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German Pages 302 Year 2014
Achim Geisenhanslüke, Rasmus Overthun (Hg.) Kino der Blinden
Literalität und Liminalität | Band 20
Achim Geisenhanslüke, Rasmus Overthun (Hg.)
Kino der Blinden Figurationen des Nichtwissens bei David Lynch
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Inhalt
Einleitung. David Lynchs Kino der Blinden
Achim Geisenhanslüke und Rasmus Overthun | 7 Die amerikanische Nacht. Reisen ins Herz der Finsternis bei David Lynch und Joe Coleman Hans Richard Brittnacher | 21 Unförmliche Texturen oder: Der leere Blick. David Lynchs Eraserhead Rasmus Overthun | 51 »He is being stared at all over again«. Zur Sichtbarkeit des Monströsen in David Lynchs The Elephant Man Catherine Shelton | 87 Coopers tibetanische Methode. Genre, Wissen, Medialität in Twin Peaks Claudia Liebrand | 125 Unheimliches Nichtwissen. E.T.A. Hoffmann und David Lynch Achim Geisenhanslüke | 163 Regenbogen ex machina. Brechts Theater des Intellekts und David Lynchs Wild at Heart als Kino der Intuition Christian Steltz | 181
Lynchian Road Movies. David Lynchs Spiel mit der Wissensordnung eines Genres am Beispiel von Wild at Heart und The Straight Story Mark Schmitt | 207 Was in Lost Highway nicht gezeigt wird Susanne Kaul | 231 Blinder Fleck Emotionen. David Lynchs Eifersuchtstrilogie Lost Highway, Mulholland Dr., Inland Empire Jean-Pierre Palmier | 241 Räume aus Licht. Inland Empire Hanjo Berressem | 261 Autorinnen und Autoren | 297
Einleitung. David Lynchs Kino der Blinden A CHIM G EISENHANSLÜKE UND R ASMUS O VERTHUN
»Wir sehen nicht, daß wir nicht sehen.«1 (Heinz von Foerster) »The owls are not what they seem.«2 (Riese zu Agent Cooper in Twin Peaks)
Inland Empire beginnt mit einer programmatischen Sequenz. Aus dem unbestimmten Nichts eines schwarzen Bildes entfaltet sich schlagartig ein Lichtkegel, vermutlich der eines Filmprojektors, der die bildschirmfüllenden Majuskeln des Titels illuminiert. Die nächste Einstel-
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Heinz von Foerster: Interview mit Bernhard Pörksen. Telepolis 15. 04. 1998. http://www.heise.de/tp/artikel/6/6240/1.html (01. April 2012). Heinz von Foerster hat das physiologische Konzept des blinden Flecks theoretisch anschlussfähig gemacht.
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Twin Peaks (1990-91). Idee: David Lynch und Mark Frost. Regie: David Lynch u. a. DVD. Definitive Gold Box Edition. Paramount Home Entertainment 2005, hier Episode 8.
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lung, die sich in Schwarz-Weiß abermals flackernd aus dem Dunkel erhebt, zeigt die Fahrt einer Tonabnehmernadel in der Plattenrille eines Grammofons, aus dem eine knisternde Radiostimme erklingt. Das Bild des rotierenden Plattentellers verharrt und beginnt bald zu flimmern. Es wird überblendet durch das diffuse Bild eines amorphen Gewebes, das aus dem Hintergrund hervortritt, ohne ganz erfasst werden zu können. Die Bilder verschwinden schließlich wieder im Nichts. Nach dem verstörenden Dialog zwischen einer Prostituierten und ihrem Freier und dem Zwischenspiel einer Sitcom mit hasenköpfigen Akteuren setzt die eigentliche Geschichte ein. Der Film entwirft das picture in motionPortrait einer »woman in trouble«. Wir sind ins Universum des David Lynch eingetreten.3 Der Prolog von Inland Empire enthält in nuce zentrale Elemente der Lynch’schen Ästhetik und kann als metafiktionaler Kommentar zu ihrem modus operandi gedeutet werden.4 Er markiert autoreferentiell die optisch-akustische Medialität des Films, Sehen und Hören, und dessen epistemologisches Potential, unter die sichtbare Oberflächenordnung der Dinge zu tauchen. »Filmemachen«, sagt Lynch, »muss unter die Oberfläche gehen«.5 Als zeichenhaftes Symptom oder unbeschreibliches Phänomen kommt so etwas zum Vorschein, das im Inne-
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Neben Eckhard Pabst (Hg.): »A Strange World«. Das Universum des David Lynch. 3. Aufl. Kiel 1999, sei auf die folgenden Gesamtdarstellungen hingewiesen: Anne Jerslev: David Lynch. Mentale Landschaften. 2. Aufl. Wien 2006; Michel Chion: David Lynch. 2. Aufl. London 2006; Martha Nochimson: The Passion of David Lynch. Wild at Heart in Hollywood. 5. Aufl. Austin 2005; Georg Seeßlen: David Lynch und seine Filme. 6. Aufl. Marburg 2007; Susanne Kaul und Jean-Pierre Palmier: David Lynch. Einführung in seine Filme und Filmästhetik. München 2011.
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Georg Seeßlen bespricht Inland Empire insgesamt als »eine Zusammenfassung von Methode, Stil und Motiven« Lynchs. Seeßlen: David Lynch und seine Filme (Anm. 3), S. 245.
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»Filmemachen muss unter die Oberfläche gehen, sonst macht es keinen Spaß.« David Lynch zit. nach ebd., S. 9.
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ren der Imaginationen des ›On‹ – der filmischen Bilder, aber auch der kulturellen Fantasmen und Konstruktionen der ›Realität‹ – als blinder Fleck insistiert. Lynchs Derangements aus Bild und Ton bringen die scheinbare, von vornherein brüchige Evidenz des Sichtbaren zum Flimmern. Sie durchdringen die Texturen einer imaginären Realität und stoßen zu einem anderen Ort vor, der zugleich der Schauplatz des Anderen ist. Dieses kündigt sich häufig bereits über die Geräuschkulisse der bedrohlich dröhnenden Tonspur an, die mit klischeehaften Milieubildern des bürgerlichen Lebens und den in Hollywood fabrizierten Traumprojektionen konfligiert. In Form brutaler Gewalt (eine wahre Orgie in Blue Velvet und Wild at Heart), deformierter Körper (in Eraserhead verliert Henry buchstäblich den Kopf) oder dissoziativer Spaltungen der Person (Leland Palmer und Agent Cooper aus Twin Peaks erblicken in ihrem Spiegelbild den Dämon Bob) kann es sich aber auch überaus explizit zur Geltung bringen. Lynch macht den Zuschauer gleichsam zum Voyeur der dunklen Abgründe einer fremden Welt (»wild at heart and weird on top«6), für welche die Selbstentwürfe der westlichen Gesellschaft und ihrer Individuen, mithin die Fiktionen der Americana blind bleiben. Dennoch erlaubt der kinematografische Blick unter die Oberfläche keine souveräne Distanz, aus der ein kritisches Sehen, Erkennen und Wissen ohne Weiteres möglich wären. Ultranahe close-ups, ungewöhnliche Perspektiven und ›unmögliche‹ Schnitte desorientieren – ein Effekt, den intertextuelle und narrative Spiegelungen, paradoxale Konstruktionen von Raum und Zeit sowie die Rätselhaftigkeit der histoire verstärken (speziell in Lost Highway und Mulholland Dr.). Damit verdoppelt sich die Daseinsfrage der diegetischen Figuren7 durch das
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Bemerkung Lulas in Wild at Heart: »This whole world’s wild at heart and weird on top.« Wild at Heart (1990). Regie: David Lynch. DVD. Universal 2003.
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»It’s a strange world« lautet die Zeitdiagnose Jeffrey Beaumonts in Blue Velvet. Blue Velvet (1986). Regie: David Lynch. DVD. MGM Home Entertainment 2009.
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Problem der Deutung; und mit dem Widerstand gegen die Deutung werden nach und nach der Spielraum und die Bedingungen der Interpretation exponiert. Lynchs Filme und Fernsehproduktionen oszillieren in dieser Weise zwischen Einsicht und Blindheit, Wissen und Nichtwissen. Sie entziehen sich gleich auf mehreren Ebenen einem vollständigen Sehen und Verstehen, dessen Möglichkeit sie trügerisch suggerieren. Was sie immer wieder ins Licht rücken und in seinen Voraussetzungen reflektieren, ist v. a. das skopophile Subjekt des Begehrens nach Wissen. Dieses Subjekt gewinnt Einblicke, erleidet aber regelmäßig einen Verlust der Kontrolle über seinen Blick, sein Begehren und seinen Körper. Es wird in die beobachteten Ereignisse hineingezogen und erscheint seinerseits auf der Bildfläche als angeschautes Objekt. Das Szenario von Jeffrey Beaumonts zweifacher Entblößung durch Dorothy Vallens in Blue Velvet (Entlarvung als Voyeur und erzwungene Entkleidung) liefert dazu die ›Urszene‹, die auf die prekäre Position des Zuschauers zurückverweist. In solchen Anordnungen unternimmt Lynch einen ästhetischen Versuch über blinde Flecken, dessen wirkungsästhetische Energie aus der affektiven Mischung von Unheimlichkeit, melodramatischer Rührung und groteskem Lachen kommt. Intellektuelles Unbehagen verbindet sich mit dem ›ridiculous sublime‹8. Der vorliegende Band untersucht in diesem Rahmen Konstellationen des Nichtsehens, Verkennens und Nichtwissens in Lynchs ›Kino der Blinden‹9 und fragt automatisch auch nach dem Sehen, Erkennen und
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Slavoj Žižek: The Art of the Ridiculous Sublime. On David Lynch’s Lost Highway. 2. Aufl. Washington 2002, S. 22: »Lynch’s universe is effectively the universe of the ›ridiculous sublime‹: the most ridiculously pathetic scenes […] are to be taken seriously.«
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Der Titel rekurriert auf eine Kafka-Anekdote, die Gustav Janouch kolportiert: »Das Absurdeste, was es [...] wohl auf dem Gebiete der Kinonamen je in der Welt gegeben haben dürfte, war die Inschrift über dem Portal eines kleinen Lichtspieltheaters in dem Prager Arbeiterviertel Zizkov. Sie lautete
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Wissen. Dabei stellen die im Titel ausgewiesenen Leitkategorien der Blindheit und des Nichtwissens ein begriffliches und methodisches ›Risiko‹ dar. Sie sind von einer signifikanten Unschärfe geprägt, die sie den durch sie bezeichneten Phänomenen anverwandelt und den Boden für ganz unterschiedliche Begriffsbestimmungen und -verwendungen bereitet. Darüber hinaus tritt die Figur des Blinden im Sinne eines absoluten physischen Defekts der Augen bei Lynch an keiner Stelle auf. Was in Lynchs Blindenkino fehlt, wie bei Francisco de Goya das Monster im Capricho 43 El sueño de la razon produce monstruos, ist der buchstäblich Blinde – sieht man von partiellen SichtEinschränkungen mancher Figuren ab.10 Das Thema der Blindheit lässt
Kino der Blinden (tschechisch: Bio slepcu), da die Kinolizenz dem Unterstützungsverein der Blinden gehörte. Doktor Franz Kafka, dem ich von dem Kino erzählte, machte zuerst große Augen, um dann im nächsten Augenblick so ein lautes Lachen auszustoßen, wie ich es von ihm nie zuvor und auch später nie wieder hörte. Dann sagte er: ›Bio slepcu! So sollten eigentlich alle Kinos heißen. Man wird durch die Flimmerbilder ja nur wirklichkeitsblind.‹« Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Frankfurt/Main 1968, S. 165. 10 Partielle Sicht-Einschränkungen betreffen z. B. Nadine aus Twin Peaks, der Big Ed versehentlich ein Auge kaputtgeschossen hat, Blinky aus der weniger bekannten Serie On Air, der nicht wirklich blind ist, sondern nur von einer extremen Anomalie des Sehens, Bozeman’s simplex, betroffen ist, oder den Rentner Alvin Straight aus The Straight Story, der altersbedingt schlecht sieht, »half blind« ist. The Straight Story – Eine wahre Geschichte (1999). Regie: David Lynch. DVD. Senator Home Entertainment 2009. – Anja Lemke hat gezeigt, wie die Charakteristika des fehlenden Monsters, Zwitterhaftigkeit und Unbestimmtheit, auf die Zeichenordnung von Goyas Capricho übergreifen. Vgl. Anja Lemke: Zwitterhafte Zeichenmonster in Goyas Caprichos. In: Achim Geisenhanslüke und Georg Mein (Hg. u. Mitarb. v. Rasmus Overthun): Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen. Bielefeld 2009, S. 597-616. Eine ähnliche universale Bedeutung hat die Blindheit bei Lynch.
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sich jedoch unschwer im Zentrum von Lynchs Arbeiten entdecken, begreift man Blindheit als Metapher für mediale, hermeneutische und diskursive Aspekte der angesprochenen Fragen. Dem berühmten ›blinden Fleck‹ des Wissens, der den double bind von Beobachtungen bezeichnet, die sich selbst als Beobachtungen nicht paradoxiefrei beobachten können,11 gibt Lynch einen filmphilosophischen Dreh, wenn er die elementaren Grundlagen des Kinos in seiner ›cineastischen Epistemologie‹ erprobt. Die entsprechende Komplexität der ästhetischkulturellen Zusammenhänge lässt sich mit einer allzu präzisen und selektiven Begrifflichkeit kaum zeigen. Mit einer offenen Begrifflichkeit kommt sie eher in den Blick. In der Optik der einzelnen Analysen des Bandes erhalten Blindheit und Nichtwissen, z. T. unter anderen Namen, gleichwohl ein theoretisches Profil, das vor dem Horizont der übergreifenden Fragestellungen und Prämissen der Beiträge an Schärfe gewinnt.
11 So die systemtheoretische Fassung des blinden Flecks bei Niklas Luhmann: Beobachtungen sind Bezeichnungen von Unterscheidungen, die auf der operativen Ebene für ihre Bezeichnungs- bzw. Unterscheidungslogik blind sind. Auch in der dekonstruktiven Theorie ist der blinde Fleck von entscheidender Bedeutung. Vgl. beispielhaft Jacques Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen. München 1997 und Paul de Man: Die Rhetorik der Blindheit. Jacques Derridas Rousseauinterpretation. In: Ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Frankfurt/Main 1993, S. 185-230. Den Ort des blinden Flecks im Wissen beschreibt Claubril Ennepi wie folgt: »Der ›Blinde Fleck‹ des Auges ist jene zentrale Stelle, an der der Nervenstrang an den Augapfel angeschlossen ist und an der sich keine Sehzellen befinden. Er ist, direkt neben dem ›gelben Fleck‹, dem Ort des schärfsten Sehens, gelegen, eine Schnittstelle, die zwar alle visuellen Informationen durchqueren müssen, die aber selbst keine Informationen produziert. Er ist der Ort, an dem das Wissen aussetzt, um sich selbst zu ermöglichen und der folglich über sich selbst nichts wissen kann.« Claubril Ennepi: Vorwort. In: Ders. (Hg.): Der blinde Fleck. Mitteilungen aus dem Zentrum der Bestimmungslosigkeit. Weimar 1995, S. 7-15, hier S. 7.
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(1) Im Titel Kino der Blinden verdichtet sich ein kinematografisches Paradox, das kulturgeschichtlich tradierte Fragen nach dem Apriori und den Limitationen des Visuellen medienspezifisch pointiert. Die damit verbundenen Problemlagen rücken spätestens seit den 70erJahren in den Fokus der Filmwissenschaft.12 Insbesondere psychoanalytisch, semiotisch und diskurstheoretisch informierte Forschung fragt nach dem Jenseits des im Bild Repräsentierten und nach dem Unsichtbaren, das den Bereich der Sichtbarkeit des Films strukturiert. Das Interesse gilt etwa den ideologischen Implikationen der technischen Bildmanipulation (Schnitt, Montage, Kadrierung, Perspektive und Komposition der mise en scène), der kulturellen Kodierung der filmischen Bilder und Blicke und der Positionierung des Zuschauers im Kino-Dispositiv. Aber auch zahlreiche Filme verhandeln die eigenen ›transzendentalen‹ Möglichkeitsbedingungen und konstitutiven Paradoxien im Zeichen des Themas der Blindheit und der Darstellung von Blinden. Stefan Ripplinger schreibt: »In der Figur des Blinden denkt das Kino über sich selbst nach. Seine oft für allzu selbstverständlich gehaltenen ontologischen Voraussetzungen, die Behauptung, es blicke, ja, es könne das Sehen lehren, die Rede von der Kamera als von einem Auge, all das steht in der Figur des Blinden und der Blindheit auf der Probe.«13 Wenn Lynch daran anschließend eine Krise der Repräsentation, des Sichtbaren und des Blicks in Szene setzt, hinterfragt er mit dem Medium des Films auch das classical hollywood cinema und die Ideologie, die es transportiert. Der klassische Hollywoodfilm verkoppelt ›On‹ und ›Off‹, Optik und Akustik, Bild und Montage harmonisch, um reality effects und einen geschlossenen Wissenskosmos zu generieren. Das Medium und die Ordnung des Diskurses verschwinden. Dagegen stört Lynch die mimetische Illusion und problematisiert mit den medialen Wahrnehmungsgrundlagen des Erkennens zugleich die Prinzipien des Wissens.
12 Fachgeschichtlich wegweisende Forschungsbeiträge kamen u. a. von JeanLouis Baudry, Reymond Bellour, Laura Mulvey und Christian Metz. 13 Stefan Ripplinger: I can see now. Blindheit im Kino. Berlin 2008, S. 2.
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(2) Die ›dunkle Seite‹ des Wissens, um mit John Locke zu sprechen,14 das Nichtwissen als sein vermeintlicher Schatten, steht in einem intimen Verhältnis zum Problem der Blindheit. Ist also vom Nichtwissen die Rede, ist keine einfache Negation und Abwesenheit des Wissens gemeint, die vom Erkenntnisanspruch des logischen Urteilens her nur als Mangel gedacht werden kann. Ebenso wenig sei es als die Sphäre des lediglich noch nicht gesicherten, aber potentiell möglichen Wissens verstanden. Vielmehr soll Nichtwissen als ›Rest‹ konzeptualisiert werden, der von der Etablierung, Überschreitung und Paradoxierung herrschender Wissensordnungen bleibt und sich nicht in diesen auflöst. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Wiederkehr des aus dem offiziellen Wissen Verdrängten, dessen Ausschluss eine wichtige Funktion für die Instituierung von Wissensordnungen besitzt. Es geht um Leerstellen und Störungen des Wissens, die sein Repräsentationssystem erschüttern und entstellen. Und schließlich geht es um die interdiskursiven Verschleifungen und Friktionen im Spannungsfeld heterogener Wissensbereiche. Erhellt werden so die Konstitutionsregeln und Inszenierungspraktiken des Wissens, die in den von Lynch zitierten Genrekonventionen Ausdruck finden können, und genauso epistemische Grenzen.15 Lynchs Arbeiten lassen sich nach diesem Ver-
14 Vgl. John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. Bd. 2, Buch 3/4. Hamburg 1988, S. 205: »Da unser Wissen [...] ziemlich beschränkt ist, werden wir vielleicht über den jetzigen Zustand unseres Geistes etwas Licht erhalten, wenn wir einmal nach der dunklen Seite blicken und unsere Unwissenheit überschauen. Diese ist nämlich unendlich viel größer als unser Wissen.« 15 Aus einem Regensburger Forschungsprojekt ist ein Sammelband entstanden, der den Begriff des Nichtwissens interdisziplinär diskutiert und die Figurationen des Nichtwissens in Beispielanalysen entfaltet: Achim Geisenhanslüke und Hans Rott (Hg.): Ignoranz. Nichtwissen, Vergessen und Missverstehen in Prozessen kultureller Transformation. Bielefeld 2007; vgl. außerdem Achim Geisenhanslüke: Dummheit und Witz. Poetologie des Nichtwissens. Bielefeld 2011. Der hier im Begriff des Nichtwissens
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ständnis als liminale Archäologie des Verdrängten und Fremden interpretieren, wie es Anne Jerslev treffend formuliert hat: »Lynch zeigt die Auflösung der Grenzen, er zeigt, wie das Verdrängte immer wieder in verzerrter und oftmals destruktiver Form wiederkehrt. [...] Das Lynchsche Oeuvre kann dann einerseits als eine [...] Wissensarchäologie – eine stete Untersuchung und Aufdeckung des Fremden – gesehen werden. Doch andererseits schöpfen die Bilder aus eben dieser Aufdeckungsarbeit nur neue verlockende Bilder und deuten auf eine andere Triebkraft in Lynchs Arbeit: daß der Wunsch nach absolutem Wissen und damit die totale Beherrschung weder 16 möglich noch wünschenswert ist.«
Den Aspekten der Blindheit und des Nichtwissens gehen die Beiträger mit je unterschiedlichen Akzentsetzungen nach, um der Mehrdimensionalität der Leitbegriffe Rechnung zu tragen. Die offene thematische Anlage, die produktive Anschlüsse, Brüche und Widersprüche erzeugt, ist eine bewusste Entscheidung. Da die systematischen Linien durch die Textgrenzen verlaufen und sich immer wieder neu verbinden, was eine sachliche Einteilung erschwert, folgen die Beiträge weitestgehend der Pragmatik einer werkchronologischen Ordnung. Trotzdem fügen sie sich so zusammen, dass sich gerade zwischen den aufeinanderfolgenden Ausführungen, die unten gemeinsam in einem Abschnitt skizziert sind, Berührungspunkte ergeben. Selbstverständlich wären auch andere Gewichtungen möglich gewesen und manche Aspekte bleiben
implizierte Wissensbegriff steht tendenziell und undogmatisch Vogls Konzept der Wissenspoetik nahe, die nicht den Geltungsanspruch propositionaler Gehalte, sondern Strukturen, Herstellung- und Inszenierungsweisen des Wissens auslotet. Vgl. Joseph Vogl: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999, S. 7-16. 16 Jerslev: David Lynch (Anm. 3), S. 34. Jerslev hat daneben die Rolle des Sehens und seiner Grenzen bei Lynch unterstrichen: »Lynchs Filme behandeln das Sehen als dasjenige, das in unserer Kultur die Subjekte bestimmt. Sie handeln aber auch – für einen Filmemacher paradox – von der Begrenzung des Gesichtssinns«. Ebd., S. 45.
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schlicht unberücksichtigt.17 Dass aber unvermeidlich blinde Flecken und Wissenslöcher bleiben, gehört gewissermaßen zum Kalkül des Bandes. Hans Richard Brittnacher eröffnet den Band mit einer kulturwissenschaftlichen Höllenfahrt ins finstere Herz der amerikanischen Nacht. Die Abenteuerreisen der jungen Helden in Blue Velvet und Wild at Heart durch eine Welt aus Gewalt und Perversion entziffert er als Travestien kultureller Mythen und Narrative. In Umkehrung ›konservativer‹ Initiationsschemata verläuft ihr Weg durch die Dunkelheit lediglich als kitschiges Klischee zurück ins Helle, während die Erkundung des Abgrunds nur die eigene Ungeheuerlichkeit zu Tage fördert. Zitatcharakter haben ebenfalls die Gewaltszenen und Verbrecherfiguren bei Lynch. Psychopathische Serienmörder wie Frank Booth oder Bobby Peru entspringen als stilisierte Ikonen der postmodernen Populärkultur, wie der Exkurs zu Joe Colemans ›Odditorium‹, einer durchkomponierten Ausstellung von Killerdevotionalien, und seinen hyperrealistischen Gemälden des Bösen illustriert. Gewalt ist hier nicht mehr eine Frage der Moral, sondern der Rhetorik ihrer attraktiven Inszenierung. Auch Rasmus Overthun folgt einer nichtnormalen Fahrt in den Abgrund, die ganz unmittelbar in die innere Nacht des Subjekts führt. Genau dahin scheint Eraserhead hinabzugleiten, wenn die Kamera anfangs wörtlich in den Kopf des Protagonisten Henry fährt, um in traumatösen Szenarien seine Innenräume auszuleuchten. Ausgehend von Franz Kafkas heimlicher Medientheorie des Kinos und kursorischen Streiflichtern auf die Kinogeschichte der Blindheit begreift er den Film
17 Eine Lücke und vielleicht einen blinden Fleck bedeutet bspw. das Fehlen eines eigenständigen Beitrags zu Dune. In dem Film wird eine ganze Reihe von Figuren, Motiven und Sachaspekten thematisch, die in diesem Band relevant gewesen wären: die Sandwürmer als rätselhaftes Ding und allesverschlingende Kraft im ›Off‹ der kulturellen Ordnung, die Wüste als terra incognita und ›anderer Raum‹, messianisches Schicksalswissen als mystische Wissensform, der Körper als Ort des Geheimnisses und der Entgrenzung, die Inszenierung von Traum- und Innenwelten u. v. a. m.
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als dekonstruktiven Versuch über das filmische Medium und den Diskurs des Subjekts. Die Analyse liefert keinen Deutungsschlüssel, sondern zeigt, dass Eraserhead als Verhandlungsfeld seiner medialen und diskursiven Materialien funktioniert und diese als kulturell kodiertes Bilderrepertoire auf irritierende Art zur Darstellung bringt. Indem Lynch dabei Bedeutungen verschleißt und Blickkonstellationen dekonstituiert, wird die Darstellung unförmlich. Sie endet in einer Apokalypse der Bilder. Mediale und diskursive Praktiken rückt Catherine Sheltons Studie zu The Elephant Man in einen wissensgeschichtlichen Kontext. Sie rekonstruiert einerseits die Zurschaustellung des Monströsen in der teratologischen Wissenschaft und Jahrmarktskultur des 19. Jahrhunderts und andererseits seine Visualisierung im frühen Kino und im Horrorfilm. The Elephant Man wird in diesem Zuge ›lesbar‹ als medienhistorische bzw. ikonographische Reflexion der Ausstellung des Anderen in der Sichtbarkeitsordnung der Moderne. Am Beispiel des ›Elefantenmenschen‹ John Merrick demonstriert Lynch, wie dem monströsen Körper eine ambivalente Position im Feld der Sichtbarkeit und des Wissens zugewiesen wird. Die Blickregime von Bühne und Leinwand präsentieren ihn dem schaulustigen Auge als ein ultimativ Fremdes, das alle Klassifikationen sprengt. Gleichzeitig erscheint er als Diskursobjekt, an dem medizinisches Wissen ermittelt und Normalitätsgrenzen festgeschrieben werden. Die intermedialen Unterschiede zwischen Bühnen- und Leinwandmedium betont demgegenüber Christian Steltz in seiner komparatistischen Annäherung an Wild at Heart. Mit Lynchs Kino der Intuition stellt er Brechts Theater des Intellekts ein alternatives Verfremdungskonzept gegenüber, das den Illusionsbruch mit einer affektiven Erfahrung verknüpft. Zwar gibt sich Wild at Heart dezidiert als ironisches Pastiche des Zauberers von Oz, Hollywoods Gründungserzählung des Traums vom Glück, die Lynch in ein infernalisches Gegenwartsamerika versetzt. Ähnlich sind Figuren wie Sailor und Lula als lächerliche Stereotypen der individuellen Freiheit angelegt. Die entstellte Fiktion lässt sich aber nicht in einen ›intellektuellen‹ Inhalt rückübersetzen, in dem sich die Fremdheit der Darstellung aufhebt.
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Stattdessen verschieben sich die Zeichen des Films mit ihrem popkulturellen Referenzsystem gleitend und entwickeln einen Sogeffekt, auf den sich der Zuschauer wie der Träumer intuitiv einlassen muss. Mark Schmitt stellt die Frage nach dem Gesetz des Genres bei Lynch und geht dem Spiel mit filmischen Wissenssystemen weiter nach. Die für Lynch typische Vermischung von Elementen des Genreund Autorenfilms sieht er in der Strategie begründet, den zwischen Film und Zuschauer geschlossenen ›kommunikativen Kontrakt‹ über genrespezifische Konventionen neu auszuhandeln. Eine Umschrift dieses Vertrags lässt sich an Lynchs Umgang mit dem road movie und seinem politischen Substrat nachweisen. So ist Wild at Heart als Konglomerat aus Genre-Versatzstücken angelegt, das den freiheitsverheißenden Raum der amerikanischen Wildnis als Kinoprodukt demystifiziert und ihm den Zerrspiegel der reaktionären southern gothic vorhält. The Straight Story wiederum setzt gegen den ›lynchian‹ road movie die traditionellen Genregesetze erneut ein – ausgerechnet mit der Rasenmähertour des fast blinden und bewegungsunfähigen Alvin Straight, die freilich durch ein artifizielles Amerika der Fantasie verläuft. Das Wissenssystem von Genreordnungen steht auch im Mittelpunkt von Claudia Liebrands Auseinandersetzung mit der Fernsehserie Twin Peaks. Der hybride Genremix kombiniert eine Vielzahl konventioneller Formate, wie soap opera, Melodram, crime thriller, film noir und mystery series, deren Prätexte und generische Muster Lynch kommentiert und parodistisch aushebelt. Während im Mainstream dieser Genres ein unproblematisches Anwendungswissen um psychoanalytische Tiefenhermeneutik reüssiert, sind die Erkenntnisprozesse in Twin Peaks als Karikatur gestaltet oder laufen ins Leere. Agent Coopers durchaus erfolgreiche Spurensuche im Mordfall Laura Palmer, die mit technischen und spiritistischen Medien, Traumdeutung und obskuren tibetanischen New-Age-Methoden operiert, verliert sich zuletzt im Nichtwissen. Blind vor Liebe folgt Cooper der entführten Annie in die black lodge und wird von dämonischem Wahnsinn infiziert. Den Motivkomplex des Wahnsinns in Twin Peaks historisiert Achim Geisenhanslüke mit einer Lektüre der romantischen Poetik des
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Unheimlichen. Wie schon Freud, liest er E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann als Reflexion über die Grenze zwischen dem Vertrauten und dem Fremden, das auf den Schrecken des Bekannten zurückgeht. Der Wahnsinn als ungeheuerliches Ende des Wissens (»Sinn und Gedanken zerreißend«) wird bei Hoffmann mit der Metapher des Augenverlusts – Strafe für das ödipale Subjekt, das sich verkennt, und für ein verbotenes Sehen – in Verbindung gebracht. Twin Peaks und Lynchs Filme können in dieser Tradition als Versuch begriffen werden, einen Ort der Unbestimmtheit jenseits des Wissens zu öffnen, der sich als Einbruch des Realen in Form von Mord, Inzest und Besessenheit artikuliert. Wenn die Serie mit dem Triumph des Bösen, Coopers diabolischem Gelächter und dem klischierten Bild vom Spiegelstadium des Wahnsinns abbricht, zeigt sich eine von Lynch betriebene Konversion des Erhaben-Unheimlichen und Komischen, die die Romantik travestiert. Eine ›kalte‹ strukturanalytische Wendung gibt Susanne Kaul dem Phänomen der Unbestimmtheitszonen des Wissens bei Lynch. Sie widmet sich dem, was in Lost Highway nicht gezeigt wird und dem Zuschauer fehlt, der ästhetischen Gestaltung solcher Leerstellen und ihrer Funktionalität. Zentrale Ereignisse wie der Mord Fred Madisons an seiner Frau Renee, offenbar der traumatische Kern von Freds PersönlichkeitsMetamorphose, werden der Sichtbarkeit entzogen. Nachgerade methodisch erzeugen die Auslassungen irreduzible Mehrdeutigkeiten und fungieren als Relaisstellen, an denen die Fiktion in die Metafiktionalität springt, um ihre deutungsoffene Konstruiertheit zur Diskussion zu geben. Das audiovisuelle und narrative Design von Lost Highway kommt zudem in der Überrumpelung von Bedeutungen, der Kreation von Atmosphäre und der intensiven Erfahrbarmachung innerer Gefühlszustände zur Funktion. Jean-Pierre Palmier überprüft darauf eingehender das Reich der Gefühle in Lost Highway, Mulholland Dr. und Inland Empire. Auf der Ebene der Figuren und des erzählerischen discours bzw. der Rezeption erläutert er die filmische Affekt-Disposition als vernachlässigten Verständnisfaktor. Logische Unentscheidbarkeiten werden als Bestandteil einer ›Aufrührungsökonomie‹ nachvollziehbar, deren Macht Lynch in
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Mulholland Dr. intradiegetisch vorführt. In der Schlüsselszene im Club Silencio begleitet ein Vorführer die dargebotene Bühnenillusion mit den Worten »It’s all an illusion!«. Trotzdem werden Betty und Rita von ihren Emotionen förmlich durchgeschüttelt und die emotionalisierenden Kräfte der Aufführung nicht eingeschränkt. Das hypnotische Verwirrspiel um Identitäten außerhalb der Szene erscheint kausallogisch stringent als Eifersuchtsdrama zweier Frauen, dessen Facetten vergrößert auf verschiedene Figuren übertragen werden. Mit dem Gefühlswissen des Zuschauers rechnend, kann der Film wegen seiner Fremdheit Wirkung erzielen. Analog betrachtet Hanjo Berressem Inland Empire als ›affektologisches‹ Psychogramm ohne hermeneutische Tiefe, das auf sich verdrehenden Bildoberflächen ein und dieselbe Frau als Triptychon porträtiert: die hypodiegetische Figur Susan Blue, die fiktionale Schauspielerin Nikki Grace, die faktische Person und Schauspielerin Laura Dern. Die integralen kompositorischen Komponenten von Inland Empire sind die Medien des Lichts und des Raums. Der Film spielt das ganze Spektrum der Lumineszenz und der Raumkonstruktion durch, von der undurchdringlichen Dunkelheit bis zum gleißenden Licht, vom euklidischen Imaginationsraum bis zur ›projektiven Fläche‹. Lynchs ›Kino der Blinden‹ und seine Ästhetik der Nacht erreichen so einen Fluchtpunkt in Räumen aus Licht und an der Grenze des Wissens. Die fotochemische Bilderserie des ›nicht zu Ende geborenen Mannes‹ (Eraserhead) führt zum digitalen Portrait of a Lady, die wie einst Henry in Schwierigkeiten steckt. Die Idee und einige der Beiträge des Bandes gehen auf einen Workshop zurück, der im Oktober 2009 an der Universität Regensburg stattgefunden hat. Besonderer Dank gilt denen, die mitgeholfen haben dieses Buch zu realisieren: der Universität Regensburg für die freundliche Übernahme der Druckkosten, dem t ranscript-Verlag für die geduldige Betreuung und reibungslose Abwicklung der Drucklegung und Philipp Bergmann für das gewissenhafte Lektorat der Texte.
Die amerikanische Nacht. Reisen ins Herz der Finsternis bei David Lynch und Joe Coleman H ANS R ICHARD B RITTNACHER
I. N EW AMERICAN G OTHIC Am 29. November 1994 wurde der als Milwaukee-Monster bekannte Massenmörder Jeffrey Dahmer in einem Gefängnis in Wisconsin von einem Mithäftling erschlagen. Dahmer hatte in seiner kriminellen Karriere zwischen 1978 und 1991 mindestens 17 junge Männer gefoltert, erschlagen und teilweise auch verspeist. In der Haft avancierte Dahmer zu dem neben Charles Manson wohl prominentesten Gefangenen der amerikanischen Justizgeschichte, der nahezu täglich Fanpost, Heiratsanträge, Geldspenden und Interviewanfragen erhielt. Comics, Videofilme und Popsongs, die seine Taten schilderten, eroberten den Markt. Das Buch, das Dahmers Vater über seinen Sohn, den Mörder, schrieb, wurde auf Anhieb zum Bestseller. Die Angehörigen der Opfer, die beim Prozess mit den grausamen Details der Geständnisse Dahmers konfrontiert worden waren, hatten eine Art Selbsthilfegruppe gebildet, die sich nach dem Tod Dahmers in eine juristische Interessengemeinschaft verwandelte: vor Gericht verlangten sie die Herausgabe der Hinterlassenschaft des Mörders. Durch
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die Versteigerung einer Knochensäge, eines Drillbohrers und eines Säurebottichs, mit denen Dahmer seine Opfer drangsaliert hatte, und eines Throns, den er sich aus den Knochen seiner Opfer geschnitzt hatte, hofften sie, eine finanzielle Entschädigung für ihre Trauer zu erhalten, da sich mit derlei Requisiten auf dem amerikanischen Markt beträchtliche Preise erzielen lassen.1 Dieser erste Blick auf ein Phänomen, das man New American Gothic nennen könnte,2 ist zumindest unter zwei Aspekten aufschlussreich: 1. Der Serienmörder erobert seit den 70er Jahren in unübersehbarer Symmetrie zur Karriere der Postmoderne die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Seine Faszination verdankt sich dem in der amerikanischen Geschichte und Kultur oft libidinös besetzten Verhältnis zur Gewalt. Zumal die Helden der amerikanischen Populärkultur demonstrieren den Erfolg beständiger Gewaltbereitschaft und die hohe Effizienz brachialer Konfliktlösungen. Das dürfte auch die Popularität der
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Der Anwalt der Hinterbliebenen bezifferte den zu erwartenden Erlös auf mehrere 100 000 Dollar. Informationen zu diesem Vorgang finden sich im SPIEGEL Nr. 49 v. 5.12.1994, S. 166f.; vgl. dazu auch Hans Richard Brittnacher: Die Emanzipation des Bösen. Zum Motiv des Serienmörders. In: Die Horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 204: Von der Menschenjagd und der Emanzipation des Bösen, S. 39-48.
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Rüdiger Imhof macht für solche von ihm wegen des Rückgriffs auf den antiaufklärerischen Impuls der gothic novel »neo-gotisch« genannten Tendenzen in der Gegenwartsliteratur – die sich ohne weiteres auch auf das Kino übertragen lassen – vier Aspekte namhaft: »1. Die Erforschung des Bösen, 2. die Bloßlegung des Tabuisierten, 3. Formen der Gesellschaftskritik und 4. das Porträtieren psychopathischer Protagonisten.« Die Eignung der Kategorie »neo-gotisch« zur Charakterisierung auch des filmischen Universums von David Lynch scheint mir naheliegend. Vgl. Rüdiger Imhof: Neo-gotische Tendenzen im zeitgenössischen Roman. In: Annegret Maack und ders. (Hg.): Radikalität und Mäßigung. Der englische Roman seit 1960. Darmstadt 1993, S. 74-93, hier S. 77.
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großen Verbrecher in der amerikanischen Kultur und Geschichte erklären, ob sie nun Scarface, Dillinger, Al Capone oder Bonny Parker und Clyde Barrow heißen. Aber während man in diesen immer auch Rebellen sehen konnte, gestrauchelte Brüder von James Dean oder Marlon Brando, die auf ihre Weise den amerikanischen Traum von Freiheit und Nonkonformismus lebten, eben nur rücksichtsloser als der Durchschnittsbürger, bedienen die Serienmörder bzw. die von ihnen infizierten Erzählungen und Filme andere Phantasien.3 Nicht nur in der Genreliteratur, etwa in den Kriminalromanen von Andrew Vachss, James Ellroy, David Wiltse oder denen von Thomas Harris, die mit der Figur des Hannibal Lecter – Hannibal the Cannibal – auch die Leinwand eroberten, auch in der von der Kritik als hochwertig eingestuften Literatur, etwa in Bret Easton Ellis’ American Psycho, treibt der Serienmörder sein Unwesen. Kaum noch eine Krimiserie im Fernsehen, die ohne dieses Phantom auskommt, kaum noch zu zählen die Popsongs, die über Serienmörder geschrieben wurden.4 Cornflakes-Packungen, denen früher Sammelbilder von Baseballstars oder von Rennwagen beilagen, liefern mittlerweile auch Killersammelkärtchen. Unter dem Konterfei des Massenmörders verzeichnet eine Legende Lebensweg und Straf-
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Vgl. dazu grundsätzlich Klaus Bartels: Semiotik des Serienmords. In: Frank J. Robertz und Alexandra Thomas (Hg.): Serienmord. Kriminologische und kulturwissenschaftliche Skizzierungen eines ungeheuerlichen Phänomens. München 2004, S. 420-441; Joachim Linder: Der Serienkiller als Kunstproduzent. Zu den populären Repräsentationen multipler Tötungen. In: Serienmord, a.a.O., S. 461-488; vgl. auch Marcus Stiglegger: Der dunkle Souverän. Zur Faszination des allmächtigen Serial Killers im zeitgenössischen Thriller und Horrorfilm. In: Stefan Höltgen und Michael Wetzel (Hg.): Killer/Culture. Serienmord in der populären Kultur. Berlin 2010, S. 61-70.
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Vgl. dazu Ivo Ritzer: Hip to be square. Serienmörder in der Popmusik. In: Killer/Culture (Anm. 3), S. 90-98.
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register. Wer beim Quartettspiel mit der Dahmerkarte trumpfen kann, hat beste Aussichten auf den Sieg.5 Anders als der übliche Mörder, der aus Habgier oder Eifersucht oder Leidenschaft tötet, anders auch als der Auftragskiller, der ohne emotionale Beteiligung einen Vertrag erfüllt, motiviert den Serienmörder ein Geheimnis. Der übliche Zweck des gemeinen Mordes, nämlich einen Lebenden zu Tode zu bringen, tritt dabei oft in den Hintergrund, weil dem Serienmörder das – verzögerte – Sterben des Opfers zur Quelle der Lust wird. Im Serienmörder, der zwar nach einem erkennbaren Schema mordet, aber ohne erkennbares Motiv, ist gewissermaßen der Alptraum der Kontingenz wahr geworden. Daher stellt der Serienmörder auch den auf ein festes Set an Regeln verpflichteten Kriminalroman vor neue Anforderungen: Solange es dort um herkömmliche Verbrecher ging, reichten auch mehr oder weniger herkömmliche, allenfalls etwas intelligentere oder kräftigere Ermittler aus, den Mörder dingfest zu machen. In den neueren Kriminalromanen sind die Ermittler selbst zwielichtige Existenzen, psychisch labile oder traumatisierte Freaks, oder sie müssen sich der Hilfe eines Serienmörders bedienen, um einen anderen Serienmörder zur Strecke zu bringen.6 Die seelische Deformation des Helden oder seines Helfershelfer ist die Voraussetzung, um den Algorithmus, der den mörderischen Attacken des Täters zugrunde liegt, zu ermitteln.7 Während der
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Vgl. FAZ v. 23.11.1994. Das erste ist der Fall etwa in der Lloyd Hopkins-Trilogie von James Ellroy: (Blood on the Moon, 1984; dt.: Blut auf dem Mond. Frankfurt/Main, Berlin 1986; Because the Night, 1984; dt.: In der Tiefe der Nacht. Frankfurt/Main, Berlin 1987; Suicide Hill, 1986; dt.: Hügel der Selbstmörder, Frankfurt/Main, Berlin 1987), das zweite in den beiden ersten Lecter-Romanen von Thomas Harris (Red Dragon, 1981; dt.: Roter Drache, München 1988; The Silence of the Lambs, 1988; dt.: Das Schweigen der Lämmer, München 1990).
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Eine neuere Entwicklung im Genre, die offensichtlich der quälenden psychologischen Spekulationen von Opfer und Täter überdrüssig ist, feiert
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große Verbrecher des früheren Films – von Dr. Caligari und Mabuse über Fu Man Chu bis zum Scarface des Brian de Palma – bei ihren Gewalttaten zielstrebig vorgingen, gewinnt das Morden des neuen Killers eine bislang unbekannte Faszination als Spektakel, in dem sich pathologische Extravaganzen, onirische Kulissen und hysterisches Verhalten zu einer eigentümlichen, ästhetisch überdeterminierten und semantisch unterdeterminierten Performance der Gewalt verbinden. Gestalten wie Frank Booth in David Lynchs Blue Velvet (1986) oder Bobby Peru in Wild at Heart (1990) beziehen ihr besonderes ikonisches Profil aus der gleichzeitigen Stilisierung und Derealisierung der Gewalt. 2. Die Geschichte von Jeffrey Dahmer und der geplanten Versteigerung seiner Utensilien ist noch unter einem weiteren Gesichtspunkt bemerkenswert. Der Wille, die Werkzeuge des Verbrechers als wertvolle Spekulationsobjekte zu betrachten, zeigt die Bereitschaft der Angehörigen der Opfer, die Perspektive des Täters einzunehmen. Mit seinen Augen betrachten auch sie, und sei es auch nur für einen Moment, die Instrumente der Folter. Das Artefakt, zu dem ein Täter, dessen Handeln sich vermeintlich jeder Deutung entzieht, die Knochen seiner Opfer zusammengesetzt hat, erscheint also auch deren Angehörigen, die für sich in Anspruch nehmen, soziale Normativität zu repräsentieren, als ein profitables Objekt. Dass es einen Markt gibt, bei dem unterschiedliche Bieter den Preis für die Trophäen eines Mörders in die
wieder die vermeintlichen hard sciences, die nur noch des Labors und der Leistungen der Forensik bedürfen, um auch die bizarrsten Verbrechen aufzuklären. Zu dieser Tendenz, vgl. Hans Richard Brittnacher: Die Engel der Morgue. Über den Trend zur Forensik im amerikanischen Kriminalroman. In: Bruno Franceschini und Carsten Würmann (Hg.): Verbrechen als Passion. Neue Untersuchungen zum Kriminalgenre. Berlin 2004, S. 101-118; vgl. auch Dorothee Birke, Stella Butter und Marion Gymnich: ›Sprechende Körper‹: Kathy Reichs. In: Vera Nünning (Hg.): Der amerikanische und britische Kriminalroman. Genres – Entwicklungen – Modellinterpretationen. Trier 2008, S. 135-150.
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Höhe treiben, verweist auf ein verbreitetes Bedürfnis an Partizipation an dieser neuen Gewalt.
II. D ER I KONENMALER J OE C OLEMAN
DER
G EWALT :
Zu den Sammlern solcher Trophäen zählt auch der New Yorker Independent-Künstler Joe Coleman.8 Seine Wohnung in der Bronx ist von ihm zu einem Museum umgebaut worden, das er mit einem dem amerikanischen Zirkustycoon P. T. Barnum entlehnten Terminus als Odditorium – abgeleitet von odd, merkwürdig, fremd, verschroben – bezeichnet. Das Odditorium ist ein Kuriositätenkabinett voller dunkler Americana,9 hier findet sich eine lebensgroße Wachsfigur von Richard Speck, der 1966 acht Schwesternschülerinnen als Geiseln genommen hat, die er angeblich der Reihe nach vergewaltigt und anschließend erstochen hat.10 In einem Wohnwagen liegen andere Fetische der gewalt-
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Es ist das Verdienst der Berliner Kunst-Werke und ihrer Kuratorin Susanne Pfeffer, in einer mutigen Ausstellung das Werk des Underground-Artisten unter dem programmatischen Titel Internal Digging in Deutschland vorgestellt zu haben. Vgl. Susanne Pfeffer (Hg.): Joe Coleman. Internal Digging. KW Institute for Contemporary Art, Berlin, Köln 2007.
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Mit diesem Begriff bezeichnet Georg Seeßlen in einem Aufsatz zu David Lynch Gegenstände oder Schilderungen exemplarischer amerikanischer Lebensumstände, die mit Ironie und Nostalgie die zivilisatorische Rückständigkeit des amerikanischen Lebens demonstrieren. Vgl. dazu Georg Seeßlen: Ein postmodernes Welt-Bild aus den USA. David Lynch und das amerikanische Mittelalter. In: Jürgen Felix (Hg.): Die Postmoderne im Kino. Ein Reader. Marburg 2002, S. 212-221.
10 In seinem Geständnis legte Speck darauf Wert, dass er lediglich das letzte seiner Opfer schändete. In der Tat ging er weniger kaltblütig und planvoll
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gesättigten amerikanischen Geschichte herum: die Nachbildung eines Kopfes von Lee Harvey Oswald, der den Präsidenten John F. Kennedy erschossen hat, aber auch die Weste von Jack Ruby, der wiederum Oswald ermordete.11 In dramatisch ausgeleuchteten Reliquienschreinen bewahrt Joe Coleman Dinge auf, die ihm besonders wert sind, darunter eine Locke von Charles Manson, der in einem berüchtigten Blutbad Sharon Tate, die damalige Frau des Regisseurs Roman Polanski, und vier ihrer Freunde tötete, und einen Kondolenzbrief des Mörders John Wayne Gacy, des Killer-Clowns,12 in dem er dem Maler, dessen Werk er bewunderte, sein Beileid zum Tod seiner Mutter ausspricht. In den Vitrinen des Odditoriums finden sich aber auch Autogrammkarten von dem Busenwunder Jayne Mansfield, der amerikanischen Venus, die bei einem Autounfall enthauptet wurde, und Erde aus dem Grab von Hank Wilson, einer Hillbilly-Legende, der sich zu Tode trank. Komplettiert wird die Kuriositätensammlung durch mumifizierte Leichen und anatomische Präparate wie missgebildete Föten in Formaldehyd. Besonders stolz ist Joe Coleman auf einen Brief von Ed Gein, einem nekrophilen Kannibalen, der das Vorbild für Norman Bates aus Hitchcocks Psycho und für den Buffalo Bill aus Thomas Harris’ The Silence of the Lambs abgegeben hat. Die makabre Zusammenstellung seiner Objekte im Odditorium dient für Coleman, der sein Werk in den Dienst der Erinnerung an die von der offiziellen Geschichte Vergessenen stellt – nicht nur der Opfer, auch der Täter –, keinem Voyeurismus, sondern einem kathartischen Zweck: Er bringt die Opfer zum Sprechen und die Zeitgenossen zum Hören: »Es ist, als würden die tragischen Geister draußen im Limbus leiden, wenn sie nicht reden können. Hier [im Od-
vor, als die Legende behauptet, so vergaß er einige seiner Opfer, die sich unter einem Bett versteckt hatten und ihn später identifizieren konnten. 11 Die unklare Motivation Rubys setzt bekanntlich bis heute die unermüdliche Phantasie der Konspirationstheoretiker aller Couleur in Aktion. 12 So genannt, weil er bei Festen in der Nachbarschaft als Clown auftrat, um sich das Vertrauen seiner zukünftigen Opfer – 34 Jungen und junge Männer – zu erschleichen.
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ditorium, HRB] haben die verlorenen Seelen die Möglichkeit, die Menschen anzusprechen.«13 Abbildung 1: Joe Coleman: The Victory of Hell (Ausschnitt)
Quelle: Susanne Pfeffer (Hg.): Joe Coleman. Internal Digging. KW Institute for Contemporary Art. Berlin, Köln 2007, S. 119
In seinen Gemälden, die zum Bereich des lowbrow, einer im Untergrund angesiedelten Bildkultur gehören,14 in denen sich kompositorische Prinzipien der Ikonenmalerei, des art brut und des comic strip verbinden, dokumentiert Coleman die Kehrseite des amerikanischen Traums. In minutiöser Kleinarbeit arbeitet der Künstler oft Jahre an einem einzigen Werk, mit einer Stirnlampe, Juwelierbrille und einem
13 The Pain in Painting. Ein Gespräch zwischen Joe Coleman und Susanne Pfeffer, aufgezeichnet im Odditorium, Brooklyn, NY, April 2007. In: Internal Digging (Anm. 8), S. 150-159, hier S. 154. 14 Vgl. dazu David Woodward: »Fuck off we murder watch out«. In: Internal Digging (Anm. 8), S. 11-27, hier S. 15.
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Einhaar- oder Zweihaarpinsel, um in größter handwerklicher Präzision möglichst viele Details drastisch in seine Bilder zu bringen, die einerseits an eine Cartoon-Zeichnung, andererseits aber auch an die Moritatenbilder auf Jahrmärkten und an mittelalterliche Votivtafeln erinnern. Colemans große Vorbilder sind neben Hieronymus Bosch, James Ensor und Salvador Dalí auch die Lustmordbilder von George Grosz und Otto Dix. »Mord ist das vorherrschende Mittel des historischen Fortschritts« – diesen Satz findet man, rückwärtsgeschrieben, auf einer Bandschleife in Joe Colemans Bild The Victory of Hell (vgl. Abb. 1). Ein anderes Gemälde, As You Look into the Eye of the Cyclops, So the Eye of the Cyclops Looks into You (vgl. Abb. 2), macht offensichtlich, dass Colemans Weltbild exzessive Gewalt als offensichtlich unverzichtbare politische Notwendigkeit und zugleich als anthropologisches Schicksal denkt. Deshalb kann George W. Bush seine Hände segnend über Osama bin Laden, Charles Manson und Timothy McVeigh, der den Bombenanschlag in Oklahoma verübte, halten: Unter der Perspektive eines offenbar libidinösen oder doch eines die Grenzen der Faszination austestenden Verhältnisses zur Gewalt, die nicht nach deren Begründung, sondern nur nach ihrer Phänomenologie fragt, rücken der islamische Chefterrorist, ein Sektenführer im Drogen- und Blutrausch und ein rechtsradikaler Gesinnungstäter aus dem Mittelwesten zusammen. Der Blick auf die apokalyptische Leidenschaft Amerikas lässt sogar den Stachel des Rassismus verschwinden: Neben den Protagonisten aus dem notorischen ›Reich des Bösen‹ finden sich auch der eingangs erwähnte Jeffrey Dahmer, der nur schwarze Jugendliche erschlug, aber auch der freigesprochene O. J. Simpson, der eine weiße Frau ermordete. In seltener Eintracht rahmen sie Hitler ein, der bei Hinterwäldlern in Tennessee und beim Ku-Klux-Klan immer noch wie ein Heiliger verehrt wird; mit von der Partie sind aber auch Die kleinen Strolche15 und die Countrysängerin Dolly Parton, die mit i hrem Hit
15 So der deutsche Name einer von der Gedankenwelt Mark Twains inspirierten Serie über die Abenteuer einer Kindergruppe aus ärmlichen Verhältnissen, die im Original Our Gang hieß (auch bekannt als The Little Rascals
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Stand by Me Weltruhm erlangte, Ed Wood, der König des Trash-Films und schließlich auch Robert Ryan, der ewige Verlierer der Noir-Krimis der 50er-Jahre und zudem der vielleicht berühmteste Denunziant der McCarthy-Ära. Abbildung 2: Joe Coleman: As You Look into the Eye of the Cyclops, So the Eye of the Cyclops Looks into You (Ausschnitt)
Quelle: Susanne Pfeffer (Hg.): Joe Coleman. Internal Digging. KW Institute for Contemporary Art. Berlin, Köln 2007, S. 121
Innerhalb dieser ubiquitären Kultur der Gewalt, des Horrors und des Verfalls nehmen Serienmörder und als psychopathisch geltende Killer einen besonderen Rang ein. Serienmörder sind für Coleman die griechischen Götter von heute,16 die, auch wenn ihr Verhalten unter moralischen Gesichtspunkten verwerflich ist, in der Perspektive des Malers
oder Hal Roach’s Rascals) und sich seit 1927 in der amerikanischen Populärkultur enormer Beliebtheit erfreut. 16 Vgl. dazu: The Pain in Painting (Anm. 13), S. 153.
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eine Art von Heldentum oder einen fast sakralen Status erreichen. Public enemies wie John Dillinger oder die großen Bankräuber gehören für Coleman eher zur Archäologie der Gewalt, in die längst vergangene Ära der Prohibition. In der Postmoderne haben sie ihr einstiges Charisma verloren, jetzt hat der Serienmörder ihren Platz eingenommen. »Der Serienmörder steht […] für den inneren Groll des Lebens an sich, er verkörpert die seltsamen Sehnsüchte, die unsere Kultur belasten. Die Vorstellung zu töten, nur um jemand zu sein.«17 Unter diesen Serienmördern gibt es besonders charismatische Figuren wie Ed Gein, der, so glaubt Coleman, in die dunkelsten Winkel der Psyche taucht, um stellvertretend für uns alle Nekrophilie, Kannibalismus und Transgender-Phänomene zu erforschen: »Er trägt das Fleisch von Frauen, um eine Verbindung zu seiner Mutter herzustellen, und er isst das Fleisch der Menschen, um sich mit ihnen zu verbinden. […] er tut es heimlich, hält seine ganz persönlichen Mitternachtsmessen und verziert seine Wohnung mit den ›Totems‹ für diese dunklen Götter. Genau so leben Schamanen – um für ihren Stamm Dinge zu verkörpern –, und auf diese verrückte Art stand er für die Traumata, die sein Stamm durchlebte.«18 Bewegt weist Coleman im Gespräch mit seiner Kuratorin Susanne Pfeffer auf die Karte, die Albert Fish, einer der exzessivsten Serientäter der amerikanischen Kriminalitätsgeschichte, an die Mutter eines seiner Opfer, eines zwölfjährigen Mädchens, geschickt hat. »Er beschreibt darin detailliert das Rezept, nach dem er das Mädchen zubereitete, und wie er sie aß. Ganz am Ende sagte er: ›[…]. Sie starb als Jungfrau.‹ Das Wort ›Jungfrau‹ ist unterstrichen. Während der Gerichtsversammlung sagte er immer wieder, ›ich habe sie nicht beschmutzt!‹ Für ihn bedeutete sie aufzuschlitzen und zu essen keine Beschmutzung. […] Damit zeigt er auf den ganzen Widerspruch in der katholischen Obsession, dass Sex böse sei, während Gewalt heilig ist.«19 Die Fragen nach der Zurechnungsfähigkeit und Verantwortung
17 Ebd., S. 154. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 156.
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Fishs, die während seines Prozesses intensiv diskutiert wurden, interessieren Coleman nicht – ihm geht es um das Geheimnis eines exzessiven Verhaltens, das mit Begriffen wie ›polymorph-perverse Sexualität‹ zwar als pathologische Anomalie etikettiert, aber keineswegs verstanden werden kann und eher über die Ratlosigkeit der Gutachter Auskunft gibt als einen Blick in den Abgrund der Tat zu gewähren. Abbildung 3: Joe Coleman: A Beautiful Day in the Neighborhood (Ausschnitt)
Quelle: Susanne Pfeffer (Hg.): Joe Coleman. Internal Digging. KW Institute for Contemporary Art. Berlin, Köln 2007, S. 111
Colemans A Beautiful Day in the Neighborhood (vgl. Abb. 3) zeigt eine Szene aus dem amerikanischen Alltag, eine Ghettoszene, in der neben Schwarzen auch die Vertreter des sog. white trash zum Gruppenbild angetreten sind. »Im Universum des Joe Coleman werden namenlose Junkies gemalt, als seien sie Heilige; das Abseitige wird ausgestellt, die Verdrängten und Vergessenen […], die Zeitzeugen einer anderen Geschichte, treffen sich […] und werden zum Spiegel unserer
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selbst.«20 Coleman malt in der ihren Gegenstand heraushebenden, rührend an ihn hingegebenen, ganz von der fast heiligen Liebe zu ihm durchdrungenen Weise des Ikonenmalers, aber seine Ikonen sind die Verstoßenen und Gestrauchelten, Entfesselungskünstler, Elefantenmenschen, Zirkusfreaks und Kindermörder, gezeichnet von Geschwüren, Dreck und Missbildungen. Zu den Galionsfiguren des Leidens gehört für Coleman auch ein Aktionskünstler und Stuntman wie Evel Knievel: »Der größte Schamane unter allen Draufgängern. Sein Werben um die Herrin Tod machte ihn mit 35 Knochenbrüchen und einer Lebertransplantation zu einem wahren amerikanischen HELDEN.«21 Die Leidenden sind, weil sie stellvertretend Leidende sind, für Coleman anbetungswürdig.22 Wie auf den Heiligenbildern des Mittelalters und des Barock, die in ihrem naiven Realismus detailliert von den Foltern erzählen, die Märtyrer wie der Hl. Laurentius vom Rost oder die Hl. Agatha erdulden mussten, oder andere Heilige, die wie der Hl. Rochus oder der Hl. Lotris in einem Pestlager, im Asyl oder unter den vom Aussatz Befallenen Wunder wirken, stehen auch im Zentrum von Colemans Bildern Heilige, aber es sind leidende Psychotiker, Freaks, Junkies auf Entzug, Ausgestoßene und Wehrlose. Für die mittelalterliche Welt war das Leiden der Heiligen Unterpfand eines dereinst besseren Lebens – in der radikal diesseitigen Welt Joe Colemans hingegen beziehen die Heiligen der Moderne ihre Legitimation aus dem Leiden in und an dieser Welt. Colemans Malerei bestätigt wie die Andy Warhols, wenn auch weniger sophisticated, den Abschied von einer Kunst, die sich ihre Bedeutung von ihren Gegenständen erborgt: Die Porträts honoriger Persönlichkeiten, Veduten erhabener Landschaften oder die Arrangements schöner Objekte haben weder in der konzeptuellen
20 Markus Müller: Anthologie der unvermeidlichen Katastrophe namens Leben. In: Internal Digging (Anm. 8), S. 63-68, hier S. 68. 21 Das Zitat findet sich in einer Vignette auf Colemans Gemälde Indian Larry’s Wilde Ride von 2003, der Hommage an einen Motorradfreak und engen Freund Colemans. 22 Müller: Anthologie (Anm. 20), S. 65.
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Kunst Warhols noch in der naiven Malerei Colemans länger ihre Berechtigung. Bei Warhol treten an ihre Stelle die Suppendosen des Alltags, bei Coleman die Gestalten aus der Nachtseite des amerikanischen Traums.23
III. A RT BRUT UND P OSTMODERNE : J OE C OLEMAN UND D AVID L YNCH Ein fast obsessives Interesse am Abgrund und am Verschwiegenen, an dem, was der Mainstream der Kunst in Tateinheit mit Prüderie und gutem Geschmack übersieht, teilt der Maler Joe Coleman mit dem Regisseur David Lynch,24 so sehr sich beide auch hinsichtlich ihres Temperaments, ihrer Verfahrensweisen und ihrer ästhetischen Programmatik unterscheiden mögen. Sie sind die polaren Vertreter einer neuen Ästhetik der Gewalt, die komplementär im Kontrast ihrem Gegenstand, einer unbegreiflichen, aber dennoch und mitunter auch deshalb faszinierenden Gewalt, sozusagen Auge in Auge, entgegentreten. Freilich soll die Analogie nicht überzeichnet werden. Coleman steht der Tradition amerikanischer Volkskunst nahe, seine Bilder versuchen in einem detailsüchtigen, fast trunkenen Realismus verzweifelt, durch das Zusammentragen aller, wirklich aller, Details eine Erklärung des Unerklärlichen zu finden, während Lynch als Vertreter einer highbrow-Ästhetik sich beständig der universellen Medialität seiner Gegenstände bewusst bleibt und in einem elliptischen Verfahren, das apriorisch auf konventionelle Narrationen verzichtet, vor allem den Zeichencharakter der
23 Vgl. ebd., S. 67. 24 Allerdings ist auch Lynch – was seinen Filmen durchaus anzusehen ist – Maler, Skulpteur und Installationskünstler. Eine Auswahl seines weitverzweigten Werks hat unlängst das Max Ernst Museum in Brühl vorgestellt: Werner Spiess (Hg.): David Lynch – Dark Splendor. Raum – Bilder – Klang. Ostfildern 2009.
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Gewalt und die Rhetorik ihrer Inszenierung herausstellt.25 Gemeinsam ist beiden, dass Mörder und Gewalttäter – wohlgemerkt keine eifersüchtigen Ehemänner oder erbgierige Neffen, sondern sadistische Täter, die ihre Opfer demütigen und genießerisch ihre Macht auskosten – nicht länger Objekte einer selbstgerechten Empörung sind, die der moralischen Aufrüstung der Gesellschaft nur zu gelegen kommen, sondern Gegenstand einer besonderen Faszination.26 Diese Überlegung wird im Folgenden unter drei Gesichtspunkten ausdifferenziert: 1. Die Ubiquität der Gewalt, 2. Das Abjekte des menschlichen Körpers, 3. Die Initiation in die Dunkelheit. 1. Colemans Schmerzensmänner stellen auf den Straßen der Bronx offen zur Schau, was David Lynch in Blue Velvet auch an Lumberton fasziniert, jene Kehrseite einer vorgeblich heilen Welt – die in Wahr-
25 Charakteristisch für Lynchs genuin ästhetisches Interesse an der Gewalt ist eine von ihm gestandene Tierquälerei: »Einmal habe ich eine Maus mit Enthaarungscreme komplett enthaart, weil ich wissen wollte, wie es aussieht – es sah wunderschön aus.« Andreas Platthaus nimmt diese Anekdote als poetologischen Fingerzeig für die Ästhetik Lynchs: Was dieser der Maus angetan habe, tut der Film Lynchs seinen Bildern an. »Sie sind der Oberfläche entkleidet – oder besser: dessen, was wir als Oberfläche zu sehen gewohnt sind. Lynch reduziert sie auf ihre Essenz, er rückt den Bildern auf die Haut, um darunterschauen zu können.« Andreas Platthaus: Der Herr des Binnenreichs. Sieben Irrwege in Hinterland und Unterwelt von David Lynch. In: Dark Splendor (Anm. 24), S. 269-284, hier S. 272. 26 Diese ostentative Faszination ist oft als Affirmation der Gewalt (miss)verstanden worden. Dass sie gelegentlich – etwa wenn in Blue Velvet mit der Ermordung von Frank eine Bedrohung friedlichen Lebens in Lumberton beseitigt wird oder wenn sich Sailor in Wild at Heart mit exzessiver Gewalt gegen die von Marietta gedungenen Killer zur Wehr setzt – als Lösungsstrategie ausgegeben wird, deutet Petra Grimm als Bekenntnis zu einer konservativen Grundeinstellung Lynchs. Vgl. Petra Grimm: Erzählstrategien der Gewalt und Sieg der Konvention. In: Eckhard Pabst (Hg.): »A Strange World«. Das Universum des David Lynch. Kiel 1998, S. 113-122.
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heit, wie die jugendlichen Helden Lynchs, Jeffrey Baumont (Kyle MacLachlan) in Blue Velvet oder Lula Pace (Laura Dern) in Wild at Heart nicht müde werden zu sagen, eine fremde, dunkle Welt ist: »The world’s wild at heart and weird on top«, resümiert Lula das Faszinosum der geheimnisvollen Gewalt. Colemans Kosmos ist bevölkert von degenerierten Hillbillies, pädophilen Priestern, Junkies, von Gewalt besessenen Teenagern und tätowierten Schlägern. Im Hintergrund von A Beautiful Day in the Neighborhood untersuchen rassistische Polizisten auf demütigende Weise einen Schwarzen (vgl. Abb. 3), unbeachtet liegt das Opfer eines Lustmordes, dem Kopf und Brüste abgeschnitten wurden – eine deutliche Reverenz an George Grosz’ Lustmordgemälde John, der Frauenmörder –, auf dem Boden. Die Gewalt in Lynchs Filmen ist weniger plebejisch, aber gleichermaßen sadistisch; Frank Booth in Blue Velvet entführt einen kleinen Jungen und tötet seinen Vater, um die solcherart terrorisierte Frau zum Geschlechtsverkehr zu zwingen.27 Die ubiquitäre Gewalt des amerikanischen Lebens, der man nicht entkommen kann, strapaziert gelegentlich auch in Lynchs Filmen die Langmut seines an sich eher gewaltaffinen Personals. »It’s night of the livin’ fucking dead« – mit dieser Anspielung an Georg Romeros Zombiefilm bringt Lula in Wild at Heart ihre Verzweiflung zum Ausdruck, als sie vergeblich während der Autofahrt am Knopf des Radios dreht, um einen Musiksender zu finden, aber nur Berichte über Mord, Totschlag und Perversion über den Äther kommen. Als sie dann endlich einen Radiosender mit Rockmusik findet, ist es die Gruppe Powermad, und Sailor Ripley und Lula tanzen selbstvergessen zu den Klängen eines Songs namens Slaughterhouse, was kein Zufall sein kann. Die trostlosen Gegenden, durch die Sailor (Nicolas Cage) und
27 Dass der Mörder und Vergewaltiger dabei zum Kind wird, der von der von ihm genötigten Frau ein ›Mami hat dich lieb‹ hören will, gehört wiederum zu den skurrilen Ambivalenzen, mit denen Lynch seine kinematographischen Gewaltakte durchsetzt. Vgl. dazu Werner Barg: Hinter dem roten Vorhang. Notizen zum Kino der Grausamkeit in den Filmen David Lynchs. In: »A Strange World« (Anm. 26), S. 250-261.
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Lula fahren, ähneln den Landschaften in Romeros Zombiefilm, sind hier wie da bevölkert von seelenlosen und instinktgesteuerten Triebmenschen. »In diesem Sinn werden die brutalen Schlägereien, die Bosheiten der Verbrecher, die abgerissenen Körperglieder und die pervertierte Sexualität, in der Totschlag einem Orgasmus gleichkommt, zu notwendigen Elementen der Beschreibung einer auf einen Horrorfilm reduziert scheinenden Kultur.«28 Auch Lynchs Blick auf Amerika konfrontiert den Zuschauer wie die Bilder Colemans mit »Wahnsinnigen, Mördern und Sadisten […] Wir sind in der wahren Welt von Dick Tracey, in der nur Dick Tracey selbst gelogen ist.«29 Die extreme Gewalt in Wild at Heart, die das Festivalpublikum in Cannes 1990 bei der Uraufführung des Films so sehr verstörte, entsprach dem Klima im damaligen Los Angeles, das sich kurz nach dem Start des Films in gewalttätigen Rassenunruhen entladen sollte.30 So wie Coleman sich als Chronist des Untergangs versteht, dokumentieren auch die Filme Lynchs, wenngleich beiläufiger und zynischer als die vor Empörung geradezu vibrierenden Bilder des Malers, die Folgen eines bewusstlosen Umgangs mit den natürlichen Ressourcen. Lula beklagt in Wild at Heart das Ozonloch, durch das die Sonne wie ein Röntgenstrahl ein Loch in die Erde brennt.31 Zivilisationskritische Aspekte und ihre intermedialen Bezüge sind auch unübersehbar, wenn Lynch in Wild at Heart wie in Godards Weekend (1967) oder in David Cronenbergs Crash (1996) nach J. G. Ballards gleichnamigem Roman von 1973 den Autounfall als Menetekel einer Zivilisation inszeniert, die an ihren Fetischen zugrunde geht.
28 Anne Jerslev: David Lynch. Mentale Landschaften. Wien 1991, S. 46. 29 Georg Seeßlen: David Lynch und seine Filme. Marburg 2007, S. 109. 30 Vgl. dazu das Interview, das Chris Rodley mit Lynch führte: Chris Rodley (Hg.): Lynch über Lynch. Frankfurt/Main 2006, S. 277. 31 Vgl. dazu Andreas Thomas: Wild at Heart. http://www.filmzentrale.com/ rezis/wildatheart.htm (18. April 2012).
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Abbildung 4: Joe Coleman: Ed Gein
Quelle: Susanne Pfeffer (Hg.): Joe Coleman. Internal Digging. KW Institute for Contemporary Art. Berlin, Köln 2007, S. 57
Beide Künstler inszenieren die Gewalt in einer Manier, die an Beschwörung grenzt: Coleman orientiert sich an der Ikonenmalerei, um im fast magischen Zentrum seiner Bilder den Mörder als den Heiligen der letzten Tage, einen Parakleten des Untergangs, umgeben von einer roten Aura, leuchten zu lassen (vgl. Abb. 4): Die Geschichten und Vignetten um ihn herum bilden das Evangeliar einer modernen Apokalypse, erzählen von den Morden und Gräueln des erlösenden Mörders wie einst die Heiligenlegenden von Wundern und Wohltaten. Auch Lynch zeigt sich fasziniert vom Extremismus der Gewalt, teilt aber als abgebrühter Postmoderner nicht Colemans Vertrauen in ihre soteriolo-
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gische Dimension, sondern sieht vor allem ihre ästhetische Verfassung: »Just the words ›dark secret‹ are so beautiful.«32 Lynchs Mörder, Frank Booth oder Bobby Peru, sind nicht minder psychopathisch und bizarr als die Colemans, scheinen dem amerikanischen Alptraum geradezu aus der Seele geschnitten zu sein, aber bleiben in ihrer zeichenhaften Unbegreiflichkeit zutiefst verstörend. Zu ihrer Bizarrerie trägt die Maskierung bei, etwa wenn der hysterische Frank aus einer Asthmamaske eine Droge inhaliert, was nicht nur sein Gesicht entstellt, sondern auch seine Stimme alteriert (vgl. Abb. 5).33 Auch das ohnehin schon deformierte Gesicht Bobby Perus wird unter der Strumpfmaske ins Monströse entstellt (vgl. Abb. 6).34 Lynch profitiert hier von einem sonderbaren Phänomen der Maske: Indem sie ihrem Träger erlaubt, sich als einen anderen zu geben, löscht sie seine Identität aus und gleicht ihn zugleich den anderen Maskenträgern an; auf einer subkutanen Ebene erscheint die Maske dem Unmaskierten als Hülle, hinter der er sich selbst zu entdecken befürchten muss: eine Angst, die sich im Film durchaus noch bestätigen wird (vgl. 3.).
32 Zit. nach Paul A. Woods: Weirdsville, USA. The Obsessive Universe of David Lynch. London 1997, S. 95. Vgl. dazu auch Thomas W. Gaehtgens: Schönheit und Schaudern in der Kunst von David Lynch. In: Dark Splendor (Anm. 24), S. 69-82. 33 Nicht auszuschließen, dass Thomas Harris’ Idee, seinen beißwütigen Kannibalen Hannibal Lecter eine Baseballmaske anzulegen, durch Lynchs Darstellung des wahnsinnigen Frank mit seiner Asthmamaske inspiriert wurde. 34 Im Unterschied zum konventionellen Horrorfilm behaupten die Masken innerhalb der Filmrealität nicht die Metamorphose ihrer Figuren, sondern gewinnen ihre beängstigende Wirkung gerade dadurch, dass sie dem Zuschauer als Maske bewusst bleiben. Vgl. dazu Ulrich Baehr: »Dealing with the human form.« Deformation als ambigue Zeichen künstlerischer Freiheit und zerstörerischer Macht. In: »A Strange World« (Anm. 26), S. 183-196, hier S. 195.
