Kirche als Akteurin der Zivilgesellschaft: Eine zivilgesellschaftliche Kirchentheorie dargestellt an der Gemeinwesendiakonie und den Fresh Expressions of Church [1 ed.] 9783666517051, 9783525517055


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Kirche als Akteurin der Zivilgesellschaft: Eine zivilgesellschaftliche Kirchentheorie dargestellt an der Gemeinwesendiakonie und den Fresh Expressions of Church [1 ed.]
 9783666517051, 9783525517055

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Adrian Micha Schleifenbaum

Kirche als Akteurin der Zivilgesellschaft Eine zivilgesellschaftliche Kirchentheorie dargestellt an der Gemeinwesendiakonie und den Fresh Expressions of Church

Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie Herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne M. Steinmeier

Band 97

Adrian Micha Schleifenbaum

Kirche als Akteurin der Zivilgesellschaft Eine zivilgesellschaftliche Kirchentheorie dargestellt an der Gemeinwesendiakonie und den Fresh Expressions of Church

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch die Calver Verlag-Stiftung, die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands, den Förderverein der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg e.V. und die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: 3w+p, Rimpar Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-1242 ISBN 978-3-666-51705-1

Diese Arbeit ist Caroline & Dave Hammond sowie Sophie & Stephen Jackson gewidmet. Keep up the good work

Vorwort

Diese Arbeit begann mit einigen best-practice Beispielen, die ich kennenlernen durfte. Damals suchte ich noch nach einem Weg, die beachtenswerten Beispiele wie eine Schablone auf andere Bereiche von Kirche und Zivilgesellschaft zu übertragen. Nach der Beschäftigung mit Gesellschaftstheorien, Kirchentheorien und Konzepten der Zivilgesellschaft kann ich mir mittlerweile nicht mehr vorstellen, dass man funktionierende Beispiele so einfach kopieren kann. Dafür sind die jeweiligen Kontexte zu eigensinnig. Es braucht Fragestellungen, Gesprächspartner, Unterstützerinnen, Antwortversuche, Projekte und Netzwerke, die aus den Gegebenheiten vor Ort erwachsen. Es kann anfangs inspirierend sein, sich konkrete Vorbilder zu nehmen. Aber dabei besteht dann die Gefahr, dass man sich an den Ideen, Fragen und Lösungen anderer abarbeitet. Im schlimmsten Fall arbeitet man dabei an den eigenen lokalen Bedürfnissen vorbei. Ich halte es für hilfreicher, erst einmal allgemeine Dynamiken, Machtverhältnisse, Strukturen und Trends aus Gesellschaft, Kirche und Zivilgesellschaft wahrzunehmen. Danach kann man sie dann in der Façon des eigenen Umfelds wiederentdecken. Aus so einer gut informierten Grundhaltung, gepaart mit Entdeckungslust und Freude an den eigenen Sozialräumen, Netzwerken und Nachbarschaften können dann passende Projekte, Strukturen, Begegnungen und Formen von zivilgesellschaftlicher Kirche erwachsen. Sie haben das Potential für diesen einen Kontext bedeutungsvoll zu sein. Denn sie sind nicht für, sondern von, mit und in einem bestimmten Umfeld entstanden. Wenn diese Arbeit ihren Teil dazu beitragen kann, solche lokalen Suchprozesse einordnend zu begleiten, wenn sie also Impulse an die Praxis zurückgeben kann, dann hat sie ihren Zweck erfüllt. Mein Promotionsvorhaben an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg wäre ohne die zahlreichen Gesprächspartnerinnen und Begleiter nicht möglich gewesen. Einige wichtige Unterstützer möchte ich an dieser Stelle daher unbedingt erwähnen. Den nötigen Schubser in Richtung Dissertation hat mir Henning von Vieregge mit seinen gut informierten Fragestellungen gegeben. Er war mir

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Vorwort

ein ständiger Gesprächspartner, der diese Arbeit nicht nur wissenschaftlich, sondern auch persönlich begleitet hat. Mein Doktorvater Helmut Schwier hat mich im Lauf der Dissertation immer wieder bestärkt und ermutigt. Er fand in seiner Betreuung einen hervorragenden Stil aus Freiraum, ermöglichender Begleitung und klaren Strukturen. Prof. Johannes Eurich hat das Zweitgutachten zu dieser Arbeit erstellt und stand mir darüber hinaus mit guten und weiterführenden Hinweisen zur Seite. Meine Schwiegermutter Anne Meiß hat diese Arbeit dann in zahlreichen Nachtschichten Korrektur gelesen. Dem Vorwort haben Chiara Goseberg und Christine Claaß den letzten Schliff gegeben. Die weiterführenden Gespräche um meine geliebte Kaffeemaschine herum mit David Volkwein, Mathis Goseberg und Benedikt Friedrich haben mich sicherlich vor dem ein oder anderen kirchentheoretischen Holzweg bewahrt. Ohne die facettenreichen Möglichkeiten zum Reflektieren und „einfach mal drüber Sprechen“, die horizonterweiternden Seminarangebote und nicht zuletzt auch die finanzielle Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung hätte diese Arbeit nicht entstehen können. Den Herausgeber/innen der Reihe „Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie“, sowie dem Verlag Vandenhoeck und Ruprecht danke ich für die Publikation meiner Arbeit. Die großzügigen Zuschüsse zu den Druckkosten durch die Calver Verlag-Stiftung, die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands, den Förderverein der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg e.V. und die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau waren mir dabei eine große Hilfe und Unterstützung. Ihnen allen möchte ich Danke sagen. Der wichtigste und daher abschließende Dank gilt meiner Frau Mareike. Sie hat mich und diese Arbeit durch alle erdenklichen Höhen (daran gab es zum Glück keinen Mangel) und Tiefen (an denen es – gerade in der Schlussphase – auch nicht gefehlt hatte) begleitet. Die Zeit, in der ich an diesem Buch arbeiten durfte, zählt mit zu den schönsten, intensivsten und glücklichsten Erfahrungen, die ich bisher machen durfte.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Eine zivilgesellschaftliche Kirche und ihre Nachbarschaft . . . . . . . . .

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Teil I Kirche in der Zivilgesellschaft auf theoretischer Ebene 1. Gesellschaft im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die solide Moderne . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die liquide Moderne . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Fazit: Hybridisierung und Multiple Modernen 1.4 Exkurs: Luhmann in der Kirchentheorie . . . .

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2. Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Kirche als Organisation . . . . . . . . 2.2 Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Kirche als Institution . . . . . . . . . . 2.2.2 Kirche im Zeichen der Säkularisierung 2.3 Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Kirche als Interaktion . . . . . . . . . 2.4 Inszenierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Kirche als Inszenierung . . . . . . . . 2.5 Fazit: Wird die Kirche immer liquider? . .

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3. Zivilgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Zivilgesellschaft raumlogisch . . . . . . . . . . . 3.2 Zivilgesellschaft handlungslogisch . . . . . . . . 3.3 Fazit: Wird die Zivilgesellschaft immer liquider?

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Inhalt

4. Kirche als zivilgesellschaftliche Akteurin . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Kirche als zivilgesellschaftliche Organisation . . . . . . . . . . . . . 4.2 Kirche als zivilgesellschaftliche Institution . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Kirche als zivilgesellschaftliche Interaktion . . . . . . . . . . . . . 4.4 Kirche als zivilgesellschaftliche Inszenierung . . . . . . . . . . . . 4.5 Fazit: Kirche für die Zivilgesellschaft: Flickenteppich und tragende Säule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil II Eine Beurteilung von zwei herausragenden Beispielen zivilgesellschaftlicher Kirche . . . . . .

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3. Fresh X und Gemeinwesendiakonie im zivilgesellschaftlichen Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Ein Plädoyer für mehr Zivilgesellschaft in der Kirche – und mehr Kirche in der Zivilgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Fresh Expressions of Church . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Fresh X als kirchlich-zivilgesellschaftliche Organisation 1.2 Fresh X als kirchlich-zivilgesellschaftliche Institution . . 1.3 Fresh X als kirchlich-zivilgesellschaftliche Interaktion . 1.4 Fresh X als kirchlich-zivilgesellschaftliche Inszenierung 1.5 Fazit: Fresh X als zivilgesellschaftliche Kirche . . . . . .

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2. Gemeinwesendiakonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Gemeinwesendiakonie als kirchlich-zivilgesellschaftliche Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Gemeinwesendiakonie als kirchlich-zivilgesellschaftliche Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Gemeinwesendiakonie als kirchlich-zivilgesellschaftliche Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Gemeinwesendiakonie als kirchlich-zivilgesellschaftliche Inszenierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Fazit: Gemeinwesendiakonie als zivilgesellschaftliche Kirche

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Eine zivilgesellschaftliche Kirche und ihre Nachbarschaft

Dicke Tropfen weißer Farbe klatschen auf das Gerüst. Es füllt den weiten Raum der Kirche voll aus. Der Maler verrenkt sich über den hohen Kirchenfenstern und trägt eine Schicht weißer Farbe nach der anderen auf. Es ist nicht der einzige Ort, an dem hier gearbeitet wird. Ein Blick durch das Gebäude der St. Saviours Kirche zeigt, dass hier mehr vorgeht als eine normale Renovierung. Wo sonst harte Bänke stehen, wartet ein Presslufthammer auf seinen Einsatz. Dort, wo einmal die Orgel ihren Dienst verrichtete, klafft nun eine dreckige, schwere Lücke. Fast könnte man meinen, die Kirche befände sich im Rückbau. Aber die Ehrenamtlichen der Kirchengemeinde reißen die alten Schränke gerne aus der Sakristei heraus. Hier stimmt niemand in den Abgesang auf die Kirche mit ein. Stattdessen haben die Mitarbeiterinnen ein fröhliches Lied auf den Lippen. Das allein ist mehr als erstaunlich. Denn die anglikanische St. Saviours Kirchengemeinde steht in Nottingham eigentlich auf verlorenem Posten. In dem ehemaligen Arbeiterviertel „The Meadows“ gibt es nahezu kein Interesse mehr an klassischen kirchlichen Angeboten. Es lohnt sich kaum, die wenigen Taufen zu zählen. Kirchliche Trauungen werden schon seit Jahren nur selten durchgeführt. Die Besucherzahlen klassischer agendarischer Gottesdienste stagnierten so stark, dass die Gottesdienste irgendwann einfach eingestellt wurden. Selbst Beerdigungen sind hier Raritäten. Diese eigentlich deprimierende Situation lag nicht an der fehlenden Qualität der Gottesdienste oder am zu geringen Einsatz der Haupt- und Ehrenamtlichen. Die Menschen im Viertel der Kirchengemeinde haben sich in den vergangenen Jahrzehnten allerdings so schnell und umfassend verändert, dass die Kirche kaum Schritt halten konnte. Das Quartier ist multikulturell. Viele Nationen dieser Erde sind unter den etwa 8.000 Einwohnern vertreten. Arbeitslosigkeit fordert die Menschen hier heraus. Auch wenn das Interesse der Bewohner am klassischen anglikanischen Programm über die Jahre immer geringer wurde, fühlen sich die Mitglieder der Gemeinde mit dem Viertel sehr verbunden. Wir sind „The Meadows“ – bekommt man von ihnen immer wieder zu hören.

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Eine zivilgesellschaftliche Kirche und ihre Nachbarschaft

Unter diesen Umständen begannen die Engagierten der Kirchengemeinde, die eigene Rolle und Aufgabe im Ort zu hinterfragen. „Wer sind wir für unsere Nachbarn?“ „Was würde den Menschen fehlen, wenn es uns hier nicht mehr gäbe?“ Solche Fragen waren sicherlich unbequem. Aber sie führten zu erhellenden Gesprächen. Die Mitglieder von St. Saviours trafen sich mit den Kneipenbesitzerinnen, den Eltern im Viertel, den Angestellten aus der Stadtverwaltung, den Ehrenamtlichen der Heilsarmee und den Lehrern der örtlichen Schulen. Dieser Perspektivwechsel leitete einen umfassenden Wandel ein. Schon bald tauchten dann die vielen Kinder und Jugendlichen im Viertel auf dem Radar der Kirchengemeinde auf. Für sie gab es in der Nachbarschaft keinen geeigneten Ort. Sie hingen meist neben den Casinos, Tankstellen und Kneipen ab. Also stellte die Kirche eine Pädagogin und einen Fundraiser ein. Zusammen mit einigen anderen Akteuren aus der örtlichen Zivilgesellschaft und wohlwollenden Stiftungen und Geldgeberinnen fasste die Kirchengemeinde einen ehrgeizigen Plan. Die Kirche sollte zu einem Ort für die zahlreichen alleinerziehenden Mütter, die Patchworkfamilien und die Kinder Nottinghams werden. Dazu wurde das Gebäude entkernt. Hier richtete die St. Saviours Kirche ein schickes Café, eine großzügige Spielecke und ein riesiges Klettergerüst ein. Das social business der Kirchengemeinde „Eden-Soft-Play“ zog neu in das Gebäude ein. Um der hohen Arbeitslosigkeit in Nottingham zu begegnen, wurden vor allem Leute aus dem eigenen Viertel eingestellt. Die Bewohner des Quartiers zahlen einen stark vergünstigten Eintrittspreis. Der Kuchen, der hier angeboten wird, wird ebenfalls lokal gebacken und der insgesamt erzielte Gewinn fließt in weitere Sozialprojekte im Viertel. So wurde das Angebot und die neue Ausrichtung der Kirchengemeinde angenommen. Auch das spirituelle Leben der Kirchengemeinde spielt hier eine Rolle. Etwa, wenn der Pastor seine Predigten im Café vorbereitet und sich mit den Eltern austauscht. Oder wenn die Kinder in der Spielecke als besonderes Event die Geschichte der Arche Noah erzählt bekommen. Vieles von dem, was in dieser Arbeit reflektiert wird, fand einen ersten Denkanstoß in Nottingham. So fragt diese Arbeit nach einer angemessenen und verantwortungsbewussten Rolle der Kirche in ihrer zivilgesellschaftlichen Nachbarschaft. Ganz ähnlich wie schon in dem Viertel „The Meadows“ geht es auch mir in dieser Arbeit darum, wie Kirche in ihren vielen verschiedenen Nachbarschaften an Resonanz und an Relevanz gewinnen kann. Die Anliegen dieser Arbeit wären aber missverstanden, wenn sie als Angriff auf Kirchenbänke und Orgeln gelesen würden. Zwar trennte sich die St. Saviours Kirchengemeinde von Dingen, die im kirchlichen und gesellschaftlichen Leben dieses ganz bestimmten Viertels nicht mehr gefragt waren. Doch etwas anderes faszinierte mich am St. Saviours Modell. Entscheidend war nicht die Rigorosität per se, sondern viel mehr, dass eine Kirchengemeinde ihre eigene Identität hinterfragt hat. Im

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Gespräch mit den Nachbarn aus der Zivilgesellschaft und den Bewohnerinnen des eigenen Quartiers wurde die Rolle der Kirchengemeinde reflektiert und neu gefunden. Dass dieser Prozess derart große Umwälzungen mit sich brachte, ist nicht etwa einem radikalen Programm geschuldet. Wenn in St. Saviours nun Kinder toben und Eltern mit den Haupt- und Ehrenamtlichen der Kirche beim Kaffee zusammenkommen, dann liegt das an den veränderten Bedürfnissen in der Gesellschaft und der kirchlichen Offenheit für diesen gesellschaftlichen Wandel. Das bedeutet nicht, dass das Modell von St. Saviours statisch auf die grundlegend verschiedenen Kontexte hierzulande angewandt werden soll. Trotzdem lohnt es sich, die Anfragen zu bedenken, die in Nottingham an Kirche und Zivilgesellschaft gerichtet wurden. In dieser Arbeit wird also das Potenzial dargestellt, das die Kirche in ihrer zivilgesellschaftlichen Ausrichtung entfalten kann. Diese Blickrichtung bestimmt auch die Methodik, die hier zugrunde gelegt wird. Im Folgenden wird daher auf Theorien und vorhandene Ergebnisse aus empirischen Studien (qualitativer wie auch quantitativer Art) zurückgegriffen. Solche Perspektiven werden hier konzeptionell eingebunden und kirchentheoretisch sowie zivilgesellschaftlich reflektiert. Es geht mir in dieser Arbeit also nicht darum, den bisherigen IstZustand der Kirche empirisch nachzuzeichnen. Dazu liegen bereits bedeutsame Arbeiten vor. Diese Arbeit beschäftigt sich mit einem kirchlichen Kann-Zustand. Kirche kann sich zivilgesellschaftlich so einsetzen, dass sie für ihre Nachbarn hoch relevant wird. Sie kann durch ihre zivilgesellschaftliche Identität eine Resonanz von großer Tragweite erzeugen. Stellenweise gelingt ihr das auch schon. Der Ertrag dieser Arbeit wird hier nun zusammengefasst. Das entlastet das Fazit dieser Arbeit von diesem Rückblick und ermöglicht ein abschließendes Plädoyer für eine Kirche, die sensibel, engagiert und begeistert auf ihre Nachbarschaft zugeht und sich so als tragfähige zivilgesellschaftliche Akteurin zeigt. In Teil I dieser Arbeit geht es darum, das Miteinander von Kirche und Zivilgesellschaft konzeptionell zu erfassen. Hier werden zwei große Theoriegebäude – die Kirchentheorie und verschiedene Konzepte zur Zivilgesellschaft – dargestellt und miteinander verbunden. Diese Arbeit beginnt mit einem allgemeinen Blick auf die sich verändernden gesellschaftlichen Voraussetzungen. Im Gespräch mit Zygmunt Bauman, Ulrich Beck und anderen gesellschaftstheoretischen Entwürfen der Soziologie wird der Umbruch von der soliden zur liquiden Moderne nachvollzogen. Es wird erörtert, wo die Bedürfnisse, Herausforderungen, Widersprüche, Normen und Ideale dieser Zeit liegen. Die Darstellung steht aus gutem Grund am Anfang dieser Arbeit. Denn die hier eingenommene Perspektive stellt die folgenden Beobachtungen und Analysen in ein besonderes Licht. Vieles, was Kirche und Zivilge-

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sellschaft derzeit herausfordert, erscheint hier plastisch und pointiert. Mit der hier vorgenommen Weichenstellung zugunsten von Bauman und Beck rückt der für die Kirchentheorie prägende gesellschaftstheoretische Ansatz von Niklas Luhmann in den Hintergrund rückt. Daher widmet ich ein eigener Exkurs der Aufnahme von Luhmanns Systemtheorie in der Kirchentheorie. Nach dieser ersten Weitung konzentriert sich der Blick dieser Arbeit auf die Kirche. Dabei ist immer die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) gemeint. Diese Grenzziehung ist sinnvoll, da sich aus den Entwicklungen der EKD ein kirchentheoretischer Diskurs herausgebildet hat. Er beobachtet die EKD und prägt sie. Trotz dieser Einschränkung sind die Beobachtungen und Analysen dieses Kapitels auch auf andere Konfessionen anwendbar. Das trifft aber nur mit Einschränkungen zu. Was für die anglikanische oder die katholische Kirche gilt, geschieht immer unter eigenen Voraussetzungen. Um also die Identität der evangelischen Kirche zusammen mit ihren zivilgesellschaftlichen Nachbarn zu reflektieren und neu zu finden, braucht es ein sachgemäßes Verständnis von dem, was die EKD ausmacht. Im kirchentheoretischen Diskurs wurden dafür von Jan Hermelink vier Ebenen beschrieben. Er versteht Kirche als Organisation, als Institution, als Interaktion und als Inszenierung. Die Ebenen verdienen hier besondere Aufmerksamkeit, da sie dieser Arbeit Struktur geben. Die Organisation bemüht sich darum, Entscheidungen z. B. auf einer Kirchenvorstandssitzung oder einer Synode nach einem bestimmten Programm zu fällen. Hier wird wahrgenommen, welche Rolle man im Organigramm der Kirche einnimmt, etwa als steuerzahlendes Mitglied einer Parochie oder als entscheidungstragende Hauptamtliche einer Propstei. Kirche als Organisation hat die Stärke oder zumindest den Willen, auf den gesellschaftlichen Wandel reagieren zu können. Dabei wurde aber immer wieder betont, dass diese Ebene nicht ausreicht, um die Kirche sachgemäß zu verstehen. Es braucht weitere Perspektiven. Ein kirchentheoretischer Klassiker ist dabei die Ebene der Institution. Hier wird dem nachgegangen, was der Kirche als Identität vorgegeben ist. Das kann einerseits auf eine theologische Ebene führen, die die Kirche dogmatisch oder biblisch einordnet. Es kann, wie in dieser Arbeit, aber auch auf eine soziologische Ebene führen. Das, was die gesellschaftliche Mehrheit von der Kirche erwartet und von ihr hält, prägt demnach auch das Wesen der Kirche. Wenn dabei z. B. die Institution des Gottesdienstes durch viele Menschen (und Gottesdienstbesuche) aufrechterhalten wird, ist die Institution stark. Wenn das Interesse daran jedoch zurückgeht, dann bröckelt die Institution und sie wird schwach. Was würde also passieren, wenn man den Gottesdienst auf einen anderen Ort und eine andere Zeit verschieben oder ihn gar abschaffen würde, obwohl mehrheitlich ein sonntäglicher Gottesdienst erwartet würde? Um solche Zusammenhänge besser

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verstehen zu können, mündet dieses Unterkapitel in eine umfangreiche Beschäftigung mit gegenwärtigen Säkularisierungstheorien. Kirche ist darüber hinaus auch Interaktion. Diese Perspektive auf die Kirche ist verhältnismäßig neu. In der aktuellen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU V.) wird sie prominent angewandt. Dort, wo sich Menschen in, um und insbesondere als eine Kirchengemeinde treffen, kann man Kirche als ein Netzwerk ansehen. Mal gehen Personen dort flüchtige Bekanntschaften ein und mal bauen sie starke Beziehungen auf. Wenn ein kirchliches Netzwerk hierarchisch auf einen zentralen Pfarrer ausgerichtet ist oder von den zahlreichen Kontakten im Elternbeirat des kirchlichen Kindergartens geprägt wird, ergeben sich jeweils andere Dynamiken, Chancen und Herausforderungen. Welche das konkret sein könnten, wird in diesem Kapitel beleuchtet. Diese drei Ebenen wirken sich auf die Inszenierung der Kirche aus. Wie die Kirche im Privaten und in der Öffentlichkeit auftritt, kommt in dieser ursprünglich theaterwissenschaftlichen Perspektive zur Geltung. In der Praktischen Theologie wird sie seit einigen Jahren verstärkt wahrgenommen und gewürdigt. Darunter fallen dann nicht nur Beobachtungen zu symbolisch aufgeladenen Gegenständen, Kleidungstücken oder Gebäuden. Wichtiger ist hier, welche Personen die Kirche in Szene setzen, welche kulturellen und milieugebundenen Vorlieben dabei eine Rolle spielen (dürfen) und was dabei inhaltlich zum Ausdruck gebracht wird. Dieses Kapitel ringt besonders stark mit der Frage, wie offen die Kirche für individuelle Personen und deren ästhetische Vorlieben ist. Jan Hermelinks kirchentheoretische Struktur durchzieht die vorliegende Arbeit. Diese Untersuchung bleibt aber nicht bei Hermelinks Rahmen stehen, sondern sucht auch das Gespräch mit anderen aktuellen Positionen z. B. von Eberhard Hauschildt, Uta Pohl-Patalong oder Isolde Karle. Diese Perspektiven werden im Fazit unter solide-modernen und liquide-modernen Vorzeichen betrachtet und kritisiert. Hier offenbart der soziologische Blick von Bauman und Beck einige herausfordernde kirchliche Strukturen und Dynamiken. Diese sind der Kirchentheorie nicht unbekannt, aber im soziologischen Licht von Bauman und Beck erhalten sie eine bisher selten gesehene Schärfe und Kontur. Dieses Kapitel nutzt die Chance zur struktur- und gegenwartskritischen Selbstreflexion und kommt dabei zu pointierten Ergebnissen, die in der Kirchentheorie bisher noch zu oft vernachlässigt werden. Die Arbeit am Kirchenbegriff ist damit nicht abgeschlossen. Denn durch die Beschäftigung mit der liquiden Moderne ergaben sich kirchentheoretische Erkenntnisse. Sie provozierten in mir die Frage, welche besondere Qualität die Kirchentheorie erhalten würde, wenn sie genau diese Strukturen und Dynamiken mit zivilgesellschaftlicher Brille reflektieren würde. Mit diesem Ansatz erhält die hier vorgelegte Kirchentheorie eine neue und pointierte Orientierung.

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Im nächsten Kapitel wird dazu der Zivilgesellschaftsbegriff vorgestellt. Im Vordergrund stehen zwei Perspektiven auf die Zivilgesellschaft. Dabei handelt es sich um ihre Raumlogik und um ihre Handlungslogik. Die eher statisch denkende Raumlogik verortet die Zivilgesellschaft zwischen Staat, Ökonomie und Privatsphäre. Dabei wird mit Habermas’ deliberativer Demokratietheorie und anderen Konzepten aus dem zivilgesellschaftlichen Diskurs erörtert, inwiefern diese Aufteilung in Sphären sinnvoll bzw. hinfällig ist. Hier wird sehr schnell deutlich, dass sich die Zivilgesellschaft immer auch aus staatlichen, ökonomischen und privaten Einflüssen zusammensetzt. So entsteht eine gesellschaftliche Arena, in der über Diskurse (z. B. über Twitter, die öffentlich-rechtlichen Tagesthemen, Kabarettaufführungen oder Literatur) und Taten (z. B. die Pflege von Angehörigen oder das Aufsammeln von Scherben auf dem Spielplatz) gesellschaftliche Themen bearbeitet werden. Die dynamischere handlungslogische Ebene gibt der Zivilgesellschaft eine normativ aufgeladene Richtung. Dabei gibt es drei Tendenzen, die für die Zivilgesellschaft infrage kommen. Sie kann gesellschaftspolitisch sein und sich mit entsprechenden Themen auseinandersetzen. Die Bertelsmann-Stiftung, der Naturschutzbund, Brot für die Welt oder die Identitäre Bewegung sind Beispiele für politisch gesinnte Akteurinnen der Zivilgesellschaft. Zudem kann die Zivilgesellschaft auch vornehmlich auf die Bildung von Sozialkapital ausgerichtet sein. Das gilt etwa für Schachvereine, Box-Clubs oder Whisky-Tasting-Gemeinschaften. Beides, sowohl die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung als auch die Förderung von gesellschaftlichem Zusammenhalt, sind wichtige Funktionen der Zivilgesellschaft. Ob ein Akteur Sozialkapital produziert und ob er gesellschaftspolitisch profiliert ist, sagt viel über die zivilgesellschaftliche Relevanz dieses Akteurs aus. Aber noch wichtiger als diese beiden handlungslogischen Ausrichtungen ist die Frage nach der Gemeinwohlorientierung einer zivilgesellschaftlichen Akteurin. Denn die demokratische Qualität der Zivilgesellschaft wird durch die Gemeinwohlorientierung ihrer Akteure am stärksten mitbestimmt. Diese Ausrichtung ist hoch umstritten, da sie stark normativ aufgeladen ist und noch dazu vom Auge des Betrachters abhängt. Mit Jeffrey Alexander wird in diesem Kapitel das Kriterium der Solidarität als Messlatte für die Gemeinwohlorientierung zivilgesellschaftlicher Akteure besprochen. Erst wenn man Menschen nicht wegen einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit aus der Zivilgesellschaft ausschließt (etwa weil es sich um katholische Iren im 19. Jh. der USA, um Salafisten in der Gegenwart oder um Schwule und Lesben in den 1980er Jahren handelt), sondern sich auf einen kontroversen und mitunter widersprüchlichen Dialog einlässt, kann man für sich beanspruchen, auch gemeinwohlorientiert zu handeln. Wer dazu nicht bereit ist, hat

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immer noch Anteil an der Zivilgesellschaft, muss sich dann aber die Zurechnung zur s.g. „dark side“ der Zivilgesellschaft gefallen lassen. Bisher wurden Kirche und Zivilgesellschaft unabhängig voneinander beschrieben. Dabei wurden verschiedene bereits vorhandene Ansätze dargestellt und zusammengeführt. Im Folgenden werden die großen Theoriegebäude zu Kirche und Zivilgesellschaft verwoben und weitergedacht. In den jeweiligen Diskursen zu Kirche und Zivilgesellschaft ist das in diesem Ausmaß ein Novum. Das Ergebnis ist ein vielschichtiger Kirchenbegriff, der die Strukturen und Dynamiken der Kirche unter zivilgesellschaftlichen Bedingungen betrachtet. Dabei fällt auf, dass die Kirche wegen ihrer Geschichte raumlogisch nah an den staatlichen Bereich heranrückt. Sie strebt aber keine direkte politische Macht an, sondern beobachtet das politische Zentrum kritisch würdigend. Dennoch hat sie durch ihre Staatsnähe Privilegien, wie eine herausragende Präsenz in Schulen, Militär, Gefängnissen oder den öffentlich-rechtlichen-Medien, die anderen Akteurinnen der Zivilgesellschaft nicht zukommen. Vom Markt will sich die Kirche nur allzu gerne abgegrenzt wissen, wobei auch sie stark von ökonomischen Dynamiken bewegt wird. Das gilt etwa im Fundraising und der damit einhergehenden sozialen Vernetzung zu anderen gesellschaftlichen Partnern. Eine große Chance liegt auch in der kirchlichen Raumlogik zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre, da die Kirche in beiden Sphären vorkommt. So kann sie Themen, die ihr im privaten Raum begegnen, z. B. Einsamkeit im Alter oder Kinderarmut, ans Licht der Öffentlichkeit holen und im zivilgesellschaftlichen Diskurs sichtbar machen. Hier fällt stark ins Gewicht, dass die Kirche deutschlandweit in fast jedem Dorf und in jeder Stadt präsent ist und sie zudem auch Zugang zu höheren politischen Ebenen hat. Auch wenn die Kirche als pluralistische Akteurin nur selten mit einer Stimme spricht, kann sie in der zivilgesellschaftlichen Arena doch gut hörbar und laut werden. Die Handlungslogik der Kirche ist zivilgesellschaftlich betrachtet vielschichtig und teilweise sogar ambivalent. Auf organisationaler Ebene hängt das zivilgesellschaftliche Profil stark von den leitenden Personen und ihren Vorlieben ab. Da gibt es Kirchengemeinden, die zu sehr mit Strukturreformen beschäftigt sind, um sich auch noch mit den Bedürfnissen ihrer zivilgesellschaftlichen Nachbarschaft auseinanderzusetzen. Daneben stehen Dekaninnen, die die Ehrenamtlichen in zivilgesellschaftlichen Projekten durch Fortbildungen und Mentorship wertschätzend begleiten. So wirkt die Kirche wie ein zivilgesellschaftlicher Flickenteppich, der an einer Stelle beachtliches leistet und dann wieder löchrig ist. Gleichzeitig ist ihr auf institutioneller Ebene eine zivilgesellschaftlich bedeutsame Handlungslogik vorgegeben. Die aktuelle Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung stellt fest, dass die Mehrheit der Kirchenmitglieder ebenso wie die Mehrheit der Konfessionslosen von der Kirche erwarten, sich für hilfsbedürftige

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Menschen einzusetzen. An den Problemen, Herausforderungen und Stärken der Zivilgesellschaft kann die Kirche also nicht einfach vorbeigehen, geradeso als würden diese nur von einem wie auch immer gearteten Kerngeschäft ablenken. Institutionell sind die Themen der Zivilgesellschaft Teil des kirchlichen Kerngeschäfts. Das wird wiederum auf interaktionaler Ebene greifbar. Dort, wo es kirchlichen Netzwerken gelingt, sich nicht nur auf eine kirchliche Subkultur einzustellen, sondern auch Brücken zu nicht-kirchlichen Kreisen zu bauen, ist sie eine starke zivilgesellschaftliche Akteurin. Denn dann profitieren vom kirchlichen Sozialkapital, den dort erlernten social skills und dem dort aufgebauten Rückhalt nicht nur die engagierten Kirchenmitglieder. Im Idealfall schafft es die Kirche, intensive Bindungen in Gruppen und Kreisen ebenso wie lockere Beziehungen in Projekten, Events und zu benachbarten Vereinen oder Runden Tischen zu unterhalten. Das erfordert aber ein Netzwerk, in dem die Pastorin nicht die zentrale und einzige Schaltstelle für Informationen und Interaktionen ist. Wie demgegenüber Ehrenamtliche dem kirchlichen Netzwerk zu einer größeren zivilgesellschaftlichen Relevanz verhelfen können, wird in diesem Kapitel erörtert. Wenn Kirche dann interaktional von verschiedenen Menschen geprägt wird, hat das auch Auswirkungen auf ihre Inszenierung. Denn unterschiedliche Menschen bringen auch unterschiedliche ästhetische Vorlieben und Inhalte in die Kirche ein. Das sollte nicht nur die Inszenierung im Gottesdienst widerspiegeln, indem die Räume so gestaltet werden, dass sie auch für Alleinerziehende komfortabel sind, oder indem Liturgieelemente für Iraner auch auf Persisch gehalten werden. Eine zivilgesellschaftlich sensible Inszenierung ist zudem in der Kommunikation des Evangeliums umsichtig. Dabei können die kirchlichzivilgesellschaftlich Engagierten, wie Gerhard Wegner vorschlägt, eher sozial als religiös kommunizieren. Oder sie können, wie Christian Grethlein nahelegt, ihr helfendes Handeln als Kommunikation des Evangeliums interpretieren. Wie und ob die Einzelnen im kirchlich-zivilgesellschaftlichen Netzwerk das Evangelium kommunizieren, kann die Kirche dabei nicht normieren. Sie hat als Organisation allerdings die Verantwortung, Möglichkeiten zur Reflexion darüber anzubieten. Teil I skizzierte ein theoretisches Bild zum Miteinander von Kirche und Zivilgesellschaft. Teil II ist dagegen stärker an der kirchlich-zivilgesellschaftlichen Praxis interessiert. Denn mir war wichtig, dass die Überlegungen zu einer zivilgesellschaftlichen Kirche ihre Wirkung nicht nur am Schreibtisch entfalten werden. Daher werden nun zwei Bewegungen untersucht, die Kirche und Zivilgesellschaft bereits miteinander auf je eigene Art verweben. Es handelt sich um die Fresh Expressions of Church (Fresh X) und um die Gemeinwesendiakonie. Beide Bewegungen wurden bereits mit Hilfe qualitativer und z. T. auch quantitativer empirischer Forschung untersucht und zu beiden Bewegungen liegen

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Konzepte und Theorien vor, die in den Diskursen um die Bewegung entwickelt wurden. Dabei gibt es zwischen den Bewegungen nur wenig Berührungspunkte. Das ist bedauerlich. Denn gerade weil sich die beiden Bewegungen der zivilgesellschaftlichen Nachbarschaft von Kirche auf unterschiedliche Art und Weise nähern, können auch beide Bewegungen voneinander lernen. Hier werden Fresh X und Gemeinwesendiakonie anhand einer einheitlichen, zivilgesellschaftlich geerdeten Kirchentheorie dargestellt und bewertet. Das soll einerseits den Dialog zwischen beiden Bewegungen ermöglichen und andererseits für die Kirche ebenso wie die Zivilgesellschaft insgesamt aufzeigen, wo die konkreten Vorteile einer zivilgesellschaftlich engagierten Kirche liegen. Fresh X sind ein Versuch, kirchliches Leben zusammen mit solchen Szenen, Nachbarschaften oder Milieus zu gestalten, die sonst kaum Zugang zur Kirche finden. Dabei sammelt sich eine Gruppe von Menschen um ein bestimmtes Hobby, einen typischen Ort oder ein anderes markantes Merkmal. Eine Fresh X kann also aus urbanen Kräutergärtnerinnen, Kletterhallenenthusiasten, Besucherinnen eines Metalkonzerts oder Kneipengängern einer bestimmten Bar bestehen. Sie treffen sich, um ihrer gemeinsamen Vorliebe nachzugehen. Zugleich wollen sie der Möglichkeit Raum geben, über das Evangelium zu kommunizieren. Für eine zivilgesellschaftliche Kirche ergeben sich hier bestimmte Chancen und Herausforderungen. Fresh X sind organisational meistens schlank aufgestellt. Sie sind davon abhängig, dass sich ihre Mitglieder engagieren. Das ist ein Vorteil, da die Teilnehmerinnen einer Fresh X so die Entscheidungen über die Strukturen und Dynamiken ihrer Gruppe mitgestalten können. Dadurch sind sie tendenziell eher bottom up organisiert. Zugleich stellt ihre relative Unabhängigkeit von typischen kirchlichen Strukturen auch eine finanzielle Herausforderung dar. Also bieten viele Fresh X ein Programm an, das kaum Kosten verursacht, oder sie experimentieren mit Finanzierungsmöglichkeiten. Manche Fresh X stellen sich dann als social business auf und eröffnen ein Café. Auch hier liegt eine große Chance, Menschen Teilhabe an einem zivilgesellschaftlichen Projekt zu gewähren. Institutionell orientieren sich Fresh X nicht an kirchlichen Konventionen. Sie nehmen Abstand von dem, was in vielerlei Hinsicht gang und gäbe ist. Zugleich entsprechen Fresh X der Institution Kirche. Das gilt insbesondere bei der institutionellen Vorgabe, sich um Hilfsbedürftige zu kümmern. Fresh X gestalten diese kirchliche Institution mitunter unkonventionell. Indem sich Fresh X auf einzelne Subkulturen und Milieus einstellen, haben sie einerseits Anteil an einer allgemeinen gesellschaftlichen Fragmentierung. Das ist eine zivilgesellschaftliche Herausforderung, die allerdings nahezu alle Akteure der Zivilgesellschaft betrifft. Andererseits verweisen Fresh X auch auf die Gesamtkirche. Sie verstehen sich zumeist als Teil der weltweiten Ökumene. Das

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kann dabei helfen, eine gemeinsame Identität zu finden. So lässt Fresh X die Grenzen zwischen einzelnen Milieus und Subkulturen wenigstens stellenweise hinter sich. Da Fresh X zumeist aus Gruppen zwischen 15 bis 55 Mitgliedern bestehen, funktionieren diese Netzwerke stark über intensive Gruppenbeziehungen. Ob hier jemand Mitglied ist, wird nicht formal geregelt, sondern durch die Häufigkeit der Interaktion. Zugleich zeigen sich die Gemeinden offen für neue Bindungen zu Menschen aus ihrer Zielgruppe. Den einzelnen Fresh X kann man zwar eine starke Exklusivität vorwerfen. Aber das wird der Bewegung in toto nicht gerecht. Schließlich ist es nicht ihr Ansinnen, konspirative Geheimzirkel zu gründen, sondern das kirchliche Leben um die Menschen und Identitäten zu bereichern, die darin bisher nur selten vorkommen. Fresh X sind an diesem Punkt ambivalent. Einerseits gibt es die einzelnen, kulturell und ästhetisch stark zugespitzten Gruppen. Andererseits ist die Bewegung insgesamt pluralistisch und facettenreich aufgestellt. So decken Fresh X begrüßenswert viele verschiedene Stile und Vorlieben ab. Die Bewegung lässt sich in ihrer Inszenierung nicht darauf festlegen, ob sie Kirche für Menschen unterschiedlicher Milieus eher unverbindlich erfahrbar machen möchte, oder ob es ihr auf die Konversion von kirchenfernen Menschen ankommt. Bei dieser sensiblen Frage, mit der letztlich auch die zivilgesellschaftliche Bedeutung der Bewegung steht und fällt, stellen sich für Fresh X konkrete Herausforderungen. Das gilt insbesondere, wenn sich eine Fresh X auch sozial für eine Nachbarschaft einsetzt und sie z. B. in einem Brennpunktviertel aktiv wird. Die damit verbundenen Chancen und Risiken werden in diesem Kapitel eingehend besprochen. Fresh X finden an einem zivilgesellschaftlichen Ort statt, der eher am privaten Raum angrenzt als an staatlichen Strukturen. Handlungslogisch legen sie ihren Fokus weniger auf politische Interessen und stärker auf die Bildung von Sozialkapital. Ob sie dabei gemeinwohlorientiert vorgehen, hängt davon ab, ob man die Gesamtbewegung mit ihren zivilgesellschaftlich beachtlichen, aber stellenweise eben auch ambivalenten Leistungen betrachtet oder die einzelnen Gruppen mit ihrer ganz unterschiedlichen Motivation und Praxis. Da Fresh X die interaktionale Ebene stark betonen, haben sie das Potenzial, sich bottom up zu strukturieren. Ob sie dieses Potenzial abrufen, liegt an den Leitungsstrukturen der jeweils unterschiedlich organisierten Gruppen. Die Gemeinwesendiakonie ist ein lokaler Verbund aus Kirche, Diakonie und möglicherweise auch anderen Akteuren. In der kooperativen Zusammenarbeit wendet man sich bewusst den Nöten einer bestimmten Gegend zu. Dabei werden die eigenen Ressourcen strategisch und zum Wohl der jeweiligen Nachbarschaft zusammengeführt. Seit etwas mehr als zehn Jahren werben EKD und das Dia-

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konische Werk der EKD für diese Strategie als richtungsweisende Möglichkeit für Kirchengemeinden und diakonische Unternehmen. Auf organisationaler Ebene sind die unterschiedlichen Programme und Kulturen zwischen diakonischen Organisationen, Kirchengemeinden und den anderen Partnerinnen (bspw. Stadtverwaltungen oder NGOs) eine bleibende Herausforderung. Oft scheitern gemeinwesendiakonische Projekte schon, bevor sie angefangen haben, weil man sich über Leitungsaufgaben, Entscheidungsstrukturen oder Finanzen nicht einig werden konnte. Dabei können sich Kirche und Diakonie auch ausgezeichnet ergänzen. Dieses Kapitel beleuchtet, woran sich die Herausforderungen im Miteinander der unterschiedlichen Akteure entzünden und wie sie entschärft werden können. Auf institutioneller Ebene greifen gemeinwesendiakonische Projekte auf den institutionell vorgegebenen Auftrag zurück, sich als Kirche bedürftigen Menschen zuzuwenden. Dieses institutionelle Moment wird als Legitimation für die eigene Arbeit verstanden. Dabei verlassen die Strukturen der Gemeinwesendiakonie häufig das Terrain kirchlicher Konventionalität. Sie streben oft pragmatische und situationsabhängige Lösungen für ihre jeweiligen Herausforderungen an, die sich zumeist nicht an Vorgängermodellen orientieren können. Dass ein Zusammenschluss aus Kirchengemeinde, Diakonieverband und lokalen Unternehmen etwa einen Dorfladen betreibt, der Menschen mit Behinderung ausbildet und einstellt, oder E-Bikes zum Nulltarif verleiht, ist für die Kirche eher untypisch. Es gehört aber zu den Lösungen, mit denen die Gemeinwesendiakonie die Institutionalität der Kirche gestaltet. Damit kann sie kirchlicher Arbeit durch ihr zivilgesellschaftliches Engagement ein neues Gesicht verleihen. Interaktional versuchen Gemeinwesendiakonische Projekte, den unterschiedlichen Bedürfnissen ihrer weitgespannten Netzwerke gerecht zu werden. Da muss etwa zwischen den effizienz-orientierten Vorstellungen von Hauptamtlichen und den geselligen Wünschen von Ehrenamtlichen vermittelt werden. Oder die Erwartung eines Kirchenvorstands, dass die Besucherinnen – oder wenigstens die ehrenamtlichen Mitarbeiter – einer Suppenküche nun auch in den Gottesdienst kommen würden, müssen diskutiert werden. Dabei geht es der Gemeinwesendiakonie nicht darum, Menschen ins kirchliche Netzwerk zu integrieren, sondern das kirchliche und diakonische Netzwerk stärker am zivilgesellschaftlichen Leben in der Nachbarschaft teilhaben zu lassen. Das wirkt sich auf die Inszenierungen der Gemeinwesendiakonie aus. In erster Linie sind gemeinwesendiakonische Projekte an sozialer Kommunikation interessiert. Schließlich sind die Schule machenden Projekte wie etwa Kleiderkammern für und mit Geflüchteten, die Betreuung von Dementen, Hausaufgabenhilfe für Schüler oder die Instandsetzung von verwahrlosten Parks erst einmal Konzepte, die auch ohne religiöse Interpretation für sich sprechen. Aber dass solche Aktionen im Vordergrund stehen und sie zudem auch explizit offen für

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Menschen aller Couleur sind, heißt nicht, dass sie weltanschaulich neutral sein müssen. Inwiefern sie auch Ausdruck des eigenen Glaubens sind, durch Andachten begleitet werden oder es dort zur bejahenden, verhaltenen, heterodoxen, kritischen oder pointierten Kommunikation des Evangeliums kommt, obliegt den jeweiligen Akteuren, die hier zusammenkommen. Die Gemeinwesendiakonie hat damit ein zivilgesellschaftlich pointiertes Profil, das die Kooperation mit staatlichen, ökonomischen und privaten Akteurinnen sucht. Sie ist auf handlungslogischer Ebene stark gesellschaftspolitisch aufgeladen, versucht aber auch, einen Teil zum zivilgesellschaftlichen Sozialkapital beizutragen. Dabei stehen lockere Verbindungen stärker im Fokus als intensive Beziehungsarten. Da die Gemeinwesendiakonie aktiv nach den Bedürfnissen eines bestimmten Quartiers fragt und sich daran orientiert, ist sie auch entsprechend stark am Gemeinwohl interessiert. Die beiden Bewegungen gehen sehr unterschiedlich auf ihre zivilgesellschaftliche Nachbarschaft zu. Das ist begrüßenswert und macht das weite Feld auf, in dem eine zivilgesellschaftlich engagierte Kirche ihrer Nachbarschaft begegnen kann. In dieser Arbeit wird dies kirchentheoretisch dargestellt und analysiert. Die Sprache dieser Arbeit soll verdeutlichen, dass Kirche und Zivilgesellschaft durch Frauen und Männer gestaltet werden. Daher wird mal die weibliche und mal die männliche Person angesprochen. Das ist weniger vereinnahmend, als pauschal die männliche Person anzusprechen. Zugleich soll es den Lesefluss erleichtern, jeweils nur ein Geschlecht explizit zu nennen. Nicht zuletzt soll diese Sprache auch auf die Verantwortung hinweisen, die der Kirche und der Zivilgesellschaft zur Gleichstellung von Mann und Frau zukommt.

Teil I Kirche in der Zivilgesellschaft auf theoretischer Ebene

1.

Gesellschaft im Wandel

Diese Arbeit beschäftigt sich mit der evangelischen Kirche und mit der Zivilgesellschaft. Das sind zwei sehr unterschiedliche gesellschaftliche Größen. Beide werden durch ihre je eigenen Strukturen, Logiken und Konzepte geprägt. Man kann von zwei unterschiedlichen Bildern sprechen, die hier erst einmal gesondert voneinander betrachtet werden. Allerdings befinden sich beide Bilder auf dem gleichen Hintergrund. Dieser Hintergrund – das sind die gesellschaftlichen Dynamiken, von denen die Moderne bewegt wird – soll hier erfasst werden. Dafür wird insbesondere auf die gesellschaftstheoretischen Modelle von Zygmunt Bauman und Ulrich Beck zurückgegriffen. Beide verstehen unsere Zeit als im Wandel begriffen. Die starken, soliden Ideale und Normen vergangener Zeiten wirken in der Gegenwart noch nach. Zugleich werden liquidere, neue Rollenmuster und Idealvorstellungen etabliert. Diese Dynamik, weg von einer soliden Moderne und hin zu einer liquideren Moderne, wird im Folgenden nachgezeichnet.1 Dabei geht es um gesellschaftliche Wertvorstellungen, um standardisierte Biografien in individualisierten Zeiten und um die gesellschaftstheoretischen Konsequenzen von Globalisierung und Migration. Der Blick dieser Arbeit wird also erst einmal stark geweitet, bevor er sich dann auf den eigentlichen Betrachtungsgegenstand dieser Arbeit fokussiert. Das ist notwendig, da die hier zugrunde gelegte Perspektive die folgenden Kapitel prägt. Vor dem hier skizzierten Hintergrund erscheinen dann auch die Bilder von Kirche und Zivilgesellschaft in einem anderen Licht. Es wird deutlich werden, dass die Dynamiken, die Bauman, Beck und viele weitere hier zu Wort kommende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschreiben, auch in Kirche und Zivilgesellschaft wirkmächtige Spuren hinterlassen.

1 Die soziologischen Diskurse, auf die hier zurückgegriffen wird, fanden zwischen Mitte der 1980er Jahre und Anfang der 2000er Jahre statt. Das gilt zumindest für die allgemeine gesellschaftstheoretische Debatte. Sie wurde seitdem in den facettenreichen Spezialgebieten der Soziologie aufgenommen und fortgeführt.

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Gesellschaft im Wandel

1.1

Die solide Moderne

„What strikes us most when looking at the past century from this novel standpoint are first and foremost its solid (or claiming to be solid) structures, its long-term planning and investment, its lifelong projects, its inert routines, its commitments and engagements meant to be ‚forever‘ and its partnerships intended to last ‚till death do us part‘.“2

Der Begriff der soliden Moderne bezeichnet ein soziologisches Narrativ, das eine weitestgehend vergangene Phase westlicher Modernität beschreibt. Zygmunt Bauman markiert damit eine Kontrastfolie, die den Ausgangspunkt spätmoderner gesellschaftlicher Veränderungsprozesse darstellt. Davon ausgehend überführen gesellschaftliche Wandlungen die solide in eine liquide Moderne. Die Einteilung in eine verblassende Phase der Moderne und ihrer Gegenüberstellung mit einer aktuelleren Phase ist dabei keineswegs singulär. Auch der Soziologe Ulrich Beck spricht von einer ganz ähnlich skizzierten „ersten“ und einer gegenwärtigen „zweiten“ bzw. „reflexiven“ Moderne.3 Ebenso teilt der Religionssoziologe Peter Berger die Gesellschaft in eine prämoderne und eine moderne Zeit ein.4 Im Folgenden wird die Bezeichnung von Bauman (solide/liquide Moderne) verwendet, wobei darunter auch Beschreibungen anderer ähnlicher Modelle einbezogen werden. Die Strukturen und Prozesse der soliden Moderne kann man zeitlich von der Industriellen Revolution bis hin in die Nachkriegszeit des 20. Jahrhundert verorten. Damit ist kein genau abgrenzbarer zeitlicher Rahmen gesetzt und ebenso – das sei vorweggeschickt – handelt es sich nicht um eine Beschreibung die nach irgendwelchen harten Fakten der Geschichtsschreibung sucht. Die Soziologie überzeichnet die Charakterisierungen der soliden bzw. liquiden Moderne zu einem richtungsweisenden Idealtyp, um eine pointiertere Darstellung gesellschaftlicher Dynamiken aufzuzeigen.5 Die solide Moderne zeichnete sich durch dauerhafte und stabile Strukturen aus. Darunter versteht Bauman gesellschaftlich anerkannte Vorstellungen und Verhaltensweisen die als stabilisierender Rahmen wirkten und normative Macht auf individuelle Identitäten und Biografien ausübten. Das Leben in der soliden Moderne war von nationalstaatlichen oder klassenspezifischen Bezugsrahmen geprägt. Man orientierte sich bspw. am Wohl des eigenen Volkes oder der eigenen 2 3 4 5

Bauman 2002c, 19. Vgl. zur reflexiven Moderne Beck 1986, 12–21. Vgl. Berger 1992, 26. Vgl. zu diesem wissenschaftlichen Stilmittel die Erörterungen von Max Weber zum Idealtyp: „Inhaltlich trägt diese Konstruktion den Charakter einer Utopie an sich, die durch gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen ist. Ihr Verhältnis zu den empirisch gegebenen Tatsachen des Lebens besteht lediglich darin, daß […] wir uns die Eigenart dieses Zusammenhangs an einem Idealtypus pragmatisch veranschaulichen und verständlich machen können.“ Weber 1922, 189.

Die solide Moderne

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Klasse. Solche Orientierungen konnten durch totalitäre und idealistische Überzeugungen wie den Kommunismus oder den Nationalismus hergestellt werden. Dadurch wurden eindeutige Rollenbilder produziert, was am Familienbild der soliden Moderne besonders eindrücklich zu sehen ist: Familie war als heterosexuelle und monogame Ehe normiert. Von Männern wurde erwartet, dass sie als Alleinverdiener das Familienleben finanzieren. Elisabeth Beck-Gernsheim hat komplementär dazu die familieninterne Rolle von Frauen untersucht. Als Frau war man auf die Identität einer fürsorglichen Mutter limitiert und kam im öffentlichen Leben, wenn überhaupt, dann nur im Bürgertum und als die Gattin eines öffentlich wirksamen Mannes vor. Beide Rollen waren vornehmlich von gesellschaftlichen Erwartungen her zugewiesen und, so zumindest das Urteil aus heutiger Sicht, kaum selbstbestimmt.6 Solche klaren Familienkonstellationen entsprachen der geltenden Norm und wurden als weitgehend anerkannte Institutionen7 – in diesem Fall also der stets heterosexuellen und monogamen Ehe – stabilisiert und fortgeführt. Ähnliche Lebensentwürfe dominierten die Gesellschaft und beschränkten sich keineswegs auf das Familienleben. Auch Arbeitsverhältnisse hatten einen dauerhaften und soliden Charakter, indem man als Arbeitnehmer oft bis zum Renteneintritt bei einem Arbeitgeber blieb. Sinnbild dieser stabilen, genormten und zugewiesenen Strukturen ist für Bauman die industrielle Fabrik: In einem territorial klar abgegrenzten und von Stacheldraht umzäunten Raum arbeiten in klaren Hierarchien eingebundene Menschen nach der immer gleichen arbeitsteiligen Routine an der Produktion eines gemeinsamen Ziels.8 Anhand des unbeweglichen Standorts einer Fabrik wird auch deutlich, dass das Leben früher eher lokal und in vorhersehbaren Bahnen stattfand. Man war in starke soziale Strukturen (Familie, Nachbarschaft, soziales Milieu) eingebunden und konnte in den Rollen Sicherheit finden, durch die man nach der eigenen Sozialisation geprägt war. Der Pfad der Alltagsroutine und der biografischen Gestaltung des eigenen Lebens war vorgezeichnet. Von der kollektiven Norm abweichende Verhaltensweisen oder Identitäten standen nicht oder nur unter Sanktionen zur Wahl.9 Das so gezeichnete Bild der Vergangenheit ist von Sicherheit aber eben auch von Zwang und Unfreiheit geprägt. Identität wurde im Rahmen kollektiver Gruppenschicksale verhandelt.10 In diesen Charakteristika besteht die soziologische Kontrastfolie, mit der die Gegenwart – eine immer liquider werdende Moderne – gedeutet wird.

6 7 8 9 10

Beck-Gernsheim 1983, 308–309. Vgl. zum Institutionsbegriff die Ausführungen in Teil I, Kapitel 2.2. Bauman 2000, 25. Bauman 2000, 33. Bauman 2002c, 22.

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1.2

Gesellschaft im Wandel

Die liquide Moderne

Die liquide Moderne bezeichnet für Bauman keineswegs die nahtlose Fortsetzung der nun voll und ganz vergangenen soliden Moderne. Die ehemals solide Moderne befindet sich aber in einem Prozess der Fluidisierung. Die Strukturen, Handlungsmuster und Institutionen der soliden Moderne sind damit also keineswegs passé. Sie bestehen weiterhin fort, dominieren Handlungen aber nicht mehr derart normierend, korrigierend und orientierend, wie dies zuvor noch der Fall war. Gesellschaftliche Veränderungen haben neue Voraussetzungen geschaffen, unter denen ehemals solide Institutionen nicht mehr wirkmächtig funktionieren können. Ulrich Beck spricht – und an ihn anknüpfend auch Zygmunt Bauman – für solche früher einmal starken, nun aber kaum noch wirksamen Institutionen von „Zombiekategorien“11. Sie halten Handlungs- und Denkmuster bereit, die für (immer weniger) Menschen und Situationen noch maßgeblich sein können, in ihrer gesellschaftlichen Breitenwirkung aber zunehmend irrelevant werden. Die gegenwärtige Moderne wird also von neuen Dynamiken und Strukturen geprägt. Im Folgenden werden solche dominanten Einflüsse auf unsere Gesellschaften anhand der übergeordneten Begriffe Individualisierung und Globalisierung dargestellt, wobei auch auf soziologische Theorien zurückgegriffen wird.

Individualisierung Der Begriff der Individualisierung kann in die Irre führen. Denn er suggeriert, dass die einzelnen Personen in der derzeitigen Moderne grundsätzlich selbstständiger und freier von ihren äußeren Umständen eigene Lebensmodelle entwickeln und sich dabei an ihren individuellen Entscheidungen, Möglichkeiten und Bedürfnissen orientieren. Dabei handelt es sich allerdings um ein Missverständnis, das den Individualisierungsbegriff einseitig deutet. Beck und Bauman haben dagegen immer wieder betont, dass sie von einem komplexeren Individualisierungsverständnis ausgehen, das sich nicht etwa durch mehr Wahlfreiheit auszeichnet.12 Sie legen stattdessen einen Entwurf vor, der von neuen kollektiven Zwängen, Institutionen und gesellschaftlichen Voraussetzungen ausgeht, mit denen der Einzelne zunehmend auf sich selbst gestellt umgehen muss.

11 Beck und Rutherford 2002, 202–213. und Bauman 2000, 6–8. 12 So z. B. in der Debatte um den Individualisierungsbegriff zwischen Beck, Beck-Gernsheim und Burkart. Vgl. Burkart 1993 und die Antwort darauf von Beck und Beck-Gernsheim 1993, 178–187.

Die liquide Moderne

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Individualisierung ist eine Entwicklung, die unsere Gesellschaft erfasst hat und in der die Identität von Menschen immer weniger durch Traditionen und die darin enthaltenen Wertvorstellungen bestimmt wird. Daraus folgt eine Orientierungslosigkeit, mit der sich die Einzelnen in ihrer biografischen Entwicklung auseinandersetzen müssen. Welcher sexuellen Orientierung, religiösen Überzeugung, Partnerschaft oder beruflichen Ausrichtung man nachgeht, ist also kaum noch durch traditionelle Rollen normiert, sondern Resultat einer Wahl. Diese Wahl erfolgt aber selten aus eigenen Stücken heraus. Häufiger wird sie der Einzelnen durch das Wegfallen ehemals starker Institutionen auferlegt und zugleich durch neue Institutionen determiniert. Man kann die ambivalenten Dynamiken der Individualisierung zwischen Emanzipation und Zwang gut an den drei Dimensionen Freisetzung, Entzauberung und Reintegration nachvollziehen.

Freisetzung Unter Freisetzung versteht Beck die zunehmende Unabhängigkeit der Individuen gegenüber traditionellen Werten, Institutionen und Tabus. Hierin besteht die emanzipierende Seite der Medaille „Individualisierung“. Die Einzelnen werden in ihrer Identität nicht mehr durch vorgeschriebene Rollenbilder bestimmt. Das gilt für Merkmale wie die gefühlte Generationszugehörigkeit, das eigene soziale Milieu, den Wohnort und reicht bis ins Fundament der Geschlechterrollen: „Die Menschen werden mit einer Gewalt, die sie selbst nicht begreifen und deren innerste Verkörperung sie bei aller Fremdheit, mit der sie über sie kommt, doch auch sie selbst sind, aus den Fassungen des Geschlechts, seinen ständischen Attributen und Vorgegebenheiten, herausgelöst oder doch bis ins Innerste der Seele hinein erschüttert. Das Gesetz, das über sie kommt, lautet: Ich bin ich, und dann: ich bin Frau. Ich bin ich, und dann: ich bin Mann.“13

Individualisierung erfasst die Einzelnen also im Wesen ihrer Identität und entzieht klassischen Strukturierungsmerkmalen wie in diesem Beispiel „Geschlecht“ die Plausibilität insofern, als man daraus keine identitätsbestimmenden Normen ableiten kann. Man wird nicht mehr der alleinverdienende Vater, weil man eben männlich geboren wurde. Auch wenn man diese Option noch immer ergreifen kann, so wird sie einem doch nicht mehr wie selbstverständlich auferlegt. Für Beck ist der Arbeitsmarkt ein Motor dieser Entwicklung. Denn Menschen verlassen ihre Herkunftsorte und Familien, weil sie Chancen auf dem Arbeitsmarkt ergreifen wollen. Obwohl man womöglich in Leipzig aufwuchs, zieht man 13 Beck 1986, 74.

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Gesellschaft im Wandel

für die Arbeitsstelle in ein Dorf nach Bayern. Durch eine wachsende Mobilität und neue Kommunikationsmöglichkeiten werden dabei nationale wie internationale Gebiete erschlossen. So wird Freisetzung immer häufiger möglich gemacht und setzt sich persönlich, beruflich und räumlich durch. Der technische Fortschritt verstärkt den Trend zur Mobilität und macht die Freisetzungsoptionen durch Smartphones etc. für immer mehr Menschen erschwinglich.14

Entzauberung Entzauberung bezieht sich auf den gleichen Prozess, den schon die Freisetzung beschrieben hat. Hier kommt erneut das emanzipierende Moment in den Blick, das nicht mehr tragfähig gewordene, traditionelle Rollenbilder hinterlassen, wenn sie als überkommene Rudimente der soliden Moderne zurückgelassen werden. Allerdings macht die Individualisierungsthese deutlich, dass die Freisetzung ihren Zauber schnell verlieren kann. An die Stelle alter, monokultureller Handlungsoptionen und Rollenbilder treten in der liquiden Moderne eine Vielzahl an Möglichkeiten. Heute wird man bspw. nicht mehr Dachdecker, nur weil man nun einmal in einer Familie von Dachdeckern aufgewachsen ist. Stattdessen tritt einem nun ein großer, unübersichtlicher Arbeitsmarkt mit seinen unzählbaren Möglichkeiten und Risiken entgegen. Ob die getroffene Berufswahl die richtige ist, wird immer mit einem Fragezeichen versehen bleiben, weil es ja noch eine bessere Option hätte geben können. In der Wahlmöglichkeit liegt also eine große Ungebundenheit, die sich auch als Stabilitätsverlust äußert.15 Zygmunt Bauman gibt dem Begriff der Entzauberung noch eine scharfe, gesellschaftskritische Note. Die zahlreichen neuen Optionen bringen auch neue Risiken mit sich. Wer mehr als die eine (und daher immer passende) Wahl hat, die kann auch falsch wählen. Obwohl dieses Risiko allen Mitgliedern einer individualisierten Gesellschaft auferlegt wird, trägt man doch als Einzelne die Folgen der je eigenen Entscheidung. Bauman beobachtet nun, dass eine derartige Optionsgesellschaft einen großen Bedarf an Konsummöglichkeiten sowie an attraktiven Moden und identitätsgenerierenden Gütern erzeugt.16 Dabei ist für eine individualisierte Gesellschaft bezeichnend, dass die Last des Scheiterns nicht mehr als Kollektiv bspw. einer Arbeiterklasse oder eines Milieus von bürgerlichen Kleinfamilien verarbeitet wird, sondern auf den Schultern der Einzelnen liegt. In die liquide Moderne ist so ein hoher Konkurrenzdruck ein14 Beck 1986, 210. 15 Beck 1986, 216–217. 16 Bauman 2005a, 20.

Die liquide Moderne

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gezeichnet.17 Auch wenn die Bedingungen des Wählens und Entscheidens für oder gegen bestimmte Identitätsmerkmale als übergreifende Struktur der liquiden Moderne allen auferlegt werden, so wird Erfolg bzw. Misserfolg doch als Leistung bzw. Scheitern von Individuen gewertet.18

Reintegration Bisher wurde deutlich, dass Individualisierung ein von traditionellen Institutionen emanzipierendes Moment hat (Freisetzung), aber dabei auch neue Unsicherheiten und Risiken produziert (Entzauberung). Die Dimension der Reintegration weist nun darauf hin, dass Individualisierung die einzelnen Biografien nicht etwa in einen luftleeren Raum stellt, in dem alles möglich ist und nichts reguliert wird. Ganz im Gegenteil gibt es gesellschaftsübergreifende Strukturen und Dynamiken, die neue Institutionen entstehen lassen. Wie bereits erwähnt, wird der Arbeitsmarkt als Motor der Individualisierung und damit als neue Institution der liquiden Moderne begriffen.19 Weil die erfolgreiche Teilnahme daran aber vor allem bildungsabhängig ist und Bildung durch vorgeprägte Ausbildungssysteme und Zertifikate standardisiert ist, findet Individualisierung auf einem zuvor abgesteckten Feld statt. Tagesabläufe und Bildungsinhalte werden vorgegeben. Zudem sind die Kaufentscheidungen der Individuen durch die immer gleichen Massenkonsumgüter vorgeprägt. In immer mehr Wohnungen findet man – um ein banales, aber zugleich bezeichnendes Beispiel zu nennen – immer wieder die Einrichtungsgegenstände von Ikea. Ähnliches lässt sich über die Massenmedien sagen, die auf unterschiedlichen Kanälen und Medien doch vergleichbare Wissenselemente reproduzieren und an die Einzelnen bringen.20 Individualisierung macht also nicht nur individuelle, sondern paradoxerweise zeitgleich auch standardisierte Biografien möglich: „Weil die Individuen unter strukturellen Vorgaben und Zwängen agieren, daran ihre Entscheidungen orientieren – an Wohlfahrtsstaat, Arbeitsmarkt, Bildungssystem, an Steuergesetzen, Bundesbahnfahrplänen, Verkehrsampeln – deshalb fallen die Ent17 Diesen Konkurrenzdruck erklärt Bauman am Beispiel der Realityshow Big Brother: „In Big Brother, someone must be excluded each week: not because, by some curious coincidence, regularly, every week, one person shows themselves as being inadequate, but because it has been written into the rules of ‚reality‘ as seen on TV. Exclusion is in the nature of things, an un-detachable aspect of being-in-the-world, a ‚law of nature‘ – and so to rebel against it makes no sense. The only issue worthy of being thought about – and intensely – is staying off the prospect of myself being excluded in the next round of exclusions.“ Bauman 2008, 21. 18 Vgl. Bauman 2002a, xvii und Elliott 2002, 295. 19 Beck 1984, 493. 20 Vgl. Beck 1986, 212.

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scheidungen nicht nach persönlichen Abneigungen oder Vorlieben, sondern oft in ähnlicher Richtung.“21

So wird klar, dass die liquide Moderne nicht nur aus sich beliebig orientierenden Einzelindividuen besteht, sondern auch weiterhin durch von außen vorgegebene Strukturen und Dynamiken geprägt wird. Im Unterschied zu den Strukturen der soliden Moderne vergrößern die Strukturen der liquiden Moderne jedoch viel stärker Veränderung, Beliebigkeit, zeitliche Begrenzung, Ortspolygamie und Flexibilität. Zuvor boten die vergleichsweise wenigen Optionen der Lebensgestaltung Dauerhaftigkeit und Sicherheit. Wer aus einer bildungsbürgerlichen Familie kam, absolvierte mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ein Studium und bekam voraussichtlich einen gesicherten und gut bezahlten Arbeitsplatz. Wer dagegen heute ein Studium aufnimmt, hat im Anschluss daran keineswegs die Aussicht auf einen unbefristeten und noch dazu gut bezahlten Arbeitsvertrag. Die bezeichnenderweise so genannte Generation Praktikum muss ausgesprochen flexibel sein, um den Anforderungen des Arbeitsmarkts zu genügen.22

Globalisierung Die ehemals solide Moderne wandelt sich auch durch die voranschreitende Globalisierung. Der britische Soziologe Anthony Giddens definiert Globalisierung recht allgemein als die zunehmende Überschneidung von Anwesenheit und Abwesenheit und als die Verflechtung sozialer Angelegenheiten in weit entfernten Bereichen mit lokalen Gegebenheiten.23 Damit wird sehr grundsätzlich eine zunehmende Vernetzung von geografisch und kulturell distanzierten Bereichen charakterisiert. Diese ausgesprochen konsensfähige Definition übernimmt beispielsweise auch Zygmunt Bauman, wenn er in seiner Untersuchung zu Globalisierung von „time/space compression“ spricht.24 Die Verdichtung umfasst dabei ökonomische, kulturelle und politische Bereiche. Ihre Voraussetzungen, Ausprägungen und Folgen sollen hier dargestellt werden. Dabei können die zahlreichen unterschiedlichen Theorien zur Globalisierung nur ausschnitthaft berücksichtigt werden.25 An dieser Stelle soll lediglich nachvoll21 Beck und Beck-Gernsheim 1993, 185. 22 Vgl. Scholz 2010. 23 So schreibt er: „However, in a general way, the concept of globalisation is best understood as expressing fundamental aspects of time-space distanciation. Globalisation concerns the intersection of presence and absence, the interlacing of social events and social relations ‚at distance‘ with local contextualities.“ Giddens 1997, 21–22. 24 Bauman 2009, 121. 25 Da Globalisierung ein so allgemeines und allumgreifendes Phänomen ist, kann (und wird) es auch aus vielen Perspektiven wahrgenommen. So bemerkt der Soziologe Jan Pieterse: „Thus

Die liquide Moderne

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zogen werden, dass und inwiefern Globalisierung ein Phänomen ist, das mit dem Wandel von der soliden hin zur liquiden Moderne eng verwoben ist. Der gegenwärtige Zustand weltweiter Vernetzung wird als Globalität und der fortschreitende Prozess dieser Vernetzung als Globalisierung bezeichnet. Diese auf den ersten Blick banale Unterscheidung markiert eine zentrale Pointe: Erfasst man Globalisierung allein über ihre Prozesshaftigkeit, so könnte der Eindruck entstehen, dass ihre Tendenzen und Richtungen umfassend veränderbar, ja sogar umkehrbar wären. Demgegenüber zeigt der Begriff der Globalität an, dass unsere Welt bereits zu einem hohen Maß von den Dynamiken der Globalisierung geprägt worden ist. Dadurch wird den Weltanschauungen eine Absage erteilt, die sich aller globalisierten Realität zum Trotz in eine übersichtliche und geordnete Welt flüchten – Ulrich Beck hat für solche begrenzenden Perspektiven den Begriff des „Containerdenkens“ geprägt.26 Ein Nationalismus, der von ethnischen Abgrenzungen und einem Territorialdenken begleitet wird, wäre hierfür ein Beispiel. Beck weist über die Unterscheidung zwischen fortschreitendem Prozess und bereits realisierter Globalisierung hinaus auf den Begriff des Globalismus hin. Darunter versteht er eine verengte und monokausale Betrachtung der Globalisierung unter rein ökonomischen Gesichtspunkten.27

Voraussetzungen der Globalisierung „Alles, was die Interaktion über räumliche Entfernung und Grenzen hinweg einfacher, schneller, billiger, sicherer, komfortabler und attraktiver macht, generiert einen Bedeutungsverlust räumlicher Entfernung und nationalstaatlicher Grenzen in ihren Eigenschaften als trennende Elemente oder Hindernisse.“28

Die Prozesse der Globalisierung leben davon, dass ökonomische, politische (insbesondere nationalstaatliche) oder kulturelle Grenzen ohne große Umstände überwunden werden können. Die technischen Fortschritte der vergangenen Dekaden haben dazu einen großen Teil beigetragen. Informationen gelangen über Zeitungen, Telefone, Fernsehen und Onlinemedien von einem Winkel der Welt zum anderen. Die technischen und kulturellen Voraussetzungen dazu (Alphabetisierung, Zugang zu Elektrizität, Smartphones etc.) sind zunehmend gegeben. So erreicht die Globalisierung immer mehr Menschen. Onlinemedien sind hier besonders hervorzuheben, weil sie den globalen Austausch massenin social science there are as many conceptualizations of globalization as there are disciplines.“ Pieterse 2002, 45. 26 Beck 2011, 116. 27 Vgl. Beck 1997, 5.; Beck 2011, 24–32, 187. 28 Kessler 2009, 41.

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tauglich und durch user created content individuell ermöglichen. Am Leben von Geschäftspartnern oder Freundinnen in Brasilien oder Syrien hat man durch die Sozialen Netzwerke ohne große zeitliche Diskrepanz Anteil. Die Medien und Kommunikationsformen unserer Zeit sind das zentrale Vehikel der Globalisierung.29 Zugleich muss diese Art globaler Kommunikation auch politisch ermöglicht werden. Sind Kontakte zu Personen in anderen Teilen der Welt bspw. durch Gesetze oder geschlossene Grenzen staatlich sanktioniert oder werden grenzüberschreitende Informationen zensiert, so werden die Prozesse der Globalisierung gehemmt. Selbstverständlich schränken nicht nur politische, sondern auch ökonomische und kulturelle Bedingungen den globalen Austausch ein. Wer sich kein Flugticket leisten kann oder von der eigenen familiären Rolle von internationaler Mobilität und Kommunikation abgehalten wird, hat weniger Anteil an Globalisierung. Andererseits stellen Handelsabkommen zwischen Staaten, Schüleraustausche, Containerschiffe, Botschaften, Universitäten mit internationalen Stipendienprogrammen oder weltweit agierende NGOs Strukturen bereit, die die Globalisierung bewusst verstärken. Das Maß an weltweiter Vernetzung wird zudem ganz wesentlich durch Migration bestimmt. Wann immer Menschen ihre Heimat verlassen, egal ob zeitweise oder dauerhaft, und in einer anderen Region dieser Erde leben und arbeiten, nimmt die globale space/time compression zu. Die Folgen der Globalisierungsprozesse sollen hier anhand zentraler Themen dargestellt werden. Diese Themen geben unterschiedliche Blicke auf verschiedenen Seiten des facettenreichen Phänomens frei. So lassen sich aus der jeweiligen Perspektive pointiert charakteristische Eigenheiten der Globalisierungsprozesse aufzeigen.

Standardisierung Der amerikanische Soziologe George Ritzer stellte unter dem Begriff der McDonaldization die Macht dar, mit der global agierende Konzerne die Verhaltensweisen ihrer Angestellten sowie ihrer Kunden weltweit beeinflussen. Durch standardisierende Technologien, Regeln und Strukturen werden Handlungsprinzipien forciert, die auf gesteigerte Effizienz, vorhersehbare Verhal29 „Diese Technologien [sc. online-Medien] sind alltägliche Raum- und Zeitüberbrückungsmedien. Sie vernichten Entfernungen, stellen Nähe über Distanzen her und distanzieren in der Nähe – Abwesenheit an demselben Ort. An einem Ort leben heißt nicht mehr zusammenleben, und zusammenleben heißt nicht mehr am selben Ort leben.“ Beck 2011, 130.

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tensmuster und Kontrollierbarkeit abzielen.30 Solche standardisierten Handlungsmuster haben sich ähnlich wie die Arbeit am Fließband auch im Dienstleistungssektor als profitabel erwiesen. Weltweit werden so immer mehr Bereiche nach den gleichen Prinzipien neu geordnet. Das gilt zumindest für solche gesellschaftlichen Bereiche, in denen Gewinn erwirtschaftet wird. In diesen Bereichen wird es zunehmend egal, ob man in Beirut, Paris oder New York lebt, da die Prinzipien wirtschaftlicher Standardisierung das Leben weltweit ähnlich prägen.31 Dieser Prozess der Standardisierung liegt im Rahmen der Reintegration auch der oben besprochenen Individualisierungsthese von U. Beck zugrunde.32 Konzerne – wie in Ritzers prominentem Beispiel McDonalds – forcierten Handlungsmaximen. Eine solche Gesellschaft wird individualisiert, weil ihre Teilnehmer zwischen McDonalds, Subways und deren Produkten wählen können bzw. müssen. Standardisiert wird eine solche Gesellschaft wiederum, weil Konsumgüter oder Dienstleistungen verkauft werden, die sich als effizient und deren Verkauf sich als kontrollierbar und vorhersagbar bewährt haben. Diese Güter nehmen oft nahezu identische oder zumindest vergleichbare Formen an. Diese Standardisierung als ein Phänomen der Globalisierung zu beschreiben, ist das Verdienst von Ritzer. Damit sind globale Konzerne, deren Ziel die Profitgenerierung ist, als zentrale Akteure einer unverkennbar weltweiten Dynamik ausgemacht. Allerdings wäre es falsch, diesen Prozess der Standardisierung als einen kulturellen Gleichmacher zu verstehen.

Glokalisierung Mit dem Begriff der Glokalisierung kann man das spannungsreiche Gefüge gegenwärtiger gesellschaftlicher Dynamiken zwischen globaler Individualisierung und Standardisierung näher präzisieren. Die Melange aus Lokalem und Globalem hat der Soziologe Roland Robertson in den Diskurs zur Globalisierung eingeführt.33 Er hat ihn aus der Ökonomie aufgegriffen und auf die Soziologie angewandt. Ursprünglich wurde damit die Anpassung von weltweit vermarkteten 30 Dies ist im Übrigen nicht nur ein Merkmal von globalen Wirtschaftsunternehmen, sondern stellt eine grundlegende Eigenschaft von Organisationen dar. Vgl. dazu auch aus Teil I, Kapitel 2.1. 31 Ritzer 1996. 32 Die Zusammengehörigkeit von Individualisierung und Standardisierung kommentiert auch Ritzer, indem er auf die gleichen gesellschaftlichen Dynamiken hinweist: „Among other things, it [sc. Standardisierung] fits in well with the increase in dual-career families, mobility, affluence and in a society in which the mass media play an increasingly important role.“ Ritzer 1996, 299. 33 Robertson 2002.

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Gesellschaft im Wandel

Dienstleistungen und Konsumgütern an lokale Begebenheiten bezeichnet. Ein allgemeines Produkt wird im Zuge der Globalisierung diversifiziert, wird also je nach den Besonderheiten einer Region variiert. Robertson greift dieses Konzept auf und versucht damit Globalisierung begreifbar zu machen. Er prangert an, dass Globalität bisher eine viel zu allgemeine Vorstellung ist, die hauptsächlich auf einer universalen Makroebene dargestellt wurde. Den weltweiten Realitäten wird aber die Vorstellung von Globalisierungsprozessen viel eher gerecht, die einem nicht etwa als großes Ganzes, sondern als lokal ganz unterschiedliche Strukturen, Formen und Dynamiken begegnen. Globalisierung, so Robertson, geschieht im Lokalen.34 Daraus folgt, dass Globalisierung in Verden an der Aller andere Formen annimmt, als in Cebu auf den Philippinen.35 Damit setzt Robertson dem Standardisierungsphänomen von Ritzer ein bedeutendes Konzept entgegen. Nicht alle Prinzipien, Dienstleistungen, Produkte und Kulturen werden durch globale Dynamiken standardisiert. Einem globalen, ökonomischen Rationalisierungsdruck zum Trotz ist Globalisierung immer auch als ein lokal stark variables Phänomen greifbar. Ganz anders als Robertson lädt Zygmunt Bauman den Begriff der Glokalisierung auf. Er macht damit auf ein in dieser Polarisierung noch nicht gekanntes und weltweites Machtgefälle aufmerksam. Dabei weist er auf eine neue Gegensätzlichkeit hin.36 Die mobilen Gewinnerinnen der Globalisierung verfügen über die Möglichkeiten, sich und andere weltweit zu bewegen. Sie haben die finanziellen Mittel, die politischen und sozialen Kontakte und die nötige Bildung um ihr Leben an verschiedenen Orten dieser Welt selbstbestimmt zu leben. Als Anteilseigner globaler Konzerne wählen sie sogar die Standorte von Arbeitsplätzen in Dienstleistungszentren und in Produktionsstätten aus. Solche Menschen sind durch und durch global. Bauman hat für sie das Bild der Touristen geprägt.37 34 Robertson legt sich nicht auf einen konkreten Begriff des Lokalen fest. Schließlich sei dies immer relativ zu einer über- oder untergeordneten Ortsgröße zu verstehen: „Let me also say that the idea of locality, indeed of globality, is very relative. In spatial terms a village community is of course local relative to a region of a society, while a society is local relative to a civilizational area, and so on.“ Robertson 2002, 31. 35 Das ist auch der Grund, weswegen Beck sich von einer allumfassenden Gesellschaftstheorie verabschiedet hat und im Zuge der Globalisierung die weltweiten lokalen gesellschaftlichen Besonderheiten stärker untersuchen wollte: „Wenn eine Weltordnung zusammenbricht, beginnt das Nachdenken darüber. Das gilt nicht für den heute vorherrschenden Typus der Gesellschaftstheorie, der in universalistischer Erhabenheit und schlafwandlerischer Sicherheit über den Niederungen des epochalen Wandels (Klimawandel, Finanzkrise, Krise der Demokratie und der nationalstaatlichen Institutionen) hinweg schwebt. Diese universalistische Gesellschaftstheorie, sei es nun eine strukturalistische, interaktionistische, marxistische, kritische oder Systemtheorie, ist heute antiquiert und provinziell.“ Beck und Grande 2010, 187. 36 Bauman 2009, 87–88. 37 Bauman 1998, 46.

Die liquide Moderne

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Ihnen stehen die Verlierer der Globalisierung gegenüber, die solche Mittel nicht haben und sich daher auch nicht selbstbestimmt im globalen Horizont bewegen können. Sie stecken in ihrer Lokalisierung fest oder – schlimmer noch – werden von anderen globalen Akteuren zum Ortswechsel gezwungen. Damit ist ihre Mobilität entweder nicht gegeben oder fremdbestimmt. Wegen ihrer Abhängigkeit von Mitteln und Strukturen, die andere bereitstellen, nennt Bauman sie Vagabunden.38 Mit seiner Interpretation des Begriffs der Glokalisierung zeichnet er eine neue Polarisierung in den Diskurs zur Globalisierung ein, die sich auf einer Mobilitätsskala abbildet: „Glocalization, to sum up, polarizes mobility – that ability to use time to annul the limitation of space. That ability – or disability – divides the world into the globalized and the localized.“39

Weltrisikogesellschaft Ulrich Beck greift diese Gegensätze zwischen globalen Bewegern und Bewegten auf und bereichert sie um eine weitere kritische Perspektive: Da die mobilen Beweger der Globalisierung auch an den schönen und angenehmen Orten dieser Welt leben wollen, dabei aber immerzu ihren Standort verändern können, ist ihr Wohlbefinden von den möglichen negativen Entwicklungen eines Ortes nicht betroffen. Wenn die Lebensqualität sinkt und Kriminalitätsraten unter den Bewegten der Globalisierung steigen – weil bspw. ein Opelwerk geschlossen wurde – können die Mächtigen zum nächsten Paradies reisen. Sie können lokalen Konflikten aus dem Weg gehen und tragen damit nicht die Risiken und negativen Konsequenzen globalen Handelns. Sie lassen Notlagen zurück oder lagern sie aus. Für solche „Touristen“ kann so ein Verdrängungsprinzip noch funktionieren. Aber für ganze Gesellschaften ist ein derartiger Rückzug unmöglich. Trotzdem hält Beck solche Ausgrenzungsversuche von Risiken für eine beliebte wie auch fatale Strategie von insbesondere westlichen Gesellschaften. Wenn z. B. Waffen oder Atommüll exportiert werden, dann versucht eine Gesellschaft, die Risiken ihres eigenen Konsumierens, Produzierens und Handelns abzuschieben und für einen geringeren Preis an ärmere Gesellschaften abzugeben. Diese Verdrängungsstrategie funktioniert aber in einer global vernetzten Welt nicht mehr. Die ökologischen, finanziellen aber auch militärischen und terroristischen Risiken sind zu groß und dynamisch und zugleich ist die Welt zu sehr von der „space compression“ geprägt, als dass negative Konsequenzen noch aus nationalstaatlichen Territorien ausgegrenzt werden könnten.40 38 Bauman 2009, 92. 39 Bauman 1998, 45. 40 Beck 1997, 7 und Beck 2011, 119.

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Gesellschaft im Wandel

Neben seiner Kritik an globaler Unverantwortlichkeit würdigt Beck aber auch das zunehmende Interesse globaler Akteurinnen am bedrohlichen Weltrisiko. Er macht auch ein steigendes politisches und subpolitisches Engagement aus, das sich über nationalstaatliches Containerdenken hinwegsetzt und als kosmopolitisches Handeln zur Teilhabe an globaler Zivilgesellschaft einlädt.41

Migration Bisher wurde hauptsächlich dargestellt, wie Globalisierung durch ökonomische Taktgeber, also Konzerne, deren Standortverschiebungen, Produkte und Dienstleistungen oder deren Anteilseigner, vorangebracht wird und dass es dadurch zu ökonomischen Standardisierungen, sozialen Ungleichheiten und lokalen Variationen kommen kann. Kultureller Austausch wird aber auch ganz entscheidend durch Migration geprägt. Bauman hatte hierauf bereits mit seinen Begriffen „Touristen und Vagabunden“ sowie dem Stellenwert von Mobilität in seinem Glokalisierungsverständnis hingewiesen.42 Eine aktuelle Untersuchung der Soziologen Czaika und de Haas bereichern den Diskurs um Globalisierung und Migration mit empirisch gesicherten Daten. Sie machen anhand von Erhebungen zwischen 1960 und 2000 deutlich, dass es erhebliche lokale Unterschiede in Migrationsbewegungen gibt und Migration damit also kein weltweit gleichermaßen greifbares Phänomen ist.43 Man kann vor diesem Hintergrund auch von der Glokalisierung der Migration sprechen und damit die lokale Unterschiedlichkeit globaler Migration bezeichnen. Dass Migrantinnen und Migranten aus zahlreichen unterschiedlichen Gesellschaften in ein neues Land immigrieren, ist ein aktuelles europäisches bzw. nordamerikanisches Phänomen, von dem ärmere afrikanische Staaten seltener berührt werden.44 Es gibt tendenziell mehr Herkunfts- aber zugleich weniger Ankunftsländer. Czaika und de Haas machen darauf aufmerksam, dass die Emigrationsrate eines Landes bei armen Ländern gering und bei besser entwickelten Schwellen41 Vgl. Beck und Grande 2010, 204–205 oder auch Beck 2011, 119. 42 Wobei Bauman seine kapitalismuskritische Rhetorik später noch verschärft hat, wenn er bei den mobilen und profitorientierten Reichen nicht mehr von Touristen, sondern von Jägern spricht: „Elsewhere, I suggested the metaphor of hunters as best conveying both the individual consumer’s perception of the world as a container full of the potential trophies, and their life strategies wrapped around the search for the ‚next big kill‘ and oblivious or indifferent to the dent which a successful hunt can make in the game population (and so also to the adverse effect their own good luck may have on other hunters’ chances).“ Bauman 2005a, 18. 43 Die Forscher haben Daten der Global Bilateral Migration Database untersucht, die die Weltbank veröffentlicht hat. Diese Datenbank enthält Angaben zum emigrierten Bevölkerungsanteil aus 226 Staaten zwischen 1960 und 2000. Vgl. Czaika und Haas 2014, 289. 44 Czaika und Haas 2014, 305.

Die liquide Moderne

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ländern hoch ist. Zugang zu Bildung, Kommunikationsmöglichkeiten (Internet etc.), und ein höheres Kapital ermöglichen weltweite Auswanderbewegungen. Weiterhin ist die Zahl an Migrantinnen und Migranten seit den 1960er Jahren zwar in absoluten Zahlen gestiegen, aber in relativen Zahlen zur Weltbevölkerung gesunken. Aufgrund dieser Beobachtungen beschreiben die Forscher Migration als Phänomen der Globalisierung nicht als einen einfachen quantitativen Anstieg, sondern als eine Pluralisierung an Herkunftsländern, die zudem zielgerichteter hin zu wenigen nördlichen Wohlstandsländern verläuft. Solche lokale Unterschiedlichkeit macht es dem Migrationsforscher Joaquin Arango nach auch so komplex, Gründe und Motivationen für globale Migration zu finden: „Migration is too diverse and multifaceted to be explained by a single theory.“45 Er kritisiert bisherige Migrationstheorien als unterkomplex, wenn Migrationsströme bspw. durch nationale Gehaltsunterschiede oder eine hohe Arbeitslosigkeit im Herkunftsland erklärt werden. Schließlich müssten nach solchen Erklärungsmodellen die Emigrationsströme aus Schwellenländern in Wohlstandsländer wesentlich höher sein. Außerdem reduzieren solche Ansätze Migranten auf ihre Rolle als Arbeitnehmerinnen. Auch wenn Wohlstandsunterschiede wichtige Bausteine in einem angemessenen Erklärungsmodell globaler Migration sind,46 müssen weitere Faktoren hinzugefügt werden. Für Arango stehen dabei Netzwerke zwischen Migranten im Vordergrund.47 Da ein Informationsaustausch zwischen den Migrantinnen selbst, ihren Familien in der Heimat und potenziellen anderen Migranten online möglich ist, werden Reise und Ankunft etwas sicherer. Zudem wird das Leben in einem fremden Kontext sozial von Angehörigen und Freunden intensiver begleitet. Solche Netzwerke stellen also einen wichtigen Zugang für Migrantinnen zu sozialem Kapital dar.48 Czaika, de Haas und Arango weisen darauf hin, dass Migration ein wichtiger Motor globaler Vernetzung ist. Ein Containerdenken nach ethnisch abgegrenzten Territorien und Kulturräumen – wie es einem in der Darstellung zur soliden Moderne begegnet – wird auch durch Migrationsbewegungen zunehmend unbrauchbar. Geografische Grenzen werden dadurch nicht obsolet (schließlich machen sie weiterhin politische und damit auch juristische Räume sichtbar), aber sie markieren keine eindeutigen kulturellen Grenzen mehr. Wie sich die daraus resultierende Vernetzung dann auf lokaler Ebene ausgestaltet, versuchen die nun folgenden Modelle der Hybridisierung und der Multiplen Modernen greifbar zu machen. 45 Arango 2000, 283. 46 So auch Czaika und Haas 2014, 318–319. 47 Er schreibt: „The importance of social networks for migration can hardly be overstated. It can be safely said that networks rank among the most important explanatory factors of migration.“ Arango 2000, 291. 48 Vgl. in Teil I, Kapitel 2.3 zum Begriff des Sozialkapitals.

40

1.3

Gesellschaft im Wandel

Fazit: Hybridisierung und Multiple Modernen

Die beiden gesellschaftlichen Grundtendenzen der Individualisierung und der Globalisierung strukturieren den Übergang von der soliden hin zur liquiden Moderne. Dabei handelt es sich aber keineswegs um einen linearen Prozess. Identitäten werden nicht gleichermaßen aus soliden Zuschreibungen in eine liquide Beliebigkeit überführt. Zudem kann das soziologische Narrativ einer liquider werdenden Gesellschaft keine globale Gültigkeit beanspruchen. Eine empirische Überprüfung steht ganz allgemein, aber insbesondere auch für nicht-westliche Länder aus. Möglicherweise handelt es sich bei den beschriebenen Dynamiken also um westliche Phänomene, die bspw. in manchen asiatischen Kulturräumen keine große Relevanz haben. Für nordamerikanische und europäische Kulturräume, aus denen die hier verwandten Theorien stammen, kann man sie jedoch geltend machen. Um zu verdeutlichen, dass die gesellschaftlichen Institutionen, Identitäten, Werte und Orientierungen nicht einfach nur in eine alternativreiche Liquidität aufgelöst, sondern in spannungsreichen Prozessen ausgehandelt werden, soll hier noch auf zwei bedeutende sozialwissenschaftliche Konzepte hingewiesen werden. Das Hybridmodell von Homi K. Bhabha macht für die komplexen und spannungsreichen Aushandlungsprozesse zwischen immigrierten Minderheiten und ihren Gesellschaften sensibel. Solide und liquide Rollenmuster werden dadurch als ein binärer Code entlarvt, der offener gefasst werden muss, um auch den Graustufen zwischen beiden Vorstellungen gerecht zu werden. Abschließend konkretisiert Schmuel Eisenstadts Entwurf der Multiplen Modernen, dass man den Prozess von der soliden hin zur liquiden Moderne nicht als einlinige Dynamik verallgemeinern kann. Gerade im Prozess der Glokalisierung kommt es zur Entstehung von ganz verschiedenen Prinzipien der Moderne. Unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen haben jeweils eigene Ideale von einer guten Gesellschaft, die in eigenen Traditionen verwurzelt sind und die sie mit unterschiedlichem Impetus vorantreiben wollen. Der Literaturwissenschaftler Homi K. Bhabha stellt in seiner zentralen Aufsatzsammlung „The Location of Culture“ dar, unter welchen Rahmenbedingungen und mit welchen Strategien gesellschaftliche Minderheiten ihre Identitäten in einer normierend auftretenden Mehrheitsgesellschaft aushandeln. Dabei hat er in erster Linie literarische Werke untersucht, die postkoloniale Perspektiven auf Gesellschaften eröffnen. In diesem Rahmen entwickelte er ein Verständnis hybrider Identitäten, die sich jenseits gesellschaftlicher Hierarchien bilden können.49

49 Bhabha 2012, 1–27.

Fazit: Hybridisierung und Multiple Modernen

41

Da Bhabha freilich Literatur untersucht, beziehen sich seine Beobachtungen erst vermittelt durch Prosa und Poesie auf konkrete gesellschaftliche Dynamiken. Auch wenn die bisher geführte soziologische Globalisierungsdebatte einen anderen Betrachtungsgegenstand hat – nämlich solche gesellschaftlichen Dynamiken, aus denen die von Bhabha untersuchte Literatur erst hervorgeht – sind die Impulse Bhabhas dennoch gewinnbringend für diese gesellschaftstheoretische Grundlegung. Schließlich handelt es sich bei der Auseinandersetzung um die eigene Identität in einer mehr oder weniger fremdartigen Gesellschaft um einen Konflikt, der nicht auf Kunst und Literatur begrenzt ist. Die Beschäftigung mit den Erwartungshaltungen und Rollenvorstellungen normierender nationaler Narrative ist ebenso ein Thema der liquiden Moderne. Gesellschaften produzieren häufig „imagined communities“50, die über plakative Unterschiede – also schwarz oder weiß, männlich oder weiblich, privat oder öffentlich, Mehrheit oder Minderheit, solide oder liquide – funktionieren (Bhabha spricht dabei von „a world conceived in binary terms“)51 So eine Weltsicht ist problematisch, wenn sie die Zuordnung zu, oder drastischer ausgedrückt, die Unterordnung unter solche binären Codes verlangt. Wer in solche Raster nicht hineinpasst, gefährdet durch die eigene Widerspenstigkeit die Eindeutigkeit des Zuordnungssystems. Dabei wandelt sich die eigene Identität so, dass sie in das dominierende Weltbild zu passen scheint, und zugleich wird das zugrundeliegende Weltbild verändert: „The very concepts of homogenous national cultures, the consensual or contiguous transmission of historical traditions, or ‚organic‘ ethnic communities — as the grounds of cultural comparativism — are in a profound process of redefinition.“52 In diesem Prozess kommt es oft zu Konflikten, Anpassungen und Ausgrenzungen zwischen einer dominierenden Mehrheitsgesellschaft und ihren Minderheiten. Der Ort, an dem solche Verhandlungen der eigenen Identität stattfinden können, ist ein ‚third space‘. Ausgehend von der Beschreibung einer Kunstausstellung, in der ein oberes Ausstellungszimmer weiße und ein unteres Ausstellungszimmer schwarze Kunst präsentiert, konkretisiert Bhabha den third space als das Treppenhaus, das beide Räume – also imagined communities – verbindet und verändert: „The stairwell as liminal space, in-between the designations of identity, becomes the process of symbolic interaction, the connective tissue that constructs the difference between upper and lower, black and white. The hither and thither of the stairwell, the temporal movement and passage that it allows, prevents identities at either end of it from settling into primordial polarities. This interstitial passage between fixed identi50 Bhabha 2013, 107. 51 Bhabha 2012, 21. 52 Bhabha 2013, 107.

42

Gesellschaft im Wandel

fications opens up the possibility of a cultural hybridity that entertains difference without an assumed or imposed hierarchy“53

Nach Bhabhas Hybridmodell werden von außen zugesprochene Identitäten infrage gestellt. In seinem third space, also einem literarischen Deutungsraum jenseits stereotyper Narrative, sollen die dominierenden Rollenzuschreibungen, z. B. „die deutschtürkische Putzfrau“ oder „der heterosexuelle Alleinverdiener“ ihre bestimmende Macht verlieren und neu ausgehandelt werden. Für die Globalisierungsdebatte ist dieses Modell weiterführend, weil Migration und globale Kommunikation ganz unterschiedliche lokale Rollenverständnisse und Identitäten miteinander ins Gespräch bringen. Das gilt umso mehr für Gesellschaften, die Migrantinnen aufnehmen und durch die eigenen Traditionen, Wertevorstellungen und Erwartungshaltungen solche Identitäten einfordern, die den eingewanderten Geschichten, Werten und Personen nicht gerecht werden. In konfliktreichen Prozessen werden im Austausch miteinander hybride Identitäten gebildet, die neu sind, weil sie Fremdes mit Gewohntem kombinieren. Für die Kirchentheorie ist diese Hybridvorstellung in den letzten Jahren ebenfalls bedeutsam geworden54 und auch die Zivilgesellschaft wird stark von kulturellen Aushandlungsprozessen beeinflusst.55 Ulrich Beck sieht durch solche hybride Identitäten ein nationalstaatliches Containerdenken herausgefordert: „Nationalstaatsgesellschaften erzeugen und konservieren […] quasi-essentialistische Identitäten im Alltag, deren Selbstverständlichkeit in tautologischen Begründungen zu liegen scheinen: Deutsche leben in Deutschland, Japaner in Japan, Afrikaner in Afrika. Daß es ‚schwarze Juden‘ gibt und ‚griechische Deutsche‘, um nur das kleine Einmaleins des normalen weltgesellschaftlichen Durcheinanders anklingen zu lassen, wird in diesem Horizont als Grenzfall und als Ausnahme, also als Bedrohung bewußt.“56

Das Hybridmodell Bhabhas unterstützt damit die Dimension der Freisetzung in Becks Individualisierungsthese. Nicht nur wegen eines mobiler werdenden Arbeitsmarktes, sondern auch wegen einer globaler werdenden Welt werden Menschen aus ehemals starren Identitäten freigesetzt. Indem eine Gesellschaft mit immer mehr Weltanschauungen, kulturellen Hybriden und Identitäten konfrontiert wird, verlieren auch ehemals dominante Institutionen der soliden Moderne an Plausibilität. Zu der einen Rollenvorstellung eines gelungenen Lebens treten unterschiedliche widersprüchliche, unverständliche, attraktive, tra53 Bhabha 2012, 5. 54 Den Hybridbegriff hat Hauschildt erstmals in die Debatte eingeführt. Allerdings lehnt er sich dabei nicht an Bhabhas literaturwissenschaftliches Konzept an, sondern an die Vorstellung eines Autos mit Hybridmotor. Vgl. dazu auch Teil I, Kapitel 2.1.1 und Hauschildt 2007, 152– 153. 55 Vgl. zur Zivilgesellschaft die Ausführungen von Jeffrey Alexander in Teil I, Kapitel 3.2. 56 Beck 2011, 115–116.

Fazit: Hybridisierung und Multiple Modernen

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ditionelle und neue Lebensweisen. Die Folge ist eine Gesellschaft, deren Normen, Lebensentwürfe, Werte und Institutionen zunehmend pluralistischer und liquider werden. In solchen pluralistischen Gesellschaften ist freilich auch ein Wertediskurs herausfordernder. Welche Maßstäbe, Rollenverständnisse, Normen und Werte kollektive Gültigkeit besitzen sollten, wird aufgrund der fehlenden Eindeutigkeit der liquiden Moderne immer unsicherer. Schmuel Eisenstadt hat für diese gegenwärtige Situation den Begriff der Multiplen Modernen geprägt.57 Dabei geht es ihm um das Verständnis einer Moderne, die sich eng verwoben mit religiösen und dann – ähnlich wie Baumans Vorstellung der soliden Moderne – mit nationalstaatlichen Ideen in Europa herauskristallisierte. Über Expansionsbewegungen wurden die Prinzipien der Moderne in alle Welt exportiert. Unter unterschiedlichen lokalen Traditionen und Voraussetzungen veränderten sich die Prinzipien der Moderne dann je nach örtlichen Gegebenheiten. Solche lokalen Aneignungen und Veränderungen eines ursprünglich universal geglaubten Prinzips wurden bereits unter dem Begriff der Glokalisierung verhandelt.58 So liegen heute ganz verschiedene, also multiple, Modernen vor. Durch die Prozesse der Globalisierung aber auch der Individualisierung (Eisenstadt spricht von einer „great variety of roles beyond any fixed or ascriptive ones“59) eignen sich unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen unterschiedliche Prinzipien, Utopien und Ideale der Moderne an.60 Daraus resultiert ein komplexes Mit-, Neben- und Gegeneinander multipler Modernen, in denen die Gewissheit eines Weltbildes aus einem Guss abhandengekommen ist. Die nun umso dringlicher werdenden gesellschaftlichen Diskurse lassen sich mit Eisenstadt bisweilen auch als konfliktreiche Auseinandersetzung beschreiben: „Wenn sich solche Auseinandersetzungen mit politischen, militärischen oder ökonomischen Kämpfen und Konflikten verknüpfen, können sie sehr gewalttätig werden.“61 Mit Eisenstadts Ansatz wird deutlich, dass man in einer globalisierten und individualisierten Gesellschaft nicht einfach voraussetzen kann, dass die gesellschaftlichen Akteurinnen tendenziell weniger solide und zugleich eher liquide Voraussetzungen teilen. Je nach Sozialisation, Gruppenzugehörigkeit und Identität lebt man bspw. keineswegs ortspolygam und freigesetzt von traditionellen Rollenzuschreibungen. Traditionelle, neue und hybride Orientierungen müssen immer häufiger ausgehandelt werden, wenn z. B. zwei konservative Rollenvorstellungen aus deutschen und libanesischen Traditionen aufeinandertreffen. 57 58 59 60 61

Vgl. Eisenstadt 2002 oder auch Eisenstadt 2006. Siehe Teil I, Kapitel 1.2. Eisenstadt 2002, 30. Eisenstadt 2006, 46–47. Eisenstadt 2006, 59.

44

Gesellschaft im Wandel

Zuletzt sei hier noch darauf hingewiesen, dass die Fokussierung auf Bauman, Beck und ähnliche Entwürfe eine gewisse gesellschaftstheoretische Weichenstellung bedeutet. Indem ich mich stark an diese Modelle anlehne, gerät in dieser Arbeit das einflussreiche gesellschaftstheoretische System von Niklas Luhmann aus dem Blick. Auch wenn man bei Beck und Bauman eher zwischen den Zeilen lesen kann, dass sie der Entwurf Luhmanns wenig interessiert,62 führt in der Kirchentheorie kein Weg an Luhmann vorbei. Daher bietet sich im Folgenden ein kurzer Exkurs zur Luhmann-Rezeption in der Kirchengeschichte an.

1.4

Exkurs: Luhmann in der Kirchentheorie

Die gegenwärtige Kirchentheorie verdankt zahlreiche ihrer zentralen Einsichten der Systhemtheorie von Niklas Luhmann. Dennoch lehnt sich diese Arbeit nicht schwerpunktmäßig an die Systemtheorie von Luhmann an. Sie fußt stärker auf den soziologischen Einsichten zur liquiden Moderne von Ulrich Beck und Zygmunt Bauman. Deren Vorstellung einer liquider werdenden Moderne sind mit den Beobachtungen Luhmanns nur schwer zu harmonisieren. Daher empfiehlt sich eine Weichenstellung, die entweder auf den einen oder aber auf den anderen Ansatz zurückgreift. Die Wahl dieser Arbeit fällt zugunsten von Bauman und Beck aus. Das liegt unter anderem daran, dass der kritische soziologische Blick von Bauman und Beck in der Kirchentheorie bisher vernachlässigt wurde. Obwohl dadurch, wie in dieser Arbeit immer wieder gezeigt wird, neue und spannende kirchentheoretische Erkenntnisse gewonnen werden können. Trotz dieser grundsätzlichen Entscheidung führt in der Kirchentheorie an Luhmann kein Weg vorbei. Dazu war er in der Kirchentheorie zu einflussreich. Daher folgt an dieser Stelle ein freilich unvollständig bleibender Überblick über die Rezeption Luhmanns in der Kirchentheorie. Grundsätzlich geht Luhmanns Systemtheorie davon aus, dass unsere moderne Gesellschaft nicht mehr hierarchisch strukturiert ist. So regiert nicht etwa ein monarchisch aufgebauter Staatsapparat in alle Teile gesellschaftlichen Lebens von oben herein. Stattdessen haben sich in der Gesamtgesellschaft verschiedene soziale Systeme herauskristallisiert, die sich, durch immer wieder aufeinander aufbauende Kommunikation eine eigene (Organisations-)Struktur geben. In diesen Teilsystemen werden sprachliche Codes verwendet und ausgebaut. Deren Aufgabe ist es, immer wiederkehrende Kommunikations- und Handlungsprozesse zu vereinfachen. Sie reduzieren also Komplexität. Zugleich kann ein System 62 Beck kritisiert Luhmanns funktionale Differenzierung eher beiläufig als unangemessen, um der Komplexität unserer Moderne angemessen zu begegnen. Vgl. Beck 2011, 179–181.

