Kinder und Erwachsene : zur Kritik der pädagogischen Differenz 3886196356

Erziehung vollzieht sich im Umgang von Kindern und Erwachsenen, so lautet die grundlegende Annahme der Pädagogik. Damit

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German Pages [186] Year 1996

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Table of contents :
Kinder und Erwachsene - gibt's die? 9
1 Explanandum 21
1.1 Gliederung 23
1.2 Datierung 41
1.3 Geltungsbereich 46
2 Äquivalenz und Metapher 57
2.1 Das sogenannte Generationenverhältnis 57
2.2 Das Übergewicht der Freiheit 62
2.3 Der Höhepunkt der Vereinigung 68
2.4 Kristallbildung 73
3 Begründungsversuche 79
3.1 Formen der Unterstellung 79
3.2 Historische Argumente 88
3.3 Universalistische Konzeptionen 105
4 Rekonstruktion 125
4-1 Physische Dualismen 126
4.2 Zweierlei Rechtssubjekte 127
4.3 Anschlüsse 133
5 Funktion 137
5.1 Zuschreibung vs. Leistung 138
5.2 Positionswechsel 141
5.3 Binäre Codierung 144
5.4 Strukturkern 149
5.5 Evidenz 156
6 Garantie 161
6.1 Wer erzieht die Erzieher? 161
6.2 Die Unmöglichkeiten der Erziehung 166
6.3 Die Gewißheit, erzogen zu sein 170
Eine Grenze der Vernunft 173
Literaturverzeichnis 179
Personenverzeichnis 189
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Kinder und Erwachsene : zur Kritik der pädagogischen Differenz
 3886196356

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Rolf Nemitz

Kinder und Erwachsene Zur Kritik der pädagogischen Differenz

Edition Philosophie und Sozialwissenschaften 35 Argument

Erziehung vollzieht sich im Umgang von Kindern und Erwachsenen, so lautet die grundlegende Annahme der Pädagogik. Damit wird unterstellt, daß die Gesellschaft aus zwei Generationen besteht, aus Kindern und Erwachsenen. Stimmt das? Entspricht der Unterscheidung ein wirklicher Unterschied?

ISBN 3-88619-635-6

Rolf Nemitz, Kinder und Erwachsene

Rolf Nemitz

Kinder und Erwachsene Zur Kritik der pädagogischen Differenz

Aigument

Anschrift des Verfassers Rolf Nemitz Gürtelstraße 35 10247 Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Nemitz, Rolf: Kinder und Erwachsene : zur Kritik der pädagogischen Differenz / Rolf Nemitz.- 1. Aufl. - Berlin : Hamburg : Argument-Verl., 1996 ISBN 3-88619-635-6

Alle Rechte vorbehalten © 1996 Argument-Verlag Herstellung und Vertrieb: Argument-Verlag, Rentzelstr. 1, 20146 Hamburg Texterfassung und Satz: Autor Umschlag: Satzinform, Berlin Druck: Difo-Druck, Bamberg Dissertation Oldenburg 1993 Erste Auflage 1996

Inhalt Kinder und Erwachsene - gibt's die?

9

1 Explanandum 1.1 Gliederung 1.2 Datierung 1.3 Geltungsbereich

21 23 41 46

2 Äquivalenz und Metapher 2.1 Das sogenannte Generationenverhältnis 2.2 Das Übergewicht der Freiheit 2.3 Der Höhepunkt der Vereinigung 2.4 Kristallbildung

57 57 62 68 73

3 Begründungsversuche 3.1 Formen der Unterstellung 3.2 Historische Argumente 3.3 Universalistische Konzeptionen

79 79 88 105

4 Rekonstruktion 4-1 Physische Dualismen 4.2 Zweierlei Rechtssubjekte 4.3 Anschlüsse

125 126 127 133

5 Funktion 5.1 Zuschreibung vs. Leistung 5.2 Positionswechsel 5.3 Binäre Codierung 5.4 Strukturkern 5.5 Evidenz

137 138 141 144 149 156

6 Garantie 6.1 Wer erzieht die Erzieher? 6.2 Die Unmöglichkeiten der Erziehung 6.3 Die Gewißheit, erzogen zu sein

161 161 166 170

Eine Grenze der Vernunft

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Literaturverzeichnis Personenverzeichnis

179 189

Für Sigrid

Kinder und Erwachsene - gibt's die? »Heute befinden wir uns an der Schwelle einer kommenden Ära, in der es nötig sein wird, für zwei verschiedene Menschheiten zu arbeiten: für die erwachsene und die kindliche. Und wir sind auf dem Wege zu einer Kultur, die zwei scharf voneinander unterschiedene soziale Umwelten wird vorbereiten müssen: die Welt des Erwachsenen und die des Kindes.«1 Sicherlich würden nicht alle Erziehungswissenschaftler zu dieser Zwei-Welten-Theorie »ja« sagen; aber einig sind sich die meisten mit Montessori darin, daß dies die Differenz ist, auf die es ankommt: die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen. Erziehung vollzieht sich in der Interaktion von Kindern und Erwachsenen, so lautet der kleinste gemeinsame Nenner der meisten Erziehungsdefinitionen. Der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen gilt als diejenige soziale Tatsache, welche Erziehung erst möglich macht; insofern handelt es sich hierbei nicht um eine, sondern um die pädagogische Differenz. Abweichungen gibt es bezüglich der Terminologie, die Rede ist auch von werdenden und reifen Menschen, von noch nicht Sozialisierten und bereits Sozialisierten und - besonders häufig - vom Generationenverhältnis. Aber das sind nur Bezeichnungsvarianten. Allerdings gibt es eine Minderheit von Autoren, die das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen nicht für zentral halten. Sie können auf eine ganze Reihe pädagogisch relevanter Vorgänge verweisen, die sich außerhalb dieses Verhältnisses abspielen; die Stichworte sind dann beispielsweise lifelong learning oder education permanente. Eine derartige Erweiterung des pädagogischen Aktivitätsfeldes kann jedoch wiederum durch Bezugnahme auf Kinder und Erwachsene artikuliert und so an den vorherrschenden Erziehungsbegriff assimiliert werden. Die Pädagogik - die Kinderbildung - wird dann durch die Andragogik - die Erwachsenenbildung - ergänzt; neben die Sozialpädagogik, die sich an die Noch-nicht-Erwachsenen wendet, tritt die Sozialarbeit, die es mehr mit den Erwachsenen zu tun hat. Die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen hat dann nicht nur die Funktion, Agenten und Adressaten der Erziehung einander gegenüberzustel-

1 Montessori 1958, S. 11

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EINLEITUNG

len; sie dient auch dazu, die Klientel selbst noch einmal einer Zweiteilung zu unterwerfen. In dieser Arbeit versuche ich, die folgenden beiden Fragen zu beantworten: Welchen Realitätsgehalt hat die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen? Und: Warum ist diese Unterscheidung für die Pädagogik so bedeutsam? Die Frage nach dem Realitätsgehalt der Kind-Erwachsenen-Differenz ist bisher nicht systematisch untersucht worden. Zwar gibt es zahlreiche angrenzende Untersuchungen - zur Geschichte der Kindheit, zur Sozialisation von Erwachsenen und zur Soziologie des Lebenslaufs; diese beziehen sich jedoch nicht auf genau diese Frage. Erstens haben die Ausdrücke »Kinder« und »Erwachsene« in der Literatur sehr unterschiedliche Bedeutungen; in dieser Arbeit beziehe ich mich auf Kinder und Erwachsene ausschließlich im Sinne einer Zweiteilung des Lebenslaufs. Zweitens frage ich nicht - wie das sonst meist der Fall ist - entweder nach Kindern oder nach Erwachsenen, auch nicht sowohl nach Kindern als auch nach Erwachsenen; mein Thema ist tatsächlich die Unterscheidung, die zwischen ihnen getroffen wird. Und drittens geht es in den einschlägigen Arbeiten fast immer um die Attribute von Kindern und Erwachsenen: Wie sind sie beschaffen, welche Vorstellungen macht man sich von ihnen? Hier hingegen geht es um ihre Realität: Gibt es Kinder und Erwachsene? Und in diesem Sinne ist der Realitätsgehalt der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen noch nicht untersucht worden. Ich will die drei Merkmale näher erläutern. 1. Zweiteilung des LebenslaufsArbeiten zur Kindheit oder zum Erwachsensein haben oftmals nur scheinbar denselben Gegenstand. Das liegt daran, daß beide Ausdrücke - »Kinder« und »Erwachsene« - mehrdeutig sind. »Kind« bezieht sich sowohl auf eine Etappe des Lebenslaufs als auch auf ein Verwandtschaftsverhältnis. Im letzteren Fall können Kinder selbst erwachsen sein; nicht den Erwachsenen stehen sie gegenüber, sondern den Eltern. Gegenstand dieser Arbeit sind Kinder ausschließlich im Sinne einer Altersstufe. Aber auch in diesem Rahmen kann der Ausdruck unterschiedlich verwendet werden. Er kann sich auf eine zweigliedrige Konzeption beziehen und meint dann sämtliche Nicht-Erwachsenen. Es ist aber auch möglich, daß die Rede von »Kindern« nur auf eine Teilgruppe der Nicht-Erwachsenen zielt; neben Kindern und Erwachsenen gibt es dann noch Säuglinge, Kleinkinder, Heranwachsende, Jugendliche, Alte und ähnliche Kategorien. Aus diesem Grunde ist die Bezeichnung »Er-

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wachsener« ebenfalls mehrdeutig. Sie kann sich auf die Zwei-Stufen-Konzeption beziehen, sie kann aber auch in einem anderen Rahmen verwendet werden, etwa in einer dreigliedrigen Struktur wie Kinder/Erwachsene/Alte. Da Bedeutungen differentiell organisiert sind, haben die Ausdrücke »Kinder« und »Erwachsene« je nach Gliederungsschema einen unterschiedlichen Sinn. (Das Problembewußtsein ist in diesem Punkt, wie man noch sehen wird, nicht sehr ausgeprägt.) In der zweigliedrigen Konzeption bezieht sich »Erwachsensein« auf eine Altersstufe, der man bis zum Tod angehört; verwendet man jedoch das dreiteilige Schema Kinder/Erwachsene/Alte, ist Erwachsensein eine Stufe, die man - falls man lange genug lebt - irgendwann einmal verläßt. Im folgenden geht es um Kinder und Erwachsene ausschließlich im Sinne der Zwei-Stadien-Konzeption des Lebenslaufs. Denn auf sie bezieht sich Schleiermachers kanonische Formulierung von den zwei Generationen 2 , und die meisten Erziehungswissenschaftler sind ihm darin (wenn auch nicht immer ganz konsequent) gefolgt. Von Brim und Wheeler gibt es eine Studie, die im Deutschen den folgenden Titel trägt: »Erwachsenen-Sozialisation. Sozialisation nach Abschluß der Kindheit«. Damit wird gesagt, daß das Erwachsensein die gesamte Zeit nach der Kindheit umfaßt. Um diese Konzeption geht es auch in dieser Arbeit. Wenn ich von »Kindern und Erwachsenen« spreche, ist das also ein Kürzel für die folgenden Behauptungen: Die Gesamtbevölkerung besteht aus zwei Gruppen, aus Kindern und Erwachsenen; dies beruht darauf, daß der Lebenslauf sich aus zwei Hauptperioden zusammensetzt, einer Periode der Kindheit und einer des Erwachsenseins. Die Kindheit beginnt mit der Geburt und endet mit dem Ubergang ins Erwachsenenalter, das Erwachsensein beginnt mit dem Ende der Kindheit und endet mit dem Tod. Einer ganzen Reihe von drei- oder viergliedrigen Konzeptionen des Lebenslaufs liegt ebenfalls ein zweigliedriges Schema zugrunde. Dies gilt etwa für die Einteilung in Kinder, Jugendliche und Erwachsene, sofern das Jugendalter, wie heute üblich, als Übergangsstadium begriffen wird. Auch die Einteilung in Kindheit, Jugendalter, Erwachsenenalter und Greisenalter kann auf einer Zweiteilung beruhen; auf der einen Seite stehen dann die Kinder (im engeren Sinne) und die Jugendlichen, auf der anderen die Erwachsenen (im engeren Sinne) und die Greise. Entscheidend ist die Zweiteilung, nicht die Terminologie. Statt von »Kindern und Erwachse2 Hierzu ausführlich unten S. 57 ff.

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EINLEITUNG

nen« wird oft auch von »Heranwachsenden und Erwachsenen« gesprochen. Zu beachten ist, daß auch der Ausdruck »Heranwachsende« in mehreren Bedeutungen zirkuliert. Er kann sich erstens auf alle Nicht-Erwachsenen beziehen und zweitens auf eine Gruppe innerhalb der NichtErwachsenen; die Nicht-Erwachsenen setzen sich dann beispielsweise aus Kindern, Heranwachsenden und Jugendlichen zusammen. Am seltensten, aber am unmißverständlichsten ist die Gegenüberstellung von Erwachsenen und Nicht-Erwachsenen. Im folgenden verwende ich die Oppositionen Kinder/Erwachsene, Heranwachsende/Erwachsene und Nicht-Erwachsene/Erwachsene synonym. 2. DifferenzEin weiterer Unterschied zur bisherigen Literatur besteht darin, daß ich die Kategorien »Kinder« und »Erwachsene« nicht additiv untersuche, sondern relational. In den meisten einschlägigen Arbeiten werden die Kategorien »Kindheit« und »Erwachsensein« substantiell gefaßt, d. h. als Einheiten, die auch für sich existieren können, außerhalb des Verhältnisses zur Komplementärkategorie. Die Analysen gelten dann entweder der Kindheit oder dem Erwachsensein, nicht aber dem Verhältnis. Man beschäftigt sich mit der Frage, was unter »Kindheit« zu verstehen ist und was unter »Erwachsensein«, nicht mit der Differenz. In Handbüchern und Lexika findet man Artikel über das Kind und über den Erwachsenen, nicht über das Kind-Erwachsenen-Verhältnis. In der hier vorgelegten Untersuchung geht es nicht sowohl um Kinder als auch um Erwachsene, sondern um den Unterschied. Auf den differentiellen Charakter der Begriffe ist verschiedentlich hingewiesen worden. Postman schreibt: »Ohne klare Vorstellung davon, was es bedeutet, Erwachsener zu sein, kann es auch keine klare Vorstellung davon geben, was es bedeutet, Kind zu sein.«3 Er behauptet deshalb nicht nur das Verschwinden der Kindheit (eigentlich: der Kindheits-Idee), sondern damit auch das Verschwinden des Erwachsenen (der Vorstellung vom Erwachsenen). Lenzen formuliert das Problem so: »Vielleicht ist ja schon viel gewonnen, wenn man sich über diesen Tatbestand wirklich im klaren ist, nämlich darüber, daß man über sich als Erwachsenen spricht, wenn man das Kindsein thematisiert.«4 Und in einer Darstellung der 3 Postman 1987, S. 115 4 Lenzen 1994, S. 342.- Lenzens These ist das Komplement zu der von Postman: Nicht die Kindheit verschwindet, sondern das Erwachsensein. Er zieht hieraus jedoch nicht die analoge Konsequenz, daß mit dem Erwachsensein auch die Kindheit verschwindet. Er vergißt hier den differentiellen Charak-

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Theorien über Erwachsenenbildung schreiben Dewe, Frank und Huge: »Die biologischen Altersphasen Kindheit, Jugend und Erwachsenendasein verfestigen sich [in der modernen Gesellschaft] zu sozialen Phasen, die mit bestimmten Verhaltenserwartungen und Rollen verknüpft sind. In der Vormoderne kann man im soziologischen Sinn nicht von Kind/Jugendlicher/Erwachsener sprechen.«5 All dies sind jedoch nur Hinweise, nicht Versuche der theoretischen Rekonstruktion. 3. RealitätsgehaltDrittens frage ich nicht nach den Attributen von Kindern und Erwachsenen, sondern nach ihrer Realität. In der Pädagogik hatte die Rede von Kindern und Erwachsenen lange Zeit den Status einer Selbstverständlichkeit. Seit den 60er Jahren hat sich das geändert. Mit Untersuchungen zur Geschichte der Kindheit, zur Sozialisation von Erwachsenen und zur Soziologie des Lebenslaufs sind Kinder und Erwachsene zu Themen geworden. Genau in dem Maße, wie sich die bisherigen Hintergrundannahmen in Themen verwandelten, wurden die beiden Kategorien zugleich problematisch. Dennoch dürften die folgenden Annahmen zur Zeit unstrittig sein: 1. Historizität: Die Kategorien der Kindheit und des Erwachsenseins, die Vorstellungen über Kinder und Erwachsene und die Beziehungen zwischen den beiden Gruppen haben sich im Lauf der Geschichte beträchtlich verändert. 2. Kritik der »Adidtolatrie«6: Es ist fragwürdig, Kinder vorrangig als defizitär zu charakterisieren, als unvernünftig, unmündig, unreif und handlungsunfähig. Und es ist problematisch, Erwachsene als vollendet zu beschreiben, als vernünftig, mündig, reif und handlungsfähig. Der Dissens bezieht sich vor allem auf folgende Fragen: 1. Wie soll man das Erwachsensein beschreiben und wie die Kindheit, wie den Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen? 2. Wie haben sich die Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen historisch verändert? 3. Wird das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern auch weiterhin ein Erziehungsverhältnis sein? 4. Soll es weiterhin ein Erziehungsverhältnis sein? 4. Verschwindet die Kindheit? Sterben die Erwachsenen aus? Charakteristisch für den augenblicklichen Stand der Diskussion sind die Aufsätze von Niklas Luhmann und Dieter Lenzen. In beiden Fällen ter der Kategorien und spricht von der Gefahr einer allgemeinen Verkindlichung. 5 Dewe/Frank/Huge 1988, S. 140 f.- Auch Rutschky fragt von vornherein nach der Relation (vgl. Rutschky 1977). 6 Langeveld 1967

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EINLEITUNG

lautet die Botschaft: Das Kind ist ein Konstrukt.7 Damit, so scheint es, wird eine Annahme fallengelassen, die der bisherigen Diskussion über Kindheit und Erwachsensein noch zugrunde lag, die Annahme, daß es Kinder und Erwachsene tatsächlich gibt. Aber so ist die These nicht gemeint. Die konstruktivistische Zuspitzung hat eine realistische Grundlage. Diese Verknüpfung von Konstruktivismus und Realismus ist der blinde Fleck in den aktuellen Theorien über Kinder und Erwachsene. Zur Erläuterung muß ich ein wenig ins Detail gehen. Die Semantik von »Kind«, so erklärt Luhmann, stützt sich »auf leicht erkennbare Besonderheiten dieser Wesen im Unterschied zu Erwachsenen. Ohne diesen Unterschied, der an Körpergröße und Verhalten sichtbar wird, gäbe es keine Kinder.«8 Die Konstruktion des Kindes hat ihre Stütze also in einer Realität: im Unterschied zwischen »diesen Wesen« und den Erwachsenen. Demnach gibt es zwei Seinsschichten, die Ebene des realen Kindes und die des konstruierten Kindes; das Verhältnis zwischen beiden ist das von Basis und Überbau. Da Luhmann den Signifikanten »Kind« für das Konstrukt reserviert, fehlt ihm für das, was ich hier als »reales Kind« bezeichnet habe, ein Terminus; aus dieser Klemme hilft die Rede von »diesen Wesen«. Das terminologische Problem stellt sich nicht für die andere Seite: der Ausdruck »Erwachsene« bezieht sich auf die psychisch-organischen Systeme vor aller Konstruktion. Ist der Erwachsene also kein Konstrukt? Das bleibt offen. Woher weiß man aber, daß es einen realen Unterschied gibt? Für Luhmann gibt es hier kein Erkenntnisproblem. Der Unterschied existiert in einer Reihe von Besonderheiten, die »leicht erkennbar« sind, und zwar deswegen, weil sie sich dem Auge darbieten: die Differenz ist »sichtbar«. Der Unterschied zwischen (realen) Kindern und (realen) Erwachsenen ist also das Gegenteil eines Konstrukts. Er gehört zur Welt der vorprädikativen Erfahrung; die Differenz ist ein Phänomen im strengen Sinne, etwas, das sich von sich selbst her zeigt, eine Evidenz, eine »Offensichtlichkeit«9. Zum Konstrukt wird das Kind, Luhmann zufolge, erst durch zwei Operationen, die auf dieser Seinsschicht aufbauen: durch eine komplementäre Benennung (als »Kinder« und als »Erwachsene«), sowie schließlich da-

7 Vgl. Luhmann 1991b, Lenzen 1994.- Die Rede von der »Konstruktion« des Kindes findet sich bereits bei Wünsche (vgl. Wünsche 1985). 8 Luhmann 1991b, S. 24 9 Ebd.

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durch, daß den Kindern bestimmte Prädikate zugeordnet werden (die Erwachsenen bleiben auch hier aus dem Spiel). Gibt es also einen Unterschied, »der an Körpergröße und Verhalten sichtbar wird«? Sicherlich nicht. Es mag sein, daß die Unterschiedlichkeit der Körpergröße unmittelbar sichtbar ist, aber das heißt nicht, daß man zwei Gruppen sieht, die Großen und die Kleinen. Selbst wenn man nicht nur hinschaut, sondern unter dem Aspekt der Größe beobachtet, sammelt und klassifiziert, bekommt man immer nur eine Ordnung vom Typ der Orgelpfeifen, also eine transitive Reihe von größeren und kleineren Menschen, keine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Noch problematischer ist das andere Merkmal, der Verhaltensunterschied. Inwiefern sind Verhaltensunterschiede sichtbar? Sicherlich nicht auf dieselbe Weise wie Größenunterschiede. Und sofern sie tatsächlich gesehen werden können, erblickt man nicht zwei Verhaltensweisen, sondern sehr viele. Wer ist in der Lage, diesen Unterschied zu sehen? Alle? Oder könnte es sein, daß nur einige ihn spontan wahrnehmen - die Erwachsenen? Gehört die Wahrnehmbarkeit des Unterschieds zur alltäglichen Lebenswelt im Sinne der phänomenologisch orientierten Soziologie? »Unter alltäglicher Lebenswelt«, so heißt es bei Schütz und Luckmann, »soll jener Wirklichkeitsbereich verstanden werden, den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet.«10 Wenn dies so wäre, stünde die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen im Rücken der soziologischen Theoriebildung; sie ginge der Beschreibung der wahrnehmbaren Welt voraus und könnte deshalb selbst nicht mehr beschrieben werden. Schütz und Luckmann sprechen von einem »Sonderproblem der Kinderwelt«11, von dem man absehen müsse. Aber natürlich geht es nicht um ein Sonderproblem, sondern um das Grundproblem phänomenologischer Analysen, um den Status des beschreibenden Subjekts. Wie bei Luhmann heißt es auch bei Dieter Lenzen: »Das Kind ist ein Konstrukt«12. Und wie bei Luhmann beruht die Irrealisierung auch hier auf einer tiefer liegenden Realitätsannahme. Lenzen sieht die »Tendenz zu einer Dekonstruktion der tradierten definitorischen Grenzen zwischen Kindern und Erwachsenen«13 und erklärt, daß jede Definition dessen, 10 Schütz/Luckmann 1979, S. 25 11 Ebd., S. 47 12 Lenzen 1994, S. 353 13 Lenzen 1985, S. 20

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EINLEITUNG

was ein Kind ist, durch Normalvorstellungen bestimmt wird und insofern nicht wahrheitsfähig ist.14 Zugleich sind Kinder und Erwachsene für ihn jedoch schlichte Gegebenheiten. Er fragt danach, durch welche Mythen und Riten »der erzieherische Umgang von Erwachsenen mit Kindern«15 geprägt ist; diese Frage enthält als stillschweigende Voraussetzung die Annahme, daß es Kinder und Erwachsene tatsächlich gibt. Er behauptet, es gebe ein wachsendes Bedürfnis, »sich den Kindern gleich zu machen«16; auch diese Formulierung bezieht sich auf Kinder als auf eine real existierende Gruppe, der eine Komplementärgruppe gegenübersteht, die NichtKinder, also die Erwachsenen. Der Wirklichkeitsverlust der Zeichen, von dem Lenzen an anderer Stelle spricht17, hat also mindestens eine Ausnahme: die Differenz von Kindern und Erwachsenen. Aber auch in der Kritik an Normalvorstellungen versteckt sich die realistische Position. Lenzen bezieht sich auf Aussagen wie: »Der Wortschatz eines Kleinkindes wächst mit 1 Vi Jahren rasch an.«18 Weicht jemand davon ab, wird meist angenommen, daß mit ihm etwas nicht stimmt und daß therapeutische oder pädagogische Interventionen erforderlich sind. Lenzen macht nun darauf aufmerksam, daß hier ein Fehlschluß vorliegt. Ein statistischer Durchschnitt wird zur verbindlichen Norm erklärt; da der Ubergang vom Sein zum Sollen nicht wahrheitsfähig ist, handelt es sich bei derartigen Normalitätsvorstellungen um bloße Konstrukte. Dieser Einwand enthält ein realistisches Zugeständnis: Die Konstruktion des Kindes erfolgt beim Übergang von der Beschreibung zur Normierung. Also gibt es das wirkliche Kind - es liegt vor diesem Übergang. Der Zugang zum realen Kind ist zwar nicht ganz so leicht wie bei Luhman - die Kind-Erwachsenen-Differenz ist nicht einfach sichtbar dennoch gibt es einen Weg zur Realität des Kindes: die empirische Forschung. Man muß nur vermeiden, den problematischen Schritt zu tun; von Mittelwerten und Streumaßen darf man nicht zu Normen und Grenzwerten übergehen. Wenn man also die Frage der pädagogischen Intervention zurückstellt und sich auf Tatsachen beschränkt, wird man sehen: Kinder gibt es.

14 Vgl. Lenzen 1994, S. 343.- Lenzen verwendet den Ausdruck »Konstrukt« also anders als Kelly, der erklärt, daß Konstrukte an der Realität überprüft werden (vgl. Kelly 1986). 15 Lenzen 1985, S. 29 16 Lenzen 1994, S. 360 17 Vgl. Lenzen 1987 18 Vgl. Lenzen 1994, S. 355

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Von Luhmann wie von Lenzen wird die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen zugleich in Frage gestellt und als gegeben vorausgesetzt. Kinder und Erwachsene sind Konstruktionen. Es gibt Kinder und Erwachsene. Beide Annahmen werden gleichzeitig vertreten. Wie ist das zu erklären? Damit, daß die Problematisierung sich ausschließlich auf die Prädikate bezieht, nicht auf die Existenz. Aussagen vom Typ »Kinder sind soundso« und »Erwachsene sind soundso« sind umstritten. Solche Aussagen und deren Verknüpfung zu Erzählungen und Theorien gelten als pädagogisch verzerrt, sie suggerieren die Möglichkeit der Erziehung (Luhmann) oder deren Notwendigkeit (Lenzen). Mit der Problematisierung der Prädikationen wird jedoch nicht zugleich die Existenz von Kindern und Erwachsenen in Frage gestellt. Kinder und Erwachsene gibt es - wie problematisch auch immer es sein mag, Genaueres über sie auszusagen. An diesem Punkt ist die bisherige Diskussion angekommen. Die oben erwähnten Fragen (nach den Merkmalen, durch die Kinder und Erwachsene sich beschreiben lassen usw.) setzen immer voraus, daß es Kinder und Erwachsene tatsächlich gibt. So fordert beispielsweise Hermann Giesecke, von der Idee der Kindlichkeit des Kindes Abschied zu nehmen und Kinder wie kleine Erwachsene zu behandeln. An der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen hält er dabei fest: Das Generationenverhältnis verliere zwar an Bedeutung, jedoch eröffne die Aufhebung der Kindlichkeit des Kindes auch »neue Möglichkeiten des Umgangs zwischen Erwachsenen und Kindern«19. Konrad Wünsche erklärt, das 20. Jahrhundert suche das Gefälle zwischen den Generationen zu negieren, damit komme die pädagogische Bewegung an ihr Ende. Die »sogenannte lernende Gesellschaft produziert eine Art Gleichgewicht zwischen den Generationen, ihr Verhältnis^ zueinander gestaltet sich als beinahe reversibel«. Auch eine solche Beschreibung setzt die Existenz des Generationenverhältnisses immer noch voraus. Es gibt zwar keinen Unterschied mehr zwischen Kindern und Erwachsenen, aber dennoch steht außer Frage, daß es sie gibt. An einer Stelle geht Lenzen über diese Position hinaus. »Wir konzipieren uns«, so schreibt er, »als Erwachsene, wenn wir behaupten, daß es Kinder gibt«20. Gefragt wird hier nicht mehr, wie Kinder beschaffen sind oder wie sie gesehen werden, sondern ob es Kinder überhaupt gibt. Eine

19 Giesecke 1985, S. 12 20 Lenzen 1994, S. 343

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EINLEITUNG

solche Radikalisierung der Fragestellung findet man auch bei Rutschky21 sowie in der bereits erwähnten Arbeit von Dewe, Frank und Huge22. Aber systematisch ist die Frage, ob es Kinder und Erwachsene tatsächlich gibt, bisher nicht untersucht worden. Das ist das Ziel dieser Arbeit. Es geht also nicht um den Wandel des Generationenverhältnisses, nicht um Merkmale, Mythen und Modifikationen von Kindern und Erwachsenen. Es geht um den in solchen Thesen vorausgesetzten Rest von Realität. Kinder und Erwachsene - gibt's die? Wie wird die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen in der Pädagogik begründet? Erste (und häufigste) Möglichkeit: Uberhaupt nicht. Die zweite Möglichkeit besteht darin, daß man sich auf die pädagogisehen Klassiker beruft. Und drittens wird auf die modernen Humanwissenschaften verwiesen, auf Soziologie, Psychologie, Humanbiologie oder Geschichtswissenschaft. Aus dieser Sachlage ergibt sich die Gliederung der ersten Hälfte dieser Arbeit. Kapitel 1 wendet sich an diejenigen, die keinen Erklärungsbedarf sehen; ich werde erläutern, was an der Kind-Erwachsenen-Differenz erklärungsbedürftig ist und was ich unter einer theoretischen Rekonstruktion verstehe. Das zweite Kapitel ist den - oder zumindest einigen - pädagogischen Klassikern gewidmet. Wie erscheint die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen bei dem zu dieser Frage am häufigsten zitierten Autor, bei Schleiermacher, und welche Rolle spielt sie bei zwei anderen Autoren des pädagogischen Kanons, bei Humboldt und Herbart? Im dritten Kapitel geht es um die humanwissenschaftlichen Begründungen dieser Differenz, also um psychologische, soziologische, historische und humanbiologische Zugänge zum Thema; den Schwerpunkt bildet die Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Eisenstadt, Erikson und Aries. Das vierte Kapitel enthält meinen eigenen Rekonstruktionsversuch. Im zweiten Teil dieser Arbeit frage ich, warum diese Unterscheidung für die Erziehungswissenschaft so bedeutsam ist. Im fünften Kapitel versuche ich, die Funktionsweise der Kind-ErwachsenenOpposition ftir das pädagogische Wissen zu beschreiben, dabei orientiere ich mich an Theo Herrmanns Sneed/Stegmüller-Adaption. Im sechsten und letzten Kapitel greife ich eine bekannte Frage von Marx auf - Ist der Erzieher erzogen? - und behaupte: Die Kind-Erwachsenen-Opposition gibt

21 Vgl. unten S. 93 ff. 22 Vgl. Dewe/Frank/Huge 1988

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auf diese Frage eine Antwort, und deswegen ist sie für die Pädagogik so zentral. Ein Wort noch zur Entstehung dieser Arbeit. Der erste Anstoß liegt gut zehn Jahre zurück. Ich orientierte mich damals an zwei schwer vereinbaren Positionen, an der Kritischen Pychologie und an der Althusserschen Philosophie; die größten Reibungen gab es beim Subjektbegriff. In diesem Zusammenhang war mir folgendes aufgestoßen: Holzkamp betont einerseits, daß in der Evolution des Menschen eine phylogenetische Unterscheidung von Jugendzeit und Erwachsenendasein dysfünktional wurde; andererseits rekonstruiert er die menschliche Ontogenese ausgehend vom »Prozeßtyp der (entwickelten) Handlungsfähigkeit«23 und fragt von dort aus zurück nach den notwendigen Merkmalen des dorthin führenden Entwicklungsprozesses. Wie kann man die Theorie an einem dichotomen Entwicklungskonzept orientieren und die Funktionalität dieser Dichotomie zugleich bestreiten? Mit dieser Frage hatte sich ein Problem in mir festgesetzt: die Frage nach der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen, nach ihrem Realitätsgehalt und nach ihrer Funktion.24 Wenn mir nicht eine Menge Leute geholfen hätten, wäre ich nie zu einem Ende gekommen. Ich bedanke mich bei Silke Wenk und Harriet Eder (die es sich anhörten), bei Sigrid Deutsch-Nemitz (die es las), bei Walter Dietrich (der einen Brief schrieb), bei Hilbert Meyer (der noch mehr arbeitete), bei Detlef Garz (der es nicht so doli fand), bei Barbara Nemitz und meinen Eltern (die mir unter die Arme griffen), vor allem aber bei Hannelore May (die es mir abverlangte).

23 Holzkamp 1983, S. 420 24 Einen ersten Lösungsversuch findet man in Nemitz 1985. Die hier vorgelegte Arbeit ist die überarbeitete Fassung einer 1993 von der Universität Oldenburg angenommenen Dissertation.

1 Explanandum Ich werde also versuchen, mich sämdicher Aussagen über die Beschaffenheit von Kindern und Erwachsenen zu enthalten, und beschränke mich auf den verbleibenden Rest von Realität: auf die Behauptung, daß es Kinder und Erwachsene gibt. Stimmt das? Und wie läßt sich feststellen, ob es stimmt? Drei Wege werde ich nicht einschlagen. Ich werde das Problem, erstens, nicht durch Erörterungen über die transzendentale Differenz, die Dialektik der Sprache, die Arbitrarität des Zeichens oder die Konstruktion der Wirklichkeit zu lösen versuchen. Es geht hier um ein scharf eingegrenztes Problem, und unter solchen Bedingungen ist es durchaus möglich, danach zu fragen, ob der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen ein wirklicher Unterschied entspricht - wobei man natürlich in Rechnung stellen muß, daß ein »gegebener Unterschied« immer nur auf dem Wege der Theoriebildung zu haben ist. Die Frage lautet also ganz schlicht, ob sich die mit der Existenzbehauptung von Kindern und Erwachsenen verknüpften Minimalannahmen mit Hilfe der üblichen Theorien begründen lassen. Zweitens werde ich mich nicht auf die Alltagssprache berufen. Die Rede von Kindern und Erwachsenen ist eine alltagssprachliche Typisierung, die zum Wissensvorrat unserer Gesellschaft gehört. Viele Spezialarbeiten zur Struktur des Lebenslaufs orientieren sich an der alltagssprachlichen Gliederung des Lebenslaufs. Das geschieht meist ohne weitere Begründung, wird gelegentlich jedoch sogar zum Programm erhoben.25 Damit läßt sich die Frage nach der Existenz von Kindern und Erwachsenen jedoch nicht beantworten. Denn erstens gibt es viele Sprachen - warum stützt man sich auf das Deutsche und nicht auf das Chinesische, das Arabische oder das Russische? Und zweitens liefert die Alltagssprache keine bestimmte Gliederung des Lebenslaufs. Der alltagssprachliche Wissensvorrat ist inkonsistent, das gilt nicht zuletzt für die Struktur des Lebenslaufs. Zur Umgangssprache gehören einander ausschließende zwei-, drei- und vier25 So von Pieper 1978, S. 65

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EXPLANANDUM

gliedrige Lebenslaufschemata, und neben der Dichotomie Kinder - Erwachsene enthält sie noch andere Zweiteilungen, etwa die Vorstellung von der Lebensmitte. Jede Berufung auf das Alltagswissen muß deshalb mit einer doppelten Auswahl einhergehen, der Wahl einer Sprache und der Wahl eines Gliederungsschemas, und bei beiden Wahlvorgängen kann man sich nicht mehr auf die Evidenzen der Umgangssprache berufen. Aus diesem Grunde werde ich mich mit der alltagssprachlichen Dimension der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen nicht weiter beschäftigen. Was ich wissen möchte, ist, ob sich für die Unterschiedsbehauptung mehr Gründe anführen lassen als nur die Tatsache, daß die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen zum Klassifikationsrepertoire unserer Umgangssprache gehört. Gibt es sie wirklich, Kinder und Erwachsene? Das heißt: Läßt die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen sich rational rekonstruieren? Schließlich will ich noch vorausschicken, daß ich von einer rationalen Rekonstruktion nicht fordere, daß sie die Vagheit der Unterscheidung beseitigt. Die Kategorien »Kinder« und »Erwachsene« sind nicht trennscharf. Sie teilen die Bevölkerung nicht nur in zwei, sondern in drei Klassen. Mit der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen wird zugleich eine dritte Gruppe gebildet, die Gruppe der Grenzfälle, all derjenigen also, in bezug auf die sich nicht entscheiden läßt, ob es sich um Kinder handelt oder um Erwachsene. Unter logischem Aspekt betrachtet, kann man die Kategorie des Jugendlichen als einen Versuch deuten, die Zahl der Grenzfälle dadurch zu vermindern, daß man sie zu einer eigenen Altersgruppe erklärt. Durch eine solche Strategie läßt die Vagheit sich jedoch nicht zum Verschwinden bringen, man verdoppelt sie nur. Es gibt dann erstens diejenigen Grenzfälle, bei denen sich nicht sagen läßt, ob es sich noch um Kinder oder schon um Jugendliche handelt, und es gibt eine zweite Gruppe von Grenzfällen, bei denen unentscheidbar ist, ob sie noch zu den Jugendlichen gehören oder bereits zu den Erwachsenen. Unter einem haltbaren Argument verstehe ich im folgenden also nicht ein solches, welches die Vagheit der Unterscheidung beseitigen würde. Zwar ist es möglich, daß eine theoretische Rekonstruktion eine größere Trennschärfe hat als der Alltagsgebrauch, aber es wäre unsinnig, die Nichtexistenz von Grenzfällen zum Kriterium einer gelungenen Rekonstruktion zu erheben.26 26 Über die Kind-Erwachsenen-Unterscheidung als Variante der klassischen Haufenparadoxie vgl. Sainsbury 1993, S. 39 ff.