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Abbildung 5: Dennis Hopper als Frank Booth in Blue Velvet
Quelle: Blue Velvet (1986). Regie: David Lynch. DVD. MGM Home Entertainment 2009
Abbildung 6: Willem Dafoe als Bobby Peru in Wild at Heart
Quelle: Wild at Heart (1990). Regie: David Lynch. DVD. Universal 2003
2. Noch in einer weiteren Hinsicht stehen David Lynch und Joe Coleman sich nahe, was sich im Titel eines Gemäldes von Coleman, I Am Joe’s Fear of Disease, andeutet: Es ist das Misstrauen gegen den eigenen Körper als ein Behältnis des Abjekten, einer Welt in schleimiger Auflösung, ekelerregender, molluskenhafter, wulstiger und glitschiger
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Gebilde, die von einer schönen, aber dünnen Haut umhüllt sind, durch die sie langsam nach außen gleiten, oder, wird die Haut verletzt, in einer Art Gegengeburt hervorquellen. Für Žižek erinnern die Leiber in den Filmen Lynchs an das Kinder-Phantasma von menschlichen Körpern als Ballons, die gelegentlich zerplatzen. Auffällig ist der hohe Ekelkoeffizient in Lynchs Filmen, die Faszination an feuchten und klebrigen Objekten. In Dune (1984) beobachtet die Kamera mit einer fast schon dermatologischen Obsession, wie die Flüssigkeiten, die hinter der dünnen Membran der Haut fließen, aus den eitrigen Pusteln der Bewohner des Wüstenplaneten heraussickern (vgl. Abb. 7). Ein besonderes Faible hat Lynch offensichtlich für die aus klaffenden Kopfwunden austretenden Gehirnmassen,35 man denke an den korrupten Detektiv Gordon in Blue Velvet oder an den Schädel des von Sailor erschlagenen Bob Roy Lemon in Wild at Heart: »Um den größtmöglichen Realismus zu erreichen, ließ Lynch seine Maskenbildner für diese Szene das Gehirn eines Tieres besorgen.«36 Ein weiteres Beispiel des Abjekten sind die fauligen Zahnstümpfe von Bobby Peru (Willem Dafoe), dem schwarzen Engel, dem perfekten Abbild der zur Entstehungszeit des Films und vielleicht auch heute noch schwärenden Wunde Vietnam. Das Feuchte und Faulige ist bei Lynch wie bei Coleman eine Metapher für eine Bedrohung, die aus einem Körper kommt, der seinem Besitzer fremd ist.37 Für Coleman ist das Körperinnere, die elende Kreatürlichkeit des Menschen, das Unheimliche schlechthin (vgl. Abb. 8). Im Körper, dem fremden Inneren, stoßen »Paraphilien und die patho-
35 Lynchs Faible für die Defiguration der Physis, namentlich für das Schicksal, das menschliche Köpfe unter dem Einfluss physischer Gewalt erleiden können, teilt sich auch auf Lynchs Bildern mit. Vgl. dazu Stefanie Diekmann: Die korrodierten Oberflächen – über David Lynchs Fotographien und Prints. In: Dark Splendor (Anm. 24), S. 203-268, hier v.a. S. 205. 36 Robert Fischer: David Lynch. Die dunkle Seite der Seele. München 1992, S. 196. 37 Slavoj Žižek: Die Metastasen des Genießens. Sechs erotisch-politische Versuche. Wien 1996, S. 98.
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logischen Parasiten«38 ihr nekrotisches Blut in das Labyrinth des menschlichen Körperinneren aus. »He put his disease in me«, sagt auch die splitternackt auf die Straße wankende Dorothy (Isabella Rossellini) in Blue Velvet, die nach einer nicht eben galanten Beobachtung Žižeks wie eine »gestrandete Krake« wirke. Selten hat man das Ergebnis der Liebesvereinigung mit solchem triumphalen Ekel aussprechen hören wie aus dem Munde der Nachtklubsängerin, die zuvor noch so verheißungsvoll Bobby Vintons Song Blue Velvet ins Mikrophon gehaucht hat.39 Die Konzentration auf die exzessive Gewalt in Lynchs Filmen und Colemans Bildern lässt sich daher möglicherweise als Versuch entschlüsseln, mit einer Grammatik explosiver äußerer Gewalt das noch weit bedrohlichere innere Chaos zu überspielen oder gar zu beherrschen.
38 Das Zitat findet sich auf dem gemalten Rahmen des Bildes. 39 Zur Metaphorik des ›blue‹ und zum Zusammenhang von Blue Velvet und ›blue movie‹, also dem amerikanischen Synonym für pornographische Filme, vgl. Charles Martig: Lynchville. Selbstbezüglichkeit und Irrealisierung im Werk von David Lynch. In: Charles Martig und Leo Karrer (Hg.): Traumwelten. Der filmische Blick nach innen. Marburg 2003, S. 149-168, hier S. 151ff.
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Abbildung 7: Filmstill aus Dune
Quelle: Werner Spiess (Hg.): David Lynch – Dark Splendor. Raum – Bilder – Klang. Ostfildern 2009, S. 311
Abbildung 8: Joe Coleman: A Beautiful Day in the Neighborhood (Ausschnitt)
Quelle: Susanne Pfeffer (Hg.): Joe Coleman. Internal Digging. KW Institute for Contemporary Art. Berlin, Köln 2007, S. 111
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3. Wegen ihres Zugeständnisses an die Kontingenz einer Gewalt, die eben auch eine Absage an die Paradigmen des Verstehens, der sozialen Verwaltung, der Betreuung und Therapie oder der politischen Kontrollierbarkeit einschließen, können beide Künstler auch nicht länger dem dominierenden Schema folgen, das zuletzt doch die Integration des Einzelnen in die Gesellschaft beschreibt. Diesem integrativen Zug diente in der amerikanischen Kultur stärker als in der europäischen das Modell der Initiation:40 Romane oder Filme schicken ihre Schützlinge auf eine abenteuerliche Reise durch die Gefahren der Welt, lassen sie Bewährungsproben bestehen, ein besonderes Wissen erwerben und führen sie zuletzt aus der Finsternis heraus wieder ins Licht. Ein solches Initiationsschema als mystische Reise des Adepten zu einer besonderen Wahrheit lässt sich auch noch bei Coleman und Lynch erkennen, allerdings bleiben ihre Helden und Antihelden in der Finsternis gebannt. Blue Velvet beispielsweise erinnert mehr als nur beiläufig an das coming of age-Schema. »Der Film handelt von einem jungen Mann, der eine Reise zu sich selbst antritt und dabei Furcht, das Böse und nicht zuletzt seine eigenen dunkeln Seiten kennenlernt« – so Anne Jerslev in ihrer Lynch-Monographie.41 Was auf solchen Reisen zu erwarten ist, zeigt bereits die berühmte Eingangssequenz des Films, die Fahrt in das Ohrinnere und in das Geräuschinferno fressender, schmat-
40 In der europäischen Literatur herrscht demgegenüber das Muster des Entwicklungsromans und speziell in der deutschen Literatur das Schema des Bildungsromans vor; beide Traditionen sind dem Gedanken der Sozialisation verpflichtet, also dem Prozess eines linear und progressiv voranschreitenden, allmählichen Erwerbs von Reife, während das Initiationsschema den tendenziell abrupten Wechsel von Lebensphasen akzentuiert; vgl. dazu Peter Freese: Die Initiationsreise. Studien zum jugendlichen Helden im modernen amerikanischen Roman. Neumünster 1971; vgl. auch Matthias Hurst: Tod und Wiedergeburt. Literarische Formen der Initiation und der Individuation. In: Wirkendes Wort 2 (2002), S. 257-275. 41 Jerslev, Mentale Landschaften (Anm. 28), S. 127.
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zender, sich bekämpfender Käfer. Dieses Ohr, so hat Lynch selbst es gesagt, ist »ein Eingang: Es steht offen, man kann eindringen und gelangt in fremde Gefilde.«42 Lynchs Kamerafahrten führen unter die Oberfläche – und unter der Oberfläche Lumbertons bzw. hinter seinen Kitschpostkartenansichten, denen Jeff Koons seine Bonbonfarben geliehen zu haben scheint, finden wir nicht die Kleinstadtidylle der Eisenhower-Ära, sondern die Welt eines sadomasochistischen Deliriums, in dem sich der Held, auf der Suche nach der Herkunft des abgetrennten Ohrs, verliert. Jerslev hat in ihrer Untersuchung darauf hingewiesen, wie durchgängig die Initiationsemblematik des Films ist: »Die Personen im Film klopfen an und treten durch unzählige Türen. Die Einstellung der Einleitungssequenz, in der eine Gruppe von Kindern über den Fußgängerübergang gelotst werden, symbolisiert nicht nur eine Ordnung, sondern entspricht […] der Bewegung zwischen zwei festen Punkten.«43 Nicht zufällig endet Blue Velvet damit, dass die zu Beginn ins Ohrinnere eingedrungene Kamera sich wieder aus dem Ohr herausschraubt und auf eine Familienidylle zoomt, deren Falschheit mittlerweile so offenbar geworden ist, dass die Kamera sich die farbliche Denunziation durch grelle Farben wie in der Eingangssequenz ersparen kann. Trotz der Warnung seiner Tante, nicht nach Lincoln zu gehen, hat Jeffrey die Wohnung der mysteriösen Nachtklubsängerin Dorothy Vallens aufgesucht, eine in merkwürdigen Rot- und Brauntönen gehaltene Höhle mit roten Samtvorhängen, in der Jeffrey, verborgen im Schrank – wie der Initiand eines Rituals in der Buschhütte – die geheimnisvolle Dorothy belauert. Hier muss er sich nicht nur seiner eigenen passiven
42 Lynch über Lynch (Anm. 30), S. 181. 43 Jerslev, Mentale Landschaften (Anm. 28), S. 138. Die Eingangssequenzen bei Lynch liefern fast immer die Metonymie des weiteren Verlaufs: Hier werden Kinder von einer Führerfigur geleitet, in Wild at Heart ist es das aufflammende Streichholz in Großaufnahme, das die pyromane Leitmotivik des Films vorwegnimmt. Vgl. dazu auch: Lynch über Lynch (Anm. 30), S. 265f.
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voyeuristischen Lust stellen, denn als Voyeur ertappt und mit erhobenem Messer zur Sexualität gezwungen, wird er auch genötigt, seine Bereitschaft zur Gewaltausübung zwecks Luststeigerung anzuerkennen. Wenn dann Dennis Hopper als der irre Frank Booth die Szene betritt – Booth ist übrigens der Name des Mörders von Abraham Lincoln, der wiederum dem Stadtviertel, in dem Dorothy wohnt, seinen Namen geliehen hat –, kommt es gewissermaßen zu einer geschlechtsrollenvertauschten remise en scène dessen, was Jeffrey gerade selbst erlebte: Der hysterisch mit Kraftausdrücken schreiende Frank, in seiner unartikulierten, verletzenden Vulgarität der Inbegriff einer amorphmonströsen Energie, die reine Verkörperung eines Begehrens, vor dem jede artikulierte Sprache kapitulieren muss,44 will abwechselnd »daddy« und »baby« sein, wirft sich auf Dorothy, schnippelt mit einer Schere über ihrem Schoß, schreit »baby wants to fuck« und »baby wants blue velvet«, worauf Dorothy ihm den Gürtel ihres blauen Bademantels wie eine Nabelschnur in den Mund steckt. Kurz vor dem Abschluss des Unternehmens stößt Frank dann noch den regressiven Stoßseufzer aus: »Daddy’s coming home.« Dorothy hat ihre Erniedrigung durchaus genossen, sich unter dem konvulsivisch zuckenden Körper ihres Peinigers auch selbst lust- und schmerzvoll gewunden. Der zufriedengestellte Frank kann, am Ziel seiner Wünsche, konstatieren, dass er das Nirwana der Regression erreicht hat: »Now it’s dark«. Wenn Jeffrey wenig später seine Freundin Sandy (Laura Dern) fragt, warum es Leute wie Frank gebe – »Why is there so much trouble in the world« – zeigt er, dass er die Lektion seines Initiationserlebnisses nicht begriffen hat. Denn beide, der scheinbar so keusche Jeffrey und der so offensichtlich perverse Frank, sind aus dem gleichen Holz
44 Nach einer eher amüsanten als richtigen Beobachtung von Bill und Diane Routt leidet Frank am Tourette-Syndrom, dessen Symptome durch das Inhalieren der Drogen noch verstärkt werden. Bill Routt und Diane Routt: Blue Velvet. In: Cinema Papers 62 (1987), S. 51; vgl. dazu Helga Beckmann: Der Körper: Kontrolle und Kontrollverlust. In: »A Strange World« (Anm. 26), S. 142-158, hier S. 153.
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geschnitzt: Frank küsst Jeffrey, sein alter ego, als dieser erwartet, von ihm erschossen zu werden; er steckt ihm, bevor er ihn niederschlägt, einen Fetzen des blauen Morgenmantels in den Mund, an dem er selbst wie an der Mutterbrust genuckelt hat; wenn sich am Ende die beiden wie zu Beginn gegenüberstehen, aber Jeffrey in einer Umverteilung der Machtpositionen seinen Widersacher Frank erschießt, ertönt aus dem Kassettenrecorder: »In dreams I live with you«. Frank und Jeffrey haben ihre Positionen nur deshalb so problemlos tauschen können, weil sie einander so ähnlich sind. Hinter der Maske von Frank verbirgt sich, was auch in Jeffrey jederzeit auf seinen Ausbruch lauert. Die Art und Weise, wie Lynch das Böse in seinem Film in Szene setzt, erinnert an die evokative Geste und huldigende Beschwörung der Mörder in der Malweise Colemans, etwa in der Darstellung Ed Geins, des Mörders aller Mörder, des nekrophilen Schamanen und Massenmörders (vgl. Abb. 4). Coleman hat ausgeführt, wie er auf seinen Bildern und mit seinen Bildern eine Art Selbsterkundung betreibt, indem er sich von den Rändern aus in die Mitte vorarbeitet. Wenn er – oft nach monatelanger Arbeit und Recherche – schließlich im ikonischen Zentrum in der Mitte ankommt, trägt der Psychopath oder Junkie, den er dort als anbetungswürdige Ikone in leuchtender Farbe malt, Züge seines eigenen Ich: »Obwohl ich mir den Rand zuerst aussuche, wird es, bis ich zur Mitte komme, immer ein Selbstporträt. Da schließt sich der Kreis. Obwohl ich am Anfang fremdele und mir nicht sicher bin, ob ich den Typen kenne oder nicht – bis ich ans Ende komme, kenne ich ihn, denn er ist ich. Er wird ich, und ich werde er.«45 Frank Booth, der sadistische Killer, ist wie Colemans Serienmörder ein dunkler Schamane, eine fast heilige Figur, die den Helden auf einer Reise ins Innere einer dunklen Welt begleitet, wo sich der Adept zum Schluss seinem eigenen Spiegelbild gegenübersieht. Auch Bobby Peru in Wild at Heart ist ein solcher mystischer Führer, ein ›dunkler Engel‹, und als solcher aber auch das in seiner Hässlichkeit zur Kenntlichkeit entstellte Abbild von Sailor, der den zu einem ehrbaren Leben Entschlossenen
45 The Pain in Painting (Anm. 13), S. 153.
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mühelos wieder zur kriminellen Tat verleiten kann und der andererseits als Sailors alter ego die von diesem scheinbar so romantisch geliebte Lula mit der abgründigen Seite des Eros vertraut machen kann. So wie im Labyrinth des Daedalos der Minotauros, das Mischwesen aus Mensch und Tier, auf den Helden wartet, so finden Jeffrey Beaumont und Sailor Ripley und Lula Pace am Ende seiner Reise in die Finsternis wie Joe Coleman am Ende seiner Selbsterkundung das Ungeheuer, das sie selbst sind. Während Blue Velvet den Zuschauer buchstäblich ins Innere seines Protagonisten führt, ist Wild at Heart vordergründig ein veritables Road-Movie. Aber während Jeffrey und Sandy in Blue Velvet aus der friedlichen Normalität in ein kriminelles Außenseitermilieu geraten, sind Sailor und Lula eher nonkonformistische Helden, die sich gegen eine Normalität zu behaupten haben, die korrupt und mit der Mafia verquickt ist. Die Rolle des psychotischen Frank ist hier auf mehrere Figuren verteilt, auf die hysterische Marietta, ihren Liebhaber, den Mafiaboss Santos, auf den kriminellen Vietnamveteranen Bobby Peru und die sadistische Perdita Durango. Der Amoral dieser Gestalten entsprechen die Deformationen in ihrem Erscheinungsbild und ihrem Verhalten: Die Züge der alkoholisierten und grell geschminkten Marietta verzerren sich bei ihren hysterischen Anfällen, Tränen verwischen die Schminke; die Augenbrauen Perdita Durangos sind zusammengewachsen, die Folterung von Johnny Ferragut erlebt sie als sexuelle Stimulation; das Gebiss Bobby Perus ist schadhaft usf.46 Die episodische Reise von Sailor und Lula, die beide vom Ort des Unheils, Cape Fear, nach einem historisch und literarisch beglaubigten Muster nach Kalifornien,47 ins amerikanische Traumland schlechthin, führen soll, lässt sie schließlich in einem 600-Seelen-Kaff in Texas,
46 Vgl. dazu Helga Beckmann, Der Körper (Anm. 44), S. 153ff. 47 Man denke etwa an John Steinbecks 1939 veröffentlichten Roman The Grapes of Wrath (dt.: Früchte des Zorns) oder an Luis Trenkers Film Der Kaiser von Kalifornien von 1936.
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Big Tuna, stranden.48 Im Subtext ist der Film, der vordergründig einem Kriminalroman von Barry Gifford folgt,49 eine Auseinandersetzung mit einem Text der amerikanischen Populär-Kultur, der in seiner Prägekraft gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, nämlich mit L. Frank Baums Roman The Wonderful Wizard of Oz (1900), bzw. seiner Verfilmung als Musical durch Victor Fleming mit Judy Garland (1939).50 Das Sehnsuchtsland, das Dorothy in ihrem berühmten Lied »somewhere over the rainbow« zu finden hofft, erweist sich hier jedoch als Alptraum, in dem die beiden in den Abgrund ihres Seelenlebens blicken. Als Lula entdecken muss, dass ihr Körper nicht ihr gehorcht, sondern der boshaft vorgetäuschten Erregung Bobby Perus, so wie Jeffrey seinen Körper in Blue Velvet der dämonischen Dorothy überlassen musste, müsste sie endgültig ihre Naivität verlieren – wenn nicht zugleich der Film deutlich machte, dass sie in ihrer medialen Verfasstheit, als Zitat Dorothys und Marylin Monroes, ein postmodernes Rätsel ist. Wie im Zauberer von Oz müssen auch die Protagonisten von Wild at Heart wegziehen, um nach Hause kommen zu können. Weil sie, in der Fremde endlich zu Hause angekommen, die Wahrheit über sich selbst entdecken, kann der positive Zauber, der im Wizard of Oz noch wirksam war, nicht länger funktionieren. Dorothy muss nur die Absätze ihrer roten Schuhe dreimal zusammenschlagen und sagen »There’s
48 Zu dem mit dem Roadmovie eng verbundenen Topos des Gangsterpärchens auf der Flucht vgl. Norbert Grob: Lovers on the Run. Gangsterpärchen. In: Ders. und Thomas Klein (Hg.): Road Movies. Mainz 2006, S. 67-89. 49 Gifford hat eine ganze Serie von Romanen über Sailor und Lula und auch über Perdita Durango geschrieben. 50 »Wo es in Twin Peaks noch Spaß macht, nach versteckten oder gar unbewussten Bezügen und Zitaten zu suchen, wird man in Wild at Heart mit Anspielungen auf The Wizard of Oz, das Road Movie unter den Märchenfilmen, förmlich erschlagen.« Fischer, Die dunkle Seite der Seele (Anm. 36), S. 199.
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no place like home«, und schon bringt der Zauber sie an den Ort ihrer Sehnsucht; Lula versucht nach der verbalen Vergewaltigung durch Bobby Peru den Zauber Dorothys anzuwenden, aber sie muss in Big Tuna bleiben, weil sie hier, im Abgrund, bereits zu Hause ist. Als unmissverständlicher Spott auf das integrative Schema, das nichts als Zeichen ist, nur noch die mediale Inszenierung einer Sehnsucht, ist das Ende von Wild at Heart zu deuten, wenn dem zusammengeschlagenen Sailor die gütige Fee erscheint, bei der es sich um niemand anderen handelt als um »Laura Palmer, bzw. deren Darstellerin Sheryl Lee, die sozusagen in einem Gastauftritt direkt aus dem Himmel daran erinnert, dass Lynch kurz zuvor die erste Staffel von Twin Peaks abgedreht hatte.«51 Es ist wohl ein Fall onomastischer Ironie, dass der Regisseur David Lynch, dessen Filme zuverlässig wegen ihrer Dupierungsstrategie, die Idylle in Inferno, Unschuld in Sadismus umschlagen lässt, in seinem Nachnamen an jenen Richter aus den Pioniertagen Amerikas erinnert, der wie kein zweiter das Janusgesicht Amerikas, das Nebeneinander von Unschuld und Gewalt, verkörpert. Zimelien, die an den Richter Lynch erinnern, hätten auch in Colemans Odditorium ihren Platz.
51 Andreas Thomas: Wild at Heart (Anm. 31).
Unförmliche Texturen oder: Der leere Blick. David Lynchs Eraserhead R ASMUS O VERTHUN
David Lynchs Filme entwerfen eine kinematografische Ästhetik der Nacht. Im Fall von Eraserhead beginnt die Nacht ganz buchstäblich bereits mit den Voraussetzungen der Produktion und der ersten Kinovorführungen. Eraserhead wurde aus Gründen der Zeitökonomie überwiegend nachts gedreht und spielt auch zumeist in einem nächtlichen Setting. Die finale Schnittfassung enthält ausschließlich Schwarzweiß-Aufnahmen aus minimalistisch beleuchteten Innenräumen, die das American Film Institute neben Ausrüstung und finanziellen Mitteln zur Verfügung gestellt hatte. Als 1977, nach fünfjähriger Entstehungszeit, die letzten Nachbearbeitungen abgeschlossen waren, kaufte der New Yorker Verleiher Ben Barenholz die Rechte und brachte den Film als Midnight Movie ins Underground-Kino.1 Kurzum:
1
Der Midnight Movie war ein Kino-Phänomen der amerikanischen Filmszene seit den 60er-Jahren. Im Mitternachtsprogramm vieler Kinos wurden Low-Budget- und Independent-Produktionen gezeigt, die in Filminhalt und -ästhetik oft radikale Gegenentwürfe zu den Werten der bürgerlichen Kultur und den Darstellungskonventionen des Mainstreamkinos waren. Die
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»Eraserhead is a night film shot at night, even for the interiors, which no doubt was essential for the veracity of its atmosphere and tempo.«2 Die Nacht hat in Eraserhead und bei Lynch insgesamt aber mehr als nur eine atmosphärische Bedeutung und kann in einem weiteren Sinne verstanden werden. Sie bedingt oder umschreibt metaphorisch eine Störung des Sehens, die die Filme in ästhetischen und epistemologischen Manövern ununterbrochen austesten. Der operative Kern der Filme, man könnte sagen ihre Methode, ist die Konfusion und Transformation der Dinge, die Verzerrung der Perspektive und die Verdunkelung des Blicks. Auf dieser Grundlage befragen sie die Grenzen des Sichtbaren und des Wissens und umkreisen die ›blinden Flecken‹, die optische und epistemische Ordnungen nicht nur limitieren, sondern allererst ermöglichen.3
Vorführungen wurden allmählich zu sozialen Happenings und hatten Einfluss auf die Sub- und Popkultur. Beispiele sind neben Eraserhead: Blood Feast (1963) von Herschell Gordon Lewis, Night of the Living Dead (1968) von George A. Romero, El Topo (1969) von Alejandro Jodorowsky, Pink Flamingos (1972) von John Waters und The Rocky Horror Picture Show (1975) von Jim Sharman. 2
Michel Chion: David Lynch. 2. Aufl. London 2006, S. 34. An anderer Stelle heißt es: »the night is the heartland of Lynch’s realm, the place where everything converges, joins and fragments […] its mantle of darkness erases the distinct contours of objects and reconstitutes a lost whole.« Ebd., S. 175f.
3
Nicht nur bei Lynch: Die Nacht ist genauso die Zeit des Schlafs/Traums der Vernunft, der hypnotisch-visionären Innenschau bei geschlossenen Augen. Ferner ist sie die Sphäre und ein traditioneller Topos des Bösen. Als aus dem Film entlehnte Metapher der Schattenseiten der kulturellen Ordnung, der blinden Fiktionen der Americana, firmiert die Nacht in Wild at Heart. Nachdem sich Sailors und Lulas road trip sukzessive als Höllenfahrt im Zeichen der Gewalt erweist und selbst das Autoradio nur Schreckensmeldungen zu verkünden hat, entfährt es Lula: »It’s Night of the
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Die folgende Analyse von Eraserhead versucht in drei Schritten diese Zusammenhänge auszuführen, um das Spielfeld abzustecken, in dem Lynchs Filme operieren. Den Ausgangspunkt markiert das ›Kino der Blinden‹, die titelgebende Paradoxie des vorliegenden Bandes. So lautete der Name eines Prager Lichtspieltheaters, den Franz Kafka kommentiert haben soll und dessen medienphilosophische Implikationen sich mit Kafka weiterdenken lassen. Die cineastische Dialektik von Sehen und Blindheit, die der Name verdichtet, bildet den Rahmen einer Diskussion von Lynchs Kinoästhetik.4 Die These ist, dass Lynch in seinem ersten Langfilm den Dispositionsraum entfaltet, in dem er seither seine beiden wesentlichen Themen dekonstruktiv verhandelt: das Kino als Medium des Imaginären und dessen zentrales sujet, das Subjekt. Im zweiten Schritt wird daher untersucht, wie Eraserhead audiovisuelle und narrative Aspekte des filmischen Mediums und damit die Wahrnehmung problematisiert, während im dritten Schritt die ›Urszenen‹ des Subjekts rekonstruiert werden, die der Film ausgestaltet. Dabei wird nachvollzogen, wie Eraserhead eine Krise der Repräsentation inszeniert, die in einer förmlichen Apokalypse der Darstellung endet. Hatte Kafka gefordert, dass das Buch die »Axt [...] für das gefrorene Meer in uns«5 sein müsse, könnte Lynchs Motto sein, was einst der Filmkritiker Jonas Mekas als Fluchtlinie eines neuen amerikanischen Kinos vorgegeben hat: »There is no other way of breaking
Livin’ fuckin’ Dead!« Wild at Heart (1990). Regie: David Lynch. DVD. Universal 2003. 4
Lynch ist bisher nicht (explizit) in die kultur-, kunst- und v. a. filmgeschichtlichen Traditionen der Thematisierung der Blindheit bzw. der Dialektik von Blindheit und Sehen gestellt worden. Da der Beitrag erste Anhaltspunkte liefern möchte, ist der historische Exkurs im ersten Abschnitt ausführlich dargestellt.
5
Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Bd. [7,1]: Briefe 1900-1912. Hg. v. Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main 1999, S. 36.
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the frozen cinematic ground than through a complete derangement of the official cinematic senses.«6
K INO DER B LINDEN ( VON K AFKA
ZU
L YNCH )
Die eigentümliche Vorstellung vom ›Kino der Blinden‹ entspringt einer Kafka-Anekdote, die Gustav Janouch kolportiert: »Das Absurdeste, was es [...] wohl auf dem Gebiete der Kinonamen je in der Welt gegeben haben dürfte, war die Inschrift über dem Portal eines kleinen Lichtspieltheaters in dem Prager Arbeiterviertel Zizkov. Sie lautete Kino der Blinden (tschechisch: Bio slepcu), da die Kinolizenz dem Unterstützungsverein der Blinden gehörte. Doktor Franz Kafka, dem ich von dem Kino erzählte, machte zuerst große Augen, um dann im nächsten Augenblick so ein lautes Lachen auszustoßen, wie ich es von ihm nie zuvor und auch später nie wieder hörte. Dann sagte er: ›Bio slepcu! So sollten eigentlich alle Kinos heißen. Man wird durch die Flimmerbilder ja nur wirklichkeitsblind.‹«7
In einer weiteren Nacherzählung referiert Janouch Kafka so: »Ich bin ein Augenmensch. Das Kino stört aber das Schauen. Die Raschheit der Bewegungen und der schnelle Wechsel der Bilder zwingen den Menschen zu einem ständigen Überschauen. Der Blick bemächtigt sich nicht der Bilder, sondern diese bemächtigen sich des Blickes. Sie überschwemmen das Bewußtsein.
6
Jonas Mekas zit. nach Jim Hoberman und Jonathan Rosenbaum: Midnight Movies. New York 1983, S. 39.
7
Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Frankfurt/Main 1968, S. 165. Die Authentizität von Janouchs Aufzeichnungen ist philologisch zweifelhaft. Davon unabhängig führen die angeblichen Einlassungen Kafkas zum Kino auf den hier fraglichen Problemhorizont hin. Sie stehen indes in einem Gegensatz zur »kinospezifische[n] Struktur von Kafkas fiktionalen Entwürfen«, die Peter-André Alt herausgearbeitet hat. Peter-André Alt: Kafka und der Film. Über kinematographisches Erzählen. München 2009, S. 11.
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Das Kino bedeutet eine Uniformierung des Auges, das bis jetzt unbekleidet war [...]. Filme sind eiserne Fensterläden.«8
Mehrere solcher aperçus zur Wirklichkeitsblindheit und optischen Gewalt der Kinobilder sind von Kafka überliefert. Sie ergeben zwar keine kohärente Theorie, aber teilen doch einen kritischen Impuls: Das Kino, pointiert Hanns Zischler, ist für Kafka eine »fast dämonische Technik, die an das erworbene Sehen [...] qualvolle Anforderungen stellt«.9
8
Janouch: Gespräche mit Kafka (Anm. 7), S. 215f. Die Äußerung deckt sich mit einer Notiz, die Kafka anlässlich eines Besuchs des Kaiserpanoramas in Friedland niederschrieb: »Kaiserpanorama. [...] Die Bilder lebendiger als im Kinematographen, weil sie dem Blick die Ruhe der Wirklichkeit lassen. Der Kinematograph gibt dem Angeschauten die Unruhe ihrer Bewegung, die Ruhe des Blickes scheint wichtiger.« Franz Kafka zit. nach Hanns Zischler: Kafka geht ins Kino. Reinbek bei Hamburg 1998, S. 39f.
9
Ebd., S. 22. Zischler vermittelt in der gut recherchierten Studie einen differenzierten Eindruck von Kafkas Blick auf das Kino und unterstreicht neben der zeittypischen Schockerfahrung angesichts der »maschinell abrollenden, tranceauslösenden Bilde[r]« die ambivalente Faszination Kafkas für das neue Medium. Ebd. Kafka hatte ein intuitives Gespür für die Funktionsund Wirkungslogik des Kinos: für seine illusionäre Kraft und die unheimliche Potenz, Affekte zu produzieren, für die stereotype Dramaturgie der plots und die entindividualisierten, gleichwohl berührenden Klischees der Figurenpsychologie. – Dietmar Schings stützt sich in seinem Aufsatz stark auf Janouch. Die Rede ist von Kafkas Unbehagen an der »auf ihn einstürzende[n] Bilderflut« des Kinos und dem »Verlangen, den Filmprojektor anzuhalten, selber das Tempo zu bestimmen, in dem die Bilder aufeinander folgen, um ohne ›Gewalttätigkeit [...] systematisch‹ sehen zu können«. Dietmar Schings: Franz Kafka und der Mann ohne Schatten. »Eiserne Fensterläden« – Kafka und das Kino. Berlin 2004, S. 96.
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Die Äußerungen zur Störung, aber auch Formierung des Sehens durch das (frühe) Kino10 lassen sich auf elementare Bedingungen und Beschränkungen des Filmmediums beziehen. In der Perspektive Kafkas stellen sich dann Fragen nach dem ästhetischen Repräsentationsakt und nach dem Wahrnehmungssubjekt (dem Zuschauer) der filmischen Darstellung – Fragen, aus denen sich kritische Einsichten in die Dialektik von Blindheit und Einsicht beim Film eröffnen.11 Schon der Schnitt, den das invisible editing des klassischen Hollywoodfilms zu camouflieren trachtet, bezeichnet einen Fleck der Blindheit, der ein manipuliertes Sehen erzeugt. Bei Alain Badiou heißt es: »Der Film arbeitet damit, was er dem Sichtbaren entnimmt, das daraus entstandene Bild ist zuerst ein zerschnittenes. [...] Viel wesentlicher als die Präsenz ist der Schnitt, und zwar nicht nur letztlich durch die Montage, sondern unmittelbar durch den allerersten Bildausschnitt und dem überaus wichtigen Reinigen vom Sichtbaren [sic!].«12 Umgekehrt können gerade der Bruch der Darstellung und die Überforderung des Sehens das ›mediale Apriori‹ des Films sichtbar machen. Das Kino hat so in zahlreichen Varianten die eigene Blindheit und seine Grenzen vermessen. V. a. in der Figur des Blinden »denkt das Kino über sich selbst nach«, wie Stefan Ripplinger schreibt: »Seine oft für allzu selbstverständlich gehaltenen ontologischen Voraussetzungen, die Behauptung, es blicke,
10 Vgl. mediengeschichtlich Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1.2. Frankfurt/Main 1974, S. 471-508. 11 Zur Dialektik von Blindheit und Einsicht der ästhetischen Darstellung vgl. Paul de Man: Die Rhetorik der Blindheit. Jacques Derridas Rousseauinterpretation. In: Ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Frankfurt/Main 1993, S. 185-230 und Jacques Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen. München 1997. 12 Alain Badiou: Die falschen Bewegungen im Film. In: Ders.: Kleines Handbuch zur In-Ästhetik. Wien 2001, S. 105-118, hier S. 105. Die Übersetzung hätte lauten müssen: »[…] durch das überaus wichtige Reinigen des Sichtbaren.«
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ja, es könne das Sehen lehren, die Rede von der Kamera als von einem Auge, all das steht in der Figur des Blinden und der Blindheit auf der Probe [...].«13 Ripplinger liefert in seiner Arbeit über Blindheit im Kino eine Reihe von Beispielen, bei denen sich die Blindheit der Figuren in der Darstellungsform reflektiert. In Der Gang in die Nacht (1920) von Friedrich Wilhelm Murnau etwa wird die Blindheit eines Malers ›expressiv‹ und auf die mise en scène projiziert. Der Film modelliert die Blindheit als somnambulen Zustand, als Schlafwandeln durch das mentale Jenseits einer düsteren symbolischen Seelenlandschaft. Dagegen ist ein Ausschnitt der diegetischen Welt, die stets abgewandte Staffelei des Malers, nur von der Rückseite zu sehen und bleibt ›stumpf‹.14 Arthur Penns The Miracle Worker (1962), verfilmt nach dem autobiografischen Roman der Taubblinden Helen Keller, geht noch weiter. Extreme Großaufnahmen, Weitwinkel, Auf- und Untersichten, grobkörnige, mehrfachbelichtete und negative Bilder erzeugen einen Exzess des
13 Stefan Ripplinger: I can see now. Blindheit im Kino. Berlin 2008, hier S. 2. Vgl. auch S. 66: »In der Figur des Blinden denkt das Kino über sich selbst nach. Es denkt über seine Grenzen nach, darüber, dass es sein Reich auf Illusionen errichtet hat, dass sein Material höchst unsichere bewegte Bilder, Bilder von Bildern und Nachbilder sind.« Ebd., S. 66. – Mirjam Schaub hat den Typus eines Kinos, das um das eigene Sehen kreist, als ›Kino des Blicks‹ kategorisiert: »Dieses Kino kreist um das Sehen als seinem eigenen ›blinden Fleck‹, nähert sich dem unhintergehbaren Scheidungsgrund von Sichtbarem und Unsichtbarem: Das Auge sieht überhaupt nur etwas, weil es sich selbst dabei nicht zusieht, weil es sich selbst nicht sehen kann, weil es – allegorisch gesagt – ›auf diesem Auge blind ist‹«. Mirjam Schaub: Das Kino, die Sichtbarkeit, der Blick und seine Unsichtbarkeit, dargelegt u. a. am Beispiel von David Lynchs Film ›Lost Highway‹. http://sammel punkt.philo.at:8080/1517/1/schaub.html (01. April 2012). S. 67. 14 In der Malerei, bspw. in Diego Velazques’ Las Meninas (1656), ist dies eine geläufige Strategie, den Blick des Betrachters bewusst zu machen.
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Sichtbaren. Mit allen visuellen Mitteln wird die Möglichkeit des Sehens überhaupt irritiert, infolgedessen sich die Blindheit der Figur auf den Zuschauer überträgt. Wait Until Dark (1967) von Terence Young entzieht die Sichtbarkeit partiell sogar vollständig. Als sich die nach einem Unfall erblindete Susy Hendrix im showdown gegen Einbrecher erwehren muss, werden zeitweise Passagen aus Schwarzfilm eingesetzt. Der Horror der Orientierungslosigkeit und einer unsichtbaren Bedrohung wird unmittelbar erfahrbar. Ausdrücklich in den beiden letztgenannten Beispielen wird die Kamera zu einer Art ›Taststock‹ und dementiert Kafkas bzw. Janouchs Kritik an fotografischen Medien. Wie ein Blinder ertastet sie den filmischen Raum, während der Blick versagt.15 Einen wichtigen neueren Film über die Blindheit, Jean-Luc Godards JLG/JLG – autoportrait de décembre (1994), erwähnt Ripplinger nicht. Analog zu Badiou spielt die Praxis und Philosophie des Filmschnitts darin eine entscheidende Rolle. In einer Szene im Schneideraum unterhält sich Godards fiktionales double mit der Cutterin Justice Fielding – einer Blinden, der Zitate Merleau-Pontys in den Mund gelegt werden. Der Schneideraum erscheint im Gespräch als dunkles Zentrum des Films und ›metaphysischer‹ Ort, an dem sich die Physik des Bildmaterials durch Montage in Ideen verwandelt. Fielding erklärt dabei ihre durchaus angemessene Situation: Ihr blind tastendes Handwerk und die Innerlichkeit ihres Blicks entsprächen genau den unsichtbaren Prozeduren des Montageverfahrens.16 Eine Episode mit einem blinden Regisseur enthält Alexander Kluges Essayfilm Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit (1985). Der am Filmlicht erblindete Regisseur sieht nur noch innere Bilder und Bilder des Inneren, die sich nicht nach Außen übersetzen lassen. Eine voice over-Stimme aus dem Off macht aus dem Szenario eine Gegenwartsdiagnose. Das postindustrielle Zeitalter erfordere vom Film die »Zerlegung der Hirnteile und
15 Vgl. Ripplinger: Blindheit im Kino (Anm. 13), bes. S. 40ff. 16 Vgl. dazu Volker Pantenburg: Film als Theorie. Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard. Bielefeld 2006.
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der einzelnen Sinne«,17 für die es aber keine authentischen Bilder gebe. Kluges Film nimmt Abschied vom klassischen Kino auf der Suche nach Bildern, von denen es keine Bilder geben kann. Godard wie Kluge philosophieren über die fundamentalen Möglichkeitsbedingungen und Begrenzungen des Kinos. Sie stehen in einer Tradition des ›Kinos der Blinden‹, die von Kafka und den ersten Bildern des Films auch zu Lynch führt. Die Figur des physiologisch Blinden fehlt bei Lynch. Nichtsdestotrotz entwerfen seine Filme ein ästhetisches Universum voller Störungen des Sehens und der Sichtbarkeit, der blinden Flecken des Erkennens und des Wissens. Blindheit und Nichtwissen sind ubiquitäre Phänomene, von denen die gesamte optische und epistemische Ordnung der Filme betroffen ist. Lynch travestiert gleichsam die Wahrnehmungsregeln und Repräsentationslogiken des Mainstream-Kinos und dessen Rhetorik einer geschlossenen Illusion. Filme wie Eraserhead explorieren in dekonstruktiver Absicht den Blick und das Subjekt dieses Blicks. In einer Kontrafaktur der Uniformierung des Auges, den die Standardisierung des Sehens im Hollywoodfilm bewirkt, ›entkleiden‹ sie den Blick und stellen das Sehen und sein Subjekt aufs Spiel. Dieses fast analytische Verfahren, das das Sehen und hermeneutische Verstehen regelmäßig an die Grenze treibt, beobachtet auch Anne Jerslev als Herzstück von Lynchs Ästhetik: »Das wiederholte Problematisieren dessen, was wir denn eigentlich sehen, läßt den Blick, den Akt des Sehens als eine Spur zurück, um die Lynchs Filme kreisen. Sie stellen den Blick auf die Probe und machen ständig darauf aufmerksam, daß sie angeschaut werden.«18 Sie ergänzt: »Lynchs Filme behandeln das
17 Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit (1985). Regie: Alexander Kluge. DVD. Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit / Vermischte Nachrichten. Alive 2009. 18 Anne Jerslev: Mentale Landschaften. 2. Aufl. Wien 2006, S. 43. Im Fazit schreibt Jerslev: »Wir sind nie ganz sicher, was wir in David Lynchs Filmen sehen, und der Blick auf die Dinge, ja der Blick-Akt selbst, ist ein zentraler Angelpunkt im Werk dieses Regisseurs.« Ebd., S. 197.
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Sehen als dasjenige, das in unserer Kultur die Subjekte bestimmt. Sie handeln aber auch – für einen Filmemacher paradox – von der Begrenzung des Gesichtssinns und der Notwendigkeit, andere Sinne zu entwickeln.«19 Lynchs radikale Problematisierung der Wahrnehmung konfrontiert solchermaßen den Zuschauer mit der Aufgabe, sein sinnliches ›In-der-Welt-Sein‹ am Widerstand der Filme zu überprüfen. Der nachgerade kantianische Fragenkatalog könnte in diesem Test so klingen: Was und wie kann ich sehen (und hören)? Wie gleite ich in die Filme hinein? Wie soll ich urteilen, wo mir lediglich blinde Anschauungen gegeben sind? Und wie gewiss ist das Subjekt? Mit Drehli Robnik gesprochen, wird bei Lynch »die Notwendigkeit spürbar, mit der Wahrnehmung immer neu anzufangen, weil die Art und Weise, in der unsere tastenden [!] Augen und Ohren das audiovisuelle Bild bewohnen, nicht gegeben ist. Wir müssen uns unseren Ort erst suchen [...], von dem aus wir das Bild sehen und hören können. Insofern enthalten Lynchs Filme als ihr Potential die Herausforderung, in einen dynamischen Prozeß einzutreten, in dem Affektion und Lektüre einander begegnen.«20
Dabei vollführen die Filme ein doppeltes Manöver, das sich auch als Verdichtung von Kafkas Poetik und Verschiebung seiner Medienkritiken begreifen lässt. Sie sind einerseits von Oberflächen – ›Texturen‹ – fasziniert und fesseln den Blick an die Oberfläche, wodurch der Blick das ›Ganze‹ der angeschauten Objekte verliert; die Texturen werden ›unförmlich‹. Andererseits sind sie vom Begehren durchdrungen, ›unter die Oberfläche‹ zu gehen und ›hinter den Vorhang‹ zu schauen, hinter dem sich beunruhigenderweise Chaos oder Leere entbergen.21 Dies
19 Ebd., S. 45. 20 Drehli Robnik: Außengeräusche. Das Intervall, das Sprechen, das Wohnen, das Sound Design und das Ganze in den Filmen von David Lynch. In: Eckhard Pabst (Hg.): »A Strange World«. Das Universum des David Lynch. Kiel 1999, S. 31-46, hier S. 45f. 21 Die Wendung ›unförmliche Texturen‹ aus dem Titel des Beitrags ist Kafkas Proceß-Roman und gleichermaßen einem Forschungsbeitrag zu Kafka abgeschaut. Jürgen Link und Rolf Parr haben Josef K.s Resümee der Aus-
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kann symptomatisch an Eraserhead aufgezeigt werden. Hier wird sowohl die Obsession mit Oberflächen spür- und analysierbar als auch das Begehren, einzudringen und hinabzutauchen. Wenngleich speziell Eraserhead eine tripartige Rezeptions-Erfahrung der Blindheit und des Nichtwissens lanciert, bietet sich dem hellsichtigen Blick doch ein Wissen, das allerdings sublimes Unbehagen hinterlässt.
legungsdebatte der Türhüterlegende (»Die einfache Geschichte war unförmlich geworden.«) wörtlich genommen, um die literarische Symbolik bei Kafka zu untersuchen. Im Unterschied zum bedeutungsgesättigten ›Goethe-Symbol‹ sei bei Kafka eine Entkopplung von pictura- und subscriptio-Elementen, von Bildseite und Gemeintem (Sinn) festzustellen. Vgl. »Unförmliche« Symbolik. Kafkas »Vor dem Gesetz«. In: KlausMichael Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien in der Praxis. Textanalysen von Kafkas ›Vor dem Gesetz‹. Opladen 1993, S. 64-82. – Der Befund lässt sich durchaus auch bei Lynch, unter freilich anderen medialen Bedingungen, machen und erweitern. Lynch selbst hat sich verschiedentlich zu seinen Obsessionen und Verfahren geäußert. Über die Ästhetik körperlicher Texturen ›vor‹ ihrer Benennung und Semantisierung sagt er: »I always say that as soon as you take the name off something and you see that this is an abstract texture, a lot of things that you wouldn’t normally think of as being beautiful are very beautiful. Those are interesting textures and so they got their own beauty to them. As soon as you realize what they are they’re sort of terrifying.« David Lynch zit. nach Anne Jerslev: »You’ll never have me«. Visualität und ›gendered meaning‹ bei David Lynch. In: »A Strange World« (Anm. 20), S. 197-210, hier S. 198. Zur filmischen Fahrt unter die Oberfläche hält er fest: »Filmemachen muss unter die Oberfläche gehen, sonst macht es keinen Spaß.« David Lynch zit. nach Georg Seeßlen: David Lynch und seine Filme. 6. Aufl. Marburg 2007, S. 9.
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M EDIALE O BERFLÄCHEN UND O RDNUNGEN Der Prolog von Eraserhead initiiert eine Serie von Gesten, die den gesamten Horizont des Films aufreißen.22 Die anfänglichen Ereignisse und ›Winkelzüge‹ wie auch der erste diegetische Blick des Protagonisten Henry sind befremdlich, verheißen aber mehr, als es zunächst scheint. Der Film beginnt mit einer extradiegetischen Sequenz. Henrys Kopf schwebt unruhig quer durch den Bildkader und eine – fortwährend rauschende – Weltall-Sphäre. Im Hintergrund erkennt man bald einen Planeten, der sich mit dem Kopf in Doppelbelichtung überlagert und momentan deckt.23 Henry verschwindet sodann und die Kamera fährt auf den Planeten zu (oder umgekehrt?), um in Ultranahdistanz dessen poröse Oberfläche abzusurfen. Die nächste Einstellung zeigt ›irgendwo‹ einen vernarbten Mann bei einem Fenster, den Man in the Planet, dessen Haut genauso aufgeschürft ist wie die Planetenmembran. Er bedient eine mechanische Steuerapparatur und bewirkt oder wenigstens kanalisiert offenbar einen obskuren Geburtsvorgang: In Großaufnahme im Bild, schlängelt sich eine undefinierbare Form, ein spermatoides, wurmartig-embryonales Etwas aus Henrys Mund. Plötzlich schießt es in den Planeten, fällt durch einen ›Tunnel‹ in den Abgrund (vielleicht fliegt es auch nach oben) und platscht in eine milchige Flüssigkeit. Ein gleißendes Licht flimmert aus einem Loch in der Ferne auf, die Kamera folgt ihm und die Bildfläche wird grell-weiß.
22 Die Prologe haben in Lynchs Filmen häufig einen programmatischen Charakter, der aber eher ›gestisch‹ denn ›proklamativ‹ ist. Das Gestische verbindet Lynch einmal mehr mit Kafka und der ›Gebärdensprache‹ seiner Literatur. Vgl. dazu Walter Benjamins Beobachtung, »daß Kafkas ganzes Werk einen Kodex von Gesten darstellt, die keineswegs von Haus aus für den Verfasser eine sichere symbolische Bedeutung haben, vielmehr in immer wieder anderen Zusammenhängen und Versuchsanordnungen um eine solche angegangen werden.« Walter Benjamin: Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen. Frankfurt/Main 1981, S. 18. 23 Eraserhead (1977). Regie: David Lynch. DVD. Alive 2012.
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Nach einem Schnitt erscheinen die Bilder der Diegese und die Handlung setzt ein. Überaus suggestiv legt Eraserhead nahe, dass der Zuschauer Zeuge einer oral induzierten Kopfgeburt geworden ist, die unmittelbar in Henrys Innenwelt führt.24 Abbildung 1: Henrys Kopf über dem Planeten
Quelle: Eraserhead. DVD (Anm. 23)
Abbildung 2: Planetenoberfläche
Quelle: Eraserhead. DVD (Anm. 23)
24 Es fällt schwer, präzise festzuhalten, was eigentlich in dieser und anderen Sequenzen geschieht. ›Etwas‹ ist zu sehen, aber es bleibt fragwürdig, um was es sich bei diesem ›etwas‹ handelt. Die Beschreibung muss sich mit einem Sprechen in Gänsefüßchen behelfen.
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Abbildung 3: Henrys Kopfgeburt
Quelle: Eraserhead. DVD (Anm. 23)
Eraserhead versetzt von Anfang an die Wahrnehmung in ein primordiales Stadium der Desorientierung. Zwar wird die Sequenz nach konventionellen Regeln des Erzählkinos etabliert, »indem sie die Entfernung und Annäherung an den anderen Ort über den klassischen Dreischritt erklärt: das entfernte Ziel, die Reise dorthin, das dortige Geschehen.«25 Aber dasjenige, was etabliert wird, sind unsichere BildZeichen, die in eine allumfassende Finsternis und dröhnende Geräuschkulisse gehüllt sind. Hinzu kommt eine sensomotorische Unklarheit der Objekt- und Kamerabewegungen, die ein ›Bewohnen‹ der Bilder erschweren. ›Lesbar‹ wäre die einleitende Geburts-Szene dennoch als Selbstkommentar des Films zu seinem kreativen Prozess. Es gibt rohe Materie, einen Schöpfungsakt, der sichtbar aus dem Kopf stammt, und ein vages Resultat, das aus dem Dunkel im Medium des Lichts zur Darstellung gelangt. Der komplette Film zirkuliert im Grunde um das Drama der Formwerdung und -vernichtung. Ständig suchen Gedanken, Objekte, Bilder, Szenen und Zusammenhänge eine Form
25 Seeßlen: David Lynch und seine Filme (Anm. 21), S. 25. Seeßlen zufolge verwendet Lynch »die Konventionen des Kinos zum einen, um zu fundamentalen Erzählformen zurückzukehren, und zum anderen – indem er sie deutlich hervortreten lässt – als Mittel der Verfremdung. Im Grunde verwendet Lynch die Sprache des Films wie eine Fremdsprache.« Ebd., S. 28.
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und lösen sich wieder auf.26 Der kinematografische Akt des Eindringens lässt sich ferner intertextuell historisieren; er steht u. a. in einem Bezug zum Voyeurismus in den Filmen Alfred Hitchcocks. In Rear Window (1954) ist es L. B. Jeffries’ Blick durch ein Fernglas in die Hinterhoffenster einer Apartmentanlage, in Psycho (1960) der Blick der Kamera selbst, der gleich zu Beginn durch ein Fenster ins Private eindringt. Macht Hitchcocks Teleskop- und Kamerablick aber vor den Figuren Halt, so bohrt sich der Blick in Eraserhead nach der Suggestion des Prologs in den Kopf des Subjekts.27 In Eraserhead existieren auch sonst keine Schutzhüllen und Tabuzonen. Vermeintlich undurchlässige Grenzen erweisen sich als prekär. Wenn der Film endlich in Henrys Welt eintritt, wirkt sein ängstlich-verstörter Blick aus aufgerissenen Augen, als ob er der Virulenz dieses Sachverhalts gälte. Dieser Blick erlaubt oder besser: provoziert und verschleißt offene Deutungen, weil er ohne Bestimmung ist. Denn als sein entscheidendes Merkmal fehlt ihm ein identifizierbares Objekt. Es ist völlig undurchsichtig, worauf er sich bezieht. Anders als
26 Vgl. dazu auch Jerslev: Mentale Landschaften (Anm. 18), S. 74f. Die Doppeldeutigkeit des Motivs der Geburt und die strukturelle Kopplung von biologisch-sexuellem und ästhetisch-kulturellem Akt durchziehen Lynchs Filme wie ein roter Faden. 27 Zu Fragen des Blicks, der Sichtbarkeit und des Voyeurismus bei Hitchcock vgl. Slavoj Žižek Slavoj u. a. (Hg.): Was Sie immer schon über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten. Frankfurt/Main 2002. – Als unverblümter kinematographischer Gewaltakt ist das Motiv des Eindringens in Michael Powells Peeping Tom (1960) gestaltet. Der Serienkiller Mark Lewis ermordet hier seine Opfer in der Manier des snuff movies, indem er sie aufschlitzt, während das Objektiv seiner Kamera in der Egoperspektive auf sie gerichtet ist. In Lynchs Lost Highway ist es die Figur des Mystery Man, die die Kamera als Instrument des Eindringens und als eine Art Waffe benutzt. Der Film legt die Deutung nahe, dass der Mystery Man nicht nur in Fred Madisons Haus eingedrungen ist, was Videobänder zu beweisen scheinen, sondern – wie in Eraserhead – auch in Freds Kopf.
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es das continuity-Prinzip der unsichtbaren Montage verlangt, wird der Blick im Gegenschuss nicht objektivierend verankert, sondern schaut ins Ungewisse und Mögliche. Als paranoischer ›Blick-ohne-Objekt‹, ein psychoanalytisches Bild der Angst,28 infiziert er das Ganze des Films mit dem Verdacht. Der Blick-ohne-Objekt und das Motiv der aufgerissenen Augen sind wiederum kultur- und filmgeschichtlich vorgezeichnet. Heinrich von Kleist ist es angesichts der ›Uferlosigkeit‹ eines Landschaftsgemäldes Caspar David Friedrichs, »als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären«.29 Un chien andalou (1929) von Luis Buñuel und Salvador Dalí erhebt den Schnitt durch das weit geöffnete Auge zum Programm eines anderen, surrealistischen Sehens.30 Und der Horrorfilm profiliert den entsetzten Blick als ikonische Gebärde und mit dem Schrei als seine autonome affektive Signatur.31 Der leere Blick ist überdies in der Kinogeschichte der Blindheit eine so typische wie beunruhigende Pose. Vergrößert und eingefroren, passiert der Blick des Blinden die Position des Zuschauers und deutet auf ein rätselhaftes Anderswo.32
28 Bei Sigmund Freud wie Lacan findet sich die Überlegung, dass die Angst im Unterschied zur Furcht diffus ist und kein bestimmtes Objekt hat. 29 Heinrich von Kleist: Empfindungen von Friedrichs Seelandschaft. In: Ders.: Werke und Briefe in vier Bänden. Bd. 3: Erzählungen, Gedichte, Anekdoten, Schriften. Hg. v. Sigfried Streller. Berlin 1978, S. 502f., hier S. 502. 30 Die berühmte Prologszene mit dem Rasiermesser-Schnitt durch ein Auge ist als Selbstzitat des Films und seiner avantgardistischen Ästhetik gedeutet worden; so auch in dem Band von Ursula Link-Heer und Volker Roloff (Hg.): Luis Buñuel. Film – Literatur – Intermedialität. Darmstadt 1994. 31 Das Bild der scream queen, das v. a. Jamie Lee Curtis in den HalloweenFilmen geprägt hat, ist zu einer Marke des Horrorfilms avanciert, die auch ohne Bezugsrahmen und Objekt Signifikanz hat. 32 Vgl. Ripplinger: Blindheit im Kino (Anm. 13), S. 50f.
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Abbildung 4: Henrys ›leerer‹ Blick
Quelle: Eraserhead. DVD (Anm. 23)
Zwei Modi der Störung des Sehens lassen sich aus den Anfangsszenen von Eraserhead ableiten. Sie sind mit dem Doppel von Oberfläche und Abgrund verknüpft und stellen gewissermaßen die beiden Ausprägungen der Lynch’schen Psychose dar. Die eine illustriert der taktile, ultrakurzsichtige Blick auf die Materialität der Textur, in der sich die Bedeutungsdichte des ›Filmtextes‹ spiegelt; die andere indizieren das Eindringen unter die Oberfläche und der leere Blick-ohne-Objekt.33 Es
33 Der Blick auf die Textur ist eine der kardinalen Gesten Lynchs und kann u.a. den establishing shot, der sonst den Zuschauer im filmischen Raum orientiert, ersetzen. Zur genaueren Funktionsweise dieses Blicks, vgl. Jerslev: »You’ll never have me« (Anm. 21), hier S. 198: »Das Augenmerk gegenüber der Textur erfordert einen ganz besonderen, ultrakurzsichtigen und taktilen Blick, dicht an den Oberflächen der Materialien. Es ist ein Blick, der nicht in der Lage ist, zu überblicken, in Ganzheiten zu sehen und damit zu benennen; es ist ein Blick, dem sich die Materialien als Bedeutungs-los präsentieren, beinahe als ästhetische Objekte, die sich als Formgebungen ohne Sinn genießen lassen.« – Der ›leere Blick‹ und seine Geste der Öffnung des Bildes treffen sich mit dem »Gegenschuß ins jähe Anderswo«, den Robnik als Beispiel für Lynchs ›irrationalen Schnitt‹ diskutiert: »Das Gesicht im On blickt jeweils in ein relatives Off, das zum abso-
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gibt also entweder eine Unförmlichkeit in den Bildern – semiotische ›Flecken‹, die keine volle Gestalt ergeben. Oder es offenbart sich eine Lücke in ihnen, die ins Außen oder eben den Abgrund führt. Zugespitzt könnte man sagen, es handelt sich um die Unterscheidung von ›Ding‹ und ›Loch‹, nach Lacan die Erscheinungsformen des Realen. Das Reale meint nämlich exakt jene Enden des Imaginären: den inkommensurablen Überschuss der Zeichen, unter denen das Bezeichnete verschwimmt, und den Riss, der die symbolische Ordnung in ein Signifikats-Außerhalb entgrenzt.34 Lynchs Filme treiben auf diese eng verwandten Grenzpunkte zu, an denen sie ›unlesbar‹ und ›intensiv‹ werden. Immer wieder bilden sich ›wolkige Stellen‹, die nicht ohne Weiteres hermeneutisch auflösbar sind, so wie sich die filmischen Bilder häufig auf ein Jenseits öffnen. Das Opakwerden und die Öffnung der Bilder sind dabei nicht primär Effekte der Fremdheit des Erzählten, sondern eher der basalen ästhetischen Disposition der Filme. Diese gründet nicht nur in Eraserhead wesentlich in der Instabiliät fiktionaler Raumkonstruktionen und der Entkopplung von Bild und Ton. Die Handlung spielt in Eraserhead in einem Raum, der schon deswegen fremd bleibt, weil er sich geografisch kaum lokalisieren lässt. D. h. nicht nur, dass das Setting keinen identifizierbaren Ort der Wirklichkeit repräsentiert, sondern auch, dass eine Orientierung in der narrativen Architektur des Films schwierig ist. Zu sehen ist eine industrielle Wüstenlandschaft, die futuristische mit archaischen Elementen vermengt. Riesige, streng symmetrische Häuserblöcke flankieren eine karge Einöde, die von Erdhügeln und Pfützen durchsetzt ist. Den akus-
luten mutiert, und wird insofern zum reinen Intervall zwischen zwei Bildern oder Weltzuständen, zum Punkt, von dem aus jeder Anschluß möglich ist. In den gelungensten Fällen ist das Bild bei Lynch – als Abstand zwischen dem Bild davor und dem danach – nicht Teil einer homogenen Serie, sondern Potential für das Auftauchen einer anderen Welt.« Robnik: Außengeräusche (Anm. 20), S. 34. 34 Das Reale, nicht zu verwechseln mit dem Begriff der Realität, ist einer der schillerndsten Begriffe Lacans und ist im Text nur verkürzt wiedergegeben.
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tischen Hintergrund bildet eine kakophone Geräuschkulisse aus Fabrikund Großstadtlärm. Henry wirkt wie verloren in einer scheinbar entvölkerten, ahumanen Welt: »Der Mensch ist unsichtbar geworden.«35 Führt der Prolog tatsächlich in Henrys Innenwelt, wäre dies das Design seiner Psyche. Auf jeden Fall ist es ein gleichzeitig konkreter und abstrakter Raum, der ostentativ über seine Gegenständlichkeit hinausweist. Die symbolträchtige Artifizialität des Raumes rührt zusätzlich aus der Kolorierung und dem Lichteinsatz. Lynchs Entscheidung, den Film in Schwarzweiß zu drehen, hat eine Schematisierung und Verfremdung der Bilder zur Konsequenz. Außerdem lassen sich die permanenten Konversionen von Innen und Außen, die Transformationen und Dissoziationen von Räumen, Körpern und Subjekten flüssiger darstellen.36 Den unnatürlichen Eindruck unterstützt das rein künstliche pool light, das auch der expressionistische Stummfilm und der film noir verwenden. Einzelne Bilddetails, Objekte und Figuren werden aus der sonst dunklen Umgebung isoliert und wie auf einer Bühne ausgestellt und ›theatralisiert‹.37
35 Jerslev: Mentale Landschaften (Anm. 18), S. 76. Freilich treten nachträglich einige Nebenfiguren auf, deren puppen- und automatenhaftes Verhalten das Entmenschlichte von Henrys Welt jedoch nur unterstreicht. 36 Vgl. Chion: David Lynch (Anm. 2), S. 33: »Lynch has justly remarked that black and white allowed him to create a more schematic, less distracting image, in which the interiors and exteriors could be connected more smoothly. It also allowed him to draw the viewer more easily into another world«. 37 Vgl. ebd., S. 176f.: »The pool is a space that lights up in a dark void, an area for spatial or temporal apparitions which isolates and closely frames a character, a detail or an object […]. This lighting isolates a part of the image and accentuates the surrounding shadows. It is also reminiscent of the circle of light created on the stage or at the circus by a long-range spotlight.« – Allein der Verzicht auf realistische Farben und eine natürliche Ausleuchtung, die entsprechend extreme Entgegensetzung des Dunklen
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Abbildung 5: Henrys Welt
Quelle: Eraserhead. DVD (Anm. 23)
Strukturell ist der Raum komplex, weil er verschachtelt und ›gefaltet‹ ist und die Grenzen zwischen den verschiedenen Ebenen und Dimensionen zerfließen. In Henrys klaustrophobisch beengter Wohnung, die sich in einem der Häuserblöcke befindet, erschließen sich nochmals intradiegetische Binnenräume, wenn Henry fantasiert oder träumt. So führt das ›Spermium‹ aus dem Prolog im Inneren eines Wandschranks eine skurrile Performance auf – möglicherweise eine Botschaft aus dem Unbewussten, die Henry abwehrt, indem er die Schranktüren zuwirft. Während in einem Theater hinter der Heizung eine Blondine mit übertriebenen Pausbacken, die Lady in the Radiator, herumtänzelt – und einen ganzen Haufen ›Spermien‹ unter ihren Schuhsohlen zerquetscht. Als Henry sich in einer erotischen Szene mit der Nachbarin vereint und in einem wörtlich umgesetzten Leidenschaftsstrudel in seinem Bett versinkt, betritt er kurz darauf selbst die Theaterbühne. Hier verliert er ebenso wörtlich den Kopf, der durch den Bühnenboden in eine hypodiegetische Dimension fällt – zweiter metaleptischer Sprung – und zu Radiergummi verarbeitet wird. Die narrativen Ebenen und ontologischen Niveaus bilden offensichtlich Differenzen zwischen der fiktionalen Realität und verschiedenen Stufen eines Fantasie- bzw.
und Düsteren und des Grellen und Blendenden, verhindern ein normales Sehen und erzeugen optische Unschärfen.
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Traumgeschehens ab. Obwohl aber die jeweiligen Übergänge klassisch ausgewiesen werden, sind der Möglichkeitssinn und look der eigentlich getrennten Bereiche nicht zu unterscheiden. Wie im Traum sind physikalische Gesetze und Wahrscheinlichkeiten übergreifend ausgehebelt. Die Erzählung wirkt ausnahmslos entstellt und wie das manifeste Sinnbild eines unbekannten latenten Inhalts.38 Die Soundeffekte in Eraserhead, die Bestandteil der Entstellungsarbeit des Films sind, hat Michel Chion mit der französischen musique concrète verglichen: »The film bathes in an uninterrupted soundatmosphere, with the constant rush of boiler sounds, whirlpools, electronic organ chords, and the like.«39 Der Krach, das ewige Rauschen und Dröhnen produzieren eine atmosphärische Einhüllung und – noch umfassender – eine metaphysische Weitung des Raums, wie sie von Akira Kurosawa bekannt ist.40 Dagegen ist es die subversive Funktion des Tons, den Primat der Sichtbarkeit und der Bedeutung auszuhöhlen. Bei Lynch hört der Sound auf, eine untergeordnete Relaisfunktion zu erfüllen und sorgt nicht mehr für die Integration der Bilder in eine korrespondierende realistische Akustik. Wie Georg Seeßlen sagt: »Der Soundtrack dient der Inversion der story [...].« Lynch bringe »den
38 Zur Traumstruktur und zum sinnbildlichen Erzählen Eraserheads, vgl. Susanne Kaul und Jean-Pierre Palmier: David Lynch. Einführung in seine Filme und Filmästhetik. München 2011, S. 35-50. Laut Žižek resultiert einer der V-Effekte von Lynchs Erzählen daraus, dass Lynch Realität und Fantasma unterschiedslos und nebeneinander auf einer ›horizontalen‹ Ebene situiere: »He [Lynch] transposes the vertical into the horizontal and puts the two dimensions – reality and its fantasmatic supplement, surface and its ›repressed‹ – on the same surface. […] This displacement of the vertical into the horizontal brings about a further unexpected result: it explodes the very consistency of the film’s fantasmatic background.« Slavoj Žižek: The Art of the Ridiculous Sublime. On David Lynch’s Lost Highway. 2. Aufl. Washington 2002, hier S. 35. 39 Chion: David Lynch (Anm. 2), S. 36. 40 Vgl. Jerslev: Mentale Landschaften (Anm. 18), S. 76.
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Ton als gleichberechtigte und nicht unbedingt gleichgestimmte Aussageform« zur Geltung.41 Was immer in Eraserhead zu sehen ist, wird akustisch durch Geräusche überformt, die im Bild nicht wirklich einrasten. Noch die banalsten Begebenheiten wie ein Spaziergang oder eine Familienmahlzeit schweben über dem akustischen Abgrund einer unheimlich wummernden Tonspur. Genau wie die Bilder droht auch das Gesprochene von der filmischen soundscape verschluckt und auf ein asignifikantes Stimm-Material reduziert zu werden. Ohnehin sind die Dialoge seltsam ›ausgedünnt‹ und ›skelettiert‹, die Rede ist beinahe ›trockengelegt‹: »Jeder Satz quält sich aus einem Zeitloch heraus, das die kommunikative Kontinuität verschlingt. ›Di[e] Worte hallen in einer Art Leere wider‹«, in der sich ihr Sinn verliert.42 Der initiale ästhetische Impuls von Eraserhead und die Anlage des Raum- und Sounddesigns laufen allgemein auf eine semantische Entleerung und Dekodifizierung der Zeichen hinaus. Daraus erfolgt keineswegs ein nüchterner Brecht’scher Verfremdungseffekt, der den Zuschauer distanziert und direkt zur kritischen Analyse auffordert. Vielmehr vermittelt sich eine amnetische Erfahrung des Sinnverlusts und der Affektion durch die sensuellen Qualitäten des filmischen Mediums. Das Optische und das Akustische erhalten einen materialen Eigenwert; das Kinematografische wird taktil, wenn erst ›ertastet‹ werden muss, wie sich die Wahrnehmung in den Bildern orientieren kann. Lynch stört mit der filmischen Illusion die Routinen des Sehens, um einen
41 Vgl. G. Seeßlen: David Lynch und seine Filme (Anm. 21), S. 229. 42 Robnik: Außengeräusche (Anm. 20), S. 35. Das agonale Verhältnis von Stimme und Geräusch in Lynchs Filmen fasst Robnik so zusammen: »Deren akustische Landschaft tendiert dazu, Hierarchien zwischen Vorder- und Hintergrund und den grundsätzlichen Primat der menschlichen Stimme sowie deren stillschweigend vorausgesetzte Unterscheidbarkeit von Geräuschen in Frage zu stellen.« Ebd., S. 38. Robnik kann sich auf Lynchs erklärte Ton-Strategie berufen: »Wenn der Dialog gegen die Atmosphäre ankämpft, ist alles perfekt; wenn er mit der Atmosphäre im Einklang ist, ändere ich ihn«. David Lynch zit. nach ebd.
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Punkt zu erreichen, der vor der symbolischen Ordnung der Filmsprache liegt. ›Sichtbar‹ oder erfahrbar werden so die medialen Oberflächen der filmischen Illusionsbildung als deren blinder Fleck. Ex negativo zeichnen sich der Operationsraum und die Konstruktionsregeln der Fiktion ab.43 Der klassischen Formensprache des Kinos, deren Ideologie nicht so sehr eine bestimmte Botschaft, sondern die Harmonisierung eines unproblematischen Sehens und Hörens und die Geschlossenheit der Narration verbürgen, entzieht Lynch den Boden: »In Lynch’s work, there is no pre-existing rhetoric, that is to say, there is no reference to a coded, closed cinematographic language, no a priori connotations related to a given style of filming«.44 Es bleibt zu zeigen, dass die Erschütterung des medialen Repräsentationssystems in Eraserhead mit der Auflösung und Zurschaustellung des Subjekts verbunden ist.
U RSZENEN
DES
S UBJEKTS
Wie der mediale Dispositionsraum des Films ist das Subjekt in seiner körperlich-psychischen und diskursiven Einheit eine im Normalfall
43 Lynch führt die Fiktionalität der Darstellung in manchen Szenen offen vor, wie in der Club-Silencio-Sequenz in Mulholland Drive. Der Club ist ein Illusionstheater in L. A., das die Hauptfiguren Rita und Betty aufsuchen. Man sieht einen Trompetenspieler, der noch zu hören ist, nachdem er die Trompete absetzt, und eine Sängerin, deren Gesang nicht abbricht, nachdem sie in Ohnmacht fällt. Ein Magier skandiert in mehreren Sprachen »It’s all an illusion« und befördert so nur eine Desillusionierung, die allerdings die beiden Frauen zu Tränen rührt. Im Club Silencio zeigt Lynch den Film am Nullpunkt der Darstellung, deren Realitätsillusion eben dann zerfällt und in ihrer Konstruiertheit gezeigt wird, wenn die Synthese aus Bild und Ton unterbrochen wird. Die ungeheure Macht der Illusion, Affekte zu übertragen, bleibt dennoch ungebrochen. 44 Chion: David Lynch (Anm. 2), S. 41.
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unhinterfragte Voraussetzung der ästhetischen Repräsentation. Der Kritik gilt es als Prädikat, wenn die Charakterzeichnung einer Figur psychologisch so überzeugend, sprich ›wirklichkeitsgetreu‹ ausfällt, dass sich ihre fiktionalen Existenzgrundlagen verhüllen. Daraus ergibt sich eine psychoanalytische Szene: Die imaginäre Figur avanciert zu einem Spiegel-Anderen, in dem sich der Zuschauer wiedererkennen soll – und notorisch verkennt, weil er nichts anderes als ein Fantasma erblickt. Figur und Zuschauer verschmelzen in einer illusionären Identifikation. Eraserhead verhält sich dazu als ›Gegendiskurs‹. Lynch raubt dem Subjekt die psychologische Tiefe, entpsychologisiert es und führt es als diskursive Oberflächenerscheinung vor, die der Film beliebig disponiert.45 Lacans vieldiskutierter Urszene des Subjekts46 erstattet er das Dramatische zurück, indem er den Versuch der Selbstbehauptung und der Kontrolle des Körpers als Scheitern bebildert. Das Ende dieser Tragikomödie ist die Katastrophe; Henrys (erträumte) Köpfung läutet einen Dissoziationsprozess ein, der in seinem Verschwinden und einem Zusammenbruch der Darstellung mündet. In diesem Zuge inszeniert Lynch das Subjekt als Figur des Nichtwissens, die sich selbst unvertraut wird. Die analytische Arbeit des Films befördert aber auch intime Einsichten. Zum Vorschein kommt das von Slavoj Žižek apostro-
45 Zur Entpsychologisierung der Figuren bei Lynch, vgl. auch Žižek: Ridiculous Sublime (Anm. 38), hier S. 35: »The overall effect of this return to clichéd naiveté is, again, that persons are strangely de-realized or, rather, depsychologized.« 46 Diese Urszene ist natürlich die des Subjekts im Spiegelstadium: die »psychogenetisch[e] Urszene der Ich-Identifikation«, »das Drama der ursprünglichen Blindheit oder – umgekehrt formuliert – der irreversiblen Nachträglichkeit des Selbst«. Lacan hat sie als Sprachspiel formuliert: »Die Forderung, daß ich mich im Spiegelbild wiedererkenne (me connaitre), kippt um in die umgekehrte Aussage des französischen Begriff[s] [sic!] méconnaissance, der schlicht Verkennung bedeutet.« Vgl. Michael Wetzel: »Ein Auge zuviel«. Derridas Urszenen des Ästhetischen. In: Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden (Anm. 11), S. 129-155, hier S. 152f.