Exkurs: Luhmann in der Kirchentheorie

45

auf dieser Basis funktional noch zugespitzter handeln und sich auf die Herausforderungen ihrer gesellschaftlichen Teilbereiche angemessen spezialisieren.63 Für die einzelnen gesellschaftlichen Teilbereiche, etwa das Recht, die Politik, die Wissenschaft oder die Wirtschaft hat das positive Folgen: Innerhalb eines gesellschaftlichen Teilbereiches kann man die Codes, die dort vorherrschen, verstehen, anwenden und weiterentwickeln. Allerdings kommt es so zu einer Versäulung der einzelnen gesellschaftlichen Teilbereiche. Sie sind ab einem bestimmten Grad an funktionaler Differenzierung derart auf ihre jeweiligen gesellschaftlichen Funktionen spezialisiert, dass sie kaum noch mit anderen Teilbereichen kommunizieren können. Stattdessen verbleiben die einzelnen gesellschaftlichen Teilbereiche in einem Modus, in dem sie einander mehr beobachten, als dass sie miteinander interagieren.64 Aus diesen Beobachtungen erfolgt dann, dass Differenzen zwischen dem eigenen gesellschaftlichen Teilsystem und anderen Teilsystemen festgestellt werden. Das erleichtert wiederum die Grenzziehung zwischen dem eigenen sozialen System und anderen gesellschaftlichen Teilbereichen. Innerhalb einzelner Teilbereiche können sich Organisationen entwickeln und profilieren.65 In seinem Werk „Funktion der Religion“66 hat Luhmann diese Systemtheorie auf das gesellschaftliche Teilsystem der Religion angewandt und erläutert, inwiefern „Kirche als Organisation begriffen werden kann.“67 Kirche ist demnach nicht organisationsförmig aufgestellt, weil sie über hierarchisch geordnete Ämter oder andere eher äußerliche Merkmale von Organisationen verfügt. Sie Ist eine Organisation, weil sie „Kommunikationsprozesse als Entscheidungen zu erfassen sucht.“68 Kirchliches Personal (unabhängig davon, ob es ehrenamtlich oder hauptamtlich wirkt) bezieht sich in ihrer Kommunikation ins Kircheninnere bzw. nach Außen auf Vorangegangene Entscheidungen. „Dadurch erzeugen sie im System eine rückwärtslaufende Entscheidungsgeschichte, die ihrerseits auf Aktualitätspunkte bezogen und mit ihnen geändert wird.“69 Für Luhmanns Organisationsbegriff ist es wichtig, dass sowohl die Mitgliedschaft in einer Organisation als auch die in ihr kommunizierten Programme70 von solchen organisationsinternen Entscheidungen abhängig sind.71 So entsteht dann ein System, das „selbstreferentiell“72 ausgerichtet ist. Allerdings haben Kirchen als Organi63 64 65 66 67 68 69 70 71 72

Vgl. auch Luhmann 1972, 246. So beschreibt auch Beck die Systemtheorie Luhmanns. Vgl. Beck 2011, 179–181. Vgl. König 2012, 27–54. Luhmann 2004. Luhmann 2004, 280. Luhmann 2004, 284. Luhmann 2004, 284–285. Luhmann 1972, 2–283. Luhmann 1972, 247. Luhmann 2004, 286.

46

Gesellschaft im Wandel

sation ein Problem. Denn es gelingt ihnen nicht, all ihre Mitglieder gemäß der organisationsinternen Entscheidungen zu prägen. Dafür folgt die Mitgliedschaft in Kirchen auf individueller Ebene einer oftmals zu diffusen Eigenlogik.73 Luhmann differenziert für die Kirche daher zwischen drei verschiedenen Arten der Mitgliedschaft: Es gibt Mitglieder, die lediglich Kirchensteuer zahlen, aber ansonsten kaum mit kirchlichen Funktionären in Beziehung stehen, es gibt aktive, dem kirchlichen Programm zustimmende Mitglieder, die das kirchliche Leben vor Ort mitgestalten „und den Amtsträgern das Gefühl [geben], nicht ins Leere zu wirken“ und dann gibt es noch das von der Kirche bezahlte Personal.74 Luhmann bewertet diese Beobachtung eher sachlich als „Unbestimmtheit der Mitgliedsanforderungen“.75 Andererseits führt er zuvor das durchaus wertende Bild einer „Artischocke“ ein, wonach die inneren Blätter, also die aktiveren Mitglieder, „feiner, reichhaltiger und wohlschmeckender“ seien.76 Wie für fast alle funktional differenzierten Teilsysteme der Gesellschaft gilt auch für die Religion und damit die Kirche, dass sich einige Dinge dem organisierbaren entziehen.77 Hier wurde dies am Beispiel der teilweise recht distanzierten Kirchenmitglieder und deren Glauben bzw. Verhalten deutlich. Luhmann macht dabei darauf aufmerksam, dass einfache Interaktionen (z. B. seelsorgerliche Gespräche oder die Arbeit mit Konfirmanden) nie voll und ganz organisiert werden können, sondern durch Persönlichkeit und Situation der Teilnehmenden geprägt und dem organisierbaren so entzogen sind.78 Luhmanns systemtheoretische Analyse von Religion und Kirche waren und sind für den kirchentheoretischen Diskurs einflussreich. Schon Reiner Preul griff in seiner 1997 erschienen Kirchentheorie auf diese Grundeinsichten Luhmanns mit dem Urteil zurück, dass sie für die Beschreibung der Kirche als Organisation „hervorragend geeignet ist“.79 Preul integrierte die Vorstellungen, Möglichkeiten und Grenzen der von Luhmann beschriebenen Organisation Kirche in seinen Begriff von Kirche. Demnach ist Kirche eine Bildungsinstitution,80 die unverkennbar auch organisationale Züge trägt. Preul sieht die Aufgabe der Organisation Kirche darin, „daß [sich] das kirchliche Leben selber auf allen Ebenen entfalten kann […] [als] im Geist des Evangeliums geschehen Handlungen der Einzelnen je an ihrem Ort. In der Gemeinde und ihren 73 74 75 76 77 78

Luhmann 2004, 294–298. Vgl. auch Luhmann 1972, 258–259. Luhmann 2004, 300. Vgl. Luhmann 2004, 301. Luhmann 2004, 299. Vgl. Luhmann 1972, 245. Luhmann 1972, 274–275 Luhmann spricht hierbei auch zugespitzt von der „Steuerungsunfähigkeit“ und „undurchsichtigen Brems- und Umschaltprozessen“. 79 Preul 1997, 212. 80 S. u. Teil I, Kapitel 2.2.1 Kirche als Institution.

Exkurs: Luhmann in der Kirchentheorie

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Gruppen, in der Familie und in der Gesellschaft.“81 Vor diesem Hintergrund bewertet Preul dann auch die Mitgliedschaftspraxis der Kirche mit Luhmanns Artischockenvergleich: Die aktiven Mitglieder sind ihm wertvoller als die distanzierten Kirchenmitglieder.82 Preul legt in sein Urteil allerdings mehr inhaltliches und emotionales Gewicht als Luhmann und geht so weit, den inhaltlich nicht überzeugten Mitgliedern den Austritt aus der Kirche anzuempfehlen. Luhmann beschreibt dies etwas nüchterner, wenn er festhält, dass Mitglieder, die kirchendistanziert sind „ohne Folgen zu spüren“ auch nicht bestärkt werden, den Kontakt zur Kirche abermals aufzusuchen.83 Luhmanns Systemtheorie prägt Preuls Kirchentheorie vor allem in solchen organisationalen Einzelphänomenen. In seinem allgemeinen Blick auf die Gesellschaft greift Preul hingegen nicht allein auf Luhmann zurück, sondern rekurriert auf die soziologischen Debatten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So trägt Preul dann nicht nur das Denk- und Sprachspiel Luhmanns in seine Kirchentheorie ein, wenn er bspw. über Kirche als ein System der Kommunikation reflektiert,84 sondern er orientiert sich gleichermaßen an weiteren Referenztheorien wie etwa Schelskys Institutionsverständnis.85 Da aber Luhmanns Systemtheorie den Organisationsbegriff ausgesprochen stark geprägt hat und die Kirchentheorie in den 2000er Jahren gerade auf die Organisationswerdung der Kirche einen Fokus legte, setzte sich insbesondere Luhmann als bleibender soziologischer Einfluss in der Kirchentheorie durch. Dieser Umstand wird in Holger Ludwigs kirchentheoretischer Arbeit gut beschrieben. Ludwig zeigt, wie tiefgreifend der Organisationsbegriff, der in der Kirchentheorie Einzug hielt, durch Luhmanns Vorarbeit geprägt ist: „Die Betrachtung der Kirche als organisiertes soziales System im Sinne von LUHMANNs Systemtheorie hatte […] zur Entdeckung der Mitglieder als Gegenstand kirchensoziologischen Interesses beigetragen und andererseits es erst ermöglicht, das Problem von Kontingenz – hier bezogen auf den Zusammenhang von Mitgliedschaft, Struktur und Ziel – im kirchlichen Zusammenhang überhaupt wahrzunehmen. […] Gegenwärtig hat sich eine Beschreibung der Kirche als Organisation insofern durchgesetzt, in dem Mitgliederpflege mit dem Ziel des Erhalts und der Erhöhung der Mitgliedschaft für das künftige kirchliche Handeln vielfach leitend wurde […].“86

Gerade die Reformbemühungen etwa um das Reformpapier „Kirche der Freiheit“87 haben versucht, die Organisationswerdung der Kirche voranzutreiben. 81 82 83 84 85 86 87

Preul 1997, 211. Preul 1997, 208. Vgl. Preul 1997, 206–209; Luhmann 2004, 301. Preul 1997, 153–177. Preul 1997, 128–139. Ludwig 2010, 179–180. Rat der EKD 2006.

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Gesellschaft im Wandel

Auch wenn dieser Eifer durch zahlreiche oft auch berechtigte Kritik durch die Kirchentheorie mittlerweile verflogen ist88 und der Fokus der Debatte mittlerweile auf anderen Ebenen der Kirchentheorie ruht, ist der Einfluss von Luhmann noch immer in der Kirchentheorie greifbar. So nimmt auch Isolde Karle die Systemtheorie in ihr Kirchenverständnis auf. Sie sieht die Kirche als eine sich immer stärker funktional ausdifferenzierende Organisation, die sich zugleich aus anderen gesellschaftlichen Teilbereichen zurückzieht: „Durch die Zentralisierung werden sowohl Themen als auch Personen aus den Ortsgemeinden abgezogen. Dies bedeutet eine Aushöhlung und Relativierung der ‚ganz normalen‘ Gemeinden und Gemeindepfarrstellen vor Ort […].“89 Diese Tendenz prangert sie allerdings an und stellt dem ein von ihr als Ideal dargestelltes Kirchenverständnis gegenüber. Dabei legt sie einen Fokus auf Kirche als Interaktion. Diese findet nach Karle weniger in organisationalen Zentren statt, die von der Basis abgekoppelt sind. Interaktion zwischen Menschen findet ihrer Meinung nach auf lokaler Ebene in den und um die parochialen Kirchengemeinden herum statt. Hier ist Kirche nicht funktional sondern segmentär differenziert. Das bedeutet, dass die Kirchengemeinden in toto über parallele oder wenigstens ähnliche Strukturen verfügen. Auch wenn Karle unterstreicht, dass es nicht in allen Parochien gleich aussieht und zugeht und es durchaus unterschiedliche Schwerpunktsetzungen gibt,90 überwiegen in ihrer Beschreibung dann doch die Ähnlichkeiten zwischen den Parochien: „Jede Kirchengemeinde ist so ähnlich wie eine andere, weil Kirche segmentär differenziert ist: ein Segment, eine Pfarrgemeinde existiert neben der anderen. Diese Struktur begrenzt die Möglichkeiten von Arbeitsteilung und Spezialisierung. Denn jedes Segment, ‚[ j]ede Einzelgemeinde ist Kirche so gut wie jede andere.‘“91

Der Vorteil einer segmentär strukturierten Kirche ist, dass ihre Segmente überall in der Gesellschaft anzutreffen und vor allem ansprechbar sind. In der Kirche fänden sich sodann auch „Menschen aller Berufsgruppen und Milieus.“92 Karle greift in ihrer segmentär differenzierten Beschreibung der Kirche also auf Luhmann zurück. Allerdings problematisiert sie den kirchlichen Hang zur Organisationsförmigkeit und zur funktionalen Differenzierung, der sich bei einer zu einfachen Übertragung von Luhmanns Systemtheorie auf die Kirche ergibt. Freilich ist die Beschränkung der organisationslogischen Perspektive 88 Vgl. etwa den einflussreichen Aufsatz von Hauschildt zur Hybridartigkeit der Kirche: Hauschildt 2007. 89 Karle 2008a, 243–244. 90 Vgl. Karle 2010c, 469. 91 Karle 2008a, 245. 92 Karle 2010c, 472.

Exkurs: Luhmann in der Kirchentheorie

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bereits in Luhmanns Denken integriert, der darauf aufmerksam macht, dass längst nicht alles durch Organisationen lenkbar ist und dass sich Bereiche wie die Interaktion vor Ort dem Organisierbaren entziehen. Diese Kritik, die bei Karle als Kritik an der zentralisierenden Kirchenleitung zugespitzt formuliert wird, erfährt dann bei Hermelink eine ausgewogene Integration in die Kirchentheorie. Die Leistungen des Luhmann’schen Organisationsbegriffs kommen sodann auch in Jan Hermelinks Kirchentheorie prominent zu Tragen. Sein Blick auf unsere moderne Gesellschaft erfolgt durch die Brille Luhmanns: „Im Unterschied zu vormodernen Gesellschaften, die – etwa durch rigide Exklusion, innere Schichtung und allgemein verbindliche religiös-politische Normen – vergleichsweise klar geordnet erscheinen, sind solche einheitlichen Ordnungsprinzipien in der modernen Gesellschaft nicht mehr auszumachen; sie erscheint als ein Nebeneinander von Handlungsbereichen, biographischen Mustern und allgemeinen Überzeugungen, die nach je eigenen Regeln und Funktionslogiken prozedieren.“93

Dieser allgemeine Blick auf die Moderne liefert Hermelink auch die weitergehende Perspektive auf die Kirchentheorie.94 So basiert dann auch der für Hermelink ausgesprochen zentrale Organisationsbegriff auf den Kriterien, die Luhmann bereitgestellt hat. Organisationen sind für Hermelink etwa als solche erkennbar, weil sie sich durch Entscheidungen herausbilden.95 Sie prägen eine eigene Mitgliedschaftslogik aus. Hier unterscheidet sich übrigens die LuhmannRezeption Hermelinks von Preuls Umgang mit Luhmann. Preul bewertet die kirchlichen Mitgliedschaftslogiken, während Hermelink Luhmann eher zur Beschreibung dieser Mitgliedschaftslogiken nutzt: „Artikuliert sich die religiöse Praxis von Pfarrpersonen, kirchlichen Angestellten sowie von engagierten Gemeindegliedern als entschiedene Zugehörigkeit, so können andere Mitglieder diese organisatorisch-formale Kommunikation beobachten, gelegentlich auf sie zurückgreifen und zugleich zu einem anderen Verständnis ihrer Zugehörigkeit gelangen: Erst im Gegenüber zur entschiedenen Mitgliedschaft wird die Distanz zur Kirche sich ihrer eigenen, eben nicht auf Entscheidung beruhenden religiösen Überzeugungen bewusst.“96

Hermelink urteilt im Rückgriff auf die Systemtheorie also nicht über das Engagement von Kirchenmitgliedern als kirchlich mehr oder weniger angemessen. Stattdessen zeigt er nüchtern die Leistungen von besonders engagierten Mitgliedern der Kirche für die distanzierteren Kirchenmitglieder auf. Deren Engagement kann von weniger Engagierten beobachtet werden, was dann bei den

93 94 95 96

Hermelink 2011, 83–84. Vgl. etwa Hermelink 2011, 86. Hermelink 2011, 92. Hermelink 2011, 99–100.

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Gesellschaft im Wandel

Grenzziehungen der eigenen nun im Vergleich als „weniger kirchlich engagiert“ markierten religiösen Identität verhilft. Gerhard Wegner und Jan Hermelink haben 2008 den Sammelband „Paradoxien kirchlicher Organisation“97 zum Einfluss von Luhmann auf die Reform der Kirche herausgegeben. Wegner nimmt hier die Einschränkung von Luhmanns Organisationsbegriff für die Kirchentheorie bereits vorweg, allerdings fehlt hier noch eine konkrete Kirchentheoretische Ausarbeitung, die Hermelink dann wenige Jahre später nachgereicht hat. Wegner beschreibt Luhmanns organisationslogische Sichtweise auf die Kirche einerseits als „ausgesprochen hilfreich.“98 Die Kirche lässt sich mit Hilfe von Luhmann, wie bei Preul, Karle und Hermelink gezeigt, durchaus adäquat beschreiben. Andererseits schränkt Wegner dieses Urteil sogleich ein. Luhmann habe das „eigene Raffinement“ der Kirche „nicht wirklich in den Blick bekommen.“99 Denn das zentrale Wesen der Kirche, dass sie nämlich damit rechnet, sich von „ihrem Herrn überraschen“100 zu lassen, lässt sich eben nicht organisieren: „Das Problem der Kirche ist es so gesehen gerade nicht, sich, wie Luhmann es 1972 darstellt, jedweder Kontingenz bzw. Unsicherheit zu verschließen und die Zukunft entschlossen aus eigener Kraft zu bewältigen, sondern genau das Gegenteil. Es geht der Kirche darum, […] ein Fenster für das kontingente – und bisweilen auch verunsichernde – Handeln Gottes offen zu halten – und insofern die Zukunft gerade nicht in den Griff bekommen zu wollen.“101

Diese bedeutsame Einschränkung in der kirchentheoretischen Luhmann-Rezeption gilt mittlerweile als Konsens. Sie wurde in dem Titel von Hermelinks Kirchentheorie „Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens“ prominent in das Zentrum kirchentheoretischer Reflexion gesetzt: „Im Ganzen hat die praktisch-theologische Kirchentheorie die evangelische Kirche daher als eine Organisation zu beschreiben, die den christlichen Glauben gerade darin zur Wirkung und zum Ausdruck bringt, dass sie sich offen hält für die Manifestationen des Glaubens jenseits der Organisation.“102

Diese Einsicht zur organisationslogischen Debatte ist in der Kirchentheorie noch immer der Stand der Dinge. Dahinter verbirgt sich keine Zurückweisung von Luhmanns Systemtheorie oder seines Organisationsbegriffes. Es handelt sich lediglich um die sachgemäße Übertragung von Luhmanns Organisationsbegriff auf die Kirche. Auch wenn derzeit andere kirchentheoretische Ebenen im Fokus 97 98 99 100 101 102

Hermelink und Wegner 2008. Wegner 2008, 330. Wegner 2008, 331. Wegner 2008, 332. Wegner 2008, 297. Hermelink 2011, 28.

Exkurs: Luhmann in der Kirchentheorie

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der Debatte stehen, etwa die Frage, inwiefern die Kirche als ein interaktionales Netzwerk zu verstehen ist,103 nimmt die Luhmann-Rezeption daran keinen Schaden. Sie wird nun lediglich um weitere Referenztheorien bereichert, die ebenfalls in der Kirchentheorie reflektiert werden müssen. Nur so kann der Frage angemessen und auf wissenschaftlich aktuellem Stand nachgegangen werden, was die Kirche in ihrem gegenwärtigen Wesen eigentlich ausmacht. Luhmann und seine Systemtheorie haben der Kirchentheorie also insbesondere in Form des Organisationsbegriffs zu einer angemessenen Beschreibung der Kirche verholfen. Allerdings bleibt der alleinige Rückgriff auf Luhmann doch defizitär. Viele Dimensionen von dem, was Kirche ist und wird, bleiben auch in Luhmann’scher Perspektive noch unscharf. Umso wichtiger ist die Auseinandersetzung mit weiteren soziologischen Perspektiven. Daher ist dann auch die Konzentration auf Zygmunt Bauman und Ulrich Beck in dieser Arbeit keine Zurückweisung der Systemtheorie. Es handelt sich lediglich um eine Fokussetzung, die auf die Kirchentheorie erfrischend wirken kann, da sie zu neuen Erkenntnissen verhilft.

103 Vgl. zur Netzwerkdebatte etwa den ebenfalls stark an Luhmanns Systemtheorie angelehnten Kirchenbegriff von Holger Böckel. Böckel 2016.

2.

Kirche

Es ist das zentrale Vorhaben dieser Arbeit, die Merkmale, Besonderheiten und Herausforderungen der Kirche unter zivilgesellschaftlichen Gesichtspunkten zu erfassen. Bevor diesem Anliegen nachgegangen werden kann, braucht es eine grundsätzliche und sachgemäße Vorstellung davon, was Kirche ist. Dazu gibt es in der gegenwärtigen Praktischen Theologie verschiedene kirchentheoretische Konzepte. Im Folgenden werden diese Konzepte so miteinander ins Gespräch gebracht, dass die Anknüpfungspunkte zur Zivilgesellschaft deutlich hervortreten werden. Hierin greife ich auf die grundlegende Struktur zurück, die Jan Hermelink in seiner Kirchentheorie anbietet.1 Er unterscheidet zwischen vier Perspektiven, anhand derer man Kirche erfassen kann: Kirche als Organisation, als Institution, als Interaktion und als Inszenierung. Die Ebenen geben dieser Arbeit eine grundlegende Struktur. Dabei stehen sie keineswegs unvermittelt nebeneinander. Schon in der Reihenfolge der einzelnen Perspektiven, die im Folgenden besprochen werden, wird eine programmatische These Hermelins spürbar: Kirche lässt sich in der Gegenwart als Organisation begreifen. Damit wendet sich Hermelink2 von einem lange dominierenden Verständnis der Kirche ab, das zuerst bei der Institutionsartigkeit der Kirche ansetzt. Auch wenn Hermelink einer organisationalen Perspektive auf die Kirche besondere Relevanz zuspricht, sind die anderen Perspektiven ebenso tragende Pfeiler gegenwärtiger Kirchentheorie. Sie bringen mit ihrer je eigenen Perspektive ein ausgewogenes Gesamtverständnis von Kirche mit sich und ergänzen sich in einem spannungsvollen Ineinander: „Auf diesem Hintergrund wird schließlich der Vorschlag begründet, die evangelische Kirche der Gegenwart als eine Organisation zur öffentlichen Inszenierung des Glaubens zu begreifen, die das gesellschaftlich vorgegebene Verständnis von Glauben und Kirche

1 Hermelink 2011. 2 Ebenso wie auch Ludwig, Lindner, Hauschildt, Pohl-Patalong und andere praktische Theologinnen.

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Kirche

(»Institution«) ebenso aufnimmt wie deren konkrete gemeinschaftliche Praxis (»Interaktion«).“3

Im Lauf dieses Kapitels wird deutlich werden, dass eine sachgemäße Gewichtung der kirchlich-organisationalen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten durchaus folgenreich ist. Nicht zuletzt wirkt sich eine angemessene Kirchentheorie auf die Einschätzung der Kirche als zivilgesellschaftliche Akteurin aus. Die Kategorien, die Hermelink bereitstellt, geben nicht nur diesem Kapitel, sondern auch den nachfolgenden zivilgesellschaftlichen Aktualisierungen der Kirchentheorie eine grundlegende Struktur. Dabei werden jedoch Diskurse und Konzepte miteinander ins Gespräch gebracht, die über Hermelinks Darstellung hinausreichen. Hermelink stellt also ein pointiertes Konzept bereit, mit dessen Hilfe andere kirchentheoretische Konzepte erfasst, strukturiert und analysiert werden. Das in diesem Kapitel gewonnene Verständnis von Kirche soll durch ein abschließendes Gespräch mit den dargestellten gesellschaftstheoretischen Dynamiken noch einmal pointiert herausgefordert werden: Inwiefern reagiert die Kirche auf den Wandel von einer soliden hin zu einer liquiden Moderne? Die Frage ist hier von Bedeutung, weil Kirche immer auch von grundlegenden gesellschaftlichen Einflüssen mitbestimmt wird. Ein zeitgemäßes Verständnis von Kirche sollte solche gegenwärtigen gesellschaftlichen Dynamiken aufnehmen und Kirche darin verorten. Für die Aufgabenstellung dieser Arbeit ist das ausgesprochen relevant, da auch die Zivilgesellschaft auf die entsprechenden Einflüsse reagiert.

2.1

Organisation

Eine seit den 1990ern bedeutsame Perspektive auf das Wesen der Kirche macht sich einen organisationslogischen Blick zu eigen. Hier wird nach den Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten gefragt, die die Kirche in der Gegenwart hat. Dass diese Perspektive aber nicht nur neue Möglichkeiten in die Kirchentheorie einträgt, sondern auch Herausforderungen und Probleme, macht der folgende Überblick über den derzeitigen Diskurs deutlich. Dabei rückt die Frage in den Vordergrund, wo die Grenzen des kirchlich Machbaren liegen und welche Bereiche den Entscheidungsstrukturen entzogen bleiben. In der Soziologie wird ein freiwillig gegründetes soziales Gebilde als Organisation bezeichnet, das bestimmte Zwecke anstrebt, in dem Handlungen und Entscheidungen koordiniert werden.4 Eine Feuerwehr ist bspw. eine Organisation, die 3 Hermelink 2011, 89. 4 Vgl. Nassehi 2008, 81–98 und Gukenbiehl 2006.

Organisation

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gegründet wurde, um Brände zu löschen. Dabei ist eine bestimmte Organisationsstruktur förderlich. Aufgabenbereiche und Verantwortungen sind in einer formalen Hierarchie so angeordnet, dass die Ziele der Organisation möglichst effizient und rational umgesetzt werden können. So gibt es in einer Feuerwehr Personen, die Notrufe entgegennehmen und weiterleiten, Einsatzkräfte, die koordiniert werden, und Führungskräfte, die nach Bedarf Personal einstellen, fortbilden lassen oder entlassen. Organisationen verfügen also über Mitglieder, die nach einer sachdienlichen Struktur an den jeweiligen Zielen mitwirken. Daher werden an die Mitglieder bestimmte Erwartungen herangetragen, die deren Verhalten prägen. Auf diese Weise bilden Organisationen Verhaltensmuster, also Rollen, aus, die die Umsetzung von Entscheidungen und Handlungen vorausschaubar und dauerhaft machen. Die Abläufe nach einem Notruf sind z. B. eingeübt und weitestgehend vorhersehbar, weil die Mitglieder der Feuerwehr sich entsprechend verhalten. Eine zentrale Leistung von Organisationen ist es, die Umsetzung ihrer Ziele von unmittelbaren Absprachen anwesender Einzelpersonen unabhängig zu machen. Die Feuerwehrleute müssen sich nicht erst treffen und besprechen, wer heute welchen Brandherd wie kontrolliert. Die Koordination all dessen findet bereits durch vorangegangene Entscheidungen (z. B. die etablierte Aufgabenverteilung im Team) sowie durch die Übersicht einer höheren organisatorischen Ebene statt. Eine solche Übertragung von Zuständigkeiten gewährleistet die Umsetzung der Ziele, ohne dass dazu die Anwesenheit aller Mitglieder nötig wäre. Organisationen machen also Abwesenheit möglich. Die Ausbildung von effizienten Hierarchien, Entscheidungskompetenzen und Arbeitsbereichen ermöglicht aber nicht nur personale Abwesenheit, sondern im schlechtesten Fall auch die Abwesenheit von selbstständiger Reflexion und Verantwortung auf den unteren oder ausführenden Ebenen einer Organisation. Dann zählt allein, dass – und nicht mehr, was – organisiert wird. Der Soziologe Armin Nassehi treibt dieses Risiko von Organisationen mit dem schockierenden Beispiel der deutschen Reichsbahn in den 1940ern auf die Spitze, die „den Massentransport in die Sommerfrische organisiert oder den Transport in die Vernichtungslager.“5 Neben den formalen Eigenschaften, die sich in Organigrammen und Satzungen ablesen lassen, werden Organisationen aber auch durch informelle Dynamiken geprägt. Das interaktionale Netzwerk, das eine Organisation durchzieht, kann genutzt werden, um Problemen fernab von standardisierten Regelfällen zu begegnen.6 So werden Schichtpläne umgestellt, Positionen neu besetzt 5 Nassehi 2008, 96. 6 Der vielschichtige Netzwerkbegriff des Theologen Holger Böckel zielt stark auf solche interund intraorganisationalen Netzwerke und deren Kontakte zu organisationsfremden Akteuren

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oder Gelder vergeben, weil man sich nebenher beim Kaffee darüber ausgetauscht hat.7 Der offizielle Weg über hierarchische Entscheidungsprozesse, bspw. durch Anträge und Beschlüsse, wird dadurch beeinflusst, umgangen oder bereichert. Zusammenfassend lassen sich drei entscheidende Merkmale für Organisationen geltend machen: Organisationen haben ein Programm (also die jeweiligen Zwecke), eine geregelte Struktur (Organigramm) und Mitglieder. Nach Luhmann, der den Organisationsbegriff richtungsweisend geprägt hat, sind es über diese Merkmale hinaus allen voran Entscheidungen, die Organisationen konstituieren: „Organisationen entstehen und […] reproduzieren [sich], wenn es zur Kommunikation von Entscheidungen kommt und das System auf dieser Operationsbasis operativ geschlossen wird. Alles andere – Ziele, Hierarchien, Rationalitätschancen, weisungsgebundene Mitglieder, oder was sonst als Kriterium von Organisation angesehen worden ist – ist demgegenüber sekundär und kann als Resultat der Entscheidungsoperationen des Systems angesehen werden. Alle Entscheidungen des Systems lassen sich mithin auf Entscheidungen des Systems zurückführen.“8

Ein grundlegendes Programm, das die Ziele und Zwecke einer Organisation festlegt, ist ja seinerseits schon vorangegangenen Entscheidungen entsprungen. Welche konkreten Maßnahmen zur Umsetzung so eines Programms dann durchgeführt werden, muss ebenfalls entschieden werden. Ob man die jeweiligen Beschlüsse dann als Organisation auch legitimieren kann, wird wiederum an den Entscheidungen für oder gegen eine Mitgliedschaft ersichtlich: Verlassen Mitglieder die Organisation, erscheinen die jeweiligen Ziele und Umsetzungen weniger legitim, als wenn neue Mitglieder der Organisation beitreten.9

ab. Er betrachtet Netzwerke damit stärker als in dieser Arbeit geschehen unter organisationalen Gesichtspunkten. Dabei legt Böckel seinen kirchentheoretischen Fokus auf die Steuerung von Organisationen durch Netzwerke: „Netzwerke […] hören […] selten an den Grenzen einer Metaorganisation auf. Gemeinsame Interessen, Anliegen, Aufgaben und Ziele lassen viel mehr nicht selten Netzwerke entstehen, die sehr organisationsbezogen sehr unterschiedliche Akteure von innerhalb und außerhalb der verfassten Kirche verbinden.“ Böckel 2016, 106–107, siehe auch 108–112. 7 Solche informellen Dynamiken lassen sich nicht gegen die formale und standardisierende Dimension einer Organisation ausspielen. Nassehi betont, dass es sich hier um zwei Seiten einer Medaille handelt. Vgl. Nassehi 2008, 91–92. Im vorangegangenen Kapitel wurde Ritzers Standardisierungsthese angesprochen, die solche informellen Strategien bei der Kritik an globalen Unternehmen – die ja auch Organisationen sind – kaum berücksichtigt, sie aber für ihre spezifische Pointe auch nicht benötigt: Die standardisierende Kraft durch organisationale Effizienzorientierung liegt allen informellen Möglichkeiten zum Trotz in der Natur von Organisationen im Allgemeinen und von global agierenden Wirtschaftsunternehmen im Besonderen. 8 Luhmann 2000, 63. 9 Preul 1997, 204–206.

Organisation

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2.1.1 Kirche als Organisation Der so geschilderte Organisationsbegriff fand in den letzten Jahrzehnten seinen Einzug in die Kirchentheorie.10 Mit ihm kann man Strukturen und Dynamiken der Kirche gut beschreiben und analysieren. Die Vorstellung der Kirche als Organisation ging aber nicht nur aus wissenschaftlichen Gründen und wegen des analytischen Potenzials in die Kirchentheorie ein. Anlass gab vielmehr das kirchenleitende Handeln, das sich immer stärker an organisationalen Standards orientierte und entsprechend reflektiert werden musste.11 Ganz konkret wurden die Leistungen einer Organisation für die Kirche im gegenwärtigen Reformprozess fruchtbar gemacht. Durch die Formulierung sichtbarer Ziele seitens der Kirchenleitung,12 die Entwicklung von Leitbildern anhand praktisch-theologischer Reflexionen und strategischer Auswertungen für Kirchengemeinden und Bezirke13 oder die Darstellung von gelingenden Beispielen kirchengemeindlicher Arbeit14 wurden organisationslogische Prozesse auf die Kirche übertragen.15 Vor dem Hintergrund, dass die Kirche derzeit an Ressourcen, also Mitgliedern und damit einhergehend auch Finanzen, verliert,16 drängt sich eine ressourcenorientierte und effiziente Steuerung der Kirche geradezu auf.17 So mahnte Gerhard Wegner, Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD (im Folgenden SI), im Reformprozess der Kirche: „Angesichts schwindender materieller und immaterieller Ressourcen ist ein wesentlich effizienteres ‚Management‘ als früher

10 Wobei es erst seit wenigen Jahren eine theologische Debatte zur kirchentheoretischen Angemessenheit des Organisationsbegriffs gibt. Vgl. dazu die so gründlich wie pointiert gehaltene Untersuchung von Ludwig 2010, insbesondere 176–185 und 267–271. 11 Dies kündigte Wolfgang Huber als eine treibende Kraft der Reformprozesse schon 1999 an. Er forderte eine Kirchenleitung, die insbesondere auf einer schlanken überparochialen Ebene effizient und innovativ arbeitet. Dadurch soll „Kraft, Zeit und Geld […] den missionarischen Aufgaben und der öffentlichen Wirksamkeit der Kirchen“ zukommen. Huber 1999, 263. Vgl. auch 261–265. 12 So erstrebte der damalige Bischof und Ratsvorsitzende der EKD Wolfgang Huber in der Reformschrift Kirche der Freiheit ein „Wachsen gegen den Trend“: „Der durchschnittliche Gottesdienstbesuch am Sonntag sollte […] von derzeit 4 Prozent auf 10 Prozent aller Kirchenmitglieder gesteigert werden.“ Rat der EKD 2006, 7, 52. 13 So z. B. Herpich und Lindner 2010, 173–269. 14 Härle et al. 2008. 15 Sehr anschaulich wurden die organisationalen Aspekte der Kirche von Hauschildt/ PohlPatalong zusammengetragen. Vgl. dazu Hauschildt und Pohl-Patalong 2013, 194–215. 16 Wobei Gerhard Wegner deutlich macht, dass die Kirchen bis zum Anfang der 2000er Jahre trotz eines stetigen Mitgliederschwundes weiterhin positive Zahlen schrieben. Dadurch war der Druck, diesem Trend durch organisationales Handeln entgegenzuwirken vergleichsweise gering. Wegner 2008, 284. 17 Vgl. die Perspektiven in dem Sammelband Nethöfel et al. 2016.

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unabdingbar nötig, will die Kirche weiterhin einen bedeutenden Platz in der Gesellschaft behalten.“18 Zugleich stehen solche Perspektiven unter massiver Kritik. Sie werden missbilligt, weil sie für die Kirche als wesensfremd angesehen werden. Schließlich werden in einem beschreibenden Begriff (wie etwa „die Organisation Kirche“ oder „das Unternehmen Kirche“) immer auch bestimmte Weichenstellungen und Werte mitgeteilt. Sie entfalten dann, gerade wenn sie implizit bleiben, eine verborgene, aber doch folgenreiche Macht.19 Kritik wird insbesondere dann laut, wenn nicht theologische, sondern ökonomische Überlegungen Auslöser für kirchenleitendes Handeln sind.20 Oft entzündet sich der Einspruch an Fusionen von Kirchengemeinden oder der Aufgabe von Kirchengebäuden, sofern dies aus ökonomischen Gründen geschieht.21 Zudem schränkt eine top-down organisierte Kirche die Freiheit selbstbestimmter Kirchengemeinden und die Autonomie des Personals ein.22 Letztlich beanstandet aber auch all diese Kritik nicht die grundsätzliche Aufnahme des Organisationsbegriffs im Wesen der Kirche.23 Vielmehr stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der Organisation zu den anderen Ebenen der Kirche: So macht Karle darauf aufmerksam, dass die Organisation – wobei sie darunter vor allem die überregionalen und kirchenleitenden Ebenen versteht – von den finanziellen und sozialen Leistungen der kirchengemeindlichen Basis abhängig ist: „Kirche ist primär und zuerst lokale Gemeinde und erst danach auch überlokale Organisation.“24 Ihrer Darstellung nach ist die Kirche „segmentär differenziert“25. Das bedeutet, dass einzelne Kirchengemeinden – also lokale Einheiten (Parochien) oder eben Segmente der Kirche – die Landkarte flächendeckend umspannen. Jede Kirchengemeinde ist dabei gleich bzw. we18 Wegner 2008, 277. 19 Vgl. für eine umfassendere Diskussion dieser Dynamik auch die Debatte zum Unternehmensbegriff in Ludwig 2010, 252–266. 20 Prominent ist hier die Kritik von Isolde Karle: „Die Frage nach der Gestaltbarkeit der Kirche ist von der Frage der Finanzierbarkeit so tiefgreifend geprägt, dass die Theologie zum ornamentalen Beiwerk zu werden droht […].“ Karle 2010a, 11–12. Stefanie Brauer-Noss hat diese Bedrohung untersucht und qualitativ-empirisch konkretisiert, indem sie die verantwortlichen Personen kirchenreformerischer Prozesse nach ihren Motiven befragte. Dabei stellt sie fest: „Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit ist der stärkste Motor [sc. zu Reformen] in allen drei Landeskirchen. Durch finanzielle Krisen wird den Verantwortlichen diese Angst bewusst.“ Brauer-Noss 2016, 15. 21 Besonders deutlich und fortwährend formuliert dies der Bochumer Religionssoziologe Jens Schlamelcher. Vgl. z. B. Schlamelcher 2013. 22 Die Speerspitze der Kritik findet sich bei Karle, die von der „Domestizierung“ der Kirchengemeinden durch die kirchenleitende Organisation spricht. Karle 2010c, 469. 23 Vgl. hierzu auch die weiterführende Auseinandersetzung mit der Frage, inwiefern Kirche als Organisation auch als „Unternehmen“ verstanden werden kann bei Ludwig 2010, 252–266. 24 Karle 2008a, 238. 25 Karle 2008a, 245.

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nigstens ähnlich strukturiert und aufgestellt: Es gibt Gottesdienste, professionelle Pastorinnen neben anderen Haupt- sowie Ehrenamtlichen und eine vergleichbare Interaktionskultur, die sich idealerweise stets durch ihr milieuübergreifendes Wesen auszeichnet.26 Die Aufgabe der Organisation Kirche ist es erstens, die parochiale Struktur durch Ausbildung, Verteilung von Finanzen und Personal stabil zu halten und zweitens dann korrigierend aktiv zu werden, wenn die Stabilität des kirchlichen Lebens gefährdet ist. Kirche als Organisation ist damit in ihrer Bedeutung den anderen Ebenen kirchlichen Lebens untergeordnet. Karle betont in ihrem Entwurf ein subsidiäres Prinzip, in dem die einzelnen Gemeinden ihre Angelegenheiten weitgehend eigenverantwortlich und selbstständig regeln. Kirche ist dieser Anschauung nach bottom up organisiert.27 Der Fokus von Karles Kirchentheorie liegt somit auf der lokalen Interaktion. Indem sie allerdings die Unterscheidung zwischen Organisation und Interaktion an den Ebenen des Organigramms Kirche festmacht – nämlich an der kirchengemeindlichen Mikroebene als Ort der Interaktion und der überregionalen Mesobzw. Makroebene der Kirchenleitung als Ort der Organisation – wird sie den spezifischen Leistungen des Organisationsbegriffes nicht gerecht. Isolde Karle vereinfacht die Komplexität kirchlicher Organisation sicherlich auch, weil ihre programmatischen Aufsätze in der hitzig geführten Reformdebatte Streitschriften darstellen. Diese Polemik hilft allerdings der kirchentheoretischen Reflexion nicht weiter, da organisationale Aspekte so aus dem zwischenmenschlichen Gefüge der Kirchengemeinden ausgeschlossen werden. Aber auch auf der Mikroebene kirchlichen Handelns regeln vorhersehbare Rollenbilder, Hierarchien, Entscheidungsprozesse und Ziele das kirchliche Miteinander.28 Gegen Karle führen Herpich/Lindner korrigierend an, dass „[ j]ede personale Interaktion, wenn sie denn wie z. B. eine Bibelstunde wiederholbar sein soll, […] auf Leistungen der Organisation angewiesen [ist], die Regelungen oder Räumlichkeiten zur Verfügung stellt.“29 Organisation und Interaktion finden also nicht auf je unterschiedlichen Strukturebenen der Kirche (also Kirchengemeinden, Propsteien etc.) statt, sondern beeinflussen die Kirche auf all ihren Strukturebenen. So ist kirchliche Interaktion auch nicht allein auf Ebene der Kirchen-

26 27 28 29

Karle 2008a, 247. Vgl. Karle 2010b, 112. Vgl. zu Isolde Karles Organisationsverständnis auch Karle 2010c, 477. Herpich und Lindner 2010, 36. In die gleiche Kerbe schlägt auch Hermelinks Kritik an Karle, die ihm zufolge eine unangemessene Polarität konstruiert. Dies geschieht, indem sie „die ‚eigentliche‘ religiöse Kommunikation, wie sie sich in dichten Gemeinschaften bzw. im vielfältigen Leben der Ortsgemeinde vollziehen mag, kritisch von aller kirchenamtlichen Organisationspraxis […] unterscheide[t].“ Hermelink 2011, 95.

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gemeinden angesiedelt, sondern hat selbstverständlich auch auf Synoden in Gesprächen zwischen Synodalen und Pröpstinnen ihren Ort.30 An dieser Stelle wirkt übrigens die Perspektive von Holger Böckel zusätzlich differenzierend und klärend. Ohne auf die Polemik von Karle oder Lindner eingehen zu müssen, analysiert er, wie die mittleren Ebenen der Kirche und einzelne Kirchengemeinden in Netzwerken zusammenkommen können. Davon können alle Beteiligten organisational profitieren. Dies, so seine Beobachtung, funktioniert aber nur, wenn die Autonomie der Kirchengemeinden einerseits Bestand hat und streng hierarchische Leitungsvorstellungen der überregionalen Ebenen andererseits zurücktreten. Anstelle von vertikaler Leitung müssen gemeinsam erarbeitete Ziele die Organisation im Netzwerk strukturieren.31 Der Organisationsbegriff muss für die Kirche also nicht grundsätzlich infrage gestellt werden, sondern bedarf lediglich einer Relativierung und einer sachgemäßen Anwendung auf die spezifischen Eigenheiten der Kirche. Dadurch wird deutlich, dass sich Kirche nicht gänzlich als Organisation begreifen lässt. Dazu liegen gegenwärtig mehrere prominente Ansätze vor: Einleitend wurde bereits auf Jan Hermelink verwiesen. Er knüpft in seinem organisationalen Kirchenverständnis an Luhmanns und Nassehis Organisationsbegriff an, der sich wiederum – wie in der Zusammenfassung dargestellt – insbesondere über die formale wie informelle Entscheidungsstruktur von Organisationen zusammensetzt. Die Kirche kann man aber nicht nur als System von aufeinander bezogenen Entscheidungen verstehen, sondern Kirche vermittelt Entscheidungen auch zwischen ihren einzelnen Bereichen. Somit korrigiert die Organisation Kirche solche Perspektiven, die nicht über den Horizont der individuellen Gemeindeerfahrungen hinausgehen. Kirche ist mehr als die Parochie vor Ort. Das wird deutlich, indem die Organisation einzelne Gemeinden in größere Strukturen einbindet.32 Man kann die Kirche daher auch als intermediäre Organisation beschreiben, die nicht nur ihren Mitgliedern, sondern auch übergeordneten Organisationen (wie z. B. einem Dachverband oder der Landeskirche) verpflichtet ist, die wiederum in ein Netzwerk mit anderen Organisationen eingebunden sind und dort z. B. um Gelder konkurrieren oder miteinander kooperieren.33 Hermelink schränkt die Organisationsartigkeit der Kirche auf die kontinuierliche Sichtbarmachung und Vermittlung von Entscheidungsprozessen ein, sodass Entscheidungen überhaupt debattierbar und anschlussfähig werden. Die 30 Vgl. dazu auch die Anwendung von formalen und informellen Prozessen auf die Kirche bei Hermelink: Hermelink 2011, 95. 31 Vgl. Böckel 2016, 151–152. 32 Vgl. Hermelink 2011, 95. 33 Karl Gabriel beschreibt die Organisation Kirche besonders anschaulich unter dem Aspekt ihrer Intermediarität. Vgl. Gabriel 2014, 52–56.

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bedeutendste Leistung kirchlicher Organisation ist demnach ihre Reflexionsfähigkeit. Sie beobachtet und korrigiert sich selbst. Konkret sieht Hermelink das in den Bekenntnissen, Gottesdiensten, Amtsverständnissen, den Mitgliedschaftsformen zwischen Engagement und Distanziertheit, den öffentlichen und wissenschaftlichen theologischen Diskursen und letztlich den synodalen Entscheidungsformen der Kirche verwirklicht.34 In der Kirche lässt sich aber über wesentliches, insbesondere die Ausgestaltung des Glaubens, nicht entscheiden. Der Glaube liegt damit, wie schon der Titel von Hermelinks Kirchentheorie „Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens“ verrät, außerhalb organisationaler Entscheidbarkeit. Als Organisation kann die Kirche aber eine Grundlage sichtbar machen, auf der über den gemeinsamen Glauben reflektiert werden kann. Dazu gehören die eben aufgezählten Bereiche, speziell aber die Bekenntnisse.35 Die individuelle Aneignung der Bekenntnisse ist erwünscht, sie kann und darf jedoch nicht verordnet werden. Allerdings wird die Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben bspw. im Gottesdienst ermöglicht. Dafür wiederum ist die Organisation Kirche vom persönlichen Engagement ihrer (hauptamtlichen) Mitglieder abhängig, „[deren] religiöse Dimension sich gar nicht und [deren] fachlich-theologische Bildung sich nur sehr begrenzt organisieren lassen.“36 So nimmt Hermelinks Organisationsbegriff einen wichtigen Einwand der Organisationskritiker auf: Über die theologische Basis, auf der die Kirche steht, kann nicht einfach selbstbestimmt entschieden werden.37 Die Organisation Kirche macht aber die Reflexion dieser Inhalte dauerhaft zugänglich. Eine ähnliche und ebenso hilfreiche Relativierung erfährt der Organisationsbegriff, bezogen auf die Kirche, durch den Praktischen Theologen Herbert Lindner. Wie später auch Hermelink stellt Lindner schon Ende der 90er fest: „Organisationen und Glaube stehen in einem Spannungsverhältnis. Organisationen können Glaube nicht machen und nicht vollständig einfangen. Das ist ihre Begrenzung. Sie sind aber entscheidende Hilfen bei der Glaubensgestaltung in der modernen Gesellschaft. Das macht sie notwendig.“38

Um einiges deutlicher als Jan Hermelink legt der Kirchentheoretiker Herbert Lindner die „spirituellen Organisation“39 Kirche inhaltlich fest,40 wobei die 34 Hermelink 2011, 94–103. 35 Hermelink spricht vom „kirchlich-organisatorisch fixiertem Bekenntnis.“ Hermelink 2011, 97. 36 Hermelink 2011, 98. 37 Vgl. als treffendes Beispiel dieser Kritik Karle 2010b. 38 Lindner 2000, 32. 39 Lindner 2000, 21–33. 40 In aller Kürze sieht diese Festlegung folgendermaßen aus: „Bekannt und geglaubt wird die heilige, von Gott gestiftete, allgemeine, weltumspannende, die Partikularkirche übergrei-

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theologischen Bekenntnisse die Richtung kirchlicher Entscheidungen eingrenzen. Im Gegensatz zu Hermelink geht er davon aus, dass auch für die Kirche konkrete Handlungsziele formuliert und eingeführt werden sollten.41 Dabei zieht Lindner einen richtungsweisenden Vergleich, indem er die Kirche einer NonProfit-Organisation (NPO) gleichsetzt:42 Gewöhnliche Unternehmen richten sich in der Wirtschaft an Formalzielen aus. Sie wollen durch den Verkauf irgendwelcher Produkte oder Dienstleistungen (Sachziele) Gewinn erzielen. Die Sachziele sind also die Mittel zum Zweck des Gewinns. NPOs orientieren sich dagegen nicht sklavisch an einem möglichst hohen Gewinn. Ihr Interesse gilt den Sachzielen, die sie anbieten. Der womöglich erzielte Gewinn dient ausschließlich der Sicherung der angebotenen Produkte und Dienstleistungen. Versteht man Kirche als NPO, wird deutlich, dass sich die Entscheidungen nicht an der Erzielung von Profit ausrichten können. Die Wahrung des kirchlichen Auftrags bleibt dann auch aus organisationaler Sicht das bestimmende Ziel.43 Indem bei Lindner neben dem „non-Profit“ zugleich der Organisationsbegriff verwendet wird, kommt zum Tragen, dass sich Kirche auch durch bewusste Entscheidungen aufstellt, die durchaus auch auf Effizienz in den Strukturen der Organisation und den Handlungen der Mitglieder ausgerichtet sein dürfen. In Lindners Beschreibung der Kirche als NPO wird aber erst einmal nur negativ deutlich, was kirchlicherseits vermieden werden soll, nämlich ein Streben nach Gewinnmaximierung. Demgegenüber gibt es zahlreiche Versuche, das Wesen der Kirche positiv über verbindliche Inhalte und Aufgaben darzustellen. Hier wird das Programm der Organisation Kirche angesprochen. Reiner Preul hat dies in seiner Kirchentheorie in den 90ern versucht. Dabei macht er für die Organisation Kirche ein bestimmtes christliches Wirklichkeitsverständnis geltend, das sich an Luthers Rechtfertigungslehre anlehnt. Preul verankert seine ekklesiologische Theologie jedenfalls kirchenhistorisch einleuchtend über die Bekenntnisschriften, insbesondere der Confessio Augustana. Insbesondere für die Kirchenleitungen sind die hier gewonnenen Perspektiven verbindlich. Aber auch darüber hinaus soll die Kirche als Bildungsinstitution öffentlich für ihr Wirklichkeitsverständnis werfende, apostolische in der Tradition der Sendung der Apostel stehende Kirche. Für jede konkrete Kirche ist dieses Bekenntnis Grund und Maßstab ihres Handelns.“ Herpich und Lindner 2010, 15. Für eine umfassendere Beschreibung der inhaltlichen Festlegungen vgl. Ebd. 13–20. 41 Ein erhellender Vergleich beider Ansätze findet sich bei Hauschildt 2012. 42 Herpich und Lindner 2010, 24–26. 43 Den Vergleich von Kirche und NPO übernehmen auch Hauschildt/ Pohl-Patalong in ihrem Lehrbuch: „Bezieht man diese Beschreibung auf die Kirche, so leuchtet sofort ein, dass auch Kirchen sich als Non-Profit-Organisationen verstehen lassen und sich auch bei ihnen wirtschaftsnähere, verwaltungsnähere und basisnähere Varianten finden.“ Hauschildt und PohlPatalong 2013, 189.

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ben. Preul sieht bei diesem Plädoyer für eine öffentliche Theologie durchaus, dass die Kirche „dann in eine gesellschaftlich instabile oder abseitige Position [gerät], wenn sie sich nicht mehr offenkundig auf einen in der Lebensgeschichte der Individuen […] auftretenden Sinnbedarf beziehen kann.“44 Diese Gefahr vermutet Preul aber nicht bei dem Inhalt der lutherischen Rechtfertigungslehre, sondern höchstens bei der Vermittlung des Inhalts. Denn der Rechtfertigungsglaube verfüge über eine „Reichweite und Konkretheit“, der „in der Tat kein Bereich des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens […] entzogen“ ist.45 Damit postuliert Preul für seine eigenen theologischen Einsichten eine allgemeine Gültigkeit, die weder in der gegenwärtigen religiös-pluralistischen Landschaft der Kirche noch der Gesamtgesellschaft haltbar ist. In Aufnahme von Luhmanns Organisationsbegriff führt Preul dann wiederum sehr überzeugend an, dass eine Organisation allgemein nur solche Mitglieder aufnimmt, die sich mit dem jeweiligen Programm identifizieren. Dagegen wird die Mitgliedschaft in der Kirche über die Taufe geregelt, die zumindest im Normalfall der Säuglingstaufe nicht die eigene Bejahung, sondern die Zustimmung der Eltern zum Kirchenbeitritt erfordert. Außerdem steht die Kirche prinzipiell allen Menschen offen und muss daher von ganz verschiedenen Motivationen ausgehen, die die individuelle Mitgliedschaft begründen. Hinter dem einen inhaltlichen Programm würden sich daher nicht alle Kirchenmitglieder versammeln.46 Preul weiß auch um die „diffus motivierte[n] Mitglieder“47, die dem Programm der Kirche, also der christlichen Weltsicht nach der Rechtfertigungslehre kein großes Gewicht beimessen. Sie könnten daraus „persönliche Konsequenzen ziehen, indem sie die Kirche verlassen.“48 Preul formuliert also für die Organisation Kirche ein Programm aus, das die Entscheidungsmöglichkeiten der Kirche einschränkt. Mehr noch, er greift ein von Luhmann angebotenes Bild einer Artischocke auf, die im Kern wohlschmeckende und außen eher geschmacksfreie Blätter hat.49 Wer die lutherische Rechtfertigungslehre als Programm der Kirche versteht, hat mehr Geschmack – also eine höhere inhaltliche Qualität – als solche Mitglieder, die von reformatorischen Fragen und Antworten noch nicht viel gehört haben. Kirche ist nach Preul eben keine beliebige Organisation. Grundsätzlich ist letzteres sicherlich richtig, allerdings setzt Preul einzelne Inhalte absolut, indem er ihnen eine allgemeingültige Evidenz zuschreibt, die eher in seinem idealen Kirchenbegriff als den tatsächlichen Gegebenheiten wurzelt. Diese inhaltliche Rigorosität kann aber, was bei der Besprechung des Institutionsbegriffs gezeigt wird, für die 44 45 46 47 48 49

Preul 1997, 160. Preul 1997, 176. Preul 1997, 206–207. Preul 1997, 208. Preul 1997, 210. Preul 1997, 208.

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Kirche nicht mehr überzeugen. Das eine normierende inhaltliche Programm oder die eine überzeugende christliche Weltsicht gibt es nicht, auch wenn es sich dabei um so zustimmungswerte Inhalte wie Luthers Rechtfertigungslehre handelt. Besonders problematisch ist der Versuch von Preul, das Programm der Kirche inhaltlich zu normieren, weil Menschen in seiner Artischockenmetapher als „geschmacklos“ abgestempelt werden, wenn sie seinem Programm nicht zustimmen. Weiterführender als Preuls ekklesiologisch abgeleitetes Programm der Organisation Kirche ist dagegen Christian Grethleins praktisch-theologischer Entwurf, der die Kommunikation des Evangeliums zur programmatischen Funktion der Kirche erhebt. Dabei sollen nicht etwa (wie bei Preul) dogmatisch gebundene Weltsichten vertreten werden, „der gegenüber Wissende und Unwissende unterschieden werden könnten.“50 Vielmehr geht es darum, inhaltliche Impulse zu diskutieren, die auf Jesus Christus und den biblischen Gott zurückgehen: „Die Bestimmung von ‚Evangelium‘ bedarf der Arbeit an der Bibel.“51 Indem sich die Kirche also in ihren vielfältigen, spannungsreichen und oft genug auch gegensätzlichen Suchbewegungen auf ihre biblische Quelle besinnt, wird die Kommunikation der Kirche nicht beliebig. Zugleich bleiben Umgang, Interpretationen und Betonungen dieses Bezugspunktes aber offen, pluriform und immer dem Risiko von Fehldeutungen ausgesetzt.52 Dadurch, dass Grethlein die Kommunikation des Evangeliums als das eigentliche Programm der Organisation Kirche darstellt, relativiert er auch die organisationalen Strukturen, Rollenvorstellungen, konkreten Inhalte und Traditionen. Sobald die Organisation Kirche eine „binnenkirchliche Sonderwelt“ oder „Alltagsferne“53 produziert, weil sie bspw. in überkommenen pfarrherrlichen Hierarchien denkt oder die diakonischen und funktionalen kirchlichen Orte in Pflegeheimen oder Schulen geringschätzt, verfehlt sie ihren Zweck. Grethlein fragt also in erster Linie nach der Aufgabe von Kirche in der Gegenwart und erst danach, welche organisationalen Folgen sich daraus ableiten lassen. Der kirchentheoretischen Debatte um die Frage, inwiefern Kirche eine Organisation ist, gibt er damit eine inhaltlich geerdete und zugleich funktionale Ausrichtung, ohne dabei realitätsferne Normen aufzurichten. Zugleich setzt er sich über organisationale Grenzen hinweg, indem er in seinen Kirchenbegriff auch die getauften, aber aus der Kirche ausgetretenen ehemaligen Mitglieder der Organisation einbezieht. Ohne sie inhaltlich vereinnahmen zu wollen, macht er deutlich, dass auch „sie teilweise an diakonischen 50 51 52 53

Grethlein 2016, 169. Grethlein 2016, 10. Grethlein 2016, 182. Grethlein 2016, 587.

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Einrichtungen und medialen Foren [partizipieren], die sich auf den christlichen Grundimpuls beziehen.“54 Auch von dieser praktisch-theologischen Herausforderung her bedarf es einer kirchentheoretischen Bestimmung, die über den Organisationsbegriff hinausgeht. Hierfür ist der Bonner Theologe Eberhard Hauschildt weiterführend. Er sieht spätestens mit der Reformschrift „Kirche der Freiheit“ eine problematische Verengung kirchenleitenden Handelns auf organisationale Dynamiken, was er mit einem „Schub an Organisationswerdung“ umschreibt.55 Dabei ist nicht die grundsätzliche Orientierung an organisationalen Standards problematisch, sondern eine Beschränkung darauf und die damit einhergehende Herabwürdigung anderer kirchentheoretischer Ebenen.56 Erst wenn die Organisationsartigkeit der Kirche in ein ausgewogenes Verhältnis zur Institutionsartigkeit der Kirche gesetzt wird, kann Kirche angemessen gestaltet werden.57 Beide Betrachtungen der Kirche – also die der Kirche als Institution sowie als Organisation – schließen einander eigentlich aus, denn sie greifen auf einander widerstrebende Voraussetzungen zurück. Die Organisation Kirche ist durch Entscheidungen gestaltbar und die Institution Kirche geht aus Dynamiken hervor, die sie selbst nicht produzieren kann.58 Trotz dieser Gegensätzlichkeit lassen sich beide Tendenzen für die Kirche geltend machen. Sowohl eine selbstbestimmte als auch eine gesellschaftlich vorgegebene kirchliche Praxis bestimmen das Wesen der Kirche. Sie gegeneinander auszuspielen und die Kirche auf einen der beiden Wesenszüge festzulegen, würde große Teile des kirchlichen Wesens verstören, missachten und ausschließen. Dagegen zeigt gerade die funktionierende Praxis, die sich im Spannungsfeld beider kirchentheoretischer Ebenen bewegt, dass Kirche im gegensätzlichen Miteinander von Organisationslogik und Institutionslogik erfolgreich ist. Daher versteht Hauschildt die Kirche als ein Hybrid unterschiedlicher kirchentheoretischer und kirchenpraktischer Dynamiken. Der 54 Grethlein 2016, 6 vgl. auch 386. 55 Hauschildt 2007. 56 Diese Gefahr sieht auch Ludwig, wenn er beobachtet dass der Organisationsbegriff in der Debatte zu Beginn der 2000er Jahre den für die Beschreibung der Kirche zuvor üblichen Institutionsbegriff „weitgehend abgelöst“ hat. Später warnt Ludwig zu Recht davor, die „Kirche nur als Organisation wahrzunehmen“. Denn dies könne dazu führen, die Mitglieder lediglich „als Ressourcen zum Erhalt der Organisation“ wahrzunehmen. Ludwig 2010, 11–12, 383, 393. 57 Die Ebenen der Interaktion und der Inszenierung nimmt Hauschildt erst später in Zusammenarbeit mit Pohl-Patalong im Lehrbuch Kirche in den Blick. Vgl. Hauschildt und PohlPatalong 2013, 119–129 und 138–157. 58 Holger Böckel fasst dieses Verhältnis pointiert zusammen, wenn er schreibt: „Nur als Organisationen sind sie [sc. die verfassten Kirchen] zu qualitativen Veränderungen, mithin Innovationen, fähig – und nur als Organisationen sind sie in der Lage, strategische Ziele zu verfolgen. Kurz gesagt: Organisationen werden geführt, Institutionen aber verwaltet.“ Böckel 2016, 115.

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Organisationsbegriff wird für die Kirche also auch nach Hauschildts Ansatz relativiert. Die Leistungen einer Organisation Kirche werden insbesondere im Rahmen der Kirchenreform anerkannt, zugleich wird aber einer übermäßigen Inanspruchnahme der Organisationsartigkeit ein Riegel vorgeschoben: Die Kirche kann nicht allein als Organisation verstanden werden. Das würde zentrale Leistungen anderer Wesensarten der Kirche ausblenden und negieren.59 Dabei konzentriert sich Hauschildt insbesondere auf die Institutionslogik. In dem späteren Lehrbuch Kirche werden von ihm und Uta Pohl-Patalong aber auch die anderen zentralen kirchentheoretischen Ebenen besprochen. Wobei dort andere Begriffe als bei Hermelink verwendet werden. So ist dort nicht die Rede von „Inszenierung“ und „Interaktion“ sondern von „Kirche als Symbol“ und „Kirche als Bewegung bzw. aktive Gruppe.“60 An der Debatte um den Organisationsbegriff wird deutlich, dass er für die Kirche durchaus fruchtbar zu machen ist. Die Frage ist dann nicht mehr, ob Kirche als Organisation oder als eine andere soziale Größe beschrieben wird, sondern inwiefern Kirche in ihrer Organisationsartigkeit aufgeht. Dabei wurde aufgezeigt, dass kirchliche Entscheidungen zwar einige Strukturen und Bereiche gestalten, es aber auch zentrale kirchliche Bereiche gibt, auf die sie nur mittelbaren Einfluss nehmen können. Für die Organisation Kirche ist dabei die Frage von Bedeutung, ob sie über ihr inhaltliches Programm verfügen kann. Im nachfolgenden Kapitel soll dieser Frage eine weitere richtungsweisende Perspektive hinzugefügt werden. Dort werden die institutionellen Voraussetzungen und Merkmale der Kirche reflektiert. Das wird dann auch deutlich machen, warum die Festlegung auf ein konkreteres inhaltliches Programm für die Organisation Kirche nicht machbar ist.

2.2

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Die Organisationslogik fragte nach der Gestaltbarkeit von Kirche. Diesen gestaltbaren Bereichen sind aber Grenzen gesetzt. Es braucht daher eine Perspektive, die auch solche nicht organisierbaren Momente von Kirche untersucht. Lange Zeit haben solche institutionslogischen Zugänge das Verständnis von Kirche dominiert. Sie näherten sich dem Kirchenbegriff einerseits über dogmatische Überlegungen und andererseits über Beobachtungen gesellschaftlicher Konventionen. Da sich die Gesellschaft – und mit ihr auch die Kirche – aber im 59 In der Theorie wie auch in der Praxis ist es grundsätzlich lohnenswert, nicht zu stark auf eine einzelne Säule der Kirchentheorie zu bauen, sondern ein ausgewogenes Verhältnis anzustreben. Andererseits kann es die Situation vor Ort erforderlich machen, vermehrt auf besondere kirchliche Stärken zu setzen. Vgl. dazu auch Fn. 71. 60 Vgl. Hauschildt und Pohl-Patalong 2013, 119–128, 138–156.

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Rahmen einer liquider werdenden Moderne im fortwährenden Wandel befindet und hybrider wird, brauchte es eine kirchentheoretische Neuorientierung. Wie der folgende Überblick zeigen wird, macht diese institutionslogische Umorientierung weder vor traditionellen Strukturen noch vor theologischen Normen halt und fordert so die Vorstellungen von Kirche als Institution zu einer Neubesinnung heraus. Unter einer Institution wird in der Soziologie grundsätzlich „eine Sinneinheit von habitualisierten Formen des Handelns und der sozialen Interaktion“ verstanden, „deren Sinn und Rechtfertigung der jeweiligen Kultur entstammen und deren dauerhafte Beachtung die umgebende Gesellschaft sichert.“61 Die Soziologen Thomas Luckmann und Peter Berger haben diese Definition in ihrem Klassiker „The social Construction of Reality“62 sehr nachvollziehbar veranschaulicht. Eine Institution nimmt ihren Anfang in einem beliebigen menschlichen Bedürfnis, das durch irgendeine entsprechende Handlung befriedigt wird.63 Indem diese Handlungen immer wieder vollzogen werden, gewinnen sie an Selbstverständlichkeit und Routine. Es entsteht eine Gewohnheit bzw., um die Eingangsdefinition wieder aufzugreifen, eine habitualisierte Form des Handelns. Aus einer einmaligen Handlung wird also ein typisierendes „There I go again“64. Weil der Mensch ein Sozialwesen ist, wird ein Handlungsablauf auch zwangsläufig innerhalb einer Gruppe wiederholt und wahrgenommen. So kommt es zu einem kollektiven „There we go again“65. Durch diese kollektive Wirksamkeit ist ein Handlungsablauf im Ansatz bereits institutionalisiert. Eine Institution wird dann – mit Bauman gesprochen – solide, wenn ein Handlungsablauf von Generation zu Generation weitergereicht wird. In diesem Fall wird die habitualisierte Handlung nicht als ein „There we go again“, sondern als ein „This is how these things are done“ begriffen.66 Ging der nun institutionalisierten Handlung in ihrer ersten Durchführung womöglich noch eine entscheidende und bewusste Überlegung voraus, so zeichnen sich institutionalisierte Handlungsabläufe dadurch aus, dass sie auch ohne großes Nachdenken vollzogen werden können.67 Zugespitzt lässt sich sogar 61 Gukenbiehl 2006, 144. 62 Berger und Luckmann 1991, 65–109. 63 Diesen anthropologischen Ursprung einer Institution in menschlichen Bedürfnissen macht Schelsky besonders stark. Dabei zeigt er auf, dass es egal ist, ob es sich um ein biologisches Primärbedürfnis handelt, das das Überleben sichert, oder um ein sekundäres und kulturelles Bedürfnis. Institutionen werden durch beide Bedürfnisarten gleichermaßen gebildet. Vgl. Schelsky 1973, 19. 64 Berger und Luckmann 1991, 71. 65 Berger und Luckmann 1991, 77. 66 Berger und Luckmann 1991, 77. 67 Schelsky 1973, 13.

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fragen, ob Handlungen, die sich an solchen institutionalisierten Abläufen orientieren, überhaupt frei gewählte und bewusste Handlungen sind und in welchem Maß der Mensch grundsätzlich durch Institutionen gelenkt wird.68 Für Gesellschaften, in denen die jeweilige Institution Gültigkeit besitzt, ergibt sich aus der Allgemeingültigkeit solcher mehr oder weniger unbewusster Handlungen eine wesentliche Funktion: Das Verhalten und die sich daran anschließenden Folgen werden für die Mitglieder einer Gesellschaft vorhersehbar. Besonders greifbar wird das an dem Beispiel einer Begrüßung. Treffen z. B. zwei bekannte Personen aufeinander, so werden sie sich aller Voraussicht nach die Hand reichen. Die Begegnung läuft ritualisiert, typisch und damit eher unbewusst ab.69 Die Institution regelt das Aufeinandertreffen sozusagen im Hintergrund und gibt der menschlichen Kommunikation damit Stabilität und Orientierung. Das geschieht, indem Institutionen Handlungen normieren. Dazu dienen Sanktionen bei Abweichungen von institutionalisierten Handlungsabläufen. Wer z. B. aus Unwissenheit über gesellschaftliche Konventionen zur Begrüßung einen Handschlag verweigert, wird ggf. durch verwunderte Blicke auf die Einhaltung der Institution verwiesen. Neben solche informellen Regelungen treten formale Normen, die sich in der Rechtsprechung einer Gesellschaft niederschlagen. Erhält man bei einer Begrüßung z. B. keinen Handschlag, sondern einen Schlag ins Gesicht, könnte das Verhalten zur Anzeige gebracht werden, was dann von staatlicher Seite aus entsprechend sanktioniert würde. Institutionen regeln aber nicht nur Begrüßungen, sondern wirken stark auf die Gestaltung von Biografien und Identitäten ein. Die monogame und heterosexuelle Familie ist ein klassisches Beispiel einer solchen Institution der soliden Moderne.70 Grundsätzlich stellen Institutionen Rollen und Identitäten für die Individuen einer Gesellschaft bereit. Dabei sind diese Programme allgemein bekannt und genießen zumeist auch ein gewisses Maß an Anerkennung: „By playing roles, the individual participates in a social world. By internalizing these roles, the same world becomes subjectively real to him.“71 Zugleich gewinnt die jeweilige Institution durch solch individuelle Aneignung und Aktualisierungen an Realität: „To say, then, that roles represent institutions is to say that roles make it possible for institutions to exist, ever again, as a real presence in the experience

68 Inwiefern Handlungen, die sich an Institutionen orientieren auch subjektiv bestimmte Handlungen sind oder ob diese unbewusst und allein durch die Institution gesteuert werden, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Eine kurze Auseinandersetzung zu dieser Kontroverse am Beispiel Arnold Gehlens findet sich in Waschkuhn 1987, 73–75. 69 Vgl. Jepperson 1991, 148–149. 70 Was im vorherigen Kapitel zur soliden Moderne näher besprochen wurde. Vgl. Teil I, Kapitel 1.1. 71 Berger und Luckmann 1991, 91.

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of living individuals.“72 Institutionen und Einzelpersonen, die durch ihre institutionellen Handlungen daran teilhaben, stabilisieren sich demnach gegenseitig. Indem manche Institutionen mit bestimmten Gegenständen oder Gebäuden verbunden sind (z. B. ein Ehering und eine Kirche bei einer christlichen Trauung), gewinnen solche Institutionen auch über diesen materiellen Apparat an Realität. Andererseits verlieren Institutionen an prägender Kraft, wenn sich weniger Menschen an ihnen orientieren. Ein banales Beispiel ist auch hier der Handschlag, der in den 2000ern durch andere Optionen wie high fives oder fistbumps zumindest in manchen Kreisen Konkurrenz erhalten hatte.73 Die institutionalisierte Begrüßung unterliegt dadurch einem Wandel, der traditionelle Formen schwächt. Im vorangegangenen Kapitel wurde dieser Wandel bereits in seinen gesellschaftlichen Konsequenzen erläutert. Eine scheinbar solide Moderne mit eindeutigen Institutionen wird durch Individualisierung, Globalisierung und Pluralisierung um alternative Handlungsideale bereichert und dadurch zunehmend liquide.74 Dieses Beispiel mach deutlich, dass Institutionen stark durch gesellschaftlich gültige Konventionen geprägt werden. Allerdings ist eine Institution mehr als eine Konvention. Institutionen erhalten durch Ideale und Normen eine bestimmte Richtung und eine in den Hintergrund geratene Begründung. Meistens realisiert sich das dann in konventionellen Handlungsformen, wie etwa dem gewöhnlichen Handschlag zur Begrüßung. Mitunter nehmen Institutionen aber auch Abstand von konventionellen Formen. Die genannten fistbumps und high fives sind Beispiele für ungewöhnliche Realisierungen der gesellschaftlichen Institution, eine Begegnung zur Begrüßung auch körperlich zu gestalten. Institutionen sind also keineswegs immer konventionell. Zusammenfassend lassen sich folgende Elemente nennen, aus denen sich eine Institution zusammensetzt: Sie verfügen über Personal, in denen die Vorstellungen und Handlungsroutinen verankert sind, über ein Normsystem (häufig auch „Programm“ genannt) 75, das die Institution als legitim bewertet und alternative Handlungen tendenziell missbilligt, sowie über einen materiellen Apparat.

72 73 74 75

Berger und Luckmann 1991, 92. Vgl. Jepperson 1991, 148–149. Siehe Teil I, Kapitel 1.2. So. z. B. bei Berger und Luckmann 1991, 80 oder auch Jepperson 1991, 146–147. Im Gegensatz zum Programm von Organisationen lässt sich das Programm einer Institution aber nicht topdown durch die Entscheidung einer kleinen Gruppe oder einzelnen Person verändern, sondern nur bottom-up über zahlreiche Veränderungen von Menschen, die an einer Institution partizipieren.

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Bei der Beschreibung von Institutionen werden zahlreiche Nähen zum Organisationsbegriff deutlich. Beides sind Strukturen, die eine Gesellschaft ordnen. Beide Ordnungsvorstellungen prägen die Menschen, die an ihnen teilhaben, durch Rollenvorstellungen und Programme. Sie unterscheiden sich aber auch maßgeblich. Organisationen funktionieren über ein Entscheidungsprinzip. Man wird nicht in eine Organisation hineingeboren, sondern entscheidet sich zu einer Mitgliedschaft. Zugleich wählt auch die Organisation ihre Mitglieder nach bestimmten Kriterien aus, sodass keineswegs jede Person teilhaben kann. Die Orientierung an einem Programm der Organisation erfolgt selbstbestimmt. Institutionen dagegen sind den Menschen vorgegeben. Individuen orientieren sich daran ganz selbstverständlich und ohne zuvor darüber nachdenken zu müssen. Streng genommen stehen Institutionen (im Gegensatz zu Organisationen) nicht zur Debatte. Erst die Abwägung, die Dinge anders oder eben doch gemäß der Institution zu ordnen, nimmt eine unvorhergesehene und oft konfliktreiche Prüfung der Institution vor. Dadurch wird die Institution von einer im Hintergrund wirkenden Taktgeberin zum Objekt alltäglicher Entscheidung, was dem Institutionsbegriff die tragende Pointe nimmt. Denn Institutionen entfalten ihre prägende Wirkung, ohne dass eine Entscheidung dafür oder dagegen nötig wäre. Damit wird aber auch deutlich, dass es Organisationen und Institutionen in ihrer theoretischen Reinform kaum geben kann. Eine Organisation ist sicherlich auch von Handlungen geprägt, die routinierte Selbstverständlichkeiten sind und einer kritischen Prüfung auf Effektivität kaum standhalten würden.76 Organisationen tragen damit institutionalisierte Strukturen in sich. Andererseits sind auch Institutionen von organisationalen Dynamiken geprägt. Das gilt spätestens dann, wenn Einzelpersonen von ihnen abweichen und sich teilweise oder sogar komplett für alternative Handlungsvollzüge entscheiden. Der Wandel von Institutionen hat also ein organisationales Moment. Schelsky hat diese Dynamik in die Theorie der Institutionen eingetragen und anthropologisch verankert. Dazu hat er den Menschen der Moderne das Bedürfnis zugeschrieben, nicht durch eine äußere Instanz fremdbestimmt zu werden: „Anspruch auf persönliche Freiheit des Individuums, auf seine kritische Distanz zu sozialen Zwängen, […] der Anspruch auf Gedanken- und Meinungsfreiheit“ sind Grundzüge der „Subjektivität des modernen Individuums“.77 Indem die übernommenen, traditionellen Institutionen durch diesen Wesenszug gegenwärtiger Menschen einer kontinuierlichen Reflexion unterzogen werden – wozu übrigens ein gesellschaftlicher Diskurs über solche Institutionen notwendig ist – wird das Nachdenken über Institutionen und damit auch das Verändern von Institutionen institutionali-

76 Vgl. dazu Göhler 1987, 217. 77 Schelsky 1973, 22.

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siert.78 Moderne Institutionen sind nach Schelsky immer auch reflexiv, wodurch eine klare Grenzziehung zum Organisationsbegriff erschwert wird.79

2.2.1 Kirche als Institution Der Institutionsbegriff war und ist immer noch ein Dreh- und Angelpunkt der Kirchentheorie.80 Dort wo der Kirche aufgrund typischer gesellschaftlicher Erwartungen und traditioneller Praktiken Wesensmerkmale vorgegeben sind, kommt ihre Institutionsartigkeit zum Tragen. Die Institution Kirche umfasst also solche Wesensbereiche, die nicht ohne weiteres durch eigenmächtige kirchliche Positionierungen (die, wie oben beschrieben wurde, zum Bereich der Organisation gehören) gestaltet werden können. Aus theologischer Sicht wurde für den Institutionsbegriff häufig geltend gemacht, dass die Kirche von Gott eingesetzt wurde und ihr Wesen damit göttlichen Ursprungs und im Kern festgeschrieben sei.81 Dabei handelt es sich um eine dogmatische Perspektive auf die Kirche, die ihren Ort in der Ekklesiologie hat. Soziologisch ist so ein dogmatisch aufgeladener Institutionsbegriff unangemessen, da sich die göttliche Gründung der Kirche jeglicher empirischen Zugänglichkeit entzieht und als Postulat keine (soziologische) Gültigkeit beanspruchen könnte. Eine Institution ist immer eine Einrichtung, die ihren Ursprung in den Bedürfnissen und Handlungen von Menschen hat. Für die Kirche als Institution (im soziologischen Sinne) also einen göttlichen Ursprung zu behaupten, wäre anmaßend.82 Hier sollen nicht ekklesiologisch-dogmatische, 78 Schelsky 1973, 25. 79 Schelskys Begriff reflexiver Institutionen ist gewissermaßen ein optimistischer Blick auf das gleiche Phänomen, das Beck mit seiner weitaus pessimistischeren Individualisierungsthese beschreibt. Während Schelsky noch davon ausgeht, dass sich Institutionen verändern und den Menschen der liquiden Moderne auch weiterhin Orientierung geben können, geht Beck nicht mehr davon aus. Beck sieht solide Institutionen als gescheitert an, wenn ihre orientierende Wirkung an den Erfordernissen unserer Zeit vorbeigeht. Solange der Mensch dann nicht in neue, kollektiv gültige Institutionen reintegriert wird, sieht er ihn individuellen Risiken ausgesetzt, die man allein und ohne institutionelle Orientierung bewältigen muss. Vgl. Teil I, Kapitel 1.2. 80 Was zuletzt von Dieter Becker in Abrede gestellt wurde, weil sich „die Auflösungsprozesse gesellschaftlicher Strukturen immer weiter fortsetzen“ und im Blick auf die binnenkirchlichen Bereiche (Diakonie, Akademien, Stiftungen etc.) „die Ausdifferenzierungen der empirischen Kirchenorganisationen unterschiedlicher kaum sein könnten.“ Becker 2007, 284. Dass diese Phänomene den Institutionsbegriff für die Kirche nicht grundsätzlich ausschließen, aber ihn durchaus herausfordern, wird im Fazit dieses Unterkapitels besprochen. 81 Holger Ludwig liefert einen guten geschichtlichen Überblick zu dieser Tradition. Ludwig 2010, 24–34. 82 So versuchte Huber gegen Ende der 1970er Jahre den soziologischen und den theologischen Institutionsbegriff zu kombinieren. Anknüpfend an eine soziologische Betrachtung be-

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sondern kirchentheoretisch-soziologische Überlegungen berücksichtigt werden.83 Dadurch wird verhindert, dass das Verständnis von Kirche durch eine (möglicherweise normierende) dogmatische Beschreibung eingeengt wird.84 Trotzdem ist die Perspektive, dass die Kirche auf Jesus Christus zurückgeht und auch in der Gegenwart auf ihn verwiesen ist, eine zentrale Sichtweise für die Kirche. Inwiefern die Orientierung an theologischen Inhalten aber institutionell bspw. in der Kommunikation des Evangeliums zum Tragen kommt, lässt sich weder dogmatisch noch organisatorisch regeln. Das würde schnell zu einem Idealbegriff von Kirche führen, der an der Realität vorbeigeht und zudem in der Gefahr steht, die soziale Wirklichkeit normativ einzuschränken. Ein Beispiel für einen solchen idealisierenden Zugang lieferte der Kirchenbegriff von Preul, der oben bereits aus organisationaler Perspektive und unter besonderer Berücksichtigung seines inhaltlichen Programms dargestellt wurde. Hier soll nun noch die Leistung von Preuls Institutionsbegriff dargestellt werden. In seiner Kirchentheorie greift Preul auf einen soziologischen Institutionsbegriff zurück, der (nach Schelsky) in den menschlich-gesellschaftlichen Bedürfnissen und Handlungen seinen Ausgangspunkt hat. Preuls Institutionsbegriff erhält damit eine anthropologische Verwurzelung. Darüber hinaus vermitteln Institutionen individuelle und kollektive Interessen: „Erst wo Interaktion den Charakter der Kooperation unter gemeinsamen Handlungszielen annimmt, kann eine Institution entstehen.“85 Durch die Orientierung an Handlungszielen erfährt der Begriff dann also eine starke organisationale Ausrichtung. Bewusst vorgenommene, strategische Zielsetzungen gehören schließlich eher zum Bereich des Organisationsbegriffs. Preul grenzt demnach Organisation und Instischreibt er Kirche als menschlich gestaltete Institution, die auf anthropologische Bedürfnisse zurückgeht. Indem er diese Bedürfnisse zugleich schöpfungstheologisch begründet, spricht er der Kirche einen „göttlichen Stiftungssinn“ zu. Der Stiftungssinn konkretisiert sich darin, dass das Heil dem Menschen durch Menschen begegnet. Dieser theologisch-institutionellen Funktion der Kirche sollen die Strukturen der Kirchenverwaltung ebenso wie die Handlungen der einzelnen kirchlichen Personen gerecht werden. Beide sollen verantwortungsbewusst mit ihrem göttlichen Auftrag umgehen. Daher erscheint Kirche dann idealerweise auch als „exemplarische Grundform menschlichen Miteinanderlebens.“ Die göttliche Stiftung anthropologischer Bedürfnisse ist als genuin theologische Perspektive reizvoll und für den Kirchenbegriff auch an anderer Stelle nützlich. Die theologische Verfremdung des soziologischen Institutionsbegriffs hilft aber bei einem soziologischen Verständnis der Kirche nicht weiter. Vgl. Huber 1979, 110–117. Vgl. für eine detailliertere Untersuchung von Hubers Institutionsbegriff Ludwig 2010, 106–128. 83 Zur Unterscheidung von soziologisch orientierter Kirchentheorie und dogmatisch ausgerichteter Ekklesiologie vgl. Becker 2007. 84 Davor warnt auch Martin Laube: „Die Ekklesiologie erliegt […] einem Selbstmissverständnis, wenn sie sich auf einen dogmatischen Wesensbegriff der Kirche zurückzieht oder meint, von einem solchen Wesensbegriff aus die konkrete Gestalt der Kirche normieren zu können.“ Laube 2011, 133. 85 Preul 1997, 132.

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tution nicht grundsätzlich voneinander ab. Stattdessen versteht er Organisationen als Institutionen mit ganz konkreten Positionen und Rollen, die über Entscheidungsprozesse Gestalt angenommen haben.86 Ausgehend von diesem Verständnis einer Institution fragt Preul nach den zugrundeliegenden Bedürfnissen, die durch die Kirche bearbeitet werden. Dazu formuliert er die These, dass die Kirche eine Bildungsinstitution sei, weil sie „sich an das Bewußtsein, das Gefühl und das Erleben der Menschen wendet und somit in irgendeinem Sinne zu ihrer Bildung [beiträgt].“87 Preul verortet die Kirche als Bildungsinstitution dadurch in Luhmanns Vorstellung einer ausdifferenzierten Gesellschaft, die nicht mehr durch hierarchische Ordnungen, sondern durch bestimmte Aufgabenbereiche funktional strukturiert ist. Dadurch lässt sich Kirche neben die Bereiche des Rechts, der Politik etc. einordnen. So kann dann auch Preul die Institution Kirche von anderen Institutionen im Bereich der Politik, des Rechts oder der Ökonomie abgrenzen. Die Kirche, so Preuls zugrundeliegende These, dient einer bestimmten gesellschaftlichen Funktion. Sie gibt Menschen die Möglichkeit, sich mit Erfahrung, Wahrnehmung und Bewusstsein auseinanderzusetzen, indem in ihr „das christliche Wirklichkeitsverständnis“88 zur Sprache kommt. Das macht aber auch den problematischen Rahmen der Institution Kirche aus: Sie ist Teil einer hoch differenzierten und individualisierten Gesellschaft. In dieser Gesellschaft wird religiöse „Identitätsfindung […] in keiner Weise mehr als irgendwie einheitlicher im Lichte einer Welt- oder Lebensanschauung stimmiger Prozeß“ bearbeitet. Zudem finden solche religiösen Auseinandersetzungen immer weniger im öffentlichen Raum der Kirche und zunehmend in privaten Bereichen von „Klein-, Intim- und Experimentiergruppen“ statt.89 Wenn das christliche Wirklichkeitsverständnis dann zur Sprache kommt, muss das nicht immer explizit geschehen, sondern kann auch durch diakonisches Handeln ausgedrückt werden, solange dabei irgendwie auf das Ganze des kirchlichen Handelns verwiesen wird. Allen, die an der Institution Kirche beteiligt sind, egal ob Pastorin oder Laie, ist die Auseinandersetzung mit dem christlichen Wirklichkeitsverständnis vorgegeben. So entsteht den gegenwärtigen Widrigkeiten zum Trotz eine öffentlichkeitswirksame Institution. Für Preul ist der individuelle und öffentliche Anspruch dabei zentral: „[D]iese Institution [wird] zweierlei zugleich zu beachten haben: daß solche Sinnentwürfe tatsächlich individuell zu verantworten sind, sie müssen dem je Einzelnen einleuchten, und daß sie gleichwohl einen Geltungs- und Bestimmungsanspruch erheben,

86 87 88 89

Preul 1997, 204. Preul 1997, 141. Preul 1997, 153. Beide Zitate Preul 1997, 168.

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der über das Private hinausgeht, von öffentlicher gesellschaftlicher Relevanz ist. Der je individuell anerkannte Lebenssinn ist öffentlich zu kommunizieren.“90

Inhaltlich findet sich der Kristallisationspunkt des christlichen Wirklichkeitsverständnisses für Preul wie bereits gezeigt in der lutherischen Rechtfertigungslehre.91 Weil mit der Rechtfertigung nicht nur alle Menschen in ihrem jeweiligen Scheitern angesprochen sind, sondern auch Konstellationen wie die gegenwärtige „Leistungsgesellschaft“, hat dieses Wirklichkeitsverständnis nicht an Aktualität verloren.92 Mit seinem Verständnis von Kirche als Institution bleibt Preul hinter den Erwartungen des hier eingangs dargelegten Institutionsbegriffs zurück. Institutionen sind nach Preul Ausdruck anthropologischer Bedürfnisse, die dann kooperativ als Verbund von Einzelnen bearbeitet werden. Die institutionellen Elemente des Kirchenbegriffs bleiben aber durch diese vorschnelle Fokussierung auf die organisationalen Möglichkeiten der Kirche leider im Dunkeln. Denn die gesellschaftlich vorgegebene Situation der Kirche wird von Preul nicht als eine sie tiefgreifend prägende oder wesensbestimmende Realität in den Blick genommen, die zudem außerhalb organisationaler Gestaltungsmöglichkeiten liegt. Preul fragt danach, wer sich als Kirche nach welchen theologischen Richtlinien und in welchen gesellschaftlichen Bereichen aktiv positioniert. Das sind für die Kirche zwar enorm wichtige Fragen, aber sie übergehen die Wirkungen einer genuin institutionellen Perspektive und nehmen dem Institutionsbegriff so die zentrale Pointe. Für die Kirche ist es dagegen ausgesprochen gewinnbringend, sich auch als gesellschaftliche Institution zu verstehen, die von ihren gesellschaftlichen Gegebenheiten her bestimmt wird. Denn hier tritt deutlich hervor, was dem kirchlichen Handeln und Entscheiden weitestgehend entzogen bleibt. Kirche positioniert sich in der Gesellschaft nicht nur selbst, sie wird auch durch ihr entzogene Dynamiken bestimmt. Preul streift diese Frage, wenn er feststellt, dass ein öffentlicher Diskurs über kirchliche Weltanschauungen unter den Bedingungen gegenwärtiger „Privatisierung und Intimisierung der Religion […] nicht recht in Gang“93 kommt und seine Wesensbestimmung der Kirche als Bildungsinstitution damit gefährdet ist. Er versäumt es aber, Kirche unter den Gegebenheiten derzeitiger gesellschaftlicher Religiosität bzw. Säkularität darzustellen. Stattdessen begreift er den von ihm lediglich angedeuteten allgemeinen Umgang der Gesellschaft mit Religion nur als strategische Aufgabe der Bildungsinstitution (oder besser: der Bildungsorganisation) Kirche, die davon aber in ihrem theologischen und soziologischen Wesen unberührt bleibt. 90 91 92 93

Preul 1997, 170. S. o. Teil I, Kapitel 2.1.1. Preul 1997, 171–177. Preul 1997, 168.

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Einen weiterführenden Blick wirft Jan Hermelink auf den Institutionsbegriff. Auch er greift auf die soziologischen Debatten zum Institutionsbegriff zurück und wendet den so gewonnenen Institutionsbegriff dann konsequenter noch als Preul auf die Kirche an. Für ihn realisiert sich in der Kirche als Institution „eine gesellschaftlich vorgegebene religiöse Kultur, die theologisch als Ausdruck der organisatorisch unverfügbaren Freiheit des Geistes zu deuten ist.“94 Die Institutionsartigkeit der Kirche prägt somit ganz verschiedene Merkmale, die der Kirche konventionell zugeschrieben werden. An erster Stelle müssen hier Kasualien genannt werden, die statistisch besonders häufig mit der evangelischen Kirche assoziiert werden.95 Greifbar wird die Institutionsartigkeit der Kirche aber auch in ihrem materiellen Apparat: Dass der Gottesdienst in der Regel in Kirchengebäuden stattfindet und dort gewisse Rollen wie z. B. die einer Pastorin mit Talar oder eines Musikers an der Orgel vorkommen, ist Ausdruck der kirchlichen Institutionsartigkeit.96 Das gilt zumindest dann, wenn diese Begegnungen auch allgemein mit Kirche assoziiert werden und diese Formen der Kirche solche Erwartungen bedienen. Der Ablauf eines Gottesdienstes erfolgt aus institutioneller Perspektive nach einem typischen „This is how these things are done“, was in diesem Fall seinen Ursprung in nun institutionalisierten Festlegungen gottesdienstlicher Agenden hat.97 Auch die Kirchenmitgliedschaft prägt die Kirche als Institution maßgeblich. Ein rein organisationaler Mitgliedschaftsbegriff würde den Kirchenbeitritt bzw. Austritt daran binden, ob Menschen den „Programmen“ der Kirche persönlich zustimmen oder eben nicht. Auf institutioneller Ebene greifen darüber hinaus auch andere konventionellere Begründungen. So spielen hier weniger die persönlichen und bewussten Überzeugungen eine Rolle, sondern eher die Frage nach dem, was traditionell und im eigenen Kontext gang und gäbe ist.98 Die 94 95 96 97

Hermelink 2011, 28. Vgl. Kretzschmar et al. 2015, 60. Vgl. hierzu auch Hermelink 2011, 298–299. Auch der kirchentheoretische Institutionsbegriff von Böckel trägt an dieser Stelle seine Pointe aus. Institutionen seien, im Gegensatz zu Organisationen, nicht „umweltresponsibel“. Sie fragen nicht, ob bestimmte Handlungen auf Zustimmung stoßen, sondern verlangen, fraglos ausgeführt zu werden. Unter diesen Vorzeichen wird dann auch klar, warum Böckel so stark auf die organisationalen Aspekte der Kirche abzielt. Ihm geht es darum, Kirche aktiv zu leiten und zu gestalten. Auf Institutionsebene findet solche Kybernetik dann auch tatsächlich nicht statt. Allerdings wird die weitere Besprechung des Institutionsbegriffs zeigen, dass Institutionen keineswegs „von ihrem Umfeld abgeschottet“ sind. Sie reagieren, wenn auch wesentlich träger und langsamer, auf die Anforderungen und Vorstellungen der Menschen, die an den Institutionen teilhaben. Vgl. Böckel 2016, 112–113. 98 Wohl auch deshalb bemerken Herpich und Lindner zur Frage, ob sich Kirche eher als Organisation oder als Institution verstehen sollten: „Die Entscheidung für eine sensible Verstärkung der Organisationsförmigkeit ist nicht ungefährlich. […] Organisationen verlässt man viel leichter als Institutionen!“ Herpich und Lindner 2010, 36.

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Aussagen „Ich bin in der Kirche, weil sich das so gehört“ und „weil meine Eltern auch in der Kirche sind bzw. waren“ finden demgemäß in der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU V) nicht nur unter eng verbundenen Mitgliedern, sondern auch unter distanzierten Kirchenmitgliedern eine relativ hohe Zustimmung.99 Selbstverständlich spielen in der Begründung einer Kirchenmitgliedschaft auch persönliche Entscheidungen eine tragende Rolle. Das gilt insbesondere für die hochverbundenen Mitglieder und wird in dieser Gruppe häufig mit den eigenen Werten begründet, die man in der Kirche verwirklicht sieht. Dennoch enthält auch die Kirchenmitgliedschaft institutionelle Momente, die einem organisatorischen Mitgliedschaftsbegriff entzogen bleiben. Manche Menschen nehmen an der Institution Kirche teil, weil ihnen die Mitgliedschaft als Teil der religiösen Kultur vorgegeben ist.100 Solche historisch gewachsenen institutionellen Eigenschaften der Kirche finden im Kirchenrecht eine sichernde Gestalt. Dort sind Regelungen bspw. über Mitgliedschaft, Agenden aber auch die organisationalen Kompetenzen von Synoden oder Kirchenvorständen fixiert. Damit wird die Institution Kirche nicht nur von gesellschaftlichen Erwartungen und konventionellen Handlungen geprägt, sondern sie verpflichtet sich auch selbst auf rechtlich institutionalisierte Handlungsabläufe und Formen. So hat die Kirche eine rechtliche Form, die auf staatlichem Recht basiert. Mehr noch, die Kirche hat von staatlicher Seite aus den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erhalten, sodass sie sich analog zum Staat auf den Gebieten des Staates selbst verwaltet, Beamte beschäftigt, der Staat für sie Steuern erhebt und sie mit weiteren Rechten (wie z. B. dem Religionsunterricht an staatlichen Schulen) und Pflichten (wie z. B. der Verpflichtung, friedens,– rechts- und wertefördernd aufzutreten) ausgestattet ist.101 Im Übrigen kann man die Kirchensteuer als ausgesprochen starkes institutionelles Element der Kirche betrachten. Sie wird eingezogen, ohne dass dazu die Erlaubnis eines Kirchenmitglieds vorliegen muss. Damit ist sie denjenigen, die formal an der Institution Kirche teilhaben, vorgegeben: „Die Kirchensteuereinnahmen, deren Anteil am Etat westdeutscher Landeskirchen (etwa im Rheinland) bis zu 90 %, EKDweit 40 %–45 % beträgt, beruhen insofern

99 Rat der EKD 2014, 88–90. 100 Vgl. Hermelink 2011, 182–183. Zudem scheinen nach Hermelink auch Wiedereintritte in die Kirche nicht durch organisationale Bemühungen machbar zu sein. Das gilt zumindest für den Großteil der Wiedereingetretenen: „Ähnlich wie im Blick auf den Kirchenaustritt kann die Kirche selbst die (erneute) Zugehörigkeit jedenfalls nur indirekt steuern – die seit Jahrzehnten steigende Zahl der Ein- und Übertritte ist offenbar nicht durch gezieltes Handeln befördert worden, sondern allenfalls durch ein gewandeltes Bild der Kirche, die nunmehr ‚moderner‘, biographieoffener und jedenfalls zugänglicher erscheint.“ Hermelink 2011, 178. 101 Vgl. insbes. Strachwitz 2014 aber auch Hermelink 2011, 292–332.

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ebenfalls auf einer Wahrnehmung der Kirche als einer gesellschaftlichen Institution, die selbstverständlich bestimmte Aufgaben erfüllt und dafür eine adäquate, steuerbasierte Finanzierung erhält.“102

Grundsätzlich wird bei Hermelink deutlich, dass die Kirche eine Institution ist, die über ganz wesentliche Eigenschaften nicht selbst verfügen kann. Sie ist von prägenden gesellschaftlichen Bedingungen abhängig. Das ist für das Selbstverständnis von Kirche ganz zentral. Es macht auch deutlich, dass die Kirche von den im einführenden Kapitel beschriebenen gesellschaftlichen Dynamiken nicht nur nebenbei, sondern in ihrem Fundament berührt wird. Der Wandel von einer soliden hin zu einer liquiden Moderne erfasst auch die Kirche. Vieles, was hier diskutiert werden muss, wird bereits in einem kontroversen Diskurs zur Säkularisierung in unserer Gegenwart beschrieben. Daher soll an dieser Stelle ein Überblick zu den verschiedenen Säkularisierungsthesen folgen, die für die Kirche unterschiedliche Konsequenzen mit sich bringen.

2.2.2 Kirche im Zeichen der Säkularisierung Wenn die Kirche als Institution durch das konstituiert wird, was ihr von gesellschaftlichen Vorstellungen, Erwartungen und Handlungen her vorgegeben ist, dann stellt sich die Frage, wie es um die religiösen Vorstellungen, Erwartungen und Handlungen derzeit bestellt ist.103 Die Religionssoziologie ist dabei von einem Konsens weit entfernt. Im Gegenteil, es konkurrieren unterschiedliche Deutungsansätze, die die gegenwärtige religiöse Lage in Deutschland konträr bewerten. Auf den ersten Blick mag das erstaunen, da zumindest die christlichreligiöse Lage von starken Säkularisierungstendenzen bewegt wird:104 „Den Kirchenaustritten stehen gesamtdeutsch Kircheneintritte in einem Verhältnis von 1:5 (Evangelische Kirche 1:3; Katholische Kirche 1:13) gegenüber. Da die Verluste sich schwerpunktmäßig auf die jüngeren Alterskohorten beziehen, kommt es gleichzeitig zu einer Überalterung der Mitglieder, die im Zusammenspiel mit dem demographischen Wandel in Deutschland massiv den Eindruck eines Verlustprozesses aufkommen lässt. Die Konsequenz aus der Kombination von Kirchenaustritten und demographischem Wandel ist eine seit 1989 kontinuierlich sinkende Zahl an Christen in Deutschland. Trotz deutlich differenter Grade an Säkularität haben sich beide Gebiete [sc. Ost- und Westdeutschland] zumindest auf der Prozessebene vereinigt – sie unterliegen dem 102 Hermelink 2011, 208. 103 Wobei sich die hier gesammelten Perspektiven zum Großteil auf die Gesellschaft in Deutschland beziehen. Eine richtungsweisende Erkenntnis des Diskurses zur Säkularisierung besteht darin, europäische Dynamiken auf dem religiösen Feld nicht als globale Tendenzen zu verallgemeinern. 104 Einen guten Überblick über die ganz ähnliche Situation in der Schweiz bietet Huber 2016.

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Prozess eines weiter voranschreitenden Mitgliedsverlustes der christlichen Kirchen bzw. Entkirchlichung.“105

Dieser Befund wird innerhalb der Religionssoziologie natürlich nicht bestritten. Es stellt sich allerdings die Frage, wie er interpretiert wird. Dreh- und Angelpunkt der Kontroverse ist dabei die Frage, was denn eigentlich Religion ist. Eine besonders dominante Denkrichtung bezieht sich dabei auf die Forschung von Thomas Luckmann und Peter Berger. Berger untersuchte die christliche Religion unter den Bedingungen der liquiden Moderne, wobei er lediglich von „der Moderne“ spricht, dabei aber Pluralisierung und Individualisierung voraussetzt, und diagnostizierte einen Bedeutungsverlust kirchlicher Überzeugungen und Konventionen.106 Religion ist für Berger stark inhaltlich an einer „religiösen Weltsicht“ und an damit zusammenhängenden „Erfahrungen mit dem Heiligen“ ausgerichtet.107 Luckmann entwickelte dagegen basierend auf der bereits erwähnten Arbeit zur sozialen Konstruktion der Wirklichkeit einen funktionalen Religionsbegriff.108 Nicht die „für die Soziologie wertlos[e]“109 inhaltliche Ausrichtung an einem Bekenntnis, sondern die anthropologisch-gesellschaftliche Funktion bestimmt dabei den Religionsbegriff. Religion wirkt nach Luckmann so, dass sie ein rein biologisches (Selbst)Verständnis des Menschen überschreiten lässt und den Menschen in eine soziale Welt einordnet. Alles, was außerhalb der unmittelbaren, individuellen Erfahrung im Hier und Jetzt liegt, ist dann möglicherweise Gegenstand einer religiösen – also das Selbst transzendierenden – Erfahrung. Solche Dinge, die im Moment nicht wahrgenommen werden, fordern die gegenwärtige Wahrnehmung heraus, bereichern, bedrohen und verändern sie. Dadurch wird erstens die eigene unmittelbare Wahrnehmung überschritten und zweitens die eigene Identität – zumindest möglicherweise – geprägt. Das kann z. B. durch eine Erinnerung aus der Vergangenheit geschehen, die die eigene Gegenwart einholt,110 oder ein Bild, das auf eine Malerin aus einem 105 Pickel 2013, 80–81. 106 So beschreibt Berger die Säkularisierung als Prozess, in dem sich christlicher Glauben und säkulare Lebensweise fortschreitend auseinander bewegen und Kirchlichkeit damit zunehmend marginalisiert wird: „Die moderne Situation bringt folglich ein Gegensatzverhältnis zwischen gesellschaftlich dominierender Säkularität und dem religiösen Bewußtsein mit sich. Anders gesagt: die dominierende Säkularität übt kognitiven Druck auf das religiöse Bewußtsein aus. […] [E]s handelt sich nicht notwendigerweise um offenkundige Sozialprozesse, sagen wir um Mißbilligung, Lächerlichmachen, geschweige denn Verfolgung. Weit wichtiger, es handelt sich um eine Kluft zwischen den kognitiven Voraussetzungen des religiösen Bewußtseins und den kognitiven Voraussetzungen des den einzelnen umgebenden sozialen Milieus.“ Berger 1992, 114. 107 Berger 1992, 63. 108 Vgl. dazu Luckmann 1993. 109 Luckmann 1993, 78. 110 Vgl. dazu auch die Rezeption Luckmanns bei Knoblauch. Knoblauch 2009, 58–59.

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anderen Kulturkreis zurückgeht und dadurch die eigene Wahrnehmung um das Bewusstsein anderer Kulturen bereichert. Die Funktion von Religion ist es, durch die Transzendierung der eigenen und daher immer auch subjektiv beschränkten Erfahrung Teil einer Gesellschaft zu werden.111 Legt man einen inhaltlich derart allgemeinen und gesellschaftlich funktionalen Religionsbegriff zugrunde, sind die Auswirkungen auf das Verständnis säkularisierender Prozesse gravierend. So schreibt Luckmann: „Ferner heißt das, […] daß es keine Gesellschaft ohne Religion, d. h., ohne irgendwelche Prozesse, in denen Menschen Menschen werden, geben kann.“112 Ob Menschen dann in eine Gesellschaft integriert werden, die vom atheistischen Kommunismus ausgeht oder von einer göttlich begründeten Monarchie, ist für die Religiosität eigentlich unerheblich. In beiden Fällen wird die individuelle und kollektive Wahrnehmung durch weltanschauliche Annahmen bereichert und sortiert. Eine religionslose Gesellschaft ist damit ausgeschlossen.113 Religion bleibt dann trotz aller säkularisierender Prozesse als eine anthropologische Konstante bestehen. Was sich ändert, ist die Form, in der diese Konstante ihren individuellen und gesellschaftlichen Ausdruck findet. Dann kann sich Religion in organisatorischen Formen einer Gesellschaft zeigen (wie z. B. in Gestalt einer Kirche oder eines Wellness-Centers), muss es aber nicht. Demnach unterscheidet man dann auch zwischen einer als Entkirchlichung verstandenen Säkularisierung und einer Transformierung des Religiösen.114 Religion tritt nach diesen Annahmen neben kirchlich geprägten Formaten zunehmend auch in anderen Formen, Dynamiken und Prozessen auf. Luckmann vertrat die These, dass Religion zumindest in europäischen Gesellschaften immer weiter „unsichtbar“ würde, und meint damit, dass die (insbesondere öffentlichen) religiösen Organisationen an gesellschaftlicher Sichtbarkeit und Bedeutung verlieren, was z. B. auch bei Preuls Kirchentheorie vorausgesetzt wurde. Zugleich bleibt Religiosität in ihrer funktionalen Bedeutung für Mensch und Gesellschaft aber (in nicht unbedingt organisierter Form) bestehen und wandert zugleich stärker ins Private ab.115 Hubert Knoblauch, ein Schüler von Thomas Luckmann, greift die These der unsichtbaren Religion auf. Er stimmt zwar dem Befund der Entkirchlichung zu, indem er festhält, dass spätestens seit den 1960ern „immer weniger Menschen in 111 Vgl. Luckmann 1993, 78–86. 112 Luckmann 1972, 5. 113 Kritiker des funktionalen Religionsbegriffs weisen hier zu Recht auf die begriffliche Unschärfe des Religionsbegriffs hin. Religion wird in ihrer funktionalen Betrachtungsweise zwar dem eurozentrischen Deutungsmonopol der christlichen Kirchen entzogen, allerdings wird die Trennung in Religiöses und bspw. Säkulares damit unmöglich, wodurch der Begriff der Religiosität seine kategorisierenden Möglichkeiten verliert. Vgl. dazu auch Pickel und Sammet 2014, 17–19. 114 Vgl. Knoblauch 2009, 15–41. 115 Vgl. Knoblauch 1993, 28–29.

