Kollektive Identitäten 9783839437247

Collective identities are not only a current social topic - but also a fundamental concept based on social and cultural

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German Pages 160 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I. Funktionen, Aspekte, Mechanismen kollektiver Identität
II. Kollektive Identitäten: Vor- und außersoziologische Konzepte (nationale Diskurse)
III. Soziologische Theorien kollektiver Identität
IV. Klassifikationen kollektiver Identitäten
V. Exemplarische Erforschungen kollektiver Identitäten
Rückblick
Anmerkungen
Literatur
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Kollektive Identitäten
 9783839437247

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Heike Delitz Kollektive Identitäten

Einsichten. Themen der Soziologie

Für J.F.

Heike Delitz (PD Dr. phil.) ist Privatdozentin am Lehrstuhl für Soziologische Theorie der Universität Bamberg und vertritt derzeit die Professur für vergleichende Gesellschaftsforschung an der Universität Bremen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Soziologische Theorie, Politische und Religionssoziologie sowie Architektursoziologie. Sie erforscht u.a. Imaginationen von Gesellschaft oder kollektiver Identität sowie Gesellschaftseffekte von Architekturen.

Heike Delitz

Kollektive Identitäten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Korrektorat: Philipp Hartmann, Leipzig Satz: Justine Buri, Bielefeld Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg Print-ISBN 978-3-8376-3724-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3724-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung  5 Dezentralität und Zentralität des Themas  5 Streit um kollektive Identitäten = Bestimmung kollektiver Identitäten  10 Vorhaben und Gliederung  18 Ziel dieses Einsichten-Bandes  20

I Funktionen, Aspekte, Mechanismen kollektiver Identität  23 Kollektive Identität = Gesellschaft  23 Drei Funktionen kollektiver Identitäten  24 Unmöglichkeit und Notwendigkeit kollektiver Identität  26 Kollektive Identität = kulturell erzeugte Identität  29 Kollektive Identität = affektiv erzeugte Identität  34 Vielfalt oder Multiplizität kollektiver Identitäten  39 Kollektive und individuelle Identität; kollektive vs. soziale Identität  43 Negative und positive Konzepte kollektiver Identität  46 (Kollektive) Identität als gegenwärtiges Leitproblem  51

II Kollektive Identitäten: Vor- und außersoziologische Konzepte (nationale Diskurse)  55 1 Frankreich: Volkssouveränität, Wahlvolk, Nation  56 Rousseau: Das mit sich identische Volk  57 Kollektive Identität bei Lévi-Strauss (und Hume)  60 Renan: Was ist die Nation?  62 Gegenwärtige Diskurse: Qu’est-ce que, l’identité française?  63 2 Anglophone Konzepte: Nation, Race, Identity Politics  66 Anderson: Die vorgestellte Nation  68 Taylor: Modern social imaginaries  69 ›Multikulturalismus‹ und ›Rasse‹: Flottierende Signifikanten kollektiver Identität  70 3 Deutsche Debatten: Von Kultur und Volk zur ›vernünftigen‹ Identität  73 Dynamiken kollektiver Identifikation in der »verspäteten Nation«  74

Herder und Fichte: Das kulturell geprägte und das politisch fehlende Volk  77 Sloterdijk vs. Habermas: Gegenwärtige Debatten  80

III Soziologische Theorien kollektiver Identität  84 1 Die Durkheim-Tradition: Die gesellschaftsstiftende Funktion der Imagination kollektiver Identität  85 Durkheim: Kollektive Repräsentation  89 Halbwachs: Kulturelle Identität oder das »kollektive Gedächtnis«  92 Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution  93 Gauchet und Lefort: Absolutismus und Demokratie  95 Laclau/Mouffe: Notwendigkeit und Unmöglichkeit von Gesellschaft als Identität  99 Deleuze: Das Werden des Volkes  101 2 Weber: Subjektiver Gemeinsamkeitsglauben und individuelle Interessen  102 3 (Post-)Marxistische Perspektiven: Ausgrenzungen und Fixierungen  106 Bourdieu: Performative Diskurse  108 Brubaker: Ethnizität ohne Ethnien  108 Balibar: Rassismus ohne Rassen  109 Strategischer Essentialismus – Identitätskampf  112 4 Luhmann: Selbstbeschreibung statt Identität  115

IV Klassifikationen kollektiver Identitäten  118 Eisenstadt/Giesen: Drei »Codes« kollektiver Identität  119 Lévi-Strauss und Descola: Identifikationen von Menschen und Nichtmenschen  123

V Exemplarische Erforschungen kollektiver Identitäten  128 Quantitative Erhebungen und Ergebnisse  128 Qualitative Vorgehensweisen und Studien  132

Rückblick  137 Anmerkungen  139 Literatur  141

Einleitung »Kollektive Identität ist zu einem aktuellen Thema geworden. Als nationale, kulturelle, regionale ethnische Identität bestimmt dieses Thema nicht nur die politische Rhetorik, sondern auch die Ziele [...] sozialer Bewegungen, begründet politische Konflikte und territoriale Ansprüche, gibt Minderheiten das Recht zum Widerstand und fordert fraglose Solidarität auch jenseits von Verwandtschaft und [...]Bekanntschaft. Eine Vielzahl von sozial- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten hat das Thema [...] aufgegriffen und Ethnizität und Multikulturalismus, Geschlecht und Nationalität in [...] Einzelanalysen behandelt.« (Giesen 1999: 9)

Dezentralität und Zentralität des Themas Diese Sätze Bernhard Giesens haben nichts von ihrer Aktualität eingebüßt und werden es vermutlich auch in weiteren Jahrzehnten nicht. Das Begehren nach, die Flüchtigkeit von, und die Kritik an kollektiven Identitäten: In diesem Buch geht es ebenso um ein hochaktuelles und brisantes Thema moderner und modernster Gegenwartsgesellschaften, wie um eines, das in vielen empirischen Gesellschaftsanalysen – in den Beobachtungen einer radikalisierten Individualisierung, Mediatisierung, Singularisierung, Ästhetisierung, Digitalisierung – kaum vorkommt. Das gilt auch für die soziologische Theorie. Eher wenige soziologische Theorien behandeln kollektive Identität expressis verbis. Eher wenige tun dies distanziert, analytisch – in der professionellen Distanz des soziologischen Beobachters und der Beobachterin. Man stößt auf Theorien kollektiver Identität zum einen eher unter verwandten Titeln, wie denen der kulturellen Identität, des kulturellen und des kollektiven Gedächtnisses oder der kollektiven Repräsentation. Stets lässt das Thema kollektive Identität zum anderen folgende historisch begründete Assoziationskette laufen: ›nationale Identität – nationalistische Identität – völkische Identität – Rassismus‹; 5

oder auch ›kollektive Identität – ethnische Identität – ethnische Säuberung‹. Zweifelsohne, Behauptungen kollektiver Identität können Gewalt zur Folge haben. Sie sind eigendynamisch und per definitionem ausgrenzend. Ohne Frage ist das Begehren danach höchst aktuell. Mitnichten handelt es sich um ein Thema der sogenannten vormodernen Gesellschaften oder um rückwärtsgewandte Sehnsüchte. Entsprechend wundert sich Shmuel N. Eisenstadt, der unter den prominenten internationalen Gesellschaftstheoretikern und -theoretikerinnen das Thema collective identity am ausdrücklichsten behandelt hat (u.a. Eisenstadt/Giesen 1995; Eisenstadt 2003), dass es nicht zumindest von den neueren Autoren prominent behandelt wurde – nachdem schon die Klassiker kaum darauf eingingen. Zentral waren von ihnen her tatsächlich stets andere Bezugsprobleme, und zentral galten ihnen andere Merkmale in der Analyse moderner Gesellschaft: »Sociological theory has only reluctantly responded to the challenge of new historical agenda which converge in the theme of ›collective identity‹: the breakdown of traditional cleavages […], the increase of international migration, the rise of new social movements, the revival of nationalism and ethnic conflicts but also the growing public attention to issues of citizenship, civility and otherness. The ›Grand Theories‹ […] rarely focused on the construction of collective identity […]. Instead, collective identity was frequently considered to be a side effect of basic social structures or as a remainder of traditional lifeworlds.« (Eisenstadt/Giesen 1995: 72)

Darüber hinaus scheinen Thematik und Begehren kollektiver Identitäten gerade innerhalb der deutschsprachigen Soziologie und ihrer soziologischen Theorie suspekt. Beides muss offensichtlich permanent dekonstruiert, als Essentialismus enttarnt und desillusioniert oder als Rassismus entlarvt werden. Und dies scheint auch nach einhundert Jahren soziologischer Theorie so, nach denen doch längst selbstverständlich ist, dass es sich bei kollektiven Identitäten um einen Identitäts-Glauben (Max Weber) handelt, um eine künstliche und kontrafaktische Homogenisierung. Demgegenüber ist auch heute der Verdacht der Verdinglichung, des Essentialismus oder der ›Ontologie‹ stets schnell zur Hand. Wenn kollektive Identitäten im soziologischen Diskurs thematisch sind, werden zudem zumeist die negativen Aspekte be6

tont: Ausgrenzung von Minderheiten, Diskriminierung, kollektive Schließung. Dagegen käme es aus Sicht der soziologischen Theorie darauf an, die Abstand nehmende Frage der strukturellen Logik von Kollektiven (Gesellschaften gleich welcher Art) zu stellen. Imagination von Einheit und Identität wird eine Antwort auf diese Frage sein – die Antwort auf die Frage, was kollektive Existenz ist, auf welche Probleme Bildungen von Kollektiven antworten, welche Aspekte sie haben. Es geht im Folgenden also immer auch um positive oder funktionale Aspekte des Begehrens kollektiver Identität. In diesem Zusammenhang hat Wolfgang Eßbach dem Historiker Lutz Niethammer (Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, 2000) einmal folgendes geantwortet: »Die Enthüllungen, die in diesem Buch vorgenommen werden, hätten […] nur diejenigen verunsichern können, die irgendwo gegen den KonstruktCharakter von Identität Vorbehalte hatten […]. Wir sind Essentialismusimmun und ziehen uns solche Schuhe nicht an.« (Eßbach 2011)

Und weiter, gerade der neutrale Begriff kollektiver Identität erlaube (im Gegensatz zu denen nationaler Identität, Volk oder Ethnie), jene neuen Kollektive zu verstehen, die sich derzeit bilden: »Kollektive Identität ist kein schließender Begriff, sondern ein Ablösebegriff, ein transitorischer Begriff« (ebd.). Tatsächlich gibt es – gegenläufig zur Einschränkung des soziologischen Blickes auf substantialistische oder rassistische Identitätsbehauptungen (auch in Gestalt des ›Rassismus ohne Rassen‹) – ja permanent, und permanent neue kollektive Identitätsbehauptungen und Kollektive. Es gibt neue kulturell sich bestimmende Kollektive, neue religiöse Gemeinschaften und vielfältige Begehren nach einem eigenen Staat. Es gibt insbesondere auch den politischen Kampf der bisher unterdrückten, beherrschten und unterworfenen Minderheiten, der Subalternen, die nun den Spieß umdrehen und gegen ihre Ausgrenzung aus den dominanten Kollektiven selbst eine offensive, strategische Identitätspolitik betreiben. Beansprucht und begehrt wird das Recht auf eine eigene Kultur, Lebensweise und Sprache im Sinne einer sich Gehör verschaffen wollenden politischen Mitsprache: Marginalisierte Einzelne schließen sich in religiösen, ethnischen oder sozialen Bewe7

gungen zusammen, behaupten eine eigene Identität, um politisch existent und nicht verstreut zu sein. Exemplarisch mag man dabei an BLM (Black Lives Matter) oder LGBT (Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender) denken: Auch dabei geht es um kollektive Identität. Und es gibt selbstverständlich hartnäckige Sehnsüchte nach nationaler Identität, wie etwa seitens der Kurden oder der Palästinenser, die aufzuklären sind. Auch mitten in Europa gelingt es, Bevölkerungsmehrheiten für Begehren kollektiver Identitäten zu gewinnen, sei es für den Brexit oder für die Eigenständigkeit Kataloniens. Oder man wird an die postsowjetischen Leerstellen denken, in denen neue ethnische Begehren, Begehren nach neuen Verwurzelungen und Wir-Gefühlen entstehen. Andererseits gibt es das Begehren nach europäischen, postnationalen, universalistischen Identitäten. All dies sind Begehren und diskursive Erzeugungen einer Identität des Kollektivs und seiner Mitglieder, deren gesellschaftsstiftende Kraft, deren Aspekte, Mechanismen und Funktionen es soziologisch zu verstehen gilt. Dabei muss man kaum noch hinzufügen, dass die mindestens zwei Jahrzehnte währende Debatte um die Migration (die keineswegs nur hierzulande geführt wird) um nichts anderes als um Fragen kollektiver Identität kreist. Genau daher spaltet sie die Bevölkerungen und politischen Kräfte in vielen europäischen Gesellschaften und darüber hinaus. Identitätsbegehren sind in dieser Debatte auf allen Seiten beteiligt: Zunächst natürlich auf der Seite derer, die ›ihre‹ bisherige kollektive Seinsweise zu schützen suchen. Eine Identität als Kollektiv, ein Kollektiv begehren aber auch die Migrantinnen, die ihre Zugehörigkeit zu einem anderen Wir weder auflösen können, noch wollen. Auf beiden Seiten handelt es sich dabei um ein Begehren nach homogenen kollektiven Identitäten – angesichts einer als unübersichtlich erfahrenen, die bisherigen Kollektive scheinbar auflösenden globalen Vergesellschaftung. Die verbreitete Wahrnehmung einer Identitätskrise, einer Auflösung und Zerstreuung des Selbst (Hall 1994) betrifft tatsächlich ja nicht allein individuelle Identitäten. Sie betrifft ebenso kollektive Identitäten, die mit jenen untrennbar verknüpft und auch deren Voraussetzung sind. Fraglos gibt es auch das entgegengesetzte Begehren: die Wahrnehmung der Krise als Chance und die Hoffnung, jede kollektive Identität zerstreuen zu können, ein jedes Kollektiv zu enthomogenisieren. Es gibt das Begehren, 8

die eigene Gesellschaft, Kultur und Person hätten keine Identität, seien vielfältig, multipel, hybrid und damit inklusiv. Auch dies indes kann man als eine bestimmte Identitätsform verstehen – als jene, in der die Identität in der Differenz besteht, in der Zustimmung zur Multikulturalität und Verschiedenheit. Auch dies ist ein Begehren nach einem bestimmten Kollektiv. ›Multikulturalismus‹ meint in einer ersten Version gerade die Anerkennung kulturell bestimmter kollektiver Minderheiten innerhalb einer Mehrheitsgesellschaft; aber auch in der zweiten Konnotation, in der ›Multikulturalität‹ Hybridität oder Transkulturalität bedeutet, werden Vorstellungen einer guten Gesellschaft entworfen, wird bestimmt, was deren Identität ausmachen soll, werden andere Bestimmungen des Kollektivs und seiner Mitglieder verworfen. Es werden namentlich all jene als nicht zugehörig verstanden, die rassistisch, xenophob, ethnizistisch oder nationalistisch argumentieren. Kurz, auch alle nicht auf Homogenität zielenden sozialen Bewegungen erzeugen aktiv eine bestimmte Gesellschaft, verändern die kollektive Existenz, imaginieren eine Identität des Kollektivs. Unter Umständen können sie selbst als »kulturessentialistisch« problematisiert (Reckwitz 2001), oder als »Neorassismus« entlarvt werden (Balibar 1990a im Blick auf die eurozentrische Menschenrechtsidee). Ohne soweit gehen zu müssen, kann man mit Eisenstadt und Giesen (1995) sowie Giesen (1999) für dieses Begehren gleichwohl von einem eigenen, dem ›universalistischen Code‹ kollektiver Identität sprechen. Auch hier handelt es sich um eine hegemoniale und heteronome (als unverfügbar gedachte) Bestimmung des gesellschaftlichen Seins. Auch hier geht es um die Formung von Subjekten. Auch hier wird die Identität des Kollektivs auf einen letzten Grund gestützt, der weder begründet werden kann, noch muss. »Wir werden gleich auch über Erstaufnahmeeinrichtungen, Bearbeitungsdauer, Rückführungen, faire Verteilung in Europa, sichere Herkunftsländer, Bekämpfung von Fluchtursachen sprechen. Das müssen wir auch. Aber wir werden vorher darüber sprechen müssen, was uns eigentlich leiten sollte und was auch mich bewegt […]. Die allermeisten von uns kennen den Zustand völliger Erschöpfung auf der Flucht, verbunden mit Angst um das eigene Leben oder das Leben der Kinder oder der Partner, zum

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Glück nicht. […] Deshalb müssen wir beim Umgang mit Menschen, die jetzt zu uns kommen, einige klare Grundsätze gelten lassen. Diese Grundsätze entstammen […] unserer Verfassung. Erstens. Es gilt das Grundrecht politisch Verfolgter auf Asyl. Wir können stolz sein auf die Humanität unsres Grundgesetzes. […] Der zweite Grundsatz ist die Menschenwürde eines jeden. Das ist ein Grundsatz, den uns schon der Artikel 1 des Grundgesetzes aufgibt. […] [W]ir achten die Menschenwürde jedes Einzelnen, und wir wenden uns mit der ganzen Härte unseres Rechtsstaates gegen die, die andere Menschen anpöbeln.« (Merkel 2015)

Nicht nur im Versuch einer Bestimmung der deutschen Identität, des ›Britishness‹ oder der Frage, was es bedeutet, Franzose zu sein;1 auch in der Abwehr solcher national bestimmten kollektiven Identifizierungen werden spezifische Vorstellungen der kollektiven Existenz behauptet und wirksam, bestimmen sie Selbstbilder und Politiken. Auch hier werden Begehren kollektiver Identität erfüllt und andere ausgeschlossen, solche, die sich auf andere Modi kollektiver Existenz, auf einen anderen ›Code‹ (Eisenstadt/ Giesen) beziehen. Und wie die Berufung auf das Volk, die staatsbürgerschaftlich definierte Nation oder die geteilte regionale oder ethnische Herkunft nicht weiter begründet werden muss, ebenso wenig muss der Wert der Individualität, der von allen geteilten Menschenwürde noch weiter fundiert werden. Menschenwürde und Volk: Es sind dies zwei jener letzten Signifikanten, auf die moderne demokratische Gesellschaften ihre Identitätsvorstellungen stützen, und es sind (wie wir noch sehen werden) nicht zufällig diese beiden Gründe und kollektive Bestimmungen, die aktuell die Bevölkerungen spalten. Sie sind vielmehr die einander notwendig konträren, und gleichermaßen zentralen Vorstellungen der ›Identität‹ moderner Demokratien.

Streit um kollektive Identitäten = Bestimmung kollektiver Identitäten Die Tatsache, dass ›wir‹ – versteht man darunter einmal die Subjekte westeuropäischer Gegenwartsgesellschaften einschließlich der bundesdeutschen – uns um kollektive Identität permanent streiten; dass wir (seit Jahrzehnten und mit durchaus turbulentem Beginn2) Diskurse über, für und wider die Leitkultur führen; 10

dass wir diskutieren, ob es kollektive Identität überhaupt gibt und geben darf – all diese Tatsachen lassen sich selbst als identitätserzeugend verstehen. Eine kollektive Identität ist ja gerade nicht substantiell gegeben, was nach allen Erörterungen dazu gar nicht mehr weiter betont werden muss. Sie ist, wie schon Max Weber formulierte, stets konstruiert. Sie ist imaginär und muss daher permanent diskursiv und symbolisch aktualisiert werden, in kulturellen Artefakten, in politischen Praxen, in Erzählungen und Legendenbildungen. In diesen sprachlichen und nichtsprachlichen Diskursen verändert sich permanent die Füllung dessen, was als Identitätsbestandteil verstanden wird. Zudem herrscht darüber nie Einigkeit. Und ebenso wenig ist abschließend aufzählbar, was einen identisch mit den anderen macht, was genau alle teilen müssen (im Gegensatz zur Mitgliedschaft in einer formalen Organisation). Die Angewiesenheit auf ständige Aktualisierung gilt für alle Formen von Kollektiven und Modi kollektiver Identität – für totemistische Clans wie für ethnisch sich bestimmende Kollektive; oder für die neuen ›Stämme‹, die Michel Maffesoli (1988) hervorhebt, also subkulturelle Kollektive. Auch wenn diese vergleichsweise ephemer sein mögen, müssen sie gleichwohl ihrerseits etwas Geteiltes behaupten und haben sie eine Herkunftserzählung und ein Projekt. Dabei unterscheiden sich die Weisen, die eigene Identität zu imaginieren, Herkunft und Dauer in der Zeit und geteilte Eigenschaften zu behaupten, ebenso wie die Weise, andere als Andere zu behandeln. Es gibt hier ein Spektrum von kollektiven Möglichkeiten, nicht zuletzt im Blick auf die Diskutierbarkeit der eigenen kollektiven Bestimmung und auf die Flexibilität der Grenzziehung. In dieser Hinsicht haben etwa Bernhard Giesen und Robert Seyfert (2016) Gesellschaften, die sich im demokratischen, pluralistischen politischen Diskurs konstituieren, solchen gegenübergestellt, die religiös fundiert sind: In Gesellschaften, deren Verfassung auf Gott als Souverän fundiert ist (statt auf Volk und Individuum), wird die kollektive Identität durch einen »mysteriösen« Signifikant letztbegründet. Konflikte um die kollektive Bestimmung werden so systematisch gebannt. Gott bleibt radikal entzogen, die Ausdeutung seiner Gebote unterliegt strikten Rede-, Bilder- und Denkverboten. Pluralistische Kollektive hingegen geben sich »rätselhafte« letzte Bedeutungen, die zu ständigen Dis11

kursen um die eigene Identität gerade auffordern. In diesen Gesellschaften ist kollektive Identität »both an empty signifier and a sacred center: even as its existence is taken for granted, what is or should be is subject to a host of different and often conflicting interpretations. However, the narratives and representations of collective identity are in no way undermined by these public debates; these signifiers are seen rather as a problem that is in principle amenable to solution, as something that ought to be (re)solved. In fact, the empty signifiers of collective identity are constructed as solvable secrets precisely and primarily in public speech, open debate and perpetual critique.« (Giesen/ Seyfert 2016: 111)

Die Diskurse lösen dabei die Identitätsvorstellung nicht etwa auf. Sie erzeugen immer erneut die Illusion, es gäbe etwas, um das zu streiten sich lohne, das bestimmbar sei. Sie haben selbst eine positive, identitätsstiftende Funktion. So impliziert etwa der Streit um die Leitkultur die Auffassung, dass es sich genau darum zu streiten lohne; er verstärkt den Eindruck, es sei prinzipiell möglich, die Identität zu bestimmen. Und wie erwähnt, impliziert eben auch die vollständig negative Behauptung, es gäbe keine kollektive Identität, es handelte sich dabei um eine gefährlich substantialistische Ideologie, selbst eine Bestimmung des Kollektivs. Hier spricht das Begehren, nicht an so einem Kollektiv teilhaben zu wollen, Andere anders behandeln zu wollen, anders werden zu wollen. Auch darin liegt ein Beitrag, das »Rätsel der kollektiven Identität« durch deren Bestimmung zu lösen. Man könnte zudem sagen, in den Diskursen um Identität (und nirgendwo anders) besteht diese selbst, die gleichwohl prinzipiell unbestimmbar, unvollständig und »opak« bleibt. Genau deshalb muss sie immer erneut repräsentiert, imaginiert und diskutiert werden. Wir sind zwar »sicher, dass wir existieren, aber wir sind unfähig, eine erschöpfende Beschreibung unserer Identität zu geben – als Person, Nation, Familie oder ethnische Gruppe. Jeder Versuch solch einer Beschreibung wird notwendig unvollständig und umstritten sein.« (Ebd. 112f., dt. HD)

Jeder Bestimmungsversuch wird als falsch zurückgewiesen werden können. Insofern bildet in Gesellschaften, die sich im Politi12

schen, im Wettstreit der Bestimmungen konstituieren, der Streit um die Identität deren »Zentrum« (ebd.). Das gilt nun auch für den soziologischen Diskurs. Wenn Soziologinnen jeden Begriff der kollektiven Identität für problematisch halten, wenn sie diesen aus dem disziplinären Vokabular streichen wollen; wenn sie darüber hinaus betonen, dass es keine Gesellschaft und keine Gruppen gibt (Brubaker 2007); wenn sie – im Kontext soziologischer Theorie eigentlich überflüssigerweise – insistieren, dass Gruppen »nicht als ›Super-Subjekte‹ aufgefasst werden dürfen«, und jede Vorstellung einer Einheit einen »ideologischen« Charakter besitzt (Rosa 2008: 530); wenn sie noch jede Nennung einer Region als performativ, als klassifizierend und identitätsbehauptend verstehen: dann gehört dieser Diskurs selbst zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, die er zu gestalten sucht. So sollte die Soziologin (so Bourdieu) selbst in der scheinbar neutralen Analyse etwa regionaler Identitäten »nicht vergessen, dass diese Kriterien Objekte mentaler Vorstellungen sind, in denen politische Akteure ihre Interessen und Vorannahmen investieren […]. Kämpfe um die ethnische oder regionale Identität sind […] Kämpfe um die Macht, Menschen glauben und sehen zu machen, sie wissen zu lassen, ihnen eine legitime Definition der Teilungen der sozialen Welt aufzuzwingen – Gruppen entstehen zu lassen und aufzulösen« (Bourdieu 1992: 220f., dt. HD).

Bereits die Verwendung bestimmter Begriffe wie ›Ethnie‹ und ›Region‹ erzeuge Gruppen. Die Rede von Kollektiven ist aus dieser Sicht ein »magischer« Akt, weit entfernt, eine »ineffiziente Fiktion« zu sein: Auch die scheinbar »neutralsten Verdikte der Wissenschaft tragen dazu bei, das Objekt der Wissenschaft zu verändern« (ebd. 225f., dt. HD). Der Diskurs über kollektive Identitäten ist ein performativer Diskurs. Das gilt auch für den, den Bourdieu selbst vollzieht. Noch einmal anders ausgedrückt: Weil die Rede von einer jeden kollektiven Identität Imaginäres betrifft, dessen Existenz in der ständigen diskursiven und symbolischen Aktualisierung besteht, daher ist die Debatte der soziologischen Theorie stets eine, die sich auf die kollektive Existenz selbst auswirkt. Die soziologischen Befunde (z.B. im Eurobarometer) handeln von imaginären 13

Zugehörigkeiten, und die sozialwissenschaftlichen Konzepte der Identität haben ihrerseits Effekte auf Imaginationen – und streben diese an. Das gilt insbesondere für den postkolonialen, den dekonstruktiven und den poststrukturalistischen Diskurs und die sich daraus speisenden identitätspolitischen Bewegungen. Der Begriff der Identitätspolitik verweist dabei auf eine kritische politische Bewegung: Die (bereits angesprochenen) Beherrschten, Marginalisierten und Diskriminierten suchen, die negativen Zuschreibungen seitens der (scheinbar homogenen, konservativen, imperialistischen) Mehrheitsgesellschaft zurückzuweisen, indem sie selbst positive Selbstbeschreibungen – kollektive Identitäten – formulieren. Ein solcher Diskurs (der Marx’ Forderung nach einem proletarischen Klassenbewusstsein entspricht) ist etwa der feministische Diskurs, oder auch der der subaltern studies – in der doppelten Bewegung der Dekonstruktion jeder zugeschriebenen kollektiven Identität (als ausgrenzende und unterwerfende Fixierung des Subjekts, als normierende Homogenisierung) und der Konstruktion einer neuen Identität. Die Motivation, als Kollektiv aufzutreten, eine Identität (als Frau, Arbeiter, Nation) zu behaupten, ist dabei eine genuin politische: Anders, verstreut haben die beherrschten Einzelnen schlicht keine Möglichkeit, sich zu artikulieren. In diesem Sinn ist die identitätspolitische Bewegung strategisch essentialistisch, erfindet aus politischen Gründen eine kollektive Identität – ist Politik der Desingularisierung. »Since one cannot not be an essentialist, why not look at the ways in which one is essentialist, carve out a representative essentialist position, and then do politics according to the old rules whilst remembering the dangers in this?« (Spivak 2009: 45)

Trotz aller strategischen Qualität führt dies zu Identitätseffekten, entstehen kollektive Identitäten, verselbständigen sich Narrative. Identitätspolitik ist immer auch eine ›Identitätsfalle‹: Eine Identität zu behaupten, ein Sein zu behaupten, das heißt, sich die Möglichkeit des Anders-Werdens zu verwehren, wie es Bergson oder Deleuze formuliert hätten. Und erneut schließt dies andere aus. Es ist aber auch eine Falle, weil auch jede Bewegung von rechts explizit identitätspolitisch agiert. Fraglich mag sein, ob hier eine ironische, dekonstruktive Selbst-Distanz möglich ist; klar ist in jeden 14

Fall, dass sich diese Identitätspolitik gerade nicht auf die universalistische Idee der individuellen Menschenrechte bezieht, sondern auf die entgegengesetzten, eindeutigen und partikulären Kollektive. Bereits vom Titel her muss man an die ›Identitären‹ denken. Gewissermaßen eine (indes wenig wirksame) Tarnkappe aufsetzend, berufen sich diese heute weniger auf eine nationale, als auf die kulturelle europäische Identität (gegenüber ›dem Islam‹). Dasselbe assoziiert auch der selbstgewählte Name derjenigen sozialen Bewegung, welche die Diskussion um kollektive Identität hierzulande beherrscht: Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes. Der Anerkennungskampf, die identitätspolitische Bewegung ist eben keineswegs allein eine Sache von links. Insofern »verdunkelt« die soziologische Bewegungsforschung die gesellschaftsweite »Bedeutung der Identitätspolitiken«, wenn sie sich allein auf die linken Bewegungen konzentriert (Calhoun 1994: 22, dt. HD): Sie ignoriert, dass auch ganz andere soziale Kräfte identitätspolitisch agieren. Es gibt eben auch eine ›weiße Identitätspolitik‹, die der Rechtspopulisten an vielen Orten, die die Identität ›des Volkes‹ zu kennen glauben und zu vertreten beanspruchen (Müller 2016). Und wie erwähnt ließe sich schließlich auch die Identitätspolitik der Vielfalt, des uneinheitlichen, hybriden und heterogenen Kollektivs als solche verstehen. Auch hier werden Grenzen gezogen und wird Identisches konstruiert – und sei es die Identität der Differenz. In ihrer Friedenspreisrede tritt etwa Carolin Emcke für eine Identität der Vielfalt ein, die sich auf die Idee der Menschenrechte bezieht, für ein Kollektiv, das in diesem Imaginären seine Einheit, seinen Grund findet. Dabei verknüpft sie nun das Projekt einer solchen Identitätsbildung mit der Abwehr von Religion, religiös fundierter kollektiver Identitäten: »Menschenrechte sind voraussetzungslos. Sie können und müssen nicht verdient werden. […] Wir dürfen uns nicht nur als freie, säkulare, demokratische Gesellschaft behaupten, sondern wir müssen es […] sein. […] Säkularisierung ist kein fertiges Ding, sondern ein unabgeschlossenes Projekt.« (Emcke 2016, vgl. dies. 2017)

Im Spektrum zwischen dem Begehren einer substantiell und homogen bestimmten kollektiven Seinsweise und der Abwehr jeder Identitätszuschreibung oder der Identitätsbestimmung als 15

Vielfalt gibt es auch einen neuen affirmativen Diskurs zur nationalen Identität, eine Politik fordernd, die sich an alle »Amerikaner als Amerikaner« wendet, einen Liberalismus, der zur »Nation als Nation von Bürgern« spricht – statt verstreuter und sich gegenseitig Konkurrenz machender Minderheiten. Mark Lilla hat dies in der New York Times angesichts des Wahlsiegs von Donald Trump geschrieben, angesichts vieler Spaltungen die zivilbürgerliche Identifizierung erneut mit Anziehungskraft versehen wollend (Lilla 2016). Und auch diese Stiftung des Gemeinsamen wird sofort zurückgewiesen. Auch in ganz anderen, etwa den Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens wird um kollektive Identität gerungen (vgl. Robert u.a. 2010). Man könnte für das bleibende und aktuell virulente Begehren nach kollektiver Identität ebenso (wie bereits erwähnt) den Brexit nennen. Und weiter, auch die Weigerung so unterschiedlicher Regierungen und dominanter politischer Kräfte wie der USA, Australiens oder der osteuropäischen Nationen, auch nur die geringste Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen; die irische oder die baskische Unabhängigkeitsbewegung; die palästinensische Suche nach dem Staat; der islamische Terrorismus; ethnische Säuberungen in Vergangenheit und Gegenwart: Sie alle künden von der nicht auflösbaren, sondern vielmehr aufzuklärenden Sehnsucht nach dem selbstbestimmten, und zugleich andere unterscheidenden ›Wir‹. Kurz, um kollektive Identitäten scheint das Politische nicht herumzukommen. Die Frage ist hier eher, wie das Kollektiv bestimmt wird: welche Identität in der Zeit und welche Einheit der Mitglieder bestimmend ist, auf welchen Grund sich diese Bestimmung beruft, und wie demnach die Eigenen und die Anderen behandelt werden. Um kollektive Identitäten kommt man aber auch in der soziologischen Theorie und Analyse nicht herum. Denn Gesellschaften, Kollektive, kollektive Existenz schlechthin – und damit auch: individuelle Personen oder Subjekte – sind gar nicht anders möglich. Kollektive als solche müssen sich, so werden wir jedenfalls mit Cornelius Castoriadis und verwandten Autorinnen argumentieren, imaginär fixieren. Sie müssen eine geteilte Identität ihrer Mitglieder fabulieren. Gesellschaft oder kollektive Existenz setzt zudem voraus, sich von anderen Kollektiven zu unterscheiden, um die eigene Identität zu behaupten. Auch scheint es bisher für alle Kollektive unabdingbar, sich auf einen Grund zu berufen, und 16

mit ihm die eigene Notwendigkeit zu behaupten – statt die eigene historische Kontingenz anerkennen zu können. Ebensowenig scheint es für eine jede kollektive Existenz möglich, die Heterogenität ihrer Mitglieder unkommentiert zu lassen und der Veränderlichkeit ihrer Institutionen, Praxen, Werte, und Subjekte keinen Sinn zu unterlegen. All dies sind Imaginationen, Behauptungen, die kontrafaktisch bleiben. Weder gibt es eine Identität in der Zeit, noch eine Einheit der Mitglieder, noch etwas, das der Gesellschaft vorhergeht. Es ist in diesem Sinn ein postessentialistischer oder postfundamentalistischer Blick, der hier auf die Virulenz und Vielfalt kollektiver Identitäten fällt. Es interessieren die Mechanismen und Aspekte kollektiver Identitätsbehauptung oder -fiktion, es interessieren verschiedene Aspekte und Konzepte, es interessieren differente Wege empirischer Forschung. Dabei entzieht sich das Thema zunächst jeder Übersicht. Ungeachtet der erwähnten Zurückhaltung soziologischer Theoriebildung ist die Publikationslage gerade zu empirischen Fällen ausufernd, insbesondere aus den historischen Disziplinen. Ausufernd ist die Publikationslage auch in der politischen Theorie. Und ausufernd oder wenig übersichtlich wird das Ganze zudem dadurch, dass die Begriffe schwanken, unter denen das Thema soziologisch diskutiert wird. Schließlich sind die Grenzen zwischen Theorie, Analyse und Engagement ausgesprochen porös. Eine grafische Darstellung der ›Klumpen‹ der wissenschaftlichen Debatte um kollektive Identität würde sicher zum einen ein Übergewicht historischer Rekonstruktionen zeigen – vor allem nationaler, aber auch ethnischer Identitätsfiktionen. Zweitens würde sich die Dekonstruktion kollektiver Identitäten als mehrheitliche Praxis soziologischer Theorie erweisen. Auch das Thema Identitätspolitik wäre sicher stark vertreten. Die verfügbaren Lexikonund Handbuchartikel indes helfen in einer solchen Ordnung der Diskurse wenig weiter – nicht zuletzt, weil die Themen ›individuelle‹ und ›kollektive Identität‹ nur allzu oft ungetrennt behandelt werden. Unter Identitätskrise wird oft die der Person verstanden, unter dem Eintrag ›soziale Identität‹ geht es um sozial erzeugte individuelle Identitäten, von denen kollektive Identitäten wiederum kaum sorgfältig getrennt werden. Das zeigt sich auch an den Lemmata. Nur wenige Einträge in Lexika der Sozialwissenschaften thematisieren ausdrücklich kollektive Identität – oder wenn, dann 17

allein in solchen sozialer Bewegungen. »Das Konzept der kollektiven Identität entstand in den 1980ern in der europäischen Theorie neuer sozialer Bewegungen«, heißt es bei Whooley (2007: 586, dt. HD): Das ist eine recht idiosynkratrische Verortung das Themas.

Vorhaben und Gliederung Wir schlagen nun eine strikt soziologische, und genauer, eine strikt gesellschaftstheoretische Schneise durch das Feld der Identitätsthematik. Es interessiert ausschließlich: Was ist ein Kollektiv, was bedeutet und wie konstituiert sich kollektive Existenz als solche und welchen Status hat die Behauptung kollektiver Identität hierfür? Und weiter, wie überlappen sich die differenten Kollektive; wie verändern sich Identitätsbehauptungen; woran knüpfen sich die Imaginationen einer kollektiv geteilten Identität in der Zeit und einer Einheit der Einzelnen? Dabei geht es in keinem Fall um die Vorstellung eines Kollektivs, das tatsächlich eine Identität besitzt. Es geht um die wirksamen Vorstellungen, die sich kontrafaktisch auf ›Identität‹ beziehen. Mit anderen Worten, bei kollektiver Identität geht es um einen Inhalt: Das Kollektiv ist das herzustellende, behauptete Objekt – nicht das Subjekt, das eine eigene Identität besitzt.3 Die Einheit ist immer fiktiv und prekär – und nie substantiell und stabil. Weiterhin wird in diesem Band weder eine Sozialpsychologie, noch Sozialphilosophie vorgestellt. Es geht um soziologische Theorien kollektiver Identität (explizit oder in anderen Begriffen). Dabei werden sowohl Konzepte, die sich als positive Theorien der kollektiven Identität ordnen lassen, als auch solche interessieren, die im Vergleich dazu als negative Konzepte erscheinen – solche, die das Begehren nach kollektiver Identität und die Vielfalt der Kollektive analytisch untersuchen; und solche, denen es um eine Dekonstruktion des Begriffes und Kritik des Phänomens geht. Der erste Teil (I) macht zunächst das Spektrum sichtbar, in dem das Thema kollektive Identität behandelt werden muss: die differenten Aspekte der Identitätsvorstellung, die kulturellen Mechanismen, die Gründe und Folgen überblickend. Es geht hier um eine erste Andeutung jener spektralen Konzeption kollektiver Identität(en), die dann im Durchgang durch die Theorietraditionen und Forschungen insgesamt sichtbar wird. Sodann (II) geht es – zumindest in Andeutung einer gesellschaftlichen Kon18

textualisierung – um differente nationale Genealogien, Theoriesprachen, Blicke auf kollektive Identitäten. Wie unterscheiden sich die nationalen Traditionen, wenn sie von nationaler Identität sprechen, und wie unterscheiden sich soziologische Konzepte kollektiver Identität von vor- und nicht-soziologischen? Dieses Kapitel ist am wenigsten erschöpfend. Es ist ausgesprochen punktuell und selektiv, denn hier müsste es um die Darstellung der politischen Geschichte, des Beitrags der Intellektuellen zur Bildung kollektiver Identitäten gehen, auch um eine sozialphilosophische Perspektive, um die Geschichte normativer Vorstellungen. All dies kann hier nicht geleistet werden. Wir verweisen stattdessen auf die im letzten Block – wiederum punktuell – angesprochenen historischen Fallstudien und insgesamt etwa auf die »Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit« (Giesen 1991, 1993, 1999, Berding 1994, 1996) oder das Wörterbuch der Geschichtlichen Grundbegriffe mit dem Eintrag zu Volk, Nation, Masse. Die Konzentration liegt auf den soziologischen Theorien kollektiver Identität, die im dritten Teil dargestellt werden (III). Zwar geht dieser Teil zunächst gleichermaßen von Émile Durkheim und Max Weber aus. Wegen der ungleich stärkeren Konzentration, die in der Durkheim-Tradition auf dem Kollektiv liegt, wird aber sofort eine Unwucht auffallen. In der Tradition Webers gibt es vergleichsweise wenig Konzepte. Diese werden dafür nahtlos ergänzt durch das ebenso dekonstruierende Interesse marxistischer Soziologien; sowie durch Luhmanns Konzept kollektiver ›Selbstbeschreibung‹. Durkheim und Weber haben unter dem Begriff des ›Kollektivbewusstseins‹ respektive des ›ethnischen Gemeinsamkeitsglaubens‹ konträre Theoriebildungen kollektiver Identität ausgelöst, die anderen Aufmerksamkeiten folgen und sich daher ergänzen. Der Unterschied liegt – auch hier – letztlich darin, vom Gesellschaft konstituierenden Akteur oder vom gesellschaftlich konstituierten Subjekt auszugehen. Beides sind bleibende und nicht aufeinander reduzierbare Möglichkeiten soziologischer Theorie. Im Blick auf kollektive Identitäten unterscheiden sie sich darin, ob nach der Funktion kollektiver Identitätsimagination und den Mechanismen, die dabei beteiligt sind, gefragt wird – oder ob die Aufmerksamkeit auf individuellen Interessen oder Konstruktionsleistungen liegt (z.B. der Anteil Intellektueller an kollektiven 19

Identitäten). Kurz, es geht hier um die Entscheidung, eher positive oder negative Konzepte kollektiver Identität zu entwerfen, sich für Kollektiv-stiftende oder ausgrenzende Aspekte zu interessieren. Es gibt verschiedene Modi kollektiver Existenz, differente Identitätsvorstellungen. Nicht alle gleichen der national gedachten, nationalisierten Gesellschaft. Daher war uns der Titel Kollektive Identitäten wichtig (aber auch aus dem Grund, dass jeder von uns an mehreren Kollektiven teil hat und je anders wird). Im vergleichenden Blick auf ganz andere Modi der Fabulation von Kollektiven wird das ganze Spektrum der Möglichkeiten, ›Gesellschaft‹ zu bilden, deutlich (IV): Auch totemistische Gesellschaften fabulieren eine Identität und Einheit ihrer selbst – die Identität mit dem Totemtier. Mitnichten sind Begriff und Begehren kollektiver Identität also an den Nationalstaat gebunden. Ebenso wenig geht es immer um einen (und sei es: kulturellen oder »differenzialistischen«, Balibar 1990a) Rassismus, also die Vorstellung, eine bestimmte Gemeinsamkeit sei ›von Natur‹ aus gegeben. In Bezug auf die totemistischen oder auch animistischen Kollektive jedenfalls hat diese Bestimmung keine Bedeutung – Natur und Kultur sind hier ganz anders verteilt (Descola 2011). Auch der Gesellschaftsbegriff führt nicht notwendig einen ›methodischen Nationalismus‹ mit sich – verwendet man ihn für alle Modi von Kollektiven, auch etwa für ›gegenstaatliche‹ Gesellschaften (Clastres 1976). Im Blick auf gegenwärtige Begehren kollektiver Identität; auf aktuelle gesellschaftlichen Diskussionen und Spaltungen und deren empirische Erforschung werden abschließend und wiederum sehr punktuell (V) sowohl quantitativ als auch qualitativ angelegte Forschungen referiert: selektiv, angesichts der unüberblickbaren Vielfalt von soziologischen, ethnologischen, kulturwissenschaftlichen, geschichtswissenschaftlichen, archäologischen Erforschungen bestimmter Kollektive; und lediglich gedacht als Einführung in differente methodische Zugänge.