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phierte ›Subjekt jenseits der Subjektivierung‹, ein Subjekt am ›Nullpunkt‹, das sich bar seines fantasmatischen Rahmens als Monster zeigt.47 Eraserhead ist in mehrerlei Hinsicht ein Film über das Monster, die Unbestimmbarkeit und die Ausnahme. Dabei ist das Monströse wie bei Kafka bereits eingedrungen und hat das Soziale ›entsetzt‹.48 Im Mittelpunkt der Geschichte steht Henrys monströses Baby, das nur seine Bezeichnung in der Ordnung der menschlichen Wesen hält: »[...] despite the imprimatur of language that it carries, it bears only a superficial resemblance to a baby. It cries, coos, eats, gets sick; it is completely dependent. But it lacks the integrity of a natural body; it is all head, eyes, mouth and stomach. […] This ›baby‹ is the essence of illusionist reality – there is something there, but it is actually formless, held to-
47 Žižek hat seine Gedanken zur Monstrosität des modernen Subjekts in diversen Texten entwickelt. Genannt seien: Das Unbehagen im Subjekt, Wien 1998, und Grimassen des Realen. Jacques Lacan oder die Monstrosität des Aktes, Köln 1993, bes. S. 178-186. 48 Unbestimmbarkeit und Ausnahmehaftigkeit sind die vielleicht zentralen Kriterien des Monströsen. Vgl. beispielhaft Michel Foucaults Definitionsversuch, demzufolge das Monster das »große Modell aller kleinen Abweichungen« ist. Michel Foucault: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974-1975). Frankfurt/Main 2007, S. 78, 86f. – Eraserhead ist aus dem Plan für ein Filmprojekt mit dem Titel Gardenback hervorgegangen. Die Kafka’sche storyline schildert Lynch wie folgt: »Wenn man ein Mädchen betrachtet, springt da etwas über. Und in dieser Geschichte war dieses Etwas ein Insekt, das auf dem Dachboden des Mannes, also in seinem Gehirn, langsam immer größer wird. Dieses Ding wuchs und verwandelte sich in eine Art Monster, das ganz von ihm Besitz ergriff. Er verwandelte sich zwar nicht in das Monster, aber er wurde es nicht los, und es brachte ihn schließlich dazu, sein ganzes Haus zu zerstören.« David Lynch zit. nach Seeßlen: David Lynch und seine Filme (Anm. 21), S. 231.
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gether only by the word and a bandagelike swaddling.«49 Das MonsterBaby könnte dem Geburtsakt aus dem Prolog entstammen, Henrys Kopfgeburt sein, oder ein Produkt unbefleckter Empfängnis, gemäß der christologischen Anspielung im Namen von Henrys Partnerin Mary. Unklar bleibt jedenfalls, ob ›sexual intercourse‹ stattgefunden hat. Das ›Baby‹ ist ein unbekanntes Ding inmitten der Keimzelle der Familie. Wie die Forschungsliteratur dokumentiert, drängt es sich als ›trächtiges‹ Zeichen der Interpretation auf, um sie leerlaufen zu lassen. Als paradigmatische »Darstellung von Unförmigkeit« verkörpert es allerdings präzise die Form- und Grenzenlosigkeit des filmischen Raums: »Er ist wie das Monster ein Körper ohne Haut.«50 Henry und Mary sind von der Verantwortung für das unwahrscheinliche Kind, das mit seinem Geschrei sein penetrantes Dasein untermauert, heillos überfordert. Mary flieht zu ihren Eltern und Henry erleidet in Anbetracht des monströsen Dings, das sein Erzeugnis sein soll, einen totalen Selbstverlust.
49 Martha Nochimson: The Passion of David Lynch. Wild at Heart in Hollywood. 5. Aufl. Texas 2005, S. 151. In der Forschungsliteratur zu Eraserhead wurden die unterschiedlichsten Versuche unternommen, die Gestalt des Babys vergleichend zu beschreiben. Die Ergebnisse liefern letztlich nur einen Beleg für dessen Unbestimmbarkeit. – Jerslev hat den Akzent nicht auf die Gestalt, sondern auf den Ort des Erscheinens gelegt. Entgegen dem Horrorfilm der 30er-Jahre, in dem das Monster aus dem Außen der amerikanischen Gesellschaft in deren Inneres einbreche, sei seit Hitchcocks Psycho klar, »daß der Horror sowohl amerikanisch als auch Teil der Familie ist«. Seit Ridley Scotts Alien (1979), in dem sich außerirdische Monsterparasiten in menschliche Wirtskörper einnisten, könne das Monster gar »aus dem Inneren des Individuums« kommen. Eraserhead könne als Ausdruck dieser Tendenz des Genrefilms gesehen werden. Jerslev: Mentale Landschaften (Anm. 18), S. 66f. 50 Ebd., S. 69. Ähnlich haben Kaul und Palmier das Baby als »Metaphorisierung der Darstellung« gedeutet. Kaul und Palmier: David Lynch (Anm. 38), S. 39.
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Abbildung 6: Das Monster-Baby
Quelle: Eraserhead. DVD (Anm. 23)
Das Baby steht in einem mehr als nur metonymischen Zusammenhang mit den ›Spermien‹ aus Henrys Wohnung und dem Prolog. Jeweils verweisen sie auf den sexuellen Zeugungsakt und lassen sich gleich psychotischen Symptomen nicht abschütteln, sondern insistieren oder neigen zur Wiederkehr. Für die an diesen Symptomen aufscheinende »circularity of the psychoanalytic process«51 hat Lynch eine aussagekräftige postalische Metapher gefunden: Henry erhält in einer der ersten Szenen (s)ein ›Spermium‹ mit der Briefpost – als Sendung aus dem Nirgendwo, die sich signifikanterweise mit einer elektrischen Störung des Fahrstuhls verbindet. In einer anderen, oben anzitierten Szene wird Henry von Marys Mutter ausgehorcht, ob die Beiden sexuellen Verkehr gehabt hätten. Henry negiert und bekommt simultan Nasenbluten, als wollte sein Körper ihn verraten. Sobald in Eraserhead Sexualität und Zeugung zeichenhaft angedeutet oder angesprochen werden, ist Henrys stereotype Geste zudem der besagte entsetzte Blick. Offenkundig ist der sexuelle Bereich mit einer unergründlichen Angst besetzt, deren traumatisches Ausmaß sich schon daran bemisst, dass die Symptome des Sexuellen zwar allgegenwärtig sind, die sexuelle Szene selbst
51 Žižek hat die Symptomstruktur und Zirkularität des Erzählens am Beispiel von Lost Highway aufgezeigt. Vgl. Žižek: Ridiculous Sublime (Anm. 38), S. 17f., hier S. 17.
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aber nie gezeigt wird. Es nimmt kaum wunder, dass Eraserhead wiederholt als filmisches »Schreckensbild einer umfassenden Sexualangst« gedeutet worden ist.52 Eine rein inhaltlich-tiefenpsychologische ›Lesart‹ greift gleichwohl zu kurz und fällt hinter die dekonstruktive Logik des Films zurück. Der Akzent der Analyse wäre daher zu verschieben. Denn auch auf der Ebene der Figuren dreht sich in Eraserhead alles um Oberflächen und Strukturen. Sämtliche Figuren des Films sind ›flach‹: Sie sind nichts als leere Bildhüllen und Zitate, die als instabile Materialisierungen diskursiver topoi fungieren. Allenthalben der mythischen Weiblichkeit der Frauenfiguren lässt sich eine Textualisierungsstrategie ›ablesen‹, die in Lynchs ersten Kurzfilmen vorgeprägt ist. Hier wie dort sind die Frau und »[d]er weibliche Körper [...] Material, Schreibfläche, Medium und Zeugnis der Beschriftung«.53 Bei Mary ›X‹ bezeugt schon der Name eine – zweideutige – kulturelle Einschreibung. Angelegt als Marienfigur, ist sie zugleich ein rätselhaftes Wesen ohne Bestimmung und Geschlechtsidentität. Sie verweigert sich letztlich der Mutterrolle, erfüllt aber auch sonst keines der gängigen Klischees. In Eraserheads Geometrie der Weiblichkeitsentwürfe steht sie in der Mitte zwischen zwei anderen Frauenfiguren, die solche Klischees erfüllen. Henrys Nachba-
52 Jerslev: Mentale Landschaften (Anm. 18), S. 76. Jerslevs Deutung, die auf Kristevas Begriff des Abjekten zurückgreift, um den Schrecken des Sexuellen theoretisch zu erfassen, schließt u. a. an George K. Godwin an. Vgl. George K. Godwin: Eraserhead. An appreciation. In: Cinefantastique 4/5 (1984), S. 50-72. 53 Gerald Koll: Say: «Fuck me!« Invitation to Love. Frauen, ERotik und deR veRgewaltigende Buchstabe. In: »A Strange World« (Anm. 20), S. 159182, hier S. 173. In dem Kurzfilm The Alphabet stellt Lynch die Erfindung des Weiblichen als Animationsfilm-Variante des Pygmalion-Mythos dar: Eine Frauenstatue wird durch einen ›Buchstaben-Samen‹, der in ihren Kopf geschossen wird, vitalisiert und anschließend wieder zerstört. Dazu spricht eine warnende Frauenstimme die Worte »Remember you are dealing with the human form!« Vgl. ebd.
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rin zum einen ist das aufs Elementare beschränkte Bild der femme fatale und figuriert explizit als ›bodenloses‹ Zeichen.54 Die Lady in the Radiator zum anderen ist eine von Lynchs feenhaften Erlöserfiguren.55 Ihr Theater ist der utopische Ort des Films: Sie »tötet die Symbole der Sexualität [die ›Spermien‹], bis die Bühne von allen Zeichen der Lust gesäubert ist«, und in der Schluss-Szene verschmelzt sie mit Henry »in einer Art Reinigung oder Nirvana«. Es bleibt offen, was es bedeutet, wenn Henry und die Heizkörperfrau sich zum Abschluss umarmen und die Bilder des Films sich ins »läuternde Weiß des Nichts« auflösen.56 Allerdings erscheint die Szene wie aufgepfropft, wie das hohle Fantasma eines Fluchtwegs aus den Bedrohungen und Zwängen von Zeugung und Familie. Die Hohlheit der Figuren demonstrieren überdeutlich die Familienporträts des Films, aus deren allfälligen Bruchstellen die Abgründigkeit des Imaginären schimmert. Dies wird an Henrys Kernfamilie so deutlich wie an Marys Stammfamilie, von der Henry zu einem Dinner eingeladen wird. Im gespenstischen Haus der Xs ist das Leben in jeder Beziehung »defekt, und doch wird vollständig die Fassade einer bür-
54 Zu Lynchs Umgang mit der traditionellen Figur der femme fatale, vgl. Žižek: Ridiculous Sublime (Anm. 38), bes. S. 8-12. Ein ›bodenloses‹ Zeichen wird die Nachbarin, wie oben angedeutet, als literalisierte Metapher: Ihre bildliche Abgründigkeit nimmt Lynch wörtlich, wenn er sie mit Henry im Bett versinken lässt. 55 Zu einer Typologie der Frauenfiguren bei Lynch, vgl. Koll: Invitation to Love (Anm. 53). 56 Vgl. Jerslev: Mentale Landschaften (Anm. 18), S. 77. Jerslevs grundsätzlich kluge Analyse bleibt tendenziell bei einer inhaltlichen Deutung stehen und interpretiert Eraserhead ›romantisch‹. Eine ›postromantische‹ Deutung, die das Ende als diskursives Klischee begreift, wird dem ästhetischen Impetus von Eraserhead eher gerecht und lässt sich auch intratextuell aus dem Text- und Projektionscharakter der (Frauen-)Figuren in Lynchs Filmen plausibilisieren.
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gerlichen Familie aufrecht erhalten«.57 Mutter und Tochter haben Spasmen und Ticks, Programmfehler ihrer Körpermatrix, die Großmutter ist ein lebender Leichnam, der sich bei der Küchenarbeit wie eine Marionette bedienen lässt, und selbst das Essen ist nur fragile Hülle von etwas Anderem, das unter der Oberfläche brodelt. In einer bizarren Tischszene, in der Henry von Marys Vater aufgefordert wird, ein Hühnchen zu tranchieren, wackelt dieses auf Henrys Annäherung hin mit den Schenkeln und scheidet ein schleimiges Sekret aus. Es ist bezeichnend, dass der Vater, dessen Arm taub ist, nicht selbst mit dem Messer in das Hühnchen eindringen kann, das wie ein obszöner weiblicher Torso aussieht, der ganz Geschlechtsbereich ist. Bei Lynch sind die Väter ›kastriert‹, sie fehlen oder die Vaterfunktion ist in anderer Form ausgesetzt. Das Resultat sind ›nicht zu Ende geborene‹ Figuren, die in einem Werden ohne Gesetz, im Unförmigen steckenbleiben und sich nicht im symbolischen Netzwerk verfangen.58 So wirkt auch Henry wie zu früh in eine fremde Welt geworfen. In seinen holprigen Bewegungen und seiner unbeholfenen Art, in seinem Anzug mit zu kurzen Hosen (er könnte eine Midnight-Version Charlie Chaplins sein), hat er etwas puppenhaft Unfertiges, das seiner Verwandlung harrt. Gegen alle Erlösungs- und Fluchtträume ist es Eraserheads kritische Tendenz, den fantasmatischen Rahmen vom Subjekt abzulösen, um es in seiner Monstrosität vorzuführen. Eraserhead zerstört systematisch das Bild der substantiellen Tiefe und Einheit des Subjekts und lässt es zuletzt in einer passage à l’acte verschwinden. In der grotesken Körperlichkeit des Films, in den ›Akten des Körperdramas‹ kündigt sich die Auflösung des Subjekts an. Der Reigen unkontrollierbarer, un-
57 Seeßlen: David Lynch und seine Filme (Anm. 21), S. 29. 58 Vgl. ebd., S. 22: »In Lynchs Endzeit-Barock bemühen sich unfertige, das heißt noch nicht vollständig korrumpierte und nicht zu Ende geborene Menschen, sich durch ›Wissen‹ und Einsicht einer Umwelt zu nähern, in der es keine Autorität, keine Leitbilder gibt, weder verbindliche Ideen noch die Sicherheit einer glatten Oberfläche.« Zur Vaterfunktion bei Lynch, vgl. Žižek: Ridiculous Sublime (Anm. 38), bes. S. 28-32.
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abgeschlossener und deformierter Körper beweist stets aufs Neue, dass die Integrität des Subjekts aus den Fugen gerät.59 V. a. das Motiv des Kopfverlusts hat eine symbolische Bedeutung: Der Kopf ist das Medium der Sprach- und Vorstellungsproduktion und die physiologischintellektuelle Möglichkeitsbedingung des Wissens und der Selbsterkenntnis.60 Henrys Enthauptung ist daher eine Schlüsselszene, in der die deterritorialisierende Triebkraft des Films zum Ausdruck kommt. Seine Spaltung, inszeniert als Bühnenakt, ist dabei Teil einer weitergehenden Metamorphose. Aus dem Loch in Henrys Rumpf wächst sogleich der Kopf seines Babys nach und stößt ein sirenenhaftes Geheul aus. Das fremde Ding, das er irgendwie erschaffen haben muss, sucht ihn heim und usurpiert seinen Körper. Mit Žižek könnte man sagen, dass Henry an diesem »Punkt des äußersten Wahnsinns«, den er in seinem Alptraum durchquert, der Wahrheit des Subjekts »ins Auge blickt«. In seinem ›ex-timen Kern‹, unterhalb der Oberfläche seiner imaginären Selbstidentität, ist das Ich ein Anderer und Blinder: ein Fremder im eigenen Körper und ein »leere[s] Nichts« dahinschießender Bilder.61
59 Zur »Frage nach Kontrolle und Kontrollverlust« des Körpers bei Lynch, vgl. Helga Bechmann: Der Körper: Kontrolle und Kontrollverlust. In: »A Strange World« (Anm. 20), S. 142-158, hier S. 142. Zum Begriff des grotesken Körpers, vgl. Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt/Main 1987. 60 Zur Rolle des Kopfes und der Kopfdeformationen bei Lynch, vgl. Ulrich Bähr: »Dealing with the human form.« Deformationen als ambigue Zeichen künstlerischer Freiheit und zerstörerischer Macht. In: »A Strange World« (Anm. 20), S. 183-196. 61 Žižek: Unbehagen im Subjekt (Anm. 47), S. 35. Als Beispiel für das ›Subjekt jenseits der Subjektivierung‹ zitiert Žižek eine Passage Hegels aus der Jenaer Philosophie: »Der Mensch ist diese Nacht, diß leere Nichts, das alles in ihrer Einfachheit enthält – ein Reichthum unendlich vieler Vorstellungen, Bilder, deren keines ihm gerade einfällt –, oder die nicht als gegenwärtige sind. Diß die Nacht, das Innre der Natur, das hier existiert –
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Abbildungen 7a-b: Henry verliert den Kopf
Quelle: Eraserhead. DVD (Anm. 23)
In Eraserhead geht es nicht primär um ein individuelles Trauma oder eine Sexualpsychose, es geht nicht so sehr um das Affekt-Schicksal eines idiosynkratischen Subjekts. Wichtiger ist die Darstellung des fundamentalen Schauplatzes subjektiver Fantasmen und Psychosen –
reines Selbst, – in phantasmagorischen Vorstellungen ist es rings um Nacht, hier schießt dann ein blutig Kopf, – dort eine andere weisse Gestalt plötzlich hervor, und verschwindet ebenso – Diese Nacht erblickt man wenn man dem Menschen ins Auge blickt – in eine Nacht hinein, die furchtbar wird, – es hängt die Nacht der Welt hier einem entgegen.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel zit. nach ebd.
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eines chaotischen ›Nullpunkts‹, durch den die imaginäre Formwerdung des Subjekts läuft und zu dem es immer wieder zurückkehrt. Eraserhead veranschaulicht den medialen und diskursiven Dispositonsraum des Subjekts und seiner Welt und kann dazu aus dem Bilderarchiv des kulturellen Unbewussten schöpfen.62 Lynchs spezifischer Zugriff extrahiert daraus »Bilder einer modernen Zivilisation, die sich mehr oder weniger in Auflösung befindet. Eine Auflösung, die bis tief in das Innere der Personen hineinreicht.«63 Das Subjekt wie auch die Komponenten des filmischen Mediums verwendet Lynch als Material, das sich flexibel formieren und transformieren lässt. In diesem Kontext ist die Traum-Sequenz, in der Henrys Kopf schließlich zu dem Radiergummistück eines Bleistifts verarbeitet wird, eine mise en abyme des ästhetischen Verfahrens. Nachdem der Film mit einem close up des Kopfes angefangen hatte und die Kamera in ihn eingedrungen war, um sein Innerstes auszuleuchten, wird er von der Figur abgetrennt und auf seine Materialbasis gesetzt. Die Reste einer Schreib- und Löschprobe mit dem Zeicheninstrument werden von einem Ingenieur schließlich weggeblasen und füllen wie Sternenstaub das schwarze Bild. Diese »Auslöschung oder, besser, Ausradierung« symbolisiert den filmischen »Versuch, jene Struktur zu löschen, die sich in den Filmbildern manifestiert«.64
62 Die Psychoanalyse bietet sich deswegen für einen Zugang zu Lynch an, weil sie den motivischen Bildbereich des Subjekts in der Moderne nachhaltig geformt hat. Vgl. Achim Geisenhanslüke: Das Schibboleth der Psychoanalyse. Freuds Passagen der Schrift. Bielefeld 2008. Wenn hier von der Psychoanalyse Gebrauch gemacht wird, dann gerade nicht, um Eraserhead psychologisch zu deuten. 63 Jerslev: Mentale Landschaften (Anm. 18), S. 29. 64 Ebd., S. 83.
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Abbildungen 8a-b: In der Radiergummifabrik
Quelle: Eraserhead. DVD (Anm. 23)
Es ist ästhetisch nur konsequent, dass die Bilder am Ende von Eraserhead kollabieren. Die Darstellung löst sich in apokalyptischen Szenenfolgen auf, die Texturen des Körpers und des Mediums zerreißen. Vielleicht aus Neugier, was unter der Oberfläche ist, öffnet Henry den Gazeverband um sein krankendes Baby und sticht mit einer Schere in seinen auseinanderklappenden Körper. In diesem Moment gerät alles außer Kontrolle: Dem Körper entströmt eine breiartige Masse, der Hals des Babys dehnt sich und sein Kopf beginnt zu wuchern; augenblicklich stellt sich ein Lichtflackern ein und auch der Man in the Planet, dessen Steuerapparatur nun verrücktspielt, kreischt und ächzt, ist wieder da. Auf dem Höhepunkt hat der Babykopf eine Dimension erreicht, die den Bildausschnitt überragt – das Kamera-Auge wird vom Objekt
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der Darstellung geradezu verschlungen. Die Störung von Sichtbarkeitsund Wissensordnungen, die Eraserhead von Anfang an betreibt, kulminiert damit in der Zerstörung des filmischen Kosmos. Der Film hinterlässt ein Trümmerfeld der Repräsentation und einen aphasischen Schock vom Wirkungsgrad der ersten kinetischen Bilder.65 Aber noch die Bilder der Apokalypse und die Apokalypse der Bilder wirken wie ein tausendfach variiertes Zitat, wie ein Bild von Bildern kultureller Untergangsereignisse und kollektiver Traumata. Aus Eraserhead schallt letztendlich ein verstörendes nietzscheanisches Gelächter, weil das Reich der etablierten Bilder und Metaphern vollends untergraben wird und ihm doch nie zu entkommen ist. Das Ende ist nicht das Nichts, sondern ein Bild vom Ende und der Auflösung.
65 Nach den ersten Vorführungen von Eraserhead soll fast völlige Stille im Saal geherrscht haben. Die Zuschauer seien wie erstarrt gewesen, ohne Worte für die soeben erlebte ästhetische Erfahrung. Vgl. Chion: David Lynch (Anm. 2), S. 37.
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Abbildungen 9a-c: Entgrenzung des Babys
Quelle: Eraserhead. DVD (Anm. 23)
»He is being stared at all over again«. Zur Sichtbarkeit des Monströsen in David Lynchs The Elephant Man C ATHERINE S HELTON
Das erste Bild ist bezeichnend: ein Paar Augen. Die Kamera zeigt dieses Augenpaar (das offensichtlich einer Frau gehört) einige Sekunden in einer Detailaufnahme.1 Danach schwenkt sie langsam abwärts und zeigt den Mund der Frau. In einer Überblendung wird schließlich das vollständige Gesicht der Frau sichtbar; deutlich wird gleichzeitig auch, dass es sich um eine gerahmte Photographie handelt. In einer langsamen Überblendung erscheint nun ein zweites Bild derselben Frau, auf dem sie etwas älter zu sein scheint; für einen Moment liegen die beiden Gesichter in transparenten Lagen übereinander. Während einer Abblende mischen sich in die bis dahin elegische Musik ein dunkler, tiefer Ton und ein rhythmisches Stampfen. Eine Aufblende zeigt nun eine Reihe von Elefanten, die von rechts nach links an der Kamera vorbei-
1
Die Bezeichnung der Einstellungsgrößen richtet sich nach den einschlägigen
Festlegungen:
Detailaufnahme/Extreme
Close-up,
Großaufnah-
me/Close-up, Halbnahe/nahe Einstellung/Close-up usf., wie beispielsweise dargelegt in Thomas Koebner (Hg.): Reclams Sachlexikon des Films. 3. Aufl. Stuttgart 2011.
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schreiten, die im rechten Winkel zu ihnen positioniert ist. Nach einer weiteren Ab- und Aufblende wenden sie sich in einer synchronen Drehung zur Kamera und kommen frontal auf sie zu, wobei verzerrte animalische Laute hörbar werden. Das folgende Bild zeigt nun in Großaufnahme das Haupt eines Elefanten, dessen Rachen weit geöffnet ist und der bedrohlich den Rüssel hebt, um ihn in einer nächsten Einstellung um den Hals einer Frau zu legen und sie umzustoßen. Nachdem gezeigt wurde, wie die Frau mit dem Rücken zu Boden fällt, alterniert die Montage fortan zwischen halbnahen Einstellungen, die zeigen, wie sie sich schreiend am Boden hin- und herwirft, und Bildern des brüllenden, sich aggressiv gebärdenden Elefanten. Die Ausleuchtung lässt das Tier riesig und dunkel erscheinen, sie erzeugt einen Eindruck des Bedrohlichen. Dazu tragen gezielte Verfremdungen auf auditiver und visueller Ebene bei, die oben erwähnten Geräusche, das verzerrte Brüllen der Tiere hier sowie die extreme Verlangsamung des Bildes durch die starke Slow-Motion dort, was die Bewegungen undeutlich verwischt erscheinen lässt. Das Geschehen bleibt zunächst unerklärt und damit auch unbegreiflich, was einen weiteren Grund darstellt, warum diese Sequenz einen solch verstörenden Effekt hervorruft.2
2
Drehli Robnik begründet den verstörenden Effekt dieser Sequenz mit der Teilung zwischen Bild und Ton und bezieht sich dabei auf Deleuzes Konzept vom »irrationalen Schnitt«. Indem dabei das Sichtbare vom Hörbaren getrennt werde – wie hier das Bild der sich windenden Frau und des Elefanten von dem Ton des dunklen Stampfens oder wie später das Bild der Wolken von dem Schrei des Säuglings –, werde es unmöglich gemacht, das eine auf das andere zurückzuführen. »Die Eigentümlichkeit und Stärke von Lynchs Sound Design erweist sich dort, wo wir nicht wissen, warum wir etwas hören, weil wir das, was wir hören, nicht sehen.« Drehli Robnik: Außengeräusche. Das Intervall, das Sprechen, das Wohnen, das Sound Design und das Ganze in den Filmen von David Lynch. In: Eckhard Pabst (Hg.): A Strange World. Das Universum des David Lynch. Kiel 1998, S. 31-46, hier S. 45.
»H E IS
BEING STARED AT ALL OVER AGAIN «
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Abbildung 1: Szenenausschnitt aus The Elephant Man
Quelle: The Elephant Man (1980). Regie: David Lynch. DVD. Studio Canal 2010.
Die Eingangssequenz von David Lynchs The Elephant Man (1980) ist berühmt und wird in vielen Arbeiten über den Film hervorgehoben.3 Wenn sie auch an dieser Stelle noch einmal ausführlich geschildert wird, so deshalb, weil sie gleich zu Beginn des Films nahezu programmatisch zwei Bedeutungskomplexe einführt, die hier näher untersucht werden sollen. Da wäre zunächst das Bild von den Augen (vgl. Abb. 1), mit dem von Anfang an die Thematik des Sehens gesetzt ist. Mit der abgefilmten Photographie greift die Eingangssequenz überdies eine traditionsreiche kompositorische Figur auf: eine Bild-im-BildVerschachtelung, die die Instanzen der medialen Vermittlung verdoppelt und zugleich auf den Prozess der Erzeugung und Gestaltung von
3
Überwiegend wird sie dabei als eine Evokation von (gewaltsamer) Zeugung und Geburt gedeutet. Vgl. u. a. Georg Seeßlen: David Lynch und seine Filme. 5., erw. u. überarb. Aufl. Marburg 2003, S. 42ff.; Michel Chion: David Lynch. 2. Aufl. London 2006, S. 50; Greg Olson: David Lynch: Beautiful Dark. Lanham, Md. 2008, S. 113f.; Anne Jerslev: David Lynch. Mentale Landschaften. Wien 1996; Helga Bechmann: Der Körper: Kontrolle und Kontrollverlust. In: A Strange World (Anm. 2), S. 142-159; Eckhard Pabst: »He will look where we cannot.« Raum und Architektur in den Filmen David Lynchs. In: A Strange World (Anm. 2), S. 11-30.
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Bildern hinweist. Hiermit ist zugleich auch die Kategorie der Sichtbarkeit aufgerufen. The Elephant Man spiegelt und erkundet, wie zu zeigen sein wird, spezifische kulturelle Voraussetzungen und Verfahren, die Sichtbarkeit ermöglichen und bedingen. Dabei fokussiert der Film in der Geschichte eines außergewöhnlich devianten Körpers, auf welche Weise die Kategorie des Monströsen in Erscheinung tritt, welche Blicke sich auf das Monstrum richten und warum. Auf diese drei Aspekte soll im Folgenden eingegangen werden.
AUFTRITT DES M ONSTRUMS : W IE DIE K ATEGORIE DES M ONSTRÖSEN ZUM V ORSCHEIN GEBRACHT WIRD Das Monströse, meist in Gestalt des Monstrums, ist einer der zentralen Topoi des Horrorfilms. Es gilt als die »genrekonstituierende Größe«4 des Horrorfilms schlechthin, wobei es aus unterschiedlichen Perspektiven heraus zum Abgrenzungskriterium erhoben wird: Ikonographisch argumentierende Positionen beanspruchen das Monströse als den spezifischen visuell-auditiven Schauwert des Horrorfilms. Narrationstheoretische Überlegungen reklamieren es als eines von beiden Elementen in der für das Genre grundlegenden Dichotomisierung von Normalität und Monstrosität und begreifen es als Agens in dem daraus erwachsenden, die Erzählung des Horrorfilms strukturierenden Konflikt.5
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Eckhard Pabst: Das Monster als genrekonstituierende Größe im Horrorfilm. In: Norbert Stresau und Heinrich Wimmer (Hg.): Enzyklopädie des phantastischen Films. 40. Erg.-Lfg. Meitingen 1995, S. 1-18.
5
Überlegungen, die den Horrorfilm im Rekurs auf die Kategorie des Monströsen bestimmen, haben u. a. vorgelegt Noël Carroll: Philosophy of Horror or Paradoxes of the Heart. New York, London 1990; Elmar Reß: Horrormotive im Film. In: Walter Stock (Hg): Faszination des Grauens. Frankfurt/Main 1990, S. 31-59; Frank Hofmann: Moderne Horrorfilme. Rüssels-
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Damit greift der Horrorfilm eine höchst heterogene und polyseme Kategorie auf. An dieser Stelle ließe sich fragen, inwiefern The Elephant Man überhaupt als Horrorfilm bezeichnet werden kann – eine Diskussion, die hier allerdings zurückgestellt werden soll.6 Unbestreitbar aber ist, dass The Elephant Man narrative Strukturen und auch ikonographische Elemente des Horrorfilms aufgreift, sowie eben auch den Topos des Monstrums. In The Elephant Man tritt das Monströse in Gestalt eines extrem fehlgebildeten Körpers, als medizinischer Fall, auf.7 Es wird, und hier zeigt sich ein Bruch mit ikonographischen Traditionen des Horrorfilms, also nicht im Bereich des Phantastischen verortet. Durch den titelgebenden Namen wird die Figur allerdings in die Reihe der Tiermenschen, wie des Werwolfs oder der catpeople gestellt, die zum klassischen Figurenarsenal des Genres gehören.8 John Merricks deformier-
heim: 1992; Martina Lassacher und Veronika Theissel (Hg.): Horrorbilder. Innsbruck 1992; David J. Russel: Monster Roundup. Reintegrating the Horror Genre. Nick Brown (Hg.): Refiguring American Film Genres. Berkeley, London 1998, S. 233-254; Arno Meteling: Monster. Zu Körperlichkeit und Medialitiät im modernen Horrorfilm. Bielefeld 2006. 6
Und die in der Überlegung enden könnte, dass The Elephant Man in Teilen als Kommentar zu Erzählstrategien, Anliegen und Funktionen des Horrorfilms aufzufassen wäre.
7
Die Figur des John Merrick ist historisch und in zeitgenössischen Photographien und Berichten dokumentiert worden. Merrick litt an der Recklinghausen-Krankheit, die seine extremen Fehlbildungen verursachte. Zum historischen Fall, vgl. Frederick Treves: The Elephant Man and Other Reminiscences. London 1923; Ashley Montagu: The Elephant Man: A Study in Human Dignity. 4. Aufl. Lafayette 2001.
8
Vgl. Thomas Koebner: Häutungen. Von Katzenmenschen und Werwölfen im Film. In: Christine Rüffert u. a. (Hg.): Unheimlich anders. Doppelgänger, Monster, Schattenwesen im Kino. Berlin: 2005, S. 39-52; Hans Richard Brittnacher: Ästhetik des Horrors. Frankfurt/Main 1994, bes. das Kapitel Werwolf und Tiermensch, S. 199-221.
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te Gestalt stellt eine extreme Abweichung vom Üblichen/vom Ideal der menschlichen Physis dar. Seine Körperlichkeit wird so zur Ausnahmeerscheinung, die kulturell gebildete Vorstellungen physischer Integrität unterläuft und verletzt. Gleichzeitig wird seine Fehlbildung im Film mehrmals der körperlichen Makellosigkeit und Unversehrtheit seiner Mutter gegenübergestellt (die ihrerseits allein in jenen Photographien präsent ist, die direkt zu Beginn des Films gezeigt werden). Das Monströse wird somit in den Dualismus von Norm und Abweichung eingesetzt, dessen Gegensätze sich wechselseitig bedingen: Allein die Vorstellung einer physischen Norm ermöglicht die Wahrnehmung der körperlichen Fehlbildung als solche, d. h. als Deformität, Deviation und Anomalie, während wiederum das »Gegenbild« des verkörperlichten Monströsen die normale/ideale Physis erst sichtbar werden lässt. Doch nicht nur die Vorstellung einer – wie auch immer gearteten – Normalität ist Voraussetzung für die Abgrenzung der monströsen Physis, sondern auch deren verbindliche Geltung und Akzeptanz innerhalb eines gegebenen kulturellen Kontextes. »Normieren und normalisieren, das bedeutet: einem Daseienden, Gegebenen eine Forderung aufzuzwingen, von der sich Vielfalt und Disparatheit dieses Gegebenen als ein nicht bloß fremdes, sondern feindliches Unbestimmtes darstellen. [...] So geht denn auch jede Präferenz für eine mögliche Ordnung – zumeist implizit – einher mit der Aversion gegen die mögliche Gegenordnung. Das in einem bestimmten Wertungsbereich vom Bevorzugten Differierende ist keineswegs das Indifferente, sondern das Abstoßende oder besser das Abgestoßene, das Abscheuliche.«9
Mit diesem spezifischen Effekt der Konzeption von Norm ist die Bedingung, unter der das Monströse erscheinen kann, bereits umrissen. Es wird deutlich, dass durch die Festlegung von Normen Qualitäten und Zustände nicht nur verworfen, sondern auch exkludiert werden, wie im Fall der (monströsen) Körperlichkeit. In ihrem Fall zeigt sich die Abwertung des nicht der Norm Entsprechenden gleich zweifach: In
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Georges Canguilhem: Das Normale und das Pathologische. München 1974, S. 163f. (Hervorhebung C.S.).
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der Medizin gilt die von der Norm abweichende Anatomie als fehlerhaft, sie wird also pathologisiert; die von der ästhetischen Norm/von dem ästhetischen Ideal abweichende Physiognomie erscheint als hässlich oder sogar als abstoßend.10 Michel Foucault hat darauf hingewiesen, dass in der Idee der Norm ihre Durchsetzung, also die Ausrichtung von Handlungsweisen oder Objekten an ihr als einem Bezugssystem, impliziert ist.11 Die »Macht der Norm« beschreibt er als ein dynamisches System von Definitionen, Instrumenten und Mechanismen, das allerdings nicht allein ausschließend, unterdrückend und negierend agiert, sondern durch Klassifikation, Abmessung und Bestimmung generierend wirkt, also seine Gegenstände – und ihre Gegensätze – überhaupt erst hervorbringt. Das auch dem Foucault’schen Machtbegriff inhärente Oszillieren zwischen Repression und Produktion charakterisiert auch seine Konzeption der Norm, die Diversifikation unterdrückt und zu ihrer Einebnung ansetzt, Partikularität und Individualität durch ihre Grenzziehungen aber erst hervortreten lässt. Gerade der (Hygiene-)Diskurs des gesunden Körpers, wie er bereits an der Epochenschwelle zur Moderne entfaltet wird, treibt die Etablierung und Verfestigung körperlicher Normen voran, indem er mit Differenzsetzungen operiert, die dem »Normkörper« (dem gesunden, hygienischen, weißen, bürgerlich sozialisierten Körper) den Körper des Proletariers, des Kranken oder des »Wilden« kontrastierend entgegenstellen. Die Vorstellung von der abweichenden Physis, der verkörperten Monstrosität, lässt die körperliche Norm umso schärfer hervortreten. Sie entsteht daher auch nicht am Rande des medizinischen Diskurses, sondern in seinem Zentrum.12
10 Vgl. dazu Michael Hagner (Hg.): Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten. Göttingen 1995; Gert-Horst Schumacher: Monster und Dämonen. Unfälle der Natur. Leipzig 1993. 11 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Frankfurt/Main 1994. 12 Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 17651914. Frankfurt/Main 2001.
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Das »Menschenmonster« erscheint jedoch nicht allein als Gegenentwurf zur Norm, zum Normalen, als Deviation, sondern auch als Überschreitung der Naturgesetze, als unbegreiflicher Einspruch gegen sie: »Das Monster widerspricht tatsächlich dem Gesetz. [...] Das Monster ist ein Gesetzesbruch, welcher sich automatisch außerhalb des Gesetzes stellt, und das ist eine seiner ersten Zweideutigkeiten. Die zweite besteht darin, [...] daß das Monster das große Modell aller kleinen Abweichungen ist.«13
Mit seiner physischen Anomalie verletzt das Monströse die Ordnungsund Differenzierungssysteme, die der naturwissenschaftliche Diskurs seit der Neuzeit sukzessiv errichtet hat, um die Arten, Gattungen und Geschlechter der Naturwesen zu klassifizieren und ihnen ihren jeweiligen distinkten Ort zuzuweisen. In diesem Ordnungssystem wird die Vielfalt der biologischen Erscheinungsformen nach zahlreichen, regelhaft wiederkehrenden Eigenschaften und Kriterien differenziert und repräsentiert, gleichzeitig dem Vergleich und der Übersicht zugänglich gemacht.14 Innerhalb eines solchen Systems erscheint die Monstrosität als Bruch, als eine nicht zu fassende Differenz. Sie wird in ihrer Irregularität sichtbar als Gegenprinzip. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Verhandlungen des Monströsen in den im 18. Jahrhundert aufkommenden naturwissenschaftlichen Debatten als Strategien lesen, die eine »Entzauberung des Monströsen« leisten sollen. Hatten der Ordnungsgedanke und -wille das Monströse in seiner unfassbaren Gestalt gerade noch als nicht in die Konzeption von Regelhaftigkeit einpassbar hervortreten lassen, entsteht jedoch nahezu gleichzeitig der Versuch, die Vielgestaltigkeit kau-
13 Michel Foucault: Die Anormalen. Frankfurt/Main 2003, S. 77. 14 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. 12. Aufl. Frankfurt/Main 1993, bes. S. 165-210. Als Beispiel für die Klassifikation der Lebewesen, die der modernen Biologie zugrunde liegt, nennt Foucault das System der Natur von Carl von Linné und seine Anordnung der Lebewesen im Übersichtsschema des tableaus.
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sal wie anatomisch zu erklären und sie damit in die Sinnkonstruktion der Naturordnung zu integrieren. Es entsteht die Wissenschaft vom Monströsen, die das »Unklassifizierbare einordnen« und das »Einzigartige generalisieren« kann.15 Mit und durch die Teratologie werden somit klassifizierte Physiognomien des Monströsen erzeugt, die – und dies ist ein folgenreicher Effekt – durch den wissenschaftlichen Zugriff naturalisiert werden.16 Diese Bestrebungen finden in visuellen und repräsentativen Verfahren ihre Entsprechung, beispielsweise in den Naturalienkabinetten, in denen als besonders auffällige Naturphänomene die Monstren ihren Platz finden. Hier werden sie als »Wunder« oder »Launen der Natur« nicht nur konserviert, sondern auch aufwendig inszeniert, was auch die möglichst lebensnah wirkende Anordnung und ästhetisierende Dekoration umfasst. Das Naturalienkabinett eröffnet somit einen Raum für die Verfahren, die das unbegreifliche Monströse in die Ordnung der Natur einholen und dies durch eine sorgfältige Inszenierung auch visuell bekräftigen wollen. Es wird hiermit sichtbar gemacht als ein bestaunenswertes oder verstörendes Phänomen der Natur. Zwei ineinander verwobene Linien lassen sich ausgehend vom Naturalienkabinett mit seinen Kuriositäten, Naturwundern und Monstren ziehen: Einmal gehen seine Sammlungen und seine Anliegen in die späteren, naturwissenschaftlichen Museen ein, die andere Linie aber führt zur Jahrmarktskultur des 19. Jahrhunderts, den Wachsfigurenkabinetten und den so genannten Freak-Shows.17 In diesen Repräsentationsräumen wird bio-
15 Javier Moscoso: Vollkommene Monstren und unheilvolle Gestalten. Zur Naturalisierung der Monstrosität im 18. Jahrhundert. In: Der falsche Körper (Anm. 10), S. 56-72, hier S. 58; vgl. auch Umberto Eco (Hg.): Die Geschichte der Häßlichkeit. München 2007, S. 240-269. 16 Vgl. Birgit Stammberger: Monster und Freaks. Eine Wissensgeschichte außergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert. Bielefeld 2011. 17 Birgit Stammberger hat herausgearbeitet, wie die »Geschichte der Monstrositäten« (als Objekte der Wissenschaft, also als Wissenschaftsgeschichte) und die »Geschichte der Freakshows« (als einer populärkulturellen Ge-
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logische Aberration öffentlich und – dies ist eine entscheidende Neuerung – kommerzialisiert einem Massenpublikum zur Schau gestellt. Das Monströse fungiert in diesem Rahmen als Attraktion und Sensation.18 Beide Felder – das naturwissenschaftliche und das des Jahrmarkts – ermöglichen jeweils spezifische Blicke auf das Monströse, die sich grundlegend voneinander unterscheiden. Es sind diese Blickkonfigurationen – verständlich nur vor dem Hintergrund der traditionsreichen, kulturellen Differenzsetzung von Norm und Abweichung –, die The Elephant Man thematisiert und inszeniert. Die oben beschriebene Eingangssequenz endet mit einem Bild des Himmels, an dem sich in leichter Fast-Motion lautlos Wolken auftürmen und das mit dem Schrei eines Säuglings unterlegt ist.19 Die darauf
schichte) ineinander verschaltet sind, da sie beide Teil kultureller Praktiken sind, in denen sich »Ausschlussfunktionen und die Effekte von Diskursen« zeigen. Sie schreibt: »Es sind die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Grenzziehungen, die in den kulturell und historisch bestimmten Ordnungsrastern diese beiden Geschichten miteinander verbinden.« Stammberger: Monster und Freaks (Anm. 16), S. 47f. 18 Vgl. Isabel Pflug: Verkörperung von »Abnormalität«. Die Freak Show als cultural performance des 19. Jahrhunderts. In: Erika Fischer-Lichte, Christian Horn und Matthias Warstatt (Hg.): Verkörperung. Tübingen, Basel: 2001, S. 281-294; Leslie Fiedler: Pity and Fear. Images of the Disabled in Literature and Popular Arts. In: Salmagundi 57 (1982), S. 57-69. Vgl. dazu auch das umfangreiche Bildmaterial in Leslie Fiedler: Freaks. Myths and Images of the Secret Self. New York, 1979; Martin Monestier: Les monstres. Le fabuleux univers des «obliés de Dieu«. Paris 1981. 19 Auch dieses Bild wird abgeblendet. Es ist auffallend, dass in der Eingangssequenz, die auch als Prolog begriffen werden kann, bevorzugt mit Aufund Abblenden gearbeitet wird, auch durch den Film hinweg werden sie häufig eingesetzt. Wiederholt sieht sich der Betrachter von The Elephant Man also mit einer schwarzen Leinwand konfrontiert, die sich jeglicher ge-
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folgende Aufblende zeigt eine Jahrmarktsbude, aus der Flammen aufsteigen, jedoch nicht die eines unkontrollierten Brandes, sondern die eines Feuerspektakels, was auch das nächste Bild von rotierenden, pfeifenden und funkensprühenden Knallkörpern bestätigt. Ein Jahrmarkt im ausgehenden 19. Jahrhundert wird gezeigt. Die Kamera fängt in der Menschenmenge eine Person ein, den Arzt Frederick Treves, und folgt ihm durch ein labyrinthisches Gewirr von Gassen und Schaustellerbuden, in denen Puppen, Automaten, Fakire und Fehlbildungen im Glas, vor allem aber lebende Monstren ausgestellt sind. Ein Schild bewirbt, was es zu sehen gibt: »Freaks«. In diesen Szenen ist die Praxis der Zurschaustellung von fehlgebildeten Menschen im 19. Jahrhundert dargestellt, die sich auf dem Feld der urbanen, kommerzialisierten Unterhaltungskultur entfaltet, deren fester Bestandteil sie wird. Durch die Präsentation auf Bühnen, in Spiegelkabinetten, in Käfigen sowie durch Dekorationen und Kostüme wird die deviante Körperlichkeit als das Andersartige und Exotische schlechthin exponiert.20 Die Monstren bedienen damit die Neugierde und die Schaulust eines städtischen Publikums an einem spezifisch codierten Ort, dem Jahrmarkt. Dieser weist sich als ambivalenter Bereich in der Stadtlandschaft am Ende des 19. Jahrhunderts aus: Einerseits liegt er an der Peripherie der sozialen Struktur mit ihren stadträumlichen Entsprechungen (den klein- oder großbürgerlichen Wohngegenden, den Fabrikgeländen, Geschäftsvierteln, den Regierungs- und Verwaltungsvierteln usf.) und repräsentiert das anrüchige Geschäftemachen auf der Straße und einen ebenso wenig respektablen Konsum. Das Publikum betritt mit dem Jahrmarkt also einen Raum, der außerhalb der kulturellen, d. h. bürgerlichen Ordnung liegt, ein grenzüberschreitendes Moment in eine »andere« Welt, das Beunruhigung und Destabilisierung mit sich bringt. Andererseits ist der Jahrmarkt als Bestandteil der Unterhaltungskultur durchaus mit dem sozialen und kulturellen Raum der Stadt verwebt. Über den Waren-
genständlichen Bildlichkeit verweigert. Erst in der Jahrmarktsequenz erfolgt der erste Schnitt. 20 Stammberger: Monster und Freaks (Anm. 16), S. 41-44.
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kreislauf ist er sogar eng an diesen angeschlossen, denn der Besuch des Jahrmarkts und der Anblick der »Freaks« gegen Geld sind (frühe) Spielarten des Warenkonsums. Auch das am Rande oder gar außerhalb der Gesellschaft Stehende ist über den ökonomischen Kreislauf mit ihr verbunden. Dies verbindet den Jahrmarkt mit den Wachsfigurenkabinetten, den Variétés, dem Vaudeville und dem populären Theater, hier besonders mit den sogenannten Sensationsstücken.21 Alle diese Angebote stellen spezifische Ausformungen einer populären Unterhaltungskultur für ein urbanes Massenpublikum dar, die die tiefgreifenden Umbrüche des 19. Jahrhunderts erst möglich, aber auch notwendig gemacht haben.22 Sie sind gleichzeitig Ausdruck und Folge neuer Formen des (Freizeit-)Vergnügens. Hierauf wird noch zurückzukommen sein.
21 Vgl. Tom Gunning: Horror vacui. André de Lorde und das Melodram der Sensationen. In: Christian Cargnelli und Michael Palm (Hg.): Und immer wieder geht die Sonne auf. Texte zum Melodramatischen im Film. Wien 1994, S. 235-252; Vanessa R. Schwartz: Cinematic Spectatorship before the Apparatus. The Public Taste for Reality in Fin de Siècle Paris. In: Linda Williams (Hg.): Viewing Positions. Ways of Seeing Film. New Brunswick: 1995, S. 87-113. 22 So weist Lorenz Engell auf die Zergliederung vormals zusammenhängender Wohnstrukturen im Stadtraum des späten 19. Jahrhunderts hin, welche die Entstehung disparater, deutlich getrennter Funktionsbereiche zur Folge hatte. Auch zeigt er auf, dass sich nur aufgrund dieser Verschiebungen die Stadt zu einem Erlebnisraum öffnen kann, der wiederum zu einer konsumierbaren Ware wird – dies gilt besonders für die dem Vergnügen und dem Einkauf vorbehaltenen Stadtviertel. Schließlich hebt Engell die in diesem Zusammenhang wichtigen Veränderungen in der Arbeitswelt hervor, wie beispielsweise die räumliche Trennung von Wohn- und Arbeitsbereich, Schichtarbeit, Arbeitsteilung und vor allem die Trennung zwischen Arbeitszeit und Freizeit. Die Wahrnehmung der Zeit, die nicht mit Arbeit verbracht wird, als Freizeit, die mit Vergnügungen und Unterhaltung erfüllt werden kann, ermöglicht Phänomene wie den Jahrmarkt überhaupt erst, auf dem auch ein kleinbürgerliches oder proletarisches Stadtpublikum Freizeit-
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Die Kamerafahrten inszenieren den ambivalenten Raum des Jahrmarkts als desorientierend und labyrinthisch: Klare Strukturen, Symmetrien und Perspektiven, die den Raum gliedern und übersichtlich erscheinen lassen könnten, fehlen. Somit wird deutlich, dass der Jahrmarkt einen Grenzraum darstellt, in dem das städtische Publikum dem von der bürgerlichen Ordnung Ausgegrenzten begegnet. Die ausgestellten monströsen Körper sind dabei von entscheidender Bedeutung. Gleichzeitig kulturell verworfen und exkludiert wie als außergewöhnliche Attraktionen zur Schau gestellt, eignet ihnen ein Doppelstatus, der in die Differenzsetzung von Norm und Abweichung eingehängt ist. Die filmische Inszenierung führt vor, wie diese Differenzsetzung durch das Verfahren der Zurschaustellung bestätigt wird. Dort, wo das Monströse als Gegenprinzip zur Norm erfahren werden kann, affirmiert und stabilisiert es diese gleichzeitig als Kategorie. Dem Besucher des Jahrmarkts wird die Möglichkeit eröffnet, sich seiner eigenen physischen Normalität und seiner festen Verortung in kulturellen und sozialen Ordnungssystemen zu versichern, indem er seinen Blick auf das Abweichende und Verworfene richtet.23 Die Dichotomisierung von Norm
eskapismen nachgehen kann. Lorenz Engell: Sinn und Industrie. Einführung in die Filmgeschichte. Frankfurt/Main, New York 1992, S. 17-23. Zur Stadtentwicklung im 19. Jahrhundert, vgl. auch Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. 5. Aufl. München 2010, bes. S. 360-365 und S. 446-451. 23 Isabel Pflug hebt hervor, inwiefern der Körper als Abgrenzungsparadigma im 19. Jahrhundert an Bedeutung gewinnt. Sie führt dies u. a. auf die Darwin’sche Evolutionstheorie zurück, die tiefe Verunsicherungen über die Verfasstheit der menschlichen Biologie auslöse und die bestehenden Demarkationslinien zwischen menschlicher und animalischer Körperlichkeit destabilisiere. Das urbane Publikum bestätigt sich in Betrachtung der »Freaks« also nicht nur seiner physischen Normalität im Gegensatz zur Monstrosität, diese wird dann auch gleich zum Ausweis genuiner Menschlichkeit schlechthin. Vgl. Pflug: Verkörperung von »Abnormalität« (Anm. 18), S. 283f. und S. 288.
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und Monstrosität wird durch die räumliche Gegenüberstellung als kultureller Sinn sichtbar und erfahrbar. Die lange, bewegte Kamerafahrt endet inmitten einer aufgebracht diskutierenden Menschenmenge vor einer Schaubude, in der ein Elefantenmensch als Attraktion angekündigt wird. Der Bühnenvorhang kündigt diesen als exotisches Grenzwesen an: Das Portrait auf der linken Seite des Vorhangs zeigt eine schöne Frau, auf der rechten ist ein Elefant dargestellt und in der Mitte, gerahmt von zwei Palmen, der Elefantenmensch in einer Körperlichkeit, die Elemente beider »Elternkörper« vereint, des menschlichen wie des tierischen. Hier ist eine schematisierte Biologie der Vermischung dargestellt, in die Prinzipien einer (trivialisierten) Erblehre nach regelhaften Gesetzmäßigkeiten einfließen, wobei diese in die – anomale – Verbindung von menschlicher und animalischer Physis mündet. Die Palmen wiederum bekräftigen die Konnotation, die mit dem Elefanten als einem in Afrika und Asien heimischen Tier verbunden sind: das Exotische und Fremde.24 Da der umherschweifende Kamerablick nach längerer Fahrt nun zum Stillstand kommt, wird das Erreichen eines Zieles nach langer Suche suggeriert. Die Darstellung auf der Schaubühne bestätigt dem Zuschauer, dass nun offenbar ein spektakulärer Moment naht: der Auftritt des Monströsen, personifiziert in der Figur des Elefantenmenschen. Doch die Erwartungen, erzeugt durch die Kamerafahrt und die Dekoration der Bühne, werden nicht erfüllt, der Film verweigert dem Publikum des Jahrmarkts wie auch dem Filmzuschauer den Blick auf das Monstrum. Die Unterhaltung lässt klar werden, dass die Präsentation
24 In Arbeiten über Lynch ist postuliert worden, dass mit dem Elefanten auch die Kolonialthematik in den Film eingebracht sei. Vgl. Olson: David Lynch (Anm. 3); Jeff Johnson: Pervert in the Pulpit. Morality in the Works of David Lynch. Jefferson, London 2004. Da dieser Aspekt m. E. im Film jedoch nicht weiter entfaltet wird, bleibt er hier unberücksichtigt. Das exotische Tier steht an dieser Stelle allenfalls für die Kategorien des Fremden und Anderen ein, welche eng mit der Kategorie des Monströsen verschaltet sind.
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verboten worden ist: »Freaks are one thing [...] I have no objections to freaks, but this is entirely different, this is monstrous«, lautet die Begründung. Hiermit wird eine Unterscheidung eingeführt zwischen den sogenannten Freaks, den fehlgebildeten Menschen auf den Jahrmärkten, und dem »wahren« Monstrum, das sogar im Rahmen der Zurschaustellungen von Fehlbildungen und Abweichungen als Skandalon hervortritt. Selbst an dem Ort, an dem die Devianz für ein schaulustiges Publikum inszeniert wird, muss es dem Blick verborgen bleiben, weil seine extreme Körperlichkeit die hier tolerierten Abweichungen überschreitet. Die gesamte Sequenz thematisiert mit dem Rekurs auf den Jahrmarkt und (historische) Praktiken der Zurschaustellung auch die strukturellen Bedingungen, unter denen das Monströse sichtbar werden kann und darf. Damit ist auch das Vergnügen, die Schaulust, impliziert in die Thematik des Sehens, eingebracht, die durch diese Form der Inszenierung erzeugt und bedient wird. Wenn hier der Blick auf das Monstrum verheißen wird, weist dies nicht nur auf die Repräsentationsverfahren des Jahrmarkts hin, sondern auch auf die medienspezifischen Grundlagen des Films, auf sein Anliegen und seine Möglichkeiten, Schauwerte als Attraktionen/Spektakel produzieren und vorzeigen zu können. Die psychoanalytische und die feministische Filmtheorie sowie die Apparatus-Debatte haben immer wieder auf das für die Rezeption des Films konstituierende Moment der Schaulust hingewiesen, um das Vergnügen am Film zu erklären, sowie auf den voyeuristischen Effekt, der sich während der Wahrnehmung des Films im Kino einstellt. In dieser Sequenz wird auf das Vergnügen am Sehen, am Betrachten hingewiesen, indem sie die Mechanismen explizit macht, die dieses bedingen: die Lenkung des Blicks durch spezifische Konstellationen des filmischen Apparates, inszenierte Ver- und Enthüllungen des Blick-Objekts, die mit Kamerachoreografie und Montage erzeugten Erwartungen und Wünsche des Betrachters, die schließlich erfüllt werden – oder eben nicht. Dazu gehört auch und gerade die Enttäuschung darüber, dass der Blick auf das Monstrum verwehrt wird. Mit diesen Verfahren wird auf die Vermittlungsstrategien des Films über-
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haupt verwiesen, die aber im Hinblick auf das Monstrum besonders für den Horrorfilm veranschlagt werden können: »[...] wanting to ›see all‹ extends not just into the appropriation of wholeness and unity but also into the desire for everything […]; cinema plays on the hidden visible to be suggested, glimpsed, revealed, plays on the shown and the limits of the shown, and expectations and pleasures produced in the displacement and use of those limits. At the end of cinema is the pornographic film sold on ›showing everything‹, the act, the scene, and hence ›more and more‹ […]«25
Aufgerufen (und unterlaufen) ist in der Jahrmarktsequenz damit das »Prinzip der maximalen Sichtbarkeit«26 (hier von Monstrosität) und – als sein Gegensatz – das Prinzip der Verhüllung, eben der NichtSichtbarkeit des Monstrums. Im Horrorfilm treten beide Prinzipien in ein spannungsvolles Wechselverhältnis ein, welches Blickkonfigurationen erzeugt und reguliert. Wahlweise bedient und enttäuscht es das Begehren nach dem Blick auf das grauenerregende Monströse, während es gleichzeitig auch die Furcht davor steigert. Das Alles-sehenWollen und Nicht-sehen-Können (weil es sich als zu grauenhaft herausstellt) greifen im Horrorfilm ineinander,27 seine Strukturen sind geprägt von einem stetigen Wechsel zwischen der Verhüllung des Monströsen (welches versteckt im Dunkeln lauert) und seiner spektakulären Enthüllung, wenn es in drastischer Visualität zum Vorschein gebracht wird. In The Elephant Man wird dieses Spiel besonders in der varian-
25 Stephen Heath: Questions of Cinema. Bloomington, In. 1981. S. 184f. 26 Linda Williams: Hard Core. Macht, Lust und die Traditionen des pornographischen Films. Basel 1995, S. 82. Williams entwickelt hier das Konzept eines in den Körper eindringenden (Kamera-)Blicks, der diesem verhüllte Wahrheiten und nicht sichtbare Geständnisse entreißen will. Er figuriere somit als vergegenständlichte Schaulust. 27 Diese Prinzipien reflektieren unzählige Horrorfilme, besonders pointiert Opera (Dario Argento, 1987), in dem dem weiblichen Opfer Nadeln in die Augenumgebung gebohrt werden, damit es die Augen vor dem blutigen Akt des Mordens nicht verschließen kann. Hier liegt der Horror im Allessehen-Müssen begründet.
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tenreichen Mise en Scène von Merricks Auftritten beobachtbar: Mal erscheint er vollständig verhüllt in einem bodenlangen Gewand und in einer Stoffmaske, in die nur Löcher für die Augen geschnitten sind (was einen bedrohlichen oder unheimlichen Effekt hervorruft), mal ist er nur undeutlich im Halbdunkel oder als Schatten zu erkennen, mal wird seine Gegenwart indirekt indiziert über das Entsetzen anderer Figuren, die ihn betrachten. In den Phasen seiner Sozialisation in der Klinik tritt er dann zunehmend unverhüllt und alltäglich bekleidet auf. Die lange Einführung in den Jahrmarkt dient mithin dazu, diesen als Ort zu zeigen, an dem Monstrosität sichtbar wird/werden kann, dieses Versprechen auf Sichtbarkeit dann aber nicht einzulösen. In ihr spiegeln sich aber auch die Strategien und Anliegen des Horrorfilms, Monstrosität zu visualisieren, um damit Vergnügen und Schrecken zu erzeugen.28 Auf die vom Film konstruierten Mechanismen des Begehrens, die an die Sichtbarkeit/Nichtsichtbarkeit des Monstrums gekoppelt sind, hat bereits Todd McGowan hingewiesen: »Lynch begins the film with this failed encounter with the Elephant Man in order to locate him beyond the field of representation. […] Lynch builds the spectator’s desire to see Merrick and subsequently frustrates that desire, placing the figure of Merrick at the center of the spectator’s desire«29
Eine spätere Sequenz führt diese Thematik weiter aus. Nun wird endlich der Blick auf den Elefantenmenschen gewährt. Verortet ist dieser Moment abermals in einem Raum, der außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung, zumindest in ihrer bürgerlichen Ausprägung, liegt: Die Kamera folgt Treves auf seinem Weg von der Klinik in einem repräsenta-
28 Der Horrorfilm übernimmt das Prinzip der maximalen Sichtbarkeit vor allem dort, wo er zerstückelte, sterbende, verwesende und monströse Körperlichkeit naturalistisch, exzessiv oder hyperbolisch inszeniert als Schaustück ausstellt. Vgl. Catherine Shelton: Unheimliche Inskriptionen. Eine Studie zu Körperbildern im postklassischen Horrorfilm. Bielefeld 2008. Vgl. auch Meteling: Monster (Anm. 5), bes. S. 98-101. 29 Todd McGowan: The Impossible David Lynch. New York 2007, S. 53f.
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tiven Stadtviertel mit großen Plätzen und Parks über den Fleischmarkt bis in ein Viertel mit Fabrikarchitektur und rauchenden Schornsteinen. Aber erst dahinter, in einer engen Gasse, die in einen dunklen Hinterhof führt, findet Treves den Elefantenmenschen (vgl. Abb. 2). Der Gang dorthin ist mit flackerndem Licht, dunklen Schatten an der Wand, dramatischen Chiaroscuro-Effekten, quietschenden Türen und unter leise bedrohlicher Musik in der ikonografischen Tradition des Horrorfilms gezeichnet. Die Vorführung des Monstrums findet in einem finsteren Raum statt und wird von seinem »Besitzer«, dem Schausteller Bytes, durch dramaturgische Kunstgriffe sorgfältig als Enthüllungsmoment gestaltet. Als Vorbereitung dient seine im dramatischen Tonfall vorgetragene, düstere Erzählung, die die Genese des Monstrums durch den Angriff eines Elefanten auf dessen schwangere Mutter in Afrika schildert.30 Diese Geschichte reproduziert wundergläubige und populäre Diskurse über die Entstehung von Monstren, die deren Ursprung auf Unheil und Unglück zurückführen,31 und verlagert diesen zudem in einen fernen, fremden Raum. Die Szene zeigt somit die immer schon bestehende Vermitteltheit der Geschichte vom Monstrum auf, reflektiert darüber hinaus die Verfahren der Narration und Inszenierung, die das Monstrum erst als solches hervortreten lassen, sowie schließlich die Anliegen spezifischer Repräsentationstechniken, das Monströse als Spektakel des Grauens und des Vergnügens vorzuzeigen, in deren Tradition auch der Horrorfilm steht. Dass der fehlgebildete Mensch John Merrick in dieser Szene kaum in Erscheinung tritt, ist nur folgerichtig – der Raum, die Szene gehört ganz dem durch Erzählung und Bytes’ Mise en Scène heraufbeschworenen Monstrum.
30 Die Erzählung erscheint wie ein nachträglich erklärender Kommentar zur oben beschriebenen, dem Zuschauer zunächst unklar bleibenden Eingangssequenz. 31 Vgl. Geschichte der Häßlichkeit (Anm. 15), bes. das Kapitel »Monster und Wunder«, S. 106-125.
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Abbildung 2: Szenenausschnitt aus The Elephant Man
Quelle: The Elephant Man (1980). Regie: David Lynch. DVD. Studio Canal 2010.
Die Präsentationsszene wird später im Film gespiegelt, allerdings unter veränderten Vorzeichen. Weil dabei bezeichnende Differenzen deutlich werden, ist auch diese Szene hier von Interesse. Sie zeigt, wie der Arzt den »Fall« John Merrick seinen Kollegen in der Klinik präsentiert. Hier ist der enge, verwinkelte und unübersichtliche Raum dem symmetrisch aufgebauten, klar strukturierten und gleichmäßig hell erleuchteten Auditorium gewichen – eine adäquate räumliche Entsprechung der neuzeitlichen Wissensordnungen in den Naturwissenschaften. Die Architektur bündelt alle Blicke und lenkt sie nach vorne auf den zentralen Ort des Podiums. Hinter einem Wandschirm wird Merrick entkleidet, damit die Deformationen seines Körpers betrachtet werden können. Während des Vortrages wird jeweils auf die erörterten Fehlbildungen mit zwei langen Stäben gewiesen, eine effektvolle Verstärkung der ostentativen Geste des (Vor-)Zeigens. Die Entblößung ist darüber hinaus vollständig, nicht nur werden ihm alle seine Kleider genommen, auch entgeht dem medizinischen Blick nicht, dass seine Genitalien von Entstellungen verschont geblieben sind. Die gewandelten Präsentationsverfahren indizieren es nur allzu deutlich: Hier ist das Monstrum Objekt des medizinisch-naturwissenschaftlichen Blicks ge-
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worden. In diesen Blick fließen die oben skizzierten Anliegen der Teratologie ein, die Regelhaftigkeiten auch und gerade von physischen Irregularitäten aufzufinden, um das System von der Ordnung und der Kontinuität der Natur fortschreiben zu können. Der medizinische Blick als Vermittlungsinstanz sucht die monströse Physis durch rationale Erfassung und Klassifikation in das Natursystem zu integrieren und dadurch seinen Schrecken zu bannen. Doch lassen sich deutliche Parallelen im Blick des Jahrmarktspublikums und der Wissenschaft auffinden. Die Verfahren der Präsentation sind nur scheinbar andere geworden; verschiedene Elemente verraten, dass sich das Moment der Zurschaustellung ebenso fortsetzt wie die hervorbringende Inszenierung überhaupt. Da ist einmal das Bild des hell leuchtenden Scheinwerfers, das die Szene einleitet (vgl. Abb. 4). Er dient dazu, den Elefantenmenschen während des Vortrags gänzlich auszuleuchten und bildet damit das gleich-ungleiche Gegenstück zu der Gasflamme, die Bytes in dem dunklen Raum vor der Vorstellung aufdreht, damit das Monstrum zu sehen ist, und die durch eine Großaufnahme deutlich hervorgehoben wird (vgl. Abb. 3). In beiden Szenen findet sich überdies ein Vorhang, der das Monstrum zunächst verhüllt, in der ersten Szene ein dürftiger Stofffetzen, in der Klinikszene eine Art rollbarer Paravent, ein Bestandteil des Klinikmobiliars. Sie sind zentrale Instrumentarien der Inszenierung, denn sie ermöglichen die Kontrolle über die Sichtbarkeit, die gezielte Enthüllung im dramaturgisch entscheidenden Moment. Schließlich werden beide Vorführungen von einer Narration begleitet, hier die von dem Ursprung des Monstrums aus dem Unglück heraus, dort die Aufzählung seiner Deformationen und Defekte in medizinischer Nomenklatur – von Treves nicht minder pointiert und rhetorisch effektvoll vorgetragen als von Bytes, jedoch in einem differenten Sprachduktus. Von Bedeutung ist auch der Hörsaal, der mit ansteigenden Sitzreihen und Rednerbühne einem Bühnenraum gleicht, und schließlich der Applaus zum Schluss des Vortrages, der damit ein performatives Element erhält, zur Vorstellung wird. Mehr noch: Die abermals bestätigte Objekthaftigkeit des Elefantenmenschen verweist auf die Produktivkraft von medizinischen Diskursen, die monströse,
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also abweichende, Körperlichkeit durch Differenzierungsprozesse konstruieren. Abbildung 3: Szenenausschnitt aus The Elephant Man
Quelle: The Elephant Man (1980). Regie: David Lynch. DVD. Studio Canal 2010.
Abbildung 4: Szenenausschnitt aus The Elephant Man
Quelle: The Elephant Man (1980). Regie: David Lynch. DVD. Studio Canal 2010.
In weiteren Verdoppelungen wird diese Thematik, also wie das Monströse in verschiedenen Perspektiven figuriert wird, vertieft, variiert und erhält dabei neue Bedeutungsfacetten. Da wäre einmal die Sequenz, in der der Nachtwächter die Gäste einer Kneipe gegen Geld in die Klinik
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einschleust, um ihnen den Blick auf das Monstrum zu ermöglichen. Dadurch wird diese vorübergehend zum Jahrmarkt, die Orte verkehren sich. In das Krankenzimmer Merricks, seinem offenbar höchst fragilen Schutzraum, der ihn vor Voyeurismus und Ausbeutung bewahren soll, dringt das Publikum ein, rücksichtslos in seinem Verlangen das Monstrum zu sehen. Dass dessen Anblick nicht nur Entsetzen, sondern auch Vergnügen hervorrufen kann, zeigt der Film durch das burleske Treiben an, das mit Vehemenz in Merricks Räumen ausbricht und bei dem er gegen seinen Willen betrunken gemacht wird. Die Sequenz findet ihre Spiegelung in den Besuchen der bürgerlichen Gäste, die Merricks Krankenzimmer ebenfalls aufsuchen, jedoch eingebunden in die normierten Regelungen affektbeherrschten Verhaltens, mit denen sie sich als Bürger, als aufgeklärte Kulturmenschen ausweisen. In den Begegnungen des Bürgertums mit dem Monstrum werden Selbstbeherrschung und Affektsteuerung zum – auch körperlichen – Ausdruck sozialer Distinktion und kultureller Kompetenz, in dem sich gesellschaftliche Differenzen herstellen. Indem er die Verhaltensweise des Kleinbürgertums/der Arbeiterschicht dem des Bürgertums spiegelbildlich gegenüberstellt, zeigt der Film, wie soziale Abgrenzung durch Sprachformen und Körpertechniken wie Haltung und Gestik erzeugt und bestätigt wird. Gleichzeitig macht The Elephant Man deutlich, dass auch der Blick des Bürgertums auf das Monstrum Schaulust impliziert, auch wenn er in differierenden Kulturtechniken unterschiedlich agiert: Zum Ende des Films besucht der Elefantenmensch das Theater. Auch hier wird bei seinem Auftritt Beifall gespendet, wie zuvor in der Klinik. Das Theaterpublikum wendet sich ihm zu, seine Loge wird zur Bühne. Obgleich selbst Besucher der Vorstellung, wird er durch diesen Applaus zu einem Akteur. »Und nicht zuletzt greift Der Elephantenmensch das Thema Theater mit seinen Aspekten Schau-Lust und Masken-Spiel auf. Er stellt das Leben als Theater, das Bürgertum als Schauspiel und den Bürger als Charaktermaske dar. Und er zeigt verschiedene Blickarten auf das Monster, den Elephantenmenschen, der
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seinerseits auf einen Spiegel der Lust und der Ängste seiner Umwelt reduziert wird.«32
Somit schreibt sich auch in diesen Moment die allgegenwärtige Blickkonfiguration ein, die Merrick stets zum Objekt – wenn auch differierender – Blicke werden lässt und darüber hinaus seinen Status als Zurschaugestellten immer wieder festschreibt.
S PIEGELUNGEN , L ICHT , NEUE B LICKFORMEN : DIE F ELDER DES S ICHTBAREN WEITEN SICH AUS Im folgenden Abschnitt soll der Frage nachgegangen werden, welche verschiedenen Felder der Sichtbarkeit The Elephant Man ausmisst. Ein zentrales Merkmal von The Elephant Man sind die zahlreichen Spiegelungen, Doppelungen und Oppositionspaare auf visueller wie narrativer Ebene, die symmetrische Strukturen erzeugen.33 So wird das Motiv der Besucher in Merricks Krankenhauszimmer gespiegelt: Die vom Nachtwächter eingeschleusten, nächtlichen Besucher fungieren dabei als alptraumhafte Doppelgänger der Bürger, die am Tage kommen, beide Gruppen werden kontrastierend einander gegenübergestellt. Fortgeführt und dabei gesteigert wird diese Verdoppelung in den beiden Sequenzen, die am Ende des Films in Relation zueinander gesetzt werden: Hier die Gruppe von Straßenjungen und Passanten, die den verhüllten Elefantenmenschen durch den Bahnhof verfolgt und ihn in die Enge treibt, so dass ihm kein Ausweg mehr bleibt, als sich zu ent-
32 Jerslev: David Lynch (Anm. 3), S. 44. 33 Ein Organisationsprinzip, das in den Filmen David Lynchs immer wieder variiert wird: »So ist es nicht überraschend, daß die Existenz von diametral entgegengesetzten Oppositionspaaren und das Aufeinandertreffen von Gegensätzen ein zentrales Strukturprinzip Lynchvilles zu sein scheint.« Ralfdieter Füller: Fiktion und Antifiktion. Die Filme David Lynchs und der Kulturprozeß im Amerika der 1980er und 90er Jahre. Trier 2001, S. 120.
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hüllen und um Gnade zu bitten. Dort das bürgerlich-elegante Theaterpublikum, das Merrick, nun unverhüllt und im Abendanzug, bei seinem letzten öffentlichen Auftritt Applaus zollt. Abbildung 5: Szenenausschnitt aus The Elephant Man
Quelle: The Elephant Man (1980). Regie: David Lynch. DVD. Studio Canal 2010.
Auch der Moment des plötzlichen Erscheinens des Monstrums wird verdoppelt: Eine unvorbereitete Krankenschwester, dazu angewiesen, dem Elefantenmenschen Speisen auf das Zimmer zu bringen, stößt bei seinem Anblick einen Schrei aus und die Kamera zeigt in naher Einstellung ihr verzerrtes Gesicht, ihre Hand, die den Teller fallen lässt (vgl. Abb. 5). Die Szene wird gespiegelt, wenn später im Film der Nachtwächter eine Prostituierte auf Merricks Zimmer bringt und sie zwingt, den Elefantenmenschen anzuschauen, indem er ihr Gesicht ihm zudreht und es dabei mit seiner Hand gewaltsam festhält (vgl. Abb. 6). Auch hier kulminiert das Entsetzen in einem Schrei des Schreckens. Der aufwendig durch die Tonspur in Szene gesetzte Schrei der Frau ist wiederum ein konstituierendes akustisches Merkmal des Horrorfilms. Er markiert den Einbruch des Monströsen und Grauenhaften in die diegetische Welt wie auch in das Sichtfeld der Figuren, zeigt das Entsetzen im Angesicht des Monstrums an, aber auch das Ausmaß des Nicht-sehen-Könnens, von dem oben bereits die Rede war. Die zweite
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Szene steigert das Grauen dabei durch das der Frau gewaltsam auferzwungene Sehen-Müssen, den Zwang zum Hinschauen. Abbildung 6: Szenenausschnitt aus The Elephant Man
Quelle: The Elephant Man (1980). Regie: David Lynch. DVD. Studio Canal 2010.