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die Kirchen gingen, dass immer weniger Menschen die Lehren der Kirchen kannten, noch weniger an sie glaubten und noch weniger ihren ethischen Vorgaben folgten.“116 Anders als Luckmann mit seiner Privatisierungsthese beobachtet Knoblauch aber eine neue Beliebtheit und Öffentlichkeit des Religiösen. Seiner These der „populären Religion“ nach werden ehemals als Aberglaube geächtete Phänomene wie Horoskope, Engelsglaube, Schamanismus etc. heutzutage selbstverständlich praktiziert. Auch andere gesellschaftliche Bereiche, die auf den ersten Blick nicht sehr spirituell aussehen, wie z. B. Wellness oder Sport, können spirituell angehaucht sein, ohne dass es dazu einer besonderen Legitimierung bedürfte. Neben die kirchlichen religiösen Angebote sind zahlreiche andere Optionen getreten, sodass die Individualisierung auch die Religion erreicht hat.117 Sollten sie es je besessen haben, hat die Kirche mittlerweile ihr Deutungsmonopol verloren.118 Zur gleichen Zeit durchbricht die gegenwärtige Digitalisierung die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Raum. Was bei Luckmanns Beobachtungen noch im intimen Raum der Familie geschah, kann heute in den sozialen Netzwerken online einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, die nicht an Milieugrenzen gebunden sein muss. Das gilt insbesondere für die Populäre Kultur, die nicht an ein bestimmtes Milieu gerichtet ist: Halloween, Helene Fischer oder Borussia Dortmund sind als Beispiele dafür in ganz Deutschland und über Schichten und Milieus hinweg bekannt. Indem solche Kulturgüter auch (funktional-)religiöse Momente haben können und durch die Digitalisierung nicht auf einen privaten oder öffentlichen Bereich eingrenzbar sind, gewinnt auch Religiosität neue Formen und Orte in der Gesellschaft: „Sie [sc. Formen populärer Religion] scheren sich weder um die Grenze zwischen dem Kirchlichen und Außerkirchlichen noch um die Grenze zwischen dem Religiösen und dem Nicht-Religiösen.“119 Säkularisierung bedeutet für Knoblauch also, dass Religion innerhalb wie außerhalb der Kirche in Mischformen aus Kultur und Religion und damit auch weniger eindeutig bestimmbar auftritt.120 116 Knoblauch 2009, 16. 117 So auch schon Peter Berger: „Der moderne Mensch muß in zahllosen Situationen des Alltagslebens wählen, doch diese Notwendigkeit zur Wahl reicht auch in die Gebiete der Glaubens- und Wertvorstellungen sowie der Weltanschauungen hinein. Zu entscheiden heißt jedoch zu reflektieren, nachzudenken. Der moderne Mensch muß anhalten und eine Pause einlegen, wo der prämoderne Mensch in unreflektierter Spontanität handeln konnte.“ Berger 1992, 32–33. Vgl. auch Knoblauch 2009, 269–270. 118 Vgl. dazu ebenfalls Berger: „Der moderne Mensch steht vor der Notwendigkeit zwischen Göttern zu wählen, von denen ihm eine Vielzahl sozial zuhanden ist. Wenn die typische Conditio des prämodernen Menschen von religiöser Sicherheit geprägt ist, so folgt daraus, daß die des modernen Menschen unter dem Zeichen religiösen Zweifels steht.“ Berger 1992, 39–40. 119 Knoblauch 2009, 12. 120 Vgl. auch Knoblauch 2013.

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Widerspruch erhalten die Anhänger der Transformierungsthese – egal ob Religion nun eher ins Private oder stärker ins Populäre abwandert – im deutschsprachigen Raum von den Religionssoziologen Detlef Pollack und seinem Schüler Gert Pickel. In ihren vor allem quantitativ-empirischen Forschungen zeigen sie, dass Religiosität nicht aus den Kirchen auswandert, um sich dann in einer privaten oder populären Form zu zeigen. Das ist zwar eine Möglichkeit, demografisch weit bedeutender ist aber das Verschwinden der Religion, wenn sie einmal ihre kirchliche Verwurzelung verlassen hat. Dabei identifizieren sie (was für Luckmann und Knoblauch eine ethnozentrische Verzerrung darstellt) Religiosität mit dem Glauben an Gott oder wenigstens an die Existenz einer höheren Macht: „if a central belief in God is postulated as the main element of this religiosity, we must conclude that, contrary to the assumptions made by Luckmann and his followers, both traditional church affiliation and individual religiosity have diminished.“121 Die von Knoblauch und Luckmann beobachtete Transformation des Religiösen integrieren Pollack und Pickel in ihre Säkularisierungsthese, indem sie solche religiösen Wandlungen als Schritt in Richtung Nicht-Religiosität und damit einhergehend auch in Richtung Säkularisierung bewerten. Populäre und unsichtbare Momente der Religiosität kann man natürlich in der Kirche, also bei ihren Mitgliedern, ebenso wie außerhalb der verfassten Kirchen feststellen. Die beiden Soziologen legen nun aber ein Modell zugrunde, das von der Weitergabe religiöser Inhalte und Überzeugungen insbesondere durch Familien ausgeht.122 Wenn Familien weniger eindeutig in kirchliche Zusammenhänge und Lehren eingebunden sind, dann werden die nachfolgenden Generationen dementsprechend weniger eindeutig religiös sozialisiert.123 Diese Erkenntnis konnten sie in KMU V bestätigen: „Je jünger die Befragten sind und je weniger sie auf eine familiäre Sozialisation bzgl. religiös-kirchlicher Praxis verweisen, umso schwächer erscheinen ihre institutionelle Verbundenheit [sc. mit der Kirche] und ihr religiöses, auch gemeinschaftliches Engagement.“124

Wer wiederum mit einer gewissen religiösen Beliebigkeit aufgewachsen ist, hat einen stärkeren Hang zur religiösen Indifferenz, als das bei Menschen der Fall ist, die eine sehr engagierte kirchliche bzw. christliche Identität haben. Religiöses 121 Pollack und Pickel 2007, 615. 122 Familien als Trägergruppen religiöser oder säkularer Sozialisation kommen auch bei Monika Wohlrab-Sahr u. a. verstärkt in den Blick, wenn sie die Säkularisierungsprozesse in der DDR beobachten. Vgl. Karstein et al. 2006, 447. 123 Diese Tendenzen bringen Christian Grethlein dazu, Familien stärker in das Blickfeld praktisch-theologischer Bemühungen zu nehmen und als wichtigen Ort der Kommunikation des Evangeliums zu würdigen. Vgl. z. B. seine Argumente, Kinder stärker am gottesdienstlichen Leben teilhaben zu lassen. Grethlein 2016, 421. 124 Hermelink und Weyel 2015, 29.

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Engagement und religiöse Indifferenz sind für Pickel und Pollack also zwei Pole religiöser Existenz, in deren Mitte sie die von Luckmann und Knoblauch beschriebene unsichtbare bzw. populäre Religion eintragen. Der von ihnen interpretierte gesellschaftliche Trend hat einen starken Hang zur Indifferenz, wenn auch die Anzahl der kirchlich besonders engagierten Mitglieder leicht ansteigt. Die dem kirchlichen Glauben distanziert, aber doch geneigt gegenüberstehende Personenmenge schrumpft hingegen zusehends.125 Die von Pollack und Pickel diagnostizierte Lage bezieht sich auf Europa und insbesondere auf Deutschland. Einen globalen Trend hin zur Säkularisierung kann man dagegen nicht beobachten. Im Zuge von Migration und Glokalisierung muss zudem erwähnt werden, dass die religiöse bzw. die säkulare Landschaft in Deutschland zunehmend unübersichtlich wird. Monika Wohlrab-Sahr hat daher in Anlehnung an Eisenstadts Konzept der Multiplen Modernen den Begriff der Multiplen Säkularitäten in den Diskurs eingeführt.126 Sie wendet sich damit gegen eine einseitige Interpretation der gesellschaftlichen Lage. Vorstellungen wie die, dass Säkularisierungen grundsätzlich mit wissenschaftlichem Fortschritt oder der Emanzipation von institutionellen Zwängen verbunden seien, verlieren mit ihrem Modell an Allgemeingültigkeit. Stattdessen liegen durch verschiedene historische, politische, ethische und weltanschauliche Entwicklungspfade einzelner Regionen und Gesellschaften auch verschiedene Formen der Säkularität bzw. Religiosität vor. Die Situation in den Gebieten der ehemaligen DDR ist zum Beispiel von kulturellen Entwurzelungen durch die Flüchtlingsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg und dem damit zusammenhängenden Verlust religiös prägender Gemeinschaften, einer zunehmenden breiten weltanschaulichen Distanzierung von christlichen Vorstellungen sowie den daran anknüpfenden Konflikten der sozialistischen Politik mit den evangelischen und katholischen Kirchen geprägt.127 In den Gebieten der ehemaligen DDR sind daher derzeit ca. 13 % der Gesamtbevölkerung Mitglieder der evangelischen Kirche. Hier gelten offensichtlich andere religiöse und institutionelle Voraussetzungen als z. B. in Bayern, wo 19 % der evangelischen Kirche angehören.128

125 Diese Interpretation der gesellschaftlichen und kirchlichen Lage findet sich sehr anschaulich in der von Pollack mitgestalteten KMU V. wieder: „Der dargestellte Trend eines deutlichen Rückgangs der religiösen Sozialisation lässt durchaus gravierende Veränderungen in der künftigen religiösen Landschaft der Bundesrepublik erahnen. Fehlende religiöse Erfahrungen, kombiniert mit abnehmendem religiösem Wissen, führen möglicherweise dazu, dass vielen (gerade jüngeren) Menschen ein Leben ohne Religion als selbstverständlich erscheint und dass dementsprechend die Bereitschaft, wiederum eigene Kinder religiös zu erziehen, erkennbar sinkt.“ Rat der EKD 2014, 60–72. 126 Vgl. Burchardt und Wohlrab-Sahr 2011. 127 Vgl. Karstein et al. 2006. 128 Evangelische Kirche in Deutschland, 8.

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Das, was konventionell als Kirche verstanden und praktiziert wird, unterliegt also einer hohen regionalen Verschiedenheit. Da die liquider werdende Gesellschaft zumal von einer außerordentlichen Mobilität und damit einhergehenden Ortspolygamität bewegt wird, durchmischen sich solche ehemals stark regionalen Unterschiede. In einer einzelnen Kirchengemeinde liegen so ganz verschiedene und z. T. gegensätzliche Zugänge zur Institution Kirche vor. Das betrifft die inhaltlichen Vorstellungen von Kirche, Glaube und Evangelium gleichermaßen wie die praktischen Gepflogenheiten, bspw. ob man seine Kinder zur Konfirmation anmeldet oder eben nicht. Dadurch gibt es nicht mehr das eine gesellschaftsprägende Programm, das die Institution Kirche in ihrer Solidität durch Sanktion und Konvention aufrechterhält. Die Grenzen von dem, was Kirche ist oder sein sollte, zu dem, was sie nicht ist oder sein sollte, werden zunehmend undeutlich, weil solche Grenzen für die individualisierten Einzelnen kaum noch eine identitätsstiftende Bedeutung haben. Diese gesellschaftsweite Öffnung der Institution Kirche durch Einzelne ist der Grund, warum organisationale Setzungen oder ekklesiologische Normen das Programm der Kirche nicht mehr überzeugend prägen können. Wenigstens in diesem letzten Punkt stimmen die sonst sehr gegensätzlichen Überzeugungen von Pickel und Pollack einerseits und Luckmann und Knoblauch andererseits überein. Es gibt zwar zahlreiche Bereiche, in denen kirchliches Handeln konventionell geprägt wird (z. B., dass Gottesdienste sonntags gefeiert werden), aber auch dort unterliegt die Kirche einer zunehmenden Verflüssigung ihrer Institutionen.

2.3

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Kirche als Institution untersucht eine breite gesellschaftliche Masse und die dort vorherrschenden nicht organisierbaren Konventionen, die das Wesen der Kirche bestimmen. Weil sich der Betrachtungsgegenstand dieser Perspektive aber zunehmend verflüssigt, braucht es eine weitere Perspektive, die sich dem Kirchenbegriff von einer anderen Warte her nähert. Aus der relativ neuen kirchentheoretischen Sicht der Interaktion werden die dynamischen Begegnungen und Kontakte einzelner Akteurinnen zueinander wahrgenommen. Hier wird danach gefragt, wie sich Kirche durch Begegnungen und Gespräche zusammensetzt und so an Gestalt gewinnt. Die flüchtigen zwischenmenschlichen Kontakte, die die klaren Grenzen eines „innerhalb und außerhalb“ der Kirche überschreiten, werden so als kirchliches Wirken ernst genommen und tragen neue Erkenntnisse in den Diskurs zum Wesen der Kirche ein. Kirche, so lautet eine zentrale Beobachtung dieses Kapitels, fördert das Sozialkapital von Menschen und trägt damit auch zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei.

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Von Interaktionen kann man dann sprechen, wenn Personen einander wechselseitig wahrnehmen und sie in irgendeiner Weise aufeinander eingehen. Körperliche Anwesenheit intensiviert Interaktion, weil man mehr wahrnimmt und darauf wiederum reagiert (Mimik, Kleidungsstil, etc.), als das bspw. über Sprachnachrichten auf dem Smartphone der Fall wäre. Hier ist bereits angedeutet, dass Interaktion stark durch den digitalen Wandel beeinflusst wird und in der liquiden Moderne ausgesprochen flüchtig ist: „[…] zur Logik von Interaktionen in der modernen Gesellschaft gehört auch, dass sie zumeist schnell wieder zerfallen, weil Personen mobil sind, alltäglich unterschiedlichste Sozialkontakte haben und deswegen eher mit Vielen kurz als mit Wenigen kontinuierlich in Interaktion stehen.“129

Damit ist eine Interaktion als ein kleinstes und vorübergehendes Element im sozialen Miteinander charakterisiert. Sie gewinnt selbstverständlich dann an Stetigkeit, wenn Menschen regelmäßiger aufeinandertreffen. So baut sich zwischen den interagierenden Personen eine wie auch immer geartete Beziehung auf. Jede Person, die häufiger mit anderen Menschen verkehrt, ist demnach in ein soziales Netzwerk eingespannt.130 Um soziale Phänomene zu erklären, versucht die soziologische Netzwerktheorie, solche Netzwerke über Verbindungslinien zwischen Personen grafisch darzustellen. Dadurch werden bspw. in Organisationen besonders gut vernetzte Schlüsselakteure jenseits formaler Organigramme sichtbar.131 In den Sozialwissenschaften zog die Netzwerktheorie dann größere Kreise, als sie die Bedingungen und Konsequenzen von Netzwerken unter dem Begriff des Sozialkapitals diskutierte. Der Begriff wurde gegen Ende der 1980er Jahre erstmals prominent von dem US-amerikanischen Soziologen James Coleman in den Diskurs eingeführt.132 Er bemerkte, dass Schüler von katholischen Schulen ihre Schullaufbahn seltener vorzeitig aufgeben als Schülerinnen von bspw. säkularen Schulen. Das führte er darauf zurück, dass die katholischen Familien der Schülerinnen häufig auch im kirchlichen Leben miteinander in Kontakt stehen und sich dann auch eher über ihre Kinder und deren Schulerfahrungen austauschen. Derart vernetzte Familien nehmen negative Trends in den Schulen oder dem Leben der eigenen Kinder besser wahr und können dann auch gezielter einschreiten. Die Netzwerke aus Beziehungen zu anderen Personen beschrieb Coleman als eine Ressource, vergleichbar mit anderen Sorten von Kapital, wie bspw. dem Humankapital (also die Fähigkeiten und das Bildungsniveau von Personen) oder dem finanziellen Kapital. Auch wenn man auf das eigene Sozialkapital keinen garantierten Zugriff hat, weil Beziehungen nicht nur 129 130 131 132

Nassehi 2008, 71. Holzer 2011, 51. Vgl. Holzer 2010, 29–72 und Heidler et al. 2015, 361–362. Vgl. zum Folgenden Coleman 1988.

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in der eigenen Hand liegen, sondern dazu mindestens zwei Personen gehören, kann man darauf zurückgreifen, um sich Vorteile in Form von Informationen zu schaffen. Zugleich wirken die eigenen Beziehungen auch als Orientierung gebender Rahmen auf einen zurück. Normen werden als soziale Konvention stark vom eigenen Umfeld vorgegeben, kontrolliert und bei Abweichungen auch sanktioniert. Diese Dynamik, die bereits beim Institutionsbegriff diskutiert wurde, wird in Colemans Sozialkapitalbegriff von Familien, Freunden und Bekannten vermittelt. Aber nicht nur soziale Kontrolle, sondern auch Vertrauen in die Menschheit wird durch das Sozialkapital verstärkt. Je mehr ein Mensch in ein breites soziales Netz eingebunden ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass man anderen Personen gegenüber optimistisch eingestellt ist.133 Coleman ging für die USA von einem allgemeinen Verfall an Sozialkapital aus. Auch wenn er seine Vermutung nicht weiter ausführte, passt sein Konzept von Sozialkapital zum Wandel der soliden zur liquiden Moderne:134 Mit der steigenden Mobilität, die der technische Fortschritt ermöglicht und der Arbeitsmarkt einfordert, werden auch die sozialen Beziehungen belastet.135 In den 90er Jahren griff Robert Putnam Colemans Sozialkapitalbegriff wieder auf.136 In seiner groß angelegten Studie untersuchte er auf breiter empirischer Basis das Sozialkapital in den USA. Er führte die Unterscheidung zwischen bonding und bridging in die Debatte ein.137 Während das bonding (zu dt. das bindende Sozialkapital) auf engen Kontakten bspw. zu Familienangehörigen, Freunden oder zu häufig besuchten Gruppen basiert, knüpft das bridging (brückenbildendes Sozialkapital) an Bekanntschaften an, mit denen man eher losen Kontakt pflegt. Pointiert formuliert Putnam: „Strong ties with intimate friends may ensure chicken soup when you’re sick, but weak ties with distant acquaintances are more likely to produce leads for a new job.“138 Beide Arten von 133 Coleman 1988, 117–118. 134 Vgl. dazu Baumans Beobachtungen zu Beziehungen in der liquiden Moderne: „Indeed, the more liquid the world, the greater is our need for firm, reliable ties of friendship and mutual trust. […] On the other hand, that same liquid world privileges those who travel light; if the changed circumstances require us to move fast, long-term commitments are difficult to untie and may prove a cumbersome burden.“ Bauman 2006, 7. 135 Dass damit zwar Beziehungen ebenso wie die Folgen von Sozialkapital (Informationsvorteile, Normenstabilisierung und Vertrauen in die Mitmenschen) gefährdet sind, aber ein grundsätzlicher Niedergang an gesellschaftlicher Solidarität zumindest für Europa nicht festgestellt werden kann, machen die Niederländer Paul de Beer und Ferry Koster in ihrer differenzierten Studie zur Solidarität in der Gegenwart deutlich. Vgl. Beer und Koster 2009. 136 Erstmals beschrieb Putnam seine Beobachtungen in einem kleinen Aufsatz, der dann so viel Aufmerksamkeit generierte, dass Putnam seine Beobachtungen und Vermutungen sechs Jahre später auf einer solideren empirischen Basis vorstellen konnte. Vgl. Putnam 1995. 137 Wobei er dafür auf die Begriffe von strong ties und weak ties zurückgriff, die der Soziologe Mark Granovetter bereits in den 1970ern formulierte. Vgl. Holzer 2010, 17–18. 138 Putnam 2001, 395.

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Beziehungen bringen unterschiedliche Vorzüge mit sich, allerdings wohnt dem bonding ein besonderes Dilemma inne: Häufig werden enge Kontakte eher innerhalb eines sozialen Milieus geknüpft. Baumans und Becks Bild der soliden Moderne ist stark von solchen bonding-Momenten geprägt.139 Durch bonding bleiben bspw. konservative Bildungsbürgerinnen, kurdische Marokkaner, Bauarbeiter oder Politikerinnen der FDP eher unter sich. Für die so eingebundenen Personen ist das einerseits identitätsstiftend und sozial absichernd. Andererseits steigt dadurch die gesellschaftliche Stratifikation und der Austausch unter verschiedenen Gruppen und Milieus wird unwahrscheinlicher.140 Damit wird bonding keineswegs als negative Beziehung in der Netzwerktheorie disqualifiziert. Allerdings macht die Beobachtung von bonding-Mechanismen insbesondere dann vorsichtig, wenn sozial geschlossene Gruppen über Feindbilder wirkmächtige Exklusionsmechanismen ausbilden.141

2.3.1 Kirche als Interaktion Die allgemeinen Überlegungen haben vor Augen geführt, dass aus Interaktionen zwischen Menschen Netzwerke erwachsen, die sowohl an bestimmte Gruppen binden als auch Brücken zwischen Menschen unterschiedlicher Hintergründe bauen können. Solche netzwerktheoretischen Dynamiken werden in verschiedenen gegenwärtigen kirchentheoretischen Entwürfen und in unterschiedlicher Präzision auf das Wesen der Kirche übertragen und konkretisieren so den Kirchenbegriff.142 So ist das Kirchenverständnis von Isolde Karle stark davon geprägt, dass sie sowohl die inhaltliche Ausrichtung als auch das segmentär strukturierte kirchengemeindliche Leben in den Parochien von organisationalen top-down Zugriffen unberührt wissen will. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie Kirche ausgehend von den kirchengemeindlichen Interaktionen her denkt: „Kirche reali139 Bauman beschreibt z. B. mit bonding von Atomen in stabilen Molekülen die Solidität der vorangegangenen Moderne: „‚Bonding‘ […] is a term that signifies the stability of solids […].“ Bauman 2000, 1–2. 140 Vgl. Putnam 2001, 390. 141 Vgl. auch die zusammenfassende Analyse zu bonding und bridging bei Roßteutscher 2009, 54–62. 142 So macht z. B. Birgit Weyel deutlich, dass eine Interaktionale Sicht auf den Kirchenbegriff unbedingt nötig ist, um ein umsichtiges Bild von Kirche zu erhalten: „Kirche ist nicht nur als Institution und als Organisation zu denken, sondern sie ist stets auch an vielen Orten und in lebensweltlichen Kontexten präsent, in denen sie durch das Priestertum aller Gläubigen konstituiert wird. Die dezentralen Strukturen von Kirche können mit netzwerkanalytischen Instrumenten sichtbar gemacht werden.“ Weyel 2015, 339.

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siert sich primär und zuerst als Gemeinde und hat nur als Gemeindekirche eine Zukunft.“143 Sie begründet und konkretisiert ihren kirchentheoretischen Hang zur Interaktion mit der besonderen Dynamik, die sie Kirchengemeinden zuschreibt: „Hier [sc. in der parochialen Kirchengemeinde] entstehen religiöse Bindungen und lebenslange Loyalitäten. Hier kann aber auch jeder und jede in sicherer Distanz bleiben und trotzdem dazugehören. Das ist die große Stärke der Volkskirche.“144 Dieses Ideal einer Kirche, die Menschen beheimatet und zugleich deren Autonomie wahrt, knüpft Karle dann an ortsgebundene soziale Netzwerke an: „In den Ortsgemeinden gibt es nicht nur geplante Interaktionen, sondern vor allem auch viele ungeplante, zufällige, nicht organisierbare Interaktionen, die sich ohne großen Aufwand gleichsam von selbst ereignen – beim Einkaufen, beim Blick über den Gartenzaun, beim gemeinsamen Bier auf dem Gemeindefest etc. Nach allem, was wir von der weltweiten Ökumene wissen, ist bei lebendigen Gemeinden die gesellige, beziehungshafte Seite von größter Bedeutung für ihre Stabilität. […] Dafür ist die kommunikative Infrastruktur vor Ort elementar.“145

Das kirchliche Netzwerk besteht nach Karle allem voran aus weak ties in der (oft zufälligen) Begegnung vor Ort. Strong ties und ihren bonding-Effekten, die auch mache kirchlichen Gruppen und Kreise prägen, steht sie eher skeptisch gegenüber. Sie weiß zwar um die identitätsstiftende Bedeutung von intensiven Interaktionsnetzwerken, betont aber, dass sich kirchliche Geselligkeit nicht an der Intensität familiärer Geselligkeit orientieren kann.146 Demgemäß ist es ihr wichtig, den Akteuren im kirchlichen Interaktionsnetzwerk nicht vereinnahmend zu begegnen: „Die Menschen wollen auch künftig ihr Verhältnis zur Kirche autonom gestalten und aus der Distanz heraus in punktuelle Nähe treten. Zuviel Überhitzung und zu viele Interaktionszumutungen wirken abschreckend.“147 Auch wenn das soziale Netz der Kirche aus zahlreichen eher losen und manchmal auch intensiveren Kontakten aller Mitglieder untereinander besteht, schreibt Karle dem Pfarramt eine bedeutende Rolle zu: „Pfarrerinnen und Pfarrer haben die höchsten Kontaktwerte im Netzwerk Gemeinde und nehmen eine wichtige Brückenfunktion wahr. Sie vermitteln zwischen dem dichten Netzwerk der aktiven Gemeindeglieder und den Randsiedlern, die nur selten den Kontakt zur Kirche suchen. […] Kommen Pfarrerinnen und Pfarrer dieser Verant143 144 145 146

Karle 2008b, 63. Karle 2012, 618. Karle 2010c, 472–473. „Die Tradierung der Religion setzt dichte, dialogische Sozialbeziehungen voraus. Die kleinen, überschaubaren Sozialformen, in denen sich Menschen direkt begegnen und die Glaubwürdigkeit dessen, was sie sagen, ‚face to face‘ überprüfen können, sind unabdingbar für die religiöse Sozialisation und Identitätsbildung.“ Damberg et al. 2015, 325. 147 Damberg et al. 2015, 327.

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wortung nicht nach, hat das in der Regel prekäre Auswirkungen […] auf die Kirchenbindung vor allem der distanzierten Kirchenmitglieder. Denn diese nehmen die Kirche nahezu ausschließlich über die öffentliche Rolle des Pfarrers wahr […].“148

So sollen sich also gerade die Pastorinnen ihr brückenbildendes Sozialkapital zunutze machen, um z. B. in der face-to-face Kommunikation auf öffentlichen Veranstaltungen Wertschätzung für die Kirche(ngemeinde) zu generieren. Pfarrer haben nach dieser – in KMU V. empirisch bestätigten – Vorstellung eine hohe netzwerktheoretische Erreichbarkeit.149 Die Aufgabe, theologische Diskurse öffentlichkeitswirksam zu führen, siedelt Karle damit also nicht etwa als Auftrag einiger weniger leitender Theologinnen auf massenmedialer Ebene an. Vielmehr beschreibt sie dies als Aufgabe aller Pfarrer und durch gekonnte Platzierung in den parochialen Netzwerken.150 Pfarrerinnen haben als Knotenpunkte im parochialen Netzwerk demnach eine besonders kontaktintensive wie auch vermittelnde Aufgabe und Verantwortung. Es ist ein Spezifikum von Karles Kirchenbild, dass sie die Ortsgebundenheit der kirchlichen Interaktionsnetzwerke stark betont. Karle grenzt sich damit insbesondere von ihrer Kieler Kollegin Uta Pohl-Patalong ab. Letztere beschreibt solche Netzwerke als „kirchliche Orte“ sowohl parochial als auch überregional und stellt Karles segmentär strukturierter Kirchentheorie einen anders nuancierten Entwurf gegenüber.151 Kirche, so Pohl-Patalong, soll eben nicht nur in den immer gleichen Arten von Kirchengemeinde parallel aufgebaut sein, sondern sich zusätzlich in Profilgemeinden (z. B. Jugendkirchen), Funktionspfarrämtern (z. B. in der Gefängnisseelsorge) und anderen Formen an die individualisierten, pluralistischen und hochmobilen Herausforderungen unserer Gesellschaft anpassen.152 Solche nicht-parochiale Gemeinden sind auch Karle ( jedoch nur als optionale Ergänzung der klassischen Kirchengemeinde) wichtig und sowohl Karle als auch Pohl-Patalong wissen die territoriale Stabilität der Kirche gerade für die nachbarschaftliche Hilfe zu schätzen.153 Beide stehen sich dann vor allem in ihrer jeweiligen Bewertung von parochialen bzw. nicht-parochialen kirchlichen Orten für die zukünftige Ausrichtung der Kirche diametral entgegen. Während Karle mehr Ressourcen in die klassischen Parochien stecken will,

148 Bedford-Strohm und Jung 2015, 123. 149 Es müssen in einem Netzwerk also wenige Kontakte a werden, um mit der Pfarrerin Kontakt aufnehmen zu können. Vgl. Häußling 2015. 150 Vgl. Zur öffentlichen Theologie auch Karles Kritik an den öffentlichen Repräsentanten der Kirche, die ihre Funktion in den Massenmedien „überschätzen.“ Karle 2008a, 245. 151 Vgl. Pohl-Patalong 2006. 152 Vgl. Pohl-Patalong 2016, 43. 153 Vgl. Pohl-Patalong 2004, 136–138 und Karle 2010c, 476–477.

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plädiert Pohl-Patalong für andere innovative und ortsunabhängige Formen von kirchlichen Orten.154 Die Kritik von Pohl-Patalong an Karles starker Betonung von ortsgebundenen Kirchengemeinden lässt sich gut in der Vorstellung von Kirche als Interaktion aufnehmen. Kirchliche Interaktionsnetzwerke werden häufig durch parochiale Strukturen wie etwa die Ansprechbarkeit von regelmäßig anwesenden Ehrenamtlichen oder Hauptamtlichen gestärkt. Zugleich finden ortspolygame Menschen der zunehmend liquiden Moderne solche Netzwerke auch jenseits parochialer Kirchlichkeit z. B. in Citykirchen. Einen weiteren dezenten Einspruch erhebt Christian Grethlein.155 Er sieht die Rolle von Pastorinnen im kirchlichen Netzwerk als weniger zentral an. Stattdessen betont er die Bedeutung all derer für die Kommunikation des Evangeliums, die an diesem Netzwerk teilhaben: „[D]ie gesellschaftliche Bedeutung der Pfarrer/innen [nimmt] ab. […] Gaben 1966 noch 49 % der Deutschen besondere Achtung vor ‚Pfarrern/Geistlichen‘ an, waren dies 2013 nur noch 29 %. Schließlich zeigt ein statistischer Blick von außen, dass eine pastoraltheologische Konzentration Praktischer Theologie problematisch ist. Den etwa 22.000 aktiven Pfarrer/innen stehen 200.000 weitere in der Kirche und 400.000 in der Diakonie erwerbsmäßig Beschäftigte gegenüber – von den in den Millionenbereich reichenden sog. Ehrenamtlichen ganz zu schweigen.“156

Grethlein orientiert sich bei seinem Kirchenbegriff auf Interaktionsebene nicht an der Kirchenmitgliedschaft. Er bezieht auch ausdrücklich Menschen in das kirchliche Netzwerk mit ein, die aus der Kirche ausgetreten, aber getauft sind, oder die zwar konfessionslos sind, aber beten und an Gott glauben.157 Das provoziert dann aus organisationslogischer Sicht (die ja die formale Mitgliedschaft in einer Organisation zum wichtigen Kriterium erhebt) die Frage, was das kirchliche Interaktionsnetz im Unterschied zu anderen bspw. säkularen Interaktionsnetzwerken ausmacht. Für Grethlein ist vor allem die Frage entscheidend, ob in dem Netzwerk auch das Evangelium kommuniziert wird. Das kann im Modus des Lehrens und Lernens (z. B. in der Schule), im Feiern (beim Gottesdienst oder dem Straßenfest) oder dem helfenden Handeln (insb. in der Diakonie) geschehen. Bei der Kommunikation des Evangeliums geht es darum, die 154 Vgl. z. B. Pohl-Patalong und Kunz 2013. 155 In seiner Rezension zu Karles Buch „Kirche im Reformstress“ konnte Grethlein noch zu Recht darauf hinweisen, dass Karles Kirchenbegriff zu stark von einer Unterscheidung in eine (eher volkskirchliche) Kasualgemeinde und eine (eher kerngemeindliche) Gottesdienstgemeinde konstituiert wird. Diese Unterscheidung hat Karle in ihren jüngeren Publikationen aber durch ein komplexeres Modell von Teilhabe an kirchlichen Vollzügen ersetzt. Vgl. Grethlein 2011. 156 Grethlein 2016, 289. 157 Grethlein 2014, 291.

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abgeschlossene und in der Bibel überlieferte Interaktion Jesu Christi in ergebnisoffener und aktueller Interaktion zu interpretieren: „Sie [sc. die vergangene Interaktion Jesu Christi und die gegenwärtige Interaktion] müssen aufeinander bezogen bleiben, um spiritualisierende Einseitigkeit oder museale Erstarrung zu verhindern.“158 Wenn ein Interaktionsnetzwerk dazu genutzt wird, um das Evangelium Jesu Christi z. B. bejahend, erinnernd oder auch kritisierend zu interpretieren, handelt es sich um Kirche: „Formen kirchlicher Organisation sind […] nicht exklusiv für die Kommunikation des Evangeliums zuständig. Empirische Forschungen zeigen, dass auch außerhalb kirchlicher Organisation Evangelium […] kommuniziert wird.“159 Diese Perspektive auf das Wesen der Kirche ist herausfordernd, weil die eindeutige Beschreibung, die der Organisationsbegriff z. B. in Form eines Organigramms suggeriert, so in ein liquideres Verständnis überführt wird. Kirche als Interaktion ist auch mit den Begriffen der Netzwerktheorie nur schwer zu greifen. Wer tatsächlich zum kirchlichen Netzwerk dazugehört, entzieht sich der objektivierbaren Beobachtung. So wird sich keineswegs jede Person, die in Diakonie oder Nachbarschaft auf (wie explizit oder implizit auch immer) kommuniziertes Evangelium trifft, als Teil eines Interaktionsnetzwerks verstehen. Auch der alltägliche Smalltalk mit der Mitarbeiterin des Konfirmandenunterrichts bewirkt noch nicht unbedingt eine gefühlte Zugehörigkeit zum Netzwerk der Kirche. Grethleins Entwurf, aber auch Karles Konzept kirchlicher Interaktion erfahren dann in KMU V. eine empirische Erdung aus netzwerktheoretischer Sicht. Hier wurde das interaktionale Netzwerk einer Kirchengemeinde auf Dynamiken religiöser Kommunikation untersucht.160 Die Fokussierung auf religiöse Kommunikation hat erst einmal den entlastenden Vorteil, dass nicht nur solche Interaktionen in den Blick kommen, die sich auf das Evangelium Jesu Christi beziehen, sondern auch solche, die irgendwie mit einem Sinn des Lebens zu tun haben.161 Was religiös ist oder sich auf das Evangelium bezieht, wird in KMU V. so weniger normativ vorgegeben, sondern stärker durch die Akteure des kirchlichen Netzwerks bestimmt. Diese soziologische Sicht nimmt (im Gegensatz zu Grethleins Entwurf der Kommunikation des Evangeliums) dem kirchlichen Netzwerk zwar inhaltliche Greifbarkeit, ermöglicht so aber eine offenere Sicht auf die Gruppen und Personen, die in dem Netzwerk kommunizieren. Das ist schon deshalb wichtig, weil ein Ergebnis dieser Sicht ist, dass sich die Akteure des kirchlichen Netzwerks nur in ausgewählten Kreisen (zumeist die eigene Familie) über religiöse Inhalte austauschen und wohl noch seltener Evangelium kom158 159 160 161

Grethlein 2016, 171. Grethlein 2016, 171. Vgl. die Beiträge in Bedford-Strohm und Jung 2015, 337–446. Vgl. Plüss 2015, 444.

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munizieren.162 Es ist daher fraglich, ob Kirche als Interaktion erst durch den interaktionalen Bezug auf Religiosität oder das Evangelium konstituiert wird. Die Ergebnisse von KMU V. weisen treffender auf das Bild einer Kirche bei Gelegenheit hin. Hier treten die Akteure zu verschiedenen Anlässen miteinander in Kontakt und kommunizieren dort neben alltäglichen Dingen ggf. auch religiös. Dabei wurde insbesondere das hohe bridging-Potenzial von Kitas und Kirchencafés herausgearbeitet, weil dort Menschen zusammenkommen, die mit Kirche mehr oder weniger zu tun haben. Zugleich geraten solche Kirchenmitglieder würdigend in den Blick, die sich sowohl im nicht-kirchlichen Vereinswesen als auch im kirchlichen Netzwerk beteiligen. Die oft für den Gottesdienst postulierte milieuverbindende Funktion wurde dagegen relativiert: „Der niedrigste Wert [sc. an brückenbildendem Sozialkapital] findet sich bei den gemeinsamen Gottesdienstbesuchen, was bedeutet, dass diese Beziehungsart stark in der lokalen Bezugsgruppe bzw. der Kernfamilie verortet ist und kaum Brücken im Netzwerk bildet. Während insbesondere kirchliche Gruppen nützlich bei der Verbreitung von Informationen und Integration verschiedener Personengruppen sind, dienen gemeinsame Gottesdienstbesuche eher der wechselseitigen Bestärkung des Glaubens in den Familien und lokalen Gruppen.“163

Die Kontroverse um die Stellung von Pastorinnen in kirchlichen Netzwerken konnte KMU V. ebenfalls bereichern. Hier wurde empirisch festgehalten, dass insbesondere Pfarrer qua Amt verschiedene kirchliche Gruppen und Kreise interaktional verbinden und eher von kirchenfernen Mitgliedern auf religiöse Deutungen hin angesprochen werden.164 Gerade letzteres gilt aber auch für Kirchenmitglieder, die den Gottesdienst besonders oft besuchen: „Diejenigen, die häufiger in den Gottesdienst gehen, sprechen eher mit anderen über den Sinn des Lebens. Vor allem aber werden sie auch von mehr anderen als Gesprächspartner für den Sinn des Lebens genannt.“165 Diese Ergebnisse vermitteln also die Positionen zur Stellung des Pfarramts von Karle und Grethlein: Einerseits braucht es kommunikative Pfarrerinnen, um die Gruppen und Kreise des kirchlichen Netzwerks zu vernetzen und um die religiöse Kommunikation inhaltlich in Auseinandersetzung mit dem Evangelium zu prägen. Andererseits wohnt den engagierten Kirchenmitgliedern ein großes brückenbildendes Sozialkapital inne, das das kirchliche Netzwerk mit anderen Netzwerken verbindet. 162 „Nur bei etwas mehr als einem Viertel der Mitglieder ist Religion im Alltag überhaupt ein Gesprächsthema von Belang. Wenn dann noch die Gesprächspartner und -orte hinzugenommen werden, reduziert sich die Bedeutung explizit religiöser Kommunikation für die Alltagswelt zusätzlich: Sie findet mehrheitlich im Gespräch mit dem Ehepartner oder aber im engsten Kreis der Wahlverwandten und Freunde statt.“ Plüss 2015, 440. 163 Heidler et al. 2015, 384. 164 Heidler et al. 2015, 395–396. 165 Stegbauer et al. 2015, 442.

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Hauschildt/Pohl-Patalong haben in ihrem Lehrbuch „Kirche“ eine gruppendynamische Idealvorstellung des kirchlichen Netzwerks entwickelt. Dazu haben sie herausgearbeitet, dass neben den bridging- und bonding-Effekten in den verschiedenen kirchlichen Gruppenarten auch Normen mit unterschiedlicher Stärke diskutiert und durchgesetzt werden. Wurde eine starke Normenforcierung bei dem Soziologen Coleman in den 1980er Jahren noch pauschal positiv bewertet, problematisieren Hauschildt/Pohl-Patalong eine zu starke Orientierung an Normen in kirchlichen Kreisen: „Die Gefahr besteht darin, dass die religiöse Perspektive die psychosozialen Vorgänge und menschlichen Regelungen überhöht und sakrosankt macht. Es bilden sich ‚totale Gruppen‘. Und wenn das, was man von Gott glaubt und was man in der Gruppe sozial erfährt, sich widersprechen, wird die Gruppe zerfallen und der Glaube in die Krise geführt.“166

Aus diesen Gründen, aber auch um an eine ökumenische kirchliche Gemeinschaft anzuknüpfen und Menschen (wie schon bei Karle anvisiert) zudem durch zu starkes bonding nicht zu überfordern oder auszuschließen, plädieren sie für eine soziale Dynamik, die sie „partikulare-wir-Gruppe“ nennen. Partikular ist diese Dynamik, weil sie Menschen aus verschiedenen Identitäten (bspw. evangelikal, konservativ oder liberal) zusammenbringt, ohne sie dabei zu vereinnahmen. Zugleich markiert das „wir“ aber auch, dass kirchliche Gruppen gemeinsame Werte verbinden, wie z. B. die Vorstellung eines ewigen Lebens oder der Arbeit an einer gerechten Welt. Hauschildt/Pohl-Patalong ist es wichtig, dass kirchliche Interaktion in solchen Gruppen weder in (massiven) Konflikt nach außen mit allgemeinen gesellschaftlichen Normen wie Solidarität, Freiheit etc. gerät, noch dass die persönliche Freiheit von Einzelnen nach Innen durch die Gruppe eingeschränkt werden. Da Interaktion im kirchlichen Netzwerk nicht gruppenförmig ablaufen muss, sondern sich bspw. auch in spontanen und lockeren oder formal ritualisierten Kontakten abspielen kann, sprechen Hauschildt/Pohl-Patalong auch von Kirche als einer „relativen Gemeinschaft“. Individuen werden darin – ob in formalen Gruppen oder informellen Treffen – „immer nur partiell [umfasst].“167 Kirche als Interaktion macht wie schon die Institutionsebene deutlich, dass Kirche von ihren Akteurinnen her bestimmt wird. Die hierin liegende Autonomie derer, die sich einem kirchlichen Interaktionsnetz zugehörig fühlen, stellt die normative Idealisierung bestimmter Gruppendynamiken infrage. Insbesondere gegen Karles pauschale Ablehnung von gruppeninternen bonding-Effekten168 166 Hauschildt und Pohl-Patalong 2013, 141. 167 Hauschildt und Pohl-Patalong 2013, 155. 168 Wobei sich Karle eher gegen ein kirchliches Interaktionsideal wehrt, das sich an Familienstrukturen anlehnt. Vgl. Karle 2010c, 473.

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aber auch gegen Hauschildt/Pohl-Patalongs Favorisierung der partikularen-wirGruppe lässt sich anführen, dass es nicht der Kirchentheorie, sondern den Akteuren anheimgestellt ist, wie sie sich sozial organisieren. Wie gerade die Betrachtung von Exklusionsmechanismen und strong-ties herausgestellt hat, geht die Autonomie der Teilnehmer eines kirchlichen Interaktionsnetzes nicht ohne Risiko, aber eben auch nicht ohne Chancen einher. Gerade die Hochachtung dieser Autonomie sollte intensive wie auch distanzierte Gemeinschaftsformen als möglich und legitim erachten. Dazu zählt sowohl die Option intensiver Gruppenerfahrungen in strong-ties als auch die Wahl distanzierter Teilhabe in weak-ties bis hin zur Alternative, kirchlicherseits in Ruhe gelassen zu werden. So eine Offenheit gegenüber verschiedenen interaktionalen Bedürfnissen richtet sich gegen normierende Setzungen, egal ob sie allein auf exklusive bondingMomente oder aber allein auf brückenbildendes Sozialkapital aus sind. Zumal die Pastorinnen und Pastoren so von Karles Vorstellung entlastet werden, hauptverantwortlich für die Herstellung von bridging-Effekten zu sein.169 Ob ferner im kirchlichen Netz Evangelium, Religion oder Alltägliches kommuniziert wird, kann weder organisational noch dogmatisch vorgeschrieben werden. Was das kirchliche Interaktionsnetzwerk dabei sichtbar als „kirchlich“ markiert, ist, dass es an die Organisation Kirche angebunden ist. Diese Verbundenheit wird bspw. durch kirchliche Träger, kirchlich unterhaltene Gebäude, kirchlich engagierte Ehrenamtliche, kirchliche Hauptamtliche oder kirchliche Projekte hergestellt. So eine Verbindung stellt immer auch eine Möglichkeit dar, sich inhaltlich auf die eigenen Vorstellungen von Kirche und dem damit verbundenen Glauben zu beziehen. Bleibt diese Möglichkeit ungenutzt, kann man trotzdem von Kirche als Interaktion sprechen.170 Bezieht man sich in so einer Interaktion aber auf Kirche, Glaube, Evangelium oder Religion, kommt Kirche als Inszenierung zum Tragen. Ob diese Option wiederum implizit, explizit, häufig, selten, qualitativ herausragend oder mäßig genutzt wird, kann nur schwer zum Kriterium erhoben werden, ob in einer Interaktion Kirche konstituiert wird oder eben nicht. Allein die Möglichkeit, Kirche bzw. Evangelium oder Religion zu inszenieren und die Verbundenheit mit der Organisation Kirche machen ein Interaktionsnetz zu einem kirchlichen Netz.

169 Für die gängige Vielfalt, die das kirchliche Leben in unterschiedlichen Interaktionsintensitäten prägen vgl. Pohl-Patalong und Kunz 2013, 33. 170 So auch Hermelink und Weyel 2015, 22.

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Auf Interaktionsebene galt die organisationale Anbindung und die darin enthaltene Möglichkeit, sich auf Kirche oder Glaube zu beziehen als das entscheidende Kriterium, ob hier Kirche (als Interaktion) vorliegt oder nicht. Auf inszenatorischer Ebene wiederum wird nicht die Möglichkeit, sondern die tatsächliche Darstellung von Kirchlichkeit bzw. Glaube erfasst. Die Untersuchung kirchlicher Inszenierung greift die bisher dargestellten kirchentheoretischen Ebenen noch einmal auf. Allerdings unter der Fragestellung, wie Kirche zur Darstellung gebracht wird. Dabei wird diskutiert, wer Kirche wie inszeniert und welche Inhalte dabei aufgeführt werden. Der schottische Soziologe Erving Goffman hat in den 1950er Jahren menschliche Interaktionen aus Perspektive der Inszenierung beschrieben und dazu weitreichende Vergleiche zur Welt des Theaters gezogen.171 Jede Person oder Gruppe, so Goffman, präsentiert sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bezügen auf entsprechend unterschiedliche Weise. So gibt es „Hinterzimmer“, die Intimität, Geschlossenheit und Privatsphäre möglich machen und zur Abgrenzung oder Vorbereitung dessen dienen, was dann auf einer zugänglicheren und öffentlicheren Bühne des „Vorderzimmers“ vorgetragen wird.172 In beiden Bereichen oder „Szenen“ sprechen und handeln die womöglich gleichen Akteure unterschiedlich. Die Betreiber eines Hotels verhalten sich in der Hotelküche vor den eigenen Angestellten beispielsweise wesentlich weniger vornehm, als sie dies im Speisesaal vor den Gästen tun. Goffman geht es nun nicht darum, die eine Verhaltensweise als authentischer und die andere als weniger real oder gespielt zu beschreiben. Beides ist seiner Meinung nach soziale Realität, die aber unterschiedlichen Zielen und Regeln unterworfen ist.173 Jede Person und jedes Ensemble von Personen, so die zentrale These seines Werks, inszeniert sich nach bestimmten situativ variierenden Regeln sozialen Umgangs. Zu den Vorstellungen, wer zum aufführenden Ensemble gehört, wer das Publikum sein soll, wo die Inszenierung stattfindet und auf welche Requisiten und Masken zurückgegriffen werden darf, gibt es gesellschaftliche Strategien, Praktiken und Erwartungen.174 Was hier schon ganz ähnlich unter den Aspekten von Institution und Interaktion besprochen wurde, kleidet Goffman in ein theaterwissenschaftliches Sprachspiel und eröffnet damit neue Perspektiven: Jede menschliche Interaktion ist immer auch eine Darstellung, bei der Identität zum Ausdruck gebracht, ver171 172 173 174

Goffman 1956 oder in deutscher Übersetzung Goffman 2016. Vgl. Goffman 2016, 105. Goffman 2016, 61. Vgl. Goffman 2016, 35.

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handelt und zugeschrieben wird und die auch daran gemessen werden kann, ob sie für die involvierten Personen „überzeugend“ ist. Die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte greift in ihren Schriften stellenweise auf Goffman zurück und präzisiert dessen Beobachtungen. Sie lehnt es ab, jede menschliche Interaktion als eine dem Schauspiel vergleichbare Darstellung begreifen zu können.175 Um zu konkretisieren, wann eine Interaktion den Charakter einer Darstellung erfährt, führt sie ein Kriterium ein: die autopoietische Feedbackschleife, die Darsteller und Publikum miteinander verbinden.176 Erst wenn Menschen vor einem Publikum sprechen und handeln, die anwesenden Zuschauer dadurch beeinflusst werden und deren Reaktion dann wiederum auf das Verhalten der Darsteller rückwirkt, kann man von einer Darstellung sprechen. Das kann bspw. in einem Restaurant geschehen, wenn sich Gesprächspartner lautstark streiten und zugleich um die Anwesenheit anderer Gäste wissen. Hier entsteht eine besondere Dynamik, die das Verhalten von Darstellern und Zuschauern beidseitig prägt. Fischer-Lichtes Feedbackschleife markiert auch den Unterschied zwischen einer Inszenierung und einer performance. Bei einer Inszenierung plant eine Regisseurin bspw. in Anlehnung an ein vorliegendes schriftliches Drama und mithilfe zuvor ausgewählter Requisiten und Protagonisten eine Darstellung. Eine Inszenierung unterliegt strategischen Überlegungen, wie welche Wirkung erzielt werden kann. Eine performance ist dagegen nicht von der zuvor geplanten Wirkung einer Aufführung abhängig, sondern von den unvorhersehbaren Dynamiken zwischen Aufführenden und Zuschauerinnen, die während der performance herrschen. Die eigentliche performance „als ein ko-präsentischer Prozess erzeugt sich sozusagen selbst bzw. ihre eigene Wirklichkeit als eine autopoietische Feedbackschleife. Daher ist ihr Ablauf vor oder bei ihrem Beginn oder zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Dauer auch nicht vollständig planbar und vorhersagbar.“177

Das gilt für eine Darstellung im Theater ebenso wie für alltägliche menschliche Interaktionen. Auf welche Art sich eine Person oder Gruppe zu inszenieren versucht, kann geplant werden, aber die eigentliche performance wird aufgrund der anwesenden Zuschauer eine unvorhersehbare Dynamik und Wirkung entfalten.178 175 176 177 178

Vgl. Fischer-Lichte et al. 2014, 181–184. Vgl. Fischer-Lichte 2009, 4. Fischer-Lichte 2013, 55. Mit diesem Verständnis von Performanz greift Fischer-Lichte auf einen breiten sozialwissenschaftlichen Diskurs zurück, der hier wenigstens kurz erwähnt sei. Der Sprachwissenschaftler John L. Austin betonte erstmals die performative Wirksamkeit von Sprache, die z. B. in einer richterlichen Verurteilung oder einer Eheschließung neue Realität schafft. In unterschiedlichen Ritualtheorien wurde dies im Verlauf des 20. Jhdt. weiter erörtert. Auch

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2.4.1 Kirche als Inszenierung Dass sich Kirche auch unter den Gesichtspunkten der Inszenierung verstehen lässt, ist immer wieder am Beispiel des Gottesdienstes veranschaulicht worden. So hat David Plüss zu diesem Thema eine wichtige Arbeit vorgelegt.179 Auch die Frankfurter Theologin Ursula Roth hat den dazugehörigen Diskurs in ihrem Werk „Die Theatralität des Gottesdienstes“ gebündelt. Beide haben im Anschluss an Fischer-Lichte sowie andere theaterwissenschaftliche Konzepte Gottesdienste weiterführend reflektiert. Unter den Aspekten der Inszenierung, der Körperlichkeit180, der Wahrnehmung181 und der Performativität arbeiten sie jeweils die Theatralität des Gottesdienstes heraus. Dabei macht Roth deutlich: „Der Gottesdienst ist keine Theateraufführung.“182 Zwar gibt es vergleichbare Elemente, aber zwischen beiden Größen liegen institutionelle Unterschiede vor.183 Darauf weist auch Plüss hin, wenn er bemerkt, dass Gottesdienste keine künstlichen Produktionen sind, sondern dort „wirklich gesungen, gebetet, gepredigt und gesegnet“184 wird. Zudem ist das „Publikum“ im Gottesdienst zumindest immer potenziell auch Subjekt des Gottesdienstes und damit Teil des inszenierenden Ensembles.185 Zugleich ist die Möglichkeit der Distanzwahrung bzw. Distanznahme seitens der teilnehmenden Gemeinde immer gegeben. Außerdem stellt ein Gottesdienst nicht eine einzelne story wie bei einer Theateraufführung dar, sondern vergegenwärtigt szenenhaft verschiedene Momente insbesondere aus dem Leben Christi wie z. B. im Abendmahl. Aber der Rückgriff auf die Theaterwissenschaft ist gerade für das Verständnis des Gottesdienstes gewinnbringend. Fischer-Lichtes Definition von Performativität macht deutlich, dass in einer (z. B. gottesdienstlichen) Inszenierung eine Dynamik zwischen den An-

179 180 181 182 183 184 185

für den Feminismus ist der Diskurs zur Performativität weichenstellend. So weist Judith Butler darauf hin, dass die Konstruktion von Realität durch Sprache und Handlungen auch vor der menschlichen Körperlichkeit nicht Halt macht und bestimmte (insbes. geschlechtsspezifische) Vorstellungen auch durch den Körper zur Darstellung gebracht werden. Vgl. Fischer-Lichte 2013, 37–52. Plüss 2007. Unter dieser Kategorie lässt sich der Einfluss des eigenen Körpers auf die Rolle in der Inszenierung beschreiben. Vgl. Roth 2006, 30–38. Die Wahrnehmung zwischen Publikum und Schauspielerinnen ist bspw. notwendig, damit sich aus der Ko-Präsenz von beiden eine performative Dynamik entwickelt. Vgl. Roth 2006, 38–59. Roth 2006, 284. So auch der Praktische Theologe Holger Böckel in Anschluss an Roth. Vgl. Böckel 2017, 19–20. Vgl dazu auch die Besprechung von Roths Ansatz und weiteren liturgischen Konzepten bei Böckel 2017, 34–37. Plüss 2007, 15. Das ist nach Plüss etwa dadurch gegeben, dass „die Teilnehmenden ihre alltagspraktische Frömmigkeit in den Gottesdienst einbringen und reflektierend bearbeiten können.“ Plüss 2008, 256.

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wesenden entstehen kann, die ein unvorhergesehenes Erleben von Realität ermöglicht. So ein Erleben einer anderen Realität findet sicherlich häufiger (oder auch „primär“ nach Hermelink)186 im Gottesdienst als im Alltag statt, da die kirchliche Inszenierung im Gottesdienst besonders konzentriert und dicht zur Geltung kommt. Aber auch in anderen Bereichen kirchlichen Lebens wird inszeniert. So manches Gespräch im kirchlichen Interaktionsnetz kann Vorstellungen von Kirche zur Darstellung bringen. Oder auch ein Kirchturm ist ein Versuch, Vorstellungen von Kirche inszenatorisch auszudrücken.187 In der Kirchentheorie von Hauschildt/Pohl-Patalong wird dieser Verweischarakter der Kirche für Orte, Zeiten, Personen, Handlungen und Gespräche geltend gemacht.188 Sie greifen dabei nicht auf den theaterwissenschaftlichen Inszenierungsbegriff zurück, der ein aktives Gestalten voraussetzt, sondern sprechen von Kirche als Symbol. Im Unterschied zu einer Inszenierung setzt Kirche in ihrem Symbolcharakter darauf, dass sie gewissermaßen automatisch und aus sich selbst heraus eine Wirkung entfaltet, die auf Gott, religiöse Vorstellungen oder etwas wie auch immer geartetes Heiliges verweist. In einer Gesellschaft multipler Säkularitäten ist dieser Verweischarakter keineswegs selbstverständlich. Worauf Kirche als Symbol verweist, ist stark davon abhängig, wer mit diesem Symbol in Berührung kommt und welche biografischen Erfahrungen dahinterstehen.189 Nimmt man diese Dynamik allerdings in den Inszenierungsbegriff mit auf, entlastet dies Kirche als Inszenierung davon, den Inhalt und die Wirkung von Inszenierungen immer neu hervorbringen zu wollen. Kirche als Inszenierung wird zumindest dort durch ihren Symbolcharakter geprägt, wo ein Bewusstsein von den Dingen vorhanden ist, für die die Kirche stehen kann. Wendet man sich der Inszenierungsleistung von Kirche zu, die durch Akteure (durchaus auch im Rückgriff auf den inhärenten Symbolgehalt von Kirche) hergestellt wird, provoziert die Vielfalt an inszenatorischen Möglichkeiten die Frage, wer kirchlicherseits inszeniert und was konkret inszeniert wird. 186 Hermelink 2011, 117. 187 Wobei hier nach Fischer-Lichte nicht von performance gesprochen werden kann, da die intendierte Wirkung in diesem Fall weder an die Reaktion eines Publikums noch menschlicher Darsteller gekoppelt ist. Eine Inszenierung liegt aber dennoch vor, wenn eine Architektin eine bestimmte Wirkung mit einem Gebäude anstrebt. 188 Vgl. Hauschildt und Pohl-Patalong 2013, 119–129. 189 Stärker noch als Hauschildt und Pohl-Patalong wurde die biografische Abhängigkeit des Symbolcharakters von Kirchengebäuden in der empirischen Untersuchung von Anna Körs herausgearbeitet. Sie fand heraus, dass gerade bei Schülerinnen und Schülern ein Kirchengebäude keine besonderen religiösen Gefühle hervorruft: „Ein Drittel gibt an, dass die Kirche ‚gar keine‘ Gefühle hervorruft und knapp ein weiteres Fünftel antwortet mit ‚weiß nicht‘; dass die Kirche ‚positive Gefühle‘ hervorruft, geben hingegen nur 37 % der Schüler in Wismar und 16 % der Schüler in Stralsund an. […] Auch hier gilt also der Einwand, dass keine unmittelbare, pure Eigenwirkung des Kirchenraums existiert, sondern vielmehr auch das emotionale Leben des Kirchraumes sozial-kulturell geformt ist.“ Körs 2014, 34.

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Die von Fischer-Lichte durch Ursula Roth in den praktisch-theologischen Diskurs eingeführte autopoietische Feedbackschleife, die die Grenze zwischen Publikum und Darstellern verwischt, weist bereits auf eine wichtige Eigenheit kirchlicher Inszenierung hin. Alle Personen, die getauft sind und in irgendeiner distanzierten, kritischen oder interessierten Weise an der Institution Kirche teilhaben oder in ihrem Interaktionsnetz eingebunden sind, können zum Ausdruck bringen, wie sie Kirchlichkeit verstehen. Wer Kirche als Inszenierung darstellt, lässt sich nicht normieren. Selbstverständlich gibt es Personen in der Organisation Kirche, die über zentrale Aufgabe verfügen oder die einen Knotenpunkt im Interaktionsnetz der Kirche einnehmen. Solche Personen werden ihr Verständnis von Kirche auch häufiger zum Ausdruck bringen.190 Das gilt umso mehr für einen Gottesdienst, bei dem in aller Regel zuvor festgelegt wird, wer bei der Inszenierung aktiv mitgestaltet. Aber auch hier lässt sich eine eindeutige Einordnung in ein Ensemble, das Kirche inszenieren darf, und ein Publikum, das diese Inszenierung (lediglich) begutachtet, nicht aufrechterhalten. Alle Anwesenden haben zumindest potenziell Anteil an der performance. Vor einer normierenden Zweiteilung der Kirche in Aktive und Passive warnt Grethlein, wenn er schreibt: „[D]ie sakrale Aufwertung von […] Pfarrer/innen [führt] zum Aufbau einer binnenkirchlichen Sonderwelt und in die Alltagsferne.“191 Stattdessen sollen die Pastorinnen als theologisch ausgebildetes Personal den anderen Interessierten bei der „Kommunikation des Evangeliums assistieren“192. Da Kommunikation als Interaktion, mit Goffman gesagt, immer auch ein inszenierendes Element innewohnt, sind alle Getauften und darüber hinaus auch die kirchlich interessierten Menschen angesprochen, Kirche als Inszenierung mitzugestalten.193 Damit ist auch schon angedeutet, was Kirche konkret inszeniert. In seiner kirchentheoretischen Ausgestaltung des Inszenierungsbegriffs schreibt Hermelink dazu, „[d]ass die Kirche in ihrer gesamten sozialen Gestalt […] auf das Evangelium verweist […].“194 Er führt dazu konkreter aus, dass die Kirche die 190 Gegen Grethleins Amtsverständnis rücken Hauschildt und Pohl-Patalong, aber auch Hermelink hier besonders die Pastoren in das Rampenlicht kirchlicher Inszenierung. „Unter den kirchlich beruflich Tätigen nimmt die pastorale Rolle eine herausragende Stellung ein. Die Institution Pfarramt symbolisiert par excellence Kirche, repräsentiert sie in der Gesellschaft. Allen Interaktionen mit Pfarrerinnen und Pfarrern wird zugeschrieben, dass sie für kirchliche Interaktion stehen.“ Hermelink 2011, 70. Vgl. Hauschildt und Pohl-Patalong 2013, 124–125. 191 Grethlein 2016, 569. 192 Grethlein 2016, 569. 193 Wobei Hermelink zurecht einwendet, dass die Taufe eine Einladung darstellt, Kirche mitzugestalten. Aber die tatsächliche Gestaltung geschieht erst in der Übernahme von Aufgaben und Rollen in Ehren- und Hauptamt. Vgl. Hermelink 2011, 69–70. 194 Hermelink 2011, 116.

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eigene Vielfalt und Einheit darstellt, wenn z. B. jedes Kirchengebäude verschieden aussieht, aber doch zu erwartende, einheitliche Merkmale wie ein Kreuz besitzt. Außerdem schwingt in kirchlichen Inszenierungen immer die eigene Tradition mit, die z. B. im Abendmahl auf überlieferte Narrative zurückgreift. Für Hermelinks Entwurf ist es wichtig, dass auch die grundsätzliche Unorganisierbarkeit des Glaubens inszeniert wird. Glaube kann keinesfalls aufgezwungen oder durch strategische Vorüberlegungen einer Inszenierung hergestellt werden.195 Daher braucht es Orte für Leerstellen, Rückfragen oder Distanznahmen, die inszenatorisch berücksichtigt werden müssen. Diese Konkretisierung des zu inszenierenden Evangeliums lässt sich gut mit dem Evangeliumsbegriff nach Grethlein verbinden. Grethlein versteht unter Evangelium die überlieferten Impulse aus dem Leben Jesu, die es nun zu kommunizieren gilt. Erst in einem offenen Kommunikationsprozess kann ersichtlich werden, was diese Inhalte heute austragen, bzw. mit Hauschildt/Pohl-Patalong gesprochen, „symbolisieren“. Für Grethlein ist es fundamental, dass Kommunikation nicht nach einem Sender-Empfänger-Modell funktioniert, in dem ein Profi Informationen einseitig an Unwissende weitergibt. Vielmehr geht es um einen offenen Austausch, bei dem alle Beteiligten gleichermaßen berücksichtigt werden. Kirche als Inszenierung lebt also davon, dass Menschen ihr Verständnis von dem, was Evangelium ist, zur Darstellung bringen können. Das ist, wie bei Goffman bereits eingangs dargestellt, ausgesprochen kontextabhängig. Im „Vorderzimmer“ eines hochliturgischen Festgottesdienstes wird anders inszeniert als im „Hinterzimmer“ eines lockeren Gesprächs am Gemeindefest um den Grill herum. Der Inszenierungsbegriff macht überdies hinaus dafür sensibel, dass es verschiedene Formen der Ästhetik gibt, derer sich Darstellungen von Glaube und Kirche im Alltag bedienen können. Die Festlegung auf eine dominante ästhetische oder inhaltliche Ausdrucksgestalt des Evangeliums ist in einer liquider werdenden Moderne unverständlich. Je mehr Menschen auf ihre individuelle Art und Weise an der Kommunikation des Evangeliums teilnehmen, desto vielfältiger und facettenreicher werden auch die damit einhergehenden Inszenierungen des Evangeliums. Versteht man Kirche als Inszenierung, so ist das nicht im Singular, sondern nur im Plural möglich. Kirche entwickelt nicht die eine Inszenierung des Evangeliums, sondern macht eine kaum fassbare Vielfalt an Darstellungen des Evangeliums sichtbar. Das stellt natürlich auch eine Herausforderung dar, weil unterschiedliche, z. T. auch einander widersprechende Vorstellungen von Kirche oder Evangelium aufeinandertreffen. Kirche als Inszenierung kann dann keine durchweg harmonische Darstellung werden, sondern wird auch Konflikte aufzeigen. In einer globalisierten Gesellschaft multipler 195 Vgl. Hermelink 2011, 119–121.

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Modernen und Säkularitäten ist das allerdings notwendig, um der Vielzahl an Identitäten gerecht zu werden. Um diese spannungsreiche Vielfalt angemessen zum Vorschein zu bringen, ist ein Rückgriff auf Fischer-Lichtes performanceBegriff hilfreich. Wie auch bei Grethleins Kommunikationsbegriff wird der Moment einer Darstellung so zum Ereignis, das durch viele Anwesende bestimmt wird und sich der Kontrolle durch dominante Akteure wenigstens stellenweise entzieht. Wie sich Kirche z. B. im Gespräch, im Gottesdienst oder im helfenden Handeln darstellt, wird dann in der jeweiligen Szene ausgehandelt werden, ohne dass ein vorher sorgsam herausgearbeiteter und definierter Begriff das Geschehen zu einem schon im Voraus feststehenden Ergebnis führen könnte. Die autopoietische Feedbackschleife weicht solche soliden Vorstellungen von Kirche auf und hält sie für individuelle Aneignungen, Interpretationen, Kritiken und Veränderungen offen.

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Fazit: Wird die Kirche immer liquider?

Bauman und Beck sprachen im Zusammenhang von ehemals soliden Strukturen, die zwar gesellschaftlich noch bestehen, aber ihre allgemeine Prägekraft im Zuge der liquider werdenden Gesellschaft verloren haben, von Zombiekategorien.196 Wirkten sie in der soliden Moderne noch selbstverständlich, so müssen sie nun als eine Option unter vielen gewählt werden. Mit allen daran angeschlossenen Konsequenzen. So muss die individuell getroffene Wahl ggf. als legitim verteidigt werden und das Risiko, richtig oder falsch zu liegen, wird nicht mehr von einem Kollektiv, sondern eben der Einzelnen getragen. Identitäten können wegen der (scheinbar) selbstgewählten Hybridität nicht mehr eindeutig zugeordnet werden und es werden Gewinner und Verliererinnen der liquiden Moderne produziert.197 Gerade im Rahmen der Säkularisierung bzw. der Transformierung des Religiösen liegt es nahe, Kirche als so eine Zombiekategorie darzustellen, und man hat damit ja auch nicht ganz unrecht. Denn die Kirche gehört sicherlich nicht mehr zu den integrierenden wie auch normierenden Strukturen, die das Leben der Individuen heute kollektiv und dominant bestimmen. Es gab eine Zeit, in der die Zugehörigkeit zur Kirche mitsamt den daraus resultierenden Orientierungen oder Zwängen allgemein gültiger war als heute. Das Problem mit dem Bild des 196 Vgl. Beck und Beck-Gernsheim 2002a, 27 und Bauman 2000, 8. 197 „The main, the most nerve-breaking, worry is not how to find a place inside a solid frame of social class or category and, having found it, how best to guard it and avoid eviction. What makes one worry is the suspicion that the hard-won framework will be soon torn apart or melted.“ Bauman 2002b, 126.

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Zombies ist jedoch, dass es die scheinbare Lebendigkeit nur suggeriert und der Verfall bzw. Tod der Kirche damit bereits beschlossene Sache und nur noch eine Frage der Zeit ist.198 Die Orientierung an ehemals soliden Eigenheiten würde, so die Unterstellung, in die Bedeutungslosigkeit und damit in den sozialen Tod der Kirche führen. Eine Neuausrichtung nach liquiden Kriterien würde dagegen den unsicheren Fortbestand in einer massiv gewandelten und risikoreichen Welt wagen. Es wird der Kirche jedoch nicht gerecht, sie auf diese zweigeteilte Weise in das Narrativ von der soliden Moderne, die zunehmend liquider wird, einzuzeichnen. Denn sowohl die Gesellschaft als auch die Kirche werden nur stellenweise liquider. Solidität ist zudem inhaltlich nicht eindeutig negativ und rückwärtsgewandt gefüllt. Sie kann auch Zuverlässigkeit und Sicherheit bedeuten. Umgekehrt geht Liquidität nicht nur mit Zukunftsoptimismus, Freiheit und Selbstbestimmung, sondern auch mit neuen Zwängen und Ängsten einher. Im Folgenden wird daher der Versuch unternommen, Kirche in ihrer Komplexität in Baumans und Becks Gesellschaftstheorie einzuordnen, ohne dabei in einen unangemessenen Abgesang auf die Kirche einzustimmen. Hier ist die Auseinandersetzung mit der Frage weiterführend, an welchen Stellen die Kirche an den liquider werdenden Bedingungen unserer Moderne teilnimmt oder sich an einer solideren Moderne zu orientieren versucht, in der eine größere religiöse und kulturelle Eindeutigkeit vorherrschte. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine pauschale Entweder-oder-Option. Kirche ist ebenso wie die Gesellschaft insgesamt von multiplen Modernen, Säkularitäten und einer entsprechend vielfältigen Religiosität geprägt.199 Es gibt auch keine deutschlandweit gültige Tendenz hin zu einer liquiden oder soliden Kirche. Trotzdem ist es sinnvoll, Kirche in das Narrativ der liquider werdenden Moderne einzulassen und sie darin zu verorten. Nicht zuletzt, um das Wesen der Kirche in der Gegenwart angemessen und spannungsvoll verstehen zu können.

198 So sieht das z. B. jüngst der im kirchentheoretischen Diskurs weitestgehend unbeachtet gebliebene Kirchenreformer Wolfgang Nethöfel. Er beschreibt die Kirche in ihrer Institutionsartigkeit als ein schwerfälliges und kaum noch prägendes Gebilde, das wegen finanzieller Schwierigkeiten in der aktuellen Form untergehen wird. Vgl. Nethöfel et al. 2016, 25– 76. 199 Die multiplen Modernen der Kirche werden neuerdings auch stärker kirchentheoretisch beleuchtet. Besonders erwähnenswert ist die gemeinsame Veröffentlichung aus Greifswald und Bonn, die vornehmlich die Situationen der Kirche im westdeutschen bzw. ostdeutschen ländlichen Raum untersucht. Vgl. Hauschildt et al. 2016.

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Kirche als liquide Organisation Kirche als Organisation entscheidet über die menschlich gestaltbaren Bereiche der Kirche. Das kann auf allen Struktur- und Hierarchieebenen der Kirche geschehen. Egal, ob es sich um Gruppen und Kreise, Gemeinden, Projekte, Dekanate, Landeskirchen oder die höchste Ebene der EKD handelt. Die Entscheidungen einer Organisation orientieren sich dabei an einem Programm. Die Frage, ob Kirche als Organisation nun an soliden Strukturen oder liquiden Dynamiken teilnimmt, wird immer auch durch das zugrundeliegende Programm bestimmt. Nach dem Narrativ der soliden Moderne ist die Realität planbar und total gestaltbar. Es gibt dafür eindeutige organisationale Bereiche wie ein Fabrikgelände oder den Nationalstaat. Dort herrschen Programme, also Regelsysteme, die das Verhalten der Arbeiterinnen oder Bürger eindeutig und möglichst umfassend normieren.200 In der liquiden Moderne öffnen sich diese Organisationsbereiche, weil sie durch Globalisierung und Individualisierung immer öfter überschritten und damit auch zunehmend hinfällig werden. Einer Organisation schließt man sich dem liquiden Ideal nach dagegen nur solange an, wie daraus auch (ökonomische) Vorteile entstehen. Das gilt zumindest, solange man sich zur glokalen Elite und nicht dem lokal gebundenen Abfall halten kann, solange man also über die eigenen Zugehörigkeiten eigenmächtig verfügen kann.201 Zeichnet sich das Programm dadurch aus, dass es keinerlei inhaltliche Orientierungspunkte oder gar Festlegungen vornimmt, so wie es z. B. das Konzept der populären Religion bei Knoblauch vorsieht,202 dann ist die Kirche hier ausgesprochen liquide. Das organisationale Formalziel einer solchen Kirche wäre es z. B., so viele religiöse Haltungen wie möglich abzubilden. So ein Programm ließe sich nicht auf einen bestimmten Inhalt festlegen, sondern es stellt dem Einzelnen solche Festlegungen anheim. Was Kirche organisational ist, das müssen die Akteure immer wieder neu und allein für sich von Grund auf entscheiden. Kirche würde dann an der liquiden Moderne partizipieren, weil die Chancen und Risiken der Religion auf individueller Ebene ausgehandelt werden. Ob der eigene Glaube z. B. erfüllend ist oder krank macht, ist hier allein Sache der Einzelnen. Demgegenüber wäre die organisationale Festlegung auf einen bestimmten Glaubensinhalt das Kennzeichen einer soliden Kirche. Das ist z. B. in Preuls 200 „The totalitarian society of all-embracing, compulsory and enforced homogeneity loomed constantly and threateningly on the horizon – as its ultimate destination, as a never-fullydefused rime-bomb or never-fully-exorcized spectre. That modernity was a sworn enemy of contingency, variety, ambiguity, waywardness and idiosyncrasy, having declared on all such ‚anomalies‘ a holy war of attrition.“ Bauman 2000, 25. 201 Vgl. Beck 2011, 164–168. 202 Vgl. z. B. Knoblauch 2009, 272–273.

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Kirchentheorie der Fall, die ein christliches Wirklichkeitsverständnis ausruft, das sich an der lutherischen Rechtfertigung orientiert. Wer hier inhaltlich nicht mitgeht darf gerne aus der Kirche austreten. Dieses Kirchenverständnis mündet dann womöglich in einer Zombiekirche, die versucht eine Orthodoxie über Normativität aufrechtzuerhalten, obwohl die kollektive Prägekraft dazu längst nicht mehr vorhanden ist.203 Zwischen diesen beiden Polen einer liquiden und soliden Organisation Kirche gibt es auch eine vermittelnde Position.204 Grethlein erhebt sein Konzept der Kommunikation des Evangeliums zum organisationalen Programm der Kirche: „(Organisierte) Kirche ist ein wichtiger Ort der Kommunikation des Evangeliums. Sie eröffnet Räume für Lehr- und Lernprozesse, gemeinschaftliches Feiern und Helfen zum Leben. Doch zeigt ein Blick in die Christentumsgeschichte die große Gefahr, dass sich Kirche bzw. kirchliche Amtsträger an die Stelle der Kommunikation des Evangeliums setzen. Schließlich erfordern die Veränderungen in Gesellschaft und Kultur jeweils Transformationen der Kommunikation des Evangeliums – und dies hat Konsequenzen für die Gestaltung und Organisation von Kirche.“205

Er bindet damit das Programm der Kirche an biblische Impulse, also das Evangelium.206 Allerdings in dem Wissen, dass längst nicht alle Mitglieder der Organisation davon auch überzeugt sind. Die biblischen Inhalte haben darum keine normierende Macht über den Glauben der Mitglieder. Vielmehr geht es in der Organisation Kirche darum, bei der Auseinandersetzung mit dem Evangelium zu assistieren. Der Ausgang so einer Beschäftigung ist allerdings offen. Es kann gerne zur Veränderung, Annahme, Kritik, Verwerfung, Weitergabe oder Missachtung der konkreten Inhalte kommen. Das organisationale Programm ist in diesem Modell solide, weil es an konkrete ursprüngliche Impulse gebunden bleibt, die zumal kanonisiert sind. Zugleich ist Kirche hier aber auch liquide, weil der Umgang mit dieser inhaltlichen Rückbindung von den Mitgliedern offen gestaltet wird. Ganz in diesem Sinne fragt die Schweizer Theologin Christina aus 203 So ruft Preul die Rechtfertigungslehre zum Kern der dogmatischen Festschreibung der Kirche aus und möchte „die Aktualität der Rechtfertigungslehre […] unter Beweis stellen“. Das gelingt ihm, wenn dann nur am Beispiel der durch die Rechtfertigungsbotschaft kritisierten Leistungsgesellschaft. Dass diese Kritik auf keine empirisch messbare Resonanz trifft, stört den Kirchentheoretiker dabei nicht. Vgl. Preul 1997, 171–177. 204 So auch Karl Gabriel: „Kirchen können nicht unbegrenzt ihre Programme kontingent setzen, entscheidungsoffen definieren und den veränderten Umwelterfordernissen anpassen. Sie leben von der Bindung an eine Ursprungsbotschaft, die sich nicht ohne Gefährdung der Identität in eine fluide Organisationsideologie verwandeln lässt. Zwischen der Zementierung kirchlicher Lehre und aus ihr abgeleiteter kirchlicher Programme und einer grenzenlosen Anpassungsbereitschaft liegt aber ein weites Feld.“ Gabriel 2014, 49. 205 Grethlein 2016, 393–394. 206 Übrigens sieht auch Hermelink die Rückbindung an Grundtexte als ein wesentliches Merkmal kirchlicher Organisationslogik. Vgl. Hermelink 2011, 92–93.

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der Au daher völlig zu Recht: „Was passiert, wenn Kirche nicht ihre eigene Identität im Sinne einer ‚Einheitlichkeit‘ sucht, sondern fröhlich die Fragmentierung und Hybridität ihrer Lebensformen und die Diversität der Lebenswelten ihrer Mitglieder bejaht?“207 In Grethleins Entwurf kommt Kirche in eben diesem Spannungsverhältnis zum Tragen. Die Rückbindungen an das Evangelium suchen einerseits eine solide Einheitlichkeit für die Kirche. Andererseits wird diese Einheitlichkeit durch die individuelle Transformierung des Evangeliums für liquider werdende Lebensverhältnisse geöffnet. Ein anderer Punkt, an dem die Organisationslogik der Kirche oft genug in ihrer Solidität verhaftet bleibt, ist die Einteilung in Mitglieder und Nicht-Mitglieder. Diese binäre Logik geht in den hybriden Identitäten unserer Gegenwart nicht mehr auf.208 Menschen halten sich in ihrer Biografie vielleicht zeitweise zur Kirche und distanzieren sich dann wieder. Der Mitgliedsbegriff suggeriert allerdings eine Zugehörigkeit, die mitunter nicht mehr gegeben ist. Diese finanziell sehr lukrative Art, Kirchenmitgliedschaft zu denken und zu organisieren, ist der flexiblen Identitäts- und Beteiligungskultur unserer Moderne kaum noch angemessen.209 Konflikte zu liquiden Zugehörigkeitsverhältnissen entstehen z. B. dann, wenn Taufpaten, die keine Kirchenmitglieder sind, für dieses Amt aus bürokratischen oder bekenntnisfixierenden Gründen nicht zugelassen werden.210 Holger Ludwig weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass eine rein organisational verstandene Mitgliedschaftspraxis in der Gefahr schwebt, den Glauben, das Engagement oder die Finanzen der Kirchenmitglieder unsachgemäß zu vereinnahmen.211 Das gleiche Urteil gilt für die Organisation der Mitglieder in Parochien. Das ist zumindest dann der Fall, wenn aus der reinen Zugehörigkeit zu einer Kirchengemeinde durch den Erstwohnsitz auch das Verhalten der Mitglieder begrenzt werden soll. Wie und wo sich die Beteiligung am kirchlichen Leben realisiert, 207 Vgl. Au 2014, 213. 208 Im kirchentheoretischen Diskurs wird das schon länger beobachtet. Insbesondere Lindner macht sich für eine liquidere Mitgliedschaft der Kirche stark. Vgl. Herpich und Lindner 2010, 24 und auch die Besprechung Lindners bei Ludwig Ludwig 2010, 239. 209 Grethleins vorgestellte Alternative, über eine Online-Plattform auch lockere und zugleich stabilisierende Mitgliedschaftsformen herzustellen, ist jedoch fraglich und schätzt die Möglichkeiten der sozialen Netzwerke zu optimistisch ein. Vgl. Grethlein 2016, 506–507. 210 Vgl. dazu Fechtner und Lutz 2009, 141. 211 Vgl. Ludwig 2010, 393–394. Ludwig zielt dabei allerdings nicht, wie in dieser Arbeit geschehen, auf die anderen soziologischen Ebenen der Kirchentheorie ab. Er hat vielmehr eine Beschränkung der organisationalen Logik mit Hilfe von ethischen und dogmatischen Argumenten im Sinn. Dabei legt er einen überzeugenden Entwurf vor, der in seiner theologisch-dogmatischen Tiefe in der hier vorgeschlagenen kirchentheoretisch-zivilgesellschaftlichen Perspektive jedoch nicht zur Geltung kommen kann. Schließlich richtet sich der Blick dieser Arbeit nicht auf die genuin dogmatisch-ethischen Herausforderungen einer zivilgesellschaftlich orientierten Kirche.

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kann den oft ortspolygamen Menschen höchstens als Angebot vorgeschlagen werden. Hier liegt aber auch eine ganz zentrale Leistung der soliden Kirche vor. Denn gerade für die lokalen Menschen, die Bauman drastisch als „Abfall“ der liquiden Moderne beschreibt,212 weil sie nicht mobil sind und von ihren glokalisierten Mitmenschen abgehängt werden, wird in den parochialen Strukturen ein attraktives Angebot gemacht.213 Es gilt aber weiterhin, dass parochiale Landkarten das Verhalten der Mitglieder nicht mehr normieren, sondern als Rudiment solider Denkstrukturen Unverständnis einerseits und Unterstützung andererseits schaffen können.214 Kirche partizipiert als Organisation sowohl an soliden als auch an liquiden Momenten. Solide ist bspw. die Beharrlichkeit, mit der sie an ihren biblischen und dogmatischen Wurzeln festhält. Zugleich kann Kirche den Umgang mit diesen Inhalten in einem liquider werdenden Umfeld nicht normieren. Inwiefern sich die Entscheidungen der Kirche dann vor Ort an kirchlichen Grundtexten ausrichten, muss offenbleiben. Darauf weist auch Gerhard Wegner hin: „Es gibt auf keiner Ebene der Kirche so etwas wie Leitungs-‚Gewalt‘, die nicht auf den stillschweigenden oder ausdrücklichen Konsens der Geleiteten angewiesen wäre. Bindend ist diejenige Lehre, die nach reiflicher Prüfung mittels eines im Glauben begründeten Kommunikationsprozesses des Glaubenden als bindend erfahren wird. Umgekehrt: Was nicht als bindend erfahren oder gewusst wird, kann auch nicht bindend sein.“215

Kirchliche Organisationslogik folgt also dort einer vergangenen Solidität, wo sich ihr Verhalten auf parochiale Muster und eine Mitgliederlogik stützt, die strikt zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern unterscheidet. Für Verwaltungsprozesse ist das natürlich notwendig, allerdings sollten diese Prozesse die liquider werdende Realität nicht überschreiben, sondern sich selbst beschränken.216

212 Vgl. z. B. Bauman 2009, 8. 213 So auch Hermelink: „Die Bindung wesentlicher Aspekte des kirchlichen Handelns an den Wohnort macht dieses Handeln relativ leicht erreichbar und zugänglich, und zwar gerade für diejenigen Gruppen, deren Mobilität eingeschränkt erscheint: für Kinder, junge Familien, ältere Menschen. In der Ortsgemeinde findet sich daher, wie Ernst Lange formuliert hat, das ‚Ensemble der Opfer‘; die parochiale Organisation erscheint für die Verlierer der gesellschaftlichen Modernisierung besonders attraktiv und besonders nötig.“ Hermelink 2011, 133. 214 Vgl. dazu auch Pohl-Patalong 2016, 45. 215 Wegner 2008, 298. 216 So auch der Praktische Theologe Thomas Schlag: „Problematisch wird es […] dann, wenn […] Organisationsprinzipien etwa aus dem Bereich kirchlicher Verwaltung oder des Kirchenrechts als die prioritären Richt- und Entscheidungsgrößen angesehen werden, nach denen sich dann angeblich auch alle anderen kirchlichen Praxisvollzüge auszurichten hätten.“ Schlag 2012b, 62.

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Kirche als liquide Institution Kirche als Institution beruht auf den religiösen und kirchlich geprägten Konventionen, die kollektiv wirksam sind und den Einzelnen als handlungsbestimmende Realität entgegentreten. Dass solche Konventionen keine in Stein gemeißelten Fakten sind, sondern selbst einem Wandel unterliegen, hat die Begriffsklärung von Kirche als Institution gezeigt. Stärker noch als die Organisationslogik wird die Institutionslogik der Kirche von einer bottom-upDynamik bestimmt, bei der die einzelnen kirchlichen Akteure auf das reagieren, was ihnen als konventionelle Kirche entgegentritt und durch diese Reaktion auch einen verändernden Einfluss auf das haben, was kirchlich üblich ist. Solide ist eine Institution dann, wenn sie einem großen Kollektiv als wirkmächtige und unwandelbare Norm entgegentritt und die Handlungen, Einstellungen und Identitäten dauerhaft und eindeutig regelt. Dazu zählen klassische Institutionen der soliden Moderne wie die Familie oder weibliche wie auch männliche Rollenbilder, aber auch derzeitig wirkende Institutionen, die die Menschen in aktuelle globale Verhältnisse reintegrieren. Das gängigste Beispiel ist hier sicherlich der Arbeitsmarkt mit seinen standardisierenden Dynamiken. Für solide Institutionen bedarf es wirkungsvoller Sanktionsmechanismen und einer bleibenden Unhinterfragtheit der Prägungen.217 Eine liquide Institution wirkt dagegen schwächer, weil sie nicht mehr alle Teilnehmer einer Gesellschaft umfasst, sondern nur auf bestimmte Bereiche der multiplen Moderne Einfluss nimmt. Ihre Normen stehen neben alternativen Optionen zur Wahl und unterliegen so auch einer stetigen Reflexion, die die Normen zwangsläufig auch verändert. Legt man einen strengen Institutionsbegriff zugrunde, könnte man auch infrage stellen, ob es sich bei solchen liquiden Strukturen überhaupt noch um Institutionen handelt.218 Im Fall der Institution Kirche machen sich die Bedingungen der liquiden Moderne bspw. daran bemerkbar, dass nicht nur hetero-, sondern auch homosexuelle Paare im kirchlichen Leben vorkommen und (an unterschiedlichen Orten mit variierender Selbstverständlichkeit) getraut werden. Dann ist nicht etwa die immer noch weitaus häufiger vorkommende heterosexuelle Trauung ein Beleg der Solidität kirchlicher Vorstellungen. Viel eher stellt die Möglichkeit, alternative Optionen in die vorgegebenen Institutionen einzubauen, einen 217 Vgl. Berger 1992, 26. 218 „What kind of institutions can regulate an individual whose differentia specifica is precisely not to be determined by the rules of institutions. What institutions can enable individuals to be reflexive in the sense of being rule-finders. […] Governance of second modernity flows is always going to be a lot different than governance of first modernity structures. Perhaps at stake is a question of institutions so different that for us they are almost unrecognizable as institutions.“ Lash 2002, xi.

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Hinweis auf liquider werdende Handlungsmuster dar. Auch die Kirche stellt für neue Bedürfnisse einer liquide werdenden Moderne neue Alternativen zu ehemals einzig gültigen Handlungsmustern bereit. Zahlreiche kirchliche Handlungsmuster haben dabei auch weiterhin einen stark konventionell-institutionellen Charakter, den man als solide beschreiben kann. Das ist bspw. in gottesdienstlichen Liturgien, Bestattungen, Rollenzuschreibungen von Pastorinnen oder dem jährlichen Besuch des Weihnachtsgottesdienstes der Fall.219 Aber auch bestimmte Meinungen zur Kirche, Glaubensüberzeugungen oder Umgangsformen wie z. B. die finanzielle Unterstützung der Kirche bei gleichzeitiger sozialer Distanz können Ausdruck einer auf Konventionalität beruhenden Institutionsartigkeit der Kirche sein.220 Über solche Elemente kann kaum verfügt werden. Es ist zwar möglich, bspw. als Landeskirche das Konfirmationsalter auf achtzehn Jahre anzuheben. Das wäre dann eine organisationale Anpassung. Aber die Konventionsartigkeit der Konfirmation in der Pubertät bleibt vermutlich auch dann noch bestehen, weil die Mehrheit der Gesellschaft auch weiterhin von der Konfirmation von Jugendlichen ausgehen und eine Konfirmation mit 18 wenigstens ungewöhnlich finden würde.221 Solche der Kirche vorgegebenen Orientierungen sind solide Momente der Institution Kirche: Sie treten den Menschen als Konventionen gegenüber und beanspruchen, erfüllt zu werden. Kirche ist als Institution wegen dieser kollektiv wirksamen und normierenden Praxis solide. Zugleich gibt es aber auch die Erwartung an die Kirche, kreativ mit den eigenen Traditionen und gesellschaftlichen Konventionen umzugehen.222 Dass viele Kirchengemeinden ein zweites Gottesdienstprogramm einführen, Worshiplieder singen, Kunstausstellungen in ihren Gebäuden zeigen oder Zen-Meditationsübungen anbieten, ist Ausdruck solcher Erwartungen. Sie gehen über das hinaus, was von einer traditionellen und soliden Kirchlichkeit allgemein 219 Wobei der Gottesdienstbesuch insgesamt keineswegs mehr eine solide Konvention, sondern eine liquide Option ist, die hauptsächlich von einer kirchlichen Minderheit gewählt wird. Vgl. Fechtner 2015, 114–116. 220 Hauschildt weist zu Recht immer wieder darauf hin, dass diese Formen kirchlicher Identität nicht defizitär sind. Vielmehr handelt es sich um eine wichtige Stütze der Kirche: „[I]n Bonner Perspektive] wird der institutionelle Bezug in einer Lage relativer Distanz der Menschen untereinander bewusst nicht als prinzipiell problematisch und nicht als Auslaufmodell gewertet.“ Hauschildt et al. 2016, 36. 221 Vgl. zu diesem Beispiel auch die positiven Erfahrungen, die mit solchen institutionellorganisationalen Experimenten gemacht werden können, wenn die Solidität kirchlicher Strukturen sinnvoll geöffnet wird in Kötter 2014, 200–206. 222 Wobei diese Erwartung nach KMU V. eher von engagierten und interaktiven Kirchenmitgliedern ausgeht. Menschen, die mit der Kirche kaum etwas zu tun haben, scheinen ein starres und traditionsreiches Kirchenbild zu haben: „Fehlende Interaktion [sc. mit kirchlichem Personal] optiert für die – im alltäglichen Interaktionsvollzug – randständige Einkehr in die ewig gleichbleibende Kirche.“ Grubauer et al. 2015, 86.

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erwartet wird. Schon das Neben- und Ineinander von soliden und liquiden Elementen macht nun deutlich, dass sich die Kirche nicht auf einen einfachen Institutionsbegriff beschränken lässt. Sowohl Kontinuität als auch Wandel prägen die Kirche. Wie bereits bei der Besprechung des Organisationsbegriffes dargestellt, hat Hauschildt Kirche deswegen als Hybrid aus Organisation und Institution beschrieben und aufgezeigt, dass die Kirche nach institutioneller Logik (also dem Konstituiert-werden aus gesellschaftlichen Vorgegebenheiten) und organisationaler Logik (also dem entschiedenen Reagieren auf solche Vorgegebenheiten) funktioniert.223 Ein genauer Blick auf die Institutionsartigkeit hat darüber hinaus gezeigt, dass schon die gesellschaftlichen Vorgegebenheiten ausgesprochen spannungsreich und vielfältig sind und die Grenzen von dem herausfordern, was traditionell mit Kirche assoziiert wurde. Ganz gleich, ob man das als schleichenden Abbruch des Religiösen (wie Pickel und Polack) oder als dessen privatisierende bzw. populäre Transformation (wie Luckmann und Knoblauch) interpretiert, wird die religiöse Lage im Land und damit einhergehend auch in der Kirche hybrider, pluralistischer, individualisierter und zunehmend heterodox. Die Institution Kirche ist wegen dieser reflexiven und individualisierenden Dynamiken auch ausgesprochen liquide.224 So wird auch die Institutionsartigkeit der Kirche von liquiden wie auch soliden Momenten bestimmt. Neben konventionellen Erwartungen z. B. an bestimmte Gottesdienstformen oder Rollenbilder produziert die Kirche aber auch alternative Formen und Optionen, die man als Einzelne wählen kann und muss.

Kirche als liquide Interaktion Kirche als Interaktion nimmt die Beziehungen und Begegnungen wahr, die sich im Rahmen organisierter Kirchlichkeit bewegen und diesen Rahmen zudem überschreiten. Hier kommt in den Blick, wer mit wem in Kontakt tritt und wie intensiv diese Verbindungen gestaltet werden. War die solide Moderne noch von intensiven familiären sowie ortsgebundenen (und damit auch an einen bestimmten Ort bindenden) Beziehungen einerseits und einer starken Solidarität innerhalb von Milieus oder Volksgemeinschaften andererseits geprägt,225 so zeichnet sich die liquider werdende Moderne 223 Hauschildt 2007, 63 oder auch Schulz et al. 2015, 235. 224 Hauschildt spricht etwa von „neuer Institutionalisierung bzw. veränderter Institution.“ Hauschildt et al. 2016, 158. 225 Vgl. dazu Bauman: „To put it in a nutshell: the ‚long-term‘ mentality amounted to an expectation born of experience, and by that experience convincingly and ever anew corroborated, that the respective fates of people who buy labour and people who sell it are closely and inseparably intertwined for a long time to come – in practical terms for ever –

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durch mobile und lockere Kontakte aus. Zumindest diejenigen, die über das nötige Finanz- und Humankapital verfügen, wählen auch ihr Sozialkapital gemäß ihren Möglichkeiten und Vorteilen aus. Die mobilen und glokalen Eliten entscheiden selbst, wo und mit wem sie sich abgeben. Solidarität herrscht nach dem Narrativ der liquiden Moderne aber weder zwischen den lokal Gebundenen noch etwa als Verantwortungsgefühl zwischen den Eliten und ihren Untergebenen. Ein stetiger Konkurrenzdruck und eine Suche nach dem eigenen Vorteil stehen dem im Weg. Es gibt höchstens eine jederzeit kündbare Verbundenheit unter den Touristen und Jägerinnen der liquiden Moderne, um ihren Wohlstand nach unten abzugrenzen.226 Interaktionale Kirche wird dort von soliden Beziehungen geprägt, wo strong ties und ein hohes parochiales bonding die eigene Identität prägen. Davon sind nicht nur Gruppen und Kreise, sondern insbesondere und entgegen alle anderslautenden Idealvorstellungen auch der klassische Gottesdienst betroffen, in dem sich zumeist ein bestimmtes Milieu trifft und der eigenen Identität rückversichert.227 Eine solide kirchliche Interaktion entsteht dann vor allem dort, wo in einer hochverbundenen Kerngemeinde ein Leben nach familienähnlichen Beziehungen idealisiert wird. In so einem engen sozialen Netz liegt einerseits die Chance, Menschen zu unterstützen, die unter liquiden und unverbindlichen Beziehungen leiden. Eine hohe lokal gebundene Solidarität untereinander ist ein Gut, auf das hochmobile Menschen heute immer seltener zurückgreifen können. Nach der Freisetzung aus soliden Strukturen folgt schließlich die Entzauberung, dass die Risiken des Lebens nun allein getragen werden müssen. Ein gegenwärtig prägendes Idealbild von Kirchengemeinde versucht genau hier einzuspringen und Menschen in eine alternative und funktionierende soziale Struktur zu reintegrieren.228 Solide kirchliche Interaktionsformen sind eine Chance für die lokal Gebundenen, die an den liquiden Bedingungen der Moderne nur als zurückgelassene Opfer teilhaben. Andererseits wohnt solchen Formen der Gemeinschaft immer auch das Potenzial der soliden Moderne inne, die Identität der Einzelnen gemäß der Gruppenidentität zu überformen.229 Sind solche starken Verbindungen dabei von sozialer Kontrolle und hierarchischen Machtstrukturen durchzogen, gliedert

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and that therefore working out a bearable mode of cohabitation is just as much ‚in everybody’s interest‘ as is the negotiation of the rules of neighbourly fair play among the houseowners settled in the same estate.“ Bauman 2000, 146. Vgl. Bauman 2008, 21–24. Vgl. Heidler et al. 2015, 384. Vgl. für dieses Ideal eines kirchengemeindlichen Beziehungsgefüges Möller 1990, 300–302. Vgl. hier auch das weiterführende Argument von Kees de Groot, der darauf hinweist, dass enge Gemeinschaften mit einheitlicher Identität in einer hybriden Welt ohne Einheitlichkeit „a surrogate community“ darstellen. Denn „the people in the church are not the people one works with, lives with, exists alongside.“ Groot 2006, 97.

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sich das Bild umso ausgezeichneter in Baumans dystopische Vorstellungen der soliden Moderne ein: Menschen leben in und nach einem System, das nicht die Bedürfnisse der Individuen berücksichtigt, sondern sich an angeblich höheren Zielen ausrichtet.230 Einige wenige und am besten hauptamtliche Akteure, die den Überblick über die eigene Gruppe haben und zudem über das Kommen und Gehen informiert sein wollen, hätten hier die Zügel in der Hand. Solide Interaktion wird auch über solide Hierarchien gestaltet. Überformungen nach innen und exkludierende Feindbilder nach außen sind dann die Folge.231 Für die Kirche wäre es beispielsweise ein Problem, wenn die Kommunikation des Evangeliums als ein totales Ziel einer kirchlichen Gruppe ausgerufen würde und Interaktion immerzu darauf abzielen müsste, Evangelium zur Sprache zu bringen.232 Auch wenn so eine Machtfigur den Kommunikationsbegriff von Grethleins Konzept der Kommunikation des Evangeliums ignoriert und zu einer autoritären Figur pervertiert, liegt hierin eine augenscheinliche Gefahr,233 gerade weil die Kommunikation des Evangeliums in dieser Arbeit als sachdienliches Programm der Organisation Kirche herausgearbeitet wurde. So ein organisationales Programm kann die kirchliche Interaktion unmöglich normieren. Das machen nicht nur die Überlegungen zur soliden Moderne bzw. Kirche deutlich, sondern auch der empirische Befund, der aufzeigt, „dass sich die Mehrzahl der Mitglieder protestantischer Kirchen dafür entschieden hat, die Gründe und Konturen ihres Glaubens anderen gerade nicht mitzuteilen, sondern sie

230 Vgl. auch die Kritik an solchen Gemeinschaftsformen von Thomas Schlag: „[…] gegenwärtig [ist] geradezu ein ‚Hype‘ kleiner Gemeinschaften zu konstatieren, insofern diese sich angeblich in besonderer Weise durch […] Verlässlichkeit und Familiarität auszeichneten. Ein solches, auf den ersten Blick verheißungsvolles und geradezu ‚warmes‘ Modell hat den problematischen Nebeneffekt, dass Freiheitsgarantien für die Mitglieder zugunsten eines verlässlichen Gemeinschaftsangebots in den Hintergrund gedrängt werden könnten.“ Schlag 2012b, 72. 231 So auch Hermelink 2011, 150–151. 232 Vor dieser keineswegs nur abstrakten Gefahr warnt auch Monika Wohlrab-Sahr: „Im Prozess der Routinisierung wird die religiöse Botschaft auch in Regeln für das Verhalten übersetzt. Der Sinn einer religiösen Botschaft wird auf diese Weise konkretisiert und in eine Beziehung zum Alltagsleben gesetzt. Würde dies nicht geschehen, bliebe die religiöse Botschaft abstrakt und praktisch bedeutungslos. In diesem Prozess der Übersetzung des Glaubenspunktes kann die religiöse Gemeinschaft aber auch zu einem legalistischen, moralistischen Verein degenerieren, der unter Umständen das originäre Anliegen gänzlich verfehlt“ Wohlrab-Sahr 2011, 181. 233 Grethlein grenzt sein Modell ausgesprochen stark gegen eine Praxis ab, die von pfarrherrlichen Autoritätsträgern bestimmt wird: „Solange Amts- und/oder Lehrautorität genügten, um Menschen kirchlich zu orientieren, und die (meisten) Menschen in (scheinbar) stabilen Sozialformationen lebten, kamen die Störungsanfälligkeit und Kontingenz von Kommunikationsprozessen nicht in den Blick.“ Grethlein 2016, 146–147. Vgl. auch Grethlein 2016, 5.

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für sich zu behalten. […] Kurz und gut: Religiöse Kommunikation und religiöses Verhalten sind im Alltag eher unwahrscheinlich.“234

Daher verbietet es sich aus konzeptionellen und empirischen Gründen, kirchliche Interaktion für eine bestimmte Funktion der Kirche zu instrumentalisieren. Eine Kirche nach liquiden Interaktionsformen ist dagegen von zahlreichen flüchtigen und unverbindlichen Begegnungen geprägt. Hier werden weak ties zu ganz unterschiedlichen Akteurinnen ungeachtet aller parochialen Grenzen ausgebildet. Ganz im Duktus der liquiden Moderne stellt sich bei der Suche nach Kontakten die Frage nach dem eigenen Nutzen. Bringen mich die Begegnungen voran? Dabei muss es weniger (wie bei Colemans und Putnams brückenbildenden Sozialkapital) um ökonomische Vorteile auf dem Arbeitsmarkt gehen. Die Frage, ob die eigenen Kinder einen Platz in der kirchlichen Kita bekommen, kann allerdings durchaus ins Gewicht fallen. Inwiefern man am kirchengemeindlichen Leben teilnimmt, hängt unter liquiden Bedingungen auch weniger an Bekenntnisfragen oder parochialen Loyalitäten, sondern an persönlichen Sympathien.235 Finde ich die Menschen im Gottesdienst lebensbejahend und freundlich? Sobald das nicht mehr der Fall ist, wird man sich einer anderen oder eben keiner Kirchengemeinde mehr zuwenden. Dieses liquide Verhalten hat der Kirchentheoretiker Manfred Ferdinand in seinem Szenemodell konzeptionell dargestellt. Er plädiert dort für eine Kirche, die durch die Menschen konstituiert wird, die gerade in einer kirchlichen Szene zusammentreffen. Sie verhandeln implizit, wie sich Kirche in diesem Moment gestaltet, ohne dass man organisational absichern könnte, wie und ob diese Konstellation fortbesteht. Menschen treten in solche Szenen ein und aus, wie es ihnen gerade passt.236 Solche Beliebigkeit und Unbeständigkeit ist für eine Kirche, die das eigene Interaktionsnetz zumeist parochial (also lokal) gestaltet, eine große Herausforderung, der sie nicht immer gerecht werden kann, schon allein weil sich Menschen nach den Mustern der liquiden Moderne erst gar nicht als Teil eines Netzwerks oder gar einer Gemeinschaft verstehen. Eine Kirche, die aber auch an Gemeinschaftsbildung interessiert ist und stellenweise davon abhängig ist, dass sich Menschen über Gemeinschaftsformen im kirchlichen Leben einbringen, kann dann auf viele Teilnehmer der liquiden Moderne nicht zählen.237 Dass Kirche übrigens aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht immer in der Lage ist, liquide Lebensentwürfe 234 Plüss 2015, 441. 235 So ist es z. B. bei Kasualien zunehmend wichtig, dass die Pastorinnen als zugewandt und familienfreundlich gelten. Vgl. dazu die qualitativ-empirische Erhebung des SI, das am Bsp. der Taufe einen Bedeutungsrückgang an Inhaltsvermittlung und eine wachsende Bedeutung von freundlichen Familienfesten feststellen konnte. Ahrens und Wegner 2006, 10–11. 236 Vgl. Ferdinand 2015, 12. 237 Diesem Urteil stimmt in seiner Analyse von „liquid church“ auch Kees de Groot zu. Vgl. Groot 2006, 98.

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angemessen in das eigene Interaktionsnetzwerk einzubinden, macht z. B. ein Blick auf die Taufstatistiken deutlich. Alleinerziehende, die als ausgesprochen heterogene Gruppe ein zunehmendes Phänomen der liquiden Moderne darstellen,238 lassen ihre Kinder bspw. kaum noch taufen.239 Dass sie auch weniger Kontakte zu kirchlichen Akteuren und Einrichtungen haben, wäre hier zumindest eine naheliegende Vermutung. Demnach gibt es zahlreiche Teilnehmer der liquiden Moderne, die wiederum nicht auf die Kirche zählen (können). Gerade wenn Kirche noch stark durch die Inszenierung von Rollenbildern der soliden Moderne geprägt ist (wie etwa die klassische heterosexuelle Ehe), werden liquide geprägte Menschen, die diesem Ideal nicht entsprechen, hier nur schwer heimisch.240

Kirche als liquide Inszenierung Kirche als Inszenierung kommt dort zum Vorschein, wo sich Menschen auf ihre Vorstellung von Kirche bzw. Evangelium beziehen oder wo kirchliche Symbole bzw. Symbole des (eigenen) Glaubens gedeutet werden. Das gilt im Besonderen für Gottesdienste und Andachten, realisiert sich aber auch in Interaktionen und Handlungen in kirchlichen Netzwerken. In der soliden Moderne wurden Kollektive wie z. B. die internationale Arbeiterklasse oder das deutsche Volk als überlegen inszeniert. So präsentierten sich Nationalstaaten in uniformierten Paraden und stellten genormte Identitäten dar. Sie repräsentieren Einheit, Dauerhaftigkeit und Dominanz.241 Aber auch auf kleineren gesellschaftlichen Ebenen wie der Familie gab es eindeutige Rollenmuster, die nach außen präsentiert wurden. Dass ein Vater als das verdienende Oberhaupt einer Familie dargestellt wurde und seine Frau als fleißige Mutter hinterm Herd in Erscheinung trat, war die gängige Regel. Dagegen inszenieren sich in der liquiden Moderne eher Selbstdarstellerinnen als Flaneure und Touristen, die weitgereist mal hier und mal dort auftauchen. Persönlicher Erfolg und ein selbstgestaltetes sowie erfülltes Leben sind die Werte, die liquide Identitäten verkörpern sollten. Man gehört, so die Botschaft liquider Inszenierungen, zu den erfüllten Gewinnern der globalisierten Welt. Daher orientiert sich die liquide 238 Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2012. 239 Vgl. dazu Ahrens und Wegner 2006. 240 Das ist hier keinesfalls als Vorwurf an die Kirche gemeint, sondern soll lediglich die Beobachtung anhand von Baumans liquider Moderne erklären, dass z. B. Alleinerziehende seltener im kirchlichen Leben vorkommen als etwa kinderreiche Familien. Vgl. zum empirischen Befund auch Heidler et al. 2015, 392. 241 Vgl. z. B. Eisenstadt 2002, 34.

