den frühen Phasen eines Projekts die Betonung auf den Planungsvariablen, in den späteren Phasen dagegen auf den Taktikvariablen liegt – ein Resultat, das nicht überrascht. Auch in den Politischen Wissenschaften findet man eine reichhaltige Literatur zum Misslingen politischer Vorhaben. Sie zeigen, dass der Weg, der von großangelegten 327

Regierungsprogrammen bis zu konkreten Handlungen führt, oft sehr lang ist, die Regularien und das Zusammenwirken der Akteure Komplexität erzeugen und dass die vorgesehenen Mittel nicht unbedingt dort ankommen, wo sie gebraucht werden und dass die mit den politischen Programmen intendierten Wirkungen häufig nicht wie gewünscht eintreten (Pressman/Wildavsky 1973, Bardach 1977, May 2015). Die untersuchten Einflussfaktoren umfassen eine große Bandbreite von Variablen auf unterschiedlichen Systemebenen, z.B. inhaltliche Besonderheiten der Programme, Verwaltungsstrukturen, Merkmale der Behörden und der von den Regularien betroffenen Organisationen, interorganisationale Beziehungen, Verhaltensweisen von Verwaltungsbeamten und Klienten (vgl. Hill/Hupe 2014).

Handlungsstruktur Auch für die Analyse der Entscheidungsumsetzung lässt sich unsere Liste der Einflussfaktoren aus Kapitel 4 (Abbildung 4.4) gut nutzen. Unmittelbar ins Auge sticht die große Bedeutung, die der institutionellen Logik zukommt. Wenn es formal installierte Verfahrensvorschriften zur Umsetzung von Entscheidungen gibt, in denen Handlungsschritte, Zuständigkeiten, Antrags- und Berichtspflichten, Zeitpläne usw. festgelegt sind, übernimmt gewissermaßen die Organisation die Steuerung, was die Bedeutung der mentalen Modelle der Akteure naturgemäß schmälert. Allerdings lassen sich komplexere Umsetzungsaktivitäten nur bedingt vollständig programmieren, so dass an den Nahtstellen doch die menschliche „Willkür“ zum Zug kommt – und nicht selten sind das die letztlich „entscheidenden“ Stellen. Der Gegensatz von institutioneller Handlungslogik und den in den mentalen Modellen angelegten Verhaltensdispositionen löst sich auf, wenn es zu häufigen Rückkopplungen im Entscheidungsprozess kommt, wenn es also ganz normal ist, dass man von der Umsetzung z.B. auf die Problemdefinition zurückspringt oder wenn man nach missglückten Handlungsversuchen einen neuen Handlungsplan entwirft, um diesen dann versuchsweise anzugehen. Die institutionelle Logik ist kein starres Regelwerk, sondern, obwohl sie durchaus Handlungsvorgaben macht, selbst wiederum Gegenstand von Interpretationen und Ausdeutungen. Wie man mit Verfahrensweisen und Handlungsplänen umgeht, ist daher zum Teil auch eine Stilfrage. Man kann z.B. die Funktion des institutionellen Regelwerks beschränken, indem man ihm nur eine gewisse 328

Ordnungs- und Dokumentationsaufgabe zugesteht. Oder man kann Regulierungen nur selektiv wirksam werden lassen, indem man nicht auf das Prozedurale der Vorgaben abhebt, sondern das Hauptaugenmerk auf das institutionell bereitgestellte Methodenarsenal richtet und sich daraus bedarfsweise bedient. Alternativ ist es aber auch möglich, die institutionellen Vorgaben strikt einzufordern, um ein strenges Kontrollregiment zu führen. Schließlich kann man die Vorgaben auch beiseiteschieben, indem man z.B. die üblichen Standardverfahren fallweise außer Kraft setzt und für den gerade infrage stehenden Entscheidungsprozess ein eigenes Regelsystem entwirft. Die institutionelle Logik weist also Spielräume auf, in denen je spezifische Zielsetzungen wirksam werden. Man kann den Umsetzungsprozess zum Beispiel beschleunigen oder verzögern, man kann verdeckt oder offen arbeiten, gründlich oder oberflächlich, mit oder ohne fremde Unterstützung usw. Zur Organisation des Umsetzungsprozesses gehört naturgemäß auch die Festlegung von Verantwortlichkeiten, also die Frage, wer welche Aufgaben zu erledigen hat, ob unabhängig voneinander oder im Team gearbeitet wird und welchen formalen Status die zu besetzenden Positionen erhalten. Nutt (1987) kommt in einer Studie über Veränderungsprozesse in Non-Profit-Organisationen zu dem Ergebnis, dass es sich empfiehlt, eine hauptverantwortliche Person zu benennen, die dafür zu sorgen hat, dass das Umsetzungsprojekt zum Erfolg geführt wird. Verglichen damit schneiden Projekte, die z.B. allein auf die partizipative Erledigung durch die Betroffenen setzen, schlechter ab. Das lässt sich leicht nachvollziehen. Personen kollektiv in die Pflicht zu nehmen, ist nicht so einfach, weshalb man damit rechnen muss, dass sich bei ungestützter Partizipation leicht eine gewisse Unverbindlichkeit und damit ein reduziertes Engagement einschleicht. Aber die Nominierung eines verantwortlichen Projektmanagers ist als solche auch nicht hinreichend, er muss zur Ausübung seiner Funktion einige Qualifikationen, insbesondere eine hohe Überzeugungskraft, mitbringen. Wie man die Bedeutung der persönlichen Eigenschaften generell kaum überschätzen kann. Pragmatisch gesinnte Personen gehen bei der Umsetzung eher Kompromisse ein als prinzipientreue Bürokraten, Personen mit viel Eigeninitiative treiben den Umsetzungsprozess stärker voran als Personen, die darauf warten, dass ihnen gesagt wird, was zu tun ist. Als hilfreiche Eigenschaften eines Projektmanagers erweisen sich außerdem Durchhaltevermögen, Stressresistenz und Selbstbewusstsein. Gut für die Zusammenarbeit der an einer Umsetzung beteiligten Personen ist es, wenn sich diese im Hinblick auf Erfahrungen, Fähigkeiten und Interessen ergänzen. 329

Ganz besonders wichtig ist die Bereitschaft, bei Bedarf Kontakt mit allen Personen aufzunehmen, die den Entscheidungsprozess bereits vor der Umsetzungsphase maßgeblich geprägt haben und zwar deswegen, weil es sich manchmal als notwendig erweist, mit großer Hartnäckigkeit darauf zu dringen, die Entscheidungsgrundlagen zu ändern oder sich gänzlich von dem Entscheidungsprojekt zu verabschieden. Ohne intakte soziale Beziehungen klappt das nicht. Ohne Kooperationsbereitschaft, Vertrauen und wechselseitiges Verstehenwollen dürfte es ohnehin schwerfallen, die in der Umsetzung anfallenden Abstimmungsleistungen zu erbringen. Das gilt umso mehr, wenn sich die Personen, die die Entscheidung getroffen haben, vor der Aufgabe drücken, den Betroffenen gegenüber auch Stellung zu beziehen – ein Fall, der nicht selten vorkommt. Was wiederum ein Licht auf die Sozialordnung wirft, auf die in einer Organisation übliche Art des Umgangs mit Entscheidungen und deren Exekutierung, darauf, wer an welcher Stelle und zu welcher Zeit Einfluss auf Entscheidungsprozesse nehmen kann und darf, wem es erlaubt ist, Entscheidungen zu initiieren und zu hinterfragen.

Handlungssituation Wie sich die Handlungssituation für die Beteiligten darstellt, hängt sehr stark von der Rolle ab, die sie bei der Umsetzung der Entscheidung spielen sollen und von deren Erfahrungen mit ähnlichen Situationen. Wichtig ist außerdem die Einstimmung auf die Aufgabe. Die Erfahrungen aus der vorlaufenden Entscheidungsfindung dürften hierauf einen maßgeblichen Einfluss haben. Nicht minder bedeutsam ist die Art und Weise der Beauftragung, also wie die Personen, die über Erfolg oder Misserfolg befinden, die Umsetzungsaufgabe beschreiben, welche Anforderungen sie formulieren und welche Belohnungen sie in Aussicht stellen. Zu den Versatzstücken, die die mentale Szenerie bevölkern, gehören außerdem umlaufende Gerüchte, Erinnerungen an Präzedenzfälle, Aussagen über die Dringlichkeit, das Ansehen und den Teilnehmerkreis, den Aufwand und die Erfolgsaussichten. Ob man mit Motivation und Zuversicht an die Umsetzung herangeht, hängt stark von den vorhandenen Lösungsansätzen ab. Im Extremfall gibt es bislang keine wirklich überzeugenden Pläne, sie müssen erst noch erarbeitet werden, was die Aufgabe unter Umständen besonders reizvoll macht. Ein anderer Extremfall liegt vor, wenn nur ein einziger Weg gangbar bzw. vorgeschrieben ist. 330

Das kann manchem attraktiv erscheinen, andere mag das eher abschrecken. Zur Themenpräsenz gehören aber nicht nur die im Umlauf sich befindenden, empfohlenen und „angesagten“ Handlungsansätze, sondern alle umlaufenden Informationen, die den Kontext des Umsetzungsprojekts betreffen und die sich in der einen oder anderen Weise auf die Durchführung auswirken könnten. Dazu gehören Fragen wie die, ob an der Umsetzung externe Berater beteiligt sein sollen, welche Rolle Arbeitnehmervertreter einnehmen und welche Prämissen von der Hierarchie gesetzt werden. Ein wichtiges Element der mentalen Szenerie ist die Einschätzung der Machbarkeit. Ob man damit richtigliegt, erweist sich bedauerlicherweise erst, wenn man sich an die Arbeit macht. Stellt sich nach und nach heraus, dass man zu optimistisch war, ist das nicht unbedingt schädlich, denn häufig ist dies ein Anlass, sich mehr anzustrengen, um die mit der Umsetzung verbundenen Ziele doch noch zu erreichen. Damit geht naturgemäß eine stärkere Problembeanspruchung einher. Bei größeren Umsetzungsprojekten kann man häufig zeittypische Beanspruchungs- und Belastungsmuster beobachten. Anfangs geht man die Sache oft bedächtig an, zumal wenn man noch in anderen Projekten festhängt. Nähert man sich dann irgendwelchen vorweg definierten Zwischenständen oder gar dem anvisierten Endtermin, ist es mit der Beschaulichkeit meistens vorbei. Es macht sich Hektik breit, weil man merkt, wie viele Aufgaben noch nicht erledigt sind und weil man an die Grenzen der vorhandenen Bearbeitungskapazität stößt. Generell wird das Verhältnis von Problembeanspruchung und Bearbeitungskapazität stark von der Prioritätensetzung bestimmt, von anderweitigen Verpflichtungen, von der Möglichkeit, Aufgaben auszulagern oder einfach auch von der Möglichkeit, Dinge liegen zu lassen. Trivialerweise kann man sich, um Freiraum zu gewinnen, einfach weniger Mühe geben, was mit dem Anspruchsniveau zu tun hat und mit dem Risiko, dafür sanktioniert zu werden. Überhöhte Ansprüche mögen besondere Anstrengungen befeuern, wenn sie allerdings nicht erreichbar sind und man sich alleingelassen fühlt, führt dies zu Verärgerung und damit einhergehend zu zusätzlichem Stress. Sobald Umsetzungsprojekte eine gewisse Komplexität erreichen, stellt sich das Problem, die anfallenden Teilaktivitäten aufeinander abzustimmen und den Projektfortschritt zu dokumentieren. Um die hierfür notwendigen Informationen zu gewinnen, kann man auf Methoden des Projektmanagements zurückgreifen (Pflichtenhefte, Netzplantechnik, Projektbilanz usw.). Das Problem mit solchen 331

Methoden ist, dass sich ihre Logik leicht verselbstständigt. Man erhofft sich durch den Methodeneinsatz nicht selten die quasi-mechanische Ableitung von Verhaltensvorgaben (und deren Einhaltung gleich mit) und vergisst, dass Methoden die Implementierungsaufgabe nur unterstützen, aber nicht ersetzen können. Ebenso wenig hilfreich ist es, methodische Aspekte erst gar nicht ernst zu nehmen. Ausdruck dieser Haltung ist, dass zwar oft viel Arbeitszeit in die Verfertigung von Protokollen, Zwischenberichten und Arbeitsnachweisen gesteckt wird, diese dann aber allenfalls formal geprüft werden, um sie dann folgenlos abzuheften. Dass sich die Verfasser dieser Dokumente unter solchen Umständen keine sonderliche Mühe damit geben und dass daher deren Informationsqualität äußerst beschränkt ist, braucht nicht zu verwundern. Vernünftiger ist es, Anlässe zu schaffen, um sich über den Stand der Dinge auszutauschen, sich Rechenschaft über das Erreichte und noch Mögliche zu geben. Man kann sich bei dieser Gelegenheit gegenseitig der Ziele versichern, die es zu erreichen gilt. Dabei wird es allerdings allenfalls um die offiziellen Ziele gehen können. Über ihre persönlichen Ziele, die sie mit ihrem Engagement verknüpfen, werden die Teilnehmer nur bedingt Auskunft geben. Jedenfalls lässt die Umsetzung einer Entscheidung als zumindest partiell offener Prozess, Raum für unterschiedliche Motivationen und die Teilnehmer werden sich unter anderem die folgenden Fragen stellen und sie unter Umständen unterschiedlich beantworten: Wie sehr profitiere ich von einer erfolgreichen Umsetzung der Entscheidung? Welchen intrinsischen Nutzen bringen mir die Tätigkeiten, die bei der Umsetzungsarbeit anfallen? Fördert besonderes Engagement mein Ansehen, schadet Zurückhaltung meinem Ansehen? Welche Möglichkeiten habe ich, die gemeinsame Arbeit in meinem Sinn zu beeinflussen? Das Ergebnis der Umsetzung wird aber nicht nur von der Beantwortung dieser Fragen bestimmt, sondern auch von äußeren Bedingungen und hierbei nicht zuletzt vom Handlungsdruck. Je enger die Bewegungsspielräume auch zeitlich sind, desto eher wird man sich mit weniger optimalen Ergebnissen zufriedengeben. Mitunter will man dann einfach zum Abschluss kommen und „Vollzug melden“, selbst wenn man weiß, dass manche Probleme noch nicht angegangen wurden und mit Nachbesserungen zu rechnen ist. Mitunter werden diese dann aber gar nicht eingefordert. Außerdem kann es, wie oben beschrieben, passieren, dass überhaupt kein Handlungsdruck entsteht, dass die Beteiligten das Interesse an der Entscheidung verlieren und Bemühungen, sie umzusetzen, ohnehin obsolet werden. 332