GLIEDERUNG

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Es gibt Kinder und Erwachsene. Diese Behauptung ist nicht so inhaltsarm, wie es auf den ersten Blick aussieht. Sie enthält drei wahrheitsfähige Aussagen: eine Aussage über die Gliederung des Lebenslaufs, eine über die Datierung des Einschnitts und eine über den Verbreitungsgrad dieser Struktur. Behauptet wird, daß der Lebenslauf aus zwei Hauptphasen besteht, daß die Zäsur in eine bestimmte Altersphase fällt und daß diese Struktur für nahezu alle Individuen gültig ist. Sind diese Behauptungen wahr? Keine dieser Aussagen ist trivial, zu jeder gibt es begründete Alternativen. Angenommen, jemand würde erklären, der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen sei eine bloße Fiktion, wie das Phlogiston oder der Totemismus oder die Schlüsselreize - könnte man ihm eine Antwort geben, die einleuchtender wäre als Luhmanns Hinweis auf Besonderheiten der Größe-und des Verhaltens? Welche Argumente lassen sich für die Unterscheidung anfuhren? Entspricht der Unterscheidung ein wirklicher Unterschied?

1.1 Gliederung Was also an der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen ist erklärungsbedürftig? Zunächst einmal die Phasenstruktur, die Gliederung. Der Lebenslauf, so lautet die implizite Hypothese, umfaßt zwei große Phasen, Kindheit und Erwachsenenalter; aus diesem Grunde besteht die Gesellschaft aus zwei Gruppen, aus Kindern und Erwachsenen.Vier Alternativbehauptungen sind denkbar: Erstens die Katastrophenthese: Das Leben verläuft unstet, chaotisch, unvorhersehbar; es gibt also auch keinen Haupteinschnitt, zumindest keinen, der voraussagbar wäre. Zweitens die Kontinuitätsthese: Biographien entwickeln sich kontinuierlich, inkrementalistisch, gradualistisch; es gibt keine größeren Einschnitte, also auch keine Zweiteilung. Drittens die Dreiteilungsthese: Der Lebenslauf wird nicht durch einen Haupteinschnitt geprägt, sondern mindestens durch zwei. Und viertens die skeptische These: Unsere Kenntnisse über die Struktur des Lebenslaufs sind so dürftig, daß globale Aussagen über ihn nicht gemacht werden können. Die erste Vorstellung, die Annahme also, das Leben werde wesentlich durch unvorhersehbare Ereignisse geprägt, spielt in der Soziologie, in der Psychologie oder in der Pädagogik so gut wie keine Rolle. Die Ausnahme

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scheint Bollnows Studie über die »unsteten Formen der Erziehung« zu sein. Diese Arbeit zeichnet sich aber gerade dadurch aus, daß selbst hier noch versucht wird, die unerwarteten Ereignisse in eine Konzeption stufenförmiger Entwicklung zu integrieren.27

Die Kontinuitätsthese Ein mächtiger Konkurrent für die Binarisierungsthese ist hingegen die zweite Konzeption, also die Vorstellung vom Leben als einem Prozeß kontinuierlicher Höherentwicklung. Gemeint ist hier nicht eine stufenförmige Entwicklung, sondern eine gradualistische Konzeption, die mit sehr kleinen Zuwächsen arbeitet. Von hier aus kommt man zu einer transitiven Anordnung unterschiedlicher Entwicklungshöhen. Man kann dann sagen, ob ein Individuum höher oder niedriger entwickelt ist als ein anderes oder ob es gleich entwickelt ist. Was man auf diesem Wege nicht erhält, ist eine Zweiteilung. Zwar lassen sich erwachsenere Menschen von weniger erwachsenen abgrenzen, aber dieser Vergleich kann sich auch auf zwei Kleinkinder beziehen oder auf eine Gruppe von Achtzigjährigen. Die Kontinuitätsthese liefert keine Zäsur. Dewey begreift Entwicklung als permanente Rekonstruktion und Reorganisation der Erfahrung. Im Verlauf dieser permanenten Umwandlungen wird die Erfahrung immer bedeutsamer; zunehmend entwickelt sich die Fähigkeit, gezielt Erfahrungen zu machen; diese Höherentwicklung wird als »Wachstum« bezeichnet.28 Ausdrücklich löst Dewey diesen Entwicklungsbegriff von der Bindung an ein Vollkommenheitsideal. Für ihn gilt: »das normale Kind und der normale Erwachsene sind in gleicher Weise in Entwicklung begriffen.«29 Erziehung hat deshalb auch nicht zum Ziel, Kinder in Erwachsene zu verwandeln; es hat sein Ziel in sich selbst, es vermittelt die Fähigkeit, weiter erzogen zu werden. Diese Konzeption führt zu einer transitiven Ordnung mehr oder weniger hoch entwickelter Individuen, nicht zu einer Zweiteilung. Dewey verbindet die Kontinuitätsthese jedoch mit dem dualistischen Modell. Erziehung, so erklärt er, beruht auf dem Verhältnis zweier Gruppen, den unreifen Jungen und den reifen Erwachsenen. Zwischen diesen Gruppen, so meint er, liegt eine Kluft, die sich mit der fortschreitenden 27 Vgl. Bollnow 1977 28 Vgl. Dewey 1964, S. 108 29 Ebd., S. 76

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Entwicklung der Kultur verbreitert und durch Erziehung überbrückt wird; in »ruhenden Gesellschaften« werden die Kinder an die Erwachsenen angepaßt; »fortschreitende Gesellschaften« hingegen bemühen sich, die Erfahrungen der Jungen so zu gestalten, daß »die zukünftige Gesellschaft der Erwachsenen besser sei als die gegenwärtige«30. Diese Zweiteilungsthese widerspricht Deweys eigener Entwicklungstheorie. Durch welches Merkmal will man die »Erwachsenengruppe«31 von der Gruppe der Kinder abgrenzen? Wenn Unreife mit Entwicklungsfähigkeit gleichzusetzen ist (wie Dewey ausfuhrlich darlegt) und wenn auch Erwachsene entwicklungsfähig sind (wie er ebenfalls betont), dann besteht die Gesellschaft insgesamt aus Unreifen. An einer Stelle unternimmt Dewey den Versuch, die kontinuistische mit der dualistischen Konzeption zu versöhnen. Der Unterschied zwischen dem »normalen Kind« und dem »normalen Erwachsenen« ist »nicht der zwischen Wachstum und Nichtwachstum, sondern zwischen verschiedenen Formen des Wachstums, die den verschiedenen Bedingungen entsprechen.«32 Worin also bestehen die zwei Formen des Wachstums? »Im Hinblick auf die Entwicklung der Kräfte zur Bewältigung ausgesprochen wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Aufgaben können wir sagen, daß das Kind in Mannhaftigkeit (manhood) wachsen soll. Mit Bezug auf interessiertes Mitgefühl, vorurteilslose Reaktionsbereitschaft, geistige Aufnahmefähigkeit können wir sagen, daß der Erwachsene wachsen sollte in Kindhaftigkeit (childlikeness).«33 Originell ist an diesem Gedanken, daß nicht nur das Kind, sondern auch der Erwachsene durch einen Mangel charakterisiert wird, und daß nicht nur der Erwachsene über einen Besitz verfugt, sondern auch das Kind: Dem Kind fehlen wirtschaftliche und wissenschaftliche Fähigkeiten, es verfugt über Mitgefühl, Reaktionsbereitschaft und Aufnahmefähigkeit. Der Erwachsene ist ein Kind mit umgekehrten Vorzeichen: Er verfügt über Wirtschaftlichkeit und Wissenschaftlichkeit, ihm fehlen jedoch Mitgefühl, Reaktionsbereitschaft: und Aufnahmefähigkeit. Diese Komplementaritätsthese beruht auf zwei Voraussetzungen: erstens, daß dem Erwachsenen etwas verlorengegangen ist, was das Kind noch besaß, daß es sich bei der permanenten Reorganisation der Erfahrung also nicht nur um eine Evolution handelt, sondern zu30 Ebd., S. 111 31 Ebd. 32 Ebd., S. 76 33 Ebd. (Übersetzung geändert nach Dewey 1923, S. 59)

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gleich um eine Devolution. Zweitens wird angenommen, daß die Entwicklung der beiden Fähigkeitskomplexe (Wirtschaftlichkeit und Wissenschaftlichkeit einerseits, Mitgefühl, Reaktionsbereitschaft und Aufnahmefähigkeit andererseits) nicht kontinuierlich verläuft, sondern von einer Zäsur beherrscht wird. Wäre das nicht so, gäbe es keine Kluft zwischen den beiden Gruppen, man könnte die Erwachsenengruppe von der Kindergruppe nicht abgrenzen. Dewey verknüpft also drei widerstreitende Logiken: die Logik der kontinuierlichen Entwicklung, die Logik der Devolution und die Logik der Zäsur. Während das Konzept der Höherentwicklung ausfuhrlich erläutert wird, werden Rückentwicklung und Zäsur nirgendwo begründet. Sie werden stillschweigend eingeschmuggelt. Eine solche Kombination unvereinbarer Entwicklungslogiken findet sich auch bei Wilhelm Flitner, einem Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Einerseits vertritt er die Zweiteilungskonzeption: »Vom biologischen Gesichtspunkt aus würde sich das erzieherische Phänomen demnach bestimmen lassen als der Prozeß des Wachsens und Reifens der Jungen, verbunden mit den gesamten Vorgängen, durch welche die Erwachsenen jenen Prozeß schützen und unterstützen.«34 Andererseits verficht er die Kontinuitätsbehauptung. Flitner spricht von der »Loslösung des biologischen Alterns vom geistigen. Das Lernen und geistige Reifen kann andauern bis ins höchste Greisenalter«35. Wie paßt das zusammen? Wenn der Mensch auf Offenheit festgelegt ist, wenn ihm die Fähigkeit angeboren ist, bis ins hohe Alter zu lernen, wenn die Entwicklung seines Gehirns also niemals abgeschlossen ist - muß man dann nicht sagen, daß seine Jugend erst mit dem Tod ein Ende findet? Mit welchem Argument unterscheidet man Kinder und Erwachsene, wenn es keinen Zeitpunkt gibt, zu dem der Prozeß des geistigen Reifens abgeschlossen ist? Wenn man die Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen theoretisch rekonstruieren will, muß man begründen, warum die Entwicklung nicht als kontinuierliche Höherentwicklung zu begreifen ist. Man muß zeigen, daß der Lebenslauf durch Diskontinuität geprägt wird. Die Unterbrechung des Kontinuums darf nicht aus bloßer »Digitalisierung« bestehen, also daraus, daß diskrete Abstände hergestellt werden. Zu rekonstruieren ist eine binäre Struktur, eine Gliederung mit einem dominierenden Einschnitt. 34 Flitner 1974, S. 30.- Die Hervorhebungen in den Zitaten stammen hier und im folgenden - sofern nicht anders vermerkt - von den zitierten Autoren. 35 Ebd., S. 33

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Der Einschnitt kann als mehr oder weniger scharf angenommen werden, das ist nicht entscheidend. Wichtig ist, daß es überhaupt eine Zäsur gibt und nicht ein Kontinuum. Aufgrund der vorherrschenden Orientierung an Modellen der stufenförmigen Entwicklung wird jedoch häufig angenommen, daß sich der Zustand des Erwachsenseins und der des NichtErwachsenseins deutlich voneinander unterscheiden lassen. In der Sprache von Heinrich Roth: Die menschliche Handlungsfähigkeit »entwickelt sich unter dem Einfluß von Umwelt und Erziehung über eine Reihe aufsteigender Fortschrittsstufen, bis jenes Niveau menschlicher Handlungsfähigkeit erreicht wird, das wir begründet als reif, mündig, produktiv, kritisch, selbstbestimmt und verantwortlich beurteilen dürfen.«36

Die

Dreiteilungsthese

Die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen muß gegen eine weitere Alternative verteidigt werden, gegen die Behauptung, der Lebenslauf werde nicht durch einen Haupteinschnitt gegliedert, sondern durch mehrere. Wenn man die Kind-Erwachsenen-Opposition theoretisch rekonstruieren will, muß man nachweisen, daß es sich nicht einfach um eine Differenz handelt, sondern um eine Opposition. Es muß genau eine große biographische Zäsur geben, und das ist keineswegs selbstverständlich. Ihren wichtigsten Konkurrenten hat die komplementäre Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen in den dreistufigen Konzeptionen des Lebenslaufs. Diese können sich auf sehr unterschiedliche Argumente stützen, auf Begründungen biologischer, soziologischer oder psychologischer Provenienz.

Der biologische Ansatz Charlotte Bühlers Arbeit »Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem«37 ist eine klassische Studie zum Thema. Eines der Kriterien für die Gliederung des Lebenslaufs ist hier die Fortpflanzungsfähigkeit. Auf diesem Wege kommt Bühler zu einer Drei-Phasen-Einteilung. Die erste Phase liegt vor dem Beginn der Fortpflanzungsfähigkeit, die dritte Pha36 Roth 1976, S. 381 37 Ich beziehe mich hier auf die zweite Auflage von 1959. Eine erste Fassung des Buches erschien 1933; diese Auflage wurde von Bühler so stark verändert, daß es sich bei der zweiten Auflage faktisch um eine neue Arbeit handelt.

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se beginnt mit dem Ende der Fortpflanzungsfähigkeit.38 Das Problem dieser Konstruktion besteht in der Angleichung der männlichen an die weibliche Generativität. Die Annahme, Männer seien im Alter fortpflanzungsunfähig, ist bis heute nicht bewiesen; die Fälle von Vaterschaft im hohen Alter sind berühmt.39 Das weiß offenbar auch Bühler, denn sie macht, was das Ende der männlichen Fortpflanzungsfähigkeit angeht, gewisse Einschränkungen, ohne darin jedoch einen Anlaß zu sehen, von der Drei-Phasen-Einteilung abzurücken. Bühler bringt noch einen zweiten biologischen Gesichtspunkt ins Spiel, das Verhältnis von Aufbau und Abbau, von Wachstum und Verfall. Auch mit diesem Kriterium kommt sie zu einer Dreiteilung, denn zwischen der Periode des Aufbaus und der des Abbaus liegt ihrer Auffassung nach eine Phase, in welcher sich Aufbau und Abbau die Waage halten. Diese Konzeption hat, Bühlers eigener Einschätzung zufolge, mit zwei Schwierigkeiten zu kämpfen.40 Erstens weiß man wenig über Abbauprozesse. Und zweitens müssen für eine Aussage über das Wachstum die Verlaufsformen verschiedener biologischer Systeme zusammengefaßt werden. Nun haben diese Systeme aber sehr unterschiedliche Entwicklungsverläufe, Verfall koexistiert mit Wachstum. Die Autorin weist selbst darauf hin, daß man im autonomen Nervensystem bis zum 70. Lebensjahr Wachstum festgestellt hat, und die moderne Geriatrie betont, daß das Alter keineswegs ausschließlich als Verfall zu begreifen ist. Ein Ubergewicht des Verfalls über das Wachstum läßt sich nur dann behaupten, wenn man die unterschiedlichen Entwicklungsverläufe gegeneinander verrechnet. Das jedoch ist nur durch hochspekulative Konzepte möglich. Bühler hält diese Probleme für vernachlässigbar und beruft sich zur Verrechnung der verschiedenen Verlaufsformen auf Selyes Konzept der »adaptiven Energie«. Mit Bühler kann man also bestreiten, daß der Lebenslauf sich aus zwei Hauptphasen zusammensetzt. Er verläuft nicht zweigliedrig, sondern dreigliedrig, ja sogar doppelt dreigliedrig. Diese Gegenkonzeption hat jedoch unübersehbare Schwächen. Sie beruht auf einer schwer nachvollziehbaren Neutralisierung biologischer Geschlechtsdifferenzen und auf dubiosen Konzepten zur Verrechnung der unterschiedlichen Entwicklungsdimensionen.

38 Vgl. Bühler 1959, S. 86 ff. 39 Vgl Harman/Talbert 1985, S. 478 40 Das folgende nach Bühler 1959, S. 50 ff., 86 ff.

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Der rollentheoretische Ansatz Soziologische Analysen des Lebenslaufs orientieren sich meist an der Rollentheorie. Der Alterungsprozeß wird als ein Vorgang begriffen, bei dem eine Sequenz von Rollen bzw. Rollenbündeln durchlaufen wird. Den Individuen werden Rollen zugeordnet, und diese Zuordnung wird durch die Altersstufen bestimmt, denen ein Individuum angehört. Im Rahmen dieser Konzeption wird der Erwachsenenstatus gewöhnlich durch zwei Merkmale definiert, durch den Erwerb einer Berufsrolle und einer Familienrolle. Man ist dann erwachsen, wenn man einen Beruf ergreift, heiratet und damit einen eigenen Haushalt gründet. Diese Argumentation tritt wieder in zwei Varianten auf, die man als Wirklichkeitsund als Möglichkeitsvariante bezeichnen kann. Die meisten Autoren setzen den Ubergang ins Erwachsenenalter mit der faktischen Übernahme einer Berufsrolle und mit der wirklichen Heirat gleich. Hiernach wären all diejenigen, die keinen Beruf ergriffen haben oder keine eigene Familie gegründet haben, Nicht-Erwachsene.41 Ein unverheirateter Arbeitsloser gehörte zu den Nicht-Erwachsenen, genauso wie ein berufstätiger Junggeselle, beiden fehlt eines der zwei Merkmale. Das Anerbenrecht kann in manchen ländlichen Gegenden Europas auch heute noch dazu fuhren, daß nachgeborene Söhne unverheiratet bleiben und zur erweiterten Familie des älteren Bruders gehören - auch sie werden, nach der obigen Definition, niemals erwachsen.42 Selbst wenn man das akzeptiert, ergeben sich immer noch folgende Schwierigkeiten: Erstens das Problem des chronologischen Alters. Die Gleichsetzung von Erwachsensein mit Rollenerwerb kann nicht erklären, warum von einem bestimmten Alter an alle Individuen pauschal als »Erwachsene« bezeichnet werden - heißt das, daß sie es im soziologischen Sinne nicht sind? Gibt es keinerlei Verschränkung zwischen erworbenen Merkmalen (wie Berufserwerb) und zugeschriebenen Merkmalen (hier: dem Alter)? Zweitens das Problem der Wiederholung. Wie erklärt man, daß die Übernahme von Arbeits- und Familienrollen wiederholt werden kann, der Eintritt ins Erwachsenenalter aber nicht? Diese Probleme werden von der Möglichkeitsvariante des rollentheoretischen Ansatzes zu lösen versucht. Die Verwandlung von Kindern in Erwachsene wird hier nicht mit dem tatsächlichen Rollenerwerb gleichge41 Zur Kritik vgl. Pieper 1978, S. 110 ff. 42 Vgl. hierzu auch Gilgenmann 1982

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setzt, sondern mit der Erwartung, bestimmte Rollen zu erwerben.43 Diese Erwartung ist mit dem chronologischen Alter verknüpft, und im Rahmen dieses Erwartungshorizonts liegt es, daß der Rollenerwerb wiederholt werden kann. Das Erwachsenenalter ist dann diejenige Altersstufe, die mit der Erwartung verknüpft ist, daß eine Eherolle und eine Berufsrolle ergriffen werden - unabhängig davon, ob diese Positionen tatsächlich eingenommen werden. Welche Antworten geben die rollentheoretischen Erklärungen auf die Frage nach der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen? Wenn das Erwachsensein an die Bedingungen der Berufsergreifung und der Familiengründung gebunden ist, dann hört man in beiden Versionen irgendwann einmal auf, erwachsen zu sein. In der Wirklichkeitsversion kommt das Erwachsensein dann zu einem Ende, wenn man aus dem Beruf ausscheidet oder wenn die Familie sich auflöst. In der Möglichkeitsvariante hört man dann auf, erwachsenen zu sein, wenn von einem erwartet wird, aus dem Beruf auszuscheiden und nicht mehr zu heiraten. Der rollentheoretische Zugang fuhrt also zu einer Dreiteilung, nicht zu einer Zweiteilung des Lebenslaufs. Das gilt für beide Laufbahnen, die berufliche und die familiale. In bezug auf den Beruf kommt man zur Einteilung in vorberufliche Phase, Berufsleben und Ruhestand. In bezug auf die Ehe ergibt sich die Gliederung voreheliche Phase - Eheleben - Witwenzeit. In der Literatur wird deshalb zusammenfassend zwischen drei Phasen unterschieden: einer Vorbereitungsphase, einer Aktivitätsphase und einer Ruhephase.44 Kohli zufolge ist diese Dreiteilung ein Effekt des Bildungs- und des Rentensystems.45 So gesehen, wäre es jedoch plausibler, den Lebenslauf in vier Abschnitte zu gliedern, denn das Bildungssystem fuhrt selbst wiederum zu einer Zweiteilung des vorberuflichen Lebensabschnitts in eine vorschulische und eine schulische Phase. Andere Forscher behaupten denn auch, für die moderne Gesellschaft sei eine viergliedrige Form des Lebenslaufs charakteristisch: Kindheit, Jugend, mittleres Alter, hohes Alters.46 Wie auch immer, beide Versionen sprechen gegen die Zweigliederung des Lebenslaufs. Und beide Argumentationen beziehen sich ausdrücklich auf die Moderne, nicht auf Gesellschaften überhaupt. (Man 43 Vgl. 44 Vgl. 45 Vgl. 46 Vgl.

Eisenstadt 1966, S. 14, Neidhardt 1970, S. 9 Kohli 1983 Kohli 1985, S. 9 Foner/Kertzer 1978, S. 1084

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muß hier für die weitere Analyse der Kind-Erwachsenen-Opposition am Rande eine Frage notieren. Welchen historischen Charakter hat die Zweiteilungsthese? Ist der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen eine historische Konstruktion oder eine anthropologische Universalie?) Die rollentheoretische Hypothese von der Dreiteilung des Lebenslaufs wirft eine Reihe von Fragen auf, Fragen zur Rollenbündelung (1), zur Rollenge wichtung (2) und zur Rollenäquivalenz (3). (1) Die rollentheoretische Rekonstruktion des Lebenslaufs enthält eine These über die Koordinierung der verschiedenen Statusübergänge. So ist das Kriterium für das Erreichen der mittleren Phase nicht nur der Beruf, sondern auch die Heirat bzw. die Haushaltsgründung; der Zeitraum, in dem diese Ereignisse liegen, wird dann als Ubergangsperiode definiert und es wird gefragt, ob sie sich historisch verlängert oder verkürzt hat.47 Wie wird diese Rollenbündelung begründet?48 Warum werden einige Statusübergänge zusammengefaßt und andere ausgeklammert? In der Literatur findet man hierauf zwei Antworten, das Argument der Reproduktion und die Vorstellung von der ursprünglichen Synchronie. Bezogen auf den Wechsel von der ersten zur zweiten Phase lautet das reproduktionstheoretische Argument folgendermaßen: Der Ubergang in den Beruf ist deshalb ein Ubergang in den Erwachsenenstatus, weil das Individuum damit im ökonomischen Sinne reproduktionsfähig wird; auch mit der Heirat wird es reproduktionsfähig, es erwirbt eine sexuelle Reproduktionskompetenz. Auf dieser Linie lassen sich dann weitere Statuspassagen angliedern, etwa eine »religiöse Reproduktion« (gemeint ist damit, daß die Endlichkeit des Lebens eingesehen und zugleich negiert wird, etwa durch die Vorstellung von der Ewigkeit des Lebens).49 Das Reproduktionsargument löst das Problem jedoch keineswegs, es verschärft es vielmehr. Konsequent durchgehalten muß es dazu führen, daß der Eintritt ins Erwachsenenalter für vorindustrielle und unterentwickelte Gesellschaften sehr früh angesetzt wird; die Teilhabe an der ökonomischen Reproduktion beginnt in diesen Gesellschaften häufig mit dem 5., 6., 7. Lebensjahr.50 Da das Heiratsalter in vielen Fällen erst nach dem 20. Lebens47 Vgl. Modell/Furstenberg/Hershberg 1978 48 Vgl. hierzu Friedrichs/Kamp 1978 49 Vgl. Lenzen 1985, S. 237 f. 50 So bei Lenzen 1985, S. 232 ff.- Lenzen verbindet hier zwei einander widersprechende Definitionen des Erwachsenseins. Er erklärt einerseits, kleine Kinder würden mit der Teilhabe an der ökonomischen Reproduktion zu Er-

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jähr liegt, würde sich ergeben, daß die verschiedenen Formen des Übergangs zum Erwachsensein bis zu 20 Jahren auseinanderliegen können. Damit wird die Rede von dem Erwachsenen jedoch erst recht problematisch; einleuchtender wäre es, wenn man verschiedene »Erwachsenheiten« voneinander unterscheiden würde: Wirtschaftserwachsene, Geschlechtserwachsene, Religionserwachsene usw. Wenn man die Rede von dem Erwachsenen beibehält, dann unterstellt man, daß die einzelnen Übergänge - trotz ihres zeitlichen Auseinanderfallens - miteinander verknüpft sind. Aber wie? Was spricht dafür, daß es sich um Varianten ein und desselben Problems handelt, des Übergangs in den Erwachsenenstatus? Hierauf antwortet das Konzept der Asynchronie. Das Argument lautet dann, die verschiedenen Statusübergänge, durch welche der Übergang in den Erwachsenen-Status insgesamt vollzogen wird, seien nicht synchronisiert.51 Darin versteckt sich eine These über Synchronie, die Unterstellung nämlich, ursprünglich seien die Übergänge synchron verlaufen bzw. eigentlich müßten sie synchronisiert sein. Die Tatsache, daß sie es nicht sind, erscheint als Verzerrung, als Zerfall, bis zu dem Punkt, daß soziale oder psychische Konflikte auf diese Abweichung von einer ursprünglichen Synchronisiertheit zurückgeführt werden.52 »Insgesamt neigt die Erörterung von [-] der Zeitstruktur nach [-] inkonsistenten Statusübergängen und Verlaufsformen dazu, Irritation, Verwirrung, Identitätsprobleme usw. als Folgen hervorzuheben. Die meisten Sozialwissenschaftler scheinen eine Vorliebe für ordentlich und pünktlich aufeinander abgestimmte Fahrpläne zu haben. Entgegengesetzte Überlegungen über die Vorzüge von zeitlichen Inkonsistenzen finden sich nur selten.«53 Die Wirklichkeit erscheint als Abweichung von einem Ideal bzw. als Zerfall einer ursprünglich realisierten Einheit; dieser Abweichung wird eine eigene Kausalität zugesprochen, sie wird zur Konfliktursache. (2) Selbst dann, wenn man die Rollenbündelung akzeptiert, bleibt unklar, wie in dieser Bündelung die verschiedenen Übergänge gewichtet werden sollen. In einer Studie heißt es: »Im Modell des Lebenszyklus, wie wachsenen. Zugleich macht er die Tatsache des Erwachsenseins daran fest, daß es Übergangsrituale gibt. Nun ist die Teilhabe kleiner Kinder am Arbeitsprozeß in agrarischen Gesellschaften jedoch für gewöhnlich nicht an solche Rituale gebunden, sie erfolgt schleichend. 51 Vgl. Cain 1964, S. 288, Olk 1984 52 So bei Reimann/Reimann 1975, S. 11, und bei Matthes 1978, S. 209 f. 53 Fuchs-Heinritz 1988, S. 41

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es in unserer Gesellschaft gilt, wird der Erwerb des Erwachsenenstatus vorrangig durch den Eintritt ins Berufsleben, zusätzlich durch die Gründung einer eigenen Familie definiert.«54 Das ist eine empirische Behauptung; der Autor bleibt den Beweis für sie schuldig. Eine 16jährige unverheiratete Verkäuferin würde demnach eher als erwachsen gelten als eine 16jährige Verheiratete mit einem Kind und ohne Beruf. Stimmt das? »Es ist eine offene Frage, ob Individuen in irgendeiner gegebenen Gesellschaft einen gemeinsamen Begriff des Erwachsenenalters haben. Wir können ziemlich sicher sein, daß zur Zeit unter Amerikanern nur eine unvollständige Ubereinstimmung darüber bestände, wann und wie jemand in unserer Gesellschaft den Status eines Erwachsenen erreicht.«55 (3) Die Probleme der Rollenbündelung und der Rollengewichtung scheinen zu verschwinden, wenn man die Rollenübergänge für äquivalent erklärt: Man ist dann erwachsen, wenn man einen Beruf ergreift oder eine Familie gründet (bzw. wenn das eine oder das andere von einem erwartet wird). Aber damit werden die Schwierigkeiten nur verschoben. Mit welchem Argument erklärt man die beiden Bedingungen für substituierbar? Man kann das Problem so zu lösen versuchen, daß man Unterschiede zwischen den Geschlechtern geltend macht - beispielsweise indem man behauptet, an Männer werde vor allem die Erwartung gestellt, einen Beruf zu ergreifen, an Frauen vor allem die, eine Familie zu gründen. Aber auch dann stellt sich wieder die Frage, mit welcher Begründung diese beiden Erwartungen zur einheitlichen Figur des Erwachsenen verbunden werden. Oder, um ein anderes Beispiel aus der Literatur zu wählen: was spricht dafür, den Ritterschlag, die Lossprechung von Lehrlingen und die Graduierung von Studenten als drei verschiedene Formen des Ubergangs zum Erwachsenenalter anzusehen?56 54 Matthes 1978, S. 213 55 Modell/Furstenberg/Hershberg 1978, S. 228 56 So bei Allerbeck/Rosenmayr 1976, S. 174 f.; ähnlich bei Lenzen 1985, S. 301f. Weitere Fragen zu den beliebten Mittelalter-Beispielen: (1) Selektivität der Bezugsgruppen: Warum beziehen die Überlegungen sich immer nur auf Männer, genauer auf freie Männer? Was ist mit den Frauen? Was mit den Bauern? Werden sie nicht erwachsen? (2) Problem der Nicht-Erwachsenen: Wenn Adlige durch den Ritterschlag erwachsen werden, welchen Status haben dann diejenigen Knappen, die niemals den Ritterschlag erhalten haben, aber schon in vorgerücktem Alter sind; was ist mit den berittenen Söldnern? Sind sie nicht erwachsen?

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Soziologische Dreiteilungskonzeptionen müssen sich nicht unbedingt auf die Rollentheorie berufen. In der einschlägigen Literatur stößt man auf zwei weitere Varianten: auf den normentheoretischen Ansatz von Alvin Gouldner und auf den medientheoretischen Ansatz von Neill Postman. Der amerikanische Soziologe Alvin Gouldner hat versucht, die Gliederung des Lebenslaufs, insbesondere das Verhältnis von Kindern und Erwachsenen, auf einer abstrakteren Ebene zu rekonstruieren. Ausgangspunkt ist die klassische Auffassung, wonach die normative Struktur sozialer Systeme auf Reziprozität beruht, d.h. auf der Regel, daß man nur dann etwas bekommt, wenn man auch etwas gibt, und daß man etwas zurückgeben muß, wenn man etwas bekommen hat.57 Im Verhältnis von Kindern und Erwachsenen sieht Gouldner eine Schranke dieser Konzeption. Die Stabilität sozialer Systeme hängt seines Erachtens davon ab, daß es neben dieser Norm eine weitere gibt, die Norm der Wohltätigkeit der Fürsorge, des Altruismus, der Nächstenliebe, der Großzügigkeit usw. Diese Norm fordert dazu auf zu geben, ohne zu nehmen, also dazu, etwas für nichts zu geben. Als Modell für Wohltätigkeit begreift er die Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Die Verhaltenserwartungen sind hier nicht komplementär; Wohltätigkeit stellt zwar eine Pflicht der Eltern dar, aber kein Recht, das von Kindern eingeklagt werden könnte. Von hier aus kommt er zu einer Definition des Erwachsenen: »Erwachsem oder »reif« ist ein Individuum dann, wenn es gelernt hat, sich in der Reziprozität zu verankern, was bedeutet, daß es, um von anderen etwas zu bekommen, das tut, was andere von ihm wollen; dazu muß es gelernt haben, den Wunsch zu unterdrücken, etwas zu bekommen, ohne etwas dafür zu (3) Auswahl der Statusübergänge: Warum wählt man nicht andere Statuspassagen, die von denselben Gruppen durchlaufen werden? Was spricht gegen die Annahme, daß die Mitglieder des Adels nicht erst durch den Ritterschlag, sondern - wie Aries meint - bereits mit dem Eintritt in den Pagendienst erwachsen werden (vgl. Aries 1975, S. 46, 209) oder mit dem Übergang vom Pagen zum Knappen (der sich ungefähr zum Zeitpunkt der Geschlechtsreife vollzieht)? Warum datiert man bei den Handwerkern das Erwachsenwerden auf die Gesellenprüfung und nicht (wie Aries) auf den Beginn der Lehrzeit oder auf das Ablegen der Meisterprüfung? Und was die Gelehrten angeht: Wenn das Erwachsenwerden sich mit der Graduierung vollzieht: welche Graduierung ist gemeint, die nach Abschluß der Artistenfakultät oder die darauf aufbauende nach Beendigung eines Theologie-, Rechts- oder Medizinstudiums? 57 Vgl. Gouldner 1984

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geben. Denn bedingungslose Liebe sei nur um den Preis einer grundlegenden Abhängigkeit vom anderen zu bekommen. Auf den ersten Blick fuhrt diese Argumentation zu einer Zweiteilung des Lebenslaufs. Das liegt jedoch nur daran, daß Gouldner die Frage des Alters im dunkeln läßt; er äußert sich nicht zu der Frage, ob der Status des Erwachsenen endgültig erworben wird oder ob er transitorischer Natur ist. Nun ist jedoch klar, daß nicht nur Kinder, sondern auch Alte auf Wohltätigkeit angewiesen sind, und daß die Kinder den Eltern dann, wenn diese alt geworden sind, etwas zurückgeben müssen. Das normentheoretische Argument fuhrt wie das rollentheoretische zu einer Dreiteilung des Lebenslaufs. Postman zufolge ist die Kindheit ein Produkt des Buchdrucks. Der Buchdruck erzeugt ein bestimmtes Wissensgefälle: zwischen denjenigen, die lesen können und denjenigen, die das nicht können, und dieser Unterschied, so erklärt er, entspricht demjenigen zwischen Erwachsenen und Kindern.58 Durch den Siegeszug der audiovisuellen Medien komme es zum Untergang der Buchkultur und damit zum Verschwinden der Kindheit. Kinder sind für Postman also diejenigen, die die Schule besuchen. Er operiert mit der Einteilung in Vor-Schulzeit, Schulzeit und Nach-Schulzeit, also mit einer Dreiteilung des Lebenslaufs, nicht mit einer Zweiteilung. Insgesamt unterscheidet Poster sogar vier Phasen: die frühe Kindheit (infancy), die Kindheit (ichildhoodI), die er vom 7. bis zum 17. Lebensjahr ansetzt, das Erwachsenenalter und das Greisenalter. Wenn Postman also von der Kindheit und vom Erwachsenenalter spricht, bezieht er sich nicht auf die Zweiteilung des Lebenslaufs. Seine These über das Verschwinden der Kindheit bezieht sich ausschließlich auf die zweite Phase in einer drei- oder viergliedrigen Gesamtstruktur.