Ziel dieses Einsichten-Bandes All dies dient einem analytischen Ziel. Als Aufgabe der Soziologie verstehen wir auch bei diesem Thema: soziologische Aufklärung. Aufzuklären ist der konstruierte Charakter einer jeden kollektiven Identität. Aufzuklären ist das scheinbar omnipräsente Begehren 20

danach. Aufzuklären sind die Funktionen der Behauptung und der Bestreitung kollektiver Identität. Aufzuklären ist die Bedeutung des Symbolischen, der Mythen, der Denkmäler, der Fahnen und Hymnen, der Tätowierungen und Rituale. Aufzuklären sind die Unterschiede kollektiver Identitäten. Aufgabe einer soziologischen Betrachtung kollektiver Identitäten ist es ebenso, die diskriminierenden und ausgrenzenden Folgen von Identitätsvorstellungen zu thematisieren, wie die emanzipativen, integrierenden und inkludierenden Effekte und Dynamiken. In all dem verstehen wir Vokabular und Konzepte kollektiver Identitäten als eine Antwort auf eine grundlegende soziologische Frage: diejenige nämlich, wie das Soziale überhaupt zu verstehen und zu beschreiben ist, woraus es besteht – was der Gegenstand der Soziologie eigentlich ist, und welche Unterschiede und gegenwärtige Tendenzen darin spezifisch auffallen. Es geht auch um die grundlegende Frage, wie Gesellschaft und Subjekt verbunden sind. Kurz: Es geht um die Aufklärung kollektiver Existenz. Konzepte kollektiver Identität können deutlich machen (oder zu Denken geben), dass eine jede Gesellschaft, jedes Kollektiv ebenso unmöglich ist (kontrafaktisch), wie es genau daher notwendig eine Identitäts- und Einheitsvorstellung braucht. Oder erneut mit Bernhard Giesen gesprochen: Jedes Kollektiv basiert auf dem »Glauben an einen verbindenden und verbindlichen, sakralen Kern des ›Wir‹« (Giesen 2016: 8). Ein Wir-Bewusstsein ist das, was kollektive Identität prinzipiell meint – und dieses ist das »strukturierende Element« einer jeden sozialen Ordnung. Dabei ist das ›Wir‹ nie gegeben, die Identität in der Zeit ist ebenso wie die Einheit immer flüchtig. Beide sind Resultat einer permanenten Anstrengung. Da realiter different, uneinheitlich und veränderlich, steht im »Zentrum« jeder Gesellschaft oder jedes Kollektivs die »Arbeit am Geheimnis« (Giesen/Seyfert 2013), die gemeinsame Arbeit an dieser »Illusion des ›Wir‹« (Giesen 2016: 8f.). Im Zentrum der Gesellschaft steht der bereits angesprochene permanente Versuch, deren ›Rätsel‹ (Giesen/Seyfert 2014; Seyfert 2014) zu lösen, ihre Identität auszusagen – was jedenfalls in pluralistischen Gesellschaften wie den modernen Demokratien weder gelingen wird, noch unterlassen werden kann. Kurz, statt die »Idee eines kollektiven Ganzen zu denunzieren«; statt den Gesellschaftsbegriff aufzulösen; statt jede Debatte über Gesellschaft wie kollektive Identität als »analytical error« zu 21

behandeln (Giesen/Seyfert 2016: 111); statt die damit verknüpften Begehren und Bewegungen zu denunzieren – wollen wir eine analytische Beobachtung kollektiver Identitäten anleiten. Sie zielt darauf, differente Funktionen kollektiver Identitätsbehauptung ebenso sichtbar zu machen, wie die kulturellen und sozialen Mechanismen, in denen diese ›Identität‹ imaginiert, stabilisiert, transformiert wird. Es geht ebenso darum, die innenpolitischen, nämlich subjektformenden und solidarisierenden Effekte in den Blick zu bekommen, wie die außenpolitischen Effekte (die Verungleichungen und Ausgrenzungen). Es geht um Paradoxien des Sozialen – um Identität durch Differenz, um Notwendigkeit und Unmöglichkeit, um Fabulation und deren Wirksamkeit. Es geht schließlich um den heiligen Ernst, mit dem Fragen kollektiver Identität verknüpft sind. Im Streit um, in der Verlustangst, im Kampf für eine kollektive Identität erweisen sich Viele als wenig ironiefähig: über diese sozialen Dinge lässt sich kaum lachen.

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I Funktionen, Aspekte, Mechanismen kollektiver Identität Wozu braucht es ein Wir-Bewusstsein, wie erzeugt es sich, welche Aspekte weist es auf? Wie wird dadurch die individuelle Existenz, das Subjekt geformt, und wer ist andererseits Träger dieser subjektformenden Identifikation? Auf solche Fragen muss eine soziologische Theorie der kollektiven Identität oder von ›Gesellschaft‹ Antworten geben, und zwar solche, die in sich kohärent und umfassend sind. Über die Aktualitätsbezüge hinaus ist die Frage kollektiver Identität auch und nicht zuletzt: ein Grundthema soziologischer Theorie oder Allgemeiner Soziologie.

Kollektive Identität = Gesellschaft Die Formulierung ›kollektive Identität‹ lässt sich nämlich durch eine zweite, in der soziologischen Theorie ungleich präsentere ersetzen: Gesellschaft. In Imaginationen kollektiver Identität geht es um Imaginationen von Gesellschaft, und zwar in verschiedener Hinsicht. Nun gibt es in der soziologischen Debatte von Beginn an einen Streit um den Gesellschaftsbegriff. Es gibt immer erneut die Vorwürfe des Mystizismus und Essentialismus oder der Ontologie. Und es gibt einen gewissen Trend zur Verabschiedung des Begriffes, zumindest in allen handlungstheoretischen, Akteurs-zentrierten Ansätzen im Anschluss an den methodologischen Individualismus von Max Weber. Ähnliches gilt für Bruno Latour, der den Gesellschaftsbegriff als einen kritisiert, in dem bereits alles (›metaphysisch‹) vorausgesetzt sei, was doch erst zu erklären wäre. Auch enthalte der Gesellschaftsbegriff nie Artefakte und andere Nichtmenschen. Die Formulierungen der Fabulation, der Imagination oder der Behauptung kollektiver Identitäten nun sind solchen Vorwürfen per se enthoben – sie sind ›Essentialismus-immun‹ (Eßbach). Und wenn eine der zentralen theoretischen Fragen der Soziologie die nach den Mechanismen und Eigendynamiken der Institutionen ist, nach ihren subjektformenden Wirkungen, nach der sozialen Logik und Struktur kollektiver Tatsachen, dann ist die Frage kollektiver Identität immer schon gestellt. Die Frage nach dem Charakter des Sozialen, der Gesellschaft oder des Kollektivs ist auch die Frage kollektiver Identitätsvorstellungen. Und auch die gesellschaftsanalytische Frage, die nach dem spezifisch modernen 23

und gegenwärtigen Existenzmodus von Kollektiven; die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben, verweist zumindest in einer Richtung ihrer Antwort auf den je spezifischen Modus oder ›Code‹ kollektiver Identität. Kurz: die Problematik der kollektiven Identität ist ein Bezugsproblem des Faches, von Beginn an. Daher finden sich sowohl bei Durkheim als auch bei Max Weber Theoreme kollektiver Identität. Und auch solche Soziologien, die primär nicht nach Zusammenhalt, sondern nach sozialen Veränderungen fragen, solche, die der Reproduktion sozialer Ungleichheit auf den Grund gehen, haben Berührungen mit dem Thema. Dann interessiert man sich für die Veränderungen in der Behauptung der kollektiv geteilten Identität, für die hegemonialen Bestimmungen einer Gesellschaft und die Marginalisierung bestimmter Einzelner durch die Zuweisung einer bestimmten kollektiven Identität – etwa einer religiösen oder ethnischen Minderheit. Auch das große Thema race, class, gender ist natürlich ein Thema kollektiver Identitäten – nämlich der Verungleichung durch eine zugesprochene und zugleich abgewertete kollektive Identität. Oft wird also, wenn auch in verschiedenen Vokabularen, diese Frage verhandelt: Wie beschreiben sich Gesellschaften selbst, wie stellen sie ihre Identität her, wie werden Einzelne zugeordnet? Wie übernehmen sie diese Klassifikationen, oder lehnen sich dagegen auf? Wie lassen sie sich in gewaltsame Konflikte hineinziehen, in ethnische und konfessionelle Kriege? Und wie kommt es zu solidarischen Bewegungen, zu Revolutionen im Namen der Unterdrückten, welche Dynamiken entfachen soziale Bewegungen?

Drei Funktionen kollektiver Identitäten Gesellschaft – und allgemeiner: eine jede kollektive Existenz – verweist nun mindestens dreifach auf die Imagination einer kollektiven Identität, es gibt mindestens drei Funktionen, die die Präsenz des Themas erklären, die Unauflösbarkeit der Begehren: Ein jedes Kollektiv besteht erstens nur in der notwendigen, und gleichwohl kontrafaktischen Vorstellung einer Identität in der Zeit. Jedes Kollektiv erzeugt und erzählt eine Geschichte, eine Herkunft und Zukunft, imaginiert etwas Unveränderliches. Notwendig ist die Fabulation von etwas Identischem in der Zeit – die Gewissheit, in dieser Gesellschaft zu leben, eine Dauer, die oft über Generatio24

nen hinweg fabuliert wird; oder aber ab einem Ursprungsereignis wie z.B. der Französischen Revolution, oder 1945/1949. Dabei verändert sich die Gesellschaft – verändern sich deren einzelne Institutionen und Praxen im Grunde permanent, ebenso wie die Sprache Veränderungen unterliegt, und jeder Einzelne ständig anders wird. Kulturelle Artefakte wie bestimmte Architekturen haben hier eine ebenso große stabilisierende und daher identitätsstiftende Bedeutung wie Nationalfarben oder -hymnen. Damit untrennbar verknüpft sind alle kulturgeschichtlichen Erforschungen des »kollektiven Gedächtnisses« oder der »Gedächtnisorte«, sowie der Mythen und Narrative. Ebenso notwendig ist zweitens die Vorstellung einer Gemeinsamkeit: von etwas Geteiltem, einer wie auch immer bestimmten Einheit der Mitglieder. Diese werden innergesellschaftlich vereinheitlicht – respektive: Sie solidarisieren sich und vereinheitlichen sich selbst. Notwendig ist für eine jede kollektive Existenz die Vorstellung eines Zusammenhalts. Das ist nichts anderes als das große Thema der ›sozialen Ordnung‹, des ›sozialen Bandes‹. Es ist zugleich das große Thema der Identifizierung via Differenzierung von Kollektiven, und auch das Thema der Klassifizierung von Einzelnen. Notwendig differenzieren sich die Einzelnen, die sich einem Kollektiv zugehörig fühlen und wissen, von den Mitgliedern anderer Kollektive. Sie klassifizieren sich untereinander in Milieus und Schichten. Und sie unterscheiden sich von denen, die ganz aus dem sozialen Kosmos verschwinden, die nicht diesem und keinem anderen Kollektiv zugehören, weil sie sans papieres sind, staatenlos, oder subaltern, verstreut. Gesellschaft, ein jedes Kollektiv, eine jede Gruppe, eine jede kollektive Existenz setzt derart eine Bewegung der Absetzung, der Abgrenzung und Unterscheidung voraus, im Dienst der Identifizierung mit dem eigenen (vorgestellten) Kollektiv, in der zugleich das andere Kollektiv mit einer Einheit und Identität versehen wird. Notwendig scheint es drittens mindestens, den erwähnten gesellschaftlichen Grund, das fundierende Außen anzunehmen – von etwas, das das Kollektiv instituiert, stiftet, weil es gerade nicht selbst gesellschaftlichen Ursprungs ist. In diesem gründenden Wert (wie in der Überzeugung von der Heiligkeit der Menschenrechte, von der heiligen Nation oder des souveränen und ewigen Volkes) geht es darum, die historische Kontingenz und die Selbst25

gesetztheit einer jeden Norm, einer jeden Institution, einer jeden Gesellschaftsformation zu verleugnen. Drei Funktionen also sind es mindestens, die in der Analyse von Kollektiven und deren Identitätsbehauptungen zu unterscheiden wären.

Unmöglichkeit und Notwendigkeit kollektiver Identität Wenn es um die Rehabilitation des Themas kollektiver Identität sowie um dessen Komplexität und Zentralität geht, ist mithin eine ganz bestimmte soziologische Perspektive instruktiv: All jene Theorien der Gesellschaft oder kollektiver Existenz, die zunächst eine kulturelle oder symbolische Erzeugung von Kollektiven denken; und sich sodann spezifischer als ›postfundamentalistisch‹ verstehen lassen: Weil sie nicht von einer gegebenen sozialen Basis ausgehen, einem ›eigentlichen‹ Sozialen, das alles andere bestimmt. Weil sie also nicht ökonomisch erzeugte Ungleichheiten und Spaltungen als das Strukturierende alles Sozialen denken, gegenüber denen jede Vorstellung kollektiver Einheit bloße Ideologie wäre. Auch geht es weniger darum, individuelle Interessen als das feste und immer erneut erklärende Fundament kollektiver IdentitätsFabulationen anzunehmen: Ebenso wie ökonomische Bedeutungen sind individuelle ›Interessen‹ kulturspezifisch, gesellschaftlich geformt, instituiert. »Aus einer postfundamentalistischen Perspektive stellt Gesellschaft einen ebenso notwendigen wie unmöglichen Gegenstand der Sozialtheorie dar.« (Marchart 2013: 59)

Als »postfundamentalistisch« verstehen wir mit und neben Oliver Marchart all jene Konzepte des kollektiven Seins, die dieses als unbegründet, stets symbolisch konstituiert, und darüber hinaus als zutiefst veränderlich, kontingent, unbegrenzt und gespalten verstehen. Es gibt keine feste, alles erklärende Struktur; keine determinierenden Interessen. Gerade wegen der Abwesenheit einer letzten Basis und der Uneinheitlichkeit des Sozialen ist die Vorstellung einer Einheit, Identität, von Grenzen und Gründen notwendig – und trotz aller Effekte der Unterordnung, Verungleichung, und Exklusion der so Kategorisierten bleibt dies stets kontrafaktisch. Nichts ist vorherbestimmt, und alles hat einen of26

fenen Ausgang. Weder gibt es tatsächlich eine Einheit der Einzelnen, über ihre sozialen Differenzen und die Veränderungen des Sozialen hinweg, noch handelt es sich nur um eine Ideologie (die andere, entscheidendere soziale Strukturen verdeckt). Es ist ganz offensichtlich auch keine obsolete Illusion, die sich durch den soziologischen Diskurs auflösen ließe – Residuum eines ›alteuropäischen‹ Denkens oder ›primitiver‹ gesellschaftlicher Verhältnisse. »Man will Angst haben«, schreibt Ulrich Bröckling (2016) über all jene, die eine homogene, substantielle kollektive Identität begehren. Indes: Es gibt nicht nur den Affekt der Angst oder der Sorge um die kollektive Identität. Es gibt auch die Lust und das Begehren, die eigene Zugehörigkeit mit zu gestalten; und es gibt eine Lust an der Debatte, etwa um die französische Identität oder auch die des Christentums. In diesen Debatten wird die kollektive Identität selbst je eine andere. Die Identität ist eben fabuliert – es gibt kein zugrundeliegendes Objekt, dessen Sein oder Identität man hier verfehlen könnte, keines, das aufzulösen wäre. Kollektive haben keine Identität, denn sie sind weder fix noch einheitlich. Sie werden immer anders, sind gespalten und haben fluide und unklare Grenzen. Sie verfügen auch nicht über eine abzählbare Menge an positiv bestimmbaren Inhalten oder Elementen. Die Identität einer Gesellschaft ist überhaupt nicht »in Gestalt eines Anwesenden« denkbar (Laclau/Mouffe 2001: 149; Marchart 2013: 300ff.). Sie ist vorgestellt, oder sie ist ein Diskurseffekt, allerdings ein unumgehbarer. Es kommt also darauf »an, Identitäten als ebenso ›notwendig‹ wie ›unmöglich‹ zu denken« (Hall 2004a: 186). In der Wahl einer solchen Perspektive auf kollektive Identität (die bereits bei Durkheim angelegt ist und eine ganze Tradition des soziologischen Denkens integriert) wird also auf der einen Seite der de-konstruktive Diskurs geteilt. Es gibt keine (substantiell gegebene, natürliche, homogene usw.) kollektive Identität. Zugleich wird aber über ihn hinausgehend aufklärbar, warum es ständige Debatten und Begehren danach gibt, in der Gesellschaft, in den Sozial- und Kulturwissenschaften als Teil von ihr. Die imaginäre Fixierung der Gesellschaft, also die Vorstellung einer kollektiv geteilten Identität der Mitglieder in der Zeit, und die Vorstellung einer Einheit des Kollektivs ist eine permanente, bleibende oder strukturelle Bedingung kollektiver Existenz. Und auch wenn es sich um kontrafakti27

sche Imaginationen, um gesellschaftlich erfundene Bedeutungen und Zuschreibungen sowie Anerkennungen handelt: All dies erweist sich, wie die gesamte Geschichte lehrt, als zutiefst wirksam, als subjekterzeugend und motivierend. Zwar handelt es sich bei all dem, worum es hier geht, um Fiktionen – aber sie sind realitätserzeugend. In dieser postfundamentalistischen Perspektive gibt es mindestens zwei Möglichkeitsbedingungen, zwei konstitutive Bewegungen in einer jeden Erzeugung kollektiver Identität: Jede ist erstens nur innerhalb eines Systems von Differenzen möglich, in Unterscheidung von dem, was das Kollektiv gerade nicht sein will. Da es unendlich viele solcher Differenzen geben kann, lässt sich die Identität nie abschließend bestimmen. Sie ist »überdeterminiert«, wie es in etwas anderer Hinsicht bei Louis Althusser (2011) heißt. Ein jedes Kollektiv konstituiert sich also zunächst in der Abgrenzung, in der Erzeugung von Alterität. Es braucht ein abgrenzendes »konstitutives Außen«.4 Alterität bedeutet Abhängigkeit der Identität vom Außen. Im Blick auf die Bildung von Kollektiven sowie die Sozialfigur des Grenzgängers untersuchte etwa der Freiburger Sonderforschungsbereich Identitäten und Alteritäten. Die Funktion von Alterität für die Konstitution und Konstruktion von Identität5 von 1997 bis 2003 »kollektive Identitäten als wirkmächtige Konstrukte, mit denen die Zugehörigkeit zu einem ›Wir‹ erreicht werden kann, indem zugleich ein Bezug zur Alterität eines ›Ihr‹ bzw. ›Sie‹ bedeutsam gemacht wird« (Eßbach 2001: 9). Auch in den Kulturwissenschaften sind die untrennbaren Bewegungen von Identität und Alterität Thema (vgl. z.B. Altnöder u.a. 1996). Neben der Identität durch Differenz zum Außen – den je anderen Möglichkeiten, ein Kollektiv zu sein – konstituieren sich Kollektive mindestens in einer zweiten Differenz: Neben dem abgrenzenden konstitutiven Außen gibt es für jedes Kollektiv eines oder mehrere grundlegende Bedeutungen. Kollektive Identitäten konstituieren sich in der Fabulation eines fundierenden konstitutiven Außen (vgl. Delitz/Maneval 2017, Delitz/Seyfert 2018: xxv). Sie bestimmen ihre Identität aus einem letzten oder ›leeren‹ Signifikant – eine Bedeutung, die alle anderen begründet, ohne selbst begründbar zu sein oder begründet werden zu müssen. Das gilt etwa für die Berufung auf ›Gott‹ in verschiedensten Gesellschaften; oder für die auf die Menschenrechte. Tatsächlich kann 28

man beide Modi der kollektiven Existenz (die säkular-politische und die religiös-politische) einander analytisch gegenüberstellen. Beides sind nicht nur differente, sondern einander ausschließende Modi der Erzeugung kollektiver Identität – von Gesellschaft im Sinne einer hegemonialen Bestimmung ihrer Einheit und Identität, ihrer Ausgrenzungen und Behandlungen anderer, ihrer Zukunftsprojekte und Herkunftserzählungen. Beide beziehen sich auf divergente letzte Gründe und strukturieren Lebens- und Tagesabläufe anders. Zudem instituiert sich eine demokratische Gesellschaft nicht allein in einem zentralen Imaginären oder letzten Grunde. Neben dem universalistischen »Code« (Eisenstadt/Giesen 1995, Giesen 1999) kollektiver Identität – der Erzeugung eines Kollektivs, einer kollektiven Identität in der Menschenrechtsidee – ist diese kollektive Existenz und Identität ebenso begründet in der partikularen Idee der Souveränität des Volkes. Wie wir mit Gauchet und Mouffe noch sehen werden, fundieren sich aktuelle pluralistische Gesellschaften damit in einem Paradox. Deswegen bleiben die Bestimmungen der kollektiven Identität kontrovers, umstritten, unabschließbar. So gesehen liegt also die ›Identität‹ solcher Gesellschaften gerade darin, sich nicht einig zu sein, plural und gespalten zu bleiben und dennoch einen Modus zu finden, miteinander zu agieren, statt gegeneinander.

Kollektive Identität = kulturell erzeugte Identität Eine jede kollektive Identität ist derart eine mehrfache, kontrafaktische Imagination, die nur mittels vielfältiger symbolischer oder kultureller Artefakte und ihrer Bedeutungen stabilisiert wird. In diesen wird sie genauer gesagt überhaupt erst sichtbar und teilbar. Sie ist kulturell erzeugt. Die Existenz des Kollektivs ebenso wie auf das Kollektiv bezogener Affekte basieren auf symbolischen Verkörperungen. Diese drücken also das Kollektiv und dessen Identität nicht einfach nur noch aus. Kultur ist konstitutiv. Das Kulturelle ist der Modus einer jeden kollektiven Existenz. Das betont schon Durkheim: Die auf das Kollektiv bezogenen Vorstellungen und Gefühle haben »ohne Symbole nur eine ungewisse Existenz. Sie sind sehr stark, solange die Menschen beieinander sind und sich gegenseitig beeinflussen; sie

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überleben, wenn die Ansammlung beendet ist, nur unter der Form von Erinnerungen, die […] immer blasser werden. […] So ist das soziale Leben unter allen seinen Aspekten und zu allen Augenblicken seiner Geschichte nur dank eines umfangreichen Symbolismus möglich.« (Durkheim 1994: 316f.)

Kollektive sind kulturelle Identitäten. Sie sind symbolisch oder kulturell hervorgebracht, und sie transformieren sich auch kulturell. Im kulturellen Aspekt der kollektiven Existenz spielen Artefakte eine zentrale Rolle, neben den Semantiken und Semiotiken. Hier kann man an einzelne Artefakte denken: Eine Fähre erzeugt periodische Benutzerkollektive, eine ephemere kollektive Identität (Stäheli 2012). Es gibt aber auch Artefakt-Kulturen, die eine dauernde kollektive Identität zu imaginieren erlauben, wie etwa architektonische Kulturen im Sinne über Jahrhunderte geteilter, spezifischer Bau- und damit Bewegungs- und Sehweisen. Den oben erwähnten drei Funktionen (dem Identität erzeugenden Außen; dem fundierenden Grund; der Erzeugung einer Identität in der Zeit) lassen sich dabei spezifische kulturelle Mechanismen zuordnen. Was zunächst die Vorstellung einer Einheit der Mitglieder angeht, so braucht es schlicht symbolische oder kulturelle Modi, welche die Zugehörigkeit anzeigen. Das gilt etwa für in Nation-Form gedachte Identitäten (vgl. Anderson 1991): In den Nationalfahnen, -hymnen, denkmälern und -speisen besteht die nationale Identität. Auch die EU braucht vielfältige Zeichen ihrer kognitiven und moralischen Konformität, wie Durkheim (1994: 38) sagen würde. Dasselbe gilt natürlich für die Mitglieder eines Rockerclubs, des Islamischen Staats, eines Unternehmens. Und auch die Einzelnen in totemistischen Clans aktualisieren ihre kollektive Identität in der gemeinsamen Identifikation mit etwas – dem Totemtier oder der Totempflanze. Die Gruppe erzeugt sich ein Wir-Bewusstsein, die Gruppenmitglieder machen sich zu solchen mit einer geteilten (kollektiven) Identität, indem sich jeder Einzelne mit demselben Wert – einem Dritten – identifiziert. Erst dies ermöglicht das »Bewußtsein einer scharf definierten, vereinseitigten Gruppenzugehörigkeit« (Gehlen 2007: 238). Kollektive Identität verlangt, dass sich jeder mit

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»demselben anderen, einem X, identifizieren und von daher verhalten [muss], so daß ihr Selbstbewußtsein einen gemeinsamen Schnittpunkt hat, der in der Gleichheit des Verhaltens eine objektive Stütze findet. […] Alle Mitglieder des Bären-Clans mögen symbiotisch schon eine Gruppe sein. Geistig werden sie ein ›Wir, diese Gruppe‹ nur insofern als jeder die Rolle eines anderen übernimmt, und zwar jeder dieselbe.« (Gehlen 1993: 375)

Kurz, das Kollektiv braucht die anschauliche Gemeinsamkeit der Einzelnen. Der Gemeinsamkeitsglauben kann sich dabei (so ergänzt Max Weber) an jede Äußerlichkeit haften. Zweitens: Über die Zugehörigkeit der Einzelnen hinaus braucht die ›mit sich identische‹ Gruppe eine wahrnehmbare und identifizierbare Gestalt, die sie über Jahre, Jahrhunderte, Jahrtausende teilt. Für Klaus Eder ist dies die wesentliche Bedeutung des Begriffes kollektiver Identität: »[A] group has an identity if it succeeds in defining itself vis-à-vis other groups by attributing meaning to itself that is stable over time.« (Eder 2008: 428) Der Imagination einer historischen Kontinuität dient die Erzeugung einer Geschichte (in den historischen Wissenschaften wie in den Legenden, in Denkmälern und Museen). Gerade Architekturen erzählen eine stets selektive Geschichte, versorgen ein Kollektiv mit einer temporalen Identität: Bei der Pflege der griechischen Tempel, mittelalterlicher Burgen und Stadtkerne handelt es sich um konkrete, handwerkliche Arbeit an der kollektiven Identität. Architektur kann ebenso identitätsauflösend wirken. Die identitätszerstreuende Kraft neuer Siedlungsweisen und Architekturen hat Bourdieu (2010: 193-246) für die Kabylen gezeigt, Lévi-Strauss für die südamerikanischen Indianer: »Da die Eingeborenen nun in bezug auf die Himmelsrichtung ihres Plans beraubt sind, der Grundlage ihres Wissens ist, verlieren sie schnell den Sinn für die Traditionen, so als wäre ihr soziales und religiöses System […] zu kompliziert, um des Schemas entraten zu können, das durch den Plan des Dorfes offenbar wird und dessen Umrisse ihre alltäglichen Gesten immer aufs neue auffrischen.« (Lévi-Strauss 1978: 212)

Zur Erzeugung einer Kontinuitätsvorstellung gehört auch die Bildung einer spezifischen Zukunft. Die Kontinuität der Gesellschaft 31

in der Zeit erstreckt sich ebenso nach ›hinten‹ wie nach ›vorn‹. Notwendig ist auch die Überzeugung, morgen noch dieselben zu bleiben. Castoriadis hat hier von einem affektiven Drang gesprochen, einem Projekt, einer Aufgabe, die sich jedes Kollektiv gibt: »Aufgrund dieses Dranges ist in der Vergangenheit und Gegenwart der Gesellschaft eine Zu-kunft (l’a-venir) enthalten, etwas, das stets zu tun bleibt.« (Castoriadis 2006: 145)

Dazu gehört auch die Einteilung der Zeit in die Wochentage, die eine Identität garantiert, die Erzeugung von Zeitrhythmen zwischen Feiertagen und Alltag; zudem natürlich ein Gründungszeitpunkt, ein Gründungsmythos. Die Erzeugung einer Identität in der Zeit, die Fabulierung des Kollektivs als diese sich durchhaltende Gesellschaft basiert ebenso auf einem spezifischen Ort und Territorium. Kollektive Identitäten sind »verortete« (Hall 1994: 210f.). Ihnen eigen ist eine ›imaginäre Geografie‹. Sie sind auch an eine Landschaft gebunden. All dies ist das große Thema der »Heimat« – ihrerseits ein Thema kollektiver Identität. Wie im Blick auf die Zeit, so gibt es auch in dieser Bindung an den Raum konträre Möglichkeiten: Nomadische Gesellschaften streben gerade keine Fixierung im Boden an, sie haben ein bewegliches Territorium und einen »glatten Raum«, der sich mit ihnen fortbewegt (Deleuze/Guattari 1992: 500ff.; zum Vergleich nomadischer Gesellschaften mit anderen Delitz 2018a). Und was drittens den imaginierten Grund, das fundierende Außen, die letzte Bedeutung betrifft: die Vorstellung, die kollektive Identität beziehe sich auf einen göttlichen Schöpfungsakt, auf einen mythischen Ahne, der als Mischwesen auf die Erde kam; oder die Vorstellung, die eigene Identität beruhe auf der Abkehr von einer katastrophalen Gesellschaft, die der eigenen vorhergeht: Wie wir unten mit Castoriadis sagen werden, handelt es sich hier um letzte, leere Signifikanten, die von allen anderen Bedeutungssystemen ausgesagt werden. Ein Kollektiv, das – seitens seiner hegemonialen Kräfte (wie immer hinzuzufügen ist) – seine Identität aus der Vorstellung bezieht, Gott habe zehn Gebote erlassen (oder Gott habe jeden Einzelnen zum Zeitpunkt der Schöpfung bereits erwählt oder verdammt): Ein solches Kollektiv muss diesen Anderen des Kollektivs in allen Praxen und Gedanken verankern. 32

Insofern Kollektive kulturell erzeugt sind, ist der Begriff ›kulturelle Identität‹ kaum abgrenzbar vom Begriff ›kollektiver‹ Identität. Er ist auch nicht abgrenzbar vom Gesellschaftsbegriff. Wer kulturelle Identitäten erforscht, erforscht Imaginationen kollektiver Identität oder von Gesellschaft. (Und wer behauptet, es gäbe keine kulturelle Identität, sucht kollektive Identitäten zu dekonstruieren, aufzulösen: Jullien 2011, 2017). Dabei lassen sich unterschiedliche Akzente setzen: Wer nach kollektiver Identität fragt, interessiert sich meist für politische Logiken der Klassifizierung und Zuordnung von Einzelnen. Wer nach kultureller Identität fragt, interessiert sich eher für den Anteil von Ritualen, Artefakten, Texten, oder Medien an der Kollektivbildung. Auch in jeder Analyse kulturell erzeugter ›kollektiver Gedächtnisse‹ geht es um kollektive Identitätsforschung. Und auch hier ist zu betonen: Es geht dabei nicht um ein Gedächtnis von Kollektiven (als ihren Subjekten). Es geht um jene Praxen und Narrationen und narrative Erfindungen, die ein Kollektiv zum Inhalt haben, es erzeugen. In diesem Sinne gehören auch Archäologinnen zu denen, die kollektive Identitäten erforschen. Auch hier werden die Begriffe kollektiver oder kultureller Identität dabei kritisch gesehen, gibt es dekonstruktive Zugänge. So spricht etwa Reinhard Bernbeck von seiner Disziplin, der Archäologie, als einer »hinterlistige[n] Ausgrenzungswissenschaft«6: Indem einzelne Funde einer ›Kultur‹ zugeordnet werden, werden Kollektive vereindeutigt und etwa unter den Titeln einer bestimmten Keramik (»Bandkeramik«) zusammengefasst (vgl. z.B. Burmeister/Müller-Scheeßel 2006, Pohl/Mehofer 2010). Auch die Anthropologie respektive Ethnologie ist eine Disziplin, die kulturelle wie kollektive Identitäten thematisiert. Wir werden Lévi-Strauss und Descola zu Wort kommen lassen, und man muss ebenso Pierre Clastres erwähnen. Dessen These »gegenstaatlicher« Gesellschaften dreht sich um Kollektive, die ihre Identität, ihr Sein bewahren wollen, indem sie den Staat, also eine nationalisierte Form kollektiver Identität abwehren. Clastres sieht darin – in der Bewahrung des kollektiven Seins, kollektiver Identität – die Funktion ihrer Institutionen (Clastres 1976, 2008). Die Zusammenarbeit mit HistorikerInnen ist für Erforscherinnen kollektiver Identität moderner Gesellschaften weit gewohnter, etwa im Blick auf die Nationalstaatsbildung der euro-

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päischen Gesellschaften in der frühen Neuzeit und die identitätsstiftende Rolle der Intellektuellen (Berding 1999, 1994).

Kollektive Identität = affektiv erzeugte Identität Kollektive Identitäten erzeugen kollektive Affekte und beruhen auf ihnen. Darunter verstehen wir kollektiv geteilte, zwischen mehreren (menschlichen und nichtmenschlichen) socii erzeugte, auf das Kollektiv bezogene Gefühle. Stolz, aber auch Scham entstehen ja nicht nur in Bezug auf das Selbst. Es sind dies auch kollektive, also auf das Kollektiv bezogene, und auch kollektiv erzeugte Affekte. Sie können eine massive Intensität erreichen, können dazu führen, das eigene Leben zu opfern – oder das Leben Anderer, derjenigen, auf die sich der kollektive Hass richtet. Jede Armee macht sich diese Affektivität der kollektiven Identität zunutze. Jean-Paul Sartre hat die negativen, wirksamen Affekte ›des Antisemiten‹ beschrieben: wie er von kollektivem Hass und Wut ergriffen ist, und wie die ›Juden‹ selbst sich zu diesen machen, indem sie die Affekte der Demut, der Unterwerfung und Assimilation auf sich als Kollektiv beziehen. Dabei insistiert Sartre auf der Macht der Imagination der kollektiven Identität: »Vom Zaren als Juden behandelt, von den Polen ebenso, wider Willen jüdische Interessen innerhalb einer fremden Gemeinschaft verfolgend – ist es erstaunlich, daß sich diese Minderheit entsprechend der Vorstellung verhalten hat, die man von ihr hatte? Anders gesagt, wesentlich ist hier nicht die ›historische Tatsache‹, sondern die Vorstellung, die sich die historischen Akteure vom Juden machten.« (Sartre 1994: 13, Herv. HD)

Er deckt zugleich auf, dass auch der liberalste Demokrat, überzeugt von der Idee der Menschenrechte, von antisemitischen Affekten beherrscht sein kann: Nämlich dann, wenn er jene kollektive Identität auslöschen will. Wenn er es darauf anlegt, ›den‹ »Juden von seiner Religion, seiner Familie, seiner ethnischen Gemeinschaft« zu trennen und ihn nur als Mensch zu behandeln (›menschlich‹), dann diskriminiert er seinerseits eine kollektive Identität. Für einen

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»stolzen Juden, der auf seiner Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft besteht, ohne deshalb die Bande zu verkennen, die ihn an eine nationale Kollektivität binden, besteht zwischen dem Antisemiten und dem Demokraten kein so großer Unterschied. Jener will ihn als Menschen vernichten, um nur den Juden, den Paria, den Unberührbaren in ihm bestehen lassen; dieser will ihn als Juden vernichten, um in ihm nur den Menschen zu bewahren, das abstrakte und allgemeine Subjekt der Menschen- und Bürgerrechte.« (Ebd. 37)

Deutlich ist dabei, dass der Antisemitismus alle Merkmale der primordialen Identitätsbildung teilt, wie sie von Eisenstadt und Giesen idealtypisch herausgestellt worden sind: Reinigungsphantasien, Dämonisierungen, Bindung der Zugehörigkeit an Merkmale der Natur, des Körpers. Neben negativ konnotierten Affekten (Wut, Hass, Neid, Angst, Schadenfreude, Spott) verbinden sich mit kollektiven Identitäten aber auch positive Affekte. Sie motivieren eine kollektive Identifizierung mit anderen: Stolz, Freude, Solidarität. Fußballfans etwa begehren die Teilhabe am Club wegen der Intensität der stärkenden (und zugleich andere affektiv unterscheidenden, negativen) Affekte, der Leidenschaften. Oder anders formuliert, die beiden affektiven Dimensionen – negative und positive, integrierende und ausgrenzende Affekte – sind immer zugleich beteiligt, nur in variabler Intensität. Kollektive mögen vor allem von inkludierenden Affekten getragen sein; aber auch dann gibt es Ausgrenzungen (all jener, die partikularistisch denken und fühlen). Auch den kollektiven Affekten, der affektiven Identifizierung und Differenzierung entkommt man nicht. Dafür hilfreich ist z.B. der Affektbegriff von Baruch de Spinoza, der im »Politischen Traktat« von 1677 eine Theorie der politischen Identifikation, der Affizierung durch das Gemeinsame vorgelegt hat (Spinoza 2010), und der generell der große Autor der Affekte ist – in seiner »Ethik« (Ethica more geometrico demonstrata). Von hier aus lässt sich (so namentlich bei Seyfert 2011) eine Theorie kollektiver Affekte und ihrer Institutionalisierung erarbeiten, die den kollektiven Körper (kollektive Identität) anhand aller Elemente zu bestimmen sucht, die in solch affektiven Relationen stehen. Da sind zunächst die Artefakte, die ihre eigene affektive Wirkung haben. Der Stolz der Griechen lässt sich nicht ohne die Schiffe, Stadtmauer und Tempel erklären. Sodann sind in den Kollektiven 35

auch lebendige Nichtmenschen auf je ihre Art konstitutiv. Man denke an die Kamele der Tuareg, und an andere nicht-»anthropistische« Kollektive (Seyfert 2011: 180f.), in denen die kollektive Identität sich auf das Totemtier bezieht. Kurz, eine Theorie des Kollektivs muss nicht nur Affekte, sondern mit ihnen differente Entitäten oder socii berücksichtigen. Die affektive Beziehung ist stets relational, und nicht immer sind es allein Menschen, die dabei aufeinander bezogen sind. Nicht zuletzt wird in einer solchen Theorie der affektiven Erzeugung kollektiver Identität der Gegensatz von rationalen und affektiven Handlungsmodi aufgehoben. Das rationale Handeln hat seine Affektivität; und das affektive Handeln hat seine Rationalität. Eine solche Theorie der Affektivität lässt sich bei Gilbert Simondons L’individuation psychique et collective von 1964 finden: eine Theorie des Kollektivs, die sich um positive Affekte zentriert. Simondon sieht in der affektiven Resonanz die Existenz von Kollektiven. Von der »Individualität einer Gruppe« lasse sich nur bei affektiver Übereinstimmung sprechen. Denn geteilte Interessen und Aktivitäten seien »zu diskontinuierlich«, um die Basis einer Identität darstellen zu können, und »zu groß und kontinuierlich«, um die Erzeugung von Gruppen zu erlauben. Und geteilte Überzeugungen seien zu wenig integrativ. Kollektive konstituieren sich erst als solche, wenn es zu »interindividueller Partizipation« kommt: zu affektiver Resonanz. Entscheidend für kollektive Identität sind demnach weder das Symbolische, noch die Praxis, noch sind es Regime von Sanktionen. Entscheidend ist das je spezifische »Regime der Affektivität« (Simondon 2007: 100, dt. HD). Solche Regime können ganz unterschiedliche Ausdehnungen haben. Je haben sie andere Subjektformen und Gesellschaften zur Folge. Simondon nennt auf der einen Seite Fälle, in denen sich die Gruppe auf ein Individuum verengt. Das wäre die exklusivste Form der Bildung kollektiver Identität, in der etwa ein ›Wahnsinniger‹ aus dem Kollektiv ausgegrenzt wird und sich dieses im selben Zug konstituiert: im exklusiven Affekt. Auf der anderen Seite können sich kollektive Identitäten auf die Menschheit erstrecken. In Folge des Affekts der Wohltätigkeit etwa, eines integrativen oder positiven Affekts, betrachtet sich die christliche Person als »ko-extensiv« zur ganzen Menschheit. Schließlich kann die integrierende Bewegung zur Erzeugung des Kollektivs auf Tiere ausgedehnt werden, wie im Fall von Franz 36

von Assisi (vgl. ebd. 178). Simondon denkt dabei die Bildung kollektiver und individueller Identität, von Subjekt und Kollektiv als gleichzeitige und fortwährende Strukturierung: Weder bietet das Kollektiv dem Individuum eine »Personalität wie einen Mantel an« (ebd.: 183, dt. HD), noch nähert sich das Individuum mit einer schon konstituierten Persönlichkeit anderen, um mit diesen gemäß der eigenen Interessen ein Kollektiv zu bilden. Kollektive entstehen nicht in der Art eines Gesellschaftsvertrages, wie es individualistische Konzepte kollektiver Identität voraussetzen (vgl. Emcke 2000). Ein jedes Individuum muss vielmehr an der »Operation der Individuation der Gruppe teilhaben«, um Individuum zu werden. Seine Persönlichkeit ist die der Gruppe. Beide sind Ergebnis einer gleichzeitigen Konstitution oder einer »Synkristallisation« (Simondon 2007: 183, dt. HD). Heute sprechen etwa Luc Ciompi und Elke Endert von kollektiven Affekten, womit sie »gleichgerichtete« Affekte meinen: Solche haben eine »leimartige Wirkung«. Je lassen sich Leitaffekte ausmachen. So unterscheide sich etwa das Kollektiv der Palästinenser durch eine »Wutlogik« (Ciompi/Endert 2011: 26f.) von Kollektiven, die eher einer Angstlogik folgen. Und innerhalb der Organisationspsychologie gibt es das Konzept des »Kohärenzgefühls« (Casper 2005). In Helmuth Plessners Macht und menschliche Natur findet sich 1931 eine Theorie kollektiver Identität, die die integrative, affektive Kraft der Vorstellung von Kollektiven ebenso hervorhebt, wie die Notwendigkeit, sich dabei in gegeneinander gestellten Kollektiven zu imaginieren – abgrenzende Affekte zu institutionalisieren. Plessner geht es zeitgenössisch um eine realistische Anthropologie, die den Ernst der Politik, die Faktizität von Ausgrenzung und feindlicher Gefühle einrechnet. Wegen der Historizität, der Veränderlichkeit, der Nichtfestgestelltheit menschlichen Lebens, weil der Mensch sich selbst »unergründlich« ist und ständig anders wird, muss er sich künstlich fixieren. Das impliziert, eine Möglichkeit auszuwählen und andere abzuwehren. Es impliziert zudem eine partikulare, sich abgrenzende Existenz: »In seiner Unbestimmtheit zu sich gestaltet sich ihm der merkwürdige Horizont, innerhalb dessen ihm alles bekannt, vertraut und natürlich [und] außerhalb dessen ihm alles unbekannt, fremdartig und unnatürlich […]

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erscheint. Wo diese Horizontlinie läuft, […] liegt nicht eher fest, als bis es durch ihn festgelegt wird.« (Plessner 1981: 192)

Das menschliche Leben steht, wie Plessner schreibt, daher notwendig im »Daseins- und Gesichtskreis eines Volkes«. Es ist die kulturelle Variabilität und die Möglichkeit, immer anders zu werden, die zur Bildung partikularer Kollektive, zur Unterscheidung von Anderen nötigt. Weil der Mensch ein »primär Abstand von etwas nehmendes Wesen ist«, lebt er stets in je bestimmten, partikularen Völkern oder Kollektiven. Genauer, menschliches Leben vollzieht sich in »gegeneinander gestellten Völker[n]« (ebd. 231f.). Nicht, weil der Andere tatsächlich bedrohlich wäre, sondern weil man sich über die eigene Identität unsicher ist, das Andere auch im Eigenen steckt, vollzieht sich kollektive Existenz im Affekt der Unheimlichkeit, der Angst vor dem Fremden: Das ist Plessners Argument. Die Bildung eines Vertrautheitshorizonts resultiere aus diesem strukturellen Gefühl der »Angst« und »Bedrängtheit«. Daher ist Abgrenzung notwendig; daher impliziert Identitätsbestimmung Partikularität; daher auch gilt es das Politische zu begrenzen, zu zivilisieren. Denn der Andere erscheint (so Plessner) nicht als fremd und unheimlich, weil er es tatsächlich wäre, sondern weil man selbst unbestimmt ist, man selbst stets Anders werden könnte. Von dieser Auffassung des Unheimlichen komme der Mensch daher in keiner politischen Verfassung los, auch nicht im Humanismus. Dieser ermögliche »zwar die Bildung des Allgemeinbegriffs Mensch«, aber auch dies bedeute die »Monopolisierung eines bestimmten historisch gewordenen Menschentums« (ebd. 193). Auch eine humanistisch fundierte Gesellschaft lässt andere als unheimlich erscheinen, als anders. Und historisch galten die anderen zugleich als unterentwickelt: entlang jener Fortschrittsidee, die mit dem politischen Humanismus Hand in Hand ging (Balibar spricht hier sogar von einem kulturellen Rassismus). Die Tatsache, dass kollektive Identität stets die Abgrenzung anderer impliziert, ebenso wie das Gefühl der Fremdheit, verbindet Plessner also mit der Forderung nach einer Zivilisierung der Politik: Weil das Andere im Selben steckt; weil die Freund-Feind-Relation strukturell ist, nicht nur außenpolitische Relationen, sondern etwa auch die Nachbarschaft durchzieht – deswegen ist eine Einhegung des Politischen auf die »Kunst des Möglichen« notwendig 38

(ebd. 233). In diesem Konzept kollektiver Existenz als Identitätsbildung via Abgrenzung steckt eine Auseinandersetzung mit, eine Zähmung der politischen Theorie von Carl Schmitt, bei dem die Freund-Feind-Unterscheidung als politisch existentielle Entscheidung auftritt. Ganz ähnlich sucht heute Chantal Mouffe die Notwendigkeit kollektiver Identitäten gegen und mit Schmitt zu denken. Dabei versteht auch sie das Genuine der Demokratie in der Einhegung des Freund-Feind-Verhältnisses, der Verwandlung des Feindes in den politischen Gegner.7 Kein Politisches ohne Leidenschaften, deren Bezugspunkt das Kollektiv ist – auch daher ist das Thema kollektiver Identität nicht deckungsgleich mit dem individueller Identität. Die Dynamiken, die Grundlegungen, die Affekte und die Effekte sind andere.