Theoretische Ansätze Entscheidungen und Heuchelei In Organisationen muss man das, was gesagt, was entschieden und wie schließlich gehandelt wird, deutlich voneinander unterscheiden. Und das ist auch gut so. Dies ist, in aller Prägnanz, die These von Nils Brunsson, die er in seinem Buch über organisationale Heuchelei erläutert und erörtert. Ohne Heuchelei könne eine Organisation nicht funktionieren, denn in Organisationen komme es unvermeidlich zu Konflikten, was es schwierig mache, Reden, Entscheiden und Handeln in Einklang zu bringen. Wollte man es versuchen, würde man jeweils einem spezifischen Interesse nachgeben und die anderen gleichfalls vorhandenen Interessen vor den Kopf stoßen. „Es ist einfacher, auf eine Art zu handeln und in anderer Art zu kommunizieren oder zu entscheiden“ (Brunsson 2006, xiv). Entscheidungsprozesse sind in dieser Perspektive Mechanismen, die zwischen Politik und Handeln vermitteln, diese beiden Sphären verkoppeln, sie aber oft auch voneinander entkoppeln. Beide Sphären haben ihre je eigene Logik, erfüllen damit aber gleichwohl wichtige Funktionen. Der Handlungsmodus ist durch ideologische Vereinheitlichung, Spezialisierung, Lösungsorientierung und durch eine reduzierte Form der Entscheidungsfindung geprägt. Im politischen Modus findet man dagegen ideologische Pluralität, Problemorientierung, Streben nach generellen Lösungen und umfängliche Entscheidungsprozesse. Zielstrebiges organisationales Handeln verlangt nach Integration, erfolgreiches politisches Manövrieren braucht Beweglichkeit. Daraus ergibt sich nach Brunsson ein echtes Dilemma, das man nicht auflösen, sondern allenfalls handhaben kann. Um den widersprüchlichen Anforderungen entsprechen zu können, entkoppeln Organisationen die Handlungs- und die Politiksphäre durch verschiedene Formen der Separierung (Brunsson 2006, 34-38). Eine dieser Formen ist die Aufteilung der eher strategischen und der eher operativen Aufgaben auf unterschiedliche organisationale Einheiten. Eine andere Form ist die zeitliche Separierung. In 333

Phasen der politischen Auseinandersetzung prallen die verschiedenen Interessen und Ideologien aufeinander, kraftvolles Handeln ist dagegen kaum zu beobachten. In den handlungsbezogenen Phasen werden die bestehenden Differenzen zurückgedrängt, es gibt ein deutliches Bemühen um ein geschlossenes Auftreten. Das ist zweifellos eine wichtige Beobachtung. Sie erklärt aber nicht hinlänglich, warum Entscheiden und Handeln oft auseinanderfallen. Schließlich kann man sich ja auch vorstellen, dass die in den politischen Phasen ausgekämpften Entscheidungen in den Handlungsphasen konsequent zu ihrer Ausführung kommen. Das wäre dann vor allem eine Machtfrage. Andererseits kann man geltend machen, dass es in den beiden Phasen oft um unterschiedliche Dinge geht, um eher abstrakte und prinzipielle Fragen auf der einen und um konkrete und spezifische Fragen auf der anderen Seite. Daraus entsteht ein „Übersetzungsproblem“, also die Frage, wie die abstrakten und prinzipiellen Entscheidungen im konkreten Anwendungsfall auszuführen sind. Macht spielt hierbei zweifellos ebenfalls eine Rolle. Die Frage, was sich durchsetzen oder verhindern lässt, entscheidet sich immer erst im tatsächlichen Handeln. Ebenso bedeutsam ist die „Intelligenz“ der Entscheider. Hierbei kommen zwei Aspekte zum Zug: zum einen die Frage, wie präzise sich die vorgesehenen Handlungsschritte operationalisieren und kontrollieren lassen und zum anderen die Frage, wie gut es bereits in der Stunde der Entscheidung gelingt, die Schwierigkeiten, die sich einer 1:1 Umsetzung in den Weg stellen können, vorauszusehen und entsprechende Vorsorge zu treffen. Neben der Macht und Ohnmacht der Akteure, neben Wissen und Ungewissheit gibt es allerdings, wie im vorliegenden Kapitel beschrieben, weitere bedeutsame Einflussgrößen, die dafür sorgen, dass sich Wille und Tat decken oder eben nicht. Entsprechend stellt sich die Frage, ob Organisationen wegen des manchmal unvermeidlichen Auseinanderfallens von Entscheiden und Handeln tatsächlich zwangsläufig heuchlerisch sein müssen. Brunsson stilisiert organisationale Heuchelei zu einer Art Sünde, die sich paradoxerweise als Tugend entpuppt. Die Eliminierung von Heuchelei könne leicht in Fanatismus (die absolute Nichtduldung abweichender Auffassungen) ausarten. Außerdem sei zu bedenken, dass die Formulierung hochgesteckter Ziele nur mit einer gewissen Portion Heuchelei überhaupt erst möglich sei. Das ist zweifellos ein starker Punkt: Um ungewöhnliche und vorgeblich unrealistische Ziele anzustreben, braucht es ein hohes Motivationspotenzial. Ob allerdings Selbsttäuschung als tragfähige Basis für besondere Leistungsanstrengungen taugt, kann man bezweifeln. Denn um Selbsttäuschung 334

geht es bei der organisationalen Heuchelei, nur vorgespielte, quasi augenzwinkernd eingegangene „Commitments“ entfalten keine positiven Motivationswirkungen. Und als etablierte Praxis, die „von oben“ geduldet oder gar von den Mächtigen selbst geübt wird, fördert organisationale Heuchelei allenfalls einen gleichgültigen Zynismus.

Elemente der Umsetzung: Intelligenz, Aktivität, Ressourcen Gute kollektive Entscheidungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Aktivität, die Intelligenz und die Ressourcen des betrachteten Sozialsystems steigern (Martin 1995). Reflexiv zurückgewendet stellt sich natürlich ebenso die Frage, inwieweit das jeweilige Entscheidungsgeschehen selbst diese Eigenschaften aufweist, also durch Aktivität und Intelligenz gekennzeichnet ist und einen angemessenen Ressourceneinsatz aufweist.

Intelligenz: Klarheit und Offenheit Mit Intelligenz ist die Problemlösungsfähigkeit eines Entscheidungssystems gemeint. Angewandt auf konkrete Entscheidungen geht es um die Entwicklung sachgerechter Lösungen bzw. in unserem Kontext: um deren sachgerechte Umsetzung. Das erste Problem, das sich diesbezüglich stellt, ist die Frage nach dem Inhalt der Entscheidung, um Klarheit in der Frage danach, was genau vereinbart wurde, welche Interpretationsspielräume die Vereinbarung aufweist und ob alle Beteiligten die Absicht und den Auftrag in gleicher Weise verstehen. Insbesondere dann, wenn es sehr voraussetzungsreich ist, das Entscheidungsproblem überhaupt zu verstehen und wenn man mit den vorgesehenen Umsetzungsmaßnahmen nur wenig Erfahrung hat, kommt es leicht zu Missverständnissen, wenn nicht gar zu einem grundlegenden Unverständnis. Dahinter steckt nicht zwangsläufig böse Absicht, es ist die Sache selbst, die sich einem angemessenen Handeln in den Weg stellt. Insbesondere in hochpolitischen Angelegenheiten stellt sich die Sache oft anders dar. Hier werden Entscheidungen nicht selten bewusst undeutlich oder mehrdeutig formuliert, weil sich anders keine gemeinsame Entschlussfassung erreichen lässt. Den Beteiligten ist in diesem Fall normalerweise völlig 335

klar, dass der Entschluss nur ein vorläufiger Schritt in einem andauernden politischen Prozess ist, der in expliziten und impliziten Verhandlungen über die konkreten Umsetzungsschritte seine Fortsetzung findet. Das macht die Einigung nicht wertlos. Wenn sie auch vieles offenlässt, setzt sie immerhin ein wichtiges Signal, das zeigen soll, dass die Beteiligten grundsätzlich in der Lage sind, zu einer Einigung zu kommen. Generell lässt sich oft nicht vermeiden und nicht selten ist es auch sinnvoll, dass Entscheidungen auf einem relativ hohen Abstraktionsniveau getroffen und die Konkretisierung dem Umsetzungsprozess überlassen wird. Man kann dann zwar die Unverbindlichkeit entsprechender Formulierungen (nicht selten zu Recht) in der Verabschiedung von Leitlinien, Programmschriften, Abkommen und Absichtserklärungen beklagen, sie können aber hilfreich sein, um Veränderungsprozesse in Gang zu setzen. Das gilt im Übrigen nicht nur im öffentlichen, sondern auch im privaten Bereich. So ist es normalerweise völlig hinreichend, wenn sich ein Paar darüber einig ist, die Erziehung der Kinder in gleichen Anteilen zu übernehmen, schädlich dagegen, wenn man bis ins Detail aushandelt, wie das zu geschehen hat. Und andersherum sei um der Klarheit willen auch gesagt, dass die abstrakte Einigung nur dann hilfreich ist, wenn man sich dabei auf ein gemeinsames Grundverständnis beziehen kann, wenn man also, im genannten Beispiel, ungefähr die gleichen Vorstellungen hat, welche Aufgaben sich bei der Kindererziehung stellen. Oft überschneiden sich Probleme in der sachlichen Verständigung mit motivationalen Problemen (auf die im nächsten Abschnitt eingegangen wird). Reine Verständnisprobleme entstehen zum Beispiel, wenn die Akteure über unterschiedliche Informationen verfügen, wenn also z.B. die Personen, die eine Entscheidung ausführen sollen, von Hindernissen wissen, die die Entscheidungsseite völlig unterschätzt oder gar nicht kennt. Probleme entstehen aber selbst bei gleicher Informationslage, weil Informationen nicht für sich stehen, sondern interpretiert, beurteilt und gewichtet werden müssen. Und worauf man besonders achtet, welche Schlüsse man aus den vorliegenden Informationen zieht, hängt stark von der Persönlichkeit, dem Erfahrungshintergrund und von der Rolle ab, die man innehat. Und tatsächlich setzen die Rollen des Entscheiders und die des Umsetzers durchaus unterschiedliche Akzente. Während von Entscheidern zum Beispiel verlangt wird, dass sie eine sorgfältige Abwägung der Nutzen und Kosten alternativer Strategien und Handlungsweisen vornehmen, wird von einem Umsetzer verlangt, sich nicht auf grundsätzliche Diskussionen einzulassen, sondern 336

sich dem „technischen“ Problem zuzuwenden, den beschlossenen Maßnahmen Wirklichkeit und Wirksamkeit zu verleihen. Das lenkt den Blick auf das Machbare und erfordert mitunter Überlegungen, die sich von denen der Entscheider mit „hochfliegenden“ Plänen deutlich unterscheiden. Das Verhältnis von Entscheiden und Handeln wird meist in der Richtung diskutiert, dass die Umsetzung der Entscheidung nicht gerecht wird, dass die Ausführung verzögert, verwässert oder gar pervertiert wird. Mindestens ebenso bedeutsam und häufig anzutreffen ist das Umgekehrte, dass Entscheidungen nämlich, einmal getroffen, auch exekutiert werden und zwar unberührt von besserer Einsicht. Mitunter kann man dabei eine erstaunliche Konsequenz beobachten, selbst wenn sich im Handlungsvollzug immer mehr herausstellt, wie falsch, wie sinnlos, die getroffene Entscheidung ist. Viele Beispiele dafür finden sich in der Literatur zum sogenannten „eskalierenden Commitment“, in der es zum Beispiel um Großprojekte geht, die kostenmäßig aus dem Ruder laufen. Aber auch im Kleinen bis kleinlichen Mikrokosmos des Alltäglichen findet man bürokratischen Rigorismus, falschverstandenen Gehorsam, Rigiditäten im Denken und Wollen, Konfliktscheu und mangelnde Zivilcourage. Zusammenfassend sei nochmals betont, dass es im Verhältnis von Entschluss und Ausführung fast zwangsläufig zu Diskrepanzen im Verständnis kommt und zwar sowohl im Hinblick darauf, was gewollt, als auch im Hinblick darauf, was möglich ist. Ab einem gewissen Grad an Komplexität sind Entscheidungsprobleme nur sehr beschränkt beherrschbar. Welche Ereignisse im Zuge der Ausführung der Entscheidung eintreten werden und in welcher Weise diese das geplante Vorgehen beeinträchtigen oder befördern werden, lässt sich daher oft nur bedingt vorhersehen. Stellt sich heraus, dass man das Entscheidungsproblem unterschätzt, wichtige Aspekte übersehen, Maßnahmen unzureichend konzipiert und Störungen nicht antizipiert hat, dann sollte man eine Neubewertung der Situation vornehmen und gegebenenfalls die getroffene Entscheidung modifizieren. Das geschieht aber nicht immer in der gewünschten Klarheit, oft übernehmen es dann die Personen, die sich zur Ausführung berufen fühlen oder die als verantwortlich gelten, die Entscheidung mehr oder weniger willig gemäß ihrem eigenen Gutdünken auszuführen. Jeder einigermaßen komplexe Entscheidungsprozess erfordert in allen Phasen immer wieder neue Teilentscheidungen. Das gilt nicht zuletzt auch für die Umsetzungsphase. Entsprechend ergibt sich oft die Notwendigkeit, Neujustierungen vorzunehmen, die der ursprünglichen Entscheidung nur bedingt entsprechen. 337

Das ist aber nicht unbedingt schädlich, sondern oft sehr wünschenswert. Im Zuge von Entscheidungsprozessen kommt es daher nicht nur auf Klarheit an (etwa auf die Verständnissicherung im Hinblick auf die Entschlussfassung), sondern ebenso auf Offenheit gegenüber neuen Einsichten. Hier wie überall kann es also nicht darum gehen, die eine Tugend auf Kosten der anderen Tugend zu maximieren, es kommt vielmehr darauf an, jeweils die richtige Balance zu finden.