Auch die Figuren des Nachtwächters der Klinik und des Arztes Treves sind als Spiegelfiguren zu begreifen, wobei der erstere den nächtlichen, dunklen Doppelgänger des zweiten darstellt. Treves wiederum nimmt im Verhältnis zu Merrick im Verlauf der Handlung die Position einer Vaterfigur ein, die damit ebenfalls verdoppelt ist, denn auch Bytes, der »Besitzer« des Elefantenmenschen, ist als eine solche zu begreifen. In beiden Fällen wird ein asymmetrisches Machtverhältnis etabliert, in beiden Fällen verkörpern die »Väter« eine Figur der Autorität, die über Merrick verfügen kann, in beiden Fällen ist damit eine Hierarchie gesetzt,34 die aber, auch hier wieder Spiegelverkehrungen, gänzlich gegensätzlich akzentuiert wird. Während Treves ein wohlmeinendes und streng sorgendes Prinzip darstellt, zeigt sich Bytes’ Herrschaft über
34 Was auch Helga Bechmann ausführt: »Merricks Eignung zum Ausstellungsobjekt macht ihn zum Sklaven mehrerer Herren. Er ist ein ›Schatz‹, um den sie sich reißen, den sie sich gegenseitig stehlen«. Bechmann: Der Körper (Anm. 3), S. 147.
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den Elefantenmenschen als rücksichtslose Ausbeutung35 – eine Eigenschaft, die er wiederum mit dem Nachtwächter teilt. Für das Verfahren der kontrastierenden Verdoppelung in The Elephant Man lassen sich viele weitere Beispiele nachweisen; so wenn die Krankenschwestern in der Klinik den gleichen Zeitungsartikel über den Elefantenmenschen lesen, wie es der Nachtwächter und andere Gäste in der Kneipe tun, und sich als Reaktion hier Stolz und Freude, dort Neugierde und Sensationsgier einstellt; so die beiden Küsse, die Merrick von Frauen erhält, einerseits den der gefeierten Bühnenschauspielerin, andererseits den auferzwungenen Kuss einer Frau aus der Kneipe, die ihm von einem der nächtlichen Besucher in die Arme gestoßen wird. Spiegelungen sind zudem auch auf der Ebene der Bilder auffindbar: Wenn der Nachtwächter am Fenster von Merricks Krankenzimmer vorbeigeht und zu ihm hereinschaut, sind auf der reflektierenden Glasscheibe beide Gesichter, das Merricks und das des Nachtwächters, transparent übereinandergelegt, wie in der Eingangssequenz die Photographien von Merricks Mutter. Verdoppelung und Spiegelung sind also in The Elephant Man Erzähltechnik und Motiv zugleich. Damit rekurriert der Film auf Gothic Novel und Schwarze Romantik: Einmal in dem zentralen Topos des Doppelgängertums, sodann in dem Anliegen, die scheinbar unmittelbare Evidenz des Sichtbaren zu problematisieren. Gothic Novel und Schwarze Romantik formulieren auffallend häufig eine Infragestellung der visuellen Wahrnehmung, deren Zuverlässigkeit und Eindeutigkeit in Zweifel gezogen wird: Ereignisse und Erscheinungen erweisen sich als wandelbar und trügerisch, als Täuschung und Illusion. Die Wirk-
35 Wobei in diesem ökonomisch bestimmten Verhältnis ein Aspekt der gegenseitigen Abhängigkeit ausgemacht worden ist: »His [Merricks, C.S.] relationship with Bytes is strictly Hegelian. In a master-slave-dynamic, Bytes cannot survive without his ›treasure‹, and in a rage of self-loathing, terrified by his absolute and necessary dependence on a freak for both his essential and economic existance, he tries one last time to cage the spirit […].« Johnson: Pervert in the Pulpit (Anm. 24), S. 77.
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lichkeit zeigt sich in irritierend verwechselbaren Wiederholungen und Spiegelungen. Halluzinationen, Visionen, Alpträume und Phantasmagorien zeigen im Genre der Schwarzen Romantik wie auch im Genre des Horrorfilms eine Krise des Sichtbaren an, stecken aber gleichzeitig ein vielschichtiges Feld des Visuellen ab, auf dem sich Projektionen und Vervielfältigungen überschneiden und ineinanderlaufen. The Elephant Man visualisiert genau diese beunruhigende Ausweitung der Wahrnehmungsfelder in auffällig gestalteten Sequenzen: Visionen (die Eingangs- und die Schlusssequenz, die die Handlung rahmen und als Visionen von Geburt und Tod figurieren können), Alpträume (Merricks Traum, der in Maschinenräume und unterirdische Gänge führt) und Phantasmagorien (in der Theatersequenz). Der Film stellt sich somit deutlich in die Tradition der Schwarzen Romantik und des Horrorfilms. »Lynchs Filme behandeln das Sehen als dasjenige, das in unserer Kultur die Subjekte bestimmt. Sie handeln aber auch – für einen Filmemacher paradox – von der Begrenzung des Gesichtssinns [...].«36
The Elephant Man belässt es jedoch nicht dabei, die Grundlagen der visuellen Wahrnehmung zu problematisieren. Er verweist gleichzeitig deutlich auf die Historizität von Sichtbarkeit. Um diesen Gedanken zu entfalten, ist zunächst auf den historischen Kontext der Handlung einzugehen. Der Film spielt im ausgehenden 19. Jahrhundert:37 »Es ist das London in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts: es ist das Viktorianische Zeitalter in seiner ganzen Mischung der nicht miteinander zu vereinbarenden Bestandteile, von kolonialem Feudalismus und Industrie, immensem Reichtum und subproletarischer Armut, Tradition und Fortschritt, strengen Moralvorschriften und Auflösung der gesellschaftlich verbindlichen Strukturen.«38
36 Jerslev: David Lynch (Anm. 3), S. 45. 37 Ein Datum wird im Film nicht genannt. Der historische John Merrick starb nach den Aufzeichnungen von Frederick Treves im Jahr 1890. 38 Peter W. Jansen: Enthüllung des Schreckens, zit. nach Seeßlen: David Lynch und seine Filme (Anm. 3), S. 44.
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Diese Fragmentarisierung der Alltagswahrnehmung, der Zerfall eines einheitlich für alle zu erfahrenden Lebensbereiches in zahlreiche Einzelbereiche charakterisiert nach Lorenz Engell die Zeit der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert, insbesondere in der zweiten Hälfte: »Zergliederung des Zusammenhängenden, die Bewegung im Fragmentarischen, die Abstraktion des Realen [...]. In zunehmendem Maß wurden Erfahrungen und Wahrnehmungen individuell, vereinzelt gemacht und waren nicht mehr ohne weiteres mit den Erfahrungen und Wahrnehmungen der anderen Individuen vergleichbar und austauschbar.«39
Wie sich diese Dissoziation räumlich manifestiert, zeigt The Elephant Man mit seinen disparaten Handlungsorten: Der Jahrmarkt, die Klinik, die Arbeiterviertel und engen Gassen der Armenviertel, die industriellen Produktionsräume und die repräsentativen Sitzungsräume der Medizinprofessoren sowie das Theater sind scharf abgegrenzte städtische Lebens- und Funktionsbereiche, die nur jeweils einen Ausschnitt aus dem diversifizierten städtischen Panorama darstellen. Auch dabei wird im Film ein Verfahren erkennbar, das Symmetrien bildet, indem es Lebens- und Erfahrungsbereiche kontrastierend gegeneinanderstellt: So sind die Jahrmärkte Schauplätze der Ausbeutung des Elefantenmenschen und seiner Herabwürdigung zum Tier (bis zu dem Moment, da er in einen Käfig mit Affen gesperrt wird), während die Klinik, die Wohnung Treves’ und das Theater Stationen seiner Sozialisation und Menschwerdung darstellen, an denen er gepflegt und eingekleidet wird, die Sprache und handwerkliche Fertigkeiten erlernt. Erkennbar wird eine städtische Welt, die sozial und funktional in abgegrenzte Territorien zerlegt ist, in denen sich unterschiedliche Verhaltens- und Wahrnehmungsformen ausbilden. Eckhard Pabst schreibt zum zergliedernden Effekt von Architektur: »Architektur ist ein Akt der Grenzziehung. Sie separiert und verbindet gleichzeitig, sie erzeugt ein Hier, um dessen andere, nicht ablösbare Seite mitzudenken. Architektur zwingt damit ihren Beobachter grundsätzlich in einen der Bezirke, die sie voneinander abscheidet. Folglich entzieht sich Architektur einer
39 Engell: Sinn und Industrie (Anm. 22), S. 23.
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Wahrnehmung, die es gestattete, ihre beiden Seiten als Einheit zu erfassen. David Lynchs Filme handeln vom Verlust der Einheit [...].«40
Mit dem urbanen Raum des späten 19. Jahrhunderts ist zudem ein weiteres Erfahrungsfeld aufgerufen, auf das The Elephant Man sich ebenfalls bezieht. Hier ist die Vor- und Frühgeschichte des Films anzusiedeln, die aus einer ganz spezifischen Verbindung von Voraussetzungen erwächst: »Die Dynamik der sozialen, der ökonomischen und der wissenschaftlichtechnischen Umgestaltung im 19. Jahrhundert hat den Film erst möglich gemacht, aber andererseits hat dieselbe Dynamik den Film auch erst zur Notwendigkeit erhoben.«41
Der Wandel des 19. Jahrhunderts bringt neben und mit der bereits genannten Fragmentarisierung der Alltagswahrnehmung auch neue Formen der Perzeption und Aneignung von (städtischer) Lebensumwelt hervor. Als Ausdruck dieser gewandelten Bedürfnisse und Möglichkeiten entstehen zusammen mit dem sich zunehmend ausbildenden Massenpublikum neue und öffentliche Angebote der Unterhaltung und Zerstreuung.42 Sie eröffnen das Feld veränderter Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster, die in Wechselbeziehung zu einer stetig dynamisierten Lebensumwelt stehen, in der ein Blick für immer kürzere Zeitspannen in immer neuen Richtungen einer Vielzahl von visuellen Reizen folgen kann/muss.43
40 Pabst: »He will look where we cannot« (Anm. 3), S. 11. 41 Engell: Sinn und Industrie (Anm. 22), S. 17. 42 Diese stellen nach Engell auch die Korrektur, Überwindung und Kompensation der neu geschaffenen Verhältnisse und Möglichkeiten dar. Ebd. Vgl. dazu auch Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970. Frankfurt/Main 1998, bes. S. 38-76. 43 Vgl. Harro Segeberg: Von der proto-kinematographischen zur kinematographischen (Stadt-)Wahrnehmung. Texte und Filme im Zeitalter der Jahrhundertwende. In: Ders. (Hg.): Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor-
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»The city itself redefined the gaze. New means of transportation provided an unprecedented urban mobility, the broadened boulevards produced unimpeded forms of urban circulation, shop windows invited passersby to engage in imaginative new sites of looking.«44
Es bilden sich in diesem Kontext neue Blickformen aus: der mobile Blick des urbanen Flaneurs oder der des Konsumenten von Waren und Bildern.45 Sie stehen ein für eine visuelle Praxis, die auf eine flüchtige Beobachtung abzielt, auf Unterhaltung und Zerstreuung. Als prominente Beispiele für Architekturen und Apparaturen, die diesen Blick möglich machen und bedienen, werden in diesem Zusammenhang meist die Passagen und die neu entstehenden großen Warenhäuser mit ihren inszenierten Schaufensterauslagen, als Unterhaltungsangebote die Variétés und Jahrmärkte, die Weltausstellungen sowie die Dioramen und Panoramen genannt. Die neuen Unterhaltungsformen bieten Attraktionen und Sensationen (wie die sogenannten Freaks des Jahrmarkts oder Wachsfigurenkabinette mit scheinbar lebensechten Darstellungen schockierender Ereignisse und Skandale), verblüffende Geister- und Nebelbilder, also spektakuläre Phantasmagorien, oder sie visualisieren das Fremde in Abbildungen oder Inszenierungen von Exotismen oder Orientalismen, wodurch das zeitlich und räumlich Ferne in die Nähe eingeholt wird. »In the nineteenth century, a wide variety of apparatuses turned the pleasures of flânerie into a commodity form, negotiated new illusions of spatial and temporal mobility.«46
und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst. München 1996, S. 325-356, hier S. 352f. 44 Anne Friedberg: Window Shopping. Cinema and the Postmodern. Berkeley, Ca. 1984, S. 38. 45 Vgl. dazu Heinz-Gerhard Haupt: Konsum und Handel. Europa im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 2003. 46 Friedberg: Window Shopping (Anm. 44), S. 37.
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Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die zunehmende Entwicklung der Stadtbeleuchtung, vor allem aber der kommerziellen Beleuchtung in den großen Metropolen, die das ganze »Geschäfts-, Vergnügungs- und Beleuchtungsleben« überhaupt erst ermöglichte, weit in die Nacht hinein ausdehnte und die als eigenständige Attraktion inszeniert und rezipiert wurde.47 Beleuchtungselemente haben nun in The Elephant Man einen erstaunlich prominenten Auftritt.48 Wie bereits erwähnt, beginnt bereits die Jahrmarktsequenz mit dem Bild von Flammen, die zu einem Illuminationsspektakel gehören, die sich daran anschließende Sequenz zeigt die Jahrmarktskulisse bei Nacht aber dennoch hell erleuchtet von Fackeln und offenen Gaslampen. In der Operationsszene, die ebenfalls mit dem Bild von Flammen in einem Ofen eingeleitet wird, hängt über dem Operationstisch ein zweiarmiger Beleuchtungskörper, in dem zwei Gasflammen das Personal und den Patienten beleuchten. Mehrmals sind in Szenen, die im Krankenhaus spielen, Beleuchtungsvorrichtungen durch den Bildaufbau in den Vordergrund gerückt oder besonders hervorgehoben (vgl. Abb. 7), allgegenwärtig ist dabei der leise zischende Ton des Gases, das die Flammen befeuert. Erwähnt wurden bereits die groß ins Bild gerückte Gasflamme, mit der Bytes den bevorstehenden Auftritt des Elefantenmenschen vorbereitet, sowie der Scheinwerfer im Hörsaal, der besonders exponiert wird: Er wird zu Beginn der Szene (und wieder zu ihrem Abschluss) in naher Einstellung gezeigt, wobei sein Licht frontal in die
47 Wolfgang Schivelbusch: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert. München 1983. 48 In vielen Lynch-Filmen werden Bildelemente wiederholt und exponiert eingesetzt. Häufig kehren sie überdies in anderen Filmen wieder, sind also transtextuell und/oder selbstreferentiell. So tauchen Bilder von Industriearchitektur bereits in Eraserhead (1977) auf (wo sie für das Ende des Industriellen Zeitalters stehen), während sich das Element der Flamme und des Feuers durch nahezu alle Lynch-Filme zieht. Seeßlen spricht dabei von »rhapsodischen Wiederholungen«. Seeßlen: David Lynch und seine Filme (Anm. 3), S. 233.
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Kamera hineindringt. Es ergibt sich dadurch ein zunächst abstraktes, strahlendes Lichtbild, das die ganze Leinwand ausfüllt und den Zuschauer nahezu blendet (vgl. Abb. 4). Erst wenn die Kamera sich in Bewegung setzt und langsam zurückfährt, wird die Lichtquelle, der Apparat, sichtbar. Schließlich übernimmt das Licht in der Theatersequenz eine zentrale Rolle, denn die hier aufgeführte féerie besteht zu einem großen Teil aus Licht-, Reflexions- und Feuereffekten. Das Licht, in Form von regulierbaren und kontrollierbaren Beleuchtungsvorrichtungen, wird in The Elephant Man als grundlegende Bedingung des städtischen Lebens gezeigt – für nächtliche Vergnügungen wie Jahrmarkt oder Theater oder auch für das Funktionieren des Krankenhauses. Es ist darüber hinaus aber auch als eine zeitspezifische Technik hervorgehoben, die das Feld der Sichtbarkeit entscheidend ausdehnt, restrukturiert sowie auch neue Sichtbarkeits-Felder erzeugt. Und schließlich ist es konstituierend im Hinblick auf die Inszenierungs- und Präsentationsverfahren, die das Monstrum in den Blick treten lassen und um die The Elephant Man immer wieder kreist. Abbildung 7: Szenenausschnitt aus The Elephant Man
Quelle: The Elephant Man (1980). Regie: David Lynch. DVD. Studio Canal 2010.
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Abbildung 8: Szenenausschnitt aus The Elephant Man
Quelle: The Elephant Man (1980). Regie: David Lynch. DVD. Studio Canal 2010.
An der Schnittstelle zwischen sich ausbildender populärer Unterhaltungskultur und den neu entstehenden Beleuchtungstechniken ist der Film/das Kino zu verorten. Die Projektion bewegter Bilder in einem öffentlichen Raum zu kommerziellen Zwecken ist zugleich Teil und Antrieb der oben dargestellten Umwandlung und Neujustierung kultureller Wahrnehmungsformen.49 Zwar hat der Film selbst in seiner Frühphase keinen Auftritt in The Elephant Man, von besonderem Interesse ist jedoch der bereits erwähnte Scheinwerfer, der nicht nur die Gestalt des Elefantenmenschen ausleuchtet (was dem Filmzuschauer nicht gezeigt wird), sondern auch seinen Schatten auf den weißen Stoff des Paravents projiziert (den der Zuschauer sieht) (vgl. Abb. 8). Deutlich ist hier das Licht als unhintergehbare Bedingung für den kinematographischen Apparatus und den Vorgang der Projektion von Bildern aufgerufen (vgl. Abb. 9) und damit auch die spezifische Medialität von (frühem) Film/Kino explizit gemacht. Verdichtet und erweitert wird dieser Aspekt in der Theatersequenz zum Ende des Filmes. Das Bühnengeschehen präsentiert fliegende Wesen, bewegte Kulissen und Lichteffekte, die für den staunenden Blick Merricks, nicht eingeübt in den neuen Wahrnehmungsformen, wie ein Wunder erscheinen (vgl.
49 Vgl. Mobilisierung des Sehens (Anm. 43), S. 8.
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Abb. 11 und 12). Die Kamera deckt jedoch die Illusionstechnik auf, die das Geschehen und in dessen Folge das Staunen und die Überwältigung der Zuschauer überhaupt erst herstellen kann. Der Blick auf den bild- und illusionserzeugenden Apparatus – hier das Theater – verweist auch auf den frühen Film, der Bestandteil einer sich im 19. Jahrhundert ausbildenden Unterhaltungskultur des Spektakels und des Sensationellen ist.50 Gleichzeitig sind mit dem Geschehen die Filme Georges Méliès’ zitiert, die vornehmlich das Märchenhafte und Phantastische inszenieren und die damit auf eine Verblüffung und Überwältigung des Zuschauers angesichts der vorgeführten Attraktionen abzielen. Die Theatersequenz in The Elephant Man bezieht sich somit auf ein spezifisches Sehen, das für die vorfilmischen Theatertechniken ebenso wie für den frühen Film51 konstituierend ist. Ein Sehen, das zu einer bereitwilligen »affektiv-emphatischen Verstrickung mit dem ästhetischen
50 Die »filmischen Techniken« im Bühnenmelodrama hat Johann N. Schmidt behandelt, sie umfassen u. a. Dioramen, pyrotechnische Experimente, Spiegelreflexe, Versenkungen für Geisterszenen, Dressurakte, Wassertanks für Seeschlachten, Projektionen mittels Stereoptikon. Er hebt hervor, dass die Vorführung dieser aufwendigen Bühnentechnik die illusionsbildende Repräsentation gleichsam wieder überlagert, da sie selber zum Bestandteil der Theaterattraktion wird. Eine vergleichbare Funktion ist für das frühe »Kino der Attraktionen« zu veranschlagen. Johann N. Schmidt: Vom Drama zum Film. »Filmische« Techniken im englischen Bühnenmelodrama des neunzehnten Jahrhunderts. In: Mobilisierung des Sehens (Anm. 43), S. 259-276, hier S. 264; Tom Gunning: The Cinema of Attraction: Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde. In: Robert Stam und Toby Miller (Hg.): Film and Theory. An Anthology. Malden 2000, S. 229-235, hier S. 232. 51 Auf dessen Ästhetik The Elephant Man in seiner Mise en Scène deutlich rekurriert, nicht zuletzt auch dadurch, dass er in schwarz-weiß gedreht ist (vgl. Abb. 10).
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Gegenstand«52 führt, weil es dem von den Inszenierungstechniken erzeugten überwältigenden Effekt von Lebendigkeit erliegt. Abbildung 9: Szenenausschnitt aus The Elephant Man
Quelle: The Elephant Man (1980). Regie: David Lynch. DVD. Studio Canal 2010.
Abbildung 10: Szenenausschnitt aus The Elephant Man
Quelle: The Elephant Man (1980). Regie: David Lynch. DVD. Studio Canal 2010.
52 Gertrud Koch und Christiane Voss: Film und Illusion. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54 (2006), S. 85-143, hier S. 85.
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Der Film ist in den Kontext einer Zunahme der visuellen Apparate zu setzen, die für das 19. Jahrhundert, besonders für seine zweite Hälfte, konstatiert worden ist. Einher geht damit eine Vervielfältigung der Felder des Sichtbaren, die zudem neu konfiguriert und justiert werden.53 »The second half of the nineteenth century lives in a sort of frenzy of the visible. It is, of course, the effect of the social multiplications of images: ever wider distribution of illustrated papers, waves of prints, caricatures, etc. The effect also, however, of something of a geographical extension of the field of the visible and the representable: by journeys, explorations, colonizations, the whole world becomes visible at the same time that it becomes appropriatable. […]. Thanks to the same principles of mechanical repetition, the movements of men and animals become in some sort more visible than they had been: movement becomes a visible mechanics. The mechanical opens out and multiplies the visible […].«54
53 Dieses »Primat des Visuellen« bildet sich im 19. Jahrhundert in disparaten Bereichen aus, so in der Presse und in den Naturwissenschaften. In der Medizin und Biologie ermöglichen die nahezu zeitgleich entwickelten Techniken der Röntgenaufnahme, der Mikroskopie sowie die Entwicklung des Zystoskops die Visualisierung von Phänomenen und Prozessen, die dem menschlichen Auge nicht zugänglich sind. Vgl. Martina Heßler (Hg.): Konstruierte Sichtbarkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit. München 2006. Gleichzeitig ist es vor allem die Photographie, die ein rapides Anwachsen von Aufzeichnungen und Abbildungen erzeugt und dabei auch Bildwelten herstellt, die außerhalb der menschlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten liegen. Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie. Frankfurt/Main 2004. 54 Jean-Louis Comolli: Machines of the Visible. In: Teresa de Lauretis und Stephen Heath (Hg.): The Cinematic Apparatus. London 1980, S. 121-143, hier S. 122f. Besonders die Kinematographie lässt sich zu diesen »Maschinen des Visuellen« zählen.
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Abbildung 11: Szenenausschnitt aus The Elephant Man
Quelle: The Elephant Man (1980). Regie: David Lynch. DVD. Studio Canal 2010.
Abbildung 12: Szenenausschnitt aus The Elephant Man
Quelle: The Elephant Man (1980). Regie: David Lynch. DVD. Studio Canal 2010.
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Wie im obigen Abschnitt gezeigt werden konnte, geht The Elephant Man den Techniken der Visualisierung, deren Effekten und deren kulturellen Voraussetzungen und Bedingungen im Kontext der urbanen, populären Unterhaltungskultur im ausgehenden 19. Jahrhundert nach. Dabei wurde deutlich, dass The Elephant Man auch die Grundlagen einer spezifischen Medialität des (frühen) Films reflektiert, die sich auf verschiedenen, ineinanderlaufenden Feldern des Sichtbaren konfiguriert, die The Elephant Man auffächert. Im ersten Abschnitt wurde dagegen behandelt, wie die Kategorie des Monströsen, personifiziert im Monstrum, in den Blick gerät. The Elephant Man zeigt auf, wie das Monstrum im 19. Jahrhundert in disparaten Perspektiven – der Wissenschaft, der kommerzialisierten Unterhaltungskultur – als Effekt von Diskursen und Präsentationsverfahren entsteht. Diese Blicke sind bei allen Unterschieden doch ineinander verschaltet, da sie in dem das Monströse konstituierenden Dualismus von Norm und Abweichung begründet sind, den sie gleichzeitig fortlaufend reproduzieren. Indem er narrative und visuelle Muster des Horrorfilms gleichzeitig nutzt und explizit macht, verweist The Elephant Man auf die Konventionen eines Genres, dessen Anliegen es ist, Phantasmen und Monstren in die Sichtbarkeit zu überführen und das damit Schrecken wie auch Vergnügen erzeugt. Vor allem aber thematisiert er, wie das Monstrum zum Vorschein gebracht wird, immer wieder und immer wieder neu, in Anordnungen des (Kamera-)Blicks, in Inszenierungsverfahren, in Repräsentationstechniken – und nicht zuletzt in Geschichten und Filmen.
Coopers tibetanische Methode. Genre, Wissen, Medialität in Twin Peaks C LAUDIA L IEBRAND
Schaut man sich den von Fernsehkritikern, Fernsehwissenschaftlern und, berücksichtigt man auch die diversen Internetforen, von hunderten aficionados bedienten Diskurs über David Lynchs Serienprojekt Twin Peaks1 an, dann lässt sich als dessen cantus firmus die Einschätzung ausmachen, David Lynch erfinde mit Twin Peaks das Fernsehen neu2 –
1
Der Analyse und den Screenshots lag die 2007 in Deutschland auf DVD erschienene Gold Box Edition zugrunde. Twin Peaks (1990-91). Idee: David Lynch und Mark Frost. Regie: David Lynch u. a. DVD. Definitive Gold Box Edition. Paramount Home Entertainment 2005. – Entscheidende Anregungen und Hinweise, ohne die der Aufsatz nicht hätte geschrieben werden können, verdanke ich Peter Scheinpflug und Gereon Blaseio. – Für eine erste Orientierung über die Schriften zur Serie sei auf den guten Überblick von Seeßlen hingewiesen. Vgl. Georg Seeßlen: David Lynch und seine Filme. 6., erw. u. überarb. Aufl. Marburg 2007, S. 273-275.
2
Zum hype und decline der Serie, vgl. den Spiegel-Artikel »Fische in der Kaffeetasse: Die amerikanische Kultserie Twin Peaks, inspiriert vom Regie-Star David Lynch, startet auf RTL plus.« In: Der Spiegel 37/1991,
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ohne dass das TV-Publikum, überfordert vom Angebotenen, abschalte.3 »[T]he show has proved that original, challenging, and idiosyncratic fare can be done for TV, even within rigid network confines, and that people will tune in.«4 Twin Peaks soll im Folgenden nicht vom Sockel extraordinärer Fernsehunterhaltung gestoßen werden – die Serie ist »original«, »challenging« und »idiosyncratic« –, herausgearbeitet wird im Folgenden aber, dass David Lynchs und Mark Frosts Serie nicht so voraussetzungslos gestaltet ist, wie es dem Chorus der TwinPeaks-Bewunderer scheint. Bei der Kontextualisierung und Historisierung, die angestrebt ist, geht es einerseits darum, herauszustellen, inwieweit sich Lynchs Produktion von den ›konventionellen‹, ›stereoty-
S. 236f. und http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13491526.html (01. Mai 2012). 3
Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass Twin Peaks nur in der ersten Staffel wirklich erfolgreich war. Die zweite Staffel verlor immer mehr Zuschauer. Das führte schließlich zur Einstellung der Sendung – eine Einstellung, die, berücksichtigt man die schlechten und zunehmend schlechter werdenden Quoten der zweiten Staffel, recht spät vorgenommen wurde: Das mag an den großartigen Einschaltquoten der ersten Staffel und am kulturellen Renommee von Twin Peaks gelegen haben.
4
Richard Zoglin: A Sleeper with a Dream. After the Eery Twin Peaks, TV May Never Be the Same Again. In: TIME 21. Mai 1990. U. S. Edition, S. 86-87. Zit. nach Christy Desmet: The Canonization of Laura Palmer. In: David Lavery (Hg.): Full of Secrets. Critical Approaches to Twin Peaks. Detroit 1995, S. 93-108, hier: S. 93. Wenn ich im Folgenden Lynch fokussiere, heißt das nicht, dass ich Mark Frosts Anteil am Twin-Peaks-Projekt minimieren möchte; der Erfolg der series hat viel mit Frosts Erfahrungen im US-Seriengeschäft zu tun – in den Achtzigern verfasste er teleplays und führte Regie unter anderem bei der Polizeiserie Hill Street Blues (Polizeirevier Hill Street, USA 1981-1987, Series-Creator: Steven Bochco und Michael Kozoll). Das Spezifische an Twin Peaks verdankt sich allerdings, da sind sich alle Kritiker einig – und das sieht auch Mark Frost so –, Lynchs Konzeption der Serie.
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pen‹ Fernsehformaten und -genres unterscheidet (gefragt wird also, welches Genre-Wissen in der Serie – daneben stehen die Negotiationen psychoanalytischen und medialen Wissens im Fokus – verhandelt wird), und andererseits darum, zu explorieren, inwiefern Twin Peaks durchaus übliche Muster aufruft – und zur Kenntlichkeit entstellt. Lynchs Überzeugung etwa, Regisseuren sei aufgegeben ›unter die Oberfläche zu gehen‹, die Idylle klischeehafter Milieubilder der bürgerlichen Kleinstadt, des ländlichen Amerikas als scheinhaft zu entlarven, seit Blue Velvet5 das Markenzeichen des Meisterregisseurs für die Fans, lässt sich als Agenda identifizieren, die tatsächlich immer schon den Mechanismus von soap operas bestimmt – dem Genre, dem Format, das Twin Peaks zentral verhandelt. In der jüngst erschienenen mehr als siebenhundert Seiten umfassenden, hagiographischen, aber sorgfältigen Studie David Lynch. Beautiful Dark von Greg Olson ist nachzulesen, dass die ihr Serienprojekt entwickelnden Twin-PeaksProduzenten Lynch und Frost sich zahlreiche Episoden von Peyton Place ansahen.6 Dieses Hinweises des Biographen hätte es nicht bedurft – ist es doch ganz augenfällig, dass Twin Peaks Erzählmuster der ersten soap opera aufgreift, die in den USA zur prime time lief – zwischen 1964 und 1969 wurden 514 halbstündige Episoden von Peyton Place zur besten Sendezeit ausgestrahlt. Zur US-soap von Paul Monash, die inspiriert war vom gleichnamigen Roman von Grace Metalious könnte man leicht eine Inhaltsangabe verfassen, die sich auch auf Twin Peaks applizieren ließe. Es geht in Peyton Place um eine Kleinstadt im ländlichen Amerika – und die continuing story lässt uns teilhaben an »murder, illicit passion, insanity, and secrets. « 7 Hinzuzufügen als weitere Topics wären: Abtreibung, Inzest und Ehebruch. Die
5
Blue Velvet, Regie David Lynch, USA 1986.
6
Vgl. Greg Olson: David Lynch. Beautiful Dark. Lanham, Md. 2008
7
So fasst ein Anonymus auf den Seiten der Internet Movie Database den
(=Filmmakers 126), S. 266. Plot der
Serie
zusammen:
summary (6. Mai 2012).
http://www.imdb.com/title/tt0057779/ plot
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opening credits von Peyton Place zeigen einen kleinen Kirchturm (bevor weitere idyllische Neuenglandbilder gezeigt werden), im voiceover hören wir: »This is the continuing story of Peyton Place.« Schon in der ersten Episode der soap werden wir Zeuge einer außerehelichen Affäre, überdies deutet sich an, dass die Witwe Constance MacKenzie, die mit ihrer Tochter Allison (gespielt von Mia Farrow, für die Peyton Place das Karrieresprungbrett darstellte) zusammenlebt, keine ›echte‹ Witwe ist, es sich bei Allison um ihre uneheliche Tochter handelt. Bereits in den ersten acht Episoden von Peyton Place entfaltet sich ein Panorama, das häusliche Gewalt, übergriffige Väter, prügelnde Ehemänner, Alkoholsucht, die Nöte der Adoleszenz genauso exponiert wie die rigide soziale Hierarchie, die Hypokrisie der Gesellschaft und die Angst von Protagonisten, ihre sorgfältig verborgenen Geheimnisse könnten offengelegt werden. Peyton Place – die Serie ist in Deutschland wenig bekannt; erst ab der 269. Episode wurde die continuing story of Peyton Place übertragen – lässt sich, was Handlungsführung und Intrigensujets angeht, tatsächlich als ländlicher, neuenglischer Vorläufer von Dallas8 oder Dynasty9 ansehen, die in den späten Siebzigern und in den Achtzigern als erfolgreiche prime time soap operas liefen. Während Dynasty – das im deutschen Fernsehen als Der Denver-Clan gesendet wurde – und Dallas aber in der Welt der Schönen und Reichen spielen, es nicht um die Sorgen und Nöte von Durchschnittsamerikanern, sondern um den Intrigantenstadl von Ölmillionären geht, verweist Peyton Place auf die dunkle Unterseite des ländlich Sittlichen, des vorgeblich intakten ordinary and middle-class America. Damit etabliert Peyton Place für die prime time soap opera ein Muster, auf das auch Lynchs und Frosts Twin Peaks rekurriert: Ein klischiertes Idyll wird aufgerufen, um sodann damit zu beginnen, das unter der schönen Oberfläche Verborgene – Mord, Inzest, Ehebruch, Gewalt, Drogen (und diese Liste verzeichnet sowohl Peyton Place’ als auch
8
Dallas, USA und Kanada 1978-1991, Series-Creator: David Jacobs.
9
Dynasty (Der Denver-Clan), USA 1981-1989, Series-Creators: Esther und Richard Shapiro.
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Twin Peaks’ dunkle Geheimnisse) – aufzuspüren. Was für Lynch ein Projekt ist, das darauf zielt, die brüchige Evidenz des Sichtbaren zu irritieren, zum Ort des ›Anderen‹ vorzustoßen, stellt für die Macher von Peyton Place – wie die von jeder anderen x-beliebigen soap opera – den Erzählmodus dar, der es erlaubt, Dutzende, ja Hunderte von Serienepisoden zu generieren: Figuren mit Geheimnissen zu versehen, die exponiert und exploriert werden können, ist eines – und zwar ein zentrales – der probaten Mittel, um Erzählstränge zu entwickeln, denen nicht schon nach wenigen Episoden der Atem ausgeht. Dem Serienzuschauer ist aufgegeben, das Wissen (über geheimnisvolle Zusammenhänge, düstere Vergangenheitsszenarien), das ihm zunächst vorenthalten wird, als treuer Zuschauer der ausgestrahlten Episoden sukzessive zu erwerben. Peyton Place ist so »full of secrets«10 wie Twin Peaks (die Serie lief im deutschen Fernsehen als »Das Geheimnis von Twin Peaks«). Und wie in Twin Peaks ist es auch in Peyton Place eine Frau, die diese sordid secrets metaphorisiert, ja allegorisiert. Ist Laura Palmer, die homecoming queen, in Twin Peaks die Figur, die der männlichen Ödipus-Riege um Dale Cooper Sphinx-Rätsel zu lösen aufgibt, steht am Beginn der Peyton Place-Serie das Geheimnis, das Constance MacKenzie hütet und das sie bewahren will: Peyton Place soll nicht erfahren, dass sie unverheiratet schwanger wurde und als falsche Witwe eine Tochter gebar. Wie in Twin Peaks leiden auch in Peyton Place Jugendliche, junge Erwachsene unter den Fehlern ihrer Eltern – Laura Palmer genauso wie Allison MacKenzie. Sowohl Lynchs Projekt als auch die von Paul Monash kreierte Peyton-Place-Serie setzen ganz in der Tradition Freuds, der festhält, dass die größten Rätsel der Kultur die Weiblichkeit und der Tod seien, auf das Rätsel Weiblichkeit. Lynch verbindet, und zeichnet damit eine Linie im abendländischen kulturellen Repräsentationssystem nach, dieses Rätsel der Weiblichkeit
10 So lautet der ebenso treffende wie verheißungsvolle Titel des von David Lavery herausgegebenen Sammelbandes zur Fernsehserie: Full of Secrets (Anm. 4).
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mit dem Tod. Damit setzt er einen Zusammenhang in Szene, den Elisabeth Bronfen umfänglich in ihrer Monographie Nur über ihre Leiche ausgeführt hat. Bronfen beschreibt die Tötung des Weiblichen, die Konstituierung der symbolischen, der kulturellen Ordnung durch den Ausschluss der (lebendigen) Frau, die Transformation eines »als belebte Natur wahrgenommenen oder kulturell konstruierten (weiblichen) Körpers in unbelebte ästhetische Gestalt«.11 Schöne Frauen – so ihre These – würden getötet, um ein Kunstwerk hervorzubringen, die weibliche Leiche werde in der kulturellen Narration als Kunstwerk behandelt. Damit wird die weibliche Leiche zu einer Trope – zu einer Verhandlungsfigur, mit Hilfe derer sich unsere Kultur anschickt, sich zu stabilisieren und zu repräsentieren. »Andererseits aber verweisen [...] [Weiblichkeit und Tod, verweisen weibliche Leichen] auf eine beängstigende Realität jenseits aller [...] [Repräsentationssysteme].«12 Abbildung 1: Icon. Laura als schöne (Wasser-)Leiche
Quelle: Twin Peaks. DVD (Anm. 1)
11 Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. München 1994, S. 623. 12 Ebd., S. 10.
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Das icon dieser Konfiguration ist in Lynchs Twin Peaks das Gesicht der toten Laura Palmer (vgl. Abb. 1). Umrahmt ist das Gesicht von Haaren, so wild und lockig, dass sie einer Medusa gehören könnten. Die Aureole der prekären Heiligen, Laura, wird von der Plastikfolie in Szene gesetzt, in die die Leiche eingewickelt ist. Und die Farbgebung des Porträts ist nicht golden, wie auf dem Porträtfoto, auf dem Laura als homecoming queen dargestellt ist, sondern bläulich, alle gelb-roten Töne sind zugunsten von weiß-blauen verschwunden: Sogar die Lippen erscheinen farblos weiß. Die Tote sieht morbide, aber klassischschön, rätselhaft, unberührbar aus – wie eine Eiskönigin aus einem fremden Land. Im Vergleich zu diesem Bild der schönen Wasserleiche mutet die Fotographie Lauras als prom queen, die sie als lächelnden Teenager mit einem Krönchen im hochtoupierten Haar in Szene setzt – ein Porträt, das die Serie hindurch immer wieder von der Kamera eingefangen wird (vgl. Abb. 2) –, oberflächlich und trivial an.13 Das in Twin Peaks verhandelte ›Andere‹ ist eine Textur jenseits dieser Fotographie, aber es ist eine Textur, die im Ophelia-Bild der toten Laura Palmer zumindest angedeutet ist.
13 Der Rezipient sieht Laura in der Serie zuerst als schöne Wasserleiche in Großaufnahme. Wann immer das Porträt von Laura als prom queen in der mise-en-scène auftaucht, ruft dieses Porträt immer auch das – zuvor präsentierte – icon der (faszinierenden und rätselhaften) ›schönen Leiche‹ auf (mit der die Narration beginnt und die sie motiviert: verfolgen wir doch die Serie hindurch die Suche nach dem Mörder Lauras). Diese doppelte Bilderkonfiguration (Porträt der prom queen, icon der ›schönen Leiche‹) findet in der Gestaltung der DVD-Special-Edition der ersten Staffel ihre enunziative Entsprechung: Auf dem Cover sehen wir das prom-queen-Porträt, das auf einer durchsichtigen Plastikhülle aufgedruckt ist. Zieht man diese ab, erscheint darunter das icon der ›schönen Leiche‹ auf der eigentlichen DVDPackung (die die Serienfolgen beinhaltet, die ›full of secrets‹ sind).
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Abbildung 2: Bild-Konfigurationen. Frauentorso und prom-queen-Porträt Lauras
Quelle: Twin Peaks. DVD (Anm. 1)
Lässt sich Twin Peaks aber auch auf die prime time soap, insbesondere auf Peyton Place zurückführen, so beschränkt sich Lynchs Projekt nicht auf eine Aktualisierung des Genres soap opera. Was Twin Peaks zu einem Format macht, das Fernsehgeschichte geschrieben hat, ist vor allem der Genremix, mit dem Lynch operiert.14 So ist einerseits der Penchant von Twin Peaks zum Gothic-Genre bemerkenswert, das die dunklen (in jeder soap explorierten) Kehrseiten der Gesellschaft illus-
14 Lynch ›überzieht‹ klassische Melodrama-Erzählstrategien, die mit comedyElementen versetzt sind, mit ›europäischer‹ Kunstfilm-Ästhetik. Die Inszenierungsstrategien, die Twin Peaks anwendet, sind zum Teil auch im Kino überholte Inszenierungsstrategien des klassischen crime- und horror movies (bei Gewaltdarstellungen wird etwa auf Metonymisches verwiesen – auf Schatten oder eine blutbespritzte Lampe etc.). Diese Inszenierungsstrategien werden für das Fernsehen, das sich in seinen finanziellen Rahmenbedingungen und ästhetischem Bedingungsgefüge (sowie dem, was als ›ausstrahlbar‹ begriffen wird) vom Kino unterscheidet, aktualisiert.
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triert und mit Force zur Darstellung bringt. Andererseits wird das Theatralische, das Opernhafte des Gothic-Genre ironisch kommentiert durch die Inklination der soap opera zur melodramatischen Hysterie (die von einer Reihe von Schauspielern in Twin Peaks zur Darstellung gebracht wird, als befänden sie sich in einer brasilianischen Telenovela) – eine Hysterie, die nicht nur Twin Peaks charakterisiert, sondern auch die soap opera, die auf den Fernsehschirmen von Twin Peaks läuft. Damit ist ein schönes mise-en-abyme inszeniert: die Serie in der Serie, mit dem Titel »Invitation to Love« (vgl. Abb. 3). Deren ›Einspielungen‹ kommentieren immer auch die jeweilige Sequenz von Twin Peaks, in die sie hineingeschnitten sind, sind als Metakommunikation der Serie über sich selbst von Bedeutung.15
15 Um zwei beliebige Beispiele anzuführen: In Episode I.4 sieht Leland Palmer fern, er verfolgt eine Eröffnungssequenz von »Invitation to Love«. Die Serie in der Serie verhandelt gerade väterliche Probleme mit der Tochter und mit dem Tod – offensichtlich ein Verweis auf Lelands prekären Umgang mit dem Tod seiner Tochter Laura. Die Tochter, um die es in »Invitation to Love« geht, ist in einem split screen zweifach zu sehen. Direkt im Anschluss daran steht Maddy im Wohnzimmer, die Cousine von Laura, die ebenfalls von derselben Darstellerin, Sheryl Lee, gespielt wird. Maddy postfiguriert Laura, substituiert sie – und wird ebenfalls ermordet. In Episode I.5 führt der gerade aus der Haft entlassene Hank Jennings ein Gespräch mit seiner eingeschüchterten Ehefrau Norma in deren Diner. Die Kellnerin Shelley Johnson beobachtet dies besorgt und wendet darauf den Blick zu einer Szene von »Invitation to Love« im Fernseher, in der ein Kleinkrimineller gerade Gewalt ausübt. So gelassen sich Hank gegenwärtig auch noch gibt: Der Zuschauer ist alarmiert, weiß er doch, dass die in der Serie-in-der-Serie gesehene Gewalt auch in Hank schlummert.
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Abbildung 3: Die Soap in der Soap. Invitation to Love in Twin Peaks
Quelle: Twin Peaks. DVD (Anm. 1)
Und nicht nur das Gothic-Genre und die soap opera bilden sich in Lynchs Twin Peaks wechselseitig aufeinander ab, auch die Genres comedy und thriller resp. detective story – das wird im Folgenden im Fokus stehen – werden übereinander geblendet, sind doch Komödien immer auch Geschichten über Irrtümer und Verwechslungen – gewissermaßen stories of failed investigation. Beispielsweise beginnt im Pilotfilm der zweiten Staffel von Twin Peaks (mit dem Titiel »May the Giant Be with You«) Audrey Horne, die Tochter des Hotelbesitzers Benjamin Horne, die als Hostess, als Prostituierte im »One-eyed Jacks«, einem Casino und Bordell, das nicht weit entfernt von Twin Peaks, aber jenseits der Staatsgrenze in Kanada liegt, zu arbeiten, um den Geheimnissen um Laura, die ebenfalls im »One-eyed Jacks« ihre Dienste als Prostituierte anbot, auf die Spur zu kommen. Audreys Interesse ist also ein detektivisches, sie will Wissen erwerben, schleust sich als Undercover-Agentin in das Bordell ein und wird eingestellt von der Geschäftsführerin Blacky, die nicht weiß, dass die ›Neue‹ die Tochter
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des Eigentümers ist – gehört das Bordell »One-eyed Jacks« doch Benjamin Horne. Als Letzterer die gerade eingestellte Hostess aufsucht, um sich von ihr sexuell bedienen zu lassen, gelingt es Audrey nur mit viel Glück und Geschick – und mit Hilfe einer Maske, die ihr in letzter Minute zufällig in die Hände fällt –, unerkannt zu bleiben und sich der Avancen ihres Vaters zu erwehren (vgl. Abb. 4). Die Szene, die mit Audreys detektivischem Anliegen erzählerisch motiviert wird, changiert zwischen klassischer Verwechslungskomödie der derberen, sexuell anzüglichen Art – und beängstigendem thriller: Die Protagonistin ist unmittelbar vom Inzest bedroht, tritt also nicht nur als Prostituierte in Laura Palmers Fußstapfen, sondern wird – wie Laura – vom Vater sexuell angegangen. Abbildung 4: Inzestdrohung und Maskenspiel
Quelle: Twin Peaks. DVD (Anm. 1)
Detective story/thriller und comedy werden aber noch auf andere Weise aufeinander bezogen. Bereits am Ende der zweiten Episode der ers-
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ten Staffel16 träumt Agent Cooper. Der FBI-Ermittler wacht auf, telefoniert mit dem Sheriff, verabredet sich mit ihm für den nächsten Morgen, weil er nun wisse, wer Laura ermordet habe. Twin Peaks schließt mit dieser Analogisierung von detective story und Traumdeutung beziehungsweise Psychoanalyse an Erzählmuster an, die im kulturellen Repertoire – und das ist auch entscheidend durch den Hollywoodfilm geprägt – verankert sind. Um ein prominentes Beispiel herauszunehmen, sei an Alfred Hitchcocks Spellbound aus dem Jahr 1945 erinnert.17 In diesem Film verliebt sich die Psychoanalytikerin Dr. Constance Peterson (Ingrid Bergman) in einen geheimnisvollen Mann, der ihr Patient wird: Dr. Anthony Edwardes (Gregory Peck), der in Wirklichkeit John Ballantine heißt – das aber nicht weiß, weil er an Amnesie leidet. Constance sucht mit John Ballantine – die Polizei ist dem Paar inzwischen auf den Fersen, weil sie Ballantine für einen Mörder hält – ihren alten Lehrer Dr. Brulov (Michael Chekhov) auf. Ein Traum (für die berühmte Sequenz wurde Salvador Dalí engagiert), den Ballantine dem Therapeutendoppel erzählt, hilft schließlich Licht in das amnestische Dunkel des Patienten zu bringen. Ein Blick zurück in die Kindheit und in die aktuelle Vergangenheit Ballantines gelingt. Es stellt sich heraus: Er ist kein Verbrecher – und der psychoanalytische Spürsinn Constances identifiziert schließlich noch den wahren Mörder. Dadurch dass Constance als Psychoanalytikerin eine so überaus begabte Detektivin abgibt, verweist Hitchcock explizit auf die Nähe von Psychoanalyse und Detektion. Diese in Spellbound vorgenommene Übereinanderblendung der psychoanalytischen und der krimina-
16 Wie bei den meisten Serien wurde auch bei TWIN PEAKS zuerst ein Pilotfilm von durchschnittlicher Spielfilmlänge produziert, um das Serienkonzept beim Publikum zu erproben. Die Angabe der Episoden folgt hier der konventionellen Nomenklatur: Zuerst angegeben wird die Staffel in römischen Ziffern, gefolgt von der Episode in arabischen Ziffern. Die Zählung der Serie beginnt mit dem Pilotfilm: Die erste Episode der daran anschließenden, ersten Staffel wird also mit I.2 angegeben. 17 Spellbound (Ich kämpfe um dich), Regie Alfred Hitchcock, USA 1945.
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listischen Spurensuche ist konstitutiv für ein ganzes Genre: den film noir. Wenn im klassischen film noir – wie auch im Neo-Noir der 80eroder 90er-Jahre – die schöne, verführerische und geheimnisvolle Heldin auftritt, ist für den männlichen Protagonisten, der meist als private eye (nicht selten im Auftrag dieser Schönen) arbeitet, eine Rätselkonfiguration konstelliert, mit deren Lösung er den Film hindurch befasst ist. Die genretypische Schließungsfigur des film noir verlangt die Aufdeckung des Geheimnisses der für den detektivischen Helden so faszinierenden wie gefährlichen femme fatale: Der Protagonist wird zum Ödipus, der das Rätsel der Sphinx löst. Psychoanalyse und kriminalistische Detektion erweisen sich als deckungsgleich. Twin Peaks greift mit Coopers Traum auf diese Analogisierung zurück – die Traumsequenz, mit der die zweite Episode der ersten Staffel endet, schließt an Trauminszenierungen nicht nur im Hollywoodfilm an, die ja immer schon einen anderen Schauplatz eröffnen wollen, einen Ort des Anderen. Der Traum, den Gregory Peck in Hitchcocks Spellbound träumt, etwa operiert mit surrealen Bildern, wie wir sie aus Salvador Dalís Werken kennen; die Motive des Gemäldes Melancholy, Atomic, Uranic Idyll werden auf cinematografisches Großformat getrimmt: auf Vorhänge gedruckte Augen, die mit Scheren zerschnitten werden (vgl. Abb. 5),18 Traumlandschaften, ein gesichtsloser Mann im Smoking, ein Casino, in dem das Spiel des Lebens gespielt wird. Die Sequenz gilt als eine der berühmtesten Hitchcocks, auch wenn der gar nicht am Dreh beteiligt war; für die Traumsequenz verantwortlich zeichnet William Cameron Menzies.19
18 Hier ist Luis Buñuels Klassiker des Surrealismus Un Chien Andalou (dt. Ein Andalusischer Hund, Frankreich 1929) zitiert – ein Film, der ebenfalls mit Unterstützung von Salvador Dalí entstand: In der Eingangssequenz von Un Chien Andalou wird in einer Detailaufnahme ein Auge mit einer Rasierklinge zerschnitten. Berühmt ist diese Sequenz, weil sie die Sehgewohnheiten damaliger, aber auch heutiger Zuschauer attackiert. 19 Am Traum in Spellbound lässt sich verdeutlichen, dass es wenig Sinn macht, Filme, auch Hitchcockfilme, auf ihre Regisseure ›herunterzurech-
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Abbildung 5: Die Traumsequenz in Spellbound
Quelle: Spellbound (1947). Regie: Alfred Hitchcock. DVD. Phoenix 2009.
In Spellbound wirkt die eingeschobene Traumsequenz – aller Reden über die Analogie von Film und Traum, mit der gerade die psychoana-
nen‹. Selznick gefiel die erste Version der – von Dalí entworfenen und von Hitchcock realisierten – Szene nicht. »It is not Dalí’s fault, for his work is much finer and much better for the purpose than I ever thought it would be. It is the photography, set-ups, lighting, et cetera, all of which is about what you would expect from Monogram« (bei Monogram handelt es sich um eines der poverty row studios, Low-Budget-Studios, die in den 30er- und 40er-Jahren B-movies produzierten). Schließlich engagierte Selznick William Cameron Menzies, der den Traum als Regisseur in Szene setzen sollte. Für weitere Hintergrundinformationen über die Produktion der TraumSequenz und das Zitat von Selznick, vgl. Kristina Jaspers: Der Stoff, aus dem die Träume sind. Szenenbilder surrrealer Traumräume. In: Winfried Pauleit, Christine Rüffert, Karl-Heinz Schmid und Alfred Tews (Hg.): Das Kino träumt. Projektion. Imagination. Vision. Berlin 2009, S. 127-144, hier S. 132-137 und 143, Endnote 32.
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lytisch ausgerichtete Filmtheorie operiert, zum Trotz – wie ein implementierter Fremdkörper. Die aus der Malerei stammenden Bildprogramme sind in den Film zwar eingespeist, er kann sie sich aber nicht recht anverwandeln; die Traumsequenz kommt über weite Strecken eher als animierte Malerei daher und fügt sich damit nicht in die filmische Textur, die durch die Regeln des klassischen ›realistischen‹ Hollywood-Kinos bestimmt wird. Von Interesse ist die Traumsequenz in Spellbound als Versuch, Psychoanalyse zu bebildern, in der filmischen Ökonomie von Hitchcocks Film wirkt der intermediale Rekurs aber dysfunktional. Das ist bei Agent Coopers Traum in der zweiten Episode der ersten Staffel von Twin Peaks anders. Das Ende des Traumes von Cooper bildet eine, bildet die (berühmte und viel diskutierte) Red-Room-Episode. Cooper, um Jahre gealtert, sieht sich in einem rot ausstaffierten Zimmer sitzen – zusammen mit einem Kleinwüchsigen und Laura (vgl. Abb. 6). Die Szene war zunächst nicht im Drehbuch vorgesehen. Lynch macht die Story darüber, wie ihm die Idee zur Traumsequenz gekommen sei, zu einem Essay über sinnliche Auslöser kultureller Produktion: »I was leaning against a car – the front of me was leaning against this very warm car. My hands were on the roof and the metal was very hot. The Red Room scene leapt into my mind. ›Little Mike‹ was there, and he was speaking backwards. [...] For the rest of the night I thought only about The Red Room.«20 Gedreht wurde die Sequenz zunächst zusammen mit dem Pilotfilm der ersten Staffel. Von diesem Pilotfilm gab es eine Variante, die in Europa als einige Minuten längerer Film auf VHS vertrieben wurde, in dem der Mordfall Laura Palmer nicht nur exponiert, sondern bereits dessen Lösung präsentiert wird. Bob wird in den Zusatzminuten als Übeltäter identifiziert und im Keller des Krankenhauses vom einarmigen Mike erschossen. Danach wird eine Einblendung präsentiert: 25 years later. Der gealterte Cooper sitzt auf einem Sessel im Red Room, die auf einem Sofa gegenübersitzende Laura Palmer und der Kleinwüchsige sprechen eigenartig artiku-
20 Chris Rodley: Lynch on Lynch. 2. Aufl. London 2005, S. 165.
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lierte, kaum verständliche Sätze, der Zwerg fängt an zu tanzen, Laura steht auf und flüstert Cooper etwas ins Ohr.21 Abbildung 6: Red-Room-Szenario
Quelle: Twin Peaks. DVD (Anm. 1)
Dieses Red-Room-Szenario ist deshalb von besonderem Interesse, weil dieselben Sequenzen einmal als Traum (in der zweiten Episode der ersten Staffel) eingesetzt und das andere Mal, in der Variante des Pilot-
21 »The footage was originally shot along with the pilot, to be used as the conclusion were it to be released as a feature film. When the series was picked up, Lynch decided to incorporate some of the footage; in the third episode, Cooper, narrating the dream, outlines the shot footage which Lynch did not incorporate, such as Mike shooting Bob and the fact that he is twenty-five years older when he meets Laura Palmer’s spirit.« So heißt es auf der englischsprachigen Wikipedia-Seite zu Twin Peaks, auf der Fans akribisch Wissen über die Kult-Fernsehserie gesammelt haben. Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Twin_peaks (06. Mai 2012).
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films, an den die Lösung des Mordfalls anmontiert ist, dezidiert nicht als Traum markiert, sondern als Ausblick 25 years later verwertet werden. Damit ist ein Problem bezeichnet, das ins Zentrum der filmischen Ästhetik Lynchs zielt. Lynchs Produktionen verwischen die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit; Lost Highway22 etwa ist – einer Selbstdeutung Lynchs folgend23 – immer wieder als ›Möbiusband‹ beschrieben worden: Die Geschichte führe am Ende zu ihrem Anfang zurück, in der Mitte drehe sie sich plötzlich um, die Vorderseite werde zur Kehrseite, die Kategorien Raum und Zeit würden verunklärt. Wie sich Vorderseiten und Kehrseiten, die in der Fiktion des Films gesetzte Wirklichkeit auf der einen und Träume und Imaginationen auf der anderen Seite, zueinander verhalten, ist logisch jeweils schwer auszutarieren – ein Perspektivenwechsel lässt das eine als das andere erscheinen. Auch die mise-en-scène hilft nicht – bleiben wir beim Red-RoomBeispiel – bei der Diagnose Traum.24 Die Interieurs etwa im Hotel von
22 Lost Highway, Regie David Lynch, USA und Frankreich 1997. 23 Lynch sowie sein Ko-Autor Barry Gifford haben dies wiederholt in Interviews geäußert – wie beispielsweise in diesem Radio-Interview von 1997 mit
David
Lynch:
http://www.industrycentral.net/director_interviews/
DL01.HTM (06. Mai 2012). 24 Die Inszenierung von Träumen im Film wirft eine Reihe genereller Probleme auf, darunter die Schwierigkeit, den Traum als irreales und imaginäres Geschehen innerhalb der filmischen Fiktion zu kennzeichnen. So fällt die Hierarchisierung von Wirklichkeiten innerhalb der Fiktion ebenso schwer wie die klare Unterscheidung von ›subjektiven‹ und ›objektiven‹ Filmbildern. Oft werden mediale Verfremdungstechniken wie etwa optische und akustische Effekte oder Abweichungen von der konventionellen Narration als Traummarkierungen genutzt. Seit den Filmen etwa Frederico Fellinis oder Ingmar Bergmans in den 60er-Jahren (die mit den standardisierten Strategien zur Markierung von Traum und Realität im Film – und mit einem ›klassischen‹ filmischen Realismus – brachen) ist die Unterscheidung von Traum und ›Realität‹ im narrativen, fiktionalen Film noch schwieriger geworden. Zur Einführung in die Diskussion, vgl. Bernard
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Benjamin Horne (um nur ein Bespiel zu nennen) sind ähnlich monochrom eingefärbt – nur ist da die Farbe der Wahl nicht rot (wie in der Traumsequenz der zweiten Episode der ersten Staffel), sondern es dominieren Holz-Töne. Auch das Figurenarsenal, das uns in Twin Peaks begegnet, sei es one-eyed-Nadine oder der einarmige Mike – herausgegriffen seien zwei beliebige Figuren –, erscheint nicht weniger surreal verfremdet, nicht weniger »seltsam« als der tanzende kleine Mann in der Red-Room-Episode. Was sich als Traum-Sequenz verwenden lässt, lässt sich deshalb eben auch ohne den Hinweis ›Traum-Sequenz‹ gebrauchen: in die Textur der filmischen Realität einweben. Während – zurückzuverweisen sei nochmals auf das Hitchcock-Beispiel – der Traum in Spellbound aufgeladen ist mit rätselhafter (oder, kennt man sich in der Requisitenkiste der Traumdeutung aus, weiß man um die gängigen Metaphorisierungen und Allegorisierungen: wenig rätselhafter) Symbolik, mit Gegenständen und Konfigurationen, die als ›Anderes‹, als geheimer Kern der Filmhandlung inszeniert und ästhetisiert werden, unterscheidet sich die Inszenierung und die Ästhetik von Coopers Traum so wenig von dem Nicht-Traum-Material in Twin Peaks, dass es problemlos in der erwähnten Variante des Pilotfilms als Schlusssequenz 25 years later eingesetzt werden kann.25
Dieterle (Hg.): Träumungen. Traumerzählungen in Film und Literatur. St. Augustin 1998. 25 Wenn in Episode II.8 ein zweites, geheimes Tagebuch von Laura gefunden wird, aus dem hervorgeht, dass Laura vor ihrem Tod denselben Traum hatte wie später Cooper, wird die Möglichkeit der Trennung zwischen ›subjektivem Traum‹ und ›objektiver Realität‹ vollends durchgestrichen. Auf diese surrealistisch anmutende Auflösung einer klaren Trennung von Traum und Realität innerhalb der Diegese weisen auch Nicola Glaubitz und Jens Schröter hin, ohne diese jedoch weitergehend genre- oder medientheoretisch zu diskutieren. Vgl. Nicola Glaubitz und Jens Schröter: Surreale und Surrealistische Elemente in David Lynchs Fernsehserie Twin Peaks. In: Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo und Volker Roloff (Hg.): Sur-
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Das heißt allerdings nicht, dass Twin-Peaks-Zuschauer mit der Red-Room-Episode anders umgegangen sind als mit ›konventionellen‹ Traumdarstellungen in Film und Fernsehen (die als clavis mysterii funktionieren). So berichtet beispielsweise Diana Hume George, dass sie bei der Erstausstrahlung der Serie jede Episode aufgezeichnet und Coopers Traum wieder und wieder abgespielt habe, um den Traum zu entschlüsseln. Ohne Erfolg.26 Anders als etwa im Spellbound-Traum, in dem Setting und Requisiten sich mit dem Instrumentarium orthodoxer Psychoanalyse entschlüsseln lassen – und sich das verborgene Wissen dem Kundigen erschließt –, bleibt Coopers Traum beliebig: Die Serie parodiert hier27 – unser Blick ist ja auf die Verschränkungen von detective story/thriller und comedy gerichtet – die Tiefenhermeneutik, die die Konfigurationen von Psychonanalyse und detective story gleichermaßen bestimmt. Des Rätsels Lösung liegt im Red-RoomTraum, der zumindest insofern die Signifikantenspiele der Psychoanalyse aufgreift, als er rückwärts gelesen auf den begangenen Mord –
realismus
und
Film.
Von
Fellini
bis
Lynch.
Bielefeld
2008
(=Medienumbrüche 25), S. 281-300, hier S. 288. 26 Die Autorin berichtet darüber wie folgt: »My reading doesn’t come from outside the circle of aficionados. I was instantly hooked on Twin Peaks. I lived for Thursday night, taped the episodes for repeated frissons. I must have listened to the sound the dwarf makes with his body at the start of the dream sequence at least a dozen times, trying to figure out if it was the flap of bird wings. I had a Twin Peaks dinner for the last segment and a repeat marathon party. I dissected each episode on Friday morning, divided the world into people who were watching it and people who weren’t, and among those who were watching it, how they watched it. The people who said ›Twin what?‹ weren’t worth my time. I gazed beyond them to the horizon, helplessly bored, I was seriously addicted.« Diana Hume George: Lynching Women. A Feminist Reading of Twin Peaks. In: Full of Secrets (Anm. 4), S. 109-119, hier S. 109. 27 Dies gilt zumindest für die erste Staffel. Die zweite Staffel mit ihren Visionen und Geister-Erscheinungen begibt sich in Räume des Phantastischen.
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redroom/m-oo/u-rder – verweist (mit dieser Umkehrung redrum/murder rekurriert Twin Peaks auf eine Konfiguration in Stanley Kubricks The Shining28), nicht verborgen: Laura sagt Cooper schlicht, wer sie ermordet hat; flüstert ihm, nachdem sie ihn geküsst hat, die Information ins Ohr. Inszeniert wird damit im Traum, der den Film als Medium der Oberfläche feiert, geradezu die Bankrotterklärung aller archäologischen Ideen von einer Psychoanalyse, die nach dem sucht, was unter dem liegt, was ausgesprochen wird. Lynchs Strategie wäre damit gar nicht so sehr die Tauchbewegung unter die Oberfläche, sondern tatsächlich die Exploration der Oberfläche als Möbiusband – um dessen Verdrehungen es geht. Parodiert werden hermeneutische Konzepte in der Serie nicht nur im genannten Traum, sondern persistierend. So wird das Holzscheit der Log Lady, um ein weiteres Beispiel zu nennen, als Speichermedium eingeführt. Im Scheit ist alles aufbewahrt, es ›weiß‹ alles. Reden allerdings kann das Holzscheit, the log, nicht. Wahrheit und Erkenntnis können – sollte es sie geben – eben nicht in Sprache umgesetzt werden: Das Wissen des logs ist mithin nutzlos (vgl. Abb. 7).
28 The Shining (Shining), Regie Stanley Kubrick, USA und England 1980. In The Shining schreibt der übersinnlich begabte Danny, ein kleiner Junge, in Trance das Wort »Redrum« mit rotem Lippenstift an die Badezimmertür neben dem Bett, in dem die Mutter schläft. Als diese erwacht, ihm das Messer, das er in der Hand trägt, wegnimmt und ihn umarmt, kann sie den Schriftzug in einem Spiegel als spiegelverkehrt geschriebenes »murder« in genau dem Moment lesen, in dem ihr wahnsinnig gewordener Mann, Dannys Vater, die Zimmertür mit einer Axt einzuschlagen beginnt.
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Abbildung 7: Cooper befragt das Holzscheit
Quelle: Twin Peaks. DVD (Anm. 1)
Die parodistischen und komödiantischen Effekte, die Lynch aus der klassischen Verbindung von detective story und Psychoanalyse hervorholt, die ich skizziert habe, sind in Twin Peaks kontextualisiert von comedy-Konfigurationen. Der crime thriller, die detective story wird mit New-Age-Psychoimplementen versetzt, die nicht mehr auf Psychoanalyse rekurrieren. In der zweiten Episode der ersten Staffel, benutzt Spezial-Agent Cooper – wie er seinem Polizeiteam erläutert – eine tibetanische Methode (die sich ihm vor drei Jahren wiederum in einem Traum erschlossen habe), um die Zahl der Verdächtigen zu reduzieren. Acht Namen möglicher Mörder sind auf einer Tafel notiert – Vor- oder Nachname beginnen mit einem »J«, hatte Laura in ihrem Tagebuch doch kurz vor ihrem Tod notiert, dass sie sich mit »J« treffen wolle. Cooper sorgt für einen akkuraten Versuchsaufbau. Er wirft mit Steinen nach einer Flasche, nachdem jeweils ein Name vorgelesen wurde; trifft er die Flasche und zerspringt das Glas, ist der besonders Verdächtige ausfindig gemacht. Die Versuchsanordnung generiert einen Namen: den des Truckers Leo Johnson, der damit zum Hauptver-
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dächtigen wird. Cooper figuriert gewissermaßen als Medium, das die Wahrheitsfindung ermöglicht. Die Szene, die im Wald auf einer Lichtung spielt, auf der Cooper die Beschäftigten des Sheriffs versammelt (vgl. Abb. 8), ist tatsächlich von hinreißender Komik. Das völlig Kontingente29 – die Frage: Trifft der Stein die aufgestellte Glasflasche? – wird (und das müsste gar nicht so sonderbar sein, wird doch auf etablierte, allerdings vormoderne Muster rekurriert) als Orakel inszeniert. Was Coopers Vorgehen zu einem komischen Kabinettstück macht, ist der pedantische Versuchsaufbau, die penible, ja bürokratische Verschriftlichung der Ergebnisse des Experimentes: Cooper präsentiert, quasi-naturwissenschaftliche Versuchsanordnungen nachstellend, seine Zufalls-Würfe, die Täter-Wissen produzieren sollen, als seriöse neue kriminalistische Methode, von der seine Mitstreiter allesamt begeistert sind (auch wenn sie zunächst kleine Schwierigkeiten haben, sie sich anzueignen, und der bemitleidenswerte Andy – der deputy mit dem weichen Herzen, der immer wieder bitterlich in Tränen ausbricht – in Slapstick-Manier von einem Stein-Querschläger getroffen wird).
29 Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass Coopers Würfe ja zunehmend geübter werden. Die Namen im zweiten Teil der Liste haben also größere Chancen ausgewählt zu werden als die eingangs notierten Namen. Die Versuchsanordnung ist also nicht völlig kontingent.
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Abbildung 8: Coopers tibetanische Methode
Quelle: Twin Peaks. DVD (Anm. 1)
Schon in dieser Episode wird deutlich, dass Wissen eine prekäre Kategorie ist, die es nicht ›an und für sich‹ gibt. Was als gültiges Wissen beschrieben werden kann, ist immer durch einen historischen und gesellschaftlichen Rahmen bestimmt – genauso wie die Strategien, um Wissen zu erlangen, durch solche Rahmungen bestimmt sind.30 Nur in
30 Die Serie lässt es sich nicht nehmen, auch diesen Zusammenhang explizit zu machen und zugleich ironisch zu brechen. In Episode II.20 merkt die Kellnerin Annie an, dass eine analytische Erkenntnis nicht voraussetzungslos sei, was erkannt werden könne, hänge ab von den gewählten Untersuchungsmethoden. Cooper setzt Annies Beobachtung, das Erkenntnis immer nur in bestimmten Grenzen möglich sei, gleich erfreut in Bezug zur Heisenberg-Relation. Ironisch reflektiert wird das Diskutierte dadurch, dass Cooper zum Zeitpunkt dieses Dialogs seine analytischen und medialen Fähigkeiten größtenteils eingebüßt, ihn die Liebe zu Annie ›blind‹ gemacht hat.
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diesem abgesteckten Bereich kann Wissen seinen Wissensstatus reklamieren. Insofern lässt sich auch nicht – das hängt mit den unterschiedlichen Kontextualisierungsmöglichkeiten zusammen – zwischen ›wahrem Wissen‹ und ›falscher Meinung‹ unterscheiden. »Überzeugungen, die in einem Kontext als Wissen gelten, [können] in einem anderen als Unfug abgetan werden [...], ohne dass sich letztgültig entscheiden ließe, welcher Kontext den ›richtigen‹ Standpunkt begründet.«31 Selbst wenn man zu denen gehört, die Coopers Methode als ›Unfug‹ abtun, muss man zugeben, dass das Ergebnis, das der Agent mit seiner tibetanischen Methode erzielt,32 gegen die sonstigen – eher konventionell generierten – Ermittlungserfolge in der ersten Staffel gar nicht abfällt – überdies bereitet die kleine Episode den Serienzuschauer darauf vor, dass das traditionell Kriminalistische in der Serie ins Paranormale verschoben werden wird. Während aber in der zweiten Staffel von Twin Peaks eine Welt konstruiert wird, die wie selbstverständlich von Dämonen, die in Menschen einfahren, bewohnt ist, in der es geheimnisvolle Orte des gänzlich Bösen und Gegen-Orte des Nur-Guten gibt, ist hingegen das Steinwurfexperiment der ersten Staffel noch eines, das das New-Age-Detachement seines ermittelnden Protagonisten in komisches Licht rückt. Und die erste Staffel von Twin Peaks ist nicht nur komischer als die zweite, sie ist auch unheimlicher, insofern als das ›Andere‹, das ›Böse‹, das ›Dämonische‹ noch nicht auf die Weise materialisiert und visualisiert wird wie in der zweiten Staffel, in der der Zuschauer weiß, dass er sich in einer Ordnung bewegt, in der die Ordnung des Wissens die obskurer Grenzwissenschaften ist. In der ersten Staffel dagegen kann der Zuschauer noch davon ausgehen, an einer Serienwelt teilzunehmen, die die Gesetze eines aufgeklärten
31 Achim Landwehr: Wissensgeschichte. In: Rainer Schützeichel (Hg.): Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Konstanz 2007, S. 801-813, hier S. 802. 32 Der von RTL der Episode gegebene, nicht uninspirierte deutsche Episodentitel lautet »Zen oder die Kunst, einen Mörder zu fassen«.
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common sense und der Naturwissenschaft nicht außer Kraft setzt – auch wenn sich bereits Konstellationen ausfindig machen lassen, die Unsicherheit evozieren, ob diese Wissensordnung den Schlüssel zur Erklärung aller Phänomene ermöglicht. In der zweiten Staffel wird diese herrschende Wissensordnung nicht nur problematisiert, das aus dem ›offiziellen‹ Wissen Herausgedrängte (das ›Dämonische‹, das ›Okkulte‹) wird zum Mitspieler in einer neu konstituierten, je nach Perspektive vormodernen oder nachmodernen Wissensordnung. Die Verschiebung in der Wissensordnung, die die Serie in Szene setzt, bedeutet für den Zuschauer auch – das scheint mir besonders zentral – ein ›Updating‹ seines Genrewissens. Der crime thriller, der als soap opera daherkommt, mutiert je länger die Serie andauert, je entschiedener zur mystery series. Twin Peaks wäre also ein Lehrstück über die Hybridität von Genres, über die Schwierigkeiten von Grenzziehungen – und darüber, dass mit jedem Einzelgenre, mit jeden Einzelformat, das aufgerufen wird, auch Ordnungen des Wissens und Nicht-Wissens evoziert werden, die den Wissensordnungen, die mit den anderen aufgerufenen Genres einhergehen, ins Gehege kommen. Gleichzeitig setzt Twin Peaks durchgängig in Szene, dass Wissen medial verfasst ist, abhängig von Kommunikationskanälen. Am Ende der ersten Episode nach dem Pilotfilm (Episodentitel: »Traces to Nowhere«) setzt sich Dr. Jacoby, Laura Palmers Psychiater, einen Kopfhörer auf und hört sich persönliche Tonaufnahmen seiner verstorbenen Patientin an. Zunächst können die Zuschauer mithören, da er sich die Kopfhörer nur an ein Ohr hält. An der spannendsten, vielleicht aufschlussreichsten Stelle des Hörtagebuchs, als Laura sagt: »Remember me telling you about that mystery man, well…«, setzt er sich die Kopfhörer komplett auf und wir sind auf diese Weise akustisch ausgeschlossen von einer – so müssen wir vermuten – wichtigen Information über Lauras Mörder. Stattdessen sehen wir nur das emotional aufgewühlte Gesicht Jacobys in Großaufnahme und hören die immer lauter werdende, immer melodramatischere Twin Peaks-Musik (vgl.
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Abb. 9).33 Durch diese auffällige Ablösung des intra-diegetischen Tons durch extra-diegetische Musik wird aber auch explizit vorgeführt, wie Spannung, insbesondere im Fall des cliffhangers, durch das strategische Vorenthalten von Wissen erzeugt wird. Abbildung 9: Was hört Dr. Jacoby?
Quelle: Twin Peaks. DVD (Anm. 1)
33 Auch in der Inszenierung des Psychiaters wird erneut die Engführung von psychologischer und kriminalistischer Detektion kommentiert und invertiert, die die filmische Tradition – beispielsweise auch Spellbound – kennzeichnet. Im Gegensatz zu Dr. Constance Peterson betätigt sich Dr. Jacoby gerade nicht als exzellenter (Amateur-)Detektiv. Das Wissen, das bei der Klärung des Verbrechens helfen könnte, wird von ihm nicht nur vor dem Rezipienten und dem ermittelnden Cooper zurückgehalten, sondern auch als geheimer Fetisch genutzt, mit dem er sich sein geliebtes, doch verlorenes Objekt, seine Patientin Laura medial und psychologisch bewahrt.