Der moralpsychologische Ansatz In Anlehnung an Piagets Untersuchung zur Moralentwicklung und auf der Grundlage zahlreicher empirischer Studien hat Lawrence Kohlberg eine umfangreiche Theorie von der Entwicklung des moralischen Urteils ausgearbeitet. Urteile sind, in der psychologisch orientierten Logik des 18. und 19. Jahrhunderts, diejenigen psychischen Akte oder Gedankenformen, in denen etwas (ein Prädikat) von etwas (dem Subjekt) behauptet oder verneint wird. Urteile werden mit Hilfe von Sätzen ausgedrückt; von 58 Vgl. Postman 1987, S. 28.- Ich lese Postmans These hier realistisch und übergehe, daß Postman ausdrücklich erklärt, seine These beziehe sich nur auf die Vorstellungen über Kindheit, nicht auf die Wirklichkeit.

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der heutigen Logik aus gesehen handelt es sich bei Urteilen also um die psychischen Korrelate von Propositionen. Moralische Urteile beziehen sich auf das Gute oder die Pflicht. Sie treten entweder in der Form von Werturteilen auf (»Es ist gut/schlecht, das und das zu tun«) oder von generalisierten Imperativen (»Das und das darf man nicht tun« oder »Das und das sollst du nicht tun«, z. B. »Du sollst nicht töten«). Kohlberg interessiert sich jedoch nicht so sehr für moralische Urteile, als vielmehr für deren Begründung, also für das moralische Argumentieren. Die von ihm behaupteten Entwicklungsstufen beziehen sich nicht darauf, daß soziale Normen angewendet werden, sondern daß sie begründungsbedürftig sind. Die moralische Argumentationsfähigkeit entwickelt sich Kohlberg zufolge nach einem unveränderlichen Muster: von der präkonventionellen über die konventionelle zur postkonventionellen Moral. Jede dieser Epochen wird noch einmal in zwei Phasen unterteilt, so daß sich insgesamt sechs Stufen ergeben (und eventuell eine siebte Zusatzstufe59). Individuen werden den verschiedenen Stufen danach zugeordnet, mit welcher Methode sie ihre moralischen Urteile begründen, an welche Instanzen sie hierbei appellieren. In der präkonventionellen Phase befinden sie sich dann, wenn sie sich auf individuelle Bedürfnisse berufen; Gebote und Verbote werden damit gerechtfertigt, daß sie mit Belohnung und Bestrafüng, mit Lust und Unlust verbunden sind. Auf konventionellem Niveau beruft der Urteilende sich auf die herrschenden Normen, welche die Bildung der gegebenen Gemeinschaften ermöglichen. Auf postkonventionellem Niveau wird das moralische Urteil normierend; es orientiert sich nicht mehr an denjenigen Normen, welche faktisch anerkannt werden, sondern an solchen, die der Urteilende für anerkennungswürdig hält. Sein Urteil beruft sich jetzt auf Prinzipien, d.h. auf Normen zweiter Stufe, mit deren Hilfe die geltenden Normen auf ihre Gültigkeit hin überprüft werden können; Kohlberg bezeichnet die postkonventionelle Moral deshalb auch als Prinzipienmoral. Auf der ersten Stufe der postkonventionellen Moral - also auf der fünften Stufe in der Gesamtzählung - bezieht das moralische Urteil sich auf generelle Standards der Legalität, entweder auf das Prinzip des Gesellschaftsvertrags oder auf das des größten Nutzens der größten Zahl; auf Stufe 6 beruft der Urteilende sich auf das moralisch Richtige, welches dem legal Richtigen vorgelagert ist: auf das Prinzip der

59 Zur siebten Stufe vgl. Kohlberg 1977

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Gerechtigkeit, und das heißt bei Kohlberg wie bei Kant, daß jene Normen gut sind, die unparteiisch sind, denen also alle zustimmen können.60 Es gehört zu den Besonderheiten von Kohlbergs Entwicklungspsychologie, daß das Erwachsensein hier nicht als unhinterfragter Abschluß erscheint. Kohlberg hat derartige Konzeptionen ausdrücklich problematisiert. Er begründet das damit, daß Veränderungen der Moralität einen Brennpunkt des Erwachsenenlebens bilden, und er vermutet, daß die inhaltlichen Korrekturen mit Strukturveränderungen einhergehen, mit Stadienwechseln im Erwachsenenalter. Der Erwachsene ist bei Kohlberg deshalb nicht ein unhinterfragter Bezugspunkt, sondern ein Forschungsobjekt. »Die Existenz von Stufen im Erwachsenenalter ist vermutlich das wichtigste Problem einer Psychologie des Lebenslaufs.«61 Das Erwachsenenalter ist bei Kohlberg also in sich gestuft: die erste Stufe der postkonventionellen Moral (Stufe 5) wird, so meint er, Mitte bis Ende Zwanzig erreicht, die sechste Stufe liegt später (falls sie überhaupt erreicht wird), und schließlich, in der Auseinandersetzung mit dem Tod, gibt es vielleicht sogar eine letzte, siebte Stufe. Auch Kohlbergs Theorie liefert also einen Einwand gegen die Kind-Erwachsenen-Opposition. Der Lebenslauf wird nicht von einem Haupteinschnitt beherrscht, sondern von zweien. Wenn man will, kann man die erste Phase als »Kindheit« bezeichnen und die dritte als »Erwachsenenalter«, aber die Begriffe verändern damit, wie anfangs erläutert, ihre Bedeutung. Aber vielleicht läßt sich die dreigliedrige Struktur in eine zweigliedrige überfuhren? Folgende Strategien bieten sich an. Erstens, erwachsen sind diejenigen, die die konventionelle Stufe erreicht haben. Zweitens, erwachsen sind die Postkonventionalisten. Drittens, die Phase der konventionellen Moral ist eine Ubergangsphase. Erste Möglichkeit: Der Haupteinschnitt wird zwischen dem präkonventionellen und dem konventionellen Niveau lokalisiert. Damit würde man jedoch zugleich behaupten, der Ubergang von der konventionellen zur postkonventionellen Moral sei weniger gravierend als der von der prä60 In Reaktion auf Gilligans Einwände hat Kohlberg die sechste Stufe neu gefaßt. Für sie gilt dann nicht mehr nur das Prinzip der Gerechtigkeit, sondern auch das der Achtung vor der Person; die Verbindung dieser beiden Prinzipien wird als »moralischer Standpunkt« bezeichnet (vgl. Kohlberg/Boyd/Levine 1986). 61 Kohlberg 1977, S. 225

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konventionellen zur konventionellen Moral Diese Behauptung läßt sich mit Kohlberg jedoch nicht begründen - im Gegenteil, die gesamte Theorie dreht sich um die radikale Differenz zwischen konventioneller und postkonventioneller Moral. Zweite Möglichkeit: Der Ubergang zum Erwachsensein erfolgt mit dem Erreichen der postkonventionellen Moral. »Erwachsen« ist man dann, wenn man in der Lage ist, moralische Urteile so zu begründen, daß man sich hierbei auf Prinzipien beruft. Das hieße aber, daß die Zäsur zwischen konventioneller und postkonventioneller Moral gravierender ist als die zwischen präkonventioneller und konventioneller Moral, und das würde darauf hinauslaufen, daß sich diese beiden Moralformen innerhalb ein und derselben Struktur bewegen, die dann erst mit dem Übergang zur postkonventionellen Moral überwunden werden würde. Aber dieser Weg ist versperrt, denn der erste Einschnitt ist fiir Kohlberg genauso bedeutsam wie der zweite. Aus diesem Grund scheitert auch die dritte Variante, die Auflösung der konventionellen Phase in eine Zwischenstufe. Grundlegend fiir die Kohlbergsche Theorie ist die Gleichgewichtigkeit aller drei Phasen. Die Dreigliederung ist irreduzibel.

Die skeptische Position Die Auffassung, daß unser Wissen zur Zeit nicht ausreicht, um Aussagen über die Gliederung des Lebenslaufs zu machen, wird vor allem von Entwicklungspsychologen vertreten. Dabei geht es insbesondere um das Problem der Synchronisierung verschiedener Entwicklungsdimensionen.62 Ich will es anhand einer klassischen Erziehungsdefinition erläutern, derjenigen von Siegfried Bernfeld, dem marxistisch orientierten Psychoanalytiker. Erziehung, so erklärt Bernfeld, ist »die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache«63. Aus diesem Grunde ist Erziehung ein »Prozeß von allgemeiner Geltung«64, anders formuliert: eine anthropologische Konstante. Diese Definition ist jedoch, wie Bernfeld weiter erläutert, noch nicht vollständig. Denn nicht jede Kindheit, die in Gesellschaft abläuft, ist bereits Erziehung. Was wäre, wenn die Kinder ausschließlich unter ihren Altersgenossen aufwüchsen? »In diesem Grenzfalle wäre Kindheit und Gesellschaft, aber dennoch keine Erziehung [...]. 62 Zur soziologischen Variante des Synchronisierungsproblems siehe oben S. 32 ff. 63 Bernfeld 1979, S. 51 64 Ebd., S. 49

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Denn die Gesellschaft, in der diese Kinder aufwüchsen, wäre eine reine Altersklassengesellschaft, die völlig dem physischen, psychischen, geistigen Niveau ihrer Bürger entspricht. Es gibt in ihr keine Erwachsenen. Erst deren Vorhandensein wird der Gesellschaft eine Struktur geben, in der die Erziehung ihren Platz findet. Kindheit, in einer Erwachsenengesellschaft verlaufend, das ist die Voraussetzung für die Erziehung.«65 Man kann diese Erziehungsdefinition folgendermaßen zusammenfassen: Erziehung ist die Summe der Reaktionen einer Erwachsenengesellschaft auf die biologische Entwicklungstatsache. Voraussetzung für Erziehung ist also der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen. Worin besteht er? Die biologische Erklärung wird von Bernfeld ausdrücklich zurückgewiesen. Das Erwachsensein, so erklärt er, ist nicht mit der Geschlechtsreife gegeben. Erwachsensein bezieht sich Bernfeld zufolge nicht auf eine, sondern auf drei Dimensionen der Entwicklung: auf ein physisches Niveau, ein psychisches Niveau und ein geistiges Niveau. Diese Explikation der KindErwachsenen-Differenz basiert auf folgenden Voraussetzungen: (a) Es gibt drei Dimensionen der Individualentwicklung: das Physische, das Psychische und das Geistige. (b) In jeder dieser Dimensionen folgt die Entwicklung einer binären Struktur: auf eine Phase des Nicht-Erwachsenseins folgt eine Phase des Erwachsenseins. (c) Die drei Entwicklungen sind derart synchronisiert, daß die drei Einschnitte mehr oder weniger zusammenfallen. Keine dieser Behauptungen ist evident, sie gleichzeitig aufzustellen, ist kühn. Für Bernfeld sind sie derart selbstverständlich, daß er nicht einmal den Versuch macht, sich nach Begründungen umzusehen. In Holzkamps Kritischer Psychologie findet man die folgende Argumentation: Eine Gesellschaft reproduziert sich durch Arbeit, also müssen die Individuen durchschnittlich fähig sein, an Lebensbedingungen teilzuhaben, die letztlich durch Arbeit reproduziert werden. Diese Fähigkeit wird als »Handlungsfähigkeit« bezeichnet. Zur Teilhabe an der gesellschaftlichen Reproduktion sind die Individuen nicht von Geburt an fähig, also lassen sich ihre Lebensläufe in zwei Abschnitte einteilen, eine Vorbereitungsphase, in der sie handlungsfähig werden, und eine Phase, in der sie handlungsfähig sind und diese entwickelte Handlungsfähigkeit nur noch reproduzieren müssen.66 Diese Argumentation unterstellt, daß die ver65 Ebd., S. 51 66 Vgl. Holzkamp 1983

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schiedenen Formen, in denen Individuen an gesellschaftlichen Prozessen teilhaben, integriert, d.h. miteinander synchronisiert sind - nur so kommt man zu einer globalen Zweiteilung. Dies ist jedoch nicht zwangsläufig der Fall. Beispielsweise werden in vielen Gesellschaften sechs- bis siebenjährige Kinder dazu angehalten, auf ihre kleinen Geschwister aufpassen; sie erledigen eine Arbeit, die bei uns teilweise von professionellen Erzieherinnen geleistet wird; diese kinderhütenden Kinder tragen zur gesellschaftlichen Reproduktion bei, ohne daß jemand sie deshalb als »erwachsen« bezeichnen würde. Sie sind jedoch noch nicht dazu fähig, an der Feldarbeit teilzunehmen - die verschiedenen »Handlungsfähigkeiten« sind nicht integriert. Auf diese Weise habe ich das Synchronisierungsproblem aber noch relativ soziologisch formuliert. Psychologisch gesehen besteht es darin, daß es verschiedene Dimensionen des Psychischen gibt. Der Mensch ist nicht nur das rationalste, sondern auch das emotionalste Lebewesen. Eine psychologische Reformulierung der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen müßte sich auf den Zusammenhang all dieser Dimensionen beziehen, auf Kognition, Emotion und Verhalten, wie die klassische Dreiteilung lautet; man könnte aber auch andere Dimensionen ins Spiel bringen: Motivation, Wahrnehmung, Motorik, Sexualität, Sozialverhalten usw. Die psychologische Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen enthält entweder die Behauptung, daß die Entwicklung in sämtlichen Dimensionen durch einen Haupteinschnitt charakterisiert ist und daß sämtliche Zäsuren synchronisiert sind, oder die Behauptung, daß die Entwicklung in einigen Dimensionen zweiphasig verläuft und daß diese Dimensionen wichtiger sind als die anderen. Beide Behauptungen stehen jedoch in schroffem Gegensatz zur Forschungslage. Die verschiedenen Dimensionen des Psychischen werden in der Psychologie meist arbeitsteilig untersucht, und selbst in den einzelnen Dimensionen sind Analysen, die sich auf den gesamten Lebenslauf beziehen, äußerst rar. Es gibt zwar Versuche, die Aussagen über die Entwicklung von Kognition, Emotion usw. zu integrieren, aber über eine bloße Zusammenschau ist man bislang kaum hinausgekommen. Es ist also nicht verwunderlich, daß viele Entwicklungspsychologen es für unseriös halten, Phasentheorien aufzustellen.

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L2 Datierung Angenommen, es ließen sich tatsächlich einleuchtende Argumente dafür finden, daß der Lebenslauf sich aus zwei großen Abschnitten zusammensetzt. Damit hätte man die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen jedoch noch nicht rekonstruiert. Was fehlt, ist eine Erklärung des Zeitpunkts, eine Erklärung dafür, daß der Einschnitt in einer bestimmten Altersphase angesiedelt wird. Nun ist es zwar ausgeschlossen, den Zeitpunkt genau festzulegen. Aber dennoch ist klar, daß nicht jedes Alter in Frage kommt. Die Zäsur darf nicht auf das dritte und auch nicht auf das fünfzigste Lebensjahr datiert werden. Bei sehr früher oder sehr später Datierung erhielte man eine Zweiteilung, und es wäre einem unbenommen, die beiden Phasen als Kindheit und Erwachsenenalter zu bezeichnen. Die Ausdrücke hätten dann jedoch eine andere Bedeutung als in der Pädagogik. Wenn hier Kinder und Erwachsene einander gegenübergestellt werden, dann wird der Einschnitt für gewöhnlich irgendwo zwischen dem 15. und dem 25. Lebensjahr angesetzt. Dieses timing ist zu erklären. Warum liegt die Zäsur in einem Zeitabschnitt, der ungefähr mit dem Abschluß der Pubertät beginnt und irgendwann um das 20. Lebensjahr herum endet? Warum wird sie nicht auf die frühe Kindheit datiert oder auf das mittlere Alter? Das sind keineswegs bloß abstrakte Möglichkeiten. Eine Reihe von Autoren liefert zwar Argumente für das Zwei-Phasen-Konzept; der Einschnitt wird von ihnen jedoch anders datiert als bei der pädagogischen Kind-Erwachsenen-Opposition.

Entwicklung des Selbst Viele Autoren, die genauere Aussagen über die Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen machen wollen, berufen sich auf den Identitätsbegriff von George Herbert Mead.67 Mead spricht allerdings weder von »Identität« noch von »Ich-Identität«, er spricht vom »seif«, also vom »Selbst«; der deutsche Übersetzer hat geglaubt, dies mit »Identität« übersetzen zu können. Die Frage lautet demnach: Läßt die Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen sich dadurch rekonstruieren, daß man sich auf das Selbst im Sinne von Mead bezieht?

67 Vgl. etwa Schmitz 1983, S. 65

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Ein Individuum verfugt dann über ein Selbst, so erklärt Mead, wenn es in der Lage ist, sich selbst zum Objekt zu machen, wenn es sich selbst gegenüber also dieselbe Haltung einnehmen kann, wie die anderen ihm gegenüber. Es bildet ein Selbst aus, indem es sich aus der Perspektive von anderen betrachtet, und zwar nicht eines einzelnen anderen, sondern einer Gemeinschaft oder einer Gruppe, aus der Perspektive des »verallgemeinerten Anderen«. Wann ist ein Mensch dazu in der Lage? Mead zufolge dann, wenn er die Fähigkeit erworben hat, an games teilzunehmen, an Gruppenspielen wie Fußball oder Handball.68 Dies ist nicht etwa eine Vorstufe in der Entwicklung des Selbst, sondern bereits der Endzustand. Dieser Entwicklungsphase geht ein Stadium voraus, in dem Kinder sich mit Rollenspielen (plays) beschäftigen, also beispielsweise Mutter oder Polizist spielen. Auf dieser Stufe ist die Entwicklung insofern beschränkt, als hier nur die Rollen von einzelnen übernommen werden, nicht aber die Haltung der Gemeinschaft insgesamt. Mead zufolge verläuft die Entwicklung des Selbst also insgesamt in zwei Phasen: unvollständiges Selbst - vollständiges Selbst, wobei die erste Phase durch das Rollenspiel wiederum in zwei Abschnitte geteilt wird. Mead liefert Argumente für die Zweiteilung des Lebenslaufs, aber nicht für die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen im Sinne der Pädagogik; das timing ist bei ihm völlig anders, die Zäsur deckt sich ungefähr mit dem Beginn des Schulbesuchs. »Deutlich wird, daß Mead mit Identitätsbildung nicht den erfolgreichen Abschluß der Adoleszenzkrise, sondern viel elementarer eine infantile Identität meint«69. Wenn man den Erwachsenen durch ein Selbst im Sinne von Mead charakterisieren würde, so würde das bedeuten, daß Menschen ungefähr dann erwachsen werden, wenn sie ins schulpflichtige Alter kommen. Sie kämen nicht als Erwachsene aus der Schule heraus, sie gingen als Erwachsene in sie hinein.

Zweizeitigkeit der Sexualentwicklung Daß die Freudsche Phaseneinteilung sich auf die Entwicklung der frühen Kindheit konzentriert und deshalb für die Analyse des Erwachsenenlebens wenig hergibt, gehört zu den Gemeinplätzen der Entwicklungspsychologie. Aber das ist nicht ganz richtig. Freud hat nicht einfach ver68 Vgl. Mead 1980, S. 320 69 Joas 1980, S. 118 f.-Joas fährt fort: »Manche Beispiele deuten aber doch in der anderen Richtung«, ohne diesen Hinweis jedoch auszufuhren.

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säumt, sich mit der psychischen Entwicklung von Erwachsenen zu beschäftigen; seine Theorie der frühkindlichen Entwicklung ist Teil einer umfassenderen Konzeption des Lebenslaufs. Die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen läßt sich von Freud her rekonstruieren als Unterschied zwischen »partialer« und »voller Organisation« der Sexualität. Die Fülle besteht darin, daß die Sexualität im Dienst der Fortpflanzungsfunktion steht. Dazu müssen die perversen Partialtriebe dem Genitalprimat unterworfen werden; die übrigbleibenden perversen Strömungen müssen auf solche nicht-sexuellen Ziele umgelenkt werden, die sozial als wertvoll gelten, durch Sublimierung und Reaktionsbildung müssen sie in Tugenden verwandelt werden. Allerdings entwikkelt sich die Genitalität, Freud zufolge, in zwei Schüben. Die erste Blüte genitaler Sexualität fällt mit dem Ödipuskomplex der frühen Kindheit zusammen, danach wird sie verdrängt (»Latenzzeit«); in der Pubertät kommt sie ein zweites Mal zum Durchbruch. Der Unterschied zwischen Erwachsenen und Nicht-Erwachsenen entspricht also nicht dem zwischen genitaler und prägenitaler Sexualität, sondern dem zwischen pubertärer und frühkindlicher Genitalität. Freud sieht folgende Differenzen70: Erstens kennt das Kind nur ein Genitalorgan, den Phallus, das weibliche Organ wird verkannt; erst beim Erwachsenen wird die biologische Dualität psychisch repräsentiert.71 Zweitens befriedigt sich das Kind selbst, statt sich an einem fremden Objekt zu befriedigen und so zu dessen Befriedigung 70 Vgl. Freud 1969 ff., Studienausgabe Bd. 5, S. 37 ff.- Im folgenden wird mit »SA« auf diese Ausgabe verwiesen (SA 5 = Studienausgabe, Band 5). 71 Es gibt hier eine bedeutsame Unklarheit. Im Aufsatz »Die infantile Genitalorganisation« schreibt Freud, beim Kind gebe es zunächst keine Polarität der Geschlechter, sondern die Polarität Subjekt vs. Objekt, dann aktiv vs. passiv, dann männlich vs. kastriert. »Erst mit der Vollendung der Entwicklung zur Zeit der Pubertät fällt die sexuelle Polarität mit männlich und weiblich zusammen.« (SA 5, S. 241) Das wird so erläutert: »Das Männliche faßt das Subjekt, die Aktivität und den Besitz des Penis zusammen, das Weibliche setzt das Objekt und die Passivität fort.« (Ebd.) Das Neue bestünde dann nur in der Herstellung einer Äquivalenzenkette zwischen den früher ausgebildeten Polen (Subjekt = Aktivität = Penisbesitz; Objekt = Passivität). Es kommt jedoch noch etwas hinzu, die Art nämlich, in der das weibliche Geschlecht repräsentiert wird: »Die Vagina wird nun als Herberge des Penis geschätzt, sie tritt das Erbe des Mutterleibes an.« (Ebd.) Demnach gäbe es auch in diesem Stadium keine Geschlechterpolarität, sondern eine Polarität zwischen »Penisbesitz« und »Mutterleibersatz«; diese Polarität ist jedoch auf den Standpunkt des Mannes beschränkt.

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beizutragen. Drittens gibt es eine Umwandlung der Sexualziele, d.h. der Erregungen oder Lüste; erst die Erwachsenen sind zur genitalen Endlust, zum Orgasmus fähig. Viertens kommt es in der Pubertät zu einer Umwandlung der Sexualobjekte, zur Wahl von gegengeschlechtlichen, aber nicht inzestuösen Sexualpartnern. Und fünftens, so deutet Freud an, ist ein Kind erst dann endgültig erwachsen, wenn es sich nicht nur von seinem Vater-Ideal, sondern von Vater-Substituten überhaupt gelöst hat 72 , d.h. wenn es die mit der narzißtischen Idealisierung einhergehende Heuchelei sich selbst gegenüber überwunden hat.73 Das sieht wie eine Drei-Phasen-Konzeption aus mit Ödipuskomplex und Pubertät als den beiden Einschnitten. Aber damit hätte man die Freudsche Konzeption gründlich verfehlt. Die Pubertät stellt für Freud zwar ein bedeutsames Ereignis dar, jedoch liegt für ihn hier kein Haupteinschnitt. Der große Umbruch in der psychischen Struktur erfolgt nicht beim zweiten Schub der genitalen Sexualität, sondern bereits beim ersten, beim Ödipuskomplex. »Beim Adoleszenten entsteht aus den Anstrengungen, sich von seinen infantilen Liebesobjekten loszusagen, kein neues psychisches System.«74 Die Modifikationen der Adoleszenz stellen eine wichtige, nicht aber eine privilegierte Zäsur dar; vergleichbare Modifikationen kann es auch später noch geben, etwa bei Verlust eines Partners oder in den Wechseljahren. Die Freudsche Konzeption ist zwar dualistisch, aber wie Mead datiert auch Freud den Haupteinschnitt auf die frühe Kindheit.

Mitte des Lebens Der Einschnitt kann nicht nur früher, sondern auch später angesetzt werden. C. G. Jung hat 1931 in »Die Lebenswende« ein Schema vorgeschlagen, das folgendermaßen gegliedert ist: 1. die Kindheit, welche die Pubertät einschließt, 2. das Jugendalter, das, im Gegensatz zum heute üblichen Sprachgebrauch, von der unmittelbaren Nachpubertätszeit - d.h. ungefähr vom 15. Lebensjahr - bis zum 35. oder 40. Lebensjahr dauert, 3. das »erwachsene Alter«, 4. das Greisenalter, ohne genauere Altersangabe.

72 Vgl. SA 4, S. 235 ff. 73 Vgl. SA 9, S. 44 74 Vgl. Jacobson 1977, S. 97

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Jung vergleicht den Lebenslauf mit der Sonnenbahn. Die ersten beiden Phasen bilden den Morgen, die letzten beiden den Abend. Die vier Phasen werden also von einer Zweiteilung beherrscht, der zweite Abschnitt beginnt mit dem »erwachsenen Alter«. Alles scheint zu passen: die Zweiteilung und die Terminologie. Dennoch ist das Schema ftir eine Rekonstruktion der Kind-Erwachsenen-Opposition ungeeignet, denn Jung arbeitet mit einem anderen timing. Für Jung dauert das Jugendalter von der unmittelbaren Nachpubertät - also ungefähr vom 15. Lebensjahr - bis zum 35. oder 40. Lebensjahr, erwachsen wird man also mit 35 oder mit 40. Jung nimmt die Redeweise von der »Lebensmitte« wörtlich und lokalisiert den Haupteinschnitt in der Mitte der durchschnittlichen Lebensspanne. Das Erwachsensein beginnt mit der midlife crisis. Insgesamt machen die Konzeptionen von Mead, Freud und Jung darauf aufmerksam, daß man bei einer theoretischen Rekonstruktion der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen auch die Datierung erklären muß. Andere Konzeptionen der Zweiteilung sind denkbar, mit früherer oder späterer Zäsur, und die Frage ist, warum der Haupteinschnitt gerade zu dem Zeitpunkt liegen soll, der fiir gewöhnlich als Beginn des Erwachsenenalters gilt, also irgendwo zwischen dem 15. und dem 25. Lebensjahr.

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1-3 Geltungsbereich Gesetzt den Fall, es wäre gelungen, diese beiden Behauptungen zu begründen: die, daß der Lebenslauf aus zwei Hauptabschnitten besteht und die, daß der Einschnitt irgendwo zwischen dem 15. und dem 25. Lebensjahr erfolgt. Auch jetzt hätte man die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen noch nicht rekonstruiert. Es müßte noch gezeigt werden, daß diese Struktur für »den« Lebenslauf gilt, daß sie allgemein gültig ist. Allgemeingültigkeit meint hier erstens: Die Zweiteilung ist unabhängig von der Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Kategorien. Und zweitens meint »Allgemeingültigkeit«: Die Zwei-Phasen-Struktur ist eine alltägliche Tatsache; erwachsen zu sein, ist kein Ausnahmefall, kein Ideal. Den ersten Aspekt der Allgemeingültigkeit werde ich im folgenden als »Egalität« bezeichnen, den zweiten als »Normalität«. Wenn man die Kind-Erwachsenen-Opposition theoretisch rekonstruieren will, dann muß man erklären, warum sie egalitär ist und warum sie normal ist.

Egalität Wenn man von »Kindern und Erwachsenen« spricht, so ist diese Unterscheidung - in der hier untersuchten Bedeutung - egalitär. Die besitzenden Klassen bestehen genauso aus Kindern und Erwachsenen wie die besitzlosen Klassen, die männlichen Gesellschaftsmitglieder zerfallen in Kinder und Erwachsene genauso wie die weiblichen. Was spricht für diese Egalitätsbehauptung? Welche Alternativen sind denkbar? Ich beschränke mich im folgenden auf das Geschlechterverhältnis. Inwiefern sind Männer und Frauen demselben Lebenslaufregime unterworfen? Aus sexualbiologischen Gründen? Werden die Biographien von Männern und Frauen durch die Pubertät in zwei Abschnitte geteilt, die Zeit der Fortpflanzungsunfähigkeit und die Zeit der Fortpflanzungsfähigkeit? Ich habe schon darauf hingewiesen, daß das Kriterium der Fortpflanzungsfähigkeit allenfalls bei Männern zu einer zweigliedrigen Struktur fuhrt; bei Frauen erhält man eine Dreiteilung.75 Läßt die Egalitätsbehauptung sich soziologisch begründen? In manchen Stammesgesellschaften besteht die institutionalisierte Gliederung des Le75 Siehe oben S. 27 f.

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benslaufs in einem Altersklassensystem, das heißt, Individuen ungefähr gleichen Alters werden zu Gruppen zusammengefaßt und wechseln kollektiv von einer Altersstufe in die nächste. In den meisten derartigen Gesellschaften wird dieses System nur auf Männer angewandt.76 Wenn man behaupten würde, das Altersklassensystem regele u.a. den Übergang zum Erwachsensein, dann hätte der Ausdruck »Erwachsensein« für solche Gesellschaften eine andere Bedeutung als in der pädagogischen Gegenüberstellung von Kindern und Erwachsenen: er verlöre dann seine Geschlechtsneutralität. Von Linton77 stammt die folgende Gliederung, die ihm zufolge universale Gültigkeit hat: Klein-

Knabe

erwachsener Mann

alter Mann

kind

Mädchen

erwachsene Frau

alte Frau

Dieses Schema enthält gleich zwei Alternativen zur Kind-ErwachsenenOpposition. Es unterscheidet die Altersstufen der Männer von denen der Frauen; nur die erste Stufe ist geschlechtsneutral. Darüber hinaus ist es viergliedrig statt zweigliedrig. Meillassoux zufolge teilen sich Gesellschaften bei häuslicher Produktionsweise in drei Gruppen: junge Männer, Frauen mit Kindern, Alte.78 Ein männliches Individuum gehört zunächst zur Gruppe der Frauen mit Kindern, dann zur Gruppe der jungen Männer, dann zur Gruppe der Alten; es durchläuft also drei Lebensphasen. Ein weibliches Individuum hingegen durchläuft nur zwei Lebensphasen: nach der Geburt gehört es zur Gruppe der Frauen, es verläßt diese Gruppe erst mit dem Klimakterium, um in die Gruppe der Alten überzugehen. Anders als bei Linton verläuft hier die Lebenslaufstruktur von Männern und Frauen nicht mehr parallel, der Unterschied besteht nicht mehr nur im Inhalt, sondern überdies in der Struktur. Kurz: Die geschlechtsneutrale Gegenüberstellung von Kindern und Erwachsenen ist weder biologisch noch soziologisch zwingend. Sie ist begründungsbedürfig.

76 Einen Überblick über die Analysen von Altersklassen-Gesellschaften findet man in Foner/Kertzer 1978. 77 Vgl. Linton 1974, S. 58 78 Vgl. Meillassoux 1973

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Normalität Wenn man Kinder von Erwachsenen unterscheidet, dann bezieht man sich nicht auf ausgesuchte Einzelfälle. Erwachsen zu werden ist kein Privileg. Alle Kinder werden erwachsen. Die Alternativhypothese lautet: Der Erwachsene ist nicht der Normalfall, sondern der Idealfall. Nun kann man sich unter einem Ideal verschiedenes vorstellen. Man kann dabei an einen Orientierungspunkt denken, der in unendlicher Ferne liegt, dem man sich annähern kann, der sich aber nicht erreichen läßt; das Muster hierfür ist Kants regulative Idee. Das Ideal kann aber auch als Entwicklungsstufe begriffen werden, die erst in Zukunft realisiert werden wird; ein solches Ideal ist die Ich-Identität in der Konzeption von Jürgen Habermas. Unter einem Ideal kann man schließlich einen Zustand verstehen, der von einigen wenigen Ausnahmemenschen verwirklicht wird. Die klassische Fassung dieser Variante stammt von Aristoteles; das Ideal ist hier der spoudaios, der Tugendheld.

Erwachsensein als regulative Idee Kants regulative Idee ist der Begriff einer Vollkommenheit, der niemals Wirklichkeit werden kann, der aber dennoch wirksam ist - insofern nämlich, als er mit der Aufforderung einhergeht, sich der Vollkommenheit beharrlich anzunähern. Diese Konzeption liefert eine radikale Alternative zur Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen. Denn entweder ist das Erwachsensein selbst eine regulative Idee, dann ist niemand erwachsen bzw. alle sind mehr oder weniger erwachsen. Oder man versteht unter Kindheit und Erwachsensein zwei Abschnitte auf dem Weg zum (unerreichbaren) Ideal; dann gibt es jedoch keine Möglichkeit, diese Unterscheidung von der regulativen Idee her zu begründen. Die regulative Idee ist verbunden mit der Logik des kontinuierlichen Entwicklungsfortschritts, sie führt zu einer transitiven Ordnung von höheren, niedrigeren und gleichen Entwicklungszuständen, also zu einer Kontinuitätskonzeption, wie sie eingangs am Beispiel von Dewey erläutert wurde. Die regulative Idee ermöglicht Vervollkommnung ohne Vollkommenheit, so zumindest sieht es Kant. Diese Verbindung von Idee und Entwicklung liefert jedoch nicht nur einen Einwand gegen die Kind-Erwachsenen-Opposition, sie ist selbst wiederum problematisch. Theologisch gesprochen, setzt es die Unsterblichkeit voraus.79 Mathematisch gesehen, 79 Vgl. Kant, KpV, A 220 ff.