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Moderne auch nicht mehr an nationalstaatlichem Containerdenken.242 Inszenierungen wie sie in Konzerthallen und Fußballstadien stattfinden, erfüllen für den Moment im Hier und Jetzt, sind aber so flüchtig wie die Menschen, die zu dieser Inszenierung beitragen.243 Kirche als Inszenierung steht mit einem Bein auf soliden Traditionen und mit dem anderen auf liquidem Terrain.244 Sie präsentiert sich dort als solide Akteurin, wo sie Rollenmuster inszeniert, die in der soliden Moderne dominant wirksam waren. Eine Trauung steht für die Inszenierung solcher soliden Identitätsschablonen Pate. Man muss allerdings einschränkend hinzufügen, dass die Akteure, die eine Trauung inszenieren, heute kaum noch dem soliden Ideal der Dauerhaftigkeit monogamer Ideale entsprechen und selbst oft genug geschieden, wiederverheiratet und kulturell wesentlich hybrider sind. Die Ehe zwischen Katholikinnen und Protestanten, die in der soliden Moderne ausgesprochen ungern gesehen war, verursacht heute nur noch in den konservativsten Gefilden der multiplen Moderne Kopfschütteln. Die solide Inszenierung einer heterosexuellen Partnerschaft „bis dass der Tod uns scheidet“ geschieht heute also unter liquiden Voraussetzungen, da die Ehe nicht mehr selbstverständlicher Teil der Biografie ist, sondern eine selbstgewählte Möglichkeit von zahlreichen Partnerschaftsmodellen. Kirche präsentiert sich ebenfalls dort als solide, wo traditionelle Formen und Liturgien unreflektiert verwendet werden und als selbstverständlich vorausgesetzt sind. Das gilt z. B. dort, wo Paul Gerhardt auf der Orgel gespielt wird, nicht etwa weil der Gottesdienst vor allem von einem konservativen Milieu besucht wird und daher die naheliegende Wahl ist, sondern weil es sich hier um eine solide Institution handelt, die nicht zur Debatte steht. Kirche würde dort die ästhetischen Gefühle anderer Milieus ignorieren. Auf Interaktionsebene wird Kirche nach soliden Vorstellungen inszeniert, wenn z. B. normative und angeblich einzig gültige Positionen als das eine Evangelium kommuniziert werden. Dort wo die eigene Inszenierung keine Rücksicht auf das performative Moment nimmt, das sich im inszenierenden

242 So auch Beck: „Wovon die Menschen träumen, wie sie sein wollen, ihre alltäglichen Glücksutopien halten sich nicht länger an den geopolitischen Raum und seine kulturellen Identitäten.“ Beck 2011, 117. 243 Vgl. Fischer-Lichte 2009, 7. 244 So auch Hermelink: „Die kirchlichen Amts- oder Berufsrollen, auch die Agenden und Bekenntnisse der kirchlichen Organisation verweisen stets auf eine lange Tradition; sie inszenieren dezidiert vormoderne Lebensmuster, ja archaische Bedeutungszusammenhänge und unterbrechen auf diese Weise die alltägliche Wahrnehmungsroutine. Zugleich bilden die kirchlichen Ritual-, Raum- und Rollenstrukturen aber offenbar einen Rahmen für die Inszenierung gegenwärtiger Lebenserfahrung, sei es in Seelsorge und Unterricht, sei es in der Professionalität des pastoralen Berufs.“ Hermelink 2011, 120.

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Geschehen mit anderen Anwesenden ergibt, kommen solche soliden Momente zum Tragen.245 Ganz anders verhält es sich mit Inszenierungen der liquiden Moderne auf Interaktionsebene. Hier spielen andere Anwesende nur insofern eine performative Rolle, als sie die eigene herausragende Identität bestätigen. Dort wo man sich mit exotischen Glaubensrichtungen ablichten lässt, nicht um diese zu Wort kommen zu lassen, sondern um sich selbst als besonders hybrid und liberal darzustellen, wäre das auf religiöser Ebene der Fall. Auch in der liquiden Moderne besteht die Gefahr, dass kirchliche Inszenierung keine große Rücksicht auf andere Darstellerinnen nimmt. Andererseits bietet die liquide Moderne den Vorteil, ehemals solide Inszenierungen um individuelle Positionen zu bereichern. Wenn in einer Kirchengemeinde Lasershows, meditative Klangschalen, Worshiplieder oder Liturgieelemente auf Syrisch vorkommen, werden hybride Formen in das kirchliche Netzwerk eingetragen und auch entsprechend inszeniert.246 Auch auf inszenatorischer Ebene vermittelt Grethleins Modell der Kommunikation des Evangeliums zwischen liquiden und soliden Elementen. Die liquide Vielfalt, Hybridität und Uneindeutigkeit, die in der liquiden Moderne Einzug ins kirchliche Leben hält, wird von dem Bezugspunkt zusammengehalten, auf den die Inszenierungen idealerweise verweisen. Das sind dann die biblischen Impulse, die nun nach soliden oder liquiden Mustern inszeniert werden können. Dort, wo bereits zwischen diesen beiden Orientierungen (also konventionellen Formen einerseits und individualisierten Mustern andererseits) gewählt werden 245 Der Praktische Theologe Wilfried Engemann weitet diese Kritik an der Ästhetik von Gottesdiensten auch auf die Inhalte aus, wenn sie in der Inszenierung allein auf ein bestimmtes Weltbild setzen und damit Menschen ausschließen, die diese Inhalte nicht teilen: „Die Inszenierung vieler Gottesdienste hat Merkmale eines antiken Heilsdramas: Der Mensch ist – eigentlich – verloren. Er hat gegen Regeln verstoßen und Unordnung geschaffen. Gott müsste ihn – eigentlich – bestrafen und sich von ihm abwenden. Doch siehe da, durch einen Retter, der sich opfert und die Schuld sühnt, wird das Schlimmste abgewendet. Davon hat aber nur der etwas, der die Prämissen des Stücks teilt, was im Christentum oft als ‚Glauben‘ verstanden wurde, und im Fundus der Texte und Lieder des Gottesdienstes ausführlich durchgenommen wird.“ Engemann 2013, 227. 246 Wobei Hermelink insbesondere den protestantischen Gottesdiensten wesentlich weniger liquide Variationen bescheinigt, als es die konzeptionelle Erarbeitung hier beschreibt. Er gesteht in der Gegenwart lediglich „individuelle Akzente“ des ansonsten gleichbleibenden inszenatorischen Musters zu. Vgl. Hermelink 2011, 298–299. An anderer Stelle macht er sogar deutlich, dass er nicht den Gottesdienst an Menschen mit liquider Ästhetik anpassen will, sondern umgekehrt die Ästhetik der Menschen mit soliden Gottesdienstformen durch informierte Expertinnen vertraut machen will: „Indem die Organisation Pfarr- wie Kirchenmusikerstellen besetzt, indem sie im Religionsunterricht in liturgische Grundmuster einführt – auf diese Weise werden die Eigenarten der gottesdienstlichen Inszenierung allgemein präsent gehalten, und zwar auch für diejenigen, die an konkreten Gottesdiensten nur selten oder gar nicht teilnehmen.“ Hermelink 2011, 118–119.

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kann, der Bezugspunkt dieser Inszenierungen aber nicht grundlegend infrage steht, ist Kirche bereits aus der soliden Moderne herausgetreten. Der Bezug auf biblische Inhalte gibt der Kirche dann ein gewisses solides Profil. Dass dieser Bezug jedoch in der Inszenierung ausgesprochen liquide ist und widersprüchlich, vielfältig, gegensätzlich, eindeutig oder uneindeutig inszeniert werden kann, lässt die Kirche zugleich ausgesprochen liquide erscheinen.247 Anhand dieser Zusammenfassung des hier zugrunde gelegten Kirchenbegriffs wird deutlich, dass Kirche längst vom Sog der liquiden Moderne erfasst ist. Kirche ist nicht nur, wie Hauschildt vor mehr als zehn Jahren bemerkte, ein Hybrid organisationaler und institutioneller Logiken.248 Sie ist es auch in Hinblick auf ihre soliden und liquiden Elemente. Das ist an manchen Stellen begrüßenswert, etwa dort, wo einengende Strukturen ihre autoritäre Macht verlieren. Andererseits gibt es auch Dynamiken, die bedenklich sind. Dazu zählt nicht zuletzt die kaum zu bewältigende Herausforderung, die unterschiedlichen Menschen der liquiden Moderne mit all ihren ästhetischen Vorlieben, Bedürfnissen, Idealen und Identitäten als Kirche zusammenzubringen.

247 Dies schließt auch die Sorge um das theologische Profil in der liquiden Moderne ein. Vgl. dazu z. B. Schlag: „Wird der kirchliche Auftrag primär darin gesehen, sich als eine irgendwie auch vorhandene weitere Größe im gesellschaftlichen Eventkalender zu positionieren, wird ihr Eigen-Sinn und Eigenprofil tatsächlich immer weniger erkennbar sein. Damit sich ‚intensiv betriebene Beziehungspflege‘ langfristig für die kirchliche Arbeit tatsächlich auszahlt, ist ein immer auch erkennbares theologisches Profil unverzichtbar.“ Schlag 2012b, 59. 248 Wobei er dieses Modell mittlerweile in Zusammenarbeit mit Pohl-Patalong um die Ebene der interaktionalen Gruppenlogik erweitert hat. Vgl. dazu exemplarisch die Verschränkung der drei Perspektiven am Beispiel der Kirchenmitgliedschaft in Hauschildt et al. 2016, 43 und ebenfalls Hauschildt und Pohl-Patalong 2013, 138–156.

3.

Zivilgesellschaft

Die Zivilgesellschaft ist ein ausgesprochen großer gesellschaftlicher Bereich.1 Schon von daher ist es anspruchsvoll, diesen Teil des (überwiegend) öffentlichen Lebens angemessen zu erfassen. Zumal es nicht nur den einen Diskurs gibt, der die Konzepte zur Zivilgesellschaft anschaulich erfassen würde. Es gibt eine Vielzahl an Perspektiven und Diskursen, die ihren Teil zu einem griffigen Verständnis und zugleich problemsensiblen Umgang mit der Zivilgesellschaft beitragen. Trotz der großen Menge an politischen Perspektiven und sozialwissenschaftlichen Forschungsdiskursen ist es möglich, die Zivilgesellschaft zumindest in ihren Konturen so zu erfassen, dass sie konzeptionell zugänglich wird. Dazu werde ich meine Darstellung allerdings weitestgehend auf die gegenwärtige Situation in Deutschland beschränken. Diese Beschränkung ist natürlich problematisch. Denn eine geografische Einengung des Begriffs macht sich eines vielfach von Ulrich Beck angeprangerten Containerdenkens schuldig. Die globalisierte Realität soll daher aus dieser eingeschränkten Betrachtung nicht konsequent ausgeklammert werden. Schließlich ist auch die Zivilgesellschaft im gegenwärtigen Deutschland von multiplen Modernen geprägt, die oft erst im Rahmen der Globalisierung entstehen konnten. Die Begrenzung des Konzepts der Zivilgesellschaft wird also nicht sklavisch verfolgt. Das wäre so oder so nicht möglich, da maßgebliche Impulse zur Zivilgesellschaftsforschung z. B. in osteuropäischen, nord- wie südamerikanischen und indischen Kontexten geprägt wurden. 1 Nach aktuellen Erhebungen und trotz Mitgliederschwund in einigen (insbes. traditionellen) Engagementformen wächst dieser Bereich. So heißt es im Freiwilligensurvey 2014: „Zunehmend mehr Menschen engagieren sich freiwillig. Im Jahr 2014 sind 43,6 Prozent der Wohnbevölkerung ab 14 Jahren freiwillig engagiert – das entspricht 30,9 Millionen Menschen.“ Simonson et al. 2017, 21. Diese Tendenz wird auch von anderer Seite bestätigt. Der empirische Bericht „Zivilgesellschaft in Zahlen“ untersucht den organisationalen Bereich der Zivilgesellschaft und hält fest: „Im Jahr 2016 überstieg die Zahl der eingetragenen Vereine in Deutschland erstmals die Schwelle von 600.000. Doch nicht nur die Zahl der Organisationen stieg, sondern auch die Zahl der Mitglieder in vielen Organisationen. Immerhin ein Drittel der Organisationen gibt an, heute mehr Mitglieder zu haben als im Jahr 2012.“ Priemer et al. 2017, 5.

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Zivilgesellschaft

Die unterschiedlichen Positionen und Diskurse zur Zivilgesellschaft werden anhand von drei Perspektiven eingeordnet. In einem ersten Teil wird die Zivilgesellschaft raumlogisch betrachtet. Hier wird mit einem eher deskriptiven Anspruch diskutiert, welche gesellschaftlichen Orte die Zivilgesellschaft begrenzen und zugleich konstituieren. Dabei geraten Abgrenzungen zu Staat, Privatsphäre und Ökonomie in den Fokus. In einem zweiten Teil wird mit einer etwas kräftigeren normativen Färbung erörtert, was die handlungslogischen Eigenschaften der Zivilgesellschaft sind. Es geht also um die Frage, inwiefern die Akteurinnen der Zivilgesellschaft zur Demokratie und zum Sozialkapital von Menschen beitragen. Das führt dann zum dritten Teil, der als Fazit die Zivilgesellschaft unter den Bedingungen einer zunehmend liquiden Gesellschaft beschreibt. Damit wird abschließend ein gesellschaftskritischer Blick auf die beiden vorangegangenen Beschreibungen zur Zivilgesellschaft geworfen. So wird z. B. aus der Perspektive Baumans heraus gefragt, ob wenig mobile und zumal für politisches Engagement scheinbar nicht ausreichend gebildete Menschen aus prekären Verhältnissen2 im anspruchsvollen Konzept der Zivilgesellschaft Platz haben oder dort eher als gesellschaftlicher Problemfall übersehen werden. Durch diese multiperspektivische Darstellung3 wird die Zivilgesellschaft so greifbar, dass der Weg zu einer Verschränkung mit den kirchentheoretischen Überlegungen des vorangegangenen Teils konzeptionell gangbar ist.

2 Die Beschäftigung mit „Personen aus prekären Verhältnissen“ ist für die Zivilgesellschaft ausgesprochen bedeutsam, allerdings nicht frei von Berührungsängsten. Das beginnt bereits mit der Rede von „prekären Verhältnissen“. Die alternative Bezeichnung durch „Unterschicht“ oder wie bei Bauman absichtlich schockierend durch „Abfall“ wirkt stigmatisierend. Daher wird im Folgenden von prekären Verhältnissen die Rede sein. Das ist für den Lesefluss nicht sonderlich hilfreich. Allerdings wird das Phänomen so problematisiert, ohne auf stigmatisierende, beschönigende oder überspitzende Alternativen wie „Randgruppen“, „Abfall“ oder „Arbeiter“ auszuweichen. Vgl. zur Problematik auch Klatt 2014, 47–48. 3 Die hier verwendeten Perspektiven, also die Raumlogik und die Handlungslogik, sind in der Zivilgesellschaftsforschung bereits etablierte Beschreibungskategorien. Vgl. dazu die lesenswerte Darstellung von Gosewinkel, der zudem noch eine dritte empirisch geleitete Akteurslogik vorschlägt. Diese kommt hier nicht zur Anwendung, da sie auf empirisch geerdete Daten zurückgreift, die für die Kirche zwar quantitativ vorliegen (vgl. KMU V.), nicht aber qualitativ. Zudem unterscheiden sich einzelne Kirchengemeinden, diakonische Organisationen etc. zu stark voneinander, so dass es spezifische empirische Untersuchungen bräuchte. Das kann hier nicht geleistet werden. Zivilgesellschaft unter soliden bzw. liquiden Bedingungen stellt dagegen alles andere als einen gewöhnlichen Fragehorizont dar, was nicht zuletzt an sozialwissenschaftlichen Pfadabhängigkeiten liegt. Vgl. dazu Teil I, Kapitel 3.3. Vgl. zur Akteurslogik: Gosewinkel 2003.

Zivilgesellschaft raumlogisch

3.1

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Zivilgesellschaft raumlogisch

Eine erste Annäherung an die Zivilgesellschaft bietet sich anhand einer raumlogischen Perspektive an. Denn die in der Zivilgesellschaftsforschung mittlerweile klassisch gewordene Abgrenzung von staatlichen, ökonomischen und privaten Sphären ist einerseits ausgesprochen zugänglich und nachvollziehbar. Zivilgesellschaft wird durch andere Dynamiken als etwa Abstimmungen im Bundesrat, Käufe von Aktien an der Börse oder Diskussionen am Frühstückstisch bewegt. Andererseits wird schnell deutlich werden, dass sich die Zivilgesellschaft nicht allein durch vorschnelle Abgrenzungen von anderen Bereichen fassen lässt. Denn die genannten Bereiche können für die Zivilgesellschaft ausgesprochen bedeutsam werden, ja sie können sogar als zivilgesellschaftliche Bereiche verstanden werden. Die folgende raumlogische Erörterung der Zivilgesellschaft soll dieser Komplexität gerecht werden und in einem ersten Schritt darstellen, wo die Abgrenzungstendenz der Zivilgesellschaft herkommt. Daran schließt sich eine notwendige Kritik und Brechung der raumlogischen Perspektive an, die bereits zur nächsten Blickrichtung – nämlich der handlungslogischen – hinführt. Es gab in Europa seit der Aufklärung immer wieder politikwissenschaftliche Konzepte, die richtungsweisende Überlegungen zur Zivilgesellschaft anstellten.4 Letztlich waren es aber nicht solche historischen politikwissenschaftlichen Konzepte, die den Aufschwung zivilgesellschaftlicher Debatten seit den 1980er Jahren befeuerten, sondern ganz praktische zivilgesellschaftliche Bewegungen verhalfen einem schon fast in Vergessenheit geratenen Begriff wieder zu neuer Aufmerksamkeit. Einerseits waren das Akteure, die sich in der Sowjetunion gegen die totalitären Repressionen des Staates richteten.5 Hier stellt die tschechische Perspektive von Václav Havel ein besonders eindrückliches Beispiel dar. Er schildert, wie sich ein Netzwerk bzw. eine Sphäre gesellschaftlichen Lebens bildet, weil Menschen die staatlich vorgeschriebene und im öffentlichen Leben allgegenwärtige kommunistische Ideologie nicht weiter teilen wollen. Indem sich solche „Dissidenten“6 4 Die Wandlungen und Prägungen der historischen Konzepte zur Zivilgesellschaft sollen hier nicht dargestellt werden. Der Historiker Jürgen Kocka hat dazu mehrere gute Beiträge geliefert, die den Begriff von der Antike über die Aufklärung bis hin zur Gegenwart beleuchten. Vgl. Kocka 2000 und Kocka 2003. 5 Vgl. zu den unterschiedlichen Bewegungen und Akteurinnen in der Sowjetunion Klein 2001, 35–59 und Adloff 2005, 10–11. 6 Vgl. Hável zum Begriff Dissident: „In fact, a ‚dissident‘ is simply a physicist, a sociologist, a worker, a poet, individuals who are merely doing what they feel they must and, consequently, who find themselves in open conflict with the regime. “ Havel 1985, 58.

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Zivilgesellschaft

von staatlicher Propaganda unabhängig machen und ihren Beruf oder ihre Freizeit nach eigenen Überzeugungen und Wünschen gestalten, führen sie ein „Leben in Wahrheit“.7 Wer sich weigert, staatlich verordnete Parolen auszuhängen, die zum internationalen Klassenkampf aufrufen, während die herrschende Elite lediglich am eigenen Machterhalt interessiert ist, steckt dadurch womöglich auch andere Menschen zum Leben in der Wahrheit an. So entsteht ein subversiver Raum gesellschaftlichen Lebens, in dem ein freies und solidarisches Miteinander ohne staatliche Kontrolle möglich ist. Für Havel selbst war die von ihm mitbegründete Gewerkschaft Charta 77 ein Beispiel für so eine anti-staatliche Sphäre. Solche Bürgerbewegungen waren dann auch für die postkommunistische Zeit wichtige Impuls- und Strukturgeber.8 Sie machten Politik und Wissenschaft gleichermaßen auf die Bedeutung der Zivilgesellschaft aufmerksam und trugen schon zu Beginn der neu aufkeimenden Debatte die Abgrenzung der Zivilgesellschaft von staatlicher Kontrolle ein. Andererseits waren es für das Umfeld in Deutschland auch s.g. neue soziale Bewegungen, die das Interesse wieder auf die Zivilgesellschaft lenkten.9 Dazu zählen bspw. ökologische Bewegungen gegen das Waldsterben, Anti-Kriegs-Bewegungen gegen atomare Aufrüstung oder Protestmärsche gegen Atomenergie. Solche neuen sozialen Bewegungen prägten die politischen Diskurse der BRD in den 1980er Jahren. Hier wurden gesellschaftliche Anliegen laut und mit Nachdruck formuliert. Breit diskutiert und angewandt wurde dabei die Möglichkeit des zivilen Ungehorsams, in der Protestierende staatliche Normen übergehen und sich Anordnungen widersetzen.10 Indem die Protestbewegungen auch in den Massenmedien aufgenommen und diskutiert wurden, entstand ein öffentlicher 7 Havel 1985, 39. 8 Wobei Marc M. Howard diese Einschätzung empirisch begründet relativiert, wenn er schreibt, dass „[…] compared against both older democracies and postauthoritarian countries — postcommunist countries do have relatively lower levels of organizational membership.“ Diese Beobachtung führt er auf das Misstrauen in öffentliche Organisationen zurück, das die jahrzehntelange staatliche Kontrolle solcher Organisationen verursacht hat. Damit ging auch der Rückzug in eher private Netzwerke einher, die oft mit einem zusätzlichen Engagement in öffentlichen Kreisen konkurrieren. Vgl. Howard 2002, 157–163. 9 Auf diese zweite Wurzel der Zivilgesellschaftsdebatte weist Ansgar Klein in seinem Standardwerk zur Zivilgesellschaft vehement hin. Dort schreibt er: „Eines der am weitesten verbreiteten Mißverständnisse in der Rezeption des Zivilgesellschaftsdiskurses ist die Auffassung, er habe seine maßgeblichen Impulse aus Ostmitteleuropa erhalten.“ Demgegenüber stellt er die Eigenständigkeit der westlichen Zivilgesellschaftsdebatte heraus und rekurriert dabei auf neue soziale Bewegungen und hauptsächlich auf Perspektiven aus der BRD. Vgl. Klein 2001, 254. 10 Vgl. z. B. die Untersuchung der Politikwissenschaftler Rödel, Frankenberg und Dubiel: „Der Ungehorsam ‚steht für etwas‘ […]. Nicht um die Befriedigung egoistischer Interessen […] geht es den Ungehorsamen, sondern […] um einen Appell an die Regierenden oder an die schweigenden Mehrheiten, um die Revision verhängnisvoller politischer Entscheidungen oder Unterlassungen.“ Rödel et al. 1989, 26.

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Druck, auf den die institutionalisierte und repräsentative Politik reagieren musste. Den neuen sozialen Bewegungen war so eine starke politische, aber eben auch wissenschaftliche Aufmerksamkeit sicher, da sie eine Möglichkeit politischer Teilhabe jenseits von Wahlurnen und anderen etablierten politischen Beteiligungsmöglichkeiten boten. Viel stärker noch als diese neuen sozialen Bewegungen in der BRD trugen die etwa zeitgleich aufkommenden zivilgesellschaftlichen Akteure in der Sowjetunion eine Abgrenzung zum Staat in das Konzept der Zivilgesellschaft ein. Da wir es in der gegenwärtigen BRD allerdings nicht mit einem totalitären und repressiven Staat zu tun haben, braucht es für die bundesrepublikanische Sachlage ein angemesseneres Verständnis von Staat und Zivilgesellschaft.11 Dieses liefert Jürgen Habermas. Er hat mit seinem Konzept der deliberativen (also beratenden) Politik ein Modell vorgestellt, das diese Möglichkeiten politischer Teilhabe in einer repräsentativen Demokratie näher beleuchtet.12 Ihm geht es um eine grundsätzliche Beschreibung demokratischer Prozesse, die Einflussmöglichkeiten auf politische Entscheidungen realistisch erfasst. In diesem politikwissenschaftlichen Modell erhält auch die Zivilgesellschaft einen festen Platz. Die „bekannten institutionellen Komplexe der Verwaltung (einschließlich der Regierung), des Gerichtswesens und der demokratischen Meinungs- und Willensbildung (mit parlamentarischen Körperschaften, politischen Wahlen, Parteienkonkurrenz usw.)“13 stellen für Habermas das Zentrum politischer Macht dar. Nun ist die Frage entscheidend, wie dieses Zentrum offen und sensibel für die aktuellen Herausforderungen in der Gesellschaft bleiben kann, ohne sich davon in einem realitätsfernen Raum abzugrenzen.14 Denn nur wenn ein Staat auch mitbekommt, was die derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklungen, 11 Siehe für einen kooperativen Zusammenhang von Staat und Zivilgesellschaft den zwar kurz gehaltenen, aber doch sehr pointierten Überblick von Lob-Hüdenpohl. Lob-Hüdepohl 2012. 12 Vgl. dazu auch die kritische Auseinandersetzung mit Habermas bei Tim König. König 2012, 5–21; 55–78. 13 Habermas 1997, 430. 14 Genau dieses Problem macht Habermas übrigens für Luhmanns Systemtheorie geltend, wonach sich einzelne gesellschaftliche Systeme (wie die Politik, das Recht oder die Religion) durch die immer spezieller werdende Ausbildung eigener sprachlicher Codes voneinander abgrenzen und kaum noch in- und miteinander interagieren: „Nach ihrer Beschreibung erringen alle Funktionssysteme dadurch ihre Autonomie, daß sie eigene Kodes und eigene, füreinander nicht mehr übersetzbare Semantiken ausbilden. Damit büßen sie die Fähigkeit ein, direkt miteinander zu kommunizieren, so daß sie einander nur noch ‚beobachten‘ können. Dieser Autismus trifft in besonderer Weise das politische System, das sich, wie angenommen, seinerseits selbstreferentiell gegen seine Umwelten abschließt. Angesichts dieser autopoietischen Abkapselung ist kaum zu erklären, wie das politische System die Gesellschaft im ganzen sollte integrieren können, obwohl es doch auf Steuerungsleistungen spezialisiert ist, die die auseinanderdriftenden Funktionssysteme ‚umweltverträglich‘ aufeinander abstimmen und Störungen in diesen Systemen beheben sollen.“ Habermas 1997, 407.

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Herausforderungen und Probleme sind, kann er darauf durch neue oder veränderte Gesetze reagieren. Politikerinnen greifen dazu auf „komplexe Netzwerkstrukturen zwischen öffentlichen Verwaltungen und privaten Organisationen, Spitzenverbänden, Interessengruppen usw.“15 zurück. Solche LobbyStrukturen kritisiert Habermas jedoch zu Recht als intransparent und regulierungsbedürftig. Neben solchen Strukturen siedelt Habermas dann die Zivilgesellschaft als „meinungsbildende, auf Themen und Beiträge, allgemein auf öffentlichen Einfluß spezialisierte Vereinigungen“16 an. Lobbygruppen und Zivilgesellschaft bilden gemeinsam die Peripherie staatlicher Macht. Politische Entscheidungen können nach Habermas nur dann Autorität beanspruchen, wenn sie sowohl durch die meinungsbildenden Kanäle der Peripherie hindurchgegangen sind als auch die Schleusen des politischen Zentrums überwunden haben. So muss zwischen Peripherie und Zentrum ein Gleichgewicht der Macht herrschen: Weder sollte der Staat Entscheidungen ohne vorausgegangene öffentliche und zivilgesellschaftliche Diskurse fällen, noch sollten zivilgesellschaftliche Akteure gegen staatlich gesetztes Recht verstoßen; zumindest dann, wenn sie demokratisch legitimiert handeln wollen. Die Demokratie ist nach diesem deliberativen System davon abhängig, dass sich Menschen in den zivilgesellschaftlichen (bzw. staatlichen) Strukturen einbringen, auf Probleme aufmerksam machen und sich dabei zivil verhalten. Das ist ein Problem, denn „[d]ie Ausbildung solcher lebensweltlicher Strukturen kann gewiß stimuliert werden, sie entzieht sich aber weitgehend rechtlicher Regelung, administrativem Zugriff oder politischer Steuerung.“17 Der Staat hat also keine grundlegende Macht über die für ihn lebensnotwendige Verwurzelung in der Zivilgesellschaft. Die Verortung der Zivilgesellschaft erfolgt damit bei Habermas jenseits des Staates und innerhalb der Öffentlichkeit. Diese Öffentlichkeit charakterisiert Habermas als „eine Kommunikationsstruktur […], die sich auf einen […] Aspekt verständigungsorientierten Handelns bezieht: weder auf die Funktionen noch auf die Inhalte der alltäglichen Kommunikation, sondern auf den im kommunikativen Handeln erzeugten sozialen Raum.“18

Die Zivilgesellschaft ist also nicht mit der Öffentlichkeit identisch. Vielmehr ist die Öffentlichkeit eine (idealerweise) allen Menschen zugängliche Arena,19 die

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Habermas 1997, 430. Habermas 1997, 431. Habermas 1997, 434. Habermas 1997, 436. Dies unterscheidet die Öffentlichkeit übrigens von der Privatsphäre. Der Zugang zum persönlichen Privatbereich ist stark reguliert. Allerdings verarbeitet man in der Privatsphäre Themen, die dann ggf. in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Diese Einschränkung der Zivilgesellschaft auf eine öffentliche Funktion wird in dieser Arbeit noch mehrfach diskutiert.

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größtenteils über die Medien hergestellt wird und innerhalb derer einzelne Akteure (das können dann auch zivilgesellschaftliche Akteurinnen sein) um Einfluss konkurrieren: „Das Publikum der Bürger muß durch verständliche und allgemein interessierende Beiträge zu Themen, die es als relevant empfindet, überzeugt werden. Das Publikum besitzt diese Autorität, weil es für die Binnenstruktur der Öffentlichkeit, in der Akteure auftreten können, konstitutiv ist.“20

Mit Habermas wird klar, dass die Zivilgesellschaft zwar vom Bereich des Staates abgegrenzt werden kann, allerdings richtet sich die Zivilgesellschaft nach Habermas nicht wie bei Havel gegen den Staat. Das liegt daran, dass sich der totalitäre Staat und die (eher privat als öffentlich ausgerichteten)21 Zivilgesellschaften der Sowjetunion gegenseitig ihre Legitimität absprachen und einander bekämpften.22 In Anwendung auf die demokratisch geprägte Gesellschaft der BRD kehrt Habermas dieses antagonistische Verhältnis um: Die Zivilgesellschaft garantiert die demokratische Legitimität politischer Entscheidungen, indem sie deren Themen zuvor aus dem privaten Raum an die Öffentlichkeit trägt und dort darüber verhandelt.23 Der Staat wiederum fördert die Existenz der Zivilgesellschaft, weil er ihr eine rechtliche Basis bereitstellt. Das gilt insbesondere für „[d]ie Versammlungsfreiheit und das Recht, Vereine und Gesellschaften zu gründen“ sowie für die „Meinungsfreiheit.“24 Dass der demokratische Staat die Zivilgesellschaft auf diese Art unterstützt, setzt allerdings auch eine Selbstbegrenzung der zivilgesellschaftlichen Akteure voraus: sie dürfen, ja sollen den Staat beeinflussen. Dabei haben sie aber auf keinen Fall das Recht, sich selbst staatliche Macht anzueignen: „Die Zivilgesellschaft kann unmittelbar nur sich selbst transformieren und mittelbar auf die Selbsttransformation des rechtsstaatlich verfaßten politischen Systems einwir-

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Vgl. Teil I, Kapitel 3.1. Vgl. auch zur öffentlichen Funktion der Zivilgesellschaft bei Habermas: Habermas 1997, 442–443. Habermas 1997, 440. So zumindest das Urteil des Politikwissenschaftlers Marc M. Howard, der die anhaltende Konkurrenz öffentlich-zivilgesellschaftlicher und privat-zivilgesellschaftlicher Netzwerke in postkommunistischen Staaten Europas beschreibt. Vgl. Howard 2002, 162–163. Daher sprechen Hans Joas und Frank Adloff der osteuropäischen Debatte zur Zivilgesellschaft auch nahezu keine Bedeutung für andere westliche Staaten zu: „But […] these east European debates on society can provide little stimulus for the West, since they do little to aid understanding of the many types of relationship between state and society in Western countries. However important it is to strenghten civil society in the West, it is fortunately no longer necessary to produce it.“ Joas und Adloff 2007, 104. Dass es nicht das eine allgemeingültige Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft gibt, sondern es sich um ein wandelbares und auch fragiles Gefüge handelt, macht der Historiker Dieter Gosewinkel deutlich. Vgl. Gosewinkel 2003, 9–10. Habermas 1997, 445.

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ken. Im Übrigen nimmt sie Einfluß auf dessen Programmierung. Aber sie tritt nicht an die Stelle eines geschichtsphilosophisch ausgezeichneten Großsubjekts, das die Gesellschaft im ganzen unter Kontrolle bringen und zugleich legitim für diese handeln sollte.“25

Dass sich die Zivilgesellschaft nach Habermas jenseits des Staates befindet, sie aber zugleich die (kritische) Kooperation mit der staatlichen Macht sucht, erhält im Diskurs weitestgehend Zuspruch.26 Es gibt in den Konzeptionen zur Zivilgesellschaft selbstverständlich Nuancierungen. Man kann sie zumeist irgendwo zwischen dem gegen den Staat gerichteten Modell, das auch bei Havel wirkte und dem kooperativen Modell, das bei Habermas präsentiert wird, einordnen. Helmut Anheure, Stefan Toepler und Markus Lang etwa legen auf eine noch striktere raumlogische Trennung zwischen Staat und Zivilgesellschaft wert, als Habermas das vorschlägt. Während Habermas eine deliberative Brücke zwischen Staat und Zivilgesellschaft schlägt, die letztendlich dem Staat bei der Meinungsbildung und der Durchsetzung der Legislative verhilft, richten sich Anheier, Toepler und Lang gegen ein Modell von Zivilgesellschaft, das die raumlogische Trennung von Staat und Zivilgesellschaft ansatzweise verwischt. Zivilgesellschaft ist „[l]ocated between government or the state and the market.“27 Sie dient ihm explizit als Gegengewicht zu staatlichen Bestrebungen in der Arena öffentlicher Diskurse. Außerdem seien zivilgesellschaftliche Organisationen dem Staat überlegen, wenn es um die Einbindung von Freiwilligen und die Innovationskraft im Angesicht von sozialen Herausforderungen geht.28 Diese Gegenüberstellung hat vor allem analytische Gründe. Darüber hinaus reagieren diese etwas konfrontativen Aussagen zum Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft auf eine jüngere Dynamik. Darin schränken auf globaler Ebene insbesondere staatliche Regulierungen, behördliche Auflagen und staatlich-autoritäre Haltungen den Handlungsspielraum von zivilgesellschaftlichen Organisationen zunehmend ein. Wenn bspw. nur solchen Akteuren Steuerlasten abgenommen werden, die dem Staat inhaltlich zusagen, dann gibt es auch weniger Gestaltungsraum für eine öffentliche und ehrliche Auseinandersetzung innerhalb der

25 Habermas 1997, 450. 26 Vgl. z. B. Pollacks Abgrenzung des Staates von der Zivilgesellschaft: „Mit Zivilgesellschaft ist in der vorgeschlagenen Definition eine gesellschaftliche Sphäre jenseits des Staates, aber nicht jenseits des Politischen – insofern das Politische das Öffentliche bezeichnet – gemeint. Während der Staat eine Sozialbeziehung darstellt, die durch die geregelte und als rechtmäßig anerkannte Möglichkeit der Einflussnahme der Herrschenden auf die Beherrschten – bis hin zur Möglichkeit des legitimen Gebrauchs physischer Gewalt – gekennzeichnet ist, üben zivilgesellschaftliche Assoziationen keine politische Macht aus.“ Pollack 2003. Vgl. ebenfalls Klein 2001, 311. 27 Anheier et al. 2019, 2. 28 Anheier et al. 2019, 2–3.

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Zivilgesellschaft.29 Aufgrund dieses Machtverhältnisses ist es wohl angemessen, dass deliberativ-zivilgesellschaftliche Modell von Habermas als einen gefährdeten Idealfall anzusehen. Die deliberative Verwobenheit von Staat und Zivilgesellschaft funktioniert nur so lange, wie Staaten eine ihnen kritisch gesinnte und den staatlichen Anliegen mitunter auch widerstrebende Zivilgesellschaft tolerieren. Schränkt ein Staat sein zivilgesellschaftliches Umfeld jedoch ein, wird zugleich auch die raumlogische Trennung zwischen Staat und Zivilgesellschaft spürbarer, was sich dann auch in der modellhaften Definition der Zivilgesellschaft niederschlägt. Dann kann und muss man von einem eigenen und vor allem gefährdeten zivilgesellschaftlichen Raum sprechen.30 Über das Verhältnis zum Staat hinaus müssen allerdings noch weitere Grenzziehungen vorgenommen werden, die den Raum der Zivilgesellschaft konzeptionell greifbar machen. So grenzt Habermas bereits die Zivilgesellschaft von der Privatsphäre ab und verortet sie in der Öffentlichkeit. Denn nur dort kann ein frei zugänglicher Diskurs entstehen, der die deliberative Politik erst möglich macht. Diese eher nebenbei31 formulierte Eingrenzung der Zivilgesellschaft erfuhr insbesondere aus feministischer Sicht immer wieder Kritik: „Je mehr sie [sc. Frauen] seit dem 18. Jahrhundert ideologisch in die Privatsphäre der Familie eingeschlossen wurden, desto deutlicher blieben sie von der Öffentlichkeit der Zivilgesellschaft ausgeschlossen.“32 Dabei handelt es sich nicht um eine Dynamik, die allein die Vergangenheit betrifft, sondern auch unsere Gegenwart ist zutiefst von solchen Ausschlussmechanismen betroffen. So stellt der Freiwilligensurvey 2014 fest: „Frauen […] besetzen nicht nur in der Erwerbsarbeit, sondern auch im Engagement deutlich seltener Leitungs- oder Vorstandspositionen.“33 Zudem engagieren sich Frauen seltener in der Zivilgesellschaft als Männer, was oft daran liegt, dass sie stärker im Familienleben eingebunden sind.34 Dass die Bereiche des Privaten und des Öffentlichen jedoch „porös“35 und nicht trennscharf sind, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass ziviles Verhalten

29 Anheier et al. 2019, 8. 30 So auch Anheier et al. 2019, 12–13. 31 Vgl. dazu Jude Howells Beschreibung der Debatte: „However, political theorists have not been overly concerned with the conceptual difficulties of marking the divide between family and civil society. The debate as to whether the family is or is not part of civil society is held at the most superficial level.“ Howell 2005, 3. 32 Budde 2003, 57. 33 Simonson et al. 2017, 638. 34 Simonson et al. 2017, 165. 35 Budde 2003, 69.

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häufig erstmals in Familien eingeübt wird.36 Wegen dieser Einwände konkretisiert Frank Adloff die Abgrenzung der Zivilgesellschaft vom Raum des Privaten: „Wichtig ist ein Verständnis von Zivilgesellschaft, das nicht vorgängig entscheidet, welches Anliegen, welcher Handlungsmodus als privat oder öffentlich zu gelten hat. Im Prozess des Öffentlichmachens selbst, in der praktischen Transformation bisher privater Themen in öffentliche, liegt das Besondere der intermediären Sphäre der Zivilgesellschaft, sofern sie nicht bestimmte Gruppen systematisch ausschließt.“37

Der von Adloff genannte Vorwurf eines systematischen Ausschlusses bestimmter Gruppen aus der Zivilgesellschaft wurde zuletzt allerdings wieder laut. Eine empirische Untersuchung des freiwilligen Engagements in sozialen Brennpunkten belegt, dass bei vielen Menschen aus prekären Verhältnissen sowohl der Alltag als auch zivilgesellschaftliches Engagement eher im sozialen Nahbereich der Großfamilie und Nachbarschaft stattfindet.38 Das stellt die von Habermas vorgeschlagene Verortung der Zivilgesellschaft in der Öffentlichkeit infrage. Denn türkisch-deutsche Großfamilien oder Plattenbauten am Stadtrand sind keine Bereiche, die allen Menschen potenziell offen stehen und doch engagieren sich Menschen dort zivilgesellschaftlich.39 So werden hier beispielsweise freiwillig Spielplätze von Glasscherben gereinigt oder Seniorinnen zum Arzt gefahren, ohne dass man daraus eine öffentliche Debatte macht oder dass das Engagement in allgemein zugänglichen Vereinen oder Projekten organisiert wäre40. Erklärt man aber die Öffentlichkeit von sozialem Engagement zur conditio sine qua non der Zivilgesellschaft, grenzt man all die Menschen konzeptionell davon aus, die sich in Hinterhöfen und Großfamilien für ein besseres Miteinander einsetzen.41 Diese Exklusion bringt das Habermas’sche Zivilgesellschaftsmodell nicht zum Einsturz, setzt aber zumindest an die Bearbeitung gesellschaftlicher Themen „innerhalb der Öffentlichkeit“ ein vorläufiges Fragezeichen, das im Fazit dieses Kapitels wieder aufgenommen werden soll.42 Ebenso wenig eindeutig wie die Grenzziehung zu Staat und Privatsphäre gestaltet sich die Abgrenzung der Zivilgesellschaft zur Ökonomie. Allerdings sprechen erst einmal bedeutende Gründe dafür, Zivilgesellschaft und Markt 36 Deshalb wird die Familie in Andrew Arato und Jean Cohens großangelegter Studie zur Zivilgesellschaft auch konsequent zur Zivilgesellschaft dazugezählt. Vgl. Cohen und Arato 1999. 37 Adloff 2005, 85–86. 38 Klatt 2014, 194. 39 Diese Bereiche sind pauschal nicht deckungsgleich mit prekären Verhältnissen. Was an diesem Beispiel wichtig ist, ist die Beobachtung, dass es sich um private Orte handelt. 40 Klatt 2014, 120. 41 Man kann auf diese Herausforderung auch reagieren, indem man solches Engagement in den eigenen Netzwerken von genuin zivilgesellschaftlichem Engagement unterscheidet. So geht bspw. Eckhard Priller in seiner Untersuchung zum Dritten Sektor vor. Vgl. Priller 2010, 199. 42 S. u. Teil I, Kapitel 3.3.

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nicht am gleichen gesellschaftlichen Platz zu verorten. Das liegt in erster Linie daran, dass Akteure der Wirtschaft profitabel handeln wollen. Sobald das Ziel der Gewinnmaximierung wichtiger bewertet wird als mögliche negative Konsequenzen für andere Menschen oder die Umwelt, kann man von einem gefährlichen Kapitalismus sprechen.43 Dieser steht zivilgesellschaftlichen Anliegen dann schnell entgegen, sodass Gosewinkel und Kocka die Zivilgesellschaft als eine grundsätzlich kapitalismuskritische Kraft verstehen: „The term [sc. Zivilgesellschaft] thus reflects a new kind of capitalist critique since the logic of ‚civil society‘ as determined by public discourse, conflict and agreement, promises solutions different from those of the logic of the market which is based on competition, exchange and the maximization of individual benefits.“44

Neben der Problematik der Gewinnmaximierung hat der Philosoph Michael Walzer in einem vielbeachteten Aufsatz zur Zivilgesellschaft auf einen weiteren zentralen konzeptionellen Unterschied zwischen Markt und Zivilgesellschaft hingewiesen. Während die Zivilgesellschaft wenigstens ihrem – mit Habermas gesprochen „deliberativen“ – Ideal nach offen für die mehr oder weniger gleichberechtigte Teilhabe aller Gesellschaftsmitglieder sein möchte, hat die Wirtschaft kein solches Interesse: „It is also true, unhappily, that we can only make effective […] choices when we have resources to dispose of. But people come to the marketplace with radically unequal resources some with virtually nothing at all. Not everyone can compete successfully in commodity production, and therefore not everyone has access to commodities. […] The market, however, is not a good setting for mutual assistance, for I cannot help someone else without reducing (for the short term, at least) my own options. And I have no reason, as an autonomous individual, to accept any reductions of any sort for someone else’s sake. […] Despite the successes of capitalist production, the good life of consumer choice is not universally available. Large numbers of people drop out of the market economy or live precariously on its margins.“45

Mit Walzer ist nicht nur das Streben nach Gewinn, sondern auch die daraus resultierende Folge von finanzieller und sozialer Ungleichheit als wichtiger Unterschied zur Zivilgesellschaft markiert. Aufgrund seiner inhärenten Logik 43 Wobei die Sozialwissenschaften häufig nicht zwischen Markt und gefährlichem Kapitalismus unterscheiden, sondern ökonomisches Handeln mit einer grundsätzlichen und kapitalismuskritischen Distanz beäugen. So auch Claus Offe, wenn er schreibt: „[…] markets are known to be deaf and blind: deaf as to the present negative externalities they cause, e. g. of an environmental sort, as well as blind to the long term consequences of market transactions for those involved in them.“ Offe 2000, 87. 44 Gosewinkel und Kocka 2007, iix. An anderer Stelle spricht Kocka sogar von einem „Kapitalismus, der sich relativ zur Zivilgesellschaft parasitär verhält.“ Kocka 2000, 16. Wobei auch Kocka um die Möglichkeit wirtschaftlicher Akteure innerhalb der Zivilgesellschaft weiß. Vgl. dazu Kocka 2000, 33. 45 Walzer 1998, 129.

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grenzt der Markt Menschen gesellschaftlich aus, die Bauman zynisch als „Abfall“ der liquiden Moderne beschreibt. Wer nicht erfolgreich am wirtschaftlichen Treiben teilnehmen und damit auch nicht konsumieren kann, findet womöglich keinen Anschluss mehr.46 Damit ist allerdings nicht gesagt, dass die Zivilgesellschaft nicht auch über Exklusionsmechanismen verfügt.47 Die Logik, die den Markt in Bewegung setzt, marginalisiert Menschen jedoch auf eine andere Art und Weise und mit einer anderen Qualität, als das auch durch zivilgesellschaftliche Dynamiken geschehen kann.48 Für das Verhältnis von Markt und Zivilgesellschaft bedeuten die konzeptionellen Unterschiede beider Sphären eine gewisse Unvereinbarkeit miteinander. In diese Richtung argumentiert auch Claus Offe, ein Schüler von Jürgen Habermas. Er spricht der Marktwirtschaft die Fähigkeit ab, sich im Streben nach Gewinn selbst zu beschränken, und plädiert daher für starke Eingrenzungen der Wirtschaft durch eine deliberative Politik in Form von staatlichem Recht einerseits und zivilgesellschaftlichem Diskurs andererseits.49 Wie diese Einschränkung der Wirtschaft durch zivilgesellschaftliche Akteurinnen aussehen kann, beschreibt der Ökonom Simon Zadek anschaulich. Dabei verortet er die erfolgreichsten zivilgesellschaftlichen Kampagnen gegen soziale und ökologisch rücksichtslose globale Konzerne in die 1990er Jahre, als z. B. Greenpeace medienwirksam gegen Shell vorging oder die menschenunwürdigen Bedingungen von Arbeitern in Schuhfabriken von Nike öffentlich wurden. Solche Aktionen konnten die Marken großer Konzerne zumindest zeitweise beschädigen und für (vergleichsweise geringe) finanzielle Einbußen sorgen.50 Diese Aktionen trafen globale Konzerne aber nie in ihrer Substanz und so lassen sich z. B. Nike und Shell trotz aller Proteste sehr erfolgreich vermarkten. Das so dargestellte antagonistische Verhältnis von Markt und Zivilgesellschaft gilt allerdings nicht für die Gesamtheit der beiden Sphären. Es lässt sich eher für die besonders kapitalismuskritischen Akteure einerseits und die stark rücksichtslosen kapitalistischen Akteurinnen andererseits geltend machen. Wenigstens in der westlichen Welt herrscht zwischen Markt und Zivilgesellschaft ein bewegtes In- und Miteinander. 46 Daraus macht der Politikwissenschaftler und Soziologe Colin Crouch übrigens eine Tugend. Er lobt den Markt dafür, Menschen nicht aus bspw. rassistischen Gründen auszuschließen: „The market, in contrast, is amoral. Any goals or forms of behaviour are acceptable to it, provided they can be financed. The only child pornographer who is unacceptable to the market is one who has no money. On the other hand, the collectivity of the market is potentially universal. It practises no exclusion on grounds of nationality, ethnicity, gender, age, disability or anything else other than ability to pay.“ Crouch 2011, 148–149. 47 Vgl. dazu etwa Fn. 62. 48 Die exkludierenden Mechanismen der Zivilgesellschaft werden an späterer Stelle diskutiert. S. u. Teil I, Kapitel 3.3. 49 Offe 2000, 87–89. 50 Vgl. Zadek 2013, 430–431.

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Das liegt nicht zuletzt an den Erfolgen, die zivilgesellschaftliche (und staatliche) Projekte im ökonomischen Bereich erzielen konnten. Spürbar wird das (trotz aller Ausbaufähigkeit) bei Standards, die für Konzerne mittlerweile in finanzieller Transparenz, im Tier- und Naturschutz und in Rechten der Belegschaft gelten.51 Zugleich verpflichten sich Firmen immer wieder auf eine corporate social responsibility (CSR), sodass auch wirtschaftliche Akteure an zivilgesellschaftlichen Projekten mitwirken und damit zumindest stellenweise auch innerhalb der Zivilgesellschaft verortet werden können. Colin Crouch warnt hier allerdings vor einer zu blauäugigen Sicht auf CSR: „On the one hand, CSR suggests ethical obligations being placed on firms; on the other, it gives them the power to decide aspects of the moral agenda. For example, a supermarket chain might decide to devote considerable attention to the ‚dolphin-friendly‘ nature of the fishing methods used to catch its tuna, but silently press price reductions on third world suppliers of clothing that imply starvation wages for their employees.“52

Dieser Hinweis hilft, die Erwartungen an wirtschaftliche Unternehmen in der Zivilgesellschaft realistisch einzuschätzen. Allerdings gilt der Vorwurf auch genauso gut für private oder staatliche Akteure der Zivilgesellschaft. Die eigene Agenda kann widersprüchlich, eigennützig oder sogar nur eine Fassade sein, mit der die eigenen Schattenseiten kaschiert werden sollen. Der Einfluss der Ökonomie berührt auch die zivilgesellschaftlichen Seite der Gesellschaft.53 So müssen auch nicht-ökonomische Akteure je nach Größe der Organisation auf finanzielle Effizienz und Professionalität achten. Gerade hier kommen dann Konzerne wieder als Spendengeber in Sicht. Das wiederum ist natürlich auch problematisch. Denn wo die Zivilgesellschaft von der Ökonomie finanziell abhängig ist, kann sie auch nicht kritisch und korrigierend darin eingreifen. Schon diese kurze Übersicht macht deutlich, dass das Verhältnis der Zivilgesellschaft zu den sie umgebenden gesellschaftlichen Bereichen ausgesprochen ambivalent ist. Staat, Privatsphäre und Wirtschaft sind Bereiche, die die Zivilgesellschaft einerseits unterstützen und bspw. durch politischen Freiraum, die lebensweltliche Bearbeitung von relevanten Themen oder die Bereitstellung von Ressourcen erst möglich machen. Zumal sowohl staatliche als auch private oder wirtschaftliche Akteure an zivilgesellschaftlichen Projekten mitwirken können und damit auch als Teil der Zivilgesellschaft gelten. Andererseits sind die ge51 Zadek 2013, 432. 52 Crouch 2011, 150–151. 53 Ökonomie und Zivilgesellschaft durchdringen einander übrigens auch im weiten Raum des Dritten Sektors. Non-Profit-Organisationen kooperieren hier mit staatlichen Einrichtungen und tragen zudem zur zivilgesellschaftlichen Infrastruktur bei. Für eine genauere Differenzierung zwischen Zivilgesellschaft und dem Dritten Sektor vgl. Evers 2013.

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nannten Bereiche nicht deckungsgleich mit der Zivilgesellschaft. Die Bereiche, die hier diskutiert wurden, werden von Akteuren besetzt, die grundsätzlich auch nicht-zivilgesellschaftliche Ziele verfolgen. Dabei handelt es sich um staatliche, private oder ökonomische Ziele. Im Miteinander und Gegeneinander ringen solche Akteure immer wieder mit zivilgesellschaftlichen Playern. Durch solche Aushandlungsprozesse entsteht die zivilgesellschaftliche Arena. Dabei handelt es sich – im Rückgriff auf Habermas – um eine Kommunikationsstruktur. Je nachdem, welche Akteure hier ihren Einfluss geltend machen (staatliche, private, ökonomische oder zivilgesellschaftliche Akteure), erhält die zivilgesellschaftliche Arena dann auch ein staatliches, privates oder ökonomisches Gesicht. Das provoziert die Frage, was genau eine zivilgesellschaftliche Akteurin ausmacht. Wie unterscheidet sie sich von Akteuren aus den anderen raumlogischen Bereichen? Die Beantwortung dieser Frage führt zur zivilgesellschaftlichen Handlungslogik. Das wird die Grenzen, die die raumlogische Perspektive in die Zivilgesellschaft eingezogen hat, überschreiten. Dadurch werden die räumlichen Einschränkungen der Zivilgesellschaft nicht hinfällig. Sie bleiben weiterhin als notwendige Konturen des Konzepts bestehen. Allerdings ist es lohnenswert, Zivilgesellschaft unter ihren handlungslogischen Gesichtspunkten zu untersuchen. Erst dann wird deutlich hervorgehoben, dass Zivilgesellschaft als eine soziale Utopie immer auch normativ aufgeladen ist und dabei Licht- und Schattenseiten hervorbringt.

3.2

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Der Politikwissenschaftler und Philosoph Jeffrey Alexander hat die Zivilgesellschaft unter handlungslogischen Gesichtspunkten untersucht und diese mit raumlogischen Konzepten verwoben. Dafür spricht er von einer civil sphere, die er von den gesellschaftlichen Bereichen Staat, Privatsphäre, Religion und Ökonomie abgrenzt.54 Letztere Sphären nennt er erst einmal noncivil.55 Das bedeutet für Alexander nicht, dass in ihnen Barbarismus und Gewalt herrschen, sondern dass in diesen Sphären Partikularinteressen zugrunde gelegt werden. So beschäftigt sich bspw. der Staat mit den eigenen Bürgerinnen, die Privatsphäre mit den eigenen sozialen Kontakten, die Religion(en) mit der eigenen Konfession und die Ökonomie mit dem je eigenen Konzern und Profit. Dieser Partikularismus kann jedoch in Form von „[r]eligious hatreds and repression, gender 54 Vgl. dazu das großangelegte Werk Alexander 2006 ebenso wie die eigene Revision dieses Werks in Alexander 2016. 55 Alexander 2006, 7.

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misogyny and patriarchy, the arrogance of expert knowledge and the secrecy of political oligarchy, racial and ethnic hatreds of every sort“56 immer auch in Gewalt umschlagen. Demgegenüber ist die civil sphere idealerweise dazu in der Lage, eine Solidarität auszubauen, die solche Partikularinteressen übersteigt. Solidarität umschreibt Alexander als „the feeling of being connected to others, of being part of something larger than ourselves, a whole that imposes obligations and allows us to share convictions, feelings, and cognitions, gives us a chance for meaningful participation, and respects our individual personalities even while giving us the feeling that we are all in the same boat.“57

Die große Leistung der civil sphere ist es nun, Menschen aufgrund eines solidarischen Handlungsprinzips, oder „out of principle“58 in Alexanders Worten, als gleichwertiges Gegenüber zu begegnen. Dem Ideal nach haben Menschen die gleiche Würde und sie verdienen die gleiche Achtung voreinander. Sie können die gleichen Rechte in Anspruch nehmen. Gesellschaften werden demgemäß nicht nur durch staatliche, private, religiöse oder ökonomische Machtinteressen geleitet, sondern eben auch durch Solidarität. Aufgabe der civil sphere ist es nach Alexander darum, solchen Fragmentierungen der Gesellschaft entgegenzutreten, die sich an bestimmten Identitäten, kulturellen Hintergründen oder Merkmalen wie Religion, Herkunft, Hautfarbe, Klasse, Geschlecht o. ä. entzünden und zugleich bestimmten Gruppen eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe verweigern.59 Alexander unterscheidet zwischen dieser hoch normativ und ideal aufgeladenen civil sphere und der empirisch und situativ variablen Zivilgesellschaft. Denn jede Zivilgesellschaft ist an kulturelle Bedingungen gebunden, die zu Staat, Privatsphäre, Religion, Ökonomie aber eben auch zur Zivilgesellschaft zivile wie nicht-zivile Narrative bereithalten. Man kann sagen, dass die civil sphere das utopische Ideal und die Zivilgesellschaft die empirische Realität ist, in der sich die Ideale nie voll und ganz verwirklichen lassen. Das Problem ist nicht etwa, dass auch in der Zivilgesellschaft Solidarität als Handlungslogik infrage gestellt wird. Die einzelnen Qualitäten, in denen sich Alexanders Solidaritätsbegriff verwirklicht, sind seiner Meinung nach weitestgehend unangefochten. Er stellt dazu einen ganzen Katalog an Handlungsmodi auf, in dem er zivile von nicht-zivilen Werten unterscheidet. So postuliert er allgemein anerkannte zivile Modi wie z. B.

56 57 58 59

Alexander 2006, 35. Alexander 2006, 13. Vgl. auch 43. Alexander 2006, 4. Für Alexander geht es bei dieser normativen Aufladung der Zivilgesellschaft nicht um eine konzeptionelle Inhaltsbestimmung, sondern um das Wohl der Menschheit. So beschwört er seine Leserschaft mit den alarmierenden Worten: „Let us grab hold of this old new concept and theorize and study it before it is too late.“ Alexander 2006, 9.

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aktiv, reflektiert, kontrolliert, offen, vertrauenserweckend, altruistisch, freundlich, regelkonform oder vertragstreu. Ihnen stellt er nicht-zivile Handlungsmodi wie passiv, irrational, unkontrolliert, geheim, zwielichtig, egoistisch, unfreundlich oder korrupt gegenüber.60 Was im Gegensatz zu diesen Modi nach Alexander keineswegs selbstverständlich und unangefochten ist, ist die Frage, welchen gesellschaftlichen Gruppen solche zivilen bzw. nicht-zivilen Handlungsmodi zugeschrieben werden. Hier liegt die eigentliche Differenz zwischen civil sphere und Zivilgesellschaft. Wer zur Zivilgesellschaft dazugehören darf und wer nicht, wird in den jeweiligen Zivilgesellschaften verhandelt und unterschiedlich beantwortet. Alexander spielt diesen Konflikt zwischen civil sphere, also der idealerweise universell gültigen gesellschaftlichen Solidarität und Zivilgesellschaft, also der tatsächlichen Teilhabe an dieser Solidarität, am Beispiel der USA durch. Im Lauf der Geschichte wurden dort immer wieder Migrantinnen aus verschiedenen Kulturen in das gesellschaftliche Gefüge integriert, was dann die Frage provozierte, ob die Migranten auch an der zivilgesellschaftlichen Solidarität partizipieren können. Dabei wurde das Konzept der „assimilation“ angewandt. Indem insbesondere Migranten zwischen privater und öffentlicher Identität unterscheiden und ihr Verhalten in der (politischen) Öffentlichkeit der etablierten Mehrheit anpassen, werden sie als gleichwertig wahrgenommen.61 Als irischer Katholik der ersten Einwanderergeneration konnte man dann zwar in privaten Kreisen in die Messe gehen, irische Lieder singen und bestimmte Kleidung tragen. In der nicht-irischen Öffentlichkeit sollte man solche Verhaltensweisen aber nicht zur Schau tragen, wenn man als Amerikanerin anerkannt sein wollte. Diese Art des Umgangs mit eher kürzlich immigrierten Minderheiten kann Alexander bis in die Gegenwart hinein beobachten. Seine Bewertung zur assimilation fällt sehr ausgewogen aus, indem er einerseits kritisiert, dass bestimmte Teile einer Identität als „polluted“ abgelehnt werden.62 Andererseits hebt er anerkennend hervor, dass durch die Aufspaltung von privaten und öffentlichen Identitäten auch ausgeschlossene Kulturen Zugang zur zivilen Öffentlichkeit erhalten kön60 Vgl. Alexander 2006, 57–59. 61 „Assimilation takes place when out-group members are allowed to enter fully into civil life on condition that they shed their polluted primordial identities.“ Alexander 2006, 421. 62 Eine Zivilgesellschaft arbeitet immer auch mit Ausgrenzungsmechanismen um die eigene Zivilität zu profilieren. Dabei werden Feindbilder erstellt, die bestimmte Gruppen, Überzeugungen und Identitäten als verschmutzt darstellen: „Representing the ‚worst‘ in the national community, it embodies evil. The objects it identifies threaten the core community from somewhere outside it. From this marginal position, they present a powerful source of pollution. To be close to these polluted objects — the actors, structures, and processes that are constituted by the repressive discourse — is dangerous. Not only can one’s reputation be sullied and one’s status endangered, but one’s very security can be threatened. To have one’s self or movement identified in terms of these objects causes anguish, disgust, and alarm. Collective representations of this polluting code are perceived as a threat to the very center of civil society itself.“ Alexander 2006, 62.

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nen. So ein Zugang zur Zivilgesellschaft hat für Alexander eine Schlüsselfunktion. Denn Alexander geht davon aus, dass Menschen nie nur Teil der Zivilgesellschaft sind, sondern immer auch in andere non-civil Teilbereiche eingebunden sind. Das kann bspw. die Privatsphäre, die Religion, der Staat oder die Ökonomie sein. Weil solchen Menschen dann in der gebrochenen Form einer Zivilgesellschaft auch die civil sphere begegnet, sie also auf solidarische Werte stoßen, können sie diese Solidarität nun auch in die anderen gesellschaftlichen Bereiche eintragen, in denen sie sich bewegen. Dass es überhaupt zu einem zivilen Umgang in nicht-zivilen Bereichen kommt ist nach Jeffreys Vorstellung dem Beitrag der Zivilgesellschaft geschuldet. Dass Frauen z. B. im Verlauf des 20. Jhdt. Gleichberechtigung in der Privatsphäre einforderten, ist nach Alexander stark mit ihrer doppelten Mitgliedschaft in Familie und Zivilgesellschaft verbunden: „[W]omen in families gradually came to reject the identification of their selves with their patriarchy defined domestic and mothering roles. […] women began to experience themselves as having dual membership, as not only members of a family structure in which loyalty, love, and deference were basic criteria but as members of civil society, which demanded criticism, respect, and equality.“63

Dass die Emanzipation von Frauen auf das Zusammenspiel von Zivilgesellschaft und Privatsphäre zurückführbar ist, darf als zu monokausale Begründung zurückgewiesen werden. Hier spielten sicherlich auch andere Dynamiken eine tragende Rolle. Wichtig ist jedoch, dass Alexander mit seinem Konzept der civil sphere auch für die Zivilgesellschaft eine einleuchtende handlungslogische Beschreibung vorlegt. Zivilgesellschaft ist demnach dort, wo sich Menschen prinzipiell solidarisch begegnen, sie sich also ihre Menschlichkeit nicht absprechen, sondern in Form gleicher Rechte respektieren. Zugleich gibt Alexander der Zivilgesellschaft auch eine zentrale Aufgabe mit auf den Weg. Sie besteht darin, in möglichst vielen gesellschaftlichen Bereichen solche Solidarität als maßgebliche Handlungslogik einzutragen. Dabei geht es keineswegs um ein freundliches und harmonisches Miteinander. Alexander macht mit seiner Handlungslogik für die Zivilgesellschaft einen demokratietheoretischen Horizont auf. Es geht ihm darum, nicht-zivile Dynamiken und Bereiche zu überprüfen und auf ihren Nutzen für die Allgemeinheit hin zu befragen: „To maintain democracy, and to achieve justice, it is often necessary for the civil to ‚invade‘ noncivil spheres, to demand certain kinds of reforms, and to monitor them through regulation in turn.“64 Zugleich weist sein Konzept auch auf die wunden Punkte der Zivilgesellschaft hin. Denn für Alexander gab und gibt es keinen vorstellbaren Zustand, in dem

63 Alexander 2006, 233–234. 64 Alexander 2006, 93.

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alle Menschen einer Gesellschaft Zugang zur Zivilgesellschaft haben. Immer wieder werden Gruppen verdächtigt, nicht zivil zu sein, weil sie nicht so recht in das vorherrschende Narrativ von Zivilität hereinpassen wollen. Für die gegenwärtige europäische Gesellschaft formuliert Alexander dieses ausgrenzende Narrativ folgendermaßen: „If immigrant groups were anti-feminist or anti-queer, they could not be civil in the modern European way. Europeans began rejecting multiculturalism, demanding assimilation to the contemporary manners and mores of the post-’60s core groups. This was the ‚new primordiality‘. Exclusion in defense of liberty is no vice.“65

Diese Kritik an der Zivilgesellschaft führt allerdings zu einem ausgesprochen widersprüchlichen Problem. Denn einerseits versucht die Zivilgesellschaft, gemäß der civil sphere eine Solidarität umzusetzen, die sich nicht an bestimmten kulturellen Identitäten aufhalten möchte, sondern eine allgemeine Gültigkeit beansprucht. Alle Menschen sollen unabhängig ihrer Kulturen, Einstellungen und Identitäten Zugang zu Gerechtigkeit haben. Andererseits wird diese allgemeine Gültigkeit der Solidarität keineswegs überall akzeptiert. Vielmehr wird sie infrage gestellt und auf bestimmte Gruppen mit bestimmten Wertevorstellungen reduziert. Wenn bspw. Salafisten aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden, indem ihnen gleiche Rechte und Solidarität vorenthalten werden, würde die Zivilgesellschaft dem Ideal der civil sphere nicht entsprechen. Allerdings wäre es gleichzeitig blauäugig zu sagen, dass alle Menschen unabhängig von ihren Werten als produktiver und willkommener Teil der Zivilgesellschaft angesehen werden. So schreibt auch Alexander zu radikalen Fundamentalisten: „Indeed, backlash movements can threaten the existence of the civil sphere, demanding suppression of the very autonomy that allowed their own movements first to emerge.“66 Ausgehend von dieser Problematik stellt sich für die Mitglieder der Zivilgesellschaft immer die Frage: „In regard to a particular category of excluded persons — whether defined by class, region, gender, race, religion, or national origin — should the gap between utopian promise and stigmatized actuality be closed? Should the incorporation of this particular group into civil society proceed?“67

Die Lösung des Problems ist nach Alexander, dass nie Menschen oder Gruppen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden dürfen, da ihnen sonst der heilsame Kontakt zur mitmenschlichen Solidarität der civil sphere entgeht. Er spricht dafür nun nicht mehr, wie noch bei den Migranten in den USA früherer Zeiten, von assimilation, sondern von „incorporation“. Dabei geht es darum, 65 Alexander 2016, 78. 66 Alexander 2006, 418. 67 Alexander 2006, 410.

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Menschen unabhängig von ihren Identitäten, Überzeugungen und Werten als Menschen anzuerkennen und mit ihnen darum auch in der Öffentlichkeit würdevoll umzugehen. Auch wenn keine Zivilgesellschaft diesem Ideal je voll und ganz entsprechen kann, hält der Verweis auf dieses Ideal die Möglichkeit offen, auch aneckenden Menschen mit demokratischem Respekt zu begegnen.68 Aber nur weil man in der Zivilgesellschaft bspw. mit Neonazis oder religiösen Fanatikern solidarisch umgeht, ihnen also die gleichen Rechte zugesteht, die man für sich selbst in Anspruch nimmt, bedeutet das nicht, auch die von ihnen vertretenen Werte gutzuheißen. Die Zivilgesellschaft, das wird an diesem Problem ersichtlich, ist nicht trotz, sondern gerade wegen des Ideals der Solidarität eine konfliktreiche Arena konkurrierender Werte. Sie hat demnach die Aufgabe, kontroverse Auseinandersetzungen auch mit extremen, abwegigen und absurden Positionen zu führen.69 Die im wissenschaftlichen Diskurs oft diskutierte dark side der Zivilgesellschaft, die aus ausschließenden, Gewalt in Kauf nehmenden oder antidemokratischen Akteuren besteht, ist damit Teil von Alexanders Zivilgesellschaftskonzept. Er legt mit seinem Entwurf der civil sphere einen beachtlichen handlungslogischen Zugang zur Zivilgesellschaft vor. Im Zentrum seines Konzepts steht eine Zivilgesellschaft, die Demokratien stützen kann, weil sie ein solidarisches, also gleichberechtigtes Miteinander stärkt. Das bedeutet, dass die Zivilgesellschaft offen für Teilhabe von unterschiedlich denkenden und handelnden Menschen sein muss. Genau das führt konsequenterweise zu einer konfliktreichen Zivilgesellschaft, die pluralistisch aufgestellt ist. So eine Zivilgesellschaft wird immer wieder durch Ausschlusstendenzen gefährdet, die in die Zivilgesellschaft eingetragen werden können, gerade weil Zivilgesellschaft als eine deliberative Arena für gemäßigte wie auch radikale Positionen offen ist. Neben dieser ambivalenten Aufgabe, Teilhabe an der Öffentlichkeit zu ermöglichen, macht Alexander noch eine weitere Funktion für die Zivilgesellschaft geltend: Die Zivilgesellschaft soll die civil sphere (verstanden als Gültigkeit von Gerechtigkeit und Solidarität) auch auf andere gesellschaftliche Bereiche ausweiten und so insbesondere den Staat und die Ökonomie, aber ggf. auch die Privatsphäre und die Religion kritisch begleiten.

68 Vgl. Alexander 2006, 417–419. 69 Dieser Pluralismus ist für Alexander auch demokratietheoretisch ausgesprochen wichtig. So schreibt er dazu: „Indeed, the more democratic a society, the more it allows groups to define their own specific ways of life and legitimates the inevitable conflicts of interest that arise among them. Political consensus can never be brought to bear in a manner that neutralizes particular group obligations and commitments.“ Alexander 2006, 46.

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Dieses handlungslogische Konzept der Zivilgesellschaft findet der Sache nach in der Forschung großen Anklang.70 Allerdings werden einzelne Bereiche der so skizzierten Zivilgesellschaft noch kontrovers diskutiert. Alexanders handlungslogische Darstellung bezieht sich an mehreren Stellen auf die Funktion der Zivilgesellschaft im demokratietheoretischen Konzept von Habermas. Bei beiden Autoren erhält die Zivilgesellschaft ein demokratieförderliches Potenzial. Für Habermas stützt Zivilgesellschaft die Demokratie, weil durch sie politische Entscheidungen öffentlich debattiert werden. Die Herstellung eines weitmöglichen Konsenses legitimiert politische Entscheidungen. Bei Alexander hat Zivilgesellschaft stärker noch die Aufgabe, nicht nur Themen, sondern auch marginalisierte Gruppen in den öffentlichen Diskurs mit aufzunehmen. Im Gegensatz zu Habermas sieht Alexander die Zivilgesellschaft jedoch auch als möglicherweise bedrohlich und die Demokratie gefährdend an.71 Einen nicht unerheblichen Einspruch gegen die politische und demokratiestützende Funktion der Zivilgesellschaft bekommen allerdings beide Autoren von Walzer. Dieser weist darauf hin, dass Menschen ganz grundsätzlich nicht zum homo politicus verklärt werden dürfen. Zwar ist die Teilhabe in der Demokratie als aktive Bürgerin ausgesprochen wünschenswert, allerdings kann man politisches Engagement, ob in der Zivilgesellschaft oder dem Staat, nicht zum Ideal menschlicher Lebensführung erklären. Dass dies jedoch in vielen zivilgesellschaftlichen Konzepten eine Vorstellung ist, die im Hintergrund gesetzt wird, kritisiert Walzer folgendermaßen: „To live well is to be politically active, working with our fellow citizens, collectively determining our common destiny not for the sake of this or that determination but for the work itself, in which our highest capacities as rational and moral agents find expression. We know ourselves best as persons who propose, debate, and decide. […] I don’t doubt that the active and engaged citizen is an attractive figure […]. First […], it can’t be said that the state is fully in the hands of its citizens. […] The rule of the demos is in significant ways illusory; the participation of ordinary men and women in the activities of the state (unless they are state employees) is largely vicarious; even party militants are more likely to argue and complain than actually to decide. Second […], politics rarely engages the full attention of the citizens who are supposed to be its chief protagonists. They have too many other things to worry about. Above all, they have to

70 Vgl. z. B. Adloff 2010, 42–43 oder auch Roth 2003. 71 Alexander geht dabei also von einem raumlogischen Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft aus, in dem sich beide Sphären auch feindlich gegenüberstehen können. Habermas verklärt dieses ggf. auch gegeneinander gerichtete Verhältnis zu einem diskursiven Miteinander. Die Zivilgesellschaft bringt die Inhalte hervor, die dann im Parlament zu Gesetzen gemacht werden. Das ist ein Idealfall, der in der Realität jedoch wegen zahlreicher Probleme unerreicht bleibt. Vgl. dazu auch Becker 2013, 231–241.

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earn a living. They are more deeply engaged in the economy than in the political community.“72

Eine direkte Beeinflussung staatlicher Entscheidungen durch zivilgesellschaftliches und politisches Engagement ist nach Walzer und insbesondere gegen Habermas illusorisch. Walzer begründet dies erstens damit, dass in einer Demokratie Entscheidungen nicht zwangsläufig durch die Peripherie des Staates (also die Zivilgesellschaft) legitimiert werden müssen. Zweitens geht Walzer davon aus, dass Teilhabe an der Zivilgesellschaft lange nicht für alle Bürger ein erstrebenswertes Ideal ist und sich viele Menschen damit begnügen, im Privatleben oder der Wirtschaft erfolgreich zu sein. Mit seiner Beobachtung hat Walzer sicherlich insofern recht, als der politisch aktive Bürger in Konzepten der Zivilgesellschaft idealisiert wird. Bei Habermas und Alexander geschieht das implizit, bei anderen Theoretikern, z. B. Herfried Münkler, auch explizit, wenn er sich zur Rolle von Bürgerinnen in einer Gesellschaft äußert: „[B]ad citizens also exist and […] they make use of, but do not help to create, the benefits and collective goods of the polity; […] there cannot be too many of these bad citizens in a polity or else its future will be jeopardized.“73 Für die Debatte zur Zivilgesellschaft ist diese oft unausgesprochene Erwartung an die Mitglieder einer Gesellschaft sehr bedeutsam. Denn schon die von Münkler vorgenommene Aufteilung in gute (also politisch engagierte) und schlechte (also politisch inaktive) Bürger zeigt, dass mit der handlungslogischen Idealbeschreibung der Zivilgesellschaft auch starke Bewertungen vorgenommen werden. Das ist problematisch, wenn Menschen damit abgewertet werden, die sich bspw. in einem Orchester oder einem Boxclub engagieren, nicht aber in einer Partei oder einem Naturschutzbund. Bei diesem Problem ist der Verweis auf Robert Putnams Untersuchung zum sozialen Leben in den USA hilfreich. In den 1990ern und frühen 2000ern erregte er große Aufmerksamkeit mit einer breit angelegten empirischen Untersuchung.74 Darin brachte er auch die Zivilgesellschaftsforschung weiter, indem er den Beitrag zivilgesellschaftlicher Aktivitäten für eine Demokratie würdigte: „[V]oluntary associations, from churches and professional societies to Elks clubs and reading groups, allow individuals to express their interests and demands on government and to protect themselves from abuses of power by their political leaders. Political information flows through social networks, and in these networks public life is discussed. […] When people associate in neighborhood groups, PTAs [sc. Parent-TeacherAssociations], political parties, or even national advocacy groups, their individual and otherwise quiet voices multiply and are amplified.“75

72 73 74 75

Walzer 1998, 125–126. Münkler 2007, 93. Putnam 2001. Vgl. dazu auch die Darstellung Putnams in Teil I, Kapitel 2.3. Putnam 2001, 167.

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Der große Mehrwehrt seiner Untersuchung zielt aber nicht auf diese bereits oft herausgearbeiteten politischen Effekte ab, sondern auf die Vorteile sozialen Miteinanders für eine Gesellschaft. Sein Ergebnis war zusammengefasst, dass die Gesellschaft durch (auch im Habermas’schen Sinne weitestgehend unpolitische) Vereine, Projekte und Zusammenkünfte positiv geprägt wird. Denn auch in den eben erwähnten Orchestern und Boxclubs entsteht Sozialkapital, das dabei hilft, Menschen aus verschiedenen Hintergründen und mit z. T. sogar widersprechenden Weltbildern oder politischen Haltungen zusammenzubringen. Sozialkapital besteht sowohl aus bridging, das Menschen unterschiedlicher Milieus verbindet und so horizonterweiternd wirkt, als auch aus bonding, also intensiveren Gruppenerfahrungen. Solches Sozialkapital stärkt Menschen in ihren sozialen Kompetenzen76: „[A]ssociations and less formal networks of civic engagement instill in their members habits of cooperation and public-spiritedness, as well as the practical skills necessary to partake in public life. […] Prophylactically, community bonds keep individuals from falling prey to extremist groups that target isolated and untethered individuals. Studies of political psychology over the last forty years have suggested that ‚people divorced from community, occupation, and association are first and foremost among the supporters of extremism.‘ More positively, voluntary associations are places where social and civic skills are learned – ‚schools for democracy.‘ Members learn how to run meetings, speak in public, write letters, organize projects, and debate public issues with civility.“77

Zumeist treten beide Formen des Sozialkapitals gemeinsam auf und wirken sich dann auch positiv auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt aus. Gesellschaftlichen Aufspaltungen oder Exklusionen kann so produktiv begegnet werden: „A […] way in which social capital improves our lot is by widening our awareness of the many ways in which our fates are linked. People who have active and trusting connections to others—whether family members, friends, or fellow bowlers—develop or maintain character traits that are good for the rest of society. Joiners become more tolerant, less cynical, and more empathetic to the misfortunes of others.“78

Für das Konzept der Zivilgesellschaft hat das weitreichende Folgen. Denn erstens kann so die Generierung von Sozialkapital als Aufgabe der Zivilgesellschaft neben die Aufgabe der Demokratieförderung gestellt werden, was in der Zivilgesellschaftsforschung mittlerweile auch kaum noch bestritten wird.79 Zweitens erfasst Putnams Perspektive auf die Zivilgesellschaft weit mehr Vereinigungen, 76 77 78 79

Putnam 2001, 21. Putnam 2001, 367–368. Putnam 2001, 312. Vgl. z. B. die Aufnahme von Putnams Argumenten in Howard 2002, 164–165 oder in Adloff und Schneider 2002, 13–14.

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als das noch bei Habermas der Fall war, da hier die politische Betätigung einer Gruppe keine Rolle spielt.80 Allerdings erhält Putnam gerade in diesem Punkt ernstzunehmenden Widerspruch. So argumentiert Alexander81 schlüssig gegen die Vorstellung, dass es für eine Gruppe schon reicht, sich zu treffen und auszutauschen, um als zivilgesellschaftliche Akteurin zu gelten: „To include every possible kind of nonstate grouping under the umbrella of voluntary association – to say, in effect, that every such nonstate grouping teaches the art of civil association – is to say little about the variable relation between association and expansive solidarity. Cooking societies, shooting associations, dog training clubs, stargazing groups, and hunting clubs permeate democratic and nondemocratic nations alike. So do organizations like the Boy Scouts, which not only have nothing intrinsically democratic about them but, rather, teach values and model social relationships that, it might be argued, are anticivil in some vital ways. Though revolutionary secret societies, such as […] the American militia of the 1990s, are much more political in their activities, they do not seek to achieve power by entering communicatively into the civil sphere; they wish, instead, to use force to overthrow it. In other words, it is not the mere fact of associating that defines a grouping as civil, but what is associated with it, and whether these other factors orient an association to engage with the broader solidarity groupings that exists outside itself.“82

Alexander macht damit, wie bereits gesehen, die Frage nach der Solidarität zum entscheidenden Kriterium, ob eine Gruppe als zivilgesellschaftliche Akteurin angesehen werden kann oder eben nicht. Sowohl das von Habermas angeführte Kriterium der öffentlichen Debatte über politische Entscheidungen als auch das von Putnam vorgeschlagene Kriterium der Erzeugung von Sozialkapital haben das Problem, dass beides auch gegen die Zivilgesellschaft gerichtet sein kann. So können Gruppen in der Öffentlichkeit bspw. für totalitäre und antidemokratische Ziele eintreten und sich die dafür nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten durch bonding und bridging aneignen. Erst der solidarische Einsatz für das Gemeinwohl gibt sowohl politischem Engagement als auch Sozialkapital eine Richtung, die Individuen und Gruppen in eine demokratische Zivilgesellschaft führen. So schreiben auch Welzel, Ingelhart und Deutsch in ihrer empirischen Studie zum zivilen Gehalt von Sozialkapital: „It is the values to which an activity is tied, not the activity as such, that makes a society civic.“83

80 Habermas zählt nur solche Akteure zur Zivilgesellschaft, die politische Themen öffentlichkeitswirksam formulieren. Putnam konzentriert sich dagegen auch auf unpolitische Gruppen. Vgl. Habermas 1997, 461 und Putnam 1995, 68. 81 Hier nur stellvertretend für weitere zahlreiche Wissenschaftler, die in die gleiche Kerbe schlagen. Vgl. Welzel et al. 2005, 122–125. 82 Alexander 2006, 98. 83 Welzel et al. 2005, 140.

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Es ist darüber hinaus nicht sinnvoll, Gruppen aus der Zivilgesellschaft herauszudefinieren, weil sie nicht alle hier diskutierten Bedingungen erfüllen.84 Ist eine Gruppe nicht politisch, sondern sozial engagiert, kann man sie sicherlich auch zur Zivilgesellschaft zählen, jedoch mit dem Hinweis, dass hier eine bedeutende Funktion der Zivilgesellschaft nicht wahrgenommen wird.85 Diese Art der Kritik ist gut begründet, spricht einer Gruppe aber nicht gleich die gesellschaftsförderliche Existenz innerhalb der Zivilgesellschaft ab. So geht bspw. auch die Zivilgesellschaftsforscherin Neera Chandhoke vor, wenn sie den dritten Sektor in Indien beschreibt.86 NGOs kontrollieren dort z. B. den Staat und sorgen dafür, dass Essen in Grundschulen verteilt wird oder dass Behörden transparent arbeiten. Allerdings wendet sie ein: „In the process participation and popular sovereignty might fall by the wayside.“87 Die Zivilgesellschaft in Indien bzw. in anderen Schwellenländern, so ihre Kritik, ist eher eine politische Spielwiese von (globalen) Eliten, die es jedoch nicht schaffen, die Anliegen großer Teile der Gesellschaft aufzunehmen: „The irony is that even though most countries of the developing world are primarily rural, it is the urban middle-class agenda that is best secured by the invocation of civil society. The agenda of oppressed and marginal peasants, or of the tribals who are struggling for freedom, remain unrepresented either in the theory or in the practice of civil society. Therefore, in order to find a voice, marginal groups may well have to storm the ramparts of civil society, to break down the gates, and make a forcible entry into the sphere.“88

Obwohl die von ihr kritisierten NGOs effektiv arbeiten und wohltätige politische Anliegen forcieren, kann Chandhoke zu Recht bemängeln, dass es ihnen nicht gelingt, (brückenbildendes) Sozialkapital und damit auch Teilhabe am politischen Prozess für marginalisierte Gruppen zu etablieren. Diese Art der Kritik erfolgt anhand eines ausgewogenen handlungslogischen Verständnisses von Zivilgesellschaft. Die Handlungslogik der Zivilgesellschaft kann man demnach nicht eindimensional erfassen. Denn Zivilgesellschaft folgt 84 Das gilt auch für die Frage nach Gewalt. In einem friedlichen und demokratischen Umfeld kann Gewalt für die Zivilgesellschaft keine gangbare Option sein. Anders sieht das allerdings aus, wenn eine Zivilgesellschaft gegen totalitäre Tendenzen einer Diktatur mobilmacht. Vgl. dazu Chandhoke 2015, 10: „We have to recognize that justice and democracy may not be conceptual siblings and that sometimes violence has to be used to seize justice from states.“ Vgl. auch die Ausführungen zur Gewalt bei Gosewinkel und die Überlegungen zum zivilen Ungehorsam bei Klein. Gosewinkel 2003, 18–19.; Klein 2001, 150. 85 Anders gehen Lauth und Merkel vor, die zwischen zivilgesellschaftlichen und sozialen Akteuren unterscheiden. Erstere sind immer auch politisch interessiert, wogegen letztere unpolitisch sind. Vgl. Lauth und Merkel 1997. 86 Chandhoke 2013. 87 Chandhoke 2013, 175. 88 Chandhoke 2007, 613.

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mehreren unterschiedlichen und einander ergänzenden Handlungslogiken. Fehlt einem Akteur die politische Ausrichtung, kann es sein, dass ein gesellschaftlicher Eskapismus zivilgesellschaftlich unterstützt wird. Ungerechte Dynamiken können dann durch die Zivilgesellschaft fortgeschrieben werden. Mangelt es einer Akteurin dagegen an sozialen Teilhabeoptionen, kann es sein, dass Zivilgesellschaft die Abkopplung von Eliten und prekären Schichten vorantreibt oder die Fragmentierung der Gesellschaft in unverbundene und gegeneinanderstehende Milieus befördert.89 Wenn ein Akteur der Zivilgesellschaft sowohl Sozialkapital als auch politisches Engagement fördert, dieses allerdings nicht am Gemeinwohl sondern an exklusiven Partikularinteressen orientiert ist, die der Allgemeinheit sogar schaden könnten, dann nähert sich so ein Akteur der s.g. dark side der Zivilgesellschaft. Die Identitäre Bewegung propagiert im deutschsprachigen Europa bspw. öffentlichkeitswirksam Anliegen und engagiert Mitglieder, die sozial gestärkt werden. Daher handelt es sich um zivilgesellschaftliche Dynamiken. Zugleich sind die Interessen der Identitären Bewegung jedoch wenigstens für muslimische Teile der Gesellschaft hoch problematisch. Denn die rechtspopulistische Bewegung produziert Feindbilder, schürt Ängste und versucht, den Zugang von Muslimen zur Öffentlichkeit einzuschränken, indem sie sich z. B. gegen den Bau von Moscheen einsetzt. Solche Akteure werden dann dem von Alexander so hochgeschätzten Ideal der Solidarität nicht gerecht und sind trotzdem ein lebendiger wie unangenehmer Teil der Zivilgesellschaft. An diesem Beispiel wird greifbar, was bereits in der raumlogischen Untersuchung deutlich wurde: Zivilgesellschaft ist ein Aushandlungsprozess. Hier erzeugen Akteure aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und mit ebenso unterschiedlichen handlungslogischen Profilen kollektiven Zusammenhalt oder eben eine zunehmende Fragmentierung der Gesellschaft. Dabei konkurrieren und kooperieren sie in unterschiedlichem Maß, um in der zivilgesellschaftlichen Arena Resonanz und Einfluss zu gewinnen.

3.3

Fazit: Wird die Zivilgesellschaft immer liquider?

Das bisher entwickelte Konzept zur Zivilgesellschaft soll abschließend zu seinem Verhältnis zur soliden bzw. liquiden Moderne befragt werden. So kommt das bisher Besprochene noch einmal pointiert und unter einer bisher nur angeklungenen gesellschaftstheoretischen Perspektive zur Geltung. Für den Zivilgesellschaftsbegriff ist die Verortung in Zygmunt Baumans und Ulrich Becks 89 Vgl. dazu auch Lauth und Merkel 1997, 20.

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Fragehorizont bisher eher eine Seltenheit.90 Das liegt zum einen daran, dass die Konzepte zur Zivilgesellschaft wenigstens implizit in den gut geordneten Gesellschaftstheorien von Jürgen Habermas und Niklas Luhmann verwurzelt sind. Greifbar wird das besonders auf raumlogischer Ebene, wo die Abgrenzung der Zivilgesellschaft von Staat, Ökonomie und Privatsphäre eng an Luhmanns funktionaler Differenzierung angelehnt ist. Nach Luhmanns Gesellschaftstheorie, die gesellschaftliche Teilbereiche organisationslogisch voneinander abgrenzt, wirkt auch die Betrachtung der Zivilgesellschaft als systemtheoretisch auf sich selbst gestellte Größe nachvollziehbar.91 Dass so eine Abgrenzung der Zivilgesellschaft zwar als konzeptionelle Elementarisierung berechtigt ist, sich bei genauerem Hinsehen allerdings nicht konsequent durchhalten lässt, hat die raumlogische Besprechung gezeigt. Es gibt die eine Zivilgesellschaft nicht, die sich anhand eines funktional differenzierten und eindeutigen sprachlichen Codes von anderen Bereichen klar abgrenzen lässt. Solche Abgrenzungen finden dann auch in den Gesellschaftstheorien von Bauman und Beck nicht statt. Diese Soziologen verwerfen fein säuberlich ordnende Gesellschaftstheorien als ein Containerdenken, das der liquiden Moderne nicht angemessen ist.92 Es gibt noch einen weiteren Grund, warum die Gesellschaftstheorien von Bauman und Beck so wenig Widerhall in zivilgesellschaftlichen Diskursen finden. Denn die Bewegungen hin zu Individualisierung und Risikogesellschaft bzw. hin zur liquiden Moderne widerstreben den Dynamiken der Zivilgesellschaft. Das gilt zumindest für die Richtung, in die sich die beiden Konzepte bewegen. Während die Untersuchungen der Zivilgesellschaft davon ausgehen, dass wir unser Leben durch Solidarität (ganz gleich ob im alltäglichen Sinn oder nach Jeffrey Alexanders Verständnis, das sich um Gleichberechtigung bemüht) und Mitmenschlichkeit prägen und dadurch die Demokratie stärken, gehen Bauman und Beck davon aus, dass Solidarität abnimmt oder wenigstens stark gefährdet ist. Unser Leben wird weniger durch Mitmenschlichkeit selbstbe90 Zwar bespricht Ulrich Beck bspw. die Rolle supranationaler Zivilgesellschaften im Zuge der Globalisierung, allerdings werden Beck und Bauman umgekehrt selten als Gesprächspartner im Diskurs zur Zivilgesellschaft herangezogen. Vgl. zur globalen Zivilgesellschaft Beck 2011, 115–149. 91 So greift auch Habermas an dieser Stelle auf Luhmann zurück. Er kritisiert zwar an Luhmanns Systemtheorie, dass die einzelnen gesellschaftlichen Teilbereiche die Fähigkeit eingebüßt haben, „direkt miteinander zu kommunizieren, so daß sie einander nur noch ‚beobachten‘ können.“ Allerdings erklärt er kurzerhand die „Lebenswelt“, also den Alltag, zur verbindenden Ebene, die alle Funktionssysteme miteinander teilen, so dass sie dennoch in reger Beziehung zueinander stehen können. Mit dieser Einschränkung findet dann auch Luhmanns Systemtheorie Eingang in den Zivilgesellschaftsbegriff bei Habermas. Zivilgesellschaft lässt sich damit als ein gesellschaftlicher Teilbereich verstehen, der sich durch eigene sprachliche Codes von anderen Bereichen abgrenzen lässt. Das Zitat findet sich in Habermas 1997, 407. Vgl. zur Aufnahme Luhmanns bei Habermas Habermas 1997, 427–429. 92 Vgl. zur Kritik an Luhmanns Systemtheorie Beck 2011, 179–181.

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stimmt, sondern ist stark durch kaum einsehbare ökonomische Kräfte und eine nebulöse Angst vor Statusverlusten geprägt. Daraus entsteht auf individueller Ebene das kollektiv greifbare Gefühl, auf sich allein gestellt zu sein. Da ist die Vermutung nur naheliegend, dass so ein Gefühl den demokratischen Strukturen die Lebenskräfte entzieht.93 Nun stehen die beiden Konzepte der Zivilgesellschaft und der liquiden Moderne nicht nur auf unterschiedlichen soziologischen Sockeln. Sie werden zudem auch von entgegengesetzten Grundtendenzen bewegt. Man könnte auch von einem geordneten und optimistischen gegenüber einem ungeordneten und pessimistischen Blick auf unsere Gesellschaft sprechen. Das alles macht den Versuch, Zivilgesellschaft durch Becks und Baumans Brille wahrzunehmen, zwar paradox aber keineswegs unfruchtbar.

Zivilgesellschaftliche Raumlogik in der liquiden Moderne Die Raumlogik der Zivilgesellschaft geht davon aus, dass man die Zivilgesellschaft als deliberative Arena von Staat, Ökonomie und Privatsphäre abgrenzen kann. Diese Ortsbestimmung erfolgt allerdings nicht trennscharf, denn staatliche, ökonomische und private Akteure tragen ihre Auseinandersetzungen immer wieder auf zivilgesellschaftlichem Boden aus. Das verlagert die Grenzen einer konzeptionell sauber getrennten Zivilgesellschaft. So kann es sein, dass Akteure der Zivilgesellschaft wenigstens teilweise auch durch staatliche, ökonomische oder private Interessen geleitet werden. In unserer liquider werdenden Moderne wird die zivilgesellschaftliche Arena durch wirkmächtige Dynamiken herausgefordert. So stellt allem voran die Globalisierung eine Bearbeitung solcher zivilgesellschaftlicher Diskurse infrage, die sich auf einen nationalstaatlichen Rahmen begrenzen. Beck bearbeitet dieses Problem unter dem Begriff der Weltgesellschaft: „Zum einen meint „Weltgesellschaft“ die Gesamtheit sozialer Beziehungen und Machtverhältnisse, die nicht nationalstaatlich-politisch organisiert, bestimmt (bestimmbar) sind. Dazu gehören transnationale Konzerne (die inzwischen über 50 Prozent der Wertschöpfung in der ganzen Welt kontrollieren und sich damit der nationalstaatlichen Kontrolle entziehen), aber auch Akteure wie Greenpeace, Amnesty International, die Weltbank, Millionen Nichtregierungsorganisationen oder auch z. B. der ‚uralt global player‘ katholische Kirche.“94

93 Vgl. zur Angst, die unsere westlichen Gesellschaften prägend und kontraproduktiv durchzieht Bauman 2005b. 94 Beck 1997, 7.

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Für Beck ist diese Weltgesellschaft auch eine Weltrisikogesellschaft, in der Negatives gerne von reichen in arme Regionen ausgelagert wird. Die Risiken der deutschen Waffenindustrie werden bspw. nicht in Deutschland ausgehandelt, sondern auf die Länder verteilt, in die die deutschen Waffen exportiert werden. Während so zwar die Sicherheit auf dem deutschen Arbeitsmarkt steigt, wächst zugleich in anderen Ländern die Gefahr gewaltsamer Konflikte.95 Die Zivilgesellschaft ist von solchen Auslagerungen betroffen, wenn ihre Akteure auf Demos und in Petitionen auf solche Dynamiken hinweisen. Außerdem geht ein Großteil privater Geldspenden aus Deutschland an weltweite Krisenregionen, sodass man schon jetzt von einer Weltzivilgesellschaft sprechen könnte.96 Sobald zudem die Herausforderungen gewaltsamer Konflikte durch Migrantinnen und Flüchtlinge nach Europa (re)importiert werden und Psychologen-Netzwerke, Suppenküchen oder das Technische Hilfswerk zum zivilgesellschaftlichen Engagement bewegen,97 wird klar, dass nationalstaatliche Grenzen zivilgesellschaftliche Herausforderungen nicht limitieren können. Lokale Probleme nehmen in der globalisierten Welt oft genug auch ein globales Ausmaß an. Es gibt dennoch Versuche, die globalisierte Welt aus lokalen oder nationalen zivilgesellschaftlichen Arenen zurückzudrängen. Dahinter kann die Sehnsucht nach einer solide geordneten Moderne stehen. Das geschieht heutzutage, wenn sich Zivilgesellschaft auf ihren staatlich zugewiesenen Raum zurückzieht. Im scheinbar sicheren Schatten von Grenzzäunen wird besprochen, wie ein gutes gesellschaftliches Leben Gestalt annehmen kann. Man kann dann bspw. von einer deutschen oder einer US-amerikanischen Zivilgesellschaft sprechen und so tun, als würden einen die Belange in Mexiko oder der Türkei nichts angehen. Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim beschreiben solche Tendenzen als rückwärtsgewandtes Wiedererstarken des Nationalismus: „As is shown by the rebirth of nationalism, of ethnic differences and conflicts in Europe, there is a strong temptation to react to these challenges with the classical instruments of encapsulation against ‚aliens‘: which means turning back the wheels of social modernization. […] Old certainties, just now grown fragile, are again proclaimed – from everyday life to politics, from the family to the economy and the concept of progress. The highly individualized, find-out-for-yourself society is to be replaced by an inwardly heterogeneous society outwardly consolidated into a fortress – and the demarcation against ‚foreigners‘ fits in with this calculation.“98

95 So auch Bauman: „The company is free to move; but the consequences of the move are bound to stay. Whoever is free to run away from the locality, is free to run away from the consequences. These are the most important spoils of victorious space war.“ Bauman 2009, 8–9. 96 Vgl. Gensicke 2014, 258. 97 Vgl. Priemer et al. 2017, 34–45. 98 Beck und Beck-Gernsheim 2002b, 17.

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Diese Beobachtung ist natürlich nicht auf die Zivilgesellschaft zugespitzt, sondern auf die gesamte Gesellschaft bezogen. Wo allerdings Akteurinnen wie die Identitäre Bewegung oder Pegida öffentlich für ein nationalstaatlicher strukturiertes Europa eintreten, hat die Rückbesinnung auf die solide Moderne auch die Zivilgesellschaft erreicht. Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie beschreibt das zivilgesellschaftliche Engagement der Identitären Bewegung folgendermaßen: „In Sommerschulen, Versammlungscafés und Trainingscamps wollen sie das historische Wissen über die europäische Geschichte vertiefen und damit eine emotionale Identifikation mit der abendländischen Kultur schaffen. […] Am Ende ist das identitäre Programm aber doch völkisch-rassistisch: Egal wie lange sich Muslime in Europa aufhalten (was in Frankreich zum Teil seit fünf oder sechs Generationen der Fall ist) – die Muslime gehören aus identitärer Sicht nicht dorthin. Sie können als Gäste arbeiten oder studieren, sollen dann aber wieder in ihre Heimat zurückkehren. […] Identitäre [setzen] ganz klar auf Massenausweisung und -abschiebung. In Dokumenten der Identitären ist von der durch Muslime und Einwanderer bedrohten ‚ethnokulturellen Identität‘ der Deutschen die Rede: […] ‚Wir wollen als indigene Jugend Europas einen gemeinsamen Weg gehen und unser gemeinsames Erbe verteidigen‘“99

Eine so argumentierende zivilgesellschaftliche Gruppe orientiert sich an solidemodernen Werten, weil sie sich ausschließlich an ein bestimmtes Kollektiv wendet. Die Identitäre Bewegung ist dabei ein ausgesprochen radikales und bedenkenswertes Beispiel. Dabei sind längst nicht alle zivilgesellschaftlichen Akteure rechtspolitisch, die sich für die jeweils eigene gesellschaftliche Gruppe einsetzen und damit gewissermaßen solide-moderne Eigenschaften aufweisen. Auch Gesangsvereine, freiwillige Feuerwehren oder türkischsprachige Fußballvereine in Deutschland sind oft genug von und für eine bestimmte kulturelle Gruppe eingerichtet.100 Die quantitativ-empirische Studie Zivilgesellschaft in Zahlen macht – durchaus mit normativem und dagegen gewandtem Impetus – deutlich, dass die meisten der zivilgesellschaftlich aktiven Vereine über so ein solide-modernes Profil verfügen: „Wenn Vereine vor Ort einen Teil der Infrastrukturen für gemeinschaftliches Leben in Kommunen stellen, dann sollte sich in ihnen auch die entsprechende kulturelle und soziostrukturelle Pluralität der jeweiligen Kommunen abbilden. Es kann daher nur ein Anfang sein, dass geflüchtete Menschen und Menschen mit anderen kulturellen Wurzeln zwar Zielgruppe des Handelns gemeinnütziger Organisationen sind, sie jedoch vergleichsweise selten als Mitglieder oder Engagierte in Vereinen eingebunden sind.

99 Leggewie 2016, 392. 100 So auch der Zivilgesellschaftsforscher Thomas Klie: „Emerging solidarity often operates from a particular social origin back into the same milieu.“ Klie 2010, 325.

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Denn bislang nehmen sich die meisten Organisationen als kulturell homogene Gruppen wahr.“101

Dass eine zivilgesellschaftlich aktive Organisation wie in der Studie ausgeführt wirklich dem Pluralismus der liquiden Moderne in ihren Mitgliederstrukturen entsprechen sollte oder dass die Fokussierung auf eine bestimmte kulturelle Gruppe wie bei Beck und Beck-Gernsheim immerzu negativ als Rückzugsort vor der liquiden und unübersichtlichen Moderne gedeutet werden muss, ist eine Überspitzung. Schließlich können homogene Gemeinschaften in liquiden Zeiten auch positiver formuliert Struktur und Sicherheit geben.102 Aber solche Überspitzungen machen deutlich, dass auch die Zivilgesellschaft von soliden und liquiden Tendenzen eingeholt wird. Das gilt nicht nur für nationalstaatliche und national-kulturelle Muster im Rahmen von Migration und Globalisierung. Auch die zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Ökonomie ist von den Themen der liquider werdenden Moderne betroffen. Das klang bereits bei dem Beck’schen Begriff der Weltrisikogesellschaft an. Nicht nur der Versuch mancher Konzerne, lokale Risiken in weit entfernte Regionen auszulagern, ist ein unangenehmer und zivilgesellschaftlich relevanter Teil der liquiden Moderne. Eine weitere Facette von liquide-moderner Zivilgesellschaft im Gegenüber und Miteinander der Ökonomie ist eine grundsätzliche Pauschalkritik an den Wirtschaftseliten103 durch Bauman, Beck und andere. Sie sehen im Zuge der globalen Mobilität und der allgemeinen Individualisierung eine gerne genutzte Möglichkeit der Reichen und Mächtigen zur Verantwortungslosigkeit.104 Weil die mobilen Eliten der Globalisierung an den schönen und sicheren Orten dieser Welt leben können, sind sie von den lokalen Kämpfen und Herausforderungen unabhängig.105 Mussten sich die Fabrikbesitzer der soliden Moderne noch um des lieben Friedens willen im eigenen Land um das Wohl der Arbeiter kümmern, sind die Wirtschaftseliten von solchen Ortsabhängigkeiten mittlerweile entlastet. Die Motivation zu zivilgesellschaftlichem Engagement sollte nach dieser These mit größerem Reichtum

101 Priemer et al. 2017, 47. 102 Vgl. Putnam 2001, 390–395. 103 Der Begriff der Wirtschaftselite liest sich in der kapitalismuskritischen Terminologie von Bauman und Beck ausgesprochen negativ. Ein empirisch differenzierteres Bild bietet Lauterbach 2014. 104 Damit bedienen sie übrigens ein – ob berechtigt oder nicht – Klischee, das sich in der öffentlichen Meinung häufig findet. Vgl. dazu Gensicke 2014, 250–252. 105 Vgl. Bauman 2000, 13 oder auch folgendes Zitat von Beck: „Manager von multinationalen Konzernen lagern Verwaltungen nach Südindien aus, aber schicken ihre Kinder auf öffentlich finanzierte, europäische Spitzenuniversitäten. […] Für sich selbst nehmen sie selbstverständlich die teuren politischen, sozialen und zivilen Grundrechte in Anspruch, deren öffentliche Finanzierung sie torpedieren.“ Beck 2011, 21–22.