Aktivität: Hingabe und Interesse Was man beginnt, auch zu Ende zu bringen, ist eine zentrale Anforderung gerade bei der Umsetzung von Entscheidungen. Das ist nicht immer einfach, weil man häufig nicht nur ein einziges, sondern mitunter sogar sehr viele Projekte gleichzeitig betreibt, die alle um Aufmerksamkeit buhlen. Aus diesem Grund kommt dem Handlungsdruck eine große Bedeutung zu. Entscheidungen, die als nicht allzu dringend gelten, werden dann leicht von anderen Projekten verdrängt, die weniger Aufschub dulden. Unter Umständen wird das Umsetzungsprojekt immer wieder, gewissermaßen routinemäßig, zurückgestellt. Wird dann nicht von außen ein starker Impuls gesetzt, droht das Projekt gar in Vergessenheit zu geraten, bis zu dem Punkt, in dem es sich ohnehin überlebt hat. Passieren kann das insbesondere bei Entscheidungen, die kein großes Aufregungspotenzial haben, bei Entscheidungen, die in den Fluss des Alltagsgeschehens eingebettet sind und in diesem untertauchen und bei Entscheidungen, für die sich niemand so recht verantwortlich fühlen muss. Vom Tableau des Geschehens kann eine Entscheidung aber auch dann verschwinden, wenn sich jemand bereitfindet, die Umsetzung voranzutreiben, dann aber nicht liefert, sei es aus kapazitätsmäßigen oder auch aus strategischen Gründen. Letzteres ist nicht selten. In manchen Fällen hat man es mit einer bewussten Widersetzlichkeit zu tun. Ein bekanntes historisches Beispiel ist das eigenmächtige Vorgehen von Wallenstein. Als ausführendes Organ (gewissermaßen als militärischer Arm) der Habsburger Politik berufen, entwickelte er eine eigene Linie, die ihn immer mehr von den Vorstellungen und Vorgaben seiner Auftraggeber entfernte, wofür er schließlich mit dem Leben bezahlen musste. Aber nicht nur die Aktivitäten in der Zeit nach der Entschlussfassung, auch die Geschehnisse in dessen Vorfeld sind von großer Bedeutung für die letztendliche 338

Umsetzung. Dabei gibt es durchaus gegenläufige Effekte. So erleichtert ein großer Ergebnisoptimismus zwar die Entscheidungsfindung, er beschädigt aber unter Umständen deren Umsetzung (March 1994, 171). Wenn man sich einredet, alles im Griff zu haben, wenn man sich gegenseitig darin bestärkt, dass schon alles gut gehen wird, dann kann sich daraus durchaus eine starke Motivationswirkung entwickeln. Wenn sich dann allerdings herausstellt, dass sich die Dinge anders entwickeln, als man sich das vorgestellt hat, wenn man mit auftretenden Schwierigkeiten nicht klarkommt, wenn das Ziel, das mit der Entscheidung anvisiert wird, außer Sicht gerät, dann wird sich Enttäuschung breitmachen, was leicht dazu führt, dass die Motivation Schaden nimmt. Und auch die Entschlussfassung ist manchmal von Motivationen getragen, die sich für deren Umsetzung als kontraproduktiv erweisen. So kann es vorkommen, dass die Fürsprecher für eine bestimmte Entscheidung gar kein inhaltliches Interesse an der Entscheidung haben, aber aus Gefälligkeit oder um eine der beteiligten Parteien politisch zu unterstützen, die Entschlussvorlage in einer fälligen Abstimmung unterstützen, sich für die Ausführung aber weder verantwortlich fühlen, noch sich tatkräftig einbringen. In stark politisch geprägten Prozessen ist fast immer davon auszugehen, dass die Versuche, das Geschehen zu beeinflussen, mit einer Beschlussfassung nicht enden, sondern auch in der Nachentscheidungsphase ihre Fortsetzung finden. Für den Bereich der Politik ist die Vorstellung, aus einer Entscheidung folge geradlinig auch deren Umsetzung, nachgerade naiv. Sie gründet nicht selten in einer Verkennung der Natur des Politischen (Baier/March/Sætren 1986). Im politischen Handeln geht es um die Durchsetzung von Interessen und um den Einsatz von Macht, also nicht ausschließlich (und manchmal auch gar nicht) um eine sachgerechte Lösung der sich stellenden Probleme. Die Mittel zur Durchsetzung der Interessen umfassen entsprechend das ganze Spektrum der Einflussnahme. Zwar findet man durchaus das Bemühen, zu sachgerechten Lösungen zu kommen, rationale Argumente werden aber gern taktisch genutzt (oder ignoriert), man beruft sich (wenn es den eigenen Zwecken dient) auf bewährte Praktiken und auf Expertenmeinungen, man findet aber auch Kuhhandel, Überredung, Bestechung, Drohungen und Desinformation. Ein formaler Beschluss ist daher nur bedingt geeignet, das weitere Schicksal der Angelegenheit (also z.B. deren Implementierung oder deren gelegentliche Wiederaufnahme) von politischen Elementen zu befreien. „… zu welcher Entscheidung auch immer eine Elite gekommen 339

sein mag, sie wird parteiisch vereinnahmt – von etlichen verkündet und getragen, von etlichen angegriffen und sabotiert und von der Mehrheit der politischen Akteure apathisch ignoriert“ (Van de Ven/Hudson 1985, 444 in Bezugnahme auf Dahl/Lindblom 1976). Nicht selten findet die eigentliche Einflussnahme gar nicht vor oder bei der Beschlussfassung, sondern in der Umsetzungsphase statt. Ein weiterer politisch bedingter Grund für das unbestimmte Verhältnis von Entschluss und Verwirklichung liegt im Bedürfnis der Entscheider an der eigenen Absicherung begründet. Die politisch Verantwortlichen werden üblicherweise an dem gemessen, was sie tun. Dabei sind sie vielen oft widersprüchlichen Erwartungen ausgesetzt, die sich dazuhin auch noch im Zuge der politischen Auseinandersetzungen verändern können. Das lässt es unklug erscheinen, sich mit seinen Entscheidungen eindeutig festzulegen. Die offizielle Politik bleibt daher oft vage und bedeutungsoffen. Was also nach dem Entschluss genau geschieht, bleibt in hohem Maß eine Frage von mentalen und faktischen Bestimmungsleistungen. Ein dritter machtpolitischer Aspekt hat mit dem Verhältnis zwischen Entscheidern und Ausführenden zu tun. In Organisationen ist für die Durchführung und Abwicklung der getroffenen Entscheidungen die „nachgelagerte“ Administration verantwortlich. Diese entlastet die Führungspersonen von Details und Routine, von der Planung und insbesondere auch von den Mühen, sich um die Durchsetzung des Gebotenen persönlich kümmern zu müssen. Die Bürokratie ist gewissermaßen die Verkörperung des organisationalen Willens, sie ist das Gesicht und die Macht, die den Klienten, externen und internen Anspruchsgruppen der Organisation gegenübertritt. Nach Max Weber ist „… die bürokratische Organisation das technisch höchstentwickelte Machtmittel in der Hand dessen, der über sie verfügt“ (Weber 2005, 729). Aber als soziales System ist die Bürokratie nicht nur ein Mittel, sie ist auch Akteur. Als geronnene Ordnung und Träger der Legitimität verfügt die Bürokratie über eine hohe Eigenmacht, die sie auch gegen ihre Herrschaft ausspielen kann. Gleichgültig woraus sich die Stellung des „Herrn“ der Bürokratie speist, „... befindet er sich dem im Betrieb der Verwaltung stehenden geschulten Beamten gegenüber in der Lage des Dilettanten gegenüber dem Fachmann“ (Weber 2005, 730). Selbst offenbar wegweisende, mutige und unkonventionelle Entscheidungen lassen sich auf der Ebene des Verwaltungshandelns, durch Ausführungsbestimmungen, Verfahrensregeln, Mittelbindungen, zeitliche Blockaden, Liegenlassen, Falschzustellungen und nicht zuletzt durch Auseinandersetzungen über Zuständigkeiten oft mühelos unterlaufen. 340

Ressourcen: Unter- und Überausstattung Ressourcenmäßig kann die Umsetzung von Entscheidungen unterdimensioniert sein – oder aber auch überdimensioniert. Beides ist schädlich. Unterdimensionierung beeinträchtigt die Fähigkeiten zur Lösung der anstehenden Probleme und lähmt die Motivation, Überdimensionierung setzt falsche Anreize und bedeutet Ineffizienz. Das gilt gleichermaßen für die Ausstattung mit materiellen Ressourcen (Geld, Arbeitsmittel, Arbeitskraft und Arbeitszeit) wie für die Versorgung mit immateriellen Ressourcen (Zuspruch, Renommee, Einfluss). Wer seine Arbeitskraft verschleißt, weil er sich an Aufgaben abarbeitet, für die er nicht die notwendige Eignung mitbringt, wenn sich die Konflikte häufen, weil sich einer zielstrebigen Ausführung immer wieder neue Hindernisse in den Weg stellen, wer statt Lob nur Missachtung oder kleinliche Kritik erntet, wird seinen Auftrag (wenn überhaupt) nur unwillig zu Ende bringen. Mit dem nachlassenden Engagement sinkt die Qualität, mit der Frustration steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man sich auf bequemere Lösungswege begibt, die von der ursprünglichen Entscheidung eher wegführen. Von großangelegten Vorhaben bleiben dann oft nur noch halbherzig betriebene Programme. Man startet beispielsweise mit dem Ziel, das ganze Unternehmen auf eine zielorientierte Führung umzustellen, also „Management by Objectives“ zu praktizieren, und heraus kommt schließlich lediglich ein Formular zur Dokumentation von Mitarbeitergesprächen, welches man den Führungskräften zur unverbindlichen Verwendung zur Verfügung stellt. Nun liegt es in der Natur größer dimensionierter Entscheidungsangelegenheiten, dass man im Vorhinein nicht wissen kann, wie umfänglich die richtige Ressourcenausstattung ausfallen sollte. Stellt sich heraus, dass man sich ordentlich verschätzt hat, ist es unter Umständen angezeigt, die Entscheidung selbst zu revidieren. Das ist allerdings oft alles andere als einfach. Zumal wenn man sich für die Entscheidung stark gemacht, öffentlich Vorbehalte in den Wind geschlagen und sich zu ihr bekannt hat. Niemand irrt sich gern und niemand will als Verlierer dastehen. Angenehmer ist es, wenn man auf veränderte Umstände hinweisen und die Verantwortung für die Umsetzungsschwierigkeiten auf andere – vornehmlich natürlich auf die mit der Realisierung beschäftigten Personen – abschieben kann. Es ist dann nicht der große Staatsmann, es sind die Intrigen der Subalternen, die dessen grandiose Projekte scheitern lassen, nicht der geniale Feldherr, die Unfähigkeit der Offiziere werden für Niederlagen verantwortlich gemacht und Organisationsentwicklungsprojekte 341

scheitern angeblich nicht an der Strategie der Unternehmenslenker, sondern weil sie sich am Widerstand des mittleren Managements erschöpfen. Dessen ungeachtet findet sich aber auch der Fall, dass man Projekte bewusst scheitern lässt, um damit den Anführer zu stürzen.