Vielfalt oder Multiplizität kollektiver Identitäten Historisch, aus Gründen der Entstehung des modernen Politischen muss es einer Einführung in das Thema der kollektiven Identitäten sicher auch um die politische Idee der Nation, um die national gedachte kollektive Identität gehen. Zugleich gibt es zahlreiche, differente kollektive Identitäten – daher steht der Plural im Titel dieses Buches. Gesellschaften müssen nicht in nationaler Form auftreten, es gibt andere, anders bestimmte Kollektive. Auch der totemistische Clan erzeugt sich eine Identität, die sich gerade nicht auf einen Staat bezieht. Auch Konfessionen wie die der christlichen Kollektive brauchen und erzeugen eine Idee ihrer Einheit und ihres Grundes. Ebenso lassen sich Parteien, Unternehmen, subkulturelle Milieus unter dem Aspekt der Erzeugung und Veränderung ihrer kollektiv geteilten Identität untersuchen. Zudem sind kollektive Identitäten multipel, sie überlagern sich. Individuelle Identität setzt sich stets aus mehreren kollektiven Identitäten zusammen – aus Frau-Sein, Weiß-Sein, Mensch-Sein usw. »Die Gruppen, zu denen der Einzelne gehört, bilden gleichsam ein Koordinatensystem, derart, dass jede neu hinzukommende ihn genauer und unzweideutiger bestimmt. […] Die Zugehörigkeit zu je einer derselben lässt der Individualität noch einen weiten Spielraum; aber je mehr es werden, desto unwahrscheinlicher ist es, dass noch andere Personen die glei-

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che Gruppenkombination aufweisen werden, dass diese vielen Kreise sich noch einmal in einem Punkte schneiden.« (Simmel 1968: 312)

Tatsächlich hat jeder Teil an mehreren Kollektiven, erzeugt mehrfach kollektive Identitäten. Jeder von uns ist ›multikollektiv‹, wie es in der Zeitschrift für Kultur- und Kollektivwissenschaft heißt.8 Überhaupt ist diese unkonventionelle ›Kollektivwissenschaft‹ eine interessante Adresse, wenn man sich für die Ubiquität, die Vielfalt und die Verwicklungen kollektiver Identitäten interessiert, für kollektive Identitäten im Plural. In dieser interessiert zum einen die Tatsache, dass es verschiedene Formen kollektiver Existenz gibt, die sich überlagern. Sie werden auf drei Kategorien gebracht: Zum einen ist die Rede von einem ›Universalkollektiv‹ der Menschheit, dann gibt es ›Großkollektive‹ der Nation, des Volkes oder der (national gefassten) Gesellschaft. Und schließlich gibt es die kleineren Kollektive oder ›Kulturen‹, die auch ephemer sein können: die ›Minizusammenschlüsse‹. Deren Verschachtelungen (›Polykollektivität‹) können ebenso untersucht werden wie die Tatsache, dass jeder an mehreren Kollektiven teilhat und sich daraus seine Persönlichkeit speist (›Multikollektivität‹). Kulturen und nicht etwa das Politische ist dabei das Stichwort: Die »kulturelle Verschiedenheit sollte zusammen mit der Vielfalt kollektiver Formen […] ernster genommen werden« (Hansen 2017: 11). Es lassen sich mehrere Unterschiede zu dem hier Verfolgten feststellen: Die soziologische Theorie kollektiver Identitäten, wie sie hier verfolgt wird, tritt ihrerseits im Plural auf, dies aber wesentlich, um die Aufmerksamkeit neben nationalen, politischen Identitäten auch auf andere, entgegengesetzte Formen von Kollektiven zu lenken, etwa totemistische. Zudem scheint das Erkenntnisinteresse der Kollektivwissenschaft gegenüber dem hier leitenden gesellschaftstheoretischen Zugang ein anderes. Der Kollektivwissenschaft scheint es im Grunde gar nicht um Gesellschaften und deren Logiken, sondern letztlich um soziale Identitäten zu gehen, also um sozial erzeugte, kulturell geprägte Identitäten des Einzelnen. Dagegen zentrieren sich soziologische Forschungen kollektiver Identität auf die – wirksamen, politisch werdenden – Vorstellungen, die sich auf das Kollektiv beziehen. Schließlich hat die Kollektivwissenschaft einen abstrakteren Begriff des Kollektivs, der nicht an ein ›Wir‹-Bewusstsein gekoppelt wird: Kollektive heißen hier 40

auch Gruppierungen, die allein der Beobachter vornimmt, und es geht gerade nicht um Vorstellungen geteilter Identität, oder Abgrenzungen. Neben dieser Kollektivwissenschaft und den historischen Kulturwissenschaften sind wie erwähnt auch Archäologie und Anthropologie erste Adressen für Konzepte und Erforschungen kollektiver Identität. Edward Evans-Pritchard hat den Blick auf die Identifizierung der Einzelnen mit verschiedenen Kollektiven sowie auf die »strukturale Relativität« der Kollektive gelenkt. »Wenn ein Nuer von seiner Heimat (cieng) spricht, so denkt er Gefühle struktureller Distanz, sich mit der lokalen Gemeinschaft identifizierend, […] sich zugleich von anderen Gemeinschaften derselben Art trennend. Eine Untersuchung des Begriffes cieng wird uns eines der grundlegenden Merkmale aller Gruppen offenbaren: deren strukturale Relativität.« (Evans-Pritchard 1940: 135, dt. HD)

Kollektive Identität kann sich auf die Zugehörigkeit in einer umfassenden Gruppe ebenso beziehen wie auf diejenige zu distinkten Untergruppen. Jede operiert mit einer Opposition zu anderen, vollzieht eine identifizierende Differenzierung oder differentielle Identifikation. Je ist dabei von den Einzelnen situativ zu entscheiden, welche Identifizierung adäquat ist. Die totemistische Organisation der Gesellschaft, die Einteilung der Einzelnen in Totemclans, beinhaltet in der Tat eine komplexe Logik kollektiver Identität: Es gibt nicht allein den Stammestotemismus und den der Clane, sondern jeder Einzelne hat auch ein Sexual- und ein Individualtotem. »Ein Mann ist ein Mitglied seines Stammes in dessen Relation zu anderen Stämmen, aber nicht Mitglied seines Stammes in Bezug seines Segments zu anderen Segmenten derselben Art. […] Ein Kennzeichen jeder politischen Gruppe ist also deren Tendenz zur fission […], und ein anderes ist die Tendenz zur Fusion mit anderen Gruppen in Opposition zu größeren politischen Segmenten.« (Ebd. 137, dt. HD)

Kollektive Zugehörigkeiten sind mit anderen Worten relational. Sie bestimmen sich nur in Bezug auf andere, unter- und übergeordnete, oder historische, gegenwärtige, zukünftige Kollektive. Sie sind zudem nie stabil. Insofern passt die Metapher der Kreu41

zung der Kreise bei Simmel nicht ganz – die Kreise sind ständig in Transition und müssen permanent stabilisiert werden. Sie lösen sich auch wieder auf: der »Identitätszerfall« von Gesellschaften ist ebenso wichtig zu erforschen (vgl. z.B. zu Jugoslawien Mančić 2012), wie die Erfindung von kollektiven Identitäten etwa durch Intellektuelle und Dichter. Mit anderen Worten, das Anders-Werden muss als Realität des Sozialen eingerechnet werden – gerade in einer Theorie von Identitäten. Wir kommen darauf zurück. Im Blick auf die Pluralität kollektiver Identität fällt der Vorschlag von Eisenstadt und Giesen auf, ›Codes‹ kollektiver Identität zu unterscheiden. Dabei handelt es sich um differente Modi kollektiver Existenz: ›primordiale‹, ›traditionale‹ und ›universalistische‹ Modi. Wie die Klassifikation kollektiver Identifizierungen von Menschen und Nichtmenschen bei Philippe Descola (auf die wir ebenfalls eingehen werden) ist auch diese nicht evolutionär vorgestellt: Auch primordiale, auf körperliche (›natürliche‹) Merkmale sich stützende Identitätsbildungen kommen gegenwärtig vor. Und universalistische ›Wir/Sie‹-Konstruktionen hat es auch in der Vergangenheit gegeben (in missionarischen Bewegungen etwa). Ebenso sind traditionale Codes der Erzeugung kollektiver Identität Epochen- und Raum-übergreifend sichtbar. Es handelt sich um strukturelle Möglichkeiten, Kollektive zu bilden, mit differenten Rigorositäten etwa der Grenzziehung, der Innen- und Außenpolitik. Während hier differente Abgrenzungen interessieren, lassen sich kollektive Identitäten auch darin unterscheiden, welchem fundierenden Außen sie folgen, wie der Grund des Kollektivs instituiert und fabuliert wird (Delitz/Maneval 2017, Delitz 2018b). Darauf sind wir oben mit Giesen und Seyfert bereits eingegangen: Kollektive können ihre Identität religiös fundieren, sich in der »Schuld der Götter« instituieren (Gauchet 2005). Andere Füllungen der Identität, andere Projekte, andere Selbsthaltungen folgen aus der Fundierung der kollektiven Identität im souveränen, sich selbst unterworfenen Volk. Eine solche politische Bestimmung von Zugehörigkeit, Identität in der Zeit, des Projektes schließt eine Fundierung in Gott aus, ist mit der Unterwerfung unter den ganz Anderen unvereinbar (Gauchet 1985, 2005).

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Kollektive und individuelle Identität; kollektive vs. soziale Identität Das Thema kollektiver Identitäten ist komplex, und es ist kompliziert, was auch daran liegt, dass man sich dabei nicht auf das explizite Vorkommen des Begriffes beschränken kann. Auch Theorien des sozialen Imaginären behandeln das Thema. Ebenso steht es wie erwähnt mit Konzepten und Forschungen zum kollektiven Gedächtnis oder zur kulturellen Identität. Zudem gilt dasselbe immer auch für das Gegenteil – also etwa für die Erforschung kultureller Hybridität oder kultureller Transformation: Auch dabei handelt es sich um Forschungen zu kollektiven Identitäten und deren Veränderung. Was solche Konzepte und Forschungen zu denen ›kollektiver Identität‹ macht, ist: Imaginationen eines ›Wir‹-Bewusstseins zu erforschen, in der Überzeugung, dass diese ebenso kontrafaktisch sind wie notwendig. Nicht real, imaginär bilden die Einzelnen eine Einheit, haben sie einen Ursprung und beruhen sie auf einem Grund, der aus ihnen ein Wir macht und ihnen ein Projekt gibt. Um kollektive Identität geht es indes nicht, wenn es um ›soziale‹ Identität geht. In Theorien sozialer Identität dreht sich alles um soziale Bedingungen individueller Identität. In diesen geht es weniger um Gesellschaftstheorie und -analyse (was ist gesellschaftliches, kollektives oder soziales Leben und welche Folgen hat es für das Subjekt und intersubjektive Beziehungen?), sondern es geht um sozialpsychologische Fragen: In Frage steht die Möglichkeit eines stabilen Selbst. Die kollektiven Voraussetzungen dazu werden entwicklungspsychologisch und sozialisatorisch gedacht. Um ein Selbst auszubilden, braucht das Kind diesen Konzepten zufolge zunächst andere. Individualpsychologie wird mit Freud und Mead zu Sozialpsychologie. Solche Identitätstheorien sind also Theorien sozialer, genauer: sozial erzeugter Identität. Sie interessieren sich nicht für Modi und Mechanismen der Fabulation des Kollektivs, sondern für die Mechanismen, in denen individuelle Identität entsteht – oder auch fraglich wird, in der Krise scheint. Rolf Eickelpasch und Claudia Rademacher haben hierzu einen Einsichten-Band vorgelegt. Obgleich hier auch auf kollektive Identitäten eingegangen wird (und beides nur analytisch trennbar ist), sind die Akzente doch andere: Im Prozess der ›Globali43

sierung‹ seien kollektive Identitäten die ins Schwanken geratenen »Bezugspunkte für normativ festgelegte Identitäten« (Eikelpasch/ Rademacher 2004: 12). Aus dieser Sicht erzeugt eine »fragmentierte, aus den Fugen geratene Sozialwelt« »prekäre, zerrissene« Identitäten (ebd. 14). Wir können für den Aspekt individueller Identität ganz auf diesen Band verweisen, um unter dem Titel kollektiver Identität strikt gesellschaftszentriert zu denken. (Und was speziell rassistische kollektive Identitätsvorstellungen anbetrifft, so verweisen wir auf den komplementären Einsichten-Band Rassismus, Hund 2007.) Gegenüber der Rede von einer ›Identitätskrise‹ empfiehlt es sich dabei, Verfallstheorien mit Vorsicht zu behandeln. Kollektive Identitäten werden immer institutionell gestützt; Traditionen sind immer erfunden; Identitäten mögen nirgends selbstverständlich sein. Und in jedem Fall beziehen sich Konzepte kollektiver Identität auf das – vorgestellte – Kollektiv. Demgegenüber übernehmen nun auch einige soziologische Darstellungen den sozialpsychologischen Begriff von Identität. Sie verstehen ›kollektive‹ und ›soziale Identität‹ tendenziell als identisch, unterscheiden beide jedenfalls begrifflich nicht. Sie fassen zudem individuelle und kollektive Identitätsbildung als analoge Prozesse. So werden entwicklungspsychologische Theorien bemüht, um entwicklungsgeschichtliche Stufen der kollektiven Identifizierung zu unterscheiden, wie bei Jürgen Habermas (1976). Auch wenn keine evolutionistische Vorstellung über zunehmend abstraktere, umfassende Identitätsprozesse vorliegt, wird in Konzepten, die den sozialpsychologischen Begriff (social identity) teilen, kollektive Identität reduziert: Die Weise, kollektive Identität zu denken, ist dann abhängig »von Vorstellungen über die auf personaler Ebene stattfindenden Konstitutions- und Konstruktionsprozesse« (Eßbach 2001: 14). Grundautoren für solche Konzepte sind dann nicht die Gesellschaftstheorien (sei es von Durkheim oder von Weber). Hier sind vielmehr zentral: die Theorie der gesellschaftlichen Ich-Entwicklung von George H. Mead; die ähnlich stufenförmig angelegte Theorie der Persönlichkeit von Erik Erikson; die Theorie sozialer Identität von Henri Tajfel und John Turner (1979). Man könnte auch Hegels Anerkennungstheorie als Grundkonzept jeder Theorie sozial erzeugter Identität sehen. Wie dem auch sei: Solche Konzepte interessieren sich für das »Gefühl, eine persönliche Identität 44

zu besitzen«. Erikson definiert es als »unmittelbare Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit« und als Wahrnehmung, dass andere diese »Kontinuität erkennen« (1966: 24, Herv. HD). Die subjektiv empfundene Gruppenzugehörigkeit, das Verbundenheitsgefühl als Bedingung eines gesunden Selbst: Solche Theorien interessieren sich weniger für Narrationen kultureller Identität oder ethnische Konflikte. Sie interessieren sich für anderes und stehen zudem oft auf der Seite eines positivistischen Wissenschaftsverständnisses. In diesem sind möglichst schlanke Konzepte von (kollektiver) Identität gefragt, um diese operationalisieren zu können. Es geht also um absichtlich reduktive Konzepte. Das ist ein methodischer Vorteil in der Erhebung; konzeptionell indes ist es eine deutliche Grenze. Und abgesehen von diesen Fragen, meint individuelle und kollektive Identität eben schlicht anderes. In diesem Sinne nennt Klaus Eder jeden Begriff kollektiver Identität, der diese nicht auf ein psychologisches Konzept »reduziert«, einen »robusten Begriff kollektiver Identität« (2008: 427, dt. HD). Es geht bei kollektiver Identität um die (hegemoniale, andere mögliche Bestimmungen ausschließende) Behauptung einer Einheit und Dauer ›des‹ Kollektivs – und nicht des Selbst. Weder geht also kollektive Identität in der Erfordernis des stabilen Selbst auf, noch lässt sich das Selbst nun als ablösbar von gesellschaftlichen Semantiken und Institutionen denken, unabhängig von diesen. Subjekte sind vielmehr sozial und kulturell geformt, sie sind gesellschaftsspezifische Subjektformen. Oder mit Niklas Luhmann gesprochen, das Selbst ist wesentlich eine ›Semantik‹. So belehrt etwa die Ethnologie über die vielfältigen Formen personaler Identität, die keineswegs einem stabilen Selbst entsprechen müssen und oft nicht einmal ›ein‹ Selbst beinhalten, sondern mehrere: »In Mexiko z.B. verleihen die Tzeltal-Indianer […] derselben Person bis zu siebzehn verschiedene Seelen[. A]lle diese Leben, Erkenntnis, Leidenschaft oder Schicksal erzeugenden Prinzipien haben eine unbestimmte Form, bestehen aus einer undefinierbaren Substanz und befinden sich gewöhnlich tief im Innern des Körpers.« (Descola 2011: 186f.)

Wie auch immer individuelle Identität zusammengesetzt ist: Nicht nur ist aus Sicht der soziologischen (nicht-essentialisti45

schen) Theorie eine jede individuelle Identität ebenso imaginär und kontrafaktisch wie die des Kollektivs. Vielmehr setzt es diese auch voraus. Das Subjekt ist immer auch ein Produkt einer je spezifischen Gesellschaftsform. Darauf hat die soziologische Theorie insbesondere in der Linie Durkheims hingewiesen: Das Individuum ist sozial- und kulturspezifisch. Es ist der »Vermittler«, durch den sich die Gesellschaft realisiert, und seine »Persönlichkeit ist nur geborgt« (Durkheim 1988: 475). Luhmann spricht in dieser Linie also von einer historischen Semantik; Foucault von der Subjektivierungsform als einer Unterwerfungs- oder Disziplinierungsform. Bei allem, was man solchen Theorien korrektiv hinzufügen möchte – nämlich die agency, die Handlungsfähigkeit und die Kreativität des Einzelnen – gerade im Blick auf die Relation kollektiver und individueller Identität sind sie instruktiv, aufklärend.

Negative und positive Konzepte kollektiver Identität »Versuche, die […] Größe des ›Wir‹ zu definieren und zu konkretisieren, gehören zum thematischen Kernbestand sozialwissenschaftlicher Diskurse. Sie markieren nicht nur die Quellen kollektiven Handelns […], sondern [informieren] auch darüber, wie dieses Soziale zu bestimmen ist und welche Mechanismen für das Funktionieren dieser Entität abgebildet werden können.« (Giesen u.a. 2016: 8)

Auf der einen Seite geht es in vielen soziologischen Theorien und Analysen um Konzepte und Phänomene kollektiver Identität. Das Thema kollektiver Identitäten ist ein Zentralthema der Sozialwissenschaften. Zugleich scheint andererseits jedes Schreiben über (kollektive) Identitäten gefährlich. Es droht nämlich, performativ zu werden, zum »Fest-Schreiben« oder zum »Still-Stellen« (Wagner 1988: 72). In Konzepten kollektiver Identität drohen aus dieser Sicht stets Verdinglichungen, Substantialisierungen und Essentialisierungen. Dieser Verdacht kann so weit gehen, dass etwa im Kontext der Migrationsforschung dazu aufgefordert wird, »Konzeptionen kultureller Identität« nicht nur zu »hinterfragen«, sondern auch zu »revidieren« (Porsché 2011: 19). Für viele assoziiert sich das Phänomen kollektiver Identitätsbildung eben ausschließlich mit gewaltvoller Abgrenzung – statt auch mit In46

klusion und Sinnstiftung, die sich bereits logisch mit ereignen. So fordert etwa auch der schon erwähnte Historiker Niethammer, den Begriff auszulöschen. Es handele sich um eine »magische Formel« (Niethammer 2000: 625), die immer dann ein »Kollektivsubjekt« hervorzaubere, wenn eine Gesellschaft »etwas anderes will, als das Recht regelt«. Jede Identitätsrede bewege sich daher in Richtung Aggression. Stets könne die zunächst harmlos scheinende Forderung nach kultureller oder politischer Identität umschlagen in die Legitimation von Gewalt (ebd. 626). Ganz ähnlich heißt es bei Jürgen Straub (2012: 338), »dass gewiss alle Konstruktionen kollektiver Identitäten ›ein latentes oder offenes Gewaltpotential‹ ausbilden können«. Zur kritischen Haltung gehört mindestens drittens, kollektive Identitäten als bloß strategische Erfindungen zu verstehen: als ›bloße‹ Imagination, als nur konstruiert und nicht als ›wirklich‹. Bei all dem wird die Skepsis gegenüber Gesellschaftbegriffen hineinspielen, die Auffassung, alle Kollektiv- oder Gesellschaftsbegriffe seien als mystifizierende aufzulösen. Aus diesen Gründen sind Konzepte kollektiver Identitätsbildung oft implizit entfaltet, oder geht es explizit um deren Kritik. So taucht das Konzept zunächst analytisch unter verschiedenen Titeln auf: als Erforschung des kulturellen Gedächtnisses, im Konzept des sozialen Imaginären, in den Begriffen der kulturellen, nationalen, ethnischen, regionalen Identität. Sodann hat der Essentialismus-Verdacht zur Folge, sich ausdrücklich von einer grundlegenden Frage lösen zu wollen – von der nach Gesellschaft. Auf der einen Seite sind Konzepte und Phänomene kollektiver Identität zentrale soziologische Themen. Es handelt sich um eines der Bezugsprobleme der Disziplin, um die doppelte und bleibende Kernfrage des Faches: was eigentlich eine Gesellschaft ist, wie sie sich konstituiert, und in welcher wir leben. Auf der anderen Seite taucht ›kollektive Identität‹ unter diesem Titel einer zentralen Fragestellung gerade nicht auf. Einführungen in die Soziologie nennen und kennen andere Bezugsprobleme, insbesondere die Frage sozialer Ordnung statt Unordnung; zuweilen auch die nach Richtung und Ursachen des sozialen Wandels moderner Gesellschaften; die Frage, was soziales Handeln ist; und die nach den Gründen der Reproduktion von Ungleichheiten (vgl. z.B. Luhmann 1981, Knöbl/ Joas 2004). Die Beobachtung ist also die einer Diskrepanz zwi47

schen der Bedeutung des Themas und der expliziten Aufmerksamkeit soziologischer Theorie, gerade im Vergleich zu den Großkonzepten Individualisierung, Differenzierung, Verungleichung, Rationalisierung. Und statt als generelles soziales Phänomen diskutiert zu werden, tendiert soziologische Theorie und Forschung durchaus auch dazu, in Begehren und Behauptungen kollektiver Identität allenfalls vormoderne Relikte, Regressionen, Ausflüchte aus der Moderne zu sehen. Speziell im deutschsprachigen Fall liegt die Reserve natürlich maßgeblich an den historischen Ereignissen, an der Vergiftung der Begriffe durch die Anrufung des nationalistisch und biologistisch definierten ›Volkes‹. Aber auch französische und angloamerikanische Soziologinnnen teilen den Verdacht gegenüber kollektiven Identitätsbegehren: Jede der modernen Nationen hat ihre Erfahrungen mit Diskriminierungen, Säuberungen, Ausgrenzungen; mit Völkermord und Unterdrückung von Minderheiten. Die theoretische Vernachlässigung des Themas wird aber auch mit dem Verdacht gegenüber Großtheorien, mit der soziologischen Spezialisierung, und der Bevorzugung einer Akteur-zentrierten Denkweise zusammenhängen. In der Konzentration auf Handlungs-, Artefakt-, Netzwerk- oder Praxistheorien werden Gesellschaftsbegriffe scheinbar obsolet und auch aktiv verabschiedet. »Die gegenwärtige theoretische Entwicklung innerhalb der Soziologie ist durchzogen von einem kontinuierlichen Aufbrechen eines systematischen Gesellschaftsbegriffs. Die Gesellschaft wird immer weniger als strukturellsystematische Ganzheit […] konzipiert […]. ›Gesellschaft‹ wird auf Konstruktionen von Individuen, auf subjektive Erfahrungen und mikrosoziale Interaktionen zurückgeführt.« (Moebius/Gertenbach 2008: 4130)

Was ist die Kritik am Gesellschafts- oder dem Kollektivbegriff (den wir hier synonym gebrauchen, um neben nationalstaatlich organisierten Gesellschaften alle anderen zu umfassen)? Gegen Konzepte und Begriffe von Gesellschaft, zumal kollektiver Identität, wird zunächst der Vorwurf des Essentialismus oder der Ontologisierung des Sozialen erhoben: Wer von kollektiven Identitäten spricht, berufe sich auf Essentielles, Substantielles, das alle Mitglieder der Gruppe teilen; er naturalisiere sozio-politische Differenzierungen und verdingliche soziale Prozesse. Und weiter – wer von Gruppen, 48

Gesellschaften, Kollektiven spricht, ontologisiere nicht nur stets konflikthafte Prozesse, er trage vielmehr auch zur Unterdrückung von Minderheiten und Vereinheitlichung von Subjekten bei. Eine jede Theorie der kollektiven Existenz erscheint hier als performative Erzeugung von Ausgrenzungen und Subsumierungen. Im Hintergrund steht eine weit allgemeinere Kritik: die am Gesellschaftsbegriff überhaupt, wie sie bereits Weber und Simmel als Kritik an jedem Kollektivbegriff, vor allem dem Gesellschaftsbegriff geäußert haben. Simmel spricht stattdessen lieber von Vergesellschaftung – als »ewiges Fließen und Pulsieren, das die Individuen verkettet« (Simmel 1970: 13). Auch bei Weber hieß es in diesem Sinn, der Begriff sei ein ›Spuk‹, er hypostasiere etwas, das es nicht gibt. Wer von Gesellschaft spricht, macht diese zum Kollektivsubjekt und Ding – statt sie zu ›erklären‹. Innerhalb einer solchen Substanz-Ontologie-kritischen Vorstellung ist eine soziologische Erklärung eine, die am Einzelnen, seinen Motiven und Interessen ansetzt – an seiner Wirklichkeitskonstruktion und seinem Handeln. Die Kritik am ›strukturtheoretischen‹, kollektivzentrierten Ansatz, am Ausgang vom gesellschaftlich konstituierten Subjekt und nicht Akteur lässt sich (neben Tarde) auf diese deutschen Klassiker zurückführen. Eine solche Kritik lässt sich gerade gegenwärtig erneut im soziologischen Theoriediskurs hierzulande beobachten. Es ist eine Tendenz beobachtbar, die gesellschaftstheoretische Perspektive und den Gesellschafts- oder Kollektivbegriff (als metaphysisch, ontologisch und essentialistisch) abzulehnen. »Wofür […] braucht man noch einen Gesellschaftsbegriff?« heißt es etwa in Soziale Welt (Saake/Nassehi 2007: 235). Niklas Luhmann schreibt in Gesellschaft der Gesellschaft: »›Le retour de l’acteur‹ ist angesagt« (1997: 1030f.), und weiter: Die »Hartnäckigkeit, mit der die heute in der Soziologie herrschende Meinung sich auf ›Handlungstheorie‹ festgelegt hat«, resultiere aus einer Verteidigungshaltung – der Verteidigung des Subjekts (ebd.). So gesehen mag untergründig die postmoderne Wahrnehmung einer Krise des Individuums, der Fragmentierung und Verflüssigung des Selbst eine Rolle spielen. Nicht zuletzt mag diese Theorieentwicklung auf die Kränkung des Subjekts reagieren, die all jene soziologischen Theorien erzeugen, die in der Linie Durkheims dessen gesellschaftliche Erzeugung behaupten. Gerade auch gegenwärtig gilt:

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»Der Begriff ›Gesellschaft‹ steht in der Soziologie derzeit nicht hoch im Kurs. Immer häufiger gerät er ins Zentrum soziologischer Kritik und nicht wenige innerhalb des Faches halten ihn gar für völlig verzichtbar. Am Beginn des 21. Jahrhunderts scheint der Gesellschaftsbegriff, den sich die Soziologie noch einhundert Jahre zuvor hart erarbeiten musste, immer mehr an Bedeutung und an Überzeugungskraft zu verlieren.« (Müller 2015: 195)

Eine zweite Kritik am Gesellschaftsbegriff betrifft den methodologischen Nationalismus, der damit einherzugehen scheint: ›Gesellschaft‹ meine stets ›nationale Gesellschaft‹. Aus dieser Sicht sollte sich die soziologische Theorie eher »Sozialtheorie«, und nicht mehr »Gesellschaftstheorie« nennen, denn der Begriff der ›Gesellschaft‹ scheint »so sehr mit dem einer nationalstaatlich verfassten« Gesellschaft verknüpft, dass er »endgültig problematisch geworden ist« (Joas/Knöbl 2004: 11). Die Auflösung des Gesellschaftsbegriffes entspricht in dieser Sicht einer realen gesellschaftlichen Lage, nämlich der ›Globalisierung‹ und der (scheinbaren) Obsoletheit der Nationalstaaten. Das könnte sich – angesichts der heutigen Unvorhersehbarkeit politischer Ereignisse – schnell als trügerisch herausstellen. Dann wäre auch Peter Sloterdijks folgende Beobachtung empirisch überholt: Was bislang unter einer Gesellschaft verstanden wurde, »war der Inhalt eines starkwandigen, territorialen, symbolgestützten, meistens einsprachigen Behälters – mithin ein Kollektiv, das in einer gewissen nationalen Geschlossenheit seine Selbstgewißheit fand […]. Solche historischen Gemeinschaften, die sich am Schnittpunkt von Selbst und Ort aufhielten, die sogenannten Völker, waren […] auf ein hohes Gefälle zwischen Innen und Außen angelegt.« (Sloterdijk 1999: 28)

Die Globalisierung habe diese Gefälle »eingeebnet«, zumal die individuellen Interessen nun eher dazu zu neigen scheinen, jegliche kollektive ›Container‹ aufzubrechen. Wie auch immer es sich mit dem Nationalstaat und der national gedachten Identität verhält: Wir verstehen wie erwähnt unter ›Gesellschaft‹ jede Form kollektiver Existenz – auch eine totemistische und auch eine nomadische, nicht an den Staat und das Territorium gebundene Gesellschaft ist eine ›Gesellschaft‹. 50

Schließlich, einer dritten Kritik am Gesellschafts- und Kollektivbegriff zufolge, gibt es eine schlechte (gefühlsbehaftete, irrationale) und eine gute (rationale, selbstkritische) Weise der Identifizierung mit einem Kollektiv. Hier geht es um eine partielle Bejahung und um eine normative, oder sozialphilosophische Bestimmung. Aus dieser Perspektive (von Jürgen Habermas und vielen anderen) ist je nur eine bestimmte Art der kollektiven Identität mit guten Gründen vertretbar: die post-nationale, inklusive einer kritischen Beziehung auf die eigene national bestimmte Gesellschaftsgeschichte. Erkennbar ist dann eine sozialphilosophische, normative Position eingenommen. Natürlich gibt es demgegenüber sehr wohl auch immer neue, und weiterhin klassische Gesellschaftstheorien (vgl. zur Verteidigung des Gesellschaftsbegriffes auch z.B. Göbel 2011). Nur sind eben die dominanten (nämlich die marxistischen und postmarxistischen, die poststrukturaliastischen und systemtheoretischen Theorien von Gesellschaft) gegenüber Konzepten und Begehren kollektiver Identität kritisch. Hier erscheinen Behauptungen kollektiver Identität entweder als politische Ideologien, die die eigentlichen (ökonomischen) Herrschaftsmomente verdecken; oder aber als alteuropäische, ausgleichende Semantiken in einer anders organisierten, nämlich funktional differenzierten Gesellschaft.

(Kollektive) Identität als gegenwärtiges Leitproblem Frédéric Worms hat für Frankreich die 1960er Jahre als den ideengeschichtlichen »Moment« gekennzeichnet, in dem das gesamte sozial- und kulturwissenschaftliche Denken um Konzepte von Struktur und Differenz zentriert war (Worms 2009: 467-552). Die Aufmerksamkeit lag auf den konstitutiven Unterschieden der Geschlechter, von Natur und Kultur usw. Insofern war zwar bereits auch die Frage der Identität präsent, aber nur als Gegenteil von Differenz. Vor allem in den 1980ern wird dann die ›Identitätskrise‹ ausgerufen und dreht sich vieles um Identität. Dabei ging und geht es mindestens ebenso um individuelle Identität wie um kollektive. In beiden Hinsichten schien ›Identität‹ fraglich. Tatsächlich haben auch viele soziologische Denkströmungen dazu beigetragen, sowohl die Vorstellung des mit sich identischen Selbst,

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als auch der Gesellschaft zu dekonstruieren. Denkbar war und ist beides nur noch als instabil, flüchtig, als Chimäre: als inexistent. Angesichts der jüngeren politischen Ereignisse und all jener bereits angesprochenen Diskurse hingegen; angesichts der tiefen Bevölkerungsspaltung gerade in Fragen der kollektiven Identität; angesichts der Begehren und gegenseitigen Unverständnisse; angesichts der beteiligten Affekte, des heiligen Ernstes der Debatte; angesichts dessen, dass Vorwürfe, Affekte, Ängste, Denunziationen und Unverständnisse quer durch Ehen und Familien verlaufen: angesichts all dessen kann man zu der Auffassung gelangen, kollektive Identität sei das gegenwärtige gesellschaftliche Leitproblem – das Brisante und von der soziologischen Theorie in der individuellen und kollektiven Funktion, den Mechanismen und Effekten Aufzuklärende. Auf spektakuläre Weise wird all dies in der Ehe Lethen & Sommerfeld deutlich: Hier wird deutlich, dass diese Diskurse, Begehren, Affekte die ›Lebenswirklichkeit‹ betreffen und durchqueren. »Ich halte es nimmer aus, daß ich von Lemmingen umgeben bin. Ein besonders lieber Lemming sitzt im Wohnzimmer«, heißt es einmal seitens der ›Identitären‹ Sommerfeld, und weiter: »Ich beobachte H. beim Beobachten der Welt mit linken Suchbegriffen«, nämlich der »Bösen Geister Emanzipation, Entstrukturierung, Dekonstruktion und Ethnomasochismus«, sowie des »Großen Austauschs« (Sommerfeld 2017a). »Wo ich Krise sehe, sieht er Bereicherung, wo ich phänotypische Unterschiede sehe, sieht er Gleichheit, wo ich geschichtliche Umbrüche sehe, sieht er Individuen, wo ich Agon sehe, sieht er Konsens.« (Sommerfeld 2017b). Es geht hier stets um die Auffassung und Bestimmung kollektiver Identität, auf der einen wie anderen Seite. Und zwischendrin klafft eine tiefe Kluft. Könnte man als das gegenwärtige Leitproblem nicht auch die Frage der individuellen Identität sehen, wird nicht das Selbst immer wichtiger, wird es nicht zunehmend als Projekt verstanden? Leben wir nicht in einer »Gesellschaft der Singularitäten« statt der Kollektive? Indes: Es gehe gegenwärtig, so Andreas Reckwitz unter diesem Titel, sowohl dem Individuum als auch den neuen Kollektiven (ethnischer, religiöser, politischer Art) um deren Einzigartigkeit oder Singularität (Reckwitz 2017: 394-422). Auch hier erscheint kollektive Identität als gegenwärtiges Begehren. Und auch die Suche nach dem singulären Ich entspricht eben einer 52

bestimmten Art der kollektiven Identifizierung. Das um seine Individualität besorgte Individuum ist das einer bestimmten Gesellschaftsform, in der deren Identität sich auf den Wert jedes Einzelnen bezieht. Es ist das heilige Zentrum der modernen demokratischen und ebenso der modernen funktional differenzierten Gesellschaften. Darin liegt deren ›Identität‹. In diesem Sinn hat Durkheim vom Kult des Individuums gesprochen: Die kollektive Identität bestimmter Gesellschaften der Gegenwart respektive von Teilen ihrer Bevölkerung liegt darin, die Person für heilig zu halten. Zugleich erklären sich neue politische Begehren und Ängste, neue ethnische und nationalistische Bewegungen gerade aus einer antimodernen, und damit gleichwohl genuin modernen Reaktion. Die anderen Auffassung kollektiver Identität sind entgegengesetzte, aber sie sind nicht weniger zeitgenössisch. Und ganz unabhängig von aktuellen Dringlichkeiten und Krisenwahrnehmungen, ganz generell gesprochen, geht es hier um die Frage, was eigentlich das Soziale ist, was Kollektive sind, was der Gegenstand der Soziologie ist. Für diese Disziplin ist eine rein auf subjektive Aspekte beschränkte Frage nach Identität im Grunde nicht plausibel. Sie ist gar »nicht weiter interessant« (LéviStrauss 1980: 7f.): Die individuelle »Identitätskrise, mit der man uns dauernd in den Ohren liegt«, sei vielmehr Anlass, sich endlich dem »Punkt [anzu]nähern, an dem jeder von uns aufhören muß, seine eigene kleine Person für das Wesentliche zu halten«, so schreibt Lévi-Strauss in den 1980ern (ebd. 8). Der Hauptnenner einer jeden Theorie der Gesellschaft sei vielmehr: Identität als etwas zu verstehen, das permanent »wiedererschaffen, wiederhergestellt werden muß«, und das viel eher eine kollektive Frage, als eine des Einzelnen ist (Lévi-Strauss/Benoist 1980: 263). Zumindest aus diesem soziologischen Blick, dem Blick des Strukturalisten (der einer unter vielen anderen und auch gegensätzlichen Möglichkeiten ist) ist ja individuelle Identität ein Differenzprodukt. Identität ist immer relational, und sie bezieht sich zudem stets auf eine vorgestellte und kollektiv geteilte Einheit. Im vergleichenden Blick auf solche Vorstellungen oder Imaginationen, die dem Selbst zugrundeliegen, werden wir im Buch auch auf ganz andere Identitätsvorstellungen eingehen (totemistische etwa). Dabei wird zentral sein, die Identitätskonzepte, die jenen anderen kulturellen Kontexten entspringen, in keinem Sinn als ›vormo53

dern‹ zu verstehen. Es handelt sich um andere Weisen kollektiver Existenz und Identitätsbildung. In ihnen wird etwa individuelle Identität nicht als gegeben und substantiell gedacht, sondern als permanent zu lösendes Problem. In ihnen setzen sich Kollektive beispielsweise nicht nur aus Menschen, sondern auch aus Nichtmenschen zusammen. Sie haben andere Modi der Abgrenzung und damit der kollektiven Identitätsbildung.