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Zumindest eine Figur in Twin Peaks, die Sekretärin und Telefonistin Lucy, ist als Karikatur eines Übertragungsmediums in Szene gesetzt, als Kanal, der störungsfrei – ohne Änderungen, Kürzungen oder Ergänzungen – Informationen weitergibt. Zu Beginn der Ermittlungsarbeiten hört Lucy, wie Bobby Briggs zu seinem Freund Verdächtiges äußert. Als sie aufgefordert wird, von diesem Gespräch zu berichten, vermag sie das nicht – sie hat aber das gehörte Gespräch mitgetippt und kann dieses Protokoll verlesen. Wenn sie am Telefon Gesprächspartner verbindet, wiederholt sie für den einen Gesprächspartner jeweils wörtlich, was der andere gesagt hat. Überfordert ist Lucy immer dann, wenn sie Informationen nicht transportieren, sondern eigenständig kommunizieren soll: So ist es ihr unmöglich, mit deputy Andy über ihre gemeinsame Beziehung zu sprechen. Parodistisch gespiegelt wird die Sekretärin in dem Beo Waldo – einem sprachbegabten Vogel aus der Familie der Stare, der für die Ermittelnden gewissermaßen als Aufnahme- und mögliches Wiedergabegerät der akustischen Ereignisse der Mordnacht von Interesse ist. Wie Lucy ist auch Waldo ein ideales Speicher- und Übertragungsmedium: Er vermag Information aufzubewahren und – ohne durch deren Verständnis gehandicapt zu sein – wiederzugeben. Jedoch schlagen alle Versuche, ihn sein gespeichertes Wissen über den Mord abzufragen, fehl (das Speichermedium verweigert mithin die Kommunikation). Nicht einmal liebevolle Fütterung verführt Waldo dazu, seine Geheimnisse preiszugeben. Das tut er nur, wenn kein Zuhörer anwesend ist. Als er in einer Gewitternacht erschossen wird, bleibt ironischerweise – beide Speichermedien erfüllen dieselbe Funktion – seine Nachricht im angestellten Diktiergerät erhalten (vgl. Abb. 10).
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Abbildung 10: Tierisches und technisches Speichermedium
Quelle: Twin Peaks. DVD (Anm. 1)
Das inzwischen veraltete Medium Diktiergerät ist in Twin Peaks vor allem deshalb von Interesse, weil die Kippfigur technisches Medium/spiritistisches Medium in Agent Coopers Gebrauch seines Diktaphons modelliert wird (vgl. Abb. 11). Cooper hinterlegt auf diesem Botschaften für seine Mitarbeiterin Diane. Immer wieder adressiert er die Sekretärin, die nie ein Gesicht erhält.34 Gelegentlich bedankt er sich bei ihr dafür, dass sie ihm angeforderte Materialien geschickt habe – dass sie das getan hat, erfahren wir aber wiederum nur aus seinen Berichten. Dianes Changieren zwischen Anwesenheit und Abwesenheit verweist einerseits selbstreflexiv auf das filmische Medium in seinem
34 Unabhängig davon, ob es Diane nun gibt oder nicht, ermöglichen Coopers Nachrichten an Diane eine recht elegante Version der Introspektion – und evozieren auch das voice-over des film noir.
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komplizierten Verhältnis zur Doppelfigur Anwesenheit/Abwesenheit.35 Andererseits evoziert das technische Medium Diane quasi spiritistisch. Und nicht nur die technischen Medien übernehmen spiritistische Funktionen; auch die Figuren, die von Visionen heimgesucht werden, mutieren auf eine Weise zu spiritistischen Medien. Medialität wird zum Phänomen, das in seiner technisch-spiritistischen Doppelgesichtigkeit exploriert – und in Szene gesetzt – wird. Abbildung 11: Cooper und sein Diktiergerät
Quelle: Twin Peaks. DVD (Anm. 1)
Die Öffnung der Serie hin zum Spiritistischen, zum Genre fantasy macht Twin Peaks zum Vorläufer einer ganze Reihe von Mystery-
35 Deren gleichzeitige Absenz und Präsenz spiegelt zugleich auch Lauras Abwesenheit und gleichzeitige stete Anwesenheit als Tote, deren Tod aufzuklären ist.
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Serien, etwa auch der Serie The X-Files36 (die immerhin rund zehn Jahre, von 1993 bis 2002, lief und als erfolgreichste Serie der 90er gilt).37 The X-Files übernimmt die Hybridisierung von crime/detection und mystery, mit der Twin Peaks operiert. Die skurrilen Figuren und seltsam-grotesken Handlungsverläufe von Twin Peaks haben etwa Picket Fences38 (die Serie kopiert geradezu die Figurenkonstellation von Twin Peaks: es gibt eine Liliputanerin, eine große Fabrik und einen Sheriff, der jede Woche die abstrusesten Fälle zu bearbeiten hat), Ally McBeal39 (die Anwaltsserie mit einer Protagonistin, deren Halluzinationen überaus vergnüglich für den Zuschauer visualisiert werden) oder auch Northern Exposure40 beeinflusst, die Serie über einen New Yorker Arzt in Alaska, in der eine der Figuren, der indianische Filmemacher Ed, von »Einem der wartet« begleitet wird, einem Indianer, der bereits seit langem verstorben ist – über diese Begleitung wundert sich jedoch niemand. In anderen Episoden hat Ed seinen kleinen grünen Dämon
36 The X-Files (Akte X – Die unheimlichen Fälle des FBI), USA und Kanada 1993-2002, Series-Creator: Chris Carter. 37 The X-Files (der dortige Hauptdarsteller David Duchovny spielte bereits in der zweiten Staffel von Twin Peaks mit) löste einen Boom von MysterySerien in den 1990er-Jahren aus: Millennium (USA 1996-1999. SeriesCreator: Chris Carter), Psi Factor: Chronicles of the Paranormal (PSI Factor – Es geschieht jeden Tag, Kanada 1996-2000, Series-Creator: Peter Akroyd u.a.), Buffy the Vampire Slayer (Buffy – Im Bann der Dämonen, USA 1997-2003, Series-Creator: Joss Whedon), Beyond Belief: Fact or Fiction (X-Factor: das Unfassbare, 1997-2002, Series-Creator: Lynn Lehmann), Angel (USA 1999-2004, Series-Creator: Joss Whedon). 38 Picket Fences (Picket Fences – Tatort Gartenzaun), USA 1992-1996, Series-Creator: David E. Kelley. 39 Ally McBeal, USA 1997-2002, Series-Creator: David E. Kelley. 40 Northern Exposure (Ausgerechnet Alaska), USA 1990-1995, SeriesCreators: Joshua Brand und John Falsey.
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»mangelndes Selbstvertrauen« an seiner Seite oder sieht Figuren aus Fellinis Film Roma.41 Abbildung 12: Verfehlter match-cut. Bobs Mordlust…
Quelle: Twin Peaks. DVD (Anm. 1)
41 Roma (Fellinis Roma), Regie Frederico Fellini, Italien und Frankreich 1972. Überdies wurde die Strategie von Twin Peaks, in jeder Episode ein immer gleich großes Zeitfenster zu öffnen (in Twin Peaks ist das immer ein Tag), von Serien wie 24 (24 – Twenty Four, USA 2001-2010, SeriesCreators: Robert Cochran und Joel Surnow) übernommen (die als Zeitfenster eine Stunde wählen und damit prätendieren, ›Echtzeit‹ abzubilden).
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Abbildung 13: …und Lelands Trauer
Quelle: Twin Peaks. DVD (Anm. 1)
In Twin Peaks laufen Dämonen nicht nur neben Figuren her, sondern fahren in sie ein oder aus ihnen aus. Der ›böse‹ Dämon Bob erscheint in einem Spotlight, durch das das Bild grell überstrahlt wird. Wenn er auftaucht, hören wir eigenartige Toneffekte und verfolgen das Geschehen oft in Zeitlupe. Das setting, in dem sich Bob bewegt, ist aber das, in dem sich auch die menschlichen Figuren bewegen. Die Bewegungen und Handlungen des Dämons erscheinen als ›normal-menschlich‹, das Geschehen wird mithin ›realistisch‹ in Szene gesetzt, sodass es den Eindruck macht, dass in Twin Peaks mit den skizzierten visuellen und akustischen Mitteln tatsächlich ein (in der Welt der Fiktion) materiell existierendes ›Dämonisches‹ zur Darstellung gebracht wird (und wir es eher nicht auf einer abstrakteren Ebene mit einem Bildrepertoire zu tun haben, das das Böse nur allegorisiert).42 In der zentralen Szene in Epi-
42 Ohnehin zeigt sich Bob meist im Spiegel. Das hat Fans wie Interpreten vermuten lassen, Bob stehe für das ›Böse‹ in uns allen. Vgl. Diane Steven-
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sode II.7, in der der Mord von Laura an Maddy ›reinszeniert‹ wird, verfehlt der Schnitt jeweils knapp den match-cut,43 die Bilder von Bobs Lust und Lelands Trauer um Maddy/Laura schließen nicht nahtlos aneinander an. Wir werden mit einer minimalen Kluft, mit einem Bruch des fiktionalen Kontinuums konfrontiert (vgl. Abb. 12 und 13).44 Erst im letzten Schnitt ist das Kontinuum wieder hergestellt und der Mord wird vollzogen. Wie Cooper wird Leland als spiritistisches Medium präsentiert; ›störungsfrei‹ funktioniert dieses Mensch-Medium jedoch nur dann – das bringt die skizzierte Mordszene zur Darstellung –, wenn es nicht von eigenen starken Gefühlen, die sich artikulieren wollen, dominiert wird. Auch in Bezug auf diese Konfiguration lässt sich Leland auf Cooper abbilden. Büßt Cooper doch, als seine Liebe zu Annie intensiver wird, seine medialen Fähigkeiten ein. Auf die explizite Warnung des ›Riesen‹, eines guten Geistes, reagiert er schließlich nicht mehr: Cooper führt – ganz Ödipus – durch sein Verhalten mit den besten Absichten genau das Ende herbei, das er zu vermeiden versuchte.
son: Family Romance, Family Violence, and the Fantastic in Twin Peaks. In: Full of Secrets (Anm. 4), S. 70-81, hier S. 77. 43 Als match-cut bezeichnet man einen ›unsichtbaren‹ Schnitt, den der Zuschauer ›übersieht‹ (da die beiden aufeinanderfolgenden Bildausschnitte sich in ihrer Bildkomposition sehr ähneln). Für die zur Diskussion stehende Szene hieße das, dass der Schnitt exakt dann vorgenommen werden müsste, wenn Leland und Bob dieselbe Position einnehmen bzw. dieselbe Bewegung ausführen – match on action. 44 Ralf Adelmann und Judith Keilbach führen Twin Peaks als Paradebeispiel der konventionellen Inszenierung des ›Bösen‹ durch mediale Verfremdungseffekte an. Es gilt zu ergänzen: Diese Konvention wird zwar aufgegriffen aber subtil variiert. Vgl. Ralf Adelmann und Judith Keilbach: Ikonographie der Nazizeit. Visualisierungen des Nationalsozialismus. In: Heinz-B. Heller, Matthias Kraus, Thomas Meder, Karl Prümm und Hartmut Winkler (Hg.): Über Bilder Sprechen. Positionen und Perspektiven der Medienwissenschaft. Marburg 2000 (=Schriftenreihe der Gesellschaft für Film und Fernsehwissenschaft 8), S. 137-150, hier S. 144.
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Vom souveränen – am Knotenpunkt der Wissenszirkulation positionierten – Nutzer von technischen wie von spiritistischen (Speicher-) Medien entwickelt Cooper sich schließlich selbst zum Speicher, zum Medium des Dämons Bob.45 Wusste der mit medialer agency ausgestattete Cooper noch das anscheinend Periphere und Unbedeutende in diversen Speichermedien für die Ermittlungen zu nutzen – wie beispielsweise den roten Vorhang im Hintergrund eines Aktfotos oder eine Reflektion in Lauras Auge (vgl. Abb. 14) –, verfügte er über die Kompetenz zur detektivischen und ›spiritistischen‹ Nutzung der unterschiedlichsten Medien, so wird gegen Cooper in einer der letzten Se-
45 Cooper wird im Laufe der Serie selbst zu einer Person, gegen die ermittelt wird – und er wird vom fremden und unbeteiligten agent zu einem Bewohner von Twin Peaks, tauscht seinen FBI-Anzug gegen das biedere Hemd eines deputys. Überdies wird die Figur mit einer backstory wound ausgestattet: Wir erfahren vom Tod der Geliebten Coopers (die als Palimpsest der toten Laura aufscheint – und Laura als Zentrum der Narration ersetzt). Coopers Interesse an Mediennutzung nimmt ab. Während er anfangs alle seine Beobachtungen und Gedanken in sein Diktiergerät spricht, legt er dieses in der zweiten Staffel beiseite – es wird hingegen von Windom Earle genutzt, um Cooper eine Nachricht zu hinterlassen. Ausgerechnet der eigentlich begriffsstutzige deputy Andy läuft Cooper – der Medien zunehmend weniger zu nutzen und zu entschlüsseln in der Lage ist – am Ende den detektivischen Rang ab, erkennt er doch, dass es sich bei der Höhlenmalerei, die es zu entschlüsseln gilt, nicht um ein Rätsel, sondern um eine Karte handelt. Die Serie kommentiert die wachsende mediale Blindheit Coopers ironisch. Die Figur erhält in Episode II.18 ihren FBI-Anzug zurück – feierlich überreicht der auteur Lynch in der Rolle von Coopers schwerhörigem Vorgesetzten, Gordon Cole, Cooper seinen Anzug. Allerdings konfligiert das icon zu diesem Zeitpunkt in der Serie unübersehbar mit der Figur, zu der Cooper umgeschrieben wurde, ist er doch kein unbeteiligter Agent mehr, der von Wissensdurst und Aufklärungsdrang getrieben ist, sondern ein verzweifelt Liebender, der okkupiert ist von den eigenen Wünschen.
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rienfolgen (in II.15) sogar eines seiner Lieblings-Speichermedien, sein Diktiergerät, das ihm seit seiner Ankunft in Twin Peaks auch als Reflektionsmedium diente, von seinem Gegenspieler Windom Earle eingesetzt. Ist der Cooper der ersten Staffel, der den Red-Room-Traum analysiert und die tibetanische Methode anwendet, noch eine Kommunikation konstituierende und interpretierende Instanz mit Zugriff auf diverse Wissensordnungen, mutiert der FBI-Agent zuletzt zu einem bloßen Empfänger des dämonischen Senders Bob.46 Augenzwinkernd inszeniert Twin Peaks, die Serie, die so versiert auch mit dem TVMedium und seinen Genres spielt und die dem Rezipienten so viel Beweglichkeit abfordert, damit als Schlusspointe den Horror eines radikalen (spiritistischen) Mediendeterminismus.
46 Die Opposition Mörder/Detektiv, die beide mit bösen/guten Geistern in ›Kontakt‹ stehen, ließe sich – von der letzten Episode her gelesen – reperspektivieren als Konfiguration: spiritistischer Empfänger/Nutzer spiritistischer Medien; die Serie verhandelte damit gängige Kommunikationsmodelle. Coopers anfangs identitätsstiftende Zugehörigkeit zum FBI, zur »Agency«, verwiese auf das skizzierte Modell der Medienverwendung: Die Fähigkeit Coopers, verschiedene Dispositive technischer/spiritistischer Medien und unterschiedliche Wissensordnungen zu nutzen, wäre in seine Berufsbezeichnung agent Cooper eingeschrieben.
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Abbildung 14: Die Pupille als Speichermedium
Quelle: Twin Peaks. DVD (Anm. 1)
Zu betonen ist: Diese Pointe kommentiert zwar die gesamte bisherige Story und re-organisiert sie durch die nachträgliche Positionierung Coopers im Zentrum der Narration, abgeschlossen wird Twin Peaks durch die Inbesitznahme Coopers durch Bob nicht. So wenig, wie die Serie durch die Festsetzung Lelands abgeschlossen worden war. Nachdem man Leland verhaftet (und Bob dessen Körper wieder verlassen) hatte, mussten die Ghostbusters weiter on duty sein – hatte das Böse doch nicht dingfest gemacht werden können. Steht in der ersten Staffel von Twin Peaks, die eher als Mini-Serie denn als continuing story angelegt ist, der Mord an Laura Palmer im Zentrum des Interesses und orientieren sich die ersten Episoden am klassischen Whodunit-Muster, deren Spannung daraus resultiert, dass das Rätsel, wer der Mörder ist, gelöst, das Zuschauer-Nichtwissen in Wissen verwandelt werden muss, verästelt sich die zweite Staffel in ein Labyrinth von Handlungsfäden, weiteren Morden, immer konfuseren okkulten Phänomen – eine conti-
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nuing, eine endless story,47 die ›abgeschlossen‹, besser: abgebrochen wurde wegen des abflauenden Publikumsinteresses. So sind die Spielregeln bei Serien – auch für jemanden wie Lynch, der von sich sagt: »I couldn’t care less about changing the conventions of mainstream television«.48
47 Nicht nur findet der Dämon Bob in der letzten Episode in Agent Cooper einen neuen »Wirt«, wodurch eine neue spannungsreiche Konfiguration eröffnet wird, auch das Schicksal von vielen anderen Figuren bleibt ungeklärt – so hält zum Beispiel Leo Johnson in der Hütte im Wald noch immer mit seinen Zähnen die Schnur und damit den Käfig voller giftiger Spinnen über ihm in der Schwebe. Innerhalb dieser Logik der Verweigerung einer ›konventionellen‹ Schließung kann auch plausibel gemacht werden, warum der Kinofilm Twin Peaks: Fire walk with me (Twin Peaks – Der Film, Regie David Lynch, USA 1992) als Prequel angelegt ist: Die Konventionen des Kinofilms verlangen nach einer Schließungsfigur, nach einem ›Ende‹ des Plots. Ein solches bietet das Prequel zwar, unterläuft es jedoch zugleich, da der Rezipient aus der Fernsehserie nicht nur bereits weiß, dass es weiter geht, sondern auch, wie es weitergeht. Im intertextuellen Geflecht wird das Ende des Films zum bereits bekannten Anfang der Serie. 48 David Lynch zitiert nach Jonathan Rosenbaum: Bad Ideas. The Art and Politics of Twin Peaks. In: Full of Secrets (Anm. 4), S. 22-29, hier S. 22.
Unheimliches Nichtwissen. E.T.A. Hoffmann und David Lynch A CHIM G EISENHANSLÜKE
1. E.T.A. H OFFMANN D ER S ANDMANN
UND DAS
U NHEIMLICHE :
Dass die deutsche Literatur einen tiefen Bezug zu den Figurationen des Nichtwissens aufweist, die sich in der Vielzahl der dargestellten Dummköpfe, Narren und Idioten niederschlage, hat schon Avital Ronell in ihrer Studie zur Stupidity aufgezeigt. »German ›culture‹ has brought us Simplicius Simplicissimus, the Taugenichts, Eulenspiegel, the schlemiel, and other literary cognates of historical dumbing«, 1 notiert sie im kritischen Rückblick auf die Geschichte der deutschen Literatur als eine scheinbar ununterbrochene Aufeinanderfolge der Darstellung historischer Formationen der Verblödung. Die Romantik scheint vor diesem Hintergrund ein letzter Ansprechpartner für die Frage nach dem Nichtwissen zu sein, hat doch das romantische Programm einer umfassenden Poetisierung der Welt zu einer Aufwertung der Blödigkeit geführt, die Hölderlin in seinem gleichnamigen Gedicht poetisch verfertigt und zugleich kunstvoll abgefertigt hatte. Die Dialektik zwi-
1
Avital Ronell: Stupidity. Urbana, Il. 2002, S. 53.
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schen Schlichtheit und Kunstfertigkeit, die sich aus Hölderlins Gedicht ableiten lässt, findet auch in der Romantik ein beredtes Echo: in der Ambivalenz zwischen der Blödigkeit der Charaktere, wie sie der Taugenichts und der Schlemihl verkörpern, und dem romantischen Witz als einer Darstellungsweise, die mit den rhetorischen Formen der Allegorie und der Ironie einhergeht.2 Dummheit und Witz treffen in der Romantik auf eine Weise aufeinander, die es nicht erlaubt, zwischen ihnen eine scharfe Grenze zu ziehen. In diesem Sinne erweist sich die Literatur der Romantik als eine Schwellenkunst, deren innovatives Potential in der Dekonstruktion scheinbar eindeutiger Gegensatzverhältnisse besteht.3 Das Problem, eine scharfe Grenze zwischen Dummheit und Witz zu ziehen, wie es die Romantik vorführt, führt zu einer Poetik, der Sigmund Freud im Blick auf E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann den Namen des Unheimlichen gegeben hat. Zeugnis für das Unheimliche ist Der Sandmann Freud zufolge, da sich die Grenzen zwischen dem Vertrauten und dem Fremden in der Erzählung verwischen. Für Freud ist von Beginn an klar, dass das Unheimliche »zum Schreckhaften, Angst- und Grauenerregenden gehört, und ebenso sicher ist es, daß dies Wort nicht immer in einem scharf zu bestimmen-
2
Zu den Formen der Allegorie und Ironie und ihrer Bedeutung für die Romantik, vgl. Paul de Man: The Rhetoric of Temporality. In: Ders.: Blindness and Insight, Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism. Second Edition. Minnesota 1983, S. 187-228.
3
Die Bedeutung der Schwelle in der Romantik ist von der Forschung häufig hervorgehoben worden, so bei Lothar Pikulik: Schwelle und Übergang. Zu einem Schlüsselmotiv der Romantik. In: Aurora 53 (1993), S. 13-24. Zum Gegensatz von Grenze und Schwelle, vgl. Walter Benjamin: »Die Schwelle ist ganz scharf von der Grenze zu scheiden.« Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. V. Frankfurt/Main 1982, S. 618. In Benjamins Augen eröffnet das Schwellendenken eine nicht aufhebbare Unbestimmtheit, die zugleich die Gegensätzlichkeit von Identität und Differenz dekonstruiert, die die Grenze kennzeichnet.
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den Sinne gebraucht wird, so daß es eben meist mit dem Angsterregenden überhaupt zusammenfällt.«4 Dennoch vermutet Freud einen Kern, der das Unheimliche erst zu jenem Angsterregenden macht, das mit dem Begriff meist verbunden wird. Den Kern des Unheimlichen erblickt Freud einer überraschenden Wendung seiner Argumentation zufolge gerade in dem Vertrauten, und so lautet seine zentrale These, »das Unheimliche sei jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht.«5 Hoffmanns Sandmann bestätigt ihn in dieser Auffassung. Das Zentrum der Erzählung erkennt Freud in dem titelgebenden Motiv des Sandmannes, der den Kindern die Augen ausreißt. Freud konzentriert sich in seiner Analyse entsprechend auf das Motiv des Sehens und der Blindheit, um jene Verschränkung zwischen dem Unheimlichen und dem Heimlichen vorzunehmen, die seiner Meinung nach dem Begriff vorsteht. Die Angst vor dem Verlust der Augen deutet Freud, in diesem Punkt wenig überraschend, als Zeichen der Kastrationsangst, deren Geschichte von der mythischen Blendung des Ödipus bis zur modernen Gestaltung bei Hoffmann führe.6 Das Leitmotiv des Auges wertet Freud als sicheres Anzeichen für die Einsicht, dass die Geschichte des Unheimlichen bei E.T.A. Hoffmann eine Vollendung erfahre, die ihn zum unerreichten »Meister des Unheimlichen in der Dichtung« mache.7 Vor diesem Hintergrund hebt Freud insbesondere hervor, dass am Ende der Hoffmann’schen Erzählungen »nicht die Aufklärung des Lesers, sondern eine volle Verwirrung desselben« stehe,8 die zu großen Teilen dem Motiv des Doppelgängers geschuldet sei, das die Schriften Hoffmanns durchzieht.
4
Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. XII: Werke aus den Jahren 1917-1920. Frankfurt/Main 1999,S. 229-268, hier S. 229.
5
Ebd., S. 231.
6
Vgl. Peter von Matt: Die Augen des Automaten. Tübingen 1971.
7
Freud: Das Unheimliche (Anm. 4), S. 246.
8
Ebd.
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Der Zusammenhang zwischen dem Unheimlichen, dem Sehen und dem Doppelgänger findet im Sandmann eine spektakuläre Bestätigung, und so scheint auch kaum ein anderer Text der Romantik derart geeignet zu sein, die Prämissen der Psychoanalyse zu bestätigen. Überraschend ist allerdings, dass Freud im Verlauf seiner Analyse auf ein Moment nicht eingeht, das in der Erzählung eine große Rolle spielt: auf das Feuer, das den Protagonisten immer mehr in seinen Bann zu ziehen weiß. So lautet der Zauberspruch, der ihn ein für alle Mal dem Wahnsinn überantwortet: »Da packte ihn der Wahnsinn mit glühenden Krallen und fuhr in sein Inneres hinein Sinn und Gedanken zerreißend. ›Hui – hui – hui! – Feuerkreis – Feuerkreis! dreh’ dich, Feuerkreis – lustig – lustig! – Holzpüppchen hui schön’ Holzpüppchen dreh’ dich –‹.«9
Wie Hoffmann beschreibt, fährt der Wahnsinn direkt in Nathanael hinein, nimmt buchstäblich Besitz von seinem Körper. Zwar gelingt es ihm zunächst, diesen zu bändigen und unschädlich zu machen. Scheinbar geheilt, wiederholt sich der Vorgang allerdings auf fatale Weise: »Nathanael erwachte wie aus schwerem, fürchterlichen Traum, er schlug die Augen auf und fühlte, wie ein unbeschreibliches Wonnegefühl mit sanfter himmlischer Wärme ihn durchströmte«,10 heißt es im Blick auf die vielversprechende Genesung des Protagonisten. Doch das böse Erwachen folgt schnell: »bald glühten und sprühten Feuerströme durch die rollenden Augen, gräßlich brüllte er auf wie ein gehetztes Tier«,11 und der Versuch, die Verlobte Clara und mit ihr die Bürden des rationalen Denkens vom Turm zu werfen, endet mit dem eigenen Tod: Mit dem wiederholten Ausruf »›Feuerkreis, dreh’ dich – Feuer-
9
E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann. In: Ders.: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 3: Nachtstücke. Werke 1816-1820. Hg. von Wulf Segebrecht und Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen und Ursula Segebrecht. Frankfurt/Main 1985, S. 11-49, hier S. 45.
10 Ebd., S. 47. 11 Ebd., S. 48.
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kreis, dreh’ dich‹«12 springt Nathanael in die Tiefe und endet mit zerschmettertem Kopf auf dem Steinpflaster. Hoffmann stellt die Darstellung des Wahnsinns, die seinen Text zu dem für Freud so relevanten Zeugnis des Unheimlichen macht, ganz in den Kontext der zerstörerischen Kraft des Feuers, das als eine Naturmacht erscheint, die sich den Weg in das Innere des Helden frisst. Personifiziert als Ungeheuer packt der Wahnsinn Nathanael »mit glühenden Krallen« wie ein Tier und fährt »in sein Inneres hinein«. Das romantische Ich gerinnt zum Symbol einer unheimlichen, dem Bergwerk entlehnten Tiefenwelt, der Feuerkreis, dem sich Nathanael überantwortet, entfaltet sich sprachlich als kindlich gestammelter Spruchreim und entpuppt sich als zerstörerischer Zauberspruch zugleich. Der Wahnsinn, der vom nur scheinbar vernunftbegabten Subjekt Besitz ergreift, erscheint in diesem Zusammenhang als das Ende allen Wissens, »Sinn und Gedanken zerreißend«. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, steht Hoffmanns Erzählung nicht nur für eine Darstellungsform des Monströsen ein, die Freud unter dem Namen des Unheimlichen festzuhalten suchte. Mit den Motiven des Sehens und der Blindheit, des Doppelgängers und des Feuers stellt er das Unheimliche auf den Grund einer Poetik, die ihren Weg bis in den Film der Postmoderne gefunden hat. So lassen sich die Filme David Lynchs als Weiterführung und ironische Brechung eines romantischen Erbes beschreiben, das zugleich einer Dekonstruktion der Opposition von Wissen und Nichtwissen gilt, wie sie schon Hoffmann in seiner Erzählung vorführt.
2. R ENAISSANCE DES U NHEIMLICHEN . D AS K INO DES D AVID L YNCH Dass das Kino von David Lynch den Kategorien verpflichtet ist, die Freud unter dem Namen des Unheimlichen zu subsumieren versucht,
12 Ebd., S. 49.
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hat – neben Anneleen Masschelein13 – schon Anne Jerslev in ihrer umfassenden Studie zu Lynchs mentalen Landschaften hervorgehoben. Jerslev erkennt in Lynchs Filmen »Freudsche Erzählungen vom persönlichen und kulturellen Unbewußten«, zugleich aber Zeichen einer »deutlich ironischen Distanz«14 zur Psychoanalyse. Der Zusammenhang von Sehen und Blindheit, das Doppelgängermotiv wie die angstauslösende Funktion des Unheimlichen bei Lynch bestätigen Jerslevs Auffassung. Sie bemerkt zusammenfassend: »Es ist nicht schwierig, auch in Lynchs Filmen ästhetische Gestaltungen im Sinne der von Freud genannten Beispiele für das Unheimliche, das heißt, das wiederkehrende Verdrängte zu finden«.15 Als Beispiele nennt sie die frühe experimentelle Form in Eraserhead, die eine klaustrophische Atmosphäre der Angst erzeuge, und das Doppelgängermotiv in Twin Peaks, das sich schon im Titel anzeigt. Letztlich sei das Unheimliche ein Begriff, der sich mit allen Filmen Lynchs verbinden lasse: »Im weitesten Sinne verleihen alle Filme David Lynchs diesem Unheimlichen, wie es von Freud analysiert wurde, faszinierenden und ästhetischen Ausdruck.«16
13 »Exemplarisch für die Ästhetik der ›unheimlichen 90er Jahre‹ ist das Werk des Filmemachers David Lynch. Von der Reihe von Doppelgängern und der verwickelten Struktur seiner Filme mit ihren Wiederholungen und Verschiebungen einmal abgesehen, offeriert die TV-Serie Twin Peaks (19901991) einen perfekten Rahmen für das Unheimliche: eine gemütliche, kleinstädtische, durch und durch amerikanische Welt mit Blaubeerkuchen, Kaffee und High-School-Kids, die ganz allmählich an abgründigen, dunkel-sexuellen Geheimnissen zerbricht.« Anneleen Maschelein: Unheimlich/das Unheimliche. In: Karlheinz Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Band 6. Tanz-Zeitalter/Epoche. Stuttgart, Weimar 2005, S. 241-260, hier S. 242. 14 Anne Jerslev: David Lynch. Mentale Landschaften. 2. Aufl. Wien 2006 [1991], S. 16. 15 Ebd., S. 33. 16 Ebd., S. 34.
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Der Begriff des Unheimlichen drängt sich umso mehr auf, als der Motivkreis des Feuers, der schon Hoffmanns Erzählung Der Sandmann bestimmt, bei Lynch eine besondere Gestaltung findet. Dass alle vier Elemente eine große Rolle in Lynchs Filmen spielen, hat Hans Heydebreck herausgearbeitet. Dem Feuer spricht er in diesem Zusammenhang eine zentrale Funktion zu, die wiederum auf Freuds Analysen zurück verweist. Im Feuer erblickt er das Zeichen für den »Inzest oder in den Wahnsinn gesteigerte Obsession«.17 Die Begriffe des Inzests und der Kastrationsangst hatte Freud in Anspruch genommen, um zugleich eine Poetik des Unheimlichen zu begründen, die sich von den traditionellen Vorgaben der Ästhetik löst. Zwar führt es zu kurz, das Universum des David Lynch umstandslos auf Kategorien der Psychoanalyse zurückzuführen. Die Literatur der Romantik, die Freud’sche Psychoanalyse und Lynchs Filme partizipieren vielmehr gemeinsam an dem Versuch, einen Bereich zu öffnen, der sich als ästhetische Form der Unbestimmtheit jenseits des Wissens errichtet und dem in allen Filmen Lynchs zu einem ebenso beunruhigenden wie faszinierenden Ausdruck verholfen wird. Dass Lynchs Filme Allegorien vom Ende des Wissens sind, zeigt schon sein erster Kinofilm Eraserhead. Eines seiner zentralen Motive ist die Kopflosigkeit,18 die in Wild at Heart auf veränderter Grundlage wieder aufgenommen wird. In Wild at Heart ist es Bobby Peru, der böse Verführer von Sailor und Lulu, der sich in einem grotesken Unfall nach einem gescheiterten Banküberfall selbst den Kopf abschießt: eine ironische Selbsthinrichtung des Bösen, die Lynch in seiner postmodernen Verarbeitung des Wizard of Oz im Rahmen einer irritierenden Ästhetik der Gewalt und des Schocks inszeniert. In Eraserhead verliert
17 Hans Heydebreck: Fire walk with me. Feuer, Wasser, Erde, Luft: Die Elemente in den Filmen David Lynchs. In: Eckhard Papst (Hg.): ›A strange world‹. Das Universum des David Lynch. Kiel 1999, S. 286-298, hier S. 292. 18 Zum Motiv der Kopflosigkeit bei Lynch, vgl. Georg Seeßlen: David Lynch und seine Filme. 6. erw. und überarb. Aufl. Marburg 2007, S. 25f.
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der Protagonist Henry Spencer am Ende den Kopf, als sein monströses Baby, mit dessen Tod der Film endet, sich an die Stelle des seinen setzt. Der eigene Kopf rollt auf die Straße und wird in einer Fabrik zu Radiergummi verarbeitet: Eraserhead. Offen bleibt, ob es sich um einen Traum oder um eine Tagphantasie handelt. Im Kontext einer Poetik des Rätselhaften, die die romantischen Formen der Allegorie und der Ironie weiterentwickelt,19 entfaltet Lynch das Acephale, auf das schon Georges Bataille seine Strategien der Überschreitung im Kontext des Surrealismus gegründet hatte, als Zeichen für eine fundamentale Abwesenheit des Wissens, als einen blinden Fleck, der unvermittelt in die scheinbare Kontinuität des Erzählens einbricht. Lynchs Filme gelingt es auf diese Art und Weise, die Evidenz des Sichtbaren, die dem Mythos Kino zugrunde liegt, zu durchbrechen. Die Subversion der Evidenz als dem Inbegriff gesicherten Wissens vollzieht sich sowohl auf der Ebene der Darstellung als auch der der Charaktere, der deformierten Körper im Zeichen des Monströsen20 wie der schizophrenen Persönlichkeitsspaltungen, die zugleich das Doppelgängermotiv zur Geltung bringen, das schon die Romantik kennzeichnete. In ihrer Rätselhaftigkeit setzen Lynchs Filme die Grenze zwischen Erkenntnis und Blindheit, zwischen Wissen und Nichtwissen außer Kraft und entziehen sich so dem Akt des Verstehens.
19 Der Zusammenhang von Rätsel, Allegorie und Ironie ist in der Rhetorik verwurzelt, vgl. Quintilian: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Zweiter Teil: Buch VII-XII. Hg. und übers. von Helmut Rahn. Darmstadt 1988, S. 223. 20 Vgl. Achim Geisenhanslüke und Georg Mein (Hg.): Das Monströse. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen. Bielefeld 2009.
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3. I N D REAMS . T WIN P EAKS Das Durchbrechen der scheinbaren Logik des Sichtbaren, die Darstellung deformierter Körper und schizophrener Persönlichkeitsspaltungen findet sich in allen Filmen David Lynchs von den frühen Kurzfilmen bis zu der jüngsten ironischen Selbstreflexion des eigenen filmischen Schaffens in Inland Empire, in dem Georg Seeßlen »einen Entschlüsselungstext zum gesamten Werk von David Lynch«21 erkennen will. Was Seeßlen in seiner Einschätzung nicht berücksichtigt, ist die Tatsache, dass die Entschlüsselungen der Filme bei Lynch auf eigentümliche Art und Weise leer laufen. Wie im Fall Kafkas sind sie Bestandteil einer umfassenden Verschlüsselungsstrategie, die als solche nicht aufgehoben wird. Das zeigen nicht nur seine Kinoproduktionen, sondern mehr noch die Fernsehserie Twin Peaks.22 Lynchs Spiel mit dem Format der Fernsehserie ist für eine Poetik des Nichtwissens aufschlussreich, da es die Kategorien außer Kraft setzt, die die Logik der herkömmlichen Serienerzählung bestimmen. Die Vervielfältigung der Nebenhandlungen, die extreme Verlangsamung des erzählten Geschehens sowie das bewusst offen gelassene Ende bedeuten eine Enttäuschung traditioneller Sehgewohnheiten, die zugleich zu wesentlichen Teilen dafür verantwortlich gemacht werden konnten, dass Twin Peaks zu einer Kultserie avancierte, die über den Rahmen des bisher im Fernsehen Gezeigten hinauszugehen schien. Dass Twin Peaks unter den Filmen Lynchs eine besonders markante Form der Subversion des Wissens vollzieht, liegt zunächst darin begründet, dass die Serie auf die traditionellen Vorgaben einer Detektivgeschichte zurückgeht, in der das Moment des Wissens eine zentrale Rolle spielt. Ziel der Detektivgeschichte ist die Aufdeckung eines Falls, die Erlangung eines Wissens, das dazu berechtigt, einen Täter zu
21 Seeßlen: David Lynch und seine Filme (Anm. 18), S. 243. 22 Twin Peaks (1990-91). Idee: David Lynch und Mark Frost. Regie: David Lynch u. a. DVD. Definitive Gold Box Edition. Paramount Home Entertainment 2005.
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identifizieren. In Twin Peaks werden diese Vorgaben aufgerufen und zugleich ironisch dekonstruiert. Der Film setzt mit dem Fund einer Frauenleiche namens Laura Palmer ein, der jungen Schönheitskönigin des Ortes Twin Peaks, die einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist. Um den Mord aufzuklären, wird der FBI-Agent Dale Cooper hinzugezogen, der sich zusammen mit den örtlichen Polizeikräften auf die Suche nach dem Täter macht. Kriminalromane im allgemeinen und Detektivgeschichten im besonderen Sinne, an deren narrative Verfahren Lynch in Twin Peaks wie bereits in Blue Velvet anknüpft, zeichnen sich im Allgemeinen durch typologisierte oder freie »Erzählmuster von Verbrechen und deren Aufklärung«23 aus, aber selbst der Rückgriff auf die Idee eines freien Erzählmusters trifft im Fall von Twin Peaks auf Schwierigkeiten. Die Frage nach der Aufklärung des Falles scheint vielmehr nur ein Aufhänger zu sein, um eine ganz andere Erzählung voranzutreiben, die sich jenseits des bekannten whodunit befindet. Lynchs vielzitierte Aussage, er wolle mit seinen Filmen »unter die Oberfläche gehen«,24 findet auch in der Frage nach der Genre-Zuordnung seine Bestätigung. Zwar erfüllt Twin Peaks formal alle Vorgaben des Detektivromans: die Konfrontation mit einem rätselhaften Mordfall im Rahmen eines auf suspense gerichteten Erzählschemas, die auf unterschiedliche Spuren gegründete Fahndung, die Befragung falscher und richtiger Verdächtiger und die abschließende Überführung des Täters. Dennoch ist es nicht die Auflösung des Mordfalls, die im Mittelpunkt der Serie steht, sondern die Konfrontation der Protagonisten der Serie mit einer Welt, die die Trennung zwischen dem Eigenen und dem Vertrauten, dem Heimlichen und dem Unheimlichen gründlich durcheinanderbringt.
23 Thomas Wörtche: Kriminalroman. In: Harald Fricke (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band II. H-O. Berlin 2007, S. 342-345, hier S. 342. 24 »›Filmemachen‹, sagt David Lynch, ›muss unter die Oberfläche gehen, sonst macht es keinen Spaß.‹« Zit. nach Seeßlen: David Lynch und seine Filme (Anm. 18), S. 9.
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Die Erschütterung der traditionellen Vorgaben der Detektivgeschichte, an deren Ende meist das klare Wissen um das Verbrechen, seine Motive und seinen Täter steht, setzt sowohl auf der Ebene der Darstellung an als auch auf der der Schilderung von Ort, Zeit und Personen. Die bewusste Auflösung eines einsträngigen Handlungsverlaufs zugunsten einer Vervielfältigung der Nebenhandlungen treibt den Spannungsaufbau, der die Serienproduktion kennzeichnet, an eine innere Grenze. Sicher ist der Zuschauer an der Auflösung des Falles Laura Palmer interessiert. Allein die Ausdehnung der Aufklärung des Verbrechens auf eine Sendezeit von mehr als dreiundzwanzig Stunden trägt jedoch dazu bei, vom eigentlichen Ziel der suspense abzulenken. Wer Twin Peaks auf die Frage nach Mord, Motiv und Täter reduziert, scheint irgendetwas an der Serie verpasst zu haben. Zu der Verunsicherung des Zuschauers trägt der titelgebende Ort der Serie bei. Twin Peaks ist eine fiktive Kleinstadt im nördlichen Amerika nahe der kanadischen Grenze und markiert nicht nur in diesem Sinne einen eigentümlichen Schwellenraum. Der Ort scheint zugleich in die Zeit der fünfziger Jahre zurückzuführen, eine pastellfarbene Idylle, die unter den Augen des Zuschauers allmählich zerbricht. Was die Kleinstadt Twin Peaks in der Provinz bietet, ist eine Hybridisierung des Modernen und des Archaischen, der Zivilisation und der Natur, des Paradieses und der Hölle, die im Freud’schen Sinne Gewalt und Sexualität als Triebgründe des Menschen offenbart, die diesen zugleich zu einem monströsen Wesen macht, das verloren zwischen Riesen und Dämonen steht, die ihm helfen oder ihn zerstören. Das Phantastische bricht in das Reale ein und verleiht dem Geschehen einen Märchencharakter, der den Aspekt des Unheimlichen, den Lynch mit der Romantik teilt, noch verstärkt. Der Aufschub der suspense, der sich noch auf die letzte Sendung der Serie erstreckt, geht mit der Dekonstruktion des Sehens und Erkennens einher, die Lynchs Kino insgesamt bestimmt. Das eigentlich Beunruhigende, das die Serie im Zeichen einer Ästhetik des Unheimlichen entwickelt, ist nicht die Verstrickung fast aller beteiligten Personen in den Abgrund von Sexualität und Gewalt, den bereits Blue Velvet
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vorgeführt hat. So wie der jugendliche Detektiv Jeffrey Beaumont zunehmend selbst in das Geschehen einbezogen wird, das er aufklären will, als keineswegs unbeteiligter Zuschauer, sondern Voyeur und schließlich Liebhaber Dorothy Vallens’ wie Mörder seines gewaltbereiten Doppelgängers Frank Booth, so wird auch Dale Cooper selbst zum Teil des Verbrechens, das er untersucht, und das auf eine noch radikalere Weise als Jeffrey Beaumont in Blue Velvet. Alle Figuren enthüllen im Verlauf der Serie die dunkle Seite ihres Charakters: Laura Palmer, die siebzehnjährige Schönheitskönigin, scheinbar der Inbegriff des unschuldigen blonden Mädchens vom Lande, war drogenabhängig und arbeitete nebenbei als Prostituierte in einem Bordell. Der Besitzer des Bordells, Benjamin Horne, ist ein äußerlich respektabler Geschäftsmann und zugleich ein skrupelloser Verbrecher, der nicht davor zurückschreckt, seine intrigante Verbündete Catherine Martell umbringen zu wollen. Laura Palmers Vater Leland schließlich, der im Film in einer bis an den Irrwitz grenzenden Mischung von Trauer und Verzweiflung um den Tod von Laura eingeführt wird, entpuppt sich als der Mörder seiner eigenen Tochter, ein inzestuöser Vater, der sein eigen Fleisch und Blut schändet und dennoch nicht der eigentliche Täter ist. Die Aufdeckung der inzestuösen Verbindung von Vater und Tochter, die sich in Lynchs Darstellung zerstörerischer Familienbilder seit dem frühen Experimentalfilm The Grandmother in alle Filme einschreibt, gibt nur eine scheinbare Lösung der komplexen Vorgänge, die Twin Peaks beherrschen. Denn der eigentliche Täter ist »Bob«, ein lokaler Dämon, der sich Leland Palmers Körper als Wirt bedient und diesen nach seiner Überführung tot zurücklässt. So ist Leland Palmer Täter und Opfer zugleich, Mörder seiner Tochter und zugleich doch nur Statthalter einer zerstörerischen Ordnung, die sich in der unheimlichen Figur des Dämons Bob manifestiert, der sich buchstäblich in sei-
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ne Opfer einschreibt, indem er ihnen den Anfangsbuchstaben seines Namens Robert unter die Nägel schiebt.25 Nicht die Auflösung des Mordfalls durch die Entlarvung von Leland Palmer markiert daher den Höhepunkt der Serie, sondern die abschließende Synthese von Bob und dem Agenten Cooper. Ihre Darstellung knüpft unmittelbar an das Vorbild von E.T.A. Hoffmans Erzählung Der Sandmann an. »Fire walk with me«, lautet die rätselhafte Botschaft, die Bob den Ermittlern am Tatort hinterlassen hat. Das Feuer, das mit ihm geht, geht zum Abschluss der Serie auf Dale Cooper über, der sich in einem verzweifelten Kampf mit seinem ehemaligen Kollegen Windom Earle befindet. Ex-FBI-Agent und Partner Coopers, ist Windom von diesem des Mordes an der eigenen Frau überführt und in eine psychiatrische Anstalt überführt worden. Earle flieht, um sich an Cooper, der in seine Frau verliebt war, zu rächen. Er entführt Annie Blackburne, die Geliebte Coopers und Nachfolgerin Laura Palmers als Schönheitskönigin von Twin Peaks, und bringt sie in die »black lodge«, die Schwarze Hütte in den Wäldern von Twin Peaks, die sich alle 25 Jahre öffnet. Cooper und Earle treffen dort zum letzten Mal aufeinander und schließen einen Pakt: Cooper tauscht seine Seele gegen das Leben seiner Geliebten. Die Gültigkeit dieses teuflischen Paktes, der wiederum Motive aus dem Kreis der Romantik aufnimmt, wird jedoch durch die Intervention Bobs in Frage stellt, der Windom Earle tötet und sich in Cooper einnistet, indem er dessen Traum von einer Vernichtung seines Kontrahenten erfüllt. Der Preis, den Cooper dafür bezahlt, ist hoch. Er spaltet sich in ein gutes und ein böses Selbst, in den Agenten, der um seine Geliebte besorgt ist und sie mit allen Mitteln retten will, und in sein teuflisches Gegenüber, das in einem dämonischen Lachen über Windom Earle triumphiert. Die letzte Einstellung, die Cooper zeigt, führt zugleich den Triumph des Bösen vor: Cooper schaut in den Spiegel als zentrale Me-
25 Zum Thema der Buchstäblichkeit bei Lynch, das eine eigene Abhandlung verdient hätte, vgl. schon seinen ersten Film The Alphabet aus dem Jahre 1968.
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tapher der Verdoppelung, die schon das romantische Motiv des Doppelgängers bestimmt und von der Anne Jerslev behauptet: »Die Spiegelszene mit Leland Palmer und Bob kann als Metapher für die Lynchsche Ästhetik überhaupt gesehen werden.«26 Aus dem Spiegel aber schaut nicht Cooper zurück, sondern Bob. Er verleiht der gläsernen Oberfläche jene Tiefendimension, die Freud unter den Namen des Unheimlichen festzuhalten suchte: Unheimlich ist das Ende, weil Cooper selbst von Bob besessen ist, der Detektiv und der Täter eins geworden sind, der Albtraum über den Wunsch nach einer Auflösung des Geschehens gesiegt hat. Die Inbesitznahme Coopers durch Bob, der seine Seele für Annie geopfert hat, ist ein beispielloses Zeichen für die Dekonstruktion der klassischen Detektivgeschichte, die Lynch in Twin Peaks vorführt. Hatte in Blue Velvet noch zumindest scheinbar das Familienidyll triumphiert, das Jeffrey Beaumont und das good girl Sandie am Ende vereint im Garten zeigt, so vollzieht Twin Peaks eine rückhaltlose Infragestellung des happy-endings, das zugleich zu einer Verunsicherung des Zuschauers führt: Wird es Cooper gelingen, sich von seinem dämonischen Selbst zu befreien, oder wird er der Logik des Seriellen zufolge als Mörder seiner eigenen Geliebten Annie enden? Wie Martha P. Nochimson betont, zeigt der Schluss von Twin Peaks »the fundamental wrongness of a series finale«27 auf. Die Auflösung des Mordfalls Laura Palmer, mit der die Serie begann, führt zu keiner endgültigen Klärung. Vielmehr ist der ermittelnde Agent Dale Cooper sich selbst und dem Zuschauer so fremd geworden, dass von ihm alles andere zu erwarten ist als eine lückenlose Aufklärung der Tat. In Anknüpfung an die romantische Tradition des Unheimlichen endet die Serie mit jenem Bild des Wahnsinns, das zugleich ein Ende des Wissens bedeutet: »Fire walk with me.«
26 Jerslev: David Lynch (Anm. 14), S. 37. 27 Martha P. Nochimson: The Passion of David Lynch. Wild at Heart in Hollywood. Austin 1997, S. 95.
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4. K INO DER B LINDEN . D AVID L YNCH F RANZ K AFKA
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UND
»Das Absurdeste, was es aber wohl auf dem Gebiete der Kinonamen je in der Welt gegeben haben dürfte, war die Inschrift über dem Portal eines kleinen Lichtspieltheaters in dem Prager Arbeiterviertel Zizkov. Sie lautete Kino der Blinden (tschechisch: Bio slepcu), da die Kinolizenz dem Unterstützungsverein der Blinden gehörte. Doktor Franz Kafka, dem ich von dem Kino erzählte, machte zuerst große Augen, um dann im nächsten Augenblick so ein lautes Lachen auszustoßen, wie ich es von ihm nie zuvor und auch später nie wieder hörte. Dann sagte er: ›Bio slepcu! So sollten eigentlich alle Kinos heißen. Man wird durch die Flimmerbilder ja nur wirklichkeitsblind.‹«28
Wie Gustav Janouch berichtet, löst das Kino der Blinden bei Kafka ein Lachen aus, das sich auf das Verhältnis von Film und Wirklichkeit bezieht. Die Blindheit, die Kafka, selbst bekanntlich ein begeisterter Kinogänger,29 dem neuen Medium unterstellt, findet bei Lynch eine produktive Wendung. Dass der Akt des Sehens bei Lynch eine zentrale Rolle spielt, hat schon Anne Jerslev hervorgehoben: »Lynchs Filme behandeln das Sehen als dasjenige, das in unserer Kultur die Subjekte bestimmt.«30 Die Bedeutung des Sehens in Lynchs Filmen geht allerdings nicht mit einer Erkenntnisleistung einher, der es darum ginge, eine klare Grenze zwischen den Welten des Wissens und des Nichtwissens zu ziehen. Das Sehen erweist sich als verzweifelter Versuch des Subjekts, etwas erkennen zu wollen, zugleich aber als ein lust- und peinvoller Voyeurismus, der eine Scham erzeugt, in der das Subjekt zum Verschwinden kommt.31 Vor diesem Hintergrund hat Slavoj Žižek
28 Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Frankfurt/Main 1968, S. 165. 29 Vgl. Hans Zischer: Kafka geht ins Kino. Reinbek bei Hamburg 1996 sowie Peter-André Alt: Kafka und das Kino. Über kinematographisches Erzählen. München 2009. 30 Jerslev: David Lynch (Anm. 14), S. 45. 31 Den Zusammenhang zwischen Sehen und Scham bei Lynch hat schon Jerslev herausgearbeitet: »Der Voyeurismus geht als sexuelle Perversion mit
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die »coincidence of opposites«32 bei Lynch zum Thema gemacht, die Verbindung des Ernsthaften und des Lächerlichen im Rahmen einer Ridikülisierung des Erhabenen: »Lynch’s universe is effectively the universe of the ‹ridiculous sublime‹: the most ridiculous pathetic scenes […] are to be taken serious.«33 Was Lynch mit Kafka teilt, ist der Fall des Erhabenen in das Komische, die groteske Vermischung von Lachen und Angst, die an die Riesen Rabelais’ und die Poetik des Monströsen bei Jean Paul erinnert. Im Fall des Erhabenen in das Komische, in der Vermischung von Lachen und Angst geht das Privileg des Wissens jedoch verloren. In die dunkle Seite des Nichtwissens, die Locke aus der Position der philosophischen Aufklärung heraus als das Andere des Wissens bestimmt hat, tauchen Lynch wie Kafka hinein, um die Trennung zwischen dem Wissen und dem Nichtwissen als seinem Anderem zu unterlaufen. Der eigentümliche Ort der Subversionen des Wissens ist nicht die Logik, die über die Gesetze der Wahrheit regiert, sondern die Ästhetik als Hort einer Unbestimmtheit, die sich aus dem Nichtwissen nährt. »At his most direct, Lynch explained that, when he is directing, ninety percent of the time he doesn’t know, intellectually, what he is doing«,34 berichtet Martha P. Nochimson von ihren Gesprächen mit David Lynch. Lynchs Äußerung ist nicht allein als kokette Adressierung an die Instanz des Unbewussten und des Unheimlichen zu verstehen, die Freud in seinen Schriften so virtuos zur Geltung gebracht hat. Im politischen, ethischen und logischen Sinne ist das Nichtwissen Ausdruck einer Defizienz, eines Mangels, den es unter allen Umständen aufzuheben gilt. Im ästhetischen Sinne aber ist das Nichtwissen der Grund einer Poetik, die sich von den Zwängen des Wissens zu befreien sucht. Ihr dunkles Abbild ist der Sandmann, der in
dem infantilen Trieb Hand in Hand, und deshalb ist Lust auch immer mit Scham verbunden.« Ebd. 32 Slavoij Žižek: The Art of the Ridiculous Sublime. On David Lynch’s Lost Highway. Washington 2002, S. 3. 33 Ebd., S. 22. 34 Nochimson: The Passion of David Lynch (Anm. 27), S. 2f.
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E.T.A. Hoffmans Erzählung als Statthalter einer unheimlichen Macht auftritt, die alle Erkenntnisfunktionen versagen lässt und den Protagonisten in den Wahnsinn führt, jener Sandmann, der auch in Blue Velvet mit Roy Orbisons In Dreams als unheimlicher Vertreter einer kindlichen Phantasie zwischen Angst und Lachen auftritt:35 »A candy coloured clown they call the sandman / Tip-toes to my room every night /Just to sprinkle stardust and to whisper / Go to sleep everything is alright«.
35 »›The candy coloured clown they call the The Sandman‹ ist auch Der Sandmann aus der Erzählung des Dichters E.T.A. Hoffmann«, kommentiert Anne Jerslev: David Lynch (Anm. 14), S. 145.
Regenbogen ex machina. Brechts Theater des Intellekts und David Lynchs Wild at Heart als Kino der Intuition C HRISTIAN S TELTZ
David Lynch wird in der Öffentlichkeit zumeist (und wohl auch zu Recht) als Filmregisseur wahrgenommen. Dass sein Wirken sich daneben auch auf »Malerei, Installationen, Kurzfilme, Werbespots, Fernsehproduktionen«1 erstreckt, wird zwar häufig betont, ändert aber nichts an der Tatsache, dass Lynchs Ruhm auf »die vergleichsweise wenigen Spielfilme zurück[geht], die er seit den 70er Jahren gemacht hat.«2 Seine Filme werden vielerorts als »surreal«3 bezeichnet, sie sei-
1
Susanne Kaul und Jean-Pierre Palmier: David Lynch. Einführung in seine Filme und Filmästhetik. München 2011, S. 10.
2
Ebd.
3
Vgl. beispielsweise Nicola Glaubitz und Jens Schröter: Surreale und surrealistische Elemente in David Lynchs Fernsehserie Twin Peaks. In: Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo und Volker Roloff (Hg.): Surrealismus und Film. Von Fellini bis Lynch. Bielefeld 2008, S. 281-300; Robin Nelson: TV Drama in Transition. Forms, Value and Cultural Change. Houndmills 1997; Glen Creeber: Serial Television. Big Drama on the Small Screen. London 2004.
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en »postmoderne Collage[n]«,4 Pastiches, die »surrealistische Zitate aufeinander stapel[n]«,5 »visuelle und musikalische Zitatteppiche«,6 Medienexperimente, in denen »Oppositionen in der Regel nur aufgebaut [werden], um zugleich in Frage gestellt zu werden.«7 Im ironischen Spiel der Postmoderne betreibt Lynch als Regisseur eine umfassende Dekonstruktion filmischer Genrekonventionen: »Je mehr er etwas Altes kaputt macht, desto grauenvoller […] ersteht es immer wieder neu.«8
D AVID L YNCH
INTERMEDIAL
Hinter all diesen Aussagen zu David Lynch steht seine außergewöhnliche Persönlichkeit, die sich durch eine Grundausbildung in den verschiedensten Künsten (Malerei, Photographie, bildende Kunst) vom Horizont konventioneller Hollywood-Regisseure abhebt. Dem grenzüberschreitenden Kunstverständnis entspricht auch das Netz aus Bezugnahmen, das Lynchs Kino zu seiner Vorgängerin in Sachen mimetischer Repräsentationskunst spannt. Bei Lynch verweist die Leinwand auch auf andere Medienbereiche, nicht zuletzt auf die Bühne, postmoderner Film scheint sich stets seines dramatischen Ursprungs bewusst zu sein. Daneben gibt es doch auch unzählige weitere Referenzpunkte. Lynchs Filme speisen sich aus einem Reservoir vorausgegangener
4
Glaubitz und Schröter: Surreale und surrealistische Elemente (Anm. 3),
5
Ebd., S. 298.
6
Ebd., S. 287.
S. 287.
7
Roland Borgards: Hund, Affe, Mensch. Theriotopien bei David Lynch, Paulus Potter und Johann Gottfried Schnabel. In: Maximilian Bergengruen und ders. (Hg.): Bann der Gewalt. Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte. Göttingen 2009, S. 105-142, hier S. 105.
8
Georg Seeßlen: David Lynch und seine Filme. 6. erw. und überarb. Aufl. Marburg 2007, S. 206.
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Filme, Texte und Bilder.9 Die Bezugnahmen lassen sich einerseits allgemein als Referenzen auf andere Mediensysteme identifizieren sowie andererseits als explizite Einzelreferenzen auf konkrete Filme, Theaterstücke etc. Im Folgenden soll eine Szene aus Mulholland Drive (2001) intermedial beleuchtet werden, um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie allgemeine Referenzen auf das Theater als Konkurrenzmedium zur Bedeutungskonstitution filmischer Zeichenfolgen beitragen, bevor dann am Beispiel von Wild at Heart (1990)10 der Einsatz zweier wesentlicher Verfremdungstechniken untersucht werden soll. Diesem zweiten Arbeitsschritt ist es ebenfalls an einer Verortung von Lynchs filmischem Werk in einem intermedialen Koordinatensystem gelegen, in welchem der Theaterfixpunkt Brecht eine besondere Stellung einnimmt.
S CHLÜSSELFIGUREN
DER
V ERFREMDUNG
Die Schnittstelle zwischen Lynch und Brecht als »Schlüsselfigur unserer Zeit«11 liegt in der Technik, die Brechts Neuerungen auf dem Theater »unserem Vokabularium beschert hat«,12 wie Peter Brook es ausgedrückt hat: der Verfremdung. Im Verfremden bekannter Inhalte sieht Brecht die Hauptaufgabe einer Dialektik auf dem Theater.13 Die zu diesem Zweck eingesetzten V-Effekte bezeichnen alle »technischen und sprachlichen Mittel, die
9
Einen (zugegebenermaßen recht assoziativen) Vergleich von Film (Mulholland Drive) und Malerei (Edward Hopper, Norman Rockwell). Vgl. ebd., S. 211.
10 Wild at Heart (1990). Regie: David Lynch. DVD. Universal 2003. 11 Peter Brook: Der leere Raum. 8. Aufl. Berlin 2004, S. 93. 12 Ebd. 13 Um einen Begriff aufzugreifen, den der späte Brecht präferiert hat. Vgl. Jan Knopf: Bertolt Brecht. Stuttgart 2000, S. 86.
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Verfremdung hervorbringen.«14 Hierunter werden konkrete Schauspieltechniken wie das Ausderrollefallen oder die Überführung in die dritte Person, womit alle Gestiken und Sprechweisen gemeint sind, mittels derer der Schauspieler während der Verkörperung der dramatischen Rolle das Verkörperte zugleich kritisch kommentiert,15 ebenso verstanden wie eine Bühnengestaltung, die auf Desillusionierung abzielt (Lichtwechsel, Sichtbarkeit von Scheinwerfern, Soffitten oder auch Orchester). Den letztgenannten Bereich hat Brecht in Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst um »die Musik (Chöre, Songs) und die Dekoration (Zeigetafeln, Film usw.)«16 ergänzt. Verfremdung in formalem Sinne zielt auf die sogenannte Niederlegung der vierten Wand ab; ihr oberstes Ziel ist die Verhinderung einer Einfühlung der Zuschauer in das Bühnengeschehen. All das soll sicherstellen, dass der Betrachter nicht zum Objekt einer Affektreinigung wird. Wer beispielsweise von den Akteuren auf der Bühne direkt angesprochen wird, kann sich nicht der Illusion hingeben, als unsichtbarer Beobachter einer mimetischen Nachahmung von Wirklichkeit beizuwohnen. Die entsprechende Wirkungsformel lautet schlichtweg: Kein Jammer, kein Schauder, keine Identifikation mit den Figuren und demnach auch keine Katharsis. Werden Emotionen auf der Bühne zur Darstellung gebracht, so geschieht dies ohne Pathos. Gefühle werden im epischen Theater »dargelegt, zur Diskussion gebracht, ausgestellt«;17 sie laden nicht dazu ein, sich in die dramatis personae hineinzuversetzen. Ganz im Gegenteil zielen die eingesetzten Verfremdungseffekte
14 Ebd., S. 81f. 15 Vgl. ebd., S. 82. 16 Bertolt Brecht: Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst. In: Ders.: Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik. Frankfurt/Main 1957, S. 74-89, hier S. 85. 17 Monika Meister: »Sein Gesicht als leeres Blatt«. Zu Bertolt Brechts Bestimmung der »Durchkältung« und Emotion im epischen Theater. In: Dies.: Theater denken. Ästhetische Strategien in den szenischen Künsten. Wien 2009, S. 89-96, hier S. 90.
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doch vornehmlich darauf ab, deutlich zu machen, dass die Person auf der Bühne ein Schauspieler ist, der etwas darstellt: Der Zeigende soll gezeigt werden.18 Das bereits angesprochene Ausderrollefallen impliziert die Zerstörung einer nach traditionellem Dramenverständnis unantastbaren Einheit. Während Szondi betont, dass »[d]ie Relation Schauspieler – Rolle […] keineswegs sichtbar sein«19 darf, fordert Brecht gerade das Heraustreten der Schauspieler aus der Rolle. »Schauspieler und Dramengestalt«20 dürfen sich für Brecht nicht wie von Szondi beschrieben, »zum dramatischen Menschen vereinen.«21 Dem politischen Impetus Brechts entspricht der Umstand, dass die genannten formalen Erneuerungen unter einem inhaltlichen Aspekt vereint werden, den Brechtforscher Jan Knopf auf den Punkt gebracht hat: »Alle Mittel dienen dazu, die Zuschauer in eine entspannte, beobachtende und damit kritische Haltung zu versetzen, die es ermöglicht, die künstliche und kunstvolle Demonstration auf der Bühne mit ihren realen Erfahrungen zu vergleichen und aus dem Vergleich möglicherweise Konsequenzen für ihr gesellschaftliches Verhalten zu ziehen.«22
Im Idealfall erweist sich dialektisches Theater als Instrument einer Bewusstmachung sozialer Ungerechtigkeit. Am Ende stehen optimaler
18 Vgl. hierzu Bertolt Brecht: Die Straßenszene. Grundmodell einer Szene des epischen Theaters. In: Ders.: Schriften zum Theater (Anm. 16), S. 90-105. 19 Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880-1950). Frankfurt/Main 1963, S. 16. 20 Ebd. 21 Ebd.; Zur Distanz zwischen Zeigenden und Gezeigtem und der daraus resultierenden Durchkältung der Figuren, siehe Meister: »Sein Gesicht als leeres Blatt« (Anm. 17), S. 93. Vgl. in diesem Zusammenhang ebenfalls Christian Steltz: Zwischen Leinwand und Bühne. Intermedialität im Drama der Gegenwart und die Vermittlung von Medienkompetenz. Bielefeld 2010, S. 65-70. 22 Knopf: Bertolt Brecht (Anm. 13), S. 82.
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Weise die Erkenntnis, dass die Welt veränderbar ist, und ein entrüstetes Publikum, das darauf brennt, Aktivitäten zur Veränderung der auf der Bühne verhandelten sozialen Missstände, »konkret am Kapitalismus«,23 zu initiieren.24 Die notwendige Haltung des Publikums umschreibt Brecht folgendermaßen: »Der Zuschauer des epischen Theaters sagt: Das hätte ich nicht gedacht. – So darf man es nicht machen. – Das ist höchst auffällig, fast nicht zu glauben. – Das muß aufhören. – Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es doch einen Ausweg für ihn gäbe. Das ist die große Kunst: da ist nichts selbstverständlich. – Ich lache über den Weinenden, ich weine über den Lachenden.«25
In den Filmen David Lynchs ist die Haltung des Zuschauers hingegen eine andere: Wenn hinter dem Kunstwerk vom Schlage Lynch eine Autorintention verborgen liegt, so ist ihre Beziehung zur Lebenswirklichkeit des Zuschauers weitaus subtiler als bei Brecht.26 Das liegt
23 Florian Vaßen: Trauer oder Tragödie? Liebe und Tod in Brechts epischem Theater und Lehrstück. In: Brecht-Jahrbuch 32 (2007), S. 149-176, hier S. 153. 24 Vor dem Hintergrund des neuen Interesses am Publikum hat Brecht auch von einer »Zuschaukunst« gesprochen, die es zu entwickeln gelte. Vgl. hierzu Klaus-Detlef Müller: Gegen ein »Theater für Menschenfresser«. Brechts Theorie des episch-dialektischen Theaters. In: Günter Butzer und Hubert Zapf (Hg.): Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. IV. Tübingen 2009, S. 37-54, hier S. 51f. 25 Ebd., S. 64. 26 In diesem Zusammenhang gibt es an verschiedener Stelle Vermutungen, die Lynchs Werk in einen Zusammenhang zu seiner Affinität zur transzendentalen Meditation bringen, einer spirituellen Bewegung, zu der sich der Filmregisseur öffentlich bekennt. Diesen Einfluss auf seine Person und sein Werk hat Lynch in Catching the Big Fish thematisiert. Vgl. David Lynch: Catching the Big Fish. Meditation, Consciousness, and Creativity. New York 2007. Vgl. hierzu ebenfalls Kaul und Palmier: David Lynch (Anm. 1), S. 10.
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wohl auch daran, dass die Verfremdung gängiger Darstellungsweisen und Erzählkonventionen bei Lynch eine andere Wirkung erzielt, wie anhand einer Sequenz aus Mulholland Drive zu zeigen sein wird. Dass Verfremdung als Stilmittel keineswegs dem Theater vorbehalten ist, ist offenkundig. Der Blick des englischen Theaterregisseurs Peter Brook auf das Phänomen Verfremdung betont indes die inhärente Nähe zu filmischen Verfahren: »Verfremdung bedeutet Schneiden, Unterbrechen, Etwas-gegen-das-Licht-halten, Wiederhinschauen,«27 heißt es zum Beispiel in Der leere Raum. Diese Abgrenzung trifft stilistisch auch auf Lynch zu, wenn Georg Seeßlen beispielsweise »die Revolte [von Lynchs Filmen] darin [sieht], auf der Fremdheit zu bestehen, Einstellung und Montage nicht zur falschen Versöhnung, sondern dazu zu benutzen, diese Fremdheit hervorzuholen.«28 Gleichen sich beide Künstler in der offensiven Zurschaustellung von Andersartigkeit, so unterscheiden sich doch die jeweiligen Wirkungsabsichten. Brook beschreibt Brechts Verfremdungstechniken »vor allem [als] eine Bitte an den Zuschauer, sich selbst zu bemühen und auf diese Weise in eigener Verantwortung das, was er sieht, nur dann zu akzeptieren, wenn es ihn als Erwachsenen überzeugt.«29 Mit anderen Worten: Der Appell des dialektischen Theaters richtet sich an den Verstand des mündigen Zuschauers. In dieser Hinsicht geht Verfremdung bei Lynch über das brechtsche Verständnis hinaus. Lynchs Filme sind auf einen Bereich jenseits des Verstands gerichtet, wie er selbst in einer Einschätzung der Vorzüge des Mediums in einem Interview herausstellt: »Das Kino kann die Zuschauer in eine Welt jenseits des Intellekts entführen, in der sie sich ganz und gar ihrer eigenen Intuition anvertrauen müssen. Es geht nicht darum, etwas zu verstehen, sondern darum, etwas zu erfahren.«30
27 Brook: Der leere Raum (Anm. 11), S. 94. 28 Seeßlen: David Lynch und seine Filme (Anm. 8), S. 207. 29 Brook: Der leere Raum (Anm. 11), S. 94. 30 Lars-Olav Beier und Andreas Borcholte: Hollywood verliert an Macht. In: Der Spiegel Nr. 16/2007, S. 192.
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Kam es Brecht mit seinen dramaturgischen Neuerungen primär auf eine Akzentverschiebung vom Gefühl zur Ratio an, so schlägt Lynchs Kino die entgegengesetzte Richtung ein. Erfahrung steht in dieser Auffassung dem Verstehen entgegen. Als Kino der Intuition wenden sich Lynchs Filme vom Theater der Moderne ab. Um diesen Umstand zu unterstreichen, soll eine Szene aus dem Club Silencio aus Mulholland Drive, jenem Spielfilm also, in dem sich »der romantische Blick des David Lynch an der Macht der Bildermaschine Hollywood«31 abarbeitet, auf ihre intermediale Bedeutung hin untersucht werden.
D ER C LUB S ILENCIO – I LLUSIONSBRUCH IM INTERMEDIALEN V ERGLEICH Nachdem Betty Elms und Rita32 miteinander geschlafen haben, wird die im Bett liegende Rita von der Seite gezeigt. Mit geschlossenen Augen flüstert sie drei Mal nacheinander das Wort »Silencio«. Ob sie hierbei wach ist oder schläft, lässt sich zunächst nicht mit Gewissheit sagen.33 Dann flüstert sie: »No hay banda!« Während sie den Satz ein weiteres Mal wiederholt, öffnet sie die Augen. Dann: »No hay or-
31 Seeßlen: David Lynch und seine Filme (Anm. 8), S. 208. 32 Die intramedialen Bezüge, die über die Namengebung markiert werden, sind bereits verschiedentlich herausgearbeitet worden. Kaul und Palmier z. B. verorten die Namen als Bestandteil der doppelten Identität der Schauspielerinnen (Betty/Diane und Rita/Camilla), die sie als Hinweis auf das Rollenhafte der Figuren und ihre Austauschbarkeit deuten. Vgl. Kaul und Palmier: David Lynch (Anm. 1), S. 16. Eine konkrete Markierung intramedialer Bezugnahmen findet sich im selben Band. Vgl. ebd., S. 94ff. Siehe hierzu ebenfalls die Analyse intramedialer Bezugnahmen: Seeßlen: David Lynch und seine Filme (Anm. 8), S. 213. 33 Mulholland Drive – Straße der Finsternis (2001). Regie: David Lynch. DVD. Concorde Video 2002. 01:38:10ff.