Logik der Umsetzung: Teilnehmer, Prämissen, Regeln Wenn es zwischen Entschlussfassung und Umsetzung zu Diskrepanzen kommt, dann liegt das daran, dass man es trivialerweise (schon rein zeitlich betrachtet) mit unterschiedlichen Situationen zu tun hat. Implizit oder explizit kommt es daher sehr häufig zu einer veränderten Situationseinschätzung und wenn man diese durchsetzen kann, auch zu einer entsprechenden Neuausrichtung des Verhaltens. Der ursprüngliche Entschluss verliert in diesem Fall nicht unbedingt sein Gewicht, wird aber modifiziert oder zumindest anders interpretiert. Eine weitere Ursache für das Auseinanderfallen von Entschluss und Verhalten liegt darin begründet, dass in der Vor- und in der Nachentschlussphase eine je unterschiedliche Handlungslogik gilt. Für den Fall des individuellen Entscheidungshandelns haben Heinz Heckhausen und Peter Gollwitzer das sogenannte Rubikon-Modell entwickelt. Danach ist die Entscheidungsfindungsphase von einem eher rationalen Abwägen geprägt, nach Überschreiten des Rubikon, also nach der Festlegung auf einen Verhaltenskurs, wird in den Modus der Handlungsorientierung geschaltet, in der neue Informationen nicht mehr rein sachorientiert verarbeitet werden, sondern im Sinne der einmal getroffenen Entscheidung interpretiert und notfalls deformiert werden (Heckhausen 1989, Gollwitzer 1990). Es muss uns an dieser Stelle nicht interessieren, wie realistisch dieses Modell im Einzelfall ist, auf der kollektiven Ebene hat es jedenfalls schon deshalb Sinn, zwischen der Vor- und Nachentscheidungsphase zu unterscheiden, weil in diesen beiden Phasen häufig unterschiedliche Personen zu Werke gehen, die dann auch ihre je eigene Vorstellung über den Entscheidungstatbestand einbringen. Aber nicht nur in personeller Hinsicht gibt es Unterschiede, oft kommen in den beiden Entscheidungsphasen auch unterschiedliche Handlungsregeln zum Zug, woraus sich ebenfalls eine je spezifische Prägung im Umgang mit dem Entscheidungsproblem ergeben kann. Und schließlich ändern sich – aus Sicht der Akteure – oft auch die Handlungsprämissen. 342

In Abbildung 8.1 sind Merkmale aufgeführt, die geeignet sind, die jeweilige Handlungslogik näher zu kennzeichnen. Dabei ist zu beachten, dass alle der angeführten Orientierungen grundsätzlich auch in allen Phasen eines Entscheidungsprozesses präsent sein können. Dessen ungeachtet ist davon auszugehen, dass es im Voranschreiten des Entscheidungsprozesses zu einer gewissen Akzentverlagerung kommt, weshalb es oft angebracht ist, von einer spezifischen Handlungsorientierung in der Nach-Entschlussphase zu sprechen und sie von der Bedenkorientierung in der Vor-Entschlussphase abzugrenzen. Abwägen: Gründe Motivieren: Aufmerksamkeit Entschließen: Präferenzen (Nutzen‐Kosten) ABSICHT Wissen

Entscheider

Wollen

Vernunftregeln

Analysieren Begründen

Ziel Problem

Akteure

Handlungsprämissen

Regeln

Plan Lösung

Können Dürfen

Ausführer

Bewirken

Situationsregeln

Rechtfertigen

HANDLUNG

Abwägen: „Techniken“ Motivieren: Handlungsdruck Entschließen: Machbarkeit (Effekt‐Mittel)

Abb. 8.1: Handlungsorientierungen in der Vor- und Nach-Entschlussphase In Abbildung 8.1 sind auf einem sehr allgemeinen Niveau Unterschiede in der grundsätzlichen Handlungslogik vor und nach der Entschlussfassung angeführt, die zu einem Auseinanderklaffen von Absicht und Handlung führen können. Bei der Entscheidungsfindung ist, jedenfalls bei Unterstellung einer vom Ansatz her intendierten Rationalität, davon auszugehen, dass nach einer Problemlösung gesucht wird, die mit den jeweiligen Präferenzen vereinbar ist. Man befindet sich im Modus des Abwägens und man wird die Handlungsalternative wählen wollen, die das beste NutzenKosten-Verhältnis aufweist. Als Handlungsprämissen fungieren die gegebene Problemlage und die anzustrebenden Ziele. Diese Handlungsprämissen verändern sich in 343

der Umsetzungsphase. Hier geht es um mögliche Lösungsschritte und die Abarbeitung eines Handlungsplans. Auch in dieser Phase findet ein Abwägen statt, allerdings richtet sich dieses primär auf Machbarkeitsfragen. Angesichts der verfügbaren Mittel, der organisatorischen Voraussetzungen, der gegebenen Fähigkeiten und der etablierten Arbeitsroutinen der Akteure wird es zu Kompromissen im Hinblick auf die angestrebten Ziele und auch zu Modifikationen und Veränderungen der Entscheidungsinhalte kommen. Außerdem ändert sich die motivationale Grundlage. Die Erarbeitung einer Entscheidung gründet in dem Versuch, ein sich aufdrängendes Problem zu lösen. Dass man sich diesem Entscheidungsproblem zuwendet, setzt voraus, dass es, angesichts vieler anderer Probleme, die zu bewältigen sind, die notwendige Aufmerksamkeit findet. Grundsätzlich bleibt es in der Phase der Entscheidungsfindung und Willensbildung noch offen, ob sich eine Handlungsnotwendigkeit ergibt und welche neuen Handlungsprämissen sich aus der Problembeschäftigung ergeben könnten. Bei der Umsetzung der Entscheidung kann man den mit der Entscheidung geschaffenen Fakten, nämlich der Vorgabe neuer Handlungsprämissen, nicht mehr ausweichen. Dem daraus entstehenden Handlungsdruck kommt eine andere Bedeutung und eine andere Qualität zu als dem noch im Unbestimmten bleibenden Erkunden der Probleme und potenzieller Lösungen in der Vor-Entschlussphase. Und auch die Regeln, die bei der Entscheidungsfindung und bei der Entscheidungsumsetzung zum Zug kommen, unterscheiden sich. Im ersten Fall sind es gewissermaßen Vernunftregeln: Die Problemlage muss analysiert, Lösungsvorschläge müssen begründet werden. Im zweiten Fall geht es um das Zurechtkommen mit der manchmal vertrackten Handlungssituation: Man ist auf Wirkung angewiesen, auf den Nachweis, dass man angesichts der Möglichkeiten richtig gehandelt hat. Man muss die Ziele seines Handelns nicht mehr begründen, man muss stattdessen in der Lage sein, sein Handeln als angemessen zu rechtfertigen. Auf der linken Seite von Abbildung 8.1 sind – korrespondierend zu den Regeln der Entscheidungsfindung und Entscheidungsumsetzung – wichtige Handlungsvoraussetzungen der Akteure genannt. In der Rolle des Entscheiders kommt es vor allem auf das Wissen und das Wollen an, in der Rolle des Ausführenden dagegen auf das Können und das Dürfen. Eine Frage, die sich dabei aufdrängt ist, wie sich der Wechsel der Handlungslogik vollzieht, ob es immer zu einem Wechsel kommt, wie hart er sich gestaltet, ob es fließende Übergänge gibt und wie sich parallel laufende Aktivitäten, die sich zum einen auf die Willensbildung und zum anderen auf die Willensdurchsetzung richten, miteinander vermitteln. Dabei ist daran zu erinnern, dass es nicht auf den 344

formellen Akt der Beschlussfassung ankommt, die den Übergang von der einen zur anderen Phase markiert. Ein solcher Akt ist für viele Entscheidungen sekundär oder kommt sogar überhaupt nicht vor. Was zählt ist die innere Ausrichtung, die mit der expliziten oder impliziten Entschlussfassung einhergeht.

Strukturwirkungen Organisation In einer in vielerlei Hinsicht aufschlussreichen Studie schildert Helga Drummond (1994) einen Fall, in dem eigentlich gar keine Entscheidung getroffen wurde und es daher logischerweise gar keine Umsetzung einer Entscheidung geben konnte. Wenn überhaupt, dann kann man von der Umsetzung einer Nichtentscheidung sprechen, was auf den ersten Blick etwas paradox klingt. Tatsächlich wurde am Ende dann doch eine Entscheidung getroffen, allerdings war dies eine Entscheidung des Entscheidungsobjekts, was etwas außerhalb des Rahmens üblicher Betrachtungen von Entscheidungsprozessen liegt. Und auch am Anfang wurde eine Entscheidung getroffen, um die es in dem Fall aber nicht primär geht. Nämlich die Entscheidung, eine Person für einen wichtigen Posten einzustellen, an deren Eignung von vornherein große Zweifel bestanden. Das eigentlich interessante Phänomen aber war, dass man an dieser Person festhielt, obwohl sich im Lauf der Zeit, d.h. eigentlich von Anfang an, herausstellte, dass die Zweifel allzu berechtigt waren. Drummond behandelt den Fall als Beispiel und als Gegenbeispiel des eskalierenden Commitments, also der Weiterverfolgung eines Verhaltenskurses entgegen der Einsicht, dass er falsch ist. Betrachtet werden drei Phasen in der Fallentwicklung. In allen Phasen wird (vermeintlich) falsch entschieden bzw. nicht entschieden. In der ersten Phase geht es um die Einstellung. Besetzt werden sollte die Stelle eines stellvertretenden Leiters einer Gesundheitsbehörde. Seine Aufgabe bestand in der Entwicklung einer arbeitsmedizinischen Serviceeinheit, ein Projekt, für das sich der Direktor der Behörde sehr eingesetzt hatte. Um die Stelle bewarb sich ein Arzt. Er war der einzige Bewerber. Er hatte keinerlei Managementerfahrung und er machte beim Bewerbungstermin einen sehr ungünstigen Eindruck. 345

Dennoch wurde er eingestellt. Um dies zu verstehen, muss man wissen, dass es um die Existenz des ganzen Projekts ging. Wegen genereller Budgetkürzungen drohte die Gefahr, dass die weitere Finanzierung der Serviceeinheit eingestellt wurde, sollte ihr Aufbau nicht vorankommen. Dies war bereits zwei Jahre zuvor schon einmal geschehen, weil seinerzeit eine Stellenbesetzung auch nicht erfolgreich war. Man ging daher das Risiko mit dem neuen Bewerber ein und beruhigte sich selbst mit der Hoffnung, man werde dem Bewerber die fehlenden Fähigkeiten schon beibringen können. Durch die Stellenbesetzung schuf man vollendete Tatsachen, so dass eine Auflösung der Einheit vermieden wurde. Schon von Anfang an wurde deutlich, dass man es mit einer völligen Fehlbesetzung zu tun hatte. Der eingestellte Arzt beschäftigte sich mit Nebensächlichkeiten, etwa damit, welche Farbe die Bekleidung der Krankenschwestern haben sollte, er wollte keinen Computer, genehmigte sich stattdessen lieber eine teure Büroausstattung, in Besprechungen kam er nicht zum Punkt, widmete sich kaum inhaltlichen Tätigkeiten und war z.B. mit der Erstellung eines Merkblatts über AIDS völlig überfordert. Dennoch wurden keine Konsequenzen gezogen. „Der Direktor erklärte den Beschwerdeführern: ‚wir müssen ihm Zeit geben‘. Es war jedoch auffällig, dass der Direktor den Kontakt zu dem Arzt mied – er gestand ein, dass dieser schwach und teilnahmslos war. In privaten Gesprächen beschrieb er ihn als ‚undiszipliniert im Geist und im Verhalten … ein Versager (non-producer)‘“ (Drummond 1994, 48). Entlassen wurde er nicht. Zurückführen ließ sich dies auf die Scheu vor den Schwierigkeiten, die eine Entlassung mit sich bringen würde. Es kam praktisch so gut wie nie vor, dass man Personen, die in höheren Leitungsebenen angesiedelt waren, einfach entlässt. Der Arzt hätte sich sicher gewehrt, jedenfalls hätte eine Entlassung große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die unvermeidlichen Nachfragen von höherer Stelle, warum man überhaupt eine so unfähige Person eingestellt hatte, wären mindestens peinlich gewesen und der Fehler wäre auf den Direktor zurückgefallen. Was im Übrigen ein interessanter Nebenpunkt ist, denn offenbar wurde die Verantwortung allein dem Direktor zugeschrieben, obwohl an der Einstellungsentscheidung eine ganze Reihe weiterer Personen beteiligt war. Ein weiterer Grund für die Untätigkeit war derselbe wie schon bei der Stellenbesetzung: Die Nichtbesetzung der Stelle gefährdete das gesamte Projekt. Im weiteren Verlauf kam es immer häufiger zu Beschwerden von außerbehördlichen Stellen. Mitarbeiter beklagten sich über die Faulheit ihres Vorgesetzten, darüber, dass er sehr häufig telefonierte statt die Einheit zu führen. Ermahnungen blieben erfolglos, der Direktor gewann den Eindruck, dass der Arzt nicht einmal 346