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II Kollektive Identitäten: Vor- und außersoziologische Konzepte (nationale Diskurse) Konzeptionell dominieren dabei durchaus verschiedene, und zwar national bestimmte Traditionen. In ihnen wird ›kollektive Identität‹ je anders bestimmt. Sie lassen sich auf verschiedene historische Situationen zurückführen: Es hängt mit den historischen Umständen, der Geschichte, der historisch bedingten Selbsterzeugung einer Gesellschaft zusammen, wie sich Gesellschaften selbst beschreiben, und welche Konzepte kollektiver Identität sie auch in Gestalt ihrer soziologischen, politischen oder philosophischen Autorinnen entwerfen oder aber kritisieren. Dabei zeigt bereits jeder oberflächliche Blick, dass das Thema kollektiver Identität meist mit nationaler Identität übersetzt und gleichgesetzt wird. Hegel, Rousseau und Herder mit ihren Eruierungen der Identität des Volkes stehen dabei ebenso in der Reihe der einflussreichen Denker wie (Ende des 19. Jahrhunderts) Ernest Renan mit der These des täglich neu zu bejahenden nationalen Zusammenhalts. Später, in den 1980ern, waren Arnold Toynbee, Shmuel Eisenstadt, Benedict Anderson oder Eric Hobsbawm prägend: Experten für die historische, und effektvolle Erfindung nationaler Traditionen und Identitäten (vgl. v.a. Hobsbawm/Ranger 1983). Wir können von diesen nicht- oder vorsoziologischen Konzepten nur weniges herausgreifen. Wir konzentrieren uns dabei auf solche Konzepte, die die Vielfalt kollektiver Identitäten zeigen; und solche, die deren Funktion zu erklären erlauben; sowie solche, die für die national geprägten Unterschiede in der Thematisierung kollektiver Identität exemplarisch sind. Darüber hinaus müsste man etwa (wegen ihrer Umstrittenheit und Anstößigkeit) Samuel Huntingtons These des religiös fundierten Konflikts der Kulturen als These kollektiver Identität thematisieren (1996); Charles Taylors Begriff des modernen sozialen Imaginären (2003); Craig Calhouns Theorie der politischen Identität (1994) – und natürlich eine jede rassistische Politik und Theorie (Balibar 1990a, vgl. Hund 2007). In das unüberschaubare Feld kollektiver Identität gehören ebenso kulturhistorische Analysen, wie diejenigen der »Erinnerungsorte« Frankreichs (Nora 1984-1992); sowie die Suche nach normativ richtigen, vernünftigen kollektiven Identitäten (Habermas).

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In den verschiedenen national bestimmten Kollektiven lassen sich differente Füllungen dessen unterscheiden, was eine kollektive Identität ist und welche in Anspruch genommen wird: In der deutschsprachigen Geschichte und Denkweise dominieren andere Verständnisse davon, was die Identität des Volkes oder der Nation ausmacht, als im Französischen oder Amerikanischen – auch wenn die Begriffe ineinander übersetzbar sind (people, peuple). Es gibt differente semantische Traditionen des Nachdenkens über ›kollektive Identität‹, die mit den differenten politischen Geschichten zusammenhängen. Diese Konzepte unterscheiden sich darin, worauf sie das ›Volk‹ oder die eigene Identität beziehen und welche Kollektivbildung sie daher primär ansprechen (die kulturelle, nationale, ethnische oder rassische Identität?). Zugleich unterscheiden sich die Denkweisen darin, welche Disziplin je leitend ist (Geschichtswissenschaft, Politische Philosophie, Soziologie?). Mit Georg Simmel und Helmuth Plessner ließe sich dem einerseits hinzufügen, dass es je Epochen-übergreifende Zentral- oder Schlüsselbegriffe gibt, in der sich Kollektive beschreiben. Und mit Karl Mannheim, Plessner oder Laclau und Mouffe würde man doch zugleich sagen: In einer Epoche gibt es zwischen verschiedenen Kollektiven konkurrierende Wir-Projekte, ebenso wie innerhalb einer (stets hegemonial vereinten) Gesellschaft.

1 Frankreich: Volkssouveränität, Wahlvolk, Nation

In Frankreich bindet sich jede Überlegung zur kollektiven Identität explizit oder implizit an das Ereignis der Französischen Revolution und die entstehende Republik – als Ablösung der absolutistischen Monarchie und des Monarchen als persönlicher Verkörperung der kollektiven Identität und Einheit. Die Idee des souveränen Volkes, welches den Souverän ablöst: Dies ist es, was die Revolutionäre umtreibt, und sie zur Erklärung der Menschenund Bürgerrechte veranlasst. In der Spannung zwischen dem Individuum und dem zu repräsentierenden Volk entspinnt sich der Terror der Revolution. Diese Spannung ist in die Prinzipien der Demokratie eingeschrieben. Wie lässt sich die Identität des Volkes, die Einheit seines Willens bestimmen und erzeugen?

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Rousseau: Das mit sich identische Volk Es ist das Leitproblem von Jean-Jacques Rousseau, das zur Unterscheidung des Willens der Vielen (volonté des tous) vom einheitlichen Willen aller (volonté gènerale) führt. Im Contrat Social von 1762 heißt es: »Jeder von uns unterstellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft der obersten Leitung des Gemeinwillens, und wir nehmen als Körper jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf.« (Rousseau 1981c: 280)

Es kann hier nicht um eine Darstellung Rousseaus gehen, dessen Interpretation alles andere als einhellig ist. Wir beschränken uns auch hier auf sehr kursorische Bemerkungen: Rousseau hat (so Balibar 1990b: 115) als erster die Frage gestellt, wodurch »das Volk zu einem Volk« wird. Für ihn ist in dieser Frage entscheidend, worin die Einheit des Staates besteht; wie ein Volk so beschaffen sein kann, dass es sich selbst (in Form des Staates) beherrscht, niemandem als sich selbst unterworfen ist. Und die Antwort lautet: Die Vereinigung der Bürger erzeugt und unterwirft sich nur dem Willen aller, dem Gemeinwillen als dem einen – souveränen – Willen. Untertan und Souverän sind identisch. Alle sind Souverän, und niemand ist unterworfen. Jeder folgt seinem eigenen (allgemeinen) Willen. Dieser Wille ist unteilbar, und die Souveränität ist unveräußerlich. Rousseau formuliert ein Konzept kollektiver Identität als selbstgewollter. Die Identität liegt nun genauer besehen in den rechtlichen und politischen Institutionen: Politisch (oder konstruktiv) und nicht substantiell sind die Einzelnen identisch. Sie teilen die Einsicht, dass jeder sich dem Gemeinwillen unterstellen muss – im eigenen Interesse. »Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens und wir nehmen, als Körper, jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf. Dieser Akt des Zusammenschlusses schafft augenblicklich anstelle der Einzelperson jedes Vertragspartners eine sittliche Gesamtkörperschaft, die aus ebenso vielen Gliedern besteht, wie die Versammlung Stimmen hat, und die durch ebendiesen Akt […] ihr Leben und ihren Willen erhält.« (Rousseau 1977: 18)

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Auf der anderen Seite lautet die Vorstellung aber auch: Im Kollektiv verwandeln sich die Einzelnen, sie werden andere, erhalten ihre Bestimmung vom Kollektiv. »Wer sich daran wagt, ein Volk zu errichten, muß sich imstande fühlen, sozusagen die menschliche Natur zu ändern; jedes Individuum […] in den Teil eines größeren Ganzen zu verwandeln, von dem dieses Individuum in gewissem Sinn sein Leben und Dasein empfängt.« (Ebd. 43)

Und weiter: Es geht in der Demokratie darum, die Konstitution des Menschen zu ändern, »um sie zu stärken« (ebd. 44). Dieses Ganze wird nun notwendig als partikular, als Nation und damit als begrenzt vorgestellt. Eine kollektive Identität der sich selbst beherrschenden ist eine der am Gemeinwesen beteiligten Bürger (nicht aller Menschen). Im Streit zwischen der Deutung Rousseaus als totalitärem Denker (der die Identität der Bürger verordne) oder als Denker der Freiheit (der Selbstherrschaft des Volkes)9 gibt es einen dritten Aspekt, der hervorzuheben ist: Rousseau fundiert die Identität des Kollektivs auf einer Religion. Er macht die Religion funktional für das Politische, für die Bestimmung einer Gesellschaft. Die Funktion der Identifizierung mit dem politischen Kollektiv (des Stolzes auf die Nation und deren Heiligkeit) ist es, affektive Integration zu erreichen. Die Bürger müssen sich identifizieren, um ihr Gemeinwesen mitzugestalten, sich zu engagieren. Das also ist die Funktion der Religion. Sie enthält folgende Dogmen: »Die Existenz der allmächtigen, allwissenden, wohltätigen […] Gottheit; das zukünftige Leben; das Glück der Gerechten und die Bestrafung der Bösen; die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze – das sind die positiven Dogmen. Was die negativen Dogmen anbelangt, so beschränke ich sie sie auf ein einziges: die Intoleranz« (ebd.).

Rousseau ist zudem neben und über die These des Vertrages hinaus auch Vordenker der kulturell erzeugten Identifizierung. Vertragstheorien sind unzulänglich, wenn sie bei einer Versammlung von Gesellschaftern stehenbleiben. Damit die Einzelnen wirklich »mit einer einzigen Stimme« sprechen, muss die »Aufeinanderfolge der Generationen« berücksichtigt werden, so Descombes (2013: 58

210). Rousseau fügt also den Gesetzen, die die ›eine Stimme‹ des Volkes bilden, eines hinzu, das nicht juristisch definiert ist. Die wirkliche Einheit des Staates ergibt sich aus der Kultur. Sie belebt die Gesetze, sie orientiert das Volk in seiner politischen Form. Namentlich denkt Rousseau hier an die »Macht der Gewohnheit«, die unmerklich von der Macht des Staates übernommen und ersetzt wird. Mit anderen Worten, es sind die Sitten, Traditionen und Überzeugungen, die eine kollektive Identität (Solidarität und Identifizierung mit dem politischen Gemeinwesen) stützen. Durch diese Praxen und Vorstellungen macht sich das Volk zu diesem Volk, statt »zu einem anderen« (Rousseau 1981b: 57f.). Von einem solchen Kollektivbewusstsein will der Aufklärer Voltaire »nichts wissen. An den Rand seines Exemplars schreibt er: ›Das ist erbärmlich. Wenn man Jean-Jacques die Peitsche gibt, gibt man sie dann der Republik?‹« (Descombes 2013: 213). Um Rousseau zu verstehen, muss man das Problem im Blick haben, auf das die Selbstherrschaft und kollektive Selbstbestimmung bleibend reagieren muss. Für Rousseau liegt der bleibende Anlass zur Bildung kollektiver (nationaler) Identität in der beschränkten Sympathie der Familie. Zunächst gab es »Familien, aber es gab keine Völker. Es gab häusliche Sprachen, doch keinerlei Volkssprachen. Es gab Heiraten, doch es gab keine Liebe. Jede Familie genügte sich selbst und pflanzte sich allein durch ihr eigenes Blut fort.« (Rousseau 1981a: 197f.)

›Gesellschaft‹ setzt voraus, ein solidarisches Gefühl über die ›naturgemäß‹ parteilichen Familien hinaus zu institutionalisieren, ein übergreifendes Wir-Bewusstsein: kollektive Identität. Das Inzestverbot ist der Mechanismus, in dem ein Kollektiv jenseits der Familie entsteht. Ebenso wie die Sprache setzt es Austausch in Gang, erzeugt solidarische Gefühle unter Nicht-Verwandten, eine künstliche Verwandtschaft. Zugleich ist es die Sprache, welche die Völker unterscheidet — Rousseau versteht das Subjekt als gesellschaftlich geformt, statt von einer ahistorischen Natur auszugehen. Er verkürzt Gesellschaft nicht rationalistisch auf einen Vertrag, sondern denkt diese auch als solidarische, Gefühle ansprechende und instituierende Institution. Kurz und gut: Rousseau ist ein wahrhaft soziologischer Denker. All dies macht ihn 59

zu einem Vater der Ethnologie, der politischen Theorie und der Soziologie.

Kollektive Identität bei Lévi-Strauss (und Hume) Das Problem, auf das eine politische Identifizierung antwortet und vor das sich eine jede Gesellschaft gestellt sieht, ist für Rousseau wie für Lévi-Strauss: die partikulare Begrenzung. Darin folgen beide (explizit oder implizit) David Hume. Wir machen also einen kurzen Umweg über den schottischen Philosophen, der sich mit Rousseau 1766 übrigens einmal traf (worüber beide irritiert berichtet haben). Eine der »bedeutendsten Ideen Humes ist die, daß der Mensch weniger egoistisch als parteiisch ist«, schreibt Deleuze (1997: 31). Das hat Konsequenzen für die Art, wie man kollektive Identität denkt, worauf man diese als Antwort versteht: Es ist die »Grundstruktur« von Gesellschaft, die ganz anders gedacht wird, »je nachdem, ob man sie vom Standpunkt des Egoismus« oder der Sympathie aus betrachtet (ebd. 33). Egoismen gilt es, einzuschränken. Vertragstheorien denken Gesellschaft insofern negativ instituiert, in Gesetzen und Verboten. Wer von Sympathien ausgeht, denkt deren Integration oder Ausweitung; es handelt sich um Konzepte positiver Totalitat, von Integration und Identifikation. Den Vertragstheorien wirft also Hume ein »falsches Bild der Gesellschaft« vor, als »Zwangszusammenhang«, als Begrenzung der individuellen Interessen. Dagegen gilt es, Gesellschaft als »kunstvoll erfundene« Institution zu begreifen (ebd.), als etwas, das zunächst gestiftet werden muss. Und statt den Menschen egoistisch zu denken, geht Hume von Familien aus. Das Problem der Gesellschaft ist die Integration. Gegenüber der Schließungstendenz der Familie, ihrer ›natürlich beschränkten‹ Parteilichkeit gilt es, die Sympathien auszuweiten, Solidarität unter Fremden zu erzeugen. Dies ist für Hume die Bedingung gesellschaftlicher Existenz: Ausweitung von Parteilichkeit oder kollektiver Identität im Sinn der Identifizierung mit Fremden. Dazu muss man lediglich der »eigennützige[n] Neigung […] eine neue Richtung« geben (Hume 1989: 236). Ob innerhalb einer nationalen Gesellschaft oder der EU, darin liegt die Notwendigkeit kollektiver Identitätsbehauptungen. Hume gibt mithin eine weitere Antwort auf die Frage, auf welches Bezugsproblem kollektive Identität antwortet. Es ist die 60

Gespaltenheit nicht im Sinne des sozialen Kampfes, der Ungleichheit, sondern der Parteilichkeit kleiner Gruppen. Dasselbe liegt der Konzeption von Gesellschaft bei Lévi-Strauss zugrunde, wenn er sich fragt, warum keine Gesellschaft ohne Inzestverbot existiert, warum alle künstliche Verwandtschaftsbande knüpfen. Auch für ihn ist die Durchbrechung des Familienprivilegs die Möglichkeitsbedingung von Gesellschaft. Kollektive Identitätsbildung heißt artifizielle Schaffung von Verwandtschaftsgefühlen, solidarischer Affekte. Daher das Inzestverbot in allen Gesellschaften: »Die vielfältigen Regeln, die bestimmte Arten von Gattinnen verbieten oder vorschreiben«, also die Verwandtschaftsregeln, »sind der Gesellschaftszustand selbst, der die biologischen Beziehungen und die natürlichen Gefühle umformt« und in kulturelle Strukturen zwingt (Lévi-Strauss 1993: 654, Herv. HD). Die Erfordernis, Sympathien auszuweiten, solidarische Gefühle zu erzeugen, gilt für alle Kollektive. Und wenn Nationalstaaten die Staatsbürgerschaft mit dem Abstammungsnachweis verknüpfen, kann man dies buchstäblich als künstliche Verwandtschaft sehen, als Knüpfung solidarischer Affekte durch die Fiktion des ›Familienbandes‹. Freilich gibt es auch andere Möglichkeiten, Staatsbürgerschaften zu definieren. Immer aber geht es um die Erzeugung von verknüpfenden, freundschaftlichen Gefühlen, von Zusammenhalt, gegenüber der inneren Spaltung, welche LéviStrauss zufolge die ›natürliche‹, aber immer schon kulturell, institutionell verhinderte Tendenz des Menschen ist. Eine Aufgabe der strukturalen Anthropologie besteht dann darin, die vielfältigen Institutionen zu sichten, die dazu dienen, solidarische Beziehungen zu sichern. Untersucht werden also die vielfältigen Tauschbeziehungen: der Tausch von Frauen, Dienstleistungen, Festen usw. Eine andere Aufgabe ist, die differenten Modi zu untersuchen, in denen Identifikationen mit anderen auftreten: etwa in der Identifikation mit bestimmten Tieren, in der Bildung totemistischer Kollektive (Descola).

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Renan: Was ist die Nation? Eine zivilbürgerliche, konstruktivistische oder voluntaristische Fassung erhält die kollektive Identität der Nation insbesondere bei Ernest Renan. Auch hier geht es letztlich um ›Solidarität‹, um die Fiktion von Verwandtschaft. Dabei wird diese als wählbar gedacht. Man kann der Nation beitreten. ›Kollektive Identität‹ respektive nationale Identität wird hier jeder substantiellen Bestimmung entzogen. »Was ist der Staat?« fragt Renan 1882. Seine Antwort erlangt er nach Art einer »Vivisektion« (Renan 1993: 289f.): Zunächst feststellend, worin sich die kollektive Identität der Franzosen nicht begründet. Sie ist weder ›zoologisch‹, noch territorial, noch auch zweckrational, konfessionell oder sprachlich bestimmt. Was die Identität der Nation wirklich ausmacht, ist vielmehr ein ›spirituelles‹ Prinzip. Es ist zweigeteilt: Die Nation beruht zum einen auf der Idee der gemeinsamen Vergangenheit (die voraussetzt, dass vieles vergessen wird), und zum anderen auf dem Wunsch, auch in Zukunft gemeinsam leben zu wollen. Wenn dieser Wunsch nicht mehr besteht, werden Nationen enden. Sie sind nicht ewig, nicht unwandelbar, und die Nation ist auch keine substantielle Identität. Sie ist eine »Solidargemeinschaft«, die zwar die Konstruktion einer gemeinsamen Vergangenheit voraussetzt, aber wesentlich im permanent zu aktualisierenden Begehren besteht, das »gemeinsame Leben fortzusetzen. Das Dasein einer Nation ist […] ein täglicher Plebiszit« (ebd. 309). Marcel Mauss hat 1920 seinerseits eine ähnliche Definition der ›Nation‹ vorgeschlagen, die auf das Solidarische abhebt. Ihm zufolge sind viele der damals zeitgenössischen Gesellschaften (noch) keine Nation und können es nicht werden – es sei denn, sie verändern ihre Solidaritätssysteme und ihr Kollektivbewusstsein. Um zu einer Nation zu werden, gilt es, das Selbstgefühl zu nationalisieren – ein Gefühl nationaler Solidarität gegenüber bisherigen Formen gegenseitiger Unterstützung geltend zu machen. Eine Nation ist eine »materiell und moralisch integrierte Gesellschaft mit einer stabilen, ständigen Zentralmacht, mit festgelegten Grenzen, mit einer relativ stark ausgeprägten moralischen, geistigen und kulturellen Einheit der Bewohner«, die sich mit dem Staat identifizieren (Mauss 2017: 84). Und was ist diese kulturelle Einheit, Inhalt des Kollektivbewusstseins (auf welches wir bei Durkheim 62

zurückkommen)? Die Heiligkeit des Individuums, der Laizismus, die Idee der Menschenrechte. Eine Nation ist eine Gesellschaft, die sich selbst als eine versteht, die aus Individuen zusammengesetzt ist. Mauss’ Nation ist ein normatives, politisches, als Soziologie lediglich »getarntes Werk« (so die Herausgeber in Mauss 2017: 43).

Gegenwärtige Diskurse: Qu’est-ce que, l’identité française? Seither haben sich viele und viele prominente französische Autoren in die ›Identitätsfrage‹ eingemischt. 1992 hat Bourdieu die performative Kraft des Redens von Identitäten aufgedeckt; Lévi-Strauss veranstaltete in den 1980ern ein Seminar zur Identitätsfrage; Raymond Aron wollte in den 1950ern die europäische Identität vorantreiben und war zugleich sehr skeptisch wegen der Glanzlosigkeit und Nichtfassbarkeit der Europäischen Union (Lapparent 2010). Heute verneint Francois Jullien jede Vorstellung kollektiver Identität – als ein Beitrag zur politischen Debatte, die auch in Frankreich intensiv geführt wird, angefeuert durch Alain Finkielkraut. Ebenfalls innerhalb dieser Debatte versucht Vincent Descombes, die ›Rätsel der Identität‹ mit Mitteln der analytischen Philosophie zu klären – der Untersuchung der Logiken des Identitätsbegriffs und des Pronomens ›wir‹. Descombes stützt sich dabei zugleich seinerseits auf Castoriadis, auf die Betonung der ein Kollektiv schaffenden Macht, die Macht der Imagination eines einschließenden Wir. »Die Frage ›Wer sind wir?‹ ist Bestandteil der gegenwärtigen öffentlichen Debatte. Wir tragen miteinander Kontroversen über Kollektividentitäten aus […]. Man fragt sich […], ob das, was die europäische Identität ausmacht, eher die Tatsache ist, daß man eine gemeinsame Geschichte hat (was sie in die Nähe einer nationalen Identität stellen würde), oder eher die Tatsache, daß man gemeinsame Werte hat (was sie in die Nähe einer religiösen Konfession oder einer philosophischen Vereinigung stellen würde). Oder ist die europäische Identität etwa eine politische Identität?« (Descombes 2013: 160f.)

Dabei sind nicht nur die Antworten auf die Frage nach der kollektiven Identität strittig, sondern die Frage selbst ist kontrovers. Im Zentrum der Debatten stand und steht gegenwärtig Alain Fin63

kielkraut, dessen politische Kampfschrift vom deutschen Verleger zurückgezogen wurde. Finkielkraut sieht alle Erfolge der französischen Aufklärung gegenwärtig in Frage gestellt: die Souveränität des Staates, die französische Rationalität, die politische und die kulturelle Identität. Er polemisiert daher gegen die Verachtung der eigenen Herkunft, Geschichte und Kultur, wie sie im Kosmopolitismus hegemonial scheint, und verteidigt ein ›Recht auf Differenz von der Differenz‹, ein Recht auf kulturelle oder kollektive Identität. Worin besteht der Skandal? Zum einen in der Polemik gegenüber dem ›Kosmopolitismus‹, welche vielen als inopportun erscheint, denn Finkielkraut spricht von einem kulturellen Selbstmord. Auch denunziert er eine Doppelmoral: Im ›kosmopolitischen‹ Diskurs wird das dekonstruiert und aufgelöst, was »das Innen vom Außen trennt«, während das »Außen« »Applaus« erhält (Finkielkraut 2013: 116). Das Eigene wird verfemt und das Fremde gefeiert. Die Abstammung der einen wird gefördert, die Verwurzelung der anderen gilt als reaktionär: Das ist die Identitätsfalle des kosmopolitischen Diskurses, und seine Doppelmoral. Die Doppelmoral besteht auch in Praxen – etwa darin, dass die Verächter der eigenen Identität, die das »Andere« feiern, mit ihren Kindern lieber in den »abgeschotteten«, bürgerlichen Stadtteilen wohnen und die von Migranten besuchten Schulen meiden (ebd. 126). Der Skandal besteht aber vor allem in der Alternative, die Finkielkraut anstelle der von ihm derart verachteten und entlarvten Xenophilie vorschlägt. Denn dahinter verbirgt sich offensichtlich eine naturalistische und damit rassistische Vorstellung: »Wenn sich nichts durchhält, kann es auch keinen Anfang geben. Und wenn sich alles mischt, auch nicht« (ebd. 132). Entsprechend lautet die Kritik: Finkielkraut stützt die französische Identität auf vollkommen irreflexive, und schlimmer noch, rassistische Kategorien. Dabei beruft er sich ausgerechnet auf Lévi-Strauss, den Kritiker des Ethnozentrismus, der stets auf der Dignität einer jeden Kultur oder Gesellschaft beharrt hat (wir werden auf diese Inanspruchnahme zurückkommen, auf den kulturellen oder den Neorassismus). Mit dem großen Lévi-Strauss also beharrt Finkielkraut auf dem Recht auf eine französische Identität. Es sei, so hatte Lévi-Strauss in der Tat geschrieben, durchaus

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»nicht sträflich, eine bestimmte Art, zu leben und zu denken, über alle anderen zu stellen und sich von denen oder jenen wenig angezogen zu fühlen, deren Lebensweise […] sich weitgehend von der entfernt, von der man durch Tradition verhaftet ist.« (Lévi-Strauss 2008: 14)

Eine jede Kultur begehre notwendig danach, in einen »Gegensatz zu den sie umgebenden Kulturen zu treten, sich von ihnen zu unterscheiden«, um nämlich »sie selbst zu sein« (ebd.). Dagegen hat der Sinologe und Philosoph Jullien jeden Begriff kultureller Identität verabschiedet. Es gibt Kulturen, aber keine ›Identität‹. Das Kulturelle zeichnet sich dadurch aus, dass es sich verändert, dass es »mutiert«. Daher gilt es beispielsweise auch »keine französische kulturelle Identität [zu] verteidigen« (Jullien 2017: 7f.). Das Aussetzen der falschen Alternative von Identität und Universalität führt »zum richtigen Gebrauch des Negativen […]: des intensiven (erfinderischen) Negativen, das die Trennung nur zum Spannungsaufbau nutzt. Wir müssen gegenüber dem negativen Negativen, jenem der Grenze, des Verlusts und der Exklusion, das gegen die Wand, in den Tod und auf das Unüberwindliche hinausläuft, das fruchtbare Negative – das Neg-aktive – unterscheiden […]: Es […] erhält die Möglichkeit eines Außen aufrecht.« (Jullien 2011: 79)

Dies übrigens war durchaus die Position von Lévi-Strauss, dem es genau darum ging, die spannungsreiche Vielfalt der Modi kollektiver Existenz und kollektiver Identität zu bewahren, um aus ihr kreative (Über-)Lebensmöglichkeiten der Gattung zu beziehen. In der Verkürzung auf das Eine oder das Andere (Identität oder Transkulturalität) stehen sich also auch in Frankreich immer erneut unvereinbare Positionen gegenüber. Sie lassen sich in entgegengesetzte epistemische Haltungen ordnen – die auflösende Kritik an Identität, die Herrschaftsmechanismen der Kollektivierung aufdeckt; und Haltungen, die kollektive Identität als notwendig verstehen und begründen. Dabei haben die epistemischen Haltungen selbst politische Gründe. Auch Sozialwissenschaftlerinnen sind keine politischen Neutra. Um es noch einmal auszusprechen: Sozialwissenschaftliche Diskurse, zumal solche,

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die explizit über kollektive Identität streiten, sind eben Beiträge zu dieser selbst. Sie lassen sich in jene beiden Pole einordnen, die (mit Chantal Mouffe gesprochen) das demokratische Paradox bilden: Betonen die einen das souveräne ›Volk‹, also die an eine partikulare Staatsbürgerschaft gebundene Heiligkeit der Bürgerrechte, so betonen die anderen die Unantastbarkeit der individuellen ›menschlichen Natur‹, die Heiligkeit der Menschenrechte. Insofern kann man sagen, dass die aktuellen politischen Debatten um kollektive Identität immer erneut von dieser Revolution informiert sind – ebenso wie die moderne politische Formierung der Gesellschaft, die Demokratie (in deren Prinzipien der Trennung von Kirche und Staat, der Rechtstaatlichkeit, der Selbstherrschaft des Volkes). Wie wir mit Marcel Gauchet sehen werden, übernimmt die moderne Demokratie in ihren politischen Formungen dabei die Matrix der monarchischen Herrschaft. Die Vorstellungen der kollektiven Identität der ›Franzosen‹ sind selbstverständlich zutiefst von dieser Revolution geprägt. Laïcité, Liberté, Égalité werden immer erneut genannt, wenn die Frage gestellt wird, was eigentlich ›Franzose sein‹ heißt. Auch in Frankreich stellt sich diese Frage aktuell in größerer Dringlichkeit. Auch und noch mehr in Frankreich, dessen koloniale Vergangenheit einen viel tieferen Bezug zu islamisch geprägten Einwanderern begründet, werden permanent Identitätsfragen diskutiert: Gehören ›Burka‹ und ›Islam‹ zu Frankreich oder ist die Laizität wichtiger? Und wo liegt die Grenze zum Rassismus? Im Zuschnitt dieser Fragen werden die Spezifiken der französischen Füllung der nationalen Identität deutlich – und ebenso die geteilten Antworten demokratisch sich konstituierender Gesellschaften.

2 Anglophone Konzepte: Nation, Race, Identity Politics »Es war das große Verhängnis der französischen Revolution, daß keine der verfassunggebenden Versammlungen genug Autorität besaß, dem Land die Verfassung nun auch wirklich zu geben, weil man ihnen immer wieder und zu Recht vorwerfen konnte, daß sie ja selbst nicht verfassungsmäßig konstituiert waren. Umgekehrt gehört es zu der einmaligen Gunst der Umstände der Amerikanischen Revolution, daß die Kolonien […] sich

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nach dem Prinzip der Selbstverwaltung konstituiert hatten.« (Arendt 1965: 214)

Dass die Macht ›beim Volk‹ liegt, dies war für amerikanische Ohren »keine Fiktion«, und das Volk war »nichts Absolutes«. Es war einfach jene reale, in »Institutionen zusammengefaßte Menge, die gewöhnt war, ihre Macht gemäß bestimmten Regeln« auszuüben (ebd. 215). Historisch haben US-amerikanische Autoren eine erfolgreiche Revolution im Rücken – die Erfindung einer neuen Gesellschaft, die weder belastet war von der sozialen Frage, noch von der nach der Repräsentation des Souveräns. Gleichwohl bleibt die Gesellschaft von tiefen sozialen Spaltungen durchzogen. Von daher erklären sich die vehemente Kritik an Konzepten kollektiver Identität und kollektiven Zuschreibungen ebenso wie die strategische Identitätspolitik seitens der Diskriminierten, die sich nun selbst zu Kollektiven zusammenschließen. Hier haben Konzepte politischer Identitäten seit Jahrzehnten Konjunktur – sei es im Begriff des sozialen Imaginären von Charles Taylor; in der Idee der Nation als vorgestellter Gemeinschaft bei Benedict Anderson; in der Kritik an kollektiven Identifizierungen als Diskriminierungen (von Frauen, Schwarzen, Hispanics usw.); oder eben in den Identity Politics. Identitätspolitik bedeutet die Forderung nach Anerkennung jeder (kollektiven) Identität, die Forderung nach Anerkennung marginalisierter Gruppen von Menschen, von den indigenen Völkern bis zu den Homosexuellen. Cultural und Subaltern Studies thematisieren in diesem Rahmen immer erneut einerseits (kritisch) politische Konstruktionen kollektiver Identität: als Subsumierung unter diskriminierende Kategorien. Zugleich und andererseits geht es um eigene Behauptungen kollektiver Identität, und dies um der politischen Wirksamkeit willen, der Möglichkeit, sich überhaupt zu Gehör zu bringen, politisch zu werden. Diese Politik, die also ein aktives Begehren nach einer positiven, integrierenden kollektiven Identität artikuliert, entstammt dabei einer Lücke der dominanten liberalen politischen Theorie. Ausgehend vom individualistischen Einzelnen verstanden gerade die liberalen Autoren der amerikanischen Verfassung die Bedeutung kultureller, religiöser oder ethnischer Identitäten kaum. Individuum vs. Staat: In diesen Polen denkt ja das liberale Denken bis heute. Es gibt für eine solche Vorstellung kollektive Identität allenfalls als 67

selbst gewählte, mit einem individuellen Nutzen verbundene. Aus der Sicht von Chantal Mouffe ist das (ebenso wie eine jede Konsensvorstellung von Demokratie) eine politisch gefährliche Verkennung der Begehren und Leidenschaften, die mit kollektiven Identitäten einhergehen. Sie sind der Grund der Identifizierung, nicht rationale Motive, sei es normativer, oder letztlich ökonomischer Art.

Anderson: Die vorgestellte Nation Berühmt ist die Definition nationaler Identität des Politologen und Historikers Benedict Anderson (1991). Die These ist die Künstlichkeit der Erfindung der Nation vor allem mit Hilfe der Zeitungen, der Massenmedien und der Nationalsprache. Bereits Ernest Gellner sprach von der erfundenen Nation (1964: 169). Inwiefern sind Nationen Erfindungen? Sie sind imaginär – eine Nation ist (so Andersons Formel) ein vorgestelltes Kollektiv. Sie existiert in den Köpfen, und zwar als eine, die von anderen Nationen abgegrenzt ist; ihnen gegenüber souverän ist; und untereinander, intern solidarisch. Dabei sind Nationen oft genug gewaltsam vereint, sie unterdrücken Minderheiten und betreiben Politiken der Auslöschung von Sprachen und Kollektiven. Gegenläufig zu den Spaltungen, Verungleichungen und Unterwerfungen stützt sich die imaginierte Nation dabei auf die Überzeugung, dass ›die anderen‹ dasselbe denken, wie man selbst; dass sie einem ähnlich sind. Man hat sie zwar noch nie gesehen oder gesprochen, aber da sie dieselben Bücher und Zeitungen lesen, denken sie dasselbe. In dieser Blickweise bedarf die nationale Identität wesentlich einer bestimmten Infrastruktur (Buchdruck, Zeitungswesen, Vertriebswege) und einer nationalisierten Sprache. Beides macht die Nation zu einem genuin modernen, auf bestimmten Techniken beruhenden Phänomen. Zudem beruht sie auf einer bestimmten historischen Situation: der Überformung (durch Zusammenlegung, Sprengung, Eroberung) vormals dynastisch definierter Imperien. Seither ist die nationalisierte Form der kollektiven Identitätsfiktion erfolgreich, gerade wegen der solidarischen Affekte, die in ihr über alle sozialen Spaltungen hinweg erzeugt werden. Im Blick auf die Rolle der Schrift lässt sich diese Analyse bis ins antike Ägypten zurückverlegen (Assmann 1999); im Blick auf die Rolle 68

von Literatur wollen wir auf Deleuze verweisen. Beides erlaubt, den Diskurs anzureichern, der sich nur allzu oft allein auf die moderne Nation bezieht – im Blick auf andere historische und kulturelle Phänomene der imaginären Institution kollektiver Identität.

Taylor: Modern social imaginaries Pierre Rosanvallon (2017) fordert eine »Gesellschaft der Gleichen« gegenüber denen, die Gleichheit identitär denken, ausgrenzend. Und im Anschluss an diese Demokratietheorie, an die Begriffe des imaginären Kollektivs bei Benedict Anderson, an Habermas und an Marcel Gauchet hat Charles Taylor eine Gesellschaftstheorie skizziert, um vor allem den Blick auf die spezifisch modernen kollektiven Erfindungen zu lenken. Kollektive Identität wird hier unter dem Titel des sozialen Imaginären gedacht, und dieses soziale Imaginäre wird bestimmt als von breiten gesellschaftlichen Schichten geteilte Vorstellung der gesellschaftlichen Organisation, Struktur und Elemente. Die Imagination der Gesellschaft ermögliche permanent die vielfältigen sozialen Praxen, da sie »ihnen einen Sinn gibt« (Taylor 2003: 2, dt. HD). Taylor interessiert sich nun speziell für das soziale Imaginäre moderner (westlicher, nordamerikanischer) Kollektive. Die These ist: Gesellschaft wird hier vorgestellt als eine kollektive Existenzweise, die sich aus gleichen Einzelnen zusammensetzt – gegenüber der vorhergehenden Vorstellung einer natürlichen, göttlich legitimierten Hierarchie. Die moderne Vorstellung gleicher, gleichberechtigter Einzelner sieht Taylor insbesondere von Grotius und Locke erfunden. Sie ist die Voraussetzung für alle wesentlichen weiteren Institutionen ›der‹ Moderne: Marktökonomie, Ausbildung einer kritischen Öffentlichkeit gegenüber dem Staat, die Vorstellung, das Volk sei der Souverän. Aus diesem Imaginären besteht die ›Identität‹ moderner Gesellschaften. Was immer moderne Gesellschaften unterscheidet, dies ist ihre Identität, der sich die Einzelnen bewusst sind. Das soziale Imaginäre, die weit verbreitete Vorstellung enthält dabei durchaus auch die Vorstellung, das Volk handele »mit Gottes Segen und in seinem Willen«. Auch in modernen Gesellschaften ist der »Glaube an Gott konstitutiv für die politische Identität«. Das Religiöse fehlt hier nicht; es sei sogar »zentral« für kollektive und individuelle Identität. In diesem Glauben werden 69

»politische Identitäten« konstituiert, also laufend erzeugt (ebd. 193, dt. HD). Säkular sind moderne Kollektive mit anderen Worten nicht, weil ihnen das Religiöse fehlte. Sie sind säkular, insofern in ihnen die Welt entzaubert ist, während Individuum und politisches Kollektiv verzaubert sind, heilig. Kurz, Teil des modernen sozialen Imaginären ist eine politische Theologie. Mit dieser Darstellung will Taylor beitragen, Europa zu provinzialisieren, wie er mit Dipesh Chakrabarty (2010) sagt. Das soziale Imaginäre der Moderne zu untersuchen und dessen religiöse Fundierung sichtbar zu machen – dies bedeute, es als ein »Modell unter vielen« zu verstehen. Moderne Gesellschaften sind Provinzen in einer »multiformen Welt« (Taylor 2003: 195).