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besteht das Problem in der Topologie der Unendlichkeit.80 Wie lassen sich die Vollkommeneren von den weniger Vollkommenen unterscheiden? Dadurch, daß man den Abstand zur Idee mißt; die einen haben sich der Idee stärker angenähert als die anderen. Nun liegt aber die regulative Idee in unendlicher Ferne, also wird unterstellt, daß sich die Abstände zu einer in unendlicher Ferne liegenden Größe messen und vergleichen lassen. Das ist jedoch nicht möglich. Man muß sich hierzu die beiden Bedeutungen von »unendlich« klar machen, die Unterscheidung zwischen dem potentiellen und dem aktuellen Unendlichen, die von Aristoteles stammt und an die Kant ausdrücklich anknüpft.81 Wenn man vom potentiell Unendlichen spricht, meint man damit die Vorschrift, eine Strekke immer weiter auszudehnen bzw. in der Zahlenreihe immer weiter zu zählen. Dem entspricht bei Kant der unendliche Progreß. Hierbei ergibt sich jedoch keine Möglichkeit, den Abstand zweier Zahlen - oder zweier Entwicklungszustände - in bezug auf dieses Unendliche zu vergleichen; man kann also nicht feststellen, ob jemand mehr oder weniger vollkommen ist. Wenn Kant von der Annäherung an diese Idee spricht, dann bewegt er sich faktisch im Rahmen einer anderen Topologie. Das Unendliche wird hier als ein fixer Punkt gedacht (diese topologische Eigenschaft ist unabhängig davon, ob dieser Punkt für wirklich existierend oder für eine Fiktion erklärt wird); dieses Unendliche ist ein aktual Unendliches, eine bestimmte unendliche Zahl. Nun liegt aber das aktual Unendliche in bezug auf die endlichen Zahlen in einem Raum der Unbestimmtheit. Richtig ist: 5 ist kleiner als 10 und 10 ist kleiner als eine bestimmte unendlich große Zahl. Aber wenn man davon spricht, daß 10 näher an dieser unendlichen Zahl ist als 5, unterstellt man damit eine Topologie bzw. eine Metrik, in der man den Abstand messen kann. Das ist jedoch nicht möglich. Der Differenz zwischen einer bestimmten unendlich großen Zahl und 10 läßt sich keine bestimmte Maßzahl zuordnen, sie ist deshalb nicht vergleichbar mit der Differenz zwischen dieser unendlich großen Zahl und 5. Auch auf dem Weg über das aktual Unendliche läßt sich also nicht angeben, ob Herr X dem Ziel der Vollkommenheit näher gerückt ist als Frau Y. Man könnte noch einen dritten Begriff des Unendlichen heranziehen, die Logik des Grenzwerts, beispielsweise die Annäherung an die Wurzel 80 Für die geduldige Erläuterung des mathematischen Unendlichkeitsbegriff bedanke ich mich bei Gerhard Herrgott. 81 Vgl. KrV, B 454 ff., B 799

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aus 2. Hierbei läßt sich der Grad der Annäherung vergleichen, nur geht es dabei nicht um die Annäherung an einen Wert, der in unendlicher Ferne liegt - es macht keine Schwierigkeiten, einen Wert zu erreichen, der größer ist als der Grenzwert. Und schließlich könnte man die Non-Standard-Analysis bemühen. In deren Rahmen lassen sich tatsächlich Summen, Produkte und Differenzen zwischen unendlich großen Zahlen und natürlichen Zahlen bilden, und man kann die Ergebnisse vergleichen. Aber man hat es dann mit einer anderen Zahlen weit zu tun. In ihr gibt es Galaxien von unendlichen Zahlen; es wird schwierig, der Rede von der Annäherung an einen unendlich entfernten Punkt in dieser Topologie einen Sinn zu geben. Wenn man, wie Kant, die regulative Idee mit dem Entwicklungsgedanken verknüpft, dann vermengt man zwei heterogene Logiken: die Logik des aktual Unendlichen und die Logik des Grenzwerts.

Erwachsensein als zukünftige Möglichkeit Habermas zufolge ist das entscheidende Merkmal des erwachsenen Subjekts die Ich-Identität. Ich-Identität meint bei ihm die Fähigkeit, auch gegenüber widersprüchlichen Rollenanforderungen mit sich konsistent zu bleiben, außerdem die Bereitschaft, vorgegebene Normen in Frage zu stellen, und schließlich die Kompetenz, sich in einer einzigartigen Lebensgeschichte zu organisieren und hierdurch in seiner unverwechselbaren Identität gegenüber anderen darzustellen. Diese Ich-Identität wird in drei Stufen erreicht. An eine Stufe der natürlichen Identität, charakterisiert durch die organische Stabilisierung einer System-Umwelt-Differenz, schließt die Rollenidentität an, also die Identifizierung mit vorgegebenen sozialen Rollen, und hierauf folgt schließlich, im Verlauf der Adoleszenzkrise, die Ausbildung der Ich-Identität. Dieses Konzept der Ich-Identität bezieht sich nicht auf die Gegenwart, sondern auf die Zukunft. Ich-Identität wird es erst auf einer historischen Entwicklungsstufe geben, die noch vor uns liegt. Die Herausbildung der Ich-Identität, so erklärt Habermas, ist die Lösung eines Problems, das sich erst auf einer bestimmten Stufe der Moralentwicklung stellt, auf der Stufe der politischen Universalmoral, und diese Stufe ist, so meint er, historisch noch nicht realisiert worden. Gegenwärtig befinden wir uns, Habermas zufolge, auf einer davorgelagerten Stufe, auf der des Gegensatzes von Privat- und Staatsmoral. Habermas hat die Stufe der politischen Universalmoral - und damit die Ich-Identität - »antizipatorisch entworfen«, wie er

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schreibt82; sie beruht auf einer Prognose über die Moralentwicklung im Rahmen bestimmter Annahmen über die Entwicklungslogik gesellschaftlicher Normensysteme.83 Wenn man Erwachsensein als Ich-Identität im Sinne von Habermas begreift, dann ist der Erwachsene also eine sich anbahnende historische Möglichkeit, deren Verwirklichung noch aussteht.

Erwachsensein als Ausnahmephänomen Nun findet sich bei Habermas noch eine zweite Argumentationslinie. So heißt es: Eine »autonome Ichorganisation« - also Ich-Identität - »stellt sich keineswegs regelmäßig, etwa als Resultat naturwüchsiger Reifungsprozesse ein, sie wird sogar meistens verfehlt.«84 Auch hier wird Ich-Identität als Ideal verstanden, aber nicht als Zukunftsbild, sondern als ein Phänomen, das bereits verwirklicht ist; allerdings tritt es nicht massenhaft auf, sondern nur in Ausnahmefällen. Wenn man diesen Begriff von Ich-Identität der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen zugrunde legt, dann ist Erwachsensein ein Ideal, das unter günstigen Umständen in der Realität gefunden werden kann, so wie Goethe im botanischen Garten zu Palermo seiner Urpflanze begegnete. Der Erwachsene ist dann von der Art des Aristotelischen Tugendhelden, ein rares Exemplar. Man kann sich hierfür auch auf die Ciceronische Tugendkonzeption berufen, die da besagt: Wahre Tugend läßt sich nur bei einer Minderheit finden - und kann im übrigen auch nur von einer Minderheit beurteilt werden.85 Auf die Figur des Ausnahmemenschen stößt man auch in Kohlbergs Stufenkonzeption der Moralentwicklung. Während das Stadium der Adoleszenz (Stufe 4) von den meisten Individuen noch erreicht wird, scheitern die meisten beim weiteren Aufstieg. Die Zwischenstufe 4 Vi wird nur von wenigen erklommen, Stufe 5 - die erste Stufe der postkonventionellen Moral - ist noch dünner besiedelt, und ob es überhaupt jemanden gibt, der auf Stufe 6 angekommen ist, ist Gegenstand der Diskussion, auch von Kohlberg mit sich selbst. Es gibt also tatsächlich eine Zweiteilung des Stufenschemas, jedoch nicht unter dem Aspekt der Intension, sondern dem der Extension, also nicht der psychischen Strukturen, sondern der sozialen Häufigkeit. Die Phasen der präkonventionellen und der konventionel82 Habermas 1973b, S. 229 83 Vgl. v.a. Habermas 1973b, S. 210 84 Ebd., S. 64 85 Vgl. das Konzept des spoudaios in der Nikomachischen Ethik 1099a 23, 1101a 1, 1176a 15 ff.; Cicero 1966, S. 47

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len Moral sind »natürliche Stufen«, wie Kohlberg sie nennt. Hier entspricht das, was üblicherweise der Fall ist, dem, was von einem Entwicklungsideal aus gesehen wünschenswert ist. Die Normalität entspricht der Norm. Danach beginnt das Leben der Ausnahme-Existenzen. Postkonventionell ist nur eine Elite, die Masse bleibt konventionell. Sofern man sich also - allen weiter oben vorgebrachten Einwänden zum Trotz86 - entschließen sollte, »Erwachsensein« mit »postkonventioneller Moral« gleichzusetzen, müßte man zu der Schlußfolgerung kommen: Die meisten Kinder werden niemals erwachsen. Ein Ideal ist auch das Freudsche Kriterium der vollen Sexualorganisation. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, bleiben die meisten Menschen unvollkommen. Die Behauptung, daß sich Erwachsene durch volle Sexualorganisation auszeichnen, würde dazu fuhren, daß man die folgenden Gruppen aus dem Kreis der Erwachsenen ausschließen muß: alle Männer, die vom perfekt funktionierenden Phallus träumen und denen das weiblichen Sexualorgan Schrecken einflößt; alle Frauen, die den Penisneid nicht überwunden haben; alle entschiedenen Onanisten; all diejenigen, die Schwierigkeiten haben, größere sexuelle Erregung zu ertragen (auf dieser Linie hat Balint vorgeschlagen, als Maß der Ich-Stärke die maximale sexuelle Spannung zu nehmen, die vom Ich noch störungsfrei ertragen werden kann 87 ). Frauen, die nie einen Orgasmus erlebt haben, wären hiernach ebenfalls nicht erwachsen, zumindest wüßte man es nicht. Nicht erwachsen wären auch all diejenigen, die den Wechsel von der klitoridalen zur vaginalen Orientierung nicht vollzogen haben, diejenigen, die sich keine Kinder wünschen und diejenigen, deren Kinderwunsch sich auf den Penisneid stützt.88 Wie Kohlberg bezieht Freud sich auf eine Norm, auf die Norm der Fortpflanzung durch Genitalverkehr. Im Unterschied zu den Entwicklungstheoretikern interessiert er sich jedoch nicht für die Normerfüllung, sondern für die Abweichung, nicht für die Erfolge der Erziehung, sondern 86 Siehe oben S. 37 87 Vgl. Balint 1988, S. 80 88 Der Gegensatz von »voller Genitalität« und Perversion fuhrt zu Widersprüchen. Zahlreiche Perversionen setzen eine Organisation der Sexualität unter dem Primat der Genitalzonen voraus (Fetischismus, die meisten Formen der Homosexualität, Inzest) (vgl. den Artikel »Perversion« in Laplanche/Pontalis 1975). Im Anschluß an Lacan fragen Laplanche/Pontalis deshalb, ob die Norm nicht anderswo gesucht werden müsse als im genitalen Funktionieren, nämlich in der positiven Verarbeitung des Kastrationskomplexes.

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ihr Scheitern. Catherine Millot hat das so formuliert: »Die Neurose, wie übrigens auch die Perversion [...] resultiert aus Fehlschlägen des psychischen Entwicklungsprozesses, durch die das Kind zum Erwachsenen wird. Wenn man nun die Erziehung a minima als die Gesamtheit der Praktiken definiert, die darauf abzielen, diesen Prozeß zu fördern, so muß die Neurose, und mit ihr die Perversion, als ihr offenkundiges Scheitern angesehen werden.«89 Damit ergeben sich jedoch nicht einfach zwei Klassen von Subjekten, die Erwachsenen und die Gescheiterten, und nicht einfach zwei Klassen von Handlungen, solche, die die Norm verletzen und solche, in denen sie befolgt wird; vielmehr stehen Norm und Normverletzung zueinander im Verhältnis wechselseitiger Bedingung. Die Befolgung der Norm ist pathogen, denn die Norm verlangt mehr, als man halten kann; sie fuhrt also selbst zur psychischen Abweichung.90 Außerdem ruft die Norm, wie schon Paulus wußte, den Wunsch hervor, sie zu übertreten: »Denn ich wußte nichts von der Lust, hätte das Gesetz nicht gesagt: >Laß dich nicht g e l ü s t e n ! D i e Übertretung der Norm ist erregend - was verboten ist, das macht uns gerade scharf.92 Freud rekonstruiert nicht die Normalität und nicht das Erreichen der Norm, sondern die Formen des Scheiterns, die Gesetzlichkeit, nach der das Gesetz verfehlt wird. Störungen sind hier Strukturen mit eigener Positivität. Die Abweichung von der Norm läßt sich nicht in einem Stufenmodell der Entwicklung darstellen. Zwar spricht Freud hin und wieder davon, daß jemand auf dem Entwicklungsweg zurückbleibt93, doch geht es bei Psychose, Neurose, Perversion oder Homosexualität nicht darum, daß jemand auf einer früheren Entwicklungsstufe verharrt. Ein Neurotiker ist nicht jemand, der Kind geblieben ist, auch wenn in der Neurose Mechanismen wirksam sind, die in früher Kindheit ausgebildet wurden. Der Rückgriff auf archaische Mechanismen ist auch fiir das Erreichen der Norm unumgänglich. Ein erwachsener Neurotiker hat die Erfahrungen der Pubertät auf irgendeine Weise verarbeitet; die Neurose ist oftmals gerade eine Verarbeitung der Anforderung, »erwachsen« zu werden, also 89 Millot 1982, S. 59 90 Dies ist das Thema von Freuds »Unbehagen in der Kultur«. 91 Römer 7,7 92 »Es bedarf eines Hindernisses, um die Libido in die Höhe zu treiben, und wo die natürlichen Widerstände gegen die Befriedigung nicht ausreichen, haben die Menschen zu allen Zeiten konventionelle eingeschaltet, um die Liebe genießen zu können.« SA 5, S. 207; vgl. auch ebd., S. 206, 222 f. 93 Vgl. etwa SA 5, S. 130

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genitale heterosexuelle nicht-inzestuöse Beziehungen aufzunehmen - eine Verarbeitung, und damit eine psychische Neubildung, nicht etwa ein Stillstand. Die Regression besteht nicht in einem Rückfall auf eine frühere Entwicklungsstufe, sondern in der Mobilisierung von Phantasiebeziehungen.94 Manche Autoren nehmen sogar an, daß in der Adoleszenz die Regression im Dienst der Entwicklung steht.95 Es gibt noch eine weitere Form der Idealbildung: die Normalisierung. Sie kommt dadurch zustande, daß statistische Durchschnittswerte zur verbindlichen Norm erklärt werden, derart, daß bei Überschreitung von Grenzwerten (die immer willkürlich gesetzt sind) korrigierende Interventionen erfolgen.96 Wie eingangs bereits dargestellt, ist Lenzen der Auffassung, daß die Definitionen von »Kindern« und »Erwachsenen« auf solchen Normalisierungsprozeduren beruhen und daß es sich bei ihnen deshalb um nicht wahrheitsfähige Konstrukte handelt.97 Normalisierungsaussagen sind jedoch nur dann eine Form der Idealisierung von Kindern und Erwachsenen, wenn solche Aussagen sich tatsächlich auf Kinder im Unterschied zu Erwachsenen beziehen oder auf Erwachsene im Unterschied zu Kindern. Das ist bei den von Lenzen aufgeführten Beispielen jedoch nicht der Fall, diese beziehen sich auf Menschen bestimmten Alters, nicht auf Kinder im Unterschied zu Erwachsenen. Die Feststellung, daß der Wortschatz mit 1 Vi Jahren rasch anwächst, ist auf den Begriff des Kindes sowenig angewiesen wie auf den des Erwachsenen. Ein Zusammenhang zwischen der Konstrukt-These und den Normalitätsaussagen entsteht nur dann, wenn bei der Normalisierung mit einer übergreifenden Zweiteilung des Lebenslaufs operiert wird, wenn also eine Phase der Kindheit von einer Phase des Erwachsenseins unterschieden wird. Diese Zweiteilungen beruhen selbst nicht mehr auf Normalisierungsprozeduren. Bezogen auf die Frage der Kind-Erwachsenen-Differenz kann man deshalb die Idealbildung durch Normalisierung außer acht lassen. Wenn man Kinder und Erwachsene unterscheidet, dann meint man mit »Erwachsenen« vielleicht nicht alle, die ein bestimmtes Alter erreicht haben, aber doch viele, und nicht nur einzelne oder eine Zukunftsgestalt oder eine bloße Idee. Der Erwachsene, so schreibt Heinrich Roth, wird 94 Vgl. 95 Vgl. 96 Vgl. 1993 97 Vgl.

Lacan 1973, S. 90 Bios 1977 hierzu Canguilhem 1976, Foucault 1977, v. a. S. 236, Link 1992, Ewald Lenzen 1994, S. 355 ff. und in dieser Arbeit oben S. 15 f.

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»von der Gesellschaft möglicherweise ebensooft >ermöglichtverhindert< wird. Aber es gibt die mündige Person als untersuchbare und zu analysierende Wirklichkeit, wie es den gestörten deformierten und verunglückten Menschen gibt, der viel häufiger zum Objekt wissenschaftlicher Untersuchungen wurde.«98 Eben das muß begründet werden.

98 Roth 1976, S. 214

2 Äquivalenz und Metapher Wie wird die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen von den Klassikern der Pädagogik begründet? Ich beschränke mich im folgenden auf drei Autoren: auf Schleiermacher, Humboldt und Herbart.

2.1 Das sogenannte Generationenverhältnis Der locus classicus zu dieser Frage sind Schleiermachers Pädagogik-Vorlesungen aus dem Jahre 1826." »Das menschliche Geschlecht«, so lautet die vielzitierte Passage, »besteht aus einzelnen Wesen, die einen gewissen Zyklus des Daseins auf der Erde durchlaufen und dann wieder von derselben verschwinden, und zwar so, daß alle, welche gleichzeitig einem Zyklus angehören, immer geteilt werden können in die ältere und die jüngere Generation, von denen die erste immer eher von der Erde scheidet. [...] Es muß also eine Theorie geben, die von dem Verhältnisse der älteren Generation zur jüngeren ausgehend sich die Frage stellt: Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren? Wie wird die Tätigkeit dem Zweck, wie das Resultat der Tätigkeit entsprechen? Auf diese Grundlage des Verhältnisses der älteren zur jüngeren Generation, was der einen in Beziehung auf die andere obliegt, bauen wir alles, was in das Gebiet dieser Theorie fällt.«100 Die Funktion dieser These ist klar erkennbar: Die Zentralstellung des Generationenverhältnisses soll der Erziehungstheorie den Realitätsbezug sichern. Bei Heinrich Roth wird es später heißen: Der »reife, mündige Erwachsene« sei nicht nur eine Norm, sondern auch ein Faktum. »Er ist Faktum insofern, als es diesen reifen und mündigen Menschen in der Realität gibt und immer geben wird.«101 Bei Schleiermacher zeigt sich diese realitätssichernde Funktion vor allem darin, welche Stelle die Zwei-Generationen-Konzeption in der Architektur seines Systems einnimmt. Der 99 Ich beziehe mich auf die Vorlesungen in der Gestalt, in der sie wirksam geworden sind; von den Problemen der Quellenlage kann ich deshalb absehen. 100 Schleiermacher 1983, S. 9 101 Roth 1976, S. 214 f.

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Unterschied zwischen der älteren und der jüngeren Generation ist hier ein Gegensatz, der nicht dialektisiert, nicht in einer höheren Einheit aufgehoben wird; er liegt außerhalb der Versöhnung von Natur und Vernunft in der Einheit der Idee102 und behält den Status einer reinen Tatsache. Die These von den zwei Generationen steht also außerhalb der eigentlichen Theoriebildung und ist zugleich deren Grundlage; sie ist das theoriekonstituierende Ausnahme-Element, das von der Theorie selbst nicht mehr erfaßt wird. Aber handelt es sich bei den zwei Generationen tatsächlich um eine Realität? Auf welche Argumente stützt sich die Behauptung, das menschliche Geschlecht bestehe immer aus einer jüngeren und einer älteren Generation, aus Kindern und Erwachsenen? Schleiermacher spricht nicht von Kindern und Erwachsenen, sondern von der älteren und der jüngeren Generation, und mit dieser Terminologie scheint eine Begründung angedeutet zu werden. Die Menschheit besteht eben deshalb aus Kindern und Erwachsenen, so kann man diese Äußerungen lesen, weil es immer zwei Generationen gibt, eine ältere und eine jüngere. Das ist eine Behauptung, und um sie beurteilen zu können, muß man sich zunächst darüber klarwerden, was hier mit »Generation« gemeint ist. Der Ausdruck ist mehrdeutig - welche Bedeutung ist gemeint? Erste Möglichkeit: Man begreift Generationen als Positionen in einem Abstammungsverhältnis. Dann kommt man jedoch nicht zu zwei, sondern zu drei bis vier gleichzeitig existierenden Generationen. In sozialpsychologischer Perspektive könnte man zwar das Drei-Generationen-Modell (Kinder - Eltern - Großeltern) in ein Zwei-Generationen-Modell verwandeln, unter Berufung auf die gleichartige Stellung der Jungen und Alten gegenüber den aktiven Erwachsenen. Aber die Zweiteilung, die man so erhielte, wäre nicht die von Kindern und Erwachsenen. Zweite Möglichkeit: Man versteht unter Generationen Gruppen von Gleichaltrigen - klassifikatorische Altersschichten (Kohorten) oder sozial verbundene Altersklassen, denen man zeitlebens angehört.103 Faßt man beispielsweise je zehn Geburtsjahrgänge zu einer Generation zusammen, so kommt man zu etwa sechs bis acht koexistierenden Generationen. Man erhält ältere und jüngere Generationen, aber nicht die ältere und die jüngere Generation. Zwar könnte man auch diese Struktur in eine 102 Vgl. Schurr 1975 103 So wird Schleiermachers Generationenbegriff von Tenorth gedeutet; vgl. Tenorth 1992, S. 14 f.

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Zweiteilung verwandeln, indem man, wie bei den Cashinahua, auf der einen Seite all diejenigen zusammenfaßt, die im selben Alter stehen wie die Bezugsperson, und auf der anderen Seite alle, die älter oder jünger sind104 - aber so hatte Schleiermacher sich das nicht vorgestellt. Die Behauptung, daß Gesellschaften aus genau zwei Generationen bestehen, ist nur dann haltbar, wenn man unter Generationen weder Abstammungsgenerationen versteht noch Altersschichten oder Altersklassen, sondern - dritte Möglichkeit - um Altersstufen, die man betritt und die man wieder verläßt. Dieses System hätte dann zwei Hauptstufen, die der jüngeren Generation und die der älteren. Das aber ist nichts anderes als die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen. Schleiermachers Zwei-Generationen-These enthält also doch keine Erklärung für die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen, sie ist einfach deren Synonym. Die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen kann deshalb durch Berufüng auf Schleiermachers Zwei-Generationen-Modell nicht weiter aufgeklärt werden - sie liegt ihm bereits zugrunde. Und damit stellen sich die bereits bekannten Fragen aufs neue: Ist es richtig, daß die Gesellschaften aus genau zwei Generationen bestehen, einer älteren und einer jüngeren? Warum wird der Einschnitt im Umkreis der Pubertät datiert? Was spricht dafür, daß diese Struktur allgemein gültig ist? Und handelt es sich tatsächlich, wie Schleiermacher annimmt, um eine soziale Universalie (mit historischen Modifikationen) oder um ein Produkt bestimmter Epochen? Schleiermacher führt keine Gründe für seine Zwei-Generationen-These an; es handelt sich um eine reine Setzung. Woher rührt ihre Plausibilität? Möglicherweise kommt hier die Mehrdeutigkeit der Rede von den »Generationen« zum Tragen. Es gibt hier eine Begriffsverwirrung, und diese Konfüsion hat einen Plausibilitätseffekt. Schleiermacher schreibt: »Wann hört die pädagogische Einwirkung der älteren Generation auf die jüngere auf? Auf der einen Seite werden wir geneigt sein zu sagen, sie hört eigentlich niemals auf. Das menschliche Leben ist beständig aus den beiden Faktoren zusammengesetzt, der von innen ausgehenden Lebenstätigkeit des Einzelnen und der Einwirkung Anderer auf ihn. Wir haben keinen Grund anzunehmen, daß der eine Faktor jemals gleich Null werde. So betrachtet wird die Einwirkung erst aufhören mit dem Leben zugleich, so wie sie mit dem Leben zugleich an-

104 Vgl. d'Ans 1978

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fängt.«105 Hier haben wir, nach der Zwei-Generationen-These, also eine neue Behauptung, die These von der lebenslangen Einwirkung der älteren Generation auf die jüngere. Diese zweite These ist mit der ersten nicht vereinbar. Die Einwirkung der älteren Generationen hört per definitionem spätestens dann auf, wenn die Mitglieder der Altersstufe »Jüngere Generation« in die Altersstufe »Altere Generation« überwechseln, wenn die Kinder zu Erwachsenen werden. Bei der These von der lebenslangen Einwirkung hat sich also eine andere Bedeutung von »Generation« eingeschlichen. Aus einer Lebensphase, die man verläßt - einer Altersstufe -, wird jetzt eine Gruppenzugehörigkeit, die zeitlebens bestehen bleibt: eine Altersschicht oder Altersklasse. Aber damit sind wir nicht mehr in einer Zwei-Generationen-Gesellschaft. Es gibt hier eine Bedeutungsverschiebung, und die Ursachen dafür lassen sich erraten. Der Signifikant »Kind« ist doppeldeutig, und Schleiermacher scheint dieser Mehrdeutigkeit zum Opfer gefallen zu sein. Die Zwei-Generationen-These bezieht sich auf »Kinder« im Gegensatz zu »Erwachsenen«; die These von der lebenslangen Einwirkung ist jedoch nur dann haltbar, wenn die Rede von den zwei Generationen sich auf Kinder im Gegensatz zu Eltern bezieht. Aber natürlich muß man das auseinanderhalten. Versteht man unter »Generation« eine Abstammungsbeziehung, so läßt sich wahrheitsgemäß behaupten, daß viele Mitglieder der jüngeren Generation zugleich zur älteren Generation gehören. Eine ähnliche Begriffsverwirrung findet man in Habermas* Aufsatz »Notizen zum Begriff der Rollenkompetenz«. Für die Familien- und Stammesmoral soll folgendes gelten: »Zur Unterscheidung innerhalb der eigenen Gruppe genügen die im Verwandtschaftssystem vorgegebenen Primärrollen Geschlecht und Alter, wobei die Generationsrolle die Stelle im Lebenszyklus inhaltlich klar definiert.«106 »Generation« wird hier mit »Alter« gleichgesetzt. Zugleich meint Habermas hier die Unterscheidung von Kindern und Eltern; er identifiziert also die Differenz zwischen den Generationen mit der Altersdifferenz und der Differenz von Eltern und Kindern. Tatsächlich gehört es jedoch zur Eigenart der Komplementärrollen von Eltern und Kindern, daß sie altersunabhängig sind - man bleibt auch in höherem Alter das Kind seiner Eltern. (Problematisch ist darüber hinaus die Rede von »der« Generationsrolle; dadurch wird überdeckt, daß ein Individuum mehrere Generationsrollen zugleich einnehmen kann. 105 Schleiermacher 1983, S. 14 106 Habermas 1973b, S. 222

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Wenn man Kinder bekommt, also die Elternrolle übernimmt, tritt man vielleicht in eine neue Lebensphase ein; aber damit verliere man nicht seine Kindrolle.) Vergleichbare Mängel hat auch Rudolf Lochners Erklärungsversuch der Kind-Erwachsenen-Unterscheidung.107 In seiner 1927 erschienenen »Deskriptiven Pädagogik« rekonstruiert er die Zweiteilung unter dem Gesichtspunkt der Reproduktion. Aus dem Totalkollektiv scheiden immer einige Mitglieder aus (durch Tod), andere treten an ihre Stelle. Erziehung hat die Funktion, die »Neuankömmlinge« in die Lage zu versetzen, die Plätze des »Altbestands« einzunehmen. Der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen wird hier zur Differenz zwischen den »Neuankömmlingen« und dem »Altbestand«. Der Eindruck, daß man so zu einer klaren Zweiteilung kommt, beruht auf der Mehrdeutigkeit des Ausdrucks »Neuankömmlinge«. Vom Standpunkt der Lagerhaltung aus gesehen, ist man nur einen flüchtigen Moment lang »Neuankömmling«: zum Zeitpunkt der Geburt; sofort danach geht man in den Altbestand über. Natürlich kann man den gesamten Bestand halbieren, in die Neueren und die Alteren. Eine solche Halbierung wäre jedoch ein Akt der Willkür, reproduktionstheoretisch ließe sie sich nicht begründen. Die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen, die Lochner mit seiner Überlegung aufklären wollte, liegt der Halbierungsvorstellung bereits zugrunde. Die Rede vom Generationenverhältnis ist irreführend. Sie legt es nahe, zwei verschiedenartige Sozialbeziehungen in eins zu setzen: die familiale Differenz von Eltern und Kindern und die gesellschaftsübergreifende Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen. Die stillschweigend hergestellte Äquivalenz der beiden Differenzen ermöglicht es, von der mikrosozialen Ebene - Interaktionen und Institutionen - zur makrosozialen Ebene überzugehen, durch eine Art Projektionsverfahren. Auf der mikrosozialen Ebene orientiert man sich am Verhältnis Eltern - Kinder und versucht dann, von hier aus zu gesamtgesellschaftlichen Begriffen zu kommen, und zwar so, daß man die Interaktions-Dyade auf die Gesamtgesellschaft projiziert, auf das »menschliche Geschlecht«. Das Eltern-Kind-Verhältnis wird so zum Plausibilitätslieferanten fiir die Zwei-Generationen-These, für die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen.

107 Vgl. Lochner 1967

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22 Das Übergewicht der Freiheit Die Zweiteilung des Lebenslauf erscheint bei Schleiermacher in doppelter Gestalt. Als Zwei-Generationen-Schema und als Frage nach dem Ende der Erziehung. Wenn die Erziehung ein Ende hat, dann ist klar: Der Lebenslauf besteht aus zwei großen Abschnitten, derjenigen Phase, in der man erzogen wird, und derjenigen, in der man erzogen ist. Wo also liegt das Ende der Erziehung? Die erste Antwort ist negativ: »Die Lösung der Aufgabe kann am wenigsten in der Beziehung auf die Mündigkeitserklärung gefunden werden«108. Die Erziehung endet nicht mit der rechtlichen Mündigkeit, nicht mit Kirchenmündigkeit und nicht mit der Entlassung aus der väterlichen Gewalt. Solche Antworten wären nicht pädagogisch. Eine pädagogische Bestimmung des Erziehungsendes muß sich, so erklärt Schleiermacher, auf den Zweck der Erziehung beziehen. Welchen Zweck verfolgt die erzieherische Einwirkung der älteren Generation auf die jüngere? Die Erziehung hat Schleiermacher zufolge einen doppelten Zweck, einen universellen und einen individuellen; Erziehung zielt, in heutiger Terminologie, zugleich auf Vergesellschaftung und auf Individuierung. Erstens hat sie die Aufgabe, den Zögling »an die großen Gemeinschaften des Lebens abzuliefern«, an Staat, Kirche, geselligen Verkehr und Wissenschaft, und zwar »als vollkommen tüchtig, selbständig wirken zu können«109 . Zweitens muß sie dazu beitragen, daß der Zögling seine »persönliche Eigentümlichkeit« entwickelt. Diese Doppelantwort ist, genau besehen, dreifach gegliedert. Erziehung zielt erstens auf Selbsttätigkeit, zweitens auf die Fähigkeit zur Teilnahme und drittens auf Eigentümlichkeit; Schleiermacher reagiert mit diesen Bestimmungen auf eine Problematik, die ihm von der pädagogischen Tradition vorgegeben ist, auf »Autonomie« als Leitbegriff der Aufklärungspädagogik, auf die Diskussion der Philanthropen über das Verhältnis von Vollkommenheit und Brauchbarkeit und auf die neuhumanistische Kritik am Philanthropismus im Namen der Individualität. Zugleich ist Schleiermacher hier jedoch bei der Hauptthese seiner Philosophie, der Durchdringung des Allgemeinem und des Individuellen. In der Hermeneutik geht es darum, daß die Bedeutung von Aussagen immer 108 Schleiermacher 1983, S. 15 109 Ebd., S. 56

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zugleich allgemein und individuell ist - das Individuum ist von der Sprache (dem Allgemeinen) geprägt, in der Sprache bringt es jedoch zugleich seine Individualität zum Ausdruck und wirkt auf diese Weise sprachbildend. Der hermeneu tische Zirkel und die Unendlichkeit des Kontexts sind andere Varianten dieses Verhältnisses: das Besondere kann nur aus dem Allgemeinen verstanden werden und umgekehrt; die Ganzheit, aus der heraus eine Einzelheit verstanden werden kann, ist selbst wiederum Einzelheit einer umfassenderen Ganzheit. Diese Dialektik ist auch für die Erziehung bestimmend. Das Allgemeine ist hier die erziehende Aktivität der älteren Generation; die jüngere Generation antwortet darauf in einem doppelten Prozeß. Einerseits übernimmt sie dies Allgemeine - wodurch sie die Fähigkeit erwirbt, an den öffentlichen Geschäften teilzunehmen -, aber zugleich entwickelt sie in diesem Prozeß ihre Individualität. Der Zweck der Erziehung muß im Rahmen dieser Dialektik verortet werden. Die Erziehung ist dann vollendet, wenn sowohl die Generalisierung als auch die Individualisierung beendet sind, wenn der Zögling also zugleich allgemein und individuell geworden ist. Das heißt: Beide Prozesse unterliegen keineswegs der Logik unendlicher Perfektion, sondern kommen zu einem bestimmten Zeitpunkt zum Abschluß. Wie kommt es zu dieser Zäsur? Schleiermacher legt großen Wert auf die Feststellung, daß Kinder immer schon selbständig und selbsttätig sind110 und daß auch Erwachsene ständigen Einwirkungen durch andere unterliegen. Wie ist unter diesen Bedingungen ein Ende der Erziehung möglich? Das ist eine Frage, die von Schleiermacher nicht beantwortet, ja nicht einmal gestellt wird. Man ist gezwungen, von der Ebene der Argumentation zu der der Rhetorik überzuwechseln und sich zu fragen, warum diese Behauptung für ihn plausibel ist. Die Erziehung ist beendet, so heißt es in der Vorlesung, »wenn der Zeitpunkt eintritt, daß die Selbsttätigkeit der Einwirkung anderer übergeordnet wird«111. Entscheidend ist also das Verhältnis von Uberordnung und Unterordnung. In einer ersten Phase ist die Selbsttätigkeit der Einwirkung gegenüber untergeordnet, in einer zweiten Phase ist sie ihr übergeordnet; genau dann, wenn diese Uberordnung erreicht ist, hat die Erziehung ihren Zweck erfüllt. Diese Erklärung bekommt für den Leser nur dann einen Sinn, wenn er die folgenden Annahmen akzeptiert: 1. Selbsttätigkeit und Einwirkung folgen der Logik von Mehr und Weniger, es 110 Ebd., S. 27 111 Ebd., S. 28

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sind Quantitäten. 2. Im Verlauf der Erziehung nimmt die Selbsttätigkeit beständig zu. 3. Im selben Maße, wie die Selbsttätigkeit zunimmt, nimmt die Einwirkung anderer ab; Selbsttätigkeit und Einwirkung anderer bilden eine Nullsumme. Die erste Voraussetzung - die der Quantifizierbarkeit - zeigt sich in der hartnäckig quantifizierenden Wortwahl. Am Anfang des Lebens gibt es »ein Ubergewicht der äußeren Einwirkungen über die innere Entwicklungskraft«112 . An anderer Stelle heißt es: Das, »was wir Freiheit nennen, ist der Erscheinung nach im Anfang der Erziehung ein Minimum«113. Die zweite Voraussetzung - die der kontinuierlichen Zunahme von Selbsttätigkeit - wird von Schleiermacher ausdrücklich formuliert; von Fichte übernimmt er die Vorstellung, der Ubergang von möglicher Freiheit zu wirklicher Freiheit werde bewirkt durch einen Trieb zur Selbsttätigkeit sowie durch die Aufforderung zur Freiheit (Schleiermacher: durch das »Hervorlocken« der Freiheit). Die dritte Voraussetzung - die der Summenkonstanz - zeigt sich ebenfalls nur in der Metaphorik; doch erst sie ermöglicht den Ubergang von einer gradualistischen Konzeption zur Konstruktion eines zeitlichen Einschnitts, des Endes der Erziehung. »Aber es gibt dann immer auch ein solches Zusammensein zweier der Zeit nach verschiedenen Generationen, in welchem nicht bloß die ältere auf die jüngere, sondern beide miteinander wirken zu einem Ziel. In dem Maße als dieses Zusammenwirken zunimmt, nimmt die Einwirkung der älteren Generation auf die jüngere ab, und wird am Ende gleich Null. Dann hat die Erziehung aufgehört.«114 Die Behauptung, irgendwann einmal sei der Zeitpunkt erreicht, an dem der Zögling zur selbsttätigen Teilnahme an den Staatsgeschäften vollkommen fähig ist, erhält ihre Plausibilität also durch eine quantifizierende Redeweise, in welcher Selbstbestimmng und Fremdbestimmung derart verrechnet werden, daß sich ein Punkt ergibt, an dem das eine gegenüber dem anderen das »Übergewicht« bekommt. Wie hat man das zu verstehen? Am angemessensten wohl, indem man den Postulaten der Hermeneutik folgt und nach dem Kontext fragt.