richtig verstand, dass er kritisiert wurde. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die übergeordnete Stelle den fehlenden Fortschritt im Aufbau der Service-Einheit bemängeln würde. Ein Ereignis bot die willkommene Gelegenheit, doch aktiv zu werden. Eine Mitarbeiterin beschwerte sich, der Arzt habe sie sexuell belästigt. Die anschließende Untersuchung erwies jedoch dessen Unschuld. Die Anschuldigung wurde zurückgezogen. Offiziell war der Arzt rehabilitiert, allerdings ließ der Direktor nicht davon ab, ihm sein anhaltendes Misstrauen anmerken zu lassen. Das geschah offensichtlich, um dem Arzt sein Leben zu vergällen. Diese Taktik hatte Erfolg. Der Ärzteverband riet dem Arzt, sich offiziell zu beschweren, ein Vorhaben, das, wegen des Aufsehens, das daraus entstehen würde, beim Direktor großen Schrecken hervorrief. Der Arzt, deprimiert und emotional schwer belastet, wollte eine solche Auseinandersetzung aber gar nicht. Stattdessen sprach er über seine kranke Frau und die Schwierigkeit, sein Haus zu verkaufen. Er kündigte und einigte sich mit dem Direktor, dass als offizieller Grund angegeben werden sollte, dass er sich um seine kranke Frau kümmern musste, die 200 Meilen entfernt wohnte. Bei der Abschiedsrede lobte der Direktor die Leistungen, die der Arzt für den Aufbau der Serviceeinheit erbracht hatte. Der Direktor hatte mit unsauberen Mitteln sein Ziel erreicht, er musste nicht kündigen, der Arzt ging freiwillig, von den Fehlern des Direktors erfuhr die Behördenleitung nichts. Helga Drummond wollte mit ihrer Studie zeigen, dass neben den im Psychologischen und Sozialen angesiedelten Einflussgrößen des eskalierenden Commitments auch strukturelle Gegebenheiten eine bedeutsame Rolle spielen können. Es geht also nicht nur um Realitätsverlust, Nichtwahrhabenwollen, dass man einen Fehler gemacht hat, Selbstrechtfertigung und Wahrung des Scheins, wenn man verstehen will, warum jemand von einem als falsch erkannten Weg nicht ablässt. Es geht auch um Entscheidungsinstanzen, organisatorische Regeln und um Sichtbarkeit. Im vorliegenden Fall drohte die Gefahr, dass ein wichtiges Projekt nicht weitergefördert wurde, dass das davon abhing, ob die Projektleiterstelle besetzt war, dass Unruhe die Aufmerksamkeit der Behördenleitung, die über das Projekt zu entscheiden hatte, auf sich ziehen würde. Das waren starke Gründe dafür, die Entscheidung zur Entlassung des offensichtlich unfähigen Stelleninhabers hinauszuzögern. Ein zweites Anliegen der Autorin war es, deutlich zu machen, dass eskalierendes Commitment kein irrational oder fehlgeleitetes Verhalten sein muss. Aus Sicht der Akteure war es im vorliegenden Fall im Gegenteil völlig rational, den offenbar falschen Weg weiterzugehen. Es diente deren Interessen und zeugte sogar von taktischem Geschick. 347

Dass man die Rationalitätsfrage aus Sicht eines übergeordneten Organisationsinteresses anders beurteilt, dürfte andererseits ebenso klar sein. Bei der Bewertung der Studie fällt ins Gewicht, dass sie sich mit einem einzelnen ausgewählten Fall befasst und dass man bei der Interpretation auf die Darstellung der Autorin angewiesen ist und möglicherweise, bei Kenntnis weiterer Umstände, zu anderen Schlussfolgerungen gelangen könnte. Tatsächlich sind das aber keine gravierenden Kritikpunkte. Die Daten wurden im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung erhoben. Die Autorin war in der Gesundheitsbehörde im mittleren Management tätig und räumlich im selben Bürotrakt positioniert. Sie konnte daher viele Vorgänge unmittelbar beobachten, ohne selbst in das Geschehen eingebunden zu sein. Außerdem führte sie zahlreiche Gespräche mit Beteiligten und weiteren Informanten. Aufgrund ihrer Stellung hatte sie zudem Zugang zu vertraulichen Daten. Sie ließ ihren zusammenfassenden Bericht außerdem vom stellvertretenden Personalleiter durchsehen, der ebenfalls Zeuge des Geschehens wurde. Wichtiger als dieser methodische Aspekt aber ist, dass es in dieser Studie nicht um irgendwelche Verallgemeinerungen geht. Sie dient stattdessen der Beschreibung eines besonderen Falles eskalierenden Commitments und sie soll zeigen, dass man neben den psychologischen und sozialen die Bedeutung der strukturellen Einflussgrößen nicht unterschätzen sollte und dass man vermeintlich unangebrachtes Commitment auch strategisch nutzen kann. Dies zu illustrieren, ist der Autorin zweifellos gelungen und sie hat damit die Diskussion um das Phänomen des eskalierenden Commitments bereichert.

Kultur Susan Miller, David Hickson und David Wilson beschäftigen sich in zwei Studien mit der Frage, von welchen Faktoren die Implementierung strategischer Entscheidungen bestimmt wird. Als mögliche Bestimmungsgrößen betrachten sie Aspekte der Organisationsstruktur und der Organisationskultur sowie Verhaltensweisen des Managements. In der ersten Studie untersucht Susan Miller elf Entscheidungen in sechs Organisationen (Miller 1997). Die zweite Studie baut hierauf auf und betrachtet 55 Entscheidungen in 14 Organisationen (Hickson/Miller/Watson 2003, Miller/Wilson/Hickson 2004). Die Analysen stützen sich auf Fallstudien unter Bezugnahme vor allem auf halb-strukturierte Interviews mit jeweils einem oder mehreren an den Entscheidungen beteiligten Managern. Interessant an diesen 348

beiden Studien ist nicht zuletzt, dass sie dieselben Variablen betrachten, diese aber jeweils anders anordnen und deren Wirkungsweise auch anders interpretieren. In Tabelle 8.2 sind die untersuchten Variablen aufgelistet. Miller (1997) AV

Variable

Erläuterung

Ausführung

Ausmaß, in dem die beabsichtigten Handlungen (zeitgerecht) umgesetzt werden. Ausmaß, in dem die Handlun- AV gen die vorgesehenen Wirkungen haben. Ausmaß, in dem Vorgehen und AV Ergebnisse von den Betroffenen akzeptiert werden.

Leistung

Akzeptanz

Unterstützung Ausmaß, in dem die Einflussstrukturen die Umsetzung begünstigen. Günstigkeit Ausmaß, in dem unvorhergesehene Umstände die Umsetzung begünstigen. Einschätzbar- Ausmaß, in dem der Erfolg des keit Projekts genau vorhergesagt werden kann. Spezifizierung Ausmaß, in dem Details der Umsetzung (Aufgaben und Tätigkeiten) festgelegt werden. Empfänglich- Ausmaß, in dem die Organisakeit tionskultur die Umsetzung fördert.

349

Hickson u.a. (2003) nicht untersucht AV

UV, Erfahrung

Bewirker

nicht untersucht

Bewirker

nicht untersucht

Bewirker

Erfahrung

Bewirker

Erfahrung

Bewirker

Bereitschaft

Priorität

Ausmaß, in dem die Organisation dem Umsetzungsprojekt Priorität einräumt. Unterstützung Ausmaß, in dem die Organisationsstrukturen die Umsetzung erleichtern. Ausstattung Umfang der verfügbaren Ressourcen (Arbeitskraft, Finanzen, Zeit). Vertrautheit Ausmaß an Erfahrungen, die für die Umsetzung von Relevanz sind. Flexibilität Ausmaß, in dem im Zuge der Implementierungen Anpassungen möglich sind.

Ermöglicher Bereitschaft

Ermöglicher Bereitschaft

Ermöglicher Erfahrung

Ermöglicher Erfahrung

Ermöglicher Erfahrung

Tab. 8.2: Einflussfaktoren erfolgversprechender Umsetzung von Entscheidungen (AV = abhängige Variable, UV = unabhängige Variable) Miller betrachtet drei abhängige Variablen: die Umsetzung im engeren Sinn, in der es darum geht, ob die vorgesehenen Umsetzungshandlungen auch ausgeführt wurden. Daneben untersucht sie die Leistung, d.h. die Frage, ob die Umsetzung zu den gewünschten Wirkungen führt und schließlich die Akzeptanz der Umsetzung bei den davon Betroffenen. Hickson, Miller und Watson gehen dagegen nur auf die Leistung ein. Die Ausführung wird nicht näher behandelt und die Akzeptanz ist für die Autoren interessanterweise eine unabhängige Variable. Ihre Studienergebnisse veranlassen Miller, die zehn unabhängigen Variablen zwei Gruppen zuzuordnen: Bewirker („realizers“), die eine unmittelbare Wirkung auf den Umsetzungserfolg haben, und Ermöglicher („enablers“), die zwar auch einen Erfolgsbeitrag leisten, allerdings ohne die Kraft zu haben, den Erfolg auch zu gewährleisten. Sie sind lediglich dazu geeignet, die Bewirker-Variablen zu unterstützen. Grundlage dieser Einteilung ist letztlich die empirische Befundlage, eine theoretische Fundierung nimmt Miller nicht vor. Die Autoren der Folgestudie gehen auf die angeführte Unterscheidung nicht mehr ein. Es stellt sich hier heraus, dass ausgerechnet eine Enabler-Variable (die Prioritätssetzung) die 350

höchste Korrelation mit dem Umsetzungserfolg aufweist. Überhaupt korrelieren nur zwei der Variablen in nennenswerter Weise mit dem Erfolg, neben der bereits genannten Prioritätssetzung, die Akzeptanz, die in der Miller-Studie gar nicht als unabhängige Variable geführt, sondern als Element des Umsetzungserfolgs gesehen wird. Inhaltlich gesehen ist das Ergebnis wenig spektakulär, schließlich lässt es sich auf die Aussage bringen, dass die Umsetzung einer Entscheidung dann Erfolg verspricht, wenn die Entscheidung auf Zustimmung stößt und wenn sie mit Nachdruck betrieben wird. Die Autoren halten sich mit diesem Ergebnis aber auch nicht länger auf, sie heben stattdessen auf zwei alternative Strategien der Umsetzung ab. Sie können nämlich zeigen, dass fünf der acht von ihnen untersuchten unabhängigen Variablen (relativ) eng miteinander korrelieren oder anders ausgedrückt, auf einem Faktor, den sie „Erfahrung“ nennen, und die übrigen drei auf einem anderen Faktor laden, den sie „Bereitschaft“ nennen (siehe Tabelle 8.2). Die „Erfahrung“ zeigt sich danach in der Vertrautheit mit ähnlichen Problemen und damit verbunden mit der Fähigkeit, die Zielkriterien zu bestimmen, die notwendigen Tätigkeiten zu spezifizieren und die erforderlichen Ressourcen bereitzustellen. Diese Zuordnung lässt sich einigermaßen nachvollziehen. Die „Bereitschaft“ ist (statistisch gesehen) der gemeinsame Faktor von kultureller Empfänglichkeit, struktureller Unterstützung und Prioritätensetzung. Während die beiden ersten Variablen strukturbedingt erscheinen, ist die dritte Variable (die Prioritätensetzung) eine Verhaltensvariable. Wie sich das zu einem gemeinsamen Faktor zusammenfügen soll, ist auf den ersten Blick nicht so recht einzusehen. Bei einer näheren Betrachtung gewinnt die Überlegung aber durchaus an Überzeugungskraft. Die Autoren sehen in den strukturellen Variablen nämlich nicht so sehr fest gefügte und die gesamte Organisation umgreifende Systemeigenschaften, sondern entscheidungsspezifische Tatbestände. So kann in ein und demselben Unternehmen die kulturelle Rezeptivität das eine Mal hoch, ein andermal gering sein. Das hängt von dem jeweils gegebenen Entscheidungsproblem ab. Gleiches gilt für die organisationsstrukturellen Voraussetzungen. Entsprechend kommt es nicht darauf an, welche Gesamtstruktur eine Organisation hat, ob es sich also um eine Bürokratie, eine Professionsorganisation, eine Einfachstruktur usw. handelt, wichtig ist, dass für den Umgang mit dem jeweiligen Entscheidungsproblem die passende organisatorische Strukturierung erbracht wird, ob also z.B. dort, wo es sinnvoll ist, Task Forces eingerichtet, Kommunikationsstrukturen aufgebaut, die Verantwortlichkeiten 351

angemessen definiert werden usw. Wenn also die Strukturvariablen ebenso wie die Kulturvariablen entscheidungsspezifisch sind, dann sind sie kategorial ebenso einzustufen wie die Prioritätensetzung. Bei dieser geht es nämlich darum, dass man sich auf das Problem wirklich einlässt, dass man entsprechend Zeit und Mittel bereitstellt, dass man die Umsetzung nachdrücklich anstrebt. Und bei den kulturellen und organisationalen Voraussetzungen geht es um dasselbe: dass man sich auf das jeweilige Problem mehr oder weniger einstellt. Miller, Wilson und Hickson erläutern, was sie unter einem rezeptiven organisationalen Kontext verstehen, am Beispiel einer bislang regional agierenden Brauerei, deren Leiter sich zu einer Markterweiterung entschlossen haben. Die Brauerei war ein kleines, familiengeführtes Unternehmen, deren Inhaber und Mitarbeiter stolz auf ihr Produkt und ihre führende Stellung auf dem regionalen Markt waren. Die Brauerei bestand seit über 150 Jahren, unter den Mitarbeitern herrschte eine große Betriebstreue und Verbundenheit mit dem Unternehmen. Alle Beteiligten waren sich einig, dass es an der Zeit war, zu expandieren und zu einer landesweit bekannten Marke aufzusteigen. Die dem Projekt dienliche rezeptive Kultur fußte nicht zuletzt auf dem Vertrauen in die hohe Produktqualität und die Loyalität der Mitarbeiter zum Unternehmen. „Daraus entstand das Klima eines einvernehmlichen Verstehens, eine Verpflichtung auf die Zukunft des Unternehmens und ein Optimismus hinsichtlich des dauerhaften Überlebens“ (Miller/Wilson/Hickson 2004, 208). Erfolge in der Umsetzung von Entscheidungen verspricht aber nicht nur die bereitschaftsbasierte, sondern auch die erfahrungsbasierte Strategie, also der Rekurs auf Erfahrungen mit der Thematik, mit den anfallenden Aufgaben und deren Verteilung sowie der Verfügbarkeit über die notwendigen Ressourcen. Die Autoren schildern hierzu einen Beispielfall aus der Versicherungsbranche, in der eine umfängliche Unternehmenserweiterung weitgehend reibungslos abgewickelt werden konnte. Es war dies nicht der erste Fall, die Veränderung wurde von den Betroffenen akzeptiert, die anzustrebenden Ziele ließen sich klar spezifizieren, die notwendigen Ressourcen gut kalkulieren und die anfallenden Aufgaben detailliert beschreiben. Die sorgfältige Planung zeitigte in diesem Fall auch den gewünschten Erfolg. Dort wo man nicht über die Möglichkeiten verfügt, umfängliche und ausgefeilte Planungen zu vollziehen (z.B. wenn die entsprechenden Experten fehlen, wenn die Organisation zu klein ist oder keine Mittel dafür aufbringen kann), kann andererseits eine bereitschaftsbasierte Strategie ebenso erfolgreich sein. Beide Strategien können also unabhängig voneinander zum Erfolg 352