›Multikulturalismus‹ und ›Rasse‹: Flottierende Signifikanten kollektiver Identität Taylor ist aber auch einer der Hauptprotagonisten der Debatte um den Multikulturalismus. Er ist dabei ein Vorkämpfer für die Anerkennung kultureller Minderheiten, eines Rechtsanspruchs auf kollektive Identität innerhalb einer Mehrheitsgesellschaft. So, wie die ›Völker‹ durch das Völkerrecht geschützt sind, haben auch alle kulturellen oder ethnischen Minderheiten ein Recht auf kollektive Identität. Sie haben ein legitimes »Interesse an einem Fortbestand der kollektiven Lebensform« (Taylor 1993: 55). »Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung«, heißt es in diesem Sinne etwa im Artikel 1 des UN-Zivilpaktes aus den 1970er Jahren; und in der Erklärung der UN über die Rechte der indigenen Völker von 2006 wird festgehalten: Es wird das »Recht jedes Volkes« anerkannt, »verschieden zu sein, sich als verschieden zu betrachten und als solches geachtet zu werden«. Ähnlich geht es Will Kymlicka (1999) unter dem Begriff des Multikulturalismus um die Legitimation der kollektiven Rechte ethnischer Minderheiten, um die Anerkennung kollektiver oder kulturell definierter Identitäten. Gegen diesen Diskurs (der seinerseits emanzipativ war und ist) hat sich ein zweiter Multikulturalismus entfaltet, der gerade keine Identitäten behauptet. Multikulturalität meint nun vielmehr 70

Transkulturalität, Hybridität, Überlappung und Überlagerung; gedacht wird die ineinander übergehende kulturelle Vielfalt, statt nebeneinander bestehende Monaden. Gesellschaften oder Kollektive sind nicht homogen, sie sind heterogen und multipel. Statt Identität geht es um Differenz und genauer um Hybridität. Der ersten Version des Multikulturalismus wird nun ein kultureller Essentialismus oder auch ein kultureller Rassismus vorgeworfen: eine rhetorische Trennung von Kulturen in der »mythischen Erinnerung an eine einzigartige kollektive Identität«. Statt dessen gelte es, die faktische »Intertextualität« eines jeden historischen Orts, einer jeden Kultur und Gesellschaft anzuerkennen (Bhaba 2000: 52; vgl. Bronfen 2000). In der postkolonialistischen Debatte werden der kulturellen Identität oder Pluralität die Hybridität, die Unreinheit entgegengestellt (vgl. Eikelpasch/Rademacher 2004: 63ff.). Nicht nur ist jede kollektive und individuelle Identität imaginär. Die Überschneidungen und Unreinheiten, die Vermischungen zwischen verschiedenen ›Identitäten‹ sind auch primär und ›wirklich‹. Tatsächlich wird in dieser Debatte jede Rede von kulturellen oder kollektiven Identitäten als fixierend, als feststellend, als performativ verstanden; es geht in jeder Theorie und Forschung von Hybridrität um deren Affirmation. Neben einer Theorie der kulturellen Differenz (Indifferenz) statt Identität geht es dabei ganz bewusst auch um politische Forderungen, um Solidarität und Widerstand, um Anerkennung kultureller Differenzen und Vermischungen. Kulturelle Differenz entsteht dabei wohlverstanden nicht zwischen den Kollektiven, sondern in den permanenten Tauschbeziehungen, in denen sich eine wechselseitige Irritation entfalten kann – und sich ein ›Dritter Raum‹ öffnet, in dem Übersetzungen statt Ausgrenzungen stattfinden. Die Experten dafür sind die Migranten, die zwischen den Kulturen leben. Unter solchen Bedingungen (kultureller Hybridität statt Identität) ist die Frage nicht, wie kollektive Identitäten anerkannt werden könnten, sondern wie sie verändert, transformiert, entwaffnet werden können. Der Begriff des Multikulturalismus ist, da er zwei derart verschiedene, ja einander konträre Positionen beinhaltet, ein »heterogener Begriff«. Schärfer noch: Multikulturalismus ist zum »frei flottierenden Signifikant« (Hall 2004b: 188) geworden. Unter einem »flottierenden Signifikanten« verstand Lévi-Strauss eine 71

Bedeutung, die nicht mit etwas bestimmtem verknüpft ist und daher umso mehr Verknüpfungen ermöglicht: Der flottierende Signifikant ist »Symbol im Reinzustand und deswegen in der Lage, einen wie immer gearteten symbolischen Inhalt aufzunehmen«. Der flottierende Signifikant ist ein »symbolischer Nullwert«. Seine Funktion ist, sich der »Abwesenheit von Sinn entgegenzusetzen, ohne selber irgendeinen bestimmten Sinn mitzubringen« (Lévi-Strauss 1989: 39f.). Stuart Hall nun versteht, stellvertretend für viele Theoretiker und Kritiker des Rassendiskurses, auch den Rassen-Begriff als »floating signifier« (Hall 1997). Wenn es um kollektive Identitäten geht, geht es im anglophonen Kontext natürlich immer auch um die ›rassische Identität‹ – in Großbritannien ebenso wie in den USA und in den Kolonien, und viel stärker als hierzulande (vgl. einführend Hund 2007). Und den Begriff der Rasse als einen flottierenden Signifikanten zu verstehen, das heißt eines der »Hauptkonzepte« aufzudecken, mit dem es hegemonialen Positionen gelingt, den Einzelnen »klassifikatorische Systeme der Differenz« aufzuzwingen (Hall 1997: 3, dt. HD). Hall spricht daher (wie Balibar) von einem kulturellen Rassismus. Es handelt sich bei Rassismen um politisch interessierte Machttechniken, um gesellschaftliche Erzeugungen. Und immer erneut ist es zu betonen: Jede ›rassische Identität‹ ist reine Erfindung, jede Differenzierung menschlicher Rassen ist imaginär. Und doch hat sie tiefe Effekte, sie funktioniert. Sie funktioniert zunächst wie jede Sprache, die bestimmten Praxen Bedeutungen gibt: Wie in jeder Sprache bedeutet die rassistische Sprache etwas – aber nicht weil es wirklich etwas gäbe, was sie bezeichnet, sondern weil in der sprachlichen Äußerung etwas allererst eingerichtet, instituiert wird. Und weil nun die behaupteten Merkmale solche des Körpers sind, weil sich die Klassifikationen auf Sichtbares beziehen, gerade deshalb funktioniert der Rassismus so perfekt; und deshalb hat gerade diese Bildung kollektiver Identitäten tiefe Subjekt- und Gesellschaftseffekte. Im Gegensatz zu allen anderen Formen kollektiver Identität funktioniert die Rassenidentität eben entlang der »physical differences of color, bone, and hair«. Im Rassismus wird der Körper zum »final common denominator«, zum absolut eindeutigen Klassifizierer (ebd.: 8). Die postcolonial studies einschließlich der subaltern studies geben der anglophonen Identitätsdebatte nun auch hier eine charakte72

ristische Wendung: Ebenso, wie Multikulturalität als politisches Konzept erscheint, wird auch die rassische Zuschreibung ins positive gewendet. Die Wendung besteht darin, eine identitätspolitische Bewegung zu vollziehen – die Bewegung der affirmative action, der strategischen Behauptung einer solidarischen Identität der ›Schwarzen‹, um offensiv auf rassistische Diffamierungen zu antworten. Ähnlich gibt es weitere Identitätspolitiken, diejenigen der Subalternen, der Minderheiten, die aktiv ihre De-Singularisierung suchen. Die kollektive Identität der Frauen, der Lesben und Schwulen usw. zu behaupten, bedeutet, politisches Gewicht zu suchen. Bleiben wir bei Black Lives Matter: In der offensiven Verteidigung des ›Black‹ geht es um Antirassismus, um die Solidarisierung mit den Diskriminierten. Gleichwohl ist diese Strategie natürlich nicht unumstritten – und die angloamerikanische Identitätsdiskussion dreht sich daher auch um die diversen Fallen, die darin stecken. Die Identitätspolitik übernimmt nicht nur selbst rassische Vokabulare; sie vereinheitlicht auch die Einzelnen ihrerseits, und sie läuft zumindest Gefahr, die allesamt beherrschten Gruppen zu spalten, statt diese zu solidarisieren (vgl. APuZ 12/2018: Black America). Wir kommen auf die subaltern studies, den strategischen Essentialismus und den Identitätskampf zurück, im Rahmen der Vorstellung marxistischer Konzepte kollektiver Identität.

3 Deutsche Debatten:  Von Kultur und Volk zur ›vernünftigen‹ Identität

Im Wörterbuch der geschichtlichen Grundbegriffe (Koselleck u.a. 1992) kann die wechselhafte, je nach nationaler Tradition verschiedene Geschichte der politischen Imagination einer kollektiv geteilten Identität über die Zeit hinweg und der Vorstellung eines Grundes dieser Kontinuität nachgelesen werden. Wir können nur wenige Etappen und Unterschiede herausheben, die nun die national gedachte kollektive Identität; die kulturell gedachte; und schließlich die biologisch gedachte Identität des deutschen ›Volkes‹ betreffen. Dabei ist den Autoren der geschichtlichen Grundbegriffe zufolge zunächst hervorzuheben: Stets erfordert eine Gesellschafts- oder Kollektivbildung Bewegungen der Ausgrenzung und der Integ73

ration. Auch antike Gesellschaften kannten in diesem Sinne ›national‹ gedachte Identitäten, auch sie nutzten »asymmetrische Gegenbegriffe« (Koselleck 1989), um ihre Identität nicht nur zu denken, sondern zu erzeugen. Auch wenn Historiker antiken Kollektiven (oder denen des Mittelalters und insgesamt anderen Formen kollektiver Existenz, in anderen kulturellen Kontexten) eine nationale Form absprechen, so sind die Logiken der Konstitution von Gesellschaft doch ähnlich: »Eine politische [...] Handlungseinheit konstituiert sich erst durch Begriffe, kraft derer sie sich eingrenzt und damit andere ausgrenzt« (Koselleck 1989: 212). Das Besondere der asymmetrischen Kollektivbestimmungen liegt darin, sich selbst als universell zu verstehen, als »Gesamtheit aller Menschen« (ebd. 213), und allen anderen diesen Status abzusprechen – sie nicht mit ihrem Eigennamen, sondern einem ›Gegenbegriff‹ zu bezeichnen. Koselleck denkt an die Identitätsbestimmung der Griechen (vs. Barbaren), der Christen (vs. Heiden) und an rassistische Bestimmungen ›des‹ Menschen (vs. Unmensch, Nichtmensch, Nichtarier). Ähnliches werden wir im Blick auf indigene Gesellschaften sehen. Aus diesen scheinbar ähnlichen Konstruktionen kollektiver Identität folgen andere Behandlungen Anderer: je nachdem, ob eine Abgrenzung, Missionierung oder Reinigung impliziert ist – je dem »Code« der Grenzziehung entsprechend (Eisenstadt/Giesen 1995). Eine deutschsprachige Einführung in das Thema kollektive Identitäten wird nicht umhinkommen, die besondere Situation der deutschen, der Verspäteten Nation (Plessner 2001) zum Ausgang des Vergleiches zu nehmen. Man muss die historischen und kollektiven Gründe ansprechen, die in Deutschland das zunächst kulturell, dann rassistisch definierte Volk zur Grundlage jedes Denkens über kollektive Identität machten.

Dynamiken kollektiver Identifikation in der »verspäteten Nation« Was die deutschen Diskurse um kollektive Identitäten betrifft, so ist die Reaktion auf den politischen Humanismus entscheidend: die Reaktion auf die Idee, die Nation auf der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zu stützen. Entscheidend ist die Reaktion auf die Vorstellung, die Nation sei begründet im einzelnen Bürger. 74

In dieser Reaktion erklärt sich nämlich insbesondere die deutsche Umdeutung des Volksbegriffs. Von der verachteten, aber auch zunehmend gefürchteten Unterschicht wird es im 18. Jahrhundert zum inkludierenden und später zum biologisch und rassisch fundierten ›Volk‹. Das kulturell einheitliche, und das durch Abstammung verbundene Volk (nicht die Staatsbürger-Nation) wird hierzulande zum Paradigma kollektiver Identität. Es konnte nicht die Nation sein, weil diese ›noch fehlte‹. Zur Zeit der Entstehung der modernen Nationalstaaten ist Deutschland »verspätet«. Es ist gespalten in viele Fürstentümer und insbesondere in die zwei großen Reichstraditionen Preußen und Habsburg. Erst die Weimarer Verfassung 1919 erklärt das Deutsche Volk als »einig«, erst 1935 gibt es eine »primäre deutsche Staatsangehörigkeit« (Koselleck u.a. 1992: 238). Daher hat das kulturelle Bewusstsein, hat die politische Semantik die ›kollektive Identität‹ hierzulande anders gefasst als namentlich in Frankreich. Es hat sie insbesondere in einer Gegensemantik gefasst, eben in der des Volkes oder der ›Kulturnation‹, der kulturell begründeten Nation. »Die Erschütterung des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft Deutschlands durch die Ereignisse [von 1914 bis 1933] erklärt zwar die Leidenschaft, mit welcher das Volk seine Existenz zu verteidigen sucht, nicht aber die doktrinäre Haltung, zu der sich die Leidenschaft steigert, und vor allem nicht das ideologische Rüstzeug der Doktrinen selbst.« (Plessner 2001: 30)

Helmuth Plessner, auf den wir bereits zu sprechen kamen, hat 1935 die Verspätung der deutschen Intellektuellen im Blick auf den Humanismus, die zivilbürgerlich definierte Einheit des Kollektivs hervorgehoben; er hat ebenso die politische Verspätung der Nationalstaatsbildung hervorgehoben. Und 1924 hatte Karl Mannheim die Aufladung des politischen Denkens der Romantik untersucht, und sie als Gegensemantik gegen die der Aufklärung verstanden. So fasse Adam Müller (»mit der Geläufigkeit des Romantikers«, der die gesellschaftliche Welt verzaubert, indem er dem »Gemeinen einen hohen Sinn« gibt, wie Mannheim Novalis zitiert, Mannheim 1984: 147f.) den Begriff des Volkes wie folgt: Auf die Frage, was ein ›Volk‹ ist, antworten die Aufklärer:

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»›das Bündel ephemerer Wesen mit Köpfen, zwei Händen und zwei Füßen, welches in diesem […] Augenblick auf der Erdfläche, die man Frankreich nennt […] nebeneinander steht, sitzt, liegt‹ – anstatt zu antworten: ›ein Volk ist die erhabene Gemeinschaft einer langen Reihe von vergangenen, jetzt lebenden und noch kommenden Geschlechtern, die alle in einem großen innigen Verbande [...] zusammenhängen, von denen jedes einzelne, und in jedem einzelnen Geschlechte wieder jedes einzelne menschliche Individuum, den gemeinsamen Bund verbürgt, und mit seiner gesamten Existenz wieder von ihm verbürgt wird; welche schöne und unsterbliche Gemeinschaft sich den Augen und den Sinnen darstellt in gemeinschaftlicher Sprache, in gemeinschaftlichen Sitten und Gesetzen, in tausend segensreichen Institutionen, in vielen zu noch besonderer Verknotung, ja Verkettung der Zeiten besonders ausgezeichneten, lange blühenden Familien, endlich in der Einen unsterblichen Familie, welche in der Mitte des Staates steht, in der Regenten-Familie […]‹.« (Adam Müller, zitiert ebd. 122)

Die Situation einer Reaktion auf Revolution und Aufklärung führt dazu, dass die deutschsprachigen Intellektuellen Volk und Nation kulturell denken. Die sich seither verfestigende These ist: Die Deutschen sind kulturell, vor allem sprachlich einander identisch. Somit fühlen, sehen, verstehen sie auf dieselbe Weise, statt auf bloß rationalistischen Konstruktionen zu beruhen, der Vorstellung des Individualismus. Das deutsche Volk ist, weil eine sprachliche Einheit, ewig. Es ist ein »Urvolk« (so Herder), und heilig. Helmuth Plessner hat nun die folgende Tieferlegung der Autorität, des Grundes der kollektiven Identität verfolgt: Befeuert durch die im Protestantismus freigesetzte religiöse Energie, werden immer neue »innerweltliche Autoritäten« als ›wahre‹ Gründe des Volkes gesucht und gefunden. Dem »idealen, obzwar fiktiven Ursprung« in der Idee des Humanismus setzten die deutschen Intellektuellen die Suche nach einem »realen, obzwar mythischen Anfang ihrer geschichtlichen Existenz« (ebd. 64) entgegen. »Das im Zuge der Verweltlichung immer stärker werdende Nationalbewußtsein fand in Deutschland […] keinen Halt an einer Staatsidee, wie schon Jahrhunderte früher Frankreich, England und die Vereinigten Staaten ihn gefunden hatten. Als Ersatz dafür und zugleich im Hinblick auf die Inkongruenz zwischen Reichsgrenzen und Volkstumsgrenzen über-

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nahm der romantische Begriff des Volkes die Rolle einer politischen Idee.« (Plessner 2001: 41)

An die Stelle des politischen Humanismus, der vom Westen okkupiert war, tritt zunächst also die einigende Sprache; dann ist es die Geschichte, die als Garant der kollektiven Identität der Deutschen gilt; schließlich sind es Blut und Boden. Auch wenn eine rassistische Politik mit dem Projekt moderner, biopolitischer Vergesellschaftung insgesamt verbunden ist (so Foucault); auch wenn die US-amerikanische Geschichte mit einer rassistischen Diskriminierung verknüpft bleibt: Gerade die deutschen Begriffe von Volk und Nation sind seither Inbegriff des modernen, aggressiven Nationalismus, der affektiv deshalb ist, weil er sich der Rationalität entzieht. Die Gründe, warum die deutsche Vorstellung der (zu reinigenden) Volksgemeinschaft derart folgenreich war, liegen Plessner zufolge also in der historischen Unmöglichkeit, eine Nation zu bilden, ebenso wie im Protestantismus.

Herder und Fichte: Das kulturell geprägte und das politisch fehlende Volk Den Anfang dieser Kaskade des Abbaus innerweltlicher Autoritäten (die er ebenso wenig vorhersehen konnte, wie er daran ›schuld‹ ist) macht Johann Gottfried Herder. Herder ist zugleich auch ganz generell der Vorläufer einer kulturalistischen Gesellschaftstheorie. Herder hat Ende des 18. Jahrhunderts jene »kopernikanische Wende« in die Semantik des Volksbegriffes eingeführt (Koselleck u.a. 1992: 283), die wir bereits erwähnten: Während bislang unter dem Begriff des Volkes die Unterworfenen und Ausgeschlossenen, die Besitz- und Bildungslosen gefasst wurden (alle, die nicht zur feinen ›Gesellschaft‹ gehören), macht Herder das Volk zum identitätsstiftenden Träger der Nation. Herder macht – in den 1770ern, dreißig Jahre vor Fichte – das Volk zum deutschen Volk, ausgestattet mit einer eigenen Sprache, einer Seele und einem Charakter. Kollektive Identität wird bei ihm zur kulturell begründeten Identität. Das hat erhebliche Konsequenzen. Zum einen hat Herder den Kulturtheorien kollektiver Existenz vorgearbeitet. Und zum anderen geht auf ihn ein ›Kugelmodell‹ kollektiver Existenz zurück: die seither nicht immer leicht vermeidbare Vorstellung 77

kulturell definierter und voneinander klar unterschiedener Kollektive. Während bisher die europäischen Gesellschaften vertikal, in undurchlässige Schichten (durch differente kulturelle Niveaus respektive Kulturlosigkeit) getrennt und definiert waren, sind es nun horizontal die Kulturen und nationalsprachlich bestimmten Gesellschaften. Inwiefern geht es um ›Kugeln‹? »Jede Nation«, so schreibt Herder (1967: 44f.), »hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich wie jede Kugel ihren Schwerpunkt«. Und zugleich sei sie anderen Nationen gegenüber »natürlich« different. Herder geht dabei, könnte man sagen, von der Differenz von Instinkt und Institution aus: Die menschliche Variabilität oder Unergründlichkeit macht eine Abgrenzung in Kollektive notwendig, die sich durch kulturelle Erfindungen unterscheiden, vor allem der Sprache und insgesamt der ›Kultur‹. »So wie das ganze menschliche Geschlecht unmöglich eine Herde bleiben konnte, so konnte es auch nicht eine Sprache behalten« (Herder 2005: 77). Denn während »jede Tiergattung bloß ihr Land und engere Sphäre« hat, so könne und solle der Mensch überall wohnen – und jede seiner Welten braucht eine eigene Sprache. Dabei ist die Abgrenzung primär. Der »Familien- und Nationalhaß« gehe der kollektiven Identitätsbildung voraus (ebd.). Kollektive Identität ist für Herder weiterhin nur möglich in kleinen Gruppen. Nur so können die widerstrebenden gesellschaftlichen Kräfte ein Gleichgewicht erreichen, können Sympathiegefühle institutionalisiert werden. Nun fehlt das deutsche Volk. Es lebt verstreut, mit verschiedenen Sprachen, unter verschiedenen Herrschaften, in differenten Traditionen. In diesem Sinn hat etwa Gotthold Ephraim Lessing 1767/69 sagen können, dass die Deutschen »noch keine Nation sind«, weil sie keinen spezifischen »sittlichen Charakter« aufweisen. Und er fährt fort: Ihre Identität ist, keine »haben zu wollen«. Im Kontext der politischen Romantik setzt dagegen Friedrich Schiller die Hoffnung auf die politische Wirksamkeit des Kulturellen – mit einer »Nationalbühne« würde man auch zur »Nation« (beide zitiert bei Koselleck u.a. 1992: 308). Auch Leibniz, Kant, Hegel, Schlegel und viele andere haben das ihrige zu diesem »Erwartungsbegriff« (Koselleck 2006: 68) der deutschen kollektiven Identität beigetragen – und auch hier geht es keineswegs um eine substantialistische Vorstellung, sondern um eine politisch aktive Begrifflichkeit, um politische Performanz. 78

Mit den von Plessner geschilderten politischen Verhältnissen im 19. Jahrhundert haben sich im Deutschen die affektiven Identifikationen mit dem Eigenen in der Unterscheidung Anderer vertieft. In den Reden an die deutsche Nation spricht Johann Gottlieb Fichte im Kontext der napoleonischen Eroberungen vom deutschen, schöpferischen ›Urvolk‹. Er grübelt 1808 über den Eigenarten des deutschen Volkes: Worin besteht die deutsche Identität, was unterscheidet sie von anderen? Und er ersinnt pädagogische Reformen, um die Spaltungen der Jahrhunderte aufzuheben, die die deutsche Nation verhindert haben. Die Identitätsfrage wird dabei erneut wesentlich durch die gemeinsame Sprache beantwortet: Statt eine fremde Sprache angenommen zu haben, behielten die Deutschen (so Fichte 2008: 60) die lebendige, »ursprüngliche Sprache des Stammvolks«, die ihre ganz eigene Färbung habe und nie abstrakt, sondern konkret sei. »Menschlichkeit« etwa klinge ganz anders als »Humanität« (ebd. 69). Kurz, die Deutschen unterscheiden sich von den übrigen europäischen Nationen durch den in der Sprache begründeten Nationalcharakter. Auch Fichte ist im damaligen Kontext zu lesen: Gegen die napoleonische Besetzung Preußens dient die Semantik der Deutschen Nation dem Widerstand gegen die Unterwerfung. Die Deutschen sind zwar ein Volk; aber sie sind noch keine Nation, und ›Nation‹ heißt »gegenseitiges Verstehen zwischen Repräsentierten und Repräsentanten und darauf gegründetes Wechselvertrauen« (Fichte 1905: 280). Das Volk bilden all jene, welche die Freiheit »lieben«. Sie »sind, wenn sie als Volk betrachtet werden, ein Urvolk, das Volk schlechtweg, Deutsche« (Fichte 2008: 121). Ähnliche Reden, in denen die kollektive deutsche Identität gegenüber ›dem Westen‹ und seiner politischen Ideologie der Aufklärung imaginiert und die Nation erzeugt werden soll, finden sich auch bei Friedrich Schleiermacher, und bei jenen Autoren, die Mannheim untersucht – denen der politischen Romantik (Hegel, Stahl, Müller). Später, im Kontext des Ersten Weltkrieges findet sich ähnliches übrigens auch bei Georg Simmel, wobei man nun natürlich nicht von einem Freiheitskampf sprechen kann und ohne zu vergessen, dass Durkheim auf der Gegenseite zur selben Zeit sehr ähnliches, nationalistisches schrieb. Ein »anderes Deutschland« werde aus dem Krieg hervorgehen, eine neue kollektive Legierung, so heißt es bei Simmel (1917: 11): Ganz »un79

mittelbar« sei der Einzelne nun »in das Ganze eingegangen«, Verantwortung für das Kollektiv übernehmend. Natürlich gehen die Fronten, die Spaltungen in der Frage der kollektiven Identität immer auch mitten durch die Gesellschaften hindurch, konträr zu der Vorstellung differenter Semantiken. Auch in Frankreich gibt es Konservative, auch deutsche Intellektuelle sind Aufklärer. Betonen die einen das trennende gegenüber anderen, regen sie praktisch an, das Eigene zu stärken (angesichts des uneinigen und insofern fehlenden Volkes), so betonen andere ebenso die universelle, vereinende ›Vernunft‹. Kurz, Aufklärer und Romantiker, Humanisten und Konservative stehen sich seit der Französischen Revolution inner- wie außerhalb der nationalen Kollektive gegenüber. Diese politische Opposition im Denken kollektiver Identität hat Mannheim untersucht und auf differente soziale Standorte bezogen. Die Konstellation zwischen der Menschenrechtsidee, dem politischem Universalismus einerseits, und dem nationalistischem Partikularismus andererseits ist darüber hinaus eine der longue durée. Sie lässt sich bis heute ausmachen. Auch in der französischen Debatte werden kulturelle Quellen der kollektiven Identität gesucht; auch in der iranischen oder ägyptischen Gesellschaft gibt es jene gegensätzlichen Bewegungen auf der Suche nach dem ›Volk, das fehlt‹.

Sloterdijk vs. Habermas: Gegenwärtige Debatten Peter Sloterdijk sieht in Fichte den prototypischen Erfinder der Nation als einer, wie er schreibt, Erregungsgemeinschaft, die sich selbst immer erneut in Panik versetzt, sich in der Krise sieht, sich als sich »selbstnötigende Einheit sinnlich konkret und doch auch gespenstisch abstrakt« zu erleben vermag und sich dabei permanent davon überzeugt, »daß sie einen hinreichend starken Grund für ihre Existenz und ihre Kohärenz besitzt«. In der Tat erhält die Frage, was die Nation sei, hier eine originelle Antwort: »Die Nation ist ein hysterisches und panisches Informationssystem, das ständig sich selbst erregen, sich selbst stressieren, ja sogar sich […] in Panik versetzen muß, um sich selbst zu beeindrucken und um sich, als in sich selbst schwingende Streßgemeinschaft, davon zu überzeugen, daß es sie wirklich gibt.« (Sloterdijk 1998)

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Sloterdijk nun ist in Fragen kollektiver Identität alles andere als unumstritten. Er übernimmt stellvertretend für andere heute hierzulande die Rolle, die Alain Finkielkraut in Frankreich einnimmt: die des Provokateurs, des Debattenanregers. »Die Europäer werden früher oder später eine effiziente gemeinsame Grenzpolitik entwickeln. Auf die Dauer setzt der territoriale Imperativ sich durch. Es gibt schließlich keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung« heißt es im Cicero 2016 im Blick auf die Grenzöffnung vom September 2015 und das Merkel’sche ›Wir schaffen das‹. Sloterdijks Interview ist für viele rechtspopulistisch, etwa für Armin Nassehi (2016): Sloterdijk offenbare eine »insuffiziente« Gesellschaftstheorie und eine ihr entsprechende Fürsprache begrenzter nationaler Identitäten. Im Satz, man solle statt Integration mit einer »freundlichen Gleichgültigkeit« gegenüber denen, mit denen »man fast nichts gemeinsam hat«, zufrieden sein, sieht Nassehi eine »Absage an eine pluralistische Gesellschaft« und die Affirmation eines »identitäre[n] Wir«. Während sich die Rolle Nassehis (und die des »Lobes der Unreinheit« bei Emcke 2017) mit derjenigen von Jullien in Frankreich vergleichen ließe, nimmt eine noch einmal andere Position Jürgen Habermas ein: Die einer positiven politischen Philosophie oder Ethik kollektiver Identifizierung. Bereits in den 1970ern beschäftigt ihn die Frage einer »vernünftigen« kollektiven Identität, die nicht mehr ausgrenzend wäre, sondern integrierend. Eine Teilantwort liegt im Verfassungspatriotismus, im Stolz auf die Verfassung vor; eine andere in der Ausbildung eines europäischen Identitätsgefühls und europäischer Werte. Und den spontanen, unreflektierten, also unvernünftigen politischen Affekten wird ein reflexives Identitätskonzept gegenübergestellt. Diese Überlegungen entfalten sich dabei sukzessive, von zunächst rein formalen bis doch zu inhaltlichen Bestimmungen (vgl. Hacke 2008). Eine ›vernünftige‹ kollektive Identität wird zu Beginn von Habermas rein verfahrensmäßig bestimmt: »Eine kollektive Identität können wir allenfalls [noch] in den formalen Bedingungen verankert sehen, unter denen Identitätsprojektionen erzeugt und verändert werden. Ihre kollektive Identität steht den Einzelnen nicht mehr als Traditionsinhalt gegenüber […], vielmehr beteiligen sich die Individuen an dem Bildungs- und Willensbildungsprozess einer gemeinsam erst zu entwerfenden Identität.« (Habermas 1976: 107)

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Nur eine solche formal erzeugte kollektive Identität kann ›vernünftig‹, nämlich aus ethischen oder moralphilosophischen Gründen vertretbar genannt werden: Nur sie ist universalistisch und nicht partikularistisch; nur sie bietet daher die Voraussetzung für eine autonome Persönlichkeit. Dagegen muss jeder Inhalt aus der kollektiven oder kulturellen Identität ausgeschlossen werden: »Jede Identität, die die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv begründet« und dabei Situationen meint, »in denen die Angehörigen in einem emphatischen Sinne ›Wir‹ sagen können«, scheint nämlich gerade jeder »Reflexion entzogen« (Habermas 1987: 171). Sukzessive wird die Funktionsweise kollektiver Identität konkretisiert, und zwar im Blick auf eine »postnationale«, genauer europäische Identität. Die wünschbare »Verlagerung der Legitimation« Europas von rein ökonomischen Vorteilen auf aktive politische Mitgestaltung wird ohne kollektive Identifizierung, »ohne das Bewusstsein, über nationale Grenzen hinweg demselben politischen Gemeinwesen anzugehören, nicht möglich sein« (Habermas 2004: 70). Was sind die »Bedingungen« einer solchen Identität, in der »staatsbürgerliche Solidarität« auf eine europäische ausgeweitet wird (ebd. 78)? Ein erstes Element ist der »Verfassungspatriotismus«, den Habermas von Dolf Sternberger (vgl. ders. 1990) übernimmt: Es habe eine »Entkopplung einer gemeinsamen kulturellen Identität von Gesellschaftsformation und Staatsform« gegeben; die »diffuser gewordene Nationalität« habe sich von der Staatsangehörigkeit gelöst und »Platz« gemacht für die »Identifikation mit dem, was die Bevölkerung jeweils an der Nachkriegsentwicklung des eigenen Staates für bewahrenswert hält«, nämlich die Verfassung (Habermas 1987: 168). Die kollektive Identifizierung, die Erzeugung solidarischer Gefühle mit Fremden sei nicht mehr nur staats-, sondern auch verfassungsorientiert. Im Zentrum kollektiver Identitätsbegehren stehe »nicht mehr die Selbstbehauptung des Kollektivs nach außen, sondern die Bewahrung einer liberalen Ordnung im Inneren« (2004: 78). Nun gibt es aber keine einheitliche Verfassung der EU; es gibt weiterhin die nationalstaatliche Souveränität. Daher werden inhaltliche Elemente wichtig: Zu Europas Identität müsste gehören, dass die »Bürger einer Nation die Bürgerin einer anderen Nation als ›eine von uns‹ betrachten«, heißt es in einem mit Derrida verfassten Artikel (Derrida/Habermas 2003: 33f.); sodann, dass sie ihre Identität als erfunden, als politisch konstruiert 82

verstehen (als gemeinsam fabuliert); schließlich soll die Identität gerade nicht traditional fundiert sein, sondern im selbstkritischen Blick auf den europäischen Imperialismus, aus der Sicht der Besiegten. Klar ist: Solidarität »kann nicht allein über starke negative Pflichten einer universalistischen Gerechtigkeitsmoral« erzeugt werden; man muss nicht nur etwas verbieten, sondern sich als Gemeinschaft bejahen (Habermas 2004: 80). Wir müssen diesen Überblick über die differenten Identitätsdebatten hier abbrechen, nicht ohne auf die Verschränkungen der gesellschaftlichen Diskurse hinzuweisen: Natürlich wird etwa auch in der BRD über Rassismus gesprochen und sind hier postkoloniale Positionen präsent. Wir wenden uns nun genuin soziologischen Theorien kollektiver Identität zu. Diese sind selbstverständlicher ihrerseits mehr oder weniger mit der gesellschaftlichen Situation verknüpft, und sie wollen mehr oder weniger intervenieren. Nur analytisch sind die Konzepte von diesen Momenten trennbar, und in verschiedenem Maße.

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III Soziologische Theorien kollektiver Identität Es handelt sich, wie wir nun zeigen wollen, bei Konzepten kollektiver Identität und deren Analyse um zentrale Fragen der soziologischen Theorie und Analyse; und um ebenso zentrale Konzepte. Dabei treten sie unter verschiedenen Begriffen und explizit wie implizit auf. Auch wenn methodologisch verschiedene Zugangsweisen erkennbar werden (von Handlungen und Interessen oder kollektiven Funktionen aus), so geht es um nichts anderes als um die Frage, was eigentlich das ›Soziale‹, die ›Gesellschaft‹ ist. Unterschieden ist allerdings der Tonfall. Zum einen gibt es innerhalb der soziologischen Theorie kollektiver Identität Ansätze ihrer ›Kritik‹, ihrer Auflösung. Es gibt (viele) dekonstruktive Ansätze, die jeder Rede von kollektiver Identität einen Essentialismus unterstellen – eine Berufung auf eine Substanz, die die Mitglieder teilen (namentlich in rassischen Begriffen). Aus dieser Sicht muss es Aufgabe der soziologischen Theorie sein, jegliche Vorstellungen kollektiver Identität als politisch interessierte Konstruktionen sichtbar zu machen und – im Blick auf Machtverhältnisse und Ausgrenzungen – zu de-konstruieren. Diese Tradition des Denkens kollektiver Identität wird bei Max Weber begründet: im Begriff der Vergemeinschaftung oder der Gemeinschaft sowie des ›subjektiven Gemeinsamkeitsglaubens‹. Weber macht jede kollektive Identität (vor allem primordiale, ethnische) als konstruierte, als künstlich erzeugte, als vorgestellte durchsichtig. In der an ihn anschließenden Akteurs- oder handlungsbasierten Soziologie steigt die Sensibilität für alle nicht durchschauten Verständnisse kollektiver Identitäten und daraus resultierende ausgrenzende Einteilungen und Behandlungen der Einzelnen. In dieser Tradition interessieren dabei weniger gesellschaftliche Funktionen der Imagination kollektiver Identität als politische Ziele und Motive Einzelner. In dieser Tradition kommt es aber auch zur Auflösung jedes Gesellschaftsbegriffes und damit durchaus auch zu einem gewissen Desinteresse an damit verbundenen Fragen. Auf der anderen Seite gibt es gesellschaftstheoretische Konzepte, denen es um die Existenzweise von Kollektiven oder Gesellschaften geht, dabei vom gesellschaftlich geformten Einzelnen ausgehend. Auch sie nehmen (anders als oft unterstellt wird) nicht 84

einfach eine Substantialisierung des Kollektivs vor. Hier wird das Kollektiv seinerseits de-mystifiziert. Auch diese Ansätze sind ›Essentialismus-immun‹ (Eßbach). Das Kollektiv ist nämlich in diesen Konzepten keineswegs Subjekt von Vorstellungen, sondern es ist deren Objekt oder Inhalt. Gefragt wird, welche Effekte (statt vorausgesetzter Interessen) kollektive Identifikationen haben, Kategorisierungen und Herkunftserzählungen. Das Kollektiv wird als wirkungsvolle Imagination, als Vorstellung, als ›imaginäre Institution‹ gedacht. Von Durkheim über Bergson, Lévi-Strauss und Clastres bis zu Castoriadis, Gauchet, Lefort und Mouffe geht es dabei darum, die Funktion kollektiver Identitäten zu sehen, ihr Begehren und ihre Persistenz zu begreifen. Sie sind Existenzbedingungen von Gesellschaft (gleich welcher Art). In diesem Sinn handelt es sich bei den Traditionen Durkheims und Webers einmal mehr um einander konträre Denkweisen. Genau daher ergänzen sie sich. Je gehen damit andere analytische Blicke auf die Gesellschaften einher: Die eine Theorielinie vermag aufzudecken, warum es immer erneut Begehren nach Kollektiven gibt, warum Einzelne sich einteilen; und aufzudecken, was es mit dem ›Subjekt‹ auf sich hat, das in der anderen Tradition umgekehrt vorausgesetzt ist, sensibler für die sozial interessierte Konstruktion kollektiver Identität. Und schließlich muss man die marxistisch geprägten Blicke erwähnen, in denen die Aufmerksamkeit auf den exkludierenden und den Herrschaftseffekten liegt, die Imaginationen kollektiver Identität begleiten – und zwar (aus dem Blick Balibars) selbst solche, die humanistisch, entlang der Menschenrechtsidee operieren. Wegen der unterschiedlichen Theorieinteressen und wegen der Reserve gegenüber dem Gesellschaftsbegriff in handlungstheoretischen Traditionen wird die folgende Darstellung etwas schief scheinen: In der Durkheim-Linie gibt es schlicht verschiedene und zentralere Konzepte kollektiver Identitäten als in der Max Webers (und noch weniger etwa in der Georg Simmels).

1 Die Durkheim-Tradition: Die gesellschaftsstiftende Funktion der Imagination kollektiver Identität

Auf die durkheimsche Begründung der Soziologie muss man im Kontext einer Gesellschaftstheorie, einer Theorie kollektiver 85

Existenz immer erneut zurückkommen. Es ist diese französische Linie der soziologischen Theorie, die am ehesten Begriffe ›kollektiver Identität‹ erfindet, auch wenn dies bei Durkheim selbst in anderen Buchstaben erfolgt – nämlich denen der kollektiven Repräsentation, der Repräsentation des Kollektivs (Durkheim 1967a); und des kollektiv geteilten oder des Kollektivbewusstseins (Durkheim 1988). Das Kollektiv ist in beiden Fällen zu verstehen als Objekt oder Inhalt. Nie denkt es Durkheim als Subjekt. Das wäre in der Tat Metaphysik. Die durkheimsche Konzeption von Gesellschaft als Vorstellung kollektiver Einheit und Identität, die sich in seiner Linie entfaltet (von Durkheim über Lévi-Strauss bis zu Castoriadis, Mouffe, Lefort), enthält mehrere unterscheidbare Momente oder Aspekte. Sie ist zunächst von Beginn an religionssoziologisch, Religion als eine Form der imaginären Fundierung von Kollektiven, als Garant ihrer Identität verstehend. In der Tat geht es Durkheim um ein Konzept der vorgestellten oder fabulierten Selbsterzeugung von Gesellschaft — in der Vorstellung eines heiligen Grundes. So gesehen sind alle Gesellschaften religiös fundiert, denn auch die Verpflichtung durch die Menschenrechte, durch die Nation oder das Volk beruft sich auf einen sakrosankten, heiligen Grund. Durkheim macht in diesem Sinn die Religion zur »Matrix des Sozialen« (1998: 71f.). In jeder Religion steckt demnach folgende Formel: ›Gott‹ hat das Kollektiv geschaffen, er hat unseren Namen, unsere Identität gestiftet (während es sich tatsächlich genau umgekehrt verhält). Die Durkheimsche Denkweise kollektiver Identität besteht hier in der Betonung des imaginären Charakters der Einheit und Identität des Kollektivs. Man trifft diese Konzeption bei weiteren Gesellschaftstheorien: Cornelius Castoriadis, Claude Lefort und Marcel Gauchet teilen diese funktionalistische, genuin gesellschaftstheoretische Perspektive auf die Religion. Auch sie verstehen ›Gott‹ als jene Bedeutung, mit der sich ein Kollektiv ein gesellschaftliches Außen, einen Anderen gibt, der die Identität des Kollektivs sichert, der das Kollektiv geschaffen hat. In der Berufung auf eine transzendente Autorität werden Teilungen der Macht, Einteilungen der Einzelnen, Normierungen legitimiert und wird das Kollektiv stabilisiert. Das gilt auch für die Überzeugung, durch das ›Grundgesetz‹ gebunden zu sein. Im Grunde nichts anderes als ein historisches Dokument, wird es instituiert als der Garant der bundesdeutschen Identität. Kurz, Religionen einschließlich 86

des ›Kults des Individuums‹ als imaginäre Fundierung kollektiver Identität zu verstehen – dies bietet Durkheim. Das gilt auch für ganz andere Gesellschaften, wie Durkheim für den australischen Totemismus zeigt oder Evans-Pritchard für die Nuer: »Spirit is thus conceived of by the Nuer, through their configurations of symbolic representations, as outside their social order, a transcendental being; but also as in their social order, an immanent being figured in all sorts of re-presentations in relation to their social life and events of significance for it.« (Evans-Pritchard 1953: 214)

Eine zweite Spezifik der durkheimschen Begründung der Gesellschaftstheorie liegt in der Aufmerksamkeit für das Symbolische oder Kulturelle. Von Durkheim aus hat Maurice Halbwachs das Konzept des ›kollektiven Gedächtnisses‹ entfaltet: als eines, das kulturell gestiftet wird, auf Räume, Denkmäler, Architekturen angewiesenen bleibt. In dieser Linie stehen alle kulturwissenschaftlichen Forschungen zum Anteil kultureller Medien, Semantiken und Erzählungen an der kollektiven Identitätsfiktion. Kennzeichnend für die französischen Theorien kollektiver Identität ist drittens die Ausarbeitung einer Theorie der ›Gesellschaft‹ generell, weit über die Moderne hinaus. Von Beginn an interessieren sich die Durkheimiens für andere Gesellschaften – für totemistische, für archäologische Fälle, für China, Polynesien und Melanesien oder die Inuit. Wie später in der strukturalen Anthropologie, so geht es ihnen neben der Frage nach spezifisch modernen Verhältnissen um generelle Aussagen zu ›Gesellschaft‹ und ›Subjekt‹. Kollektive Identität wird als allgemeines Konzept entfaltet. Entfaltet wird in dieser Tradition viertens der Ausgang vom gesellschaftlich konstituierten Subjekt. Statt vom handelnden und rational entscheidenden Einzelnen aus die Konstitution sozialer Verhältnisse zu erörtern, ist hier die Vorstellung leitend, das Subjekt sei ein ›Produkt‹ seiner Gesellschaft. Genauer wird beides gleichzeitig gedacht: Weder geht das Subjekt der Gesellschaft voraus, noch verhält es sich umgekehrt. In diesem Sinn hat Lévi-Strauss Durkheim ›vom Kopf auf die Füße‹ gestellt, indem er eine Theorie der symbolischen Existenz von Gesellschaft und Subjekt formuliert, anstelle einer Theorie, die Symbole als nachrangige Ausdrücke einer bereits konstituierten Gesellschaft versteht. Fünftens, in 87

konkreten Analysen liegt das Interesse Durkheims auf der eigenen Gesellschaft, und zwar auf ihrem Zusammenhalt. Das Zusammenhaltende moderner Kollektive ist der von allen geteilte Glaube an das Individuum – der Kult des Individuums ist Inhalt der kollektiven Identität. Im vergleichenden Blick auf andere Formen der kollektiven Existenz ist es das Kennzeichnende der nach Durkheim kommenden Gesellschaftstheorien, eine jede evolutionistische Vorstellung einzuklammern. Das ist namentlich erneut das Verdienst von Lévi-Strauss: In der strukturalistischen Weiterführung Durkheims geht es um alternative Modi kollektiver Existenz. Verabschiedet wird der Eurozentrismus, dem zufolge alle Gesellschaften auf dem Weg zu säkularisierten und ›aufgeklärten‹ sind. Lefort und Gauchet verstehen demgegenüber den Absolutismus als alternative Möglichkeit der kollektiven Identitätsbildung (gegenüber der Demokratie); Gauchet stellt ›primitive‹ Gesellschaften solchen mit staatlicher Organisation gegenüber. Je handelt es sich um eigene soziale Logiken, um vollständige Gesellschaften. Keiner ›fehlt‹ etwas; in keiner ist etwas noch nicht entfaltet, keine ist unterentwickelt. Entdeckt wird die gesellschaftliche Diversität. Entdeckt wird zugleich die strukturelle Identität – die Notwendigkeit der Vorstellung, als Kollektiv mit sich identisch, einheitlich und notwendig zu sein; und die Notwendigkeit, auf ein fundierendes Außen, einen außergesellschaftlichen Grund zu verweisen. Gesellschaften sind heteronom instituiert, wie Castoriadis sagen wird. Die ›Imagination‹ kollektiver Einheit, Identität und Begründung zu denken: Das heißt, die Unmöglichkeit, das Kontrafaktische einer jeden kollektiven Identität zu betonen. Es heißt zugleich, die gesellschaftliche Notwendigkeit einer solchen Imagination zu betonen. Gesellschaft hat keinen Grund, ist kontingent und fluide – und gerade daher ist die Fabulation einer Identität notwendig. Über Durkheim hinaus müssen die Identitätsfiktionen dabei (mit Laclau und Mouffe) stets als hegemoniale verstanden werden. Behauptet wird seitens dominanter gesellschaftlicher Diskurse eine kollektive Einheit, die nicht existiert, weil stets Minoritäten ihrerseits andere Bestimmungen des Kollektivs in Anschlag bringen; und legitimiert werden Unterwerfungen, wie Gauchet sagt. Von Durkheim (und Marx) aus hat die Theorie kollektiver Identität also mindestens folgende Aspekte im Blick: Gegenüber der faktischen Uneinheitlichkeit, der Heterogenität oder Vielfalt, und 88

der sozialen Spaltung wird eine Identität der Mitglieder des Kollektivs behauptet; gegenüber der permanenten und unvorhersehbaren Veränderung, dem Werden wird eine historische Identität imaginiert; und gegenüber der faktischen Kontingenz eines jeden konkreten Kollektivs, seiner Nicht-Notwendigkeit und der Selbstsetzung der Werte und Normen wird ein gesellschaftlicher Grund imaginiert – der leere Signifikant oder das gesellschaftliche Imaginäre. All dies impliziert die Unterscheidung von Anderen, die Grenzziehung – und das, was Laclau und Mouffe mit Derrida das ›konstitutive Außen‹ nennen. Abgrenzungen von anderen sind logisch notwendig. Dabei bleibt das Außen anwesend als »Symbol dessen«, »was jedes ›wir‹ unmöglich macht« (Mouffe 2010: 29). Darauf wird zurückzukommen sein.