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chestra!« Darauf wird die Kamera in einer Großaufnahme von oben auf die weit aufgerissenen Augen gerichtet. »Silencio« ertönt Ritas Stimme. Der Ton ist dieses Mal verändert. Ihre Stimme klingt angsterfüllt. Wie in Trance wiederholt sie die spanischen Worte, bis Betty aufwacht und ihre Freundin wachrüttelt. Tiefe Synthesizertöne verleihen der Szene eine unheimliche Atmosphäre. »Geh mit mir irgendwohin« fordert Rita. Indem sie auf Bettys Einwand, dass es zwei Uhr morgens sei, ihre Forderung eindringlich wiederholt, wird dem gesamten nächtlichen Ausflug eine besondere Ernsthaftigkeit verliehen. Dies ist der unmittelbare Kontext der Club-Silencio-Szene, die nach Susanne Kaul und Jean-Pierre Palmier, welche die Szene akribisch beschrieben haben, ein charakteristisches Beispiel für die explizite Selbstthematisierung der filmischen Illusion abgibt, die sich als künstliches Konstrukt zu erkennen gibt, ohne dass die emotionale Wirkung gestört werde:34 »Der Besuch des Club Silencio wird durch eine verstörende Kamerafahrt eingeleitet. Eine Totale zeigt in tiefer Sicht eine Straße in blaugrauem Licht. Betty und Rita steigen aus einem Taxi und betreten den Club. Mit einem Ruckeln setzt sich die Kamera in Bewegung, so als machte sich ein Beobachter auf, den beiden Frauen in den Club zu folgen. Währenddessen wächst eine unbestimmte Geräuschkulisse an, die aus Lynchs früheren Filmen bekannt ist: Es wirkt, als beträten sie einen gefährlichen und geheimnisvollen Ort. Es handelt sich um ein Theater mit einer großen Bühne und einem schweren roten Vorhang. Ein Showmaster bereitet auf ein Spiel mit Illusionen vor: ›No hay banda! There is no band! Il n’y a pas d’orchestre! This is all a tape recording. No hay banda, and yet, we hear a band. […] It is an illusion.‹«35
Dadurch dass der Mann im Anzug, der auf der Bühne als Moderator fungiert, die zuvor von Rita hypnotisch im Bett gesprochenen Worte spricht, erweist sich die zunächst verwirrende Sequenz als Prolepse, als eine Art Prophezeiung. Dadurch wird Rita zugleich der Status eines Mediums im transzendentalen Sinn zugesprochen. Der Kontext der Szene im Club Silencio kündigt sie also als Medienreflexion an, wobei
34 Vgl. Kaul und Palmier: David Lynch (Anm. 1), S. 19f. 35 Ebd., S. 126.
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die Markierung erst im Nachhinein wirksam werden kann. Ein spirituelles Medium äußert Erkenntnisse über den Zeichencharakter audiovisueller Medien. Dass Kaul und Palmier die Lokalität als Theater bezeichnen, verwundert nicht: Der Zuschauerraum des Clubs ist mit roten Samtstühlen ausstaffiert, die Bühne von einem roten Vorhang umrandet, dem »großen[n] Symbol einer ganzen Theaterschule«;36 hinzu kommen das Rampenlicht, die auditive Untermalung des Gesprochenen durch Synthesizerklänge sowie Gestik und Mimik des Showmasters, die an einen Magier erinnern und welche die genuin theatrale »Vorstellung [hervorrufen], daß wir wieder alle Kinder sind«37 mit einer tief verwurzelten Sehnsucht nach Zauberei. Oberflächlich erscheint die Feststellung des Moderators, »dass Töne aufgenommen und abgespielt werden können«,38 banal. Im gegebenen Rahmen jedoch rekurriert der Auftritt des Moderators »auf die Illusionsmacht der abgestimmten audiovisuellen Inszenierung.«39 Alles wird als Illusion enttarnt. Wie das berühmte Gemälde Der Verrat der Bilder (1929) des belgischen Malers René Magritte (Subscriptio: »Dies ist keine Pfeife«) hebt der Moderator den eigenen Zeichencharakter hervor. Zeichen fungieren nicht als Bedeutungsträger in einem Signifikationsprozess, sondern sind als ästhetische Konstrukte zunächst einmal einfach nur präsent. Diese Betonung der Zeichenhaftigkeit zerstört zwar jegliche Illusionsbildung und bricht somit im brechtschen Sinne mit den Vorgaben der aristotelischen Dramaturgie, eine Einfühlung des Publikums verhindert sie jedoch nicht. So ganz Brecht ist dieser Bruch also nicht; die Verfremdung ist definitiv nicht auf eine Verhinderung der dramatischen Affektreinigung ausgerichtet. Im Gegenteil: »Die Kamera in Lynchs Filmen will keine Distanz, sie verhält sich vollständig mitfühlend.«40 So wie Lynchs Fil-
36 Brook: Der leere Raum (Anm. 11), S. 56. 37 Ebd. 38 Kaul und Palmier: David Lynch (Anm. 1), S. 126. 39 Ebd. 40 Seeßlen: David Lynch und seine Filme (Anm. 8), S. 209.
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me insgesamt den Zuschauer »zum Mit-Leidenden«41 machen, so werden auch Betty und Diane emotional in das Bühnengeschehen involviert. Während der Moderator mit despotischer Mine ausruft, dass alles eine Illusion sei, erschaudern die beiden und fassen einander an den Händen, bevor Betty stark zu zittern beginnt. Kaul und Palmier deuten Bettys physische Reaktion als Zeichen »für den Übergriff der Fiktion auf ihren Körper, für ihre Ergriffenheit«.42 Ist im ersten Teil der Show der Affekt der Furcht wirkungsmächtig, so wirkt mit der Sängerin Rebekah del Rio43 der zweite dramatische Basisaffekt auf den Zuschauer ein. Das gesungene Lied Llorando kündigt textuell das Mitleid an, das es bei Diane und Betty hervorruft: Llorando ist die spanische Version von Roy Orbisons Crying.44 Die unmittelbare Reaktion der beiden Zuschauerinnen sind Tränen. Im Unterschied zum epischen Theater werden Einfühlung und Katharsis hier nicht durch Verfremdung verhindert. Ganz im Gegenteil: »Trotz der expliziten Selbstthematisierung der Inszenierung wird der Zuschauer von der Darbietung ergriffen – mehr noch: Er kann sich ihr nicht entziehen.«45 Der Zuschauer wird dem Wirkungskomplex aus eleos, phobos und katharsis ausgesetzt, der nach der klassischen Dramaturgie und seiner Fortführung durch Lessing zu einer Besserung des Menschen führen soll. Und tatsächlich: Mit dem blauen Kästchen, »das vielleicht das Geheimnis ihrer Identität enthält«,46 verlassen die zwei Frischverliebten den Club als neue Menschen. Sie sind nicht mehr die, die sie beim Ein-
41 Ebd. 42 Kaul und Palmier: David Lynch (Anm. 1), S. 127. 43 Dass Verfremdung Elemente aus der Wirklichkeit in abgeänderter Form auf die Bühne bringt und damit zugleich eine Verbindung zwischen Theatron und Bühnenraum herstellt, kann hier aus der Namensgebung gefolgert werden: Die Sängerin heißt »del Rio«, von Betty Elms heißt es anfangs, dass sie aus »Deep River«, Ontario, stamme. 44 Vgl. ebd., S. 125f. 45 Ebd., S. 127. 46 Seeßlen: David Lynch und seine Filme (Anm. 8), S. 215.
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treten in das Theater gewesen sind. Als veränderte Menschen kehren sie heim und nach dem Öffnen des Kästchens, zu dem Rita den magischen Schlüssel besitzt, geraten die Identitäten in Bewegung: Aus Betty Elms wird Diane Selwyn, aus Rita wird Camilla Rhodes, die unbeschwerte Liebe offenbart ihre Schattenseite. »Kennenlernen, Verlieben, Untreue, Eifersucht, Mord, Selbstmord – so lautet die Kausallogik der Geschichte in Mulholland Dr.«,47 die im Endeffekt eine Suche nach der eigenen Identität darstellt, in welcher die Show im Club Silencio den Wendepunkt markiert. Für Georg Seeßlen »scheint es [immer] ein zweites und drittes Wissen hinter dem Suchen zu geben.«48 Allerdings sollte man bei Lynch dem Schein nie trauen (»The owls are not what they seem«): Ein Wissen, das nur irgendwie durchscheint, ist eben sein eigenes Gegenteil, ein Nicht-Wissen. Identitäten sind in Mulholland Drive nicht klar fixiert, sie sind in steter Bewegung. Subjektbildung ist eine Frage der Intuition und nicht des Intellekts.
Z WISCHENFAZIT : I NTELLEKT
VS . I NTUITION
Wie die exemplarische Analyse der Club-Silencio-Szene aus Mulholland Drive zeigt, werden Verfremdungstechniken bei Lynch ebenso wie bei Brecht eingesetzt, um einen Fiktionsbruch herbeizuführen. Zerstört wird die mimetische Illusion, dass es sich bei den künstlerisch zur Darstellung gebrachten Inhalten um tatsächliche Wirklichkeit handelt. Während Brechts dialektisches Theater im Anschluss an Hegels Phänomenologie, nach der »[d]as Bekannte überhaupt […] darum, weil es bekannt, nicht erkannt«49 sei, auf Erkenntnis abzielt, also an den Intellekt des Zuschauers appelliert, möchte Lynch den Zuschauer nach eigener Aussage dazu bringen, sich der eigenen Intuition anzuvertrau-
47 Kaul und Palmier: David Lynch (Anm. 1), S. 119. 48 Seeßlen: David Lynch und seine Filme (Anm. 8), S. 215. 49 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. 6. Aufl. Hamburg 1952, S. 28.
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en.50 Verfremdung in Lynchs Filmen lässt daher keine eindeutige Rückübersetzung der verfremdeten Inhalte zu, sie arbeitet analog zu den Verschiebungen und Entstellungen des Traums. Wie auch der Traum sind Lynchs filmische Verfremdungen im Bereich der Intuition anzusiedeln, der sich gerade dadurch auszeichnet, dass er in Opposition zum Bereich des Wissens steht. Lynchs Bildtonfolgen zielen auf die Emotionen des Zuschauers, der sich wider besseres Wissen seines Mitleids nicht erwehren kann. Obwohl der Film in persona des teuflischen Showmasters den Zuschauer explizit daran erinnert, dass alles, was er sieht, Film ist – also gemacht, konstruiert, Illusion – rollen die Tränen über die Wangen der Menschen im Zuschauerraum. Lynchs Kino ist ein Kino des Nicht-Wissens; es beansprucht die Gefühle des Zuschauers, nicht seinen Verstand; es kann nicht verstanden werden, sondern nur erfahren.
E NDE
GUT , GAR NICHTS GUT ?
Die Gegenüberstellung von Intellekt und Intuition, die der Vergleich von Verfremdungstechniken bei Brecht und Lynch hervorgebracht hat, lässt sich auf verschiedenen Ebenen nachvollziehen. Besonders markant aber tritt sie in Bezug auf die Gestaltung des jeweiligen Endes zutage. Im epischen Theater soll der Zuschauer zu Entscheidungen gezwungen und zu Erkenntnissen getrieben werden,51 indem ihm eine unwahrscheinliche Lösung der verhandelten Konflikte präsentiert wird. Dies ist z. B. in der Dreigroschenoper der Fall, an deren Ende jener reitende Bote des Königs, ohne dessen Auftauchen »die bürgerliche Literatur [nach Brecht] zu einer bloßen Darstellung von Zuständen
50 Vgl. Anm. 30. 51 Zu den Akzentverschiebungen allgemein, vgl. Bertolt Brecht: Das moderne Theater ist das epische Theater. Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. In: Ders.: Schriften zum Theater (Anm. 16), S. 1328, hier S. 19f.
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herabsinken«52 würde, als deus ex machina erscheint. Der zum Tode verurteilte Delinquent Macheath wird von der Königin begnadigt, in den Adelsstand erhoben und mit einer Pension versehen. Da dieser überraschend gute Ausgang das Gegenteil des zu Erwartenden darstellt – Peachum muss vor dem Publikum stellvertretend für den Dramatiker eingestehen, dass die reitenden Boten des Königs in Wirklichkeit wohl eher selten vorkommen53 –, parodiert er die Gattungskonventionen der Oper und »markiert […] das ganze Geschehen als Kunstprodukt.«54 Eine zweite Möglichkeit, den vorgestellten Dramenausgang zur Disposition zu stellen, besteht darin, »dass mögliche und widersprüchliche Alternativen zur gezeigten Handlung angedeutet oder mitgespielt werden«;55 hierfür hat Jan Knopf die Bezeichnung »Fixierung des Nicht-Sondern«56 in die Brecht-Forschung eingeführt. Die Andeutungen von Alternativen bestimmen das Ende von Der gute Mensch von Sezuan. Die selbstgerechten Götter geben sich angesichts der eigenen Ohnmacht mit Shen Te als Beispiel eines guten Menschen zufrieden. Ihr Einwand, dass sie ihr ›alter ego‹ Shui Ta zum Überleben brauche und mindestens einmal pro Woche die Rolle wechseln müsse, führt zu einem Kompromiss: Einmal im Monat (hier findet sich der Abrechnungszyklus des westlichen Kapitalismus wieder) gestehen die Götter Shen Te die Bösartigkeit Shui Tas zu – ein Happy Ending also; jedoch eines mit bitterem Beigeschmack: Die Götter sind zufriedengesellt, Shen Te wohl eher nicht, der Zuschauer auf gar keinen Fall. Und so
52 Bertolt Brecht: Literarisierung des Theaters. Anmerkungen zur Dreigroschenoper. In: Ders.: Schriften zum Theater (Anm. 16), S. 29-36, hier S. 36. 53 Vgl. Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper. In: Ders.: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Bd. 1: Stücke 1. Frankfurt/Main 1997, S. 191-284, hier S. 270. 54 Knopf: Bertolt Brecht (Anm. 14), S. 114. 55 Ebd., S. 81f. 56 Vgl. ebd.
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lautet das Eingeständnis des Spielers vor dem Vorhang im Epilog wie folgt: »Verehrtes Publikum, jetzt kein Verdruß: Wir wissen wohl, das ist kein rechter Schluß. […] Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach: Sie selber dächten auf der Stelle nach Auf welche Weis dem guten Menschen man Zu einem guten Ende helfen kann. Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß! Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!«57
Die explizite Aufforderung aktiviert das Publikum in eben jenem Sinn einer Bewusstmachung, die Brecht für das epische Theater vorschwebt. An dieser Stelle lässt sich die Kritik an Brechts Forderung nach einem mündigen Publikum festmachen. Soll der Zuschauer einerseits zu Erkenntnissen, einer eigenverantwortlichen Bewertung und zu selbstständigen Lösungsansätzen getrieben werden, wird ihm andererseits nicht selten ein bestimmter Lösungsweg aufoktroyiert. Im Fall der Shen Te deutet der Theatertext drei Alternativen an: »Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andre Welt? / Vielleicht nur andere Götter? Oder keine?«58 Jede dieser Fragen regt zu einem Gedankenexperiment an, in welchem die Zeit zurückgedreht wird, indem alle Komponenten des Stücks in die ursprüngliche Versuchsanordnung zurückkehren. Allerdings handelt es sich bei den drei Möglichkeiten um Suggestivfragen, liegt doch klar auf der Hand, dass Dramentext und Autor die Schuld für das Scheitern der armen Shen Te nicht bei ihr persönlich oder bei den clownesken Göttern sehen. Die Gestaltung des Endes als überraschend guter Ausgang geht freilich auch mit spezifischen Genrekonventionen, die zum einen im
57 Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan. In: Ders.: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Bd. 2: Stücke 2. Frankfurt/Main 1997, S. 191-295, hier S. 294f. 58 Ebd.
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Bereich der Oper, zum anderen aber auch in den Mustern der trivialen Unterhaltungsindustrie zu finden sind, aus denen sich Bertolt Brecht mit Vorliebe bedient hat. Als charakteristisches Merkmal fungiert das Happy Ending beispielsweise im Melodram.59 Vor dem Hintergrund der Hollywood-Konventionen – das Melodram ist als Genre nicht an ein spezifisches Medium gebunden, gewinnt seine herausragende Stellung in den 1920er- und 30er-Jahren jedoch fraglos durch sein Aufkommen im Spielfilm60 – erklärt sich auch der Einsatz stereotyper Charaktere und Handlungsmuster, der bei Brecht vermehrt zu finden ist.
59 Vgl. zu Brechts Plan, »die Serie der überdimensionalen Hollywood-HappyEnds durch ein eigenes Supergigant-Happy-End zu mißkreditieren« (Elisabeth Hauptmann: Julia ohne Romeo. Geschichten, Stücke, Aufsätze, Erinnerungen. Berlin, Weimar 1977, S. 245), welchen er im Zusammenhang mit dem Stück Happy End aus dem Jahr 1929, das ursprünglich Brecht zugeschrieben wurde (mittlerweile ist die Autorschaft durch Elisabeth Hauptmann, die den Text unter dem Pseudonym Dorothy Lane verfasst hat, in der Forschung ein unumstrittenes Faktum), gefasst hat, Jens Malte Fischer: »Happy End« – aber nur für Kurt Weill. In: Albrecht Riethmüller (Hg.): Brecht und seine Komponisten. Laaber 2000, S. 75-92. 60 Dass es dem Autorenkollektiv um Bertolt Brecht durchaus bewusst gewesen sein sollte, dass sie aus dem Quellen des Melodrams schöpfen, liegt anhand verschiedener intermedialer Systemreferenzen nahe. So verweist das Bordell an der Drury Lane auf die Wurzeln des Melodrams, die im Frankreich und England des 17. Jahrhunderts liegen und speziell auf das Londoner theatre royal Drury Lane zurückgeführt werden. Vgl. [Melodram(a)]. In: dtv-Lexikon Theater. München 1996, S. 5176. Das von Elisabeth Hauptmann für die Veröffentlichung von Happy End gewählte Pseudonym Dorothy Lane kann auf eine ähnliche Weise gedeutet werden.
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T HE C LICHÉS
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H AVING
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Indem das Melodram als Gattung stets mit einer »Vereinfachung der Charaktere auf bestimmte Klischeefiguren«61 arbeitet, setzt es sich zwangsläufig einem gewissen Risiko aus: Wie Umberto Eco in einem Aufsatz zum Hollywood-Klassiker Casablanca festgestellt hat,62 bezweifelt der Zuschauer zuweilen die Glaubhaftigkeit fiktionaler Erzählungen, wenn ihm die Darstellung klischiert erscheint. Andererseits, so Eco, wird die größte emotionale Wirkung paradoxerweise gerade durch eine Anhäufung von Klischees erzielt. »Two clichés make us laugh. A hundred clichés move us«,63 lautet sein Fazit. Dies ist das Damoklesschwert, unter dem sich das Melodram mit seiner »Reduzierung der dramatischen Handlung auf pure Äußerlichkeit«64 bewegt: Peinlich berührtes Abwenden und emotionale Ergriffenheit liegen nah beieinander. Die simplen Handlungsverläufe des Melodrams – hier steht das Genre ebenso wie mit dem guten Ausgang in der Nähe des Märchens – setzen ein »in jedem Stück unverändert auftauchende[s] Personal«65 voraus, das sich »zur […] wirkungsvollen Entfaltung seiner immergleichen Eigenschaften«66 in einem »grob zugespitzten Konflikt zwischen Gut und Böse«67 befindet, wobei die Figurenkonstellation so einfach wie möglich gehalten ist.
61 Ebd. 62 Umberto Ecos Aufsatz zu Casablanca nimmt die Bedeutung des Klischees im Spannungsfeld zwischen Kunst und Kitsch, zwischen ernsthafter Hochund trivialer Massenkultur in den Blick. Vgl. Umberto Eco: Casablanca, or the Clichés Are Having a Ball. In: Marschall Blonsky (Hg.): On Signs. Baltimore 1985, S. 35-39. 63 Ebd. 64 [Melodram(a)]. In: dtv-Lexikon Theater (Anm. 60), S. 5176. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Ebd.
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Reduzierte Handlung und stereotype Figuren sind auch die melodramatischen Komponenten in jenen Stücken des Brecht-Kollektivs, die ihres guten Ausgangs halber weiter oben angesprochen wurden: Aus der eingeschränkten Perspektive des Marxismus führen Die Dreigroschenoper und Der gute Mensch von Sezuan jeweils stereotype Figuren vor, die entweder über Produktionsmittel verfügen oder bloß ihre Arbeitskraft vorzuweisen haben, also entweder Bonze oder Proletarier, in der Welt des Rotlichtmilieus, das die Ausbeutungsverhältnisse im Kapitalismus im Extrem verkörpert und in beiden Stücken stellvertretend für westlich-bürgerliche Moral- und Wertvorstellungen insgesamt steht, entweder Lude oder Hure oder auf dem Wege das eine oder das andere zu werden. Brechts Stücke zeichnen verfremdete Abbilder der Gesellschaft in Schwarz-Weiß; Grauzonen werden ausgespart. Was nicht schwarz oder weiß ist, wird entsprechend aufgehellt bzw. verdunkelt, was im Endeffekt dazu führt, dass diese Stücke auch in moralischer Hinsicht Extrempositionen inszenieren. Shen Te, die dem Publikum, das ebenso gut wie sie selbst um die niederen Beweggründe Suns weiß, ihre grenzenlose Naivität mit den Worten »Ich will mit dem gehen, den ich liebe. / Ich will nicht ausrechnen, was es kostet. / Ich will nicht nachdenken, ob es gut ist«68 entgegenschleudert; Mackie, der vor seiner Flucht noch den Abstecher ins Hurenhaus macht, da er sich »doch von [s]einen Gewohnheiten nicht durch solche Lappalien abhalten lassen«69 könne – all das sind die Auswirkungen der simplen Handlungskonzeption und der überspitzten Figurenzeichnung. Es gibt das Böse und es gibt das Gute, der Raum dazwischen ist viel zu echt, als dass er für das epische Theater nutzbar gemacht werden könnte. Daher finden sich bei Brecht auch zahlreiche Anleihen aus dem Bereich der sentimentalen Massenliteratur der Unterschicht, wie beispielsweise das Lied der Seeräuber-Jenny in der Dreigroschenoper, welches das triviale »Motiv vom Räuber-
68 Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan (Anm. 57), S. 247. 69 Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper (Anm. 53), S. 232.
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hauptmann, der seine Braut befreit«70 aufgreift71 und damit zugleich eine stereotype Einteilung der Gesellschaft in Gut (die Opfer/Jenny selbst) und Böse (die Täter/die anderen) vornimmt.72 Mit der Eindimensionalität von Handlung und Figuren, die einem groben Schwarz-Weiß-Schema folgt, ähnelt Brechts episches Theater also dem Märchen,73 das seine Diegese ja ebenfalls strikt in Gut und Böse unterteilt. In der Folge soll deshalb gerade am Beispiel jenes Films von David Lynch, der über explizite Einzelreferenzen zum Zauberer von Oz einen Zusammenhang von Road Movie und Märchen konstituiert, nachgezeichnet werden, wie die Verfremdung durch Happy Ending und Klischeefiguren, die bei Brecht von zentraler Bedeutung ist, in den Filmen David Lynchs eingesetzt wird und welche Wirkung sie dort erzielt.
70 Carl Pietzcker: Wut hinter Gittern. Brechts Seeräuber-Jenny. In: Wolfram Mauser, Ursula Renner und Walter Schönau (Hg.): Phantasie und Deutung. Psychologisches Verstehen von Literatur und Film. Würzburg 1986, S. 224-238, hier S. 224. Der Rückgriff auf Pietzckers Aufsatz impliziert nicht, dass ich mich der dort vertretenen These, dass die »Aufspaltung des Mutterbildes und entsprechend Jennys Spaltung in Gut und Böse« dazu beigetragen hätten, »daß Brecht seine Wut auf die Mutter zulassen konnte.« Ebd., S. 232f. 71 Vgl. zur gängigen Verwechslung der Seeräuber-Jenny und der SpelunkenJenny, die auf die Aufführungsgeschichte des Stücks zurückgeht, Michaela Wirtz: »Meine Herren, da wird wohl Ihr Lachen aufhören…«. Die Geschichte von Brechts Seeräuber-Jenny und das Motiv der (verfehlten) weiblichen Rache. In: Gregor Ackermann, Walter Delabar und Carsten Würmann (Hg.): Deutsches Lied. Von den Hymnen bis zum Baum der Schmerzen. Bielefeld 2007, S. 101-109. 72 Vgl. hierzu Pietzcker: Wut hinter Gittern (Anm. 70), S. 232. 73 Vgl. hierzu Pietzckers Vergleich der Seeräuber-Jenny mit Dornröschen und Aschenputtel, ebd., S. 235. Zu Typologie und Merkmalen des Märchens, vgl. Stefan Neuhaus: Märchen. Tübingen, Basel 2005.
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Über die intermediale Verbindung von David Lynchs Roadmovie Wild at Heart (1990), das die Liebesgeschichte von Lula Fortune und Sailor Ripley erzählt, ist bereits viel geschrieben worden.75 Auch wenn der Victor-Fleming-Film aus dem Jahre 1939 als Literaturverfilmung auf einen Roman – L. Frank Baums Der Zauberer von Oz aus dem Jahr 1900 – zurückgeht, ist es wohl eher angebracht von Film-FilmBezügen anstatt von Film-Text-Bezügen zu sprechen.76 Dass die Referenzen für Lynch selbst wichtig gewesen sein müssen, geht daraus hervor, dass die einzigen Änderungen an Barry Giffords Romanvorlage – Titel ebenfalls: Wild at Heart – in der Einarbeitung der Bezugnahmen zum Zauberer von Oz und in einer Abänderung des Endes bestehen.77 Daneben hält sich der Film an die literarische Vorlage.78
74 Der Titel ist übernommen aus Seeßlen: David Lynch und seine Filme (Anm. 8), S. 207. 75 Daher kann eine Darstellung der einzelnen Bezugnahmen an dieser Stelle ausgespart werden. Vgl. stattdessen Kaul und Palmier: David Lynch (Anm. 1), S. 66ff. 76 Dass die Referenzen in Wild at Heart auf den Film gerichtet sind, wird an vielen Kleinigkeiten deutlich. So sind die Zauberschuhe im Roman beispielsweise silbern, bei Fleming und Lynch hingegen rot. 77 Dass man die Vorlage als »einigermaßen schmalzige[n] Roman« (Seeßlen: David Lynch und seine Filme [Anm. 8], S. 104) bezeichnen kann, passt zu der intertextuellen Grundausrichtung der modernen Literatur, die Adorno in der Dreigroschenoper erkannt hat: »Zur deutenden Form der Oper stimmt völlig, daß sie sich ihren Stoff von einer anderen Oper vorgeben läßt, und ebenso, daß sie diesen Stoff im Lumpenproletariat beläßt, das selbst wieder in einem Hohlspiegel die gesamte fragwürdige Ordnung der bürgerlichen Oberwelt reflektiert«. (Theodor W. Adorno: Zur Musik der Dreigroschenoper. In: Werner Hecht [Hg.]: Brechts »Dreigroschenoper«. Frankfurt/Main 1985, S. 70-75, hier S. 73.) Zur subversiven Wiederkehr der »verramschten Oper[, in welcher] der Angriff gegen die nur noch auf
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Durch die Verweise auf den Film mit Judy Garland – quasi der kleinste gemeinsame kulturelle Nenner im Land der unbegrenzten Verschiedenheiten – gewinnt auch Wild at Heart etwas von der märchenhaften Einfachheit des Landes Oz: »Die Bösen werden visuell als solche markiert, […] die Guten zeichnen sich durch ihre Liebe und ihre Sehnsucht nach dem Land hinter dem Regenbogen aus.«79 Wie häufig bei Lynch sind die Figuren Typen und keine individualisierten Charaktere, sie verweisen »durch Namen, Charakterisierung und Aussehen auf Vorläufer«,80 sodass sie als wandelnde Zitate in Figurenkonstellationen eintreten, die wiederum »als duplizierte Versatzstücke popkultureller Formate«81 gelten dürfen. Dergestalt treten neben die allgemeine Referenz auf die vornehmlich in der Massenliteratur verbreitete stereotypisierte Gegenüberstellung von ›Gut‹ und ›Böse‹82 konkrete Bezugnahmen zu den Ikonen jener Populärkultur, die bereits Andy Warhol in seiner Pop-Art hervorgehoben hat: Der männliche Protagonist Sailor ist dem King of Rock nachempfunden. Er verehrt Elvis und hat ihn sich zum Idol erkoren.83 Seine Freundin Lula wird ganz nach dem
kulinarischen Genuß zielende Opernarie […] selbst zum neuen Genußmittel« wird, vgl. Pietzcker: Wut hinter Gittern (Anm. 70), S. 237. 78 Kaul und Palmier: David Lynch (Anm. 1), S. 64f. 79 Ebd., S. 67. 80 Glaubitz und Schröter: Surreale und surrealistische Elemente (Anm. 3), S. 289. 81 Ebd., S. 291. 82 Zur Art und Weise, wie das Brecht-Kollektiv (v.a. Elisabeth Hauptmann) mit dieser Klischee-Dichotomie umgeht, siehe den erhellenden Aufsatz von Tobias Lachmann zu Happy End. Tobias Lachmann: Wer war Dorothy Lane? Gangster, Girls und Geldgeschäfte in Elisabeth Hauptmanns Happy End. In: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 11 (2007), S. 9-46, hier S. 14. 83 Daneben weist Seeßlen auf den intramedialen Zusammenhang zu The Fugitive Kid (Dt.: Der Mann in der Schlangenhaut; 1960) mit Marlon Brando hin. Vgl. Seeßlen: David Lynch und seine Filme (Anm. 8), S. 104.
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Vorbild Marilyn Monroes als blondes Naivchen mit Sex-Appeal inszeniert, sodass Seeßlens Fazit zur Figurenzeichnung – obwohl radikal in der Formulierung – doch durchaus treffend ausfällt: »Sailor und Lula sind ganz Pose und ganz Zeichen; und sie sind Posen und Zeichen, die da, wo sie aufscheinen, fehl am Platz sind. Sie imitieren die Zeichen einer vergangenen Zeit, sie sind Elvis und Marilyn in der Hölle der amerikanischen Gegenwart.«84
Als wandelnde Zitate sorgen die Figuren aus den amerikanischen Fifties für eine zeitliche Verlagerung, auch Historisierung ist ein Mittel der Verfremdung. Als Gründerjahre der Populärkultur haben die Fifties Zeichen hervorgebracht, die wie der Typus des Halbstarken bis heute zu einer Idealisierung von Jugendlichkeit beitragen. »Das Cabrio, die Rock-Musik, die Kaugummis, die Zigaretten, die Schlangenlederjacke Sailors und die Elvis-Songs«, so Kaul und Palmier, »stehen unabhängig vom Stil der 90er Jahre für Jugend, Rebellion und Unabhängigkeit.«85 Sie sind Bestandteile eines universellen Klischees – denn »[k]eine Geste, keine Pose, keine symbolische Handlung [der Figuren] ist genuin von ihnen oder für sie erfunden«86 – von jugendlichem Aufbegehren, das sich in Wild at Heart an drei wesentlichen Punkten offenbart, die metaphorisch unter das Leitmotiv des brennenden Streichholzes und der Zigarette danach gestellt sind: Gewalt, Sex und Tanz (als Mischung aus beidem). Die Tanzszenen zur Musik von Powermad – einmal zu Beginn beim Konzert im Hurricane, später dann zu Radiomusik in der Wüste – setzen in Szene, dass der Tanz eine Art Fluchtweg für die beiden darstellt. In den Kick-Box-Tanzeinlagen wird eine Energie kanalisiert, die – halb Gewalt, halb Balz – aus der Frustration an der feindlich gesinnten und sinnentleerten Umwelt entspringt. Anlass für den Tanz in der Wüste sind schließlich die Schreckensnachrichten aus dem Radio.
84 Ebd., S. 105. 85 Kaul und Palmier: David Lynch (Anm. 1), S. 63. 86 Seeßlen: David Lynch und seine Filme (Anm. 8), S. 111.
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Tanz ist der Ausweg, ist Eskapismus. Gleiches gilt für Gewalt und Sexualität.87
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Mit der überspitzt stereotypen Figurenzeichnung kommt in Wild at Heart eine der beiden zuvor bei Brecht nachgezeichneten Verfremdungstechniken zum Einsatz. Die zweite Verfremdungstechnik, welche in Lynchs Roadmovie eingesetzt wird, ist der unerwartete Schluss. Nachdem Sailor Lula erklärt hat, dass es besser wäre, wenn er sie und das gemeinsame Kind verlasse, stellen sich ihm auf einem ansonsten leeren Highway Mitglieder einer Straßengang in den Weg, die in Westernmanier zunächst vereinzelt aus Häusereingängen und Querstraße treten, ihn dann aber vollständig umzingeln. Ein lässiges »Was wollt Ihr Schwuchteln von mir?«88 eröffnet einen äußerst kurzen Kampf. Sailor wird niedergeschlagen und »[w]ie eine Dea ex Machina erscheint mit derselben Funktion die gute Hexe des Westens aus dem Wizard of Oz am Himmel in einer schimmernden Zauberkugel.«89 Sailors Einwände »Aber ich bin doch ein Totschläger und ein Räuber und
87 In gewisser Weise steht Wild at Heart mit diesen Szenen in der französischen Tradition des sogenannten Apachentanzes, auf den Alan Lareau in einem Aufsatz zur Dreigroschenoper hingewiesen hat. In der »Zuhälterballade«, die Mackie und Spelunkenjenny singen, sieht Lareau eine Vermischung von emotionaler Verbundenheit, Sexualität und Gewalt, die auf die Gattung der Hurenlieder und auf den Apachentanz zurückgeführt werden kann. Vgl. Alan Lareau: The Genesis of »Jenny«: Prostitute Songs, the Mythology of Pimps, and the Threepenny Opera. In: Christiane Schönfeld (Hg.): Commodities of Desire. The Prostitute in Modern German Literature. Rochester 2000, S. 165-190. 88 Wild at Heart. Regie David Lynch, 1:52:30. 89 Kaul und Palmier: David Lynch (Anm. 1), S. 71.
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elterliche Fürsorge habe ich nie gekannt«90 entkräftet sie mit dem Hinweis darauf, dass Sailor nicht vor seiner Liebe davon laufen dürfe. Dieser – wieder aus dem K.O. erwacht – entschuldigt sich bei den Schlägern (»Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen, Gentlemen, dass ich Sie als homosexuell bezeichnet habe.«91) und bedankt sich dafür, dass er etwas für das Leben habe lernen dürfen. Diese Sequenz bildet den Wendepunkt des Schlusses: Sailor kehrt um und »[u]m die Konstruiertheit und Ironie auf die Spitze zu treiben, wird im nächsten Moment ein vierspuriger Stau gezeigt, der angesichts der endlosen leeren Straße im selben Ort irreal erscheint und nur den Zweck hat, Sailor mit wildentschlossenem Herzen über die Autos rennen zu lassen.«92 Während Sailor und Lula sich auf der Motorhaube des Cabrios in den Armen liegen und Sailor eine Playback-Version von Love Me Tender singt (die Zuschauer wissen, dass dies der Song ist, den Sailor für seine zukünftige Ehefrau reserviert hat), senkt sich quasi der Vorhang, indem die Credits eingespielt werden. Das Protagonistenpärchen ist im Land hinter dem Regenbogen angekommen. Das Filmende, »gewiss die Parodie eines Happy Ends«,93 stellt mit »[d]er glücklich vereinten Familie«94 die bürgerliche Ordnung wieder her. Der Schluss ist ebenso unwahrscheinlich wie die anscheinend guten Konfliktlösungen in Brechts Der gute Mensch von Sezuan und Die Dreigroschenoper. Gute Feen sind mindestens so selten wie die reitenden Boten des Königs. Worin sich beides wiederum unterscheidet, ist ebenso wie bei der eindimensionalen Figurenkonzeption die Wirkung der Verfremdung. So unglaubwürdig das Ende in seinem Kausalzusammenhang auch erscheinen mag – und die Liebe zwischen Sailor und Lula wird auch zuvor nicht idealisiert, sondern als medialen Vorbildern nachempfun-
90 Wild at Heart. Regie David Lynch, 1:52:13. 91 Ebd., 1:54:24. 92 Kaul und Palmier: David Lynch (Anm. 1), S. 71. 93 Seeßlen: David Lynch und seine Filme (Anm. 8), S. 110. 94 Kaul und Palmier: David Lynch (Anm. 1), S. 64.
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denes Konstrukt inszeniert –, es stemmt sich nicht wie das epische Theater gegen eine Einfühlung des Zuschauers. Vielmehr lädt die explizite Kennzeichnung der Diegese als fiktionale Erzählung den Zuschauer ein, sich der Illusion hinzugeben. Wie Brecht in der Dreigroschenoper die Gattungskonventionen der Oper parodiert, so arbeitet sich Wild at Heart an Roadmovie- und Hollywoodkonventionen ab. Daher ist der Film ebenso wie Mulholland Drive (und auch Inland Empire) ein Film über Hollywood, also über das Kino als System. Den Theaterrevoluzzer Brecht und David Lynch eint »die ironische Verfremdung populärer Hollywood-Handlungsschemata«,95 wobei Brechts »Versuch, die Trivialmythen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen,«96 den Zuschauer ebenso vor den Kopf stößt wie die programmatische Spruchtafel mit der Aufschrift »Glotzt nicht so romantisch«97 aus dem ersten zur Aufführung gebrachten Brecht-Stück Trommeln in der Nacht. Dem Illusionisten Lynch hingegen mag man den Schwindel indes nicht übel nehmen. Wie dem Zauberer von Oz, dessen anscheinende magische Omnipotenz sich in Roman und Spielfilm als fauler Zauber entpuppt,98 verzeiht man ihm seine Tricks. Wild at Heart weist zu-
95 Lachmann: Wer war Dorothy Lane? (Anm. 82), S. 41f. 96 Ebd. 97 Bertolt Brecht: Trommeln in der Nacht. In: Ders.: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Bd. 1 (Anm. 53), S. 83-147, hier S. 84. 98 Im Roman erscheint die Figur des Zauberers stärker noch als in der Verfilmung durch Fleming als Sinnbild für den Filmregisseur an sich. Hinter seiner Magie stehen ausschließlich technische Errungenschaften, die mittels Projektion und Suggestion wirksam werden. In dem Umstand, dass alle Gäste in seiner Residenz, der ›smaragdenen Stadt‹ grüne Brillen tragen müssen, die sich nicht eigenhändig entfernen lassen, findet sich zudem die philosophische Komponente des Illusorischen in jener Metapher gebündelt, die Heinrich von Kleist anlässlich seiner sogenannten Kant-Krise geprägt hat:
»[Kleist] illustrierte seine Erkenntniszweifel mit dem Gleichnis:
›Wenn alle Menschen grüne Gläser hätten, so würden sie urtheilen müssen, die Gegenstände, welche sie erblickten, sind grün […]. Wir können nicht
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nächst auf Brüche in der stereotypen Opposition von ›Gut‹ und ›Böse‹ hin, um dann Sailors Glauben an die Schlangenlederjacke und den amerikanischen Traum von individueller Freiheit mithilfe des unwahrscheinlichen Happy Endings zu bestätigen, wodurch dieser Glaube im selben Moment als Mythos entlarvt wird. Aber auch diese Erkenntnis bleibt vage, verlässt sie doch nie den Bereich des Nicht-Wissens, aus dem sie entstammt. Steht am Ende von Brechts Theater des Intellekts die Erkenntnis, dass die Welt wirklich schlecht ist, so lässt Lynchs Kino der Intuition erahnen, dass sie in Wirklichkeit noch viel schlechter ist. Oder doch schöner?
entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.‹« Wilhelm Amann: Heinrich von Kleist. Berlin 2011, S. 24.
Lynchian Road Movies. David Lynchs Spiel mit der Wissensordnung eines Genres am Beispiel von Wild at Heart und The Straight Story M ARK S CHMITT
1. F ILMISCHE W ISSENSORDNUNGEN : G ENREFILM UND AUTORENKINO Genre- oder Autorenfilme – Fragen bezüglich Kriterien der Klassifikation und Gattungszuordnung in den Filmwissenschaften arbeiten sich nach wie vor hauptsächlich an diesen beiden Kategorien ab. Während Genrefilme gemeinhin als kommerzielle Unterhaltungsfilme verstanden werden, die gezielt Genrekonventionen einhalten und sich an ein bestimmtes Publikum richten, um ihr Gebiet auf dem umkämpften Filmmarkt abzustecken, wird der Autorenfilm nach heutigem Verständnis als das künstlerische und betont unkommerzielle Gegenstück zu dieser Form des Kinos verstanden. Dementsprechend werden mittlerweile die Begriffe Autorenfilm und Kunst- bzw. Arthousefilm nicht selten synonym verwendet – ein Umstand, der eine weitere Verkomplizierung in der Trennung von Genre- bzw. Unterhaltungskino auf der einen, und dezidiert unkommerziellem, kunstwilligem Kino auf der
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anderen Seite darstellt und auf eine generelle Unschärfe der Begrifflichkeiten und Kriterien hindeutet. Zusätzlich zu der Frage, ob und wie Unterhaltungs- und Kunstkino voneinander zu unterscheiden sind, ob die Unterscheidung überhaupt durchgehend möglich ist, mündet diese Diskussion zwangsläufig in der Frage, ob nun Genrefilme niemals Kunst und Kunstfilme niemals kommerziell erfolgreich oder unterhaltsam sein können. Das dieser Diskussion und der in ihnen verhandelten Kriterien zugrundeliegende Verständnis einer strikten Trennung zwischen Populär- und Hochkultur ist zudem nur bedingt haltbar, besonders, wenn man die gezielte Überschreitung dieser Grenzen in den Hoch- und Populärkultur in Dialog bringenden Darstellungsverfahren des Postmodernismus betrachtet. Die oftmals dennoch aufrechterhaltene Trennung zwischen Kunst- und Kommerzkino lässt sich mittlerweile mit zahlreichen Beispielen demontieren, in denen Genrebeiträge mehr als bloßes Popcornkino sind. Auch die Annahme, sogenanntes Arthousekino könne gänzlich außerhalb wirtschaftlicher Parameter funktionieren, muss sich als illusorisch erweisen. Kunstfilme kosten schließlich ebenfalls Geld und sollen ihre Kosten wieder einspielen. Viele Filmwissenschaftler sprechen daher davon, dass Kunstfilme ein eigenes Genre bilden, das sich entsprechender Konventionen und Stile bedient und ein eigenes Zielpublikum vorweisen kann.1 Bei dieser mitunter unauflösbaren Spannung zwischen Genre- und Kunstfilm ist außerdem zu beobachten, dass es Regisseure gibt, die in ihrer ostentativen Vermischung von Elementen des Genrekinos mit denen des Kunst- und Autorenfilms derart stilprägend sind, dass sie zu einem eigenen Genre geworden sind und ihre Namen zu einer Marke
1
Vgl. hierzu insbesondere David Bordwell: The Art Cinema as a Mode of Film Practice. In: Film Criticism 4.1 (1979), S. 56-64; Barry Keith Grant: Film Genre. From Iconography to Ideology. London, New York 2007, S. 1-3. Grant argumentiert, dass bereits die ersten Vertreter des Kunst- und Autorenkino nach heutigem Verständnis – Jean-Luc Godard, Ingmar Bergmann und Rainer Werner Fassbinder – sich auf Genreelemente berufen haben.
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gemacht haben: Quentin Tarantinos Filme lassen sich einerseits als künstlerische Aufarbeitungen transkultureller Filmgeschichte und andererseits als gezieltes Spiel mit verschiedenen Genres (Thriller, Western, Action, Kriegsfilm, Horrorfilm und all ihre Subgenres) verstehen, während der Witz einer ›typischen‹ Komödie der Brüder Joel und Ethan Coen gerade darin besteht, dass sie die Grenzen zwischen dem Komödiantischen und dem Ernsthaften immer wieder überschreitet, und dabei ebenfalls aus einem Fundus an Genrekonventionen, besonders dem Gangsterfilm und dem Western, schöpft. David Lynch lässt sich in diese Reihe von ›Autorenfilmern‹, die zu ihrer eigenen Marke geworden sind, stellen. Die Entwicklung vom Independent-Filmemacher, dessen erster Spielfilm Eraserhead für kaum ein Publikum außer jenem der sogenannten Midnight Movies gemacht schien, fand einen kommerziellen und künstlerischen Höhepunkt im Jahr 1990, in dem nicht nur die mit Mark Frost entwickelte Fernsehserie Twin Peaks erstausgestrahlt wurde und überraschend ein breites Publikum begeisterte, sondern auch sein Film Wild at Heart erschien, der auf dem Festival in Cannes die Palme d’Or gewann. Zudem machte er sich einen Namen als bildender Künstler, was ein wachsendes Interesse an Ausstellungen seiner Bilder zu dieser Zeit untermauerte; gleichzeitig wurde er engagiert, eine Tour Michael Jacksons mit einem Teaser-Trailer zu bewerben. Lynchs Arbeiten wussten längst nicht mehr bloß ein exklusives Underground-Publikum zu begeistern, sondern fanden sowohl bei Kennern des Kunstfilms als auch bei einem Massenpublikum Anklang. »In an unlikely scenario for the maker of Eraserhead, Lynch had become an influential and fashionable brand name«, skizziert Chris Rodley diese Zeit in seinem Interviewband Lynch on Lynch.2 Diese Entwicklung der ›Marke Lynch‹ lässt sich bis heute weiterverfolgen. Wenn man in den letzten Jahren seine Homepage davidlynch.com verfolgt hat, kann man sehen, dass sich Lynchs Schaffen nicht nur transdisziplinär und transmedial in verschieden-
2
Chris Rodley (Hg.): Lynch on Lynch. 2. Aufl. London 2005 [1997]. S. 191.
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en Kunstformen manifestiert. Mittlerweile lässt sich sogar ein Lynch’scher Fair-Trade-Coffee-Blend kaufen! In dem Maß, in dem David Lynch mit seinem Schaffen zu einer transmedialen Marke geworden ist, werden auch seine Filme als immer eigenständiger und einzigartiger wahrgenommen. Die Ankündigung eines neuen Lynchfilms geht stets mit einer konkreten Erwartung hinsichtlich der Machart und des Inhalts des Films einher – das Publikum erwartet einen typischen Lynch. Der »Lynch touch«3 umfasst jedoch nicht nur Stilelemente, die ausschließlich in Lynchs eigenen Filmen zu finden sind. Vielmehr sind sie so sehr im filmischen Wissen der Zuschauer integriert, dass diese die Merkmale auch in anderen Werken wiedererkennen. Das heißt, Lynch hat in den Augen des Publikums einen Stil geprägt, der auch andere Filmschaffende beeinflusst und einen hohen Wiedererkennungswert hat, sodass man das Lynch-Attribut auch zur Beschreibung anderer Werke verwendet. Besonders augenfällig wurde dies neben vielen anderen Beispielen bei der Vermarktung und Rezeption des Films Surveillance (2008) von David Lynchs Tochter Jennifer Chambers Lynch. Aber auch andere Filme, deren Verantwortliche in keiner Weise mit David Lynch in Verbindung stehen, werden mit Lynch-Vergleichen bedacht, wie zum Beispiel einige Filme Darren Aronofskys, dessen Rezipienten sich des Vergleichs wahlweise als Lob oder als Vorwurf bedienen.4 Von einem ›lynchianischen‹ Film
3 4
Ebd. So vergleicht zum Beispiel Dietmar Dath in seiner Polemik gegen Aronofsky dessen Karriere und die ästhetische Entwicklung seines Werkes mit Lynch: »Am Anfang dachte ich, da macht halt einer, so viel er kann, um so schnell wie möglich sein eigener David Lynch zu werden: ›Pi‹ sollte wohl aussehen und verstören wie der Elefantenmenschfilm oder auch ›Eraserhead‹ […]. Aber diese Gleichung geht nicht auf, denn Lynch ist […] lustig, wenn er, von bohrendem Eigensinn bezaubert, in seinen abstrusen Obskuritäten wühlt; Aronofsky hingegen bleibt die ganze Zeit ernst, ernst, fürchterlich ernst […].« Dietmar Dath: Ein Bitterzuckerbäcker. In: Opak 8 (2011), S. 56-58, hier S. 56.
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erwartet man neben einer spezifischen Bildästhetik mindestens eine mit herkömmlichen filmischen Erzählkonventionen brechende und so den Rezipienten verwirrende narrative Struktur sowie die Thematisierung von sexuellen Obsessionen, Gewalt und Fragen der individuellen Identität. Man könnte also davon sprechen, dass David Lynch ein eigenes Genre kreiert hat, dessen Themen, Motive und formale Elemente über seinen eigenen Werkkontext hinaus prägend geworden sind. David Foster Wallace bringt in seiner essayistischen Annäherung an das Attribut ›Lynchian‹ dessen hauptsächliches Charakteristikum auf den Punkt: »An academic definition of Lynchian might be that the term ›refers to a particular kind of irony where the very macabre and the very mundane combine in such a way as to reveal the former’s perpetual containment within the latter.‹ But like postmodern or pornographic, Lynchian is one of those Potter Stewardtype words that’s definable only ostensibly – i.e. we know it when we see it. Ted Bundy wasn’t particularly Lynchian, but good old Jeffrey Dahmer, with his victim’s various anatomies neatly separated and stored in his fridge alongside his chocolate milk and Shedd Spread, was thoroughgoingly Lynchian.«5
Gemäß dieser Beobachtungen ist es die Konfrontation und schließlich Verschmelzung des Alltäglich-Banalen und des Makabren, auf die Lynchs Filmästhetik hinausläuft und die von den Zuschauern aufgrund ihrer Rezeptionserfahrung erwartet wird, weil es eben jene maßgebliche Eigenschaft ist, die Lynchs Ästhetik einzigartig erscheinen lässt. Lynchs Ästhetik, so kann man Wallaces Ausführungen übersetzen, basiert auf dem Prinzip der Verfremdung, die mit dem Formalisten Viktor Šklovskij die »Befreiung der Dinge vom Automatismus« zum Ziel hat.6 Es geht also darum, das Alltägliche auf neue und ungewöhnliche Weise sichtbar zu machen, indem es mit dem Makabren verfremdend konterkariert wird.
5
David Foster Wallace: David Lynch Keeps His Head. In: Ders.: A Supposedly Fun Thing I’ll Never Do Again. Essays and Arguments. London 2009 [1997], S. 146-212, hier S. 161f.
6
Viktor Šklovskij: Theorie der Prosa. Frankfurt/Main 1966, S. 15.
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Thomas Elsaesser und Malte Hagener definieren in ihrer Einführung in die Filmtheorie das Moment der Schwelle und des Eintritts als einen maßgeblichen Faktor, der den Zuschauern einen Film verständlich macht. Bevor der Zuschauer im Kino sitzt und sich auf den eigentlichen Film einlässt, tritt er bereits vor der eigentlichen Filmrezeption graduell in dessen Universum und Wissensordnung ein: Die Paratexte des Films (Plakate, Trailer, Rezensionen etc.) prägen die Erwartung des Zuschauers und versorgen ihn mit Informationen zur generischen und stilistischen Einordnung des Films.7 Der Zuschauer verfügt demnach schon vor der eigentlichen Begegnung mit dem Film über ein bestimmtes Wissen, das es ihm ermöglicht, mit genrespezifischen Konventionen, ihrer Erfüllung und/oder teilweisen Durchbrechung zu rechnen. Dieser wechselseitige Umgang mit Wissen zwischen Zuschauer und Produktionsseite bezeichnen Elsaesser und Hagener mit Roger Odin als »kommunikativen Kontrakt«.8 Filmgenres, so lässt sich entsprechend sagen, können in diesem Sinne als Wissenssysteme bezeichnet werden, die diese Vertragsschließung zwischen Text und Zuschauer ermöglichen. Wenn ein Zuschauer beispielsweise einen Horrorfilm sehen möchte und aufgrund einer entsprechenden Rezeptionserfahrung über ein profundes Wissen über die Konventionen des Genres verfügt, wird er sich aufgrund der Paratexte eines neuen Horrorfilms darüber informieren können, inwieweit dieser neue Genrebeitrag in Bezug zu diesem Wissenssystem steht. Demgemäß geht er mit einer vorgeformten Erwartung ins Kino: Die Paratexte haben ihm vertraglich einen Horrorfilm zugesichert. Ähnlich verhält es sich mit Kunstfilmen und besonders mit Autorenkino wie dem David Lynchs. Wenn man sich einige der Filme Lynchs genauer ansieht, stellt sich aber die Frage, inwieweit seine Arbeiten wirklich als genuine Produkte eines künstlerischen Bewusstseins verstanden werden können. Schließlich ist es keinesfalls so, als schaffe Lynch Filme in einem intertextfreien Vaku-
7
Vgl. Thomas Elsaesser und Malte Hagener: Filmtheorie zur Einführung.
8
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um. Vielmehr lassen sich viele seiner Filme als ein gezieltes Spiel mit Filmgenres und ihren jeweiligen Motivrepertoires, mit ihren Konventionen und Wissensordnungen begreifen. Der »Lynch touch« entsteht immer auch aus dem bewussten Bezug zu intertextuellen Gefügen. Lynchs Umgang mit diesen Gefügen lässt sich wiederum mit dem oben bereits eingeführten Prinzip der Verfremdung beschreiben. Dabei geht es, wie im Folgenden anhand der exemplarischen Betrachtung von Lynchs Umgang mit der Wissensordnung des Road Movie gezeigt werden soll, um eine Umschrift des Kontrakts mit dem Zuschauer.
2. D AS R OAD -M OVIE -G ENRE UND DAS M OTIV DER S TRASSE BEI D AVID L YNCH Bereits in dem Vorgänger zu Lynchs erstem richtigen Road Movie Wild at Heart, dem 1986 veröffentlichten Blue Velvet, ist die Bedeutung dieser Motive in den Szenen evident, in denen Frank Booth und seine Gefolgschaft Jeffrey Beaumont auf eine ›Spritztour‹ mitnehmen. Wie viele Autofahrten in späteren Filmen Lynchs findet diese nachts statt und gestaltet sich auf diese Weise als Steigerung und schließlich als Eskalation von Jeffreys Abstieg in die Bereiche des Dunklen, Abseitigen und Unbekannten. Die Fahrt in Franks Auto wird durch eine Schnittfolge vermittelt, die die Umgebung allenfalls in vagen Umrissen erkennen lässt; das Einzige, was dem Zuschauer, der genau wie Jeffrey über das Ziel dieser Fahrt im Ungewissen ist, an Sichtbarem vermittelt wird, sind Kamerafahrten über den gelb leuchtenden Mittelstreifen, die einerseits die hohe Geschwindigkeit des Autos simulieren, aber gerade in ihrer Fokussierung auf den Asphalt betonen, dass das Fahrtziel nicht erkennbar ist. Das Einzige, das darüber hinaus in der Dunkelheit dieser Sequenz sichtbar wird, sind gelegentlich aufflackernde Straßenlaternen und die ebenfalls nur vage sich im Dunkel abzeichnenden Gesichter der Passagiere. Diese Autofahrt stellt Jeffreys endgültige Grenzüberschreitung dar, mit der er die vertraute Ordnung der Vororte Lumbertons sowie jegliche damit verbundenen Sicherheiten hinter sich lässt.
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Der in diesen Szenen vorherrschenden Dunkelheit, durch die sich das Auto bewegt, korrespondiert eine darauffolgende erzählerische Ellipse, die dem Zuschauer vorenthält, was am Zielort dieser Fahrt mit Jeffrey geschieht. Man sieht ihn erst wieder, als es bereits hell geworden ist, gezeichnet von zahlreichen Blessuren, die die Misshandlungen durch Frank und seine Bande andeuten, deren Demonstration dem Zuschauer aber durch den elliptischen Bruch in der narrativen Abfolge des Films vorenthalten wurde. Die Autofahrt in Blue Velvet erfüllt für die narrative Struktur des Films einen mehrfachen Zweck. Damit ist sie repräsentativ für viele weitere Fahrten in Lynchs späteren Filmen. Einerseits stellt sie den Übergang von einer vertrauten Ordnung in eine Ordnung des Unbekannten dar, und andererseits versetzt sie die Figur Jeffrey und seinen bisherigen Verstehenshorizont in einen Zustand der Unordnung und Unruhe. Diese Unordnung ist zum einen elementar für den weiteren Verlauf der Handlung und die Figurenentwicklung, zum anderen fungiert sie als ein Spiegel, in dem die wachsende Irritation des Zuschauers reflektiert wird. Während der Film zuvor durchgehend über Jeffrey fokalisiert wurde, markiert die Ellipse eine zwischenzeitliche Abkehr von dieser Erzählperspektive, denn der Zuschauer weiß nun noch weniger als Jeffrey – er kann nicht Zeuge dessen werden, was mit ihm geschieht, sondern muss sich darauf verlassen, dass der Film seine Perspektive wieder aufnimmt und Jeffrey – sofern er die durch die Ellipse vorenthaltenen Geschehnisse überlebt hat – weiter begleitet. Der Film simuliert hier auf narrativer Ebene einen Zustand der Blindheit. Während die Fahrt in Blue Velvet in diesem Sinne eine vergleichsweise singuläre Zäsur darstellt, kann man beobachten, dass solche Momente in späteren Filmen an Bedeutung gewinnen und häufiger werden. In Lost Highway (1997) etwa stellen die Autofahrten gleich mehrfach Übergänge in andere Bewusstseinsordnungen dar, ebenso wie in Mulholland Drive (2001), dessen Titel – genau wie Lost Highway – das Motiv der Straße bereits in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. Wenngleich das Motiv der Straße in vielen Filmen Lynchs eine zentrale Rolle spielt, kann Wild at Heart als das erste wirkliche Road Movie im Sinne gängiger Genrekonventionen verstan-
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den werden. Gerade in dem expliziten Rückbezug auf das konventionalisierte Verstehenssystem des Road Movie gewinnt Lynchs Verwendung des Motivs der Straße und der Autofahrt an Bedeutung für seine individuelle Filmästhetik. Begreift man das Road-Movie-Genre als eine konventionalisierte Wissensordnung, gilt es zunächst, einige Charakteristika dieses Genres herauszustellen, um aufzeigen zu können, wie Lynch mit ihnen verfährt. Gemeinhin gilt Dennis Hoppers Easy Rider (1969) als »erstes bedeutendes Exempel des jungen Genres«,9 das bis dahin bereits einige, sich vor allem am Stil- und Mythenrepertoire des Westerns orientierende Vertreter vor allem im Bereich der Bund Independentfilme verzeichnen konnte. Maßgeblich für den filmischen Stil und die Narrativik der Road Movies ist die »Fixierung auf das freiheitsverheißende Vehikel«,10 das heißt, Mobilität und Transition mittels motorisierter Fortbewegungsmittel motivieren die Handlung und wirken strukturbildend für die Narration. Diese Fortbewegung vollzieht sich wiederum meist außerhalb urbaner Zentren – die durch die amerikanische ›Wildnis‹ führenden Freeways sind der genuine Raum des Road Movie, was sich mit der Konzeption der typischen Protagonisten dieses Genres engführen lässt. Diese sind meist Außenseiterfiguren, die sich in dieser Wildnis bewegen, weil sie außerhalb der Norm der amerikanischen Gesellschaft stehen. Den Konventionen des Road Movie entspricht es, dass die nonkonformen Protagonisten nur selten ein Happy Ending erleben: »Die Gesellschaft will sie eliminiert sehen.«11 Die Bewegungsprozesse im Road Movie vollziehen sich also nicht nur buchstäblich, sondern auch allegorisch als eine Grenzüberschreitung. Die Wissens- und Verstehensformen dieses Genres sind also mit dem Außerhalb der gesellschaftlichen Norm befasst; das Road Movie fragt, so David Laderman: »What does it mean to exceed
9
Marcus Stiglegger: Roadmovie. In: Thomas Koebner (Hg.): Reclams Sachlexikon des Films. Stuttgart 2002, S. 514-517, hier S. 515.
10 Ebd. 11 Ebd.
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the boundaries, to transgress the limits of American society?«12 Greift man auf das Konzept des Vertrags zwischen filmischem Text und Zuschauer zurück, kann man annehmen, dass den Zuschauern eine Auseinandersetzung mit dieser Frage im Rahmen der Rezeption eines Road Movies ermöglicht wird.
3. W ILD AT H EART : D IE LYNCHIANISCHE V ERFREMDUNG DES R OAD M OVIE Die bisherige Lynch-Rezeption hat Wild at Heart immer wieder innerhalb dieses Genrekontextes situiert und ihn anhand seines Umgangs mit Genrekonventionen interpretiert. Bemerkenswert ist dabei, dass Wild at Heart offensichtlich als einer der problematischsten Filme Lynchs angesehen wird, was seine angeblichen politischen und ideologischen Implikationen betrifft. Der Film verrate Lynchs konservative und reaktionäre Agenda und sei überdies auch noch rassistisch, sexistisch und homophob – Vorwürfe wie diese liest man nicht selten in Interpretationen des Films.13 David Laderman etwa deutet den Film im Rahmen seiner Untersuchung des Road-Movie-Genres als eine neokonservative Umkehrung des Road Movie und seiner narrativen Schemata. Während es im herkömmlichen Road Movie, besonders während seiner Hochphase in den 1960er-Jahren, um die Rebellion gegen die Werte des konformen Mittelschichtsamerikas ginge, strebe Lynchs Road Movie vielmehr eine Revision dieses rebellischen Gestus’ an. Die genrespezifische Betonung der Mobilität der Protagonisten, eine
12 David Laderman: Driving Visions. Exploring the Road Movie. Austin 2002, S. 2. 13 Vgl. zum Beispiel Jeff Johnson: Pervert in the Pulpit. Morality in the Works of David Lynch. Jefferson 2004, S. 103-112; Laderman: Driving Visions (Anm. 12), S. 166-174.
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Bewegung fort von gesellschaftlichen Normen und Restriktionen, verkehre sich im postmodernen Road Movie, so Laderman: »the driver is trying to get back to mainstream society, not away from or beyond it.«14 Wenngleich einzuräumen ist, dass Laderman hier nicht nur eine unzulässige Verknappung der Definition des Road Movie auf seine ideologisch-politischen Implikationen, sondern auch der filmischen Ästhetik von Wild at Heart unternimmt, kann seine Lesart des Films durchaus als repräsentativ für die Rezeption von Lynchs erstem Road Movie gelten.15 Eines der grundsätzlichen Probleme dieser Deutungsart
14 Laderman: Driving Visions (Anm. 12), S. 168. 15 Ladermans Argumentation ließe sich mit Rick Altmans Überlegungen zur Bedeutung von Genres im Rezeptionsprozess widerlegen: Altman zufolge besteht eine der maßgeblichen Funktionen von Filmgenres darin, den Zuschauern innerhalb des sicheren Rahmens der filmischen Fiktion und des Wissens um Genrekonventionen ein zeitweiliges Abweichen von sozialen Normen der politischen Korrektheit zu ermöglichen, indem etwa Gewalttaten, Ehebruch und die Flucht aus den Restriktionen sozialer Konventionen als anerkannte und konstitutive Elemente jeweiliger Genres akzeptiert sind und so den ›Genuss‹ dieser Normverstöße zumindest für die Dauer eines Films
legitimieren.
Diese bewusste Abkehr
von gesellschaftlich-
moralischen Normen im Rahmen der Filmrezeption nennt Altman die Konfrontation mit den »generic crossroads«. Vgl. Rick Altman: Film/Genre. London 2002, S. 144-156. Dies bedeutet natürlich für ein Genre wie das Road Movie, dass ›rebellische‹ Abweichungen von der gesellschaftlichen Norm zwar Teil des genreeigenen Motivrepertoires sind, sich daraus aber durchaus kein über den Film hinausreichender Rebellionsgestus ableiten lässt. Eine Laderman und anderen ebenfalls deutlich widersprechende Lesart des Films findet sich bei Ralfdieter Füller, der Wild at Heart als »Antifiktion« interpretiert: »Da aber im Road Movie Amerika als Ganzes sehr häufig mythisiert wird, wirkt Lynchs Weigerung, den Genreregeln zu folgen, nicht nur antifiktional, sondern […] auch gegenhegemonial. Es geht in seinem Film um eine radikale Entmythisierung Amerikas und um die Offenlegung der Künstlichkeit des Konstrukts Amerika.« Ralfdieter Füller:
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ist jedoch, dass sie die Strukturmerkmale eines Genresystems auf ein simples dichotomisches Schema des ›Entweder-Oder‹ reduziert. Ein dem Genre des Road Movie zuzuordnender Beitrag muss nach einem solchen Verständnis also zunächst die Voraussetzung einer bestimmten politischen Positionierung erfüllen, wogegen ein Abweichen von entsprechenden Schemata folgerichtig eine Verkehrung dieses politischideologischen Subtextes bedeuten kann. Eine solche Deutung gerade von Wild at Heart verrät mehr als deutlich die Bedeutung von generischen Systemen für das Moment des Verstehens und Erschließens von Wissen im Rezeptionsprozess – offensichtlich erleichtert die Genrezugehörigkeit eines Films nicht nur dem zahlenden Publikum die Orientierung beim Filmgenuss, sondern lenkt auch bis zu einem gewissen Grad die wissenschaftliche Rezeption. Die Analyse und Interpretation besteht dementsprechend zu einem großen Teil aus dem Nachvollzug genreeigener Konventionen und Parameter. Eine solche Vorgehensweise kann aber weder dem Genre des Road Movie in seiner Vielfalt, noch dem Kino David Lynchs vollständig gerecht werden. Gerade wenn man Wild at Heart und sein Spiel mit den Konventionen des Road Movie im Kontext der anderen Filme Lynchs betrachtet, fällt auf, dass die Motive der Straße und des Fahrens über den politischen Subtext des Road-Movie-Genres hinaus von entscheidender Bedeutung für Lynchs Art des Geschichtenerzählens sind. Vor dem Hintergrund von Genresystemen als filmische Ordnungen kulturellen Wissens16 betrach-
Fiktion und Antifiktion. Die Filme David Lynchs und der Kulturprozess im Amerika der 1980er und 90er Jahre. Trier 2001, S. 165. 16 Und gerade wegen der Funktionsweise von Genresystemen als Ordnungen kulturellen Wissens ist es völlig zu Recht naheliegend und sogar zwingend, diese Systeme auch als Abbildungen der ideologisch-politischen Dimensionen kultureller Wissensordnungen zu sehen; die Zurückweisung einiger diesbezüglicher Lesarten von Wild at Heart soll also keinesfalls eine völlige Verwerfung eines solchen Zugangs sein – vielmehr soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass solche Lesarten nicht einseitig funktionieren
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tet, kann Wild at Heart sogar in mehrfacher Hinsicht als ein filmgewordener Verstehensprozess interpretiert werden – und zwar zum einen bezogen auf die Figuren auf intradiegetischer Ebene, zum anderen hinsichtlich des Spiels mit den Genrekonventionen als ein Angebot an die Rezipienten und ihr Genrewissen. Direkt zu Beginn weist sich Wild at Heart mittels einer Texteinblendung als ein Film aus, der besonderes Augenmerk auf die Verortung seiner Handlung und die Übergänge zwischen den Orten legt; die Exposition, in der die Hauptfiguren Sailor und Lula vorgestellt werden, lokalisiert das Geschehen in »Cape Fear: Somewhere near the border between North and South Carolina«.17 Diese Verortung erweist sich durch den Gebrauch des »somewhere between« als nur scheinbar exakt: Zwar ist es der Erzählinstanz des Films möglich, die Region, in der das Geschehen sich vollzieht, genau zu bestimmen, jedoch nicht den exakten Ort, etwa den Namen einer Stadt in der Region Cape Fear, zu nennen. Die Information, dass man sich ›irgendwo‹ nahe der Grenze zwischen North und South Carolina befinde, macht die Information im Grunde überflüssig, zumal die ersten Bilder, die der Film vom Ort des Geschehens zeigt, keine die Filmhandlung situierenden Aufnahmen spezifischer Merkmale zeigt, sondern Innenaufnahmen eines Theaters, das sich ebenso gut an jedem anderen Ort der USA befinden könnte. Obwohl die eingeblendete Verortung der Filmhandlung bei der ersten Begegnung mit dem Film angesichts der unmittelbar darauffolgenden drastischen Gewaltszenen schnell vergessen werden kann, ist sie doch charakteristisch für den Umgang des Films mit seiner Diegese im Verhältnis zur außerfilmischen Welt. Wie sich im weiteren Verlauf des Films nämlich abzeichnet, befindet man sich immer »somewhere between«: Die Handlungsorte wie New Orleans, San Antonio oder Cape Fear existieren selbstverständlich auch außerhalb der Filmwelt, aber durch ihre vermeintlich konkrete Nennung betont der Film in sei-
dürfen. Zu einer eingehenden Betrachtung von Filmgenres als ideologischen Verstehenssystemen, vgl. Altman: Film/Genre (Anm. 15). 17 Wild at Heart (1990). Regie: David Lynch. DVD. Universal 2003.
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ner Erzählung die Konstruiertheit der räumlich-geographischen Verhältnisse innerhalb der Diegese und weist sie so als dezidiert künstliche Abbilder der real existierenden Orte aus. Das »somewhere between« bezieht sich gewissermaßen also auf das Wesen des Films als artifizielles Konstrukt – das erzählte Geschehen findet immer in einem Dazwischen von Realität und Fiktion, Wahrscheinlichkeit und Unmöglichkeit, tatsächlicher Geographie und künstlichem Filmraum statt. Für Wild at Heart als einem Film, der sich der Konventionen des Road Movie bedient, bedeutet dies, dass er auch auf die Artifizialität filmischer Raumkonstruktionen im Allgemeinen aufmerksam macht. In seinem Essay zu Rob Zombies The Devil’s Rejects, einem Film, der 15 Jahre nach Wild at Heart ebenfalls gezielt mit den Genremerkmalen des Road Movie spielt und mit anderen Genreversatzstücken bricht, schreibt Ivo Ritzer: »Es wird nicht nur eine Erzählung konstruiert, es wird ein Konstrukt gefilmt.«18 – eine Beobachtung, die man durchaus auch für David Lynchs Film geltend machen kann. Noch deutlicher wird dies in einem Dialog zwischen Sailor und Lula, in dem sie nach Sailors Entlassung aus dem Gefängnis ihre Reise planen, das heißt ihren Ausbruch aus den durch Lulas Mutter Marietta und das soziale und familiäre Umfeld in Cape Fear vorgegebenen Restriktionen: »I’d go to the far end of the world for you, baby«, offenbart Sailor seiner Freundin – und meint damit »sunny California«, also weniger das Ende der Welt als vielmehr das andere, North Carolina entgegengesetzte Ende der Vereinigten Staaten. Die Protagonisten in Lynchs Film begreifen Amerika als ihre Welt, allerdings beziehen sie sich dabei nicht auf das durch reale geographische und politische Grenzmarkierungen identifizierbare Amerika, sondern auf ein medial konstruiertes Amerika – ein Raum als Produkt kinematographischer Konstruktionen. Indem er die Handlung über Sailor und Lula fokalisiert, nimmt der Film dieses Konstrukt ernst und reinszeniert es in der Schilderung ihres Road Trips. Während Sailor und Lula auf ihrem Weg
18 Ivo Ritzer: Fear the Reaper. Rob Zombie und sein Film Halloween. In: Ikonen 11 (2008), S. 46-50, hier S. 47.
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blind für ihre eigene stereotype Situierung in der von ihnen als real wahrgenommenen Phantasie sind, sieht der genreerfahrene Zuschauer mehr. Schließlich kann er aufgrund seines Wissens um Genrekonventionen bestimmte Standardsituationen erkennen. Zu diesen film- und genretypischen Standardisierungen gehört in Wild at Heart gerade auch die Konstruktion des filmischen Raums unter Berufung auf stereotypisierte und mythisierte Konzeptionen der Südstaaten. Sailors und Lulas ›Southern drawl‹, der in ihrem Sprechen mehr als deutlich hörbar ist, lässt sie zu Karikaturen weißer Südstaatler werden, während die Dialoge aller Figuren durchzogen sind mit regionalen Verweisen: Als Johnnie Farragut auf der Suche nach Sailor und Lula in New Orleans ankommt, befindet er sich nicht einfach nur in der Stadt New Orleans, sondern, wie er Marietta mitteilt, in »the Big N.O.« – gewissermaßen in dem mythisch überhöhten Bild der Stadt. In den sexuell aufgeladenen Dialogen des im Film zentralen Paars ist Lula mitunter derart erregt von Sailors Ausführungen über seine erotischen Abenteuer, dass sie »hotter than Georgia asphalt« ist, und bringt sich selbst in ihrem Vergleich auf sehr direkte Weise in Bezug zu den Straßen, die sie ans »far end of the world« bringen sollen – in der folgenden Sexszene werden entsprechend Einstellungen des Aktes mit denen der Straße montiert. Davon abgesehen spielt der Film ausgiebig mit Stereotypen des Southern Gothic – ein literarisches und filmisches Subgenre, das vornehmlich von den Klischees des gewöhnlichen White Trash auf der einen und dem den afroamerikanischen Voodoopriestern anhaftenden exotischen Element auf der anderen Seite lebt, was besonders deutlich bei der Schilderung des Ritualmords an Johnnie Farragut zum Tragen kommt. Lynchs Film weist sich also explizit – und dies noch weit über die hier genannten Beispiele hinausgehend – als intertextuelle Spiegelung bestehender Konstruktionen aus. Dies rechtfertigt zwar einerseits die oft geschehene Klassifizierung des Films als Musterbeispiel des postmodernen Kinos,19 nicht aber den daraus häufig gezogenen ideologiekritischen Schluss, man habe es mit einem konserva-
19 Auch hierzu, vgl. Laderman: Driving Visions (Anm. 12), S. 161ff.
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tiv-reaktionären Film zu tun. Letzteres ignoriert nämlich den entscheidenden Faktor, dass Wild at Heart gezielt das Genrewissen des Zuschauers voraussetzt. Dieser ist sich folglich dessen bewusst, dass er es eben nicht mit dem Abbild der Realität zu tun hat, sondern mit der Neuanordnung schon bestehender, der filmischen Phantasie entspringender Versatzstücke. Vor diesem Hintergrund muss auch die Fahrt Sailors und Lulas betrachtet werden. Während der genreerfahrene Zuschauer die Reise nicht als eine realitätsnahe Darstellung, sondern als Fahrt durch einen konstruierten Filmraum wahrnehmen kann, stellt sich der von Sailor und Lula geplante Ausbruch aus ihrem Heimatmilieu, der auch eine Flucht vor Bosheit, Korruption und Gewalt ist, als gescheiterte Reise dar: Anstatt ins sonnige, utopisch verklärte Kalifornien zu führen, gerät ihre Fahrt zu einem ernüchternden Erkenntnisprozess. Sie können der Gewalt nicht entkommen, ihre Vergangenheit holt sie buchstäblich ein. Dies wird ab der Mitte der Filmhandlung deutlich, indem sich das Unheil zunächst in Form von Radiomitteilungen über Elend, Mord und Krieg abzeichnet. Auf der Suche nach einem Musiksender wird Lula von der schieren Menge und Unausweichlichkeit der Schreckensnachrichten überwältigt und schreit: »Holy shit! It’s Night of the Living fuckin’ Dead!« Der intertextuelle Verweis auf George Romeros Horrorfilm funktioniert hier einerseits auf intradiegetischer Ebene als Markierung des Einbruchs des Realen in Lulas Phantasiewelt.20 Andererseits erkennt der Zuschauer hier einmal mehr die artifizielle Selbstbezogenheit des Films und der Vorstellungswelt Lulas: Ausgerechnet ein weiterer fiktionaler Text dient hier als Referenz für reale Schrecken. Wenig später, als Sailor seiner Freundin offenbart, dass er den Mörder ihres Vaters kennt und sie während der nächtlichen Fahrt ihre Mutter als die Wicked Witch of the West aus The Wizard of Oz an ihrem Auto vorbeifliegen sieht, stellt sie fest: »We’re really in the middle of it
20 Eine vergleichbare Situation stellt Bobby Perus sexueller Übergriff dar, nach dem Lula durch das Zusammenschlagen ihrer Hacken, in einem Verweis auf The Wizard of Oz, dem Geschehen zu entkommen sucht.