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und der damit einhergehenden größeren Mobilität sinken.106 Der Soziologe Thomas Gensicke hat dazu den Freiwilligensurvey ausgewertet und kommt erst einmal zu einem Ergebnis, das Bauman und Beck widerspricht. Wer mehr Geld besitzt, so die knapp zusammengefasste Beobachtung, ist auch häufiger Mitglied in zivilgesellschaftlichen Organisationen: „Mit dem finanziellen Status nimmt auch die Anzahl der Mitgliedschaften [sc. In wohltätigen Vereinen] zu, bei den ‚Armen‘ sind es 1,9 Mitgliedschaften, bei den ‚Reichen‘ 2,4. […] Die finanziell am besten und die am schlechtesten gestellte Gruppe haben sich somit auch im zivilgesellschaftlichen Verhalten auseinander entwickelt. Waren 2009 45 % der ‚Armen‘ nicht (mehr) in die Organisationen der Zivilgesellschaft eingebunden, auch nicht als unverbindliche Teilnehmer, so sind die ‚Reichen‘ dort inzwischen zu 80 % präsent. Das ist ein weiterer Indikator für die zunehmende soziale Isolierung der ‚Armen‘.“107

Auf den ersten Blick entkräftet diese Feststellung den Vorwurf an die Wirtschaftseliten, zur Verantwortungslosigkeit zu neigen. Allerdings unterscheidet Gensicke zwischen von der Mittelschicht finanziell und sozial entkoppelten Superreichen einerseits und Wohlhabenden, die in ihrem Gemeinwesen verwurzelt sind, andererseits: „Während die Superreichen, angefeuert von den niedrigen Zinsen riesige Kapitalmengen von einer Weltgegend zur anderen verschieben, haben viele ‚normale‘ Wohlhabende ihre Verantwortung für das Gemeinwesen und die Welt im Blick.“108

Aber diese Pauschalkritik greift zu kurz, denn auch unter den Superreichen gibt es zahlreiche Vertreterinnen, die sich für das Gemeinwohl einsetzen. Indem sie große Mengen ihres Geldes in Stiftungen investieren, nehmen sie an der Zivilgesellschaft teil. Dabei ist es ausgesprochen wünschenswert, dass sich die auch von Bauman plakativ als Touristinnen und Jäger kritisierten109 Wirtschaftseliten nicht nur in tatsächliche wie sinnbildliche gated communities zurückziehen, sondern sich auch zum Wohl ihrer Mitmenschen einsetzen. So geben bspw. Bill und Melinda Gates beachtliche Summen in ihre Stiftung. Diese ist mittlerweile wiederum zur potentesten Geldgeberin der World Health Organization aufgestiegen und finanziert damit, aber auch durch eigene Anstrengungen und insbesondere in armen Ländern, die erfolgreiche Bekämpfung von Krankheiten.110 Ohne diese zweifellos gemeinnützigen Geldgeber wären viele zivilgesellschaftli106 Dieser Eindruck wird bei Bauman und Beck an keiner Stelle empirisch erhärtet. Die Studie „Sticking together or falling apart?“ wiederlegt Bauman und Beck zwar nicht, weist aber darauf hin, dass die finanzielle Solidarität auf gesamtgesellschaftlichem Level insbesondere durch die Anstrengungen des Sozialstaats zunimmt. Vgl. Beer und Koster 2009, 39. 107 Gensicke 2014, 262–263. 108 Gensicke 2014, 266. 109 Vgl. Bauman 2009, 97 und Bauman 2005a, 18. 110 Vgl. Harman 2016, 356.

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che Projekte nicht möglich. Allerdings gibt es auch Kritik an solchen Stiftungen. Sie gelten manchen als Versuch von Wirtschaftseliten, staatlichen Kontrollen zu entgehen.111 Denn solche Stiftungen verfügen über derart viel Macht, Finanzen und damit gleichbedeutend auch über Gestaltungsspielraum, dass es von außen kaum Kontroll- oder Einflussmöglichkeiten auf sie gibt. Solche Stiftungen können z. B. über die Finanzierung bestimmter journalistischer oder akademischer Projekte gleichermaßen Einfluss auf Staaten und Akteure der Zivilgesellschaft geltend machen. So haben die größten und reichsten Stiftungen nicht nur in der Arena zivilgesellschaftlicher Deliberation eine Stimme, sie prägen viel grundlegender die thematische Architektur der öffentlichen Meinungsbildung.112 Das allein ist demokratietheoretisch vielleicht bedenklich, aber noch nicht unbedingt verwerflich. Problematisch ist es jedoch, wenn Stiftungen mit Konzernen personell verbunden sind, sodass die Stiftungsagenda auch durch ökonomische Interessen geleitet wird. Dahingehend fällt auch das kapitalismuskritische Urteil der Wirtschaftssoziologin Kerstin Plank über solche finanzstarken Stiftungen aus: „The catch is that these billions have to be acquired before they can be spent. Most of the world’s richest philanthropists owe their wealth to the relentless pursuit of profit. Philanthropists tend to be individuals who financially thrive on inequality. Philanthrocapitalism can be seen as an investment to secure a stable business environment and maintain power. The big names in the field of philanthropy do some good as long as it is on their own terms. ‚They are here to save the world – as long as the world yields to their interests.‘“113

Diese Skepsis gegenüber vermögenden Stiftungen ist im Einzelfall womöglich angemessen. Es wäre allerdings vermessen und unangebracht, daraus eine allgemeine Ablehnung gegenüber zivilgesellschaftlichem Engagement durch ökonomische Eliten abzuleiten. Aus ökonomischer Sicht wird die Zivilgesellschaft von Tendenzen der liquiden Moderne herausgefordert, aber eben auch bereichert. Die Zivilgesellschaft ist dabei aber nicht grundsätzlich gefährdet. Viel bedrohlicher muss auf das Konzept der Zivilgesellschaft das häufige Fehlen von Menschen aus prekären Verhältnissen wirken. 111 Vgl. Plank 2017. 112 Diese Kritik findet sich sehr pointiert am Beispiel der Bertelsmann-Stiftung bei Rudolph Bauer: „Zum einen scheint die Stiftung ein leichtes Spiel zu haben, um für ihre Vorstellungen den Beifall beispielsweise jener Politiker zu gewinnen, die im Gegenzug dafür ihre in den öffentlichen Arenen notwendige Medienpräsenz erwarten. Zum anderen können in den Medien diejenigen Positionen, die von denen der Stiftung (und des Stifters) abweichen oder kontrovers zu ihnen sind, totgeschwiegen, ignoriert oder negativ etikettiert werden. Drittens ist zu befürchten, dass Autoren, Journalisten und Redaktionsverantwortliche dazu neigen, entsprechende investigative Recherchen zu unterlassen oder deren Ergebnisse in vorauseilendem Gehorsam nicht zu veröffentlichen.“ Bauer 2009, 285. 113 Plank 2017, 208.

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Die raumlogische Verhältnisbestimmung von Zivilgesellschaft und Privatsphäre hat bereits offengelegt, dass sich gemeinnütziges Engagement bei Personen aus prekären Verhältnissen erstens oft im relativ überschaubaren Nahraum der eigenen Nachbarschaft bzw. Familie abspielt. Zweitens werden hier nur selten öffentlich-politische Themen adressiert. So beobachtet die qualitativempirische Studie „Protesting without the Underclass“: „In all this, the members of the underclass that we (and others) found in the deprived neighbourhoods did not show less commitment towards their community or less concern for their own well-being or that of their peers and their neighbourhood than the activists we found in the protest movements. This mostly shows itself in the direct help these people give their peers and their neighbourhood. Their form of engaging in communal and social activities was less visible and a lot less political, but nevertheless showed the same concern for the future and in a lot of cases the same level of commitment.“114

Das Maß an Engagement ist in gesellschaftlichen Kreisen mit prekärem Hintergrund also keineswegs gering, es findet jedoch außerhalb bzw. in den Kellerräumen der zivilgesellschaftlichen Arena statt, sofern man diese als Ort öffentlicher (!) Deliberation versteht. Ob man Zivilgesellschaft nun mit oder ohne Privatsphäre betrachtet, macht zwar je nachdem für die Thematik sensibel. Dadurch wird aber das Problem nicht gelöst, denn das zivilgesellschaftliche Engagement innerhalb prekärer und zugleich privater Verhältnisse bleibt der gesellschaftlichen Öffentlichkeit auch weiterhin unzugänglich. Das ist vor allem deshalb problematisch, weil die Herausforderungen von Problemvierteln so vor der Allgemeinheit unartikuliert bleiben und sich aus ihnen heraus keine wirksame zivilgesellschaftliche Lobby bildet. So bleibt dann auch das – mit Habermas gesprochen – politische Zentrum für die Anliegen dieser zivilgesellschaftlichen Peripherie taub. Das bestätigt die Zeitkritik von Bauman und Beck, die der liquiden Moderne vorwerfen, nicht nur selbstoptimierende Gewinnerinnen, sondern auch Verlierer hervorzubringen: „Individualization consists of transforming human ‚identity‘ from a ‚given‘ into a ‚task‘ and charging the actors with the responsibility for performing that task and for the consequences (also the side-effects) of their performance.“115 Denjenigen, die an dieser Aufgabe scheitern, weil sie z. B. krank, behindert oder arbeitslos sind, schlägt dann ein kalter Wind entgegen: „And yet, if they fall ill, it is assumed that this has happened because they were not resolute and industrious enough in following their health regime; if they stay unemployed, it is because they failed to learn the skills of gaining an interview, or because

114 Hoeft et al. 2014, 403. 115 Bauman 2000, 32.

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they did not try hard enough to find a job or because they are, purely and simply, workshy;“116

Der Geist ständiger Selbstoptimierung brandmarkt diejenigen, die ihr eigenes Leben eben nicht (mehr) durch neue Konsummöglichkeiten, Wellnesskurse etc. gestalten können. Das ist umso dramatischer, weil einem in der liquiden Moderne fortwährend suggeriert wird, Herr über das eigene Leben sein zu können. Dass zwischen Ideal und Wirklichkeit jedoch eine große Lücke klafft, macht Beck deutlich: „Der globale Kapitalismus kommt mit immer weniger menschlicher Arbeitskraft aus, um immer neue Felder der Gewinnproduktion zu erschließen. Damit verlieren menschliche Arbeitskraft und die sie vertretenden Organisationen – Arbeiterparteien und Gewerkschaften – überall an Verhandlungsmacht und gesellschaftlichem Einfluss. Zugleich wächst die Zahl derjenigen, die vom Arbeitsmarkt und den Chancen auf materielle und soziale Sicherheit und Integration, die hier verteilt und verhandelt werden, ausgeschlossen werden. Mit der Folge: Nicht nur nehmen die Ungleichheiten zu, sondern auch die Qualität sozialer Ungleichheiten verändert sich dramatisch, indem immer größere Kreise der Bevölkerung als prinzipiell ‚ökonomisch inaktiv‘ ausgeschlossen werden.“117

Beck macht es sich an dieser Stelle sicherlich etwas zu einfach, global handelnde Großkonzerne hauptursächlich für die ökonomische und soziale Misere von Menschen aus prekären Verhältnissen verantwortlich zu machen. Schließlich spielen auch andere Einflüsse auf die gesellschaftliche Großwetterlage eine wichtige Rolle, wie z. B. die Bildungspolitik. So ordnet Johanna Klatt in ihrer qualitativ-empirischen Studie „Entbehrliche der Zivilgesellschaft?“ die Chancen durch Bildung für Erwachsene aus prekären Verhältnissen pessimistisch ein: „Auf die Formel „Chance durch Bildung“ reagierten sie [sc. Interviewpartnerinnen aus Problemvierteln] gar wütend. Jeder oder jede von ihnen, der/die über 16 Jahre alt war, erfasste ganz realistisch, dass die Chancen-Bildungs-Gesellschaft für ihn oder sie bedeutete, in den nächsten Jahrzehnten ohne Aussichten, ohne Ansehen, erst recht ohne Möglichkeiten des Weiterkommens zu bleiben. Denn Bildung war schließlich der Selektionshebel, der sie in die Chancenlosigkeit hineinsortiert hatte. Bildung bedeutete für sie infolgedessen das Erlebnis des Scheiterns, des Nicht-Mithalten-Ko¨ nnens, der Fremdbestimmung durch andere, die mehr gelesen hatten, besser reden konnten, gebildeter aufzutreten vermochten.“118

So bleibt es bei der Beobachtung, dass die kollektive Tendenz zur Selbstoptimierung bei gleichzeitiger Ohnmacht gegenüber gesellschaftlichen Großtrends verheerend insbesondere auf Personen aus prekären Verhältnissen wirkt. Dass 116 Bauman 2000, 34. 117 Beck 2011, 166. 118 Klatt 2014, 23.

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solche Personen nun nicht nur in der liquiden Moderne insgesamt, sondern insbesondere auch in der Zivilgesellschaft einen schweren bzw. keinen sichtbaren Stand haben, ruft Baumans stigmatisierende wie gegenwartskritische Bezeichnung des „social waste“119 in Erinnerung. Wer in der liquide-modernen Gesellschaft keinen verwertbaren Nutzen einbringen kann, wird anscheinend auch in der Zivilgesellschaft nicht gebraucht. Diesen Eindruck bestätigt auch die bereits zitierte Studie „Protesting without the Underclass“, die u. a. die Protestbewegung gegen Stuttgart 21 ausgewertet hat: „Furthermore, the protest movements themselves have no strategic incentive to include the underclass. While having a cultural and habitual closeness to the middle and upper middle classes gives the movement allies in influential positions throughout the society, actively working on integrating the underclass costs resources and can, in extreme cases, even estrange the powerful allies, while producing low benefits because the influence of the members of the underclass on public opinion or concrete decisions is small to nil. Being powerless makes the underclass unattractive as an ally and, therefore, keeps them powerless.“120

Die Kritik trifft nicht auf die Zivilgesellschaft im Ganzen zu, sondern auf bestimmte elitäre Akteure innerhalb der deliberativen Arena. Und doch trifft sie das Konzept der Zivilgesellschaft ins Mark, denn sie zeigt grundsätzlich, dass zum öffentlichen Diskurs Bildung, Einfluss, Finanzen und Charisma benötigt werden. Und dem genügen einige Menschen scheinbar nicht ausreichend. Sie können mit dem, was sie einbringen, dann höchstens Zuschauer zivilgesellschaftlicher Auseinandersetzungen sein. Die Perspektive der liquiden Moderne trägt in die Raumlogik der Zivilgesellschaft ein Strukturmerkmal ein, das bei der Verortung der Zivilgesellschaft zwischen Staat, Markt und Familie erst einmal unsichtbar oder wenigstens im Hintergrund bleibt, nämlich die hierarchische Struktur der Zivilgesellschaft.121 Dabei greift die Kritik, die Bauman und Beck an unserer Zeit üben, durchaus auch an der Zivilgesellschaft. Bei der Bewegung heraus aus soliden Institutionen und herein in eine liquide, angeblich selbstbestimmte Freiheit verstrickt sich auch die Zivilgesellschaft in Widersprüche und Befangenheiten. Auf der Suche nach politischer Mitbestimmung und gesellschaftlicher Teilhabe erschweren dort politische, private und ökonomische Machtstrukturen die öffentliche Deliberation, die sich Habermas noch sehr viel unangefochtener vorgestellt hatte. Zivilgesellschaft, so die Erkenntnis dieser raumlogischen Vergegenwärtigung, lässt 119 Bauman 2000, 146. 120 Hoeft et al. 2014, 404. 121 Ohne auf Bauman und Beck einzugehen weist auch Tomas Zippert darauf hin, dass dem Konzept der Zivil- bzw. Bürgergesellschaft auf den ausgetretenen Pfaden der Habermas’schen bzw. Luhmann’schen Systemtheorie oft genug die Kritik an den allzu oft unbedachten Hierarchien der Raumlogik fehlt. Vgl. Zippert 2012, 95–98.

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sich nicht nur horizontal und unter Ausblendung liquid-moderner Machtstrukturen verstehen, sie muss sich auch entlang ihrer vertikalen Hierarchien begreifen. Zivilgesellschaftliche Auseinandersetzungen werden aber nicht nur durch solche Gefälle zwischen eher einflussreichen und eher einflusslosen Akteuren mitbestimmt. Sie werden zudem durch die voranschreitende Individualisierung umstrukturiert. So interessieren sich Menschen in der liquiden Moderne für immer speziellere und auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Randthemen. Dadurch findet sich die eine große deliberative Arena auch immer seltener zusammen. Stattdessen entstehen kleinere Schauplätze für individuellere politische Auseinandersetzungen.122 Der zivilgesellschaftliche Raum wird also nach individualisierten Gesichtspunkten ebenso wie hierarchischen Machtstrukturen im Rahmen der liquiden Moderne gestaltet. Im Folgenden soll nun beleuchtet werden, wie sich dieser liquide-moderne Rahmen auf der Ebene der Handlungslogik zivilgesellschaftlicher Auseinandersetzungen auswirkt.

Zivilgesellschaftliche Handlungslogik in der liquiden Moderne In der handlungslogischen Besprechung wurde deutlich, dass Zivilgesellschaft einerseits (nach Habermas) politisch aktiv ist und andererseits (nach Putnam) Sozialkapital stiftet. Beides sind potenzielle Stützen der Zivilgesellschaft. Noch bedeutsamer ist jedoch, dass sowohl das politische Engagement als auch die sozialen Fähigkeiten und Netzwerke nicht zum Schaden, sondern zum Wohl der Gesellschaft angelegt werden. Jeffrey Alexander hat mit seinem Solidaritätskonzept hierfür eine gute Richtschnur bereitgestellt. Demnach orientiert sich Zivilgesellschaft dort an Solidarität, wo Menschen gleichermaßen als würdige Gesprächspartner anerkannt werden, obwohl sie womöglich Werte haben, die im Widerspruch zueinander stehen. Das definiert solche Akteure, die andere Menschengruppen ausschließen, noch nicht aus der Zivilgesellschaft heraus. Es überführt sie aber zur unsolidarischen dark side der Zivilgesellschaft. Zygmunt Bauman diagnostiziert der politischen Agenda in westlichen Gesellschaften eine für die Zivilgesellschaft fatale Ausrichtung. Er glaubt, dass unser Zeitgeschehen stark von Angst geprägt ist. Nicht nur wegen der Terrorattentate in New York, Madrid, London, Paris oder Berlin, sondern auch, weil Themen wie die Flüchtlingskrise eindringlich diskutiert werden. Das ist problematisch, weil die Antworten auf globalen Terror oder Migration dadurch oft genug von einem Reflex gelenkt sind, der Individuen auf sich selbst zurückwirft. Man versucht 122 Vgl. Beck und Beck-Gernsheim 2002a, 22–29.

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dann nicht durch Spenden oder Engagement, Fluchtursachen oder religiösen Hass zu bekämpfen, sondern besucht Selbstverteidigungskurse. Gleichzeitig dient der Staat als Adressat dieser Angst und reagiert darauf mit mächtigen Gebärden: Die Überwachung der Bürgerinnen wird hochgefahren, Netzwerke zwischen Überwachungsbehörden wie BND und NSA werden intensiviert und nationalstaatliche Grenzen werden stärker kontrolliert.123 Bauman geht davon aus, dass diese Anstrengung mit Entlastungen auf anderen, scheinbar weniger dringlichen und vor allem sozialen Aufgaben des Staates einhergeht. Der Sozialstaat wird in der westlichen Welt tendenziell eher herunter- als hochgefahren.124 Dass nunmehr die Abwehr von Migranten und deren angebliches Gewaltpotenzial im Vordergrund stehen, gilt in diesem Szenario gleichermaßen für Staaten wie Individuen. Eine solidarische Haltung gegenüber Minderheiten steht dem zumindest potenziell im Weg. Die Folgen für die Zivilgesellschaft liegen auf der Hand: Die politische Bearbeitung der von Bauman beobachteten Angst gefährdet Alexanders civil sphere. Denn in einem Klima des Misstrauens und der Skepsis fällt es leicht, bestimmte Personenkreise als Sicherheitsrisiko zu pauschalisieren. So können z. B. nicht nur vorbestrafte Salafisten, sondern Muslime insgesamt argwöhnisch betrachtet werden. Die politische Ausrichtung der Zivilgesellschaft ist in der liquiden Moderne demnach problematisch, weil eine Verschiebung weg von sozialstaatlichen Themen hin zu Themen der (inneren und äußeren) Sicherheit beobachtbar ist. Dass mit Diskursen zur Rentenvorsorge, Lohngerechtigkeit oder der Pflege von Angehörigen in der liquiden Moderne keine großen Zuhörerschaften einhergehen, verwundert im Konzept der Individualisierung von Chancen und Risiken der Biografien dabei kaum. Schließlich entsprechen solche Debatten zur gesellschaftlichen Solidarität nicht dem von Bauman beschriebenen Zeitgeist. Bis zur Limitierung staatlicher Aufgaben auf die Sicherstellung minimaler Rahmenbedingungen für die liquide Moderne ist es dann nicht mehr weit. Ob die Zivilgesellschaft wirklich von diesen politischen Trends mitgerissen wird oder nicht eher als Bollwerk gegen solche unsolidarischen Dynamiken der liquiden Moderne angesehen werden darf, kann hier nicht abschließend beantwortet werden. Dass, so wie Bauman meint, das angstgetriebene Thema Sicherheit einer zivilgesellschaftlichen Solidarität den Rang abläuft, lässt 123 Vgl. Howell und Lind 2010 ebenso wie Bauman et al. 2014. 124 „Under such circumstances, an alternative legitimation of state authority and another formula for the benefits of dutiful citizenship needs to be urgently found; and it is currently being sought in the protection against the dangers to personal safety. The spectre of social degradation against which the social state swore to insure its citizens is being gradually yet consistently replaced by the threats of a paedophile let loose, of a serial killer, obtrusive beggar, mugger, stalker, prowler, poisoner, terrorist – or better yet by all such threats rolled into one in the figure of an illegal immigrant, against whom the security state promises to defend its subjects tooth and nail“ Bauman 2005b, 6.

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sich jedoch vorsichtig bestätigen. So sieht auch die Studie „Zivilgesellschaft in Zahlen“ hier einen Zusammenhang: „Ein immer wiederkehrendes Thema ist die öffentliche Anerkennung beziehungsweise Akzeptanz. Insbesondere religiöse Migrantenorganisationen sehen sich regelmäßig mit Ablehnung und Anfeindungen konfrontiert. Die Situation hat sich im aktuellen politischen Klima, einschließlich des Gefährdungsdiskurses, nicht zum Besseren gewendet. Generell ist davon auszugehen, dass Migrantenorganisationen nur in einer offenen Umwelt ihre integrativen Potenziale entfalten können. Denn welche Funktionen Migrantenorganisationen übernehmen, ob sie eher integrativ wirken oder die Abschottung in Parallelgesellschaften befördern, hängt davon ab, in welchem gesellschaftlichen Umfeld sie sich befinden.“125

Andererseits gibt es gerade innerhalb der Zivilgesellschaft zahlreiche Akteure, die sich für geflüchtete Menschen und Migrantinnen einsetzen und Akzeptanzlosigkeit gegenüber Minderheiten nicht hinnehmen. Möglicherweise ist die Beschäftigung mit politischen Themen in der liquiden Moderne stärker von einer Polarisierung geprägt, die sich auch in der Zivilgesellschaft bemerkbar macht. Die Suche nach Resonanz und Einfluss wird in dieser politischen Dimension der Zivilgesellschaft derzeit verstärkt. Aber nicht nur die Beschäftigung mit politischen Themen, sondern auch die Herstellung von Sozialkapital ist als wichtige Aufgabe zivilgesellschaftlicher Handlungslogik von liquide-modernen Dynamiken betroffen. Ohne dass Bauman das Konzept von brückenbildenden und bindenden Beziehungen explizit aufgenommen hätte, reflektiert er über Freundschaften in der liquiden Moderne: „Indeed, the more liquid the world, the greater is our need for firm, reliable ties of friendship and mutual trust. Friends, after all, are people on whose understanding and helping hand we can count in case we stumble and fall […]. On the other hand, that same liquid world privileges those who travel light; if the changed circumstances require us to move fast, long-term commitments are difficult to untie and may prove a cumbersome burden. There is no good choice, then. You cannot eat your cake and have it – but this is precisely what the world in which you try to compose your life presses you to do.“126

Dauerhafte und enge Bindungen, also bridging, schimmern unter Baumans Licht in einem paradoxen Glanz. Einerseits sind sie in einer schnelllebigen Zeit notwendig und zugleich behindern sie die Hochmobilen. In solchen Freundschaften steckt die Chance, das eigene Leben zu stabilisieren, aber ggf. auch zu kritisieren. Die damit einhergehende Verantwortungsübernahme für andere ist nach Baumans pessimistischem Urteil zurzeit nicht sehr en vogue. Brückenbildendes Sozialkapital, das in den vorherigen Besprechungen vor allem wegen seines mi125 Priemer et al. 2017, 44–45. 126 Bauman 2006, 7.

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lieu-verbindenden Charmes gewürdigt wurde, scheint dagegen zum sozialen Modus der flüssigen Moderne zu werden. Man muss solche Beziehungen nicht sonderlich intensiv pflegen und kann sie bei Bedarf knüpfen, vergessen oder eben reaktivieren.127 Nun ist mit dem hier vermuteten Anstieg von brückenbildendem Sozialkapital aber keineswegs gesagt, dass zivilgesellschaftliches Engagement dadurch grundsätzlich abnimmt. Zivilgesellschaftliche Projekte sind im Rahmen der liquiden Moderne vielleicht schwieriger zu realisieren, allein schon weil eine hohe Mobilität sowie eine gesteigerte Individualisierung nur schwer vorstellbar zu einem kontinuierlichen Engagement vor Ort passen wollen. Das bedeutet aber nicht, dass die Zivilgesellschaft in der liquiden Moderne verkümmert. Es scheint eher so zu sein, dass sich die soziale Form der Zivilgesellschaft zusammen mit diesem Trend wandelt, ohne dabei an Substanz zu verlieren. So werden heute wesentlich seltener als noch vor fünfzig Jahren solche Vereine gegründet, denen ein geselliges Gemeinschaftsleben ein zentrales Anliegen ist (z. B. Sport- oder Freizeitvereine). Dagegen steigt die Gründung solcher Organisationen, die sich um ein spezielles gesellschaftspolitisches Thema drehen (z. B. Vereine in Wissenschaft und Forschung) und damit eher nebenbei auch an Geselligkeit interessiert sind. Im Übrigen gibt es hier nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine geografische Verschiebung. So sind gesellige und auf bonding ausgerichtete Vereine auf dem Land häufiger zu finden als in Städten.128 Dieser Befund scheint Bauman und Beck insofern zu bestätigen, als die liquide Moderne von lockeren Beziehungen eher geprägt wird als durch intensive Gruppenerfahrung. Die Zivilgesellschaft verändert also ihre soziale Form. Womöglich geht das auf Kosten traditioneller Vereine und zugunsten von projektartigen Beteiligungsmöglichkeiten des Neuen Ehrenamts. Gewerkschaften, Parteien und Kirchen verlieren tendenziell an Mitgliedern. Zugleich gewinnen aber dynamischere Organisationsformen mit spezifischeren Themen an Helferinnen.129 Im Zuge der Individualisierung verflüssigt sich auch die Vorstellung eines Ehrenamts, das in der Erfüllung von kollektiven Pflichten aufgeht. Engagement muss dabei nicht unbedingt finanziell profitabel sein, es sollte aber wenigstens Spaß machen und der eigenen Selbstverwirklichung dienen. In der Zivilgesellschaftsdebatte wird dieses Phänomen unter dem Stichwort des Neuen Ehrenamts diskutiert:

127 Vgl. Nassehi 2008, 79. 128 Vgl. Priemer et al. 2017, 19–22. 129 „Orte und Arenen des Engagements, über die Bürger, Politik und Gesellschaft mitgestalten, verschieben sich. Die Mitgliedschaften in Parteien und Gewerkschaften sind seit den Neunzigerjahren rückläufig. Auch die Mitgliedsorganisationen der Kirchen verlieren an Reichweite. Demgegenüber steht die Entwicklung der [sc. im Vereinswesen organisierten] Zivilgesellschaft.“ Priemer et al. 2017, 4.

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„The younger generation, in particular, is decreasingly inclined to assume a lasting commitment to the more traditional organizations. In contrast, engagement in ‚New Volunteering‘ – more dependent on particular circumstances and thus not constant and stable, which means that volunteers have greater autonomy – is growing strongly.“130

Im Zuge der Individualisierung ist dieser zivilgesellschaftliche Prozess mit den Worten Becks gut zu erklären: „Koalitionen [werden] punktuell, situations- und themenspezifisch und durchaus wechselnd mit unterschiedlichen Gruppen aus unterschiedlichen Lagern geschlossen und wieder aufgelöst. Man kann gleichzeitig auf verschiedenen Hochzeiten tanzen, also etwa zur Verhinderung des Fluglärms mit Anrainern in einer Bürgerinitiative koalieren, Mitglied der Industriegewerkschaft Metall sein und angesichts der heraufziehenden Wirtschaftskrise politisch rechts wählen. Koalitionen sind in diesem Sinne situationsund personenabhängige Zweckbündnisse im individuellen Existenzkampf auf den verschiedenen gesellschaftlichen vorgegebenen Kampfschauplätzen. Hier wird erkennbar, wie im Zuge von Individualisierungsprozessen Konfliktlinien und -themen eine eigentümliche Pluralisierung erfahren. In der individualisierten Gesellschaft wird der Boden bereitet für neue, bunte, die bisherigen Schematisierungen sprengende Konflikte, Ideologien und Koalitionen: Mehr oder weniger themenspezifisch, keineswegs einheitlich, sondern situations- und personenbezogen.“131

In der liquiden Moderne kann Zivilgesellschaft ihren handlungslogischen Funktionen also weiterhin nachkommen. Politische Diskurse werden weiterhin durch Akteure der Zivilgesellschaft geführt. Zudem wird in der Zivilgesellschaft auch unter den Rahmenbedingungen der liquiden Moderne weiterhin Sozialkapital produziert. Dabei stehen die flüchtigen Begegnungen des bridgings stärker im Fokus als bindendes Sozialkapital, das auch in der liquiden Moderne einmal mehr ambivalent zur Geltung kommt. Es ist einerseits wichtig, um für Menschen dauerhaft Verantwortung übernehmen zu können, verhindert dabei aber womöglich, den mobilen Herausforderungen unserer Zeit gerecht zu werden. Zumal, so die bisherige Skepsis, bonding Menschen eher an das eigene kulturelle Milieu bindet und im unübersichtlichen Pluralismus so zwar Geborgenheit stiften, aber zugleich andere Kulturen ausgrenzen kann. In politischen Fragen ebenso wie in sozialer Hinsicht polarisiert die Frage nach dem, was Alexander Solidarität nennt, die Teilnehmerinnen der Zivilgesellschaft stärker. So wird derzeit anhand von Flüchtlingen, religiösen und politischen Extremisten oder Menschen aus bildungsfernen und finanziell prekären Verhältnissen verhandelt, wer in der deliberativen Arena als gleichberechtigter Gesprächspartner angesehen wird.

130 Joas und Adloff 2007, 109. 131 Beck 1984, 496–497.

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Dass die Zivilgesellschaft zunehmend stärker auf Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung eingeht, lässt sich an Diskursen zum Neuen Ehrenamt, zur Armutsforschung oder zur Flüchtlingskrise schon länger beobachten. Allerdings bringen Bauman und Beck die Herausforderungen unserer Zeit für die Zivilgesellschaft pointiert und ausgesprochen machtkritisch zur Sprache. Sie helfen zudem dabei, scheinbar alltägliche Beobachtungen zur Zivilgesellschaft in einen größeren gesellschaftstheoretischen Zusammenhang zu stellen. Dort werden die Mechanismen, die im Hintergrund der liquider werdenden Moderne wirken, klar benannt. Wenn dann z. B. zur Sprache kommt, dass Menschen aus prekären Verhältnissen ihren Anschluss an die Zivilgesellschaft verlieren, wird deutlich, dass es sich dabei nicht um ein Phänomen handelt, das auf die Zivilgesellschaft beschränkt wäre. Im Rahmen der liquiden Moderne erscheint das vielmehr als eine allgemeine Herausforderung, die auch vor der Zivilgesellschaft und trotz aller anderslautenden zivilgesellschaftlichen Konzepte keinen Halt macht.

4.

Kirche als zivilgesellschaftliche Akteurin

Bisher wurde in dieser Arbeit ein jeweils mehrdimensionales Verständnis von Kirche und Zivilgesellschaft entwickelt. Dabei war die jeweilige Reflexion der beiden Begriffe unter solide- bzw. liquide-modernen Perspektiven eine Besonderheit dieser Arbeit, die auch im folgenden Kapitel wieder aufgegriffen werden soll.1 Hier geht es nun um die Frage, inwiefern Kirche eine Akteurin der Zivilgesellschaft ist und wie sich ihre zivilgesellschaftlichen Merkmale auf den einzelnen kirchentheoretischen Ebenen auswirken. Die einzelnen Ebenen des Kirchenbegriffs und des Zivilgesellschaftsverständnisses werden hier also miteinander verwoben. Das ist eine kirchentheoretische Überlegung, die dringend nötig ist. Denn von soziologischer Seite aus denkt man schon seit ein paar Jahren über die Kirche als eine zivilgesellschaftliche Kraft nach. Auf der kirchlichen Seite ist die Beschäftigung mit dieser Thematik dagegen ausgesprochen verhalten. Es gibt einige soziologische Veröffentlichungen, die es der Kirche zutrauen und auch zuschreiben, eine zivilgesellschaftliche Akteurin zu sein. Sie verlangen jedoch immer wieder danach, das Verhältnis von Zivilgesellschaft und Kirche insbesondere aus kirchlicher Perspektive zu klären. Das war allerdings keineswegs immer so. Als der gegenwärtige Diskurs zur Zivilgesellschaft im deutschsprachigen Raum2 begann, wurden Stimmen laut, die die Kirche nicht als Akteurin der Zivilgesellschaft betrachteten.3 So konnte der Historiker Jürgen Kocka noch zu Anfang des Jahrtausends postulieren: 1 Allerdings wird dies nicht mehr in einem eigenen Unterkapitel geschehen. Schließlich dienten die zusammenfassenden Kapitel zur Kirche bzw. zur Zivilgesellschaft unter soliden und liquiden Bedingungen dazu, die Verquickung der beiden Größen mit den gesellschaftstheoretischen Dynamiken aufzuzeigen. Eine Reflexion, die Kirche als zivilgesellschaftliche Akteurin zuerst unter „nüchternen“ und erst dann unter soliden und liquiden Bedingungen betrachtet, würde hinter diese Erkenntnis zurückfallen. Daher wird die eingeübte gesellschaftstheoretische Perspektive in den folgenden Unterkapiteln immer wieder an geeigneter Stelle aufblitzen. 2 Die Beschränkung auf den deutschsprachigen Raum ist hier angemessen, da die Zivilgesellschaft im nordamerikanischen Diskurs nicht säkular charakterisiert wurde. Vgl. Roßteutscher 2009, 32. 3 Vgl. auch Hitzer 2009.

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Kirche als zivilgesellschaftliche Akteurin

„Die Rolle von Religion und Religiosität bei der Hervorbringung oder Behinderung von Zivilgesellschaftlichkeit stellt sich in verschiedenen Konstellationen ganz unterschiedlich dar. […] [D]ie Prinzipien und Praktiken der großen Staatskirchen [stehen] zivilgesellschaftlicher Selbstbestimmung meist abwehrend entgegen.“4

Auch wenn Kocka seine These nicht weiter begründet, fand sie z. B. darin ihre Bestätigung, dass das großangelegte Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project die Kirchen in einer der wichtigsten und größten Studien der 1990er Jahre zur europäischen Zivilgesellschaft nicht berücksichtigte. Diese Ausklammerung geschah nicht aus inhaltlichen, sondern aus forschungspragmatischen Gründen. Und doch spiegelte sich darin eine gewisse Ratlosigkeit, wie man die Kirche aus zivilgesellschaftlicher Perspektive einordnen sollte.5 Seitdem hat sich in den Sozialwissenschaften allerdings einiges getan. Adloff beschreibt die Zuordnung der Kirche zur Zivilgesellschaft 2005 noch als ungeklärtes Forschungsanliegen: „Ein weiterer staatsnaher Bereich [sc. der Zivilgesellschaft] wird in Deutschland von den Kirchen gebildet. Bislang ist die Frage, wie sie sich zum Konzept der Zivilgesellschaft verhalten, ungeklärt.“6 Daran anknüpfend waren es einerseits die pointierten Arbeiten einiger Wissenschaftlerinnen, die die Rolle der Kirche im deutschsprachigen Raum neu reflektierten.7 Andererseits weckte das wissenschaftliche Interesse am Islam und anderen Religionen in Europa auch die Neugier an der allgemeineren Frage nach Religion und Zivilgesellschaft, wovon die Kirchen ja nur schwer ausgeklammert werden können.8 Mit dieser vergleichsweise neueren Wendung im sozialwissenschaftlichen Diskurs zur Zivilgesellschaft hat sich die Einsicht Manuel Boruttas mittlerweile weitestgehend durchgesetzt, dass „man kirchliche und kirchennahe Institutionen zurecht [sic] als Sphären und Instanzen zivilgesellschaftlichen Handelns begreifen [kann].“9 Darauf weist auch die Soziologin Sigrid Roßteutscher in ihrer großangelegten empirischen Studie zu religiösen Organisationen in der Zivilgesellschaft hin, indem sie schreibt: „Auch in einigen europäischen Ländern sind erkleckliche Anteile der Vereinswelt religiös motiviert oder Teil eines kirchlichen Netzwerks. Die ‚Zivil‘gesellschaft hat so mancherorts […] ein recht sakrales Gesicht.“10 Demgemäß werden dann auch Kirchen und religiöse Vereinigungen

4 Kocka 2003, 36. 5 Vgl. dazu auch Strachwitz 2009, 331. 6 Adloff 2005, 119. Auch in seiner aktuelleren Publikation zum Thema liefert Adloff mehr Fragen als Antworten und hält am „[B]edarf noch eingehender Untersuchungen“ fest. Vgl. Adloff 2009, 43. 7 Hier sind insbesondere folgende soziologische Arbeiten zu nennen: Borutta; Strachwitz et al. 2002; Liedhegener und Werkner 2011 oder auch Pollack 2002. 8 Vgl. z. B. Beyme 2015 oder Nagel 2015. 9 Borutta, 5. 10 Roßteutscher 2009, 31.

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in den Erhebungen der aktuellen Studie „Zivilgesellschaft in Zahlen“ explizit berücksichtigt. Der kirchentheoretische Diskurs reagiert auf diesen Wandel im sozialwissenschaftlichen Diskurs ausgesprochen verhalten.11 So sind die kirchentheoretischen Beschäftigungen mit der Zivilgesellschaft rar gesät. Hier gelten die beiden pointierten Arbeiten von Ralph Fischer, der eher allgemein gehaltene Essay von Thomas Schlag und die (vergleichsweise knappen) Überlegungen Wolfgang Hubers zum Auftrag der Kirchen in der Zivilgesellschaft als seltene Reflexionen, die in den gegenwärtigen Kirchentheorien kaum berücksichtigt werden.12 Jan Hermelink beschäftigt sich in seinem kirchentheoretischen Standardwerk nicht mit dieser konkreten Fragestellung. Isolde Karle nutzt sie eher als ornamentales Anhängsel, um die parochiale Ebene der Kirche zu schmücken. Hauschildt/PohlPatalong nehmen die quantitativ vielleicht wenigen, aber qualitativ bedeutsamen kirchentheoretischen Überlegungen Wolfgang Hubers zum Auftrag der Kirche in der Zivilgesellschaft auf, indem sie Kirche als eine intermediäre Großorganisation darstellen, die auch an öffentlichen Diskursen teilhat.13 Damit ist immerhin ein Anfang gemacht. Gegenwärtig beschäftigt sich auch das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD (SI) mit dem Thema.14 Die 2018 erschienene qualitativ-empirische Arbeit von Nina Behrendt-Raith liefert ebenfalls substanzielle Einblicke in die diakonische und damit auch zivilgesellschaftliche Arbeit von Kirchengemeinden.15 Beides wird in der nun folgenden kirchentheoretischen Vertiefung immer wieder aufgenommen. Dabei wird das zuvor erarbeitete vierdimensionale Kirchenverständnis ebenso zugrundegelegt wie die Betrachtung der Zivilgesellschaft unter raum- und handlungslogischen Gesichtspunk11 So auch die Einschätzung des Sozialwissenschaftlers Henning von Vieregge, der von einer kirchlichen „Nullreaktion“ auf Diskurse zur Kirche aus der Zivilgesellschaftsforschung zu berichten weiß. Vgl. Vieregge 2017, FN 66. 12 Fischer 2004; Fischer 2008; Schlag 2012b. Die gleichen Gedanken werden stark verknappt auch in folgendem Aufsatz aufgeführt: Schlag 2012a und Huber 1999, 267–283. Hier sind noch weitere Stimmen im Praktisch Theologischen Diskurs zu nennen, wie die von Karl Gabriel aus katholischer, Johannes Eurich aus diakoniewissenschaftlicher oder Gerhard Wegner aus kirchensoziologischer Warte. Deren Beiträge heben nicht immer auf eine grundsätzliche kirchentheoretische Ebene ab. Trotzdem sind sie für den hier geführten kirchentheoretischen Diskurs ausgesprochen wertvoll. Auf einzelne Beiträge werde ich im Verlauf des Kapitels eingehen. 13 Vgl. Hauschildt und Pohl-Patalong 2013, 32–33, 173–174. In der Bonner Studie zur kirchlichen Präsenz auf dem Land geht Hauschildt wenigstens in einem Satz auf die zivilgesellschaftliche Stellung der Kirche ein. Er hält fest: „Öffentliche Nachbarschaftlichkeit mit anderen religiösen und nicht-religiösen zivilgesellschaftlichen Akteuren hat ihren Eigenwert.“ Diese Feststellung ist begrüßenswert, da sie das Ergebnis dieser Arbeit vorwegnimmt. Aber leider wird die Feststellung nicht weiter begründet oder gar ausgeführt, worin dieser Eigenwert kirchlich-zivilgesellschaftlicher Koalitionen konkret besteht. Hauschildt et al. 2016, 159. 14 Vgl. Schendel 2015. 15 Behrendt-Raith 2018.

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ten. Kirche wird also jeweils als Organisation, Institution, Interaktion und Inszenierung zu ihrem Verhältnis zur Zivilgesellschaft befragt. Das wird einerseits zeigen, wie Kirche die Zivilgesellschaft bereichert und herausfordert. Andererseits wird so dargestellt, wie Zivilgesellschaft umgekehrt das Wesen der Kirche prägt.

4.1

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Kirche ist als Organisation vielerorts bereits zivilgesellschaftlich aktiv. Dass die Orientierung des Non-Profit Unternehmens Kirche an ökonomischen Standards dem nicht im Weg steht, wird eingangs in der raumlogischen Abwägung deutlich. Allerdings gibt es durchaus einige organisationale Strukturen, die den zivilgesellschaftlichen Nutzen der Kirche infrage stellen. So legt Ralph Fischer seinen kritischen Finger in die Wunde der kirchlichen Organisationskultur, die womöglich bestimmte Menschen durch ihre bürokratische Art ausschließt. Im Zwiegespräch mit Isolde Karle wird dies im Folgenden kontrovers erörtert. Dabei geht es auch um fundamentale organisationale Grundstrukturen – seien sie behördlich oder gar basisdemokratisch – und die Effekte, die sie auf den zivilgesellschaftlichen Charakter der Kirche haben. Hier bringt die Stimme von Sigrid Roßteutscher eine unerwartete und erfrischende Perspektive in die kirchentheoretische Debatte ein. Demnach ist es weniger eine demokratische Grundstruktur, sondern eher eine womöglich gar hierarchische und professionelle Begleitung der kirchlich Engagierten, die aus der Kirche auch eine erfolgreiche zivilgesellschaftliche Organisation macht. Um diesen zivilgesellschaftlichen Erfolg organisational nicht im Wege zu stehen, sondern ihn zu befördern, braucht es abschließend noch eine Debatte über den Stellenwert der Mitgliedschaft und des organisationalen Programms der Kirche. Die Organisation Kirche hat raumlogische Grenzen, an denen sich auch die Zivilgesellschaft abarbeitet. Ganz ähnlich wie bei anderen zivilgesellschaftlichen Akteurinnen sind die Grenzziehungen zur Ökonomie von besonderem organisationalem Interesse.16 Die Abgrenzung von Markt und Zivilgesellschaft erfolgt vor allem durch die unterschiedlichen Logiken, die die beiden Bereiche dominieren. Während die Handlungslogik der Zivilgesellschaft danach strebt, Ge16 An dieser Stelle wäre auch eine Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat denkbar. Allerdings fällt die Besprechung von Kirche als eine Körperschaft des öffentlichen Rechts in dieser Arbeit unter die Institutionslogik, sodass es sich auch anbietet, die Verortung der Kirche zum Staat auf institutioneller Ebene zu besprechen. Grundsätzlich berührt dieses Verhältnis sowohl institutionelle als auch organisationale Gesichtspunkte. Kirche zeigt sich hier einmal mehr als Hybrid aus Institution und Organisation.

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meinwohlorientierung, Sozialkapital und politische Teilhabe zu ermöglichen, zielt der Markt in erster Linie darauf ab, Gewinne zu produzieren. Selbstverständlich schließt das nicht aus, dass zivilgesellschaftliche Akteure auch am Markt teilnehmen und umgekehrt, dass Unternehmen auch zivilgesellschaftlich wirksam sind. Kooperationen zwischen Akteurinnen beider Bereiche sind ausgesprochen häufig und vielversprechend. In diesen Umfeldern ist auch die Kirche aktiv. Als NPO17 legt sie zwar Geld am Markt an, allerdings nicht, um Gewinn für Investoren zu erzielen, sondern um z. B. Pensionen abzusichern.18 Zudem ist Kirche wenigstens stellenweise darum bemüht, sich effiziente Organisationsstrukturen zu geben, um die Verwaltung kirchlicher Handlungsfelder wirkungsvoll zu gestalten.19 Dazu gehören auch eine Feedbackkultur sowie die Möglichkeit zu Fortbildungen für Haupt- und Ehrenamtliche.20 Auf diesem Gebiet ist es schon einmal naheliegend, dass Kirche nicht als profitgesteuertes Unternehmen am Markt auftritt. Von dieser raumlogischen Seite aus steht dann auch einem Selbstverständnis als zivilgesellschaftlicher Akteurin nichts im Weg. Aber allein die Feststellung, dass Kirche nicht hauptsächlich an Profit interessiert ist, reicht längst nicht aus, um eine zivilgesellschaftliche Identität festzustellen. Gerade in Bezug auf die organisationalen Strukturen der Kirche beobachtet Ralph Fischer zivilgesellschaftlich desolate Zustände. Er kritisiert verkrustete Behördenstrukturen, in der eine „Oligarchie mit ‚klerikal-aristokratischen‘ Zügen“21 die Macht über das Werden und Wirken der Kirche in der Hand hält. Hinter diesem harschen Urteil steckt ein Verwaltungsapparat bzw. eine Unternehmenskultur, durch die s.g. Laien und ehrenamtlich Aktive systematisch ausgegrenzt würden: „Konferenzen und Dienstbesprechungen [finden] während der Kernarbeitszeit [sc. der berufstätigen Ehrenamtlichen] statt, eine fach- bzw. berufsspezifische Terminologie […] haben funktionsspezifische Exklusionen zur Konsequenz.“22 Eine pfarrherrliche und hierarchisch autoritäre Kirche nach dem Typ der soliden Moderne sind davon die Folge. „Aufgrund der dargestellten Situation wird […] eine, zumindest latente, asymmetrische Beziehung zwischen dem ehrenamtlichen Laienstand und dem hauptamtlichen Klerus installiert.“23 Für die Kirche als zivilgesellschaftliche Organisation verheißt dieses Urteil auf der später zu besprechenden Interaktionsebene nichts Gutes. Allerdings gibt es auch eine entgegengesetzte Perspektive, die gerade das zur Bildungselite gehö17 S. o. Teil I, Kapitel 2.1.1. 18 Auch Strachwitz hält fest, dass „das Streben nach materiellem Gewinn“ für die Kirche „unstrittig“ ist. Strachwitz 2009, 337. 19 Vgl. Nethöfel und Böckel 2014. 20 Vgl. Schaufelberger 2014. 21 Fischer 2004, 138. 22 Fischer 2004, 138. 23 Fischer 2004, 162.

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rende kirchliche Personal als wichtigen zivilgesellschaftlichen Vorteil der Kirche bewertet: „Priester jeder Konfession sind in der Regel hochgebildet, besitzen ausgesprochene verbale und analytische Fähigkeiten und ihre Stimme hat Gewicht. […] Damit verfügen Kirchengruppen qua ihres Führungspersonals über politisch einsetzbare Ressourcen, wie sie Vereinen in anderen Sektoren eher selten zur Verfügung stehen.“24

Dieser widersprüchliche Befund deutet darauf hin, dass die zivilgesellschaftliche Organisation Kirche aus ihrem z. T. hochgebildeten Personal weder einen grundsätzlichen Vorteil noch einen allgemeinen Nachteil ziehen kann. Entscheidend ist die Frage, wie die einzelnen Hauptamtlichen mit ihren organisatorischen Strukturen umgehen. Das aber ist eine Frage, die – was organisationslogisch höchst unbefriedigend ist – situativ und individuell beantwortet wird.25 Das bemängelt auch Fischer, der festhält, dass die Kirche nicht flächendeckend und zuverlässig Raum für Engagement bereitstellt, sondern dabei von den einzelnen Amtsinhaberinnen abhängig ist. So beobachtet er richtig, dass Hauptamtliche „aufgrund ihrer institutionellen Einbindung entweder ein guter Partner, ein gleichgültiges Gegenüber oder ein starker Gegner“26 sind. Selbstverständlich gibt es nach Fischer auch nicht-ordinierte Kirchenmitglieder, die trotz des von ihm gezeichneten negativen Bildes einer pfarrzentrierten und hierarchischen Kirche Zugang zu kirchenpolitischen Entscheidungsorten haben. Allerdings erfordern solche Positionen ein hohes Maß an Bildung. Das wiederum ist ein Problem für diejenigen, die gerne über kirchliche Weichenstellungen mitreden würden, aber nicht in der Lage oder willens sind, dafür über Jahre hinweg an Sitzungen teilzunehmen, Haushaltspläne zu lesen und sich in die Vorgaben des Kirchenrechts einzuarbeiten.27 Das, so Fischer, sorgt dafür, dass die Kirche durch ein bestimmtes verwaltungsaffines, hoch gebildetes

24 Roßteutscher 2009, 43. Vgl. dazu auch die mit dieser Einschätzung übereinstimmende Beschreibung der zivilgesellschaftlich bedeutsamen Rolle von Pastoren bei Ralf Kötter. Kötter 2014, 183–191. 25 Diese Einschätzung ist unbefriedigend, weil das kirchliche System darauf kaum reagieren kann. Menschen müssten womöglich versetzt, verprellt oder neu eingesetzt werden und sich oft genug umorientieren. Allerdings kommt auch die Greifswalder empirische Studie „Landaufwärts“ zu dem gleichen Ergebnis. Dort wurden innovative Kirchengemeinden im ländlichen Raum untersucht. Es waren dabei fast immer die Pfarrerinnen, die (mitunter zivilgesellschaftlich hoch wirksame) Projekte ins Leben riefen und dann mit anderen Akteuren umsetzten. In der Schwesterstudie aus Bonn, die in der gleichen Monografie veröffentlicht wurde, wird dagegen darauf hingewiesen, dass gerade diese „Gemeindeentwicklungsprozesse“ künftig kaum noch von Pfarrerinnen persönlich geprägt würden. Schließlich nimmt die Präsenz der Pfarrer im Rahmen des Ressourcenrückgangs deutlich ab. Vgl. Hauschildt et al. 2016, 165, 347–348, 401–402. 26 Fischer 2004, 134. 27 Vgl. Fischer 2004, 153.

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und eher konservatives Milieu dominiert wird. Wer diesem Typ nicht entspricht, wird dann auch in der Kirchenverwaltung nicht angemessen repräsentiert: „die […] gefährliche Wirkung ist, dass Treue mit Treue belohnt werden soll, also diejenigen, die kommen, bestimmen somit durch ihr Kommen im Wesentlichen Form und Inhalt gegenwärtiger und zukünftiger Angebote.“28 Damit werden nach und nach potenziell Engagierte links der Mitte ebenso wie eher ungebildete Mitglieder der s.g. Unterschicht ausgeschlossen. Zumindest Letzteres kann Fischer unter Rückgriff auf den Bundesfreiwilligensurvey auch eindrucksvoll empirisch belegen: „Das immer noch bestehende Übergewicht der Volks- bzw. Hauptschulabschlüsse in der deutschen Bevölkerung findet sich, wie auch in den anderen Bereichen des freiwilligen Engagements, in den Kirchen nicht wieder, obwohl diese beiden Abschlüsse auch unter den Mitgliedern der Landeskirchen am stärksten vertreten sind.“29

Fischer weist nach, dass es sich dabei nicht nur um einseitiges Desinteresse seitens derer handelt, die sich nicht in der Kirche engagieren. Auch kirchlicherseits steht man Menschen aus prekären Verhältnissen ignorant gegenüber: „Diejenigen, die von kulminierenden Exklusionseffekten bedroht oder bereits betroffen sind, werden wieder, nun in ihrer Kirche, in Bezug auf das kirchliche Freiwilligenengagement an den Rand gedrängt oder sogar ausgeschlossen. So ist es mehr als bezeichnend, wenn […] in einem für die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck erarbeiteten Konzept zur Kandidatenfindung für die Kirchenvorstandswahlen 2007 ausschließlich die höheren Segmente der liberalen Traditionslinie in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt [sic] und eben nicht die unteren und untersten Milieus beider Traditionslinien der deutschen Milieus.“30

In dieser organisationalen Entscheidung sieht Fischer ein Symptom für eine viel grundsätzlichere kirchliche Geringschätzung von nicht-konservativen Milieus. Nicht nur, wenn es um die organisationale Mitbestimmung geht, sondern auch bei der Gestaltung von kirchengemeindlichen Angeboten würden viele Milieus, insbesondere solche aus prekären Situationen, ausgeschlossen: „Allerdings kollidieren seine [sc. das Milieu der Konsummaterialisten] Erwartungen mit den Vorstellungen der konservativen Traditionslinie, denn die Zugehörigen zu diesem Milieu wollen keinem distinguierten Beharren auf „Etikette“ oder stilistischen Diskriminierungen ausgesetzt werden, stattdessen verlangen sie nach persönlicher Hilfe für ihre persönlichen Probleme, nach anderen Gottesdienstorten als Sakralbauten wie auch nach rhythmusbetonten einfachen Kirchenliedern. Die üblichen kirchenge-

28 Fischer 2004, 175. 29 Fischer 2008, 74. 30 Fischer 2008, 92–93.

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meindlichen Angebote der agendarischen Gottesdienste, der Orgelkonzerte, akademischen Gesprächskreise oder Kirchenchöre schließen sie somit weitgehend aus.“31

Damit fördern kirchliche Strukturen eine eigene Monokultur. Das hat auch zwangsläufig Konsequenzen für Fischers Bewertung der Kirche unter zivilgesellschaftlichen Aspekten. Denn die Kirche ist trotz aller möglichen anderslautender Ideale nicht in der Lage, sich für die unterschiedlichen Anliegen und Milieus zu öffnen, die die Zivilgesellschaft prägen: „Die starke Binnenorientierung der Kirchen auf die eigene Klientel bzw. auf den Teil derer, die von ihren Angeboten angesprochen werden, erlaubt dem Gemeinwesen nur einen geringen Nutzen[…].“32 Fischer stellt Kirche damit zwar begründet, aber doch sehr pauschal in Abrede, eine „nützliche“ zivilgesellschaftliche Akteurin zu sein.33 Hintergrund dieses Urteils ist eine kirchentheoretische Zuspitzung. Indem er die kirchliche Organisation vor allem als professionelle und hierarchische Behörde wahrnimmt, kann er ihre zivilgesellschaftlichen Schwächen pointiert herausarbeiten. Zugleich leidet Fischers Darstellung unter dieser Verengung. Zwar deutet Fischer auch an, dass Kirche bspw. als Interaktion andere nützliche zivilgesellschaftliche Möglichkeiten entfaltet. Aber sein negatives Gesamturteil bleibt davon unberührt: „Der kirchliche Ehrenamtliche sucht eine christliche Gemeinde und findet eine bürokratische Organisation.“34 Gegen diese Darstellung einer milieuverengten und zivilgesellschaftlich weitestgehend irrelevanten Behördenkirche gibt es wichtige organisationale Einwände. Betrachtet man bspw. die parochiale Grundstruktur der Kirche, kann man mit Isolde Karle einwenden, dass die Kirche insbesondere durch ihre Kirchengemeinden in der jeweils lokalen Zivilgesellschaft verwurzelt ist. Dabei nimmt Karle weder die Milieuverengung noch die hierarchischen Unterschiede zwischen Hauptamtlichen und Kirchenmitgliedern wahr, die Fischers Stein des Anstoßes darstellten: „Die Ortsgemeinden sind die Basis der Kirche. Hier ringen nicht nur theologische Experten oder geistliche Amtsträger, sondern Menschen aller Berufsgruppen und Milieus darum, wie Kirche aussehen soll, welche Aktivitäten gestärkt und welche reduziert, wie im vertrauensvollen Miteinander Kirche und Welt gestaltet werden sollen.“35

31 Fischer 2008, 93. 32 Fischer 2004, 205. 33 Wobei Fischer sachlich auch von Hauschildt Zustimmung erhält. Auch die Bonner Studie zur kirchlichen Präsenz im ländlichen Raum hält fest, dass sich die Kirche dort „de facto an bildungsaffine Menschen“ richtet. Hauschildt „erwartet“ jedoch, dass das Ehrenamt künftig sehr unterschiedlich ausgestaltet wird und dabei auch Menschen aktiv werden, die nicht „bildungs- und schulungsaffin“ sind. Begründet wird diese Erwartung mit geringeren Ressourcen und der zurückgehenden Präsenz von Pfarrerinnen vor Ort, was das stärkere Engagement von Ehrenamtlichen nötig macht. Hauschildt et al. 2016, 166–167. 34 Fischer 2004, 158. 35 Karle 2010c, 472.

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Nach dieser Perspektive ist Kirche gerade keine monokulturelle Behörde, sondern eher das Ideal einer basisdemokratischen Teilhabe an einem lokalen zivilgesellschaftlichen Projekt. Darin sieht Karle die entscheidende zivilgesellschaftliche Qualität der Kirche.36 Auf kirchengemeindlicher Ebene können sich die Einzelnen einbringen und ihr eigenes Umfeld gestalten. Das ist übersichtlicher und machbarer als auf überregionaler, nationaler oder gar globaler Ebene: „Vor Ort engagieren sich einzelne Menschen […] weil eine Lokalgemeinde gegenüber der großen bürokratischen Einheit einen überschaubaren Raum darstellt, für den man gern Verantwortung übernimmt, für dessen Wohlergehen man sich verpflichtet weiß. Es ist ein großer Unterschied, ob ich den professionell Verantwortlichen persönlich kenne und beiläufig und direkt auf Probleme ansprechen kann (sei es der Bürgermeister oder die Pfarrerin) oder ob ich es mit einer weit entfernten gesichtslosen Stadtverwaltung oder kirchlichen Stabsstelle zu tun habe. […] Die Kirchengemeinde ist dafür ideal.“37

Kirche kann so als „intermediäre Institution“ zwischen Individuen und Gesellschaft vermitteln.38 Den Hauptamtlichen und insbesondere den Pfarrern der Kirche kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, weil sie als Knotenpunkte im interaktionalen Netz der Kirche über die nötige Professionalität und Vermittlungskompetenz verfügen. Indem Karle also einen anderen organisationalen Fokus als Fischer legt, kommt sie auch zu einem anderen Urteil über die zivilgesellschaftliche Akteurin Kirche. Dabei ist ihre Wahrnehmung, dass in der Kirche „alle Berufsgruppen und Milieus“ vorkommen nicht kritisch genug und idealisierend.39 Denn Fischer kann weitgehend zugestimmt werden, wenn er mit dem Freiwilligensurvey darauf hinweist, dass diejenigen, die sich in der Kirche engagieren, eher gebildet und wohlhabend sind.40 Allerdings trifft diese Beobachtung nicht auf die Kirchenmitglieder insgesamt zu, die sich engagiert bis indifferent zu ihrer Kirche halten. Ob man aus dieser Situation ein so düsteres und allgemeingültiges Szenario einer grundsätzlich exkludierenden Kirche zeichnen sollte, wie Fischer das tut, ist mehr als fraglich. Unterscheidet man bei den 36 Hier stimmt ihr ganz grundsätzlich auch die Soziologin Sigrid Roßteutscher zu, die die zivilgesellschaftliche Relevanz der Kirche vor allem auf lokaler, also insbesondere kirchengemeindlicher Ebene sieht. Vgl. Roßteutscher 2009, 22–23. 37 Karle 2010c, 476–477. 38 So auch Schlag, der den Begriff der „intermediären Institution“ wie schon Karle für die Kirche als zivilgesellschaftliche Akteurin nutzbar macht. Beide beziehen sich dabei auf die Vorstellungen von Luckmann und Berger. Vgl. Schlag 2012b, 45. Vgl. dazu ebenfalls die etwas ausführlicheren Bemerkungen zur Kirche als intermediärer Organisation innerhalb der Zivilgesellschaft von Karl Gabriel. Gabriel 2010. 39 So auch die Einschätzung der Diakoniewissenschaftler Eurich, Barth et al., wenn sie die Beobachtungen in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband „Kirche aktiv gegen Armut“ zusammenfassen: „[D]ie Landeskirchen richten ihre spirituellen Angebote bisher vor allem auf das Milieu des Bürgertums aus.“ Eurich et al. 2010, 16. 40 Vgl. Sozialwissenschaftliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland 2017, 14.

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kirchlichen Mitgliedern nicht zwischen Engagierten und Indifferenten, kommt man wie z. B. Roßteutscher zu einem entgegengesetzten Urteil: „Nirgendwo stammen die Mitglieder und Aktiven aus so unterschiedlichen sozialen Milieus wie in religiösen Gemeinschaften und Organisationen.“41 Auf interaktionaler Ebene wird diesem Kontrast noch eindringlicher nachgegangen. Ein Punkt, in dem Karle und Fischer übereinstimmen, ist wohl die von Karle als „anonym“ gebrandmarkte und überregional organisierte Kirchenverwaltung.42 Den zivilgesellschaftlichen Nutzen dieser Organisationsebene sieht auch Karle nicht. Selbst die öffentlichkeitswirksamen Kommentare zu politischen Diskursen von kirchlichen Repräsentanten haben für sie im Vergleich zu der zivilgesellschaftlichen Arbeit der Kirchengemeinden kaum Gewicht: „Umgekehrt ist es die spezifische Stärke der formalen Organisation Kirche, namentlich der Organisationsspitzen, die die Kirche repräsentieren, zu anderen Funktionssystemen und damit eben auch zu den Medien in Kontakt treten zu können. Da die Medien sich selbst überschätzen und diese Überschätzung wiederum medial kommunizieren, führt dieser Mechanismus zugleich zu einer Selbstüberschätzung der sich öffentlich präsentierenden Organisation und zu einer Unterschätzung der Gemeindewirklichkeit vor Ort“43

Während die überregionalen Ebenen der kirchlichen Organisation bei Fischer also als klerikale Oligarchie zivilgesellschaftlich kaum Wirkung entfalten und bei Karle zuungunsten der Parochien überschätzt werden, stellt sie Thomas Schlag in seiner Untersuchung zur Öffentlichen Kirche in ein wertschätzendes Licht. Er sieht hier eine Ansammlung von gesellschaftspolitischem Wissen verortet, mit dem Kirche auch über regionale Wirkgrade hinaus auf öffentliche Diskurse reagieren kann. Das kann in Form von Lobbyarbeit oder öffentlichen Debatten geschehen. Zudem können erfolgreiche Modellprojekte über landeskirchliche Supervision und Finanzierung an Dauerhaftigkeit gewinnen.44 Damit betont Schlag eine Kooperation von überregionaler und parochialer Kirche zugunsten der kirchlichen Position innerhalb der Zivilgesellschaft: „Eine stärker steuernde Rolle dieser mittleren Ebene scheint auch unter den Bedingungen hoher Gemeindeautonomie deshalb als sinnvoll, weil damit das Profil einer

41 Roßteutscher 2009, 39. 42 „Durch mehr Zentralisierung und Regionalisierung werden die Möglichkeiten für niedrigschwellige und nicht geplante Begegnungen überdies noch weiter reduziert. Während Städte und Wirtschaftsunternehmen zunehmend erkennen, wie wertvoll und unverzichtbar dezentrale Strukturen sind, und städtische Büros, Paketdienste oder auch Bestattungsinstitute wieder in die Fläche gehen und versuchen, möglichst unmittelbar vor Ort präsent zu sein, setzt die evangelische Kirche auf Zentralisierung und auf Rückzug aus der Fläche, um in ihre Zentren mehr Geld, Zeit und Personal investieren zu können.“ Karle 2008a, 244. 43 Karle 2008a, 245. 44 Vgl. Schlag 2012b, 69.

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öffentlichen Kirche größere Aussicht auf Erkennbarkeit und Verbindlichkeit erlangen kann und zudem die theologischen und personellen Ressourcen unter Umständen besser gebündelt werden können. Diese mittlere Ebene könnte somit seismographische Bedeutung für die Wahrnehmung sowohl der lokalen wie der regionalen kirchlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse vor Ort haben. Gerade von dort aus kann es möglich werden, gleichsam eine reformierte corporate identity öffentlicher Kirche ins Spiel zu bringen und die Gemeinden vor Ort dafür zu sensibilisieren, dass sie nicht nur sich selbst, sondern die evangelische Kirche in einem sehr viel weiteren Sinn repräsentieren und ihr Freiheitshandeln vor Ort immer in diesen weiter reichenden Zusammenhang eingebunden sowie von daher zu verantworten ist.“45

Für die Positionierung der Kirche ist Schlags Perspektive auf ein harmonisches Zusammenspiel der unterschiedlichen organisationalen Ebenen ausgesprochen sinnvoll. Schließlich tut es kirchlichen wie auch allgemeinen zivilgesellschaftlichen Diskursen gut, wenn sie sowohl auf lokaler als auch überregionaler Ebene reflektiert werden. Isolde Karle stellt dieses innerkirchliche Zusammenwirken von lokaler und überregionaler Ebene mitunter antagonistisch dar.46 Ihre polemische Perspektive zielt allerdings auf eine andere Ebene ab, die auch für die zivilgesellschaftliche Wirkmächtigkeit der Kirche bedeutsam ist. Dabei geht es um die Frage, inwiefern die Kirche selbst demokratisch strukturiert ist. Ist die Macht, kirchliche Entscheidungen zu beeinflussen, also eher bottom up oder doch stärker top down gerichtet? Karle setzt sich dabei immer wieder für eine parochiale und bottom up strukturierte Kirche ein, sodass die überregionalen und top down entscheidenden Ebenen der Kirche in ein schlechtes Licht gerückt werden. Das ist noch eine etwas andere Sicht als die von Fischer, der die kirchlichdemokratischen Entscheidungsfindungen sowohl parochial als auch überregional für milieuverengt und damit gleichbedeutend auch für zivilgesellschaftlich unzureichend hält. Zumindest der empirische Befund gibt Fischer bei dieser Einschätzung recht, wonach „nur 7,5 Prozent der Evangelischen, die abgesehen vom Gottesdienstbesuch nicht in das Gemeindeleben eingebunden sind, regelmäßig an den Wahlen dieses Gremiums (Kirchenvorstand, Gemeindekirchenrat, Presbyterium) teil[nehmen].“47 Es gibt in der Kirche also die Möglichkeit zur lokalen Mitgestaltung, allerdings wird sie eher von den hochverbundenen und engagierten Mitgliedern genutzt.48 Für diejenigen, die diese Möglichkeit in Anspruch nehmen, stellt Kirche dann womöglich auch eine „Schule der Demokratie“ dar, wie es Robert Putnam als Ideal der Zivilgesellschaft formuliert.49 Die 45 Schlag 2012b, 71. 46 Wofür ihr Schlag, ohne sie explizit zu nennen, einen „protestantische[n] Antihierarchiereflex“ attestiert. Vgl. Schlag 2012b, 64. 47 Ahrens 2017, 35. 48 Ahrens 2017, 35. 49 Putnam 2001, 368.

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meisten Kirchenmitglieder machen von ihrem demokratischen Recht jedoch keinen Gebrauch. In dieser Debatte weist Graf Rupert Strachwitz allerdings darauf hin, dass man von der organisationalen Struktur einer zivilgesellschaftlichen Akteurin, egal ob demokratisch oder eben nicht, keineswegs auf ihren zivilgesellschaftlichen Charakter schließen kann: „Das Argument der notwendigen demokratischen Struktur stellt […] eine normative Aufladung des Zivilgesellschaftsbegriffs dar, die weder systematisch nachvollziehbar erscheint noch mit der Realität korrespondiert.“50 Schließlich, so Strachwitz, haben Stiftungen wie auch Kirchen einen großen Einfluss auf die Zivilgesellschaft, ohne dabei unbedingt selbst demokratisch strukturiert zu sein. Selbst wenn die Kirche also streng hierarchisch und top down strukturiert wäre, könnte man sie deswegen nicht aus der Zivilgesellschaft ausschließen. Normativ mag es aus dieser Sicht also unerheblich sein, ob eine Kirche bischöflich und top down oder presbyterial und bottom up organisiert ist. Allerdings macht es aus empirischer Sicht doch einen erheblichen Unterschied, ob eine Akteurin demokratische Teilhabemöglichkeiten anbietet oder nicht. Darauf weist Sigrid Roßteutscher in einer empirischen Studie hin. Sie hat darin untersucht, ob sich konfessionelle Vereine und nicht-konfessionelle Vereine bei der Gewinnung von Ehrenamtlichen unterscheiden.51 Für die Debatte zur Demokratieförmigkeit von zivilgesellschaftlichen Akteuren kommt sie dabei zu einem überraschenden Ergebnis: „Dort, wo Vereinsstrukturen arbeitsteilig und professionalisiert sind, gibt es mehr Ehrenamtliche als dort, wo solche Strukturen nicht implementiert wurden. Umgekehrt: Dort, wo die kleine Vereinsdemokratie institutionalisiert wurde, sind weniger Ehrenamtliche als in ‚undemokratischen‘ Vereinen – ein Ergebnis, das dem gängigen Mythos vom kleinen, flachen, demokratischen Verein als Inspiration ehrenamtlichen Engagements vollständig zuwider läuft.“52

Die empirischen Ergebnisse sollten die demokratischen Strukturen der Kirche wenigstens dort, wo sie noch funktionieren, nicht grundsätzlich infrage stellen. Schließlich beteiligen sich zumindest die kirchlich engagierten Mitglieder noch einigermaßen regelmäßig daran. Die Erkenntnis, dass eine debattenreiche Vereinsdemokratie für zahlreiche ehrenamtlich Interessierte keineswegs attraktiv ist, wirkt allerdings auch befreiend. Denn Kirche muss aus zivilgesellschaftlichen Gesichtspunkten nicht krampfhaft an sitzungsintensiven und basisdemokrati50 Strachwitz 2009, 345. Im Übrigen bezieht sich Strachwitz auf die katholische Kirche, wo das Urteil, nicht demokratisch strukturiert zu sein, womöglich angemessener ist, als bei der synodal organisierten EKD. 51 Dabei stellt sie fest, dass „[b]is auf lutherische Vereine, die keinen signifikanten Unterschied zum säkularen Verein aufweisen, […] religiöse Vereine „reicher“ an Ehrenamtlichen [sind] als nicht-religiöse Vereine.“ Das erklärt sie mit deren „Betonung von Altruismus, Mitmenschlichkeit und Sympathie.“ Roßteutscher 2011, 129. 52 Roßteutscher 2011, 129.

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schen Strukturen festhalten, wenn sich dafür kaum noch Ehrenamtliche finden lassen.53 Roßteutschers Studie, aber auch die bereits zitierte Untersuchung von Angela Ahrens zu den Engagierten in der evangelischen Kirche vor Ort weisen darauf hin, dass es für die Kirche neben den klassischen Gremien und vereinsähnlichen Strukturen noch viele weitere Orte zur aktiven Teilhabe gibt. Dort kann Kirche auf organisationaler Ebene ihr Potenzial noch besser wahrnehmen und entfalten. Dieses Votum für eine nicht unbedingt vereinsdemokratisch aufgestellte Kirche bedeutet allerdings keineswegs die Einführung einer hierarchischen Organisation, die Entscheidungen von oben herab durchsetzt. Das ist bei Kirchengemeinden, die von freiwilligem Engagement abhängen, so oder so nicht gut möglich. Denn „gerade durch die Freiwilligkeit der Leistungserbringung [sc. entzieht sich das Ehrenamt] einem hierarchischen Zugriff.“54 Eine zivilgesellschaftlich aufgestellte Kirche versteht sich demnach als Partnerin und Unterstützerin ihrer Engagierten. Dabei ist das, was Kirche ihren Helferinnen schon jetzt anbietet, alles andere als schlecht. Den Ehrenamtlichen stehen flächendeckend Ansprechpartner zu Verfügung. Das allein ist für die Gewinnung von Engagierten sehr bedeutsam. So hält auch Roßteutscher fest: „Ehrenamtliche sind dort am häufigsten anzufinden, wo auch professionelles, festangestelltes Personal existiert.“55 Zwar sind die Pastorinnen grundsätzlich die häufigsten Koordinatorinnen der Ehrenamtlichen, aber oft genug kann diese Koordination auch von anderen freiwilligen Mitarbeitern in der Jugend-, Familien-, Seniorenarbeit oder den Musikgruppen übernommen werden.56 Dabei wird es für die Kirche immer wichtiger werden, neben langfristigem Engagement auch projektbezogene Teilhabemöglichkeiten zu ermöglichen.57 Solche Formen des Neuen Ehrenamts gehen nicht mit langfristigen Verpflichtungen einher und gewinnen so an Attraktivität für die tendenziell jüngeren Engagierten: „Projektbezogen Engagierte sind im Schnitt sogar wesentlich jünger als die Evangelischen insgesamt. Diese Form des Engagements kann also auch für die Jüngeren 53 So auch Grethlein, wenn er schreibt: „Die Probleme, die mancherorts bei der Aufstellung einer ausreichenden Zahl von Kandidat/innen für das Presbyterium bestehen, sind […] wohl nicht durch kurzfristige Maßnahmen zu lösen. Sie stellen – in Verbindung mit der meist äußerst niedrigen Wahlbeteiligung – grundsätzlich die Zeitgemäßheit der synodal-presbyterialen Kirchenordnungen in Frage.“ Grethlein 2016, 469. 54 Böckel 2016, 124. 55 Roßteutscher 2009, 108. 56 Vgl. Ahrens 2017, 33. 57 So auch Schlag: „Angesichts der weiter steigenden Mobilitätsdynamiken wird es auch darauf ankommen, Menschen zukünftig für ein stärker punktuelles Engagement zu gewinnen, da die Bereitschaft zu einer kontinuierlichen und längerfristigen, verbindlichem Tätigkeit weiter abnehmen wird. Attraktiv wird dies aber in aller Regel nur dann sein, wenn die angesprochenen Personen für sich den festen Eindruck gewinnen können, dass ihnen ein solches Engagement sowohl für ihre persönliche wie auch für ihre berufliche Weiterentwicklung tatsächlich nachweisbar von Nutzen ist.“ Schlag 2012b, 104.

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attraktiv sein, die bei den traditionellen Angeboten eher selten zu finden sind.“58 Dabei gibt es nach Ahrens durchaus noch einiges für die Kirchengemeinden zu tun. Denn für so eine Arbeit braucht es auch ein Personal, das sich für die Gewinnung und Begleitung von Engagierten verantwortlich fühlt.59 So bemängelt Ahrens, dass „das professionelle Ehrenamtsmanagement die geringste Rolle“60 in der Organisationsentwicklung von Gemeinden spielt und nur von einem Fünftel der befragten Gemeindemitglieder gewollt wird. Die Begleitung von Ehrenamtlichen durch die Kirche deckt demnach einen Grundbedarf gut ab, ist aber dennoch ausbaufähig.61 Dass die Kirche trotz Nachholbedarf bei liquiden Gelegenheitsstrukturen in der Gewinnung von Engagierten gut dasteht, zeigt die quantitativ-empirische Forschung: „[D]ie EKD-weite Statistik [weist] für die in den Gemeinden ehrenamtlich Mitarbeitenden aus, dass deren Zahl ausgehend von 1996 bis 2014 um 24 Prozent gestiegen ist auf inzwischen 1,1 Millionen, und das bei einem gleichzeitigen Rückgang der Kirchenmitglieder um 18 Prozent.“62

Neben dem hauptamtlichen und ehrenamtlichen Personal ist auch die Infrastruktur der Kirche ein zivilgesellschaftlich bemerkenswertes Qualitätsmerkmal. Indem in jedem Winkel der Bundesrepublik kirchliche Gebäude zu finden sind, kann Kirche flächendeckend und lokal als Akteurin der Zivilgesellschaft auftreten. Darauf weist auch Gerhard Wegner hin: „Das Gemeindehaus bietet Raum für vielfältige Initiativen, die in der einen oder anderen Form im Sozialraum vernetzt sein können. Immer wieder bieten die Gemeindehäuser auch Gastrechte für ursprünglich nicht kirchliche Aktivitäten, wozu klassisch Selbsthilfegruppen aller Art und ehrenamtliche diakonische Aktivitäten gehören.“63

Sehr bedeutsam für das Wesen der Kirche als Akteurin in der Zivilgesellschaft ist bei Wegner, dass Kirche die eigenen Räume nicht nur für die eigenen Anliegen nutzt, sondern sie auch anderen Initiativen bereitstellt. Noch klarer formuliert das Henning von Vieregge, der von einer „Nutzungserweiterung des Gemeindehauses zum Bürgerhaus“64 spricht. Diese organisationale Dynamik zwischen Kirche und Zivilgesellschaft beschreibt er griffig mit den Worten: „Kirche geht in die Zivilgesellschaft, Zivilgesellschaft geht in die Kirche.“65 So ein Einsatz 58 59 60 61 62 63 64 65

Ahrens 2017, 33–34. Vgl. dazu auch Behrendt-Raith 2018, 118–121. Ahrens 2017, 39. Vgl. hierzu das Best Practice Beispiel, das Ralf Kötter beschreibt und das sehr gut geeignet ist, Schule zu machen. Kötter 2014, 191–196. Vgl. ebenfalls Coenen-Marx 2010, 98–100. Ahrens 2017, 29. Wegner 2017, 168 und ganz ähnlich auch Fischer 2008, 95–96. Vieregge 2017, 19. Vieregge 2017, 19.

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kirchlicher Ressourcen kann dabei auf einen stetigen Bedarf in der Zivilgesellschaft reagieren. Denn mehr als 40 % aller zivilgesellschaftlichen Akteurinnen benötigen Räume, die zumeist von den Kommunen bereitgestellt werden.66 Wenn Kirche die eigene Infrastruktur hier öffnet, tun sich neue Gelegenheiten zur Vernetzung mit der Nachbarschaft auf. Die Chance, als Kirche eine positive Resonanz innerhalb der zivilgesellschaftlichen Arena zu erzielen, wächst dadurch. Als bspw. der Bedarf an solchen Orten während der Flüchtlingskrise 2015 wuchs, konnte Kirche mit ihren Räumen gezielt Abhilfe schaffen. Cornelia Coenen-Marx beschreibt diesen Mehrwert eher nebenbei: „Es waren und sind vor allem freiwillig Engagierte, die die Geflohenen willkommen heißen, ihnen Unterkunft und Kleidung, Sprachkurse und Begleitung im Alltag anbieten und dafür auf Strukturen und Räume der Kirche zurückgreifen.“67

Wenn Kirche als Organisation aber ihre Strukturen für unterschiedliche Akteure öffnet, setzt das auch ein Umdenken in der Mitgliedschaft voraus. Dabei hat schon die organisationale Betrachtung der Kirche im Rahmen der liquiden Moderne gezeigt, dass Mitgliedschaft nicht mehr binär als drin oder draußen funktionieren kann. Dafür sind die Loyalitäten und Identitäten unserer Zeit zu sehr im Wandel. Schon durch die Verwendung und Öffnung der eigenen Räume kann Kirche aber zeigen, dass sie die eigene historisch bedingte und finanziell lukrative Mitgliederlogik überschreitet. Wer Menschen unabhängig von der Kirchenmitgliedschaft die eigenen Räume öffnet, macht deutlich, dass hier z. B. an einem gemeinsamen Projekt gearbeitet wird, bei dem konfessionelle Grenzen in den Hintergrund treten. Kirche kann so als Gastgeberin auftreten und im eigenen Netzwerk Menschen organisational verankern, die sich selbst als kirchendistanziert verstehen. Behrendt-Raith beschreibt das etwa in ihrer empirischen Studie zur Gemeindediakonie: „Die Ehrenamtlichen [sc. die in den Projekten der Kirchengemeinde mitarbeiten] sind nicht nur Gemeindemitglieder und nicht alle evangelisch. Die Religionszugehörigkeit spielt bei der Mitarbeit […] weniger eine Rolle als die Verbundenheit zu dem Haus bzw. zur Gemeinde – ‚Das ist unser Haus‘ muss dabei aber nicht die formale Zugehörigkeit zur Kirchengemeinde beschreiben, sondern meint unter Umständen lediglich das subjektive Zugehörigkeitsgefühl zum Stadtteil oder zur Gemeinde.“68

Das stellt eine Schwächung der organisationalen Struktur der Kirche dar, sofern diese in erster Linie ihre Mitglieder bedenkt. Zugleich stärkt so eine Schwächung aber die Möglichkeiten, in der Zivilgesellschaft an Sozialkapital und positiver

66 Priemer et al. 2017, 32. 67 Coenen-Marx 2017, 91. 68 Behrendt-Raith 2018, 119.

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Resonanz zu gewinnen. Coenen-Marx beschreibt dieses Szenario sehr anschaulich: „Wo erlebbar wird, dass die Kirche offen ist für das Engagement der Vielen in den eigenen Reihen und dass sie das bürgerschaftliche Engagement in der gesamten Gesellschaft stärkt und unterstützt, da gibt es für alle Seiten viel zu gewinnen. Dabei sollte im Blick bleiben, dass diejenigen, die sich in den verschiedenen Arbeitsfeldern von Kirche und Diakonie engagieren – bei den Tafeln, in Hospizen, in der Gospelbewegung, als Kirchenkuratoren oder eben in der Flüchtlingsarbeit –, keineswegs alle engagierte Kirchenmitglieder sind. Manche hatten sich schon lange der Kirche entfremdet oder waren ohnehin nie Mitglieder und finden erst in ihrem Einsatz für andere neuen Kontakt. Insofern geht es bei der Begleitung Ehrenamtlicher auch darum, Engagierten Herberge und Heimat zu geben – dass Menschen sich aus einem Zugehörigkeitsgefühl oder aus familiären Traditionen engagieren, ist eben nicht mehr die Regel.“69

Um zivilgesellschaftliches Engagement im Rahmen von, in lockerer Anbindung zu oder in Kooperation mit einer zivilgesellschaftlichen Kirche wahrscheinlich zu machen, ist es also sicherlich hilfreich, den kirchlichen Mitgliedschaftsbegriff zu öffnen. Aus organisationslogischer und institutioneller Sicht ist es dabei auch gefährlich, sich aufgrund dieser Überlegungen von der bisherigen Mitgliedschaftspraxis ohne weiteres zu verabschieden. Schließlich basiert das finanzielle Konstrukt der Kirche darauf und auch die zivilgesellschaftlichen Vorhaben der Kirche werden dadurch erst möglich gemacht. Allerdings sollte der Mitgliedschaftsstatus in der zivilgesellschaftlichen Praxis keine Bedingung sein, um auf kirchliche Ressourcen zurückgreifen zu dürfen oder eben nicht. Neben so einer Aufweichung der Mitgliedschaft ist es ebenso hilfreich, auch die Anforderungen an das organisationale Programm im Sinne Grethleins zu überdenken. Demnach ist Kirche in der Kommunikation des Evangeliums zwar an ihre biblischen Grundtexte gebunden, allerdings nicht in einem streng normierenden Sinn. Zivilgesellschaftliches Engagement, zumal in organisationaler Anknüpfung an die Kirche, kann dabei durchaus als programmgemäße Kommunikation des Evangeliums empfunden werden. So ein Verständnis entlastet Kirche davon, sich über irgendwelche angeblichen Kernfunktionen zu definieren, die der Kommunikation des Evangeliums eine bestimmte z. B. gottesdienstliche Form aufdrücken wollen.70 Kommunikation des Evangeliums geschieht schließlich in ganz verschiedenen impliziten wie expliziten Modi, unter denen zivilgesellschaftliches 69 Coenen-Marx 2017, 98. 70 So z. B. Karle 2008a, 253. Dagegen weist Wegner zu Recht darauf hin, dass die selbstgenügsame Debatte um Kernfunktionen eine zivilgesellschaftlich wirksame Kirche unwahrscheinlich macht: „Im Kontext der deutschen Einigung setzten angesichts des fortschreitenden Resonanzverlustes von Religion und Kirche Fragen der Besinnung auf kirchliche Kernaufgaben und damit auf eher spezifisch religiöse Funktionen ein. Gemeinwesenarbeit wurde gut 20 Jahre lang in den Kirchen kaum noch diskutiert.“ Wegner, 55.

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Engagement eine angemessene Form ist.71 Es wäre für so ein zivilgesellschaftliches Netzwerk sicherlich eine Überforderung, eine Annäherung an die Kirche in Form von steigenden Gottesdienstbesuchen zu erwarten. Allerdings darf Kirche als Organisation durchaus darauf bauen, durch solche Kontakte eventuell verlorene Sympathien und somit auch Resonanz in der zivilgesellschaftlichen Arena zurückzugewinnen. Im folgenden Unterkapitel wird beleuchtet, warum es sich dabei nicht um eine leere Floskel, sondern um eine empirisch geerdete Hoffnung handelt.

4.2

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An dieser Stelle soll beleuchtet werden, inwiefern Kirche auf institutioneller Ebene als eine Akteurin der Zivilgesellschaft ausgemacht werden kann. Wie bestimmt also das, was konventionell als kirchlich gilt, die zivilgesellschaftliche Identität der Kirche? Hier kommt auch die rechtliche Gestalt der Institution Kirche zur Sprache, die ja als Körperschaft des öffentlichen Rechts ausgesprochen nah an den Staat heranrückt. Für die zivilgesellschaftliche Raumlogik ist dieser Aspekt offensichtlich interessant. Denn die Abgrenzung zur staatlichen Sphäre war für die Zivilgesellschaft immer wieder identitätsbildend. Das gefährdet dann – wenn auch eher formal – den zivilgesellschaftlichen Charakter der Kirche. Dieser wird auf institutioneller Ebene allerdings nicht nur durch Paragrafen, sondern mindestens genauso prägend durch konventionelle Meinungen und Erwartungshaltungen normiert. Dabei wird die Kirche auch in ihrer zivilgesellschaftlichen Rolle durch die Säkularisierung herausgefordert. Welche Handlungslogiken machen bei alledem die Institution Kirche aus? Hier wird das Gespräch mit KMU V. die Betrachtung erhellen. Die Frage dieses Unterkapitels berührt darüber hinaus natürlich auch organisationale Aspekte. Denn all die Strukturen, die irgendwann einmal organisational etabliert wurden, wirken früher oder später auch institutionalisierend auf das Kirchenverständnis. Dass mittlerweile zur Kirche auch die diakonischen Werke zählen und Teil des kirchlichen „this is how these things are done“ geworden sind, hat so einen hybriden organisational-institutionellen Charakter, der die Kirche als zivilgesellschaftliche Akteurin prägt.

71 Wobei Behrendt-Raith die empirisch geerdete Vermutung äußert, „dass gemeindediakonische Arbeit […] nicht selbstverständlich einen äquivalenten Stellenwert wie z. B. der Gottesdienst [hat].“ Dazu würde es dann organisationale Bemühungen brauchen: „Um dies zu erreichen, muss eine Gemeinde ihre Diakonie aktiv forcieren.“ Behrendt-Raith 2018, 113.

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Die raumlogische Verhältnisbestimmung von Staat und Zivilgesellschaft hat einem feindlichen und widerstrebenden Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft zumindest für die BRD eine Absage erteilt. Vielmehr geht es im Rahmen von dem, was Habermas deliberative Politik nennt, darum, dass das staatliche Zentrum und die zivilgesellschaftliche Peripherie gemeinsam an gesellschaftlichen Themen arbeiten. Aufgaben, Funktionen und Kompetenzen sind dabei allerdings so verteilt, dass man Staat und Zivilgesellschaft klar voneinander abgrenzen kann. In diesem Setting findet dann auch eine ausgewogene Positionierung der Kirche statt. So hat die Kirche juristisch gesprochen eine Gestalt, die als Körperschaft des öffentlichen Rechts der Struktur des Staates ähnelt. Sie hat damit das Recht, sich eine eigene kirchenrechtliche Struktur zu geben, Kirchensteuern zu erheben, Beamte zu beschäftigen, in Militär und Polizei seelsorgerlich aktiv zu sein, Schulunterricht an öffentlichen Schulen zu erteilen, nicht konkursfähig zu sein und in den öffentlich-rechtlichen Medien mit Sendezeiten ausgestattet zu werden. Ihr werden damit durch den Staat Kompetenzen, Aufgaben und Privilegien eingeräumt, die anderen Akteuren der Zivilgesellschaft so nicht gegeben werden. Das kann hauptsächlich durch Verweise auf ein besonderes und historisch gewachsenes Verhältnis plausibel gemacht werden.72 Nach der sozialistischen Diktatur in der DDR gilt das freilich nur eingeschränkt für Ostdeutschland. Auch wenn sich die unterschiedlichen Entwicklungen in Westund Ostdeutschland nicht auf formal-juristischer Ebene widerspiegeln und die Kirche auch in den Neuen Bundesländern als Körperschaft des öffentlichen Rechts aufgestellt ist, kann man für den Osten der Republik keineswegs von einem durchgehend kooperativen Miteinander von Kirche und Staat sprechen.73 Die spannungsreiche Beziehung zwischen Staat und Kirche in der DDR hat hier zwar keine raumlogische Relevanz, um Kirche z. B. mit noch mehr Nachdruck in der Zivilgesellschaft zu verorten. Schließlich braucht es kein besonders antagonistisches Verhältnis zum Staat, um als zivilgesellschaftliche Institution zu gelten. Dennoch ist diese folgenreiche Episode auch für das Verhältnis von Kirche und Staat bemerkenswert, gerade weil sie gerne ausgeblendet wird, wenn man die Staatsnähe der Kirche kritisiert. Für die Kirche ist ihre aktuelle rechtliche Absicherung und Privilegierung durch den Staat zivilgesellschaftlich jedenfalls äußerst relevant. So wird bspw. die staatlich zugesicherte Präsenz in Medien oder Bildungseinrichtungen genutzt, um gesellschaftliche Themen aus kirchlicher Perspektive zu diskutieren.74 Dabei gehen mit den zugestandenen Rechten natürlich auch Pflichten gegenüber dem Staat einher, wie z. B. eine Gemeinwohlorientierung und die Pflege der Demokratie. Fischer kann diese enge Koopera72 Vgl. z. B. die Darstellungen zur deutschen Entwicklung in Roßteutscher 2009, 125–216. 73 Siehe Karstein et al. 2006. 74 Vgl. z. B. Schlag 2012b, 67.

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tion von Staat und Kirche als eine „Fraternität von Klerus und Politik, von Kirchenamt und Regierungsamt“ bezeichnen, die „gewisse feudalgesellschaftliche Züge“ hat.75 So stellt er die Kirche sehr deutlich in den staatlichen Bereich. Das passt dann auch zu seiner Argumentation, nach der die Kirche derzeit nicht gerade als zivilgesellschaftliche Akteurin, sondern eher als staatsanaloge Behörde auftritt. Weniger polemisch zeigt sich da die Einschätzung von Strachwitz. Auch er charakterisiert das Verhältnis der Kirchen als außerordentlich staatsnah: „Die Bindungen zwischen dem Staat und […] den Volkskirchen bilden ein so dichtes, historisch gewachsenes Ge¯echt, dass mit Recht gefragt werden kann, ob die verfassungsrechtlich gebotene Trennung von Kirche und Staat tatsächlich vollzogen ist.“76

Damit macht er zwar auf verfassungsrechtliche Anfragen aufmerksam und hält darüber hinaus auch daran fest, Kirche eher staatsnah als etwa zivilgesellschaftsorientiert zu verorten. Aber es liegt Strachwitz trotzdem fern, Kirche aufgrund ihrer Raumlogik aus der Zivilgesellschaft auszusortieren: „Es geht […] nicht darum, den Kirchen ihre Zugehörigkeit zur Zivilgesellschaft nur bei entschiedener Lockerung ihrer Bindungen an den Staat zuzubilligen. Das wäre letztlich unsinnig.“77 Dieses Kopfschütteln über raumlogische Einsprüche gegen die Kirche als Akteurin der Zivilgesellschaft begründet Strachwitz damit, dass allein die rechtliche Privilegierung aus der Kirche noch kein staatliches Organ macht.78 Schließlich ist die Kirche auch als eine Körperschaft des öffentlichen Rechts autonom und nicht etwa ein verlängerter Arm des Staates. Umgekehrt meldet auch die Kirche kein Recht auf die Steuerung des Staates an: „Von besonderer Bedeutung ist, daß der öffentlich-rechtliche Charakter, der üblicherweise die Einbindung in die Hoheitsverwaltung des Staates nach sich zieht, im Fall der Kirchen eine Ausnahmedefinition erfährt, indem den Kirchen zugleich […] das Selbstbestimmungsrecht in ihren inneren Angelegenheiten zugebilligt wird.“79

Das betrifft übrigens sowohl die Organisationsstruktur als auch das grundsätzliche Selbstverständnis der Kirchen.80 Strachwitz begründet seine Zuordnung der

75 76 77 78 79 80

Fischer 2004, 103. Strachwitz 2015, 28. Strachwitz 2009, 348. Vgl. auch Strachwitz 2017. Strachwitz 2014, 153. So spricht die EKD im Zuge ihrer Rolle in den Neuen sozialen Bewegungen der 1980er Jahre von einer kritischen Solidarität innerhalb der Demokratie einerseits und einer Begleitung des Staates andererseits. Vgl. die folgenden Zitate: „Um dieser Aufgaben willen trägt auch die christliche Annahme der freiheitlichen Demokratie notwendigerweise den Charakter kritischer Solidarität mit einer verbesserungsfähigen, aber auch verbesserungsbedürftigen Ordnung.“ Evangelische Kirche in Deutschland 1986, 17. „Die Kirche begleitet den Staat in seinem Auftrag und die Christen in ihrer politischen Existenz; aber sie tritt nicht an die Stelle des

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Kirche zur Zivilgesellschaft aber nicht nur raumlogisch, sondern insbesondere auch handlungslogisch: „Vom subjektiven Gemeinwohlinteresse und der Orientierung auf selbst gewählte Grundsätze und Ziele über die Autonomie der Entscheidungen bis zum Verzicht auf hoheitliche Gewalt, Gewinnerzielungsabsicht und Beteiligung der Mitglieder an eventuellen finanziellen Überschüssen weisen die Kirchen alle zentralen Merkmale einer zivilgesellschaftlichen Organisation auf.“81

Die grundsätzliche Nähe von Staat und Kirche ist dabei mehr als nur eine formaljuristische Äußerlichkeit. So spricht auch Wegner von einem „Denken im Protestantismus, der nach wie vor über seine klassische Staatsfixiertheit nicht immer hinauskommt.“82 Damit geht dann auch Wegners Einschätzung einher, dass die Kirche eben nicht auf all ihren organisationalen Ebenen als Akteurin der Zivilgesellschaft angesehen werden kann.83 Das stellt für Wegner allerdings kein grundsätzliches Problem dar. So kann er aufgrund der zahlreichen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten auf kirchengemeindlicher Ebene auch bei der Kirche von einer zivilgesellschaftlichen Akteurin sprechen. Nur eben nicht in toto.84 Die raumlogischen Einschätzungen von Fischer, Strachwitz und Wegner stimmen also insofern überein, als sie Kirche und Staat nah beieinander sehen. Auch wenn sie daraus unterschiedliche Schlüsse zur zivilgesellschaftlichen Bewertung der Kirche ziehen, sind sie sich darüber hinaus einig, dass diese staatsnahe Konstellation auf tönernen Füßen steht.85 So warnt Fischer im Rahmen des demografischen Wandels und der Säkularisierung davor, sich zu sehr auf die Staatsnähe zu verlassen: „Spätestens dann, wenn der Anteil der Kirchenmitglieder in Deutschland unter 50 Prozent gesunken ist, wäre es an der Zeit zu prüfen, ob die auf Verträgen zwischen Staat und Kirchen beruhenden Privilegien […] weiterhin in der bisherigen Form bestehen bleiben können.“86

Strachwitz rät der Kirche ebenfalls, die eigene Bindung an den Staat zu überprüfen. Er argumentiert dabei allerdings weniger mit dem Druck, den die Sä-

81 82 83 84 85 86

Staates und nimmt den Christen nicht ihre Verantwortung als Bürger ab.“ Evangelische Kirche in Deutschland 1986, 45. Strachwitz 2014, 150. Ganz ähnlich argumentiert er auch ein Jahr später in seiner Publikation Strachwitz 2015, 28. Wegner 2017, 168. Was wohl auch der Einschätzung von Schlag entspricht, der davon abrät, Kirche vor dem Hintergrund ihrer zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit als zu staatsnah und zivilgesellschaftlich bedeutungslos einzuschätzen. Vgl. Schlag 2012b, 31. Vgl. Wegner 2017, 172. In diese Richtung argumentiert, mit starkem Bezug zur kirchlich verfassten Diakonie, auch der Theologe Traugott Jähnichen. Vgl. Jähnichen 2012, 20–23. Fischer 2004, 202.

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kularisierung auf das Verhältnis von Staat und Kirche ausbaut, sondern mit dem eigenen Auftrag und Selbstverständnis der Kirchen. Dieses, so Strachwitz, kommt im zivilgesellschaftlichen Bereich wesentlich angemessener zur Entfaltung als im staatlichen Raum. Denn „Kirche und Staat haben heute über ganz andere Themen zu streiten als in der Zeit, als die privilegierte Stellung der Kirchen begründet wurde.“87 Auch eine formale Annäherung an zivilgesellschaftlich gewöhnlichere Strukturen in Mitgliedschafts- und Finanzmodellen könnte für die Kirche ein angemessener und gangbarer Weg sein. Das sieht auch Wegner so, wenn er mit Genugtuung beobachtet, dass sich Kirchengemeinden zunehmend von einem eher staatskirchlichen Selbstverständnis emanzipieren und ihre Stellung in der lokalen Zivilgesellschaft behaupten: „Mit diesen Trends entwickeln sich Kirchengemeinden deutlich hin zu Partnern in der Zivilgesellschaft, gehen Kooperationen mit anderen ein und entwickeln praktisch vor Ort Strukturen, die mit dem staatskirchlichen Erbe nichts mehr zu tun haben, sondern Kirche als Kirche in der Gesellschaft und nicht mehr als Kirche der Gesellschaft praktisch gestalten.“88

Dabei begründet Wegner diese Dynamik, indem er die Argumente von Fischer und Strachwitz zusammenführt. Er macht sowohl die Dynamiken der Säkularisierung als auch die Suche nach einem Ort, der dem kirchlichen Selbstverständnis entspricht, für die Bewegung hin zur Zivilgesellschaft verantwortlich.89 Die Hinweise von Wegner und Strachwitz zum Selbstverständnis der Kirche führen wiederum zu der Frage, inwiefern sich Kirche als zivilgesellschaftliche Institution konstituiert. Denn ihr eigenes Selbstverständnis ist nicht nur Folge irgendwelcher Entscheidungen auf organisationaler Ebene. Das institutionelle Programm der Kirche unterliegt weniger solchen Beschlüssen, sondern setzt sich eben auch aus konventionellen Erwartungen und Meinungen zur Kirche zusammen.90 Diese wiederum sind für die zivilgesellschaftliche Identität der Kirche von fundamentaler Bedeutung. Dabei gibt es nach KMU V. unterschiedliche Erwartungen bei kirchlich engagierten Mitgliedern, nicht engagierten Mitglie87 88 89 90

Strachwitz 2009, 348. Wegner 2017, 171. Vgl. Wegner 2016. Im Übrigen gibt es auch Stimmen, die vor einer Überhöhung eines solchen auf Mehrheitsmeinung basierenden Programms warnen und die kirchliche Ausrichtung stattdessen an ein theologisch begründetes Programm binden wollen. Exemplarisch sei dafür die Position von Holger Ludwig benannt, der schreibt: „[D]ie Kirche [sc. darf] die Formulierung ihres ‚Programms‘ nicht von der Akzeptanz weder ihrer Mitglieder noch des gesellschaftlichen Diskurses abhängig machen, denn die ‚Kirche ist ihrem Auftrag, nicht der gesellschaftlichen Akzeptanz verpflichtet.‘“ Diese Position hat eine hohe theologische Dignität, schließlich bemüht sie sich um die theologischen Wurzeln der Kirche. Allerdings lässt sich das Wesen der Kirche nicht aus dogmatischen Erwägungen heraus normieren. Dazu sind die institutionellen Dynamiken zu wirkmächtig. Ludwig 2010, 397–398.

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dern und den zahlreichen Konfessionslosen. Hier sind für die Institution Kirche natürlich die Haltungen derer, die an dem institutionellen „this is how these things are done“ durch ihr eigenes Tun mitwirken, von besonderem Interesse. Schließlich wirken sie durch die von Berger/Luckmann beschriebenen Mechanismen der Sanktionierung und Normierung unmittelbar an der Institution Kirche mit. Aber auch die kirchlich distanzierteren Menschen haben daran als eher externe Stimmen noch beträchtlichen Anteil. Für die Institution Kirche ergibt sich dabei ein markant zivilgesellschaftliches Profil: „Sowohl Evangelische als auch Konfessionslose erwarten in hohem Maße soziales Engagement von der evangelischen Kirche. Dies wurde in allen KMUs seit 1972 immer wieder bestätigt. Seit 1992 fanden in den gesamtdeutschen Umfragen Aussagen wie ‚Arme, Kranke und Bedürftige betreuen‘ und ‚sich um Menschen in sozialen Notlagen kümmern‘ als mögliche Felder kirchlichen Handelns höchste Zustimmungsraten. Bei den Konfessionslosen sind sie 2012 zudem die einzigen mehrheitlich zustimmungsfähigen Aussagen hinsichtlich dessen, was die evangelische Kirche tun sollte. Es besteht also eine hohe Erwartungshaltung an ein entsprechendes ‚diakonisches‘ Handeln der Kirche.“91

Dabei ist insbesondere die Gemeinwohlorientierung der Kirche gefragt. Das Engagement gegen die sozialen Ungerechtigkeiten, die in der liquiden Moderne so dominant wie subtil am Werk sind, sehen Konfessionslose wie auch Protestantinnen als zentrale Wesensmerkmale der Kirche. Dass Kirche zudem eine gesellschaftliche Wertevermittlerin ist, wird vor allem bei ihren Mitgliedern und immerhin knapp der Hälfte aller Konfessionslosen angenommen. Solche Erwartungshaltungen sind die eine Seite der zivilgesellschaftlichen Medaille kirchlicher Institution. Doch auf der anderen Seite erwarten wesentlich weniger Mitglieder und noch weniger Konfessionslose, dass Kirche diesem Anspruch auch gerecht wird: „Allerdings decken sich die allgemein hohen und konkreten Erwartungen an den diakonischen Einsatz der Kirche nur zum Teil mit der Beurteilung kirchlicher Leistungsfähigkeit in Bezug auf soziale Probleme. Während eine überwältigende Mehrheit aller Befragten der evangelischen Kirche wesentliche Beiträge zur Beantwortung religiöser Fragen zutraut, geben das hinsichtlich sozialer Probleme 55 % der Evangelischen und lediglich 15 % der Konfessionslosen an.“92

Es gibt also einen erheblichen Unterschied zwischen dem sozialgerechten Anspruch an die Kirche einerseits und einem insgesamt wesentlich geringen Zutrauen andererseits, dass die Kirche diesem Anspruch auch gerecht wird. Vermutlich stimmen also einige Menschen in Kirche und nichtkirchlicher Gesellschaft der Beobachtung von Fischer zu, dass Kirche zwar einen zivilgesell91 Rat der EKD 2014, 93. 92 Rat der EKD 2014, 94.

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schaftlichen Auftrag hat, diesem aber nicht immer nachkommt. Der Auswertungsband zu KMU V. macht darüber hinaus darauf aufmerksam, dass sowohl die Erwartung als auch das Zutrauen in die zivilgesellschaftliche Wirksamkeit der Kirche bei den kirchlich Engagierten höher liegt als bei den eher distanzierten Kirchenmitgliedern. Ja mehr noch, die Mehrheit der Kirchenmitglieder hält an der Mitgliedschaft fest, weil sich die Kirche gegen soziale Missstände einsetzt.93 Damit hat die Perspektive, dass Kirche ihrem sozialen Anspruch nur ungenügend nachkommt, nicht das letzte Wort. Die Handlungslogik der Institution Kirche wird durch diese institutionelle Verortung also ausgesprochen stark auf ihre Gemeinwohlorientierung hin ausgerichtet. Ganz anders sieht das jedoch bei dem politischen Engagement der Kirche aus. Hier halten es weniger als die Hälfte der Mitglieder und nicht einmal jeder Fünfte der Konfessionslosen für angemessen, wenn sich die Kirche zu politischen Grundfragen äußert.94 Das wird die sich immer wieder auch politisch inszenierende Praxis der Kirche kaum verändern, zeigt aber, dass die Kirche sich institutionell nicht mehrheitlich politisch versteht. Diese Aussage ist freilich mit Vorsicht zu genießen, denn aus der quantitativen Empirie der KMU kann unmöglich ersichtlich werden, was von den Befragten als politisches Handeln verstanden wird.95 Auch wenn es hier in der kirchlichen Handlungslogik unterschiedliche Gewichtungen von politischem und sozialem Engagement gibt, wird doch ein ausgesprochen gemeinwohlorientiertes institutionelles Programm der Kirche erkennbar. Ihr ist damit ein zivilgesellschaftliches Profil aufgegeben. Kirche setzt sich als zivilgesellschaftliche Institution aber nicht nur aus den zivilgesellschaftlich relevanten Erwartungen zusammen, die mehrheitlich an sie gerichtet sind. Wichtiger ist hier natürlich die Frage, inwiefern Kirche zivilgesellschaftliche Strukturen so auf Dauer stellt, dass sie unhinterfragt wirksam sind. Das hebt dann wiederum auf die organisationalen, interaktionalen und inszenierenden Strukturen ab, die für die Zivilgesellschaft prägend sind. Dazu zählen etwa die bereits auf organisationaler Ebene besprochenen Strukturen wie z. B. die mit der Kirche verbundenen diakonischen Einrichtungen oder Kindertagesstätten, die sie beständig unterhält. Daneben tritt Kirche auch als zivilgesellschaftliche Institution auf, wenn in ihren Netzwerken, Gruppen und Kreisen alltäglich zivilgesellschaftliche Themen verarbeitet werden. Etwa wenn sich eine Konfirmandengruppe oder ein Posaunenchor trifft und dabei auch über gesellschaftspolitische Themen spricht. Kirche ermöglicht hier schließlich eine dauerhafte Anlaufstelle für Menschen und deren Themen. Sie wird zudem auch 93 Vgl. Spieß und Wegner 2015, 53–54. 94 Rat der EKD 2014, 93. 95 In Anknüpfung an die raumlogische Diskussion könnte man dieses Ergebnis von KMU V. auch als institutionellen Fingerzeig interpretieren, sich kirchlicherseits nicht zu nah am Zentrum politischer Macht zu verorten.