Durkheim: Kollektive Repräsentation Ein Konzept der kollektiven Identität taucht in der durkheimschen Soziologie zunächst unter dem Begriff des Kollektivbewusstseins auf, des kollektiv geteilten Inhalts, geteilter Vorstellungen – im Begriff der Repräsentation, die sich auf das Kollektiv bezieht. »Die Gesamtheit der gemeinsamen religiösen Überzeugungen und Gefühle im Durchschnitt der Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft bildet ein umgrenztes System, das sein eigenes Leben hat; man könnte sie das gemeinsame oder Kollektivbewußtsein nennen.« (Durkheim 1988: 128)

In Bezug auf diesen Begriff entfaltet Durkheim zum einen seine These der Divergenz individueller und kollektiver Inhalte, der Eigenart der sozialen Tatsachen mit ihrer nicht aus dem Einzelnen erklärlichen Intensität. Zum anderen ist zu betonen, dass der Begriff der kollektiven Vorstellung das Kollektiv als Gegenstand (und nicht Subjekt) bestimmt. So sind etwa religiöse Vorstellungen solche »Kollektivvorstellungen«, die eine »Kollektivwirklichkeit« ausdrücken (Durkheim 1994: 28). Tatsächlich entfaltet Durkheim im Kern seiner Religionssoziologie eine Theorie kollektiver Identität. Die kollektive Funktion von Religion ist die »transfigurierte«, sich selbst heiligende Selbstbeschreibung der Gesellschaft (Durkheim 1967b: 105) – und diese dient dazu, deren Identität in der Zeit ebenso zu erzeugen, wie die Einheit der Mitglieder (ihrer moralischen 89

Normen und ihrer kognitiven Überzeugungen). Das Ergebnis des Buches lautet also, vorweggenommen: Gott und Gesellschaft sind »eins« (Durkheim 1994: 284). Gott ist eine Selbstprojektion des Kollektivs. In der Vorstellung des Heiligen wird die Sozialität fundiert und stabilisiert. Auch die unverfügbaren Werte moderner Gesellschaften stehen für Durkheim in dieser religiösen Funktion: in der Funktion der Selbstheiligung der Gesellschaft um ihrer Stabilität, Autorität und Identität willen (vgl. ebd. 293ff.). In diesem Sinne nach Identitätsimaginationen fragend lautet Durkheims Grundfrage an moderne Gesellschaften: Welchen Inhalt hat das Bewusstsein der Gemeinsamkeit, kollektiver Identität, wenn die Einzelnen individueller werden? Was hält sie zusammen, was ist der Klebstoff dieser Gesellschaften, ihr Identitätscode? Im Gegensatz zu dem, was Simmel, Tönnies und andere Modernebeobachter sagen (man habe es mit isolierten Einzelnen zu tun) dreht Durkheim die Perspektive um: Neben den differenten Inhalten, Ethiken, Fertigkeiten, die einer funktional differenzierten Gesellschaft entsprechen, gibt es einen Inhalt, den alle teilen: Individualität verbindet, sie trennt nicht. Alle sind sich einig im »Gefühl des Respekts für die menschliche Würde« (Durkheim 1988: 470). »In dem Maß, in dem alle anderen Überzeugungen und Praktiken einen immer weniger religiösen Charakter annehmen, wird das Individuum der Gegenstand einer Art von Religion. Wir haben für die Würde der Person einen Kult.« (Ebd. 227)

Die Heiligkeit des Individuums: Darin liegt die Identität moderner Kollektive. Es ist ihr zentrales Imaginäres, wie Castoriadis sagen würde. Durkheim denkt es von der Spezifik der Organisationsweise oder sozialen Struktur her (arbeitsteilige Spezialisierung und funktionale Differenzierung). Weil eine arbeitsteilig organisierte Gesellschaft auf das autonome und individualisierte Subjekt verwiesen ist, muss sie es systematisch erzeugen. Daher haben funktional differenzierte Gesellschaften einen Kult des Individuums. Auch im Selbstmord taucht diese Konzeption des heiligen Grundes moderner kollektiver Identität auf, ebenso wie in Die elementaren Formen des religiösen Lebens.

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Durkheim weiß, dass Kollektive nur von Einzelnen getragen werden, sie existieren nur im »individuelle[n] Bewußtsein« (Durkheim 1994: 304). ›Gesellschaft‹ ist eine Vorstellung, eine Repräsentation des Kollektivs (im genitivus objectivus). Als solche ist kollektive Existenz instabil. Die Identität der Gesellschaft muss stabilisiert werden, in dem sie auf einen außergesellschaftlichen Grund bezogen wird. Nicht wir haben die Götter geschaffen, sondern diese uns: Stabilisierung des Kollektivs durch Fundierung der Identität ist die Funktion von Religion. Deren Definition wird dabei ausweitet auf alle Unterscheidungen von etwas Heiligem gegenüber Profanem. Auch die Religion der Menschenrechte oder die politische Religion ist ein »Begriffssystem, mit dessen Hilfe sich die Menschen die Gesellschaft vorstellen« – Gott ist der »bildhafte Ausdruck der Gesellschaft« (ebd. 469). Religiöse Konzeptionen sind ›transfigurierte‹ Selbstbeschreibungen des Kollektivs, das sich in ihnen sakrosankt macht; es sind gesellschaftlich erzeugte Bedeutungen, in denen das Kollektiv von einem Anderen her gedacht wird. Dazu sind zwei differente Praxen notwendig. Durkheims Konzept der kollektiven Identität basiert auf einer Theorie der Affekte und der Symbole. Es ist zum einen der rituelle Akt, der konstitutiv für die Erfahrung einer Identität und eines gesellschaftsstiftenden Grundes ist. Die kollektiven Affekte, die in der rituellen Bewegung erzeugt werden, verschaffen der »Gruppe ihr Selbstgefühl« (ebd. 316), ein ›Wir-Bewusstsein‹. Dies muss permanent symbolisiert, verkörpert werden. Symbole sind ein »integraler Teil« der kollektiven Existenz. Sie sind »zur Ausbildung dieser Selbstbesinnung der Gesellschaft« ebenso notwendig wie für deren Fortbestand (ebd.). So verweist Durkheim etwa für totemistische Gesellschaften auf die konstitutive Funktion der churinga (kulturelle Artefakte, die das Totem abbilden): Sie seien ›viel heiliger‹ als die Totemtiere selbst, denn sie machen die Identität der Gruppe permanent anschaulich (Durkheim 1994: 167). In derselben Funktion sieht Durkheim für moderne Gesellschaften die Nationalfahne, die Nationalfarben, die Hymne, die Gedächtnisorte und Gedenktage: Ein Netz von symbolischen Bedeutungen stützt/erzeugt die kollektive Identität.

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Halbwachs: Kulturelle Identität oder das »kollektive Gedächtnis« Eine kollektive ist eine affektiv und kulturell erzeugte Identität. Oder, eine kollektive Identität ist eine, die ein »kollektives Gedächtnis« erfordert. Die Vorstellung einer Identität des Kollektivs über die Zeit hinweg braucht kollektiv geteilte Erinnerungen. Maurice Halbwachs hat nicht allein die sozialen Bedingungen individueller Erinnerungen ausbuchstabiert. Er hat im Begriff des kollektiven Gedächtnisses dieses Konzept kollektiver Identität und ihrer kulturellen Existenz fortgeführt. Jedes individuelle Gedächtnis (individuelle Identität) wird zunächst in der Abhängigkeit von Kollektiven gezeigt: Individuelle Identität erklärt sich aus der Kombination der Gruppengedächtnisse; jede Erinnerung ist kollektiv erzeugt; und nur, weil der Einzelne sie keinem Kollektiv allein zuschreiben kann, meint er, seine Identität sei »unabhängig« von Kollektiven überhaupt (Halbwachs 1967: 31ff.). Kollektive gibt es zudem (und dies ist für uns wichtiger) für Halbwachs nur, wenn sie eine Identität in der Zeit erzeugen – die Vorstellung, die Gruppe sei in wesentlichen Zügen sie selbst geblieben: Wenn die »Gruppe auf ihre Vergangenheit zurückblickt, fühlt sie wohl, daß sie dieselbe geblieben ist und wird sich ihrer zu jeder Zeit bewahrten Identität bewußt« (ebd. 74). Das ist gebunden an die Dauer von Artefakten und ihre Verwurzelung im Boden: Eine Stadt (als Kollektiv) scheint dieselbe zu bleiben, »solange das Aussehen der Straßen und Gebäude gleichbleibt« (ebd. 130f.). Auch Imaginationen eines religiösen Kollektivs basieren auf der Lokalisierung und Materialisierung (ebd. 141); nur Artefakt-gestützt besteht kollektive Identität in der Zeit (vgl. Halbwachs 2003). Das monumentale Projekt von Pierre Nora und anderen, die ›Erinnerungsorte‹ Frankreichs zu schreiben, ist es, in der Pluralität der mit Frankreich verbundenen zentralen ›Orte‹, Personen, Ereignisse und Texte die Identität zu verstehen: Die Identität Frankreichs nämlich ist (ebenso wie die deutsche) nicht abzählbar, opak, veränderlich und unbestimmbar, und daher ist das adäquate methodische Vorgehen, die Identität gerade in der Pluralität der Erinnerungsorte zu sehen. ›Frankreich‹ ist eine »gänzlich symbolische Realität«, die als solche unerschöpflich ist (Nora 1995: 83f.). Man kann immer andere Seiten an ihr hervorheben. Dass kulturwissenschaftliche 92

Gedächtnisforschung (vgl. Pethes 2008) kollektive Identitätsforschung ist, gilt auch für andere Nachfolger von Halbwachs. So versteht Jan Assman die in Artefakten objektivierte Kultur ebenso wie Narrative und Rituale als »identitätskonkret«. Kulturell erzeugt eben eine jede Gruppe ein »Bewußtsein ihrer Einheit und Eigenart«, aus kulturellen Artefakten und Aktivitäten bezieht sie die »formativen und normativen Kräfte« ihrer Identität (Assmann 1988: 11f.). Wenn es keine kollektive Identität jenseits der kulturellen gibt, verändert sich das gesellschaftliche ›Selbstwissen‹ permanent. Dabei gibt es ein Spektrum von Möglichkeiten. Nicht alle Kollektive erzählen sich ihre Geschichte, erinnern Ereignisse. Es gibt auch jene Gesellschaften, die Lévi-Strauss ›kalt‹ nennt, weil sie ihre Identität in einer zeitlosen Gegenwart fabulieren, statt aus den Ereignissen eine Genealogie zu erzählen.

Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution10 »Jede bisherige Gesellschaft hat versucht, einige Grundfragen zu beantworten: Wer sind Wir, als Gemeinschaft? Was sind wir, die einen für die anderen? Wo und worin sind wir? Was wollen wir was begehren wir, was fehlt uns? Die Gesellschaft muß ihre ›Identität‹ bestimmen, ihre Gliederung, die Welt, ihre Beziehungen zur Welt und deren Objekten, ihre Bedürfnisse und Wünsche. Ohne eine ›Antwort‹ auf solche ›Fragen‹, ohne solche ›Definitionen‹ gibt es keine […] Gesellschaft« (Castoriadis 1984: 252).

Die These, Gesellschaft sei eine imaginäre Institution, ist für ein Konzept kollektiver Identitäten und deren Erforschung mindestens dreifach interessant. Zum einen handelt es sich um eine grundlegende Theorie kollektiver Existenz, die behauptet, dass jede Gesellschaft in ständiger Veränderung besteht und daher eine Identitätsvorstellung erzeugen muss. Neben der Notwendigkeit, eine zeitliche Identität zu imaginieren, erlaubt Castoriadis zudem, den gesellschaftlichen Grund zu konzeptionalisieren. Und drittens lassen sich analytische Vorschläge finden (worauf muss man achten, um konkrete Gesellschaften analytisch auf den Begriff zu bringen?). Jedes Kollektiv besteht in »Selbstveränderung«, und es existiert daher als solches nur, wenn es sich diese verleugnet. Das Kollektiv 93

muss sich eine ›stabile‹ Gestalt geben, in der es »zur Erscheinung kommt, und zwar auch für sich selbst« (ebd. 347). In diesem Sinn ist die Imagination einer kollektiven Identität in der Zeit (eines kollektiven Gedächtnisses) eine Existenzweise von Kollektiven. Sie ist notwendig. Dasselbe gilt für die Vorstellung eines Grundes, von dem her die Identität der Mitglieder über deren Vielfalt hinweg, und ebenso die des Kollektivs (über die sukzessiven Generationen und Ereignisse hinweg) garantiert werden. Nur so sind gesellschaftliche Normen und Klassifizierungen, die allesamt gesellschaftlich erfunden sind, geltend. Es spielt sich also alles so ab, »als könne sich die Gesellschaft nicht als sich selbst erschaffende«, nämlich als Selbst-Institution, »anerkennen« (ebd. 360). Sie gibt sich einen imaginären Grund. Castoriadis spricht von einer »primären« oder »zentralen« Bedeutung. Wie bei Durkheim, so stehen in dieser Funktion insbesondere religiöse Bedeutungen: Gott gehört »weder zum Realen noch zum Rationalen«. Diese Bedeutung ist vollkommen erfunden, vollständig imaginär. Gott »ist das, worauf alle Symbole verweisen, die ihn tragen; er ist das, was in einer jeden Religion diese Symbole zu religiösen Symbolen macht – eine zentrale Bedeutung, eine systematische Organisation von Signifikanten und Signifikaten – das, was diesen Verknüpfungen Einheit verleiht« (ebd. 241).

Eine solche zentrale Bedeutung, der letzte Signifikant, »denotier[t] nichts, konnotier[t] aber fast alles«. Sie bewirkt eine »›kohärente Deformation‹ des Systems der Subjekte, Objekte und ihrer Beziehungen«, krümmt alle weiteren Bedeutungen. Es handelt sich um den »Zement, der den ungeheueren Plunder des Realen, Rationalen und Symbolischen zusammenhält«, der eine Gesellschaft ›ist‹ (ebd. 245f.). Dabei ist die inhaltliche Füllung dieser Bedeutung fluide und »ständig bedroht«. Der letzte Signifikant ist der leere Signifikant; da er frei erfunden ist, ist er willkürlich, deutungsoffen. Insofern befindet sich »Sand an der Stelle«, an der sich das Fundament der Gesellschaft befinden müsste (Castoriadis 2010: 89f.). Auch moderne Gesellschaften haben einen letzten, leeren Signifikant, auch sie begründen ihre Identität in einer imaginären Bedeutung. Auch hier wird diese jenseits des Kollektivs vorgestellt, 94

ihm vorhergehend und unverfügbar (nicht als erfunden, selbstgesetzt). Das gilt zunächst für ›Vernunft‹ oder ›Rationalität‹. Zwar scheint es, als wären ›wir‹ rational und gerade nicht von Imaginärem zu beeindrucken. Doch »unterliegt das Leben der modernen Welt dem Imaginären nicht minder. […]. Ihre letzten Ziele unterliegen keiner Vernunft und sind daher willkürlich« (Castoriadis 1984: 268). Denn auch eine Verpflichtung durch die Vernunft ist nicht weiter begründbar. Mit Durkheim erscheint in derselben Funktion wie mehrfach erwähnt auch die Menschenwürde — in der eines zentralen Imaginären (auch wenn Castoriadis dies u.W. nicht erwähnt): Auch sie wird als vorgesellschaftlich gegeben verstanden, nicht als gesellschaftlich erzeugt. Sie verpflichtet, institutionalisiert durch Grundgesetz und Verfassungsrecht, aktuelle politische und rechtliche Entscheidungen, formt Selbstverständnisse und Ausgrenzungen. Castoriadis verweist zudem auf ›Volk‹ und ›Nation‹. Die Nation »setzt die Gemeinschaft« als »Substanz jenseits ihrer vergänglichen Moleküle und antwortet auf die Frage nach dem Sein und der Identität« des Kollektivs (ebd. 254). In jedem dieser Fälle sieht Castoriadis eine heteronome Institution der Gesellschaft, eine, die nicht selbstbestimmt, nicht autonom verfasst ist, weil sie sich immer noch anderem unterwirft.

Gauchet und Lefort: Absolutismus und Demokratie Eng mit Castoriadis verbunden, haben Claude Lefort und Marcel Gauchet den imaginierten Grund moderner Demokratien im Kontrast zu religiös fundierten Kollektiven analysiert. Gegenübergestellt werden nicht ›vormoderne‹ und ›moderne‹, sondern divergente Modi der kollektiven Existenz. Beide interessieren sich für den historischen Punkt, an dem die französische Erfindung moderner Demokratie vonstattengeht – in der Ablösung der Monarchie. Moderne Demokratien haben, so die These, aus dieser Herkunft ein theologisches Erbe übernommen; sie teilen eine Struktur; und ihre Institutionen sind zugleich so organisiert, dass sie ihr Gegenteil, eine monarchische Gesellschaft, permanent ausschließen. In diesem Sinn ist die moderne Demokratie nur »verstehbar, wenn man sich an das Wesen des monarchischen Systems« erinnert (Lefort 1990: 292): Wenn man weiß, was beide trennt, und was sie vereint. 95

Die Analyse Gauchets entfaltet sich in zwei Schritten. Der erste Schritt stellt divergente Modi der imaginären Institution von Gesellschaft gegenüber; der zweite dreht sich um die Französische Revolution als Erfindung einer neuen Bestimmung kollektiver Identität. Religiös instituierte Gesellschaften verlegen die Teilung der Macht, die Trennung von Unterwerfern und Unterworfenen in das Außen der Gesellschaft. Gott sind alle gleichermaßen unterworfen. Solche Kollektive instituieren sich in der »Schuld des Sinns«, in der Vorstellung, sich den Göttern zu verdanken, einem Grund, der »jenseits von ihnen« liegt (Gauchet 2005: 45f., dt. HD). Eine genuin politische (säkulare) Formierung kollektiver Existenz führt die Teilung der Macht ins Innere der Gesellschaft. Statt das »fundierende Prinzip, den Ursprung ihrer Organisationsweise, die Begründung ihrer Gefühle, den Grund ihrer Regeln nach außen« zu verlegen (ebd. 48, dt. HD), das Fundament des Kollektivs als »integrale Alterität« zu denken (Gauchet 1985: 12, dt. HD), organisieren sich politisch instituierte Kollektive durch soziale Ungleichheit (vgl. Gauchet 2005: 46). Was bedeutet also jener »mysteriöse gesellschaftliche Imperativ«, die eigene Existenz als Schuld zu erfahren (ebd. 48, dt. HD), warum instituieren Gesellschaften ein Außen, das ihre Identität stiftet? In der »Spaltung zwischen dem Instituierenden und dem Instituierten« (Gauchet 1985: 22, dt. HD) wird die kollektive Identität stabil. Indem alle Einzelnen gleichermaßen Gott unterworfen sind, sind »alle Faktoren der Instabilität« zugunsten der »Einheit der Gruppe, der Unantastbarkeit ihrer Regel und der Exteriorität ihres Grundes« entschärft (ebd. 20, dt. HD). Im Blick auf demokratisch instituierte Kollektive interessiert der Bruch mit der Monarchie in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Es ist deren Oszillation zwischen zwei unvereinbaren letzten Bedeutungen, die Gauchet interessiert: Seit jener einflussreichen Erklärung gründen sich moderne Demokratien auf die ›Würde des Menschen‹ und die ›Souveränität des Volkes‹. Beide Bedeutungen imitieren die religiöse Legitimierung der Monarchie, der sie eine ebenso unbezweifelbare Legitimation entgegensetzen. Es galt, den Souverän als Repräsentant der sozialen Totalität und als Garant der Identität des sozialen Körpers zu ersetzen – den Konkurrenten um die Macht, der religiös und dynastisch legitimiert war und über »ein unvergleichliches symbolisches Impe96

rium« verfügte (Gauchet 1991: 19). Indem die Revolutionäre versuchten, dieselbe Legitimation in die Fundamente der neuen Gesellschaft mitzunehmen (das Gottesgnadentum und die absolute Souveränität), stehen sie in seiner Matrix. Angesichts dieser »Vormundsgestalt, die in der Geschichte und im Glauben verwurzelt« war, und im Versuch, die neue Gesellschaft in Übernahme der Legitimation der alten zu errichten, nahmen die Revolutionäre den »Weg über die Wurzeln« (ebd.). Sie beriefen sich auf eine Instanz ganz ›unten‹. Nur die menschliche ›Natur‹ schien ebenso unzweifelhaft legitim, wie die Legitimation des Königs von ›oben‹. Und an Stelle der Souveränität des Monarchen setzten sie einen neuen Souverän: das Volk. Dies erklärt die bis heute bleibende Spannung der Demokratie. Die moderne Demokratie will derart zwar eine »sich selbst unterworfene Gesellschaft«, indes in einer Form, die zum »Zeitalter der unterworfenen Gesellschaft gehört« (ebd. 57). Wegen der mimetischen Aneignung der königlichen Macht teilen Demokratien schließlich die Tendenz, die Gesellschaft mit einem Individuum gleichzusetzen – die Nation als kollektives Subjekt zu denken. Claude Lefort setzt hier (bereits vorher, 1980) ein: in der Frage nach der Fortdauer des Theologisch-Poltischen in der modernen Demokratie. In dieser liege ein »einzigartiges In-Form-Setzen« kollektiver Existenz vor. Denn die Demokratie verweist zunächst auf eine rein immanente Spaltung des gesellschaftlichen Raums: Die kollektive Identität scheint weder auf einen jenseitigen noch diesseitigen Ort zu verweisen. Weder Gott noch König haben die Macht, die Identität zu bestimmen. Die Demokratie instituiert sich im »leeren Ort der Macht«. Das »Außen, von dem aus die Gesellschaft sich definiert« (Lefort 1999: 49f.) vollzieht sich hier so, dass jener Ort der Macht, von dem aus die kollektive Einheit und Identität behauptet werden, stets nur temporär besetzt ist. Die Gesellschaft instituiert sich zudem ohne repräsentativen Körper (des Königs). Ihre Identität wird systematisch latent gehalten, denn sie bleibt abhängig von der Wahl und vom politischen Streit. Kollektive Identität bleibt hier eine »schwimmende Vorstellung« (ebd. 59). Das gilt umso mehr, als jenes einige Volk, das seinen Willen äußern und seine Souveränität ausüben soll, in der Institution der Wahl in die reine »Zahl aufgelöst« ist (ebd. 58f.). Kurz, hier scheint das fundierende Außen, eine Begründung der Einheit des Kollektivs 97

abgeschafft. Es entsteht die »Illusion«, die kollektive Bestimmtheit wäre reines Resultat einer »Kombination vielfältiger Tatsachen« (ebd. 54). Indes: Es ist eine Illusion. Auch demokratisch instituierte Gesellschaften, deren Identität latent, weil umstritten bleibt, haben jenes »theologisch-politische Erbe«, das Gauchet analysierte. Es besteht auch hier die Vorstellung, es gäbe einen ›Willen des Volkes‹, der sich in der Wahl äußern soll; und auch hier wird immer erneut der Eindruck erweckt, es gäbe eine Identität, um die es zu streiten sich lohnte, und die repräsentierbar wäre. Die ganze Debatte um die Leitkultur ist ein solcher Diskurs. Und auch hier gibt es ein fundierendes Außen: Staat, Volk, Nation, Humanität sind Begriffe, die auf etwas verweisen, das dem gesellschaftlichen Diskurs vorhergeht. Der politische Diskurs kann nicht umhin, diese als »Instanz« zu denken, »kraft derer die Gesellschaft sich in ihrer Einheit erfaßt« (Lefort 1990: 293). Kurz, die Demokratie ist eine paradoxe Form der kollektiven Identitätserzeugung: Die Identität wird im selben Moment gedacht und durchgestrichen: »Das Verschwinden der natürlichen Bestimmung, wie sie an die Person des Fürsten und die Existenz des Adels gebunden war, lässt die Gesellschaft als rein soziale entstehen, so dass das Volk, die Nation, der Staat sich als universelle Entitäten erzeugen, der sich jedes Individuum und jede Gruppe zugehörig fühlt. Aber weder Staat noch Volk oder Nation sind substantielle Realitäten […]. Nichts […] macht das Paradox der Demokratie besser sichtbar als die Institution der allgemeinen Wahl. […] Im Moment, indem die Volkssouveränität sich manifestieren soll, das Volk seinen Willen ausdrücken, sind die sozialen Solidaritäten aufgehoben […]. Die Zahl ersetzt die Substanz [und] die Demokratie gründet und erhält sich in der Auflösung der Zeichen der Sicherheit.« (Lefort 1986: 28, dt. HD)

Die spezifische Form der Bestimmung der kollektiven Identität in der modernen Demokratie besteht in der Spannung zwischen der Opakheit und Unbestimmbarkeit der eigenen Identität einerseits, und dem Erbe einer weiter wirkenden Einheits- und Identitätsvorstellung andererseits.

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Laclau/Mouffe: Notwendigkeit und Unmöglichkeit von Gesellschaft als Identität Bei kollektiver Identität haben wir es immer »mit der Schaffung eines ›Wir‹ zu tun, das nur bestehen kann, wenn auch ein ›Sie‹ umrissen wird« (Mouffe 2007: 24). Etwas anders formuliert das demokratische Paradox Chantal Mouffe, die sich tief auf Lefort bezieht. Wie kaum eine andere betont sie die Notwendigkeit politischer, kollektiver Identität in Demokratien; wie kaum eine andere versteht sie das Politische als Bestimmung eines ›Wir‹ gegenüber einem ›Sie‹. Und wie wenige andere Gesellschaftstheoretikerinnen haben Laclau und Mouffe nicht nur die Unmöglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit einer Identitätsvorstellung gedacht. Anders als es bisher scheinen mag, geht es bei dieser Notwendigkeit nicht schlicht um kontrafaktische Imaginationen und nicht allein um Identität via Abgrenzung, bei der das andere anderes bleibt. Das Andere ist konstitutiv, die Differenz ist »Ermöglichungsbedingung der Konstitution von Einheit und Totalität«, oder die Abgrenzung ist für Identität »irreduzibel« (Mouffe 2010: 130) – das heißt: Das Andere bleibt nicht einfach außen. Die Grenzziehung, die zur Bestimmung der eigenen Identität nötig ist, verläuft vielmehr »im Inneren« der sich bestimmenden Gesellschaft (ebd. 66). Das ›Sie‹ ist kein bloßes Außen, es ragt in die Bestimmung des Eigenen hinein. In Hegemonie und radikale Demokratie begründen Laclau und Mouffe dies 1985 mit der Überbestimmtheit, der Vielfalt der möglichen Bestimmungen der Identität des Kollektivs. Weil Gesellschaft nie einheitlich ist, sondern gespalten, ist sie nie mit sich identisch. Eine Identitätsbestimmung wird immer seitens einer majoritären Position vorgenommen und sie kann stets bestritten werden. Dies ist für Mouffe und Laclau insbesondere eine Information für den Marxismus. Jener »letzte Grund«, aus dem die Klassentheorie alles erklärt, existiert nicht (Mouffe 2007: 25): Ökonomische Konflikte sind nicht die Basis der Konflikte und der hegemonialen Bestimmung der Gesellschaft. Auch andere (ethnische, konfessionelle usw.) Konflikte sind das »primäre Terrain der Konstitution« einer Gesellschaft. Deren Einheit, Totalität und Identität ist immer »angestrebt« – und »nie gegeben« (Laclau 2014: 169, dt. und Herv. HD). Sie ist unmöglich, weil jede Fixierung partiell 99

oder hegemonial bleibt, weil die Identität stets »überdeterminiert« (Althusser 2011: 127, 139) ist. Stets gibt es andere, ebenso mögliche Bestimmungen der Gesellschaft, jede Identitätsbehauptung bleibt umstritten und zudem kontingent. Oder: Jede Bestimmung des Kollektivs ist politisch. Wenn Identität unmöglich ist, warum ist sie nun notwendig? Notwendig ist sie, weil keine Gesellschaft auf eine Vorstellung ihrer Einheit verzichten kann – sonst wäre sie keine. Kollektive Existenz, die eine Existenz von Bedeutungsstrukturen ist, impliziert eine Totalität, eine Struktur, eine Form. Bedeutungssysteme sind zwar von den Differenzen, vom Außen abhängig und nie endgültig fixierbar. Und doch müssen daher »partielle Fixierungen« versucht werden: »Auch wenn das Soziale sich nicht in den […] instituierten Formen einer Gesellschaft zu fixieren vermag, so existiert es doch nur als Anstrengung, dieses unmögliche Objekt zu konstruieren. Jedweder Diskurs konstituiert sich als Versuch, […] ein Zentrum zu konstruieren.« (Laclau/Mouffe 2001: 150, Herv. HD)

Das gilt auch für Demokratien. Auch hier gilt es, die politischen Leidenschaften anzuerkennen, das Begehren nach Identität nicht zu denunzieren. Darin besteht das Politische (Mouffe 2007: 17). Auch Demokratien konstituieren sich im Wir-Sie-Gegensatz. Das gilt bereits praktisch, da die Ausübung von Staatsbürgerrechten die Eingrenzung des demos voraussetzt, die Bestimmung, wem die demokratischen Rechte zustehen (Mouffe 2010: 55). Und es gilt logisch, weil eben jede Bestimmung des demos, seiner »politischen und sozialen Identität« Ergebnis einer »politischen Konstruktion« ist, die aus den möglichen Identitäten eine auswählt. Nie gibt es das »vollständig konstituierte ›Volk‹«, stets gibt es den Kampf darum. Nie ist kollektive Identität vollständig konstituiert, stets gibt es »konkurrierende Formen der Identifikation« (ebd. 66). Das Paradox der Demokratie bestimmt Mouffe nun genau in dieser Konkurrenz, nämlich letztlich in der Unvereinbarkeit zweier fundierender Bedeutungen, zweier letzter Signifikanten, von denen aus eine jede demokratische politische Form seit der Französischen Revolution ausgeht (wie auch Gauchet gezeigt hatte): Während die Menschenrechte eine universalistische Bestimmung des Wir verlangen, implizieren die Bürgerrechte eine Eingrenzung. Die kol100

lektive Identität besteht daher in der Nicht-Identität, im Dissens, im Ringen »zwischen der liberalen ›Grammatik‹ der Gleichheit« einerseits und der »Praxis demokratischer Gleichheit« andererseits. Möglich sind allein »instabile« Lösungen dieser grundlegenden »Spannung«: »Keine letzte Auflösung, kein Gleichgewicht dieser beiden konfligierenden Logiken wird jemals möglich sein« (ebd. 56f.).

Deleuze: Das Werden des Volkes Das soziologische Konzept von Gilles Deleuze wurde ein Fixpunkt des kritischen Diskurses um (kollektive) Identität – und Stützpunkt positiv gewendeter Identitätspolitiken. Dabei ist im Gegensatz zu jeder Identitätskonzeption gerade der Begriff des Werdens zentral. Der Akzent von Deleuze liegt (mit Guattari und mit der Philosophie von Bergson) auf dem Anders-Werden statt auf Identität, das Werden als permanente Aktivität, als unabschließbaren und unvorhersehbaren Prozess verstehend. Eine jede Identität ist demgegenüber imaginär. ›Werden‹ meint also nicht, etwas zu werden, eine bestimmte Form zu erlangen. So muss auch eine Frau immer erneut Frau-werden, um eine zu ›sein‹ oder zu ›bleiben‹. Eher geht es um eine bestimmte affektive Intensität, um Affekte. So kann auch ein Krieger momentan ›Frau-werden‹ (Deleuze/ Guattari 1992: 488), und ein Schamane rituell Jaguar-werden. In diesem Sinne entfaltet Deleuze nun auch ein Konzept kollektiven Werdens, Kollektiv-Werdens (statt kollektiver Identität). Auch hier sind Affekte zentral. So kann Popmusik ein »Volk neuer Art ausschwärmen lassen« (ebd. 472). Und ebenso ist es die Kraft insbesondere von Literatur, ein Kollektiv-Werden hervorzurufen. Kafka habe ein neues Volk geschaffen: Die jüdische Minderheit in Prag hat sich der ›großen Sprache‹ des Deutschen bedient, um ein Kollektiv zu werden – die Literatur hat eine »aktive Solidarität« erzeugt (Deleuze 1976: 25f.). Es geht um die Wirksamkeit kollektiv geteilter Imaginationen, die etwas positiv erzeugen, statt nur vorhandenes darzustellen. Hier entsteht Neues. Dafür kann man neben Kafka auf viele Fälle verweisen – etwa den der baskischen Unabhängigkeitsbewegung ETA. Sie beginnt 1881 mit einem ersten Roman (Peru Abarca), geschrieben von einem Hochschullehrer, und wird weiter befeuert durch die Erfindung einer Flagge 101

und Kodifizierung der Sprache. Das deleuzianische Konzept kollektiver Identität ist ein Konzept kollektiven Werdens – oder es ist ein Konzept der Kraft des Minoritären. Kollektive Identität ist bestimmt durch eine Majorität, ist hegemonial. Das Werden, das Deleuze dagegen interessiert, ist das der Minoritären. Nehmen wir an, »das Maß lautet: Mensch – weiße Hautfarbe – männlich – erwachsen – vernünftig – heterosexuell – Stadtbewohner – eine Standardsprache sprechend«: Das Kollektiv des Mannes ist dank dieser ›Äquivalenzkette‹ majoritär, auch wenn Männer weniger zahlreich sind als »die Mücken, die Kinder, die Frauen, die Schwarzen, die Bauern, die Homosexuellen«. Diese sind entweder Minorität (Frauen usw.), oder jenseits des Kollektivs (Mücken). Die Emergenz neuer Kollektive ereignet sich, wenn der Status der Minderheit ebenso verlassen wird, wie der der Mehrheit. »Das Problem besteht nicht darin, die Majorität zu erringen […]. Die Frauen, unabhängig von ihrer Anzahl, sind eine als Zustand oder Untermenge definierbare Minorität; aber schöpferisch sind sie nur, indem sie ein Werden ermöglichen, […] ein Frau-Werden, das den Menschen als Ganzen betrifft, einschließlich der Nicht-Frauen«. (Deleuze 1994: 205f.)

Wir werden auf die politische Umsetzung des Konzeptes noch zu sprechen kommen – im Blick auf die subaltern studies und allgemeiner die Identitätspolitiken. Auch wenn diese Deleuze und auch Foucault grundlegend kritisieren (Spivak 2008), sind diese Politiken nicht ohne die beiden denkbar.

2 Weber: Subjektiver Gemeinsamkeitsglauben und individuelle Interessen

In der Tradition handlungstheoretischer Konzepte sind Theorien kollektiver Identität auf den ersten (und zweiten) Blick seltener. Das Augenmerk liegt auf den Auflösungen, Dekonstruktionen kollektiver Identität, darauf, subjektive Motive, Konstruktionen, Interessen sichtbar zu machen. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass Weber (ähnlich wie Simmel) jeden Kollektivbegriff als Hypostasierung, als Verdinglichung des Kollektivs ablehnt: 102

»[W]enn ich jetzt nun einmal Soziologe geworden bin (laut meiner Anstellungsurkunde!), dann wesentlich deshalb, um dem immer noch spukenden Betrieb, der mit Kollektivbegriffen arbeitet, ein Ende zu machen. […] Soziologie kann nur durch Ausgehen vom Handeln des oder der, weniger oder vieler Einzelner, strikt ›individualistisch‹ in der Methode also, betrieben werden.« (Brief an Robert Liefmann vom 9.3.1920, Weber 2011: 946)

Gleichwohl kommt Max Weber zu Konzepten und Analysen kollektiver Identität: im soziologischen Grundbegriff der ›Vergemeinschaftung‹ sowie in den Abschnitten zum ethnischen Gemeinsamkeitsglauben, zu Volk und Nation in Wirtschaft und Gesellschaft. »›Vergemeinschaftung‹ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns […] auf subjektiv gefühlter […] Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht.« (Weber 1980: 21)

Da es für die Soziologie selbstverständlich »keine ›handelnde‹ Kollektivpersönlichkeit« (ebd. 7) gibt, verwendet Weber alle Begriffe (Nation, Ethnie, Volk usw.) stets in Zitatzeichen und legt alles darauf an, diese scheinbaren Ganzheiten durch »exakte Begriffsbildung« zu »verflüchtigen« (ebd. 224). Für alle Kollektive gilt es zu dieser Verflüchtigung zunächst zu zeigen, dass die in ihnen behaupteten »Gemeinsamkeitsgefühle nichts Eindeutiges sind« und daher nicht wirklich bestehen. Sie haben »sehr verschiedene Quellen« (ebd. 226) und dienen verschiedenen Interessen. Selbst wenn Einzelne an der kollektiven Identität orientiert handeln (im Stolz auf die Nation etwa), so liegt dem mitnichten ein geteiltes Gefühl zugrunde. Es »verbinden eben die Beteiligten mit ihrem Handeln einen verschiedenen Sinn« (ebd. 13f.). Zweitens betont Weber die Arbitrarität der identitätsstiftenden Merkmale. Jedes ist konstruiert, vorgestellt, und kleinste Äußerlichkeiten können »Anlaß zu dem subjektiven Glauben« bieten, einem Kollektiv anzugehören und eine Identität zu teilen (ebd. 236f.). Drittens betont Weber das negative Moment, das abgrenzende, gewaltvolle der Identifikation mit einem Kollektiv. Vor allem ethnisches Gemeinschaftshandeln äußere sich stets in »Absonderung und Verachtung« der Anderen: »Abstoßung ist das Primäre und Normale« (ebd. 234). Viertens führt Weber solche (exklusiven, nega103

tiven) Identifikationen auf soziale Ungleichheit und Machtstreben zurück. Die Zugehörigkeit zur ethnischen Gemeinschaft erlaubt, sich über andere zu erheben, andere zu diskriminieren: »[D]ie besitzlosen […] Weißen der amerikanischen Südstaaten waren […] die Träger der […] Rassenantipathie, weil ihre soziale ›Ehre‹ an der sozialen Deklassierung der Schwarzen hing. […] [H]inter allen ›ethnischen‹ Gegensätzen steht […] der Gedanke des ›auserwählten Volks‹, […] in das horizontale Nebeneinander übersetztes Pendant ›ständischer‹ Differenzierungen.« (Ebd. 239)

Es ist jener Mechanismus, den Adorno und andere als »autoritären Charakter« bezeichnet haben, und mit dem sie den Antisemitismus erklären (Adorno 1995). Ebenso sind politische Interessen für Max Weber stets primär, sie gehen der Identitätsstiftung voraus. Insbesondere die Vorstellung einer Identität des Kollektivs in der Zeit ist dann selbstverständlich stets eine retroaktive, politische Motive legitimierende: »Gemeinsame politische […] Schicksale haben diese Gemeinschaft [z.B. Frankreichs, HD] gestiftet und ihre Legende vertritt die Heldensage primitiver Völker. Die ›grande Nation‹ war die Befreierin von feudaler Knechtung, galt als Trägerin der ›Kultur‹, ihre Sprache als die eigentliche ›Kultursprache‹.« (Weber 1980: 225)

Herkunftserzählungen und Abstammungsfiktionen legitimieren bestehende politische (individuelle) Motive, statt das Politische zu stiften. Schließlich sind auch kulturelle Ähnlichkeiten retroaktiv imaginiert. Selbst in der Sprache setzt Weber derart individuelle Interessen als primär. Im Gegensatz zu dem, was Herder schreibt, ist eine Sprache kein Fundament kollektiver Identität: »Gemeinsamkeit der Sprache […] erleichtert das gegenseitige Verstehen, also die Stiftung aller sozialer Beziehungen […]. [A]n sich bedeutet sie noch keine Vergemeinschaftung, sondern nur die Erleichterung des Verkehrs […] zwischen den einzelnen und nicht in deren Eigenschaft als Sprachgenossen […]: die Orientierung an den Regeln der gemeinsamen Sprache ist primär also nur Mittel der Verständigung, nicht Sinngehalt von sozialen Beziehungen. Erst die Entstehung bewußter Gegensätze gegen

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Dritte kann […] Gemeinschaftsgefühl[e] und Vergesellschaftungen, deren bewußter Existenzgrund die gemeinsame Sprache ist, stiften.« (Ebd. 22f.)