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now, ain’t we?« Dies ist einerseits die Erkenntnis, dass eine Flucht nach Kalifornien ohne eine Konfrontation mit den von ihrer Mutter gesandten Verfolgern nicht mehr möglich ist, und andererseits auf strukturaler Ebene die lapidare Ankündigung, dass man nun die Mitte der Filmhandlung und somit einen Wendepunkt erreicht hat. Wie in dieser Szene verweist Wild at Heart immer wieder auf sich selbst als ein Konglomerat aus bereits bestehenden Versatzstücken, ein Konstrukt aus verschiedenen filmischen Konventionen und Phantasien. Gleichzeitig werden so zwar Genres wie das Road Movie zitiert, der Film lässt sich aber zu keinem Zeitpunkt als genuines Road Movie identifizieren, da er immer wieder auf seine eigene Künstlichkeit verweist und die Genrekonventionen verfremdend abbildet. Somit ist Wild at Heart aber auch nicht als ein reiner Autorenfilm zu betrachten; Lynchs individuelle filmische Ästhetik baut zunächst auf das Wissen des Zuschauers um eine zuvor bestehende Form und die von ihr konventionell transportierten Inhalte. Indem er etwa gezielt die Gemachtheit seines Films betont und damit auf die Künstlichkeit aller Filme verweist, verfremdet er die ›selbstverständlichen‹ Genrekonventionen und befreit sie im Sinne Šklovskijs von ihrem Automatismus. Dabei erscheint Wild at Heart als »Parallele und Antithese«21 zu anderen Road Movies und kann beim Zuschauer eine »Differenzempfindung«,22 mithin eine Irritation auslösen. Diese Schöpfung einer Differenz durch Verfremdung kommt einer Umschrift des Kontrakts mit dem Zuschauer gleich. In seinem späteren Road Movie The Straight Story hebt Lynch dieses Prinzip der Verfremdung auf eine weitere Stufe.
21 Šklovskij: Theorie der Prosa (Anm. 6), S. 35. 22 Ebd.
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4. T HE S TRAIGHT S TORY : R EVISION DES »L YNCH TOUCH « Während in Wild at Heart zwei junge Erwachsene präsentiert werden, deren Naivität sie an das durch populärkulturelle Repräsentationen vermittelte Konstrukt Amerika glauben lässt, stellt The Straight Story (1999)23 einen Protagonisten vor, der dem sich einer simulierten Scheinwelt hingebenden Paar zunächst in mancher Hinsicht konträr gegenübersteht. Alvin Straight ist ein alter gebrechlicher Mann, der schon aufgrund seiner desolaten körperlichen Verfassung, über die die Figur direkt zu Beginn des Films charakterisiert wird, dem typischen Road-Movie-Helden in keinster Weise entspricht. Sailor und Lula sind libidinöse Charaktere, deren Fahrt auf Amerikas Highways in der filmischen Darstellung immer wieder mit ihrer sexuellen Energie enggeführt wird, was nicht zuletzt in einem der visuellen Leitmotive des Films, dem entflammenden Streichholz, metaphorisch zum Ausdruck gebracht wird. Alvins Zeit des jugendlichen Aufruhrs liegt jedoch eindeutig hinter ihm; die Fahrt, die er in diesem Film unternimmt, hat eindeutig andere Konnotationen und Motive. The Straight Story unterscheidet sich nicht nur von Lynchs anderem Road Movie Wild at Heart, sondern nimmt auch im Gesamtwerk eine Sonderstellung ein, da er insbesondere im Vergleich zu seinem Vorgängerfilm Lost Highway, der die für Lynch typischen Stilmittel und Motive auf die Spitze trieb, einen Bruch mit eben diesen zum »Lynch touch« avancierten Merkmalen darstellt. Mehrfach überraschte der Film bei seinem Erscheinen damit, dass er unter anderem von den Disney Studios produziert wurde, einem Studio, das weniger für surreale, sexuell explizite Arthousefilme als vielmehr für massentaugliche Familienunterhaltung bekannt ist. Ebenso überraschend erscheint dabei, dass ein Lynch-Film von der MPAA mit einem G-Rating, also ohne Altersbeschränkung, freigege-
23 The Straight Story – Eine wahre Geschichte (1999). Regie: David Lynch. DVD. Senator Home Entertainment 2009.
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ben wurde.24 The Straight Story stellt offensichtlich eine Irritation der durch den Namen David Lynch evozierten Publikumserwartungen dar, weil sich die Vermarktung des Films mit dem als »Lynch touch« bekannten Repertoire deutlich entzieht. Der durch die Werbekampagne gestaltete Eingang in diesen Film fordert den erfahrenen Zuschauer und vermeintlichen Lynch-›Kenner‹ heraus, da offenbar mit einer Abkehr von gängigen Mustern des Filmemachens unter dem Lynch-Label zu rechnen ist. Systeme des Genrewissens werden hier insofern auf verschiedene Weise schon im paratextuellen Umfeld des Films unterlaufen. Man hat es einerseits mit einem aus dem Rahmen fallenden Lynch-Film, andererseits mit einem den Erwartungen nicht unbedingt entsprechenden Disney-Film zu tun. Auf ähnliche Weise unterläuft der Film selbst das Konventionsinventar des Road Movie, wenngleich nicht auf derart betont künstliche und parodistische Weise wie Wild at Heart. Während die Erzählstruktur des Films und vor allem die visuelle Umsetzung des Road-TripMotivs (ganz im Gegensatz zur dezidierten Ausblendung größerer geographischer Zusammenhänge in Wild at Heart wird The Straight Story von die Weite der Landschaft vermittelnden Luftaufnahmen dominiert) sich deutlich an den Konventionen des Genres orientieren, ist es gerade die Hauptfigur, der 73-jährige Alvin, der als eine für das Road Movie sehr ungewöhnliche Figur mit den Genrekonventionen bricht, die eher jüngere Figuren wie Sailor und Lula vorsehen.25 Alvin steht dem Genre gerade deswegen entgegen, weil er die Verkörperung der Immobilität ist – er ist alt, seine Hüften tragen ihn nicht mehr, seine Ausdauer ist durch ein drohendes Emphysem stark beeinträchtigt und er hat nicht einmal einen Führerschein. Hier findet sich nun ausgerechnet eine Gemeinsamkeit mit Wild at Heart: Während der Road Trip von Sailor und Lula in ein utopisch überhöhtes (und deswegen im Film auch niemals erreichtes) Kalifornien führen soll, setzt sich Alvin in den
24 Vgl. Todd McGowan: The Impossible David Lynch. New York 2007. S. 177. 25 Vgl. Laderman: Driving Visions (Anm. 12), S. 237.
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Kopf, allen ungünstigen Voraussetzungen zu trotzen und mit einem Rasenmäher eine mehrwöchige Reise zu seinem kranken Bruder zu unternehmen. In beiden Filmen ist der Trip also durch die sich allen Umständen zum Trotz gebildete Phantasie – »an absolute commitment to fantasy«, wie es Todd McGowan in seiner lacanianischen Interpretation von The Straight Story beschreibt, motiviert.26 Dementsprechend wird Alvin in der Filmhandlung nicht nur als gebrechlich und immobil, sondern auch als sich eben diesem Umstand verweigernd eingeführt: Nachdem er zu Beginn des Films nicht zu seinem Stammtisch erschienen ist, wird er von seinem Freund Bud und der Nachbarin Dorothy auf dem Boden seiner Küche liegend gefunden – er kann nicht mehr aus eigener Kraft aufstehen. »We got a stricken man here!« ruft Dorothy und will gleich Hilfe rufen, doch sowohl Alvin als auch sein gleichaltriger Freund verweigern sich den Tatsachen: »Are you stricken, Alvin?« Die gesamte Folgehandlung dreht sich um Alvins Überwindung der eigenen körperlichen Unzulänglichkeiten und ähnlich wie Sailor und Lula verfolgt er die Umsetzung einer Phantasie entgegen aller Wahrscheinlichkeit. Sailor und Lula kommen jedoch nie nach Kalifornien, weil sie zu spät erkennen, dass die Welt »wild at heart and weird on top« ist, wie Lula es in einer der Schlüsselszenen des Films in ihrer Verzweiflung ausdrückt. Alvin hingegen hat einen anderen Zugriff auf die Realität. Altersbedingt und aufgrund seiner Erfahrungen kann er sagen: »I can’t imagine anything good about being blind and lame at the same time but still, at my age I’ve seen about all of it that life has to dish out. I know to separate the wheat from the chaff, and let the small stuff fall away.« Bemerkenswert ist in dieser Aussage die Gegenüberstellung von körperlichem Verfall und mentalem Wachstum, die mit dem Alterungsprozess einhergehen. Blind und bewegungsunfähig, ermöglicht ihm seine Lebenserfahrung eine aufs Wesentliche reduzierte Sicht der Dinge. Diese Fähigkeit ist es auch, die sein waghalsiges Unternehmen prägen und dieses schließlich gelingen lassen. Die Fahrt hat in diesem Film die Funktion, einen am Lebensende stattfin-
26 Vgl. McGowan: The Impossible David Lynch (Anm. 24), S. 177ff.
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denden abschließenden Selbstfindungs- und Läuterungsprozess zu vollziehen. Alvins Ziel ist die Versöhnung mit seinem Bruder im Angesicht des nahenden Todes. Gleichzeitig begegnet er auf seinem Weg Menschen, mit denen er sein Wissen teilen kann. Seine Reise bewegt sich also in einem Spannungsverhältnis zwischen der Ungewissheit des Ausgangs seiner Reise und der Verbreitung von Lebenswissen. Aufgrund der bisherigen Feststellungen zu The Straight Story ließe sich schlussfolgern, dass Alvins Reise im Vergleich zu der von Sailor und Lula gelingen kann, weil er über einen sicheren, erfahrungsbedingten Zugriff auf die Realität verfügt, der es ihm ermöglicht, seinen Behinderungen zum Trotz über sich hinauszuwachsen, während Sailor und Lula nie Herr über sich selbst sind, sondern sich in einer fremdvermittelten Simulation von Realität zu bewegen versuchen.27 Tatsächlich aber kann auch die Darstellung des Trips durch Amerika in The Straight Story nicht als ›realistisch‹ eingestuft werden. Wie Todd McGowan bemerkt, handelt es sich bei dem im Film vermittelten Amerika ebenfalls um das Produkt einer Phantasie: »The exaggerated purity of the American heartland in the film is an index of the film’s fantasmatic distortion […]. The film’s central character commits himself to the logic of fantasy in a way that no character in another Lynch film does. Alvin Straight constructs a fantasy whereby he can travel by himself hundreds of miles […]. Alvin never deviates from his effort to realize this fantasy despite the trauma attached to it, and his commitment has a direct effect on the structure of the film.«28
Das dem Zuschauer präsentierte Amerika ist also – und dies ergibt sich auch aus der vorrangigen Fokalisierung des Films – die Phantasie Alvin Straights. Anstatt die Genrekonventionen des Road Movies als
27 Das absurde Happy End des Films widerspricht dieser Deutung nur bedingt: Nichtsdestoweniger scheitert zuvor die Reise in ein imaginiertes Kalifornien, und Sailor und Lula geben sich schließlich nur einer ins Surreale überhöhten Phantasie hin, die ihrerseits wieder ein Konglomerat aus Stereotypen und populärkulturellen Standardsituationen ist. 28 McGowan: The Impossible David Lynch (Anm. 24), S. 178.
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Scheinrealität auszustellen und seine Protagonisten daran scheitern zu lassen wie in Wild at Heart, lässt Lynch Alvin eine eigene Realität produzieren, indem er sich der Strukturelemente des Road Movie bedient. Durch die Fahrt auf dem Rasenmäher entfaltet sich ein mythisiertes Amerika, das der Zuschauer mit Alvins Augen wahrnimmt – nicht nur seinen Trip will Alvin also auf seine eigene Weise vollziehen (»I wanna finish it my own way«),29 sondern er will auch ein gewissermaßen selbsterschaffenes Amerika durchqueren.30
29 In diesem Licht erinnert diese Aussage auch an Fred in Lost Highway, der seine Abneigung gegenüber Bildaufzeichnungen folgendermaßen begründet: »I like to remember things my own way. […] Not necessarily the way they happened.« 30 Wie sehr der Stil des ›auteurs‹ Lynch von dem Spiel mit vorgegebenen Genrestrukturen wie dem des Road Movie geprägt ist, zeigt sich auf bemerkenswerte Weise auch jenseits seines filmischen Schaffens. Das 2009 von Lynchs Sohn Austin Lynch und Jason S. initiierte und von David Lynchs Firma Absurda finanzierte Online-Angebot Interview Project überträgt Prinzipien des Road Movie und stellt in diesem Sinne eine transmediale Fortsetzung des Films The Straight Story dar. Vgl. Interview Project. Regie Austin Lynch und Jason S. http://interviewproject.davidlynch.com (8. Mai 2012). Im Rahmen dieses Projekts ist ein Filmteam durch die Vereinigten Staaten gereist, um an verschiedenen Orten Zufallsbekanntschaften über ihr Leben zu interviewen. Wie David Lynch selbst in seiner Vorstellung des Projekts sagt: »Interview Project is a 20 000 mile road trip over 70 days across and back the United States. […] The team found the people driving along the roads.« Die einzelnen Interviewpartner wurden über einen mehrmonatigen Zeitraum nach und nach in Kurzfilmen präsentiert, die Tag für Tag auf der Seite hochgeladen wurden. Neben einer Kurzbiographie und einer Erläuterung der Umstände des Interviews werden die einzelnen Personen auch immer mit ihrem Heimatort assoziiert. Auf einer Karte der USA werden die einzelnen Intervieworte graphisch miteinander verbunden, um einen Eindruck vom Ausmaß dieses Road Trips zu vermitteln. Dabei wird eine Verbindung der Orte konstruiert, die ein ganz eigenes
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Mit The Straight Story geht Lynch über die mit Wild at Heart vollzogene Vertragsumschrift hinaus, indem nicht nur die als selbstverständlich akzeptierten Konventionen und Ordnungen des Road Movie verfremdet und ihrer mythischen Überhöhung überführt werden, sondern diesmal mit den Mitteln des Road Movie ein neues und für Lynch untypisches Mythenrepertoire entworfen wird. Lynch, dessen Oeuvre sich längst als ein eigenes Genre etabliert hat, eröffnet seinen Zuschauern wiederum einen neuen Vertrag, indem er nun sein eigenes Genre und die in ihm geltende Wissensordnung verfremdet – und dies paradoxerweise dadurch, dass er auf die für ihn typischen Verfremdungsstrategien weitestgehend verzichtet. Das in The Straight Story präsentierte Amerika soll vom Zuschauer ernstgenommen werden, ohne dass ihm eine Kehrseite wie etwa in Blue Velvet offenbart wird; die in diesem Film dargestellte Alltäglichkeit birgt nichts Makabres, sie ist nicht einfach nur eine Oberfläche, unter der sich längst, wie es eine der berüchtigten Kamerafahrten in Blue Velvet zeigt, der Verfall vollzieht.
Bild der Vereinigten Staaten vermittelt. Auffällig ist dabei auch, dass es sich bei der Wahl der Interviewpartner immer um betont ›gewöhnliche‹ Leute handelt, die meist in abseitigen Vororten und Dörfern, also abseits größerer amerikanischer Städte, leben. Das Projekt vermittelt also einen Eindruck vor allem vom ländlichen Amerika und gibt einen Querschnitt durch die verschiedenen Staaten, ihre Gebräuche und Dialekte. So zufällig die Auswahl der Personen und die Fahrt selbst erscheinen mögen, vermitteln sie doch eine gezielte Rekonstruktion eines ursprünglich-ländlichen Amerikas, deren Bewohner »their story« erzählen. Das Interview Project steht dabei The Straight Story insofern nahe, als dass auch hier das ländliche Amerika mit seinen bescheidenen, immer liebenswerten Bewohnern zur Darstellung kommt. Vermittels eines anderen Mediums wird hier unter dem Label Lynchs und unter Anwendung filmischer Genrekonventionen eine räumlich-kulturelle Konstruktion imaginiert, die ebenfalls eine Phantasie im Sinne Alvin Straights darstellt. Die Prämisse ist dabei, dass ein paar Dutzend Menschen und ihre individuellen Geschichten (»each one is different«) Repräsentanten dieser kulturellen Imagination sind.
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The Straight Story irritiert den Zuschauer also deswegen, weil er eben nicht wie sonst von Lynch gewohnt mit der dunklen Kehrseite konfrontiert wird – der Differenzeindruck entsteht also diesmal dadurch, dass Lynch den durch die Vermarktung seiner vorherigen Filme mit dem Zuschauer geschlossenen Kontrakt umschreibt, indem er wiederum durch Strategien der Verfremdung zwischen zwei Wissensordnungen vermittelt: In Wild at Heart hat Lynch die Wissensordnung des Road Movie seinen Verfremdungsstrategien unterworfen und die Konventionen des Genres modifiziert, während er in The Straight Story die Darstellungskonventionen des Road Movie einsetzt, um seine eigene lynchianische Wissensordnung umzugestalten.
Was in Lost Highway nicht gezeigt wird S USANNE K AUL
1. D AS S PIEL
MIT DEN
D EUTUNGSMÖGLICHKEITEN
David Lynch treibt in Lost Highway, wie auch in Mulholland Dr. und Inland Empire, ein Spiel mit den Deutungsmöglichkeiten seiner Geschichten. Audiovisuelle Leerstellen und Andeutungen erzeugen Rätsel oder Mehrdeutigkeiten, scheinen sich zuweilen sogar der Deutung zu entziehen, feuern sie in Wahrheit aber umso mehr an. Es gibt in Lost Highway an entscheidenden Stellen Ereignisse, die nicht gezeigt werden. Diese Auslassungen haben verschiedene Funktionen; sie reichen von der Kreation atmosphärischer Unheimlichkeit über das emotionale Erfahrbarmachen einer alptraumhaften Verwirrung bis hin zum metafiktionalen Sprung aus der Geschichte, durch den die Aufmerksamkeit auf die Konstruiertheit des Films und die Offenheit seiner Deutungsmöglichkeiten gelenkt wird. Beliebig sind diese jedoch nicht.
2. D ER
ANONYME
T ÜRKLINGLER
Das Rätsel um den Mann, der an Fred Madisons Tür klingelt, steht am Anfang des Films. Früh am Morgen sitzt Fred unrasiert mit ermattetem Gesichtsausdruck in seinem Haus und raucht eine Zigarette, als es an
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der Tür klingelt. Er betätigt die Sprechanlage und hört eine männliche Stimme sagen: »Dick Laurent is dead«.1 Daraufhin schaut er aus den Fenstern, kann jedoch niemanden vor der Haustür sehen. Die Straße ist, soweit er sie überblicken kann, menschenleer. Kurz vor dem Blick aus dem Fenster ist jedoch das Anlassen eines Motors, gefolgt von Polizeisirenen, zu hören. Extradiegetisch ertönt zugleich eine spannungserzeugende Musik, während die Bildlichkeit durch Dunkelheit, in diese einbrechendes Morgenlicht und eine leicht desorientierende Spiegelung von Freds Gesicht gekennzeichnet ist. Im Nachhinein mag die Verdoppelung Freds durch den Spiegel als Vorausdeutung auf seine Identitätsspaltung interpretiert werden, an dieser Stelle sind jedoch sowohl die Spiegelung als auch die Anonymität des Türklinglers zunächst nur geheimnisvolle Elemente einer Kriminalgeschichte. Trickreich und mysteriös wird das Nichtzeigen des Türklinglers erst durch das Auftauchen des lebendigen Pornoproduzenten Dick Laurent (alias Mr. Eddy), ohne dass dies narratologisch als Rückblende gedeutet werden kann, sowie durch die paradox wirkende Begebenheit gegen Ende des Films, in der Fred selbst an seiner Haustür klingelt und »Dick Laurent is dead« in die Sprechanlage sagt. Zwar sind die Szenen nicht vollkommen identisch, denn unabhängig von den verschiedenen Perspektiven geschieht auch Verschiedenes: Fred befindet sich vor der Tür, nicht im Haus, und er rast kurz darauf in Dick Laurents schwarzem Mercedes, vom Polizeiauto verfolgt, davon. Gleichwohl wird hier suggeriert, dass das Rätsel des Anfangs aufgelöst wird, indem der anonyme Türklingler sich als Fred enthüllt. Die Botschaft vom Tod Dick Laurents bekommt hier einen Sinn. Sinnwidrig ist allerdings der Umstand, dass Fred dann zugleich Sprecher und Empfänger der Botschaft wäre. Daraus ist zu folgern, dass entweder ein Zustand in der fiktiven Welt von Lost Highway angenommen werden muss, in dem übersinnliche und logisch unmögliche Dinge passieren können, oder dass Fred in der ersten Szene nicht der Sprecher der Botschaft ist. Lynch erzeugt hier eine Verwirrung, die Freds Geisteszustand für den Zuschauer
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Lost Highway (1997). Regie: David Lynch. DVD. Concorde Video 2011.
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spürbar macht. I’m deranged heißt der Titelsong David Bowies. Fred ist neben der Spur, steht neben sich, verliert, verwandelt und verdoppelt sich. Die suggerierte Verdoppelung Freds ist aber keine logisch kohärente Illustration seiner Psyche. Dann könnte sie ja gezeigt werden. Das Nichtzeigen des Türklinglers ist aber gerade der Witz. Denn dadurch wird die Bedeutung der Szenenverdoppelung in eine Verwirrung geschickt, die auf diese Weise als solche erfahrbar gemacht wird. Freds Wahnsinn und die alptraumhafte Unheimlichkeit dieser Situation sollen in ihrer radikalen Intensität emotional wahrnehmbar sein und müssen sich daher einer kognitiven Nachvollziehbarkeit entziehen.
3. D IE
MYSTERIÖSEN
V IDEOAUFNAHMEN
Das zweite Rätsel ist der Absender der Videokassetten, auf denen zunächst Außen-, dann Innenaufnahmen von Freds und Renees Haus zu sehen sind. Es werden weder der ›Postbote‹ noch der Kameramann gezeigt. Sowohl diese Anonymität als auch der Umstand, dass jemand nachts ins Haus einbricht, um das Paar schlafend im Bett zu filmen, bilden zunehmende Thriller-Elemente des Films. Die Polizei wird verständigt und inspiziert das Haus. Die scheinbare Sicherheit und Intimität des wohlhabenden Ehepaars werden radikal erschüttert. Zudem hat das Eindringen des Filmers nur diesen einen Zweck der Erschütterung, denn es wird nichts zerstört oder entwendet, stattdessen werden die Aufnahmen dem Paar aufgedrängt.2 Renee und Fred erklären der Polizei gegenüber, dass sie selbst keine Videokamera besitzen. Fred nennt den Grund dafür: »I like to remember things my own way« und erklärt weiter: »How I remember them. Not necessarily the way they happened.« Diese Reflexion auf den Zusammenhang zwischen dem Medium Film, subjektiver Erinnerung und objektiver Wahrheit steigert die in-
2
Michael Haneke greift diesen Einbruch der Unheimlichkeit ins bürgerliche Leben und dessen scheinbare Sicherheit auf, indem er in Caché (2005) das Ehepaar Laurent (!) anonyme Filmaufnahmen seines Hauses erhalten lässt.
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termediale Selbstreflexivität der Szene. Durch diesen Film im Film, dessen Rätselhaftigkeit und den medienkritischen Exkurs Freds wird eine Metafiktionalität vorbereitet, die erst durch die Figur des Mystery Man realisiert wird. Dieser erweist sich im Laufe des Films als Kameraträger, etwa als er Fred in der Wüste die Identität Renees mit Alice offenbart, sowie als jemand, der wie ein Spielmacher den Handlungsverlauf beherrscht. Er ist dabei nicht eine Figur, die sich als der Einbrecher und anonyme Filmer enthüllt, so wie sich jemand am Ende eines Krimis als Täter herausstellt. Er agiert vielmehr auf der Grenze zwischen innerfiktionaler Teufelsfigur und metafiktionaler Regiefigur.
4. D ER M ORD
AN
R ENEE
Der Mord an Renee wird nicht gezeigt. Zwar ist Fred blutverschmiert zwischen den zerstückelten Leichenteilen zu sehen und wird von der Polizei ins Gefängnis gesetzt, er bestreitet den Mord jedoch. Die Tatsache, dass der Mord nicht gezeigt wird, lässt Fragen offen. Entweder Fred ist Opfer einer Intrige oder er ist uneingestandenermaßen der Täter. Diese visuelle Auslassung wäre nun wirklich nichts weiter als ein genretypisches Krimi-Element, wenn nicht der Mord mit der Kamera des unbekannten Eindringlings gefilmt worden wäre. Einerseits ist die Beweislast drückend, zumal Freds in Farbe zwischengeschnittene eigene Erinnerung an die Tat die von ihm zuvor behauptete Differenz zwischen »remember things my own way« und »the way they happened« aufgehoben ist. Andererseits: Woran erinnert er sich? An den Leichenfund oder an den Mord? Sein schockierter Gesichtsausdruck beweist nur, dass er die Tat, wenn überhaupt, nicht kontrolliert und kalkuliert begangen hat, sondern so, als wäre er vom Teufel besessen. Die Anwesenheit des Kameramanns verweist – vom Ende des Films aus gesehen – auf den Mystery Man, der ja auch beim Mord an Dick Laurent (alias Mr. Eddy) seine Kamera und seine teuflische Hand im Spiel hat. Dort ist zu sehen, wie er Fred im Kampf mit Laurent ein Messer zuspielt, das zum corpus delicti wird. Aber Teufel hin oder her. Fest
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steht, dass der Film Fred als Mörder nahelegt – es gibt keine plausiblere Deutung –, ohne sich jedoch darauf festzulegen, ihn als Mörder zu zeigen. Das Nichtzeigen suggeriert eine vergrößerte Deutungsoffenheit für das Hauptereignis des Films: die Verwandlung Freds in Pete in der Gefängniszelle.
5. D IE V ERWANDLUNG F REDS
IN
P ETE
Die Verwandlung Freds in Pete wird gezeigt und nicht gezeigt: Gezeigt wird der Beginn von Freds Verwandlung; nicht gezeigt wird, dass am Ende Pete dabei herauskommt. Dies erschließt sich nur durch die Tatsache, dass Pete eben am nächsten Morgen in der Zelle gefunden wird sowie durch die Visionen von Pete, die Fred während seiner beginnenden Verwandlung hat. Der körperliche Teil der Verwandlung wird filmisch so dargestellt: Der auf dem Boden liegende Fred wälzt sich wild hin und her, er hält die Hände am Kopf und ist mit schaumigem Blut und »slimy artificial brainmatter« beschmiert.3 Dieser Vorgang wird von einem anschwellenden Rauschen begleitet. Außerdem schreit Fred. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers wird ganz auf seinen Kopf gelenkt, mit dem innerlich wie äußerlich Ungeheuerliches geschieht. Dies wird durch einen Vorspuleffekt, der das Kopfwälzen beschleunigt, gesteigert. Technisch realisiert das Filmteam die beginnende Verwandlung Freds durch einen »fake Fred head«,4 der mit dem Kopf des Darstellers Bill Pullman zusammengeschnitten wird. Auch Freds erneute Verwandlung am Ende des Films, als er mit Sirenenlärm von der Polizei verfolgt wird, ist ähnlich gestaltet. Die erste Verwandlung geht allerdings noch weiter. In aufwühlenden, schnellen Schnitten wird bläulich flackerndes Licht eingeblendet, in dem nichts mehr deutlich zu sehen ist. Es folgt sodann etwas Inner-Organisches, das im Kontext der
3
Stephen Pizzello: Highway to Hell. In: Richard A. Barney (Hg.): David Lynch. Interviews. Jackson, Ms. 2009, S. 170-179, hier S. 178.
4
Ebd.
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blutigen Einstellung von Fred an einen Geburtsvorgang erinnert. Dies ist die Verfilmung des im Drehbuch stehenden Satzes: »Fred Madison is becoming Pete Dayton.«5 Gezeigt wird Pete erst, als ihn die Wächter in Freds Zelle finden. Die Verwandlung endet in einer langen Schwarzeinstellung, die in eine ruhige, helle Einstellung übergeht, in der das Ergebnis von Freds Verwandlung nur in völliger Unschärfe zu sehen ist. Warum zeigt Lynch Pete an dieser Stelle nicht klar und deutlich? Will er offenlassen, ob die Verwandlung stattgefunden hat? Zwar suggeriert Lynch hier mit dieser visuellen Leerstelle eine Deutungsoffenheit. In Wahrheit hat dieses Spiel aber wieder den ästhetischen Zweck des emotionalen Erfahrbarmachens von Freds Zustand, genauer gesagt, von dem, was ihm zustößt, von der unfassbaren Ungeheuerlichkeit seiner Verwandlung, die den gesunden Menschenverstand bei Weitem übersteigt. Die Verwandlung ist die strukturelle und hermeneutische Relaisstelle von Lost Highway, denn an ihrer Deutung hängt das Verständnis des ganzen Filmzusammenhangs. Die Interpretationsangebote sind vielfältig. Der populärste Ansatz ist der, Freds Zustand als ›psychogene Fuge‹ zu erfassen, also als eine Flucht vor der Realität, die sich in Gedächtnisstörungen äußert und zur Übernahme einer anderen Identität führen kann. Auf Lost Highway übertragen hieße das, dass Fred von seinem Eifersuchtsmord an Renee derart traumatisiert ist, dass er sich in die Identität des jüngeren, sexuell erfolgreicheren Pete flüchtet.6 Der
5
David
Lynch
und
Barry
Gifford:
Drehbuch
Lost
Highway.
http://www.imsdb.com/scripts/Lost-Highway.html (1. Mai 2012). 6
Der psychologische Erklärungsansatz des Geschehens wird vom Filmvertrieb CiBy 2000 sozusagen mitgeliefert, indem er Lost Highway eine »psychogene Fuge« nennt. Vgl. Chris Rodley (Hg.): Lynch on Lynch. Revised Edition. London 2005, S. 238. Viele Interpreten schließen sich der Deutungslinie an. Beispielsweise Daniela Langer deutet Freds Verwandlung entsprechend als »dissoziative Identitätsstörung«. Daniela Langer: Die Wahrheit des Wahnsinns. Zum Verhältnis von Identität, Wahnsinn und Ge-
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Vorteil dieser Deutung ist, dass sie den Realitätsstatus der Identitäten klärt und das unerklärlich Übersinnliche der Verwandlung in eine bloße Imagination Freds von Pete bannt. So wäre die Filmhandlung realistisch, weil die dargestellte Verwandlung nur einen psychischen Zustand visualisierte. Filme, die auf ›teilweise unzuverlässig‹7 erzählte Weise Persönlichkeitsspaltungen darstellen, wie Fight Club (1999) von David Fincher, funktionieren aber anders. Sie lassen den Zuschauer über weite Strecken des Films in dem Glauben, die imaginierte Persönlichkeit existiere real, bis sie, meist zum Schluss, den psychologischen Befund z. B. der Schizophrenie offenlegen. Bei Lynch gibt es weder die Auflösung am Ende noch eine kohärente Deutungslinie, die alle Paradoxien, Übernatürlichkeiten und Ungereimtheiten des Films zu integrieren vermag. Der Film objektiviert die Verwandlung, indem er sie mit dem genretypischen audiovisuellen Aufwand eines Horrorfilms vorführt und von den Gefängniswärtern als Spuk bezeichnen lässt. Hinzu kommt, dass die Polizei Fingerabdrücke von Pete in Andys Wohnung findet. Vor allem die Figur des Mystery Man bleibt unerklärlich, wenn die Knackpunkte der Handlung hinsichtlich einer realistischen Persönlichkeitsstörung interpretiert werden, denn dieser wird ja auch von anderen Figuren als Fred wahrgenommen. Die Logik der Mystery-Man-Figur sowie die der Verwandlung entsprechen vielmehr der eines Traumes, insofern das Verschieben von Bedeutungen und Identitäten sowie das Einbrechen des Fantastischen zur Traumlogik gehören.8 Lost Highway erzeugt eine alptraumhafte Welt, ohne dass die
sellschaft in den Filmen David Lynchs. In: Eckhard Pabst (Hg.): A Strange World. Das Universum des David Lynch. Kiel 1999, S. 69-94, hier S. 88. 7
Zur Terminologie unzuverlässigen, unentscheidbaren und teilweise unzuverlässigen Erzählens, siehe Matías Martínez und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 1999, S. 95ff.
8
Bei einer Verschiebung werden nach Sigmund Freud Momente aus dem Trauminhalt »zu etwas Fremdem umgestaltet«. Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Frankfurt/Main 1977, S. 256.
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Verwandlung und deren Folgen als Traum Freds (oder gar Petes) zu deuten wären.
6. P ETE
UND DER UNBEKANNTE
M ANN
Was ist mit Pete in jener Nacht geschehen, als seine Freundin Sheila ihn zu seinen Eltern bringt? Pete kann sich nicht erinnern und die Eltern wollen es nicht sagen. Schrecken und Tränen stehen ihnen in den Augen, als sie mit ihm darüber sprechen. Was in jener Nacht geschieht, wird zwei Mal im Film gezeigt und zugleich nicht gezeigt. Zu sehen ist in beiden Szenen das Elternhaus, die Eltern stehen in der Tür, Sheila ein paar Meter weiter vorn, sie schreit angsterfüllt nach Pete. Dann rennen auch die Eltern panisch los, so als ob sie ihn zurückholen oder vor etwas Schlimmem bewahren wollten. Auffällig ist dabei die Lichtgestaltung, denn die Szene ist von Scheinwerferlicht und aufflackerndem bläulichem Blitzlicht erfüllt. Nicht zu sehen ist der fremde Mann, in dessen Begleitung Pete laut Aussage des Vaters gewesen ist. Ebenfalls nicht zu sehen ist, was Pete sieht. Er steht mit dem Rücken zu den Rufenden und schaut elektrisiert auf etwas, das die Zuschauer nicht zu sehen bekommen können, weil er annähernd in die Kamera blickt. Die Erzählperspektive ist auf Petes Horizont eingeschränkt: Was die Eltern und Sheila sehen, wird nicht dargestellt; was Pete in diesem Augenblick sieht, auch nicht. Der Zuschauer teilt nur seine brüchige Erinnerung an jene Nacht. Und in dieser brüchigen Erinnerung blitzt jener inner-organische Schlund auf, der bereits in Freds Verwandlungsvisionen vorkam und die Metamorphose selbst als Geburtsvorgang versinnbildlicht. Das Nichtzeigen des fremden Mannes und dessen, was Pete sieht, erfüllt erstens die Funktion, das Geheimnis und die Unheimlichkeit des Films zu wahren, und zweitens, die Verwirrung Petes erfahrbar zu machen. Entscheidend ist dabei jedoch etwas anderes: die Parallelität der beiden Szenen. Denn dadurch wird das, was mit Pete geschieht, audiovisuell mit den Visionen verknüpft, die Fred während seiner Verwand-
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lung in der Gefängniszelle hat. Das Geheimnis Petes von jener Nacht verweist also auf Freds Verwandlung. Und dieser Kurzschluss ist die wesentliche Funktion der beiden Szenen. Er suggeriert, dass die Verwandlung sich in jener Nacht vollzogen hat, wenngleich damit nicht zu erklären ist, was genau mit Pete geschehen ist, welche Rolle Fred dabei spielt, ob er der fremde Mann ist und wie Pete in die Zelle gekommen ist. Logisch lässt sich keine kohärente Geschichte rekonstruieren. Aber durch die audiovisuelle Spiegelung der Szenen wird eben jene Verbindung dennoch hergestellt.
7. U NBESTIMMTHEITEN , M ETAFIKTIONALITÄT UND ÄSTHETISCHE W IRKUNG Lost Highway enthält Unbestimmtheiten und lenkt den Blick zuweilen selbstreflexiv auf den Interpretationsprozess. Das macht den Film hermeneutisch reizvoll, aber nicht uninterpretierbar oder gar zu einem Sinnbild der Unausdeutbarkeit. Man muss Lynchs Unbestimmtheiten nicht mystifizieren, um sein metafiktionales Spiel mit den Deutungsmöglichkeiten filmästhetisch anerkennen zu können. Die Analyse sollte sich jedoch auch nicht auf die Rekonstruktion einer Geschichte und das Kitten der brüchigen Handlungslogik beschränken. Wer das tut, steht, wie der Filmkritiker Roger Ebert von der Chicago Sun Times es beschreibt, am Ende mit leeren Händen da: Lynch wisse, »how to put effective images on the screen, and how to use a soundtrack to create mood, but at the end of the film, our hand closes on empty air«.9 Der Clou bei Lynch ist, dass zum einen die Bedeutung seiner Fiktionen häufig in eine Metafiktionalität überführt wird. Das selbstreferenzielle Spiel mit den Fiktionsebenen beginnt ansatzweise bereits in dem früheren Film Twin Peaks. Fire Walk with Me (1992) und wird in den beiden späteren Filmen Mulholland Dr. (2001) und Inland Empire (2006)
9
Roger Ebert: Lost Highway. In: Chicago Sun Times 27. Februar 1997.
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auf die Spitze getrieben.10 Zum anderen erzielt er durch die Bildgestaltung und das Sounddesign Wirkungen, die die Bedeutungen zuweilen überrumpeln. Dies geschieht aber nicht als Effekthascherei, sondern um die Verwirrung Freds ästhetisch wahrnehmbar zu machen: Der Zuschauer soll den Alptraum, der mit Fred geschieht, nicht aus einer psychologisch reflektierten Distanz mit einer klaren kausallogischen Linie serviert bekommen, sondern gerade in seiner unübersichtlichen Brüchigkeit und Schrecklichkeit emotional erfahren.
10 Vgl. Susanne Kaul und Jean-Pierre Palmier: David Lynch. Einführung in seine Filme und Filmästhetik. München 2011.
Blinder Fleck Emotionen. David Lynchs Eifersuchtstrilogie Lost Highway, Mulholland Dr., Inland Empire J EAN -P IERRE P ALMIER
David Lynchs Filme mögen mysteriös erzählt, auf widersprüchliche Weise konstruiert und durch die Darstellung abnormer Figuren verstörend sein – sie handeln aber von einfachen und leicht nachvollziehbaren Dingen. In Eraserhead wird die Geschichte eines jungen Paares erzählt, das mit der Geburt des gemeinsamen Kindes überfordert ist; in Twin Peaks. Fire Walk with Me gibt es übernatürliche Elemente, aber das Hauptthema ist sexueller Missbrauch in der Familie; die Eifersuchtshandlungen in Lost Highway und Mulholland Dr. münden je in einem Mord; die ebenfalls tödlich ausgehende Eifersuchtserzählung Inland Empire illustriert, wie Hollywood seine Geschichten, die von Liebe und Eifersucht handeln, aus dem Leben greift. Auch wenn die Art des Erzählens in diesen Filmen die Rezeption grundlegend erschwert, ist das Erzählte eindeutig und wenig komplex, so wie die Geschichten in Lynchs übrigen, widerspruchsfrei erzählten Filmen: Blue Velvet handelt von einem jungen Mann, der sich zu Verbotenem hingezogen fühlt, Wild at Heart von einem jungen und wilden Pärchen auf der Reise, The Straight Story von einem alten Mann auf der beschwerlichen Fahrt zu seinem Bruder. Wie diese beiden Roadmovies sind
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auch The Elephant Man und Dune Genre-Filme: ein Melodram mit Gruselelementen und ein epischer Science-Fiction-Film. Nicht die Geschichten selbst, sondern wie sie erzählt werden, wirft Verständnisfragen auf. Während die Lynch-Forschung nachdrücklich die mangelnde Interpretierbarkeit insbesondere der hier zu besprechenden drei Filme betont,1 gerät ihr die Eindeutigkeit des Erzählten selbst in der Regel aus dem Blick. Dies verwundert umso mehr, als an die erzählten Geschichten starke Emotionen geknüpft sind, die anscheinend mit einer widersprüchlichen Darstellungsweise vereinbar sind, im Verstehensprozess, der von kognitiven Enträtselungsversuchen geprägt ist, aber ausgeblendet werden. Die Emotionen spielen sich einerseits auf inhaltlicher Ebene ab, als Emotionen der Figuren, die deren Meinungen und Absichten verraten und auf diese Weise die Handlung erklären. Andererseits greifen die Emotionen auf die Zuschauer über, derart, dass die Emotionen, von denen gehandelt wird, nacherlebt werden, aber auch in der Weise, dass die audiovisuelle Darstellung Emotionen hervorruft, die sich grundlegend von den Emotionen der Figuren unterscheiden, aber gleichfalls zum Verständnis der Handlung beitragen. Und da die irritierende filmische Erzählweise den Zweck hat, die Aufmerksamkeit auf die audiovisuelle Präsentation zu lenken,2 wird der Emotionalisierung durch audiovisuelle Darstellungsmittel eine zentrale Bedeutung beigemessen. Weil die Emotionalisierung des Zuschauers inhaltlich mit dem Erzählten verknüpft ist, werden die kognitiven und körperlichen Bestandteile der Emotionen zu entscheidenden Verständnisfaktoren. Dies gilt im Besonderen für die drei genannten Filme, die, weil sie erheblich inkonsistent und inkohärent erzählt sind, zu Lynchs am
1
Lost Highway (1997). Regie: David Lynch. DVD. Concord Video 2011; Mulholland Drive – Straße der Finsternis (2001). Regie: David Lynch. DVD. Concorde Video 2002; Inland Empire (2006). Regie: David Lynch. DVD. Euro Video 2009.
2
Hierzu grundlegend Susanne Kaul und Jean-Pierre Palmier: David Lynch. Einführung in seine Filme und Filmästhetik. München 2011, S. 15-20.
B LINDER FLECK E MOTIONEN
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schwersten zugänglichen Filmen zählen, obschon niemand leugnen würde, dass sie erstens von starken Emotionen handeln und zweitens starke Emotionen im Zuschauer hervorrufen.
W IE
IN L OST H IGHWAY , M ULHOLLAND UND I NLAND E MPIRE ERZÄHLT WIRD
DR.
Die Erzähltheorie hält mit der Kategorie des unzuverlässigen Erzählens ein Instrument bereit, mit dem sich die Widersprüche, die etwa das Erzählen in den drei Filmen hervorruft, auf pragmatische Weise einebnen lassen, indem das dargestellte Geschehen als Traum oder (krankhafte) Einbildung einer zentralen Figur entlarvt wird und die erzählte Welt somit den Charakter der Stabilität und Möglichkeit3 erhält.4 In den drei Filmen gibt es hierfür allerdings keine inhaltlichen oder audiovisuellen Belege. Träume werden bei Lynch in der Regel klar als solche markiert
3
Zur Terminologie, vgl. Matías Martínez und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 1999, S. 128-132.
4
So u.a. Daniela Langer: Die Wahrheit des Wahnsinns. Zum Verhältnis von Identität, Wahnsinn und Gesellschaft in den Filmen David Lynchs. In: Eckhard Pabst (Hg.): A Strange World. Das Universum des David Lynch. Kiel 1999, S. 69-94, hier S. 88; Charles Martig: Lynchville. Selbstbezüglichkeit und Irrealisierung im Werk von David Lynch In: Ders. und Leo Karrer (Hg.): Traumwelten. Der filmische Blick nach innen. Marburg 2003, S. 149-168, hier S. 160ff.; Fabienne Liptay: Auf Abwegen – oder wohin führen die Erzählstraßen in den »Roadmovies« von David Lynch? In: Dies. und Yvonne Wolf (Hg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München 2005, S. 307-323, hier S. 318f.; Todd McGowan: The Impossible David Lynch. New York 2007, S. 194219; Greg Olson: David Lynch. Beautiful Dark. Lanham 2008, S. 665 und Allister Mactaggart: The Film Paintings of David Lynch. Challenging Film Theory. Bristol 2010, S. 154, 158.
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und von der innerfilmischen Realität abgegrenzt: In Eraserhead starrt Henry beispielsweise träumend in den Heizkörper und in Lost Highway erwacht Fred aus einem Alptraum, von dem er Renee erzählt. Die Zuschreibung erzählerischer Unzuverlässigkeit setzt die Annahme einer stabilen erzählten Welt voraus – charakteristisch für die erzählten Welten in den drei Filmen Lynchs ist aber, dass sie instabil und sogar logisch unmöglich sind, das heißt, es geschehen Dinge, die nicht nur den bekannten physikalischen Gesetzen, sondern auch der Logik trotzen. In Lost Highway besitzt die Figur des Mystery Man übernatürliche Fähigkeiten, da sie sich etwa an zwei Orten gleichzeitig aufhält und wie Mephistopheles in Goethes Faust einen Identitätswechsel initiiert.5 Die Existenz des Mystery Man stellt allerdings weder die Möglichkeit noch die Stabilität der erzählten Welt in Frage; ebenso wenig die Verwandlung von Fred in Pete. Erst die doppelte Identität von Renee und Alice, die sinnbildlich auf einem Foto dokumentiert wird, das erst beide, dann nur eine von ihnen zeigt, sowie der unlogische Zeitsprung am Ende des Films verleihen der erzählten Welt ihren unmöglichen Charakter. Lost Highway ist daher mimetisch unentscheidbar6 erzählt. Gleiches gilt für Mulholland Dr. und Inland Empire, in denen das Erzählte keine übersinnlichen Elemente enthält und in denen ebenso wenig wie in Lost Highway Großteile des Erzählten als Traum oder Imagination einer Figur erklärt werden können. Die Widersprüche sind Bestandteil der erzählten Welt: Es sind logisch unmögliche erzählte Welten. Etwa hat
5
Der Mystery Man ist insbesondere durch seine Kameraarbeit auch eine Art Spielleiter und vereint in sich metafiktionale Elemente, sodass sein Handeln nicht allein intradiegetisch motiviert und erklärt wird.
6
Zum mimetisch unentscheidbaren Erzählen, vgl. Martínez und Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 3), S. 103f. Im Falle mimetisch unentscheidbaren Erzählens ist »hinter der Rede des Erzählers [k]eine stabile und eindeutig bestimmbare erzählte Welt erkennbar«, sodass der Eindruck der Unzuverlässigkeit »unaufgelöst bestehen bleibt und sich in eine grundsätzliche Unentscheidbarkeit bezüglich dessen, was in der erzählten Welt der Fall ist, verwandelt«. Ebd., S. 103.
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Diane in Mulholland Dr. etwas von ihrer Nachbarin geliehen und verstirbt – als sich die Nachbarin die Leihgaben zurückholt, lebt sie jedoch wieder. In Inland Empire schläft die Schauspielerin Nikki mit Bill, der Rolle (!) von Devon. Bill nennt Nikki dabei Sue – Sue ist die Rolle von Nikki –, und als Nikki von den Dreharbeiten erzählt, reagiert er mit Unverständnis. Durch diese Überblendung von Film und Film im Film wird die erzählte Welt von Inland Empire logisch unmöglich. Wer das Film- als Traumgeschehen deuten möchte, muss bei Inland Empire noch umfangreichere Zusatzannahmen treffen als bei Mulholland Dr., für den diese Deutungsvariante nun exemplarisch zurückgewiesen werden soll. Die These, die Filmrealität offenbare sich mit dem zweiten, etwa 25-minütigen Teil als Bettys Traum, kann sich einzig auf eine inkohärente Einstellung zu Beginn des Films stützen, in der die Kamera über ein Bett streift und in ein Kissen sinkt, was von Atemgeräuschen begleitet wird. Ansonsten gibt es keine Hinweise auf eine interne Fokalisierung. Dies widerlegt die Traumthese allerdings noch nicht, da eine interne Fokalisierung ohne Zuhilfenahme sprachlicher Elemente im Film nur inhaltlich-kontextuell hinreichend angezeigt werden kann.7 Selbst die zahlreichen Nebenstränge des ersten Teils stünden einer Deutung des Geschehens als Traum nicht entgegen, da sich noch das Unwahrscheinlichste träumen lässt. Eine solche Auslegung verleiht der Handlung logische Kohärenz, reduziert den Film aber inhaltlich, indem sie ihm ein unpassendes erzähllogisches Korsett schnürt: Eine Handlung mit Nebensträngen, die nicht nur glaubwürdig, sondern audiovisuell alles andere als traumartig inszeniert ist, soll ein Traum sein – obwohl Traumsequenzen bei Lynch immer auffällig markiert werden. Eher lassen sich beide Abschnitte, auch wenn sie lo-
7
Vgl. hierzu Jean-Pierre Palmier: Transmediale Erzähltheorie und ihre Bedeutung für Literatur- und Filmwissenschaft. In: Lothar van Laak und Katja Malsch (Hg.): Literaturwissenschaft – interdisziplinär. Heidelberg 2010, S. 71-87, hier S. 83.
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gisch unvereinbar sind, als Realität in der erzählten Welt begreifen:8 Die erzählte Welt ist eben logisch unmöglich. Eine Interpretation des Films muss nicht in der Auflösung seiner Widersprüche bestehen – vielmehr können die Widersprüche als solche innerhalb der erzählten Welt anerkannt und auf ihre Bedeutung hin untersucht werden.
W AS IN L OST H IGHWAY , M ULHOLLAND D R . UND I NLAND E MPIRE ERZÄHLT WIRD Die Scharnierstelle, die in Lost Highway auf rätselhafte Weise den ersten mit dem zweiten Filmabschnitt verknüpft, ist der Eifersuchtsmord von Fred an Renee. In den ersten Minuten des Films wird Fred als in sich gekehrter und unzufriedener Ehemann gezeigt, den die Eifersucht packt, wenn er nachts seinem Beruf nachgeht und Saxofon in Clubs spielt. Als er nach einem Auftritt zu Hause anruft, wo niemand abnimmt, setzt eine tiefrote Einstellung seine quälende Eifersucht in Szene. Gleichzeitig drückt die Farbgestaltung Freds brennendes sexuelles Verlangen aus, dem etwas später nachgegeben wird, wenn er mit Renee schläft. Das Eifersuchtsmotiv wird durch eine Erinnerungs- oder Fantasieeinstellung in diese Szene hineingetragen, weil sich Fred, während Renee sich auszieht, ausmalt, wie sie in männlicher Begleitung (die dem Zuschauer später als ihr Bekannter Andy präsentiert wird) den Club verlässt, in dem er gespielt hat. Die Beischlafszene wirkt insbesondere durch die auditive Untermalung bedrohlich. Allgemein er-
8
Vgl. auch Eva Laass: Krieg der Welten in Lynchville. Mulholland Drive und die Anwendungsmöglichkeiten und -grenzen des Konzepts narrativer UnZuverlässigkeit. In: Jörg Helbig (Hg.): »Camera doesn’t lie«. Spielarten erzählerischer Unzuverlässigkeit im Film. Trier 2006, S. 251-281, hier S. 277, die eine »gleichberechtigte Parallelität der präsentierten fiktionalen Welten« ausmacht, unter denen sich keine Aufteilung in objektive und subjektive Darstellung vornehmen lasse.
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zeugt die Darstellung des Hauses im ersten Filmteil eine unheimliche Atmosphäre: Die unterbelichteten und kontrastarmen Bilder der verwinkelten Flure illustrieren einerseits die psychologische Abgründigkeit der Figuren und evozieren andererseits eine allgemeine Atmosphäre der Bedrohlichkeit, die das verhängnisvolle Ende dieses inhaltlichen Abschnitts ankündigt. Als der Mord geschehen ist, findet sich Fred im Gefängnis wieder, wo er sich in seiner Zelle eines Nachts in Pete verwandelt. Hierbei handelt es sich nicht um eine Traum- oder Einbildungssequenz, da mit dem genreüblichen Aufwand eines Horrorfilms gezeigt wird, wie sich Fred in Pete verwandelt. Das Drehbuch macht dies explizit: »Fred Madison is becoming Pete Dayton«.9 Am folgenden Tag holen Petes Eltern ihren Sohn ab, da sich die Gefängnisleitung das Vorkommnis nicht erklären kann. Der zweite Filmabschnitt spielt sich folglich nicht in unzuverlässiger Erzählform in Freds Gedanken ab, sondern geschieht, mit all seinen Widersprüchen, real in der erzählten Welt. Die Figur des Mystery Man bricht während des ersten Filmteils in das Leben der Madisons ein und dokumentiert den Mord, den Fred an Renee verübt, auf Video. Dass sich Fred hieran nicht erinnert oder dass die Tat, als er das Video ansieht, blitzlichtartig in seinem Kopf aufflackert, kann durchaus mit einem Gedächtnisverlust oder einer Persönlichkeitsstörung in Verbindung gebracht werden – auch wird hier buchstäblich ausgedrückt, dass Fred krank vor Eifersucht ist. Jedenfalls erscheint der Mystery Man, der von sich behauptet, von Fred eingeladen worden zu sein, weil er dort nicht erscheine, wo er nicht gewollt sei, als Regisseur nicht nur der Videos, sondern auch der Tat selbst, die er nicht ausführt, aber inszeniert. Teil des teuflisch anmutenden Paktes ist Freds Flucht in einen neuen, attraktiven Körper. Der sexuelle Hintersinn dieses Paktes ist die erneute Inbesitznahme von Renee. Dass an der Wende vom zweiten zum dritten Filmabschnitt schließlich deren Identität mit Alice behauptet wird, gehört zu den lo-
9
David
Lynch
und
Barry
Gifford:
Drehbuch
Lost
http://www.imsdb.com/scripts/Lost-Highway.html (8. Mai 2012).
Highway.
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gischen Widersprüchen des Films, die sich nicht mit einer übernatürlichen Auslegung des Geschehens erklären lassen. Gleichwohl kann dieser Widerspruch als Sinnbild ausgelegt werden: Alice wird schließlich wie Renee von der Schauspielerin Patricia Arquette verkörpert, sodass Alice als buchstäbliche Ausgestaltung von Renees Nacht-Identität erscheint. Dies wird auch dadurch nahegelegt, dass Alice und Renee in der gleichen Wortwahl die Geschichte ihres ersten Treffens mit Andy erzählen, sowie durch eine Fotoaufnahme, auf der in Gegenwart Petes beide, später in Gegenwart der Polizisten bloß Renee zu sehen ist.10 Einerseits ist es widersprüchlich, dass Fred seine Frau tötet, sie aber später in der Aufmachung von Alice wiedertrifft. Andererseits wird hier auf eine die Logik strapazierende Weise erzählt, wie Fred sich erneut um die Zuwendung der Frau bemüht, deren Zuwendung ihm abhandengekommen ist – die Möglichkeit hierzu erhält er im Rahmen eines unmoralischen übernatürlichen Paktes gerade durch den Mord an seiner Frau. Vor diesem Hintergrund wird auch Alices Aussage verständlich, dass Pete beziehungsweise Fred sie niemals besitzen werde, kurz nachdem sie als betörende Sirene inszeniert worden ist und Pete durch die Auflösung des Paktes in Fred zurückverwandelt wird. Wie sich Pete und Alice im zweiten Teil ineinander verlieben, erzählt nun aber auch die Vorgeschichte des ersten Teils und unterfüttert ihn mit narrativer Plausibilität, weil es auch die Geschichte von Renee und Fred ist, die erzählt wird (denn es handelt sich ja bei Renee um einen Teil von Alice und bei Pete um einen Teil von Fred). Was nun aber die Einsicht in die narrative Verknüpfung des Paktes, des Mordes, der Verwandlung, der Werbung und des erneuten Scheiterns allererst ermöglicht, ist die Inszenierung des ersten Filmteils unter den emotionalen Vorzeichen der Eifersucht. Die Gruselelemente sind nicht allein übernatürlich motiviert – diese Deutungsperspektive wird ja auch erst
10 Ob der Blick auf das Foto intern fokalisiert ist oder nicht, macht hier inhaltlich keinen Unterschied: Die Einrahmung von Alice und Renee in Petes Gegenwart ist Ausdruck des wiederholten sexuellen Kampfes, den Fred als Pete führt.
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mit dem Auftreten des Mystery Man eröffnet –, sondern sie sind psychologischer Ausdruck der von tiefem Misstrauen geprägten Beziehung der Eheleute. Da die Erzählperspektive an Fred geknüpft ist, ist die Wahrnehmungsperspektive des Zuschauers die des Misstrauens und der Eifersucht. Bevor Fred sich auf in den Club macht, fragt er Renee etwa nach ihren Plänen für den Abend und stützt sich dabei mit dem Arm über ihr an der Wand ab, worin die sexuelle Inbesitznahme und die Bereitschaft zur Gewalt vorgezeichnet sind. Die bedrohliche Geste wird vom Zuschauer vor dem Hintergrund von Freds Eifersucht gedeutet – andere Erklärungsansätze liefert der Film nicht. Der Mord kommt somit nicht überraschend, und dass Fred seine Tat abstreitet, ist nicht glaubhaft. Auch die erzähllogischen Widersprüche in Mulholland Dr. lassen sich sinnbildlich ausdeuten. Beispielsweise die Namensverwirrung (Naomi Watts spielt im ersten Teil Betty, im zweiten Teil Diane Selwyn, die Liebeskummer hat wegen Camilla Rhodes, die von Laura Harring dargestellt wird, die im ersten Teil Rita spielt, während Camilla Rhodes dort der Name einer Schauspielerin ist, die von jemand anders verkörpert wird) deutet zunächst auf das Grundthema des Films hin: die Schauspielerei. Naomi Watts (Betty/Diane) und Laura Harring (Rita/Camilla) spielen je zwei Rollen, von denen je eine die einer Schauspielerin ist, die weitere Rollen spielt. Zwar verwirren die Namenswechsel und die widersprüchliche Entwicklung der Geschichte, aber ein konsistentes Seherlebnis wird dadurch erzeugt, dass es eine hiervon abgelöste emotionale Entwicklung gibt, die kohärent ist, weil sie an die beiden Frauenkörper gebunden ist. Die Handlung des Films kann so verstanden werden, dass er von zwei Frauen erzählt, die – in allen Facetten ihrer Persönlichkeit – von Naomi Watts und Laura Harring verkörpert werden. Damit erhält die Handlung eine logische und emotionale Stringenz, und diese scheint der Zuschauer unbewusst und unabhängig von den Irrwegen der Erzählung wahrzunehmen. Der erste Abschnitt, der mit etwa vier Fünfteln der Erzählzeit einen Großteil des Films ausmacht, zeigt, wie sich die beiden Frauen kennenlernen und
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verlieben – der zweite Teil, wie sie sich entfremden und hassen lernen, weil eine von ihnen untreu und die andere deswegen so eifer- und rachsüchtig wird, dass sie einen Mord in Auftrag gibt. Ähnlich wie in Lost Highway ergänzen sich die Filmteile unabhängig von der vorgegebenen und widersprüchlichen narrativen Logik zu einer alternativen, am Körperlichen orientierten linearen und plausiblen Geschichte. Selbst wenn der Zuschauer sich über die logischen Ungereimtheiten den Kopf zerbricht, nimmt er die emotionalen Implikationen der Geschichte wahr, die desto stärker in den Vordergrund treten und zum Verständnis der Handlung beitragen, je eher von dem Versuch abgesehen wird, deren Verwirrnisse logisch aufzulösen. Wie für Lost Highway gilt hier: Das unentscheidbare Erzählen lenkt allererst die Aufmerksamkeit auf die audiovisuelle Präsentation, die uns viele kohärente und konsistente Informationen gibt, aus denen sich eine Handlung konstruieren lässt, die sich als Alternative zu der vorgegeben zeitlichen Ordnung der Geschichte versteht. Das Kennenlernen und Verlieben der beiden Frauen jedenfalls, das im ersten Teil gezeigt wird, entwirft die emotionale Plausibilität, auf deren Basis im zweiten Teil die Eifersucht ausagiert wird. Die Kausallogik der Geschichte in Mulholland Dr. lautet also: Kennenlernen, Verlieben, Untreue, Eifersucht, Mord, Selbstmord. Die narrative Dynamik der Eifersucht bringt die Geschichte in Gang und vermittelt dem Zuschauer den Eindruck, etwas vom Film verstanden zu haben und von ihm bewegt worden zu sein, ohne doch im Ganzen angeben zu können, wie der Film in seiner Widersprüchlichkeit nun zu erklären sei. Der emotionale Zugang zum Film wird durch die Präsentation eines emotionalen Schlüsselszenarios11 eröffnet, das den Zuschauern aus vielen Geschichten – eigenen,
11 Der Begriff stammt von Ronald de Sousa. Schlüsselszenarien (›paradigm scenarios‹) sind für ihn ›fixierende Dramen‹, die die Rollen, Empfindungen und Reaktionen für Emotionen vorgeben. Sie werden zwar individuell ausgeprägt, aber auf soziokultureller Basis erlernt. Vgl. Ronald de Sousa: Die Rationalität des Gefühls. Frankfurt/Main 1997, S. 12, 298-302. Einschlägig hierzu auch Christiane Voss: Narrative Emotionen. Eine Untersuchung
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fremden oder fiktionalen – hinreichend vertraut ist. Die Unvollständigkeit und Widersprüchlichkeit der Präsentation stellt dabei die intellektuelle und emotionale Aufmerksamkeit und Teilnahme der Zuschauer sicher, denen abverlangt wird, die Handlung aus eigener Kraft geradezurücken. Die Metafiktionalität verweist dabei ununterbrochen auf die stereotypen Grundzüge der Geschichte. Gerade die Austauschbarkeit der Namen und das Rollenhafte der Figuren deuten auf das Paradigmatische der Geschichte und der behandelten Emotionen hin. Liebe und Eifersucht stellen – insbesondere in Hollywood – Modellgeschichten dar, die feste Rollen bereithalten, die wechselnd besetzt werden. Viel stärker als Lost Highway bedient sich Mulholland Dr. selbstbezüglicher Elemente, die auf die Konstruiertheit des Films verweisen. Die Selbstbezüge sind nicht nur inhaltlich, sondern auch technisch: Etwa werden die Produktionsumstände des Films im Film thematisiert. Mehrfach wird beispielsweise die Bedeutung der Kadrierung für die Illusionsbildung hervorgehoben, so beim Dreh einer fiktiven Tonaufnahme, als die Kamerarückfahrt das Tonstudio als Filmsetting im Film entlarvt, oder während des Vorsprechens von Betty, das durch die Inszenierung seinen gespielten Charakter verliert und gerade wegen seiner vermeintlich authentischen emotionalen Aufladung verstört. Der Film hinterfragt grundsätzlich das Verhältnis von Illusion und Emotionen und verortet die medienspezifische erzählerische Kraft des Kinos
über Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Emotionstheorien. Berlin, New York 2004, insbesondere S. 181-223, hier S. 219: »Das strukturelle Verständnis emotionaler Szenarien, das uns als Deutungsfolie auch neuer emotionaler Erfahrungen dient, gewinnen wir aus einem abstrahierenden Querschnitt der vielen emotionalen Interaktionen, mit denen wir in Erzählungen, Spielen, Filmen, Berichten und vor allem in Begegnungen im Laufe unseres Lebens konfrontiert werden. Nur weil wir gerade von den Details einer konkreten emotionalen Besetzung und Erfahrung abstrahieren, können wir verschiedene, auch unkonventionelle Begebenheiten gleichermaßen unter die generalisierten Narrative von z. B. ›Eifersucht‹, Neid‹ [sic] oder ›Furcht‹ subsumieren.« Vgl. speziell zur Eifersucht, ebd., S. 217-221.
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in seiner Fähigkeit zur Emotionalisierung durch audiovisuelle Gestaltung, indem einerseits die Illusion bewusst erzähllogisch gebrochen, andererseits aber gezeigt wird, dass die Emotionen der Zuschauer hiervon nicht beeinträchtigt werden. In der metafiktionalen Schlüsselszene im Club Silencio werden Betty und Rita im Angesicht der Bühnenillusion durch die Emotionen gejagt (Betty wird buchstäblich durchgeschüttelt – hier ist nicht etwa ein Poltergeist am Werk, sondern sinnbildlich wird die aufrührende Kraft der Kunst vorgeführt) und auch der Zuschauer wird durch die Darbietung von Rebekah Del Rio, die in Großaufnahme gezeigt wird, ergriffen, obschon es sich lediglich um Playback handelt, wie der Vorführer unentwegt offenbart. Die distanzierenden Effekte der illusionsbrechenden Mittel bleiben angesichts der emotionalisierenden Kraft der Audiovisualität wirkungslos. Auch Erzählbrüche beeinträchtigen die emotionalisierende Kraft einer trickreichen audiovisuellen Gestaltung nicht. All dies führt die metafiktionale Szene vor, die als Metapher für den gesamten Film verstanden werden kann: Sie zeigt, wie mit künstlichen Mitteln emotionale Gegenwärtigkeit erzeugt wird, denn über die Publikumssituation werden Betty und Rita mit dem realen Zuschauer identifiziert. Die Emotionen sind aber nicht als reflexhafte und gedankenlose Reaktionen des Zuschauers zu verstehen, sondern sie sind mit konkreten kognitiven Inhalten verknüpft und tragen hierdurch entscheidend zum Verständnis der Filmhandlung bei, etwa indem die düstere Darstellung des zweiten Filmteils als Ausdruck von Bettys enttäuschter und erschütterter Psyche miterlebt wird, die zu dem Auftragsmord an Camilla und zu dem Selbstmord führen. Die Einsicht in die Verzweiflung Dianes wird durch die Ereignisse des ersten Filmteils ermöglicht, der die Mechanismen des Verliebens beschreibt. Die Entfaltung der emotionalen Implikationen der Handlung orientiert sich an Sicht-, Hör- und Fühlbarem, nicht an (chrono)logischer Ordnung. Mehr noch: Die Bedeutung des ausschließlich Rationalen und Nicht-Fühlbaren wird vom Film geradezu zurückgewiesen, ohne dass gänzlich auf eine narrative Ordnung verzichtet würde – diese ergibt sich eben wesentlich aus der Handlungs- und Figurenkonstellation der Eifersucht.
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Dieser filmische Rezeptionsprozess lässt sich treffend mit den phänomenologischen Beobachtungen fassen, die Christiane Voss über die Rezeptionssituation im Kino angestellt hat. Nach Voss werden die Emotionen, die der Film im Zuschauer ausgelöst hat, von diesem auf die erzählte Geschichte rückbezogen, das heißt in deren Kontext plausibilisiert, womit er zum Leihkörper des Films wird: Durch seine Empfindungen entstehe ein Realitätseindruck vom Leinwandgeschehen, sodass »der Zuschauer phänomenal im Rückschlageffekt weniger sich selbst [erlebt], als vielmehr das Leinwandgeschehen als seinerseits verlebendigt, und in diesem Sinne als echt und wirklich«.12 Nicht nur durch die inhaltliche Einbindung, sondern durch den Realitätseffekt selbst werden die eigenen Empfindungen plausibel gemacht: »Das Leinwandgeschehen wird somit zum thematischen Bezugsobjekt des Verständnisses auch der eigenen somatisch-synästhetischen Reaktionen.«13 Auch kognitiv wird der Zuschauer an der Filmerzählung beteiligt: »Was er als Co-Autor und Leihkörper während einer Filmbetrachtung an heterogenem Material narrativ zu synthetisieren hat, sind ja zum Teil die Vorgaben des Filmplots und zu anderen Teilen seine auf den Plot bezogenen Erfahrungen, Erinnerungen, Assoziationen und somatischen Regungen.«14 Umso bedeutender erscheinen also die eigenen körperlichen Reaktionen und kognitiven Einlassungen, wenn die Filmerzählung selbst unvollständig, widersprüchlich oder unzusammenhängend ist. An Erzähl- und Illusionsbrüchen übertrifft Inland Empire die beiden anderen Filme um ein Vielfaches. Lynchs erster ohne Drehbuch reali-
12 Christiane Voss: Narrativität, Emotion und kinematografische Illusion aus philosophischer Sicht. In: Anne Bartsch, Jens Eder und Kathrin Fahlenbrach (Hg.): Audiovisuelle Emotionen. Emotionsdarstellung und Emotionsvermittlung durch audiovisuelle Medienangebote. Köln 2007, S. 312329, hier S. 319. 13 Ebd., S. 326. 14 Ebd., S. 328.
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sierter Film thematisiert wie Mulholland Dr. das gegensätzliche Verhältnis von Illusionsbildung und Emotionalisierung. Es geht in sämtlichen Erzählebenen um gefährliche triadische Konstellationen der Eifersucht: Sowohl in der Realität der erzählten Welt, in der ein Film gedreht wird, als auch im Film im Film, sowohl in dem umfangreichen Monolog15 als auch in den polnischen Episoden. Die starke Emotionalität der Geschichten wird von Anfang an mit ihrer fehlenden Originalität in Verbindung gebracht und auf wiederkehrende, funktionale Erzählmuster zurückgeführt. Die Nachbarin erzählt der Filmschauspielerin Nikki Grace am Anfang von Inland Empire zwei Geschichten – genauer, eine alte Geschichte und deren Variation – und hat damit eine prophetische und metafiktionale Kommentierungsfunktion, denn auch der Film im Film ist laut Auskunft des Regisseurs bloß das Remake eines Films, der nie fertiggestellt wurde. Angeblich lastete über diesem ein Fluch, und hier deutet sich bereits an, was im späteren Filmverlauf vorgeführt wird: Die Fiktion greift auf die Realität über. Nikki Grace wird von dem Filmprojekt so vereinnahmt, dass sie nach kurzer Zeit Realität und Fiktion nicht mehr unterscheiden kann. Während der Aufnahme eines Gesprächs mit ihrem Filmpartner verkündet sie zur Überraschung der Filmcrew und des Zuschauers, dass sich ihr Dialog anhöre wie eine Zeile aus dem Drehbuch. Kurz darauf kommt es zu der bereits erwähnten Beischlafszene, in der die Identitäten von Nikki und Sue – der Rolle, die sie spielt – überblendet werden. Auf logisch unmögliche Weise verschmelzen hier die Erzählebenen zu einem komplexen dreifachen Sinnbild: Erstens wird gezeigt, wie sich ein Schauspieler mit seiner Rolle identifiziert; zweitens wird die fehlende emotionale Trennschärfe zwischen Realität und Fiktion unter Beweis gestellt; drittens wird vorgeführt, welche illusionistische Kraft vom Kino ausgeht.
15 Der 70-minütige Monolog Laura Derns war als Internetprojekt geplant, ist dann aber zum Ausgangspunkt für weitere Szenen geworden, weil Lynch das Material für das Internet zu hochwertig fand, und hat zu großen Teilen Einzug in den fertigen Film erhalten.
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Die Überblendung von intra- und extradiegetischer Erzählebene drückt zum einen aus, dass die in Hollywood erzählten Geschichten aus dem Leben gegriffen sind. Zum anderen zeigt sie, wie die Inszenierung der Geschichten das emotionale Erleben in der Wirklichkeit beeinflusst, so als würden Emotionen im realen Leben nach filmischen Beispielen modelliert. Die Emotionalisierung des Zuschauers wird in Inland Empire, wie in Mulholland Dr., auf illusionsbrechende Weise thematisiert: Insbesondere am Anfang und am Ende des Films wird etwa das ›Lost Girl‹ eingeblendet, das gerührt und gebannt auf einem Fernseher Szenen aus Inland Empire ansieht und hierdurch mit dem Zuschauer identifiziert wird. Am Ende tritt Laura Dern ihr gegenüber, um sie zu küssen, wobei sie in sich die verschiedenen Figurenrollen und die Rolle als Schauspielerin vereint. Hier wird bildhaft ausgedrückt, dass die fiktive Zuschauerin – und damit der reale Zuschauer, auf den sie verweist – vom Schicksal der Figur und ihrer Schauspielleistung berührt wird. Die Frauen erscheinen in der innigen Umarmung wie ein einziger Körper, womit auf die Identifikationsprozesse der Rezeption angespielt wird. Zudem übernimmt das ›Lost Girl‹ in Inland Empire weitere Rollen und erkennt sich buchstäblich in den Filmfiguren wieder. Ähnlich wie für Aristoteles in der Poetik die Ähnlichkeit der Figuren mit dem Zuschauer beziehungsweise Leser die Voraussetzung für die Evokation von Mitleid ist, wird sie hier durch die metafiktionale Rahmung zur Voraussetzung für die Emotionalisierbarkeit der Zuschauer erklärt. Zwar wird die Eifersuchtsgeschichte durch die Vielzahl an Figuren, auf die sie in narrativen Bruchstücken verteilt wird, abstrahiert, aber sie büßt ihren erklärenden Charakter hierdurch keineswegs ein, denn sie gehört zu den wenigen kohärenten Informationen, mit denen Inland Empire aufwartet. Der Eifersuchtsmord von Billys Ehefrau an Sue mündet in eine exponierte metafiktionale Szene, die die Filmhandlung im Film durch eine Kamerarückfahrt beendet, die das Filmset ins Bild bringt und das Geschehene als intradiegetische filmische Konstruktion offenbart. Wie in Mulholland Dr. wird hier die
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Bedeutung der Kadrierung für die Illusionsbildung hervorgehoben,16 sodass der Eindruck entsteht, dergleichen Morde geschähen nur im Film. Abschließend inszeniert der Film jedoch eine Familienzusammenführung um das ›Lost Girl‹, sodass die Bedeutung der metafiktionalen Kommentierung zurückgenommen wird: Das Kino scheint als Hort der Familienidylle und der glücklichen Enden bewahrt zu werden, weil die Inszenierung des Familienglücks als intradiegetische außerfilmische Realität selbst filmisch ist. Wenn das Filmische als real und das Reale als filmisch inszeniert wird, so erscheinen in derselben Weise auch die Emotionen als Szenarien, die nicht eindeutig filmischen und nicht eindeutig realen Ursprungs sind. So wie Filme Emotionen aus dem Leben greifen, modelliert das Leben Emotionen nach filmischen Vorbildern. Diese Verschleifung von Realität und Fiktion spiegelt die emotionale Erfahrung des Zuschauers, der nicht nach der Realität von Emotionen fragt, weil seine Emotionen für ihn immer schon real sind. Und insofern emotionales Erleben immer auch narrative Implikationen bereithält, liefert es eine emotional-narrative Basis für das Verständnis von widersprüchlichen erzählten Geschichten.
D IE E MOTIONEN DER Z USCHAUER Eifersucht als zentrale inhaltliche Emotion der drei hier behandelten Filme darf nicht mit den Emotionen des Zuschauers verwechselt werden, der schließlich nicht primär eifersüchtig ist, wenn er die Filme ansieht. Es ist aber auch nicht richtig, wenn behauptet wird, dass eine Emotion wie Eifersucht in der Auseinandersetzung mit fiktionalen Ge-
16 Auch die erste Probe von Nikki und Devon wird ähnlich inszeniert wie Bettys Vorsprechen in Mulholland Dr.: Die Kadrierung blendet die Umstände aus, nimmt die Gesichter groß ins Bild und schafft Irritationen bezüglich der gezeigten Emotionen.