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als zivilgesellschaftliche Institution wirksam, wenn ihr Personal selbstverständlich zu politischen Gesprächskreisen und zivilgesellschaftlichen Initiativen vor Ort eingeladen wird. Wo sich ein Dekan bspw. auf einer Podiumsdiskussion zu einer geplanten Windkraftanlage äußern soll, einfach weil die Stimme der Kirche hierzu gängigerweise eingeholt wird, wäre das der Fall. Hier wird bereits greifbar, dass die Säkularisierung auch die zivilgesellschaftliche Seite der Institution Kirche herausfordert. Denn in dem Maß, in dem sich die selbstverständliche religiöse Prägekraft der Kirche verflüssigt, wird es allgemein auch weniger einsichtig, warum sich die Kirche zu nicht genuin religiösen Themen äußern sollte. Im Zeitalter multipler Säkularitäten kann so eine Podiumsdiskussion z. B. auf dem Dorf noch unhinterfragt möglich und im urbanen Raum schon längst nicht mehr anschlussfähig sein. Die zivilgesellschaftliche Stimme der Kirche wird wohl gesamtgesellschaftlich weniger Widerhall finden, ganz gleich, ob das wegen einer populärer werdenden Religion oder der Säkularisierung so ist. Dieses Umfeld stellt die Institutionsartigkeit der Kirche, wie bereits im kirchentheoretischen Teil gezeigt, infrage. Je mehr Menschen ihre individuellen Erwartungen und heterodoxen Haltungen in die Kirche eintragen, umso unkonventioneller und umso weniger eindeutig prägt sie als Institution. Eine theologisch wie auch zivilgesellschaftlich eindeutige Profilierung wird ihr vor diesem Hintergrund immer schwerer fallen. Im Rückgriff auf Wolfgang Huber versucht Thomas Schlag diesen Bedingungen durch sein Verständnis einer öffentlichen und intermediären Kirche zu begegnen.96 Die Vermittlung von Einzelinteressen, kirchlichen Deutungsangeboten, anderen zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und öffentlichen Debatten wird für die Kirche immer wichtiger, wobei es mit steigender Themenvielfalt auch schwieriger wird, sich „an einer möglichst klaren und profilierten theologischen Grundlegung“97 zu orientieren. Für Schlag ist klar, dass Kirche den Herausforderungen nur als liquide Institution begegnen kann, dass sie also nicht mit eindeutig normierenden Inhalten und Formen, sondern als „prinzipiell auf Partizipation hin ausgelegte und angewiesene Kommunikations- und Diskursgemeinschaft“98 auftreten kann. Aber selbst wenn Kirche als zivilgesellschaftliche Institution liquider und offener wird, bedeutet die Gemengelage der Säkularisierung trotzdem, dass Konflikte mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteurinnen wahrscheinlicher werden.99 Denn die Zunahme an Alternativen und Optionen betrifft ja nicht nur die Kirche, sondern auch den gesamten zivilgesellschaftlichen Bereich. Dort finden sich dann nicht nur wohlgesonnene oder der Kirche indifferent eingestellte Akteure, sondern zu96 97 98 99

Vgl. Schlag 2012b, 45–48. Schlag 2012b, 5. Schlag 2012b, 57. Vgl. Karstein et al. 2006, 444–445.

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nehmend auch Initiativen, die die Kirche grundsätzlich ablehnen. Die Herausforderungen, die sich der zivilgesellschaftlichen Institution Kirche stellen, sind damit immens. Während es einerseits eine hohe institutionelle Erwartung an ein fürsorgliches und gemeinwohlorientiertes kirchliches Profil gibt, geht zugleich die gesamtgesellschaftliche Prägekraft der Kirche in einem immer liquideren Umfeld zurück. Diese Situation anzunehmen und sich auf Kirchlichkeit unter solchen sich im Wandel befindenden Vorzeichen einzulassen, ist dabei das Credo von Schlag. Und er steht mit dieser Haltung keineswegs allein da. So schreibt auch Coenen-Marx: „Angesichts der wachsenden Säkularisierung wird es darauf ankommen, auch solche Menschen [sc. für kirchlich-zivilgesellschaftliches Engagement] zu gewinnen, die nicht schon kirchlich sozialisiert sind.“ Dabei geht es übrigens weder Schlag noch Coenen-Marx darum, die Vorzeichen der Säkularisierung durch eine stärkere Werbung um neue Mitglieder umzukehren. Vielmehr bedeutet es, Zustimmung und Unterstützung nicht mehr nur unter den eigenen Mitgliedern zu suchen, sondern sich in einer pluralistischer werdenden Gesellschaft auch für die Menschen außerhalb der eigenen Weltanschauungen zu öffnen. Dieser vielversprechende Umgang mit den institutionellen Herausforderungen einer zivilgesellschaftlichen Kirche führt dann zur Ebene der Interaktion. Schließlich entfalten und wandeln sich Institutionen erst im interaktionalen Rahmen.

4.3

Kirche als zivilgesellschaftliche Interaktion

Kirchliche Interaktion ist bereits zivilgesellschaftliche Interaktion, da hier Sozialkapital aufgebaut wird. Es stellt sich aber die Frage, ob von diesem Sozialkapital die kirchlich angebundenen Mitglieder profitieren, oder aber auch Menschen, die der Kirche eher distanziert gegenüberstehen. Man kann daher fragen, inwiefern die zivilgesellschaftliche Interaktion innerhalb und außerhalb der kirchlichen Organisation zum Tragen kommt. Für die Bewertung der Kirche als zivilgesellschaftliche Akteurin ist die Beantwortung dieser Frage maßgeblich. Schließlich hängt davon ab, inwieweit die Kirche gemeinwohlorientiert ist oder eben stärker mit sich selbst beschäftigt ist. Bevor dieser Frage nachgegangen wird, bietet sich zuvor noch eine raumlogische Betrachtung der Kirche an, die die Verwobenheit von Kirche und Privatsphäre untersucht. Zivilgesellschaft und Privatsphäre wurden in der raumlogischen Analyse voneinander unterschieden. Die Zeiten in denen allein der intime Bereich aus Familie und Freunden Ort zivilgesellschaftlichen Wirkens jenseits staatlicher Kontrolle sein konnte, sind wenigstens auf dem Gebiet der BRD vorbei. So ist bei weitem nicht alles, was im privaten Bereich geschieht, für die Zivilgesellschaft

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relevant und umgekehrt. Zwar nehmen viele zivilgesellschaftliche Themen und Initiativen ihren Anstoß an privaten Erlebnissen, allerdings entfalten sie sich hauptsächlich erst in der Auseinandersetzung zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit. Dennoch liegt zwischen privatem und öffentlichem Engagement ein grauer Bereich, der zivilgesellschaftlich bedeutsam und zugleich nicht allgemein zugänglich ist. Um also auch familiären und nachbarschaftlichen Einsatz zivilgesellschaftlich würdigen zu können, wurde hier der Forderung aus der empirischen Forschung nachgegangen, die konzeptionelle Trennung zwischen Privatsphäre und Zivilgesellschaft nicht starkzumachen, sondern durchlässig zu skizzieren.100 So kann man sagen, dass die Zivilgesellschaft zwar einen eher öffentlichen Charakter hat, aber auch in der Privatsphäre stattfindet. Für die Kirchentheorie – zumal auf interaktionaler Ebene – ist diese Ortsbestimmung der Zivilgesellschaft ausgesprochen wesensnah. Denn Kirche lässt sich nicht entweder als öffentlich oder eben privat charakterisieren. Oft genug findet sie in beiden Bereichen oder in der Schnittstelle von Öffentlichkeit und Privatsphäre statt. So hat Kirche einerseits bedeutsame öffentliche Anteile. Sie ist Körperschaft des öffentlichen Rechts und ist damit als öffentliche Einrichtung auch in eher säkularen Bereichen wie Schulen, Justizvollzugsanstalten, dem Militär oder den öffentlich-rechtlichen Medien präsent. Kirche kommuniziert dort immer wieder auch öffentlich. Ganz ähnlich verhält es sich auch mit Gottesdiensten, die zumeist allgemein zugänglich sind und damit einen öffentlichen Charakter haben. Zugleich lebt Kirche auch in privaten Netzwerken auf. Bei einander nahestehenden Menschen, so eine Einsicht aus KMU V., kommen Religion, Glaube und Kirche eher zur Sprache als bei Gesprächen im (halb)öffentlichen Leben.101 Zumal biografische Meilensteine oft noch kirchlich und im engen familiären Rahmen gefeiert werden. Für die Kirche ist es eine bleibende Herausforderung, sich nicht auf eine rein öffentliche oder eben private und eher intime Gestalt zu konzentrieren, sondern beides zu verbinden. Folgt man der Einschätzung des Praktischen Theologen Kristian Fechtner, dann geschieht das, indem man als Kirche keine vereinskirchlich-exklusive Klubmentalität aufbaut, sondern öffentlich und nahbar auftritt. Das geschieht „durch die Kirchengebäude als symbolische Orte, die Pfarrpersonen als Gesicht der Kirche, durch biographisch anschlussfähige gottesdienstliche Ereignisse und diakonische Aufgaben der Kirche im Gemeinwesen.“102 Hier liegt keineswegs eine Absage an gesellige Formen von Kirche vor, die ja schnell zu privaten Angelegenheiten werden. Es bedeutet aber, solche geselligen Formen bei Gottesdiensten, Festen und anderen öffentlichen Anlässen sowohl innerhalb der besonders engagierten 100 Vgl. Klatt 2014, 196. 101 Vgl. Plüss 2015, 440–441. 102 Fechtner 2015, 117.

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Kirchenmitglieder als bonding einzuüben, als auch sie der Allgemeinheit im bridging zugänglich zu machen.103 Indem Kirche also sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum auftritt, hat sie auch zu den maßgeblichen Bereichen der zivilgesellschaftlichen Arena Zugang. Während die Zivilgesellschaft aber ihre Rolle in und für die Öffentlichkeit betont und den privaten Bereich eher vernachlässigt, findet Kirche in beiden Bereichen statt. Für die Kirche liegt darin eine zivilgesellschaftliche Besonderheit. Zumindest wenn es ihr gelingt, Engagement im privaten Bereich anzustoßen und so zu organisieren, dass es öffentlich zur Geltung kommt. Dann kann sie durch ihre bereichsübergreifende Art zwischen Privatem und Öffentlichem sogar helfen, eine wichtige Funktion in die Zivilgesellschaft einzutragen. Schließlich fehlen der öffentlichen Wahrnehmung Anstöße zu notwendigen Debatten und gesellschaftlichen Veränderungen, wenn sie von den Leistungen, Herausforderungen und Problemen eher privaten Engagements etwa in der häuslichen Pflege von Angehörigen oder auf Spielplätzen in Hinterhöfen nichts mitbekommt. Wenn im kirchlichen Netzwerk dagegen solche Bereiche wahrgenommen, diskutiert und bearbeitet werden, dann bereichert sie so durch ihren raumlogischen Zugang zur Privatsphäre auch die Zivilgesellschaft. Kirchliche Interaktion wirkt aber nicht nur auf raumlogischer Ebene als Stabilisatorin der Zivilgesellschaft. Auch auf handlungslogischer Ebene kann man für die Kirche eine zivilgesellschaftliche Lanze brechen. Schließlich zeigt die Wahrnehmung von Kirche als Interaktion, dass sie maßgeblich zur Gewinnung von gesellschaftlichem Sozialkapital beiträgt. So wurde in der Untersuchung zur Kirche als Interaktion bereits festgehalten, dass Kirche in Netzwerkstrukturen kommuniziert und dabei engagierte Ehren- wie Hauptamtliche besondere Knotenpunkte darstellen. Sie haben Kontakt zu unterschiedlichen kirchlichen Gruppen und Kreisen und können so Menschen oder Themen miteinander gut verbinden. In solchen Netzwerken entsteht Sozialkapital. Das allein ist also schon ein wertvolles zivilgesellschaftliches Gut. Denn so werden nicht nur die individuellen social skills der Teilnehmenden gestärkt, sondern Sozialkapital fördert auch den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt. Wer sozial eingebunden ist, neigt eher dazu, seinen Mitmenschen zu vertrauen.104 Gert Pickel konnte mit einem Forscherinnenteam in diesem Zusammenhang etwa nachweisen, dass sich Kirchentagsbesucher überdurchschnittlich oft im kirchlichen Netzwerk enga103 Vgl. hier auch Kretzschmar et al. 2015, 63. 104 „[…] social capital greases the wheels that allow communities to advance smoothly. Where people are trusting and trustworthy, and where they are subject to repeated interactions with fellow citizens, everyday business and social transactions are less costly. There is no need to spend time and money making sure that others will uphold their end of the arrangement or penalizing them if they don’t.“ Putnam 2001, 312.

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gieren und sie damit einhergehend auch ein überdurchschnittlich ausgeprägtes Vertrauen in fremde Menschen haben.105 Man kann also mit einigem Recht argumentieren, dass die Kirche auf diese Art bereits eine wohltuende Ressource für die Zivilgesellschaft darstellt. Dieser Befund muss allerdings nicht nur wegen seiner etwas pauschalen Feststellung, dass kirchliche Interaktion potenziell Vertrauen stiftet und der Gesellschaft solches Vertrauen gut tut, reflektiert und bestätigt werden. Denn die Gewinnung von Sozialkapital allein macht noch keine gemeinwohlorientierte Akteurin der Zivilgesellschaft. So gibt es dann auch Stimmen, die ein nicht ganz so allgemeinnütziges Bild der zivilgesellschaftlichen Interaktion von Kirche zeichnen. Weil er seine Sicht am pointiertesten formuliert, muss hier an erster Stelle wieder Ralph Fischer genannt werden. Hinter seiner Kritik an kirchlicher Interaktion steht eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Sozialkapital. Denn Bonding und Bridging sind ihm nach nicht grundsätzlich positiv: „Das dem Sozialkapital innewohnende Potential ist ergebnisoffen, seine Effekte auf ein demokratisches Gemeinwesen sind stets neu zu erkunden und die Frage, ob es tatsächlich für die Gesamtheit Gemeinwohl erbringt, ist ständig neu zu beantworten.“106 Damit stimmt er in die zuvor bereits dargestellte Kritik von Jeffrey Alexander an Robert Putnams Sozialkapitalkonzept mit ein. Sozialkapital muss, um zivilgesellschaftlich förderlich zu wirken, gemeinwohlorientiert sein. Gerade für die Kirche zeichnet Fischers Befund dabei eine Skizze, die der eingangs dargestellten These von der Gemeinnützigkeit kirchlicher Interaktion widerspricht: „[D]ie starke Binnenorientierung der Kirchen auf die eigene Klientel bzw. auf den Teil derer, die von ihren derzeitigen Angeboten angesprochen werden, erlaubt dem Gemeinwesen nur einen geringen Nutzen, insbesondere dort, wo Bevölkerungsgruppen aufgrund kirchlicher Exklusionsmechanismen der Zugang zu kirchlichen Angeboten erschwert oder verhindert wird.“107

Wenn die Kirchentagsbesucherinnen, die ja zu dem von Fischer benannten „Klientel der kirchlich Angesprochenen“ gehören sollten, über ein erhöhtes Vertrauen auch in – bildlich gesprochen – Fremde verfügen, ist das für sie selbst schön und gut. Den Fremden würde aber nach Fischers Kritik solches Vertrauen nur entgegengebracht. Diese selbst hätten dabei allerdings nicht unbedingt Zugriff auf die kirchlichen Netzwerke, in denen solches Vertrauen auch generiert wird. Die kirchlichen Netzwerke sind dieser Kritik nach also nur wenigen Menschen bestimmter Milieus zugänglich. Auf die gleiche Problematik, wenn auch nicht für die Kirche im Konkreten, sondern für religiöse Organisationen im Allgemeinen, macht auch Roßteutscher aufmerksam: 105 Vgl. Pickel et al. 2013. 106 Fischer 2004, 87. 107 Fischer 2004, 205.

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„Ein nicht unerheblicher Teil des partizipativen Vorteils religiöser Organisationen kommt der Gesamtgesellschaft nicht zu gute. In religiösen Organisationen wird viel partizipiert und viel ehrenamtliche Arbeit geleistet, aber dieses Engagement richtet sich vor allem auf gruppeninterne Ziele. Menschen außerhalb der Gruppe profitieren davon kaum oder gar nicht. Auch die Sympathie für Andere macht gern an den Gruppengrenzen halt. Nach außen wird abgegrenzt und sozial segmentierten Gesellschaften Vorschub geleistet.“108

Wenigstens Roßteutschers letzter Kritikpunkt an der Sympathie gegenüber anderen, also nicht kirchlichen Menschen, darf mit Pickels Studie zum Vertrauen von Kirchentagsbesuchern gegenüber Fremden für einige Teile der kirchlich Engagierten in Zweifel gezogen werden.109 So weist Pickel darauf hin, dass wenigstens die meisten Kirchentagsbesucher auch Menschen aus anderen Religionen einiges an Vertrauen entgegenbringen.110 Doch auch hier bleibt die von Fischer aufgeworfene Frage bestehen, inwiefern das kirchliche Engagement an den Kirchenmauern halt macht. Die Empirie gibt hier weiterführende Hinweise. So zeigt eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, dass zahlreiche Ehrenamtliche in Kirchengemeinden mehrere Aufgaben und Ämter gleichzeitig an sich binden: „Menschen, die ‚nur‘ eine einzige Aufgabe in der Gemeinde übernommen haben, stellen eine Minderheit dar! […] In dem Mehrfachengagement liegt auch eine gewisse Tragik. Weniger darin, dass die bereits Engagierten völlig überlastet wären – dies lässt sich empirisch gerade nicht belegen –, sondern dass die Chance verschenkt wird, den Kreis der Engagierten zu vergrößern. Denn umso mehr Menschen die Möglichkeit zur Mitwirkung haben, desto stetiger ist das Teilnahmeverhalten und vitaler das Gemeindeleben.“111

Daraus kann man nicht unbedingt schließen, dass das Engagement in seinen Zielen nicht auch über die organisationalen Grenzen der Kirche hinausführt und der nicht-kirchlichen Gesellschaft zugutekommt. Aber die Studie zeigt doch, dass Roßteutschers und Fischers Kritik insofern berechtigt ist, als dass die Teilhabe am kirchlichen Leben zwar sehr aktiv, aber oft genug doch eher auf 108 Roßteutscher 2009, 65. 109 Selbstverständlich kann man mit einer Studie zu Kirchentagsbesucherinnen keine allgemeingültigen Aussagen zu allen Kirchenmitgliedern belegen. Aber wenigstens lässt sich damit Roßteutschers pauschale Kritik an religiösen Organisationen für die beträchtliche Zahl an den religiös organisierten Kirchentagsbesuchern relativieren. 110 „In der eigenen Gemeinde vertrauen 86,3 % ihrer Kirchengemeinde und 90,3 % ihrer Pfarrerin/ihrem Pfarrer. Ebenfalls gibt es einen Unterschied zwischen Personen der eigenen Religion (91,9 % Zustimmung) und Personen einer anderen Religion (82,5 % Zustimmung). Eines ist bemerkenswert: Es können kaum Abgrenzungstendenzen gegenüber Mitgliedern anderer Religionen festgestellt werden. Das Identitätsverständnis der Kirchentagsbesucher ist also sehr offen und integrativ.“ Pickel et al. 2013, 19. 111 Horstmann 2017, 43.

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einen bestimmten und dann womöglich auch selbstgenügsamen Kreis beschränkt ist. Das führt dann sicherlich auch zu exklusiven Mechanismen und kulturellen Verengungen, die Fischer ja sehr ausführlich anmahnt. Allerdings sind diese Beharrungskräfte im kirchlichen Engagement nur die eine Seite der Medaille. Denn auch wenn die immer gleichen Engagierten wenig Wunsch nach Neuerung und Öffnung haben, sehnen sie sich widersprüchlicherweise zugleich auch nach neuen Zielgruppen im kirchlichen Leben. Auf diese Unvereinbarkeit weist Angela Ahrens in einem Kommentar des SI hin: „Den geringsten Zuspruch [sc. seitens der kirchlich Engagierten] erhalten demgegenüber eine neue Ausrichtung der Gemeindearbeit, die Anwendung klarer Bewertungskriterien sowie die Interessenvertretung bestimmter Gruppen, also Aspekte, die nicht zuletzt ein Veränderungsbedürfnis anzeigen. Zugleich steht aber die Gewinnung neuer Zielgruppen bei allen recht hoch im Kurs. Und die ist ohne Veränderungen kaum zu erreichen.“112

Wenn Fischer und Roßteutscher ihre Finger also in die Wunde einer verengten kirchlichen Teilhabe legen, dann weisen sie auf eine Herausforderung hin, die den kirchlich Engagierten durchaus bewusst ist. Dieser Problematik kann man als Kirche begegnen, indem man kirchliche Interaktion stärker noch als Netzwerk behandelt. Erstens kommen dann nicht nur die klassischen Orte innerkirchlichen bondings zum Tragen, wie etwa die Beteiligung am Gottesdienst. Stattessen kann man auch andere kirchliche Orte wie z. B. den Elternbeirat der kirchlichen Kita oder den Spendenverein einer diakonischen Einrichtung als Ort kirchlichen Engagements wahrnehmen. Hier liegen die Chancen hoch, um das dichte kirchengemeindliche Netz um andere Kontakte im bridging zu erweitern. Zweitens hilft es, das Engagement von Kirchenmitgliedern auch außerhalb der Organisation Kirche in den Blick zu nehmen. Dabei fällt dem Freiwilligensurvey nach auf, dass Protestanten überdurchschnittlich oft zivilgesellschaftlich aktiv sind. So schreibt das SI in der Sonderauswertung zum Freiwilligensurvey: „Insgesamt sind von allen evangelischen Befragten 48,7 % freiwillig engagiert, was auf ein überdurchschnittliches Maß an Engagement hinweist. Ähnlich wie der/die durchschnittliche Engagierte betätigen sich die evangelischen Freiwilligen besonders gern in den Bereichen „Sport und Bewegung“, „Kultur und Musik“ und im sozialen Bereich. Daneben üben 11,4 % der Evangelischen ihr zeitaufwändigstes Engagement im Bereich „Kirche und Religion“ aus.“113

Auf einen ganz ähnlichen Umstand weist auch der Soziologe Antonius Liedhegener für die Schweiz hin:

112 Ahrens 2017, 36. 113 Sozialwissenschaftliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland 2017, 35.

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„Personen ohne Religionszugehörigkeit sind bezogen auf ihren Bevölkerungsanteil häufiger inaktiv und deutlich seltener engagiert. Demgegenüber weisen die Mitglieder der evangelisch-reformierten Landeskirchen im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil ein deutlich höheres Engagement auf.“114

Nach Liedehegener hebt sich bei frommen Menschen, denen gelebte Religion besonders wichtig ist, oft auch die Motivation und die Art des zivilgesellschaftlichen Engagements von Vergleichsgruppen ab. Ihnen geht es häufiger noch als etwa konfessionslosen Engagierten darum, „anderen zu helfen.“ Daher werden sie auch öfter „im sozialen, karitativen und gemeinnützigen Bereich“ tätig, wogegen „[d]ie Säkularen […] besonders oft in Sportvereinen, kulturellen Vereinen und bei öffentlichen Diensten wie der Feuerwehr engagiert“ sind.115 Das ist nicht unbedingt ein Unterschied in der Qualität des zivilgesellschaftlichen Engagements, aber eben ein Hinweis auf das zivilgesellschaftliche Profil, das engagierte Kirchenmitglieder in die Zivilgesellschaft eintragen. Das beschreibt auch Thomas Schlag treffend: „Hier ist nicht zu unterschätzen, dass durch […] diakonisches Handeln Kompetenzen erworben werden können, die auch in anderen zivilgesellschaftlich relevanten Zusammenhängen genutzt und eingebracht werden können. In diesem Sinn kann und sollte gerade auch ein freiwilliges diakonisches Engagement zu einem weiterreichenden gesellschaftspolitischen Engagement befähigen und ermutigen. Auf diese Weise können sich freiwillig Engagierte selbst als wesentlichen Bestandteil zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit empfinden und erleben. Insofern bringt die Integration von freiwillig Tätigen sinnvollerweise immer auch die Aufgabe zivilgesellschaftlicher Sensibilisierung und politischer Aufklärung mit sich.“116

Wenn in dieser Arbeit dafür geworben wird, kirchlich angebundene und zugleich zivilgesellschaftlich aktive Menschen als Teil des kirchlichen Netzwerks zu sehen, muss das natürlich eingeschränkt werden. Denn erstens werden sich bei Weitem nicht alle Kirchenmitglieder als Teil so eines Interaktionsnetzwerks sehen. Und außerdem gilt unter Rückgriff auf den allgemeinen Sachverstand und KMU V.: „Kirchenmitglieder selbst sind im Alltag ihrer Interaktionen ohne Zusatzinformation (getauft sein, Kirchenmitgliedschaft) in der Regel von Nicht-Kirchenmitgliedern öffentlich nicht zu unterscheiden.“117 Aber trotz dieser inszenatorischen Einschränkungen liegt hier doch ein großes Potenzial für die Kirche einerseits und für die Zivilgesellschaft andererseits. Denn das Netzwerk der kirchlich Hochverbundenen lässt sich womöglich im Austausch mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren bereichern und für weitere bridging-Momente 114 115 116 117

Liedhegener 2016, 152. Liedhegener 2016, 158. Schlag 2012b, 84–85. Fast wortgleich auch in Schlag 2012a, 384. Grubauer et al. 2015, 69–70.

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öffnen. In diese Richtung gehen auch die Beobachtungen von Henning von Vieregge. Am Beispiel der Flüchtlingshilfe beschreibt er die Vorzüge einer um bonding wie auch bridging bemühten und dabei nachbarschaftssensiblen Kirche: „Flüchtlingshilfe als Chance für Gemeinden? Ja, aber nur dann, wenn innerhalb der Gemeinde ein vitales Miteinander besteht, man sich also kennt und vertraut, und es Konsens gibt über die Frage der Außenorientierung, oder besser, der aktiven Orientierung in das und aus dem lokalen Umfeld heraus. Diese Ausrichtung ist insoweit tiefgreifend, als sie sich freimacht, alle Gemeindeaktivitäten unter dem Gesichtspunkt zu bewerten, was sie beitragen zur Transformation des Mitglieds zum treuen Gottesdienstbesucher als alleingültigem Erfolgsmaßstab.“118

Für von Vieregge geht es also darum, an eine kircheninterne und eher auf bonding basierende Interaktion so anzuknüpfen, dass kirchlicherseits auch der mal lockere, mal intensivere Kontakt zu anderen zivilgesellschaftlichen Orten möglich und wertgeschätzt wird. Solche Kontakte sind dann alles andere als ein unnötiges oder gar unkirchliches interaktionales Anhängsel von Kirche. Sondern bei solchen Kontakten zur zivilgesellschaftlichen Nachbarschaft handelt es sich um eine wesentliche Ausdrucksform interaktionaler Kirche. Diese Betrachtung macht also dafür sensibel, dass Kirche durch ihre Mitglieder sehr wohl auch für die nicht-kirchliche Zivilgesellschaft bedeutsam ist. Kirche besteht eben nicht nur in ihrer kirchengemeindlichen Organisationsform, sondern sie lebt auch in Szenen und als liquides Netzwerk. Hier ist Kirche bereits ein Teil der Zivilgesellschaft. Darauf zielen auch die Beobachtungen des Diakoniewissenschaftlers Johannes Eurich: „Die spezifischen zivilgesellschaftlich-diakonischen Modi der Kirche bilden […] nicht nur einen Beitrag der Kirche im Selbstverständigungs- und Meinungsbildungsprozess der zivilen Öffentlichkeit, sondern ermöglichen der Kirche zugleich, ihre diakonischen Projekte in den strukturellen Rahmungen einer zivilgesellschaftlichen ‚Tatlandschaft‘ zu etablieren und so ihre eigenen Mitglieder wie weitere Hörende ihrer Botschaft zu erreichen und über diesen Weg sich selbst zu konstituieren.“119

Allerdings kann man dieses interaktionale Geschehen und die darin enthaltene Konstituierung der Kirche nicht so einfach organisational fassen. Das gilt zumindest, wenn man die bisherigen Werkzeuge kirchlicher Organisation anlegt. Um die interaktionalen Netzwerke, die sich durch Kirchenmitglieder – oder besser noch: kirchlich Interessierte – in die zivilgesellschaftliche Nachbarschaft spannen, wahrnehmen und dann auch gezielt ansprechen zu können, bräuchte es wohl eine stärkere Sensibilisierung von Kirchengemeinden, Hauptamtlichen und

118 Vieregge 2017, 52. 119 Eurich 2014, 263–264.

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Ehrenamtlichen.120 Konkret bedeutet diese Forderung z. B., sich als Kirche vermehrt in Formen des Neuen Ehrenamts, also durch personell und zeitlich begrenzte Projekte zu organisieren. Das wäre ein lohnenswertes Unterfangen, das in der Praktischen Theologie übrigens auch verstärkt gefordert wird.121 Denn wenn man sich des zivilgesellschaftlichen Potenzials kirchlicher Netzwerke erst einmal bewusst ist, kann man die hier vorliegenden Begegnungsmöglichkeiten und Kontakte durchaus nutzen, um zivilgesellschaftliche Kooperationen zu etablieren, Themen zu diskutieren und sich als Kirche ins Spiel zu bringen. Dabei greift auch Jeffrey Alexanders Konzept von „dual membership“. Demnach sind Menschen sowohl in der Zivilgesellschaft als auch in anderen nicht-zivilen Bereichen (zu denen Alexander ja auch die Religion oder die Familie zählt) aktiv. Dadurch werden Werte und Themen beider Bereiche ausgetauscht. Wer z. B. in einem Sportverein ein harmonisches multikulturelles Miteinander erlebt und das in seinem kirchlichen Netzwerk so nicht vorfindet, wird es dann dort womöglich auch einfordern. Oder wer umgekehrt einen besonders vertrauensvollen Umgang in der Kirche erfährt, der aber so in der örtlichen Initiative gegen Windkraft nicht vorkommt, wird daran vielleicht auch in seiner Initiative gegen Windkraft arbeiten. Auf diese Art und Weise kann sich dann auch nach Alexander die civil sphere ausbreiten.122 Kirche als zivilgesellschaftliche Interaktion setzt also bei kircheninterner Interaktion an. Das hier aufgebaute Sozialkapital nützt dabei auf den ersten Blick den Menschen, die sich aktiv an das kirchliche Netzwerk halten. Das beantwortet die eingangs gestellte Frage nach dem cui bono kirchlichen Sozialkapitals aber nur unzureichend. Denn wer diese Ausgangssituation, wie Fischer oder Roßteutscher, als milieuverengt und exklusiv ablehnt, übersieht dann schnell die zahlreichen Dynamiken und Kontakte des zweiten Blicks, die von diesen Beziehungsformen in die zivilgesellschaftliche Nachbarschaft ausgehen. Kirche findet interaktional bereits an Orten wie Kindertagesstätten, Chören oder Nachbarschaftshilfen statt, die weit über die genuin kirchlichen Räume hinausgehen. Hierin liegt ein großes Potenzial, sich als Kirche und Zivilgesellschaft gegenseitig zu bereichern. Dabei sollten die vereinskirchlich organisierten Formen von Kirche nicht etwa Zielscheibe der Kritik, sondern eher Ausgangspunkt einer Suchbewegung in die Zivilgesellschaft sein. Werden solche Kontakte gezielt wahrgenommen, wertgeschätzt und gefördert, dann nützt das Sozialkapital der Kirche auch ihrem nicht-kirchlichen Umfeld in der Zivilgesellschaft. Das entkräftet die Kritik von Fischer nicht gänzlich, lenkt den Fokus aber stärker auf das 120 Einen kirchentheoretischen gelungenen Versuch, solche Netzwerke wahrzunehmen liefert Holger Böckel. Vgl. Böckel 2016. 121 Vgl. z. B. Grethlein 2016, 460, Schlag 2012b, 85 oder Lehnert 2012. 122 Vgl. Alexander 2006, 232–233.

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Kirche als zivilgesellschaftliche Akteurin

Sozialkapital, das in kirchlich-zivilgesellschaftlicher Interaktion bereits vorhanden ist und noch erzeugt werden kann.

4.4

Kirche als zivilgesellschaftliche Inszenierung

Was Kirche als Organisation, Institution und Interaktion zivilgesellschaftlich ausmacht, das wird auf inszenatorischer Ebene erfahrbar. Der zivilgesellschaftliche Charakter der Kirche hängt dabei von unterschiedlichen inszenatorischen Faktoren ab. Da wären einmal die Orte, an denen die kirchliche Inszenierung stattfindet. Auch wenn sich kirchliche Akteure Erving Goffman nach zu urteilen in einem Gottesdienst anders verhalten als etwa bei einem Gespräch vor einer Flüchtlingsunterkunft, kann doch in beiden Szenen die zivilgesellschaftliche Identität der Kirche durchscheinen. Weniger selbstverständlich als der Ort kirchlicher Darstellung, dafür aber umso wichtiger für den zivilgesellschaftlichen Charakter kirchlicher Inszenierung ist die Frage, wer an der kirchlich-zivilgesellschaftlichen performance Anteil hat. Dabei rücken neben den kirchlichen Haupt- und Ehrenamtlichen auch Akteurinnen in das Zentrum des Geschehens, die nicht unbedingt kirchlich interessiert sind. Solche nicht-kirchlichen Darsteller, die die Zivilgesellschaft mitgestalten, kommen nun als Bereicherung und Herausforderung in den Blick. Schließlich tragen diese Akteure möglicherweise Themen und kulturelle Stile in das kirchliche Netz ein, die der Kirche erst einmal neu sind. Damit hängt dann auch zusammen, welche Inhalte von der Kirche im zivilgesellschaftlichen Raum überhaupt inszeniert werden. In der kirchentheoretischen Debatte wurde schließlich noch gefordert, dass in kirchlicher Inszenierung auch das jeweils individuell angeeignete und facettenreich variierende Evangelium zur Geltung kommen sollte. Gerhard Wegner weist allerdings darauf hin, dass die Stärke der Kirche neben so einer religiösen Kommunikation auch in der sozialen Kommunikation liegt. In welchem Verhältnis stehen diese zueinander und welche Auswirkungen hat es für die Kirche, sich an der jeweiligen inszenatorischen Richtung zu orientieren? Vieles, was bereits für die allgemeine kirchliche Inszenierung gilt, hat auch tragende Bedeutung für die zivilgesellschaftliche Inszenierung der Kirche. So macht es auch aus zivilgesellschaftlicher Sicht in einer liquider werdenden Moderne keinen Sinn, in strengen hierarchischen Strukturen auf die eine richtige Art der Inszenierung zu pochen. Vielfalt und individuelle Beeinflussungen der performance gehören im zivilgesellschaftlichen Raum sogar noch stärker zur kirchlichen Darstellung. Denn gerade wenn noch andere und insbesondere nichtkirchliche Akteurinnen die performance mitgestalten, liegen Inhalt und Dynamik außerhalb des Steuerbaren. Schon aus diesem Grund wird Kirche in ihren

Kirche als zivilgesellschaftliche Inszenierung

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verschiedenen Kontexten, ob in Auseinandersetzung mit Wirtschaftsunternehmen, ob staatsnah oder eher im privaten bzw. öffentlichen Rahmen unterschiedlich auftreten. Auch hier greifen Gofmans Beobachtungen, nach denen unterschiedliche Räume und Konstellationen bei den gleichen Akteuren in ebenso unterschiedlichen Darbietungen resultieren.123 Je mehr Kirche dann aus den von ihr gewohnten Umfeldern austritt und sich in die Räume der zivilgesellschaftlichen Arena hineinbegibt, umso facettenreicher und womöglich auch unkonventioneller und kontroverser wird dann auch ihr Auftritt. Schließlich bedeutet die Auseinandersetzung an anderen Orten und mit weiteren Akteuren auch, gemäß Fischer-Lichtes autopoietischer Feedbackschleife, dass die inszenierte Darstellung einer kaum noch kontrollierbaren Dynamik unterliegt. Es ist nicht steuerbar, wie die Menschen in und um das kirchliche Netzwerk auf zivilgesellschaftliche Debatten reagieren oder wie solche Auseinandersetzungen das Gesicht der Kirche verändern können. Das betrifft sowohl die Ästhetik, etwa die Formen, die Sprache oder die Musik, die in der Kirche verwendet werden, als auch die Inhalte, mit denen sich die Kirche beschäftigt. Beides wird naturgemäß durch die Menschen beeinflusst, die als Kirche und ihre Gesprächspartner auftreten. Nach Fischer liegt genau hier ein Grundproblem in der zivilgesellschaftlichen Inszenierung der Kirche. Denn diese orientiert sich scheinbar an den immer gleichen, konservativen Milieus: „Mit diesem Phänomen [sc. der Milieuverengung] setzt sich die kulturelle Hegemonie dieser [sc. in der Kirche dominanten] Milieus, die definieren, was (Hoch)Kultur ist und was nicht, in den Raum der Kirchen fort und schließt jene gesellschaftlichen Gruppen aus, die sich dieser Hegemonie im religiösen Feld nicht aussetzen wollen, weil sie z. B. den Anspruch ‚Johann Sebastian Bach’scher Kirchenhochkultur‘ selbstbewusst zurückweisen und offen zu ihrem präferierten Musikern wie […] den Rolling Stones stehen.“124

Kirche, so die Kritik, wird also von einer monokulturellen Inszenierung dominiert, die mit der Vielstimmigkeit anderer gesellschaftlicher Bereiche nicht mithalten kann. Das wirkt nicht zuletzt ausschließend und befördert eine selbstgenügsame Kirche. Diese Kritik, die bereits auf interaktionaler Ebene besprochen wurde, greift also sehr eindrücklich an den Schaltstellen kirchlicher Inszenierung.125 Denn wenn im kirchlichen Netzwerk eine bestimmte Ästhetik das Geschehen dominiert und normiert, dann kann es passieren, dass Menschen, die dieser Kultur nicht entsprechen, auch kein Interesse daran haben, sich mit 123 Vgl. dazu die Besprechung Gofmans in Teil I, Kapitel 2.4. 124 Fischer 2004, 151. 125 Dabei sieht Fischers Urteil auch über die kulturelle Vielfalt hinweg, die sich mittlerweile in der kirchlichen Inszenierung finden lässt. Etwa auf Kirchentagen oder individuelle angepassten Trauungen gibt es derzeit einige Dynamiken, die die Dominanz einer monotonen kirchlichen Ästhetik aufbrechen.

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Kirche als zivilgesellschaftliche Akteurin

kirchlicher Inszenierung auseinanderzusetzen. Kooperationspartner und Gesprächspartnerinnen werden dadurch womöglich auch in der zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzung auf diejenigen limitiert, die auf eine kirchliche Ästhetik ansprechbar sind. Die Kritik ist dabei nicht etwa, dass Kirche aus einer bestimmten sprachlichen und musikalischen Tradition heraus auftritt. Schließlich besteht die Herausforderung für die Kirche in der Zivilgesellschaft nicht darin, die eigene historisch gewachsene Identität abzulegen, um möglichst viele Stile der Gegenwart anzusprechen. Es geht vielmehr darum, in der eigenen Ästhetik, Sprache und Themenwahl offen für das zu sein, was aus den zivilgesellschaftlichen Rändern des kirchlichen Netzwerks in das kirchliche Leben eingetragen wird. So können, um in Fischers musikalischem Beispiel zu bleiben, neben Bach auch die Stones vorkommen. Dabei geht es der Debatte um die Ästhetik kirchlicher Inszenierung gar nicht so sehr um die konkrete Form kirchlicher Darstellung. Der zivilgesellschaftlich relevante Konflikt liegt auf einer anderen Ebene. Nicht etwa die kulturellen Sprachspiele, mit denen Kirche umgeht, sind interessant, sondern die dahinterstehenden Menschen, die an Kirche beteiligt sind oder eben nicht. Je unterschiedlicher die Personen im kirchlichen Netzwerk sind, umso vielfältiger sollte dann auch die Inszenierung der Kirche aussehen. Auch Thomas Schlag fordert, sich als Kirche auf dieses Wagnis einzulassen: „Will Gemeinde auch weiterhin lokale öffentliche Präsenz zeigen, muss sie mehr und mehr zu einer Kirche der freiwillig Engagierten werden. Gerade im Rahmen eines solchen zivilgesellschaftlichen Engagements kann innerhalb der Kirche erfahren werden, was es heißt, sich für den schutzlosen Anderen um seiner grundsätzlichen Anerkennung und Annahme willen einzusetzen. Zudem gilt gerade für die Gemeinde als öffentliche Institution vor Ort, dass sie […] durch ein solches partizipationsoffenes Erscheinungsbild ihre öffentliche Präsenz plausibilisiert.“126

Eine Kirche, die offen für verschiedene Menschen, Teilhabeformen und damit immer auch kulturelle Stile der Inszenierung ist, so Schlag, kann für sich dann auch zu Recht eine stärkere zivilgesellschaftliche Relevanz behaupten. Aber geht so eine partizipationsoffene und damit wenigstens potenziell hohe zivilgesellschaftliche Relevanz der Kirche nicht auch mit einem möglichen Profilverlust einher? Die Frage zielt nicht auf die Ästhetik der Inszenierung ab, die etwa durch einen bunten und unkonventionellen kirchlichen Stil infrage stehen würde, sondern auf die Inhalte der kirchlichen Inszenierung. Denn wenn sich kirchliche Inszenierung implizit oder deutlich auf das jeweilige Evangelium bezieht, an kirchlich-zivilgesellschaftlicher Inszenierung aber auch Personen eingebunden sind, die keinen Bezug dazu haben, dann steht diese Forderung infrage. Wer sich

126 Schlag 2012b, 102.

Kirche als zivilgesellschaftliche Inszenierung

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z. B. freiwillig in einem kirchlich koordinierten Buchladen engagiert, hat vielleicht das Interesse, dem einmal gelernten Beruf nachzugehen und die Nachbarschaft mit Literatur zu versorgen. Daraus folgt aber nicht unbedingt ein Interesse an den kirchlichen Inhalten und Strukturen, die den Buchladen unterfüttern. Die Kirche würde sich an diesem Ort zivilgesellschaftlich inszenieren, aber ihr theologisches Profil bliebe in diesem Fall unscheinbar. Thomas Schlag nennt so einen Fall kirchlich-zivilgesellschaftlichen Engagements „sowohl für die Einrichtung wie auch für ihre Akteure […] problematisch“.127 Dabei geht es ihm nicht darum, dass man ein kirchliches Profil krampfhaft verkörpern sollte, sondern um eine reflektierte Auseinandersetzung mit kirchlichen Motivationen – und darum, diese dann ggf. auch weiterzugeben. Dass ein theologisches Profil in der Zivilgesellschaft aber dennoch unscheinbar bleibt, gilt auch, weil religiöse Kommunikation im Alltag, nach KMU V. „unwahrscheinlich“128 ist.129 Auch aus diesem Grund lenkt Gerhard Wegner die Aufmerksamkeit kirchlicher Inszenierung auf das, was er „soziale Kommunikation“ nennt. Darunter versteht Wegner all das, was sich auf „soziales Engagement im weitesten Sinne, d. h. auf solidarische, gegenseitige oder altruistische Hilfeleistungen“130 bezieht. Diese soziale Kommunikation bestimmt das Wirken und die Wirkung der Kirche in erheblich höherem Maß, als man das von ihrer religiösen Kommunikation behaupten könnte. Das macht Wegner bspw. an den Aussagen von Kirchenvorstehern zu ihrer Kirchengemeinde fest: „Es wundert […] nicht, dass die Zuschreibung von sozialen Inhalten auf die Kirchengemeinde die mit Abstand größte Gemeinsamkeit der Kirchenvorsteher darstellt und mehr oder minder deutlich vor der Zuschreibung religiöser Inhaltlichkeit liegt. Das bedeutet, dass an der Basis der Kirche, d. h. in den Kirchengemeinden vor Ort, ganz offensichtlich soziale Kommunikation sehr viel weitgreifender ist als religiöse Kommunikation.“131

Indem Wegner zwischen sozialer und religiöser Kommunikation unterscheidet, geht er einen etwas anderen Weg als Grethlein in seinem Konzept zur Kommunikation des Evangeliums. Wegner sieht einen Trend zum sozialen Engagement in der Kirche, wobei er so eine soziale Kommunikation kategorisch von religiöser Kommunikation unterscheidet. Das macht die religiöse Rede der Kirche alles andere als obsolet. Sie wird weiterhin als Rahmen gebraucht, der das soziale Engagement der Kirche in Szene setzt. Allerdings rückt

127 128 129 130 131

Schlag 2012b, 85. Hier zitiert nach Wegner 2016, 22. Siehe dazu auch Teil I, Kapitel 2.4.1. Wegner 2016, 10. Wegner 2016, 11.

196

Kirche als zivilgesellschaftliche Akteurin

die religiöse Kommunikation dadurch auch in den Hintergrund.132 Grethlein versteht dagegen das soziale Engagement der Kirche als „Helfen zum Leben“. Das wiederum ist ein Modus der Kommunikation des Evangeliums, der gleichberechtigt neben anderen Modi, etwa dem „Lehren und Lernen“ steht. Im Gegensatz zu Wegner ist soziale Kommunikation im Rahmen der Kirche bei Grethlein also immer ein Ausdruck theologischer Auseinandersetzung.133 Wie solches Engagement dann tatsächlich gedeutet wird, bleibt der einzelnen Person überlassen, die sich im Rahmen kirchlicher Inszenierung engagiert. Allerdings ist allein schon die Möglichkeit einer theologischen Deutung kirchlich-zivilgesellschaftlichen Engagements Teil des kirchlichen Profils in der Zivilgesellschaft. Wer sich also in einem kirchlich koordinierten Buchladen engagiert oder dort einkauft, kann damit rechnen, auch auf theologische Positionen zu stoßen. Dabei ist es nach Wegner hilfreich, dass diese Profilierung möglich, aber nicht etwa notwendig ist. Denn so wird nicht zuletzt die Kooperation mit anderen Akteurinnen in der Zivilgesellschaft erleichtert: „Kirchengemeinden entdecken so das eigene soziale Engagement als einen wichtigen Erfolgsfaktor ihrer Arbeit neu […]. Diese Entwicklung hat auch mit einem spürbaren Rückgang des Interesses an religiöser Kommunikation in den Kirchengemeinden zu tun. Das Interesse verlagert sich auch deswegen hin in soziale Bereiche und kann hier zum Teil Formen einer Art von Sozialreligion annehmen. Mit diesen Trends entwickeln sich Kirchengemeinden deutlich hin zu Partnern in der Zivilgesellschaft, gehen Kooperationen mit anderen ein […].“134

Im Hintergrund von Wegners Analyse steht die Säkularisierung, nach der religiöse Kommunikation sowohl innerhalb von Kirchengemeinden, aber stärker noch innerhalb der Zivilgesellschaft auf ein immer leiseres Echo stößt: „Mir scheint es zwingend zu sein, die Unterstellung der Ubiquität von Religion fallen zu lassen, gerade um der Wirklichkeit der vielen außerhalb der Kirche, insbesondere natürlich der Konfessionslosen, gerecht zu werden: […] Die kirchliche Kommunikation findet als religiöse Kommunikation nicht mehr die Brücken, die es einstmals gab.“135

Daher ist es nach Wegner so wichtig, als Kirche sowohl das eigene theologische Profil klar und deutlich zu inszenieren, als auch das zivilgesellschaftliche Engagement der Kirche pointiert zu profilieren. Für Wegner steigt dabei mit der Betonung der sozialen Kommunikation die Anschlussfähigkeit der Kirche im 132 „Gerade der [sc. religiöse] Rahmen, der sich um die sozialen Aktivitäten der Kirche legt, prägt sie besonders und setzt diese sozialen Aktivitäten sozusagen überhaupt erst ins Bild, lässt um diese Aktivitäten herum eine ganze Reihe von symbolischen und selbstverständlich religiös-biblischen Narrativen aufscheinen, die Rückwirkungen auf dieses Sozialengagement haben.“ Wegner 2016, 12. 133 Vgl. z. B. Grethlein 2016, 307–308. 134 Wegner 2017, 171. 135 Wegner 2016, 23.

Kirche als zivilgesellschaftliche Inszenierung

197

zivilgesellschaftlichen Raum. Diesem Anspruch gerecht zu werden, ist für die Kirche alles andere als leicht. Die Gefahr besteht, dass man sich eine Janusköpfige Inszenierung aneignet, bei der man im zivilgesellschaftlichen Rahmen allein soziale Inhalte verkündigt und im sakralen Raum dann theologische Konzepte anspricht. Diese widersprüchliche Inszenierung wäre dann auch mit Gofmans Ortsabhängigkeit sozialer Interaktion nicht mehr plausibel zu erklären. Davor warnt auch Schlag, wenn er betont: „Wird der kirchliche Auftrag primär darin gesehen, sich als eine irgendwie auch vorhandene weitere Größe im gesellschaftlichen Eventkalender zu positionieren, wird ihr Eigen-Sinn und Eigenprofil tatsächlich immer weniger erkennbar sein.“136 Schlags Mahnung zielt natürlich auf einen Extremfall zivilgesellschaftlicher Inszenierung der Kirche ab. Nämlich auf eine Darbietung, die allein auf die Bedürfnisse der Zivilgesellschaft Rücksicht nimmt und dabei die eigene theologische Identität nicht zur Sprache kommen lässt. Damit würde man vielleicht in zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzungen weniger anecken, aber man hätte mit der eigenen Angreifbarkeit auch die kirchliche Greifbarkeit aufgegeben. In diesem Sinne ist Grethleins Ansatz in der zivilgesellschaftlichen Inszenierung zielführender. Dort werden theologische Deutung und soziale Inszenierung im Rahmen der Kommunikation des Evangeliums stärker zusammengedacht. Dann ist die Kommunikation, die im Kirchengebäude geschieht ebenso Ausdruck von Evangelium wie das Gespräch, das innerhalb des kirchlichen Netzwerks im Buchladen, der Kindertagesstätte oder der Suchtberatung stattfindet. Eurich spricht in diesem Zusammenhang von der Aufgabe einer Kirchengemeinde, „Impulse des Evangeliums in Wort und Tat [sc. in die zivile Öffentlichkeit] einzubringen.“137 Soziale Kommunikation kann man dann als religiöse Kommunikation erkennbar machen. Etwa, wenn im evangelischen Kindergarten christliche Feiertage gefeiert werden, es im Buchladen die Möglichkeit zum seelsorgerlichen Gespräch gibt, auf einer politischen Demonstration auch das Logo der Kirche hochgehalten wird oder wenn in einer Suchtberatung der Diakonie Kunst hängt, die biblische Szenen interpretiert. Ob diese Brücken zwischen religiöser und sozialer Kommunikation allerdings alle kirchlich-zivilgesellschaftlichen Akteure mit aufbauen und begehen, steht dabei auf einem anderen Blatt.138 Dieses wird im Rahmen der liquiden Moderne allerdings weniger von praktisch-theologischen Interpretationen beschriftet, sondern von den jeweiligen Engagierten. Die Frage, wie sich Kirche im zivilgesellschaftlichen Raum inszeniert, liegt dann in deren Händen. Sie können 136 Schlag 2012b, 59. 137 Eurich 2014, 262. 138 Das gilt umso stärker für die professionell arbeitende Diakonie unter den Bedingungen der liquiden Moderne. So schreibt Antje Fetzer: „Mitarbeitende als Botschafter des Evangeliums zu gewinnen, ist unter diesen [sc. ökonomischen] Rahmenbedingungen ein höchst anspruchsvolles Geschäft.“ Fetzer 2012, 190.

198

Kirche als zivilgesellschaftliche Akteurin

sich mit christlichen Motivationen zum Engagement auseinandersetzen oder ihre eigenen nicht unbedingt religiös aufgeladenen Motivationen in kirchliche Projekte eintragen.139 Beides sollte nicht verurteilt werden. Dabei ist es allerdings die Aufgabe der Kirche als Organisation, theologische Perspektiven auf die eigene Inszenierung anzubieten und zur Diskussion zu stellen.140

4.5

Fazit: Kirche für die Zivilgesellschaft: Flickenteppich und tragende Säule

Kirche ist eine zivilgesellschaftliche Akteurin mit außergewöhnlichem Charakter. Darauf weist bereits ihr raumlogischer Standort hin. Gerade die historisch gewachsene Nähe zum Staat ermöglicht der Kirche dabei Zugang zu Bereichen zivilgesellschaftlicher Auseinandersetzung, die anderen Akteurinnen verwehrt bleiben. Hier ist ihre flächendeckende Ausbreitung beachtlich, wodurch die häufig sehr zentralen Plätze von Dörfern und Städten in der gesamten Bundesrepublik bespielt werden können. Zivilgesellschaftliche Debatten werden darüber hinaus z. B. auch in der Militärseelsorge oder auf Sendeplätzen in öffentlich-rechtlichen Medien mit gut hörbaren kirchlichen Stimmen konfrontiert. In der Arena zivilgesellschaftlicher Debatten hat Kirche als weitverbreitete, gut sichtbare und einflussreiche Akteurin einen großen Vorteil. Die strukturelle Nähe der Kirche zum Staat wirkt sich auch auf die Grenzziehung der Kirche zur Ökonomie aus. Dort strebt die Kirche, wie auch andere Akteure, keinen finanziellen Gewinn an. Da sich die Kirche aber größtenteils durch Steuern ihrer Mitglieder finanziert, kann sie sich erstens einen riesigen Verwaltungsapparat und ihre Präsenz im ländlichen Raum leisten sowie zweitens eine noch etwas besser ausgebaute Grenze zu unternehmerischen Logiken und Praktiken als vergleichbare zivilgesellschaftliche Player. Fundraising oder andere Kooperationen mit Wirtschaftspartnern werden vor dem Hintergrund der Säkularisierung zwar immer wichtiger werden, spielen in der Gegenwart aber in den meisten kirchlichen Bereichen nur eine untergeordnete Rolle. Eine weitere Besonderheit kirchlicher Raumlogik ist ihr Zugang zu privaten und öffentlichen Bereichen des Lebens. In beiden Sphären entfaltet sich kirchliches Leben, ohne dass man etwa eine öffentliche Feier wichtiger als ein privates Ge139 Vgl. dazu auch die passende Bemerkung von Coenen-Marx: „Ortsgemeinden und diakonische Projekte im Gemeinwesen bieten hervorragende Anknüpfungspunkte für Engagement, wenn sie [sc. die kirchlichen Organisationen] akzeptieren, dass der Wunsch nach Mitarbeit nicht unbedingt bedeutet, dass Menschen sich voll mit der Institution Identifizieren.“ Coenen-Marx 2010, 99. 140 So auch Schlag. Vgl. Schlag 2012a, 388.

Fazit: Kirche für die Zivilgesellschaft: Flickenteppich und tragende Säule

199

spräch einordnen könnte und umgekehrt. Wie die Besprechung der einzelnen Bereiche gezeigt hat, kann man der Kirche aufgrund ihres Ortes in der Gesellschaft keineswegs den Charakter einer zivilgesellschaftlichen Akteurin absprechen. Die Raumlogik der Kirche widerspricht dem sozialwissenschaftlichen Diskurs also keineswegs: Kirche ist eine Akteurin der Zivilgesellschaft. Allerdings muss sich die Kirche aufgrund ihres speziellen Profils auch auf ihre zivilgesellschaftliche Rolle befragen lassen. Denn aus ihrem besonderen Profil erwächst auch eine besondere zivilgesellschaftliche Verantwortung. Schließlich hat die Kirche ihrer Raumlogik nach Zugang zu ethischen Gremien, zu Schulen, politischen Veranstaltungen, Justizvollzugsanstalten oder auch zu Familienfeiern, um hier nur ein paar wenige ihrer privaten und öffentlichen Bezugspunkte zu nennen. Die kirchliche Handlungslogik gibt eine noch konkretere Auskunft über die Aufgaben und Funktionen, die die Kirche in der Zivilgesellschaft wahrnimmt und wahrnehmen könnte. Wie zivilgesellschaftlich die Kirche tatsächlich aufgestellt ist, hängt von den verschiedenen Konstellationen, Personen und Projekten ab, die die Kirche lokal prägen. Da gibt es Ehrenamtliche, die kein Interesse an ihrer zivilgesellschaftlichen Nachbarschaft haben, ebenso wie Dekaninnen, denen eine politische Positionierung in ihren Gebieten ausgesprochen wichtig ist. So gesehen ist Kirche ein zivilgesellschaftlicher Flickenteppich, der mal stärker und mal schwächer ausgeprägt ist. In diesem manchmal etwas ambivalenten Umfeld ist es Aufgabe der Organisation Kirche, koordinierend einzugreifen. Interessierte Ehrenamtliche müssen etwa mit zivilgesellschaftlichen Projekten vertraut gemacht werden und für Kirchengemeinden, die sich in ihre benachbarte Zivilgesellschaft begeben, braucht es Personal, das diese Dynamik unterstützt. Im Idealfall kirchlicher Organisation werden solche Dinge so entschieden, dass die zivilgesellschaftliche Wirksamkeit nicht gehemmt, sondern gefördert wird. Das bedeutet z. B., dass die Kirche für ihre Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen Fortbildungsmöglichkeiten anbietet und zugänglich macht. Schließlich ist die professionelle Begleitung von Engagierten ein großer zivilgesellschaftlicher Mehrwert der Kirche. Zu so einem organisationalen Angebot für Ehrenamtliche gehört kirchlicherseits auch die Möglichkeit, das eigene Engagement theologisch zu reflektieren. Das ist im Rahmen der liquiden Moderne selbstverständlich kein Muss, gehört aber als Option zum theologischen Profil der Kirche dazu. Denn durch eine solche Reflexion kann sich das kirchliche Engagement in der Zivilgesellschaft wenigstens in Bezug auf die eigene Motivation von dem Engagement eines Rudervereins unterscheiden. Es ist also Aufgabe der Organisation, einen Rahmen für die inszenatorisch gewünschte Verbindung von sozialer und religiöser Kommunikation bereitzustellen. Das kann z. B. durch theologisch geschultes Personal, durch Fortbildungen oder Gesprächskreise geschehen. Der zivilgesellschaftliche Einfluss, den die Kirche organisational geltend machen kann, ist dabei bereits beachtlich. Trotzdem ist die in der Zivilgesellschaft

200

Kirche als zivilgesellschaftliche Akteurin

erzielte Resonanz noch ausbaufähig, indem Kirche lernt, deutlicher und wertschätzender mit ihrem eigenen zivilgesellschaftlichen Charakter umzugehen. Dass weder die religiöse noch die soziale Kommunikation der Kirche nach einem genormten Profil geschehen kann, wird auf institutioneller Ebene greifbar. Wegen der pluralistischen und liquiden Institutionshaftigkeit der Kirche kommt das zivilgesellschaftliche Selbst der Kirche in kaum vereinbarer Vielschichtigkeit zur Geltung. Da gibt es Stimmen, die die Lanze für ein effektiveres Kirchenasyl brechen, neben Positionen, die einen kritischeren Umgang mit Migration fordern. Die Formen und Positionen, die also auf institutioneller Ebene in die Kirche eingetragen werden, orientieren sich immer weniger an bereits vorhandenen Themen und Strukturen. Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit prägen nicht nur die Zivilgesellschaft insgesamt, sondern auch die Kirche. Es konnte allerdings gezeigt werden, dass sich in der Institution Kirche eine Mehrzahl der Menschen an einem Punkt einig ist. Es besteht die allgemeine Erwartung, sich als Kirche um Bedürftige, Arme und Notleidende zu kümmern. Auch wenn vermutlich kein greifbarer Konsens besteht, in welcher Form Kirche dieser Erwartung gerecht werden sollte, hält diese empirisch messbare Vorstellung das zivilgesellschaftliche Profil der Kirche hoch. Die Gemeinnützigkeit wird der Kirche aus den eigenen Reihen damit vorgegeben. Das ist für die Kirche als zivilgesellschaftliche Akteurin von großer Wichtigkeit. Selbstverständlich entspricht die Kirche diesem Charakter nicht immer und überall. Aber dort, wo Kirche am Leid anderer vorbeigeht, stellt das zivilgesellschaftlich-institutionelle Profil die kirchliche Inaktivität infrage. Wenn sich Kirche eben nicht zugunsten von Benachteiligten der liquiden Moderne einsetzt, missachtet sie ihren eigenen Anspruch. Diesem zivilgesellschaftlichen Anspruch wird Kirche spürbar auf interaktionaler Ebene gerecht. Indem Ehrenamtliche, die weit in den Millionenbereich hineingehen, das kirchliche Netzwerk gestalten, ist Kirche eine tragende gesellschaftliche Säule für den Aufbau von Sozialkapital. Das schafft social skills auf individueller Ebene und gesellschaftlichen Zusammenhalt ebenso wie Vertrauen zueinander auf kollektiver Ebene. Letzteres wird in den genuin kirchlichen Gruppen und Kreisen in Form von bonding-Strukturen besonders gut greifbar. Je offener solche bonding-Strukturen für Fremde und Freunde sind, umso relevanter wird Kirche hier für die Zivilgesellschaft. Konzentriert sich Kirche in ihren Interaktionen jedoch auf den immer gleichen Personenkreis, limitiert sich auch ihre zivilgesellschaftliche Bedeutung. Das heißt also, dass das brückenbildende Sozialkapital ein weiteres wichtiges Standbein kirchlicher Interaktion ist. Kirche sollte sich demnach in Nachbarschaftshilfen, Flohmärkten, Sitzungen der Ortsvorstände, Festen der Freiwilligen Feuerwehr usw. einbringen und Kontakt zur zivilgesellschaftlichen Nachbarschaft aufbauen. Denn erst wenn hier eine lockere und wertschätzende Beziehung aufgebaut wurde, können Menschen aus nichtkirchlichen Bezügen auch ihre Ideen, Themen und womöglich auch ihr Enga-

Fazit: Kirche für die Zivilgesellschaft: Flickenteppich und tragende Säule

201

gement in die Kirche eintragen. Das gilt auch umgekehrt. Bridging ist der Weg der Kirche und ihrer Personen, Themen und Ideen hinein in die Herausforderungen, Probleme und Begeisterungen der Nachbarschaft. Diese Dynamiken einer zivilgesellschaftlichen Kirche sollten nicht zuletzt auch die Inszenierungen der Kirche prägen. Das bedeutet, dass Kirche auf die ästhetischen Stile ihrer Nachbarschaft reagiert. Denn eine Kirche, die sensibel für ihr zivilgesellschaftliches Umfeld ist, kann das nicht nur in Bezug auf Themen, Ideen und Personen sein, sondern sollte das auch in ihrer Sprache, ihrer Musik und ihrem Auftreten zeigen. Das heißt selbstverständlich nicht, dass man als Kirche auf die eigene ästhetische und theologische Identität verzichtet oder sie künstlich zurückhält. Es bedeutet aber eine kritische Auseinandersetzung und dann ggf. auch eine Umorientierung sowohl in Bezug auf den eigenen inhaltlichen und ästhetischen Charakter als auch auf den Charakter des Umfeldes. Schließlich handelt es sich bei der mehr oder weniger kompromissbereiten Auseinandersetzung mit sich selbst und anderen Akteuren um das kleine Einmaleins zivilgesellschaftlicher Debatten. Nach diesem Rundgang durch eine zivilgesellschaftlich aktive Kirche müssen allerdings noch wichtige Unterschiede zur allgemeinen Kirchentheorie deutlich gemacht werden. Eine grundsätzliche Differenz besteht darin, das Wesen der Kirche nicht nur aus theologischen, geschichtlich gewachsenen und sozialen Ursachen her zu bestimmen, sondern stärker noch die Bedürfnisse und Eigenschaften des kirchlichen Umfeldes mitzudenken. Da es sich hierbei um das zivilgesellschaftliche Umfeld der Kirche handelt, müssen noch ein paar zivilgesellschaftliche Eintragungen auf ihre kirchliche Sachgemäßheit überprüft werden. Ein wesentlicher Zwiespalt, der zwischen der allgemeinen Kirchentheorie und dieser zivilgesellschaftlichen Kirchentheorie besteht, liegt in dem Stellenwert, der Ehrenamtlichen zukommt. So wird in der Kirchentheorie oft genug eine Gewichtung zwischen engagierten Kirchenmitgliedern und distanzierten Kirchenmitgliedern diskutiert. Den Konflikt fasst Monika Wohlrab-Sahr treffend zusammen, wenn sie schreibt: „[A]uf der einen Seite gibt es eine große Gruppe von Mitgliedern, die primär am Fortbestand der Kirche interessiert sind, der sie generalisierte Unterstützung (nicht zuletzt materieller Art) zukommen lassen, innerhalb derer sie aber nicht notwendigerweise religiöse Bedürfnisse befriedigen wollen. Auf der anderen Seite bedarf es aber auch solcher Mitglieder, deren religiöse Aktivitäten das Fortdauern der Kirche als religiöse Organisation symbolisieren. Ohne die ersten, so könnte man folgern, würden die Kirche in ihrer derzeitigen organisatorischen Form nicht fortbestehen können. Ohne die zweiten aber würden sie nur als Organisation fortbestehen, ihre religiöse Substanz jedoch weitgehend einbüßen.“141

141 Wohlrab-Sahr 2011, 190.

202

Kirche als zivilgesellschaftliche Akteurin

Diese organisationslogische Gewichtung wurde bisher oft durch theologische Argumente verschärft.142 Das gilt z. B., wenn etwa die Zustimmung zu einem bestimmten inhaltlichen Programm als das eigentliche Ziel der Kirche verstanden wird, unter dem sich die Christinnen angeblich versammeln sollten. Diese Arbeit hat sich für eine pointierte Auseinandersetzung mit inhaltlichen Programmen, aber gegen eine zuletzt exkludierende Festlegung auf bestimmte Inhalte stark gemacht. Allerdings wurde hier vielleicht weniger explizit, aber doch spürbar eine kirchentheoretische Würdigung zugunsten der ehrenamtlich Engagierten unter den kirchlich Interessierten eingetragen. Kirche als Interaktion lebt schließlich davon, dass sich Menschen in die Kirche einbringen. Sozialkapital kann nur aufgebaut werden, wenn Menschen auch am kirchlichen Netzwerk teilhaben. Egal ob im bonding oder bridging, beides hängt von engagierten Menschen ab. Wer inhaltlichen Positionen der Kirche also zustimmt und die Organisation durch Kirchensteuern finanziell unterstützt, aber abgesehen von dieser organisational wichtigen Zuwendung im Interaktionsnetz der Kirche nicht vorkommt, hat an der zivilgesellschaftlich-kirchlichen Wertschätzung nur geringen Anteil. Harscher formuliert es Roßteutscher, wenn sie aus zivilgesellschaftlicher Warte dazu schreibt: „Aus einer Sozialkapitalperspektive, aber auch aus der Sicht partizipativer und deliberativer Demokratietheorien interessieren ausschließlich aktive und ehrenamtliche Mitglieder und viel weniger die Masse der passiven Mitglieder, da nur Aktive das Einmaleins der kleinen Vereinsdemokratie erlernen, da vor allem sie soziales Vertrauen und Reziprozitätswerte durch Umgang mit Menschen anderer Herkunft entwickeln, da sie Kollektivgutorientierung und Gemeinsinn verinnerlichen, da nur sie deliberative, kommunikative Kenntnisse erlangen und sich in Toleranz im Umgang mit Andersdenkenden üben müssen und da nur sie über die soziale Partizipation auch in eine politisch aktive Bürgerrolle wachsen (können).“143

Wer sich also nicht zivilgesellschaftlich und im Idealfall sogar noch politisch engagiert, ist demnach uninteressant. Diese Begründung greift zivilgesellschaftlich, aber sie greift nicht theologisch. Kirche lebt sicherlich interaktional und organisational von den Menschen, die sich in ihr und für sie engagieren. Ohne dieses Engagement könnte Kirche nicht existieren. Aber Kirche verweist in ihren inhaltlichen Programmen immer wieder darauf, dass Menschen, ob sie sich nun engagieren können, aber nicht wollen, oder wollen, aber nicht können, genauso wertvoll sind wie bereits engagierte Menschen.144 Was aus zivilgesell142 Vgl. etwa die Diskussion in dieser Arbeit zu Preul 1997 in Teil I, Kapitel 2.1.1. 143 Roßteutscher 2011, 125. 144 Dazu zählt etwa der Hinweis des Praktischen Theologen Engemann, dass religiöse Praxis nicht etwa durch moralische Appelle zu einem bestimmten Engagement drängen darf, sondern Menschen dabei helfen sollte, ein befreites Verhältnis zu sich selbst zu gewinnen. Vgl. Engemann 2013.

Fazit: Kirche für die Zivilgesellschaft: Flickenteppich und tragende Säule

203

schaftlicher Warte möglich ist, gilt nicht aus theologischer Sichtweise.145 Durch den organisationslogisch geforderten Rückbezug auf das Evangelium gibt es im innerkirchlichen Raum immer wieder theologische Positionen, die die Gleichwertigkeit aller Menschen einfordern. Die zivilgesellschaftliche Bevorzugung von ehrenamtlich aktiven Menschen kann damit für die Kirche nicht vollumfänglich gelten. Darüber hinaus ist die Frage nach dem Vorkommen von Menschen aus prekären Verhältnissen in der Kirche ein Thema, das durch die Beschäftigung mit der Zivilgesellschaft wesentlich pointierter in Erscheinung trat, als das im allgemeinen kirchentheoretischen Diskurs (etwa der Auseinandersetzung mit verschiedenen Milieus) der Fall war. Während die wenigsten Kirchentheorien dieses Thema explizit ansprechen oder die Situation sogar schön reden, benennt die zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung hier einen Missstand klar und deutlich. Es scheint allerdings, dass selbst eine zivilgesellschaftlich aktive Kirche solche Kreise wenn überhaupt, dann durch Bildungsangebote oder Beratungen eher als Klienten in den Blick nimmt. Zivilgesellschaftliches Engagement greift auf vorhandene social skills zurück. In sozialen Brennpunkten liegt dieses jedoch eher als noch zu hebendes Potenzial vor. Menschen ohne Schulabschluss und Arbeitsplatz kommen vor diesem Hintergrund auch in der Kirche nur selten aktiv vor: „In einer Vielzahl von Kirchengemeinden gibt es ‚Tafeln‘, besondere Lebensmittelläden für ärmere Menschen. In der Regel sind sie Ausdruck einer Kirche für andere: Freiwillige teilen gegen einen symbolischen Geldbetrag Lebensmittel an nachweislich Bedürftige aus. Die Beziehung zwischen diesen Gruppen ist meist hierarchisch. Das Beispiel einer Minderheit von Gemeinden zeigt jedoch: ‚Tafeln‘ können auch Ausdruck einer Kirche mit anderen sein. Zumindest einige der Armen sind dann nicht nur Kunden, ‚Nehmende‘, sondern zugleich Mithelfende, ‚Gebende‘, die ihre eigenen Fähigkeiten und Stärken einsetzen.“146

Was Heinrich Grosse hier anspricht könnte in einer zivilgesellschaftlichen Kirche durchaus Schule machen. Denn das SI hat in einer empirischen Untersuchung festgestellt, dass viele Möglichkeiten kirchlichen Engagements keine großen Kenntnisse und Fähigkeiten brauchen.147 Auch Menschen ohne großes skillset könnten also in der Kirche aktiv werden. Bei diesem verbesserungswürdigen Zustand steht die Kirche natürlich nicht allein da. Sie ist hier vielmehr Beispiel eines allgemeinen zivilgesellschaftlichen Zustands, in dem Menschen aus prekären Verhältnissen oft ausgegrenzt werden. Allerdings hat die Kirche – und das 145 Vgl. dazu auch Ludwigs Erwägungen zum Umgang mit Distanz und Nähe zur Kirche. Ludwig 2010, 400. 146 Grosse 2010, 328. 147 Vgl. Sozialwissenschaftliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland 2017, 17.

204

Kirche als zivilgesellschaftliche Akteurin

womöglich im Unterschied zu manchen anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren – sowohl den Anspruch an sich selbst als auch die milieu- und schichtübergreifende Mitgliederbasis, um auch Menschen aus prekären Hintergründen verstärkt in ihr interaktionales Netz zu integrieren.148 Zumal die Kirche nicht nur in bürgerlichen Dörfern und Villenvierteln, sondern auch in strukturschwachen Gegenden und Brennpunktvierteln anwesend ist. Mit ihrem zivilgesellschaftlichen Profil liefert die Kirche bereits gute Antworten auf die Herausforderung einer liquider werdenden Moderne. Indem sie ihre zunehmend nur zeitweiligen Ehrenamtlichen auf organisationaler Ebene professionell und flächendeckend begleitet und schult, indem sie ihren institutionell vorgegebenen Auftrag zum Einsatz für Arme und Schwache annimmt, indem sie ihre interaktionalen Netzwerke für Menschen aller Couleur der multiplen Moderne zugängig macht und indem sie sich auf diese auch inszenatorisch zubewegt, bleibt Kirche in liquider Bewegung. Wenn sich Kirche innerhalb des hier aufgezeigten Rahmens bewegt, hat sie gute Chancen, ihre Rolle in der Zivilgesellschaft bewusster einzunehmen und damit auch mehr positive wie notwendigerweise auch kritische Resonanz zu gewinnen. Das bedeutet zugleich, Trutzburgen der soliden Moderne in Form von organisationaler Eindeutigkeit, institutioneller Normativität, interaktionaler Einengung bei gleichzeitiger Ausgrenzung und inszenatorischer Singularität hinter sich zu lassen. Für die Kirche wird es allerdings auch eine Herausforderung bleiben, dabei weiterhin mit den eigenen Profilen zu ringen, um nicht in einer zivilgesellschaftlichen wie auch religiösen Beliebigkeit aufzugehen, die keinerlei Bezug mehr zum Evangelium kennt.

148 Vgl. dazu auch Fischer 2008, 74.

Teil II Eine Beurteilung von zwei herausragenden Beispielen zivilgesellschaftlicher Kirche Im ersten Teil dieser Arbeit wurde ein konzeptionelles Fundament gelegt. Kirche und Zivilgesellschaft wurden erst gesondert voneinander und schließlich in ihrer gemeinsamen Verwobenheit betrachtet. Dabei ging es immer auch um die Bedingungen der liquider werdenden Moderne, unter denen Kirche und Zivilgesellschaft derzeit gestaltet werden. Das so dargestellte Konzept einer zivilgesellschaftlich aktiven Kirche ist für die Kirche nichts vollumfänglich Neues. Denn die Kirche ist bereits eine Akteurin in der Zivilgesellschaft. Allerdings wurde diese Perspektive im kirchentheoretischen Diskurs nur selten und dann zumeist in eher ornamentalem Ausmaß eingenommen. Aber nicht nur der praktischtheologische Diskurs, sondern auch die kirchliche Praxis wird an vielen Stellen von dem Bemühen um zivilgesellschaftliche Resonanz geprägt. Dabei stechen derzeit zwei Bewegungen innerhalb der EKD hervor. Sowohl die Fresh Expressions of Church (Fresh X)1 als auch die Gemeinwesendiakonie weisen ein Profil auf, das Kirche in der Zivilgesellschaft verankert. Beide Bewegungen werden von unterschiedlichen Akteuren vorangetrieben. Sie nähern sich der Zivilgesellschaft dann auch mit unterschiedlichen Logiken und in unterschiedlichem Ausmaß. Der Kontrast zwischen Fresh X und der Gemeinwesendiakonie wird im Fazit angesprochen. Im Folgenden sollen die beiden Bewegungen aber erst einmal für sich genommen und auf der Grundlage des zuvor Erarbeiteten dargestellt, analysiert und bewertet werden. So erstrahlen beide Bewegungen in ihrem eigenen Licht, ohne vor dem Hintergrund der jeweils anderen Bewegung vorschnell als angemessen oder defizitär dargestellt zu werden. Letztlich wird dabei deutlich werden, dass sich Kirche bereits sehr dynamisch in der Diskurs- und Tatlandschaft der Zivilgesellschaft bewegt und sie zudem von den dort vorherrschenden Themen, Menschen und Organisationen mitgestaltet wird.

1 Die Abkürzungen von „Fresh Expressions of Church“ sind weder im wissenschaftlichen noch im alltäglichen Bereich einheitlich. Hier wird nicht die (im englischen Diskurs und bei Müller gebräuchliche) Abkürzung FxC verwendet, sondern die (auch im Deutschen gebräuchliche) Selbstbezeichnung Fresh X. Vgl. dazu auch Hermelink und Müller 2018, 3, Anm. 1.

1.

Fresh Expressions of Church

Fresh X ist eine kirchliche Bewegung. Sie begann in den 1990ern und damals noch ohne das Etikett „Fresh X“ als gras-root-movement in Großbritannien.1 In dieser Bewegung geht es darum, dort eine neue Kirchengemeinde zu gründen, wo das kirchliche Leben zuvor kaum stattfand. Dabei haben sich im Lauf der Zeit bestimmte Vorgehensweisen und Ansichten etabliert, die Fresh-X-Gemeinden von anderen Kirchengemeinden abheben. Die Fresh-X-Bewegung wurde in Großbritannien immer stärker, sodass sich mittlerweile ca. 15 % aller Kirchengemeinden der Church of England daran orientieren.2 Vermutlich wird die Bewegung dort auch weiterhin wachsen, schließlich erhält sie von kirchenleitender Ebene viel Aufmerksamkeit und Förderung.3 Der kirchenleitende Bericht „Mission shaped Church“ aus dem Jahr 2004 war dabei ein Meilenstein in der noch immer jungen Bewegung. Seit dieser Untersuchung kam es zu zahlreichen kirchentheoretischen Reflexionen und damit einhergehend auch zu strukturellen Anpassungen der Church of England. Zeitgleich mit der theologischen Debatte wurde so auch die parochiale Praxis der Church of England ebenso wie das Ausbildungssystem auf einen Prüfstand gestellt und teilweise verändert. Fresh X sticht aber nicht nur auf organisationaler Ebene heraus. Auch ganz bestimmte institutionelle Herangehensweisen prägen die Fresh X. Das eigentliche Achtergewicht der Bewegung wird, wie sich zeigen wird, erst auf Interaktionaler und inszenatorischer Ebene greifbar. Für diese Arbeit ist Fresh X überhaupt erst interessant, weil die Bewegung seit einigen Jahren zunehmend auch in Deutschland Aufmerksamkeit erhält.4 Dabei beschäftigen sich einige Teile der EKD mit der Bewegung und versuchen teilweise 1 Der Begriff „Fresh X“ setzte sich erst ab 2003 zunehmend durch. Vgl. Müller 2016a, 41. 2 Lings 2016, 80. 3 „A contributory reason to this confidence [sc. dass es immer mehr Fresh X Gemeinden geben wird] may be that several senior staff across the dioceses have prior experience of leading an fxC or church plant when they were vicars or curates. […] Taken together, this range of factors makes it hard to think that this period of innovation can be reversed.“ Lings 2018, 8–9. 4 Vgl. Rempe und Krebs 2017, 110–122.

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Fresh Expressions of Church

auch, die Grundgedanken in Deutschland umzusetzen. Das Greifswalder Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung zählt dabei wohl zu einer der ersten Institutionen, die das Phänomen Fresh X im deutschsprachigen Raum durch Studienfahrten nach Großbritannien, Kongresse und Veröffentlichungen positiv verfolgen und verstärken. Die Impulse werden etwa in der Church Convention, einem Netzwerk von Pfarrerinnen und Pfarrern, aufgenommen. Auf EKD Ebene reflektiert das Zentrum für Mission in der Region das Thema. Auch die Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste ebenso wie der Christliche Verein Junger Menschen bieten Workshops und Informationsveranstaltungen zu Fresh X an. Zudem haben sich in einigen Bundesländern ökumenische Runde Tische aus Praktikerinnen und Theoretikern gegründet (so z. B. in Hessen), die zu Fresh X tagen. Einzelne Landeskirchen haben Stellen eingerichtet, die Fresh X in Deutschland durch Kurse fördern (etwa in Württemberg oder in Hannover) und Akteure vernetzen (z. B. in Mitteldeutschland, Bayern oder Baden). Dabei muss die ökumenische Kooperation Kirche2 des Bistums Hildesheim und der Hannoverschen Landeskirche hervorgehoben werden. Sie veranstalteten 2013 einen richtungsweisenden und viel beachteten Kongress zum Thema und prägen seitdem die Theoriebildung und die Praxis der Bewegung.5 Neben diesem breiten Interesse seitens der kirchlichen Praxis beschäftigt sich zunehmend auch die deutschsprachige praktisch-theologische Wissenschaft mit Fresh X. Auch hier ist das Greifswalder Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung federführend. Abgesehen davon waren Publikationen zu Fresh X jedoch ausgesprochen selten.6 Aber spätestens, seitdem Sabrina Müller 2016 ihre qualitativ-empirische Arbeit zum Thema vorgelegt hat und sich damit auch der Praktisch Theologische Lehrstuhl in Zürich die Auseinandersetzung mit Fresh X auf die Fahne geschrieben hat, nimmt der wissenschaftliche Diskurs unter Beteiligung verschiedener kirchlicher Einrichtungen an Fahrt auf.7 Die Bewegung wird seit 2017 auch durch den Verein „Fresh X-Netzwerk e.V.“ begleitet, in dem sich zentrale Akteurinnen der Bewegung organisiert haben. Die Theorie und Praxis von Fresh X ist im Verlauf dieses Diskurses schon mehrfach, grundlegend und gemäß der Logik, die der Bewegung zueigen ist, abgebildet worden.8 Darauf wird im Folgenden immer wieder zurückgegriffen werden. In dieser Arbeit wird die Bewegung allerdings nach dem 5 Vgl. dazu auch den Sammelband Elhaus 2013. 6 Erwähnenswert und herausragend ist hier die skeptisch-würdigende Beschäftigung mit Fresh X von Koll 2012. 7 Vgl. etwa die Ausgabe der Zeitschrift Praktische Theologie 53, 2018 oder den Sammelband Pompe et al. 2016. 8 Siehe dazu etwa den praktisch-theologisch sehr gehaltvollen Reisebericht von Baer-Henney 2015, die empirische Untersuchung von Müller 2016a oder die zusammenfassenden Darstellungen von Weimer 2016.

Fresh Expressions of Church

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bewährten kirchentheoretischen Muster von Jan Hermelink analysiert, was im Diskurs in dieser Konkretisierung bisher noch ausgeblieben ist. Ich werde Fresh X also nach organisationalen, institutionellen, interaktionalen und inszenatorischen Gesichtspunkten befragen. Eine neue Perspektive erhält die Analyse von Fresh X durch die zivilgesellschaftliche Ausrichtung, die die allgemeine Kirchentheorie in Teil I dieser Arbeit erfahren hat. Dabei ist die Frage nach der zivilgesellschaftlichen Bedeutung von Fresh X alles andere als wesensfremd für die Bewegung. Denn zahlreiche Erfahrungsberichte und Narrative, mit denen Fresh X für sich wirbt, weisen ein unverkennbar zivilgesellschaftliches Profil auf. Das ist der Fall, wenn etwa von der Arbeit in einem kirchlich koordinierten „Internationalen Café“ berichtet wird, das „[f]ür viele, ob Flüchtling oder Einheimischer […] ein wöchentliches Highlight“9 darstellt. Oder wenn in Basel „Menschen aus prekären Milieus“ so inklusiv vernetzt werden, dass „jede […] eine Gelegenheit zur Mithilfe erhalten“ soll.10 Kirche nimmt in Form der Fresh-XBewegung also zweifellos den Weg in die Zivilgesellschaft auf sich. So schreiben auch die Fresh-X-Akteure Rempe und Krebs: „Eine Fresh X will immer umfassend das Beste für die Menschen, ob es die konkrete Hilfe für Migranten, das Gebet für persönliche Nöte, das Streichen von Treppenhäusern im sozialen Wohnungsbau, Aktionen zur Versöhnung und Konfliktbewältigung oder die tragende Gemeinschaft für Vereinsamte ist.“11

Allerdings lässt sich das so auch nicht ohne Rückfragen und Einschränkungen festhalten. Denn längst nicht alle Fresh-X-Gruppen fragen so intensiv nach dem Gemeinwohl in ihrer Nachbarschaft. Oftmals beschränkt sich ihr zivilgesellschaftliches Profil darauf, kirchendistanzierte Menschen in starke bondingStrukturen zu integrieren. Das wiederum ruft Roßteutschers Kommentar in Erinnerung, wonach religiöses Sozialkapital „kaum außerhalb der eigenen Gemeinde zum Tragen“12 kommt. Ein weiteres Fragezeichen setzt der ebenso pointierte wie reflektierte missionstheologische Unterbau der Fresh-X-Bewegung an ihr zivilgesellschaftliches Profil. Das gilt zumindest dann, wenn Mission als Konversionsbemühung verstanden wird und die zivilgesellschaftlich relevanten Bemühungen entsprechend als Mittel zum Zweck der Bekehrung eingesetzt werden. Das – so viel sei hier vorweggeschickt – ist ein Ansatz, der in der Fresh-X-Bewegung immer wieder anzutreffen ist, der aber genauso häufig auch innerhalb der Bewegung zurückgewiesen wird. Fresh X ist also eine facettenreiche Bewegung, über die nicht pauschal geurteilt werden kann. Dazu schreibt der britische Sozialwissenschaftler George Lings: „The word ‚agenda‘ deserves a 9 10 11 12

Kalmbach 2017, 103. Mang 2018, 22. Rempe und Krebs 2017, 37. Roßteutscher 2009, 55.

210

Fresh Expressions of Church

comment. In that FxC is not a coordinated movement and certainly not a political party within the Church, to talk of an agenda is misleading.“13 Umso wichtiger ist eine umsichtige und differenzierte kirchentheoretisch-zivilgesellschaftliche Analyse der Fresh-X-Bewegung, die im Folgenden unternommen werden soll.

1.1

Fresh X als kirchlich-zivilgesellschaftliche Organisation

Die einzelnen Fresh-X-Netzwerke und Gruppen sind organisational höchst unterschiedlich aufgestellt und strukturell an ihren jeweiligen Kontext angepasst. Das fordert eine allgemeine organisationslogische Beschreibung von Fresh X heraus. Doch es gibt organisationale Gemeinsamkeiten, die hier beschrieben werden können. Schließlich ist die britische Bewegung das Vorbild der bisher kaum empirisch untersuchten deutschsprachigen Fresh-X-Bewegung. In Großbritannien wurde Fresh X mittlerweile ausführlich analysiert, sodass die Ergebnisse wenigstens teilweise auch für den deutschen Zusammenhang geltend gemacht werden können. Zudem gibt es zahlreiche Berichte von deutschen Fresh X, die hier zur Sprache kommen. Das alles reicht aus, um ein plastisches organisationales Bild von Fresh X zu skizzieren. Dieses soll hier nach einer allgemeineren Beschreibung dann zivilgesellschaftlich eingeordnet und beurteilt werden. Dabei wird insbesondere die zivilgesellschaftlich bedeutsame Frage aufgegriffen, auf welche Weise sich Ehrenamtliche in Fresh X einbringen können und wie sehr das wiederum die jeweilige Gemeindestruktur prägt. In der Einleitung wurde bereits darauf hingewiesen, dass Fresh X erst durch das organisationale Zusammenspiel von überregionaler Leitungsebene und den lokalen Kirchengemeinden so erfolgreich werden konnte. So lassen sich Diözesen in England finden, in denen dieses Zusammenspiel offensichtlich gut funktioniert hat und es überdurchschnittlich viele Fresh X gibt. Dort sind dann bis zu einem Drittel aller Kirchengemeinden Fresh X. Zugleich lassen sich in solchen Diözesen nur wenige Fresh X finden (weniger als 10 %), wo man auf kirchenleitender Ebene scheinbar kein ernsthaftes Interesse an Fresh X zeigt.14 Auch wenn die Autoren der repräsentativen empirischen Studie „The Day of Small Things“ sich nur vage äußern, inwiefern kirchenleitendes Handeln Fresh X befördert, liegt die Vermutung nahe, dass z. B. die Bereitstellung von Geldern, hauptamtlichen Stellen oder Fortbildung Fresh X stabilisieren. Denn bei Fresh X handelt es sich um neu gegründete Gemeinden. Oft stehen sie auf einem schmalen organisationalen Konzept, das häufig von viel Engagement bei 13 Lings 2016, 9. 14 Lings 2016, 53–54.

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gleichzeitiger finanzieller Unsicherheit getragen wird.15 Dabei sendet etwa eine Kirchengemeinde oder ein Dachverband eine Einzelperson oder ein Team aus, mit dem Ziel, eine Fresh X aufzubauen: „FxC sind nicht mit einem […] Gemeindeentwicklungskonzept gleichzusetzen und sie versuchen nicht, schon bestehende Gemeinden zu verändern. Ihr Ziel ist die Schaffung von neuen kontextuellen ekklesialen Räumen.“16 Entscheidend ist dabei die Beantwortung der Frage: „Wie erreichen wir die, die wir bisher nicht erreichen?“17 Aus dieser Frage entsteht dann eine Fresh X, wenn „eine Gemeinde ein spezielles Angebot entwickelt, das außerhalb der kirchlichen Räume stattfindet.“18 Dabei treten solche neu ins Leben gerufene Fresh X augenscheinlich in Konkurrenz mit bereits bestehenden Kirchengemeinden. Das ist jedoch eine Annahme, die man so nicht stehen lassen muss. Denn Fresh X geht von einer mixed economy19 aus. Diese nimmt nicht die flächendeckende Zugehörigkeit der Kirchenmitglieder zu einer bestimmten Parochie in den Blick. Viel wichtiger sind die Netzwerke, in denen die ortspolygamen Menschen einer liquiden Gesellschaft Zugehörigkeit finden.20 Solche Netzwerke können zwar auch lokal verwurzelt sein, sind aber zumeist um ein bestimmtes Interesse oder eine Milieuzugehörigkeit organisiert. Diese Perspektive ermöglicht einen neuen Blick auf parochiale Landkarten. Trotz formaler Anbindung an die Kirche erscheinen so Netzwerke, die vom kirchengemeindlichen Leben unerreicht bleiben.21 Das ist der Fall, wenn in einer Kirchengemeinde etwa Pendler oder allein erziehende Mütter keinen kirchlichen Anschluss finden, weil die bisher angebotenen Strukturen nicht zu deren Lebenswirklichkeit passen.22 Eine Fresh X kann sich dann in ihren Bemühungen auf so ein Netzwerk konzentrieren und auf den Gebieten bestehender Parochien stattfinden. Dabei 15 16 17 18 19

Vgl. z. B. Müller 2016a, 112, 126. Müller 2014, 453. Rempe und Krebs 2017, 9. Rempe und Krebs 2017, 10. Ein Begriff, dessen Übersetzung Mischwirtschaft lautet und „der aufgrund der phonetischen Ähnlichkeit zu ‚Misswirtschaft‘ hierzulande besser mit Mischwald übersetzt würde.“ Kirche² – Eine ökumenische Bewegung Bistum Hildesheim und Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers, 32. 20 Vgl. The Archbishops’ Council 2004, 1–7. 21 Vgl. Müller 2016a, 160. 22 Dass es sich bei solchen Widersprüchen zwischen kirchlichem Leben und dem eigenen Leben nicht um einen Sonderfall, sondern um einen Normalfall handelt, wird von Fresh X Akteurinnen immer wieder hervorgehoben und kritisiert: „Es kann sich konkret darin äußern, dass sich jemand fragt, warum die eine Stunde am Sonntagmorgen ab 10 Uhr so wenig mit dem Rest der Woche zu tun hat, warum auch kaum mit dem, was um das Kirchengebäude im Dorf oder im Stadtteil passiert. Warum der eigene Musikgeschmack, die eigene Ästhetik, die eigenen Lebensvollzüge so wenig relevant sind für die vorfindlichen Formen kirchlichen Lebens. Warum man in der Kirche andere Tee-Sorten trinkt, andere Dinge isst und überhaupt anders Gastgeber ist, als man das in anderen Bezügen erlebt und selbst vollzieht.“ Herrmann 2017, 12.

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muss sie keineswegs in ernstzunehmende Konkurrenz mit der örtlichen Kirchengemeinde treten.23 Hieran knüpft eine anglikanische Debatte, die immer wieder auch im deutschen Kontext auftaucht. Sie zielt auf den kirchentheoretischen Status von Fresh X als selbstständiger Kirchengemeinde ab. In der Church of England wurde dieser Status in der Praxis erst nach Konflikten und einigem kirchenpolitischen Ringen gewährt. „Das provokative Element der fxC liegt darin, dass sie beanspruchen, Kirche zu sein, und diesen Status seit 2008 auch offiziell anstreben können. Dadurch unterscheiden sie sich klar von kirchlichen Projekten, Erwachsenenbildungen, Programmen oder Gottesdiensten.“24

Bis heute ist diese Auseinandersetzung auch im deutschen Kontext ausgesprochen präsent. So trägt etwa der Sammelband „Fresh X – Frisch. Neu. Innovativ.“ den Untertitel „Und es ist Kirche“. Der Untertitel verweist auf eben diesen ursprünglich anglikanischen Konflikt zwischen verschiedenen Kirchentheorien. Allerdings wird der Vorwurf, dass eine Fresh X keine eigenständige Kirchengemeinde sei, im deutschen Diskurs kaum laut. Lediglich Isolde Karles segmentär strukturiertes Kirchenverständnis kritisiert Fresh X derart. Jan Hermelink macht in seinem kirchentheoretischen Kommentar zur Selbstbeschreibung verschiedener Fresh X darauf aufmerksam, dass diese Position der Bewegung nicht gerecht wird: „Ob man diese [sc. Fresh X] und viele ähnliche Sozialformen des christlichen Glaubens nicht nur sprachlich, sondern mit theologischem Anspruch ‚Gemeinde‘ nennen sollte, das war zwar lange und heftig umstritten. Die gegenwärtige praktisch-theologische Diskussion ist jedoch nahezu einhellig – Ausnahmen wie Isolde Karle bestätigen die Regel – der Auffassung, dass der Begriff der Gemeinde nicht (mehr) auf die traditionelle Form der Ortsgemeinde reduziert werden darf. […] sie erfüllen offenbar alle theologischen Kriterien, um ‚Gemeinde‘ zu sein. Man kann also fragen: Wo liegt das Problem mit dem Gemeindebegriff ?“25

Erstaunlicherweise hält Hermelink dennoch fest, „dass die meisten real existierenden Fresh X nicht als Gemeinde organisiert sind – und dies oft auch gar nicht wollen.“26 Er führt das einerseits darauf zurück, dass organisationale Selbstständigkeit und Zuverlässigkeit sehr viele Ressourcen benötigen. Die sind wiederum schwer zu gewinnen. Fresh X suchen nach der Theorie der Bewegung die 23 So auch Sabrina Müller: „Ihr [sc. Fresh X] Fokus gilt den Menschen, welche kaum oder keine Berührungspunkte zur Ortsgemeinde, auch nicht durch Kasualhandlungen, aufweisen.“ Müller 2016c, 280. 24 Müller 2016a, 145. 25 Hermelink 2018, 40. 26 Hermelink 2018, 39.

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Selbstständigkeit und sie finden diese – was später deutlich werden wird – auch auf interaktionaler und inszenatorischer Ebene. Ob sie aber auch auf organisationaler Ebene auf eigenen Beinen stehen, dies anstreben oder durch Beschäftigungsverhältnisse, genutzte Räume usw. von der wohlwollenden Unterstützung oder wenigstens Duldung einer bestehenden Kirchengemeinde abhängen, muss hier ungeklärt bleiben. Denn es gibt dazu für den deutschsprachigen Raum keine Erhebungen und handfesten Zahlen. Für Hermelink ist jedenfalls deutlich, dass die klassischen Kirchengemeinden mit ihren aufwändigen Strukturen und Hierarchien auf Fresh X abschreckend wirken: „Gemeinde – hier offenbar organisatorisch verstanden – erscheint so unbeweglich, so erstarrt in Traditionen und Regularien, dass ‚dem Neuen‘ überhaupt kein Raum mehr offensteht. […] Konkret wird diese Erstarrung der herkömmlichen Gemeinde nicht zuletzt an ihren Leitungsstrukturen. […] [Es] zeigt sich ein Unbehagen an den herkömmlichen, auf Pfarramt und Kirchenvorstand fixierten Leitungsformen.“27

Solche pfarramtlich-hierarchische Leitungsformen sind für Fresh X unüblich. Es scheint gerade so, als wollen sich Fresh X unbedingt von Ralph Fischers zivilgesellschaftlicher Negativfolie einer hierarchischen Behördenkirche abgrenzen. Wenigstens für Großbritannien gilt, dass „50 Prozent der etwa 3000 fresh expressions of church in England […] von Ehrenamtlichen aufgebaut und […] auch von diesen geleitet“28 werden. Dabei haben längst nicht alle Ehrenamtlichen eine theologische oder sonstige kirchliche Ausbildung erhalten. Im englischen Diskurs werden diese Personen lay-lay genannt: „This term [sc. lay-lay] […] means lay people leading an fxC, without formal licensing and usually without recognised training, who nevertheless are doing so, usually in their spare time.“29 Erstaunlich ist, dass das zu erwartende kirchliche Misstrauen gegenüber solchen Laien scheinbar unangebracht ist. Sehr ehrlich beschreibt Lings die Situation: „We are beginning to learn that lay-lay leaders of fxC do as well as authorised lay and clergy leaders. We still have to demonstrate that we know how to support them without turning them into puppet clergy.“30 Fresh X fordert mit dieser auf außerordentliches Engagement basierenden Organisationskultur den Status quo der hauptamtlich organisierten kirchengemeindlichen Hierarchie heraus. Sabrina Müller beschreibt das sehr treffend: „Im Horizont einer mixed economy church verändert sich […] auch das Pfarramt. Eine mixed economy ist geprägt von einer engen partnerschaftlichen Zusammenarbeit von Pfarrpersonen und Ehrenamtlichen. Das bedingt […] die Bereitschaft […], von der Kanzel hinunter zu steigen und den ehrenamtlich Mitarbeitenden auf Augenhöhe zu 27 28 29 30

Hermelink 2018, 42. Müller 2016b, 124. Lings 2016, 62. Lings 2018, 12.

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begegnen. Dazu braucht es eine geteilte Verantwortung, eine große Fehlertoleranz und eine Großzügigkeit, anderes zuzulassen.“31

Hier wird dann auch deutlich, was Fresh X auf organisationaler Ebene als zivilgesellschaftliche Akteure ausmachen. Die jungen Gemeinden sind in besonders hohem Maß davon abhängig, dass Menschen füreinander Verantwortung übernehmen und sich einbringen. Das ist bei Fresh X weder Zufall, noch ist es allein aus einer organisationalen Notwendigkeit heraus geboren, wie etwa den geringen finanziellen Ressourcen. Vielmehr gehört die Einbindung von Engagierten in die Organisation der Fresh X zum programmatischen Repertoire der Bewegung. An diesem Punkt entsprechen Fresh X einer Forderung von Kirche als zivilgesellschaftlicher Organisation: Ehrenamtliche sollten ihre eigene Individualität in die Kirche eintragen und dabei eine zugewandte Begleitung erfahren dürfen. Bei Fresh X wird das an dem programmatischen Ziel ersichtlich, „formational“ zu sein: „it aims to form disciples.“32 Der Anteil von Fresh X, in denen Nachfolge eine zentrale Praxis ist, wird dabei in Großbritannien mit ca. 80 % beziffert.33 Nachfolge hat hier eine organisationale und eine theologische Dimension. Organisational ermöglicht Nachfolge Teilhabe, Verantwortungsübernahme und die Pflege der eigenen social skills. Aus zivilgesellschaftlicher Sicht ist das sehr wünschenswert. Theologisch fördert die Praxis der Nachfolge zugleich eine Stärkung des allgemeinen Priestertums. Fresh X wollen bei ihren Mitgliedern einen theologischen Reflexionsprozess beginnen und begleiten: „‚A fresh Expression journeys with people. They make discipleship a priority – valuing people’s different faith journeys and supporting them as they wonder, explore and encounter.‘ Es geht also weniger um ein spezifisches Wissen als um einen Glaubens-, Zweifel-, und Suchprozess, welcher auf die theologische Figur der Trinität bezogen ist.“34

Fresh X entfalten in der Einbindung und Schulung von Engagierten eine im kirchengemeindlichen Vergleich herausragende zivilgesellschaftliche Leistung. Allerdings birgt der Anspruch, formational zu sein, nicht nur ein zivilgesellschaftlich und theologisch wünschenswertes Potenzial. Nachfolge kann schließlich nicht nur als gemeinsamer Suchprozess, sondern auch als asymme31 Müller 2016b, 126. 32 Lings 2016, 18. 33 „80.4 % are taking some steps to grow disciples, not just attract attenders, leaving 19.6 % failing, as yet, to take steps down this path.“ Lings 2016, 11. 34 Müller 2018, 35. Vgl. Müller 2016a, 304–305 oder auch Baer-Henney 2015, 21: „Damit das Ganze [sc. Fresh X] nachhaltig ist und nicht mit dem ersten Pionier und seinem Team steht und fällt, wird großer Wert darauf gelegt, dass Fresh Expressions Menschen in der Nachfolge schult (formational); Sie bilden neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus und formen Menschen in ihrem Glauben nachhaltig. So bald wie möglich soll das Pionierteam Kompetenzen abgeben, um die Gemeinschaft eigenständig und erwachsen werden zu lassen.“

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trischer Konversionsprozess verstanden werden.35 Der Wunsch nach organisationaler und theologischer Augenhöhe zwischen den Gründerinnen und den Mitgliedern einer Fresh X wäre dann schnell passé. Dieser Einwand kann aber die Fresh X Bewegung nicht unter „Generalverdacht“36 stellen. Schließlich brechen wichtige Stimmen innerhalb von Fresh X oft genug die Lanze für die offene Prozesshaftigkeit der gemeinsamen Nachfolge: „In der Praxis wird discipleship nicht gelehrt, sondern durch Partizipation und Mitarbeit gelebt. […] von Beginn an wird gemeinsam gearbeitet, gefeiert und die Verantwortung wird, auch in theologischen Belangen, geteilt.“37 Fresh X zielen intensiv auf discipleship ab. Dadurch wird hier verstärkt spürbar, was in anderen Kirchengemeinden, denen Nachfolge weder organisational noch theologisch besonders wichtig ist, unter der Oberfläche bleibt. So wird bei Fresh X dann vermutlich auch recht schnell deutlich, ob dort ein solider oder eher ein liquider gesellschaftlicher bzw. theologischer Wind weht; ob also eine Konversion oder eine gemeinsame Suche nach Positionen angestrebt wird. Daran entzündet sich dann auch die abschließende zivilgesellschaftliche Beurteilung der jeweiligen Fresh X. Dürfen sich Ehrenamtliche hier prägend einbringen, ungeachtet ihrer heterodoxen Standpunkte, und können sie die Fresh X so gemäß ihrer eigenen Identität formen? Oder müssen die Mitglieder einer Fresh X für eine vollwertige Teilhabe erst auf bestimmte Positionen geeicht werden, sodass sie selbst durch die Fresh X verformt werden? Die Betonung der individuellen Nachfolge stellt für Fresh X also grundsätzlich ein zivilgesellschaftliches sehr wünschenswertes Pfund dar, das allerdings, je nach Praxis, für eine überaus positive oder eben eine überaus negative Bewertung ausschlaggebend sein kann. In dem Wunsch, formational zu sein, formulieren Fresh X also je nach Intention und Praxis eine kirchlich-zivilgesellschaftliche Chance oder einen kirchlich-zivilgesellschaftlichen Problemfall. Was die Mitgliedschaftslogik angeht, heben sich Fresh X von soliden organisationalen Vorstellungen ab. Mitgliedschaft wird hier nicht über formale Kriterien geregelt. Viel mehr wird sie interaktional über die Beziehung im Netzwerk zu anderen Mitgliedern einer Fresh X organisiert. Zugehörigkeit zu einer Fresh X zeigt sich demnach über die Teilnahme an Treffen und Events. Für die zivilgesellschaftliche Bedeutung von Fresh X hat das ambivalente Folgen. Daher soll dem Mitgliedschaftsbegriff von Fresh X auf interaktionaler Ebene noch ausgiebiger nachgegangen werden. Auch die Behandlung anderer Rückfragen an das Programm von Fresh X, etwa die missionale, kontextuelle oder ekklesiologische Ausrichtung, kommen weni35 Dieses Thema wird noch ausführlicher in Teil II, Kapitel 1.4 behandelt. 36 Vgl. dazu Müller 2018, 37. 37 Müller 2018, 37.