Damit sind Grundideen einer jeden sozialkonstruktivistischen, kritischen Theorie kollektiver Identität auf dem Tisch: der Ausgang vom subjektiven Sinn, den Motiven und Interessen, die sich mit der kollektiven Identifizierung verbinden. Handlungstheoretische und ausdrücklich ›konstruktivistische‹ Perspektiven (wobei im Grunde jede genuin soziologische Theorie konstruktivistisch ist, nicht essentialistisch) interessieren sich für Phänomene kollektiver Identität derart stets aus dem Blick subjektiver Interessen. Sie interessieren sich für das konstituierende Subjekt und dessen Hegemonie- und Ausgrenzungsbegehren. An Weber schließen implizit und explizit alle handlungsbasierten Erklärungen sozialer Phänomene an. Sie legen indes wenig Explizites zu ›kollektiver Identität‹ vor, so dass wir hier keine weiteren Konzepte vorstellen. Das liegt unter anderem vermutlich daran, dass die Gefahr einer essentialistischen Fassung des Gesellschaftsbegriffes schon im Begriff kollektiver Identität (und ähnlicher Begriffe) selbst liege. Nicht nur wird hier also eine soziologische Kritik an den Exklusions- und Reinheitspolitiken geäußert. Tendenziell ist vielmehr aus dieser Sicht jede Theorie kollektiver Identität kritisch zu sehen, da sie den Begriff eben gerade nicht auflöst. Von Weber her ist demnach einsichtig, warum nicht viele soziologische Theorien explizit zu kollektiver Identität arbeiten; warum es kein Großkonzept wurde; warum andere Leitbegriffe im Vordergrund soziologischen Denkens stehen. Bourdieu hatte in derselben Richtung argumentiert, nämlich im Blick auf die performative oder ›magische‹ Kraft der Worte. Und auch alle dekonstruktiven Ansätze, welche die ›Mythen‹ der Nation, Ethnie, Kultur aufspießen, auf deren Künstlichkeit verweisend, können sich auf Weber berufen. Dabei sollte bisher deutlich geworden sein, dass auch der französische, durkheimianische Diskurs selbstverständlich nichts anderes denkt. Auch hier geht es um kollektive Identität als Vorstellung, Konstruktion, Fabulation – mit dem Zusatz indes, diese als funktional, als notwendig für kollektive Existenz zu verstehen. Dafür hat Weber kein Sensorium, es ist in diesem soziologischen Paradigma nicht sagbar.

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Hinzu kommt im Fall der von ihm beeinflussten Handlungstheorien die Orientierung am modernen Subjekt als dominant zweckrational (nicht etwa affektiv) motivierten. Zwar lassen sich auch vom kalkulierenden Einzelnen Konzepte kollektiver Identität entfalten, die positive Funktionen im Blick halten. Dies aber in der Philosophie, und nicht Soziologie: Kollektive Identität denkt John Rawls (1979) als rationale Wahl der Zugehörigkeit. Entfaltet wird ein individualistisches Identifikationsmodell, in dem sich die Mitglieder nicht als identisch verstehen – nicht als »Gleiche, sondern als Gleichgesinnte« (Emcke 2000: 34). Ähnlich wie Habermas entfaltet Rawls eine normative Philosophie. Seine Frage ist die der gerechten Gesellschaft. Es wäre eine freier Personen, die als ›selbstschaffende Quellen gültiger Ansprüche‹ definiert sind. Sie identifizieren sich mit jenen Kollektiven, die ihr Konzept des Guten teilen. Was sind die Vorteile einer solch ›weberianischen‹ Konzeption kollektiver Identität (abgesehen davon, dass es sich nicht um ein soziologisches, gesellschaftsanalytisches Konzept handelt)? In der Rückführung auf den Einzelnen als Schöpfer kollektiver Identitäten können diese »als in sich heterogen« beschrieben werden. So werden »fahrlässige« Essentialisierungen vermieden, und werden »multiple Zugehörigkeiten denkbar«. Kollektive Identität wird zur »variablen, veränderbaren, ablegbaren Kategorie« (ebd. 40f.). Entspricht dies auch der Realität? Aus anderer Perspektive – derjenigen von Mouffe etwa – sind Rational-Choice-Ansätze und genereller, individualistische Ansätze für das Phänomen kollektiver Identität blind, selbst wenn sie den Begriff aufwerfen. Weder können sie das Begehren nach einem Kollektiv erklären, noch die Leidenschaften oder die euphorisierenden, stabilisierenden oder aggressiven Eigendynamiken.

3 (Post-)Marxistische Perspektiven: Ausgrenzungen und Fixierungen

In Weber-Nähe steht der Sache nach insgesamt jeder dekonstruktive Zugang zu kollektiver Identität. Das Motiv, jeden ›Glauben‹ an kollektive Identität zu entlarven; die Überzeugung, jede Identitätsbehauptung ziele vor allem auf Exklusion, und habe Reinigungspolitiken zur Folge – diese Motive und Überzeugungen 106

teilen handlungstheoretische Ansätze mit marxistischen. Das gilt ganz unabhängig davon, dass die soziologischen Perspektiven absolut unvereinbar sind. Man wird auf der Seite des Marxismus an die Frankfurter Schule denken und deren erwähnte Studie zum rassistischen, ›autoritären Charakter‹11: Kollektive Identitätsbehauptungen sind hier grundsätzlich negativ, ausgrenzend und abwertend. Sie entsprechen einer deprivilegierten, ihren gesellschaftlichen Hass auf andere abwälzenden sozialen Position innerhalb einer strukturell ungleichen Gesellschaft, die immer erneut Beherrschte produziert. Rogers Brubaker, Pierre Bourdieu oder Etienne Balibar haben in diesem Kontext kritische Konzepte kollektiver Identitäten entworfen. Ihnen gilt bereits jede Behauptung einer Gruppe als Gruppismus – als falsche Homogenisierung und Identitifizierung Einzelner. Demgegenüber wird die Hybridität von Kollektiven wie Individuen betont, ihre Transkulturalität und Veränderlichkeit. Auch hier geht es um die soziologische Aufklärung und Dekonstruktion einer jeden scheinbaren Urwüchsigkeit, Fundiertheit, Unveränderlichkeit von Kollektiven – und ebenso von Individuen. Nicht erst kollektive Identitäten, schon Kollektive und Identitäten sind erfunden, und zwar aus politisch-strategischen Motiven. Zentral ist hier im Blick auf kollektive Identitäten der Essentialismus-Vorwurf; zentral ist zudem die Konzeption der WissensMacht von Foucault, der Klassifikationen von Einzelnen und ihrer Normalisierung; sowie die ebenso foucaultschen Konzepte der Naturalisierung sozial erzeugter Differenzen und der Rassen- und Biopolitik. Die Konstruktion der kollektiven Identität würde auch der durkheimsche Diskurs nicht bestreiten, ebenso wenig wie natürlich Weber. In diesem Diskurs, der von Marx her kommt, ist der Akzent indes ein anderer: Es geht um Kritik sozialer Ungleichheit und Herrschaft. Im Begehren kollektiver Identität, in der Ausgrenzung rassisch, kulturell, religiös oder geschlechtlich definierter Minderheiten werden die eigentlichen Gegensätze verdeckt, die moderne Gesellschaften strukturieren (die der Klassen). Positiv ruft dies den ›strategischen Essentialismus‹ der Identitätspolitik auf den Plan – die Aktivierung wirklicher gemeinsamer Interessen.

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Bourdieu: Performative Diskurse Pierre Bourdieu sieht nicht nur soziale Klassifikationen stets »praktischen Funktionen« oder Interessen gehorchend. Nicht nur führen die gesellschaftlichen Klassifikationen Einzelner zu »sozialen Effekten« (1991: 222, dt. HD). Vielmehr tragen jegliche gesellschaftliche Vorstellungen und Diskurse bei, das zu produzieren, was sie scheinbar nur beschreiben. Selbst in positivistischen, lediglich darstellenden Beschreibungen ethnischer Identität verstecken sich »Kämpfe um Klassifikationen«. In ihnen geht es darum, Menschen »sehen und glauben zu lassen, wissen und anerkennen zu lassen« – darum, eine »legitime Sicht auf die Welt« zu erzeugen. Und auch, wenn die »Identität und Einheit der Gruppe« lediglich thematisiert wird – bereits dann wird diese Einheit und Identität erzeugt (ebd., dt. HD). Auch und gerade die »›wissenschaftlichen‹ Mythologien« mit ihrer Autorität sind performativ. Sie sortieren Einzelne; sie folgen ihrerseits (materiellen oder symbolischen) Interessen. Wenn Historiker etwa die Geschichte einer ›Nation‹ untersuchen, so kommen sie nicht umhin, sich in den »kollektiven Glauben« an die Nation einzubringen. Dasselbe gilt für die Soziologin, die Klassen, Ethnien, Schichten beschreibt. Egal, von welchem Kollektiv Sozialwissenschaftlerinnen sprechen: Sie erzeugen die »Bedingung seiner Realisierung« mit (ebd. 226, dt. HD). Die Alternative zwischen der Mystifizierung kollektiver Begehren und Vorstellungen und ihrer Demystifikation und Dekonstruktion ist daher nur scheinbar (ebd. 227, dt. HD). Der Ausweg wäre wohl, jeden Begriff aufzulösen, ihn zu verflüchtigen: Dies jedenfalls ist der Weg, den Weber empfiehlt und den auch Brubaker einschlägt.

Brubaker: Ethnizität ohne Ethnien »Ethnizität, Rasse und Nation sollten nicht als Wesen, Dinge, Gebilde, Organismen oder Kollektivsubjekte konzeptualisiert werden […], sondern unter dem Aspekt des Relationalen, Prozessualen, Dynamischen, Wechselvollen und der Disaggregation.« (Brubaker 2007: 21f.)

Begriffe für Kollektive wie Ethnie, Rasse, oder Nation bezeichnen weder Identitäten, noch Geteiltes, noch überhaupt irgendwelche 108

Gruppen. Was es gibt, sind lediglich Kollektiv-Semantiken. Und so, wie insbesondere die Rede von Rassen nicht von deren Existenz abhängt (sondern lediglich von Machtstrukturen und sozialen Ungleichheiten), gibt es überhaupt keine Gruppen oder Kollektive – geschweige denn, dass diese mit sich identisch wären oder ihre Mitglieder etwas teilten. Was es gibt, sind politisch interessierte Identifizierungen. Es gibt Prozesse, Handlungen und Akteure. Brubakers Vorschlag ist also, sich von der herkömmlichen Redeweise ganz zu trennen, in den Sozialwissenschaften alle Kollektivbegriffe und jeden Begriff der Identität fallen zu lassen. Ethnische Konflikte sind nicht Konflikte zwischen Gruppen. Vielmehr sind es ethnisierte oder ethnisch interpretierte soziale Konflikte. Sie werden durch Weisen des Handelns, »kulturelle Redensarten, kognitive Schemata, diskursive Deutungsmuster, organisatorische Routine, institutionelle Formen, politische Projekte und zufällige Ereignisse« (ebd. 22) geschaffen. Sie gaukeln die Existenz von Gruppen vor. Kollektive Identitätsbehauptungen verweisen dabei stets auf politische Interessen und Akteure, namentlich auf ethnopolitische Unternehmer. Kurz, Organisationen und nicht Kollektive bilden die »Hauptprotagonisten«, und letztlich sind es politische (Macht-)Interessen Einzelner, die insbesondere hinter jenen Identitätsbehauptungen stecken, die sich auf den Affekt des Hasses stützen (ebd. 28). Brubaker denkt hier etwa an die UCK – jene antiserbische ›Befreiungsarmee‹, die sich mit der Behauptung einer kosovarischen Identität die Unterstützung der Bevölkerung sowie Rekruten und Ressourcen sicherte. Dabei handele es sich letztlich um ein reines Machtbegehren (ebd. 25f.). Dasselbe müsste man wohl für alle Seiten dieses politischen Konflikts sagen (so jedenfalls Calhoun 1994: 26ff.). Im Anschluss an Bourdieu sieht Brubaker jede Rede von Kollektiven derart in Gefahr, performativ, ethnopolitisch aktiv zu werden – auch die der Soziologie: Indem man von Kollektiven spricht, werden diese und deren Konflikte erzeugt, statt die heterogene und fluide soziale Realität zu sehen.

Balibar: Rassismus ohne Rassen Ob »freiwillig oder unfreiwillig«, Claude Lévi-Strauss sehe sich, da er kulturelle Unterschiede erforscht und auf die Vielfalt der menschlichen Kulturen Wert legt, in den »Dienst des Gedankens 109

gestellt«, dass die Vermischung von Kulturen der ›geistige Tod der Menschheit‹ sei: Dies schreibt Étienne Balibar unter dem Titel einer Analyse des »Neorassismus« (Balibar 1990a: 29). Tatsächlich war Lévi-Strauss davon ausgegangen, dass die verschiedenen Kulturen differente Möglichkeiten des Menschseins darstellen, die es gilt, zu bewahren. In einer infolge des europäischen Einflusses (der sogenannten Globalisierung) von »Uniformität bedrohten Welt« gilt es aus Sicht des Anthropologien, das kulturelle Inventar der Menschheit zu erhalten. Lévi-Strauss fügt hinzu: »Das Faktum der Verschiedenheit ist zu erhalten, nicht der historische Inhalt, den jede Epoche ihm gegeben hat« (1975: 407). Aus der Sicht Balibars ist nun gerade diese an sich löbliche Position des Anthropologen gefährlich: Die Betonung kultureller Differenzen lässt sich politisch instrumentalisieren. Indem das Kulturelle als ›natürlich‹ differenziert gilt; indem menschliche Lebensweisen, Kulturen als unvereinbar gelten, werde Kultur naturalisiert. Die Betonung kultureller Differenzen münde im differentialistischen oder kulturellen Rassismus: in einem »Rassismus ohne Rassen« (Balibar 1990a: 30). Der biologische Rassismus sei nicht der einzige Modus einer »Naturalisierung menschlicher Verhaltensweisen«. Tatsächlich habe sich eine stille Verlagerung von der Rassentheorie zur Theorie ethnischer Beziehungen vollzogen, in welcher weniger die rassische Gemeinsamkeit, als das »rassistische Verhalten zu einem natürlichen Faktor erklärt« wird: »Wenn die irreduzible kulturelle Differenz die wahrhafte ›natürliche Umwelt‹ des Menschen bildet, […] muß jede Verwischung dieser Differenz notwendig Abwehrreaktionen auslösen, zu ›interethnischen‹ Konflikten […] führen«. (Ebd.)

Im Grunde funktioniere jeder Rassismus auf diese, nämlich auf kulturelle Weise. Der kulturelle oder der Neorassismus, der ›Rassismus ohne Rassen‹ ist nicht neu. Zwar haben körperliche Stigmata etwa im Antisemitismus einen »Stellenwert, jedoch eher als Zeichen eines geistigen Erbes« denn als Zeichen einer geteilten biologischen Struktur (ebd. 32). Einen solchen Neorassismus wird man aktuell an vielen Stellen bemerken. Insbesondere die 2002 in Frankreich entstandene Identitäre Bewegung (les identitaires) ist derart kulturell rassistisch. Behauptet werden kulturelle Differen110

zen zwischen ›Europa‹ und ›Islam‹. Rückgängig gemacht werden soll die »Modifikation der Gesellschaft« durch die Präsenz islamischer Menschen, ihrer Praxen und Artefakte; rückgängig gemacht werden soll die Veränderung der kollektiven Gestalt durch die Architektur der »Moscheen, durch den Terrorismus, durch die massive und unkontrollierte Immigration«. Das einzige Mittel, um jenem »Chaos«, das sich in den »multikulturellen und daher multi-konfliktuellen Gesellschaften Bahn bricht«, Herr zu werden, sei: die Rückkehr der Immigranten. »Es geht darum, Europa, das auf dem Wege ist, durch seine alten Kolonien kolonisiert zu werden, zu verteidigen«.12 Wo Brubaker vom Ethnizismus ohne Ethnien spricht, spricht Balibar vom Rassismus ohne Rassen. In derselben Weise hat Stuart Hall den kulturellen Differentialismus als einen Rassismus bezeichnet (Hall 2004b: 205). Und wenn kulturelle Differenzen rassistisch werden können, so kann selbst die Klasse es werden. Es gibt einen »Klassenrassismus« (Balibar 1990b: 127), wenn nämlich Stigmatisierungen und Stereotypisierungen auf die andere Klasse projiziert werden, um die eigene Solidarität hervorzuheben. Kurz, der biologistische, der völkische, auch der ethnische oder kulturelle Rassismus ist »weder eigenständig noch primär«. Es sind dies alles unterschiedliche Formen eines einzigen »Phantasma[s]«, nämlich des »Phantasmas der Segregation«. Die Vorstellung ist, man müsse den »Gesellschaftskörper« reinigen, um dessen Identität zu bewahren. Immer handele es sich dabei darum, solche »Gefühle zu organisieren«, in denen sowohl die Anderen, als auch die Eigenen »stereotypisiert« werden (Balibar 1990a: 23f.). Auch und vor allem die Identifizierung in Form der Nation – die »Projektion der individuellen Existenz« in eine nationalisierte Geschichte und Kollektivität – führt zu einer derartigen Klassifizierung, Sortierung und (Ent-)Solidarisierung (Balibar 1990b: 115). Wie werden Individuen nationalisiert? Keine Nation hat wirklich eine Basis. Sie muss ihr Volk schaffen. Das Volk »muß sich permanent als nationale Gemeinschaft« erzeugen. Es gilt also seitens der hegemonialen Institutionen, eine »einheitsstiftende Wirkung« zu erzielen. Man muss es schaffen, dass das Volk als eines erscheint (ebd. 115). Rousseau war derjenige, der diese Nation-Form vorbereitet hat, die Stiftung kollektiver Effekte für die Nation. Indes ha111

ben vor allem die Kulturtheorien von Gesellschaft (Herder, Fichte) das Volk als etwas vorstellbar gemacht, dem eine nationale Form »immanent« sei (ebd. 114). In diesen Theorien nämlich wird die grundlegend heterogene und veränderliche Bevölkerung als eine dargestellt. Die Nationalisierung der Sprache, die Schule tragen seither genau dazu bei – Institutionen, in denen nationalisierte Subjekte geformt, individuelle Identität erzeugt werden. Jede Identität ist kollektiv. Sie entsteht »in einem bestimmten Umfeld sozialer Werte, kollektiver Verhaltensnormen und Symbole« (ebd. 116). Und je gibt es dominante Identitätsformen. Oder in den Worten Craig Calhouns (1994: 27, dt. HD): Sobald Individuen als »homogene behandelt werden«, sind die »Politiken persönlicher und kollektiver Identität« untrennbar voneinander. Nicht zuletzt erkennt Balibar auch im Universalismus der Menschenrechte einen Rassismus, und zwar, weil er immer auch eine kulturelle Überlegenheitsgeste impliziert: »Kein Diskurs über die Gleichwertigkeit aller Kulturen« kann die Tatsache beseitigen, dass Integration stets nur in einer Richtung verlangt wird; dass die Menschenrechtsidee als die wertvollere gilt; dass Integration in diese als »Fortschritt« und als Emanzipation »dargestellt wird« (Balibar 1990a: 33). Noch in dieser Höherbewertung des eigenen Modells von Gesellschaft werden Kulturen getrennt und kulturelle Identitäten behauptet. Man entkommt kollektiver Identifizierung nicht. Was wäre das Ziel dieses (letztlich marxistisch informierten) Denkers? Jedes Volk, jedes Kollektiv muss einen Weg aus seiner vorgestellten »Exklusivität« finden, und jedes Individuum sich von seiner imaginierten Zugehörigkeit »befreien, um mit den Menschen anderer Völker zu kommunizieren, die die gleichen Interessen und teilweise auch die gleiche Zukunft haben« (Balibar 1990b: 129).

Strategischer Essentialismus – Identitätskampf Gayatri Chakravorty Spivak steht exemplarisch für eine letztlich entgegengesetzte Behandlung des Themas, obgleich sie alles teilen würde, was Brubaker, Bourdieu, Balibar schreiben. Auch Spivak geht (vereinfacht und ohne hier ihre Derrida-Lektüre oder ihre Kritik an Foucault und Deleuze zu erwähnen) von einer marxistischen Position aus: Es gibt klassengebundene Interessen, es gibt 112

Herrschaft, und es gibt Subjekte, die sich nicht politisch äußern können, weil sie keine adäquate Vertretung haben. Sie können kein Kollektiv bilden, sind verstreut. In der Lektüre von Marx’ Brumaire und im Anschluss an Antonio Gramscis Konzept des Subalternen überträgt sie das historische Beispiel der »Parzellenbauern« auf die Gegenwart. Bei Marx lautete die berühmte Stelle: Die »Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter […] überlieferten Umständen«. Selbst wenn Menschen Neues schaffen, denken sie es in Formen der Vergangenheit, sie entlehnen ihr »Namen, Schlachtparole, Kostüm« (Marx 1972: 115). Das gelte nun namentlich für die französischen Bauern: Sie waren nicht in der Lage, sich selbst zu vertreten, ihr Klasseninteresse geltend zu machen; ihnen fehlte ein »kollektiver Name« (Spivak 2008: 32ff.). »Bonaparte vertritt eine Klasse, und zwar die zahlreichste Klasse der französischen Gesellschaft, die Parzellenbauern […]. Die Parzellenbauern bilden eine ungeheure Masse, deren Glieder in gleicher Situation leben, aber ohne in mannigfache Beziehung zueinander zu treten. Ihre Produktionsweise isoliert sie voneinander […]. Insofern ein nur lokaler Zusammenhang unter den Parzellenbauern besteht, die Dieselbigkeit ihrer Interessen keine Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und keine politische Organisation unter ihnen erzeugt, bilden sie keine Klasse. Sie sind daher unfähig, ihr Klasseninteresse im eigenen Namen […] geltend zu machen. Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden.« (Marx 1972: 197f.)

Die Parzellenbauern konnten daher keinerlei politischen Einfluss ausüben: Sie waren unfähig, eine antagonistische Kraft, ein Gegengewicht zu bilden. Sie blieben Unterworfene, verstreut; oder wurden reaktionär. Subalternität ist umso intensiver, wenn sprachliche Barrieren die Solidarisierung zusätzlich verhindern, wie im kolonialen Kontext. Wer sind die Subalternen der subaltern studies? Spivak spricht exemplarisch von Indien. Gegenüber der vierfachen Elite (dominante ausländische Gruppen; einheimische Eliten auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene) bildeten im kolonialisierten Indien alle, die nicht zu diesen Gruppen gehören, das ›Volk‹. Dieses war dabei rein negativ definiert, von dem her, 113

was es nicht war; es ist kein Volk an sich, sondern eine »subalterne Klasse«, ohne Klassenbewusstsein, kollektive Identität. Es ist bestimmt durch »Unbestimmtheit«. Gegenüber den Kolonialeliten sind zwar alle unterworfen. Aber soziale Spaltungen verhindern die Identitätsbildung. Kurz, die Subalternen sind heterogen. Dasselbe »Element, das in einer Gegend dominant« scheint, gehört »in einer anderen zu den Dominierten«, so dass die Allianzen immer »zweideutig und widersprüchlich« sind (ebd. 49). Statt ›eines‹ Volkes bilden die Subalternen eine »flottierende Pufferzone« gegenüber den Eliten (ebd. 51). Hinzu kommt die Unmöglichkeit einer eigenen Geschichtsschreibung. Die Subalternen können ›nicht sprechen‹. Das gilt namentlich für die Hindu-Witwe, die sich auf dem Scheiterhaufen des toten Ehemannes opfert. Von der patriarchalischen (männlichen) Tradition zum Suizid bestimmt, wird sie von den Kolonialherren davor bewahrt: ›Weiße Männer retten braune Frauen vor braunen Männern‹. Das nativistische Argument dagegen lautet: ›Die Frauen wollten tatsächlich sterben‹. »Die beiden Sätze reichen aus, um einander zu legitimieren« und das »Stimmbewusstsein der Frau« unmöglich zu machen (ebd. 80). Sie hat keine Möglichkeit, zu sprechen: Entweder spricht sie mit der Stimme der Kolonialherren oder der Tradition. Diese doppelte »Konstruktion des Geschlechts« der Frauen belässt »das Männliche in seiner Dominanz. Wenn die Subalternen im Kontext kolonialer Produktion keine Geschichte haben und nicht sprechen können, dann ist die Subalterne als Frau sogar noch tiefer in den Schatten gedrängt« (ebd. 56).

Die »Möglichkeit von Kollektivität selbst« wird durch diese doppelte und permanente »Manipulation weiblicher Handlungsfähigkeit abgesperrt« (ebd. 47). Insofern die subalterne Gruppe keine Identität hat, insofern das Subjekt nicht-repräsentierbar ist, braucht es die strategische Annahme einer kollektiven Identität. Wie anfangs zitiert: »Since one cannot not be an essentialist, why not look at the ways in which one is essentialist, carve out a representative essentialist position, and then

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do politics according to the old rules whilst remembering the dangers in this?« (Spivak 2009: 45)

Neben Spivak wären hier viele andere emanzipatorische Positionen anzusprechen, die der sogenannten Identitätspolitiken. Zugleich ist dem Feminismus auch die Kritik an jeder Identität eigen. Auch die Identitätszuschreibung als Frau ist wiederum eine Vereinheitlichung (Irigaray 1979, Butler 1991). Auch in diesen Fragen entkommt man dem Thema nicht.

4 Luhmann: Selbstbeschreibung statt Identität

Auch bei Luhmann liegt ein Konzept vor, das kollektive Identität implizit und auf eigene Art anspricht – jenseits von Affekten und Artefakten, Aggressionen und Gewalt, Identifikation und Solidarität. Es geht um gesellschaftliche Selbstbeschreibung. Ausgangspunkt ist: Gesellschaft kann sich selbst mit ihren Operationen nicht erreichen. Sie kann sich nicht objektivieren. »Gesellschaft hat keine Adresse«. Und genau dies nötige zu »imaginären Konstruktionen der Einheit des Systems« (Luhmann 1997: 865f.). In dieser Funktion steht die Soziologie insgesamt. Auch sie ist keine externe Beobachtung, sie ist eine Kommunikation in der Gesellschaft selbst, ein weiterer Kommunikationsakt neben den vorhandenen. Speziell für funktional differenzierte Gesellschaften gilt dabei, dass jede Selbstbeschreibung, die auf vorherige Strukturformen passte (Nation, Volk, Ethnie usw.) ›alteuropäisch‹ ist: der neuen Differenzierungsform unangemessen. Funktional differenzierte Gesellschaften müssen »ohne Repräsentation der Gesellschaft in der Gesellschaft« auskommen. Dafür fehlen indes (jedenfalls bis zu Luhmanns Systemtheorie) geeignete, überzeugende Semantiken (ebd. 963), weshalb weiterhin Semantiken kollektiver Identität benutzt werden, solche, die funktionale Differenzierung verdecken. Die bisherigen Semantiken kollektiver Identität (Volk, Ethnie, Klasse, Nation) sind »Auffangsemantiken«. »Gerade die neuen Differenzierungen und das Verschwinden alter sozialer Einteilungen stärken den Bedarf an nationalen Zugehörigkeiten. Im Begriff der Nation ebenso wie im Begriff des Menschen als Individuum

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und Subjekt schafft die Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems sich einen hochplausiblen Ausweg, der es erlaubt, Identitätsressourcen zu aktivieren, die die Funktionssysteme […] nicht bieten können.« (Ebd. 1051)

Kollektive Identitätsvorstellungen resultieren aus den früheren Differenzierungsformen – nationale und ethnische Identität aus der segmentären, Klasse aus der stratifikatorischen Differenzierung. Auch gibt es Semantiken, die gar nicht auf soziale Differenzierung zu rekurrieren. So übernimmt im 18. Jahrhundert die »merkwürdige Figur« des Subjekts die Funktion der Selbstbeschreibung, und zwar »gerade weil sie sich dazu nicht im geringsten eignet«. Gesellschaft ist »vom Subjekt aus nicht zu begreifen« (ebd. 1029). Im Blick zurück auf die Anfänge der europäischen Schriftgesellschaften beobachtet Luhmann nach der antiken (Griechen vs. Barbaren) und mittelalterlichen (Christen vs. Heiden) Selbstbeschreibung via Abgrenzung zudem den Effekt des Buchdrucks. Das Kollektiv reicht nun über Anwesende hinaus. Daher werden »elaborierte Selbstbeschreibungen« nötig (ebd. 883). Was schließlich die Gegenwart betrifft, so sei zu erkennen, dass funktional differenzierte Gesellschaften keine Einheitsbehauptungen erzeugen können. Zu dekonstruieren sind alle genannten Semantiken. Wir befinden uns zwar angesichts »riesige[r], durch ökonomische Ungleichgewichte erzeugte[r] Wanderungsbewegungen« noch in der »Auslaufphase« insbesondere der Idee nationaler Identität. Aber diese verursacht (ebenso wie die Idee der Klasse) »mehr Schaden als Nutzen«, nämlich eine Blockade soziologischer Theoriebildung. Begriffe kollektiver Identität sind obstacles épistémologiques. Sie blockieren die Einsicht, dass es nur noch möglich ist, die Gesellschaft »paradox oder tautologisch zu identifizieren« (ebd. 1055). Unabhängig von der semantikanalytischen Frage haben Luhmannianer vorgeschlagen, die Systemtheorie durch das Sozialsystem ›Gruppe‹ zu ergänzen. Neben Interaktion, Organisation und Gesellschaft wird ein vierter Typ sozialer Systeme gesetzt. Im Unterschied zu allen anderen Systemen konstituieren sich Gruppen durch die Identifikation eines ›Wir‹. Das schließt an vieles an, was bisher in anderen Theorievokabularen über kollektive Identität gesagt wurde: So haben Gruppen konstitutiv eine »konstruierte Außengrenze«; zentral ist ebenso das »Wiedereinführen der 116

Unterscheidung in die Kommunikation […], was zur Herausbildung einer von der Umwelt unterschiedenen Kommunikationsstruktur führt«: zur Kommunikation einer »generalisierten Gruppenidentität«, die vor allem im »Kondensat von Erfahrungen aus der Vergangenheit des Systems« besteht. »Ist einmal ein solcher thematischer Kern der Gruppe etabliert, so gewinnt das Sozialsystem Gruppe sein Eigenleben« (Fuhse 2001: 5f.). Das Ziel besteht darin, die Gruppe vor dem »Auseinanderfallen zu bewahren«. Sie muss dazu »von Zeit zu Zeit ihre Außengrenze nachzeichnen«, bildet eigene symbolische Medien aus usw. (ebd. 10). Dabei wird eine terminologische Unterscheidung zwischen Gruppen- und kollektiver Identität eingeführt, letztere als kulturelles Schema verstehend, das die einzelnen Gruppen reproduzieren (ebd. 23). Was wäre die Leistung? »Komplexitätsreduktion im Bereich der Lebensstile und persönlicher Bindungen« (ebd.).

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IV Klassifikationen kollektiver Identitäten Es gibt verschiedene Klassifikationen kollektiver Identitäten, verschiedene Weisen, ihren Plural zu denken. Man kann Inhalte unterscheiden, also das, worauf sich die Identität bezieht, welches das imaginäre Fundament ist (Gott, Menschenrechte, Volk usw.). Sodann lassen sich Modi der Grenzziehung und damit der Identitätsbehauptung sowie Behandlung der Anderen differenzieren. Es lassen sich Kollektive daraufhin unterscheiden, ob und welche Nichtmenschen in die Identitätsvorstellung einbezogen sind. Schließlich kann man kollektive Identitäten danach klassifizieren, ob sie von den Einzelnen gewollt, oder ihnen aufgezwungen sind. Diesen Aspekt kollektiver Identität – den der Zuschreibung von außen und der Diskriminierung – hat Carolin Emcke (2000) systematisch betont. Dabei unterscheidet sie die ›gewollten‹ Identitäten danach, ob sie vom Individuum aus konzipiert sind (bei John Rawls) oder als Gruppenidentität gedacht (Kymlicka, Taylor). Und die ›aufgezwungenen‹ Identitäten werden unterschieden in passive sowie serielle Identitäts-Modelle, in denen Einzelne einem Kollektiv (›Juden‹) zugeordnet werden; und solche, in denen es sich um eine erzwungene und ausgegrenzte Identität Einzelner als solcher handelt. Vor Augen steht dabei Michel Foucaults Analyse von Institutionen, in denen Einzelne als abweichend markiert werden, ex negativo das Kollektiv der ›Normalen‹ definierend. Indes: handelt es sich hierbei, und insgesamt bei den aufgezwungenen oder zugeschriebenen Identitäten um ein Konzept kollektiver Identität? Nicht nur kommen hier Vorstellungen einer Einheit lediglich als negative Identifikation, als Stigma vor. Auch ist die Normalisierungsmacht, die Foucault (1976, 2003) beschreibt, ja gerade eine individualisierende und nicht kollektivierende Macht (auch nicht auf Seiten der ›Normalen‹). Wir stellen demgegenüber zwei Klassifikationen näher vor: die differenter ›Codes‹, mit denen sich Menschen verungleichen und dadurch identifizieren; und die differenter Codes, mit denen Menschen und Nichtmenschen differenziert oder identifiziert werden. Auch dies erfolgt vonseiten der Menschen, aber der Blick ist dann ein anderer – ebenso wie der, welcher kontrastiv auf die eigene Form der kollektiven Identitätsbehauptung fällt.

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Eisenstadt/Giesen: Drei »Codes« kollektiver Identität Durkheim und Weber verbindend und mit letzterem eine ausdrücklich ›konstruktivistische‹ Perspektive teilend, haben Giesen und Eisenstadt ein Tableau differenter ›Codes‹ der kollektiven Identität erstellt. Dabei geht es darum, alle Aspekte kollektiver Identität und alle Modi zu erfassen. Zwischen dem »Repertoire kultureller Symbole und den praktischen Lagen der Individuen, in denen sie Resonanz erzeugen können, der Ordnung der Rituale und der Kontingenz der Herrschaftsinteressen, den Symbolen des Heiligen und Profanen, den Berechnungen des Nutzens, den heimlichen Hoffnungen auf Statusgewinn und der spontanen Sympathie mit dem anderen, den Authentizitätsbehauptungen und dem Täuschungsverdacht geschieht die Verständigung über kollektive Identität. Alle diese scheinbar gegensätzlichen Bezugspunkte entfalten [...] den Raum, in dem kollektive Identität konstruiert wird.« (Giesen 1999: 21)

Dem folgen einerseits gegenwartsanalytische Überlegungen, auf die wir hingewiesen haben: So besteht ›unsere‹ bundesrepublikanische Identität gerade darin, kein Zentrum zu haben, sich um die Bestimmung (Leitkultur!) zu streiten, weder zu einer einhelligen Lösung der Frage der Identität zu kommen, noch sie unterlassen zu können (Seyfert/Giesen 2016, Giesen u.a. 2016). Das Projekt der Erstellung von Codes kollektiver Identität hat zugleich einen größeren und weiter zurückreichenden Kontext – den der vergleichenden Erforschung weltweiter Gesellschaften unter dem Titel multiple modernities. In diesem Großprojekt Eisenstadts geht es um die vielfältigen Formen, unter denen ›Moderne‹ sich vollzieht – gegenüber dem finalistischen Narrativ der Modernisierungstheorie: Die Kombination kultureller Formationen mit dem Nationalstaat erzeugt je eigene Modi der Grenzziehung und Behandlung anderer, viele Modernen. Diese Vielfalt stammt letztlich aus den differenten Imaginationen kollektiver Identität. So ist die Nation nur »ein Typ der kollektiven Identität« (Eisenstadt 2003: 26, dt. HD), auch sind die Nationen verschieden fundiert. Im Vergleich zu europäischen und asiatischen Nationalstaaten sieht Eisenstadt (ebd. 116ff.) etwa die USA und Kanada relativ gering primordial fundiert: In der Konfrontation der Einwanderer mit 119

der indigenen Bevölkerung haben sich die Einwanderer eine universalistisch fundierte kollektive Identität fabuliert. Ausgangspunkt dieser Aussagen ist folgendes: Kollektive Identitäten unterscheiden sich darin, wie Grenzen gezogen und auf welche Gemeinsamkeit das Kollektiv entsprechend begründet wird; und unterschieden werden genau drei Modi der Grenzziehung, drei ›Codes‹ kollektiver Identität: primordiality, civility, sacredness (Eisenstadt/Giesen 1995: 76), bzw. primordiale, traditionale, universalistische Identität (Giesen 1999). In diesen drei Codes unterscheiden sich die Formen, in denen die gemeinsame Vergangenheit gedacht wird, und deren Bedeutung; die Zeichen der Einheit der Mitglieder sind andere und haben einen anderen Stellenwert; die historischen Ereignisse werden anders konnotiert und tradiert; der ›subjektive Gemeinsamkeitsglauben‹ lagert sich an differente Momente an. Je sind die Grenzziehungen unterschiedlich rigide, werden Andere unterschiedlich behandelt (abgewehrt oder vereinnahmt). Das Ziel der Typologie ist es, eine strukturale »Landkarte von Codes kollektiver Identität« zu zeichnen. Dabei sollen aber auch der »historische Prozeß« und die »Einbettung in eine soziale Situation« nicht vergessen werden (ebd. 27). Primordial konstruierte Identitäten beziehen sich auf das gemeinsame Geschlecht, die Generation, auf Verwandtschaft oder Herkunft, auf Ethnizität oder Rasse. Sie beanspruchen eine natürlich vorfindbare Gemeinsamkeit. Das macht spezielle Rituale erforderlich, um neue Mitglieder aufzunehmen, wie die der Initiation, die dazu dienen, die Spuren der Außenwelt zu tilgen. Solche Reinigungsrituale müssen aber auch permanent vollzogen werden: Die Reinwaschung der Sünden dient dem ebenso wie die Befolgung von Tabus – sie dient der Erzeugung der Homogenität. In sich erscheinen solche Kollektive als gleich; sie machen sich gleich. Das Außen wird dabei oft dämonisiert. Viele indigene Gesellschaften lassen sich Lévi-Strauss zufolge aus diesem Mechanismus der Erzeugung kollektiver Identität verstehen: »Die Menschheit endet an den Grenzen des Stammes, der Sprachgruppe, manchmal sogar des Dorfes, so daß eine große Zahl sogenannter primitiver Völker sich selbst einen Namen gibt, der Menschen bedeutet […], was gleichzeitig einschließt, daß die andern Stämme, Gruppen oder Dörfer

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keinen Anteil […] an der Natur des Menschen haben, sondern […] aus […] Erdaffen oder Läuseeiern bestehen.« (Levi-Strauss 1975: 369f.)

Ebenso ist der moderne Antisemitismus ein Beispiel, der primär durch Affekte der Abgrenzung funktioniert: durch »Verlagerung von interner Reinheitsorientierung auf externe Dämonisierung«. Von diesen reinen Typen abgesehen, gibt es auch in der humanistischen Identifizierung mit allen Menschen (dem universalistischen Code) primordiale Grenzziehungen, so, wenn sich die Menschheit durch Anderes bedroht sieht, durch »Epidemien, Drogen [...] und extraterrestrische Invasionen« (Giesen 1999: 37). Traditional erzeugte kollektive Identitäten setzen Vertrautheit mit Sitten, Verhaltensregeln, Traditionen und Routinen voraus. Diese Vertrautheit lässt sich erwerben; sie schließt nicht radikal aus. Kern der kollektiven Identitätsbildung ist hier die zeitliche Dimension – die Gegenwart bezieht sich auf eine Geschichte, die Identität garantiert. Daher sind Erinnerungsrituale und Gründungsmythen zentral, die sich weniger auf Körper, als auf Artefakte beziehen. Ebenso wichtig sind Erinnerungsorte. »Die Traditionen der großen politischen Revolutionen, die regelmäßig rituell erinnert werden, zählen hierzu ebenso wie die Versuche sozialer Bewegungen, ihr Anliegen durch Rekonstruktion einer langen Geschichte mit überzeitlichem Gewicht zu versehen.« (Ebd. 46)

Was die Behandlung der Anderen betrifft, so gibt es hier fließende Übergänge und anstelle von Dämonisierung steht Indifferenz: »Die Fremden sollen die Fremden bleiben« (ebd. 48). Neben Erinnerung und Lokalisierung ist »Personalisierung« ein Modus der Identitätsstiftung: die Identifizierung mit dem Herrscherhaus (ebd. 50). Universalistische Codes machen weder ›natürliche‹ Merkmale des Körpers noch eine gemeinsame Vergangenheit zur Grundlage, sondern die »Unbedingtheit des religiösen Überzeugungserlebnisses, die Gottesschau, die Parusie« (ebd. 55). Solche Kollektive müssen immer erneut eine »Spannung« zwischen dem Heiligen und Profanen erzeugen, denn die Grenze wird immer erneut verschoben, da das Außen etwas ist, das ins Eigene verwandelt werden muss (ebd.). Die Anderen sind also potentielle 121

Mitglieder. Alle haben »die Anlage«, alle sollen dazugehören. Es handelt sich also um Konstruktionen kollektiver Identität, die den Anderen weder indifferent lassen noch dämonisieren, sondern missionieren. Neben den Religionen sind Aufklärung und Sozialismus solche »Kreuzzüge« im Namen einer universalistischen, als wertvoll verstandenen Idee (ebd. 55). Auch hier gibt es Rituale der Identitätsbildung: Taufe, Weihe, Bekenntnis, Opfer. An Stelle der Tradition steht die Erfindung von Neuem. Sind »alle bekehrt und erzogen, so ergeben sich Risiken für die konstitutive Spannung zwischen Diesseits und Jenseits«, die durch immer neue Lesarten des Heiligen »überwunden werden können« (ebd. 60) — Untersucht werden mit dieser Typologie vor allem historische Fälle: die romantischen Konstruktionen der kollektiven Identität des Volkes; die japanische Identitätskonstruktion; die italienische im 19. Jahrhundert (vgl. neben Eisenstadt die Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit: Giesen 1991, 1993, 1999, Berding 1994, 1996). Diese historische Soziologie kollektiver Identität stellt die Frage, wie wir zu dem geworden sind, was wir sind, und zugleich diejenige, worin wir uns etwa von der romantischen oder der absolutistischen Konstruktion kollektiver Einheit unterscheiden. Neben dem diachronen Blick ist ebenso der synchron vergleichende Blick auf die Vielfalt von Gesellschaft und kollektiver Identität instruktiv und auch soziologisch notwendig. Die Notwendigkeit besteht zweifach. Zum einen gilt es im Sinne einer allgemeinen soziologischen Theorie, allen Formen von Gesellschaft gerecht zu werden (gegenüber den ethnozentrischen, evolutionistischen Vorstellungen gegenüber anderen Gesellschaften, die dann als vormodern, als Vorläufer von uns gelten). Zum anderen gilt es im Dienst einer Analyse der eigenen Gesellschaft, einen kontrastiven Blick auf ›uns‹ einzunehmen – um ›uns‹ besser zu verstehen. Beide Ziele verfolgt die strukturale Anthropologie, auch wenn sie auf den ersten Blick die eigenen, westeuropäischen Gesellschaften (Frankreich im 20. Jh.) gerade nicht, oder nur en passant erwähnt. In animistischen oder totemistischen Gesellschaften bezieht sich kollektive Identität, so lautet eine Erkenntnis solcher Vergleiche, wesentlich auch auf Nicht-Menschen. Auch sie sind Mitglieder von Kollektiven, entweder des eigenen, oder der Anderen. Im Gegensatz zu dem, was bei den westeuropäischen 122

Kollektiven ungefähr seit der Neuzeit vor sich geht, die als Teilhaber und Träger des Kollektivs nur Menschen verstehen, imaginieren solche Kollektive ihre Identität über das Tier oder die Pflanze.