führen. Am besten ist es allerdings, so Miller, Wilson und Hickson, wenn es einer Organisation gelingt, beide Ansätze miteinander zu vereinigen. Das lässt sich leicht nachvollziehen. Der Ausgangspunkt der Überlegungen der Autoren, die Auflistung von Einflussfaktoren (Tabelle 8.2), wirkt allerdings etwas willkürlich. Sie erinnert an das Vorgehen in der Erfolgsfaktorenforschung, die sehr stark datengeleitet vorgeht und eine theoretische Deutung, sofern überhaupt, erst im Nachhinein anbietet. Außerdem beziehen sich die Überlegungen in dieser Forschungstradition häufig nur auf die Oberfläche des Geschehens, zu Einblicken in die innere Dynamik organisationaler Vorgänge gelangt man auf diesem Weg eher zufällig. Hervorzuheben an der vorliegenden Studie ist immerhin die Einsicht, dass es sich lohnt, auf die strukturellen Besonderheiten der jeweils betrachteten Entscheidungssituation zu achten. Die Autoren empfehlen gewissermaßen eine situative Relativierung des Kulturphänomens. Anders als schillernde, vage und nicht selten trügerische Beschreibungen von umfassenden Organisationskulturen gewinnt die Kulturbetrachtung damit Kontur und Anschauung. Es bleibt dessen ungeachtet eine Herausforderung, erstens die theoretischen Vorstellungen über das – obwohl schwer fassbare, aber unleugbar vorhandene – Phänomen der Organisationskultur konzeptionell zu schärfen und zweitens deren Bedeutung für die sich dann in einer konkreten Handlungssituation manifestierenden Kulturelemente herauszuarbeiten.

Macht Mary Lynne Markus und Jeffrey Pfeffer erläutern an zwei empirischen Beispielen die Bedeutung von Machtstrukturen für eine bedeutende organisatorische Veränderung, die Implementierung von Abrechnungs- und Kontrollsystemen in Organisationen (Markus 1980; Markus/Pfeffer 1983). Ihre zentrale Hypothese lautet: „… in dem Ausmaß, in dem die durch das Abrechnungs- und Kontrollsystem implizierte Machtverteilung von der Machtverteilung abweicht, die sich aus der Wirksamkeit anderer Machtgrundlagen ergibt, kommt es zu größeren Implementierungsschwierigkeiten, zu größerem Widerstand und häufiger zum Abbruch des Implementierungsversuchs“ (Markus/Pfeffer 1983, 209). Wer Abrechnungs- und Kontrollsysteme einsetzen kann, gewinnt Macht. Die Einführung und Neuausrichtung dieser Systeme kann daher das bestehende Machtgefüge 353

verändern, woran diejenigen, die bislang von ihrer Macht profitieren, kein Interesse haben. Das Implementierungsvorhaben kann aber auch die bestehenden Machtverhältnisse stabilisieren, dann wird man, jedenfalls von den Mächtigen, keinen Widerstand erwarten dürfen. Abrechnungs- und Kontrollsysteme sammeln, klassifizieren, verknüpfen Informationen und die Aufbereitung der Informationen ist alles andere als unparteiisch. Welche Informationen berücksichtigt werden, an wen sie weitergegeben werden, in welchem Format und in welchem Kontext gibt vor, wie man die Informationen zu interpretieren hat. Besonders prägnant zeigt sich dieser Sachverhalt bei der Nutzung der Daten für die Leistungsbeurteilung. Die Unternehmensbereiche und die Personen, die die im Informationssystem verankerten Kriterien erfüllen, werden belohnt (und das meist „schematisch“), anderweitige Leistungen werden im Zweifel gar nicht wahrgenommen und entsprechend auch nicht honoriert. Markus und Pfeffer schildern das Geschehen bei der Einführung eines Abrechnungs- und Kontrollsystems in einem u.s.-amerikanischen Chemie- und Energiekonzern. Die vier Unternehmensgruppen dieses Konzerns führten die Geschäfte weitgehend autonom. Jede Gruppe hatte ihr eigenes Rechnungswesen, das der jeweils eigenen Leitung zuarbeitete. Die Konzernzentrale erhielt lediglich summarische Informationen im jeweiligen Format der verschiedenen Einheiten. Abhilfe schaffen sollte ein neues einheitliches Finanzinformationssystem, in das alle Unternehmensbereiche ihre jeweiligen Daten einspeisen sollten. Für die Konzernzentrale versprach das System große Vorteile, denn es erlaubte ihr den simultanen und vergleichenden Zugriff auf alle Unternehmensdaten. Die Finanzleute in den Unternehmensbereichen taten sich allerdings schwer damit. Von Anfang an gab es Probleme mit dem neuen System, die sich über mehrere Jahre hinzogen. Der Widerstand äußerte sich in ständigen Beschwerden und Forderungen nach Änderungen. Bei der Implementierung dieser Änderungen zeigte man sich dann allerdings auch nicht kooperativ. Zum Teil wurde das lokale System einfach weitergeführt, was naturgemäß zu Doppelarbeit führte. Wenn die Zahlen nicht übereinstimmten, was häufig der Fall war, wurde das dem neuen System angelastet. In einem Fall wurden die eigenen Zahlen noch manuell in Abrechnungsbögen und Bücher eingetragen. Das änderte sich erst dadurch, dass man die Bücher nach zwei Jahren der Doppelbuchführung im wörtlichen Sinn physisch entfernte. In einem weiteren Industriebetrieb, über den die Autoren berichten, sollten die Systeme zur Finanzwirtschaft und zur Produktionsplanung von zwei Niederlassungen 354

vereinheitlicht werden. Eine der beiden Niederlassungen weigerte sich, sich an der Entwicklung des Systems zu beteiligen, obwohl sie explizit dazu aufgefordert wurde. Entsprechend widerständig zeigten sich die Mitarbeiter dieser Niederlassung auch bei der Einführung des Systems. Sie übermittelten fehlerhafte Daten und arbeiteten parallel mit dem eigenen System weiter. Die Anweisungen des Managements wurden ignoriert. In der anderen Niederlassung gab es dagegen keine Probleme, obwohl auch diese durch die Einführung des neuen Systems mit einem Machtverlust gegenüber der Zentrale zu rechnen hatte. Die Dinge lagen aber insofern anders, als der in dieser Niederlassung verantwortliche Controller eine dominante Stellung einnahm und sich hinter die Neuerung stellte. Zunächst hatte auch er sich allerdings gegen das neue System gesträubt, weil er befürchtete, dass die Vertriebsleute Einsicht nehmen und angesichts der Zahlen höhere Löhne verlangen könnten. Nachdem er aber verstanden hatte, dass er Herr über die Zahlen blieb, gab er seinen Widerstand auf. Transparenz ist eben auch ein Machtmittel und die Verfügungsmacht über den Gebrauch der Systeme ist echte Macht. Die beiden Niederlassungen waren außerdem in einer unterschiedlichen Lage. Die Widerständler hatten nämlich einfach mehr zu verlieren. Sie lieferten die Vorprodukte für die andere Niederlassung, die Herstellung dieser Vorprodukte war sehr aufwändig und mit Unsicherheiten belastet. Dieser nicht zu ändernde Tatbestand konnte bei Lieferstockungen gegenüber der nachgelagerten Betriebsstätte und gegenüber der Gesamtbetriebsleitung immer wieder ins Feld geführt werden. Das neue System gewährte diesbezüglich aber einen besseren Einblick und engte damit den Spielraum für Rechtfertigungen und Ausweichmanöver stark ein. Niemand gibt jedoch gern seinen Informationsvorsprung auf und niemand liefert sich gern den Vorgaben von Dritten aus. Im vorliegenden Fall hatte man es außerdem mit komplexen Produktionsvorgängen zu tun, weshalb eine besondere Gefahr bestand, durch schematische Vorgaben und Beurteilungen in seiner Bewegungsfreiheit zurechtgestutzt zu werden. Es waren allerdings nicht Machtprobleme allein, die die Erneuerung des Abrechnungs- und Kontrollsystems erschwerten. Hinzu kamen unterschiedliche „Paradigmen“ im Hinblick auf den Einsatz solcher Systeme. Im Fall des Chemiekonzerns beispielsweise entzündete sich der Streit daran, dass die eine Gruppe das System für die externe und finanzielle Rechnungslegung, die andere Gruppe dagegen für die interne Steuerung nutzen und das System entsprechend unterschiedlich auslegen wollte. Im Ergebnis zeigt auch dieser Verweis auf die „kulturellen“ Vorbedingungen des Systemgebrauchs, dass 355

man keinen Erfolg mit der Implementierung haben kann, wenn man sie nur als technisches Problem betrachtet. In ihrer Studie beschreiben die beiden Autoren in nachvollziehbarer Weise, dass es den Mitgliedern von Organisationen nicht gleichgültig ist, wenn ihre Macht durch organisationale Veränderungen bedroht wird und dass sie daher versuchen (soweit wie es wiederum in ihrer Macht steht), dagegen anzugehen. Als Datenquellen dienen den Autoren vor allem Interviews mit den Designern und Nutzern der Informationssysteme (Markus 1980, 11). Obwohl die Autoren methodisch durchaus gewissenhaft vorgehen, haben ihre Ausführungen naturgemäß nur einen illustrierenden Charakter, eine wie immer geartete Hypothesenprüfung beabsichtigen sie mit ihren gerade mal zwei Fällen selbstverständlich nicht. Und sie schließen auch nicht aus, dass es neben der Machtstruktur weitere Bestimmungsgrößen für Widerstandsverhalten gegen organisationale Neuerungen gibt (Markus 1980, 25).

Personen Marcus Rothenberger, Mark Srite und Karen Jones-Graham (2009) legen eine Studie vor, in der sie prüfen, ob es Strukturgrößen gibt, die als notwendige Bedingungen für den Erfolg von Implementierungsprojekten gelten können. Sie betrachten dabei die Einführung von computergestützten Dokumentations- und Planungssystemen. Solche Implementierungsprojekte sind dankbare Forschungsgegenstände, weil sie in aller Regel eine Veränderung der Organisation bedingen und damit mit spürbaren Folgen einhergehen. Es geht in derartigen Vorhaben nämlich darum, dafür Sorge zu tragen, dass die im Computer abgebildeten Vorgänge auch mit den organisatorischen Abläufen übereinstimmen. Zu einem anspruchsvollen Veränderungsprojekt wird die Einführung und Anpassung der Informationssysteme außerdem dadurch, dass in diesen Projekten Personen aus unterschiedlichen Unternehmensbereichen zusammenkommen, die sich in ihrer gemeinsamen Arbeit oft erst aufeinander einstimmen müssen. Unter Bezugnahme auf anderweitige empirische Studien stellen Rothenberger, Srite und Jones-Graham drei Voraussetzungen heraus, die gegeben sein müssen, damit die Implementierung Aussicht auf Erfolg haben kann. Zum ersten sollten die notwendigen Qualifikationen vorhanden sein, d.h. je breiter das Qualifikationsspektrum 356

der Projektmitarbeiter ausgelegt sei, desto besser. Zweitens müsse das Implementierungsteam selbstständig handeln können. Eingriffe von außen, etwa von der Hierarchie, seien unbedingt zu vermeiden. Drittens sollten die Teammitglieder gut miteinander auskommen, d.h. das Projektteam sollte eine hohe Kohäsion aufweisen. Den Erfolg der Implementierung messen die Autoren daran, ob sich das schließlich implementierte System als funktionstüchtig erweist, ob es also den Versprechungen und organisationalen Bedürfnissen entspricht. Als weitere Erfolgskriterien betrachten sie die Zufriedenheit der Anspruchsgruppen (also z.B. des Managements und der IT-Leute) und die Akzeptanz durch die Nutzer. Alle drei Erfolgsgrößen stellen sich nur ein, so die Autoren, wenn jede der drei Erfolgsbedingungen vorliegt. Wir haben es also mit neun Hypothesen zu tun. Die Begründungen für die Hypothesen fallen recht knapp aus, am ausführlichsten noch für die These, dass die Implementierung kaum gelingen kann, wenn die Breite der Qualifikationen fehlt. Damit das neue System überhaupt in Gang kommen kann, seien einerseits profunde Fachkenntnisse bezüglich des zu implementierenden Informationssystems und andererseits die genaue Kenntnis der organisationalen Rahmenbedingungen notwendig, wichtig sei außerdem die Fähigkeit, auf die Personen zuzugehen, die von der organisationalen Veränderung besonders betroffen sind. Dem wird man kaum widersprechen wollen, zumal diese Aussagen fast schon einen tautologischen Charakter haben, denn wer wollte behaupten, schwierige Aufgaben ließen sich bewältigen, wenn die hierzu notwendigen Fähigkeiten nicht vorhanden sind? Die Autonomie des Projektteams ist, so die Autoren, deswegen wichtig für den Projekterfolg, weil sie den Mitgliedern des Projektteams einen herausgehobenen Status verleiht, sie damit von ihren Kollegen eher respektiert werden und es ihnen entsprechend leichter fällt, die Neuerungen durchzusetzen. Die Notwendigkeit einer hohen Kohäsion begründen die Autoren mit dem Verweis auf Forschungsergebnisse, wonach eine fehlende Kohäsion die Teamleistung beeinträchtige. Rothenberger, Srite und Jones-Graham prüfen ihre Hypothesen anhand von fünf Fallstudien. In allen fünf Fällen geht es um die Einführung des Systems SAP R/3. Die Informationen zu dem Einführungsprozess fußen auf Interviews mit jeweils zwei Projektbeteiligten, wobei einer der Beteiligten die technische, der andere die organisatorische Leitung innehatte. Die Ergebnisse der Studie sind in Tabelle 8.3 zusammengefasst. 357