112 Ebd., S. 11 113 Schleiermacher 1959, S. 178 114 Schleiermacher 1983, S. 12

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Exkurs über Quantität und Metapher Die mathematisierende Metaphorik ist keine Besonderheit dieses Textes. Auch in anderen Arbeiten bezieht Schleiermacher sich gern auf den Gegensatz zwischen der Null und dem Absoluten oder zwischen dem Minimum und dem Maximum, und häufig geschieht dies, um ein bestimmtes Phänomen in der Mitte zwischen zwei Extremen anzusiedeln. Beispielsweise heißt es in der »Hermeneutik«: »Nicht alles Reden ist gleich sehr Gegenstand der Auslegekunst. Einige Reden haben für dieselbe einen Nullwert, andere einen absoluten; das meiste liegt zwischen diesen beiden Punkten.«115 Die Vorliebe für mathematisierende Metaphern läßt sich nicht auf eine Stileigentümlichkeit reduzieren. Die quantifizierende Rede ist tief in Schleiermachers philosophischem System verankert; die Metapher berührt sich hier mit der Metaphysik. Schleiermacher trifft eine Unterscheidung zwischen Gegensatz und Unterschied: Bedingung für einen Gegensatz ist, daß »die Grenze, das Prinzip des Gegensatzes«116, vollkommen bestimmt ist; bei einem Unterschied ist das nicht der Fall. Das Verhältnis zwischen Unterschiedlichem ist dadurch bestimmt, daß es zwischen ihnen Übergänge gibt, und diese beruhen, Schleiermacher zufolge, auf quantitativen Abstufüngen. Unterschiede (oder Differenzen) werden von Schleiermacher deshalb auch als »quantitative Gegensätze« bezeichnet, im Unterschied zu den eigentlichen, den qualitativen Gegensätzen.117 Nun enthalten die pädagogischen Vorlesungen keinen ausdrücklichen Verweis auf diese Philosophie der Quantität; es läßt sich also kaum entscheiden, wie die quantifizierenden Wendungen zu lesen sind, als bloße Metaphern oder als Begriffe im Rahmen eines Systems. Es gibt hier ein Problem des Verstehens, und was liegt näher, als sich an Schleiermachers Hermeneutik zu wenden, um einen Hinweis darauf zu bekommen, wie damit umzugehen sei. Die Metapher ist jedoch genau der Punkt, an dem der Universalitätsanspruch der Hermeneutik seine Ausnahme findet.118 Die Metapher, so erklärt Schleiermacher, gehört nicht zum Ganzen, das zu verstehen ist, denn sie ist weder Haupt- noch Nebengedanke, sondern 115 Schleiermacher 1977, S. 82.- Weitere Belege ebd., S. 83, 93, 126, 145, 179, 189 und 216 116 Ebd., S. 144 117 Vgl. ebd., S. 144 f. 118 Vgl. ebd., S. 105 ff., 136 ff., 147 ff.

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nur Darstellungsmittel. Schleiermacher behauptet zwar, die Hermeneutik lasse sich auf jede sprachliche Äußerung anwenden, insofern sie unverständlich sei, aber er erklärt zugleich, daß es für diese Regel eine Ausnahme gibt: die Lyrik, also das Reich der Metaphern. Da der Gedanke hier nur Darstellungsmittel sei, stelle sie für die Hermeneutik ein Problem dar. Allgemeiner noch: Die Regel, daß das Einzelne nur vom Ganzen her zu verstehen sei, gelte nur für die Prosa, nicht für die Poesie. Die Metapher wird also ausgeklammert und taucht dann doch wieder auf. Denn Schleiermacher stellt zugleich die folgenden beiden Behauptungen auf: 1. Kein Gedanke existiert außerhalb der Sprache. 2. Jede Darstellung des Geistigen durch das Physische - wofür die Rede vom »Ubergewicht« der Selbsttätigkeit ein Beispiel wäre - beruht nicht nur auf der Ähnlichkeit einzelner Merkmale, sondern auf einem Parallelismus zwischen Vernunft und Natur. Beide seien in der Idee des Lebens eins. Zwar gebe es auch willkürliche Vergleiche, die nicht auf wesentlicher Verwandtschaft beruhen. Aber zugleich soll gelten: »Auch die willkürlichen Zusammenstellungen müssen, wenn sie Wahrheit haben sollen, auf einer objektiven Analogie beruhen, und sich darauf zurückführen lassen.«119 Beruht also die Rede vom »Übergewicht« der Freiheit auf einer objektiven Analogie? Das läßt sich im Rahmen von Schleiermachers Hermeneutik nicht beantworten, denn die Metapher hat hier den Status eines paradoxen Objekts: zugleich ausgeschlossen und eingeschlossen, bloßes Darstellungsmittel, aber dennoch wahrheitsfähig.

Die pädagogische Aquivalenzenkette Insgesamt arbeitet Schleiermacher mit drei eng verknüpften Dualismen: mit der Opposition zwischen einer jüngeren und einer älteren Generation, mit der Differenz zwischen Zögling und Erzieher und mit der Unterscheidung zwischen denjenigen, die noch erzogen werden, und denjenigen, die bereits erzogen sind. Das Verhältnis zwischen jüngerer und älterer Generation entspricht der Unterscheidung von Zöglingen und Erziehern, und diese korrespondiert mit der Differenz zwischen den noch in Erziehung Befindlichen und den bereits Erzogenen. Die Zweiteilung des Lebenslaufs wird also durch eine Äquivalenzenkette konstruiert, an der alle drei Dualismen beteiligt sind. 119 Ebd., S. 149

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Gibt es eine vollständige Überschneidung der drei Zweiteilungen? Sind die Differenzen also identisch oder different? Das bleibt auffälligerweise in der Schwebe. Sicherlich sind es die Alteren, die erziehen, und die Jüngeren, die erzogen werden. Wenn aber behauptet wird, die Einwirkung der älteren Generation auf die jüngere höre niemals auf, dann heißt das, daß die Mitglieder der jüngeren Generation auch dann noch erzogen werden, wenn sie in die ältere Generation überwechseln. Werden also die Erzieher weiterhin erzogen? Und wie verhält sich das Zwei-Generationen-Schema zum Ende der Erziehung? Wechselt man genau dann in die ältere Generation über, wenn die Erziehung beendet ist? Sind also die Erzieher allesamt erzogen? Das wird nahegelegt, aber ausdrücklich gesagt wird es nicht. Es gibt also eine stillschweigende Gleichsetzung von drei Unterscheidungen: Kind/Erwachsener, Zögling/Erzieher, Nicht-Erzogener/Erzogener.120 In dieses Muster fügt sich auch die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks »Kind« ein (als Verwandtschaftskategorie und als Altersstufe). Damit ergibt sich insgesamt die folgende Äquivalenzenkette: Kinder verhalten sich zu Eltern wie Kinder zu Erwachsenen wie Zöglinge zu Erziehern wie Nicht-Erzogene zu Erzogenen. Formal läßt sich das folgendermaßen darstellen121: Kinder:Eltern^Kinder:Erwachsene—Zöglinge:Erzieher^Nicht-Erzogene:Erzogene

Die Formel ist zu lesen als »Das Verhältnis zwischen Kinder und Eltern entspricht ungefähr dem Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen usw.«. Das Zeichen »—« steht für »entspricht ungefähr«. Es soll darauf verweisen, daß die Gleichsetzung nicht explizit vorgenommen wird, sondern stillschweigend realisiert wird. Im folgenden werde ich diese Kette als »pädagogische Äquivalenzenkette« bezeichnen. Diese Kette ist erweiterbar, etwa um das Verhältnis »Jugendlicher : Sozialpädagoge«; sie kann aber auch verkürzt werden.

120 Zur Geschichte der Gleichsetzung von Kindern und Erwachsenen mit Erziehungsbedürftigen und Wohlerzogenen vgl. Thoring 1986 121 In Anlehnung an die Mythenanalysen von Levi-Strauss; vgl. Levi-Strauss 1969.- Zum Begriff der Äquivalenzenkette vgl. Laclau/Mouffe 1991, S. 105 ff., 161

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23 Der Höhepunkt der Vereinigung 1792 verfaßt Humboldt seine »Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen«. Der Text enthält eine Staatskritik und, als deren Hintergrund, eine Anthropologie. Das Wesen des Menschen besteht darin, so erklärt Humboldt im Sinne der Tradition, daß er sich dem Ideal der Vollkommenheit zunehmend annähert. Dieses Ideal wird von Humboldt durch zwei Merkmale bestimmt, zum einen (mit den Philanthropen) durch die gleichmäßige Entfaltung von Verstand und Sinnlichkeit, zum anderen (mit Leibniz, gegen die Philanthropen) durch die Ausbildung von Originalität, Eigentümlichkeit, Individualität. Welche Struktur des Lebenslaufs erhält man, wenn man sich an diesen Vorgaben orientiert? Die Annäherung an ein unerreichbares Ziel fuhrt, wie zu Beginn dieser Arbeit erläutert, zu einer transitiven Ordnung mehr oder weniger großer Annäherung (wobei auch das fraglich ist), nicht aber zu einer Zweiteilung des Lebenslaufs. Wenn Bildung also ein Prozeß der beharrlichen Vervollkommnung ist, wie läßt sich dann an der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen festhalten? Humboldt sieht hier keine Schwierigkeit. Einige Menschen, so erklärt er, seien »im völligen Gebrauch ihrer gereiften Verstandeskräfte«122 - das sind die Erwachsenen. Andere seien es nicht: Kinder und Irre. Das Kriterium ist die »Beurteilungskraft«. Im allgemeinen nimmt deren Reife, so erklärt Humboldt, allmählich zu; ungefähr im Alter der Geschlechtsreife soll sie den Zustand der Vollkommenheit erreichen. Humboldt leitet hieraus zwei Forderungen ab: Die rechtliche Mündigkeit soll stufenweise zunehmen, und die volle Rechtsmündigkeit soll sich an der körperlichen Reife orientieren.123 Leider erklärt er nicht, was er unter »Reife des Verstandes« und »Beurteilungskraft« verstanden haben will. Die Rede vom Gebrauch der gereiften Verstandeskräfte erinnert an die Lehre vom »usus rationis«, vom Gebrauch der Vernunft. Die Fähigkeit zum Vernunftgebrauch wird vom Kirchenrecht seit dem 13. Jahrhundert allerdings auf ein sehr früheres Alter bezogen, das Humboldt kaum gemeint haben dürfte, auf 10 bis 11 Jahre.124 Meint »Beurteilungskraft« ganz allgemein die 122 Humboldt 1980, S. 199 (Orthographie und Zeichensetzung hier und in den folgenden Humboldt-Zitaten modernisiert) 123 Vgl. ebd., S. 203 f. 124 Vgl. Lenzen 1985, S. 239

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Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden? Oder denkt Humboldt speziell an Kants »praktische Urteilskraft«, also an die Fähigkeit, eine Handlung daraufhin beurteilen zu können, ob sie mit dem Sittengesetz übereinstimmt? Humboldt vertritt also zwei ganz unterschiedliche Entwicklungskonzeptionen: die Idee der unendlichen Höherentwicklung und das Zwei-StufenModell. Wie verträgt sich das? Wieso kommen einige Fähigkeiten bereits mit dem Erreichen des Erwachsenenalters zur Vollkommenheit, während andere niemals wirklich vollkommen sind? Kommt es hierdurch nicht zu einer Disproportion der Kräfte? Außerdem gibt es ein irritierendes Detail. Humboldt behauptet keineswegs, daß die Erziehung mit der Erlangung vollkommener Reife zu Ende sei. Er verweist darauf, daß es außer der Jugenderziehung noch eine zweite Erziehungsform gibt, »durch welche der Staat gleichsam den erwachsenen, reif gewordenen Menschen erzieht«125; er meint hier die Erziehung durch die Religion. Wenn die Urteilsfähigkeit tatsächlich zur vollkommenen Reife kommen kann - welchen Sinn hat dann die Erziehung der Erwachsenen? Auf diese Fragen gibt der Text keine Antwort. Humboldt macht keinen Versuch, die beiden Entwicklungskonzeptionen zu harmonisieren. Der Begriff der Vollkommenheit oszilliert zwischen Empirie und Transzendenz. Er bezieht sich sowohl auf eine endliche Wirklichkeit als auch auf ein unendlich entferntes Ziel; er ist zugleich Merkmal fiir das Erwachsensein wie auch das, was dem Erwachsenen auf ewig fehlt. Es gibt hier eine Argumentationslücke, und es muß Gründe haben, daß Humboldt sie übersieht. Es muß einen Faktor geben, der ihn für diese Lücke blind macht, ein Element, welches die unverträglichen Logiken versöhnt. Ein solches harmonisierendes X läßt sich im Text tatsächlich nachweisen. Es handelt sich um eine Metapher, die Metapher der Zeugung. Die Metaphorik von Zeugung und Begattung ist in Humboldts »Ideen« allgegenwärtig. Wer seine Kräfte unaufhörlich erhöht, so heißt es beispielsweise, der hat den »Drang, das außer sich Empfündene in sich aufzunehmen und das in sich Aufgenommene zu neuen Geburten zu befruchten«, der strebt danach, »jede Schönheit in seine Individualität zu verwandeln, und, mit jeder sein ganzes Wesen gattend, neue Schönheit 125 Humboldt 1980, S. 110

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zu erzeugen«126. Die Bezugnahme auf die Kopulation ist keine Humboldtsehe Eigenart, schon Piaton spricht von der »Zeugung im Schönen«. Bei Humboldt geht es jedoch um mehr als nur um eine Metapher. Die Psychologie, so erklärt er, »hätte vielleicht eine reichere Belehrung erhalten, wenn das geistige Schaffen gleichsam als eine feinere Blüte des körperlichen Erzeugens näher gezeigt worden wäre«127. Er will das Psychische demnach durch das Körperliche nicht einfach illustrieren; er behauptet vielmehr einen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen körperlicher und geistiger Schöpfung. Dieses Thema - das Thema der Zeugung - hat ihn nicht losgelassen. Als er 1827 oder 1828 eine Geschichte der Abhängigkeit im Menschengeschlecht konzipiert, plant er als Teil dieser Abhandlung die Darstellung einer »Geschichte des Zeugungstriebs«.128 Die Metapher der Zeugung - die mehr ist als eine Metapher - erscheint nun auch in dem Zusammenhang, der mich hier interessiert, im Zusammenhang von Aussagen über den Lebenslauf.129 Der wahre Zweck des Menschen, so erklärt Humboldt, ist die Steigerung seiner Kräfte, ihre Harmonisierung und ihre Individualisierung. Nun gibt es zwei Hauptkräfte: Verstand und Sinnlichkeit, anders formuliert: Idee und Gefühl. Diese beiden Kräfte lassen sich Humboldt zufolge reduzieren auf das Verhältnis von Form und Materie. Form ist Verstand, Idee, Einheit; Materie ist Sinnlichkeit, Gefühl, Mannigfaltigkeit. Durch diese Reduktion lasse sich präzisieren, worin die Zunahme an Größe, die Erhöhung der Kraft genau besteht. »Je mehr die Mannigfaltigkeit zugleich mit der Feinheit der Materie zunimmt, desto höher die Kraft, denn desto inniger der Zusammenhang. Die Form scheint gleichsam in die Materie, die Materie in die Form verschmolzen«130. Der Zusammenhang zwischen den beiden im Menschen vereinten Naturen realisiert sich in einem »ewigen Begatten der Form und der Materie«131. Das Verhältnis von Form und Materie ist ein Zeugungsvorgang (Humboldt übernimmt diese Figur von Aristoteles), die Zeugung wird ständig wiederholt, und hierdurch ergibt sich ein immer innigerer Zusammenhang, eine kontinuierliche Entwicklung. Das Ideal der

126 Ebd., S. 141 127 Ebd., S. 139 128 Vgl. Humboldt 1981 129 Vgl. Humboldt 1980, S. 64 ff. 130 Ebd., S. 66 131 Ebd.

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Vollkommenheit findet seine Stütze also in jener Phantasie, die schon in der Genesis formuliert wird: »Sie werden sein ein Fleisch.« Das Kopulations-Paradigma ist nun aber nicht nur mit dem Konzept der unendlichen Perfektionierung verknüpft, es liefert zugleich den Bezugspunkt für eine - wenn auch nur andeutungshafte - zeitliche Zäsur des Bildungsprozesses. Nach der eben zitierten Passage fährt Humboldt fort: »Aber die Stärke der Begattung hängt von der Stärke der Begattenden ab. Der höchste Moment des Menschen ist dieser Moment der Blüte.«132 »Blüte« steht hier, wie aus dem Kontext hervorgeht, für die Ausbildung von Stempeln und Staubgefäßen, also für die geschlechtliche Reife: »Was zuerst dem Samenkorn entsprießt, ist noch fern von ihrem Reiz [vom Reiz der Blüte]. Der volle dicke Stengel, die breiten, auseinanderfallenden Blätter bedürfen noch einer mehr vollendeten Bildung. Stufenweise steigt diese, wie sich das Auge am Stamm erhebt; zartere Blätter sehnen sich gleichsam, sich zu vereinigen, und schließen sich enger und enger, bis der Kelch das Verlangen zu stillen scheint.«133 Humboldt beruft sich hier auf Goethes »Metamorphose der Pflanze«; instruktiver als die Gemeinsamkeiten sind jedoch die Unterschiede. Goethe hatte die Blüte gerade nicht teleologisch dargestellt, nicht als Höhepunkt der Entwicklung, sondern als Metamorphose der Urform, des Blattes. Und auch der phallische »volle dicke Stengel« ist eine Hinzufügung Humboldts; Goethe hatte den Stengel, im Bestreben, alle Teile der Pflanze auf Blatt-Metamorphosen zu reduzieren, schlicht übergangen. Bei Humboldt ist die Blüte also nicht die Vorstufe der Frucht, sondern die Frucht die Vorläuferin der Blüte: »Die minder reizende, einfache Gestalt der Frucht weist gleichsam selbst auf die Schönheit der Blüte hin, die sich durch sie entfalten soll. Auch eilt nur alles der Blüte zu.«134 Durch diese Analogie wird es plausibel, daß die geistige Entwicklung, ganz wie die körperliche, ihren Höhepunkt haben muß, ihre »Blüte«. Also liegt es nahe, diejenigen, die bereits in der Blüte des Verstandes stehen, von denjenigen zu unterscheiden, die noch nicht zu dieser Reife gekommen sind. (Die Orientierung am Zeugungsakt erklärt vielleicht auch, warum Humboldt die Rechtsmündigkeit nicht an das Alter binden will, sondern, ähnlich wie Rousseau, an den Stand der körperlichen Entwicklung, und dies, obwohl er - im Gegensatz zu Rousseau - der Auffassung ist, daß dieser 132 Ebd. 133 Ebd., S. 67 134 Ebd., S. 66

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Maßstab »unbestimmt, und, genau gesprochen, unrichtig« ist. Nichtsdestoweniger sei er »der einzige, welcher allgemein und bei der Beurteilung des Dritten [d.h. des Kindes] gültig sein kann«135.) Die Zeugungs-Analogie hat bei Humboldt die Funktion eines Scharniers. Sie verklammert zwei unterschiedliche Logiken. Insofern die Zeugung biologische Voraussetzungen hat, läßt sie sich mit der Tatsache der Geschlechtsreife verbinden; in dieser Funktion stützt das Zeugungs-Paradigma die Vorstellung von der Zweiphasigkeit des Lebenslaufs. Insofern die Zeugung mit einer Verschmelzungsphantasie verbunden ist, macht sie das Konzept der unendlichen Höherentwicklung plausibel. Es ist also die Zeugung, welche die Einheit der Gegensätze ermöglicht: die Identität von unendlicher Vervollkommnung und endlicher Vollkommenheit, von Idealbildung und Erwachsensein.

135 Ebd., S. 200

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2A Kristallbildung 1806 veröffentlicht Johann Friedrich Herbart seine »Allgemeine Pädagogik«. In einer Selbstankündigung erläutert er den Titel folgendermaßen: »Nun das muß noch bemerkt werden, daß der Titel nur eine allgemeine Pädagogik verspricht. Daher liefert auch das Buch nur allgemeine Begriffe und deren allgemeine Verknüpfung. Es ist darin weder von der männlichen noch weiblichen, weder von der Bauern- noch Prinzenerziehung die Rede. [...] Natürlich aber erinnert die vollständige Ubersicht dessen, was zur durchgeführten Geisteskultur gehört, mehr an männliche als an weibliche Erziehung.«136 »Allgemein« bedeutet hier also: klassen- und geschlechtsneutral. Und die Neutralität gegenüber der Geschlechtsdifferenz hat hier - ganz offen eingestanden - die bekannte sexistische Form: der Mann ist das Allgemeine oder doch zumindest eher das Allgemeine als die Frau. Wenn man diese programmatischen Äußerungen mit dem Text der »Allgemeine Pädagogik« vergleicht, zeigt sich jedoch, daß Herbart seine eigene Position mißversteht. Seine Position ist nicht falsch universalistisch, sondern gewissermaßen separatistisch. Vom ersten bis zum letzten Satz orientiert er sich an der Hauslehrererziehung - »allgemein« bedeutet faktisch, daß er wünscht, daß diese Erziehungsform verallgemeinert wird -, und Hauslehrererziehung ist für ihn ein Verhältnis zwischen Männern, die Erziehung eines Knaben durch einen jungen Mann. Das ist, auch unter patriarchalischen Verhältnissen, keineswegs zwingend; Comenius, Rousseau und Pestalozzi haben der Erziehung durch die Mutter bekanntlich besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Zwar arbeitet auch Herbart gelegentlich mit der Gegenüberstellung von Kindern und Erwachsenen, aber nur als stilistische Variante, als totum pro parte; Erziehung im allgemeinen ist ein Verhältnis zwischen einem Mann und einem Knaben. Am Rande werden Erzieherinnen erwähnt (wegen ihres besonderen Unwissens)137 oder Mütter (wegen ihrer besonderen Liebe), aber die »eigentlichen Erzieher«138 sind nicht sie. Es geht hier also nicht darum, daß grammatisch männliche Ausdrücke (wie »Lehrer«) für beide Geschlechter stehen, das Problem ist auch nicht, daß der Mann für Herbart 136 Herbart 1982c, S. 259 137 Herbart 1982b, S. 23 138 Vgl. ebd., S. 35

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der Inbegriff des Erwachsenen ist. Herbart bezieht sich ausdrücklich auf Knaben, nicht (oder nur selten) auf Kinder; auf Jünglinge und nicht auf die Jugend; auf Männer und nicht auf Erwachsene - jenseits von grammatischen Konventionen und durchschnittlichen Vorurteilen. Offenkundig steckt er in einem Dilemma. Der Absicht nach will er eine geschlechterübergreifende allgemeine Pädagogik entwerfen, und dafür beruft er sich auf die traditionelle Figur, wonach der Mann das Universale verkörpert. Aber denkbar ist für ihn nur eine geschlechtsspezifische Erziehung von Knaben durch junge Männer. Herbart verfügt nicht über den Begriff des Erwachsenen, er scheitert am Problem der Generalisierung.139 Ich will das jedoch ausklammern und beschränke mich auf einen anderen Aspekt, auf Herbarts Zwei-Phasen-Konzeption. Das Unterscheidungsmerkmal zwischen Knaben und Männern ist, Herbart zufolge, der Wille. Männer haben ihn, Knaben und Jünglinge haben ihn nicht. Was sie haben, ist kein Willen, sondern ein Begehren. Dieses ist nicht fest, sondern flüssig, nicht bestimmt, sondern unbestimmt, nicht zielgerichtet, sondern an einer ungeordneten Mannigfaltigkeit von Objekten orientiert. Also besteht der Ubergang vom Kindsein zum Erwachsensein (des Mannes) in der Umwandlung des Begehrens in den Willen. Der Wille beruht auf einem Entschluß und realisiert sich in Bejahung und Verneinung; dadurch, daß etwas bejaht wird - »Ja, ich will!« -, wird etwas anderes zurückgewiesen. Dies ist jedoch nur die formale Seite des Willens; er hat auch einen inhaltlichen Aspekt, nämlich das konkrete Wofür und Wogegen; diese Seite des Willens wird von Herbart als »Charakter« bezeichnet. Der Erwachsene - der erwachsene Mann - ist also der Willensmensch. Das gilt natürlich nicht nur für diesen Autor. Noch die neueste sprachanalytische Untersuchung zum Willensbegriff geht vom »normalen Erwachsenen« aus und gründet so den Begriff des Willens auf die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen.140

139 In dieser Tradition steht Lenzens These von der Verewigung der Kindheit (vgl. Lenzen 1985). Der Übergang zum Erwachsenwerden gelinge heute nicht mehr, und einer der Gründe hierfür sei die Feminisierung der Erziehung: das Zurücktreten des Vaters in der Familienerziehung und die Verweiblichung der Lehrerschaft. Nur Väter bzw. Vater Substitute können, Lenzen zufolge, in das Erwachsensein initiieren. 140 Vgl. Seebass 1993

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Herbart stützt seine binäre Entwicklungskonzeption - vom Nichtwillen zum Willen - auf eine dichotomische Handlungstheorie: Männer handeln, Knaben handeln nicht. Genau gesehen, erfüllt das Handeln bzw. die Tat eine Doppelfünktion. Es ist erstens ein Merkmal des Erwachsenseins, zweitens aber die Ursache des Erwachsenwerdens. Der Ubergang vom Begehren zum Willen - vom Kindsein zum Erwachsensein - wird durch das Handeln bewirkt. »Die T A T also erzeugt den Willen aus der Begierde.«141 Bei Knaben gibt es nur Vorformen des Handelns, z. B. das »Versuchen« oder das Spielen von Streichen; Jünglinge träumen zwar bereits von Handlungen, aber noch handeln sie nicht. Herbart erklärt nicht, was er unter »Handeln« versteht; aus den Beispielen geht hervor, daß er den Ausdruck - im Sinne des griechischen Praxisbegriffs - mit der Vorstellung öffentlicher Wirksamkeit verbindet. An dieser Stelle gibt es jedoch eine gewisse Unentschiedenheit. Einerseits erklärt Herbart, das Begehren werde durch die Tat zum Willen - ein Prozeß, der sich, wie er immer wieder betont, sehr rasch vollzieht. Andererseits bedauert er, daß nicht auch schon Knaben und Jünglinge die Möglichkeit haben zu handeln. Die Charakterbildung könne dadurch erfolgreich werden, »daß man den Jüngling, ja schon den Knaben früh in Handlung setze«142. Würde das Kind durch sein Handeln in kurzer Zeit zum Erwachsenen? Oder ist es möglich zu handeln, ohne hierdurch gleich Willen und Charakter zu erwerben? Das bleibt unklar, genauso wie dies, was denn aus den Menschen wird, die niemals ins öffentliche Leben eintreten - verwandelt sich ihre Begierde jemals in Willen? Werden sie jemals erwachsen? Herbarts Zwei-Phasen-Konzeption hat, neben der handlungstheoretischen Begründung, eine zweite Stütze. Die Unterscheidung von Begehren und Willen ist verankert in einer dualistischen Metaphorik der Festigkeit. Das Begehren der Kinder ist flüssig, weich und beweglich, das der Erwachsenen fest, hart und unbeweglich; eben hierdurch ist es nicht mehr Begehren, sondern Wille. Nun führen die Oppositionen von hart und weich oder fest und flüssig nicht schon von sich aus zu einer Zweiteilung. Denkbar wäre auch eine gradualistische Konzeption kleinerer oder größerer Härte oder eine Bezugnahme auf den Zustand der Zähflüssigkeit mit kontinuierlichen Ubergängen zwischen mehr oder weniger Flüssigkeit bzw. mehr oder weniger Zähigkeit. Man könnte dann Individuen mit 141 Herbart 1982b, S. 112 142 Ebd., S. 117

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mehr oder weniger großer Härte des Begehrens bzw. des Willens unterscheiden, aber man könnte sie nicht in zwei Gruppen unterteilen. Damit die metaphorischen Oppositionen zur Stütze einer zweistufigen Entwicklungskonzeption werden, muß eine weitere Vorstellung ins Spiel kommen, das Bild von den zwei Aggregatzuständen. Das Flüssige geht nicht allmählich ins Feste über, sondern durch einen Sprung. Das Erwachsenwerden erscheint so als Vorgang der Kristallbildung. »Da nun das Handeln den Charakter macht, so ist in den früheren Jahren von ihm hauptsächlich das vorhanden, was innerlich strebt zur Tat, gleichsam das flüssige Wesen, aus welchem er sich in der Folge nur zu rasch kristallisieren wird.«143 Beim Anfang des männlichen Alters, beim Eintritt in die Welt, kommt es zu einem »Anschießen und Festwerden des Charakters«144. »Anschießen« ist ein in der Chemie gebräuchlicher Ausdruck für den Kristallisierungsprozeß.145 Merkwürdig ist, daß die Unterscheidung von Aggregatzuständen Herbart ausgerechnet dazu dient, eine Zwei-Phasen-Konzeption plausibel zu machen, denn die chemische Bezugsstruktur ist bekanntlich nicht zweigliedrig, sondern dreigliedrig - es gibt nicht nur die festen und die flüssigen Körper, sondern auch die gasförmigen (ganz zu schweigen von den Flüssigkristallen, die weder fest noch flüssig sind). Herbarts zweites pädagogisches Hauptwerk, der »Umriß pädagogischer Vorlesungen« aus den Jahren 1835 und 1841, beginnt mit seiner berühmten These von der Bildsamkeit: »Der Grundbegriff der Pädagogik ist die Bildsamkeit des Zöglings.«146 Auch diese These führt zur Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen, denn die Jugend, so erklärt Herbart, geht im allgemeinen »von der Bildsamkeit zur Bildung«147 über. Kinder sind bildsam, aber noch nicht gebildet, Erwachsene sind gebildet, aber nicht mehr bildsam. Was also ist Bildsamkeit? »Bildsamkeit«, so erklärt Herbart, 143 Ebd., S. 115 144 Ebd. 145 Die Metaphern des Hartwerdens und der Kristallisierung spielen auch in Konzeptionen der sozialen Entwicklung eine prominente Rolle; man denke an die Rede von der Kristallisation bei Pareto und Gehlen und an Max Webers berühmte Formulierung vom »stahlharten Gehäuse« (vgl. Weber 1920, S. 203; Gehlen 1961; Lipp 1976). Luhmanns Unterscheidung von »loser« und »fester Kopplung« (vgl. Luhmann 1991b, S. 22) deutet den Hylemorphismus mit Hilfe der Fest-weich-Opposition. 146 Herbart 1982d, S. 165 147 Ebd., S. 218

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zeigt »ein Übergehen von der Unbestimmtheit zur Festigkeit«148 an. Nicht nur der Unterschied zwischen Begehren und Willen, sondern auch der zwischen Bildsamkeit und Bildung stützt sich demnach auf den Unterschied zwischen dem Noch-nicht-Festen und dem Festen sowie auf der Möglichkeit, daß das Noch-nicht-Feste in Festigkeit übergeht. Der Begriff der Bildsamkeit hat, wie Herbart erläutert, einen sehr weiten Umfang, er bezieht sich auch auf die Elemente der Materie.149 Die Pädagogik hat es mit einer speziellen Form der Bildsamkeit zu tun: der Bildsamkeit des Willens. Aber auch diese Einschränkung ist, so erklärt Herbart, noch nicht hinreichend, denn Spuren bildsamen Willens finden sich bereits bei einigen Tieren. Wenn von der Bildsamkeit des Zöglings die Rede ist, dann ist nicht die Bildsamkeit des Willens schlechthin gemeint, sondern jene Bildsamkeit des Willens, welche nicht dem Tier, sondern nur dem Menschen zukommt: die »Bildsamkeit des Willens zur Sittlichkeit«150. Das zweite Merkmal des Erwachsenen ist also die Sittlichkeit. »Es ist ungenügend, wenn die Sittlichkeit schwankt, und es ist schlimm, wenn etwas Unsittliches sich befestigt.« Der Gegenbegriff zur »Festigkeit« ist hier das »Schwanken«; das Schwanken der Sittlichkeit ist die Befestigung der Unsittlichkeit. Herbart vertritt eine Zwei-Phasen-Konzeption, aber nicht ganz so eindeutig, wie ich es bisher dargestellt habe. Die Festigkeit des Erwachsenen - seine Bildung - unterliegt selbst wiederum einer Entwicklung von geringerer zu höherer Festigkeit. »Die Festigkeit des Erwachsenen«, so schreibt er, »bildet sich innerlich fort und wird dem Erzieher unerreichbar.«151 Diese kleine Ergänzung hat es in sich, denn durch sie wird die Metapher der Kristallbildung außer Kraft gesetzt - ein Kristall entwickelt sich nicht von geringerer zu größerer Festigkeit. Herbart erklärt überdies, daß bereits Erziehung und Unterricht eine zunehmende »Befestigung« bewirken sollen, vor allem eine Befestigung der Verbindung zwischen den Vorstellungen. Mit diesen beiden Zusätzen verflüssigt sich die starre Logik der Zweiteilung, sie verwandelt sich in ihr Gegenteil, in eine gradualistische Konzeption geringerer und größerer Festigkeit. Die Zersetzung der Zwei-Stufen-Konzeption wird dadurch befördert, daß Herbart die Festigkeits-Metaphorik mit einer zweiten Metapher kom148 Ebd., S. 165 149 Ebd. 150 Ebd. 151 Ebd., S. 166

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biniert, dem Bild der Annäherung. Die Tugend, so schreibt er, ist ein Ideal, »die Annäherung dazu drückt das Wort >Sittlichkeit< aus«152. Die Annäherung an einen Punkt, der in unendlicher Ferne liegt, ist aber ein gradualistischer Vorgang; im Rahmen dieser Logik ergibt sich keine Unterscheidung von zwei Entwicklungsphasen. Herbart fährt fort: »Da nun im allgemeinen die Jugend von der Bildsamkeit zur Bildung, von der Unbestimmtheit zur Festigkeit übergeht [...], so muß auch die Annäherung zur Tugend in einer Befestigung bestehn.«153 Hier wird eine Hierarchie zwischen den beiden Metaphern hergestellt: die Annäherung soll als Befestigung begriffen werden. Aber das kann nicht verhindern, daß der Ausdruck »Befestigung« durch das Bild der Annäherung gewissermaßen infiziert wird. Zwar soll die Annäherung als Befestigung verstanden werden, aber die Befestigung wird zugleich zu einer Form der Annäherung. Damit aber wird der Vorgang der Befestigung selbst zu einem kontinuierlichen Prozeß ohne Einschnitt. Das Bild der Befestigung gerät ins Rutschen. Seine Bedeutung schwankt zwischen einer dualistischen Logik, welche dominiert - die Phase der Flüssigkeit geht durch eine klare Zäsur in die Phase der Festigkeit über -, und einer gradualistischen Logik, welche untergeordnet ist - das Flüssige unterliegt einem unendlichen Prozeß der Verfestigung. Humboldts Zeugungsmetapher und Herbarts Metapher des Festwerdens haben dieselbe Funktion. Sie bilden ein Gelenk, das zwei unvereinbare Logiken zusammenfugt: das Zwei-Stufen-Konzept von Erzogenwerden und Erzogensein und das Modell der kontinuierlichen Annäherung an das Ideal. Sie konvergieren in einer Phantasie, die ausgespart bleibt, den Psychoanalytikern aber wohlvertraut ist: im Bild des Phallus.154

152 Ebd., S. 218 153 Ebd. 154 Zur Metaphorik in der Pädagogik vgl. auch Scheuerl 1959, de Haan 1991, Oelkers 1991a; zum Phallus als Element, in dem zwei heterogene Serien konvergieren, vgl. Deleuze 1993, Kap. 6

3 Begründungsversuche Wenn man Kinder und Erwachsene all ihrer Attribute entkleidet und sich nur an jenes peu de realite hält, daß es sie gibt, dann bleiben drei Behauptungen übrig: eine über die Gliederung des Lebenslaufs, eine über den Zeitpunkt des Einschnitts und eine über die Häufigkeit dieser Struktur. Wie lassen sich diese Behauptungen begründen? In den klassischen Texten wird das gar nicht erst versucht. Die Unterscheidung ist hier eine Selbstverständlichkeit, die sich auf Äquivalenzen und Metaphern stützt. Nun orientiert sich die Erziehungswissenschaft aber nicht nur an den Klassikern, sondern - neben der Philosophie - auch an den modernen Humanwissenschaften. Wie läßt sich die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen auf diesem Wege begründen? Auch für einen Großteil der Spezialliteratur gilt, daß die Kind-Erwachsenen-Opposition - sooft mit ihr gearbeitet wird - nur selten ausdrücklich begründet wird. Bevor ich mich den expliziten Rekonstruktionsversuchen zuwende, will ich zunächst zeigen, wie man der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen auch in den einschlägigen Arbeit für gewöhnlich begegnet.