Lévi-Strauss und Descola: Identifikationen von Menschen und Nichtmenschen Insbesondere Claude Lévi-Strauss geht es darum, andere Modi kollektiver Existenz als ebenso rationale und komplexe Gesellschaftsformen sichtbar zu machen. Seine strukturale Anthropologie setzt alles daran, evolutionistische und damit eurozentrische Perspektiven und Begriffe zu vermeiden. Ein erstes Konzept kollektiver Identität kann man in der angesprochenen Beobachtung sehen, dass auch andere Gesellschaften zum Ethnozentrismus tendieren: dazu neigen, die Grenzen des Kollektivs möglichst scharf zu ziehen. Viele indigene Völker geben sich selbst den Namen ›Menschen‹, voraussetzend, dass ihre Nachbarn keine sind (Lévi-Strauss 1975: 369). Insgesamt beschreibt Lévi-Strauss konträre Mechanismen, die in allen Kulturen dazu dienen, eine kollektive Identität über die Familie hinaus zu bilden: Gesellschaft zu erzeugen und zu stabilisieren. Dabei gibt es verschiedene Identifikationsmodi und verschiedene Reichweiten (auch über den Menschen hinaus). Wenn es also stimmt, dass für einige »Gesellschaften die Grenzen der Menschheit die Grenzen der Stammesgruppe sind«, so ist ebenso wahr, dass etwa totemistische Klassifikationen dazu dienen, sich einem »Begriff einer Menschheit ohne Grenzen anzunähern« (Levi-Strauss 1973: 194). Insgesamt ist aus Sicht aller Kulturen der »einzige Makel, der eine Menschengruppe treffen« kann, derjenige, »isoliert zu sein« (ebd. 400). Daher haben alle das Inzestverbot und gibt es in allen Frauen-Tauschsysteme. Im Blick auf die eigene Form kollektiver Identität oder von Gesellschaft, und genauer, im Blick auf das Spektrum der menschlichen Möglichkeiten sind für Lévi-Strauss also vor allem totemistische Gesellschaften (Australiens und Nordamerikas) interessant. Sie instituieren eine ›uns‹ entgegengesetzte Form kollektiver Identität. Wesentlich sind zwei Mechanismen: Der eine erzeugt eine Identität in der Zeit; der andere eine Einheit der Mitglieder. Beide sind mit dem Totemismus verknüpft. Die Einheit der Einzelnen vollzieht sich in der Identifikation mit dem Totemtier 123

(einer -pflanze oder einer anderen Entität). Das Kollektiv besteht aus menschlichen und nichtmenschlichen Individuen, die einander identisch sind. Zugleich werden die Mitglieder anderer Clans ausgeschlossen – sie sind Raben, nicht Bären. Die Klassifikation der Einzelnen in je an ein Namen-gebendes Totem gebundene Clans nennt Lévi-Strauss den »totemistischen Operator« (ebd. 160f.). Die Einzelnen werden dabei gleichzeitig mehreren, einander subsumierenden Kollektiven zugeordnet – sie sind Mitglied des Stammes, des Clans und des Geschlechts. Die Identifikation mit Totems ist ein Mechanismus der Differenzierung in getrennte Kollektive, und einer der Erzeugung multipler kollektiver Identitäten. Totemistische Klassifikationen nehmen zudem nicht ohne Grund die natürlichen Gattungen (Pflanzen und Tiere) zur Grundlage: Ihnen ist keine Geschichte anzusehen, ein jedes Individuum erscheint als Vertreter einer zeitlosen Gattung. Die so erzeugte Vorstellung einer unveränderlichen kollektiven Identität ist zudem an die mythische Vorstellung einer Traumzeit geknüpft, in der Menschen und Tiere gemeinsam erschienen sind. In beiden Institutionen handelt es sich um »kalte« Gesellschaften (ebd. 270ff.): Sie imaginieren sich eine unveränderliche Identität der Einzelnen, der Clans, des Stammes. »Zwischen der Geschichte und den Klassifikationssystemen gibt es also so etwas wie eine tief eingewurzelte Antipathie.« (Ebd. 268) An diesem Interesse für den Totemismus teilhabend, nimmt Philippe Descola eine weitere Typisierung kollektiver Identität vor. Die Frage ist, welche Akteure als je einem Kollektiv zugehörig gelten, über menschliche Mitglieder hinaus. Jenseits der anthropozentrischen Trennung des Sozialen von der Natur, in der die Soziologie stets nur Menschen als Kollektiv-bildend und handelnd versteht, macht die ›Neue soziale Ontologie‹ darauf aufmerksam, dass in vielen Gesellschaften entweder Nichtmenschen Mitglied des Kollektivs sind oder aber eigene Kollektive mit eigenen Identitäten bilden. Bereits Durkheim hatte im Blick auf den Totemismus von einer »Konsubstantialität des Menschen« mit dem Totem gesprochen (Durkheim 1994: 130): In diesen Gesellschaften ist die »Tierform die Grundform« (ebd. 102), in der alle Mitglieder des Clans gedacht werden. Die kollektive Identität als Einheit der Einzelnen bemisst sich dabei an Aussehen und Verhalten des Totems. Rituell werden die menschlichen Mitglieder Exemplare der 124

totemistischen Art: im Anlegen der Felle, Federn und Tierhäute, in der Nachahmung der Bewegung und Artikulation des Tieres erzeugt sich das Kollektiv seine Identität, werden menschliche und nichtmenschliche Einzelne substantiell identisch (vgl. zur totemistischen Kollektividentität mit Durkheim auch Seyfert 2011: 179-197). Descola beschreibt und typisiert nun weitere nicht-anthropozentrische Modi kollektiver Identität, und zwar unter dem Titel differenter Identifikationsmodi von Menschen und Nichtmenschen. Der Blick richtet sich dabei auf jene Kulturen, »denen es nie in den Sinn gekommen ist, daß die Grenzen des Menschseins an den Toren der menschlichen Gattung haltmachen« (Descola 2011: 17). Diese Gesellschaften praktizieren »ihre Einfügung in die Umwelt auf eine ganz andere Weise als wir. Sie denken sich nicht als soziale Kollektive, die ihre Beziehungen zu einem Ökosystem verwalten, sondern als einfache Bestandteile eines größeren Ganzen, in dem keine wirkliche Unterscheidung zwischen Menschen und Nichtmenschen besteht.« (Ebd. 40)

Unterschieden werden idealtypisch vier Arten, Nichtmenschen und Menschen in Kollektiven zu versammeln, je nach den dominanten Annahmen über die Gemeinsamkeiten oder Differenzen zwischen Nichtmenschen und Menschen. In der Annahme, dass die menschlichen Mitglieder des Kollektivs dieselben Physikalitäten und Interioritäten mit einigen Nichtmenschen teilen, konstituieren sich totemistische Kollektive. In der Annahme, dass Menschen und Tiere je einige Elemente von Interiorität und Physikalität teilen, konstituieren sich analogische Kollektive. In der Annahme, dass Menschen und Tiere je eine eigene Kultur, eine Interiorität teilen und sich nur die Körper unterscheiden, bilden sich animistische Kollektive. In der Annahme, dass sich die Interioritäten der Menschen voneinander trennen (in Kulturen), während sie mit den Tieren den Körper teilen, konstituieren sich naturalistische Kollektive. Die vier »Identifikationsprinzipien definieren also vier große Ontologietypen«, denen je andere »Modelle des sozialen Bandes und Theorien der Identität und der Andersheit« entsprechen (ebd. 189, Herv. HD). Gehen wir die vier Modi kollektiver Identität durch: In animistischen Kollektiven gibt es distinkte Kollektive der Menschen und 125

Nichtmenschen. In Sibirien etwa werden die Tierarten als je eigene Stämme verstanden; für die kanadischen Cree leben die Tiere in sozialen Gruppen, die denen der Indianer gleichen (ebd. 206f.). Und für die Achuar sind die »Wollaffen, die Tukane, die Brüllaffen […] Personen wie wir«. »Sie leben unter sich mit ihrer eigenen Verwandtschaft; sie tun die Dinge nicht auf gut Glück; sie sprechen miteinander; sie lauschen dem, was wir sagen; sie heiraten einander, wie es sich gehört.« (Ebd. 22f.)

Totemistische Kollektive teilen sich, wie wir gesehen haben, in je differente Kollektive aus menschlichen und nichtmenschlichen Mitgliedern. Dabei gibt es verschiedene Vorstellungen der Identität: Während beim matrilinearen Clan die Beziehung der menschlichen Clanmitglieder zum Totem ›substantiell‹ vorgestellt ist (die Mitglieder des Clans haben die Eigenschaften auf wundersame Weise im Mutterbauch empfangen), stellt sich der patrilineare Clan eine aufgrund einer gemeinsamen Entstehung erworbene »Solidarität« zwischen Menschen und Totemwesen vor (ebd. 232). Kurz, die kollektive Identität ist hier sowohl eine der Herkunft, als auch der (organischen) Substanz. »[W]eil die Menschen, die Totems und alle anderen Existierenden von den Wesen der Traumzeit in die soziale und natürliche Ordnung gestellt wurden, besteht zwischen ihnen allen eine […] Beziehung der gemeinsamen Herkunft und Substanz, reguliert von einem System der Kategorisierung, […] dem zufolge die Wesen der Traumzeit bereits untereinander differenziert waren.« (Ebd. 246)

Dabei sind die Dinge verwickelt, denn ein »Exemplar meiner totemistischen Art« ist streng genommen nicht selbst ein Individuum, sondern Ausdruck der »Eigenschaften, die ich mit ihm teile« und deren »Emanation« wir beide sind (ebd. 248). Von all dem unterscheiden sich naturalistische Kollektive moderner westlicher Gesellschaften. Sie haben ein »anthropistisches« Konzept kollektiver Identität (Seyfert 2011: 180). Sie verstehen sich (abgesehen allerdings vom ›primordialen Code‹ kollektiver Identität, wie man hier ergänzen muss) als solche, die sich ausschließlich kulturell unterscheiden. Kollektive Identität gilt hier (mit der wichtigen 126

Ausnahme des Rassismus also) als kulturell erzeugt. Nicht wegen physischer Merkmale, sondern aufgrund der Traditionen, Gewohnheiten, Überzeugungen besteht die Identität eines Kollektivs gegenüber anderen. »Was für uns die Menschen von den Nichtmenschen unterscheidet, ist das reflexive Bewußtsein, die Subjektivität, die Fähigkeit des Bezeichnens, die Beherrschung der Symbole und die Sprache […] sowie die Tatsache, daß menschliche Gruppen sich durch die besondere Weise voneinander unterscheiden sollen, wie sie von diesen Fähigkeiten kraft einer Art innerer Disposition Gebrauch machen, die man lange den ›Geist eines Volkes‹ genannt hat und die wir heute lieber ›Kultur‹ nennen.« (Descola 2011: 260f.)

Im analogischen Modus dominiert eine Schichtung von Kasten, Klassen und Gottheiten, wie man sie aus der indischen Kosmologie kennt. Die Kollektive verschwinden in einer doppelten Reihe von Unterschieden: Die Existierenden werden in viele »Wesenheiten, Formen und Substanzen« zerteilt, wobei sie stufenförmig angeordnet sind, um die Kontraste in »einem dichten Netz von Analogien zusammenzufügen« (ebd. 301). Kollektive Identität wäre hier nicht substantiell, sondern in Analogien zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Entitäten gedacht. Darüber hinaus bilden aber natürlich die Kasten strikt begrenzte Kollektive. Und als wäre dies nicht komplex genug, nennt Descola neben den vier Identifikationsmodi sechs differente Beziehungsweisen: Raub, Tausch, Produktion, Gabe, Schutz, Übermittlung (ebd. 453ff.). Erst aus der Kombination von Identifikations- und Beziehungsmodus ergeben sich Kollektive mit je anderen Vorstellungen und Erzeugungen ihrer Identität. So teilen etwa amazonische Indianer den animistischen Identifikationsmodus und grenzen sich gerade daher umso stärker voneinander ab, indem sie den entgegengesetzten Beziehungsmodus privilegieren: Die Tukano-Gruppe instituiert sich durch Frauentausch, während ihre Nachbarn den Frauenraub praktizieren und eine räuberische Beziehung zu allen Existierenden einnehmen (im Fall der Achuar, vgl. ebd. 522ff.).

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V Exemplarische Erforschungen kollektiver Identitäten Es gibt also ein vielfältiges Spektrum von Diskursen um ›kollektive Identität‹ – in und jenseits der Soziologie. Zum Teil sind die Diskurse selbst Teil eines normativen gesellschaftlichen Diskurses, wollen an der ›richtigen‹ Identitätsbildung aktiv mitwirken – namentlich, wenn sie jede Vorstellung kollektiver Identität aufzulösen trachten. Dem gegenüber liegen analytische Zugriffe, die versuchen, die Funktionen jener sozialen Institution und Vorstellung zu ergründen, die in allen Zeiten und Erdteilen zu beobachten ist. Dazwischen gibt es die sozialphilosophischen Positionen, die bestimmte Arten der Identifizierung mit einem Kollektiv als vernünftig, rational begründbar und moralisch wertvoll verstehen, andere dagegen als irrational, ausgrenzend, inhuman. Nicht zuletzt gibt es differente Möglichkeiten und Traditionen, kollektive Identitätsfüllungen und Identitätsgefühle empirisch zu erfassen. Demonstriert werden sollen im Folgenden einige methodische Möglichkeiten: an ausdrücklich ausgewählten, viel zu wenigen und nur exemplarischen Fällen. Selbstverständlich haben darüber hinaus alle der bisher besprochenen Konzepte einen empirischen Hintergrund. Auch bisher ging es stets schon um ›Empirie‹.

Quantitative Erhebungen und Ergebnisse Zunächst fallen unter dem Titel der Erforschung kollektiver Identität quantitative Vorgehensweisen auf. Identifizierungen mit einem Kollektiv werden dabei nach Häufigkeiten gemessen und mit anderen Variablen korreliert: Was hat das Gefühl der Zugehörigkeit zur Nation (und nicht Europa) mit der sozialen Statusposition zu tun? Welche Rolle spielen Bildung, konfessionelle Zugehörigkeit, Alter und Geschlecht, regionale Herkunft und politische Einordnung? Je nach Perspektive und Situation handelt es sich dabei um politisch besorgte oder optimistische Projekte. Insbesondere die EU gibt solche Forschungen bereits seit den frühen 1970er Jahren in Auftrag. Ziel ist, die Bekanntheit ihrer Symbole, die Affekte gegenüber der EU und mögliche Defizite ihrer symbolischen Darstellung zu messen. Dafür gibt es zwei Instrumente: den Eurobarometer, eine Art Fieberthermometer der Europäischen Union; und das International Social Survey Program128

me (ISSP), meist im Rahmen der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage (Allbus) erhoben. Hier wurden 1995, 2003 und 2013 Fragen nationaler Identität gestellt. In den Kontext kollektiver Identitätsforschung gehören auch die Erhebungen ›Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit‹ (Heitmeyer u.a. 2002-2011). Hier geht es im Gegensatz zu den EU-Forschungen um die negativen Aspekte kollektiver Identitätsbildung – um die Frage, wie verbreitet Abwertung, Stigmatisierungen und Ausgrenzungen wegen der Zugehörigkeit zu einer Religion, einem Geschlecht, einer Herkunft sind. Es folgen zunächst einige ausgewählte Ergebnisse des »Standard Eurobarometer«, jenem Instrument also, das im Auftrag der EU seit 1974 kontinuierlich nach den Identifikationen mit Staat, Region, Kommune und vor allem Europa/der Europäischen Union fragt. Gestellt werden ca. 9.000 Befragten Fragen wie diese: »Inwieweit fühlen Sie sich verbunden mit …?« Die Idee dahinter ist folgende: »Just as a barometer can be used to measure the atmospheric pressure and thus to give a short-range weather forecast, this Euro-barometer can be used to observe, and to some extent forecast, public attitudes towards the most important current events connected directly or indirectly with the development of the European Community and the unification of Europe.« (EB 1: 2)

Während seit 1974 permanent die drängenden ›Probleme‹ und die Kenntnis der europäischen Institutionen erhoben werden, werden dabei erst seit 1991 Fragen der Zugehörigkeit, des Wir-Bewusstseins gestellt. Hier einige Ergebnisse: 1991 erklärten sich 47% der EU-Bürger als solche; 2016 (EB85) waren es 67% der EU-Bürger, die sich zumindest ›auch‹ als eine europäische Identität teilend verstanden. In der BRD war 2016 der Anteil mit 77% überdurchschnittlich hoch (mit deutlichem Übergewicht der ›Westdeutschen‹). In Frankreich sehen sich 61% (auch) als EU-Bürger, während sich 37% nur der Nation zugehörig ›fühlen‹. Im Vergleich zu 2015 misst das Eurobarometer eine leichte Abnahme nationaler Identitätsgefühle (1 bis 2% der Bevölkerung). Ein Rückgang nationaler Identifizierungen wird auch in jenen Gesellschaften gemessen, in denen man eher nationale Identifikationen erwartet hätte: Der Anteil derer, »die sich ausschließlich national definieren, 129

[ist] sowohl in Ungarn (30%, -7 Pp [gegenüber der Erhebung von 2015]), Polen (34%, -3 Pp) und dem Vereinigten Königreich (48%, -14 Pp) signifikant gesunken« (EB 85: 6). Welche Inhalte werden dabei mit der europäischen Identität verbunden? Die Deutschen nennen den »Rechtsstaat (30%, +3 Pp), die Kultur (29%, +/-0 Pp), allgemein geteilte Werte (26%, +2 Pp)« (ebd.). Für die befragten Europäer sind es: »europäische Kultur (26%, -2 Pp), die gemeinsame Geschichte (23%, -1 Pp) und Werte (22%, +1 Pp)« (ebd.). Interessant, weil schwierig einzuordnen angesichts all der Debatten und sozialen Bewegungen, die sich um die Flüchtlingsfrage kristallisieren, ist ebenso folgendes Ergebnis: 2016 fanden 87% der Deutschen und damit 5% mehr als im Vorjahr, »dass Deutschland Flüchtlingen helfen sollte«. Gegenüber nur 68% der Europäer unter 25 Jahren waren 91% der »befragten« (und antwortenden) Deutschen unter 25 Jahre dieser Überzeugung. Und »48% der Deutschen« und damit 7% mehr als 2015 glauben, dass »Einwanderer einen großen Beitrag für Deutschland leisten.« (Ebd., 9) Im Rahmen des ISSP wurden zuletzt 2013 Bürger aus 49 Staaten nach ihrer ›nationalen Identität‹ befragt. Erhoben werden Zustimmungswerte zu folgenden Aussagen: Die Welt wäre besser, wenn die Menschen in anderen Ländern eher so wären wie die Deutschen; oder Ich bin oft weniger stolz auf Deutschland, als ich es gerne wäre. Gefragt wird, worauf man stolz ist (Sport, Essen, Kultur, Wirtschaft, Geschichte, Demokratie); wie man sich zu anderen stellt (Deutschland sollte seine eigenen Interessen verfolgen, selbst wenn dies zu Konflikten mit anderen Ländern führt); die Zustimmung zum ›Multikulturalismus‹ (Manche Leute meinen, dass es für ein Land besser ist, wenn Gruppen anderer Nationalität oder Herkunft ihre eigenen Sitten und Gebräuche beibehalten. Andere finden es besser, wenn solche Gruppen […] in der Gesamtgesellschaft aufgehen) und Immigration (Die deutsche Kultur wird im Allgemeinen von Zuwanderern untergraben vs. Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die legal nach Deutschland gekommen sind, sollten die gleichen Rechte haben).13 Was verraten die Antworten – wie viele Deutschen sind eher Nationalisten, Chauvinisten oder Patrioten, wie verändern sich die Anteile, welche Haltungen korrelieren miteinander, und was verbindet man mit der ›nationalen Identität‹? Matthias Mader kommt in seiner Auswertung der drei Erhebungen des ISSP zu 130

folgenden Befunden: Es gibt eine Reihe von »Gruppen mit unterschiedlichen Konfigurationen der drei Bedeutungselemente« (Nationalismus, Chauvinismus, Patriotismus). Und es lasse sich ein »substanzieller Wandel« des Verhältnisses zur Nation sehen: Exklusiv völkische und chauvinistische Haltungen sind (momentan jedenfalls) verschwunden (Mader 2016: 452f). Weitere Ergebnisse seiner Interpretation sind, dass die inhaltliche Füllung der Identität relativ stabil sei – verteilt über verschiedene Klassen oder Cluster von Identitätsvorstellungen –, in denen je differente Haltungen (die drei erwähnten) miteinander signifikant korrelieren. Vermutet wird darüber hinaus (aufgrund der gewählten Theoriegrundlage: der oben erwähnten social identity theory), dass es bestimmte, exponierte »Gruppenmitglieder« sind, welche die inhaltliche Füllung der Identität prägen. »Ob es jedoch wirklich nationale Meinungsführer waren«, die derart prägend waren und sein können – dies müsse »offen bleiben« (ebd.). Umfrageforschung ist eine Möglichkeit, empirische Aussagen zu kollektiver Identität zu machen. Sie ist zugleich begrenzt. Dafür gibt es mehrere Gründe, die im Gegenstand selbst liegen: Für die zuletzt genannte Frage der (oft literarischen oder intellektuellen) Erfinder bietet es sich eher an, die zahlreichen historischen Arbeiten zur Kenntnis zu nehmen. Kollektive Identität wird in dieser Umfrageforschung zudem absichtlich ›schlank‹ konzipiert: als ›Gefühl der Zugehörigkeit‹. Das social identity paradigm misst vor allem den quantitativen Grad des ›Stolzes‹ auf bestimmte Institutionen. Dabei werden die inhaltlichen Füllungen nicht den Befragten überlassen, sondern Antworten vorgegeben. Es handelt sich zudem stets um Momentaufnahmen, bei denen kaum kontrolliert wird, welches politische Ereignis mit einer Antwort verknüpft ist und welche politische Aktivität der geäußerten Meinung tatsächlich folgt. So gibt es, wie Klaus Eder einwendet (2008: 432), »keinen notwendigen Parallelismus zwischen starken Identifizierungen und starken Identitäten«. Solche Forschungen haben zudem oft einen nationalen Bias, sie konzentrieren sich auf die nationale – oder eben gewünscht postnationale – Identität. Gegenüber dem Spektrum der in diesem Buch genannten kollektiven Identitäten und gegenüber den verschiedenen Aspekten (neben der Einheit der Mitglieder: die imaginierte Identität in der Zeit und die imaginierte Grundlage der Identität) sind sie blind. 131

Qualitative Vorgehensweisen und Studien Kollektive Identität meint anderes als den bloßen Grad der Identifikation – Inhaltliches. Dabei bleibt nach allem vorhergehenden notwendig opak, ›womit‹ man sich identifiziert: Das Objekt (das Kollektiv) wird ja im Prozess der Identifizierung und Artikulation permanent erzeugt, und permanent wird es anders. Aus dieser Perspektive lässt sich etwa die Identität Europas als ›leerer Signifikant‹ verstehen. Die europäische ›Identität‹ kann vieles bedeuten, je hängt dies von den Diskursen um sie ab. »To find another starting point to analyze ongoing processes of identity construction in Europe is to take Europe as an empty signifier. It could mean anything ranging from the identification with a culture to a geographical unity […] or to a unity that coincides with the legal realm of the European Union or to a unity that is defined by membership in the Council of Europe.« (Eder 2008: 435)

Ähnlich wie im Projekt der Historiker um Pierre Nora wird die Identität Europas von Klaus Eder also in der Vielzahl der sich widersprechenden Füllungen und in den ständigen performativen Diskursen gesehen. Eine dem entsprechende Forschungsweise ist die (von Foucault her gedachte) Diskursanalyse. Sie fragt weder nach Gefühlen, noch einem Objekt, mit dem man sich identifiziert. Was sie erhebt, ist vielmehr eine unabschließbare Serie von ›Europas‹, die alle zusammen das ergeben, was man dessen kollektive Identität nennen könnte. Die Unmöglichkeit und Notwendigkeit kollektiver Identität, deren ständige Aktualisierung, die diskursive Existenz bringen es mit sich, dass keine Forschung das Phänomen ganz erfasst – zumal man es mit imaginierten ›Dingen‹ zu tun hat und die Theorien kollektiver Identität auch zu vielfältig und auch zu widersprüchlich sind. Begrenzt sind dabei selbstredend auch qualitative Forschungsmethoden. Weder können sie etwas über die unterschiedliche Verbreitung und Verteilung von Identitätsgefühlen aussagen, noch über statistisch signifikante Zusammenhänge mit anderen sozialen Tatsachen. Dafür lassen sich hier Mechanismen kollektiver Identitätsbildung und -auflösung nachvollziehen, an Fällen rekonstruieren, und lassen sich vergleichend 132

unterschiedliche Identifikationsmodi typisieren. Die meisten der angesprochenen Theorien basieren ja ihrerseits auf der Empirie, auf Fallstudien – zu historischen oder aktuellen Begehren und Konstruktionen kollektiver Identität in Europa oder anderswo, in der Fülle der angesprochenen Aspekte: im Blick auf die mythische Gründung, die Geschichtskonstruktion, die Ausgrenzung Einzelner, der Funktion von Kunst und Literatur für die Bestimmung und Erzeugung von Kollektiven, usw. Auch Anthropologinnen erforschen kollektive Identitäten (transkulturelle, hybride); auch in Gesellschaften des Nahen Ostens etwa wird die kollektive Identitätskonstruktion erforscht. Dasselbe gilt für China-Studien, archäologische Arbeiten usw. Nationale und ethnische Identitätsimaginationen sind namentlich auch das Gebiet der Politikwissenschaft. Dabei handelt es sich methodisch zumeist erneut um Diskursanalysen, in denen eher erfassbar wird, wie kollektive Identität inhaltlich gefüllt wird, was je problematisch scheint und auf welche Ereignisse Diskurse antworten – und wie sie ihrerseits wirken. Im Blick auf eine historische Soziologie, die Frage nach unserem Gewordensein, gibt es zahllose, vor allem wissenssoziologische Studien – Intellektuellensoziologien. Hierfür exemplarisch stehen Giesens Studien zu den Intellektuellen und der Nation (1993, 1999) und die bereits erwähnten Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit (Giesen 1991, Berding 1994, 1996) – neben zahlreichen anderen (z.B. Zifonun 2004, Münkler/Hacke 2009). In diesen Studien geht es unter anderem um den Beitrag des Deutschen Werkbundes zur deutschen Identität; um scheiternde nationale Identitätsimaginationen (Jugoslawien, Tschechoslowakei, UdSSR); um die Romantiker als Konstrukteure der deutschen Identität; um mittelalterliche und frühneuzeitliche Vorläufer nationaler Identität; um den Beitrag des Protestantismus und von Wilhelm von Humboldt; um Identitätskonstruktionen in der deutsch-französischen Feindschaft oder im melting pot-Mythos. Auch Interviewforschungen und Ethnografien sind möglich, etwa aus praxeologischer Perspektive, die kollektive Identitäten als Nebeneffekte ganz anders motivierter Praxen sieht. Andreas Langenohl hat in diesem Sinn die Effekte praktizierter Städtepartnerschaften untersucht (welchen Anteil haben Glühweinmärkte und Festreden an der Imagination europäischer Identität?): Es 133

»ergibt sich das Bild einer kulturellen Ökonomie, in der […] ein Bild europäischer Integration gezeichnet wird, das stark mit Metaphern des Essens und der Kommensalität operiert« (Langenohl 2010: 58). Alltägliche Imaginationen Europas sind demnach mindestens ebenso wichtig wie die expliziten (der EU), und genauer, die Praxen des Kaufens und Verkaufens, Marktprozesse bilden aus dieser Sicht den Kern der kollektiven Identität. Ihre Grenzen liegen entsprechend dort, wo die Zirkulation der Artefakte und Personen endet. Eine wesentliche Möglichkeit, kollektive Identitätsvorstellungen und deren Folgen zu erforschen, liegt im kulturvergleichenden Vorgehen. Im Grunde implizieren dies die meisten Forschungen zu kollektiver Identität. Das gilt ebenso für das Eurobarometer wie etwa für die Studien zu den Multiple Modernities (Eisenstadt 2003, vgl. Eisenstadt/Giesen 1995). Vergleichend angelegt sind per se auch die anthropologischen Arbeiten zur Vielfalt kollektiver Identitätsvorstellungen zwischen Menschen und Nichtmenschen (Durkheim-Lévi-Strauss-Descola). Aus politischen Gründen sind aktuell sicherlich nicht zuletzt die Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens interessant.14 Es gilt, deren – islamisch geprägte – Identitäts- und Einheitsfiktionen zu verstehen, ihre Mechanismen der Ausgrenzung, ihre Herkunftserzählung und ihr fundierendes Außen durchsichtig zu machen: das, woraus sich hegemoniale Kräfte hier berufen, das wirkmächtig ist, ohne seinerseits begründet werden zu können und zu müssen (vgl. zu den Gesellschaften des Nahen Ostens und ihren Identitätsbestimmungen z.B. Robert u.a. 2010). Was etwa den Iran betrifft, so suchen hier seit Proklamation der Islamischen Republik 1979 religiös-fundamentalistische Kräfte die Deutungshoheit über die kollektive Identität. Faktisch handelt es sich um eine multi-ethnische und multi-religiöse Gesellschaft, die differente kollektive Identitäten in sich vereint – auch solche, welche die Hegemonie der Theokraten infrage stellen. Kurz, es stehen sich konkurrierende Imaginationen einer iranischen Identität gegenüber. Die vor der Revolution herrschende Pahlavi-Dynastie hatte sich in ihrer Identitäts-Fabulation dabei auf die historische Kontinuität und auch auf rassische Gemeinsamkeiten mit Achämeniden und Sassaniden berufen – einen traditionalen und primordialen Code kollektiver Identität kombinierend. Dagegen beruht die Islamische Republik Iran auf einer universalis134

tischen Behauptung der Einheit der Gläubigen. Der Shah sowie Israel und »der Westen« bildeten hier das konstitutive Außen – ebenso wie religiös anders bestimmte, auf anderen Glaubenssätzen fundierte Kollektive respektive Nationalstaaten wie Irak und Saudi-Arabien. Durch Ruhollah Khomeini wurde dabei die politische Institution der Macht, die Theokratie verfassungsrechtlich fixiert – ›Gott‹ ist seither, insbesondere seit der Reformierung der Verfassung von 1989, rechtlich-politisch als der alleinige letzte Signifikant formuliert (vgl. zur politischen Theologie der islamisch dominierten Gesellschaften einschließlich Irans z.B. March 2013). Die »Statthalterschaft der Rechtsgelehrten« legitimiert bis heute ihre Herrschaft durch ihn respektive die »Abwesenheit des 12. verborgenen Imams«, bis zu dessen Ankunft sie die Einheit des Iran, seine Identität verbürgt (Art. 53 der Verfassung). Es handelt sich hier um eine religiös fundierte Bestimmung der kollektiven Identität, die in weiten Teilen der Verwaltung, des Militärs, der Wirtschaft, der Justiz, der Medien, in Bildung und Kultur hegemonial ist, während jeder andere Versuch, die kollektive Identität der Iraner zu bestimmen, nicht als politische Konkurrenz definiert wird – sondern als dämonisch, und als fremd. Wer nicht zu den ḫodī (die uns Zugehörigen) gehört, ist ġeyr-ḫodī – einer der Anderen, der »uns nicht Zugehörigen« (Sarkohi/Zamirirad 2011, 69ff.), respektive der »Außenstehenden« (Funke 2017: 85). Derart hegemoniale Fundierungen der kollektiven Einheit und Identität in ›Gott‹ haben Folgen: das Rechtssystem definiert und bestraft religiöse ›Verbrechen‹; ökonomische Transaktionen oder medizinische Operationen sind religiös begrenzt; die Behandlung politischer Gegner – Marxisten, Monarchisten oder ›Gottlose‹ – folgt deren Dämonisierung. Interessant ist ebenso der Libanon: Ihn ›eint‹ eine lange und andauernde Geschichte gewaltsamer Konflikte zwischen unterschiedlichen Kollektiven mit (auch) religiös fundierter Identität. Seit dem offiziellen Ende des Bürgerkriegs 1990 wird zugleich immer erneut eine libanesische Identität imaginiert (oder jedenfalls darum gerungen), die Kontingenz des libanesischen Staates und dessen Spaltungen verdeckend. Vor allem seit der Zedern-Revolution 2005 haben Theologen an dieser Imagination der ›libanesischen‹ Gesellschaft gearbeitet, gegenüber den Fakten der Bürgerkriegsgeschichte, der Loyalität zu patriarchalisch-klientelistisch organisierten Kollektiven, den Kon135

flikten mit Syrien und Israel, den Interessen von Iran und SaudiArabien. Es handelt sich um ein vielfach gespaltenes Kollektiv, das gerade daher eine Einheit und Identität imaginiert. Funktional sind dafür erneut verschiedene Abgrenzungen: Die schiitische Hizbollah begründet die libanesische Identität in der Feindschaft zu Israel und dem Westen; andere Kräfte bestimmen die kollektive Identität in anderen Abgrenzungen (vgl. zu den Identitätskonstruktionen durch Abgrenzungen im Libanon z.B. Meier u.a. 2013, Meier 2015). Und neue konflikthafte Ereignisse verändern die imaginierte Identität permanent.

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Rückblick Sozialwissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen, Soziologen und Soziologinnen haben sich als dominant kritisch gegenüber vermeintlich essentialisierenden oder fixierenden Zuschreibungen, den Unterordnungen und Ausgrenzungen Anderer erwiesen, wenn es um das Thema kollektiver Identität geht. Dies gilt auf mindestens zwei Weisen. In der ersten Bedeutung von ›Kritik‹ handelt es sich um die Einnahme einer analytischen Distanz: Was ist die gesellschaftliche Funktion der Erzeugung kollektiver Identität; woher stammt das Begehren nach kollektiver Identität in modernen Gesellschaften; welche Mechanismen lassen sich unterscheiden; welche Merkmale haben kollektive Identitäten gegenwärtig – im globalen Vergleich und im historischen Vergleich? In der Antwort liegt oft ein gleitender Übergang in Kritik im zweiten Sinn vor: Kollektive Identifikationen implizieren immer auch die Abgrenzung Anderer, zuweilen auch die Unterwerfung von Einzelnen. Aus analytischer Distanz wird die Kritik dieser Prozesse, und in nochmals fließendem Übergang die Forderung nach Auflösung von Gesellschaftstheorie und Kollektivbegriffen. Kurz, auf dem umkämpften Terrain zwischen soziologischer Theorie und Gesellschaftskritik, zwischen distanzierter Analyse und Sozialphilosophie, zwischen Beobachtung und politischem Engagement siedeln sich die Konzepte kollektiver Identität an. Jürgen Habermas’ Forderung nach einer ›kollektiven Nicht-Identität‹ – einer negativen, abgrenzenden Identifizierung gegenüber der eigenen Geschichte – ist für diese letztgenannte Position ebenso exemplarisch wie Balibars Formel vom kulturellen Rassismus oder die Forderung Brubakers, auf jeden Begriff der Gruppe zu verzichten. Die Verlagerung der soziologischen Aufmerksamkeit von Identität auf Differenz kann dabei ihrerseits als eine Konzeption kollektiver Identität erscheinen – sowohl kollektive als auch individuelle Identität scheint den ›spätmodernen‹ Beobachtern als unmögliches Begehren, denn sie seien längst fragmentiert, unbestimmbar, prekär. Dagegen gibt es zahlreiche Fallstudien – in der Soziologie, in den Kulturwissenschaften, in der Archäologie, in den historischen Disziplinen, in der Anthropologie, in der Sinologie, in den Islamwissenschaften usw.: Man weiß dank ihnen sehr gut Bescheid über die kollektiven Identitätskonstruk137

tionen und -effekte in Vergangenheit und Gegenwart. Und dies entspricht der gesellschaftlichen Realität: Empirisch lässt sich ein nicht nachlassendes, zudem Epochen- und Kultur-übergreifendes Begehren nach kollektiven Identitäten konstatieren, das eher stärker als schwächer wird, neue Formen eingeht, und ständig neue Kollektive schafft – etwa in Form des ›Neotribalismus‹, der postmodernen Stämme, von denen Maffesoli (1988) spricht. Gesellschaftstheoretisch lassen sich kollektive Identitäten als in vielfacher Hinsicht für kollektive und individuelle Existenz notwendig verstehen – gerade weil sie imaginär, kontrafaktisch sind, gerade weil es keine Einheit und Identität von Kollektiven gibt. Keiner hat das Volk je gesehen oder die Freiheit als solche erfahren, ebenso wenig wie die Gleichheit. Es handelt sich stets um vorgestellte Einheitsbildungen, Identitäts- oder Kontinuitätsvorstellungen und Fundierungen des Kollektivs, auf vielen Ebenen, und mittels vieler Mechanismen, mit tiefgreifenden Gesellschafts- und Subjekteffekten. Die Erzeugungen kollektiver Identitäten sind eine der zentralen sozialen Tatsachen. Sie antworten auf mehrere Probleme, auf die immer erneut kollektive Antworten zu finden sind. In der Frage, was eine bestimmte kollektive Identität ausmacht – welche integrierenden und exkludierenden Wirkungen sie zeitigt, welche Subjektformen mit ihr einhergehen, welche Unterordnungen und Diskriminierungen – ist ein vergleichender Blick auf ganz andere Möglichkeiten kollektiver Identifizierung ebenso fruchtbar wie ein genealogischer Blick auf das eigene Werden, die Selektion der je spezifischen Geschichte mit ihren Ursprungserzählungen und Konzentrationen auf bestimmte Orte. In jedem Fall bezeugt auch die Konstitution eines ›Volkes‹, einer Gesellschaft oder kollektiven Identität in modernen politischen Kollektiven – in a-religiösen Gesellschaften, die auf der Trennung von Moral und Recht, Staat und Religion beruhen – eine Gemeinsamkeit mit religiös sich stiftenden Kollektiven. Zugleich gilt für demokratische Gesellschaften, dass sie ihre kollektive Identität streitbar, strukturell und institutionell offen halten – als latente, immer neue Debatten erzeugende kollektive Identifizierung. Diese Debatten verschieben die Identität selbst – besser gesagt, sie sind diese Identität.

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Anmerkungen 1 »Qu’est-ce qu’être français?« War eine durch den Minister für Immigration und nationale Identität Eric Besson 2009/2010 veranlasste grand débat, an der sich u.a. Maffesoli und Alfred Grosser beteiligt haben, ebenso wie Tausende weitere Franzosen und Französinnen. 2 Turbulent, da Bassam Tibi den Begriff der »Leitkultur« 1998 mit der Forderung nach einer europäischen Leitkultur verknüpft, gegenüber der Gefahr von Parallelgesellschaften (nicht einer deutschen Leitkultur); turbulent auch, weil er sich seither gegen die Multikulturalitätspolitik wehrt, die einer »Islamisierung« Europas Vorschub leiste (der Titel der Erstausgabe 1998 lautet: Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft, und der Neuausgabe von 2016: Europa ohne Identität? Europäisierung oder Islamisierung). 3 Es gibt Soziologien, die versuchen, Kollektivsubjekte zu denken: die ›Sozialontologien‹ im Anschluss an die Analytische Philosophie. Hier ist von »Kollektivpersonen« die Rede, sozialen Gebilden, die ›selbst personalen Status‹ haben. Vgl. z.B. Jansen 2017: 105-122. 4 Zu Derridas Begriff des konstitutiven Außen (der »Macht der Exteriorität«, Derrida 1983: 536f.) im Blick auf kollektive Identität z.B. Laclau (1990: 10ff.), Mouffe 2010: 130f. 5 Vgl. dazu und den Einzelprojekten http://gepris.dfg.de/gepris/ projekt/548160 6 So der Titel eines Vortrags im Rahmen von Topoi (HU Berlin, 2017). 7 Vgl. zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Plessner und Mouffe Delitz/Seyfert 2018. 8 Vgl. zur Überlagerung differenter kollektiver Identitäten im Einzelnen auch Tietz/Kantner/Overbeck 2015. 9 Vgl. zur gespaltenen Rezeption Rousseaus z.B. Kersting 2002, und zur inneren Widersprüchlichkeit Cassirer 2012. 10 Vgl. zu den beiden folgenden Passagen Delitz/Maneval 2017, Delitz 2018b. 11 In diesem Sinn werden auch heute Erhebungen ›gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit‹ vorgenommen und wird das Faschismus-Potential der Bevölkerung gemessen, dabei weni139

ger Häufigkeiten als Korrelationen oder das »Syndrom« messend, sowie Bindungen an soziale Statusgruppen (Heitmeyer u.a. 2002-2011). 12 www.les-identitaires.com/en-mots-2/, dt. HD. [zuletzt aufgerufen am 18.05.2018]. 13 Fragebogen des ISSP 2003 und 2013, siehe: https://dbk.ge​ sis.org/dbksearch/download.asp?id=6297; https://dbk.gesis. org/dbksearch/file.asp?file=ZA5950_q_de.pdf [letzer Zugriff je am 18.05.2018] 14 Gemeinsam mit den Islamwissenschaftlern Stefan Maneval und Christian Funke möchte ich diese Fälle der hegemonialen, diskursiven und permanent veränderlichen Identitätsbestimmung untersuchen, im Blick auf das fundierende Außen, den heiligen Grund. Vgl. Delitz/Maneval 2017.

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Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit Umrisse eines Forschungsprogramms Januar 2018, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4194-3 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4194-7 EPUB: ISBN 978-3-7328-4194-3

Sabine Hark, Paula-Irene Villa

Unterscheiden und herrschen Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart 2017, 176 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3653-6 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3653-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3653-6

Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Materialität Juni 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4073-5

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Soziologie Robert Seyfert, Jonathan Roberge (Hg.)

Algorithmuskulturen Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit 2017, 242 S., kart., Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3800-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3800-8 EPUB: ISBN 978-3-7328-3800-4

Andreas Reckwitz

Kreativität und soziale Praxis Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie 2016, 314 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3345-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3345-4

Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9

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