Merkmale der Teams Unter- Breite der AutonoKohäsion nehErfahrun- mie men gen (empowerment) A Gering Gering Gering B Hoch Hoch Hoch C Hoch Hoch Gering D Hoch Hoch Gering E Hoch Hoch Gering

Projektergebnisse FunktiZufrieden- Akzeponserfül- heit der tanz des lung Anspruchs- Systems gruppen Gering Gering Gering Hoch Hoch Gering Gering Hoch Hoch Gering Hoch Hoch Gering Gering Hoch

Tab. 8.3: Umsetzungserfolg und Merkmale des Projektteams (leicht modifiziert nach Rothenberger/Srite/Jones-Graham 2009, 101) Wie man sehen kann, werden fünf der neun Hypothesen der Autoren von ihren empirisch gewonnenen Erkenntnissen „widerlegt“. Um das zu verstehen, muss man sich nochmals den Anspruch der Autoren an ihre Studie und die Logik ihrer Hypothesen vor Augen führen. Die angemahnten Merkmale eines erfolgreichen Implementierungsteams werden als notwendige Bedingungen bezeichnet. Ein einziger Beispielfall, in dem diese Bedingungen nicht gegeben sind, es aber dennoch zu einem Implementierungserfolg kommt, würde damit hinreichen, um die jeweiligen Hypothesen zu Fall zu bringen. Die Autoren beanspruchen damit, wie sie es formulieren, einer „positivistischen“ Methodologie zu folgen (worüber man unterschiedlicher Meinung sein kann). Danach verdienen nur die Fälle in Tabelle 8.1 Beachtung, in denen die vermeintlich notwendigen Bedingungen nicht vorliegen. Das sind die Fälle, in denen die Variablen in den drei Spalten zu den „Merkmalen des Teams“ geringe Werte aufweisen. Diese Fälle sind kursiv gesetzt. Und immer dann, wenn hiermit ein Fall korrespondiert, in dem die „abhängigen Variablen“ eine hohe Wertausprägung aufweisen, haben wir damit eine die Hypothesen widerlegende Instanz (in der Tabelle ebenfalls kursiv gesetzt). Wenn also z.B. die Kohäsion gering ist, die Funktionserfüllung aber dennoch gewährleistet ist, dann kann die Kohäsion logischerweise nicht als notwendige Bedingung gelten. Der methodologische Anspruch der Autoren ist zwar lobenswert, aber er ist sicher überhöht. Wir haben es in dieser Studie mit fünf Fällen zu tun. Bei Betrachtung weiterer Fälle würde sich sehr schnell herausstellen, dass sich keine einzige 358

der Hypothesen der Autoren halten lässt. Es ist in den Sozialwissenschaften aus gutem Grund nicht üblich, Hypothesen in der rigorosen Art der Autoren zu formulieren. Man begnügt sich vielmehr mit der schwachen Form von Je Desto Aussagen. Man sagt also, dass die unabhängige Variable einen gewissen Beitrag zur Erklärung der abhängigen Variablen leistet, d.h. man erhebt die Erklärungsvariablen nicht zu notwendigen Bedingungen. Und auch die Autoren der vorliegenden Studie greifen letztlich auf die konventionelle Art des Argumentierens zurück. Das zeigt sich insbesondere in den Begründungen, die die Autoren für ihre Hypothesen anbieten, denn dort finden sich Aussagen darüber, warum von den von ihnen betrachteten Variablen positive oder negative Einflüsse ausgehen, die die abhängigen Größen in die eine oder andere Richtung bewegen können, aber nicht müssen. Und bei der Erklärung, warum es (hypothesenkonträr) zu den von ihnen ermittelten Ergebnissen kommt, machen die Autoren weitere möglicherweise wirksame Einflüsse geltend. So sei die geringe Kohäsion im Fall des Unternehmens E auf Konflikte mit den externen Beratern zurückzuführen gewesen, was sich in einer schlechten Funktionalität und einer geringen Akzeptanz des Systems niedergeschlagen habe. Im Fall D seien Konflikte dagegen aus internen Reibereien entstanden, die man hätte leichter handhaben können, weshalb die negativen Wirkungen nicht so durchschlagend gewesen seien. Und bezüglich des Tatbestands, dass es im Fall C trotz geringer Autonomie zu positiven Ergebnissen kam, führen die Autoren an, dass es durch die Interventionen der Hierarchie zwar zu Beeinträchtigungen gekommen sei, diese aber nur ein geringes Ausmaß erreichten, weil sich die Führung nicht grundsätzlich gegen das System stellte. Man wird annehmen dürfen, dass es neben den eben angeführten, viele weitere Einflussgrößen gibt, die die von den Autoren unterstellten Wirkungszusammenhänge abschwächen, verstärken oder kompensieren können. So dürfte die Akzeptanz des Informationssystems unter anderem auch davon bestimmt werden, welche Ansprüche an das System gestellt werden, wie sehr die Nutzer von organisationalen Änderungen betroffen sind, ob damit höhere Arbeitsbelastungen einhergehen, ob sich vielleicht sogar die Inhalte ihrer Tätigkeiten ändern, ob die neue Art zu arbeiten, das soziale Gefüge verändert usw. Von einer quasi-deterministischen Bedingtheit des Implementierungserfolgs kann daher keine Rede sein. Und auch aus methodischer Sicht muss man bezweifeln, dass sich so etwas wie eine strikte Widerlegung durch Einzelfälle plausibel machen lässt. Schließlich verlangt die Betrachtung von Variablen, die nur zwei Wertausprägungen haben, festzulegen, 359

wo genau der Teilungspunkt sein soll, ab welchem Punkt man aufgrund der Antworten auf die Interviewfragen also z.B. von einer hohen oder einer geringen Kohäsion sprechen kann. Schwache Messung und starke Schlüsse passen aber nicht zusammen. Doch unabhängig von dieser Kritik, verdient die methodologische Seite der Studie besondere Beachtung, weil sie den Blick auf die wichtige Frage lenkt, welches Gewicht man den vielen Faktoren, die auf das kollektive Entscheiden und Handeln einwirken, geben kann, ob sich diesbezüglich also eine gewisse Ordnung gewinnen lässt und vor allem auch, welche Formen der Einflussnahmen es gibt und ob man diese so ohne Weiteres miteinander vergleichen kann.

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Kapitel 9: Der Lauf der Dinge Geschehen und Entscheiden Jeder dürfte sich schon einmal an „Was wäre gewesen, wenn …“ Spekulationen beteiligt haben: Hätte man nicht um Haaresbreite den Zug verpasst, wäre man jetzt auch unter den zahlreichen Opfern des Zugunglücks; hätte der Prüfer nicht ausgerechnet diese eine vertrackte Frage gestellt, bei allen anderen Fragen hätte man geglänzt; hätte man Hans statt Franz zum Mann genommen, alles wäre gut … Was wirklich geschehen wäre, kann natürlich keiner wissen, die Ereignisse kümmern sich nicht um Möglichkeiten, sie geschehen einfach, das Leben läuft so dahin, es bietet uns keine garantierte Zukunft, über die wir souverän verfügen können. Man sieht dies nicht nur im kleinen Maßstab, sondern sehr deutlich auch und gerade im Großen, also z.B. bei der Betrachtung geschichtsträchtiger Geschehnisse, deren Wendungen sich jeder Planung zu entziehen scheinen und deren Verlauf oft von zufälligen Begebenheiten bestimmt werden. Hätte sich am 28. Januar 1914 in Sarajewo die Wagenkolonne von Franz Ferdinand nicht verfahren und wäre sie deswegen nicht kurzzeitig zum Stehen gekommen, der Attentäter Gavrilo Princip, der sein Vorhaben schon aufgegeben und in ein Café geflohen war, hätte keine Gelegenheit gehabt, seine Tat auszuführen. Den Anlass für den Ausbruch des ersten Weltkriegs hätte es also gar nicht gegeben, möglicherweise wäre danach alles ganz anders gekommen. Dies ist jedenfalls die Auffassung von Richard Lebow. Es mussten viele Zufälligkeiten zusammenspielen, damit das Attentat überhaupt gelingen konnte. Und ohne das Attentat hätte es keinen Krieg gegeben: „Wenn man zeigen kann, dass der Erste Weltkrieg nur sehr bedingt hätte ausbrechen müssen und dass in der Folge ein gänzlich anderes 20. Jahrhundert möglich war, dann stellen Sie sich vor, wie das Wilhelminische Deutschland sich nach und nach zu einer konstitutionellen Monarchie hin entwickelt hätte, dass es zu keiner russischen Revolution gekommen wäre, dass es zumindest kein kommunistisches 361

Russland gegeben hätte, keinen Zweiten Weltkrieg und keinen Holocaust” (Lebow 2000, 594 f.). Andererseits kann man argumentieren, dass im Europa des Jahres 1914 derart viele Pulverfässer aufgestellt waren, dass eine Katastrophe unvermeidlich war, denn welcher konkrete Funke letztlich die Explosion ausgelöst hätte, sei eher nebensächlich. William Thompson (2007), beispielsweise, macht die hohe Dichte wechselseitiger Rivalitäten für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verantwortlich. Man wird diesen Streitpunkt wohl nicht befriedigend beantworten können. Einerseits ist es plausibel, dass bestimmte strukturelle Vorbedingungen einen erheblichen Handlungsdruck in eine bestimmte Richtung erzeugen, andererseits bedarf es notwendigerweise eines „Katalysators“, der in der Lage ist, eine konkrete Reaktion auszulösen, der also geeignet ist, die verschiedenen in der Situation angelegten Kausalketten zusammenzubinden. Wenn die Straßenbahn nicht kommt, dann kann man nicht einsteigen und Fahrt aufnehmen. Was folgt aus diesen Überlegungen für die Analyse von Entscheidungsprozessen? Dreierlei. Erstens wird man nur dann zu einer befriedigenden Erklärung von Entscheidungen gelangen, wenn man auch den Strom der Ereignisse anschaut, in den die konkret betrachtete Entscheidung eingebettet ist. Der Ereignisstrom schafft entscheidungsrelevantes Material herbei, Informationen, Wissen, Meinungen, Ideen, Rezepte, Methoden, Stimmungen, Gefühle, Argumente, Rechtfertigungen und Vorwände, Akteure und Entscheidungsgelegenheiten. Das als Beispiel bemühte Attentat von Sarajewo erregte die Gemüter, weckte Ressentiments und Befürchtungen und erzeugte einen starken Handlungsdruck. Es diente als Projektionsfläche für die widersprüchlichsten Deutungen und entsprechend wurde die Auffassung, das Attentat und die daran sich anknüpfenden Aktionen der beteiligten Parteien lieferten einen hinreichenden Kriegsgrund, keineswegs von allen einflussreichen Akteuren geteilt und sie hätte sich auch nicht zwangsläufig durchsetzen müssen (vgl. u.a. Tuchman 1962, Jäger 1984, Mombauer 2013, Clarke 2013). Damit verknüpft sich ein zweiter Punkt, der bei der Analyse von Entscheidungsprozessen zu beachten ist, nämlich die Bedeutung des in der jeweiligen Entscheidungsepisode gegebenen Entscheidungskontextes. Beobachtungen und Fakten stehen nie für sich, sie sind immer eingebunden in ein System von Überzeugungen, Absichten, Bewertungen, in ein Ensemble der Opportunitäten, Kommunikationen und Handlungsbereitschaften, sie bilden damit lediglich ein Element in der sich herausbildenden Definition der Situation. Das Sarajewo-Attentat erhielt seine Bedeutung durch eine Reihe von parallel nebeneinander herlaufenden Entwicklungen. Es fiel in eine 362