3.1 Formen der Unterstellung Will man die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen psychologisch rekonstruieren, muß man entweder das Synchronisierungsproblem lösen155, oder man beschränkt sich auf eine bestimmte Entwicklungsdimension. Der vermutlich am gründlichsten untersuchte Aspekt psychischer Entwicklung ist die Kognitionsentwicklung. Von daher drängt sich die Frage auf, ob sich die Kind-Erwachsenen-Differenz mit Hilfe von Piaget aufklären läßt. Der erste Eindruck ist günstig. Piaget arbeitet tatsächlich mit allen drei Behauptungen: Der Lebenslauf zerfällt seines Erachtens in zwei große Abschnitte, der Einschnitt liegt im Umkreis der Pubertät, und diese Struktur hat allgemeine Gültigkeit. Piaget ist der Auffassung, daß die kognitive Entwicklung in der frühen Adoleszenz - im Alter zwischen 12 und 15 Jahren - ihren Abschluß findet; zu diesem Zeitpunkt ver155 Siehe oben S. 38 f.

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fugt ein Individuum über die Fähigkeit, formale Denkoperationen durchzufuhren. Später gibt es zwar insofern noch eine gewisse Dynamik, als dieses Denkmuster sich auf verschiedene Anwendungsfelder ausdehnt und sich stabilisiert - ein Vorgang, der decalage genannt wird; dabei handelt es sich jedoch um eine kontinuierliche Entwicklung im Rahmen ein und derselben Struktur, es kommt nicht zur Herausbildung eines neuen Denkmusters. Die Unterscheidung von Erwachsenen und Nicht-Erwachsenen scheint sich demnach folgendermaßen rekonstruieren zu lassen. Unter dem Aspekt der Kognitionsentwicklung betrachtet, zerfällt der Lebenslauf in zwei große Epochen, die prä-formaloperative Ära und die Ära formaler Operationen. Der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen entspricht dann dem zwischen Entwicklung und Lernen. Kinder sind diejenigen, die einer Entwicklungsdynamik unterliegen, insofern es bei ihnen zu aufeinander aufbauenden Umbrüchen in der Psychostruktur kommt; zu den Erwachsenen muß man diejenigen rechnen, deren psychische Struktur erstarrt ist; sie lernen nur noch, die gegebene Struktur auf immer neue Gegenstände anzuwenden. Um Piagets Terminologie aufzugreifen: Kinder sind primär Akkomodatoren, Erwachsene primär Assimilatoren. Eine leichte Abweichung gegenüber dem üblichen Sprachgebrauch gibt es jedoch beim timing. Der Einschnitt - also das Erreichen der formal-operativen Stufe - erfolgt Piaget zufolge im Alter von etwa 15 Jahren, also einige Jahre vor dem Zeitpunkt, auf den das Erwachsensein normalerweise datiert wird. Leider hat diese Rekonstruktion der Kind-Erwachsenen-Differenz einen kleinen Mangel. Piaget hat sich niemals die Mühe gemacht, etwas über die kognitive Entwicklung von Leuten herauszufinden, die das zwanzigste Lebensjahr überschritten haben. Der Dualismus von Heranwachsenden und Erwachsenen ist bei ihm eine grundlegende Annahme, von der aus er seine Forschung organisiert hat - die einen müssen erforscht werden, bei den anderen weiß man, womit man zu rechnen hat. Piaget hat diese Annahme in keinem seiner zahlreichen Experimente überprüft. Er schwimmt hier ganz einfach mit dem Strom einer Tradition, die besagt, daß Kinder sich entwickeln, Erwachsene aber fertig sind. Ein einziges Mal allerdings hat Piaget sich zu dieser Frage geäußert, in einem Aufsatz aus dem Jahre 1972 mit dem vielversprechenden Titel »Intellectual Evolution from Adolescence to Adulthood«. Ausgangspunkt ist ein empirischer Befund. Die formal-operative Ebene konnte in kulturvergleichenden Studien nicht bei allen Adoleszenten nachgewiesen werden.

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Hierfür sucht Piaget nach Gründen. Seine Erklärung lautet: Erstens läuft die Entwicklung nicht immer im gleichen Tempo ab (wie er ursprünglich angenommen hatte), sie kann sich beschleunigen oder verzögern, je nach den Umständen; wenn das formal-operative Denken nicht zwischen dem 12. und dem 15. Lebensjahr erreicht wird, dann eben zwischen dem 15. und dem 20. Lebensjahr - dies aber auf jeden Fall. Zweitens, so erklärt er, ist zu vermuten, daß mit wachsendem Alter die Unterschiede zwischen den Individuen eine immer stärkere Rolle spielen. Dies bewirkt, daß die formal-operative Stufe zwar von allen erreicht wird, aber in unterschiedlichen Feldern, abhängig von Begabung, Interesse und Spezialisierung. Diese Erklärung wirft jedoch, wie Piaget selbst hervorhebt, ein Problem auf. Die formal-operative Ebene soll sich ja gerade dadurch auszeichnen, daß in ihr von bestimmten Inhalten abstrahiert wird - eben deshalb heißt sie »formal«. Piaget versucht diesem Einwand dadurch Rechnung zu tragen, daß er zwei Verfahren unterscheidet, nach denen Formen auf Inhalte angewendet werden können: innerhalb des Spezialgebiets eines Individuums und außerhalb. Piaget modifiziert also das timing und konzediert, daß es von Individuum zu Individuum variieren kann. Die Entwicklung kommt demnach nicht mehr zwischen 14 und 15 Jahren zum Abschluß, sondern zwischen dem 14. und dem 20. Lebensjahr. Also wäre auch das dritte Kriterium erfüllt, die Datierung im Umkreis des Pubertätsabschlusses. Doch auch hier wird die entscheidende Hintergrundannahme nicht überprüft, die Vorstellung vom Ende der Entwicklung. Die Zweiteilung des Lebenslaufs behält den Status einer Präsupposition. Die Stufen führen ins Leere. Im Anschluß an Klaus F. Riegel haben verschiedene Autoren versucht, Piagets Stufenschema durch eine fünfte Etappe zu ergänzen, die Periode des dialektischen Denkens.156 Diese Periode soll sich dadurch auszeichnen, daß Widersprüche als grundlegende Eigenschaften des Denkens und der Kreativität anerkannt werden. Die Zäsur wird damit um einige Jahre verschoben. Die Vorstellung vom Entwicklungsabschluß und damit die Zweiteilung der Biographien werden jedoch weiterhin schlichtweg unterstellt. Das ist erstaunlich, denn gewisse Überlegungen Riegels weisen in die entgegengesetzte Richtung. Riegel ordnet den vier Entwicklungsperioden von Piaget (sensumotorisch, präoperativ, konkret-operativ, formaloperativ) vier Formen des dialektischen Denkens zu. Diese vier Formen können erreicht werden - Riegel hebt das ausdrücklich hervor -, ohne 156 Vgl. Riegel 1973, 1978

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daß vorher sämtliche Entwicklungsperioden durchlaufen wurden. Man kann also beispielsweise vom präoperativen Denken gleich zur dialektischen Form des präoperativen Denkens übergehen, ohne die konkretoperative und die formal-operative Periode durchlaufen zu haben. Von daher drängt sich eine Lebenslauf-Konzeption auf, in der ein Individuum direkt nach Abschluß einer Piaget-Periode zu deren dialektischer Variante übergeht. Wenn man Reife mit dialektischem Denken gleichsetzt, wäre Reife in dieser Konzeption keine abschließende Lebensphase mehr, sondern ein Dauerprozeß, der sofort nach Abschluß der sensumotorischen Periode - also mit ungefähr zwei Jahren - beginnen würde; mit dem ZweiPhasen-Schema wäre es vorbei. Riegel schlägt jedoch eine andere Strategie ein. Er datiert den Ubergang zum dialektischen Denken - und zwar für sämtliche vier dialektischen Denkformen - auf die Zeit nach dem Erreichen der formal-operativen Periode und kommt so zu einer fünften Entwicklungsperiode, der Zeit der Reife. Diese Entscheidung paßt nicht zum erklärten Versuch, das Stufen-Konzept aufzulösen; sie wird auch nicht begründet. Auch Riegel, so scheint es, erliegt der Suggestivkraft der Kind-Erwachsenen-Opposition. Von vielen Psychologen wird die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen schlichtweg präsupponiert. Man spricht von primärer und von sekundärer Sozialisation, man macht einen Unterschied zwischen dem Aufbau der Person und ihrer bloßen Veränderung, man differenziert zwischen Sozialisation und Resozialisation. »Dafür werden aber keine Kriterien [...] angegeben, und es wird auch nicht begründet, warum die Grenze gerade am Übergang in den Erwachsenenstatus liegt. Daran zeigt sich, daß hier die sozial geltende Bestimmung des Erwachsenen als fertigPerson unbefragt zur Grundlage der wissenschaftlichen Konzeptualisierung gemacht wird.«157 Einschränkend muß man festhalten, daß eine ganze Reihe von Psychologen heute zumindest einen bestimmten Aspekt der Kind-ErwachsenenOpposition in Frage stellt: die Gegenüberstellung von Aufbau und Abbau. Traditionell wird der Erwachsene als ein Wesen begriffen, dessenEntwicklung abgeschlossen ist, wie noch bei Piaget oder Riegel, oder dessen Entwicklung dem Abbau und dem Verfall ausgesetzt ist. Diese Stagnations- und Abbau-Konzeption wird mehr und mehr in Frage gestellt. Nachdem also zunächst im Gefolge von Rousseau die Vorstellung kritisiert wurde, das Kind sei unvollständig, wird heute das Fertigsein des Er157 Kohli 1984, S. 130

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wachsenen bezweifelt. Ausgangspunkt waren US-amerikanische Untersuchungen zur Sozialisation von Erwachsenen158, die in den 70er Jahren auch in der Bundesrepublik rezipiert wurden. Lernen und Persönlichkeitsentwicklung werden heute zunehmend als lebenslange Prozesse angesehen. Man wird nicht nur für Ehe und Beruf sozialisiert, sondern auch durch sie; Entwicklung im Alter wird nicht mehr als Abnahme der Leistungsfähigkeit begriffen, sondern als Zunahme von Komplexität.159 Diese Neufassung des Erwachsenen führt jedoch nicht zwangsläufig dazu, daß die Kategorie des Erwachsenen selbst aufgegeben wird. Der Rahmen bleibt, er wird nur anders ausgefüllt. Wenn man von der Psychologie zur Soziologie überwechselt, ist das Bild nicht viel anders. Selbst in vielen Spezialstudien zur Soziologie des Lebenslaufs hat die Kind-Erwachsenen-Opposition den Status einer stillschweigenden Voraussetzung. Die Autoren fragen, welchen Inhalt die beiden Phasen haben, wie dieser Inhalt sich verändert und welchen zeitlichen Bestimmungen der Ubergang unterliegt, ob er früher oder später erfolgt, schneller oder langsamer, kontinuierlicher oder diskontinuierlicher, geregelter oder ungeregelter. Sie interessieren sich dafür, in welche Mode sich der vorausgesetzte Unterschied kleidet. Immerhin wird die Grundannahme von einigen Autoren nicht präsupponiert, sondern expliziert, wie etwa in der folgenden Formulierung: »In jeder Gesellschaft lassen sich Regeln finden, welche den Ubergang ins Erwachsenenalter bestimmen.«160 Oder, deutlicher noch: »Zu den - im interkulturellen Vergleich wohl als universal zu bezeichnenden - Fixpunkten in der gesellschaftlichen Konstruktion des Lebenszyklus zählt der Ubergang vom Status des Kindes in den des Erwachsenen.«161 Begründet wird das in keinem der beiden Fälle; und beide Male ist unklar, was unter dem Erwachsenenstatus verstanden wird, ob der Ausdruck sich auf ein zweigliedriges Konzept bezieht oder nicht, ob also der Erwerb dieses Status reversibel ist oder irreversibel. Die Selbstverständlichkeit, mit der Soziologen und Psychologen mit der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen operieren, beruht häufig auf biologischen Annahmen. Der Biologismus ist versteckt, denn offiziell ist man sich darüber einig, daß Altersstufen nicht einfach auf organi158 Vgl. Brim/Wheeler 1966, Brim 1968, Riley u.a. 1969, 1972 159 Vgl. Whitbourne/Weinstock 1982, S. 28 160 Modell/Furstenberg/Hershberg 1978, S. 225 161 Matthes 1978, S. 209

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sehen Tatsachen beruhen. Man begegnet der biologistischen Unterströmung in der Form eines heimlichen Rousseauismus. Die Einteilung in Altersstufen, so lautet dann die implizite Voraussetzung, wird eigentlich durch physische Prozesse determiniert; die moderne Gesellschaft hat sich von diesem Naturverfahren jedoch zunehmend entfernt. So heißt es beispielsweise in einer soziologischen Untersuchung: »In unserem Kulturkreis stellt sich dieser Übergang [vom Status des Kindes zu dem des Erwachsenen] heute als Übergangsperiode dar, die durch starke Diskrepanzen zwischen bio-physischer Frühreife und hoher sozialer Geltung von >Jugendlichkeit< einerseits, zeitlich hinausgeschobener Ablösung von der Herkunftsfamilie und fortdauernder Abhängigkeit von Ausbildungsinstitutionen andererseits gekennzeichnet ist.«162 Wenn hier von heutigen »Diskrepanzen« zwischen organischen und sozialen Vorgängen gesprochen wird, von bio-physischer »Frühreife« und »zeitlich hinausgeschobener Ablösung«, dann wird damit die Gegenwart auf den Hintergrund einer Vergangenheit projiziert, in der die bio-physische Reife eben nicht zu früh erreicht wurde, und in der die Ablösung tatsächlich ohne Aufschub erfolgte, kurz, in der die Kultur sich noch den Forderungen der Natur unterwarf. In einer entwicklungspsychologischen Arbeit heißt es nach einem Hinweis auf die Verlängerung der Jugendzeit durch den gesellschaftlich-technischen Wandel: »So kommt es, daß die körperliche Reifung und Entwicklung zum Erwachsenen kaum noch mit der Erreichung des sozialen Status des Erwachsenen korrespondiert.«163 Das symptomatische Kürzel ist hier das »kaum noch«. Es unterstellt, daß die Gliederung des Lebenslaufs ursprünglich durch die organische Entwicklung diktiert wurde. Als letzten Beleg für den heimlichen Rousseauismus zitiere ich aus einer Studie über das Erwachsenenalter. Hier findet man zunächst eine ausdrückliche Kritik der Vorstellung, Altersstufen würden organisch determiniert. Dann heißt es, daß sich »in modernen Gesellschaften [...] der Eintritt in das Erwachsenenalter [...] vom faktischen biologischen Reifezustand weitgehend losgelöst hat«164. Diesmal ist es die Rede von der Loslösung, worin sich die Behauptung verbirgt und entbirgt, in vormodernen Gesellschaften seien Erwachsenenalter und biologische Reife miteinander verbunden gewesen. Dabei hatte van Gennep bereits 1909 in seiner klas162 Matthes 1978, S. 209 163 Montada/Oerter/Rippe 1983, S. 42 164 Pieper 1978, S. 74

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sischen Studie über Übergangsriten gefordert, nicht von »Pubertätsriten«, sondern von »Adoleszenzriten« zu sprechen, um damit festzuhalten, daß auch in Stammesgesellschaften biologische Reifung und Statuspassage nicht koordiniert sind.165 Aber das gehört, wie gesagt, zum common sense, niemand vertritt die biologistische Konzeption explizit. Sie schleicht sich ein, so als handle es sich um eine Zwangsvorstellung, die durch Einsicht nur verdrängt wird und sich dann auf der Ebene der Wortwahl doch wieder Geltung verschafft. Auch in Versuchen, die Ethnomethodologie für die Erziehungswissenschaft fruchtbar zu machen, findet man als letzte Gewißheit den Rückgriff auf das Zwei-Generationen-Modell. In einem programmatischen Artikel heißt es: »Der ethnomethodologische Ansatz legt einer Erziehungswissenschaft, die sich selbst als Moment der Verständigung zwischen den Generationen begreift, nahe [...], sowohl die individuellen Methoden zu rekonstruieren, mit deren Hilfe Erwachsene wie Kinder ihre bedeutungsvolle Wirklichkeit jeweils erzeugen, als auch die allgemeinen Regeln, die ihrer Interaktion in beliebigen Settings als »objektive Struktur^ als >grammatisches SystemBewegungsgesetz< zugrunde liegen.«166 Mitunter berufen sich soziologische Rekonstruktionen der Kind-Erwachsenen-Differenz auf Erving Goffmans Begriff der Rollendistanz. Mündig, autonom, handlungsfähig - und in diesem Sinne erwachsen - ist man dann, wenn man über die Fähigkeit verfugt, Rollendistanz herzustellen.167 Bei Goffman ist das Verhältnis jedoch umgekehrt. Goffman stützt sich nicht auf den Begriff der Rollendistanz, um zu erklären, was ein Erwachsener ist, sondern auf die Unterscheidung von Erwachsenen und Nicht-Erwachsenen, um zu erläutern, wie Rollendistanz funktioniert.168 Ich will das zum Schluß etwas ausfuhrlicher erläutern. Unter Rollendistanz versteht Goffman ein Verhalten, bei dem man sich einerseits den Anforderungen einer Rolle unterwirft, zugleich aber den anderen Rolleninhabern signalisiert, daß man in dieser Rolle nicht aufgeht. Dies geschieht dadurch, daß man im Vollzug einer Rolle zugleich seinen Unwillen, sein Desinteresse, seine Verachtung oder seine Überlegenheit in bezug auf die eigenen Handlungen zur Schau stellt. Auf den ersten Blick scheint es sich darum zu handeln, daß hier die Person hinter 165 Vgl. van Gennep 1986, S. 71 166 Parmentier 1989, S. 557 167 Dieses Argument wurde von Habermas entwickelt; vgl. Habermas 1973a 168 Vgl. Goffman 1972

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der Rolle hervortritt, im Sinne von Graciäns Empfehlung: »So hoch auch der Posten sein mag, stets muß die Person sich als ihm überlegen zeigen.«169 Goffman zufolge geht es bei der Distanzierung jedoch nicht um ein Verhältnis zwischen der Rolle und der konkreten Person, sondern um eine Beziehung zwischen zwei verschiedenen Rollen. Rollendistanz wird dadurch hergestellt, daß im Vollzug einer Rolle zugleich eine andere Rolle mobilisiert wird. Wenn ein Vorgesetzter seiner Sekretärin demonstrieren will, daß er nicht nur der Chef ist, kann er dies dadurch tun, daß er seine Geschlechtsrolle aktiviert. Goffman zeigt nun, daß es in bezug auf die Rollendistanz eine Art Arbeitsteilung gibt, eine Rollendifferenzierung. Rollendistanz nimmt unterschiedliche Bedeutungen an, je nachdem ob sie von Vorgesetzten oder von Untergebenen hergestellt wird. Ein Vorgesetzter muß dafür sorgen, daß seine Untergebenen auch in angespannten Situationen nicht die Nerven verlieren. Ein gutes Mittel hierfür ist Rollendistanz: der Vorgesetzte verzichtet auf gewisse Vorrechte und spielt den netten Kerl, er verpackt seine Kritik in Scherze und plaudert über die letzte Gartenparty. Solche informellen Einsprengsel findet man, Goffman zufolge, jedoch nicht bei allen Rolleninhabern. Rollendistanz ist für diejenigen charakteristisch, die eine höhere Position einnehmen. Hierdurch kann man, so erklärt Goffman, den Eindruck gewinnen, als seien es die sozialen Qualitäten eines Individuums, die ihm zu seiner Position verholfen haben - statt daß man erkennt, daß solche Qualitäten nur jenen zugänglich sind, die den entsprechenden Posten ergattert haben. An dieser Stelle der Argumentation bezieht Goffman sich auf den Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen: »Aber natürlich können auch Untergebene eine beträchtliche Rollendistanz herstellen, und das nicht nur durch Murren. Indem sie die Ernsthaftigkeit ihres Anspruchs, als vollwertige Personen behandelt zu werden, opfern, können sie sich Freiheiten gestatten, die gesellschaftlich Erwachsene nicht haben.«170 Auch ein Untergebener kann also Rollendistanz herstellen, aber er muß teuer dafür bezahlen. Er wird dann nicht mehr als erwachsen angesehen; im Rahmen des jeweiligen Rollensystems verwandelt er sich in ein halben Kind. Die Fähigkeit, Rollendistanz herzustellen, ist also kein Merkmal, mit dessen Hilfe sich Erwachsene von Nicht-Erwachsenen unterscheiden lie169 Graciän 1983, S. 142 170 Goffman 1972, S. 114 f.

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ßen. Rollendistanz ist ein Signifikant, dessen Signifikat sich durch den Kontext verändert. Befindet man sich in der Vorgesetztenposition, evoziert Rollendistanz - also die Aktivierung einer Zweitrolle - personale Qualitäten jenseits der Rollenzwänge. Befindet man sich in der Untergebenenposition, hat Rollendistanz die Bedeutung des Nicht-Erwachsenseins. Goffmans Konzept der Rollendistanz setzt die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen voraus. Auch in der Spezialliteratur begegnet einem die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen also meist in der Form der Präsupposition, der stillschweigenden Voraussetzung. Das ist eine Schwäche und zugleich eine Stärke. Eine Schwäche natürlich unter dem Rationalitätsaspekt: die Unterscheidung wird nicht begründet. Eine Stärke unter dem Aspekt der Wirksamkeit. Eine Unterscheidung, die nicht genötigt ist, sich im Für und Wider der Begründungen zu bewähren, gilt spontan nicht als Unterscheidung, sondern als Unterschied. Der Präsuppositionscharakter der mit dieser Unterscheidung verbundenen Annahmen sichert Kindern und Erwachsenen gewissermaßen ihre Existenz.

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3-2 Historische Argumente Wenn man die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen theoretisch rekonstruieren will, muß man versuchen, Argumente für die folgenden Behauptungen zu liefern: (1) These über die Gliederung: Der Lebenslauf besteht aus zwei Hauptphasen. (2) These über die Datierung: Der Zeitpunkt des Einschnitts liegt um den Abschluß der Pubertät herum. (3) These über den Geltungsbereich: Es gibt eine allgemeingültige Gliederung des Lebenslaufs. Neben diesen drei Thesen gibt es schließlich noch eine offene Frage: Ist die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen eine anthropologische Universalie oder eine historische Konstruktion? Was diese Frage betrifft, so ist zunächst festzuhalten, daß die Alternative zwischen einer universalen und einer historischen Erklärung auch nach 200 Jahren Historismus-Diskussion nicht immer klar gesehen wird. Liest man beispielsweise Wilhelm Flitners »Allgemeine Pädagogik« unter dem Gesichtspunkt der Kind-Erwachsenen-Opposition, zeigt sich ein merkwürdiger Widerspruch. Einerseits ist für ihn der Unterschied von Kindern und Erwachsenen eine anthropologische Konstante; andererseits erklärt er die Altersphasen zu »kulturell bestimmten Erscheinungen«171. Diese Äußerungen stehen nebeneinander, ohne Vermittlungsversuch. Man könnte einwenden, das sei eben nicht sein Thema, aber eine solche Erklärung griffe zu kurz. Auch in Spezialstudien stößt man auf die Vermengung universalistischer und historistischer Thesen. Vermutlich würden die meisten Soziologen die These unterschreiben, daß es für den Menschen »eigentlich unverrückbare Abfolgen im Lebenslauf, nur in andere Moden verkleidete, aber immer wiederkehrende uniforme Lebensalter nicht geben«172 kann. Dennoch behandeln viele von ihnen den Unterschied zwischen Kindheit und Erwachsensein als eine transhistorische Universalie, als soziale Form, die für alle Gesellschaften charakteristisch ist - und zwar ohne dies näher zu begründen. Die soziale Gestaltbarkeit des Alters scheint hier ihre Grenze zu finden.

171 Flitner 1974, S. 145 172 Rosenmayr 1979, S. 53

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Manche Autoren sehen kein Problem darin, universalistische Thesen durch Verweis auf moderne Gegebenheiten abzusichern. Häufig wird das Erwachsensein als universales Sozialphänomen hingestellt und zugleich durch die Übernahme von Berufsrollen charakterisiert. Abgesehen davon, daß dieses Kriterium zu einer Dreiteilung fuhrt - die Berufsrolle ist eine moderne Erscheinung. Sammler oder Jäger zu sein, ist kein Beruf, und auch in agrarischen Gesellschaften hat die Mehrheit der bäuerlichen Bevölkerung mit der Übernahme von Berufsrollen nichts zu schaffen. Dieser Einwand läßt sich auch dadurch nicht ausräumen, daß man auf eine allgemeinere Formulierung ausweicht und »Erwachsensein« statt mit »Berufsrolle« mit »Teilhabe an der ökonomischen Reproduktion« gleichsetzt. Nach dieser Definition müßte der Übergang zum Erwachsenenalter in den meisten Gesellschaften in früher Kindheit erfolgen, denn die Ausschließung der Kinder aus dem Wirtschaftsleben ist bekanntlich eine Besonderheit der hochentwickelten kapitalistischen Zentren. Manche Autoren173 machen den universalen Unterschied zwischen Erwachsensein und Nicht-Erwachsensein daran fest, daß Erwachsene im Gegensatz zu Kindern an der Wahl ihrer Lebensverhältnisse beteiligt sind, etwa an der Wahl von Ehepartnern oder Arbeitsplätzen. Beides sind Eigenarten der Moderne (abgesehen davon, daß auch dieses Kriterium nicht zu einer Zweiteilung fuhrt - selbstinitiierte Sozialisation gibt es auch bei Kindern, etwa bei der Wahl von peer groups oder von Schultypen.) Übrigens leidet auch Kohlbergs Entwicklungstheorie174 an der Vermengung universalistischer und historistischer Argumente. Kohlberg beansprucht für seine Analysen historische und kulturelle Universalität; er hat seine Forschungen deshalb von Anfang an auf andere Kulturen und Epochen ausgedehnt. Die Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit beruht seines Erachtens auf der Auseinandersetzung mit universalen Formen der Vergesellschaftung. Zugleich ist er jedoch der Auffassung, das Durchlaufen der postkonventionellen Stufen habe kulturspezifische Voraussetzungen. Notwendige Bedingung für das Erreichen der fünften Stufe ist für ihn ein psycho-soziales Moratorium im Sinne von Erikson, und er meint, dieses Moratorium sei eng mit dem College-Besuch verbunden.175 Kohlberg hat sich nicht bemüht, die Spannung zwischen dem universalistischen und dem kulturalistischen Argument aufzulösen. 173 wie Brim 1968 174 Siehe oben S. 35 ff. 175 Vgl. Kohlberg 1977

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Wenn man versuchen will, die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen theoretisch zu rekonstruieren, muß man sich also auch zu der Frage äußern, ob es sich um eine anthropologische Universalie handelt oder um eine historische Konstruktion. Von hier aus lassen sich die Rekonstruktionsversuche in zwei Gruppen aufteilen, in die der Universalisten und die der Historisten. Ich befasse mich zunächst mit denjenigen Erklärungen, die nachzuweisen versuchen, daß es sich bei der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen um eine historische Erfindung handelt. Damit meine ich nicht einfach ein »historisches Phänomen«, in dem Sinne, daß Kindsein und Erwachsensein einem historischen Wandel unterliegen. Eine solche Form der Historisierung würde die über historische Geltung des Unterschieds immer noch voraussetzen; es würde sich dann um eine überhistorische Form mit historischen Modifikationen handeln. Die Frage ist also nicht: Wird die Kind-Erwachsenen-Opposition historisch modifiziert? Sondern: Wird sie historisch konstituiert? Ist es möglich, daß die Lebensläufe nur in bestimmten Gesellschaften nach der Pubertät einer allgemeinen Zweiteilung unterworfen werden? Könnte es sein, daß es nur in bezug auf bestimmte Gesellschaften gerechtfertigt ist, die Gesamtbevölkerung in zwei Teilmengen zu zerlegen, in Heranwachsende und Erwachsene? Die historisierende Rekonstruktion der Kind-Erwachsenen-Opposition hat zwei Hauptformen angenommen. Eine erste Position begreift das Erwachsensein als historische Erfindung und das Kindsein als kulturelle Konstante. Die zweite Position argumentiert umgekehrt: Das Erwachsensein ist universal, historisch ist nur die Kindheit.

Die Geschichtlichkeit des Erwachsenseins Die Historisierung des Erwachsenseins beruht in der Regel auf einer Isomorphie, auf der Annahme einer Strukturgleichheit zwischen Individualentwicklung und Gesellschaftsgeschichte. Bereits in mittelalterlichen Texten findet man die Vorstellung, die Menschheit durchlaufe dieselben Lebensalter wie das Individuum.176 Manche Autoren verbinden das mit einer zyklischen Geschichtskonzeption, andere mit einer linearen. Zyklische Varianten beziehen das Alter als Lebensstufe ein (etwas Kindheit -

176 Vgl. die Hinweise bei Cloeren 1976. Die Analogie ist jedoch älter, bereits Cicero macht von ihr Gebrauch; vgl. Cicero 1966, S. 51, 70 f.