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schichten gar nicht auftreten könne.17 Denn es scheint nicht möglich zu sein, unvollständige emotional-narrative Informationen zu einem plausiblen narrativen Verlauf zusammenzusetzen – etwa Bestandteile eines Schlüsselszenarios der Eifersucht –, ohne dass Teile der Emotion aktiviert werden. Unzweifelhaft trifft dies auf ihre kognitiven Bestandteile zu, denn worin die Emotion kognitiv besteht, drückt sich ja gerade in der Konstruktionsleistung der Zuschauer aus, die das Gesehene mit ihrem Erfahrungs- und Wissensspeicher abgleichen. Aber auch die körperlichen Regungen, die mit Emotionen einhergehen, werden teilweise aktiviert, denn Gedanken an Emotionen sind ohne Empfindungen nicht zu haben. Wer das Verhalten einer Figur zu verstehen versucht, die eifersüchtig ist, gleicht es mit eigenen emotionalen Erinnerungen an Momente der Eifersucht ab, die jeweils körperlich grundiert sind. Der Grund hierfür ist, dass die Erinnerungsvorstellung eines jeden Objektes grundsätzlich mit weiteren sensuellen Informationen verknüpft ist; es wird ein Körperzustand erzeugt, so als ob das Objekt tatsächlich da wäre:18 Im Langzeitgedächtnis sind neben dem wahrgenommenen Objekt auch die körperlichen Begleitumstände der Wahrnehmung und die emotionalen Reaktionen hierauf schematisch abgespeichert. Wenn das Objekt erinnert wird, werden die ursprünglichen
17 Vgl. Alex Neill: Fiktion und Emotionen. In: Maria E. Reicher (Hg.): Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit. Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie. Paderborn 2007, S. 120-142, hier S. 127. 18 Vgl. Antonio R. Damasio: Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins. Üb. von Hainer Kober. Berlin 2004, S. 180 und Paula M. Niedenthal u.a.: Embodiment in Attitudes, Social Perception, and Emotion. In: Personality and Social Psychology Review 9 (2005), S. 184-211, hier S. 187: »Just thinking about an object produces embodied states as if the object were actually there.« Zum Verhältnis von emotionalem Kontextwissen und Körperempfinden, vgl. auch Paula M. Niedenthal u.a.: Embodiment of Emotion Concepts. In: Journal of Personality and Social Psychology 96 (2009), S. 1120-1136.
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perzeptuellen, körperlichen, emotionalen und kognitiven Umstände in Teilen hervorgerufen. Der Neurowissenschaftler Antonio R. Damasio nennt diese gespeicherten Objekte dispositionelle Repräsentationen (›dispositional representations‹),19 der Kognitionspsychologe Lawrence E. Barsalou perzeptuelle Symbole (›perceptual symbols‹). 20 Es handelt sich um potenzielle Muster von Neuronenaktivitäten: um Entladungsdispositionen, die auf der ursprünglichen Wahrnehmung eines Objektes basieren und später in seiner Abwesenheit in abgeschwächter Form reaktiviert werden können. Vorstellungen werden nicht als Abbilder von Objekten gespeichert, sondern das Gehirn speichert die zu ihrer Rekonstruktion erforderlichen Mittel, das heißt die neuronalen Muster, deren Aktivierung zu einer Erinnerungsvorstellung führt, die eine flexible, komplexitätsreduzierte Rekonstruktion der ursprünglichen Wahrnehmungsvorstellung darstellt.21 In diesen Repräsentationen oder Symbolen ist das gesamte Wissen eines Menschen gespeichert – sowohl das angeborene als auch das durch Erfahrung erworbene.22 Somit kann dem Zuschauer der hier besprochenen Filme während der Rezeption zwar keine Eifersucht zugeschrieben werden, denn er hat keinen Grund, eifersüchtig zu sein, und ist es daher auch nicht. Aber im Zuge der empathischen Prozesse, die während der Rezeption ablaufen, werden im Gehirn dispositionelle Repräsentationen von Eifersucht aktiviert, die in abgeschwächter Form Körpergefühle hervor-
19 Vgl. Antonio R. Damasio: Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. Üb. von Hainer Kober. 3., akt. Aufl., Berlin 2006, S. 147-150. 20 Vgl. Lawrence W. Barsalou: Perceptual Symbol Systems. In: Behavioral and Brain Sciences 22 (1999), S. 577-660. 21 Vgl. Damasio: Descartes’ Irrtum (Anm. 19), S. 144-148 und Barsalou: Perceptual Symbol Systems (Anm. 20), S. 583f. 22 Vgl. Damasio: Descartes’ Irrtum (Anm. 19), S. 150f. Repräsentationen von angeborenem Wissen betreffen beispielsweise die überlebensnotwendige biologische Regulation (z. B. Steuerung des Stoffwechsels, der Triebe etc.), werden aber nicht zu Vorstellungen.
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rufen. Also ist auch die Annahme nicht zutreffend, der Zuschauer empfinde keine Eifersucht, wenn er eine Eifersuchtsgeschichte verfolge, denn grundsätzlich empfindet er immer schon abgeschwächt die Eifersucht, von der erzählt wird, um das Erzählte zu verstehen, und dieser Effekt ist umso stärker, je subjektiver das Erzählte, etwa durch eine interne Fokalisierung, codiert ist.23 Die kognitiven sind mit den körperlichen Bestandteilen der Emotion eng verbunden, sodass etwa selbst eine direkt audiovisuell stimulierte Unannehmlichkeit unmittelbar zum kognitiven Nachvollzug der Handlung beitragen kann. Im Fall von Lynchs unentscheidbar erzählten Filmen ergänzen also persönliche emotionale Erfahrungen der Zuschauer die unzusammenhängend oder widersprüchlich präsentierten Geschichten um plausible narrative Informationen, während die direkte audiovisuelle Stimulation die grundlegende emotionale Orientierung vorgibt, sodass atmosphärische audiovisuelle Gestaltung, inhaltliche Informationen und individuelle emotionale Erfahrung gleichermaßen zum Verständnis der Filmhandlungen beitragen.
23 Dies lässt sich evolutionsbiologisch begründen. So gehen etwa Tooby und Cosmides davon aus, dass Informationen, die als individuelle Erfahrung codiert sind, besser aufgenommen werden, weil sie der ursprünglichen Erfahrungsverarbeitung von Lebewesen entsprechen. Vgl. John Tooby und Leda Cosmides: Does Beauty Build Adapted Minds? Toward an Evolutionary Theory of Aesthetics, Fiction and the Arts. In: SubStance. A Review of Theory and Literary Criticism 30.1/2 (2001), S. 6-27, hier S. 24.
Räume aus Licht. Inland Empire H ANJO B ERRESSEM
»Nein, ich bin überzeugt, dass die Erleuchtung real ist, aber sie ist auch eine sehr große, sehr erhabene Sache. Ich befinde mich auf dem Weg dorthin. Das Schöne ist: Mit jedem Schritt wird es heller, das merke ich jeden Tag«1 (David Lynch). »I’ll show you light now. It burns bright forever. No more blue tomorrows. You on high now, love«2 (Inland Empire). »Kurz, nicht das Bewusstsein ist Licht, sondern die Menge der Bilder – oder das Licht, das der Materie immanent ist – ist Bewußtsein. Was unser faktisches Bewußtsein angeht, so ist es nur die Lichtundurchlässigkeit, ohne die sich das immer weiter ausbreitende Licht niemals offenbart hätte«3 (Gilles Deleuze). »Lichtverhältnisse«4 (Gilles Deleuze)
1
Lars-Olav Beier und Andreas Borcholte: US-Regisseur David Lynch. »In Hollywood herrscht die Wut«. http://www.spiegel.de/kultur/kino/0, 1518, 477649-2,00.html (8. Mai 2012).
2
Inland Empire (2006). Regie: David Lynch. DVD. Euro Video 2009.
3
Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Übers. von Ulrich Christians und Ulrike Bokelmann. Frankfurt/Main 1989, S. 90.
4
Gilles Deleuze: Francis Bacon. Logik der Sensation. Übers. von Joseph Vogl. München 1995, S. 71.
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R ÄUME
AUS
L ICHT : L UMINESZENZ
Schon in der Anfangssequenz von David Lynchs Film Inland Empire wird deutlich, wie Raum durch Licht erschaffen wird, denn erst im Streiflicht wird der als dreidimensionaler Schriftblock dargestellte Titel des Films lesbar; die darauffolgenden Bildsequenzen erstellen sich innerhalb eines Milieus flackernder, pulsierender Lichtrhythmen. Die Anfangsszene ist in dieser Hinsicht die passende Ouvertüre zu einem Film, der durchgängig sowohl hermeneutisch als auch strukturell flackert und blendet. Abbildung 1: Szenenausschnitt aus Inland Empire
Quelle: Inland Empire. DVD (Anm. 2)
*** In einem seiner zahlreichen Interviews zu Inland Empire beschreibt Lynch seine Arbeitsweise, deren neuestes Resultat auf den Interviewer »wie ein wilder Gedankenstrom« wirkt.5 Die Antwort, mit der sich
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Beier und Borcholte: US-Regisseur David Lynch (Anm. 1).
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Lynch gegen diese erwartungsgemäß unpräzise und leicht verzweifelte Einordnung in die Poetik dessen, was William James als ›stream of consciousness‹ bezeichnet hat, wehrt, bringt genau die Themen in Überlagerung, um die es mir in diesem Essay geht: Licht, Raum und Wissen. Ein ›wilder Gedankenstrom‹ sei der Film nicht, antwortet Lynch, denn »dann wäre er ja willkürlich. Wenn mir eine Szene einfällt, habe ich den Raum, in dem sie spielt, und das Licht, das darin herrscht, genau vor Augen. Doch mit jeder guten Idee kommt leider auch immer eine Menge Müll mit, den muss ich dann wieder aussortieren.«6
Schon die zahlreichen intermedialen Verweise im Lynchs Filmen hebeln die ›stream of consciousness‹-Hypothese aus. Inland Empire ist sicherlich kein ›automatic filming‹. Von Anfang bis Ende ist der Film genauestens durchkomponiert und -kalkuliert. So fährt die Plattennadel am Anfang einen zirkulären ›lost highway‹ entlang, und die Figuren im Abspann stellen ein aus früheren Filmen Lynchs montiertes, bewegtes tableau vivant dar; ein Paradox, auf das ich zurückkommen werde. Ausgangspunkt und Medium der Komposition von Inland Empire sind, so meine Hypothese, Räume aus Licht, die in die Handlungsszenen eingespielt werden, bzw. aus denen heraus sich filmische Szenen entwickeln.7 Wenn Lynchs Kino Projektionen Amerikas erstellt, als einen sowohl physischen wie auch psychischen Raum, dann ist der Träger dieses Amerikas sein Licht und seine Lumineszenz. Licht ist essentiell für das Kino. Da sich Filme innerhalb des optischen Mediums erstellen, gibt es ohne Licht keinen kinematographischen Raum. Inland Empire fokussiert genau diese optische Imma-
6
Ebd. Meine Hervorhebung.
7
Wie ein Kommentator angemerkt hat: »the environment as space which governs and changes. And [...] the characters in motion, but situated in the spaces.« IMDb-Benutzerkommentar Kieslowski Films Joyce zu Inland Empire. http://www.imdb.com/title/tt0460829/usercomments (17. Juli 2010). Meine Hervorhebung.
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nenz. Licht gibt und trägt den optischen Raum, innerhalb dessen sich Filme entwickeln. Es ist für das Kino ganz wörtlich ›der Stoff, aus dem die Träume sind‹. Licht und Raum sind daher im Kino, wenn überhaupt, lediglich in zweiter Linie objektive Korrelate oder auf irgendeine Weise symbolisch. In erster Linie sind sie Kompositions- und Wahrnehmungsmedien, innerhalb derer sich Bildsequenzen entwickeln, die ohne bzw. außerhalb dieser Medien nicht aktualisierbar bzw. erfahrbar wären. In medientheoretischen Parametern: Aus einer lose gekoppelten Photonenmultiplizität heraus werden wahrnehmungstheoretisch abgedunkelte Bildaggregate geformt, die sowohl bedeutsam als auch affektiv sind. Um zu kontextualisieren, was ich damit meine, werde ich zunächst anhand der Filmtheorie von Gilles Deleuze einige Überlegungen zur Physik und zur Metaphysik des Lichts als Medium der Welt sowie als Medium der Welt des Kinos anstellen. In Deleuzes Kinobüchern – Das Bewegungs-Bild. Kino 1 und Das Zeit-Bild. Kino 2 – bildet die Ebene elektromagnetischer Strahlung, von der viele Lebewesen einen Ausschnitt optisch als ›Licht‹ wahrnehmen, das, was Deleuze eine Immanenzebene nennt; d. h., eine Ebene, aus der heraus sich Strukturen bzw. Formen entwickeln, seien sie materieller oder immaterieller Art. Medientheoretisch gesehen sind solche Immanenzebenen Grundmedien, da sie die lose gekoppelten Elemente bereitstellen, aus denen sich komplexe Formen zusammensetzen. Das photonische Medium bildet dabei eine noch feinere Immanenzebene als die zwei anderen für Deleuze wichtigen Immanenzebenen, die atomistische und die molekulare. Photonen sind Elementarteilchen, und damit gehören sie zur Gruppe der kleinsten, nicht weiter spaltbaren Bausteine der Welt. Die photonische Immanenzebene unterscheidet sich von den beiden anderen Immanenzebenen nicht nur durch die Feinheit ihrer Körnung, sondern auch dadurch, dass sie eine grundlegende konzeptuelle Frage ins Spiel bringt, nämlich die, ob Photonen Teilchen- oder Wellencharakter haben; eine Kontroverse, die sich durch die gesamte Geschichte der Optik zieht, wobei man heute durchgehend von einer Komplementarität ausgeht, d. h., Photonen haben sowohl Teilchen- als auch Wel-
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lencharakter.8 In anderen Worten, die wissenschaftliche Modellierung von Photonen folgt den Vorgaben der Quantenmechanik. Diese Modellierung ist für Deleuze dahingehend wichtig, dass sie es erlaubt, die radikale Komplementarität der ›Immaterialität‹ projizierter Filmbilder und der ›Materialität‹ der optischen Welt zu denken, und damit, philosophisch gesehen, die Komplementarität von Phänomenologie und Ontologie, wobei ich, nicht zuletzt aufgrund Deleuzes schwierigem Verhältnis zur Phänomenologie, im Folgenden von einer ›Affektologie‹ reden werde, denn Affekte vermitteln zwischen einer immateriellen/psychischen und einer materiellen/physischen Serie. Wie der für Deleuze eminent wichtige Baruch de Spinoza anmerkt: »Unter Affekt verstehe ich die Affektionen des Körpers, durch die die Wirkungskraft des Körpers vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird, und zugleich die Ideen dieser Affektionen«.9 In der Komplementarität dieser zwei Serien bildet Licht sowohl ein materielles als auch ein immaterielles Medium, d. h., in der Terminologie von Deleuze: Es ist sowohl aktuell als auch virtuell – aktuelles Teilchen und virtuelle Welle, aktuelles Sein und virtuelles Werden. Deleuzes Affektologie geht von zwei Gegebenheiten aus: 1. innerhalb der photonischen Immanenzebene sind Dinge und Körper materielle Photonen- und in diesem Sinne Bildformationen (dies bezieht sich auf den Teilchencharakter der Photonen). 2. Diese materiellen Formationen werden von Lebewesen als optische Irritationen wahrgenommen und im Durchgang durch die Wahrnehmungs- und Kognitionsapparate,
8
Albert Einstein, der die Teilchentheorie vertrat, nannte das Photon – ein Begriff, der 1926 von Gilbert N. Lewis geprägt wurde – ein ›Quantum Licht.‹ Ein Photon ist ein energiegeladenes Raumvolumen, das durch seine Eigenschwingung elektromagnetische Wellen abstrahlen kann. Die de-Broglie-Hypothese, die Clinton Joseph Davisson 1927 bestätigte, weitet diese Komplementarität auf jede Art von Materie aus.
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Benedictus de Spinoza: Sämtliche Werke. Bd. 2: Die Ethik nach geometrischer Methode vorgestellt. Übers. von Otto Baensch. Hg. von Carl Gebhardt. Hamburg 1989, S. 110. Meine Hervorhebung.
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d. h. mittels der Einbildungskraft, zu sinnvollen und affektiven, immateriellen Bildern integriert (dies bezieht sich auf den Wellencharakter der Photonen).10 Lebewesen sind vor diesem optischen Hintergrund Bildmontagen, die, bis in die kleinsten Einzelelemente, durch die Komplementarität von Materie/Teilchen und Energie/Welle definiert sind. Die Bildwelt ist für Deleuze somit ein komplexes photonisches Feld; eine Assemblage materieller und immaterieller Bildarrangements. Im Zusammenhang mit der Komplementarität der materiellen und der immateriellen Assemblagen spricht Deleuze auch von der ›gegenseitigen Präsupposition‹ der beiden optischen Serien. Was folgt philosophisch und kinematographisch aus diesen zwei Vorgaben? Es zeugt von der Konsistenz und der Stringenz des Deleuze’schen Projekts, dass die beiden Kinobücher die Komplementarität der Serien auf zwei Ebenen aufnehmen. Materiell sind es zwei Einzelbücher, die jedoch nur als Komplementärtexte Sinn ergeben. Inhaltlich liegt der Fokus jeweils auf einer der beiden Serien. Während sich Das Bewegungs-Bild. Kino1 mit der aktuellen Serie beschäftigt, beschäftigt sich Das Zeit-Bild. Kino2 mit der virtuellen Serie. Die konzeptuelle Rahmung von Kino 1 ist dementsprechend der senso-motorische Bogen Bergsons, der von Kino 2 Bergsons Theorie zum Gedächtnis. Erst zusammen, d. h. in der Beziehung von aktueller Motorik und virtueller Kognition, ergeben die Bücher die Figur der gegenseitigen Präsupposition des Aktuellen und des Virtuellen, und stecken somit die beiden komplementären Serien des Affekts ab; die Komplementarität körperlicher und geistiger Wahrnehmung. Nirgendwo in seinem Werk hat Deleuze das Konzept der Immanenzebene mit größerer poetischer Intensität beschrieben als in Kino 1, in dem er, in einer Art philosophischer Zeitlupensequenz, die Emergenz wahrnehmender, d. h. lebender Systeme aus einer gegebenen Photonenmultiplizität heraus nachzeichnet. Gemäß der optischen
10 Auf anderen Frequenzen wird die elektromagnetische Ebene nicht als optisches, sondern z. B. als temperiertes Feld wahrgenommen.
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Vorzeichen beschreibt er diese Emergenz als die Entstehung individueller Bildarrangements aus der Ebene reinen Lichts, wobei er die photonische Welt als »automatische Anordnung der Bewegungsbilder«11 konzeptualisiert; als eine »Ansammlung von Lichtlinien oder Lichtfiguren; die Reihe der Raum-Zeit-Blöcke«. 12 Aus der gegebenen Photonenmultiplizität erstellen sich lebende Systeme anhand von Prozessen optischer Individuierung zu individuellen Bildsystemen: zu ›Lichtfiguren‹. Die Lichtebene gibt dabei einen »Zustand der Dinge« vor, »der sich unaufhörlich veränderte, ein Materiestrom, in dem kein Verankerungspunkt oder Bezugspunkt angebbar wäre«.13 Innerhalb dieser Ebene sind ›wahrnehmende Bildsequenzen‹ »Indeterminationszentren«,14 d. h. unberechenbare Systeme mit je eigenen Blickwinkeln: »Von diesem Zustand der Dinge aus müßte gezeigt werden, wie sich an irgendwelchen Punkten Zentren bilden, an
11 Deleuze: Bewegungs-Bild (Anm. 3), S. 88. 12 Ebd., 90. 13 Deleuze: Das Bewegungs-Bild (Anm. 3), S. 86. Das Feld ist in einem »gasförmigen Zustand. Ich, mein Körper, wäre eher eine Menge von Atomen und Molekülen, die sich unablässig erneuern. Kann ich überhaupt von Atomen sprechen? Sie unterscheiden sich nicht von Welten, atomaren Wechselwirkungen. Dieser Materiezustand ist zu heiß, als daß man noch feste Körper unterscheiden könnte. Es ist eine Welt universeller Veränderlichkeit, universeller Wellenbewegung, des universellen Plätscherns: in ihr gibt es weder Achsen noch Zentrum, weder rechts noch links, weder oben noch unten […]. Eine solche unbegrenzte Menge aller Bilder wäre gewissermaßen die Ebene der Immanenz. [...] Es ist ein Ensemble, aber ein unbegrenztes: die Ebene der Immanenz ist die Bewegung, der zweidimensionale Raum der Bewegung, der sich zwischen den Teilen jedes Systems und von einem System zum anderen herstellt, durch sie alle hindurchgeht, sie vermischt und einem Bedingungszusammenhang unterwirft, der ihre absolute Geschlossenheit verhindert.« Ebd., S. 87f. 14 Ebd., S. 96.
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denen sich feststehende Momentbilder aufdrängen.«15 Auch in dieser Beschreibung analogisiert Deleuze die »Festlegung eines – relativ – geschlossenen Systems« innerhalb filmischer Register mit der »Kadrierung«.16 Sowohl auf einer materiellen als auch auf einer immateriellen Ebene resultieren photonische Systeme aus Schnitten in die hyle bzw. das phylum der anonymen Lichtebene, d. h., Systeme sind ganz wörtlich Montagen. Anhand dieser Prozesse ergeben sich Ausschnitte bzw. Rahmungen, die sie von der Umgebung abschließen: «Das ist genau der Vorgang, aus dem eine Kadrierung besteht: bestimmte Einwirkungen werden in der Bildfeldbegrenzung isoliert […] die ausgeführten Reaktionen [sind] nicht mehr unmittelbar mit der Einwirkung verknüpft«.17 In der Weiterführung dieser Analogie wird auch das Konzept des Nichtwissens angesprochen, denn innerhalb des optischen Feldes, das wie das einzelne Photon in konstanter Bewegung ist, beschreibt Deleuze Systeme als lokale Verlangsamungen und Stabilisierungen, d. h. als Kadrierungen, und ihre Wahrnehmung als Reduktion, d. h. in optischen Registern, als Verdunkelung. Lebende Systeme subtrahieren Licht von der fundamentalen Lumineszenz der optischen Immanenzebene:
15 Ebd., S. 86. Meine Hervorhebung. Indeterminationszentren sind das, was von Foerster ›nicht-triviale‹ Maschinen genannt hat, d. h. Maschinen, bei denen der Output nicht invariant an den Input gekoppelt ist und die daher nicht vorhersehbar sind. »Eine triviale Maschine ist durch eine eindeutige Beziehung zwischen ihrem Input (Stimulus, Ursache etc.) und ihrem Output (Reaktion, Wirkung etc.) gekennzeichnet«. Heinz von Foerster: Wissen und Gewissen: Versuch einer Brücke. Frankfurt/Main 1993, S. 357. Anders bei einer nicht-trivialen Maschine: »Eine einmal beobachtete Reaktion auf einen gegebenen Stimulus muss in einem späteren Zeitpunkt nicht wieder auftreten, wenn der gleiche Stimulus auftritt« Ebd., S. 247. 16 Deleuze: Das Bewegungs-Bild (Anm. 3), S. 27. 17 Ebd., S. 91.
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»Kurz, nicht das Bewußtsein ist Licht, sondern die Menge der Bilder – oder das Licht, das der Materie immanent ist – ist Bewußtsein. Was unser faktisches Bewußtsein angeht, so ist es nur die Lichtundurchlässigkeit, ohne die sich das immer weiter ausbreitende Licht niemals offenbart hätte.«18
In dieser Umkehrung der Logik der Aufklärung ist das menschliche Bewusstsein nicht mehr Quelle des Lichts und der Erkenntnis, vielmehr wird es vom Ideal des reinen, anonymen Lichts, und somit vom Ideal reiner anonymer Erkenntnis abgezogen. Wenn die photonische Immanenzebene durch reines Licht und eine konstante, unendlich schnelle Bewegung der Photonen definiert ist, dann ist der »MetaFilm«19 der menschlichen Welt eine verdunkelte und verlangsamte Welt, und das Kino eine Kunst der Verdunkelung und der Verlangsamung.20 Das Nichtwissen ist somit als immer schon gegebene optische Subtraktion und räumliche Verlangsamung, nicht jedoch als Mangel, direkt in die Genese wahrnehmender Systeme eingeschrieben. Auf der wahrnehmungstheoretischen Ebene erfolgen solche optischen Subtraktionen schon durch die Filter der Sinne, die lediglich bestimmte Spektra der photonischen Intensität einfangen:
18 Ebd., S. 90. Da sich ein Photon immer mit Lichtgeschwindigkeit bewegt, kann es keine Ruhemasse besitzen. 19 Ebd., S. 88. 20 ›Kinema‹ bedeutet sowohl physische als auch affektive Bewegung. Auch in der Immanenzebene werden Systeme durch beide Ebenen definiert: »Auf der Konsistenzebene wird ein Körper nur durch einen Längengrad und einen Breitengrad bestimmt, das heißt, durch die Gesamtheit von materiellen Elementen unter Bestimmten Verhältnissen von Bewegung und Ruhe, von Schnelligkeit und Langsamkeit (Längengrad); durch die Gesamtheit von intensiven Affekten, zu denen er bei einem bestimmten Grad von Macht oder Vermögen fähig ist (Breitengrad). Nichts als Affekte und räumliche Bewegungen, unterschiedliche Geschwindigkeiten«. Gilles Deleuze und Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2. Übers. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Berlin 1992, S. 354.
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»Wir nehmen das Ding wahr unter Abzug dessen, was uns in Bezug auf unsere Bedürnisse nicht interessiert. [...] Auf diese Weise lässt sich das erste materielle Moment der Subjektivität definieren: sie subtrahiert, sie zieht vom Ding ab, was sie nicht interessiert. [...] Ein Atom zum Beispiel erfährt unendlich viel mehr als wir selbst, es erfährt im Grenzfall das gesamte Universum«,21
notiert Deleuze. Auf der bio-materiellen Ebene schließen sich Organismen durch die Konstruktion materieller Membranen und Grenzen von der unendlichen Komplexität der Umwelt ab; z. B. durch die Entwicklung geschlossener Oberflächen, d. h. durch Häute. Auf der kognitiven Ebene erfolgen Subtraktionen von der reinen, unendlich komplexen Relationalität der Welt durch Entscheidungen und den Aufbau mehr oder weniger stabiler Relationsfelder. Ein wichtiges Charakteristikum jeder Immanenzebene ist, dass trotz dieser Grenzziehungen kein System je völlig geschlossen ist, da es, z. B. auf einer energetischen Ebene, direkte strukturelle Beziehungen zum ›out of field‹ unterhält: »Ein geschlossenes System ist niemals absolut geschlossen; es ist mit anderen Systemen vermittels eines mehr oder weniger ›feinen Fadens‹ verbunden. Zugleich aber ist es in ein Ganzes integriert oder reintegriert, das ihm entlang dieses Fadens Dauer überträgt […,] eine dem ganzen Universum immanente Dauer.«22
Daher ist »alles, was geschlossen ist, [...] künstlich geschlossen«.23 D. h., jedes in sich geschlossene System, also auch jeder Film, ist an das Milieu gekoppelt, aus dem heraus es erstellt wird. Vor diesem Hintergrund adressiert Deleuze eine in klassischen Filmtheorien meist unterschlagene Tatsache: das Kinematographische betrifft nicht nur den gerahmten Raum optisch-akustischer Irritationen – d. h. das, was landläufig unter ›Kino‹ als Repräsentation der Realität firmiert –, sondern es ist selbst Teil der optischen Welt; Teil des Modus, in dem sich die optische Welt ausdrückt, wobei diese Teilhabe
21 Deleuze: Das Bewegungs-Bild (Anm. 3), S. 93f. 22 Ebd., S. 33, 34. 23 Ebd., S. 25.
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weit über das hinausgeht, was die Apparatus-Theorie untersucht. Es geht nicht lediglich um Kino als technische und kulturelle Maschine, sondern um Kino als affektive Maschine. Das Licht im Kino ist somit immer mehr als eine Metapher bzw. eine Frage der Beleuchtung. Das kann man u. a. daran sehen, dass sich Hollywood als Kino-Apparat selbst zu einem großen Teil ›seinem‹ Licht verdankt, d. h. seinem elektromagnetischen Feld; dem optischen Medium, innerhalb dessen sich die Stadt Los Angeles erstellt. Das südkalifornische Licht und der Stadtraum von Los Angeles sind das optische Medium Hollywoods, das sowohl den Kinoapparat trägt und durchdringt – bis hin zu Treffen von Regisseuren, Schauspielern und Produzenten in einem Diner in Santa Monica, in Brentwood oder irgendwo auf dem Sunset Boulevard – als auch die Filme, die innerhalb dieses Mediums entstehen. Licht und Raum machen das Kino radikal ›site-specific‹. Lynch hat diese Immanenz des Kinos in einem Interview sehr affektiv beschrieben: »I love Los Angeles. [...] The golden age of cinema is still alive there, in the smell of jasmine at night and the beautiful weather. And the light is inspiring and energizing. […] It was the light that brought everybody to L.A. to make films in the early days.«24
Bei Deleuze gibt es ein ähnlich affektives Interesse am Licht des Kinos; insbesondere an den künstlerischen Variationen des Gebrauchs des Lichts: »I’m attempting a classification of light in the cinema. There is light as an impassive physical milieu whose composition creates white, a kind of Newtonian light that you find in American cinema and maybe in another way in Antonioni. Then there is the light of Goethe [...], which acts as an indivisible force that clashes with shadows and draws things out of it [...]. Yet another light stands out for its encounter with white, rather than with shadows, this time a white of principal opacity [...]. There is also a light that doesn’t stand out for its composition or its kind of encounter but because of its alternation, by its production of
24 David Lynch: Catching the Big Fish. Meditation, Consciousness, and Creativity. New York 2006, S. 31-32.
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lunar figures [...]. This list shouldn’t stop here because it’s always possible to create new events of light«.25
Dass es Lynch in all seinen Filmen um die sowohl materielle als auch die immaterielle Medialität des Lichts geht – und damit immer auch um das Nichtwissen – kann man schon daran ablesen, dass es, ganz unabhängig von der jeweiligen Handlung, in jedem seiner Filme sowohl eine regelrechte Obsession mit Beleuchtungen und Leuchten gibt – letztere meist aus den designtechnisch zeitlosen 70er-Jahren – als auch eine Obsession mit Räumen und Raumkonstruktionen. Abbildung 2: Szenenausschnitt aus Inland Empire
Quelle: Inland Empire. DVD (Anm. 2)
Wenn sich Inland Empire in dieser Hinsicht von seinen anderen Filmen unterscheidet, dann lediglich darin, dass die Obsession mit und die Variationen von Beleuchtungen und Raumkonstruktionen sich noch
25 [Pascal Bonitzer u. a.]: The Brain Is the Screen. An Interview with Gilles Deleuze. In: Gregory Flaxman (Hg.): The Brain Is the Screen. Deleuze and the Philosophy of Cinema. Minneapolis 2000, S. 365-374, hier S. 368. Auch für den Kinoraum schlägt Deleuze eine ähnliche Klassifizierung vor: »In the same way, one can create an open classification of cinematographic space«. Ebd.
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gesteigert haben. Das Spektrum geht dabei von genauestens durchkonstruierten, an Gemälde erinnernden Lichttableaus, aus deren scharfen Konturen und Kontrasten sich die Figuren herausschälen, bis zu in die reine Abstraktion verwischten, körnigen Farbspielen, die psychische Extremzustände ausdrücken. Abbildung 3: Szenenausschnitt aus Inland Empire
Quelle: Inland Empire. DVD (Anm. 2)
Abbildung 4: Szenenausschnitt aus Inland Empire
Quelle: Inland Empire. DVD (Anm. 2)
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Abbildung 5: Szenenausschnitt aus Inland Empire
Quelle: Inland Empire. DVD (Anm. 2)
Abbildung 6: Szenenausschnitt aus Inland Empire
Quelle: Inland Empire. DVD (Anm. 2)
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Abbildung 7: Szenenausschnitt aus Inland Empire
Quelle: Inland Empire. DVD (Anm. 2)
Abbildung 8: Szenenausschnitt aus Inland Empire
Quelle: Inland Empire. DVD (Anm. 2)
Wenn Lynch nicht mehr in Cinemascope und Technicolor arbeitet, sondern mittels der Videotechnik, dann darum, weil diese für ihn, ähnlich wie 20 Jahre früher für Jean-Luc Godard, ein technologisches Faszinosum darstellt. Sie erlaubt nicht nur eine größere Bilddynamik, sondern, darüber hinaus, ein ›anderes Licht‹ und ›andere Räume‹ zu erstellen. Von gleißendem Licht bis zu undurchdringlicher Dunkelheit spielt
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Inland Empire das gesamte Spektrum der Lumineszenz und der Beleuchtung durch. In ›noir‹ getränkte Innenräume, Räume, deren Dimensionalität und Kontur sich langsam aus Lichtfeldern herausschält. Vom lichtdurchfluteten Raum des Melodramas zum neorealistisch ausgeleuchteten Hollywood-Bums. Vom affektiven Melodrama in das harsche, harte Licht der Realität. Ein Kalifornien aus gleißender Sonne gemeißelt, dagegen montiert ein in Sepia hingeschmiertes Polen. Abbildung 9: Szenenausschnitt aus Inland Empire
Quelle: Inland Empire. DVD (Anm. 2)
Abbildung 10: Szenenausschnitt aus Inland Empire
Quelle: Inland Empire. DVD (Anm. 2)
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Abbildung 11: Szenenausschnitt aus Inland Empire
Quelle: Inland Empire. DVD (Anm. 2)
Abbildung 12: Szenenausschnitt aus Inland Empire
Quelle: Inland Empire. DVD (Anm. 2)
Die abrupten Lichtübergänge vom amerikanischen ins polnische Licht markieren dabei den unvermittelten Wechsel zwischen unterschiedlichen Zeit- und Realitätsebenen; d. h., unterschiedliche Räume werden durch ihr jeweiliges Licht definiert.
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Abbildung 13: Szenenausschnitt aus Inland Empire
Quelle: Inland Empire. DVD (Anm. 2)
Abbildung 14: Szenenausschnitt aus Inland Empire
Quelle: Inland Empire. DVD (Anm. 2)
Trotz Lynchs konstanter Abwehr des Kino-Apparates Hollywood, den er u. a. in Mulholland Drive thematisiert, ist Los Angeles als Raum, und nicht zuletzt aufgrund seines Lichtes, für ihn immer wichtiger geworden. Nicht umsonst benennen die Titel seiner drei letzten Filme Aspekte des städtischen Raumes von Los Angeles. Zuerst Lost Highway, dessen Titel noch unspezifisch ist, der aber ein Film ist, der
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Los Angeles als einen vollständig automobilisierten Raum ins Zentrum stellt, und dessen Handlung anhand von Automobilen angetrieben wird; dann Mulholland Drive, der natürlich sofort sowohl den realen Sunset Boulevard evoziert als auch den Film Sunset Boulevard, der nicht nur thematisch, sondern auch optisch im Film zitiert wird, wobei die Markierung wiederum durch ein Auto gebildet wird; und zuletzt Inland Empire. Abbildung 15: Szenenausschnitt aus Inland Empire
Quelle: Inland Empire. DVD (Anm. 2)
In allen drei Filmen bildet Los Angeles das ›hingeschmierte‹ optische Diagramm, aus dem heraus Lynch, in etwa so, wie es Francis Bacon in der Malerei macht, singuläre Figuren entwickelt. In ähnlicher Weise wie bei Bacon vormalerische Elemente »diagrammatische Merkmale«26 sind, bildet für Lynch die photonische Immanenzebene ein vorkinematographisches Feld. Um dies zu kontextualisieren, ist wichtig, dass Deleuze in seinem Buch über Bacon, Die Logik der Sensation, das Konzept des Diagramms in einer ähnlichen Weise umkehrt, wie er die Logik der Auf-
26 Gilles Deleuze und Félix Guattari: Was ist Philosophie? Übers. von Bernd Schwibs und Joseph Vogl. Frankfurt/Main 2000, S. 47.
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klärung umkehrt. Normalerweise sind Diagramme Abstraktionen der konkreten Welt und somit Vereinfachungen bzw. Reduktionen. Für Deleuze jedoch gibt es sowohl konkrete Diagramme als auch abstrakte Diagramme, wobei die abstrakten Diagramme idealerweise genauso komplex sind wie die konkreten Diagramme, d. h. wie die konkrete Welt; d. h., es gibt unendlich komplexe abstrakte Diagramme; diese wären dann aber wiederum, wie das reine Licht, vollkommen anonym; ein Paradox, das an Jorge Borges’ berühmtes concetto einer Karte erinnert, die genauso groß ist, wie das Land, das sie aufzeichnet.27 Beim Diagramm ist es demnach wie beim Licht. Jedes singuläre Diagramm führt eine erste, leichte Verlangsamung der unendlich schnellen Bewegungen innerhalb der photonischen Immanenzebene herbei; wobei es immer noch äußerst eng an diese Ebene angeschlossen ist. Es ist »ein Halte- oder Ruhepunkt«,28 dieser ist jedoch ein »Ruhepol, der von der größten Unruhe umschlossen wird oder umgekehrt selbst das aufgewühlteste Leben umschließt«.29 Inmitten der »höchsten Unruhe der Materie« fungiert das Diagramm als »Modulator«; 30 d. h. als Ebene, aus der heraus ein optisches Werk entsteht, sei es Gemälde oder Film. Aus »einem Präsenzfeld oder [...] einer begrenzten Ebene, deren Momente allesamt aktuell und sinnlich wahrnehmbar sind«31 entstehen optische Figuren: »Das Wesentliche am Diagramm liegt da-
27 Vgl. dazu Gregory Bateson: Form, Substanz und Differenz. In: Ökologie des Geistes. Frankfurt/Main 1985, S. 576-598, in dem er Alfred Korzybski zitierend bemerkt, dass »die Karte nicht das Territorium ist« Ebd., S. 577. Vgl. Alfred Korzybski: A Non-Aristotelian System and its Necessity for Rigour in Mathematics and Physics. In: Science and Sanity 1933, S. 747-61. Vgl. dazu auch Jorge Luis Borges: Von der Strenge der Wissenschaft. In: Ders.: Sämtliche Erzählungen. München 1970, S. 346. 28 Deleuze: Logik der Sensation (Anm. 4), S. 84. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 84, 74. 31 Ebd., S. 72.
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rin, daß es dafür gemacht ist, daß etwas aus ihm hervorgeht, und es mißlingt, wenn nichts aus ihm hervorgeht«.32 In malerischen Registern bilden in Bacons Produktionslogik die ›zufälligen‹ Schmierereien auf der Leinwand, aus denen Bacon dann die Figur entwickelt, das anfängliche Diagramm. Sie sind ein Feld nicht-figuraler Kräfte aus denen die Figur entsteht. Analog ist, in filmischen Registern, das spezifische optische Milieu, bzw. das ›Set‹, in das die Filmproduktion eingehängt ist, die Grundlage für das nicht-figurale optische Diagramm aus dem heraus kinematographische Figuren entstehen. Lynchs Filme entstehen alle aus und in direkter Resonanz mit diesem Diagramm: das Licht der Welt, die Welt des Lichts.
D IGITALE M ALEREI : P ORTRAIT Meine weitere Herangehensweise an Inland Empire ist durch diese anfänglichen Kadrierungen – Licht, Raum, Nichtwissen, Diagramm – schon angedeutet. Sie ist wenig originell und lehnt sich an eine These an, die des Öfteren erwähnt, aber seltener durchgeführt wird; Lynch kommt von der Malerei, und daher sind seine Filme inhärent malerisch. Wenn es in meiner Herangehensweise etwas Neues gibt, dann, dass Malerei und Film in ihrer Produktion auf zwei verschiedenen Licht- bzw. Farbtheorien aufbauen. Während es im Film um eine additive Lichttheorie geht, deren Kern ein reines, weißes Licht bildet, geht es in der Malerei um eine subtraktive Farbtheorie, in deren Zentrum ein undurchdringliches Schwarz liegt. Wenn Bacons Gemälde aus den ursprünglichen, anonymen Pigmentlandschaften entstehen, die den Gesetzen der subtraktiven Farbtheorie – der aktuellen Farblandschaft – folgen, so entstehen Lynchs Filme aus den virtuellen Lichtlandschaften, die den Gesetzen der additiven Farbtheorie folgen. Daher auch Lynchs Obsession in Inland Empire
32 Ebd., S. 97.
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mit dem weißen Licht. Mit dem blinden Punkt auf der Leinwand; dem blendenden Ausbrennen der Farbe. Abbildung 16: Szenenausschnitt aus Inland Empire
Quelle: Inland Empire. DVD (Anm. 2)
Bei Inland Empire ist es in der Tat so, als hätte die Malerei die Zeit entdeckt. Als wenn man durch eine Galerie bewegter Bilder geführt würde, deren Anordnung ein Ausstellungskonzept darstellt, ohne jedoch die Einzelszenen auf eine Sequenz bzw. eine bestimmte Rolle innerhalb einer sinnvollen Geschichte zu reduzieren. Inland Empire ist eine Ausstellung bewegter Malerei, in der verschiedene Stile, Perspektiven und malerische Techniken zu einer Ausstellung zusammenkomponiert werden. Aber man könnte es auch anders angehen und Inland Empire nicht als Ausstellung sehen, sondern als ›The Portrait of a Lady‹ in dem Sinne, dass Lynch aus Räumen und Beleuchtungen heraus das kinematographische Portrait einer Person erstellt, mit all ihren widersprüchlichen Facetten, die sowohl in der Kolorierung liegen und ausgedrückt werden, als auch in den Handlungen, in die sie eingebunden ist und innerhalb derer sie umherirrt. Ich spreche natürlich von dem Triptychon: Susan Blue – Nikki Grace – Laura Dern; eine Reihung, die das gesamte Spektrum von fiktionaler Person, fiktionaler
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Schauspielerin, bis hin zur faktischen Schauspielerin und faktischen Person absteckt.33 Als Bestandteile eines Portraits werden die rätselhaften Begebenheiten in ihrer Umgebung, ihre psychischen Aufsplitterungen und ihr topologisches sowie affektives Gleiten nicht weniger unverständlich, d. h., man weiß hinterher nicht mehr über sie, sie ergeben jedoch nun einen attraktiven Raum, aus dem heraus eine Figur entstanden ist, die so rätselhaft und komplex ist wie das Leben selbst. Unlesbar und dennoch – oder gerade daher – ›graceful.‹ Mit dem Namen ›Grace‹, der in dem Triptychon der Figur das Mittelpanel figuriert, verbindet sich im englischen eine doppelte Bedeutung, die unweigerlich zu einer Aufgabe des Übersetzers führen muss. Das Problem ist, dass ›grace‹ im Englischen sowohl etwas Materielles bedeutet – im Sinne von körperlicher Grazie, z. B. der Grazie der Kleist’schen Marionette – als auch etwas Immaterielles, im Sinne von geistiger Gnade, insbesondere die Gnade Gottes. ›Grace‹ hat, so könnte man metaphorisch sagen, wie das Licht sowohl Teilchen- als auch Wellencharakter. Diese Eigenschaft teilt es mit dem ebenso doppeldeutigen englischen Wort ›charm‹, das sowohl körperlichen Reiz als auch Zauber bedeutet. Ein Grund dafür, dass diese zwei Wörter Lieblingswörter des amerikanischen Schriftstellers Henry James sind, liegt zweifelsohne in dieser Ambiguität. ›Grace‹ und ›charm‹ lösen eine Faszination aus, die lediglich darin besteht, dass sie, wie Deleuze sagen würde, innerhalb einer Immanenzebene eine glückliche Position und Kombination verkörpern. »Das Leben, das ist nicht deine Geschichte. Wer keinen Charme besitzt, hat kein Leben, ist wie tot. Doch ist der Charme keineswegs die Person. Er ist das, was die Person als Zahlenkombination erfassen läßt, sowie als einzigartige Chance, daß jene Kombination gezogen wurde. Er ist ein notwendig siegreicher Würfelwurf, da er den Zufall ausreichend bejaht«.34
33 Siehe auch die Bedeutung des Triptychons im Werk von Francis Bacon. 34 Gilles Deleuze und Claire Parnet: Dialoge. Übers. von Bernd Schwibs. Frankfurt/Main 1980, S. 13.
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Ganz ähnlich ist es bei Susan Blue – Nikki Grace – Laura Dern. Daher sind die sinnvollsten Kommentare zu Inland Empire nicht filminterner, hermeneutischer Art; im Sinne von ›Was bedeutet der Film?‹ oder ›Was ist seine Tiefenstruktur?‹, sondern die zur Intensität von Derns Schauspiel, und die wichtigsten Äußerungen von Lynch sind die, die einen direkten Bezug des Films zu Dern und ihrem Leben herstellen: Dern erzählt Lynch, dass sie wieder aus dem Inland Empire in seiner Nähe gezogen sei, er will einen Film mit diesem Titel machen etc. Die zentrale Stellung der Protagonistin und ihrer optischen Ausdifferenzierungen ist bei Lynch an etwas gebunden, was Deleuze ›Gegenaktualisierung‹ nennt.35 Die ›Aufgabe des Schauspielers‹ ist, aus einem materiellen Sachverhalt ein immaterielles Ereignis zu extrahieren. Dabei geht es um »[d]as Einfangen von Kräften«36 und deren Ausdruck: »Man aktualisiert oder verwirklicht das Ereignis immer dann, wenn man es […] auf einen Sachverhalt verpflichtet, aber man gegenverwirklicht es immer dann, wenn man von den Sachverhalten abstrahiert, um aus ihnen den Begriff zu gewinnen«,37 sagen Deleuze und Guattari in Bezug auf die Philosophie. Während es dort um Abstraktion von Begriffen geht, geht es beim Kino um die Expression eines Blocks von Affekten: Der Schauspieler »verwirklicht demnach das Ereignis, jedoch ganz anders, als das Ereignis sich in der Tiefe der Dinge verwirklicht. Oder er verdoppelt vielmehr diese kosmische physische Verwirklichung durch eine weitere, auf ihre Weise eine einzigartig oberflächliche«.38 Die Herausforderung der Gegenaktualisierung liegt somit darin, das virtuelle Ereignis aus dem Sachverhalt und seinem
35 Im Original ›contractualisation‹, und daher besser mit ›Gegenaktualisierung‹ zu übersetzen, nicht wie in der offiziellen Übersetzung mit ›GegenVerwirklichung.‹ Dies insbesondere in Bezug auf den Gegensatz aktuell/virtuell. 36 Deleuze: Logik der Sensation (Anm. 4), S. 39. 37 Deleuze und Guattari: Was ist Philosophie? (Anm. 26), S. 186. 38 Gilles Deleuze: Logik des Sinns. Übers. von Bernhard Dieckmann. Frankfurt 1993, S. 188.
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Entstehen zu isolieren; aus einem Set, einer Situation bzw. einer Figur ›ihre‹ Affekte zu extrahieren und so die extensive Welt der Körper zu intensivieren und zu spiritualisieren. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn die zwei Serien in ihrer radikalen Unterschiedlichkeit adäquat attribuiert, bzw. aufeinander abgebildet werden. Wenn sie konvergieren, ohne je identisch zu werden. »[D]as virtuelle Bild der Rolle wandelt er zu einem aktuellen, das daraufhin sichtbar und leuchtend wird. Der Schauspieler wird somit ein ›Monstrum‹«,39 nicht in dem Sinne, dass er eine angsteinflößende physische oder psychische Deformierung darstellt oder im Herkömmlichen Sinne monströs wird, sondern in dem Sinne, dass er bzw. sie zum Wahrzeichen wird. Es ist bei der Schauspielerei keine Frage des ›demonstrare‹, sondern des ›monstrare‹; nicht der Repräsentation, sondern eines Ausdrucks, innerhalb dessen die zwei Serien in ihrer radikalen Unterschiedlichkeit attribuiert werden. Der Schauspieler ist eine ›Monstranz‹; jedoch nicht eine Monstranz Gottes, sondern des anonymen Lebens. Darum muss der Schauspieler selbst zuerst zu einer anonymen Oberfläche werden; zu einem Medium, auf dem sich fremde Ereignisse abspielen und aktualisieren können, wie beim ›spontanen Weinen‹: »Dazu müßte das Individuum sich selbst als Ereignis begreifen. Und es müßte überdies das sich in ihm verwirklichende Ereignis als ein anderes ihm aufgepropftes Individuum begreifen«.40 Der Schauspieler ›inkarniert‹ anonyme Kräfte. Eine solche Inkarnierung zeigt sich insbesondere in der Sterbeszene, in der Nikki Grace, selbst als das Set sich um sie herum schon auflöst, immer noch im Ereignis des gegenverwirklichten Todes verharrt, und so sogar die außerfilmische Realität spiritualisiert, denn der Zuschauer weiß nicht, ob sie nun wirklich tot ist oder diesen Tod nur spielt. Aber auch in den anderen Facetten der Persönlichkeit ist es Derns Fähigkeit, die Realität zu spiritualisie-
39 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. Übers. von Klaus Englert. Frankfurt 1991, S. 99. 40 Deleuze: Logik des Sinns (Anm. 38), S. 221.
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ren, d. h. zu virtualisieren, die den Film belebt. Darüber hinaus gibt es jedoch noch ein reines Ereignis, das anonym bleibt: »In jedem Ereignis gibt es den gegenwärtigen Augenblick der Verwirklichung, jenen, in dem das Ereignis sich in einem Dingzustand, einem Individuum, einer Person verkörpert […]. Andererseits aber gibt es die Zukunft und Vergangenheit des Ereignisses an sich, das jeder Gegenwart ausweicht, weil es von den Begrenzungen eines Dingzustandes frei, weil es unpersönlich und präindividuell, neutral, weder allgemein noch besonders ist, eventum tantum…; oder, vielmehr, das keine andere Gegenwart als die des beweglichen Augenblicks kennt, der er repräsentiert und der stets in Vergangenheit-Zukunft verdoppelt ist und dem Gestalt verleiht, was Gegen-Verwirklichung genannt werden muß.«41
Das Projekt der Gegenaktualisierung bringt Lynchs Kino und Bacons Malerei in eine noch tiefere Beziehung, denn beiden geht es um die Frage ›Wie das Virtuelle aktualisieren?‹ Wie kann man eine Figur entwickeln – sei es eine wirkliche Figur oder die Figur des Films – die virtuelle Intensitäten verkörpert? »Wie lassen sich unsichtbare Kräfte sichtbar machen? Dies ist sogar die wesentliche Funktion der Figuren«.42 Aber zurück zur Malerei: Es gibt viele Theorien zu den Bezügen zwischen Literatur und Malerei, vom Paragonestreit der Renaissance bis zur postmodernen Intermedialität. Es gibt weniger Theorien zu den Bezügen zwischen Malerei und Film. Wir glauben nicht mehr an einen medialen Wettstreit, noch an die Möglichkeit, spezifische Medienstrukturen ohne Weiteres in andere Medien einzufalten. Dennoch möchte ich eine solche Faltung bzw. Abbildung vornehmen. Ausgangspunkt ist das Werk von Henry James, dem Autor des Romans The Portrait of a Lady. Die Malerei ist genau deshalb so wichtig für James, weil es die Aufgabe des Schriftstellers ist, ein literarisches Portrait herzustellen. Meine These: Wenn Lynchs Filme künstlerischer Ausdruck (Expression) von Eindrücken (Impressionen) des Lebens sind, dann müssten sich daraus Resonanzen mit der Poetik von Henry
41 Ebd., S. 189. 42 Deleuze: Logik der Sensation (Anm. 4), S. 40.
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James ergeben. »A novel is in its broadest definition a personal, a direct impression of life: that, to begin with, constitutes its value, which is greater or less according to the intensity of the impression«, sagt James.43 Oder, in den Worten von Deleuze: »alleiniges Ziel, einziger Zweck des Schreibens ist – über die von ihm gezogenen Kombinationen hinweg – das Leben«.44 Es ist die Aufgabe des Künstlers, innerhalb der Komplexität des Lebens zu arbeiten, mittels literarischer pick-ups; mittels eines »Überfliegen [survol]«, das auf bzw. innerhalb der Ebene des Terrains bzw. des Sachverhalts operiert: »Man könnte sagen, daß es [das Ereignis] transzendent ist, weil es den Sachverhalt überfliegt, die reine Immanenz aber ist es, die ihm die Fähigkeit verleiht, sich selbst in sich selbst und auf der Ebene zu überfliegen«.45 Innerhalb dieser ›Aufnahmen‹ geht es um die minimalen Strömungen, denen Personen folgen, um leichte Abweichungen, um Vorlieben und um Neigungen; generell, um »the strange irregular rhythm of life«.46 Wie in der Malerei und im Film geht es in der Literatur daher nicht um die mimetische Darstellung des aktuellen Lebens, sondern um das Virtuelle; um das Wetteifern der Kunst mit dem aktuellen Leben: »The only reason for the existence of a novel is that it does attempt to represent life. When it relinquishes this attempt, the same attempt that
43 Henry James: The Art of Fiction. In: Ders.: Literary Criticism. Volume One. Hg. von Leon Edel. New York 1984, S. 44-65, hier S. 50. Meine Hervorhebung. 44 Deleuze und Parnet: Dialoge (Anm. 34), S. 13. 45 Deleuze und Guattari: Was ist Philosophie? (Anm. 26), S. 182-3. »Da er sie fortwährend nach einer bestimmten Ordnung ohne Abstand durchläuft, befindet sich der Begriff im Zustand des Überfliegens bezüglich seiner Komponenten«. Ebd., S. 27. »Der philosophische Begriff bezieht sich nicht – kompensatorisch – auf das Erleben, sondern besteht – durch seine eigene Schöpfung – in der Schaffung eines Ereignisses, das alles Erleben ebenso überfliegt wie jeglichen Sachverhalt«. Ebd., S. 41. 46 James: Art of Fiction (Anm. 43), S. 58.
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we see on the canvas of the painter, it will have arrived at a very strange pass«.47 Was der Roman und der Film zur Malerei addieren, ist lediglich die Zeit: »as the picture is reality, so the novel is history [...]. But history also is allowed to represent life«.48 Auch für James geht es nicht um die Herstellung von Wissen. Im Gegenteil, Wissen stört, denn die Idee von Wissen ist ein Idealismus: »In proportion as in what she offers us we see life without rearrangement do we feel that we are touching the truth; in proportion as we see it with rearrangement do we feel that we are being put off with a substitute«.49 Die Kunst ist nicht der sinnvollen Form verpflichtet, sondern der Form des ›real thing‹; d. h. der Form des Lebens als Affekt- und Ausdruckspotential; als Arrangement, ensemble (Anti-Ödipus) oder agencement (Tausend Plateaus). Das künstlerische Bewusstsein ist in diesem Prozess lediglich das Medium, in dem sich das Leben fängt: »Experience is never limited, and it is never complete; it is an immense sensibility, a kind of huge spider-web of the finest silken threads suspended in the chamber of consciousness and catching every air-borne particle in its tissue. It is the very atmosphere of the mind; and when the mind is imaginative [...] it takes to itself the faintest hints of life, it converts the very pulses of the air into revelations.«50
47 Ebd., S. 46. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 58. 50 Ebd., S. 52. Meine Hervorhebung. Siehe hierzu auch Deleuzes Proust und die Zeichen, in dem Deleuze eine Poetik für Proust entwirft, die in vielerlei Hinsicht der von James ähnelt. So erstellt Prousts Erzähler den Text anhand von Zeichen, die er auf einer intensiven Ebene spürt. »Der Erzähler mag wohl mit einer außerordentlichen Sensibilität, mit einem ungeheuren Gedächtnis begabt sein: er hat keine Organe, insofern er jeglichen willkürlichen und geordneten Gebrauchs dieser Vermögen beraubt ist. Dafür übt sich ein Vermögen in ihm aus, wenn es dazu veranlaßt und gezwungen wird; und das entsprechende Organ setzt sich ihm auf, jedoch als intensive Skizze, von den Wellen geweckt, die seinen unwillkürlichen Gebrauch her-
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An der Feinheit dieses Netzes hängt »the success with which the author has produced the illusion of life«.51 Das Kunstwerk ist daher nicht etwas dem Leben kognitiv abgetrotztes, es ist kein Re|Arrangement, es ist ein Teil des Lebens selbst: »A novel is a living thing, all one and continuous, like every other organism, and in proportion as it lives will it be found [...] that in each of the parts there is something of each of the other parts«.52 Alles ist mit allem verbunden. Es gibt keine generelle Auflösung, denn niemand hätte je behauptet, dass das Leben einen klaren Sinn ergibt oder ergeben sollte. Was Kunst erstellt, sind eben nicht ›imitations of life‹, sondern das Leben selbst, bzw. ›illusions of life‹. Ziel der Kunst ist »an immense and exquisite correspondence with life«.53 Für den Realisten James ist der Naturalist Zola zu dunkel – und auch hier ist die Lichtmetaphorik wichtig –, um das Leben in seiner Komplexität einzufangen. Wenn es Ziel der Kunst ist, zu »try and catch the colour of life itself«,54 dann ist Zola zwar »magnificent« aber dann hat er auch »an air of working in the dark; if he had as much light as energy, his results would be of the highest value«.55 Soweit zu den Resonanzen zwischen James und Lynch. Nun ist es so, dass, obwohl James eine gute Folie für das Werk von Lynch abgibt, mehr als ein Jahrhundert zwischen den beiden Poetiken liegen. Innerhalb dieser Zeitspanne hat sich u. a. die Topologie entwickelt, als ma-
vorrufen. Unwillkürliche Empfindungsfähigkeit, unwillkürliches Gedächtnis«. Gilles Deleuze: Proust und die Zeichen. Übers. von Henriette Beese. Berlin 1993, S. 145. Wie der spinnenartige Schriftsteller bei James, erspürt der spinnenhaftige Erzähler bei Proust «einzig an einem Ende ihres Netzes das geringste Erzittern ihres Netzes, das sich als starke Welle in ihren Körper fortsetzt«. Ebd. 51 James: Art of Fiction (Anm. 43), S. 53. 52 Ebd., S. 54. 53 Ebd., S. 61. 54 Ebd., S. 65. 55 Ebd.
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thematische Theorie des Raumes. Die Topologie ist wichtig für Lynch, weil seine Portraitkunst nicht nur dem filmischen Licht immanent ist, sondern auch dem filmischen Raum. So werden in Inland Empire Raumkonzepte wie die ›projektive Fläche,‹ auf der die Unterscheidung zwischen Innen und Außen aufgehoben wird, und die bei Lost Highway insbesondere in Bezug auf die zentrale Szene der ›Verwandlung‹ noch ein generelles Erklärungsraster bildet, nun ohne eine Leibniz’sche Aufsicht in die Multiplizität Riemann’scher Räume eingebaut, wobei insbesondere das Passieren räumlicher Schwellen, insbesondere zwischen den zwei den Film bestimmenden Zeit- und Realitätsebenen, aber auch zwischen der künstlichen Hasensitcom und der ›realen‹ Welt, wichtig ist. Abbildung 17: Szenenausschnitt aus Inland Empire
Quelle: Inland Empire. DVD (Anm. 2)
In dieser Topologie wird der Film selbst zu einem unheimlichen ›haunted house of fiction‹. Wenn in einer Szene von Inland Empire Nikki Grace, der bekannten Lynch’schen Bilokation entsprechend, sich an zwei Orten gleichzeitig befindet – so wie Fred in Lost Highway sich an zwei Orten gleichzeitig befindet – so ist dies vor diesem Hintergrund nicht so sehr als künstlerische Verunsicherungstaktik zu verstehen, sondern als logisches Resultat der Erstellung einer Handlung innerhalb eines vorgegebenen topologischen Raumkonzeptes, nach dessen Logik
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solch eine Verdoppelung völlig realistisch und konsequent erscheint. Raum und Zeit sind als a-priori nicht mehr getrennte Register. Man kann nicht mehr unterscheiden zwischen der Bilokation im Gedächtnis- und im Realitätsraum; zwischen virtueller und aktueller Bilokation. Daraus folgt, dass eine Interpretation des Films nicht nur optischchromatisch sondern auch topologisch vorgehen sollte. Wenn Lynchs Licht optische Interpretationen hervorruft, so rufen seine Räume topologische Interpretationen hervor. Bei Lynch sind diese topologischen Referenzen oft auf das Konzept der Kinoleinwand als ›projektiver Fläche‹ zurückzuführen, auf der sich Innen und Außen auf einer einseitigen Oberfläche ineinanderdrehen: die projektive Fläche des Kino. Dennoch kurz zur Geschichte: Die Schauspielerin Nikki Grace hat nach langer Zeit ein neues Filmangebot in dem Melodrama High on in Blue Tomorrows bekommen. Bei der ersten Besprechung am Set hört der Produktionsassistent ein Geräusch. Sie geht nach hinten und sieht sich selbst von außen in den Raum schauen. Nach dieser merkwürdigen Begebenheit erklärt der Regisseur den Schauspielern, dass der geplante Film das Remake eines polnischen Films mit dem Titel 47 ist, über dem ein Fluch gelegen hat und der nie fertiggestellt wurde. Später zeigt Lynch dieselbe Szene aus einer anderen Sicht, wobei klar wird, dass es eine bilokierte Nikki Grace war, die das Geräusch verursacht hat.
M ELODRAMA: C HIAROSCURO Meine bisherige Herangehensweise an Inland Empire war gewollt unaffektiv. Und daher greift sie zu kurz. Denn innerhalb von Lynchs Portraitkunst laden sich Räume und Licht mit unendlicher affektiver Energie auf. Plötzlich beschreiben ›dunkel‹ und ›hell‹ nicht mehr nur die relative Lumineszenz und Intensität des optischen Mediums, innerhalb dessen sich Personen und Aktionen konstituieren, sowie seine Beziehung zur Möglichkeit des Wissens; sie werden zu affektiven Landschaften, die mit Erfahrungen zu tun haben, die fast direkt organischer
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Natur sind. Es geht um Affekträume und deren optisch-akustische Herstellung. Dunkelheit ist nicht nur Unwissen, sie ist, vielleicht gerade daher, angsteinflößend, Helligkeit ist Wissen und Aufklärung, aber unmöglich, da Wahrnehmung unweigerlich verdunkelt. Passend zur Brechung des Lichts gibt es daher im Lynchs Kino eine Brechung des Wissens. Als Motiv ergibt sich aus dieser originären Verdunkelung, d. h. dem Nichtwissen, das Konzept des puren Lichts; die Unmöglichkeit des Kinobildes im optischen Fluchtpunkt des reinen Weiß. Lynch spannt diese optische Epistemologie in eine ebenso optische Affektologie – hierzu gehört natürlich auch der melodramatische Soundtrack! – und bindet auf diese Weise die Kunst an das Leben. Wie er kommentiert: »Malen etwa ist für mich eng mit Texturen verbunden. Sowohl beim Malen als auch in meinen Filmen versuche ich, organische Phänomene loszutreten«.56 Der Unterschied zwischen psychischem, erlebtem Raum und realem Raum löst sich auf; d. h., das Kino operiert sowohl auf einer eingebildeten als auch auf einer punktförmigen Fläche.57 Die Affektologie des Films ist an einem Fluch aufgehängt, bzw. an der Brutalität eines polnischen Ammenmärchens. Am Anfang des Films erhält Nikki Grace Besuch von einer Nachbarin. Diese erzählt, wie ein Junge das Böse in die Welt bringt und wie sich Mädchen in Gassen hinter Märkten verlieren. Darum gibt es auch wieder ›wicked witches‹. Diane Ladd spielt die Nachbarin Marylin Levens und ist im realen Leben die Mutter von Laura Dern. Vorher hatte sie schon Marietta Fortune gespielt, die Hexe, die Lula/Dern in Wild at Heart verfolgt hatte.
56 Markus Keuschnigg: »Ideen sind wie Fische«. David Lynch über seinen neuen Film »Inland Empire«, die Zukunft Hollywoods und das Meditieren. http://diepresse.com/home/kultur/film/306619/index.do (10. Mai 2012). 57 Vgl. dazu Vilém Flusser: Ins Universum der technischen Bilder. European Photography. Göttingen 1985.
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Gemäß der Formel des Naturalismus entwickelt sich das ›abgeleitete Milieu‹ des Films aus der dunklen ›Ursprungswelt‹ dieses Märchens und es bleibt sein Attribut, wobei es in Bezug auf den Naturalismus eine weitere Resonanzen zwischen Lynch und Bacon gibt, denn wie bei Lynch »gibt es bei Bacon keine Gefühle: nichts als Affekte, d. h. ›Sensationen‹ und ›Triebe‹ nach der Formel des Naturalismus«.58 In Bacon entlädt sich die Intensität dieser Gewalt im Gesicht und im close-up: Kräfte des »Drucks, der Ausdehnung, der Kontraktion, der Abplattung, der Streckung, die auf den unbeweglichen Kopf einwirken«.59 Auch in Lynch zeigen sich solche affektiven Krafteinwirkungen oft in verzerrten, affektierten Gesichtern. Und auch gemäß der Formel des Naturalismus ist Inland Empire ein zutiefst melodramatisches Portrait, erschaffen aus einer manichäistischen Welt, in der Gut und Böse in einem ewigen Wettstreit sind: Reflektion gebiert das Böse. »Man sagt, dass Negativität vergleichbar ist mit Dunkelheit. Nun gut: Was ist Dunkelheit? Dunkelheit ist nichts anderes als die Abwesenheit von Licht. So, wie das Sonnenlicht jeden Morgen die Dunkelheit ein ums andere Mal vertreibt, so wird das Böse durch das Licht aus einem vereinten, reinen Bewusstsein bekämpft. Das Böse an sich existiert also gar nicht selbst, sondern nur in der Abwesenheit von etwas anderem.«60
Und wenn ich in der Coda nun doch inhaltlich werde, dann wird Inland Empire zu einem doppelten bzw. einem verdoppelten Melodrama. Susan Blue muss in dem Remake melodramatisch sterben, damit nachträglich die Heldin des Originalfilms wieder mit ihrer Familie vereint werden kann. In der Sterbeszene des neuen Melodramas hält die farbige Stadtstreicherin der sterbenden Susan die Flamme ihres Feuerzeugs vor die brechenden Augen: »I’ll show you light now«, sagt sie. Das
58 Deleuze: Logik der Sensation (Anm. 4), S. 30. 59 Ebd., S. 40. 60 Michael Maurer: David Lynch / Inland Empire. Die Abwesenheit von Licht. https://www.intro.de/film/dvd/23040302/david-lynch-inland-empiredie-abwesenheit-von-licht (10. Mai 2012).
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Weiß der Flamme zeigt die Auflösung in das weiße Licht des Todes. Nicht mehr das ›blue‹ des Lebens. Abbildung 18: Szenenausschnitt aus Inland Empire
Quelle: Inland Empire. DVD (Anm. 2)
Abbildung 19: Szenenausschnitt aus Inland Empire
Quelle: Inland Empire. DVD (Anm. 2)
Es ist, als hätte Grace mit ihrem Tod retrospektiv das gescheiterte Melodrama 47 zu Ende gebracht und so den früheren Film erlöst. Und hier wird es wieder unübersetzbar, denn die Puritaner werden durch die
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Gnade Gottes erlöst. Hier, durch ›the grace of Nikki Blue.‹ Inland Empire basiert somit auf einer topologischen Faltung der zwei Melodramen aufeinander, mit der Figur von Blue/Grace als Fläche der Faltung. Das ist in etwa vergleichbar mit der räumlichen Faltung von Mulholland Drive auf Sunset Boulevard. Am Ende ist der Fluch gebrochen und das Gute hat gesiegt. Dieses Ende ist untermalt von der Affektfläche der melodramatischen Musik, die Lynch an solchen Punkten gerne und ausgiebig einsetzt. Am Ende der Sequenz steht das fertige Portrait von Nikki Grace, in klassischer Portraitpose. Abbildung 20: Szenenausschnitt aus Inland Empire
Quelle: Inland Empire. DVD (Anm. 2)
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Abbildung 21: Szenenausschnitt aus Inland Empire
Quelle: Inland Empire. DVD (Anm. 2)
Das Gesicht und die Geschichte einer Frauengestalt, die zwischen ›white-trash avenging angel‹, alternder Schauspielerin, Ehefrau, Prostituierter, und melodramatischer Heldin changiert: ›A Woman in Trouble‹. Das Chiaroscuro ist ihr Licht und ihr Raum. Hell und Dunkel. Wissen, Nichtwissen, Affekt. Eine einzigartige Figur der generellen Chromatik des Lebens; nicht psychoanalysiert, sondern ausgeleuchtet. Das ist genug.
Autorinnen und Autoren
Berressem, Hanjo, Professor am Englischen Seminar der Universität zu Köln. Er forscht u. a. zu Moderner und Postmoderner Amerikanischer Literatur und Kultur, Poststrukturalismus, Hypermedien, Literatur und Wissenschaft, Psychoanalyse sowie chicano/a culture[s]. Brittnacher, Hans Richard, Professor am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in Phantastischer Literatur und Intermedialität des Phantastischen, Literaturgeschichte der Goethezeit und des Fin de siècle, Außenseiter und Minderheiten in der Literatur, Zigeuner und Populärkultur. Geisenhanslüke, Achim, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Regensburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Literaturtheorie, Europäische Literaturen des 17. bis 21. Jahrhunderts und Kulturwissenschaften. Kaul, Susanne, Dozentin im Fach Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld. Ihre Publikationen umfassen u. a. Monographien über Quentin Tarantino, Stanley Kubrick und David Lynch. Liebrand, Claudia, Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft / Medientheorie am Institut für deutsche Sprache und Literatur I
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der Universität zu Köln. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Literatur des 19. Jahrhunderts und der Klassischen Moderne, Geschlechterdifferenz sowie Medien (insb. Film) und kulturelle Kommunikation. Overthun, Rasmus, lebt in Berlin und promoviert zum Thema Kafkas Monster. Figuren und Texturen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Literatur-, Medien- und Kulturtheorie, Kunst- und Kulturgeschichte der Moderne und die Kulturpoetik des Liminalen (insb. des Monströsen und des Nichtwissens). Palmier, Jean-Pierre, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld. Sein Dissertationsprojekt trägt den Titel Gefühlte Geschichten. Unentscheidbares Erzählen und emotionales Erleben. Schmitt, Mark, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Anglistischen Seminar der Universität Mannheim. Er promoviert dort zu British White Trash. Contemporary Literary and Filmic Minority Narratives. Seine Forschungsschwerpunkte sind englischsprachige Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Critical Whiteness Studies und Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Film. Shelton, Catherine, Lehrbeauftragte am Institut für Medienkultur und Theater an der Universität zu Köln. Sie veröffentlichte zuletzt die Monographie Unheimliche Inskriptionen. Eine Studie zu Körperbildern im postklassischen Horrorfilm. Steltz, Christian, Dozent für Neuere deutsche Literatur an der Universität Regensburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts, Literaturtheorie (insb. Intertextualität, Intermedialität), Gegenwartsdrama / Postdramatisches Theater / Performanz und die Konkurrenzsituation der mimetischen Künste Film und Theater.
Literalität und Liminalität Christine Bähr, Suse Bauschmid, Thomas Lenz, Oliver Ruf (Hg.) Überfluss und Überschreitung Die kulturelle Praxis des Verausgabens 2009, 246 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-989-3
Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Monströse Ordnungen Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen (unter Mitarbeit von Rasmus Overthun) 2009, 694 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1257-8
Eckart Goebel Jenseits des Unbehagens »Sublimierung« von Goethe bis Lacan 2009, 280 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1197-7
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Literalität und Liminalität Oliver Kohns, Claudia Liebrand (Hg.) Gattung und Geschichte Literatur- und medienwissenschaftliche Ansätze zu einer neuen Gattungstheorie Mai 2012, 384 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1359-9
Inge Kroppenberg, Martin Löhnig (Hg.) Fragmentierte Familien Brechungen einer sozialen Form in der Moderne 2010, 238 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1400-8
Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.) Medien des Wissens Interdisziplinäre Aspekte von Medialität 2011, 270 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-779-0
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Literalität und Liminalität Natalie Bloch Legitimierte Gewalt Zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in Theatertexten von Elfriede Jelinek und Neil LaBute
Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Schriftkultur und Schwellenkunde
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Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Grenzräume der Schrift
Bernhard J. Dotzler, Henning Schmidgen (Hg.) Parasiten und Sirenen Zwischenräume als Orte der materiellen Wissensproduktion
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2008, 248 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-870-4
Jens Elberfeld, Marcus Otto (Hg.) Das schöne Selbst Zur Genealogie des modernen Subjekts zwischen Ethik und Ästhetik 2009, 430 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1177-9
Thomas Ernst Literatur und Subversion Politisches Schreiben in der Gegenwart November 2012, ca. 490 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1484-8
Achim Geisenhanslüke Das Schibboleth der Psychoanalyse Freuds Passagen der Schrift 2008, 158 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-89942-877-3
Achim Geisenhanslüke, Michael Peter Hehl (Hg.) Poetik im technischen Zeitalter Walter Höllerer und die Entstehung des modernen Literaturbetriebs November 2012, ca. 230 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1598-2
2008, 320 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-776-9
Achim Geisenhanslüke, Hans Rott (Hg.) Ignoranz Nichtwissen, Vergessen und Missverstehen in Prozessen kultureller Transformationen 2008, 262 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-778-3
Nicola Gess, Tina Hartmann, Robert Sollich (Hg.) Barocktheater heute Wiederentdeckungen zwischen Wissenschaft und Bühne 2008, 220 Seiten, kart., inkl. Begleit-DVD, 25,80 €, ISBN 978-3-89942-947-3
Sebastian Reddeker Werbung und Identität im multikulturellen Raum Der Werbediskurs in Luxemburg. Ein kommunikationswissenschaftlicher Beitrag 2011, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1988-1
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)
Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012
Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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