Zeit der Neueinschätzungen der politischen Lage durch die verschiedenen Parteien, die, was sich als fatal erwies, von den jeweils anderen Parteien nicht hinreichend zur Kenntnis genommen wurden. Auf deutscher Seite veränderte der Kanzler Bethmann-Hollweg seine strikt ablehnende Haltung gegenüber irgendwelchen Kriegsplänen und auf der russischen Seite kam es wegen der vermeintlich demütigenden Behandlung Russlands im Zuge der Bosnien-Annexion durch die Habsburger im Jahr 1908 zu einem starken Commitment im Hinblick auf die Politik Serbiens. Auf österreichischer Seite bewirkte das Sarajewo-Attentat eine mentale und eine materielle Machtverschiebung zugunsten der Kriegsbefürworter, für die nur eine deutliche Reaktion infrage kam, wollte man nicht den ohnehin schwindenden Einfluss auf dem Balkan noch weiter schwächen. Materiell beschädigt wurde die Position der Antikriegsfraktion durch das Attentat auf unmittelbare Weise, weil die Stimme des Thronfolgers, der ein entschiedener Gegner kriegerischer Lösungen war, nun natürlich nicht mehr zur Geltung kommen konnte (vgl. Lebow 2000). Die dritte Lehre zur Analyse von Entscheidungsprozessen, die man aus den Vorgängen ziehen kann, welche zum Ausbruch des ersten Weltkriegs führten, lautet, dass es keinen Automatismus gibt und zwar weder im Verhältnis von Ereignissen und Entscheidungen noch im Verhältnis von Entscheidungen und den daraus (vermeintlich) folgenden weiteren Entscheidungen. Das Attentat in Sarajewo geschah am 28. Juni, das österreichische Ultimatum an Serbien erfolgte am 23. Juli, die Kriegserklärung Deutschlands an Russland am 1. August. Diese recht lange Entscheidungszeit eröffnete den Raum für umfängliche Willensbildungsprozesse und tatsächlich war sie außerdem von regen diplomatischen Aktivitäten geprägt. Jedenfalls war es alles andere als ausgemacht, dass das Attentat notwendigerweise zu einem Krieg unter der Beteiligung einer der europäischen Großmächte führen würde, noch gar, dass es zu einem Weltkrieg kommen musste. Es ist nicht einfach, die Absichten, Taktiken und politischen Finten der Akteure zu durchschauen, die Informationslage und die gezielten Desinformationen, Unsicherheiten, Missverständnisse und Befürchtungen, die die Auseinandersetzungen in der Zeit zwischen dem Attentat und der Kriegserklärung begleiteten (vgl. hierzu die umfangreiche einschlägige Literatur). Unabwendbar war die schließlich eintretende Katastrophe jedenfalls nicht, was an dieser Stelle allerdings nur angedeutet werden kann. Als ein Beleg für diese These kann beispielsweise gelten, dass das Militär und die politische Führung in Deutschland nicht denselben Kurs 363

verfolgten und dass nicht von vornherein ausgemacht war, wer sich durchsetzen würde. Außerdem wurden einmal eingenommene Positionen nicht strikt durchgehalten und selbst schon getroffene Entscheidungen wurden im Zuge des Geschehens revidiert. Als Beispiel hierfür sei die seinerzeit zum casus belli hochstilisierte Frage angeführt, ob Russland eine nur teilweise (gegen Österreich gerichtete) oder aber eine vollständige Mobilmachung ausrufen sollte. Hierzu gab es in Folge vier Entscheidungen des Zaren, wobei die jeweilige Folgeentscheidung, die zuvor getroffene Entscheidung wieder aufhob (Snyder/Diesing 1977, 547 ff.). Selbstverständlich lassen sich manche Entscheidungen und Festlegungen leichter, andere dagegen nur bedingt revidieren, so ist es zweifellos schwerer, offiziell verkündete Kriegserklärungen zurückzunehmen als mehrdeutige Pressemeldungen, unmöglich ist es aber nicht. Doch wie auch immer, der allgemeinere Punkt bleibt davon unberührt: Entscheidungen und Festlegungen haben im Geschehen a priori keinen logisch privilegierten Status, sie sind Ereignisse wie andere Ereignisse (Nachrichten, Beobachtungen, Erklärungen usw.) auch, d.h. Gegebenheiten, die man einmal mehr und einmal weniger beachtet, denen man manchmal besondere Aufmerksamkeit und Bedeutung schenkt und manchmal eben nicht. Zusammengefasst sei festgehalten, dass man bei der Analyse von Entscheidungen immer den Entscheidungskontext berücksichtigen muss, das heißt: – – –

die Handlungssituation und deren mentale Abbildung in der Definition der Situation, das Prozessgeschehen, d.h. die vielfältigen Überlegungen und Aktivitäten, aus deren Zusammenwirken sich Handlungstendenzen herauskristallisieren, den Ereignisstrom, der den Entscheidungsprozess trägt und die handelnden Personen kontinuierlich mit neuen Situationen konfrontiert.

Kräftefelder und Mechanismen Kollektive Entscheidungsprozesse sind in der Regel einzigartig und damit schwer vergleichbar, sie sind oft komplex und unbestimmt und entziehen sich damit einer vollständigen gedanklichen Durchdringung und sie sind normalerweise auch interessendurchtränkt und haben damit kein objektiv bestimmbares Ziel. Das 364

erschwert die Analyse und macht Verallgemeinerungen riskant. Herbert Simon, der als Vorreiter der beschreibenden und erklärenden Entscheidungsforschung gelten kann, sah das interessanterweise anders. Im Jahr 1965 vertritt er die Auffassung, man könne Computerprogramme für die Konstruktion von Theorien des Entscheidungsverhaltens in Organisationen nutzen, um diese dann anschließend mithilfe von Simulationsrechnungen zu prüfen (Simon 1965, 36). Diese Auffassung ist angesichts der Verwicklungen und Besonderheiten, die Entscheidungsprozesse annehmen können, einigermaßen vermessen und erkenntnistheoretisch ohne Halt. Zustimmen kann man immerhin der von Simon dann einschränkend formulierten Aussage, dass sich bestimmte „Aspekte“ des Entscheidungsverhaltens in spezifischen „Situationen“ auch durch Computerprogramme abbilden lassen (Ebenda). Denn diese Behauptung besagt nur, dass es möglich ist und dass es sich lohnt, Mechanismen des Entscheidungsverhaltens zu identifizieren und zu erforschen. Die Idee, Entscheidungsprozesse in Gänze abbilden oder gar ihren Verlauf vorhersagen zu können, muss man aber sicher aufgeben. Bekanntlich ist schon der bloße Nachvollzug empirischer Vorgänge äußerst voraussetzungsreich und zwar selbst in den gut entwickelten Naturwissenschaften. Man denke nur daran, dass beispielsweise das Wetter von nur sehr wenigen Größen (Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Luftdruck, Landschaftsformation) bestimmt wird und sich dennoch Prognosen über einige Tage hinweg oder gar für konkrete Orte nicht verlässlich erstellen lassen. Entsprechend aussichtslos ist es, Entscheidungsprozesse, auf die unvergleichlich mehr Determinanten einwirken, vollständig abbilden oder gar berechnen zu wollen. Was aber nicht heißt, dass sich der Ablauf von Entscheidungsprozessen nicht erklären ließe. Eine wesentliche Hilfe ist hierbei der Rekurs auf Mechanismen und die Betrachtung der Situationskonstellationen, die geeignet sind, diese auszulösen. Man wird damit zwar immer nur bestimmte Aspekte des Entscheidungsgeschehens in den Blick bekommen, gleichwohl ermöglicht einem die Kenntnis grundlegender Mechanismen, den Verlauf von Entscheidungsprozessen besser zu verstehen und zu erklären, warum sie an diesen oder jenen Stellen diese oder jene Wendungen nehmen. Welche Rolle kommt hierbei den vielen Determinanten der Entscheidungsfindung zu, die in der einschlägigen Literatur untersucht werden? Sie sind in zweifacher Hinsicht von Bedeutung. Erstens können sie sich (im Idealfall) als zentrale Elemente von maßgeblichen Verhaltensmechanismen entpuppen, wobei allerdings 365

zu beachten ist, dass sie, wie im Kapitel 4 beschrieben, ihre Wirkungskraft nur aus dem Zusammenspiel mit den übrigen Bestandteilen eines Mechanismus gewinnen. Bedeutsam sind die Determinanten, zweitens, als Elemente eines Kräftefelds, das sich in der jeweiligen Entscheidungssituation aufbaut und entfaltet. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die in der entscheidungstheoretischen Forschung betrachteten Determinanten nur eine begrenzte Kraft haben und dass sie nicht immer und überall zur Wirkung kommen. Die empirische Forschung ermittelt in aller Regel lediglich Korrelationen zwischen den zu erklärenden Verhaltensvariablen und deren Determinanten und muss folgerichtig einräumen, dass ihnen nur ein mehr oder weniger großer Erklärungs-Beitrag zukommt. Was das genau bedeutet, dazu gibt es unterschiedliche Auffassungen. In vielen Fällen geht es einfach um Mittelwerthypothesen, d.h. man konzediert, dass die betrachteten Determinanten nicht in jedem Fall zur Geltung kommen, geht aber davon aus, dass sich im Durchschnitt doch eine Wirkung zeigen wird. Man spricht daher besser nicht vom Einfluss, der diesen Determinanten zukommt, sondern treffender von deren Einflusspotenzial. Die empirisch ermittelten Zusammenhangsmaße und Kenngrößen können dann – in dieser Interpretationsweise – als Indikatoren für die Stärke dieses Potenzials gelten. Anders ausgedrückt: Aus der Präsenz und den Werteausprägungen der verschiedenen Determinanten ergibt sich ein Kraftfeld, das dem Entscheidungsverhalten seine Richtung gibt. Damit ist zwar noch nicht endgültig festgelegt, welchen Verlauf ein Entscheidungsprozess nimmt und zu welchen Beschlüssen und Verhaltensweisen er führt, es fordert den Akteuren aber einiges ab, wenn sie sich den auf sie einwirkenden Kräften entgegenstellen wollen. So werden sich die Akteure beispielsweise schwer damit tun, nach unkonventionellen Lösungen für ein Entscheidungsproblem zu suchen, wenn ein hoher Handlungsdruck herrscht, wenn sich außerdem von vornherein eine vorgeblich bewährte Handlungsalternative aufdrängt (z.B. weil man mit ihr umzugehen gelernt hat oder weil Experten sie empfehlen), wenn die Teilnehmer am Entscheidungsprozess durch anderweitige Aufgaben alle stark belastet sind und wenn man befürchten muss, dass die umfängliche Ausarbeitung neuer Handlungsoptionen unweigerlich mit unerfreulichen Konflikten einhergehen wird. Konkret können in dieser beispielhaft angeführten Handlungssituation aber auch gegenläufige Kräfte wirksam sein. So kann die betreffende Entscheidung als besonders wichtig eingeschätzt werden, zum Beispiel, weil sie für viele sichtbar ist und ihr eine starke Symbolwirkung zukommt. Außerdem ist es möglich, dass man 366

in letzter Zeit mit allzu leichthin getroffenen Entscheidungen schlechte Erfahrungen gemacht hat, so dass man nicht mehr bereit ist, jede Entscheidung einfach durchzuwinken usw. Welches Kraftfeld sich konkret ergibt, bestimmt sich also aus der Konstellation der jeweils relevanten und präsenten Determinanten. Für eine theoretisch befriedigende Analyse genügt es allerdings nicht, diese Determinanten nur aufzuzählen und gegenzurechnen. Ganz wesentlich kommt es schließlich auch auf deren Zusammenwirken an. Dasselbe gilt in Bezug auf das Verhältnis zwischen den strukturellen und den situationsbedingten Einflussgrößen. Entscheidungsstrukturen lassen sich nicht beliebig austauschen, sie fungieren daher in gewisser Weise als Handlungsprämissen, indem sie auf der einen Seite Handlungsmöglichkeiten eröffnen und auf der anderen Seite begrenzen. In einer autokratisch geführten und durch eine apathische Kultur geprägten Organisation, in der es den dominierenden Personen primär um deren je eigene Interessen und nicht etwa um das Wohl der Organisation geht, sind unvoreingenommene und erfahrungsoffene Entscheidungsprozesse eher selten anzutreffen. Ganz unmöglich ist das aber nicht. So kann es z.B. in prekären Situationen durchaus ein verstärktes Bemühen geben, zu umsichtigen und ausgewogenen Entscheidungen zu kommen, nämlich dann, wenn allen Beteiligten klar ist, dass aus einer falschen Entscheidung großer Schaden entstehen dürfte. Allerdings sollte man sich nicht darauf verlassen, dass sich strukturelle Schwächen so ohne Weiteres durch intelligentes situationsangepasstes Agieren beheben ließen. Ohne strukturelle Abstützung kommt es leicht zu schmerzhaften Fehlentscheidungen. Eine fundierte Entscheidungsfindung braucht eine solide Entscheidungs-Infrastruktur, die Zeit, Methoden, Know-how und materielle Ressourcen bereithält. Sie braucht daneben robuste Sicherungssysteme, d.h. ein institutionell stark verankertes Regelwerk, das Willkür und Machtmissbrauch verhindert. Die Funktion von Entscheidungsstrukturen erschöpft sich nämlich nicht nur darin, Entscheidungen zu befördern, die vornehmlich den Akteuren nützen, sie sollen außerdem dafür sorgen, dass es nicht zu Entscheidungen mit Folgen zulasten Dritter kommt. Entscheidungsangelegenheiten sind immer auch moralische Angelegenheiten, weshalb die Gestaltung von Entscheidungssystemen auch eine eminent moralische Aufgabe ist. Entscheidungsprozesse nehmen ihren oft unberechenbaren Lauf, sie sollten aber eingehegt werden, so dass sich Vernunft und Verantwortung Geltung verschaffen können. 367

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