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Reife - Alter), lineare Varianten enden in der Regel mit dem »Mannesalter«. In dem hier untersuchten Zusammenhang ist entscheidend, daß es sich bei derartigen Angleichungen nicht immer um bloße Analogien handelt. 1774 entwirft Herder in seiner Schrift »Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit« eine Menschheitsgeschichte, die sich auf das Modell der Lebensalter stützt: Kindheit = Orient, Knabenalter = Ägypten, Jünglingsalter = Griechenland, Rom = Mannesalter. Er behauptet ausdrücklich, eine genauere Analyse werde zeigen, daß seine »Analogie von menschlichen Lebensaltern hergenommen, nicht Spiel sei«177. Sofern mit der Lebensalter-Analogie aber ein wirklicher Zusammenhang zwischen Individual- und Gesellschaftsgeschichte behauptet wird, hat das Folgen für das Konzept des Erwachsenseins. Auch wenn das nicht immer klar ausgesprochen wird, ergibt sich hieraus: In den frühen Phasen der Menschheitsentwicklung hat es keine Erwachsenen gegeben, sondern nur Kinder, Knaben oder Jünglinge (die Terminologie ist fast immer männerzentriert). Demnach muß es sich bei der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen um eine moderne Erfindung handeln. Grundlegend für die Verklammerung von Individual- und Gesellschaftsgeschichte ist die Historisierung der Anthropologie in der klassischen Sozialphilosophie. Die Deutung der Geschichte als Entfaltung des menschlichen Wesens wird hierbei vor allem durch zwei Operatoren ermöglicht. Erstens durch das Entwicklungsmodell der Entelechie - Individualgeschichte und Gesellschaftsgeschichte sind gleichermaßen Prozesse der Selbstvervollkommnung durch Verwirklichung des Möglichen, sie erscheinen deshalb als isomorph. Und zweitens durch eine Reihe von Termini mit s/ü/ter-Funktion. Große Begriffe wie »Vernunft« »Kultur«, »Geist« und »Bildung« verknüpfen die Ebene des Individuums mit der der sozialen Systeme. In den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts erhält das Argument neue Nahrung durch die Verbindung mit der Evolutionstheorie. Müller und Haeckel formulieren das berühmte »biogenetische Grundgesetz«, wonach die Phylogenese im Verlauf der Ontogenese im Zeitraffertempo durchlaufen wird (gewissermaßen das Gegenstück zur Neotenie, 177 Herder 1994, S. 20.- Voraussetzung für diese Konstruktion ist, daß die Epoche der Griechen und Römer nicht mehr als Altertum gedeutet wird, sondern als Kindheit oder als Jugend, und daß umgekehrt die Gegenwart als Alter begriffen wird; diese Umkehrung wird von Bacon und Pascal vollzogen. Vgl. Poliakov 1993, S. 123

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welche darin besteht, daß die Ontogenese sich im Verlauf der Phylogenese immer mehr verlangsamt). Anfang dieses Jahrhunderts wird dieser Gedanke von dem amerikanischen Psychologen G. Stanley Hall auf die psychische Entwicklung übertragen (»psychogenetische Rekapitulationstheorie«).178 Die Gleichsetzung von Individual- und Menschheitsgeschichte findet man sowohl in Comtes linearer Geschichtsphilosophie - dem berühmten Drei-Stadien-Gesetz (1830-1842) - wie auch in den zyklischen Theorien von Lasaulx (1856), Frobenius (1921) und Spengler (1922/23). In der Pädagogik ist die Identifizierung von Individual- und Gesellschaftsentwicklung vor allem in Gestalt des »Kulturstufenlehrplans« wirksam geworden, der von Herbart inspiriert wurde. Der altersgemäße Lehrstoff wird hier durch die entsprechende Phase der Menschheitsentwicklung festgelegt; im Knabenalter lernt man Griechisch, da die Griechen das Knabenalter der Menschheit verkörperten usw. Diese Konzeption spielt heute keine Rolle mehr, wohl aber die dahinterstehende Gleichsetzung von Individual- und Menschheitsgeschichte. Ein Vergleich verschiedener Kulturräume der Erde, so erklärt beispielsweise Wilhelm Flitner, könne »wichtige Aufschlüsse geben, z. B. über die Verwandtschaft der Kindheit differenzierter Kulturstufen mit den Erwachsenen der einfachen Stufen«179. Unentschlossen findet man das Argument bei Kohlberg, ausdrücklich bei Habermas. Habermas sieht, daß Kohlberg universalistische und historistische Begründungen vermengt, und löst dieses Knäuel auf, indem er Kohlbergs impliziten Eurozentrismus in einen expliziten verwandelt. Die westliche Entwicklung ist, Habermas zufolge, nichts anderes als die Entfaltung universaler Potentiale. Das erste streng universalistische Wertsystem sei vom Liberalkapitalismus hervorgebracht worden, das den Tauschverkehr universalistisch regeln mußte. Hierfür bot der Aquivalententausch eine wirksame Basis-Ideologie, durch die der Staat von traditionalistischen Rechtfertigungsweisen freigesetzt wurde. Im organisierten Kapitalismus sei die ökonomische Basis des Universalismus zusammengebrochen, jedoch habe sich die Universalisierung, einer immanenten Logik folgend, weiterentwickelt.180 Dies führe nun zur Herausbildung einer Prinzipienmoral, etwa in Gestalt des universalistischen Utilitarismus und von Kants formalistischer Ethik, einer Moral also, deren oberste Vorschrift lautet, daß nur 178 Vgl. Hall 1904 179 Flitner 1974, S. 90 180 Vgl. Habermas 1975, S. 122

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noch solche Normen zugelassen werden, die allgemein sind, also Normen ohne Ausnahmen, ohne Privilegierungen und ohne Einschränkungen des Geltungsbereichs. Diese prinzipielle Moral gerate in Widerspruch zur staatlichen Verfaßtheit des Rechts, das ja immer an ein konkretes staatliches Subjekt gebunden ist. Die Universalisierung der Moral gehe deshalb einher mit der Spaltung zwischen dem »Menschen« und dem »Staatsbürger«.181 Diese historische Entwicklung wird, Habermas zufolge, von der Individualentwicklung wiederholt. Im Ubergang von der konventionellen zur postkonventionellen Moral sieht er »ein Echo jener Entwicklungskatastrophe, die die Entwertung der Traditionswelt auch historisch einmal bedeutete - und die Anstrengung zu einer Rekonstruktion auf höherer Ebene provoziert hat«182. Wenn man Erwachsensein also tatsächlich mit dem Erreichen der postkonventionellen Moral gleichsetzt, dann ergibt sich aus Kohlbergs Theorie und Habermas' Ergänzungen, daß die Einteilung der Gesellschaft in Kinder und Erwachsene ein Produkt der Moderne ist, der kapitalistischen Gesellschaftsformation. Allerdings wirft diese Lösung mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Meine Einwände habe ich schon weiter oben erläutert: Kohlbergs Stadientheorie ist dreigliedrig, nicht zweigliedrig; Habermas' Thesen über Prinzipienmoral beziehen sich auf einen Gesellschaftszustand, der erst noch vor uns liegt. 183 Wie auch immer, wenn man sich trotzdem entschlösse, die Kind-Erwachsenen-Differenz mit Kohlberg und Habermas zu rekonstruieren, käme man zu dem Ergebnis, daß es sich bei traditionalen Gesellschaften, psychologisch gesehen, um Gesellschaften von Kinder handelt. Sofern man der Auffassung ist, daß Erziehung auf der Interaktion von Kindern und Erwachsenen beruht, würde sich des weiteren ergeben, daß in solchen Gesellschaften nicht erzogen wird. Aber diesen Schluß wird man nicht finden, die Frage wird nicht zu Ende gedacht. Eine Ausnahme gibt es, und das ist Katharina Rutschky.184 Ihre Uberlegungen stützen sich auf die Untersuchungen von Norbert Elias zum Zivilisationsprozeß; Rutschky deutet sie im Licht der Psychoanalyse. In der 181 Vgl. Habermas 1975, S. 123 182 Habermas 1983, S. 137.- Vgl. auch die Parallelisierung von Menschheitsund Individualentwicklung in Habermas 1973b und 1976b. 183 Siehe oben S. 37 und S. 51 184 Vgl. Rutschky 1977

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mittelalterlichen Gesellschaft, so wird Elias von ihr interpretiert, leben die Menschen im Stadium der Oralität bzw. der Analität. Durch den Zivilisationsprozeß wird diese Form der Triebhaftigkeit unterdrückt, es bildet sich der Erwachsene heraus und damit das Verhältnis zwischen Kind und Erwachsenem. Rutschky faßt ihre Position so zusammen: »Wenn man von Erziehung spricht, setzt man wie selbstverständlich voraus, daß es solche Personen gibt, die als >Erwachsene< erziehen können, und solche, die als vielfältig definierte Nicht-Erwachsene erzogen werden müssen. Nach Elias ist jedoch diese Unterscheidung Ergebnis eines Prozesses, in dem äußerer Zwang in Selbstzwang umgewandelt wurde.«185 Und weiter: »Erziehung läßt sich als eine Fortsetzung des Zivilisationsprozesses verstehen. Die zivilisatorischen Zwänge, die vorher in sozialen Verflechtungen der Erwachsenen auftreten, werden jetzt im Gegensatz von Erwachsenen und Nicht-Erwachsenen, in der Figuration, die sie bilden, der Erziehung, wirksam.«186 Von Elias stammt übrigens nur die These von der Triebhaftigkeit des mittelalterlichen Menschen, nicht aber die von der Historizität der KindErwachsenen-Opposition. Elias begreift diese als anthropologische Universalie: »Niemals gelangt der Heranwachsende zu einer Regelung seines Verhaltens ohne die Erzeugung von Angst durch andere Menschen. Ohne den Hebel solcher von Menschen erzeugten Ängste wird aus dem jungen Menschentiere nie ein erwachsenes Wesen, das den Namen eines Menschen verdient, so wenig je die Menschlichkeit dessen voll zu Reife kommt, dem sein Leben nicht hinreichende Freude und Lust gewährt.«187 Die historische Veränderung durch den Zivilisationsprozeß sieht Elias, wie viele andere, darin, daß der Zeitpunkt, zu dem die Heranwachsenden zu Erwachsenen werden, sich nach hinten verschoben hat.188 Rutschky erkennt, daß diese beiden Argumente nicht vereinbar sind; sie denkt konsequenter als Elias. Wenn die Menschen des Mittelalters eine infantile Triebstruktur hatten, dann gab es auch keine Erwachsenen; und wenn Erziehung auf dem Verhältnis von Kindern und Erwachsenen beruht, dann gab es auch keine Erziehung. (Allerdings ist auch Rutschky nicht ganz konsequent: Wenn das Mittelalter den Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen nicht kannte, dann dürfte sie eigentlich nicht be185 Rutschky 1977, S. LH 186 Ebd., S. LX 187 Elias 1976, Bd. 2, S. 447 188 Vgl. ebd., S. 336

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haupten, im Mittelalter habe es soziale Verflechtungen »der Erwachsenen« gegeben.) Ob Rutschkys Rekonstruktion der Kind-Erwachsenen-Opposition haltbar ist, hängt von zwei Bedingungen ab: Die Eliassche These von der zunehmenden Affektkontrolle muß richtig sein. Sofern das der Fall ist, muß der Prozeß der Affektkontrolle mit einer allgemeingültigen Zweiteilung des Lebenslaufs verknüpft sein. Diese Zweiteilung wird von Rutschky nicht begründet. Man kann jedoch genausogut annehmen, daß die Affektkontrolle bis zum Ende des Lebens beständig zunimmt, ohne daß es hierbei zu einer Zäsur kommt, oder daß die grundlegenden Formen der Triebregulierung schon sehr früh erworben werden. Die andere Frage war, ob Elias' These von der zunehmenden Affektkontrolle überhaupt richtig ist. Gibt es in westlichen Gesellschaften eine stärkere und gleichmäßigere Affektkontrolle als in anderen Gesellschaften? Gibt es eine Erhöhung der Scham- und Aggressionsschwelle? Ist die Gewalt gegen Frauen tatsächlich geringer geworden?189 Geht die Herausbildung der westlichen Gesellschaften einher mit zunehmender sozialer Kontrolle und einer allmählichen Umwandlung von Fremdkontrolle in Selbstkontrolle? Und falls das tatsächlich so sein sollte: Ist die Ursache hierfür die Herausbildung des Zentralstaats? Beruht die ökonomische Unterwerfüng traditionaler Gesellschaften durch den Westen darauf, daß die modernen Gesellschaften den vormodernen aufgrund der größeren Triebund Affektkontrolle überlegen sind?190 Diese Behauptungen sind, so denke ich, nicht haltbar.191 Schamschranken und Aggressionshemmungen sind universal. Das heißt nicht, daß es keine Unterschiede gäbe, aber sie verlaufen nicht in Richtung auf eine zunehmende Anhebung der »Schwellenhöhe«. Zwar gibt es im späteren Mittelalter eine Lockerung der Überwachung des einzelnen und damit eine größere Verhaltensfreiheit (aufgrund der Verstädterung sowie des Schwächerwerdens der Familienverbände), aber die Schamschwelle ist heute niedriger, wie das öffentliche Nacktbaden zeigt. In traditionellen Gesellschaften ist die soziale Kontrolle weitaus effektiver als heute, Regeln der Höflichkeit und des Respekts spielen eine bedeutsame Rolle. Erst die Verstädterung führt zu einer Substituierbarkeit der Interaktionspartner 189 Vgl. ebd., S. 98 190 Zur letzten Frage vgl. ebd., S. 346 f., 427 191 Zur Kritik an Elias vgl. Duerr 1988, 1990, 1993 sowie Honneth/Joas 1980, S. 115-123

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und damit zu einer Schwächung des Konformitätsdrucks.192 Die auch in traditionellen Gesellschaften zu findende Verbindung von Krieg und kollektiver Vergewaltigung wird durch das staatliche Gewaltmonopol und die damit verbundenen Massenheere quantitativ ausgedehnt; überdies haben die Einzelvergewaltigungen aufgrund der Lockerung sozialer Kontrollen zugenommen. Die Vorstellung, frühere und fremde Gesellschaften seien Gesellschaften von Kindern (und Kinder seien kleine Barbaren), ist, wie Levi-Strauss es genannt hat, eine »archaische Illusion«193, eine Ursprungsphantasie. Eine Variante der Elias/Rutschky-Argumentation findet man bei Neill Postman.194 Den Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen gibt es nur dann, so schreibt er, wenn es ein Geheimwissen gibt und ein darauf basierendes Schamgefühl. Im Mittelalter hätten die Alteren vor den Jüngeren keine Geheimnisse gehabt, deshalb habe es auch keine Vorstellung von Schamgefühl gegeben (»zumindest nicht von dem, was ein Moderner darunter versteht«195), und also habe es auch keinen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen gegeben, sondern eine Art permanenter Kindheit196. Das Geheimnis - vor allem das sexuelle Geheimnis - der Erwachsenen sei ein Produkt der modernen Buch-Gesellschaft; es verschwinde mit dem Siegeszug des Fernsehens und mit ihm verschwinde die Kindheit. An dieser Argumentation ist alles falsch. Falsch ist die Behauptung, in nicht-literalen Gesellschaften gebe es wenig Geheimnisse und die Gesellschaftsmitglieder brauchten nicht erst darin unterwiesen zu werden, wie die Gesellschaft zu begreifen ist; Postman scheint nie etwas davon gehört zu habe, welche Rolle das Geheimnis und die Einweihung in ein Geheimnis für Rituale und Religionen vormoderner Gesellschaften spielen. Ganz 192 Man kann hier Luhmanns Vergleich zwischen Interaktionen in ständischen und in modernen Gesellschaften anschließen (vgl. Luhmann 1985): In ständischen Gesellschaften steht die Interaktion unter dem Zwang, den hierarchischen Gesellschaftsaufbau beständig mit zurepräsentieren; in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften gibt es einerseits eine Freigabe der Interaktionen für persönliche Gestaltung; ein Teil der Interaktionsregulierung wird jedoch durch die Organisationen übernommen. 193 Vgl. das gleichnamige Kapitel in Levi-Strauss 1981 sowie auch Jonas 1984, S. 200 ff. 194 Zu Postman siehe auch weiter oben S. 35 195 Postman 1987, S. 25 196 Ebd., S. 23 f., 116

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bestimmt beruht die Autorität von Erwachsenen im 18. und 19. Jahrhundert nicht darauf, daß sie das Geheimnis des Buchwissens hüten; das gilt nur für eine bestimmte Berufsgruppe, die Lehrer und Professoren, für Postman offenbar die Erwachsenen schlechthin. Die Hauptthese, die Verbindung zwischen Buchwissen und sexuellem Geheimnis, ist schlichtweg rätselhaft; dieses Geheimnis lüftet sich, wenn man am Rande erfährt, daß Postman sich seine sexuelle Aufklärung aus Millers »Wendekreis des Krebses« geholt hat 197 ; offenbar macht er dieses Erlebnis zum Angelpunkt seiner Geschichtstheorie. Unhaltbar ist auch die Gleichsetzung von Scham und Geheimnis. Die Scham, die uns dazu nötigt, die Defäkation an einem stillen Örtchen zu verrichten, beruht nicht darauf, daß dieser Vorgang für irgend jemanden ein Geheimnis wäre - oder gar ein Geheimnis, das nur durch Lektüre gelüftet werden könnte. Und die Scham in bezug auf den Geschlechtsakt führt nicht nur dazu, daß er vor den Unwissenden verborgen wird, den Kindern, sondern auch vor den Erwachsenen, den Mitwissern.

Die Geschichtlichkeit der Kindheit Nicht das Erwachsensein, sondern die Kindheit ist eine historische Errungenschaft - das ist die Leitlinie eines zweiten Typs historisierender Rekonstruktionsversuche. Diese These ist vor allem mit dem Namen des französischen Historikers Philippe Aries verbunden, mit dessen 1960 erschienenem bahnbrechenden Werk zur Geschichte der Kindheit. Obwohl die Arbeit bestens bekannt ist, will ich sie zunächst referieren; ich konzentriere mich dabei auf den Gesichtspunkt, der hier von Bedeutung ist: auf die Gliederung des Lebenslaufs und dessen Wandlungen. Die Arbeit bezieht sich auf das Frankreich des 15. bis 18. Jahrhunderts; der Schwerpunkt liegt auf dem »Klassischen Zeitalter«, dem Absolutismus des 17. Jahrhunderts. Im Mittelalter, so erklärt Aries, beginnt der Lebenslauf mit der Phase der frühen Kindheit; diese Phase dauert nur wenige Jahre länger als die spät erfolgende Entwöhnung, ungefähr bis zum fünften oder siebten Lebensjahr. Danach tritt das Kind übergangslos in die Welt der Erwachsenen ein und gilt als erwachsen. »Ubergangslos« heißt: ohne Initiation und ohne Schulung. Im Mittelalter gelten Aries zufolge also auch schon 10jährige als Erwachsene.

197 Vgl. ebd., S. 100

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Seit dem 15. Jahrhundert bildet sich eine neue Struktur heraus, die dann im 17. Jahrhundert voll ausgebildet ist. Die entscheidende Rolle spielt hierbei die moderne Schule: das Kolleg; es ist nicht mehr auf die Ausbildung von Geistlichen beschränkt und unterwirft die Schüler einer strengen Disziplin. Zwischen die frühe Kindheit und die »Zeit des unumstößlich anerkannten Erwachsenseins«198 schiebt sich auf diese Weise der Schulbesuch. Damit kommt es zu einer Verlängerung der Kindheit, sie besteht seither aus zwei Phasen, aus der frühen Kindheit - die bis ungefähr zum 9./10. Lebensjahr verlängert wird - und aus der Schulzeit. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts dauert die Schulzeit etwa zwei Jahre, am Ende des 18. Jahrhunderts vier bis fünf. Bis ins 18. Jahrhundert hinein enthält die Schulzeit keine weitere Altersgliederung. Zwar gibt es ein System von stufenförmig aufeinander aufbauenden Schulklassen, aber die Abfolge orientiert sich nur am Stoff, nicht am Alter; in ein und derselben Klasse kann man 10jährige Schüler neben solchen finden, die bereits 25 Jahre alt sind. Das heißt aber auch: Die Schulzeit schließt nicht unbedingt lückenlos an die frühe Kindheit an. Die weitere Entwicklung der Altersgliederung wird durch drei Faktoren bestimmt. Erstens entsteht seit Ende des 16. Jahrhunderts eine vorbereitende Schulstufe, und zwar dadurch, daß sich mit den petites ecoles eine Art Grundschule entwickelt und sich an den Kollegs eine Unterstufe ausdifferenziert. Diese beiden Schulformen erfassen jetzt die Schüler zwischen fünf, sechs, sieben Jahren einerseits und elf, zwölf Jahren andererseits. Zweitens bildet sich seit Ende des 18. Jahrhunderts, vor allem aber im 19. Jahrhundert am Ende der Schulzeit eine neue Altersstufe heraus, das Jünglingsalter. Dies beruht wesentlich auf dem Militärdienst; eine Vorform dieser Entwicklung sind die Adelsakademien des 16. Jahrhunderts. Und drittens schließlich gibt es seit dem Beginn des 19. Jahrhundert eine Tendenz zur Homogenisierung des Alters der Schulklassen, ausgehend von den oberen Klassen. Dieser Verschulungsprozeß ist selektiv. Er bezieht sich zunächst nur auf die männlichen Kinder; die Mädchen werden erst im 18. Jahrhundert und zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf breiter Basis beschult. Aber auch die Jungen werden nicht vollständig von dieser Dynamik erfaßt. Allerdings folgt die Aufteilung zwischen beschulten und unbeschulten Jungen nicht den Grenzen zwischen den sozialen Klassen. Die Kollegs des 17. und 18. Jahrhunderts sind sozial gemischt. Der Schwerpunkt liegt zwar 198 Aries 1975, S. 458

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beim mittleren Teil der Standeshierarchie, den Familien der Notablen, jedoch kommen die Schüler insgesamt aus adligen und nichtadligen ländlichen und städtischen, bäuerlichen und handwerklichen Familien; ungefähr die Hälfte stammt aus den Unterschichten und dem Kleinbürgertum (die Jesuitenkollegs sind schulgeldfrei). Dasselbe gilt für die petites ecoles. Selbst diejenigen unter diesen Schulen, die ausdrücklich für die Ärmsten gegründet worden waren, werden bald auch von solchen Kindern besucht, die aus bessergestellten Familien stammen. Erst im 18. Jahrhundert entwickelt sich im Bildungssystem eine Tendenz zur Trennung der sozialen Klassen. Die Wortführer dieser Separation sind übrigens die Aufklärer; die meisten von ihnen - wie z. B. Voltaire - protestieren gegen eine Bildung für Bauern und Handwerker. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts gibt es dann eine Zwei-Klassen-Schule, eine fürs Volk und eine für die Bourgeoisie und den Adel. Damit wird die Trennung der Kinder von den Erwachsenen durch eine zweite Trennung ergänzt, die zwischen den sozialen Klassen. Dies hat Rückwirkungen auf die Altersgliederung: Die Herausbildung des Jünglingsalters erfolgt klassenspezifisch, das Jünglingsalter gibt es nur in der Oberschicht - in den Unterschichten treten die Jugendlichen mit dem Ende der Schulzeit unmittelbar in die Arbeitswelt ein und werden damit zu Erwachsenen. Der Gesamtprozeß ist einfach zusammenzufassen: Durch die Schulzeit wird die Kindheit verlängert. Warum dehnt sich die Schulzeit aus? Der entscheidende Grund ist, Aries zufolge, ein Wandel der Mentalitäten. Im Mittelalter gibt es zwar Zuneigung zum Kind - was sich im »Gehätschel« äußert -, aber kein ernsthaftes Interesse für seine Eigenarten; die Besonderheit der Kindheit wird verkannt. Erst in der Neuzeit entwickelt sich ein Interesse für die Spezifik des Kindseins. Diese Entdeckung der Kindheit beruht wiederum auf der Entwicklung des Familienbewußtseins. Seit dem 15. und 16. Jahrhundert bildet sich im Bürgertum ein »Familiensinn« heraus, als Ergänzung des bürgerlichen Klassenbewußtseins und parallel zur Verschlechterung der rechtlichen Stellung der Frau. Im 17. und 18. Jahrhundert bekommt der »Familiensinn« seine heutige Gestalt, im 19. und 20. Jahrhundert dehnt er sich auf die anderen sozialen Klassen aus. In der Familie dreht sich alles um das Wohl und das Fortkommen des Kindes. Die Verlängerung der Kindheit beruht also letztlich auf der Entwicklung des »Familiensinns«. Das neuzeitliche Schulwesen ist ein Versuch, so erklärt Aries, der Spezifik der kindlichen Seele gerecht zu werden.

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Was bedeuten diese Thesen fiir die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen? Angenommen, die Aussagen über das Mittelalter seien haltbar, dann folgt daraus, daß das Mittelalter die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen nicht gekannt hat. Es gibt zwar eine Zweiteilung und die Unterscheidung ist generalisiert - sie gilt fiir beide Geschlechter und fiir alle Klassen -, aber der Einschnitt erfolgt zu einem anderen Zeitpunkt. Er deckt sich mit dem fünften, sechsten oder siebten Lebensjahr und liegt damit genau dort, wo er auch von Freud und Mead angesiedelt wird. Man kann einen Achtjährigen als »Erwachsenen« bezeichnen, aber das Wort hat dann eine andere Bedeutung als in der Rede vom Generationenverhältnis. Außerdem müßte man wissen, ob der mit fünf oder sieben Jahren erworbene Erwachsenenstatus bis ans Ende des Lebens erhalten bleibt; Aries äußert sich hierzu nicht. Es ist nicht klar, ob er das Erwachsensein noch einmal vom Alter unterscheidet, ob er den Ausdruck »erwachsen« also auf eine binäre oder eine ternäre Struktur bezieht. In der Neuzeit verändert sich das timing; es liegt jetzt einige Jahre nach der Pubertät, und das entspricht dem heutigen Gebrauch. Allerdings ist die neue Gliederung zunächst nicht generalisiert, sie gilt nur für die männlichen Mitglieder der Gesellschaft und auch nur für einen Teil dieser Gruppe. Aber es gibt eine Dynamik der Verallgemeinerung, so daß man zumindest in bezug auf die letzten 50 Jahre davon sprechen kann, daß die Zäsur allgemein gültig wird (abgesehen von der Jünglingszeit). Die Kriterien der Datierung im Umkreis des Pubertätsabschlusses und der allgemeinen Gültigkeit sind also erfüllt. Damit bleibt nur noch das Kriterium der Zweiteilung offen - und genau dieser Punkt ist unklar. Dauert das Erwachsensein bis ans Lebensende? Aries schenkt dieser Frage keine Aufmerksamkeit. Die Lebenslaufstruktur nach dem Erreichen des Erwachsenseins bleibt unklar. Problematisch ist aber auch die Gliederung vor diesem Einschnitt. Aries zufolge bildet sich eine verlängerte Kindheit heraus, die insgesamt aus vier Phasen besteht: zuerst die frühe Kindheit, dann zwei Schulstufen - eine untere Stufe (vom 5. bis 7. Lebensjahr bis zum 11. oder 12. Lebensjahr) und eine obere Stufe - und schließlich das Jünglingsalter, das an die Einberufung geknüpft ist. Das theoretische Problem besteht darin, ob es richtig ist, diese vier Phasen zu einer Gesamtphase zusammenzufassen. Das ist für Aries so selbstverständlich, daß er gar nicht erst nach Argumenten sucht. Aber dasselbe Material könnte auch so gedeutet werden, daß sich (für Jungen) ein

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vier- oder fiinfstufiger und für Mädchen ein drei- oder vierstufiger Lebenslauf herausbildet: frühe Kindheit - Schulzeit - (für Jungen: Jünglingszeit) Erwachsenenalter (evtl. für beide Geschlechter: Alter). Auf welcher Ebene liegt die Behauptung, daß die drei oder vier ersten Lebensphasen insgesamt eine einzige Phase bilden, die der Kindheit? Ist sie soziologisch gemeint oder psychologisch oder sozialpsychologisch? Die Argumentation von Aries geht in zwei verschiedene Richtungen, die man mit den Stichworten »Einstellung« und »Einschließung« bezeichnen kann. Erste Möglichkeit: Es handelt sich um eine Mentalitäts- oder Einstellungsfrage. Den Kindern wird in der frühen Kindheit und in der Schulzeit dieselbe Einstellung entgegengebracht. Aber stimmt das? Ist die Tatsache, daß man Kinder in einem bestimmten Alter in die Schule gibt, nicht ein deutlicher Hinweis darauf, daß die Haltung ihnen gegenüber sich verändert - ein gewissermaßen institutionalisierter Einstellungswechsel? Hinzu kommt das Problem der Jünglingszeit, wo die Zäsur besonders massiv ist - schließlich ist der Rekrut derjenige, den man für das Leben der Nation in den Tod schickt. Wenn es hier tatsächlich einen inneren Zusammenhang geben sollte, müßte man dann nicht erklären, wie diese Transformationen möglich sind? Zweite Möglichkeit: Das gemeinsame Merkmal der ersten Lebensphasen ist die Einschließung, die soziale Abkapselung, die Trennung. Das Kind wird zunächst in der Intimität des Familienlebens eingeschlossen und dann der Disziplin der Schule unterworfen. Kindheit im modernen Sinne gibt es deswegen, weil die Kinder eingeschlossen werden. Hierdurch entsteht, neben der Welt der Erwachsenen, eine eigene Welt der Kindheit. (Ich übergehe die Militärzeit.) Versteht man unter »Ökologie«, wie in der ökologischen Psychologie, den Zusammenhang zwischen Verhalten und Raumstruktur, so kann man diese Trennungsthese als eine These über die Ökologie des sozialen Raums bezeichnen. Die Zweiteilung des Lebenslaufs, die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen mit dem Einschnitt irgendwo zwischen dem 15. und dem 20. Lebensjahr, entsteht durch einen ökologischen Vorgang, durch eine Einschließung. Richtig ist sicherlich, daß die Herausbildung der modernen Erziehung einen ökologischen Aspekt hat, sie geht einher mit der Herausbildung von Erziehungsräumen in Familie und Schule (und eine der Leistungen von Aries besteht darin, eine Art ökologischer Sozialisationstheorie entwickelt zu haben). Es ist jedoch leicht zu sehen, daß sich diese Räume er-

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heblich unterscheiden. Die Intimität der Familie folgt nicht denselben Regeln wie das Schulleben mit seiner Disziplin. Schulen sind Organisationen mit geregelten Ein- und Austrittsbedingungen, Familien nicht; Familien werden durch Austritte in ihrer Existenz gefährdet, Organisationen sind auf Austritte eingestellt. Aber dennoch gibt es etwas Gemeinsames. Beide Räume unterliegen einer strengen Regulierung des räumlichen Zuund Abgangs, also, wenn man so will, einer Einschließung. Wenn man akzeptiert, daß die Kindheit durch Einschließung charakterisiert ist, dann kann der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen nur auf zwei möglichen Vorgängen beruhen. Entweder sind die Erwachsenen in andere Räume eingeschlossen als die Kinder, oder Kinder sind eingeschlossen, Erwachsene sind es nicht. Die erste Möglichkeit trifft sicherlich nicht zu; die Darstellung von Aries ist hier irreführend. Die Räume, in die Kinder eingeschlossen werden, sind keine Kinderwelten. Sie sind bevölkert mit Müttern und Vätern, Lehrern und Erziehern, Sozialpädagogen und Sozialarbeitern, Ärzten und Therapeuten, deren Bewegungen ebenfalls strengen Regeln unterworfen sind. Also muß der Ubergang von der Kindheit zum Erwachsenenleben darin bestehen, daß die Mauern fallen. Der Unterschied von Kindern und Erwachsenen beruht demnach auf dem Unterschied von Eingeschlossenen und Nicht-Eingeschlossenen. Ist der Erwachsene der Nichteingeschlossene? Auf die Schulzeit folgt für die meisten Heirat und Beruf. Heirat heißt, daß man eine Familie gründet, also einen Raum, in den die Eltern nicht nur ihre Kinder einschließen, sondern auch sich selbst. »Die Gettoisierung des Kindlichen ist logisch gar nicht ohne ihr Pendant, die Gettoisierung der Erwachsenen, denkbar.«199 Die Lebensweise einer nicht berufstätigen Hausfrau, wie sie sich im 19. Jahrhundert herausbildet, unterscheidet sich, unter ökologischem Aspekt, nicht sonderlich von der eines Kindes. Und der Beruf? Wie will man die Arbeit in Fabriken und Büros anders charakterisieren als durch eine Einschließung? Natürlich gibt es gravierende Unterschiede zwischen Schule und Fabrik oder zwischen Schule und Büro; die Benotung schulischer Leistungen folgt anderen Regeln als die Entlohnung von Arbeit. Aber dennoch gibt es Gemeinsamkeiten, unter anderem die der »Einschließung«, also der Fixierung an einen bestimmten Ort und der Eingangs- und Ausgangskontrollen. Das beruht darauf, daß es sich in beiden Fällen um Organisationen handelt. Diese Organisationen arbeiten nicht nur mit Mitgliedschaftsrollen, son199 Lenzen 1989, S. 850

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dem auch mit jener Parzellierung und Einfriedung des Raums, wie sie von Foucault beschrieben worden ist.200 Unter ökologischem Gesichtspunkt sind die Ähnlichkeiten zwischen Schule und Fabrik bzw. Büro größer als die zwischen Schule und Familie. Für die Schule ist es charakteristisch, daß die Einschließung nicht total ist. Sie ist offen, d.h. man muß sich nur einen Teil des Tages über in ihr aufhalten. Das gilt genauso für Fabrik und Büro. Insofern ist es irreführend, ohne weitere Spezifizierung von einer Einschließung zu sprechen. Man kommt dann in Gefahr, die Schule mit totalen Institutionen wie Kasernen, Gefängnissen, Irrenhäusern und Internaten zu verwechseln. Es ist aufschlußreich, daß sich das Internat - also die völlige Einschließung - gerade nicht durchgesetzt hat. Im Normalfall wechselt das Kind nicht von der Familie ins Internat, sondern von einer einpoligen Sozialisation, die um die Familie zentriert ist, zu einer zweipoligen; es oszilliert dann zwischen Schule und Familie. Mit dem Schuleintritt verdoppelt sich die Einschließung, und eben dadurch entsteht eine Öffnung. Das Schulkind pendelt zwischen zwei geschlossenen Räumen hin und her. Vom Standpunkt der Pädagogen ist der Schulweg voller Gefahren. Im alten Griechenland bezeichnete das Wort »Pädagoge« den Knaben-Ausfuhrer, einen Sklaven, der das Kind zwischen Haus und Schule bzw. zwischen Haus und Sportplatz hin- und herzufuhren hatte, um ihn vor den Gefahren des Schulwegs zu schützen, insbesondere vor erotischen Nachstellungen.201 Wenn man sich am Kriterium der Einschließung orientiert, wird man den Ubergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter also kaum anders darstellen können als durch den Wechsel von einem Einschließungssystem in ein anderes. Die Hausfrau wechselt von der Einschließung in das zweipolige System Herkunftsfamilie - Schule in das einpolige System Zeugungsfamilie. Die berufstätigen Ehepartner wechseln vom zweipoligen System Herkunftsfamilie - Schule in das zweipolige System Zeugungsfamilie Fabrik oder Zeugungsfamilie - Büro. (Im letzteren Fall wiederholt sich, zumindest in der Arbeiterklasse vor der Durchsetzung des Lohnkontos, das Problem des Ubergangs. Der Weg zur Arbeit und von der Arbeit ist voller Gefahren, vor allem in Gestalt des Alkohols; am Zahltag spielt die Hausfrau die Rolle des Pädagogen und holt den Mann - und das Geld am Fabriktor ab.) Mit dem Ende der Schulzeit kommt es also nicht zu

200 Vgl. Foucault 1973 u. 1977 201 Vgl. Piaton, Symposion 183 c

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einem Ende der Einschließung, sondern nur zu einem Wechsel der Einschließungsorte . Aber muß man nicht sagen: In Familie und Schule werden die Individuen zunächst als Kinder eingeschlossen, später als Erwachsene? Damit würde man diejenige Frage als gelöst unterstellen, die beantwortet werde sollte. Aries These lautete ja nicht, daß Kinder im Mittelalter nicht eingeschlossen wurden und daß man sie in der Neuzeit einschließt, sondern daß junge Menschen nach dem sechsten oder siebten Lebensjahr im Mittelalter deswegen keine Kinder mehr waren, weil sie nicht eingeschlossen wurden, und daß sie in der Neuzeit eingeschlossen werden, wodurch der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen (im heutigen Sinne des Wortes) entstanden sein soll Ich sehe also nicht, wie sich vom Gesichtspunkt Einschließung aus die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen theoretisch rekonstruieren ließe. Unter diesem Aspekt kann man die Normalbiographie als wechselnde Kombination von Formen des Einschlusses beschreiben, aber man kommt nicht zu einer Zweiteilung. Auf der Grundlage von Aries1 historischen Analysen läßt sich die Frage, ob der Lebenslauf seit dem Absolutismus aus zwei Hauptphasen besteht, nicht beantworten: Aries gibt keine Auskunft über die vollständige Gliederung des Lebenslaufs, vor allem nicht über das höhere Alter; und er liefert kein Kriterium dafür, warum er bestimmte Lebensphasen zur Kindheit zusammenfaßt und andere nicht. Auffällig an den historisierenden Positionen - der Historisierung des Erwachsenseins und der des Kindseins - ist ihre Komplementarität. Historisiert wird jeweils nur eines der beiden Elemente der Relation. Für die einen ist die Kindheit eine überhistorische Konstante, für die anderen das Erwachsensein. Aber was ist unter Kindheit zu verstehen, wenn sie nicht mehr in Opposition zum Erwachsensein steht? Und was unter Erwachsenen, die sich nicht mehr durch den Gegensatz zu Kindern definieren?

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3-3 Universalistische Konzeptionen Die universalistischen Erklärungen stützen sich auf unterschiedliche Fachdisziplinen. Auf diese Weise erhält man biologische, soziologische und psychologische Rekonstruktionsversuche der Kind-Erwachsenen-Differenz.

Wessen Fruchtbarkeit? Falls die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen universal ist, dann ist sie, so könnte man es in der Sprache der philosophischen Tradition formulieren, kein Produkt der Kultur, sondern der Natur. Die biologische Erklärung scheint die nächstliegende zu sein. Ein prominenter Rekonstruktionsversuch dieser Art stammt von der amerikanischen Kulturanthropologin Ruth Benedict. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1938 behauptet sie, es sei »eine Naturtatsache [...], daß aus dem Kind ein Erwachsener wird«202 . Ihrer Auffassung nach liegt den unterschiedlichen soziokulturellen Definitionen von Wachstum und Altern eine gleichbleibende biologische Zweiphasigkeit zugrunde. Für diese These liefert sie gleich zwei Begründungen, ein Schwächeargument und ein Fortpflanzungsargument. Das Schwächeargument lautet: »Die Natur hat die Situation dramatisch dargestellt: auf der einen Seite das Neugeborene, das physiologisch verwundbar ist und unfähig, sich selbst zu wehren oder aus eigener Initiative am Leben der Gruppe teilzunehmen, und auf der anderen Seite der erwachsene Mann oder die erwachsene Frau. [...] Zuerst ist er [der Mensch] für seine eigene nackte Existenz auf andere angewiesen, später muß er anderen eine solche Sicherheit bieten.«203 Mit keinem dieser Argumente läßt sich die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen rekonstruieren. In allen Lebensaltern sind Menschen physiologisch verwundbar; bereits Zweijährige sind, wie man auf jedem Spielplatz beobachten kann, in der Lage, sich selbst zu wehren und aus eigener Initiative am Leben einer Gruppe teilzunehmen; außer auf Robinsons Insel bleiben Menschen ihr ganzes Leben lang zur Existenzsicherung auf andere angewiesen; Beiträge zur allgemeinen Existenzsiche202 Benedict 1978, S. 195 203 Ebd.

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rung können bereits sehr junge Menschen leisten - das Herausziehen von Kindern aus dem Arbeitsprozeß ist ein Ergebnis der allgemeinen Schulpflicht (worauf die Autorin übrigens selbst hinweist).204 Die zweite Begründung bezieht sich auf die Sexualität. Zwar seien auch Kinder schon sexuelle Wesen. »Der große Bruch besteht aber zwischen den durchgängig folgenlosen Vereinigungen vor der Pubertät und den mit großer Wahrscheinlichkeit fruchtbaren nach der Reife. Diese physiologische Tatsache kann keine auch noch so große kulturelle Manipulation minimieren oder ändern«205 . Demnach beruht der Unterschied zwischen Heranwachsenden und Erwachsenen auf dem Phänomen der Fruchtbarkeit; die Heranwachsenden sind die Noch-nicht-Fruchtbaren, die Erwachsenen sind die Fruchtbaren. Dasselbe Kriterium also, mit dem Charlotte Bühler zu einer Dreiteilung kommt206 , liefert bei Benedict das Argument für die Zweigliedrigkeit. Nimmt man die Zeugungs- und Gebärfähigkeit zum Kriterium der Phasenbildung, hat der weibliche Lebenslauf zwei Zäsuren: Pubertät und Klimakterium. Also zerfällt ihr Leben in drei Phasen: die Zeit vor dem Erreichen der Gebärfähigkeit, die Zeit der Gebärfähigkeit und die Zeit danach. Nur beim Mann kommt man - vermutlich - zu einer Zweigliederung. Bühler löst die biologische Geschlechtsdifferenz nach der Seite der Frau hin auf, Benedict privilegiert die Seite des Mannes. Benedicts Fortpflanzungsargument scheitert am Kriterium der Allgemeingültigkeit.