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ger auf organisationaler, sondern stärker noch auf interaktionaler bzw. inszenatorischer Ebene zum Tragen. Eine weitere Anfrage an die Organisation der Bewegung muss hier noch diskutiert werden. Julia Koll macht in ihrem Bericht zu einer Studienreise nach England darauf aufmerksam, dass das anglikanische Ausbildungssystem zum haupt- und ehrenamtlichen Personal „positivistische“, „verengte“ und „endakademisierte“ Inhalte befördert: „Hermeneutische Überlegungen oder kritische Zugänge sucht man vergebens.“38 Wenn die Church of England ihr haupt- und ehrenamtliches Personal tatsächlich so ausbildet, wird sich das auch auf die eine oder andere Art in den Fresh X abzeichnen. Sabrina Müller, die sich in ihrer empirischen Untersuchung auch mit dem Ausbildungssystem der Church of England beschäftigt hat, erwähnt so einen Missstand nicht.39 Aber mangels entsprechendem Material kann Kolls Vorwurf hier nicht entkräftet werden. Es gibt allerdings neben Müllers argumentum ex silentio weitere Gründe, das Kind Fresh X wegen einer möglichen monoperspektivischen Ausbildung in der Church of England nicht mit dem Bade auszuschütten. Erstens entziehen sich die lay-lay Engagierten dem organisationalen Zugriff der Church of England. Deren Haltung kommt also unabhängig von einem womöglich verengten Ausbildungssystem zustande. Zweitens ist die Bewegung in sich dermaßen heterogen und reicht von liberalen Profilen, über evangelikale Formate bis hin zu diversen weiteren etikett-freien anderen Stilen, sodass man eigentlich nur auf eine entsprechend multiperspektivische Ausbildung rückschließen kann.40 Ob Kolls Urteil über die britische Fresh X Ausbildung vollständig, teilweise oder nicht zutrifft, darf hier wenigstens vorsichtig angefragt werden. Es wäre falsch, aus der Skepsis gegenüber dem Ausbildungssystem in England auch ein reflexartiges Vorurteil über die deutschsprachige Bewegung abzuleiten. Davor warnt auch der Fresh-X-Praktiker Sebastian Baer-Henney, wenn er schreibt: „Schnell sehen sie [sc. die Akteure von Fresh X und ähnlichen Modellen] sich dem Vorwurf einer fundamentalistischen Prägung mit übertriebenem missionarischen Eifer ausgesetzt – obwohl sie aus theologisch sehr unterschiedlichen Lagern kommen, die das gesamte Spektrum protestantischer Ausprägungen (von der ökumenischen Perspektive ganz zu schweigen) abdeckt [sic].“41

Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass Fresh X frei von kulturellen oder theologischen Kritikpunkten wäre. Zumal bei Fresh X tatsächlich auch solche Prägungen vorhanden sind, auf die Koll hier aufmerksam macht. Nur darf das 38 Vgl. Koll 2012, 233–234. 39 Vgl. Müller 2016a, 97–98, 236–244. 40 Vgl. für einen ausgiebigen Eindruck über diesen Facettenreichtum die Darstellung von BaerHenney 2015. 41 Baer-Henney 2017, 151.

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nicht zu einer vorschnellen Absage an Fresh X führen. Das würde letztlich auch dem zivilgesellschaftlichen Potenzial dieser ehrenamtsgetragenen Bewegung nicht gerecht werden.

1.2

Fresh X als kirchlich-zivilgesellschaftliche Institution

Auf institutionslogischer Ebene ist Fresh X nur schwer zu fassen. Dabei reagieren Fresh X auf die gleichen gesellschaftlichen Herausforderungen, die die Institution Kirche ebenso prägen, wie auch die Zivilgesellschaft. Allerdings geschieht diese Reaktion nicht in einer stetig-langsamen Anpassung an den Wandel von einer soliden hin zu einer liquiden Moderne. Vielmehr stellen sich Fresh X aktiv auf diesen Wandel ein und grenzen sich zugleich häufig von der Konventionalität kirchlicher Institutionen ab. Würde man hier also einen soliden Institutionsbegriff zugrunde legen, der Kirche allein über wirkmächtige Konventionen nach Berger/Luckmanns „this is how these things are done“ versteht, so würde dieses Unterkapitel fast schon entfallen. Denn allein wegen der – im Vergleich zum anglikanischen Vorbild – geringen Ausbreitung, die die Bewegung im deutschsprachigen Raum bisher entfalten konnte, bleibt die Institutionsartigkeit der EKD von Fresh X bisher weitgehend unberührt. Fresh X sind hierzulande ein Ausnahmefall kirchlicher Konventionen. Ein genauerer Blick zeigt aber, dass sich Fresh X keineswegs in einem nicht-Verhältnis zur Institution Kirche befindet. Denn auch diese dynamische Bewegung knüpft an konventionelle und zugleich kirchlich-zivilgesellschaftliche Erwartungshaltungen an. Fresh X erscheint dann nicht etwa als non-konforme und anti-institutionelle Rebellion, sondern als kreative, variantenreiche Realisierung kirchlich-zivilgesellschaftlicher Institutionen. Fresh X verstehen sich von Anfang an als eine kirchliche Reaktion auf einen gesellschaftlichen Wandel. Dabei beziehen sie sich zum einen prominent auf die Säkularisierung und den damit einhergehenden gesamtgesellschaftlichen Rückgang kirchlicher Konventionen: „Während des größten Teils des 20. Jahrhunderts erwies sich die vorherrschende Kultur in England als immer säkularer. […] Nachdem der Grundwasserspiegel des Glaubens in der gesamten Bevölkerung immer mehr sank, hat die Kirche von England sich vorgenommen, eine missionarische Kirche zu werden.“42

Dieses Anliegen beschränkt sich freilich nicht auf Großbritannien. Auch im deutschsprachigen Raum gelten Fresh X als Versuch, der voranschreitenden 42 Croft 2016, 14.

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Säkularisierung missionarisch zu begegnen. Neben der Säkularisierung43 wird das Wesen von Fresh X zum anderen von der Vorstellung einer gesellschaftlichen Segmentierung bestimmt.44 Während kollektive und gesellschaftsumgreifende Identitäten mit der soliden Moderne zunehmend verschwinden, nehmen individuellere, milieuspezifische Identitäten zu. Sie werden in Netzwerken greifbar, die sich z. B. um ein bestimmtes Hobby spannen, wie Wandern gehen oder Rollenspiele spielen. Damit spaltet sich unsere Gesellschaft in unzählbar viele kleinere Gemeinschaften auf, die nicht mehr durch die eine Identität oder Nationalität zusammengehalten werden können. Das nehmen die einzelnen Fresh X wiederum auf. Sie orientieren sich in ihrer Inszenierung an verschiedenen milieuspezifischen Netzwerken. Eine Fresh X, die allen gesellschaftlich vorhandenen Vorlieben gerecht wird, kann es demnach nicht geben: „Manche träumen von einer Fresh X für jeden. Aber das ist eine Illusion. Was es zum Essen gibt (und ob das bezahlt werden muss und zu welchem Preis), welche Musik im Hintergrund läuft, welche Zeiten wir wählen und welche Location (drinnen oder draußen?), welches Sprachniveau und welche Bildung wir voraussetzen – das alles sind ‚Filter‘.“45

Als aktiver Teil einer sich aufspaltenden und fragmentarischer werdenden Gesellschaft lassen sich Fresh X dann auch als liquide Institution beschreiben. Dabei lehnen sie sich ggf. auch an die von Hubert Knoblauch beschriebene populärer werdende Religion an. Etwa, wenn sich die Fresh X „Unblack“ in der Heavy Metal Szene um Konzerte herum trifft und als „Christen in einer kirchenkritischen, aber stark suchenden Szene unterwegs sind.“46 Gerade weil sich Fresh X so stark auf ihre Zielgruppen einlassen, grenzen sie sich auch mal mehr, mal weniger stark von soliden kirchlichen Konventionen ab. Denn diese sind in vielen Milieus und netzwerkartig organisierten Interessengruppen kaum noch anknüpfungsfähig. Dem volkskirchlichen Anspruch, Kirche von und für alle Menschen einer Gesellschaft zu sein, wird Kirche – der Kritik von Fresh X nach zu urteilen – damit nicht gerecht. Die gegenwärtige Volkskirche gleiche einem löchrigen Käse, der nur auf den ersten Blick die gesellschaftlichen Orte abdecke, tatsächlich aber zahlreiche Milieus ausspare.47 Um Kirche also wieder näher an ihren volkskirchlichen Auftrag heranzuführen, braucht es gar die Zielgruppenorientierung, die in Fresh X umgesetzt werden: „FxC betrachten sich als Fortführung, Ergänzung und Aufrechterhaltung der volkskirchlichen Tradition. Sie können gar als Versuch betrachtet werden, das […] volkskirchliche Selbstverständnis wieder43 44 45 46 47

Vgl. Teil I, Kapitel 2.2.2. The Archbishops’ Council 2004, 4. Rempe und Krebs 2017, 65. Rempe und Krebs 2017, 139. Vgl. The Archbishops’ Council 2004, 35.

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herzustellen.“48 In diesem Sinne wirken Fresh X dann auch auf die kirchliche Institutionsartigkeit ein. Dagegen kann man, wie etwa Karle, einwenden, dass „jede Schwerpunktsetzung […] neben Betroffenen immer zugleich auch NichtBetroffene [erzeugt], [sie] also nicht nur ein-, sondern auch aus[schließt].“49 Das mag stimmen, aber es disqualifiziert Fresh X nicht, da diese sich nicht als Alternative, sondern, im Sinne der mixed economy, als Ergänzung zum volkskirchlichen Auftrag verstehen. Institutionslogisch muss man jedoch noch darauf hinweisen, dass Fresh X die Kirche nur ausgesprochen punktuell und selten in eine liquide Institution überführen. Schließlich sind Fresh X noch ein rares Phänomen auf der kirchlichen Landkarte. Aber dort, wo sie auftreten, greifen sie auf das Profil der Kirche als zivilgesellschaftlicher Institution zurück. Das wird greifbar, wenn sich Fresh X gegen soziale Ungerechtigkeit einsetzen und sie versuchen, „sich der Lebenswelt anderer zu[zu]wenden [und] ihnen liebevoll [zu] dienen.“50 Auch dies macht eine Fresh X aus. In nahezu allen Beschreibungen von Fresh X wird betont, dass sich die Zuwendung zu einer bestimmten Zielgruppe nicht nur auf milieuspezifische Merkmale begrenzen darf, sondern auch aktuelle Nöte und Herausforderungen adressiert werden sollen. So stellt auch Michael Herbst bei Fresh X fest: „Wir merken, dass wir genau hier – vielleicht mit anderen zusammen – etwas tun können. Einen Spielplatz sanieren. Einen Besuchsdienst im Altenheim beginnen. Eine Schularbeitenhilfe. Ein Erzählcafé. Eine Eingabe an die Kommune wegen einer Verkehrsberuhigung. Einen Fahrdienst in die nächste Stadt. Eine private Musikschule für Kinder. Was auch immer. Nicht nur für andere, mit anderen.“51

Diese durch und durch zivilgesellschaftlich relevanten Dynamiken greifen auf organisationaler Ebene das auf, was Kirche als zivilgesellschaftliche Institution ausmacht. Es geht darum, der konventionellen Erwartungshaltung, sich als Kirche für das Gemeinwohl einzusetzen, gerecht zu werden. Dass hier auch noch explizit Menschen auf kirchlich-zivilgesellschaftliches Engagement hin angesprochen werden sollen, die kirchlich distanziert sind, ist eine besondere Chance der Fresh X. Die Einbeziehung kirchendistanzierter Menschen in kirchlich-zivilgesellschaftliches Engagement entwächst bei Fresh X sicherlich einem respektvollen Interesse an der jeweiligen Zielgruppe und ist insofern ein Selbstzweck. Es gibt in der Bewegung allerdings auch eine andere Tendenz, die solches Engagement als Mittel zum Zweck ansieht. Markus Weimer schildert den Dienst an einem bestimmten Umfeld etwa als einen Schritt, der „zu wachsendem Vertrauen“ führt und dann früher der später „sehr intentional“ genutzt werden 48 49 50 51

Müller 2016c, 280. Karle 2008a, 251. Weimer 2016, 31. Herbst 2016, 141–142.

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sollte, „um über Fragen des Glaubens ins Gespräch zu kommen.“52 In dieser Haltung steht das zivilgesellschaftliche Engagement nahezu zwangsläufig im Schatten der Konversionsabsicht.53 Ungeachtet solcher Stimmen schätzt Sandra Bills die zivilgesellschaftliche Leistung von Fresh X zu recht sehr hoch ein. Sie macht allerdings darauf aufmerksam, dass dieses Potenzial in Großbritannien häufiger abgerufen wird als im deutschsprachigen Raum: „Weiter ist auffällig, wie stark sich die FreshX in ihre jeweiligen lokalen Bezüge einbringen und welche hohe Identifikation sie mit dem Ort zeigen. So nehmen sie sich nicht als unabhängig wahr, sondern kooperieren lokal mit bestehenden kirchlichen Strukturen oder nicht-kirchlichen Netzwerken. […] In England haben Fresh X verstärkt einen gemeinwesenorientierten Fokus, während die Anzahl in Deutschland vermutlich vergleichsweise geringer ausfällt (es gibt jedoch noch keine Erhebungen und belastbaren Zahlen).“54

Diese Einschätzung führt Bils darauf zurück, dass die Kirche durch die Diakonie ihre zivilgesellschaftliche Institutionsartigkeit bereits flächendeckend und professionell ausfüllt. Für Fresh X, die sich in erster Linie gegen soziale Ungerechtigkeit stellen, gäbe es demnach weniger Bedarf als in England. Vielleicht mag das im Hinblick auf das augenscheinliche Profil vieler Fresh X stimmen. Da aber die Zuwendung zur jeweiligen Zielgruppe einer Fresh X auch die Beschäftigung mit deren Herausforderungen und Problemen einschließt, sind Fresh X grundsätzlich aufgefordert, wenigstens stellenweise und pointiert zivilgesellschaftlich aktiv zu werden. Da dies im organisationalen Programm von Fresh X nahegelegt wird, bleibt zu hoffen, dass sich dieser zivilgesellschaftliche Auftrag in der Bewegung weiterhin institutionalisieren wird.

1.3

Fresh X als kirchlich-zivilgesellschaftliche Interaktion

Fresh X gehen zumeist von einem stark interaktional aufgeladenen Kirchenbegriff aus. Wer Mitglied ist, wo Kirche stattfindet, wie Theologie betrieben wird, all das wird bei Fresh X oft erst im geselligen Miteinander ausgehandelt. Dabei werden allerdings ganz unterschiedliche Netzwerke geknüpft, die mal von starken bonding-Strukturen und mal von zahlreichen Möglichkeiten zum bridging geprägt werden. Für die zivilgesellschaftliche Bewertung der Fresh-X-Netzwerke hat das natürlich unterschiedliche Folgen. Die von Roßteutscher aufgeworfene Frage, wem denn eigentlich das kirchlicherseits produzierte Sozialkapital zugu-

52 Weimer 2016, 35. 53 Vgl. dazu auch Teil II, Kapitel 1.4. 54 Bils 2018, 33.

Fresh X als kirchlich-zivilgesellschaftliche Interaktion

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tekommt, wird hier wieder laut. Bei dem herausragenden interaktionalen Profil von Fresh X wird diese Frage auf eine sehr spezifische Art und Weise beantwortet. Was Kirche ausmacht und ist, wird nach der vorherrschenden Meinung bei Fresh X erst in Beziehungen greifbar. In den Untersuchungen von Sabrina Müller wird das sehr eingehend thematisiert: „Kirche wird [sc. bei Fresh X] als Zusammentreffen von Menschen in und um Christus verstanden. Eine dialogisch-relationale Ekklesiologie definiert Kirche nicht über Praxis, Institution oder Gebäude, sondern anhand eines dialogischen Beziehungsgeschehens zwischen Gott, christlicher Gemeinschaft, Welt und dem weltweiten Leib Christi.“55

So stellt Müller dann auch fest: „Der Kirchen- und Gemeinschaftsbegriff sind in den Interviews zutiefst miteinander verknüpft, so sehr, dass sich Kirche nicht ohne Gemeinschaft denken lässt.“56 Dabei wird für diese Interaktionsorientierung einerseits mit theologischen Narrativen argumentiert, etwa der Dreifaltigkeit als Beziehungsgeschehen. Andererseits liefert eine gegenwartskritische Soziologie weitere Argumente für den zugespitzten Kirchenbegriff der Fresh X: „Innerhalb der Fresh-Expressions-Bewegung wird der postmoderne Mensch als relational verarmt charakterisiert. Durch die fxC wird dem Individuum ein Gemeinschaftsraum angeboten […].“57 Zygmunt Bauman ging durchaus davon aus, dass die Beziehungen in der liquiden Moderne unabhängiger, situativer und auch unsolidarischer würden. Fresh X finden darin eine dankbare Fundierung ihres Kirchenbegriffs. Demgemäß sind dann auch die neu gegründeten Fresh X kleine Gruppen: „We know that ‚small‘ is a relative term and the fxC types do vary in size. However, the broad picture from the data shows the majority of fxC (61 %) fall in the range of 15–55 people with only 9 % of them being of over 100 attenders.“58 Diese Gruppengröße ist insbesondere vor dem typischen Entstehungshintergrund einer Fresh X zu erwarten: Demnach begeben sich Einzelpersonen oder eine Gruppe auf kirchlich ungewohntes Terrain. Die persönlichen Beziehungen, die sie dort knüpfen, werden dann auch Ausgangspunkt des Kirche-gründenden Wirkens. Sandra Bills bemerkt dazu: „Oftmals leben die Leitenden im Kontext ihrer Fresh X.“59 Schon hier wird deutlich, dass eine Grenz55 Müller 2014, 453. 56 Müller 2016a, 155. 57 Müller 2016a, 274. Vgl. dazu auch diesen sehr eindrücklichen Auszug aus einem Interview von Müllers Studie: „And my theory is: the fruitfulness is based on the creation of community. I think […] we are at a particular moment in British society where people are relationally impoverished, relationally poor. And don’t find it easy to meet people and make new relationships. And therefore any venture in a town or a village, which helps people make friends, is likely to be very popular, in a non-threatening kind of way.“ Müller 2016a, 159. 58 Lings 2016, 9. 59 Bils 2018, 32.

222

Fresh Expressions of Church

ziehung zwischen beruflich-professionellem Netzwerk und privaten Freundschaften für die leitenden Haupt- und Ehrenamtlichen nicht gängig ist.60 Da man so nur mit einer überschaubaren Anzahl an Personen verbunden sein kann, wird auch eine interaktional verstandene Kirchengemeinde entsprechend groß bzw. klein sein. George Lings spekuliert demgemäß auch darüber, ob Fresh X „a natural unit size or range“61 haben. Die Größe eines Netzwerks, in dem man einander vertraut ist, ist schließlich nicht unbegrenzt ausdehnbar. Hier wird darüber hinaus noch einmal deutlich, dass Fresh X wegen ihres interaktionalen Kirchenbegriffs zu einem dazu passenden Mitgliedsverständnis neigen. Mitglied ist diejenige, die an dem Beziehungsgeschehen teilnimmt. Wer daran befürwortend Anteil nimmt, sich aber abgesehen von seiner gewogenen Haltung distanziert verhält, wird wohl kaum als Mitglied angesehen werden. Das gilt sicherlich nicht für alle Fresh X. Aber bestimmt für diejenigen, die auf ein intensives bonding abzielen. Allerdings relativiert Hermelink diese Einschätzung: „Problematisch erscheint […] für viele FreshX nicht zuletzt ein Gemeindebild, das starke, anspruchsvolle Beteiligungserwartungen formuliert. […] Gerade dort, wo die FreshX Bewegung nicht evangelikal, sondern eher volkskirchlich-liberal geprägt ist, macht sie darauf aufmerksam, dass ‚Gemeinde‘ nicht zu anspruchsvoll verstanden werden darf: Wenn sich Einzelne […] der Kirche selbstständig zuordnen, dann müssen sie dies in großer Freiheit tun können – und das schließt die Freiheit zu je neuer Distanz und je neuer Nähe ein.“62

Es ist nicht zutreffend, evangelikal und eine Tendenz zum bonding bzw. volkskirchlich-liberal und eine Orientierung an bridging so gleichzusetzen, wie Hermelink das hier impliziert. Bonding-Strukturen finden sich sicherlich auch in liberalen Kirchengemeinden. Aber sein Hinweis, dass es unter den Fresh X sowohl solche gibt, die ein hohes bridging favorisieren, als auch solche, die eher an bonding interessiert sind, ist hilfreich. Schließlich ging Julia Koll noch vor wenigen Jahren davon aus, dass Fresh X grundsätzlich auf bonding hin ausgelegt sind: „Mit den Fresh Expressions ist eine Konzentration auf intensive Vergemeinschaftungsformen verbunden, für die das Modell der cell church, einer relativ geschlossenem [sic], kleinen verbindlichen Gemeinschaft, charakteristisch ist.“63

60 So auch Müller: „Dabei [sc. dem Entstehungsprozess einer Fresh X] sind Freundschaften im Kontext der erste Schritt, dies führt zum Aufbau von ecclesial communities […].“ Müller 2016a, 157. 61 Lings 2016, 11, 87. 62 Hermelink 2018, 43. 63 Koll 2012, 236.

Fresh X als kirchlich-zivilgesellschaftliche Interaktion

223

Dagegen kann man heute feststellen, dass es bonding-orientierte Fresh X gibt,64 solche, die eher lockeres bridging ermöglichen,65 und solche, die versuchen, beiden Beziehungsarten gerecht zu werden.66 Es gibt allerdings keine Erhebungen, welche dieser Netzwerkarten die Mehrheit stellen.67 Dennoch hat Koll mit ihrer Beobachtung nicht ganz unrecht. Denn indem Fresh X auf Netzwerke aus konkreten Milieus oder klar identifizierbaren Nachbarschaften abzielen, liegt hier doch eine bonding-Orientierung nahe. In diesen Netzwerken werden Menschen bestimmter Milieus schließlich zusammengebracht um das Gemeinschaftsgefühl untereinander zu verstärken. Dazu passt dann auch Müllers empirisch geerdete Einschätzung, dass für Fresh X die Intensivierung von ursprünglich lockeren Beziehungen hin zu bonding-Netzwerken charakteristisch ist. So sieht der für Fresh X programmatische Schritt des community building vor, „über den individuellen Beziehungsaufbau hinaus[zugehen] und […] das Ziel [zu verfolgen], Gemeinschaft zu kreieren, in der vertieft über den christlichen Glauben nachgedacht werden kann und Diskussionen stattfinden können.“68 Solche Gemeinschaften können natürlich auch milieu-übergreifend sein. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass sich eine Fresh X über milieugebundene Vorlieben zusammenfindet.69 In diesem interaktionalen Rahmen greift dann auch die Eigenschaft von Fresh X, formational zu sein. Im vertrauensvollen Miteinander soll ein sicherer Rahmen gesteckt werden, in dem der eigene Glaube, die persönliche Ethik und die Einstellung zum eigenen Umfeld ggf. hinterfragt, bestätigt und ausgelebt werden kann. Dass dies ein zweischneidiges Schwert ist, wurde bereits dargelegt. Wie stellt sich die kirchliche Interaktion von Fresh X nun unter zivilgesellschaftlichen Gesichtspunkten dar? Hier wurde ein Bild von Fresh X skizziert, das die Bewegung nicht in den öffentlichen, sondern wesentlich stärker in den privaten Raum einordnete. Diese Einschätzung wird so auch von Reinhold Krebs, einem zentralen Akteur der Fresh X im deutschsprachigen Raum, bestätigt. Er schreibt dazu: „Von der Geschichte haben wir als Kirche einen Hang zur öffentlichen Sphäre […]. Müsste es nicht ein Kennzeichen von Gemeinde sein, dass wir uns vor allem in die 64 So etwa die Fresh X Sorted. Vgl. Müller 2016a, 105–113. 65 Wie die auf Touristen eingestellte Fresh X Tubestation. Vgl. Baer-Henney 2015, 145–151. 66 Die Fresh X Zeitfenster in Aachen oder Moot in London können hierfür als Beispiele genannt werden. Vgl. Hahmann und Maubach 2018 und Müller 2016a, 121–128. 67 Wobei die Angaben von Lings zu den eher kleinen Fresh X und den zugleich oft auch nicht weiter ansteigenden Mitgliederzahlen eher eine Mehrheit der bonding-intensiven Fresh X nahelegen. Vgl. Lings 2016, 11, 87. 68 Müller 2016a, 48. 69 „Es wird bemerkt, […] dass die Zielgruppe häufig aus einem bestimmten Netzwerk von Menschen besteht. Beispiele dafür sind Menschen am gleichen Arbeitsplatz, in derselben Schule oder Obdachlose, welche unter der gleichen Brücke wohnen.“ Müller 2016a, 51.

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Augen sehen können? Weniger Veranstaltungen in der öffentlichen Sphäre und mehr ‚mit-einander‘ in der sozialen Sphäre wären hilfreich. Denn neue Menschen erreichen wir am natürlichsten in dieser Sphäre.“

Will Kirche also an Einfluss gewinnen, so die zugespitzte Meinung, dann liegt die Chance dazu vornehmlich im privaten Raum.70 Betrachtet man Fresh X nun als zivilgesellschaftliche Akteure, so geht diese Beschränkung auf den privaten Raum mit großen Einbußen einher. Denn dass die Einschätzung von Krebs wenigstens aus zivilgesellschaftlicher Sicht nicht zutrifft, wird schnell deutlich.71 Zivilgesellschaftliche Diskurse leben schließlich auch davon, dass Konflikte öffentlich verhandelt werden. Aber auch wenn sich Fresh X auf zivilgesellschaftliche Auseinandersetzungen innerhalb des eigenen und eher privaten Netzwerks limitieren, könnten sie dennoch einen wertvollen Beitrag für die Zivilgesellschaft leisten. Schließlich können und sollten die öffentlichen Diskurse der zivilgesellschaftlichen Arena wieder im privaten Rahmen aufgegriffen werden, um eine eigene Positionierung zu befördern. Hier könnten Fresh X ins Spiel kommen. Indem sie schließlich theologische Inhalte und nachbarschaftliche Kontexte miteinander verbinden, könnten sie eine gute Gelegenheit sein, um auch zivilgesellschaftliche Diskurse in privaten Lebenswelten zu verankern. Dennoch ist es für die Kirche kein guter Ratschlag, sich vornehmlich auf solche privaten Kreise zu limitieren und die öffentlichen Debatten zu scheuen. So ist es dann auch ausgesprochen wichtig für die zivilgesellschaftliche Bewertung von Fresh X, dass dieser Schritt von privaten Anliegen zu öffentlichen Debatten in der Praxis durchaus auch vorkommt. Das ist z. B. der Fall, wenn in der Fresh X TANGO in Haydock ein Gebrauchtwarenhaus in Zusammenarbeit mit lokalen Behörden betrieben wird und die Anliegen von Menschen aus prekären Situationen so auch aus der Fresh X heraus auf städtischer Ebene thematisiert werden können.72 Die grundsätzliche Einschätzung von Krebs kann aber durch solche zivilgesellschaftlich herausragenden Fresh X nicht gänzlich ausgeglichen werden. Grundsätzlich suchen Fresh X eher die Privatsphäre auf. Erst wenn sie sich mit den dort gewonnenen Einblicken zu lokalen Herausforderungen auch in öffentliche Dis-

70 Mit dieser Einschätzung steht Krebs nicht allein da. Die Vorstellung, dass Kirche ihren Schwerpunkt idealerweise auf Interaktionsebene legen sollte, entpricht der kirchentheoretischen Ausrichtung der Greifswalder Schule, wie sie in der Studie „Landaufwärts“ zur innovativen Kirche im ländlichen Raum greifbar wird: „In der Greifswalder Studie findet man, dass […] der theologische Vorrang eines Kerngeschehens von Kirche als Gruppe zum Ausdruck kommt, während kirchliche Institution und überregionale Organisation angemessenerweise nur sekundäre unterstützende Funktion haben können.“ Hauschildt et al. 2016, 401. 71 Dass die Fokussierung auf Gruppendynamiken und Interaktion auch kirchentheoretisch zu kurz greift macht bereits das hier zugrunde gelegte vierfältige Modell nach Hermelink deutlich, ebenso wie der Hybridbegriff von Hauschildt. 72 Vgl. Baer-Henney 2015, 55–60 und Müller 2016a, 138–144.

Fresh X als kirchlich-zivilgesellschaftliche Interaktion

225

kurse begeben, können sie eine wichtige kirchlich-zivilgesellschaftliche Stimme abbilden. Ein weiterer Diskussionspunkt zu Fresh X und zivilgesellschaftlicher Interaktion ist die Frage, wem das hier anwachsende Sozialkapital zugutekommt. Dabei wurde festgestellt, dass Fresh X zwar nicht ausschließlich, aber doch häufig auf Sozialkapital in Form von bonding abzielen. Im sozialwissenschaftlichen Diskurs trifft man dabei oft auf die Meinung, dass bonding für die Herstellung von Sozialkapital grundsätzlich negativ anzusehen sei. Denn bonding-Strukturen binden etwa Menschen aus Brennpunktvierteln an ebensolche Brennpunktviertel. Damit bleiben Informationen (z. B. über ein Jobangebot) in bestimmten Kreisen. Außerdem fördert bonding nicht gerade den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern eher eine Aufspaltung der Gesellschaft in zusammenhanglose Fragmente. In dieser Arbeit wurde dennoch dafür votiert, intensive und milieuinterne bonding-Beziehungen nicht pauschal abzuwerten. Sie wurden kirchentheoretisch als selbstgewählter und legitimer Ausdruck von sozialen Vorlieben beschrieben. Im Rahmen einer liquider werdenden Zivilgesellschaft wurde am Potenzial von bonding-Strukturen zudem gewürdigt, dass dort verlässliche und belastbare Beziehungen geprägt werden. Problematisiert wurde jedoch eine Art des bonding, in dem mit Feindbildern gearbeitet wird oder wo man grundsätzlich nicht bereit ist, andere Menschen in die eigene Gruppe aufzunehmen.73 Vor diesem Hintergrund ergibt sich auch für die Fresh X ein differenziertes Bild. So greift dann auch Roßteutschers Feststellung für Fresh X zu kurz, nach der in „religiösen Organisationen […] viel partizipiert und viel ehrenamtliche Arbeit geleistet [wird], aber [sich] dieses Engagement […] vor allem auf gruppeninterne Ziele [richtet]. Menschen außerhalb der Gruppe profitieren davon kaum oder gar nicht.“74

Diese Bemerkung erfasst das Sozialkapital in den Fresh X deswegen unzureichend, weil die neu gegründeten Gruppen „die Kirchenkultur [durchbrechen] und […] neue Gemeinschaften außerhalb der existierenden Kirchenstrukturen [formen].“75 Mit dieser missionalen Ausrichtung der Fresh X sind die Menschen außerhalb der bestehenden kirchlichen Interaktionsnetzwerke die erklärten Zielgruppen. Ihnen soll das in Fresh X produzierte Sozialkapital zugutekommen und nicht etwa den etablierten kirchlichen Netzwerken: „Von Beginn an ging es nicht darum, ein Café für aktive Kirchenmitglieder zu eröffnen, sondern darum, in Kontakt zu kommen mit de-churched und non-churched.“76 Nun muss al73 Das wäre dann auch eine Art Reinform des bonding, das in der Realität selten anzutreffen ist. Vgl. Putnam 2001, 21. 74 Roßteutscher 2009, 65. 75 Finney 2016, 25. 76 Müller 2016a, 130–131.

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Fresh Expressions of Church

lerdings eingewendet werden, dass diese Dynamik keinen dauerhaften Bestand hat. Denn der Theorie nach werden die neu gegründeten Fresh X früher oder später eine eigene kirchliche Identität entwickeln.77 Spätestens wenn diese kirchliche Identität zum Unterscheidungsmerkmal zwischen der eigenen Fresh X und anderen säkularen Gruppen wird, bezieht sich auch das dortige Sozialkapital wieder auf innerkirchliche Kreise. Die Fresh X würden damit wieder von Roßteutschers Ausgangsfrage eingeholt werden: Nützt kirchliches Sozialkapital nur der Kirche? Dagegen ist einzuwenden, dass die jungen kirchlichen Netzwerke der Fresh X innerhalb der jeweiligen Zielgruppe keine geschlossenen Zirkel bleiben. Wenn sich etwa eine Fresh X um eine Kletterhalle herum bildet und sich die Mitglieder der Fresh X zunehmend als Kirche verstehen, bleiben sie doch weiterhin in Kontakt mit anderen Besuchern der Kletterhalle. Unabhängig davon, ob diese sich zur Fresh X zählen oder nicht. Hier macht sich dann auch die Zweischneidigkeit der Sozialkapitalbildung von Fresh X bemerkbar. Sie liegt nicht etwa in der Konzentration auf bonding. Denn erstens sind bonding-Strukturen legitim, solange sich kirchliche oder zivilgesellschaftliche Gruppen nicht über Feindbilder zusammenführen oder sie die intensiven Beziehungen nicht als Macht- und Kontrollwerkzeug über ihre Mitglieder missbrauchen. Zweitens wird an dem genannten Beispiel deutlich, dass Fresh X die Möglichkeit zum bonding anbieten und zugleich für bridging-Erfahrungen – jedoch innerhalb einer sehr begrenzten Zielgruppe – offen sein müssen.78 Schließlich steht die Gewinnung weiterer Mitglieder bei Fresh X im Vordergrund. Eine interaktional geschlossene Gruppe stünde dem im Weg. Was die Kirchentheorie dabei herausfordert und zugleich auch die profilgebende Stärke von Fresh X darstellt, liegt in der Unzugänglichkeit von Fresh-X-Netzwerken für Menschen mit anderen Vorlieben. Wer Klettern z. B. nicht als sein Hobby entdeckt hat, wird auch zum kirchlichen Sozialkapital einer Kletterhallen-Fresh X keinen Zugang finden. Zugleich haben die eigentlich nicht-kirchlich interessierten Besucherinnen einer Kletterhalle erst durch eine dort aktive Fresh X Zugang zu einem kirchlichen Netzwerk. Die bereits zuvor angesprochene Milieufixierung zeigt also auf kirchlich-zivilgesellschaftlicher Interaktionsebene noch einmal Stärke und Schwäche der Bewegung auf. Einerseits beschäftigen sich Fresh X mit den Menschen außerhalb der Kirche und ihnen soll das Sozialkapital zugutekommen. Fresh X überschreiten also aktiv ein kirchliches Netzwerk, das unverbunden und damit auch unwirksam 77 George Lings beschreibt das kurz und knapp: „A fresh expression is […] ecclesial – it intends to become church.“ Lings 2016, 18. 78 Das beschreiben etwa die leitenden Personen der Fresh X „Zeitfenster“ aus Aachen: „Hilfreich war auch die Erkenntnis, dass der Partizipationsgrad und das Gemeinschaftserleben zwar wichtig, jedoch ambivalent belegt sind: manche möchten teilhaben/ Gemeinschaft erleben, für andere ist es ebenso hochgradig wichtig, dass das genau nicht passiert.“ Hahmann und Maubach 2018, 24.

Fresh X als kirchlich-zivilgesellschaftliche Inszenierung

227

neben seinem zivilgesellschaftlichen Umfeld steht. Andererseits beziehen sich Fresh X dabei auf eine sehr spezifische Zielgruppe, sodass der anvisierte Personenkreis wohl nur einen Bruchteil des lokalen Gemeinwesens ausmacht. In dem Sinne sind Fresh X also zu spezifisch und klein, um gemeinwohlorientiert zu sein. Das gilt jedoch vor allem in Hinblick auf einzelne Gruppen, die ein Tropfen Sozialkapital auf dem heißen Stein der Zivilgesellschaft ausmachen. In England, wo die Bewegung tausende Gruppen umfasst, die zumal mit einem noch pointierteren zivilgesellschaftlich engagierten Profil auftreten,79 könnte man wohl schon von Regenschauern auf dem heißen Stein sprechen. Das Sozialkapital der Bewegung insgesamt ist also auf unzählbar viele verschiedene Kontexte ausgerichtet. Vor diesem Hintergrund wird dann auch der Vorwurf relativiert, sich auf einen zu exklusiven und für die Allgemeinheit unerreichbaren gesellschaftlichen Ort zu konzentrieren. Dennoch bleibt dieser Vorwurf bestehen, jedoch im Plural. Fresh X haben nicht die allgemeine Öffentlichkeit, sondern spezifische Zielgruppen im Blick. Das, so der gesellschaftskritische Einwand, befördert die Fragmentierung der Öffentlichkeit. Allerdings schreitet die liquider werdende in diese Richtung, ob nun mit oder ohne Fresh X. Auch Fresh X partizipieren an den kleiner und unverbundener werdenden Arenen zivilgesellschaftlicher Diskurse. Im Unterschied zu anderen Gruppen haben die Fresh X hier jedoch ein verbindendes Element, das einer gesellschaftlichen Zersplitterung womöglich eher vorbeugt. Es handelt sich dabei um den positiven inszenatorischen Bezug zur Gesamtkirche.

1.4

Fresh X als kirchlich-zivilgesellschaftliche Inszenierung

Vieles, was auf den vorherigen kirchentheoretischen Ebenen bereits angesprochen wurde, kommt mit der inszenatorischen Perspektive noch einmal besonders pointiert in den Blick. Wie Fresh X beispielsweise ihr jeweiliges Umfeld inszenatorisch aufnehmen oder wie sie ihre kirchliche Identität in Szene setzen, ist bereits eine markante Antwort auf kirchlich-zivilgesellschaftliche Anfragen. Nicht zuletzt hebt dieses Unterkapitel auf die Frage ab, wie sehr die performance von Fresh X Wegners sozialer Kommunikation bzw. Grethleins Kommunikation des Evangeliums entspricht. Dabei soll es noch einmal grundlegend darum gehen, wie das Ineinander von zivilgesellschaftlichem Engagement und missionaler Ausrichtung bei Fresh X in Szene gesetzt wird. Die performance von Fresh X ist sehr sensibel für Menschen, die nicht an kirchlichen Netzwerken teilhaben. Schließlich ist ein Grundwert der Bewegung, 79 So zumindest die bereits zitierte Einschätzung von Bils 2018, 32.

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Fresh Expressions of Church

sich an dem sozialen Umfeld auszurichten, in dem und für das eine Fresh X gegründet wurde: „Sie [sc. Kirche nach Fresh X] ist incarnational und geht somit bereitwillig tiefgreifende Veränderungen ein, um wie die Menschen zu werden, zu denen sie gesendet ist.“80 Diese inszenatorische Leistung wird nicht nur damit begründet, den ästhetischen Bedürfnissen der multiplen Modernen gerecht zu werden. Im Hintergrund steht auch die theologische Figur der Inkarnation. Gott wurde Mensch und war als Jesus Christus für die Personen seiner Zeit und Kultur greifbar. Wie im biblischen Vorbild soll bei Fresh X das Evangelium so inszeniert werden, dass es der Ästhetik, also der Kultur und den Ausdrucksformen einzelner Zielgruppen entspricht. Wenn sich Fresh X dann als Kinderkirche, als Surfer-Gemeinde, als spirituelle Kräuterkundler beim urban gardening oder als Klettergruppe zeigen, geht es darum, das Evangelium ästhetisch an die Vorlieben bestimmter Milieus und Subkulturen anzupassen: „Bei der Entwicklung neuer Ausdrucksformen meinen wir nicht persönliche Vorlieben oder Geschmack, was manche als Boutique-Kirche bezeichnet haben, sondern wir meinen, was hilfreich ist, wirksam und notwendig für diejenigen Menschen, die zum Glauben kommen und im Glauben wachsen.“81

Was hier aus kirchlich-zivilgesellschaftlicher Sicht ausgesprochen positiv ins Gewicht fällt, ist, dass es nicht darum geht, etwa der Individualität einer exzentrischen Gründerfigur Ausdruck zu verleihen: „Zentral ist, was der Kontext braucht, um die Liebe Gottes darin erlebbar zu machen, und nicht, was die persönlichen Präferenzen der leitenden Personen sind.“82 Das grenzt Fresh X von einem soliden und hierarchischem Kirchenverständnis ab, in dem eine bestimmte Ästhetik zur Geltung kommt, weil dies die leitenden Personen so vorgeben. Stattdessen sollen die Menschen z. B. einer bestimmten Nachbarschaft in das Interaktionsnetzwerk der Fresh X aufgenommen werden, um dann selbst mitzugestalten, wie und was inszeniert wird: „Theologie wird, da sie auf den Kontext ausgerichtet ist, nicht zu einem Gegenstand, von dem Laien ausgeschlossen sind, sondern zu einem partizipativen Prozess von Theologen, Theologinnen und Freiwilligen.“83 Fresh X sind damit kirchentheoretisch gesprochen nicht nur eine Inszenierung, die ein bestimmtes Programm abspulen, sondern sie sind als performance sensibel und offen für die Eintragungen aus ihrem Umfeld. Das gibt nicht-kirchlich interessierten Menschen die Chance, Kirche selbstbestimmt und nach eigenen Vorlieben zu prägen. Ein zentraler Leitgedanke zivilgesellschaftlich Engagierter wird damit bei Fresh X im Kleinen aufgenommen. So zeigt der aktuelle Freiwilligensurvey, dass es ehrenamtlich Involvierten neben 80 81 82 83

Müller 2016a, 89. Croft 2016, 17. Müller 2016a, 147. Müller 2016a, 197.

Fresh X als kirchlich-zivilgesellschaftliche Inszenierung

229

Spaß und Geselligkeit maßgeblich darum geht, die Gesellschaft mitzugestalten.84 Das zumindest ist die Idee der Fresh X hinter der Praxis. Selbstverständlich besteht auch hier die Möglichkeit, dass eine bestimmte performance mit der Zeit auch eine gewisse Eigendynamik und inszenatorische Solidität entwickelt, die dann auch den Anspruch erhebt, erfüllt zu werden. Auch eine Fresh X kann die Offenheit für ihr Umfeld verlieren. Dennoch ist allein die Grundidee, Kirche nach der Ästhetik des nicht-kirchlichen Umfeldes zu gestalten, ein Punkt, der für eine zivilgesellschaftlich wirksame Kirche ausgesprochen wichtig ist. Dabei bleiben aber noch Fragen offen. Denn wie kirchliche Identität in so einem ungewohnten Gewand Gestalt annimmt, bleibt auf konzeptioneller Ebene erst einmal ungeklärt. Wenn etwa eine Fresh X ein Café als social business unterhält, dann handelt es sich augenscheinlich erst einmal um ein normales Café. Das ist zumindest ein Vorwurf, der Fresh X in der Praxis häufiger begegnet: „[W]hen I was trying to explain what it [sc. eine Fresh X] was and the vision for it – one of the church members said, ‚that’s all very well but where is the Gospel in it?’ What they meant to say was, ’Where is the preaching of the Word in this?‘ My answer was, and is, that all of it is the Gospel.“85

Wie explizit also kirchliche Inhalte in einer Fresh X verhandelt werden, ob sie konfrontativ oder subtil wirken, liegt in den Händen der dort Engagierten. Dabei ist jedoch der grundsätzlich vorhandene Bezug zur Kirche ein wesentliches Element einer Fresh X.86 Es muss sich hier nicht zwingend um eine konkrete Organisation wie die Church of England, die EKD oder einen anderen Dachverband handeln. Verwiesen wird ggf. auf die weltweite Ökumene, mit der man sich womöglich verbunden fühlt. Bereits im vorangegangenen Unterkapitel wurde angedeutet, dass in so einem Bekenntnis zu einer übergeordneten Größe auch eine kleine Antwort auf die Frage nach Fresh X als Teil einer fragmentierten Gesellschaft steckt. Denn indem sich Fresh X nicht nur als lokales, milieuorientiertes und exklusives Fragment der Gesellschaft inszenieren, sondern auch als Teil eines größeren Zusammenhangs, schaffen sie – wenn auch begrenzt – gesellschaftlichen Zusammenhalt. Für Fresh X bietet dieser Verweis auf die Kirche bzw. die weltweite Christenheit eine gute Möglichkeit, den bereits kritisierten exklusiven Tendenzen zu begegnen, die nichtsdestotrotz aufgrund der inszenatorischen Spezialisierungen unausweichlich sind. Dabei ist es innerhalb der Fresh X ausgesprochen unterschiedlich, wie explizit die kirchliche bzw. die christliche Identität in Szene gesetzt wird. Bei aller Variation wird das weite Feld unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen aber im Programm der Fresh-X-Bewegung durch ein paar Punkte gerahmt und abgesteckt. Besonders akut wirkt 84 Simonson et al. 2017, 25. 85 Müller 2016a, 131. 86 Lings 2016, 18.

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Fresh Expressions of Church

sich die Schwerpunktsetzung im Missionsverständnis und dem Verhältnis von zivilgesellschaftlichem Engagement sowie der daraus abgeleiteten Praxis der einzelnen Fresh-X-Gemeinden aus. Die Fresh-X-Bewegung wird hier von Stimmen aus unterschiedlichen Richtungen geprägt. Dabei wird – um die Begriffe von Gerhard Wegner zu bemühen – die Bedeutung sozialer Kommunikation ebenso betont wie die Wichtigkeit religiöser Kommunikation. Allerdings werden beide inszenatorischen Modi einander ganz unterschiedlich zugeordnet. Markus Weimar, der zum Thema forscht, betont einerseits die Gleichzeitigkeit von der Orientierung am Umfeld einer Fresh X und die Ausrichtung am Evangelium.87 Bei genauerem Hinsehen dient die Kontextorientierung und das damit einhergehende zivilgesellschaftliche Engagement andererseits als Mittel zum Zweck der Nachfolge: „Ein inkarnatorischer Zugang ermutigt dazu, tief in die Lebenswelt der Menschen einzutauchen, dort zu bleiben und daran zu arbeiten, das Evangelium im ungewohnten Kontext neu durchzubuchstabieren.“88 Nach Weimer geht es Fresh X darum, sich erst einmal am Kontext zu orientieren, um danach diesen Kontext auf das Evangelium hin auszurichten. Die Soziale Kommunikation drückt sich darin aus, „Menschen in ihrer Lebenswelt zu begegnen und ihnen zu dienen“, woraus „Vertrauen und ein Zusammengehörigkeitsgefühl“ erwachsen. Daran knüpft sich dann die religiöse Kommunikation, die darauf abzielt, dass Menschen „dem Glauben an Jesus Christus eine Bedeutung im Leben [beimessen].“89 Es wurde bereits auf institutioneller Ebene darauf hingewiesen, dass dieses intentionale Programm mit Missionsabsicht das zuvor aufgebaute zivilgesellschaftliche Engagement in ein ambivalentes Licht rückt. Das gilt zumindest dann, wenn die Mission von Fresh X als Konversionsabsicht verstanden wird. Für so eine Absicht votiert z. B. auch John Finney, ein anglikanischer Vordenker der Bewegung: „Mission ist ganz einfach. […] Wenn du deine Nachbarn liebst, dann willst du das Beste für sie und dieses Beste muss bedeuten, dass sie vollkommen ‚in Christus‘ sind und den einen Gott – Vater, Sohn und Heiliger Geist – anbeten.“90 Alle zuvor erfolgte soziale Kommunikation dient dann dem einen Zweck, Menschen auf Jesus Christus hinzuweisen. Wird dieses Ziel als „das Beste“ nicht erreicht, dann ist das zuvor Geschehene vielleicht „gut“, bleibt aber hinter dem eigentlichen Anspruch der Mission zurück. Es gibt innerhalb der Bewegung aber auch Stimmen, die die soziale Kommunikation der religiösen Kommunikation nicht unterordnen. So schreiben etwa Rempe und Krebs:

87 88 89 90

Weimer 2016, 31. Weimer 2016, 32. Weimer 2016, 35. Finney 2016, 21.

Fresh X als kirchlich-zivilgesellschaftliche Inszenierung

231

„Gefährlich ist, wenn solch ein soziales Engagement mit einer versteckten Agenda verbunden wird. […] Solch eine Haltung stellt das ganze Engagement infrage. Vielmehr ist entscheidend, dass das Engagement nicht Mittel zum Zweck der Mission ist, sondern die Mission selbst:“91

Wenn die Orientierung an nicht-kirchlichen Netzwerken und das damit einhergehende zivilgesellschaftliche Engagement als Selbstzweck verstanden werden, ist auch die soziale Kommunikation der religiösen Kommunikation nicht untergeordnet. Beide Modi erscheinen dann als gleichwertige Kommunikation des Evangeliums. Für den Missionsforscher Patrick Todjeras ist diese Balance zwischen einem Missionsverständnis, das eher auf eine zivilgesellschaftliche Verantwortung abhebt, und einem solchen, das stärker von einer Konversionsabsicht befeuert wird, eine Leistung, die Fresh X in die missionswissenschaftliche Debatte eintragen.92 In seiner umsichtigen Darstellung zum missionswissenschaftlichen Diskurs macht er deutlich, wie bei Fresh X beide Missionsverständnisse wirksam sind: „Soll Schalom oder persönliches Heil erreicht werden? Restauration der Schöpfung oder Erkenntnis der Taten am Kreuz durch Jesus Christus? Welterhaltung oder Erlösung? […] Ein hartes ‚entweder – oder‘ hat lange den missionstheologischen Diskurs geprägt. […] Doch […] es entwickelte sich ein integrativer, ganzheitlicher Missionsbegriff, der ein Miteinander von verbaler Bezeugung des Evangeliums und sozialem Zeugnis für Gottes Gerechtigkeit umfasst. […] Fresh expressions of Church sind Teil dieses Diskurses und in gewisser Hinsicht ein Brückenschlag zwischen beiden Flügeln.“93

Vor diesem Hintergrund wundert es dann auch nicht, dass die Bewegung insgesamt wie auch die einzelnen Fresh X vor Ort von beiden Polen geprägt sein können.94 In der Praxis ist die Balance zwischen sozialer Kommunikation und religiöser Kommunikation nicht immer ersichtlich. Baer-Henney hat in England beispielsweise eine Fresh X besucht, in der ein ehemaliger Sozialarbeiter die Menschen eines neu erschlossenen Viertels durch seine kirchliche Arbeit zusammenbringen möchte: 91 Rempe und Krebs 2017, 10. 92 So auch Baer-Henney, der ebenfalls darauf aufmerksam macht, dass Fresh X von beiden Polen, einem missions-orientierten wie auch einem sozial-engagierten, beeinflusst werden. Vgl. Baer-Henney 2015, 179. 93 Todjeras 2016, 60–61. Vgl. zur Debatte um das Missionsverständnis auch die kirchentheoretische Diskussion zwischen den Praktisch Theologischen Fakultäten aus Bonn und Greifswald in Hauschildt et al. 2016, 382–392, 396. 94 Im übrigen werden beide Pole auch in dem fünffältigen Missionsbegriff der Bewegung aufgenommen. Die ‚Five Marks of Mission‘, die in dem Mission shaped Church Bericht vorgestellt wurden, nehmen beides als Ziel von „Mission nach ihrem Vollsinn“ auf – sowohl das Ziel der Bekehrung und der Nachfolge – wohlgemerkt als erstgenannte und damit auch primäre Ziele – als auch gesellschaftspolitisches und ökologisches Engagement. Vgl. Hauschildt et al. 2016, 181–182 insbesondere Fn. 30 und The Archbishops’ Council 2004, 156 Fn. 62.

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„Ich frage mich, ob das nicht ein wenig Bauernfängerei ist, den Menschen mit Keksen eine offene Tür abzuringen, aber Mark verneint. […] Er möchte Gemeinschaft schaffen und den Menschen dienen. […] An erster Stelle steht nicht, dass die Menschen gläubig werden sollen. Mark sieht es als seine Aufgabe, die Menschen zusammenzuführen. Es soll eine nachbarschaftliche Gemeinschaft entstehen. […] Alle zwei Monate verwandelt sich dieser [sc. monatliche] Gottesdienst zu einem Dienst am Menschen. Gemeinsam wird dann zum Beispiel Müll gesammelt, oder es werden Autos für alle, die wollen, kostenlos gewaschen. Ich frage, was das mit Kirche zu tun habe. Mark meint, dass der Dienst an den Menschen zuerst kommen müsse“95

Hier wird ersichtlich, wie soziale und religiöse Kommunikation bei Fresh X ineinander verwoben sein können. Ob das eine dann dem anderen dient oder umgekehrt, ist nur bei genauerem Nachfragen ersichtlich. So können sich dann auch an Fresh X Missionsängste entzünden, obwohl deren Inszenierungen eher sozial ausgerichtet sind. Das wird z. B. vonseiten der Fresh X Bohnenheld im Schwarzwald geschildert, die dort ein Café betreiben: „In den vergangenen drei Jahren ist es gelungen, im Ort einen hohen Bekanntheitsgrad zu erzielen. […] Einzelne Stimmen deuten darauf hin, dass ein von Christ*innen betriebenes Café bei manchen die Angst erzeugen kann, zwangsmissioniert zu werden.“96

Diese drastische Schilderung macht deutlich, dass die Ziele einer Fresh X transparent inszeniert werden sollten. Ob eine Fresh X bei der Gestaltung des sozialen Lebens helfen will und sich schon mit einem Gelingen dieser Arbeit zufriedengibt, ob sie sich erst als erfolgreich versteht, wenn sich Menschen das Evangelium zu eigen machen, oder ob sie beides anvisiert, ist keine Banalität. Es gehört zu einer aufrichtigen Inszenierung, dass die Zielgruppen wissen, worauf sie sich einlassen, wenn sie die performance der Fresh X mitgestalten. Dabei ist es im zivilgesellschaftlichen Diskurs zu erwarten, für die eigene theologische oder politische Position zu werben. Denn zivilgesellschaftliche Debatten leben von einer Auseinandersetzung über Unterschiede. Eine missionarische Absicht, die auf Konversion der Interaktionspartner aus ist, ist in der zivilgesellschaftlichen Arena also nicht grundsätzlich problematisch. Sie wird bei der Zielgruppe provozieren und Irritationen oder Ängste auslösen. Zugleich werden so auch individuelle Positionierungen und Diskurse ermöglicht. Beides, die Irritation ebenso wie die produktive Auseinandersetzung, bewegt sich noch im Rahmen freier Deliberation. Problematisch ist eine Inszenierung, die eine so verstandene Missionsabsicht durch ein zivilgesellschaftlich engagiertes Feigenblatt zu überdecken versucht. Wenn Menschen bewusst in eine Gruppe geführt werden sollen, nur um sie dann hinter dem Deckmantel sozialer Kommunikation religiös zu verformen, würden sie durch den ersten Eindruck getäuscht werden. Wenn aber 95 Baer-Henney 2015, 72. 96 Beißwenger und Kinces 2018, 17.

Fazit: Fresh X als zivilgesellschaftliche Kirche

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die Integration in eine Fresh X geschieht, um gemeinsam theologisch und sozial aktiv zu sein und um eine Nachbarschaft oder ein Netzwerk positiv, gemeinwohlorientiert und in gegenseitiger Rücksichtnahme zu formen, dann ist diese Art der Inszenierung ein zivilgesellschaftlicher Gewinn. So ein Engagement hat die Freiheit, über politische oder auch theologische Differenzen hinweg einen gesellschaftlichen Ort zu bereichern. Fresh X stellen insofern nicht nur eine Chance für die Kirche, sondern auch für die Zivilgesellschaft dar.

1.5

Fazit: Fresh X als zivilgesellschaftliche Kirche

Fresh X wagen den kirchlichen Schritt in gesellschaftliche Bereiche, die sonst wenig Bezug zur Kirche haben. Diese aufsuchende Dynamik wird oft durch soziales Engagement begleitet und betritt damit ein zutiefst zivilgesellschaftliches Terrain. Das macht Fresh X für diese Arbeit so attraktiv. In der vorangegangenen Darstellung wurde ein facettenreiches Bild gezeichnet, das sowohl die kirchlich-zivilgesellschaftlichen Schwerpunkte als auch die blinden Flecke von Fresh X mitaufgenommen hat. Sie sollen hier noch einmal zusammenfassend und mit besonderem Blick auf die zivilgesellschaftlichen Merkmale der Bewegung dargestellt werden. Dazu wird nach den raumlogischen und handlungslogischen zivilgesellschaftlichen Ausrichtungen von Fresh X gefragt. Zivilgesellschaft findet raumlogisch im Rahmen von Staat, Privatsphäre und Ökonomie statt.97 In dieser Trias haben Fresh X kein Interesse an staatlichen Strukturen. Im Gegensatz zu den gewöhnlicheren Ausdrucksformen der Kirche, die sowohl organisational als auch inszenatorisch stark mit dem Staat verbunden sind, haben Fresh X keinen intensiven Kontakt zum Staat. Im Habermas’schen System, das staatliche Macht in ein parlamentarisches Zentrum und eine weitläufige sowie immer privater werdende Peripherie einordnet, sind Fresh X am äußeren Rand staatlicher Macht angesiedelt. Sie streben keine direkte politische Macht an und setzen sich auch nicht unbedingt mit politischen Themen auseinander. Es gibt sicherlich auch politisch aktive Fresh X. Die Gruppen können etwa politisch werden, wenn die Nachbarschaft oder das Netzwerk einer Fresh X von politischen Ereignissen eingeholt wird. So kann es z. B. vorkommen, dass sich eine Fresh X an einer „Demo gegen Rechts“ beteiligt oder sich aktiv gegen die Gentrifizierung eines Viertels positioniert. Aber die Bewegung zielt tendenziell nicht auf politische Deliberation, sondern auf theologische und ggf. soziale Debatten ab. Dazu bewegen sich Fresh X vor allem in privaten Netzwerken und 97 Vgl. Teil I, Kapitel 3.1.

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Strukturen. So wird in der Bewegung immer wieder reflektiert, dass sich Kirche und christliche Identität in erster Linie im interaktionalen Miteinander entfalten. In einer Fresh X kennt man sich untereinander. Auch die durchschnittliche Gruppengröße, die 50 aktive Mitglieder nur selten übersteigt, bringt das zum Ausdruck. Damit sind Fresh X nicht grundsätzlich private Vereine, von denen die Öffentlichkeit ausgeschlossen wäre. Wenn eine Fresh X etwa ein Café unterhält, das für die Allgemeinheit geöffnet ist, wird deutlich, dass hier keine geheimen und abgeschotteten Zirkel aufgebaut werden. Vielmehr sind Fresh X auf eine bestimmte Zielgruppe ausgerichtet, für die sie sich dann auch sehr offen zeigen. Das können etwa jugendliche Fußballer aus prekären Verhältnissen in einem Brennpunktviertel sein, aber ebenso gut auch Genießerinnen eines Whiskytasting-Clubs. Fresh X wirken damit innerhalb bestimmter Netzwerke, die sich um Vorlieben und Milieugrenzen herum strukturieren. Menschen, die sich von so einem markanten Profil ansprechen lassen, finden dann auch Zugang zu einer entsprechenden Fresh X. Auf handlungslogischer Ebene wird diese Mischung aus Offenheit für eine Zielgruppe und der damit implizierten Geschlossenheit für andere Gruppen noch einmal thematisiert. Darüber hinaus tragen Fresh X dann auch auf privatem Raum erfreuliche Dinge in die Zivilgesellschaft ein. Die folgenden Eindrücke sind jedoch mit einer wichtigen Einschränkung versehen. Denn nun werden britische Daten zu Fresh X und deutsche Daten zur Zivilgesellschaft in ein Verhältnis gesetzt. Das lässt zwar keine methodisch sauberen Aussagen zu, gewährt aber wenigstens einen tendenziösen Einblick in die zivilgesellschaftlichen Dynamiken der Fresh-X-Bewegung. So ist (wenigstens im empirisch gut untersuchten Großbritannien) das Verhältnis von Männern und Frauen, die eine Fresh X leiten, recht ausgewogen.98 Das ist innerhalb der (deutschen) Zivilgesellschaft alles andere als selbstverständlich, da sich Männer dort grundsätzlich häufiger und im speziellen auch öfter in leitender Position betätigen.99 Fresh X heben sich hier also vergleichsweise positiv von anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren ab. Allerdings werden Männer für ihre leitende Tätigkeit in einer Fresh X öfter bezahlt, wogegen Frauen ihr führendes Engagement häufiger unentgeltlich einbringen.100 Dieses Missverhältnis ist ausgesprochen kritikwürdig. Dabei hat die grundsätzlich eher geringe Vergütung innerhalb der Fresh X organisationale Gründe. In Großbritannien werden hier schon seit längerem experimentelle kirchliche Wege gegangen. So startet eine Fresh X häufig als Projekt. Über Fundraising oder die Etablierung eines selbsttragenden Business, häufig eines Cafés, soll dann zunehmend auch eine finanzielle 98 Lings 2016, 106–107. 99 Vgl. Simonson et al. 2017, 637–646. 100 „The fxC are nearly as likely to be led by women as men. The most common stereotypes are ordained men, working full time and paid, and lay women, in their spare time, voluntarily.“ Lings 2016, 10.

Fazit: Fresh X als zivilgesellschaftliche Kirche

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Selbstständigkeit erreicht werden. Auf dieser Ebene nimmt eine Fresh X am Markt teil. In Deutschland ist die Fresh-X–Landschaft allerdings nicht gut genug untersucht, um konkretere Aussagen zur Ökonomie fällen zu können. Allerdings machen in Berichten zu Fresh X solche Beispiele Schule, die sich nicht nur profitabel zeigen, sondern sich mit ihrem Gewinn auch sozial engagieren. So erzählt die Fresh X Café Bohnenheld: „Das Café […] bietet ein öko-faires Angebot an. Die Überschüsse werden an gemeinnützige Organisationen gespendet.“101 Schon über die Etablierung solcher Vorbilder bauen Fresh X Narrative auf, die sie zu Recht in ein positives zivilgesellschaftliches Licht rücken. Raumlogisch sind Fresh X zivilgesellschaftliche Akteure, die zumeist fernab staatlicher Strukturen und im eher privaten Kreis aktiv sind. Dabei sind sie auch von ökonomischen Zwängen abhängig. Das gilt insbesondere dann, wenn die Koordinatorinnen einer Fresh X nicht durch kirchliche Gelder finanziert werden. Den wirtschaftlichen Voraussetzungen begegnen Fresh X, indem sie Spenden sammeln, unternehmerisch tätig werden und insbesondere, indem sie das Engagement ihrer Mitglieder aktivieren. Letzteres führt zur zivilgesellschaftlichen Handlungslogik. Gesellschaftliche Akteure sind dann zivilgesellschaftlich, wenn sie (nach Habermas und Alexander) an gesellschaftlicher Deliberation teilnehmen, (nach Putnam) Sozialkapital produzieren und in beiden Bereichen (nach Alexander) solidarisch, d. h. integrativ und gemeinwohlorientiert vorgehen. Um die Zivilgesellschaft nicht allzu stark normativ aufzuladen, müssen aber nicht alle drei Bedingungen erfüllt werden. Beispielsweise ist auch eine Sozialkapital produzierende und zugleich politische Organisation, die sich nicht gemeinwohlorientiert verhält, noch immer ein Teil der Zivilgesellschaft. Nur gehört sie dann zur dark side der Zivilgesellschaft. Was nun die Handlungslogik von Fresh X angeht, muss zuerst eingeschoben werden, dass es hier nicht die eine Handlungslogik gibt. Stärker noch als auf raumlogischer Ebene gilt hier, dass jede Fresh X ihr eigenes Profil in die Zivilgesellschaft einträgt. Vor diesem Hintergrund kann nicht allgemeingültig untersucht werden, inwiefern Fresh X am demokratischen Diskurs teilnehmen und z. B. das politische Zentrum mit Informationen über die jeweilige Lebenswelt der Fresh X versorgen. Schließlich gibt es Fresh X, die sich sehr stark für lokale politische Belange einsetzen, und Fresh X, die kein Interesse an solchen Debatten haben. Sie vereint bei gesellschaftlichen Auseinandersetzungen lediglich ein gewisses theologisches Interesse. Man kann an Fresh X aber die Frage richten, 101 Beißwenger und Kinces 2018, 17. Vergleichbares wird auch von der britischen Fresh X Kahaila berichtet: „Aus den finanziellen Überschüssen des Cafés und den Ideen der Engagierten werden Projekte unterstützt oder initiiert, die im Umfeld des Cafés […] eine Bedeutung haben.“ Kirche² – Eine ökumenische Bewegung Bistum Hildesheim und Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers, 65.

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Fresh Expressions of Church

inwiefern sie Jeffrey Alexanders Solidaritätsvorstellungen entsprechen.102 Alexander ging davon aus, dass es eine ideale civil sphere gibt, zu der alle Menschen, ungeachtet ihrer politischen Meinung oder kulturellen Identität, Zugang haben sollten. Die Zivilgesellschaft kann dieser idealen civil sphere niemals vollumfänglich gerecht werden. Sie bleibt lediglich ein Versuch, diesem Ideal der Teilhabe aller nahezukommen. Dabei wird die Zivilgesellschaft immer wieder an Ausgrenzungstendenzen der Gesellschaft scheitern und bestimmten Gruppen (etwa Personen aus prekären Verhältnissen) den Zugang zur civil sphere verweigern. Indem sich Fresh X auf Netzwerke mit einem sehr markanten Profil fokussieren, gewähren sie den Menschen, die diesem Profil entsprechen, gesellschaftliche Teilhabe. Fresh X können ein Weg sein, um Menschen, die potenziell aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden, Zugang zu gesellschaftlicher Teilnahme zu gewähren. Wenn eine Fresh X beispielsweise auf Personen in einem abgeschotteten Brennpunktviertel zugeht, ist das der Fall.103 Zugleich kommt diese Solidarität den Menschen nicht zugute, die dem anvisierten Profil nicht entsprechen. Nun wird es der Bewegung aber nicht gerecht, sie über diese immer auch exklusive Tendenz zu bewerten. Das hat Gründe: Erstens ist es die Grundidee von Fresh X, Menschen in gesellschaftlich-kirchliche Zusammenhänge zu integrieren. Das ist erstmal ein Teilhabe generierendes und damit zivilgesellschaftlich positives Anliegen. Die Bewegung als Ganze fragt danach, wie Kirche an allen denkbaren gesellschaftlichen Orten solidarisch mit den jeweiligen Menschen vor Ort sein kann. Zweitens erfolgt die Auswahl, wer lokal dazu gehört und wer nicht, keineswegs über ein bewusst selektierendes und inhaltliches Programm. Die Zugehörigkeit kommt über eine bestimmte Inszenierung zustande, die sich an einer Nachbarschaft oder einem konkreten Milieu orientiert. Wer zu diesem Profil auf den ersten Blick nicht passt, aber über die inszenatorischen Merkmale der Fresh X hinwegsehen kann, wird dort wohl trotzdem willkommen sein. Damit wird ersichtlich, dass Fresh X nicht über die womöglich ausschließende Inszenierung der einzelnen Gruppen, sondern eher über das inkludierende Ansinnen der Bewegung insgesamt bewertet werden sollte.104 Fresh X sind also solidarisch mit einzelnen gesellschaftlichen Gruppen, 102 Vgl. Teil I, Kapitel 3.2. 103 So die Fresh X „Church@five“ in London. Vgl. Kirche² – Eine ökumenische Bewegung Bistum Hildesheim und Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers, 18–22 und BaerHenney 2015, 75–79. 104 Diesem Urteil schließt sich auch Thomas Schlag in einem weniger stark differenzierendem Nebensatz an. Er schreibt: „Es sei an dieser Stelle nur daran erinnert, dass die gegenwärtig energiereiche englische Kirchenreformbewegung der so genannten fresh expressions gerade auf dem unmittelbaren Zusammenhang von kirchlichem und diakonischem Handeln im Sozialraum vor Ort beruht, d. h. Kirche gewinnt ihre öffentliche Sozialgestalt durch ihre vielfältige örtliche und diakonische Präsenz – und die deutlich über die Bezogenheit auf eine vermeintliche Kerngemeinde hinaus.“ Schlag 2012b, 106. Auch wenn man Schlag bei dem

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denen sie dann auch Teilhabe an der Zivilgesellschaft gewähren. Trifft dieses Interesse dann sogar auf Personenkreise, die wenig Teilhabe am gesellschaftlichen Leben haben, nehmen Fresh X eine wichtige zivilgesellschaftliche Rolle wahr. An dem Anspruch, Kirche für die gesamte Öffentlichkeit zu sein, würden Fresh X aber scheitern. Hieran entzündet sich dann auch die Frage nach dem Sozialkapital. Für Putnam war es schon ein gesellschaftlicher Gewinn, wenn sich Menschen in freien Assoziationen treffen und ihren Interessen als Gruppe nachgehen. Diesem Anspruch werden Fresh X ohne Zweifel gerecht. Sie versammeln Menschen um ein bestimmtes Anliegen und reichern die Debatten dort theologisch an. Wegen der Konzentration auf bestimmte inszenatorische Merkmale gesellen sich bei Fresh X gerne Gleich und Gleich. Hier werden also bonding-Effekte verstärkt, ohne jedoch bridging-Momente außer acht zu lassen.105 Aus zivilgesellschaftlicher Sicht stellt sich nun die Frage, ob eine Fresh X grundsätzlich unter sich bleibt oder auch die Kooperation mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteurinnen sucht. Auch hier kann in Ermangelung an Daten keine allgemeine empirisch geerdete Analyse der Bewegung erfolgen. Es bietet sich aber der Hinweis an, dass die Kooperation mit anderen Akteuren den gesellschaftlichen Zusammenhalt grundsätzlich stärkt und einer gesellschaftlichen Fragmentierung Vorschub leistet. Wenn eine Fresh X also mit anderen Kirchengemeinden, lokalen sozialen Projekten, Verwaltungen o. ä. kooperiert, steigert sie ihren zivilgesellschaftlichen Mehrwert. Schließlich kommt es so zu einem vermehrten bridging. Informationen überschreiten dann Milieugrenzen besser und das gesellschaftliche Vertrauen untereinander wächst wenigstens im Idealfall an. Den Berichten über Fresh X nach zu urteilen, scheint so eine Kooperation zwar nicht unbedingt das strategisch anvisierte Ziel der Bewegung zu sein. Aber umgekehrt ist eine Abschottung auch nicht die Absicht von Fresh X. Allein schon bei der Suche nach geeigneten Räumen oder der Vernetzung mit den Menschen einer Nachbarschaft braucht es schließlich auch die Kooperation mit anderen Akteurinnen. Fresh X finden in ihrer zivilgesellschaftlichen Handlungslogik also in einem recht weiten Spektrum statt. Ihr deliberativ-politisches Interesse ist je nach Fresh X stark oder kaum ausgeprägt. Anders verhält es sich in punkto Sozialkapital, das wohl die stärkste Säule von Fresh X als Akteure der Zivilgesellschaft ausmacht. Hier zeigen sich die Gruppen als geeignete Orte, um miteinander in einen regen Austausch zu kommen. Das gilt zumindest für die Gruppen, die den Verweis auf die Kerngemeinde, auf die sich die Arbeit einer Fresh X angeblich nicht exklusiv beziehen würde, nur teilweise und in Abhängigkeit der jeweiligen Fresh X zustimmen kann, behält er bei seinem Urteil doch Recht. Der innerkirchliche Pluralismus wird durch die verschiedenen und insbesondere durch die zivilgesellschaftlich engagierten lokalen Fresh X gestärkt. 105 S. o. Teil II, Kapitel 01.3.

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Fresh Expressions of Church

Anspruch, formational zu sein, nicht als religiöse Verformung, sondern als gleichberechtigten Austausch ausleben. Zugleich begegnen Fresh X als zivilgesellschaftliche Akteurinnen einzelnen gesellschaftlichen Gruppen solidarisch. Wenn darunter auch marginalisierte Gruppen fallen, können Fresh X eine wünschenswerte zivilgesellschaftliche Rolle einnehmen. So betreibt etwa die Fresh X Laifhof einen ehemaligen Bauernhof, auf dem sie Jugendlichen Raum gegeben haben, „die ihren Wohnwagen auf dem Wiesengelände abstellen wollten, weil die Polizei ihnen geraten hatte, ihre Treffen vom freien Feld auf den sicheren Ortsrand zu verlagern.“106 Die Jugendlichen fanden in dieser Fresh X einen geeigneten und sicheren Ort. Die zivilgesellschaftliche Funktion von Fresh X wird dabei bedeutsamer, wenn sie auch mit anderen Akteuren der Zivilgesellschaft kooperieren. Diese positive zivilgesellschaftliche Einschätzung von Fresh X markiert das Potenzial, das in der Bewegung steckt. Zugleich kann es auch passieren, dass einzelne Fresh X andere Schwerpunkte setzen. Wenn sich eine Fresh X z. B. auf eine privilegierte Bevölkerungsgruppe einstellt und zugleich nicht den Austausch mit anderen Gruppen sucht, würde sie zivilgesellschaftlich nicht außergewöhnlich positiv ins Gewicht fallen. Das ist auch legitim. Allerdings würde sich so eine Fresh X in ihrer zivilgesellschaftlichen Bedeutung dann auf die Produktion von bonding-orientiertem Sozialkapital beschränken. Vor dem Hintergrund der zivilgesellschaftlichen Möglichkeiten erscheint das defizitär. Fresh X können also ein Mehrwehrt für die Zivilgesellschaft sein. Das gilt natürlich nicht uneingeschränkt. Ihre Bedeutung variiert von Gruppe zu Gruppe. Mal sind sie interaktionale Magneten, die Personenkreise vereinen und zugleich an die eigene Gruppe binden, und mal sind sie theologisch-sozial profilierte Plattformen für die Vernetzung mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren. Der Bewegung insgesamt ist dabei grundsätzlich zugute zu halten, dass sie sich nicht von vorneherein auf einige wenige Gruppen und Milieus limitiert. Je nachdem welche Kontexte die Gruppen vor Ort vorfinden, verändern sie auch ihre jeweilige Inszenierung. Dabei kommt es nicht selten vor, dass sie ein zivilgesellschaftlich bedeutsames und erfreuliches Profil ausbilden.

106 Rempe und Krebs 2017, 130.

2.

Gemeinwesendiakonie

Vor etwas mehr als zehn Jahren veröffentlichte das Diakonische Werk der EKD den Text „Handlungsoption Gemeinwesendiakonie“.1 Darin wurde der Kirche wie auch der Diakonie eine engere und strategisch geplante Zusammenarbeit empfohlen, die sich an den unterschiedlichen Bedürfnissen lokaler Sozialräume orientiert. Das Neue dieser Handlungsoption war der Begriff „Gemeinwesendiakonie“, um den sich in der Diakoniewissenschaft schnell ein pointierter Diskurs bildete.2 Darin wurde etwa untersucht, an welchen Vorgängermodellen sich eine Gemeinwesendiakonie orientieren kann, oder welche Kriterien es gibt, um gemeinwesendiakonische Arbeit von anderen kirchlichen bzw. diakonischen Ausrichtungen zu unterscheiden.3 Nach einigen richtungsweisenden und bedeutsamen Publikationen kann man mittlerweile beobachten, dass der Diskurs zum Begriff Gemeinwesendiakonie wieder abebbt. Einflussreicher, beständiger und zweifelsohne auch wichtiger als der bloße Begriff „Gemeinwesendiakonie“ ist jedoch die Sozialraumorientierung, die Kirche und Diakonie in dieser Debatte als zukunftsfähige Strategie ans Herz gelegt wurde. Der Einfluss der Gemeinwesendiakonie bemisst sich also weniger daran, ob kirchlich-diakonische Projekte nun auch unter diesem Etikett stattfinden, oder ob die „Papierlage“4 zum 1 Diakonisches Werk 2007. 2 Vgl. etwa die Sammelbände Herrmann und Horstmann 2010, Horstmann und Park 2014 oder Barth et al. 2010. Vgl. auch die empirische Studie Horstmann und Neuhausen 2010. 3 Dabei mutet es schon fast als Haarspalterei an, wenn die Gemeinwesendiakonie en Detail klassifiziert und differenziert wird. So wurden etwa fünf mögliche gemeinwesendiakonische Strategien identifiziert. Diese Art der Analyse kann zwar mitunter klärend wirken und stellenweise wird darauf auch im Folgenden zurückgegriffen. Die formale Betitelung solcher Differenzen mit z. B. „Kooperationstyp KD“ oder „Gesellschaftliche Diakonie“ im Unterschied zu „Hilfeleistungen quartierbezogen organisieren“ verkompliziert die Gemeinwesendiakonie allerdings unnötig. Die Begriffe konnten sich dann folgerichtig im Diskurs auch nicht durchsetzen. Vgl. Horstmann und Park 2014, 67, 90–91. 4 „Angesichts der zahlreichen Publikationen fasste ein sachkundiger Beobachter seinen Eindruck neulich in den Satz ‚Die Papierlage ist gut!‘ und ein anderer fügte […] hinzu, […] es gäbe schon mehr Tagungen zum Sozialraum als funktionierende Sozialräume.“ Haas 2012a, 272– 273.

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Gemeinwesendiakonie

Thema gegenwärtig noch verbessert wird. Stattdessen stellt sich die Frage, inwieweit sich Kirche und Diakonie in Anlehnung an die Gemeinwesendiakonie stärker um eine gemeinsame Orientierung an ihren Sozialräumen bemühen. Demgemäß hält der Diakoniewissenschaftler Thomas Zippert für das Diakonische Werk der EKD fest: „Das Thema Sozialraumorientierung […] muss […] immer auch auf den Leitungsebenen angesiedelt sein, und zwar nicht als On-Top-Thema, sondern als Top-Thema, das alle bisherigen Themen durchdringt, denn es geht hier letztlich um den Auftrag von Kirche und Diakonie.“5

Dazu lässt sich stellenweise Erfreuliches berichten. Neben einigen veröffentlichten Best Practice Beispielen6 versuchen Kirche und Diakonie immer wieder die allgemeine Aufmerksamkeit auf dieses Thema zu lenken. So hat das Diakonische Werk zwischen 2015–2017 das Schwerpunktthema „Wir sind Nachbarn. Alle“ ausgerufen7 und dabei Akteure der Gemeinwesendiakonie finanziell gefördert, vernetzt und Erfolgsfaktoren dieser Projekte herausgearbeitet. Die EKD wird in Zusammenarbeit mit dem Diakonischen Werk und dem Arbeitskreis Missionarische Dienste die Themen Mission und Sozialraumorientierung in einer eigenen Arbeitsstelle zusammenführen und weiterdenken. Neben diesen EKD-weiten Plattformen gibt es einige regionale Initiativen. So haben die Bayerische Landeskirche und die Diakonie Bayern seit 2011 unter dem Label „f.i.t.“ („fördern, initiativ werden, teilhaben“) sozialraumorientierte und kirchlich-diakonische Projekte finanziell mitgetragen und begleitet. Auch die Landeskirche in Hessen und Nassau hat mit dem Diakonischen Werk Hessen die gemeinwesendiakonische Arbeit mit dem Projekt „DRIN“ ganz ähnlich unterstützt. Es lassen sich an vielen Orten in der Bundesrepublik gemeinwesendiakonische Arbeiten identifizieren. In Suppenküchen mit Einsamen, in Fahrdiensten für Seniorinnen, in Sprachkursen mit geflohenen Frauen oder Nachhilfekursen mit notenschwachen Schülern beteiligen sich Engagierte aus Kirche, Diakonie und anderen nicht-kirchlichen Kreisen. Sie sind insofern gemeinwesendiakonisch, als sie sich an den Bedürfnissen und Nöten der jeweiligen Nachbarschaften orientieren und dort kirchliche, diakonische und ggf. auch andere staatliche bzw. zivilgesellschaftliche Akteure gemeinsame Sache machen. Die so entstandenen Initiativen und Koalitionen sind hochgradig unterschiedlich aufgestellt. Das liegt schon an den jeweiligen Sozialräumen, in denen die gemeinwesendiakonischen Projekte verwurzelt sind. Ob Stadtviertel oder Dorfregion – oft genug kann man die jeweiligen Strukturen, Motive und Netzwerke 5 Diakonisches Werk 2018, 11. 6 Vgl. Franz 2009, Enderle et al. 2010, Kötter 2014 oder auch Rausch 2015. 7 Dort wird die Sozialraumorientierung prominent beleuchtet und der Begriff Gemeinwesendiakonie beiläufig erwähnt. Vgl. Diakonisches Werk 2018.

Gemeinwesendiakonie

241

nicht miteinander vergleichen. So liegt es in der Natur der sozialraumorientierten Sache, dass Gemeinwesendiakonie nicht standardisiert nach Schablone funktioniert. Das hebt auch Dierk Glitzenhirn hervor, der zum Thema forscht: „Die bislang vorliegenden Ansätze der Gemeinwesendiakonie sind weit davon entfernt, sich durchgängig auf ein theologisches Konzept zu beziehen. Vielleicht mögen auch die Vielzahl der agierenden Personen wie die Pluralität der Institutionen und ihre unterschiedlich motivierte Praxis gegen eine einheitliche ‚Theologie der Gemeinwesendiakonie‘ stehen.“8

Dieses Zusammenspiel aus allgemeinen Leitlinien (also der geforderten Sozialraumorientierung und den beteiligten Akteuren Kirche und Diakonie) einerseits und situativen Ausprägungen andererseits machen die kirchentheoretisch-zivilgesellschaftliche Betrachtung der Gemeinwesendiakonie ausgesprochen ertragreich. Dabei wird schnell ersichtlich, warum die Suche nach einer zivilgesellschaftlich aktiven Kirche an der Gemeinwesendiakonie nicht vorbeigehen kann. Denn in der programmatischen Sozialraumorientierung betritt die Gemeinwesendiakonie ein zweifelsfrei zivilgesellschaftliches Terrain. Hier sollen schließlich Menschen dahingehend aktiviert werden, ihr eigenes zivilgesellschaftliches und soziales Umfeld mitzugestalten.9 Darüber hinaus konzentrieren sich die Anstrengungen der Gemeinwesendiakonie häufig auf Gegenden, die von Armut und sozialen Problemen herausgefordert werden: „[D]ie Aufmerksamkeit [richtet sich] vornehmlich auf soziale Brennpunkte und Armutsquartiere mit vielfältigen Problemen und einem entsprechenden Konfliktpotenzial, zum Beispiel in Stadtteilen mit hoher Arbeitslosigkeit oder in Wohnquartieren mit multi-kultureller Einwohnerschaft.“10

Gemeinwesendiakonie setzt also an einem Problem an, das in dieser Arbeit mehrfach als herausfordernd für Kirche und Zivilgesellschaft identifiziert wurde, nämlich der Einbindung von Menschen aus prekären Verhältnissen in zivilgesellschaftliche Projekte. Grundsätzlich gibt es für die Gemeinwesendiakonie abweichende Einschätzungen zur kirchlich-zivilgesellschaftlichen Durchschlagskraft und ihren Erfolgsaussichten. Die initiierende „Handlungsoption Gemeinwesendiakonie“ sieht die Koalition aus Kirche und Diakonie noch „prädestiniert zur Übernahme von Verantwortung, zum Beispiel als Anlaufstelle zu den Lebenswelten verschiedener Bewohnergruppen und Partner für das professionelle und bürgerschaftliche Akteursnetzwerk vor Ort.“11 Nina Beh8 Glitzenhirn 2011, 228. 9 Dafür orientiert sich die Gemeinwesendiakonie an der Gemeinwesenarbeit, die wiederum in den letzten 50 Jahren versuchte, das US-amerikanisch geprägte Community Organizing in deutschen Brennpunktvierteln umzusetzen. Vgl. dazu Benedict 2010b und Götzelmann 2010. 10 Diakonisches Werk 2007, 7. 11 Diakonisches Werk 2007, 13.

242

Gemeinwesendiakonie

rendt-Raith stellt dagegen und trotz aller postulierten Prädestination ernüchtert fest, dass „das Konzept [sc. der Gemeinwesendiakonie] nur punktuell aufgenommen und umgesetzt“12 wird. Anscheinend bewahrheitet sich hier die Kritik des Diakoniewissenschaftlers Hans-Jürgen Benedict, wonach „die Formulierungen über die neue Rolle von Kirche und Diakonie bei der Gemeinwesenorientierung gelegentlich etwas zu vollmundig zu sein [scheinen]; sie antizipieren einen Zustand, den es so gelungen und schön noch nicht gibt.“13 Wie der kirchlich-zivilgesellschaftliche Anspruch der Gemeinwesendiakonie also konkret aussieht und ob diese Strategie ihrem Anspruch auch gerecht werden kann, wird in den folgenden Unterkapiteln umfassend besprochen.

2.1

Gemeinwesendiakonie als kirchlich-zivilgesellschaftliche Organisation

Dass Ehren- bzw. Hauptamtliche aus Diakonie und Kirchengemeinde miteinander in zivilgesellschaftlichen Projekten, etwa bei Einrichtungen wie den Tafeln, in Hospizvereinen oder der Erwachsenenbildung in Kontakt kommen, ist keine Seltenheit.14 Das Anliegen der Gemeinwesendiakonie ist es nun, solche womöglich eher beiläufigen und ungeplanten Kontakte entschiedener, kontinuierlich und vor allem mit strategischen Zielen bewusst herzustellen.15 So soll dann eine Koalition entstehen, die durch neu geschaffene Strukturen die jeweilige Nachbarschaft stärkt. Auf organisationaler Ebene stellen sich hier aus kirchlichzivilgesellschaftlicher Sicht einige Rückfragen. So muss geklärt werden, inwiefern die beiden Partnerinnen Kirche und Diakonie miteinander harmonieren. Wo liegen die organisationalen Chancen und Herausforderungen dieser Koalition? Dabei stellt sich dann auch die Frage, inwieweit die Gemeinwesendiakonie in ihren Strategiefindungen und Durchführungen top down oder bottom up verfährt, inwiefern bei Entscheidungen also die betroffenen Bewohner von Quartieren und Nachbarschaften einbezogen werden und welche Rolle die immer wieder greifbare Milieuverengung der Kirche dabei spielt. Wenn man der „Handlungsoption Gemeinwesendiakonie“ des Diakonischen Werkes Glauben schenken darf, dann besteht innerhalb von Kirche und Diakonie 12 Behrendt-Raith 2018, 245. 13 Benedict 2010b, 276. 14 Das legt zumindest die Feldstudie nahe, die das Diakonische Werk 2007 veröffentlichte. Dort wird festgehalten, dass dreiviertel aller befragten Diakonischen Werke und Kirchengemeinden auch als Partnerinnen arbeiten. Diakonisches Werk 2007, 20. 15 Das ist nicht einmal an jedem fünften Standort der Fall, an dem Kirchengemeinden und Diakonie gemeinsam auftreten. Vgl. Diakonisches Werk 2007, 20.

Gemeinwesendiakonie als kirchlich-zivilgesellschaftliche Organisation

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ein großer Bedarf ebenso wie ein großes Interesse an gemeinwesendiakonischen Strategien. Zwar gehen Kirchengemeinden und Einrichtungen in der Planung zivilgesellschaftlicher Aktionen nur selten gemeinsame Wege. Aber in der Durchführung solcher Projekte treffen die Akteure aus Diakonie und Kirche dann doch häufiger aufeinander.16 Das Miteinander von Kirche und Diakonie scheint demnach also nicht so sehr von langer Hand geplant zu sein, sondern liegt eher an den mitunter zufälligen Verwobenheiten vor Ort. Diakonie und Kirchengemeinden scheinen dabei – entgegen den in der gemeinwesendiakonischen Literatur geweckten Erwartungen – nicht gerade auf einen Anlass zu warten, um endlich miteinander kooperieren zu können. Die empirische Studie von Nina Behrendt-Raith erhärtet diesen Eindruck. Sie hält fest, dass zwar die meisten Kirchengemeinden, die sie untersucht hat, von der Diakonie in partnerschaftlichen Tönen sprechen,17 in der Praxis jedoch eine größere und beidseitige Zurückhaltung vorherrscht: „Es ist nicht (nur) die formal organisierte Diakonie, die keinen Kontakt zu den Gemeinden sucht, es sind auch die Gemeinden mit ihrer Mentalität des gallischen Dorfs, die keinen Kontakt zur institutionalisierten Diakonie suchen. Es sei eine ‚gewisse Scheu‘, die die Gemeinden daran hindert, aktiv Kontakt aufzunehmen, […] und sei es nur um eine Fortbildung […] aufzusuchen.“18

Hintergrund für diese Zurückhaltung ist kirchengemeindlicherseits nach Behrendt-Raith, dass „[d]ie institutionalisierte Diakonie […] von den interviewten Pfarrer/innen als übermächtig und das Verhältnis zwischen beiden Institutionen nicht auf Augenhöhe erlebt“19 wird. Diese Machtfrage ist dabei nur das greifbare Symptom eines tieferliegenden Problems.20 Denn Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen orientieren sich an ausgesprochen unterschiedlichen Logiken. Darauf macht Holger Böckel aufmerksam: „Diakonische Akteure sind in den meisten Fällen bereits sehr deutlich als Organisationen in der Umgebung von Märkten tätig. […] Kirchliche Akteure dagegen haben 16 Das legt die Feldstudie in der Handlungsoption Gemeinwesendiakonie nahe. Diakonisches Werk 2007, 17–24. 17 Behrendt-Raith 2018, 200. 18 Behrendt-Raith 2018, 130. 19 Behrendt-Raith 2018, 230. 20 An dieser Stelle wäre eigentlich eine kirchentheoretische Untersuchung diakonischer Einrichtungen geboten, die hier aber – wie übrigens in der gesamten Kirchentheorie gleichartig defizitär – nur stellenweise angerissen werden kann. So eine Analyse gibt es in der Kirchenthoerie kaum. Diakonie kommt in den einschlägigen Kirchentheorien nur am Rande vor. Einzig Holger Böckel geht in seiner kirchentheoretischen Betrachtung von Netzwerken immer wieder auf die Einordnung der Diakonie ein und beschreibt sie vor allem auf organisatonaler und interaktionaler Ebene. Die Ebene der Inszenierung betrachtet er in diesem Aufsatz nur stellenweise (anders in Böckel 2017) und auf Institutioneller Ebene kommt die Diakonie ihm nach zu urteilen nicht vor. Vgl. Böckel 2016.

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Gemeinwesendiakonie

dagegen [sic] (noch) die (scheinbare) Wahl, Institution zu bleiben oder eben Organisation zu werden.“21

Nach Böckel haben sich diakonische Eirichtungen im Unterschied zu Kirchengemeinden schon seit einigen Jahrzehnten von konventionellen Strukturen verabschiedet und sich konsequent auf die Bedürfnisse des Marktes eingestellt. Sie bemühen sich aktiv um neue Kundinnen und Klienten und versuchen Konkurrenten am Markt durch bessere Angebote zu verdrängen. Vor diesem Hintergrund lässt sich dann die im gemeinwesendiakonischen Diskurs häufig anzutreffende und etwas diffuse Bemerkung einordnen, dass die Diakonie „professioneller“ aufgestellt sei, als die meisten Kirchengemeinden.22 Was mit der Rede von der Professionalität der Diakonie dabei im Einzelnen gemeint ist, wird oft nur angedeutet. Allerdings zielt diese Einordnung diakonischer Unternehmen auf die organisationale Ausrichtung und Logik der Diakonie ab. „[T]rotz aller Gemeinsamkeiten [sc. von Diakonie und Kirche] muss […] gesehen werden, dass diakonische Tätigkeiten professionalisiert und damit spezialisiert wurden und die Ökonomisierung sozialer Dienste die Ausrichtung diakonischer Einrichtungen eher marktförmig als kirchenbezogen erscheinen lässt.“23

Diese Marktlogik, die um den organisationalen Fortbestand eines diakonischen Unternehmens bemüht ist, wird kirchlicherseits nicht immer positiv aufgefasst. So spricht Ralf Kötter von einer „professionellen Isolierung“24 der Diakonie und Thomas Schlag sieht durch die „zunehmende Professionalisierung diakonischer Arbeit“ den „Raum für freiwilliges Engagement“25 gefährdet. Dabei bleiben diese kritischen Stimmen natürlich nicht bei der Betrachtung der Diakonie stehen. Auch die Kirche und insbesondere die Kirchengemeinden werden häufig als defizitär beschrieben. Wenn etwa eine Kirchengemeinde nicht so stark nach den Bedürfnissen und den sozialen Problemen ihrer Nachbarschaft fragt, sondern vornehmlich nach dem konventionellen „this is how these things are done“, wird ihr eine destruktive Selbstgenügsamkeit bescheinigt: „Kirche schottet sich ab, wird zum Selbstzweck. Gottes dynamische Bewegung in der Inkarnation friert zum religiösen Standbild ein, das alle leidenschaftliche Wärme vermissen lässt.“26 Die pauschal attestierte organisationale Flexibilität der Diakonie und die konventionelle Beharrungskraft der Kirche scheinen eine gemeinsame Koope21 Böckel 2016, 121. 22 So bringen verschiedene Interviewpartner von Behrendt-Raith Diakonie mit Professionalität in Verbindung. Behrendt-Raith 2018, 207. Auch Theodor Strohm bemerkt nebenbei, dass die Diakonie „professionell und problemorientiert“ arbeitet. Strohm 2010, 20. 23 Eurich 2014, 261, vgl. auch Behrendt-Raith 2018, 130 oder Diakonisches Werk 2007, 27. 24 Kötter 2014, 24. 25 Schlag 2012a, 381. 26 Kötter 2014, 98.

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ration erst einmal zu erschweren: „Wer stärker ‚am Markt‘ operiert [sc. die Diakonie], benötigt eine strategische Vernetzung, die der potentielle kirchliche Partner gerade institutionslogisch nicht braucht.“27 Ob diese kritischen Stimmen mit ihrer Einschätzung zu Kirche und Diakonie recht haben, soll an dieser Stelle nicht beurteilt werden.28 Sie sind für den gemeinwesendiakonischen Diskurs allerdings richtungsweisend. Denn die defizitorientierten Bestandsaufnahmen von Kirche und Diakonie bleiben nicht bei dieser alarmierenden Betrachtung stehen. Anstatt die Kooperation von Kirche und Diakonie vor diesem Hintergrund resignierend als unwahrscheinlich zu erklären, werden die Herausforderungen und Probleme beider Organisationen als Steigbügel genutzt, um die Gemeinwesendiakonie als Lösung der offensichtlichen Probleme zu stilisieren. Die Sozialraumorientierung der Gemeinwesendiakonie soll der Diakonie aus ihrer professionellen und marktlogischen Verengung und den Kirchengemeinden aus ihrer konventionslogischen Inflexibilität verhelfen. Dabei werden nicht nur die Logiken bedacht, an denen sich kirchliche bzw. diakonische Entscheidungen orientieren. Auch die gesellschaftliche Dynamik, in die Kirche und Diakonie derzeit gestellt sind, wird als bedrohlich geschildert und so wird eindringlich vor dem drohenden Bedeutungsverlust gewarnt: „Auf der einen Seite drohen der finanzielle Kollaps, die Unfähigkeit, den Aufgaben noch gewachsen zu sein, oder doch zumindest die gefühlte Bedeutungslosigkeit […] sowie die Zunahme von Mitgliederverlust und Partizipationsmüdigkeit. Auf der anderen Seite droht aus Sicht der einzelnen kirchlichen bzw. diakonischen Akteure der Verlust der Eigenständigkeit und damit die Fusion, entweder als feindliche Übernahme auf dem (diakonischen) Markt oder aber in Form von synodaler oder kirchenleitender Durchsetzung. […] Familienbildungstätten werden aufgegeben oder von Drittanbietern geschluckt. Diakonische Anbieter drohen vom Pflegemarkt verdrängt zu werden. [….] Dem allen will man begegnen, indem man sich vernetzt oder das Netzwerk stärkt.“29

Auch der Diakoniewissenschaftler Hanns-Stephan Haas argumentiert hier am Beispiel von Kirchengemeinden auf die gleiche Art und Weise: „Die Kirchengemeinden stecken […] zunehmend in einem Dilemma. Um als relevante Kirche vor Ort wahrgenommen werden zu können, muss sie die veränderten Relevanzmuster ihrer Gemeindeglieder wahr- und vor allem auch aufnehmen. Andererseits fehlen ihr aber die Mittel und Kompetenzen, um diesen Auftrag über ein gewisses Maß

27 Böckel 2016, 157. 28 Wobei wenigstens die Kritik an institutionell verhärteten Kirchengemeinden mit dem kirchentheoretischen Bild dieser Arbeit von der Kirche zwischen solider und liquider Moderne als stellenweise zutreffend, aber insgesamt dann doch zu undifferenziert zurückgewiesen werden kann. Die Einschätzung dieser Arbeit knüpft dann auch an einem Institutionsverständnis an, das die Kirche als Institution offener, reflexiver, individueller und liquider einschätzt, als die soeben gehörten institutionskritischen Stimmen. Vgl. Teil I, Kapitel 2.2. 29 Böckel 2016, 80–81.

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Gemeinwesendiakonie

an ehrenamtlicher Arbeit hinaus leisten zu können. Auch hier wäre nichts hilfreicher, als wenn sich service-Intermediäre bilden würden, die zugleich an der Akzeptanz der Kirchengemeinde ein Interesse haben. Hier erhalten wir einen wichtigen Hinweis für ein konzertiertes Vorgehen von Kirchengemeinde und diakonischen Dienstleistern in der Entwicklung von ortsnahen Service-Intermediären.“30

In beiden Fällen wird mit dem Problem des drohenden Relevanzverlustes auch gleich die anvisierte Lösung mitgeliefert. In gemeinsamer Anstrengung sollen sich Kirche und Diakonie ihren Sozialräumen widmen. Dabei werden einige Herausforderungen sehr konkret benannt und angegangen. So leidet etwa die Anbindung der Diakonie an ihre Nachbarschaft darunter, dass ihre Mitarbeiter zumeist nicht in den Orten leben, in denen sie arbeiten.31 Zudem befinden sich einige diakonische Unternehmen noch außerhalb von Wohngegenden, die demnach auch nicht gut für Bewohnerinnen erreichbar sind. Die Gemeinwesendiakonie knüpft zwar an „[d]ie Zeichen der Zeit“ des Diakonischen Werkes, nämlich „Ambulantisierung, Dezentralisierung und Regionalisierung sozialer Dienste“ an.32 Demnach befinden sich immer mehr Einrichtungen, etwa zur Betreuung von Menschen mit Behinderung, nicht mehr in entlegenen Anstalten außerhalb der Stadtgebiete, sondern zunehmend in integrativen Wohngemeinschaften innerhalb der Quartiere.33 Allerdings ist dieser Prozess noch lange nicht abgeschlossen und so fehlen der Diakonie wichtige interaktionale Brücken, um sich ihren Sozialräumen zu öffnen. Gerade hier kommen dann die Kirchengemeinden ins Spiel, die im Gegensatz zur Diakonie stärker über solche interaktionalen Netzwerke verfügen: „Auf lokaler Ebene ist eine Kirchgemeinde immer auch vernetzt mit der sie umgebenden sozialen Welt; sie ist somit Akteur in der zivilen Öffentlichkeit, um in diese Impulse des Evangeliums in Wort und Tat einzubringen. Für die Gemeindeentwicklung bedeutet dies die Erschließung und Aneignung des Sozialraums, in dem die Gemeinde beheimatet ist.“34

Für die Diakonie hält die Gemeinwesendiakonie also die große Chance bereit, neue Anknüpfungspunkte und damit auch neue Kunden bzw. Klientinnen zu finden und die vorhandenen Bindungen zu stärken.35 Haas sieht diese Strategie 30 31 32 33

Haas 2012b, 262. So z. B. Rausch 2015, 58 oder auch Horstmann und Park 2014, 66. Diakonisches Werk 2018, 7. So z. B. der Diakoniewissenschaftler Hans-Jürgen Benedict: „Inzwischen ,wandert‘ Diakonie aber auch wieder in die Gemeinden zurück oder besser gesagt, sie wandert in den Nahbereich überhaupt zum ersten Mal ein. Das ist einerseits Folge der Dezentralisierungskonzepte in der Diakonie, die zur Auflösung zentraler Einrichtungen geführt hat: […] sprich, zur Integration von Behinderten in den Stadtteil und seine normalen Vollzüge.“ Benedict 2010a, 55. 34 Eurich 2014, 262 Vgl. auch Zippert 2012, 116. 35 Haas 2012b, 261.

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sogar als Vorteil, um diakonische Arbeitsplätze „finanziell wie sozial attraktiv“ zu halten und so zugleich im „war for talents“ die Oberhand zu behalten.36 Indem sich die Diakonie am Sozialraum orientiert, hat sie auch für ehrenamtliche Arbeit wieder die Notwendigkeit und den Raum, den Schlag ja noch zuvor als „gefährdet“ ansah. Darauf weist auch Zippert hin, wenn er schreibt: „[D]ie Freiwilligen aus dem sozialen Nahraum [sc. erscheinen] wie zu Beginn der großen Gründungsphase der Diakonie wieder auf der Bildfläche bzw. werden selbst aktiv, z. B. in der Hospiz- und Kriseninterventionsszene.“37 Organisational geht diese Sozialraumorientierung aber nicht nur mit Vorteilen, sondern auch mit einer starken Umorientierung und Öffnung einher: „Die diakonischen Unternehmen ihrerseits mussten jede Managementüberheblichkeit ablegen, ganz neue Kooperationen eingehen und sich radikaler als sie es je mit ihrem flachen Kundenbegriff getan hatten, von den Bedarfen der Menschen und der sozialen Nahräme her anbieten.“38

Das gilt selbstverständlich nicht nur für die Diakonie, sondern auch für die Kirchengemeinden, die sich vom Sozialraum her neu ausrichten wollen: „Sie [sc. die Gemeinwesendiakonie] adaptiert […] aber nicht deren [sc. Kirche und Diakonie] vorhandene Struktur an Angeboten und Kreisen, sondern geht auch von den neuen Ortslagen in den Parochien aus oder von Gebieten, die quer zu bisherigen Gebietsgrenzen gehen. Damit thematisiert die GWD Bedürfnisse der örtlichen Wohnbevölkerung und ist somit eine Weiterentwicklung des bestehenden Konzepts der Parochie.“39

Für die Diakonie wird diese Neuausrichtung noch eher nebenbei als Herausforderung thematisiert. Für die Kirche bedeutet so eine Sozialraumorientierung jedoch mehr als nur eine Umorientierung in Nuancen. Die Gemeinwesendiakonie versucht, Kirchengemeinden durch die Sozialraumorientierung auf ein anderes organisationales Level zu heben, das sich in allen Bereichen einer Kirchengemeinde als Organisation bemerkbar macht und einer eingehenderen Analyse bedarf. Dass die Gemeinwesendiakonie dabei an einzelnen Nachbarschaften und den dort verwobenen Kirchengemeinden ansetzt, bedeutet natürlich auch, dass sich die Konzepte nicht flächendeckend und EKD-weit gleichmäßig umsetzen lassen. Denn die Sozialraumorientierung ist davon abhängig, dass die entscheidenden Personen einer Kirchengemeinde sie auch wollen. Gemeinwesendiakonie lässt sich also für Kirchengemeinden – anders als vielleicht bei diakonischen Unternehmen mit ihren hauptamtlich angestellten Mitarbeitern – nicht einfach als strategische Umorientierung beschließen und umsetzen. 36 37 38 39

Haas 2012a, 283. Zippert 2012, 100. Haas 2012a, 276. Glitzenhirn 2011, 239.

248

Gemeinwesendiakonie

Was für die Kirche als zivilgesellschaftliche Akteurin im Allgemeinen gilt und zuvor bereits diskutiert wurde,40 gilt für die Gemeinwesendiakonie im Speziellen: „Einer der häufigsten Faktoren, die die Entstehung von gemeindediakonischen Aktivitäten beeinflussen, ist die persönliche Präferenz und Prägung der Pfarrerin oder des Pfarrers. […] Umgekehrt kann ein Pfarrer, dessen persönliche Präferenzen nicht im diakonischen Bereich liegen, natürlich auch ein hemmender Faktor für die Entwicklung von Gemeindediakonie sein“41

Diese organisationale Abhängigkeit von einigen wenigen Entscheidungsträgerinnen ist für die Gemeinwesendiakonie dabei paradoxerweise ebenso typisch wie auch unvereinbar mit dem eigenen Programm. Einerseits konnten Horstmann/Neuhausen feststellen, dass gemeinwesendiakonische Orientierungen von Einzelnen initiiert wurden: „Ausschlaggebend [sc. für die Entwicklung der gemeinwesendiakonischen Ausrichtung] war fast immer die Leitungsebene der beteiligten kirchlichen und diakonischen Akteure. Auf die Kirchengemeinden bezogen heißt das, dass die Projekte nicht an der Basis entstanden sind: ‚Es ist kein Projekt, das aus der Basis herausgewachsen ist, sondern in den Köpfen weniger Menschen entstanden ist.‘ […] ‚Was wir hier machen, kann nicht mit basisdemokratischen Initiativen betrieben werden. Es ist eine strategische Führungsaufgabe.‘“42

Gemeinwesendiakonie wird – nach diesem empirischen Befund zu urteilen – top down initiiert. Zivilgesellschaftlich gesehen muss das, wie gezeigt wurde,43 keineswegs ein Makel sein. Wichtiger ist, dass nach der gefällten Entscheidung zur Sozialraumorientierung auch die betroffenen Kirchengemeinden, diakonische Einrichtungen und Bewohnerinnen der Quartiere miteinbezogen werden. Hier sind die Ansprüche der Gemeinwesendiakonie wiederum alles andere als hierarchisch und top down. In der Literatur wird ganz im Gegenteil ein gleichberechtigtes und bottom up strukturiertes Organigramm auf Augenhöhe vorgestellt. In der Studie von Horstmann/Neuhausen wird nach der Initiierungsphase etwa davon gesprochen, „die Menschen basisdemokratisch mit[zu]nehmen.“44 Rausch geht über diese Position sogar hinaus, indem sie die Bewohner, auf deren Situation sich die Gemeinwesendiakonie bezieht, bereits in der Planungsphase einbeziehen will: „Gemeinwesendiakonie will das gesamte Gemeinwesen mitgestalten. Deshalb sollten außer den direkt Beteiligten und Betroffenen auch alle anderen wichtigen Akteure zu diesem Prozess eingeladen werden. Je früher und intensiver […], desto wahrscheinli40 41 42 43 44

S. o. Teil I, Kapitel 4.1. Behrendt-Raith 2018, 152–153. Horstmann und Neuhausen 2010, 22–23. S. o. Teil I, Kapitel 4.1. Horstmann und Neuhausen 2010, 22.

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cher ist es, dass dann auch die vorhandenen Potentiale wirkungsvoll entfaltet werden können.“45

Diesen auf Teilhabe ausgerichteten Prozess begründet Rausch noch grundsätzlicher und für die Gemeinwesendiakonie durchaus programmatisch: „Partizipation darf in gemeinwesendiakonischen Prozessen keine Worthülse sein. Partizipation erfordert gleichberechtigtes Handeln auf Augenhöhe, es erfordert aber auch und vor allem den Verzicht auf Vordenkertum oder stellvertretendes Handeln, und sei es subjektiv noch so gut gemeint.“46

Dieser Anspruch, alle Stimmen auf- und ernst zu nehmen, bringt allerdings eine organisationale Herausforderung mit sich. Denn einerseits wird die Moderation dieser Bedürfnisse und Einwände zur zentralen Aufgabe in der Gemeinwesendiakonie. Aber andererseits bezeichnen es Horstmann/Neuhausen als „naiv“, Hauptamtliche auf diese moderierende Rolle in flachen Hierarchien zu beschränken: „Den hauptamtlichen Mitarbeitenden kommt […] eine unverzichtbare Rolle zu. Es wird […] kaum möglich sein, dass sich gemeinwesendiakonisches Engagement ausschließlich ehrenamtlich weiterführen lässt. Die Vorstellung, dass es nur eines geeigneten Rahmens bedarf und dass die Rolle der Hauptamtlichen hauptsächlich darin liegt, moderierend Ehrenamtliche zu begleiten, erscheint uns daher recht naiv. Ohne Hauptamtliche geht es nicht. Sie sind Gestalter und nicht bloß Moderatoren des Projekts.“47

Gemeinwesendiakonie als kirchlich-zivilgesellschaftliche Organisation verzichtet demnach keineswegs auf hierarchische top down Strukturen. Auch hier haben bestimmte Haupt- oder Ehrenamtliche notwendigerweise eine führende und gestaltende Rolle inne. Im Idealfall führen die Vorstellungen dieser leitenden Personen dabei nicht an den Fragen und Bedürfnissen der Nachbarschaft vorbei, sondern nehmen sie produktiv auf. Zusätzlich nimmt diese Konstellation Abstand von den Strukturen, die insbesondere Kirchengemeinden sonst oft dominieren und im kirchentheoretisch-zivilgesellschaftlichen Diskurs als „selbstgenügsam“ gerügt wurden.48 So wünscht sich Heike Park in ihrer Untersuchung zur „Kirchengemeinde als Akteur [sic] im Gemeinwesen“49, dass in gemeinwesendiakonisch kooperierenden Kirchengemeinden nicht die Pfarrerinnen die Anlaufstellen für Bedürfnisse und Fragen sind:

45 46 47 48 49

Rausch 2015, 127–128. Rausch 2015, 128. Horstmann und Neuhausen 2010, 22. Vgl. etwa Huber 1999, 280. Horstmann und Park 2014, 65–106.

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Gemeinwesendiakonie

„An die Stelle des Pfarramtes tritt das Gemeindebüro, das nicht mehr nur der Erledigung von Verwaltungsaufgaben dient. Es ist in einer Mischung zwischen Bistro, Laden und Hotel-Foyer eine Art Gemeinde-Rezeption. Ehrenamtlich Mitarbeitende, Pfarrer und Mitarbeitende der Diakonie sind dort tätig. Der Community Organizer gehört ebenfalls zu den Mitarbeitenden, die über die Gemeinde-Rezeption zu erreichen oder dort anzutreffen sind. Vor allem trifft man hier die Menschen aus dem Stadtteil, die die Möglichkeiten der Enabling Church in einer Kirchengemeinde leben.“50

Die Kompetenz- und Verantwortungsverteilung der Gemeinwesendiakonie versucht also neben dem Pfarramt noch weitere Hauptamtliche zu installieren, die Entscheidungen richtungsweisend und aus anderen Perspektiven heraus mittragen. Neben solchen möglichen gemeinwesendiakonischen Umstrukturierungen berücksichtigen die organisationalen Abläufe nicht nur die Kirchenmitglieder. Das ist so zentral wie revolutionär. Denn es bedeutet, dass die kirchlichen Gremien nicht nur den eigenen Vorteil suchen oder die eigenen Vorlieben bedenken: „Die Frage, ‚ob Kirche nur etwas für die Evangelischen macht oder einen diakonischen Auftrag hat, der sich auf alle bezieht‘, scheint für die Beteiligten in der Gemeinwesendiakonie klar entschieden. Es geht um alle Bewohner des Viertels.“51

Damit verbietet sich der Gemeinwesendiakonie ein klientelorientiertes Programm, das in erster Linie an den Bedürfnissen etwa einer Kerngemeinde interessiert ist. Die Frage, ob gemeinwesendiakonisch aktive Personen Kirchenmitglieder sind, tritt in den Hintergrund. Ebenso wird die von Fischer zu Recht kritisierte Milieugebundenheit kirchlicher Entscheidungen zurückgewiesen. Gemeinwesendiakonie macht die Bedürfnisse eines Sozialraums zu den eigenen Bedürfnissen, was auf inszenatorischer Ebene noch diskutiert wird. Dafür müssen sich Kirchengemeinden wie auch diakonische Einrichtungen umorientieren und umstrukturieren. Dabei wird es gerade den beteiligten Kirchengemeinden guttun, die überregionalen, kirchenleitenden Ebenen einzubeziehen. So stellen Horstmann/Neuhausen fest: „Die Kirchenkreisebene hat für das Gelingen gemeinwesendiakonischer Projekte einen zentralen Stellenwert. Sowohl die regionalen Diakonischen Werke als auch die Kirchenkreissozialarbeit sind auf dieser Ebene angesiedelt. Beide sind äußerst wichtige Akteure im Quartier.“52

Durch die Perspektiven dieser überregionalen Ebenen überschreitet die Gemeinwesendiakonie die parochiale und kleinstaatliche Perspektive, der manche Kirchengemeinden verhaftet sind. Das ist für die Gemeinwesendiakonie wichtig. 50 Horstmann und Park 2014, 106. 51 Horstmann und Neuhausen 2010, 38. 52 Horstmann und Neuhausen 2010, 29.

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Wenn eine Suppenküche oder die Hausaufgabenbetreuung von Schülern angeboten wird, kann man die Teilnahme daran nicht an die Zugehörigkeit zu einer Parochie binden. Das gilt für die Ehrenamtlichen, die Teilnehmer und die Orte, an denen gemeinwesendiakonische Arbeit stattfindet. Diese organisationale Flexibilität und Offenheit der Gemeinwesendiakonie wird an der Verwendung von Gebäuden gut greifbar. So treten kirchliche bzw. diakonische Akteure in der Gemeinwesendiakonie oft als Gastgeberinnen in ihren Räumen auf. Allerdings kann eine konsequente Sozialraumorientierung auch dazu führen, dass die eigenen Räume, obwohl sie gut ausgestattet sind, nicht den gewünschten Nutzen bringen, weil sie zu weit abgelegen sind.53 Gemeinwesendiakonische Akteure greifen dann auf andere Gebäude zurück und finden sich in der eher fremden Rolle als Gäste wieder: „In mehr als zwei Dritteln der [sc. gemeinwesendiakonisch genutzten] Zentren […] sind eigene Räumlichkeiten in Benutzung. Daneben können in noch größerem Umfang, d. h. fast an jedem Standort, ergänzende fremde Räumlichkeiten genutzt werden! Kirche und Diakonie als Projektpartner sind also oft rein äußerlich nicht zwingend schnell als die Gastgebenden eines Projekts wahrnehmbar.“54

Dabei wird deutlich, dass die Gemeinwesendiakonie im Zusammenspiel aus verschiedenen kirchlichen und diakonischen Ebenen, der Sozialraumorientierung und der Kooperation mit anderen Partnern im besten Fall ein solide-modernes und organisationslogisches Parochialdenken hinter sich lässt. Gerade diese Anpassungsfähigkeit der Gemeinwesendiakonie an liquide-moderne Voraussetzungen wird nach Horstmann/Neuhausen auch durch die teilweise abenteuerliche Finanzierung von gemeinwesendiakonischen Projekten begünstigt.55 Denn indem im Fundraising neue Sponsoren überzeugt werden müssen oder indem die eigene Arbeit in Anträgen auf öffentliche Gelder offen gelegt wird, befinden sich gemeinwesendiakonische Projekte in einem fortwährenden Reflexionsprozess, der viel Flexibilität und Transparenz bedarf und wenig Raum für Strukturkonservativismus lässt.56 Das hat nicht nur positive Effekte. Behrendt53 Dazu werden im gemeinwesendiakonischen Diskurs viele Vorschläge gemacht. Benedict empfiehlt, auf kostenintensive Gebäude zu verzichten und sich stattdessen auf Kontakte in die Nachbarschaft zu konzentrieren. Das Diakonische Werk legt dagegen in der „Handlungsoption Gemeinwesendiakonie“ nahe, die eigenen Gebäude zu Gunsten des Sozialraums umzufunktionieren und Ralf Kötter vereint beide Positionen, indem er Kirche nicht zur Denkmahlpflegerin alter Gebäude verklärt, sondern ihren Fokus auf die gemeinwesendiakonischen Netzwerke vor Ort legt, dafür aber gerne eigene, wie auch fremde Gebäude umwidmen will. Vgl. Benedict 2010a, 49, Diakonisches Werk 2007, 27 und Kötter 2014, 128. 54 Glitzenhirn 2011, 231–232. 55 Vgl. Horstmann und Neuhausen 2010, 13 ebenso wie diese prägnante und zugleich vielsagende Bemerkung: „Gemeinwesendiakonie hat weder eine Regelfinanzierung, noch gibt es übertragbare Modelle.“ Horstmann und Neuhausen 2010, 36. 56 Vgl. hierzu auch Glitzenhirn 2011, 232, 240.

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Gemeinwesendiakonie

Raith macht – ebenso richtig wie desillusionierend – darauf aufmerksam, dass eine unsichere Finanzierung für gemeinwesendiakonisch interessierte Akteurinnen auch eine unüberwindbare Hürde darstellen kann: „Wo früher diakonische Arbeit allein durch Klingelbeutel und Kirchensteuern finanziert werden konnte, muss man sich heute durch ‚Fundraising‘ und (kommunale) Refinanzierung über Wasser halten. Für letzteres sind wiederum Personen vonnöten, die sich mit Projektanträgen und ähnlichem auskennen und eine nicht unwesentliche Menge an Zeit investieren. Beides, Personal und Finanzmittel sind für gemeindediakonische Arbeit […] knapp.“57

Gemeinwesendiakonie ist damit für Kirche, Diakonie und ihre jeweilige Nachbarschaft auf organisationaler Ebene eine große zivilgesellschaftliche Chance. Allerdings ist diese Chance für alle beteiligten Akteure auch ein erheblicher Kraftakt und Mehraufwand. Die gemeinwesendiakonische Koalition aus Kirche und Diakonie bietet die Möglichkeit, sich als Kirche auf das zivilgesellschaftliche Umfeld einzulassen. Das erfordert aber, wie gezeigt, nicht nur die Aufbringung neuer Finanzmittel ebenso wie den Willen, die eigene organisationale Macht und die eigenen Ressourcen mit anderen Akteuren zu teilen, sondern es erfordert auch die Flexibilität, die eigene Rolle im – und die Verantwortung für den – jeweiligen Sozialraum neu anzupassen.58 Insbesondere für Kirchengemeinden kann das zu einer organisationalen Überforderung werden. Das wiederum macht diese zivilgesellschaftlich wirksame Koalition in der Breite unwahrscheinlicher, als es der sehr euphorisch geführte Diskurs dazu auf den ersten Blick vermuten lässt. Zugleich ist die Gemeinwesendiakonie keineswegs nur damit beschäftigt, neue organisationale Strukturen zu schaffen. Sie greift dabei entlastenderweise auch auf institutionelle Voraussetzungen zurück.

2.2

Gemeinwesendiakonie als kirchlich-zivilgesellschaftliche Institution

Aus zivilgesellschaftlicher Sicht wurde in dieser Arbeit die Institution Kirche dahingehend kritisiert, dass sie sich oft noch zu stark an die Privilegien und Strukturen anlehnt, die ihr von staatlicher Seite aus als Körperschaft des öffentlichen Rechts zugestanden werden. Das ist für die Kirche zwar komfortabel, allerdings trügerisch, da das Eis dieser Konstellation durch die Säkularisierung dünner wird. Zugleich besteht die Gefahr, dass es die Kirche auf diesem brö57 Behrendt-Raith 2018, 99. 58 So beschreibt dann auch de Roest die Kooperationen von verschiedenen Akteuren in der Gemeinwesendiakonie als einen kreativen Prozess, der das Altbekannte und scheinbar nicht mehr Bewährte herausfordert. Vgl. Roest 2010a, 154.

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ckelnden Fundament versäumt, sich so auf die wandelnden, widersprüchlichen und herausfordernden Gegebenheiten einzulassen, die ihr im zivilgesellschaftlichen Umfeld begegnen. Die Gemeinwesendiakonie kann, wie auf organisationaler Ebene gesehen, als Versuch gewertet werden, dieser konventionellen Trägheit entgegenzuwirken. Diese anscheinend anti-institutionelle Eigenheit der Gemeinwesendiakonie tritt vor dem Hintergrund der kirchlichen Institutionsartigkeit markant ins Auge und orientiert sich gleichzeitig auch an den allgemeinen Erwartungshaltungen sowie dem fürsorglichen Selbstverständnis, die die zivilgesellschaftliche Institution Kirche ausmachen. Es ist also nur sachgemäß, diese stellenweise organisationalen Aspekte der Gemeinwesendiakonie auch auf institutioneller Ebene zu diskutieren. Ein Merkmal, das die Gemeinwesendiakonie für die Rahmenbedingungen der liquider werdenden Moderne bereit macht, ist ihre Finanzierung, die sich nicht mehr so stark auf die Kirchensteuer stützt. Indem etwa Gelder des „Bund-Länder-Programm[s] Soziale Stadt“59 und EU-Mittel als Förderquellen genutzt werden, löst sich die Gemeinwesendiakonie aus einer privilegierten kirchlichen Stellung und konkurriert mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteurinnen um öffentliche Gelder. Damit schlägt die Kirche in Form der Gemeinwesendiakonie den Weg in die Bedingungen der Zivilgesellschaft ein. Das hat nicht so sehr mit der Art der Finanzierung zu tun, sondern eher damit, dass die Gemeinwesendiakonie ihre Gelder nur dann erhält, wenn sie die Gemeinwohlorientierung ihrer Projekte und Strukturen belegen kann. Kirche wird auf diese Weise davor bewahrt, nur die eigenen Themen und Anliegen zu bearbeiten. Dabei richtet sich die Gemeinwesendiakonie nicht zwangsläufig gegen den Status quo und damit die Konventionen der Kirche.60 So macht Nina Behrendt-Raith darauf aufmerksam, dass eine diakonische Ausrichtung manchen Kirchengemeinden institutionell als „this is how these things are done“ vorgegeben ist. Sie beschreibt eine Kirchengemeinde, die seit Jahrzehnten sozial engagiert unterwegs und dementsprechend auch festgelegt ist: „Aufgrund der diakonischen Tradition der Ge59 Diakonisches Werk 2007, 5. 60 Wobei Böckel das anders sieht und die organisationalen und netzwerkartigen Strukturen der Gemeinwesendiakonie immer wieder als Gegenbild einer abwartenden und den Untergang lediglich verwaltenden Institution Kirche heranführt: „Sind also die fortbestehenden Anteile der verfassten Kirche je länger desto mehr führungstheoretisch als problematisch anzusehen, kann im Gegensatz dazu die Verbindung von Organisation und Gemeinschaft zu einer sich stabilisierenden Hybrid-Verbindung führen. Dies setzt allerdings voraus, dass die auftragsbezogenene Außenorientierung an den Rändern nach unten nicht verloren geht, dass also neben der missionarischen Dimension auch die Dimension des ,öffentlichen‘, mithin gesellschaftsdiakonischen Christentums, erhalten bleibt. Wo dies der Fall ist, tritt die Institution als prekäre Organisationsform in den Hintergrund, wogegen Organisation und Gemeinschaft […], stabil gekoppelt, und an Bedeutung gewinnen können.“ Böckel 2016, 117.

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Gemeinwesendiakonie

meinde ist die diakonische Arbeit aus der Gemeinde nicht mehr wegzudenken.“61 In einer solchen Kirchengemeinde ist dann auch die Gemeinwesendiakonie Ausdruck der kirchlicher Konventionen.62 Das gilt aber nicht nur für lokale Beispiele wie dieses. Auch die allgemeinen und mit empirischer Forschung durchaus greifbaren Vorstellungen von Kirche geben der Gemeinwesendiakonie eine soziale Ausrichtung vor.63 Gemeinwesendiakonische Projekte setzen solche institutionellen Vorgaben bewusst um. Das können Horstmann/Neuhausen in ihrer Studie folgendermaßen als typisches Argumentationsmuster belegen: „Die Beteiligten in der Gemeinwesendiakonie wollen gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen. ‚Wir haben als Kirche schließlich die Aufgabe, Verantwortung für die Integration zu übernehmen und dies auch voranzutreiben.‘“64

In diesem Sinne ist die Gemeinwesendiakonie eine kirchlich-zivilgesellschaftliche Institution. Das gilt umso mehr, als es der Gemeinwesendiakonie daran gelegen ist, eine kontinuierliche und beständige Arbeit zu leisten. So richten sich die Stimmen und Praxisbeispiele im Diskurs explizit gegen eine Projektartigkeit, die auf wenige Jahre ausgerichtet ist.65 Horstmann/Neuhausen berichten dazu von einem Beispiel: „Durchhaltevermögen ist zunächst im Entstehungsprozess wichtig: ‚Der Prozess der Antragstellung lief über fünf bis sieben Jahre. Zwei Anträge wurden abgelehnt, erst der dritte war erfolgreich.‘“66 Vor diesem Hintergrund verwundert es dann auch nicht, dass das Diakonische Werk die Erwartung an gemeinwesendiakonische Akteure ausspricht, sich „über Förderzeiträume hinaus einzumischen und zu präsentieren.“67 Das ist im organisationalen Alltag zwar alles andere als einfach und vermutlich auch nicht immer machbar.68 Aber an diesem Anspruch wird doch gut deutlich, dass die Ge61 Behrendt-Raith 2018, 115. 62 Vgl. dazu auch Schlag: „Zudem gilt auch für die Kirche als Institution, dass sie in erheblichem Maß von personaler Erkennbarkeit und stimmigen Vollzügen lebt und von daher auch durch ein authentisch diakonisches Handeln ihre öffentliche Präsenz plausibilisiert.“ Schlag 2012a, 390. 63 Vgl. auch Teil I, Kapitel 4.2. 64 Horstmann und Neuhausen 2010, 38. 65 So berichtet Thomas Zippert für das Diakonische Werk: „Um in sozialen Räumen nachhaltig arbeiten zu können, muss die kurzfristige Projektlogik durch andere Förder- und Finanzierungsstrukturen abgelöst werden. […] Die Projektlogik als solche mag für Anlaufphasen, für Experimente neuer Arbeitsformen und für akute Krisensituationen sinnvoll sein. Im weiteren Verlauf verhindert sie jedoch eine nachhaltige Verankerung in den Grundaufträgen […] weil sie externen Zielen folgen muss, anstatt vor Ort offene Prozesse gemeinsamer Zielfindung initiieren oder moderieren zu können. Projektziele lassen nicht immer (Sozial-) Raum für die sich vor Ort zu vermittelnden Ziele der Akteure.“ Diakonisches Werk 2018, 15. 66 Horstmann und Neuhausen 2010, 35. 67 Diakonisches Werk 2007, 6. 68 Vgl. dazu etwa die Mahnung von Horstmann/ Neuhausen: „Wenn Projektförderungen immer mehr zum Mittel der Wahl werden, werden auch bestehende Angebote und Strukturen immer

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255

meinwesendiakonie die jeweiligen Sozialräume als verlässliche Partnerin langfristig, also mit institutionalisierender Wirkung, prägen möchte. Dabei verlässt die Gemeinwesendiakonie allerdings die ausgetretenen Pfade, die gemäß kirchlicher Konventionen klassischerweise begangen werden: „Ein wiederkehrendes und variantenreiches Motiv in der Gemeinwesendiakonie ist die Erkenntnis, dass das Altbewährte oft nicht mehr trägt. ‚Im Grunde sind wir in einer Übergangsphase: Wir machen hier gerade noch das Minimum, was man in einer Parochie machen muss, aber gleichzeitig proben wir schon neue Formen.‘ Gemeinwesendiakonie ‚hängt‘ zwischen Altem und Neuem. Das Alte funktioniert nicht mehr, das Neue zeigt sich bereits.“69

Hier wird greifbar, dass die Gemeinwesendiakonie als liquide kirchlich-zivilgesellschaftliche Institution gelten kann. Schließlich ist diese Ausrichtung von Kirche und Diakonie verhältnismäßig neu und noch ausgesprochen flexibel. Dabei richtet sich die Sozialraumorientierung oft gegen eine gefühlte konventionelle Selbstgenügsamkeit der Kirche. Dabei trifft die Gemeinwesendiakonie auf Beharrungskräfte, die sie überwinden will.70 Ein konventionelles „this is how these things are done“ ist für die Kirche in Form einer allgemeingültigen und flächendeckenden Orientierung an gemeinwesendiakonischem Engagement vielleicht vorstellbar, aber derzeit alles andere als gängige Praxis.71 Orte, an denen derartige Ausrichtungen das zivilgesellschaftliche Engagement der Kirche lokal und langfristig prägen, wirken institutionalisierend. Allerdings bleibt dieser Einfluss auf der Ebene der einzelnen Sozialräume verhaftet. Die Gemeinwesendiakonie prägt die Institutionsartigkeit der Kirche also eher lokal und weniger überregional. Zugleich muss die soziale und auf die Zivilgesellschaft gerichtete Wirkung der Kirche nicht erst durch die Gemeinwesendiakonie erfunden werden. In ihrem Wirken baut die Gemeinwesendiakonie auf das bereits vorhandene Potenzial der Kirche als zivilgesellschaftliche Institution auf. Dabei betritt sie allerdings ein unkonventionelles Terrain, das für die klassische parochiale Arbeit an den meisten Orten der EKD noch Neuland ist: „Gemeinwesendiakonie entsteht durch eine neue, sich erst entwickelnde Kooperationskultur von verfasster Kirche und organisierter Diakonie. In dieser Form gab es sie noch nicht.“72 Die Ziele, die dabei verfolgt werden, sind eine Reaktion auf den gesellschaftlichen

69 70 71 72

öfter mit kurzfristigen Projektfinanzierungen weitergeführt werden müssen. Dies widerspricht einer gemeinwesendiakonischen Strategie.“ Horstmann und Neuhausen 2010, 33. Horstmann und Neuhausen 2010, 39. Vgl. dazu die eindrücklichen und vermutlich auch beispielhaften Schilderungen von Kötter. Kötter 2014, 44–49. Wohl auch aus diesem Grund lassen sich im Diskurs häufig visionsartige Träume einer Kirche finden, in der eine gemeinwesendiakonische Sozialraumorientierung zur Normalität geworden ist. So etwa bei Haas 2012a, 275–279 oder auch bei Horstmann und Park 2014, 106. Horstmann und Neuhausen 2010, 4.

256

Gemeinwesendiakonie

und damit zwangsläufig auch institutionellen Wandel.73 Dabei geht es nicht nur um die Frage, wie Kirche ihrem Ruf, eine sozial engagierte Institution zu sein, gerecht werden kann. Es geht auch um die Suche nach den Menschen, die sich im Zuge der Säkularisierung von Kirche und ggf. auch Glaube distanziert haben. Im folgenden Unterkapitel soll das interaktional aufgearbeitet werden.

2.3

Gemeinwesendiakonie als kirchlich-zivilgesellschaftliche Interaktion

Interaktionen innerhalb wie außerhalb der Kirche geschehen im Rahmen der Gemeinwesendiakonie durch die Sozialraumorientierung unter besonderen Vorzeichen. Was in dieser Arbeit also für eine zivilgesellschaftlich aktive Kirche gefordert wurde, wird hier auf eine sehr pointierte Art und Weise umgesetzt. So hat die Gemeinwesendiakonie eigene Antworten auf die raumlogische Frage gefunden, wo sich kirchlich-zivilgesellschaftliche Interaktionen abspielen, ob sie also stärker im privaten oder im öffentlichen Raum verwurzelt sind. Das eigene Profil der Gemeinwesendiakonie wird zudem greifbar, wenn man das dort geschaffene Sozialkapital beleuchtet. Wurde auf allgemeiner kirchlich-zivilgesellschaftlicher Ebene noch zu bedenken gegeben, dass Kirche ihr interaktionales Potenzial nicht ausschöpft, wenn nur ihre (hoch)verbundenen Mitglieder am kirchlichen Netzwerk teilhaben, kann man gemeinwesendiakonische Netzwerke demgegenüber als Antwort auf diese Herausforderung betrachten. Gerade in der Kooperation mit anderen nicht-kirchlichen Partnern wird der Versuch unternommen, den beschränkenden Rahmen interaktionaler Wagenburgen für neue Kontakte zu öffnen. Inwiefern das gelingt und welche neuen Probleme sich dabei auftun, wird im Folgenden erörtert. Nach zivilgesellschaftlicher Raumlogik kann Kirche, so eine Beobachtung dieser Arbeit, Anliegen und Themen aus dem privaten Raum hervorholen und auf einer Ebene diskutieren, zu der auch eine breitere Öffentlichkeit Zugang hat. Diesem Anspruch werden Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen mit höherer Wahrscheinlichkeit gerecht, wenn sie in gemeinwesendiakonische Arbeit involviert sind. Denn durch die Zusammenarbeit verschiedener zivilgesellschaftlicher Akteurinnen wird einem Thema oder einem Projekt einerseits in73 Vgl. dazu auch die übereinstimmende Perspektive von Ralf Kötter: „[U]nter den Bedingungnen der Moderne muss Kirche notwendig experimentieren. Eine Kirche, die keine Experimente wagt, wird unter den […] Bedingungen der Gegenwart ihrem Auftrag nicht mehr gerecht.“ Kötter 2014, 27. Ebenso sieht auch Hanns-Stephan Haas die Gemeinwesendiakonie als eine gute Antwort auf die Säkularisierung und den damit drohenden Relevanzverlust von Kirchengemeinden. Vgl. Haas 2012b, 262.

Gemeinwesendiakonie als kirchlich-zivilgesellschaftliche Interaktion

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nerhalb einer Nachbarschaft eine größere Aufmerksamkeit geschenkt. Davon berichtet etwa Ralf Kötter, der Gottesdienste zum Thema „Leben mit Behinderung“ feiert. Dort wirken gemeinwesendiakonische Partner, fachliche Experten ebenso wie Eltern von Menschen mit Behinderung mit, um für das Thema zu sensibilisieren.74 Diese Auseinandersetzung wird durch kirchlich-zivilgesellschaftliche Arbeit in einem öffentlichen Rahmen bearbeitet und dabei durch private Perspektiven bereichert. Ein Gottesdienst ist lokal und zeitlich begrenzt, sodass auch ein flächendeckendes und langfristiges Engagement für und mit Menschen mit Behinderung sinnvoll ist. Daher bemühen sich gemeinwesendiakonische Anstrengungen neben solchen lokalen Events auch um die Vernetzung mit leitenden Ebenen von Kirche, Diakonie und staatlichen Verwaltungen. So können die Interaktionsnetzwerke Menschen, die in ihrem privaten Umfeld von einem bestimmten Problem betroffen sind, auch mit solchen Ebenen verbinden, die diese Anliegen öffentlich-zivilgesellschaftlich und politisch bearbeiten.75 Zudem kommt es vor, dass gemeinwesendiakonische Initiativen bspw. Fahrdienste für Menschen mit Behinderung einrichten oder Gruppen betroffener Eltern Raum geben. Diese gezielte Art der Vernetzung zwischen Menschen vor Ort, Kirchen, Diakonie und anderen interessierten Partnern ist dann auch für das Sozialkapital gemeinwesendiakonischer Akteure bezeichnend. Auf allgemeiner kirchlich-zivilgesellschaftlicher Ebene wurde dazu gefordert, kircheninternes bonding und das bridging ins nicht-kirchliche Umfeld miteinander zu verbinden und in einer Balance zu halten. Dabei wurde die Hoffnung geweckt, das Sozialkapital von Kirchengemeinde und der umliegenden Nachbarschaft gleichermaßen zu stärken. Die Gemeinwesendiakonie setzt hier nun eigene Akzente. Einerseits braucht es für die gemeinwesendiakonischen Projekte Haupt- und Ehrenamtliche, die sich nicht nur für kurze Zeit, sondern auch langfristig und mit hoher Verbindlichkeit einbringen. Hier werden durch die Dauerhaftigkeit der Interaktionen strong ties aufgebaut. Das bedeutet allerdings noch nicht, dass das Sozialkapital einem bonding entspricht, wonach eine Gruppe eher exklusiv und tendenziell abgeschlossen gestaltet wird. Zu einer Vernetzung, die auch in liquiden Zeiten Bestand hat, brauchen die sozialen Beziehungen jedoch, so die Feststellung der Gemeinwesendiakonie, eine solide Verankerung: 74 Kötter 2014, 143. 75 So auch das Diakonische Werk der EKD: „Für Kirchengemeinden sowie diakonische Träger und Einrichtungen stellen sich als zentrale Aufgaben in Stadtteil oder Quartier, in Stadt oder Gemeinde und in Regionen auf Dekanats beziehungsweise Kirchenkreisebene, Strategien und Projekte zu entwickeln, die darauf abzielen, zum Wohle aller Teilhabe im Gemeinwesen zu sichern, Ressourcen im, für das und mit dem Gemeinwesen zu aktivieren, Netzwerke im Gemeinwesen zu stärken und Handlungsperspektiven für soziale Nachbarschaften zu erschließen.“ Diakonisches Werk 2007, 12.

258

Gemeinwesendiakonie

„[E]s braucht Menschen, die mit der Gemeinwesendiakonie auf Dauer verbunden werden: ‚Wichtig ist, dass irgendjemand da ist, der immer da ist.‘ Wenn das gemeinwesendiakonische Engagement als feste Größe erlebt wird, wenn es sich in seiner Beständigkeit zeigt, ‚dann kommen die Leute mit der Zeit auch auf die Einrichtung zu.‘“76

An diesen festen Bestand von engagierten Mitarbeitenden können andere Teilnehmer dann immer wieder und in aller gängigen Liquidität herantreten: „Die Menschen, die kommen und sich oft auch selbst einbringen, haben die Gelegenheit ‚wieder anzudocken, ohne dass sie gleich verbindlich dazugehören müssen‘. Gerade dies erleichtert es ihnen, sich einbringen zu können […], ohne dass die Menschen ‚gleich in einem staatlichen Programm gefangen sind‘. Das Einfach-Dabeisein-Können ist ein zentraler Faktor gemeinwesenorientierter Arbeit. […] ‚Hier kann, aber hier muss ich nicht. Hier kann ich meine Tasse Kaffee trinken und nur mal gucken. Also, das ist wirklich ein Teil von Atmosphäre.‘“77

An dieser Interaktionsstruktur werden zwei Dinge deutlich. Erstens handelt es sich bei den dargestellten Strukturen nicht um typische bonding-Momente. Zu solchen Gruppendynamiken kann es über die Zeit kommen, wenn sich die immer gleichen Menschen in gemeinwesendiakonischen Projekten und Gruppen regelmäßig über den Weg laufen. Allerdings wird hier ein bridging-orientiertes Miteinander anvisiert. Die Praxis kann selbstverständlich von diesem gemeinwesendiakonischen Konzept abweichen. Schließlich wird die Sozialform nicht durch Konzepte vorgegeben, sondern sie liegt in der Hand der Menschen, die hier aufeinandertreffen. Dennoch ist das brückenbildende Selbstverständnis und die dazugehörige Praxis für die Gemeinwesendiakonie bezeichnend.78 Als Zweites fällt auf, dass es durch dieses Interaktionsmodell einen Unterschied zwischen kontinuierlich Anwesenden und immer mal wieder Hereinschnuppernden geben muss. Das ist kein wertend gemeinter Unterschied. Trotzdem lässt sich festhalten: Wenn sich die Interaktion so deutlich in liquide und solide vernetzte Menschen unterteilen lässt, wird das an gemeinwesendiakonischen Projekten nicht spurlos vorübergehen.79 So werden die permanent eingebundenen und aktiven 76 Horstmann und Neuhausen 2010, 35. 77 Horstmann und Neuhausen 2010, 19. 78 So beschreibt auch de Roest die Gemeinwesendiakonie. Er lokalisiert sie als Ort „dazwischen“ und meint damit die vermittelnden Interaktionen zwischen der klassischen Kirchengemeinde und dem Sozialraum, der bisher keine ausgeprägte Verbindung zur Kirchengemeinde hatte: „In einer Lokalisierung ,dazwischen‘ sind es […] diakonisch eingestellte Mitglieder, die […] das Wohnviertel nach möglichen […] Verbündeten absuchen, mit denen man die Option für eine humane Gesellschaft teilt. Man legt es darauf an, das Gebiet des Ortes durch Bündnisse mit nicht-kirchlichen Vereinen, Organisationen, Selbsthilfegruppen usw., die eine gemeinsame Sorge für den Ort teilen, zu verstärken.“ Roest 2010a, 152. 79 Hier hebt de Roest auf ein anderes, zugespitztes Problem ab. Er sieht eine sinkende Bereitschaft bei Kirchenmitgliedern, sich an soliden Beziehungsstrukturen und noch dazu in gemeinwesendiakonischen Initiativen zu beteiligen. Vor diesem liquide-Modernen Hinter-

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Personen gut vernetzte, bekannte Personen sein, die über das who is who vor Ort Bescheid wissen. Sie werden, ob sie wollen oder nicht, zu gatekeepern, also zu den Türsteherinnen, die den unbeständig Teilnehmenden den Zugang zum Interaktionsnetzwerk erleichtern und ermöglichen – oder eben erschweren. Das ist kein Spezifikum der Gemeinwesendiakonie, sondern ein generelles Problem von Netzwerken, die solide und liquide Interaktion auf diese Art und Weise verbinden. Diese Bemerkung stellt also gemeinwesendiakonische Interaktion nicht grundsätzlich infrage, sollte aber konsequenterweise mitbedacht werden. Die strukturelle Macht solcher gatekeeper kann dann auch relativ schnell eingedämmt werden, indem es möglichst viele solcher Knotenpunkte, also gut vernetzter Personen im gemeinwesendiakonischen Netzwerk, gibt. Dann ist die interaktionale Verantwortung auf viele Schultern verteilt und die persönlichen Präferenzen einiger weniger gatekeeper werden unwichtiger. Indem darüber hinaus neben die persönlich motivierten Ehrenamtlichen etwa aus Kirchengemeinden auch Hauptamtliche mit professionell geschultem Blick z. B. aus diakonischen Einrichtungen treten, kann die gemeinwesendiakonische Mission, „sich als Mittlerinnen aller Interessen im Stadtteil, Quartier oder Dorf [zu] verstehen“80, ebenfalls in den Vordergrund gerückt werden. Die Frage nach der zivilgesellschaftlichen Interaktion der Kirche bringt für die Gemeinwesendiakonie Konsequenzen mit sich. So wird das Pfarramt in gemeinwesendiakonisch aufgestellten Kirchengemeinden relativiert. Nicht mehr der Pfarrer ist der zentrale Knotenpunkt im kirchlichen Netzwerk, sondern eine Anlaufstelle neben möglichst vielen anderen.81 Das geht nicht nur damit einher, die eigene Macht zu teilen. Es bedeutet viel mehr eine klärende Profilierung der Tätigkeitsfelder innerhalb der Kirchengemeinde.82 Wer für welche Aufgaben grund, der auch Kirchengemeinden erfasst, wird die Gemeinwesendiakonie dann schnell zur Überforderung und geschieht daher nach de Roest künftig eher spontan als kontinuierlich. Vgl. Roest 2010b, 235. 80 Diakonisches Werk 2018, 6. 81 Behrendt-Raith macht in ihrer empirischen Arbeit den Vorteil von mehreren Anlaufstellen in einem kirchengemeindlichen Netzwerk an einem negativen Beispiel deutlich, bei dem zuvor engagierte Kirchenmitglieder nun nicht mehr präsent sind: „Die Gemeindehelferinnen bildeten einen Knotenpunkt in der Gemeinde. Sie waren die Anlaufstelle, an der sich die Bewohner ungezwungen über Probleme und Anliegen, Hoffnungen und Wünsche […] austauschen konnten. Die Pfarrer/innen konnten Informationen oder Bedürfnisse der Menschen im Bezirk leicht über die Gemeindehelferinnen einholen und waren dadurch schnell und unmittelbar mit den Menschen in Kontakt. Heute, so sagt Arnold [sc. die Pfarrerin] von sich selbst, kriege sie nicht mehr viel mit. ‚Oft liegt […] die Hemmschwelle, den Pfarrer oder die Pfarrerin direkt zu informieren, höher als bei einer Gemeindehelferin, zumal es oft Dritte sind, die z. B. über den Gesundheitszustand der Nachbarin Bescheid wissen und dies weitergeben.‘“ Behrendt-Raith 2018, 117–118. 82 Das macht Kötter beispielhaft deutlich. Er schreibt „[D]er Pfarrdienst […] reibt sich nicht mehr in einer pastoralen General-Zuständigkeit auf.“ Kötter veranschaulicht das dann auch

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Gemeinwesendiakonie

zuständig ist, kann vor diesem Hintergrund neu geklärt werden. Die Leitung und Organisation von gemeinwesendiakonischen Projekten liegt dann bestenfalls in den Händen ehren- oder hauptamtlich engagierter Profis. Ein gemeinwesendiakonisches Interaktionsnetzwerk verändert aber nicht nur die Rolle von Haupt- und Ehrenamtlichen. Eine konsequente Sozialraumorientierung fordert grundsätzlich die etablierten interaktionalen Strukturen heraus. So überschreiten die gemeinwesendiakonischen Bemühungen, auch nichtkirchlich-interessierte-Menschen aus der Nachbarschaft am interaktionalen Netzwerk teilhaben zu lassen, schnell die sozialen Gewohnheiten mancher Kirchengemeinden. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich die Gemeinwesendiakonie oft sozialer und finanzieller Armut widmet.83 Gerade wenn Kirchengemeinden die sozialen Brennpunkte im Sozialraum bisher nicht als Anfrage an die eigene Arbeit wahrgenommen haben, werden die Herausforderungen der Sozialraumorientierung auch interaktional greifbar. Dazu schreibt Rausch: „Die Gemeinwesendiakonie kann und sollte […] dazu beitragen, dass die Armen und das Armutsthema nicht nur auf dem Sozialamt, der Wohngeldbehörde oder im Jobcenter sichtbar werden. […] Sie [sc. Armut] wahrzunehmen und auszuhalten ist für die meisten Pfarrgemeinden eine große Herausforderung, weil die Milieugrenzen dazwischen stehen.“84

Auch Horstmann/Neuhausen sind in ihrer empirischen Studie auf diese Herausforderung gestoßen und beschreiben die „Unsicherheit im Umgang mit den Menschen im Quartier, die nicht zur traditionellen Kerngemeinde zählen“85 als eine typische Angst in gemeinwesendiakonisch aktiven Kirchengemeinden. In einem Interview wird dieses gemeinwesendiakonische Aufeinandertreffen von verschiedenen Milieus greifbar: „Die Klienten werden dann mit Sicherheit rauchend auf dem Kirchplatz ’rumstehen. Darüber werden sich einige Menschen sehr ärgern. […] Eine räumliche Trennung vom Sozialprojekt ist schon wichtig. Das klassische Kirchenpublikum möchte zu diesem sozialen Brennpunkt nicht unbedingt eine direkte Berührung haben.“86

Diese Art von Berührung zwischen unterschiedlichen Milieus ist ein Ziel und auch ein entscheidender Faktor in der zivilgesellschaftlichen Bewertung der Gemeinwesendiakonie. Schließlich will man hier den Schwierigkeiten und Aufgaben eines Bezirks gemeinsam begegnen – und nicht als dieses oder jenes

83 84 85 86

sehr sehenswert mit einem Schaubild zu den Zuständigkeitsbereichen in der Kirchengemeinde. Kötter 2014, 198–199. Vgl. etwa Diakonisches Werk 2007, 25 oder auch Benedict 2010a, 55. Rausch 2015, 62. Horstmann und Neuhausen 2010, 27. Horstmann und Neuhausen 2010, 27–28.

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Milieu.87 Vor dem Hintergrund der kirchlichen Milieuverengung ist dieses gemeinwesendiakonische Programm eine bleibende Herausforderung. Aber nur, wenn es gelingt, Kirchengemeinden insgesamt und nicht nur punktuell in gemeinwesendiakonische Projekte mit einzubeziehen, kann die Kirche hier ihre zivilgesellschaftliche Strahlkraft voll entfalten. Dazu ist es erst einmal nur angemessen, die womöglich inszenatorischen Grenzen zwischen Kirchengemeinde und Sozialraum interaktional wahr- und ernst zu nehmen. Heike Park liefert dazu ein Beispiel aus der Stadt Hamm. Sie beschreibt, wie eine gemeinwesendiakonische Idee erst auf kirchengemeindliches Misstrauen stieß. Aus dem anfänglichen Zögern wuchs über die Zeit aber ein selbstsicheres, entschiedenes und intensives Engagement, das die Kirchengemeinde und ihren Sozialraum zunehmend miteinander vernetzte und beide positiv wie auch nachhaltig veränderte: „Die Mitarbeitenden der Kirchengemeinde, insbesondere das Presbyterium, reagierten auf die Initiative der Frau [sc. einen kostenlosen Mittagstisch für Schulkinder ins Leben zu rufen] irritiert. […] Irritierend war auch, dass die künftigen Mitarbeitenden des kostenfreien Mittagstisches sich nicht in der Kirchengemeinde oder der katholischen Pfarrgemeinde engagierten.“88

Trotz dieser Bedenken setzten einige Gruppen und Kreise der Kirchengemeinde das gemeinwesendiakonische Projekt um. Es stellte sich heraus, dass viele Menschen aus der Stadt interessiert waren, sich darin zu engagieren, und so kamen nach und nach andere Partner aus der Zivilgesellschaft und der Stadtverwaltung hinzu. Die Arbeit wuchs und damit auch das Netzwerk, ebenso wie die Ausrichtung der Kirchengemeinde: „[D]ie Kirchengemeinde [hat] sich mehr und mehr für das Gemeinwesen geöffnet und ihre Bedeutung für das Gemeinwesen erkannt.“89. Mittlerweile ist aus dem Projekt ein Familienzentrum erwachsen, an dem sich Menschen aus Kirchengemeinde und nicht-kirchlicher Zivilgesellschaft gleichermaßen beteiligen. Es kann sogar beobachtet werden, dass das interaktionale und inszenatorische Leben der Kirchengemeinde zunehmend auch an diesem Ort stattfindet: „Neben zahlreichen Beteiligungsmöglichkeiten, die die Kirchengemeinde ohnehin vorhält, entwickeln sich in der diakonischen Arbeit intensive Beteiligungsformen. […] Sie [sc. die gemeinwesendiakonischen Projekte] bilden einen Beitrag zur Steigerung des individuellen Sozialkapitals der Mitwirkenden und des kollektiven Sozialkapitals in

87 So auch Thomas Zippert. Er schreibt: „Auch wenn sie [sc. Gemeinwesenarbeit] bei einer Zielgruppe in einem bestimmten Raum oder einer begrenzten Region ansetzt, tendiert sie dort zu einer zielgruppenübergreifenden oder offenen Arbeit, der es um die Verbesserung der Lebensbedingungen in einem Gemeinwesen insgesamt geht.“ Zippert 2010, 185. 88 Horstmann und Park 2014, 84. 89 Horstmann und Park 2014, 88.

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Gemeinwesendiakonie

Kirchengemeinde und Stadtteil. […] Hier entsteht die Perspektive, der Bürgergesellschaft in der Parochie einen Raum zu eröffnen, in dem sie sich zu einem starken Wir formieren kann.“90

An Parks Beispiel wird deutlich, dass Gemeinwesendiakonie weniger daran interessiert ist, Menschen, die kirchlich nicht eingebunden sind, am klassischen kirchengemeindlichen Leben zu beteiligen. Das wird daran ersichtlich, dass an gemeinwesendiakonischen Projekten nicht nur Kirchengemeinden, sondern auch andere Akteure, z. B. diakonische Einrichtungen, beteiligt sind. Es geht darum, das kirchengemeindliche und das diakonische Leben am Sozialraum zu beteiligen und beide Netzwerke miteinander zu verbinden. Das funktioniert nicht ohne Irritationen, was auf inszenatorischer Ebene noch einmal pointiert aufgegriffen wird. Der Lohn für die gemeinwesendiakonischen Mühen von Kirchengemeinden ist dann auch erst einmal nicht greifbar, sofern man auf Besuchszahlen von Gottesdiensten fixiert ist.91 Wer aber das kirchliche Interaktionsnetzwerk vor Augen hat, kann feststellen, dass gemeinwesendiakonisch aktive Kirchengemeinden über mehr Kontakte verfügen, die zudem Milieugrenzen überschreiten, als zivilgesellschaftlich weniger aktive Kirchengemeinden. Das wiederum wird langfristig die Kirchengemeinde besser in ihrer Nachbarschaft verankern und auch entsprechend verändern. So vergrößert sich das Sozialkapital von Kirche, Diakonie und Nachbarschaft gleichermaßen. Wenn Jeffrey Alexander also die von ihm vorgestellte civil sphere dadurch voranschreiten sieht, dass solidarisch eingestellte Einzelpersonen an unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären teilnehmen,92 kann man die Gemeinwesendiakonie als breite Umsetzung der dual membership begreifen. Der Gedanke von Jeffrey wird hier sogar gesteigert, da nicht nur Einzelpersonen, sondern ganze Netzwerke bzw. Organisationen solidarisch kooperieren. Indem Einrichtungen des Diakonischen Werks mit ihren Mitarbeitenden, Kirchengemeinden mit ihren Hauptund insbesondere ihren Ehrenamtlichen, die Bewohnerinnen eines Quartiers und weitere zivilgesellschaftliche Akteure hier gemeinsame Sache machen, wird Alexanders doppelte Teilhabe am zivilgesellschaftlichen Leben ermöglicht. Das hat Konsequenzen, die insbesondere auf inszenatorischer Ebene greifbar werden. Ihnen wird im folgenden Unterkapitel nachgegangen.

90 Horstmann und Park 2014, 98–99. 91 Wobei gemeinwesendiakonische Arbeit nach Kötter sehr wohl auch die Inszenierung von Gottesdiensten und damit auch die Zusammensetzung ihrer Besucherinnen verändern kann. Kötter 2014, 23. 92 S. o. Teil I, Kapitel 3.2.

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2.4

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Gemeinwesendiakonie als kirchlich-zivilgesellschaftliche Inszenierung

In dieser Arbeit wurde für die Inszenierung der Kirche gefordert, dass sie sich stärker an ihrer zivilgesellschaftlichen Nachbarschaft orientieren sollte. Ohne dabei auf ein eigenes, kirchliches Profil verzichten zu können, ist es für ein kirchlich-zivilgesellschaftliches Miteinander sinnvoll, eine starre, solide-Moderne Inszenierung zugunsten einer offeneren, liquide-Modernen Performance aufzugeben. Diese würden auch andere nicht-kirchliche Player mitgestalten. So kann Kirche ihr eigenes Netzwerk um weitere Personen und damit auch deren Themen bereichern. Zugleich können dadurch auch kirchliche Themen öfter in der jeweiligen Nachbarschaft eingebracht werden. Gemeinwesendiakonische Konzepte werden dieser Forderung in vielerlei Hinsicht gerecht. Die bewusste Suche nach Kooperationspartnern macht Kirchengemeinden wie auch diakonische Einrichtungen offen für erweiterte Personenkreise und deren Ideen. Zugleich ist man sich in den Diskursen zur Gemeinwesendiakonie keineswegs darüber einig, was diese Performance mit anderen und die damit einhergehende Orientierung an den Bedürfnissen und Nöten im Sozialraum für die eigene theologische Inszenierung bedeuten kann. Die folgende Erörterung geht dem In-, Mit-, und Durcheinander von sozialer und religiöser Kommunikation in der Gemeinwesendiakonie nach und wird dabei ein facettenreiches Bild gemeinwesendiakonischer Inszenierung zeichnen. Dass an gemeinwesendiakonischen Netzwerken viele verschiedene Akteure teilhaben, hat das vorangegangene Unterkapitel dargestellt. Hier arbeiten nicht nur Organisationen und Personen zugunsten ihrer jeweiligen Sozialräume zusammen. Idealerweise überschreitet die Arbeit in und mit der Nachbarschaft auch Milieugrenzen. Zumindest werden die verschiedenen Stile und Vorlieben, die in einem Sozialraum vorhanden sind, in der Gemeinwesendiakonie erfahrbar. Wenn verschiedene Menschen und Einrichtungen zusammenkommen, um über die zivilgesellschaftliche Diskurs- und Tatlandschaft vor Ort zu verhandeln, dann wird das nicht nur harmonisch, sondern auch konfliktreich zugehen. Eine gemeinsame Strategie unterschiedlicher Akteure birgt aber nicht nur die Herausforderung, das vereinte Vorgehen zu moderieren und zu koordinieren. Es erhöht auch die Bekanntheit der kooperierenden Akteure im Ort. Zu diesem Urteil kommt Behrendt-Raith: „Der Verbund macht die Gemeinde […] stärker und bindet sie in einen größeren Zusammenhang ein. Sie macht sich dadurch im Ort bekannter und wahrnehmbarer.“93 Die gemeinsame Inszenierung innerhalb

93 Behrendt-Raith 2018, 127.

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Gemeinwesendiakonie

der Zivilgesellschaft erhöht die Sichtbarkeit der gemeinwesendiakonischen Akteure.94 Das ist ein inszenatorischer Vorteil. Zugleich handelt es sich aber bei gemeinwesendiakonischen Projekten nicht um Inszenierungen, die Kirche und Diakonie allein verantworten. Vielmehr muss man hier von einer performance sprechen, die durch viele Personen gestaltet wird. Damit liegt die Deutungshoheit der Initiativen nicht in der alleinigen Hand von Diakonie und Kirche. Das ist erst einmal nicht weiter problematisch. Allerdings erfordert es ein sensibles Gespür bei der Frage nach der Kommunikation des Evangeliums. Folgt man dabei Gerhard Wegner, der religiöse und soziale Kommunikation als zwei verschiedene Gesprächsrichtungen ansah, kann man sich in gemeinwesendiakonischen Bezügen noch recht beschwerdefrei bewegen, indem man sich weitgehend auf soziale Kommunikation besinnt. Ob man dann im Besuchsdienst für Demente mitmacht oder ein internationales Café ausrichtet, bleibt von der eigenen theologischen Identität zumindest vordergründig unberührt. Nach Grethleins Konzept der Kommunikation des Evangeliums ist aber auch soziale Kommunikation als „Helfen zum Leben“ bereits Ausdruck des Evangeliums. Das muss nicht immer betont werden, schwingt dann aber in gemeinwesendiakonischen Initiativen mit. Auch wenn beide Konzepte in der Praxis nicht immer unterscheidbar sind, handelt es sich hier doch um eine konzeptionelle Weichenstellung, die im Diskurs zur Gemeinwesendiakonie unterschiedlich angedacht wird.95 Ganz grundsätzlich fällt auf, dass sich eine gemeinwesendiakonische Inszenierung oftmals an sozialen und gesellschaftlichen Defiziten orientiert. Das können vergleichsweise harmlose Notstände sein, wie ein Park im Stadtteil, der wieder aufgehübscht und für unterschiedliche Altersgruppen nutzbar gemacht werden soll. Es kann aber auch um andere Herausforderungen gehen, wie etwa die Inklusion von Menschen mit Behinderungen durch einen Dorfladen, die Unterstützung von Alleinerziehenden durch die Betreuung von Kindern oder die Arbeit mit gelangweilten Jugendlichen in einem Problembezirk. All diese Ideen setzen an sozialen Missständen an und versuchen, diese gemeinsam zu verbessern. Die dort wirksame soziale Kommunikation, so Johannes Eurich, spricht erst einmal aus sich selbst heraus und ist damit auch nicht nur das Mittel für irgendeinen anders gearteten Zweck: „Nicht jedes diakonische Handeln kann jedoch in einem unmittelbaren Sinn als Teil der Verkündigung des Evangeliums betrachtet werden. Dagegen spricht zum einen, dass

94 So auch Benedict 2010a, 53. 95 In der Gemeinwesendiakonie gibt es keine einheitliche theologische Konzeption, weder im Diskurs noch in der Praxis. Vgl. Horstmann/ Park: „In der Vielfältigkeit gemeinwesendiakonischer Praxis gibt es keine einheitliche Theologie der Gemeinwesendiakonie.“ Horstmann und Park 2014, 75.

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Hilfehandeln seinen Zweck in sich selbst hat und somit auch unabhängig von der Verkündigung des Evangeliums seinen Bestand hat, zum anderen, dass unter den Bedingungen heutiger Professionalisierung und Pluralisierung sachliche Hilfe nicht in expliziter Weise religiös vereinnahmt werden sollte.“96

Diese Perspektive unterstreicht die Eigenständigkeit und den Wert, den gemeinwesendiakonische Projekte für sich beanspruchen können. In den Debatten zur Gemeinwesendiakonie wird dabei fast schon konsensfähig darauf hingewiesen, dass gemeinwesendiakonische Projekte nicht verzweckt – und schon gar nicht missionarisch verzweckt – werden dürfen.97 So urteilt Kötter: „Sie [sc. gemeinwesendiakonische Vorhaben] sind keine Methoden, um Menschen aus der ‚fremden‘ Welt in die ‚eigentliche‘ Heimat Kirche zurückzuführen.“98 Auch Stefanie Rausch schließt sich diesem Urteil an und votiert für eine Gemeinwesendiakonie als „Einsatz für die Menschen in den sozialen Räumen, in denen wir leben, auch ohne jede Missionsabsicht im elementaren Sinne der Nachfolge Christi.“99 Es kann den Kirchen eben nicht darum gehen, so Rausch weiter, anderen Akteuren die eigene Identität „überstülpen zu wollen“.100 Damit ist die Abgrenzungsrichtung gemeinwesendiakonischer Inszenierung klar vorgegeben. Missionarischer Eifer hat in der Gemeinwesendiakonie keinen Platz. Jelena Scharnowski hat das damit implizierte Missionsverständnis in ihrer Masterarbeit untersucht und als „verkürzt“ herausgearbeitet. Mission wird in gemeinwesendiakonischen Konzepten oft „als eine kirchliche Strategie dar[ge]stellt, (kirchenferne) Menschen zu erreichen und idealerweise für die eigene Gemeinde zu gewinnen. […] Mission wird hier (manchmal auch unterschwellig) als Verkündigung in Wort und somit gleichzeitig Diakonie als Verkündigung in Tat verstanden und somit voneinander trennbar gemacht.“101

Diese Tendenzen, sich von einem derart zugespitzten Missionsverständnis abzugrenzen, gibt es häufig. Es geht der Gemeinwesendiakonie sodann auch in erster Linie darum, Not zu lindern, Menschen zu unterstützen und Nachbarschaften zusammenzuführen. Der Schwerpunkt der Gemeinwesendiakonie liegt eindeutig auf sozialer Kommunikation. Aber allein die Abwehr von verzweckenden Missionsversuchen schließt eine religiöse Kommunikation nicht aus. Benedict trägt in dieser Debatte die Position ein, dass die womöglich religiöse Deutung von sozialen Projekten im Auge des Betrachters liegt: 96 Eurich 2014, 264. 97 Natürlich verfolgt die Gemeinwesendiakonie trotz des Verzweckungsverbots auch handfeste, eigennützige Ziele, was auf organisationaler Ebene diskutiert wurde. Vgl. Teil II, Kapitel 2.1. 98 Kötter 2014, 213. 99 Rausch 2015, 215. 100 Rausch 2015, 51. 101 Scharnowski 2017, 100–101.

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Gemeinwesendiakonie

„Ohne irgendjemanden vereinnahmen zu wollen, möchte ich vorschlagen, von einem wirksamen und kooperativen Prinzip der Gerechtigkeit und Güte auszugehen, das in den monotheistischen Religionen mit Gott dem Barmherzigen und Gerechten identifiziert wird. In säkularen sozialen Bewegungen erscheint es unter den Prinzipien Solidarität und Zivilcourage. In der Sozialen Arbeit wird es als Unterstützung und Verstehen praktiziert, gemeinwesenökonomisch nennt es sich Mobilisierung, Aktivierung und Projektentwicklung.“102

So können im Rahmen der Gemeinwesendiakonie Akteurinnen aus verschiedenen Weltanschauungen zusammen kooperieren. Die Deutung des Geschehens erfolgt dann im Sprachspiel des jeweiligen Deutungsmusters. Kirchliche und diakonische Akteure können für die örtliche Behindertenwerkstatt theologische Interpretationen anbieten und die darin kooperierende Arbeiterwohlfahrt wird zugleich sozialdemokratische Deutungen ins Spiel bringen. Glitzenhirn hat im Rückgriff auf Theo Sundermeier versucht, dieses soziale Miteinander unterschiedlicher Partner als „Konvivenz“ theologisch anzureichern: „‚Konvivenz‘ als theologische Begriffsbildung im Zusammenhang aktueller sozialer Arbeit ist der Versuch der Kennzeichnung eines spezifischen weltanschaulich offenen und nachbarschaftlich ausgerichteten Begegnungs- und Problemlösungsprinzips.“103

Er versteht dabei die Gestaltung der Schöpfung Gottes als einen Auftrag, der allen Menschen und unabhängig von der jeweiligen Weltanschauung aufgegeben ist.104 Gemeinwesendiakonie kann eine Umsetzung dessen sein. Aus dieser Perspektive heraus ist es dann nicht so wichtig, wie die Kooperationspartnerinnen ihr Engagement deuten, da sich schon in der gemeinsamen Arbeit vor Ort ein segensreiches und Schöpfungs-bewahrendes Handeln realisiert. Gerade in der liquiden Moderne mit ihren multiplen Säkularitäten lässt sich so produktiv zwischen den verschiedenen Playern einer Nachbarschaft vermitteln. Moscheevereine, Kirchengemeinden, Diakonie, Caritas, Naturschutzbund und andere Organisationen könnten so womöglich gut zusammenfinden. Solche Versuche, zwischen verschiedenen Identitäten im Rahmen der Gemeinwesendiakonie zu vermitteln, sind wichtig. Sie vernachlässigen die Unterschiede in den jeweiligen Programmen und betonen die gemeinsame Arbeit: „Die GWD-Aktivitäten zeigen in der Praxis, wie leistungsfähig Begegnungen sein können, wenn solche [sc. weltanschaulichen] Abgrenzungen hintenangestellt werden.“105 Religiöse Kommunikation bleibt in diesem Modell dann eine schweigsame Perspektive, die die soziale Kommunikation im Hintergrund deutet. Auch wenn das nicht die Absicht von Glitzenhirn ist, kann die religiöse Identität gemeinwesendiakonischer Ak102 103 104 105

Benedict 2010b, 277. Glitzenhirn 2011, 237. Glitzenhirn 2011, 241–242. Glitzenhirn 2011, 241.

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teure durch das „hinten Anstellen“ markanter religiöser Profile doch relativiert werden. Das wäre dann schade, wenn in dieser religiösen Identität auch das Movens der Sozialraumorientierung liegt und diese Orientierung-gebende Motivation nicht mehr angemessen zur Sprache käme. Diese Befürchtung scheint in der Praxis jedoch ins Leere zu laufen. So greift Heike Park Glitzenhirns Vorschlag der Konvivenz in ihrer Beschreibung der Gemeinwesendiakonie auf und sieht das Risiko einer theologischen Profillosigkeit nicht. Ganz im Gegenteil schreibt sie: „Kirche und Diakonie können es [sc. die theologische Figur von Konvivenz und Compassion] in ihrem gemeinwesendiakonischen Handeln in der Kooperation mit religiös und weltanschaulich anders orientierten Akteuren gut kommunizieren. Sie können so einen Beitrag zum interreligiösen Dialog leisten sowie zugleich in der christlichen Motivation ihres eigenen Handelns erkennbar sein.“106

In dem Praxisbeispiel, das sie vorstellt, erhalten auch Andachten und Gebete als pointierte Formen religiöser Kommunikation einen prominenten Platz: „Insgesamt fällt auf, dass den Mitarbeitenden des Diakonie-Zentrums spirituelle Impulse wie Andachten zu Beginn von Teamsitzungen, Gebete und Segenshandlungen wichtig sind. So fand am Vorabend der Eröffnung der Kartoffel-Kiste ein Gottesdienst in der St.-Victor-Kirche statt. […] Die Kleiderkammer ist mit einem christlichen Büchertisch ausgestattet. Die Nutzer dieser spirituellen Angebote nehmen ansonsten kaum an Aktivitäten der Kirchengemeinde im Bereich Gottesdienst und Verkündigung teil. Die St.-Victor-Gemeinde hat somit einen neuen Weg beschritten, das Evangelium zu verkünden.“107

Während also Benedict und Glitzenhirn die soziale Kommunikation in der Gemeinwesendiakonie betonen und etwaige weltanschauliche bzw. religiöse Differenzen damit relativieren, gibt es auch Positionen, die die soziale Kommunikation als religiöse Kommunikation verstehen. Diese Positionen sind kein harsches Gegenüber. Sie stellen die Gemeinwesendiakonie aber in ein anders nuanciertes Licht. An dieser Stelle ragt Ralf Kötters Position positiv heraus, da er sich in seiner praxisgesättigten Beschreibung um eine umfassende theologische Reflexion seiner sozialraumorientierten, kirchengemeindlichen Arbeit bemüht. Hier wird gemeinwesendiakonische Arbeit nicht wie bei Glitzenhirn als soziale Kommunikation inszeniert, in der eine religiöse Deutung zwar möglich, aber nicht unbedingt nötig ist. Vielmehr ist die soziale Kommunikation bei Kötter immer auch eine religiöse Kommunikation. Dazu greift er auf die Figur der Inkarnation zurück: „Die Kirche muss Mittel und Wege finden, das eine Wort, das eine Evangelium in angemessener Weise in die sich wandelnde Zeit zu vermitteln. Ein Evangelium, das im 106 Horstmann und Park 2014, 76. 107 Horstmann und Park 2014, 87.

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Gemeinwesendiakonie

Modus der Inkarnation ergangen ist, wird sich in seinen Darstellungsweisen unter den Bedingungen von Raum und Zeit immer wieder wandeln und anpassen. Kirche muss deshalb kontinuierlich erproben, welche Formen angemessen sind, um in der je eigenen Situation die wesentliche Botschaft des Evangeliums zum Klingen und zum Strahlen zu bringen.“108

Eine ihm nach angemessene Form der Kommunikation des Evangeliums ist eine konsequente Sozialraumorientierung, die nach den Bedürfnissen und Nöten der kirchlichen Nachbarschaft fragt: „Indem Kirche sich entäußert und über ihren eigenen Schatten springt, indem sie wahrnimmt, welche Hindernisse einem gelingenden Leben im Weg stehen, indem sie die Fragen der Zeit als Anfragen an ihre Botschaft versteht, gewinnt Kirche eine neue Relevanz.“109

Auch Kötter stellt sich in seiner Arbeit gegen die missionarische Verzweckung sozialraumorientierter Projekte. Allerdings erhofft er sich auch vitalisierende Effekte für die Kirche. Es stellt für ihn einen großen Unterschied dar, ob man die Menschen in das eigene Netzwerk integrieren will, um sich selbst als relevanter zu erleben, oder ob man die inkarnatorische Ausrichtung an den Bedürfnissen der Nachbarschaft kirchlicherseits als theologischen Auftrag versteht. Wie schon auf interaktionaler Ebene ist es bei Kötter auch auf inszenatorischer Ebene das Anliegen der Gemeinwesendiakonie, Kirche nicht so sehr in den eigenen „heiligen Hallen“110 stattfinden zu lassen. Ihm geht es darum, den Sozialraum um die Kirche herum als Ort von sozialem und damit auch von theologischem Engagement zu markieren: „Gemeinde bietet ihre Begleitung und Beratung nicht nur in ihren eigenen Räumen an, sondern sie sucht inkarnatorisch und partizipatorisch die Lebensorte von Familien auf. […] Diese Kontextualisierung wird Gemeinde als Glaubens- und Lebenshilfe authentisch und dialogisch gestalten, sie keinesfalls dazu missbrauchen, um im binnenkirchlichen Interesse Menschen der vermeintlich ‚fremden’ Welt zu entfremden und sie wieder in die vermeintliche Heimat Kirche zu reintegrieren.“111

Gerade weil er es dort, an den nicht genuin kirchlichen Orten, auch als Auftrag der Kirche versteht, die eigene (theologische wie auch soziale) Position deutlich zu machen, gehen bei ihm soziale und religiöse Kommunikation Hand in Hand: „[W]ir sind gesandt in eine Welt, die ein Recht darauf hat […], Orientierung und Solidarität auf der Suche nach gelingenden Strukturen des Lebens zu finden.“112 Damit entspricht Kötters Darstellung dem Vorschlag von Grethlein, die Kom108 109 110 111 112

Kötter 2014, 27. Kötter 2014, 107. Eurich 2014, 262. Kötter 2014, 116. Kötter 2014, 52.

Gemeinwesendiakonie als kirchlich-zivilgesellschaftliche Inszenierung

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munikation des Evangeliums in verschiedenen Modi zu begreifen. Soziale und religiöse Kommunikation sind nicht sauber zu trennen. Allerdings geht Kötters theologische Inszenierung der Gemeinwesendiakonie über einen primär sozialen Anspruch an die Kirche hinaus. Es stellt sich dann auch die Frage, ob Kötters selbstbewusste Positionierung im westdeutschen ländlichen Raum noch eher ihren angemessenen Ort hat als in einer multireligiösen Stadt oder im stärker säkularisierten Osten Deutschlands, wo die Orientierung-gebende Funktion der Kirche eher Ablehnung erfährt. Wenigstens Hauschildt verneint diese Frage in seiner empirischen Studie zur Kirche im ländlichen Raum. Dort hält er fest, dass eine im Sozialraum diakonisch und theologisch involvierte Kirche immer auch herausfordert, aneckt und im Idealfall begeistert: „[E]in Angebot diakonischen Charakters ist für alle vor Ort interessant, wird somit in ziemlich hohem Maße auch Nichtkirchenmitglieder erreichen, besonders ausgeprägt im Osten Deutschlands aufgrund des hohen Durchschnitts von Nichtkirchenmitgliedern in der Bevölkerung. Insofern wird kirchliche Arbeit, wenn sie diakonische Merkmale hat, per definitionem ‚missionarisch‘.“113

Unter ‚missionarisch‘ versteht Hauschildt keineswegs eine auf Konversionsbemühungen und Kirchengemeindezugehörigkeit verengte Vorstellung. Er hat eher eine Orientierung-gebende Funktion der Kirche vor Augen, die ihre theologischen Anfragen auch in der Sorge um ökologische und soziale Missstände angeht.114 Damit klingt bei Hauschildt an, was Scharnowski in ihrer Arbeit verdeutlicht hat. In der Gemeinwesendiakonie ist die Option zwischen religiöser und sozialer Kommunikation eine Scheinalternative. Dieser Schein kommt dadurch zustande, dass man sich in der strategischen Sozialraumorientierung von einem strategischen Missionsverständnis abgrenzt und zugleich das soziale Engagement betont. Aber auch in dieser gemeinwohlorientierten Arbeit steckt ein religiöser Gehalt, der mal im Vordergrund und mal im Hintergrund inszeniert wird. Gemeinwesendiakonische Inszenierung ist so gesehen immer auch Kommunikation des Evangeliums. Denn hier sollen die eigenen widersprüchlichen, verhaltenen, überzeugten oder heterodoxen religiösen Positionen und Motivationen nicht durch gemeinwesendiakonische Arbeit übertüncht werden. Vielmehr verleiht dieses Engagement dem eigenen religiösen Profil Farbe und Ausdruck. Die gemeinwesendiakonische Debatte zur Abgrenzung von einem überformenden Missionsverständnis soll darauf aufmerksam machen, dass es in der Gemeinwesendiakonie nicht darum geht, Menschen von der Überlegenheit der eigenen Farbpalette zu überzeugen. Stattdessen soll der Nachbarschaft wie auch Kirche und Diakonie im bunten Miteinander zu neuer Farbe und neuem 113 Hauschildt et al. 2016, 386–387. 114 Vgl. auch Hauschildts Auseinandersetzung mit dem Greifswälder Missionsverständnis. Hauschildt et al. 2016, 358.

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Gemeinwesendiakonie

Glanz verholfen werden. Indem sich die Gemeinwesendiakonie dabei insbesondere in Form von Initiativen inszeniert, die auf gesellschaftliche Missstände im Sozialraum reagieren, setzen sie ein beachtenswertes Ausrufezeichen hinter ihre zivilgesellschaftliche Relevanz. Im folgenden Fazit soll dies noch einmal verstärkte Aufmerksamkeit erfahren.

2.5

Fazit: Gemeinwesendiakonie als zivilgesellschaftliche Kirche

Gemeinwesendiakonie hat eine zivilgesellschaftliche Agenda. Diese ist gut greifbar, weil sich gemeinwesendiakonische Initiativen an ihren Sozialräumen orientieren, sie also mit anderen Akteuren vor Ort kooperieren und sich dabei oft der Defizite und Probleme ihrer Nachbarschaften aktiv annehmen. Diese Handlungslogik wird hier noch einmal zugespitzt beschrieben. Zuvor wird die raumlogische Betrachtung der Gemeinwesendiakonie deutlich machen, wie die Zivilgesellschaft in diesem Fall mit den gesellschaftlichen Bereichen von Staat, Privatsphäre und Markt verbunden ist. Die nun folgende Betrachtung der Gemeinwesendiakonie soll das zuvor Analysierte noch einmal mit einem zivilgesellschaftlichen Blick pointiert zusammenfassen. Sowohl die EKD als auch das Diakonische Werk der EKD sind als die treibenden Kräfte der Gemeinwesendiakonie eng mit staatlichen Einrichtungen und Partnern vernetzt.115 Das gilt für alle Ebenen dieser Organisationen. Egal ob ein Kirchenvorsteher die Bürgermeisterin kennt, ob ein diakonisches Unternehmen durch EU-Gelder finanziell mitgetragen wird oder kirchliche Stimmen in politischen Ausschüssen gehört werden. Solche Vernetzungen werden in der Gemeinwesendiakonie oft nutzbar gemacht. So bewertet Hauschildt den Ruf, den die Kirche bei staatlichen Playern hat, als ausgesprochen positiv und schreibt dazu: „Es [sc. das Renommee kirchlicher Initiativen] lässt […] eine Seriosität erwarten, die vor allem bei Kooperationen mit staatsnahen Organisationen und bei dem Einwerben öffentlicher Fördermittel hilfreich sein kann.“116 Dieses institutionelle Standing der Kirche gilt nicht für alle Orte in der Bundesrepublik. Es wird auch regionale Fälle geben, in denen die Kirche bei staatlichen Behörden durch ihre Identität eher Skepsis auslösen kann. In beiden Fällen, der Nähe wie auch der Distanz zum Staat, können gemeinwesendiakonische Initiativen darauf hoffen, dass ihr sozialraumorientiertes Ansinnen bei staatlichen Einrichtungen 115 So auch Zippert: „Sie [sc. Diakonie und Kirche] sind gut und mit den Institutionengefügen des Staates vernetzt, besonders die Diakonie […].“ Zippert 2012, 116. 116 Hauschildt et al. 2016, 380.

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Sympathien hervorruft. Schließlich sind staatliche Verwaltungen, diakonische Unternehmen und die Kirchengemeinden gleichermaßen am sozialen Miteinander und an der Aufwertung von den Bezirken interessiert, in die sie gestellt sind. Allerdings weist Rausch darauf hin, dass man dieses gemeinsame Interesse im Gespräch mit staatlichen Einrichtungen umsichtig kommunizieren sollte: „Will sich ein diakonisches Werk in der Bekämpfung von Armut engagieren, muss es politisch sensibel agieren. Denn Bund, Länder, Landkreise und Kommunen sind einerseits Adressaten von sozialpolitischer Kritik und der Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit, andererseits sind sie auf der Handlungsebene bedeutsame Akteure und Kooperationspartner und zumeist auch noch wichtigste Geldgeber der Einrichtungen, ohne die eine Soziale Arbeit im derzeitigen Umfang nicht möglich wäre.“117

Damit spricht die Gemeinwesendiakonie die raumlogische Trennung und zugleich die Brechung dieser Trennung von Staat und Kirche an. Einerseits zeigt sich die gemeinwesendiakonisch orientierte Zivilgesellschaft als kritischer Zusammenschluss, der den sozialen Status quo vor Ort infrage stellt. Das ist für manche Verantwortliche unbequem. Andererseits ist diese Infragestellung keineswegs antagonistisch gemeint. Sie soll kooperativ beantwortet werden. Denn an den runden Tischen der Gemeinwesendiakonie sitzen oft genug auch Stellvertreterinnen der städtischen oder kommunalen Verwaltungen. Dennoch bleibt bei allem historisch gewachsenen und kooperativen Miteinander ein gewisser Graben bestehen, über den erst einmal Brücken gebaut werden müssen. So bemerkt etwa das Diakonische Werk im Rahmen des Jahresthemas 2015–2017 „Wir sind Nachbarn. Alle.“ zur Kooperation von Staat und anderen gemeinwesendiakonischen Akteuren vielsagend: „Dieser Austausch [sc. zwischen Staat, Diakonie und Kirche] findet aber nicht überall statt und funktioniert unterschiedlich gut.“118 Das wird mit den Unterschieden zwischen kirchlichen, diakonischen und staatlichen Playern begründet. Nicht nur verschiedene Sitzungskulturen und Gebietszuschnitte, sondern ganz „unterschiedliche Rationalitäten“119 treffen hier aufeinander. In der Gemeinwesendiakonie zeigt sich also das ambivalente Mitund Gegeneinander, das die Raumlogik von Staat und Zivilgesellschaft insgesamt prägt. Dass sich die Akteure hier ihrem jeweiligen Sozialraum zuwenden und darüber debattieren und kooperieren, ist sicherlich eine gelungene Beantwortung der Frage, wie Staat und Zivilgesellschaft auf dieses Spannungsverhältnis produktiv und gemeinwohlorientiert reagieren können. Auch die raumlogische Unterteilung von Privatsphäre und Zivilgesellschaft wird in der Gemeinwesendiakonie nicht konsequent verfolgt. Hier werden beide Bereiche miteinander verwoben. Das geschieht in zweierlei Hinsicht. Erstens 117 Rausch 2015, 24. 118 Diakonisches Werk 2018, 13. 119 Diakonisches Werk 2018, 13.

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Gemeinwesendiakonie

sprechen gemeinwesendiakonische Netzwerke öffentliche wie auch private Netzwerke an. So bewegen sich gemeinwesendiakonische Kooperationen in Sozialräumen, die als Nachbarschaften von dichten, privaten Netzwerken zusammengehalten werden. Wenn hier die Nöte von Dementen aufgegriffen werden oder alleinerziehende Mütter unterstützt werden, dann setzt das an solchen Herausforderungen an, die private Umfelder betreffen. Gerade Kirchengemeinden haben hier wertvolle Kontakte, die sich die Diakonie oft erst noch erschließen muss.120 Eine Säule der Gemeinwesendiakonie ist damit die Privatsphäre. Indem die Arbeit aber koordiniert wird und verschiedene Akteure die Projekte verantworten, findet die Gemeinwesendiakonie zugleich auch im öffentlichen Raum eine weitere Säule. Das würdigt auch Benedict, wenn er schreibt: „Diese Rückbindung sozialer Verantwortung in alltagsweltliches Handeln bedeutet […] [keinen] Rückfall in deregulierte private Zuständigkeit […].“121 Das ist wichtig, denn nur so hat man als potenzieller Teilnehmer, als Ehrenamtliche oder als an der Kooperation interessierte NGO auch von außen Zugang zur Gemeinwesendiakonie. Über eine Webseite, soziale Medien und die Lokalzeitung kann dieser Zugang sichtbar gemacht werden.122 Indem die Gemeinwesendiakonie auf privatem wie auch auf öffentlichem Raum steht, versucht sie – und das ist der zweite Aspekt, der hier heraussticht – Menschen aus prekären sozialen oder finanziellen Verhältnissen Teilhabe zu ermöglichen. Im allgemeinen Teil zur Zivilgesellschaft wurde hier immer wieder ein Defizit der Zivilgesellschaft angemahnt. Indem die Privatsphäre aus dem Konzept der Zivilgesellschaft ausgeschlossen wird, schließt man auch solches Engagement und solche Menschen, die sich vornehmlich im privaten Umfeld aufhalten, aus der Zivilgesellschaft aus. Die Gemeinwesendiakonie begegnet dieser Herausforderung sehr aktiv. Schon das erste gemeinwesendiakonische Konzept des Diakonischen Werks aus dem Jahr 2007 unterstreicht diese Motivation: „Gerade im Zusammenwirken in Kirchengemeinden werden diakonische Einrichtungen und Dienste herausgefordert, gemeinsam Verantwortung für die Stadt zu übernehmen und die Soziale Stadt zu gestalten. Sie können eine Plattform für lokale Netzwerke bieten. Dies gilt insbesondere für Stadtbezirke oder Regionen, die als Räume mit besonderem sozialen und baulichen Entwicklungsbedarf betrachtet werden können, und für soziale Brennpunkte.“123

120 „Normalerweise bekommen […] diakonische Einrichtungen das Alltagsleben in den Stadtteilen überhaupt nicht mit, es sei denn, dass sie über die Beratung einzelner Personen involviert sind. Und selbst dann ist es nicht selbstverständlich, dass die jeweiligen Fachkräfte die Alltags- und Lebensverhältnisse in den Quartieren kennen.“ Rausch 2015, 58. 121 Benedict 2010a, 46. 122 Vgl. dazu die grundsätzlichen Gedanken von Kötter. Kötter 2014, 130–131. 123 Diakonisches Werk 2007, 5.

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Durch die explizite Aufnahme von Brennpunktvierteln in den Projekten wird im Idealfall auch Menschen aus prekären Verhältnissen Zugang zur Zivilgesellschaft ermöglicht. Gemeinwesendiakonische Arbeit verfügt dabei nicht über ein Patentrezept. Die Betrachtung der Interaktionsebene hat offengelegt, dass auch hier die Grenzen zwischen Milieus ernsthafte Herausforderungen für eine gelungene Arbeit darstellen. Aber allein die konzeptionelle Forderung, zusammen mit finanziell oder sozial Schwachen zusammenzuarbeiten, legt einen Finger in eine zivilgesellschaftliche Wunde und stellt somit einen nicht zu unterschätzenden Gewinn für die Zivilgesellschaft dar. In Bezug zum Markt weist die Gemeinwesendiakonie durch die Kooperation mit der Diakonie ein für die Kirche ungewöhnliches Profil auf.124 Das mag von Ort zu Ort variieren. Allerdings ist die Gemeinwesendiakonie grundsätzlich davon abhängig, sich Gelder zu besorgen, die über das parochiale Gießkannenprinzip hinausgehen. Entweder erfolgt das über besondere Fördergelder von Stiftungen, Kirche, EU, Bund, Land, Stadt bzw. Kommune mit oft langwierigen Genehmigungsverfahren oder über Spendengelder. Gerade Letzteres wird mit einer konsequenten zivilgesellschaftlichen Abgrenzung von unternehmerischen Strukturen und Dynamiken (was schon im allgemeinen Diskurs zur Raumlogik der Zivilgesellschaft hinfällig erschien) nicht zu machen sein. Stattdessen gehen gemeinwesendiakonische Initiativen auf ortsansässige Unternehmen zu und arbeiten mit Geldgeberinnen aus der Wirtschaft zusammen.125 Hier gibt es potenzielle Reibungen zwischen den verschiedenen Logiken von Zivilgesellschaft und Ökonomie. Haas kann das für die gemeinwesendiakonische Kooperation von Kirche und Diakonie anschaulich beschreiben: „Entscheidend wird [sc. bei der Zusammenarbeit von Kirche und Diakonie] […] die Frage sein, wie ein Intermediär überhaupt die Anreize schaffen kann, dass bisher völlig disparate Player von der ideell arbeitenden Ehrenamtlichen bis hin zum spezialisierten Profi sich in ein verlässliches Netz einbinden lassen. […] Die Notwendigkeit, das, was man gegebenenfalls einmal nicht verlässlich orchestrieren kann, selbst anbieten zu müssen, fordert das Dienstleistungsunternehmen. Der hohe ideelle Anteil einer Selbsthilfe, zivilgesellschaftliche Potenz und andere Dienstleister einbeziehenden Orchestrierungsleistung verträgt sich schlecht mit einer gewerblichen Gewinnerzielungsabsicht. Letztlich bietet sich damit die Chance für gemeinwohlorientierte Unternehmen, die hier die entscheidende Brückenfunktion wahrnehmen können.“126

Damit schlägt Haas vor, sich in der gemeinwesendiakonischen Zivilgesellschaft als gemeinwohlorientiertes Unternehmen aufzustellen, um den kaum vermittelbaren Anforderungen an wirtschaftliches Handeln einerseits und ehrenamt124 Vgl. zur Marktlogik der Diakonie Böckel 2016, 157. 125 So etwa Kötter 2014, 160–165. 126 Haas 2012b, 263–264.

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Gemeinwesendiakonie

licher Selbstverwirklichung andererseits gerecht zu werden. Wie das in der Praxis dann konkret aussieht und gelingt bzw. scheitert, kann hier nicht erörtert werden. Allerdings wird ersichtlich, dass sich die Gemeinwesendiakonie vom Markt insofern abgrenzt, als dass durch die Arbeit am und mit dem Sozialraum kein Profit gemacht werden soll. Dennoch bleibt die kooperative Zusammenarbeit mit Akteuren aus der Wirtschaft unausweichlich und ist – nebenher gesagt – für die Arbeit vor Ort förderlich. Schließlich finanziert diese konzeptionelle Grenzüberschreitung nicht nur die eigene Arbeit, sondern man bereichert die Perspektiven im gemeinwesendiakonischen Netzwerk um ökonomisch geschulte Blicke und wichtige Ansprechpartner. Auf handlungslogischer Ebene stellt sich für die Gemeinwesendiakonie die Frage, inwiefern sie im Habermas’schen Sinn an politischer Deliberation mitwirkt, inwieweit hier nach Putnam Sozialkapital produziert wird und ob bei den bearbeiteten Themen stärker Eigeninteressen oder Interessen des Gemeinwohls ins Gewicht fallen. Zur politischen Auseinandersetzung kann man festhalten, dass die sozialraumorientierte Arbeit der Gemeinwesendiakonie an der Basis stark ins lokalpolitische Tagesgeschäft eingreift. Im Gespräch, bspw. mit Ortsvorsteherinnen, ehrenamtlichen Helfern, Dekanen und der Leitung eines diakonischen Unternehmens, kommen die Themen zur Sprache, die Kirche, Diakonie und Politik gleichermaßen beschäftigen. Da geht es etwa um die Haushalte im Quartier, die Sozialleistungen beziehen, oder wie vereinsamte Personen am öffentlichen Leben eingebunden werden können. Solche lokalen Debatten in der Diskurs- und Tatlandschaft der Zivilgesellschaft sind freilich weit von den Auseinandersetzungen im politischen Zentrum des Bundestags und der Ministerien in Berlin entfernt – auch wenn es hier thematische Verbindungen gibt. Die Rückkopplung eines gemeinwesendiakonischen Projekts im Westerwald zu den politischen Akteuren auf Landes- oder Bundesebene geschieht schließlich nicht automatisch. Aber in den Auseinandersetzungen und Initiativen der Gemeinwesendiakonie bekommen die Diskurse des politischen Zentrums doch eine lebensweltliche Verwurzelung. Wer z. B. bei der Essensausgabe einer Tafel mithilft, wird auch den Armutsbericht der Bundesregierung mit anderen Augen lesen. Insofern tragen gemeinwesendiakonische Initiativen einen wichtigen Teil zur politischen Deliberation im Land bei. Wenn es dann noch gelingt, dass die höheren Ebenen in Kirche und Diakonie solche Themen der Peripherie auch an die Zentren demokratischer Macht herantragen, dann gilt dieses Urteil umso mehr.127 127 „Die Diakonie setzt sich in unterschiedlichen Gesprächs- und Veranstaltungsformaten mit politischen Entscheidungsträgern, in Verhandlungsrunden und in Stellungnahmen dafür ein, die Rahmenbedingungen so zu verbessern, dass Sozialraumorientierung in solidarischen, teilhabeorientierten und inklusiven Nachbarschaften möglich ist. Das bedeutet auch,

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Die Frage nach dem Sozialkapital wird in der Gemeinwesendiakonie ebenfalls vor dem Hintergrund der Sozialraumorientierung beantwortet. Auf Interaktionsebene wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich die Gemeinwesendiakonie einer bestimmten Nachbarschaft widmet und dabei versucht, bridging-Effekte zu erzielen: „Diakonie und Kirchengemeinde erheben öffentlich den Anspruch, zivilgesellschaftliche Akteurinnen in der Nachbarschaft zu sein. Das gelingt nur dann, wenn sie sich als Mittlerinnen aller Interessen im Stadtteil, Quartier oder Dorf verstehen. Eine Verengung des eigenen Fokus auf aktive Kirchenmitglieder oder auf Zielgruppen diakonischer Arbeit stünde einer gewollten Öffnung in den Sozialraum im Weg.“128

Die Gemeinwesendiakonie stellt sich demnach wenigstens in den meisten Konzepten typischerweise gegen eine Orientierung an Milieus und speziellen Zielgruppen.129 Damit geht bis zu einem gewissen Grad auch eine Absage an gruppeninternes bonding einher. Die Arbeit im Quartier soll eben nicht nur einer bestimmten Klientel zugutekommen, sondern der gesamten Nachbarschaft. Indem zugleich immer auch ein Kern an haupt- bzw. ehrenamtlichen Mitarbeitern in einem Projekt präsent ist, soll für die Arbeit vor Ort Kontinuität und Verbindlichkeit hergestellt werden.130 Zumindest auf dem Papier gelingt der Gemeinwesendiakonie damit ein Spagat zwischen den Ansprüchen liquidemoderner Flexibilität bei gleichzeitiger solide-moderner Kontinuität im Sozialkapital. Indem ein sozial offenes Netzwerk Verantwortung für seine Nachbarschaft übernimmt, soll es möglich sein, das persönliche soziale Umfeld und damit auch die eigene Lebenssituation positiv zu gestalten, ohne dabei von einer Ideologie oder einer Gruppe vereinnahmt zu werden. Zumindest vor solchen negativ verstandenen bonding-Effekten möchte man sich in der Gemeinwesendiakonie bewahren. Ob in einem eher lockeren Netzwerk aber auch positive bonding-Effekte zur Geltung kommen, also die Stärkung von persönlichen social skills bei dem gleichzeitigen Gefühl der sozialen Zugehörigkeit, muss hier unbeantwortet bleiben. In der bewussten Zuwendung zu einer bestimmten Nachbarschaft wird jedoch versucht, solchen Anfragen zu begegnen. Zumal die eigenen sozialen Fähigkeiten auch in brückenbildenden Begegnungen gestärkt werden können. dass Sozialraumorientierung in aktuellen Gesetzesvorhaben berücksichtigt wird.“ Diakonisches Werk 2018, 7. 128 Diakonisches Werk 2018, 6–7. 129 So auch Zippert in seinem sehr differenzierten und lesenswerten Aufsatz zur Milieuorientierung in der Gemeinwesenarbeit: „Auch wenn sie [sc. Gemeinwesenarbeit] bei einer Zielgruppe in einem bestimmten Raum oder einer begrenzten Region ansetzt, tendiert sie dort zu einer zielgruppenübergreifenden oder offenen Arbeit, der es um die Verbesserung der Lebensbedingungen in einem Gemeinwesen insgesamt geht.“ Zippert 2010, 185. 130 Vgl. Horstmann und Neuhausen 2010, 35.

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Gemeinwesendiakonie

Sowohl bei der Profilierung der politischen Deliberation als auch bei dem anvisierten Sozialkapital schimmert bereits die Bedeutung der Gemeinwesendiakonie für das Gemeinwohl durch. Gemeinwesendiakonie ist an der Verbesserung von sozialen Missständen vor Ort interessiert.131 Dabei steht die Herausforderung eines Sozialraums im Vordergrund und die (womöglich gegensätzlichen) kulturellen und religiösen Profile der Akteure vor Ort stehen bewusst im Hintergrund. Auch wenn die drohende Bedeutungslosigkeit der Kirche und die Herausforderungen der Diakonie am Arbeitsmarkt immer wieder als zusätzliche Motivation zur gemeinwesendiakonischen Kooperation genannt werden,132 geht es den Initiativen ganz wesentlich um die positive Gestaltung von Nachbarschaften. Damit kann gemeinwesendiakonischen Initiativen in aller Regel ein großes Interesse am Gemeinwohl und damit auch eine ausgesprochen positive zivilgesellschaftliche Bewertung attestiert werden.

131 Diakonisches Werk 2007, 5–7. 132 Siehe zum drohenden Relevanzverlust der Kirchen: Kötter 2014, 20 oder auch Haas 2012b, 262 ebenso wie die sich darauf beziehende Mahnung, dass Gemeinwesendiakonie die Säkularisierung auch nicht aufhalten kann bei Roest 2010b, 234. Siehe zu den intrinsischen Motivationen der Diakonie zur Gemeinwesendiakonie: Haas 2012b, 257, 261 oder auch Zippert 2012, 100.

3.

Fresh X und Gemeinwesendiakonie im zivilgesellschaftlichen Überblick

Fresh X und Gemeinwesendiakonie haben einen besonderen Blick für ihre Nachbarschaft. Auf ihre je eigene Art öffnen sie sich für die Menschen ihrer Dörfer und Städte und bringen dadurch die Kirche auch an Orten ins Spiel, bei denen sie sonst eher unbeachtet bliebe. Es ist gut, dass die beiden Bewegungen unterschiedlich vorgehen. So zeigen sie, dass es für eine zivilgesellschaftlich aktive Kirche keine Schablone gibt. Wenn Kirche ihre Nachbarn ernst nimmt und sich an deren Bedürfnissen orientiert, dann kopiert sie nicht starr irgendwelche best practice Beispiele. Solche Prozesse müssen immer wieder neu, sensibel, umsichtig und abhängig vom jeweiligen Kontext gestaltet werden. Auch dafür bieten beide Bewegungen ein beachtenswertes Anschauungsmaterial. In Fresh-X-Projekten spricht man dazu häufig von Inkarnation. Das bedeutet, dass Fresh X die eigene performance nach den ästhetischen und inhaltlichen Vorlieben bestimmter Zielgruppen gestalten. Für Kinder und deren Eltern gibt es dann Veranstaltungen, bei denen gebastelt, gekleckst und gekrümelt wird. Für regelmäßige Kneipengänger in einem Irish Pub bietet eine Fresh X dagegen ein offenes Ohr beim Feierabendbier, Live Musik oder ein Pub-Quiz an. Bei Fresh X reagiert das eigene Programm, die Ästhetik und das Netzwerk der jeweiligen Gemeinde auf so verschiedenartige Orte wie eine Szenebar oder einen Basteltreff. Die zivilgesellschaftlichen Stärken liegen hier auf der Bildung von Sozialkapital. Fresh X tendieren zu starken Bindungen innerhalb der eigenen Gruppe und sie zeigen sich offen für lockere Beziehungen innerhalb eines Milieus bzw. einer Subkultur. Ob sie dabei auch politisch denken, hängt von der jeweiligen Gruppe ab. Auch die Frage nach dem Nutzen für das Gemeinwohl kann man einerseits und ambivalenterweise nur von Gemeinde zu Gemeinde denken. Wenn eine Fresh X die Konversion ihrer Mitglieder zu bestimmten Positionen will und ihr soziales Engagement das berechnende Mittel zu diesem Zweck ist, so steht ihre Gemeinwohlorientierung zur Debatte. Wenn ihre Inszenierung dagegen keine übergriffige Strategie ist, sondern eine authentische Reaktion auf die Bedürfnisse einer Nachbarschaft, sie dabei den gleichberechtigten Austausch über Glau-

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Fresh X und Gemeinwesendiakonie im zivilgesellschaftlichen Überblick

bensthemen sucht und in ihren Motiven transparent ist, dann ist sie eine begrüßenswerte und zugleich streitbare zivilgesellschaftliche Akteurin mit Gemeinwohlorientierung. Die Rolle von Fresh X für das Gemeinwohl erschließt sich zudem, wenn man die Bewegung insgesamt in den Blick nimmt. Betrachtet man die Fresh-X–Landkarte mit Abstand, dann fällt auf, dass es gerade nicht das Ansinnen ist, eine gesellschaftliche Fragmentierung durch eine so verstandene Inkarnation zu verstärken. Stattdessen geht es darum, einen gemeinsamen Glauben in den Fragen, Suchbewegungen und Antworten verschiedener gesellschaftlicher „Fragmente“ zu formulieren. Fresh X versuchen also aller gesellschaftlichen Fragmentierung zum Trotz, als Kirche etwas Gemeinsames in der Kommunikation des Evangeliums zu finden. Fresh X gehen im Modus der Inkarnation auf ihre Nachbarschaft zu. Sie passen sich also an die Themen, Stile und Bedürfnisse der jeweiligen Quartiere an. Dann spielen sie je nach Gemeinde mal eine starke und mal eine zu vernachlässigende Rolle im zivilgesellschaftlichen Miteinander. Diese scheinbar widersprüchliche Bewertung liegt auch daran, dass sich Fresh X–im Gegensatz zur Gemeinwesendiakonie – nicht immer an den Herausforderungen einer Nachbarschaft orientieren. Sie fragen allgemeiner nach den Szenen und Subkulturen eines Sozialraums. Das schließt die Hinwendung zu Brennpunkten oder die Kooperation mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren jedoch nicht aus. So eine zivilgesellschaftlich erfreuliche Ausrichtung liegt jedoch in der Hand der einzelnen Fresh-X-Gemeinden und ist in den Diskursen der Bewegung nicht immer vorgesehen. Grundsätzlich sind Fresh X stärker an Einzelpersonen und deren Einbindung in ihr interaktionales Netzwerk als an Kooperationen unter zivilgesellschaftlichen Akteuren interessiert. Ganz anders stellt sich das bei der Gemeinwesendiakonie dar. Auch die Gemeinwesendiakonie fragt als Kirche nach ihrer Nachbarschaft. Das geschieht jedoch nicht so stark – wie bei Fresh X – auf inszenatorischer Ebene, sondern auf organisationaler. Kirchengemeinden bzw. Dekanate und diakonische Unternehmen gehen strategisch aufeinander und auf Behörden und andere Organisationen einer Nachbarschaft zu. Gemeinsam fragt man nach den Bedürfnissen und Nöten des jeweiligen Sozialraums. Ist der Stadtpark heruntergekommen und haben die Seniorinnen Zugang zum Supermarkt und zur Arztpraxis? Danach blicken gemeinwesendiakonische Netzwerke auf die eigenen Ressourcen. Die Gebäude, Finanzen, haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und die Kontakte des organisationalen Netzwerks sollen dann so eingesetzt werden, dass sie möglichst passend auf die Herausforderungen in der Nachbarschaft reagieren können. Dann finanziert man z. B. einen Bus, der Senioren ehrenamtlich in die nächste Kreisstadt fährt, damit sie sich ärztlich versorgen lassen und einkaufen können. Oder man organisiert die Nachbarschaft so, dass sie im Stadtpark einen Garten in Eigenregie anlegt. Aus zivilgesell-

Fresh X und Gemeinwesendiakonie im zivilgesellschaftlichen Überblick

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schaftlicher Perspektive ist schon dieses sozialraumorientierte Hauptanliegen der Gemeinwesendiakonie gesellschaftspolitisch. Dort liegt der Fokus ihrer zivilgesellschaftlichen Handlungslogik. Dass die Gemeinwesendiakonie darüber hinaus auch in ihren Projekten und Angeboten Sozialkapital unter den Menschen verschiedener Organisationen und Nachbarschaften bildet, darf dabei nicht unterschätzt werden. Durch das kooperative Miteinander verschiedener Akteure aus dem staatlichen, ökonomischen und privaten Raum der Zivilgesellschaft steht auch die Gemeinwohlorientierung der Gemeinwesendiakonie außer Frage. Auch wenn beide Bewegungen hier nebeneinander gestellt wurden, geht es dieser Arbeit nicht um einen direkten Vergleich. Beide Ansätze haben unterschiedliche zivilgesellschaftliche Vorzüge, Herausforderungen und Chancen. Dieser Umstand zeigt einmal mehr auf, dass die Kirche kein homogener Player ist. Sie selbst ist von verschiedenen, mitunter sogar widersprüchlichen gesellschaftspolitischen Zielen und theologischen Denkrichtungen geprägt. Die innerkirchlichen Debatten, die sich aus diesem pluralistischen Profil ergeben, mögen mitunter ermüden. Sie lassen sich aber auch als Gelegenheit begreifen, um die eigenen Ansätze zu reflektieren und um in aller Gegensätzlichkeit auch mit- und voneinander zu lernen. Schon vor diesem vielstimmigen Hintergrund kann Kirche in der Zivilgesellschaft nicht einheitlich auftreten. Schließlich orientiert sich die Kirche auch in unterschiedlichem Maß an den Nachbarschaften ihrer Dörfer und Städte. Genau an diesem Punkt liegt dann auch die wohl bedeutendste zivilgesellschaftliche Leistung von Fresh X und der Gemeinwesendiakonie. Beide machen deutlich, dass die Kirche nur dann für die Zivilgesellschaft von Bedeutung sein kann, wenn sie sich auf das Leben in ihrer Nachbarschaft einlässt und sie sich daran aktiv beteiligt.

4.

Ein Plädoyer für mehr Zivilgesellschaft in der Kirche – und mehr Kirche in der Zivilgesellschaft

Das Zusammenwirken von Kirche und Zivilgesellschaft hat für beide Seiten ein großes Potenzial. Die Zivilgesellschaft findet in der Kirche eine flächendeckende, zuverlässige und gemeinwohlorientierte Akteurin. Sie vergrößert den gesellschaftlichen Zusammenhalt, indem sie in ihren lokalen und überregionalen Netzwerken Sozialkapital aufbaut. Je mehr sich Kirche für andere Menschen und deren Anliegen öffnet, umso größer wird dieser zivilgesellschaftliche Nutzen. Zudem bringen sich kirchliche Akteurinnen häufig in gesellschaftspolitischen Debatten ein. Die Beiträge der Kirche sind dabei alles andere als einheitlich. Sie sind bunt, ortsabhängig, teilweise ambivalent und unbequem. In dieser Vielstimmigkeit zeigt die Kirche auch ihre demokratische Qualität. Damit ist sie eine tragfähige Säule der Zivilgesellschaft. Sie wird ihren zivilgesellschaftlichen Aufgaben an vielen Orten und Gelegenheiten gerecht. Insbesondere dort, wo sie ihre eigene Rolle zusammen mit ihrer Nachbarschaft hinterfragt und bereit ist, sich in dieser Nachbarschaft neu zu entdecken. Mancherorts ist diese Art, über die eigene kirchliche Identität nachzudenken, schon etabliert. Fresh X und Gemeinwesendiakonie dokumentieren, wie facettenreich die Kirche als zivilgesellschaftliche Akteurin aufgestellt sein kann. Es gibt aber noch zahlreiche Orte kirchlichen Lebens, bei denen das zivilgesellschaftliche Potenzial nicht abgerufen wird. Dort nehmen die kirchlichen Akteure die Herausforderungen ihrer Nachbarschaft nicht wahr. Oder sie gehen darüber hinweg, ohne sie als Anfragen zu verstehen. Das ist nicht nur für die Zivilgesellschaft unglücklich. Auch der Kirche entgeht dann viel. Denn vor der eigenen Kirchentür liegen große Chancen. Die Organisation Kirche findet in der Zivilgesellschaft Kooperationspartner. Indem eine Kirche die eigenen Gebäude öffnet und sie ihre eigenen Ressourcen nachbarschaftlich umverteilt, nutzt sie die Chance, sich neue Freunde zu machen. Wer sich dem eigenen Umfeld zuwendet, darf auch mit Unterstützung aus diesem Umfeld rechnen. Wo etwa das Gemeindehaus auch als Bürgerhaus genutzt wird, entstehen neue Sympathien, Kontakte, Möglichkeiten und Perspektiven.

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Ein Plädoyer für mehr Zivilgesellschaft in der Kirche

Unter zivilgesellschaftlichen Gesichtspunkten erstrahlt auch die Institution Kirche in neuem Licht. Dabei wird das konventionelle „this is how these things are done“ nicht als starre Vorgabe gesehen. Stattdessen wird die Institution zum nachdenkenswerten Angebot, sich unter neuen Vorzeichen auf traditionelle Ideale einzulassen. Dazu fragt Kirche danach, welche institutionellen Aufgaben ihr theologisch und gesellschaftlich zugeschrieben werden. Ein neu eingerichtetes Café mit und für geflohene Menschen ist vor diesem Hintergrund kein kleines Nebenprojekt. Weil es von der Kirche erwartet wird, sich für Schutzsuchende zivilgesellschaftlich einzusetzen, ist so ein Café vielleicht unkonventionell. Aber es handelt sich zugleich um einen wesentlichen Ausdruck der Institution Kirche. Eine zivilgesellschaftlich sensible Kirche geht interaktional auf ihre Nachbarinnen zu. Sie sucht ihre Gesprächspartner auf Marktplätzen, beim Grillen mit der Freiwilligen Feuerwehr und am Runden Tisch bei der Stadtverwaltung. Das kirchliche Netzwerk steht damit nicht isoliert und allein auf weiter Flur. Es ist in einen größeren Zusammenhang eingebunden. Das hat den Vorteil, dass man als Kirche nicht nur über das Geschehen vor Ort informiert ist und darauf reagieren kann. Man kann die eigenen Nachbarn auch besser über die kirchlichen Themen und Geschehnisse ins Bild setzen. Auf diese Art wächst das interaktionale Netzwerk der Kirche an. Das ist außerdem auch entlastend, weil diese Aufgabe nur auf vielen Schultern geteilt und gemeinsam gestemmt werden kann. Eine zivilgesellschaftliche Kirche ist nicht pfarrzentriert, sondern sie setzt gleichermaßen auf ihre Haupt- und Ehrenamtlichen. Die Stärke einer zivilgesellschaftlich aktiven Kirche liegt auch in der Vielfalt ihrer Inszenierung. Wenn aus der kirchlichen Nachbarschaft unterschiedliche Themen, Stile und vor allem Menschen zusammenkommen, wird sich das auch in der performance widerspiegeln. Das kann im Gottesdienst gut greifbar werden, der dann nicht durch einen dominanten Stil geprägt wird. Kurz gesagt, wenn im Netzwerk der Kirche Iraner teilnehmen, darf der Gottesdienst auch persische Elemente enthalten. Wenn also Jugendliche im Gemeindeleben vorkommen, darf auch deren Musik im Gottesdienst nicht fehlen. Die Vielfalt kirchlicher Inszenierung wird aber auch darin greifbar, dass Kirche als zivilgesellschaftliche Akteurin an ganz verschiedenen Orten stattfindet. Das kann in Kneipen, auf Marktplätzen oder bei Behördengängen sein. Kirche als eine zivilgesellschaftliche Akteurin ist also nicht nur offen für die Menschen, Themen, Stile und Nöte ihrer Nachbarschaft, sondern sie bringt sich dort aktiv ein. So versucht sie sich nicht nur als Gastgeberin, sondern auch als Gast. Sie bemüht sich gar nicht erst, die Menschen ihrer Nachbarschaft so zu verändern, dass sie endlich in die Kirche kommen, sondern sie öffnet und verändert sich selbst so, dass die Kirche endlich in der Nachbarschaft ankommt. Das ist ein Wandel in der Perspektive auf die Kirche. Der Kirchentheorie, aber auch

Ein Plädoyer für mehr Zivilgesellschaft in der Kirche

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der kirchlichen Praxis wird dieser Blick gut tun. Denn er legt vieles frei, was bereits vorhanden ist. Die Vernetzung beim Café nach dem Kirchenchor, die Musik des Posaunenchors auf dem örtlichen Oktoberfest, die Ansprache der Pastorin im Lions Club oder der Elternabend in der kirchlichen Kita sind Beispiele, bei denen die Kirche bereits eine hohe zivilgesellschaftliche Wirkung entfaltet. Solche Aktivitäten erstrahlen nun in einem wertschätzenden Licht. Diese Perspektive zeigt aber auch, wo das kirchlich-zivilgesellschaftliche Potenzial unbeachtet bleibt. Das Beispiel aus Nottingham und die zahlreichen Erfahrungen von Fresh X und der Gemeinwesendiakonie halten dem entgegen, dass es sich für die Kirche wie auch für die Zivilgesellschaft lohnt, den Weg in die zivilgesellschaftliche Nachbarschaft zu gehen.

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