204 Ähnlich argumentiert Lenzen: »Der Ernst des Erwachsenenlebens bestand ursprünglich darin, die existentielle Bedrohung durch Hunger, Kälte und Krankheit selbst überwinden zu müssen, im Gegensatz zum Kind, das dieses durch andere erfährt.« (Lenzen 1985, S. 234) Auch hier erscheint der Erwachsene als ungesellschaftliches Wesen. Nur in den seltensten Fällen wird die Bedrohung durch Hunger, Kälte und Krankheit durch das bedrohte Individuum allein abgewehrt, fast immer gibt es die Mithilfe anderer. Der »Ernst des Erwachsenenlebens« kann also allenfalls darin bestanden haben, daß man teilnehmen mußte an der Überwindung der existentiellen Bedrohung durch Hunger, Kälte und Krankheit. Aber Teilhabe an ökonomischer Reproduktion gibt es, wie Lenzen selbst bemerkt, auch schon bei sehr kleinen Kindern. 205 Benedict 1978, S. 201 206 Siehe oben S. 27 ff.

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Planung und Ausführung Eine andere biologische Rekonstruktion findet man bei Charlotte Bühler, in ihrer bereits erwähnten Studie »Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem«. Bühler liefert nicht nur die bereits referierten Argumente für eine Dreiteilung des Lebenslaufs207 ; sie hält zugleich ein Plädoyer für die Zweiteilung. Sie sieht zwei unterschiedliche Rhythmen am Werk - ein Zweiertakt und ein Dreiertakt gewissermaßen -, zwei Gliederungsstrukturen, die sich überlagern. Ausgangspunkt ist eine Forderung zur Methode: Man darf die Phaseneinteilung, so erklärt Bühler, nicht dem Alltagswissen entnehmen; die Gliederung muß vielmehr theoretisch konstruiert werden. Sie löst dieses Programm dadurch ein, daß sie sich auf biologische Prinzipien beruft. Oben habe ich die Konzeption referiert, die auf dem Prinzip von Wachstum, Stagnation und Abbau beruht und zu einer Dreigliederung führt. Bühler stützt sich auf zwei weitere Prinzipien, auf das System der primären Zielsetzungen und auf die Unterscheidung von Planung und Ausführung; auf diesem Wege kommt sie zu einer Zweigliederung. Ausgangspunkt des Systems der primären Zielsetzungen ist eine Definition des Lebens: Lebewesen zeichnen sich dadurch aus, daß sie Ziele verfolgen. Diese Ziele werden klassifiziert; ähnlich wie Parsons behauptet Bühler, daß es genau vier primäre Zielsetzungen gibt: Entspannung, Anpassung, Ordnung und Expansion. Von hieraus kommt die Autorin zunächst zu einer fiinfgliedrigen Phaseneinteilung: 1. Säuglingsalter: Entspannung 2. Kindheit: Anpassung 3. Jugend: Expansion 4. Klimakterisches Alter: Ordnung 5. Hohes Alter: Entspannung Nun werden diese fünf Phasen jedoch nicht einmal durchlaufen, so erklärt Bühler, sondern zweimal. Der erste Durchlauf ist schnell, der zweite langsam. Der schnellere Durchlauf kommt um die Pubertät herum zu einem Abschluß. Also läßt die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen sich rekonstruieren als Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Durchlauf der vier primären Zielsetzungen.

207 Siehe oben S. 27 f.

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Auch für die Doppelung der Durchläufe beruft Bühler sich auf ein biologisches Prinzip, auf das Verhältnis von Planung und Ausführung. »Kindheit und Jugend als Ganzes gesehen ist eine Vorwegnahme und ein provisorischer Aufriß des Lebens, dem das fernere Leben als die definitive Ausführung folgt, unter Einbeziehung des Entwurfs als seiner Exposition.«208 Das Verhältnis von Planung und Ausführung ist ihrer Meinung nach eine allgemeine Gesetzmäßigkeit des Lebens. Schon das Verhalten der primitivsten Lebewesen lasse sich so beschreiben, »daß sie ununterbrochene Versuchsbewegungen machen, die dann, wenn sie auf Nahrung oder Hindernis stoßen, erst den Charakter definitiver Reaktionen annehmen, woraus sich dann die Einverleibung der Nahrung oder die Erledigung des Hindernisses ergibt. Aktives Vordringen also in die Welt, erst tentativ und provisorisch, dann definitiv und spezifisch bis zur Herstellung bestimmter Ergebnisse ist Methode und Ablauf des Lebens.«209 Bühler rekonstruiert die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen demnach als Unterschied zwischen dem Planungsalter und dem Ausführungsalter. Sie stützt sich hierbei auf eine kühne biologischen Spekulation, der, soweit ich sehe, kaum jemand gefolgt ist und der auch ich mich nicht anschließen kann.

Halbe Vollmitgliedschaft In der heutigen Diskussion über Sozialisation und Lebenslauf spielen die biologischen Verweise auf Schwäche und Stärke, auf Fortpflanzungsunfähigkeit und Fortpflanzungsfähigkeit oder auf Planung und Ausführung kaum eine Rolle. Wenn Hans Jonas sich in seinem »Prinzip Verantwortung« für die Beschreibung der Differenz von Heranwachsenden und Erwachsenen auf biologische Tatsachen beruft, so ist das die Ausnahme.210 Die gängigen universalistischen Erklärungen sind soziologischer oder psychologischer Art; die Universalität der Unterscheidung wird nicht genetisch rekonstruiert, sondern funktionell. 208 Bühler 1959, S. 170 209 Ebd.- Bühler beruft sich für diese biologische Spekulation auf Jennings 1906. Man findet die Vorstellung, das Wesen der Jugend bestehe in der Antizipation, aber auch bei Dilthey, vgl. das Zitat aus dem 1884 geschriebenen und 1924 erstmals veröffentlichten Berliner Entwurf zu den »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie« in: Dilthey 1924, Vorbericht des Herausgebers, S. CVIII. 210 Vgl. in Jonas 1984 den Abschnitt »Das Ziel der Aufzucht: Erwachsensein«

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Rollentheoretisch wird die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen damit begründet, daß der Erwerb einer Berufsrolle und die Gründung einer eigenen Familie eine entscheidende Zäsur darstellen. Nun fuhrt dieses Kriterium, wie bereits dargestellt, nicht zu einer Zweiteilung, sondern zu einer Dreiteilung; außerdem wirft diese Lösung eine Reihe von Fragen auf, Fragen zur Rollenbündelung, zur Rollengewichtung und zur Rollenäquivalenz.211 Zu einer Zweiteilung kommt man mit dem rollentheoretischen Ansatz nur unter zwei Bedingungen: erstens muß man behaupten, daß es sich bei den verschiedenen Statusübergängen - wie Übernahme einer Berufsrolle, Heirat und Ende des Schulbesuchs - um Aspekte ein- und desselben Vorgangs handelt. Und zweitens muß man die Auffassung vertreten, daß durch die solchermaßen koordinierten Prozesse ein irreversibler Statuswechsel vollzogen wird. Die Hauptform, in der man dieser Strategie begegnet, ist das Argument von der vollständigen Integration. Ein Individuum, so heißt es, werde durch eine Reihe von Prozessen »endgültig in die Gesellschaft integriert«212. Die Unterscheidung von Heranwachsenden und Erwachsenen läßt sich soziologisch dann folgendermaßen rekonstruieren: Der Lebenslauf besteht eben deshalb aus zwei Hauptabschnitten, weil die Individuen zunächst unvollständig in die Gesellschaft integriert sind und es erst mit dem Abschluß der Pubertät zur vollständigen Integration in die Gesellschaft kommt. Diese Erklärung arbeitet implizit mit der Topik von Innen und Außen. Kinder stehen teilweise außerhalb der Gesellschaft und teilweise innerhalb; Erwachsene sind vollständig im Inneren der Gesellschaft anzusiedeln. Heißt das, daß Erwachsene ohne Rest in der Gesellschaft aufgehen? Und ist gemeint, daß Kinder noch nicht eigentlich zur Gesellschaft gehören? Aber wohin gehören sie dann? Zur Familie? Ist die Familie kein Teil der Gesellschaft? Was also ist gemeint mit der Unterscheidung zwischen vollständiger und unvollständiger Sozialintegration? Noch immer findet man die ausfuhrlichste Antwort auf diese Frage in der 1956 erschienen Untersuchung »Von Generation zu Generation« von Shmuel N. Eisenstadt. Es handelt sich um eine klassische Arbeit der strukturell-funktionalen Soziologie und zugleich um die erste systematische soziologische Analyse der Altersproblematik. Die Passage lautet: »Es gibt [...] im Leben eines Individuums einen zentralen Punkt, der in den meisten bekannten Gesellschaften in gewissem Grade hervorgehoben 211 Siehe oben S. 29 ff. 212 Döbert/Nunner-Winkler 1982, S. 42

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wird, nämlich der Erwerb des vollen Erwachsenenstatus (füll adult status) oder der vollen Mitgliedschaft im Sozialsystem. In allen Gesellschaften gibt es - mehr oder weniger formalisiert - eine Definition des Erwachsenem (>adult man des Vollmitgliedes der Gesellschaft, und des Zeitpunktes, an dem das Individuum die ganze Ausstattung eines vollen Status annehmen und in die ersten Stufen des Erwachsenenalters (adult age span) eintreten darf. Dieses Eintreten fällt gewöhnlich - und anscheinend notwendigerweise - mit der Ubergangsperiode von der Orientierungsfamilie zur Zeugungsfamilie zusammen, und zwar deswegen, weil dieser Ubergang den endgültigen Wechsel der Altersrollen bewirkt, vom Empfänger zum Ubermittler kultureller Tradition, vom Kind zum Elternteil. Eines der Hauptkriterien des Erwachsenseins wird als legitime sexuelle Reife definiert, d.h. als das Recht, eine Familie zu gründen (establish) - im Unterschied zu dem Recht auf sexuellen Verkehr.«213 Eisenstadts These läßt sich folgendermaßen systematisieren214: Hauptthese: (a) Der Status des Vollerwachsenen ist nichts anderes als der Status der vollen Mitgliedschaft im Sozialsystem, (b) Den Status der vollen Mitgliedschaft im Sozialsystem gibt es in allen Gesellschaften, (c) Dieser Status ist allen Individuen zugänglich. Dies wird mit folgenden Einzelthesen begründet: (1) In allen Gesellschaften ist im Lebenslauf jedes Individuums der Übergang zur Vollmitgliedschaft vorgesehen. (Eisenstadt spricht nicht vom Leben »jedes Individuums«, sondern vom Leben »eines Individuums«, aber das ist offenbar generalisierend gemeint.) (2) In allen Gesellschaften gibt es im Leben jedes Individuums eine entscheidende biographische Zäsur: den Erwerb des Rechts, eine Familie zu gründen. (3) Dieses Recht ist eines der Hauptkriterien für den Status des Vollmitglieds. (4) Mit dem Erwerb der Vollmitgliedschaft darf das Individuum in die ersten Stufen des Erwachsenenalters eintreten. 213 Eisenstadt 1966, S. 23 (Übersetzung geändert nach Eisenstadt 1956, S. 30) 214 Eisenstadt unterstellt, daß der Eintritt in die Zeugungsfamilie die Trennung von der Orientierungsfamilie bedeutet, was jedoch nicht immer der Fall ist. Man denke an komplexe Familien patriarchalischen Typs, bei denen die Söhne oftmals noch zu Lebzeiten des Vaters heiraten dürfen, aber auch nach der Eheschließung weiterhin zu dessen Haushalt gehören und unter seinem Kommando stehen. Ich lasse das im folgenden außer acht.

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(5) Mit dem Erwerb der Vollmitgliedschaft vollzieht ein Individuum den endgültigen Wechsel von einem Rollenhaushalt, in dem es primär Empfänger kultureller Traditionen ist, zu einem Rollenhaushalt, in dem es endgültig ihr Übermittler ist. Die erste Einzelthese ist sicherlich falsch. Bekanntlich gibt es in vielen Gesellschaften Individuen mit minderem Rechtsstatus. Der Erwachsenenstatus, als Vollmitgliedschaft verstanden, ist nicht generalisiert, d.h. er gilt nicht immer für alle. These 1 müßte also folgendermaßen umformuliert werden: »In allen Gesellschaften ist im Lebenslauf der meisten Individuen ein Übergang zur Vollmitgliedschaft vorgesehen.« Aber auch das wäre unhaltbar. In vielen Gesellschaften haben Frauen einen minderen Rechtsstatus. Im alten Athen beispielsweise war der Zugang zu den demokratischen Institutionen Privileg einer Minderheit; Frauen, Sklaven, Metöken waren hiervon ausgeschlossen. Man wird also noch weiter einschränken müssen. These 1 lautet dann: »In allen Gesellschaften ist im Lebenslauf einiger Individuen ein Übergang zur Vollmitgliedschaft vorgesehen.« Damit wird aber zugleich der Allgemeingültigkeitsanspruch der Hauptthese zurückgenommen. Teil (b) der Hauptthese kann jetzt nur noch heißen: »Dieser Status ist zumindest einigen Gesellschaftsmitgliedern zugänglich.« Aber selbst diese Formulierung würde noch zu Schwierigkeiten führen, beispielsweise wenn man versuchen würde, sie auf die Stadtverfassung des späten Mittelalters zu beziehen. »Vollbürger« sind hier in der Regel sämtliche Zunftmitglieder, es handelt sich bei ihnen um die »Hausväter« - vielleicht ein Viertel der Bevölkerung -, die das Kommando über ihre »Angehörigen« haben. Daneben gibt es weitere Einwohner, die unter dem Schutz der städtischen Herrschaft stehen, aber keine politischen Rechte haben, die »Schirmverwandten«. Hier gibt es also eine klare Unterscheidung zwischen Vollmitgliedern - ausgezeichnet durch politische Rechte - und Stadtbewohnern minderen Rechts: Angehörige und Schirmverwandte. Nun gibt es aber neben den Vollbürgern noch den städtischen Adel, das Patriziat. Die Patrizier haben den Zugang zur städtischen Selbstverwaltung okkupiert. Kann man also sagen, daß die Vollbürger tatsächlich die volle Bürgerschaft haben? Die Rede von der »vollen Mitgliedschaft« suggeriert eine Vollständigkeit, eine Fülle, die in allen Gesellschaften, die auf Privilegien basieren, nicht gegeben sind. Es gibt hier eine Unzahl von Sonderrechten, ohne daß irgend jemand alle diese Rechte zugleich besäße.

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Auch bei der Unterthese 2 muß der Allgemeingültigkeitsanspruch eingeschränkt werden. In vielen Gesellschaften ist die Heiratsberechtigung ein Privileg, beispielsweise standen im alten Griechenland die Sklaven unter einem Eheverbot. Die These lautet dann: »In allen Gesellschaften gibt es im Leben der meisten Individuen eine entscheidende biographische Zäsur: den Erwerb des Rechts, eine Familie zu gründen.« Aber auch in dieser Form ist die These nicht haltbar. Sie suggeriert, die Familiengründung sei immer der individuelle Akt der heiratenden Individuen. Bekanntlich werden Familien in den meisten Gesellschaften jedoch nicht von den Eheleuten gegründet, sondern von den Familienoberhäuptern oder den Verwandtschaftsgruppen. Die These müßte also heißen: »In allen Gesellschaften gibt es im Leben der meisten Individuen eine entscheidende biographische Zäsur: den Erwerb des Rechts, zu heiraten bzw. verheiratet zu werden.« Die dritte Unterthese enthält das Kernargument - mit einer bezeichnenden Unklarheit. Ist die legitime Heiratsfähigkeit ein hinreichendes Kriterium für den Erwachsenenstatus? Falls ja, würde hieraus ein weiteres Mal folgen, daß der Allgemeingültigkeitsanspruch der Hauptthese zurückgewiesen werden muß. Da nur einige Mitglieder das Recht auf Heirat haben, haben auch nur einige Mitglieder den Zugang zum Status des Vollmitglieds. Nicht alle Mitglieder werden erwachsen. Außerdem gibt es bekanntlich Gesellschaften, deren Mitglieder bereits vor der Geschlechtsreife verehelicht werden, also mit abweichender Datierung des Einschnitts. Ich bezweifle jedoch, daß man Vollmitgliedschaft wirklich an Heiratsberechtigung binden kann. Es gibt Heiratsberechtigte, die man kaum als Vollmitglieder bezeichnen würde, und es gibt solche, die nicht zur Heirat berechtigt sind, denen man aber den Status eines Vollmitglieds - wenn man ihn schon vergibt - kaum absprechen würde. Im alten Athen durften freigeborene Frauen heiraten (richtiger: sie wurden verheiratet), aber sicherlich waren sie keine Vollmitglieder der Polis. Dasselbe gilt für die mittelalterlichen Städte. Die Frau eines Zunftmitglieds ist gewöhnlich nicht Vollbürgerin. Neben Frauen können auch Kategorien von Unterprivilegierten heiratsfähig sein: Kinder und Sklaven. Falls Heiratsfähigkeit kein hinreichendes Kriterium für Vollmitgliedschaft ist, ist sie dann zumindest ein notwendiges Kriterium? Man denke an die Stellung der Geistlichen in der europäischen Feudalgesellschaft. Sie unterlagen einem Heiratsverbot, dennoch hatten sie eine gesellschaftliche Schlüsselstellung. Ist ein Bischof, weil er dem Zölibat unterliegt, deswegen kein »Vollmitglied« der Gesell-

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schaft? Ich meine also, die Heiratsberechtigung ist kein sinnvolles Kriterium für Vollmitgliedschaft; es gibt Heiratsberechtigte, die keine Vollmitglieder sind, und es gibt Vollmitglieder, die nicht heiratsberechtigt sind. Die Vorstellung, daß alle Mitglieder einer Gesellschaft die Möglichkeit haben sollten, eine Ehe zu schließen, ist ein Ideal des 18. Jahrhunderts. Die Unterthese 4 steht in einem Spannungsverhältnis zur Hauptthese. Behauptet wird, daß es mehrere Stufen des Erwachsenenalters gilt. Also ist mit dem Ubergang zum Erwachsenenstatus keineswegs »die ganze Ausstattung eines vollen Status« erreicht, sondern erst die halbe Vollmitgliedschaft? Dann verliert der Lebenslauf jedoch seine duale Struktur. In vielen Gesellschaften gibt es Privilegien für Alte - müßte man nicht sagen, daß erst sie die Vollmitgliedschaft erreicht haben? Dann ergäbe sich eine andere Datierung, die Zweiteilung wäre erst mit dem Übergang in die Gruppe der Alten anzusetzen. These 5 kann doppelt gelesen werden. Erste Möglichkeit: Dadurch, daß man zum Wissensübermittler wird, wird man zugleich zum Vollmitglied. Zweite Möglichkeit: Dadurch, daß man zum Vollmitglied wird, wird man zum Wissensübermittler. Die erste Lesart ist vermutlich nicht gemeint; ganz sicher ist sie falsch. Im alten Rom waren griechische Sklaven als Lehrer äußerst beliebt. Aber auch die zweite Lesart ist schwer zu verteidigen. Hiernach wäre ein Ehepaar, das gemeinsam einen Laden betreibt, aber keine Kinder hat, kein Vollmitglied, denn es agiert weder im Beruf noch in der Familie als Wissensübermittler. Da die Unterthesen nicht haltbar sind, gerät auch die Hauptthese ins Wanken. Eisenstadt behauptet, daß das Statussystem immer eine duale Struktur hat, so daß sich Vollmitglieder von Nicht-Vollmitgliedern unterscheiden lassen. Dieser Versuch scheitert an drei Einwänden. Erstens gibt es Statushierarchien, die sich nicht in ein duales Schema bringen lassen (z. B. Schirmverwandte - Vollbürger - Patrizier). Zweitens gibt es Lebenslaufstrukturen, die nicht binär strukturiert sind (z. B. besondere Rolle des Alters). Drittens ist Eisenstadts Hauptkriterium, die legitime Heiratsfähigkeit, weder notwendigerweise mit Vollmitgliedschaft verknüpft - wie immer man Vollmitgliedschaft definiert - noch ist Vollmitgliedschaft notwendigerweise mit Heiratsfähigkeit verbunden (Heiratsfähigkeit von Kindern, Sklaven und unterprivilegierten Frauen; Eheverbot für den Klerus und andere Gruppen). Also mißlingt der Versuch, die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen mit Hilfe von Eisenstadts Konzept der Vollmitgliedschaft zu

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begründen. Er scheitert unter den Gesichtspunkten der Allgemeingültigkeit, der Dualisierung und der Datierung. Das Recht zu heiraten, wird nur selten allen Mitgliedern einer Gesellschaft zugestanden. Die Möglichkeit einer stufenweise Verbesserung des Erwachsenenstatus fuhrt zur Auflösung der dualistischen Konzeption. Und die Datierung unterliegt einer starken Schwankung - in manchen Gesellschaften wird man bereits kurz nach der Geburt verheiratet, in anderen erst in fortgeschrittenem Alter. Was bringt Eisenstadt dazu, die Unterscheidung von unvollständiger und vollständiger Sozialintegration so plausibel zu finden? Das ist sicherlich zum einen die Projektion moderner Rechtszustände - allgemeine Heiratsberechtigung - auf den Rest der Menschheit. Es gibt aber vielleicht noch ein anderes Motiv. Zwei Sätze nach der oben zitierten Passage schreibt der Autor: »Bei den verschiedenen Zeremonien, die zu diesem Zeitpunkt [des Erwerbs des vollen Erwachsenenstatus] veranstaltet werden - Ubergangsriten unterschiedlicher Art - wird die Interaktion zwischen den Altersstufen und Generationen durch viele Symbole oder Riten intensiviert.«215 Er spricht von der »dramatisierten Begegnung zwischen den verschiedenen Generationen«, wobei die »Mitglieder verschiedener Generationen zusammenwirken: die einen als Lehrer, die anderen als >Schülerfürs Leben< führen«225 . Ich will versuchen, solche Voreingenommenheiten aus dem Spiel zu lassen, und beschränke mich auf den Schlüsselbegriff, den der Ich-Identität. Läßt sich auf diesem Weg die Kind-Erwachsenen-Differenz rekonstruieren? Mit dem Begriff der Ich-Identität versucht Erikson, eine Erklärung sowohl für die Synchronisierung als auch die Dualisierung der psychischen Entwicklung zu liefern.226 »Ich-Identität« bezieht sich auf die Einheitlich-

222 Erikson 1979, S. 152 223 Vgl. den Literaturüberblick in Griese 1977, S. 66-68.- Außerdem ist die mangelnde empirische Fundierung immer wieder bemängelt worden. 224 Erikson 1979, S. 135 f. 225 Erikson 1979, S. 137 226 Zum Synchronisierungsproblem siehe oben S. 38

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keit des Psychischen; und diese Einheitlichkeit erreicht genau mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter ihren Höhepunkt. Der Lebenslauf eines Menschen umfaßt Erikson zufolge insgesamt acht aufeinander aufbauende Stufen. Die entscheidende ist Nummer fünf, die Adoleszenz; sie erstreckt sich zwischen dem 13./14. und dem 18. Lebensjahr. Auf sie folgt das frühe Erwachsenenalter, dann das Erwachsenenalter und schließlich das reife Erwachsenenalter.227 Da die Adoleszenz eine Schlüsselstellung hat, ergibt sich eine Zweiteilung in Nicht-Erwachsene und Erwachsene. Der Erwachsene wird von Erikson definiert als ein Individuum, das am Ende der fünften Phase die Adoleszenzkrise durch Ausbildung von Ich-Identität erfolgreich überwunden hat. Allerdings gibt es hier eine Unschärfe in bezug auf die Datierung. An einigen Stellen präsentiert Erikson die Adoleszenz als erste Stufe des Erwachsenseins, was 4 + 4 Stufen ergibt228 , an anderen definiert er Adoleszenz als letzte Stufe der Kindheit, was zu 5 + 3 Stufen führt.229 Was ist Ich-Identität? Erikson bildet den Begriff ausgehend vom Problem heterogener Identifizierungen. Die Lebensgeschichte eines Individuums stellt sich bei ihm dar als eine Abfolge von Identifizierungen, und diese Identifizierungen können einander widersprechen. Von daher ergibt sich eine Synthetisierungsaufgabe; die Identifizierungen müssen vereinheitlicht werden. Diejenige Instanz, welche die Synthese herstellt, ist Erikson zufolge das Ich, deshalb der Terminus »Ich-Identität«. »Ich-Identität« meint also die durch das Ich hergestellte Einheit verschiedener Identifikationen. Allerdings geht es ihm nicht so sehr um die wirkliche Fähigkeit, Synthesen hervorzubringen, als vielmehr um ein »Gefühl«, um Selbstwahrnehmung. Wenn man Ich-Identität besitzt, dann heißt das, wie Erikson schreibt, daß der Synthetisierungsfähigkeit, die einem zugeschrieben wird, das »Gefühl« entspricht, solche Synthetisierungsfähigkeit tatsächlich zu besitzen. Ich-Identität ist nicht eine Fähigkeit, sondern das Vertrauen auf die eigene Einheitlichkeit und Kontinuität. Die naheliegende Möglichkeit, daß sich das Subjekt und seine Umwelt über die Synthetisie-

227 Das »frühe Erwachsenenalter« dauert ungefähr vom 18. bis zum 20. Lebensjahr. Die meisten Soziologen bezeichnen diese Phase heute als »Postadoleszenz«, gegenüber Erikson wird der Haupteinschnitt also nach hinten verschoben. 228 Vgl. das Schema in Erikson 1979, S. 214 f. 229 Vgl. ebd., S. 136

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rungsfähigkeit des Subjekts täuschen, wird von Erikson merkwürdigerweise nicht in Erwägung gezogen. Von Erikson her müßte sich die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen also folgendermaßen rekonstruieren lassen: Kinder sind diejenigen, die keine Ich-Identität haben, Erwachsene verfugen über Ich-Identität. Wenn Erwachsene sich durch Ich-Identität auszeichnen (und Erikson ist dieser Auffassung), und wenn Ich-Identität in der Synthetisierung psychischer Strukturen und sozialer Bezüge besteht, dann müßten NichtErwachsene in einer nicht-synthetisierten Welt leben. Diese These wird man bei Erikson jedoch nicht finden. Das liegt daran, daß Eriksons Begriff der Ich-Identität zwei einander ausschließende Bedeutungen hat. Ich-Identität ist einerseits die dauerhafte Errungenschaft einer bestimmten Lebensphase, der Adoleszenz und der mit ihr verbundenen Krise. Zugleich jedoch erklärt Erikson, auf jeder der acht Entwicklungsstufen bestehe das Grundproblem darin, die verschiedenen Entwicklungsaspekte zu synthetisieren und auf diese Weise Ich-Identität zu gewinnen. Ich-Identität ist also erstens ein Ereignis der Individualgeschichte - eine phasenspezifische Errungenschaft, durch welche der Lebenslauf eine duale Struktur bekommt. Ich-Identität ist aber zugleich eine Dauerstruktur, eine Leistung, die auf jeder Stufe erbracht werden muß, also auch schon von Kleinkindern. Eriksons gesamte Theorie gründet sich auf diese Bedeutungsambivalenz. Die entscheidende Passage lautet folgendermaßen: »Das Gefühl der IchIdentität ist also das angesammelte Vertrauen darauf, daß der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität (also das Ich im Sinne der Psychologie) aufrechtzuerhalten.«230 Man könnte diesen Satz so verstehen, als ginge es hier um Ich-Identität als Merkmal einer bestimmten Lebensphase. Aber das ist falsch, wie der folgende Satz zeigt: »Dieses Selbstgefühl, das am Ende jeder der Hauptkrisen erneut bestätigt sein muß, wächst sich schließlich zu der Uberzeugung aus, daß man auf eine erreichbare Zukunft zuschreitet, daß man sich zu einer bestimmtem Persönlichkeit innerhalb einer nunmehr verstandenen sozialen Wirklichkeit entwickelt.«231 Das Gefühl der Ich-Identität stellt sich in jeder der Hauptkrisen her, das heißt in jeder Lebensphase. Ich-Identität ist also kein unterscheidendes Merkmal einer bestimmten Lebensphase, sondern ein Ge230 Ebd., S. 107 231 Ebd.

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fühl, das in jeder Lebensphase zutage tritt, wenn man deren spezifische Krise positiv bewältigt. Damit zerrinnt die Möglichkeit, die Biographien in zwei große Abschnitte zu teilen. Auch diejenigen Phasen, die vor der Erwerbung von Ich-Identität liegen, können im Rahmen von Eriksons Theorie nur durch die Erwerbung von Ich-Identität charakterisiert werden. Um Ich-Identität zu erlangen, muß man Ich-Identität bereits besessen haben.232 Der Unterschied zwischen Ich-Identität als Dauerleistung und Ich-Identität als Merkmal des Erwachsenseins verdampft, er wird zur unwägbaren Differenz zwischen einem bloßen »Gefühl« und einer sicheren »Uberzeugung«. Aber selbst diese vage Unterscheidung verflüchtigt sich, da die Entwicklung mit dem Erreichen des Erwachsenenalters ja nicht abgeschlossen ist. Was kann das anderes heißen, als daß die Uberzeugung, synthetisierungsfähig zu sein, auch später noch wachsen wird? Diese Zweideutigkeit läßt sich genauer beschreiben, wenn man Erikson mit den Augen von Piaget liest. Der strukturelle Begriff von Ich-Identität - Ich-Identität als eine Art Synthetisierungsvertrauen, das sich, im günstigen Fall, am Ende jeder Stufe einstellt - liegt auf derselben Ebene wie Piagets Begriff der psychischen Struktur. Die grundlegende Struktur des Psychischen bleibt in Eriksons Konzeption das ganze Leben über unverändert. Was sich ändert, sind die kulturellen Anforderungen, die »Entwicklungsaufgaben«, wie Havighurst sie in Anlehnung an Erikson genannt hat. 1233 Eriksons »Stufen« sind Ausdehnungen ein und derselben psychischen Struktur auf neue Bereiche, also das, was von Piaget als decalage bezeichnet wird, als horizontale Verschiebung. Piagets Stufen sind zunehmend angemessenere Realisierungen ein und derselben Funktion (beispielsweise des logischen Begründens) durch unterschiedliche Strukturen; Eriksons Stufen sind die Anwendung ein und derselben Struktur auf immer neue Funktionen. Mit Kohlberg kann man Eriksons Stufen deshalb 232 Pieper versucht, soziales Erwachsensein durch das Merkmal der Verhaltensstabilität bzw. des commitment zu definieren (vgl. Pieper 1978, S. 114 ff.). Das liegt nahe bei Eriksons Begriff der Ich-Identität. Mit Verhaltensstabilität meint Pieper sowohl Kohärenz als auch Konstanz des Verhaltens, für ihn sind Einheitlichkeit und Stabilität synonym. Stufenmodelle wie die von Piaget und Erikson versuchen nun aber gerade zu zeigen, daß Kohärenz auch ohne Konstanz möglich ist. Die Struktur kann sich verändern und dennoch einheitlich bleiben. 233 Vgl. Havighurst 1967.- Havighurst bezieht »Entwicklungsaufgaben« nicht nur auf kulturelle Normen, sondern auch auf individuelle Wertsetzungen und körperliche Veränderungen.

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als funktionale Stufen bezeichnen, im Unterschied zu den strukturellen Stufen von Piaget. Insofern lassen sich Eriksons konformistische Vorurteile wohl doch nicht ausklammern. Die Zweiteilung der Lebensläufe beruht bei ihm letztlich nicht auf dem Erwerb von Ich-Identität, sondern auf der Vorstellung, daß man mit dem Abschluß der Adoleszenz einen festen Platz in der Gesellschaft einzunehmen hat. Ich-Identität als Phase ist kein Umbruch in der psychischen Struktur, sondern einer in den Rollenerwartungen; die Dualisierung liegt auf der Seite der kulturellen Anforderungen. Die neue Anforderung besteht darin, zu lieben und zu arbeiten. Erikson ist offenbar der Auffassung, daß diese Anforderungen gegenüber den früheren etwas qualitativ Neues darstellen, er verrät uns jedoch nicht, wieso. Eriksons Konzeption fuhrt zurück zur soziologischen Auffassung von der Zweiteilung, letztlich zur Vorstellung von der Vollmitgliedschaft. Mit dem Begriff der Ich-Identität arbeitet auch Erving Goffman. Läßt sich Eriksons Theorie auf diesem Wege präzisieren, derart, daß man zur Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen kommt? Bei Goffman ist »Ich-Identität« der Gegenbegriff zu zwei anderen Identitätsformen, zu »sozialer Identität« und »persönlicher Identität«.234 »Soziale Identität« meint die Kategorisierung eines Individuums durch die anderen aufgrund von überindividuell geltenden Normen: beispielsweise »das ist ein Schuster« oder »das ist ein Lügner«. »Persönliche Identität« meint ebenfalls die Identifizierung eines Individuums durch die anderen, aber die gewissermaßen polizeiliche Identifizierung des einzelnen als einzelnen, aufgrund eines Eigennamens, eines Bildes oder einer Position in einer Verwandtschaftsbeziehung: »das ist doch Herr X«, »das ist doch der älteste Sohn von Frau Y«. (»Persönliche Identität« hat bei Goffman also nichts zu tun mit Individualität im Sinne einer Besonderheit als Kern der Persönlichkeit und als Kriterium ihrer Bewertung; die Besonderheit trägt bei Goffman einen anderen Namen, den des Stigmas - das Stigma ist jenes Merkmal, durch das ein Individuum von der sozialen Identität abweicht.) »Ich-Identität« schließlich bezieht sich darauf, wie das Individuum sich selbst definiert, also auf seine Selbstbezeichnung bzw. sein Selbstbild (dieses entsteht in Auseinandersetzung mit den von außen herangetragenen Kategorisierungen und Benennungen). Goffman äußerst sich nicht zur Frage, wie diese verschiedenen Identitätsbegriffe auf den Lebenslauf zu beziehen sind, aber von seiner Argumentation her wird klar, daß man über Ich234 Vgl. Goffman 1967

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Identität dann verfügt, wenn man ein Bild und eine Definition von sich selbst hat, und das heißt zeitlich: in früher Kindheit. Einer der Konkurrenzbegriffe zu »Ich-Identität« ist »Lernfähigkeit« bzw. »Lernen des Lernens«. Läßt sich die Kind-Erwachsenen-Differenz auf diesem Wege rekonstruieren? Luhmann und Schorr zufolge: Ja. »Mit dem Lernen des Lernens beendet der Erziehungsprozeß sich selbst, und zwar dadurch, daß er das Lernen auf Dauer stellt.«235 Das ist nicht sehr überzeugend, denn schon beim Säugling ist das Lernen auf Dauer gestellt. Die Autoren räumen denn auch ein, daß die Voraussetzung für das Lernen von Lernfähigkeit Lernfähigkeit ist236 , daß Lernfähigkeit durch Erziehung nicht erzeugt, sondern nur gesteigert werden kann237 . Dann entfällt jedoch die Möglichkeit, auf diesem Wege das Ende der Erziehung und den Beginn des Erwachsenseins festzulegen - wieder einmal erhält man eine transitive Reihe ohne Bipartition, eine geordnete Folge von Zuständen mehr oder weniger großer Lernfähigkeit.238 Die Bedeutung von »Lernfähigkeit« oszilliert dann zwischen einem Ideal, an dem gemessen niemand erwachsen ist, und einer empirischen Gegebenheit, die darauf hinausläuft, daß jeder erwachsen ist. Lernfähigkeit und Ich-Identität haben zahlreiche Gemeinsamkeiten. Wie Ich-Identität muß Lernfähigkeit immer schon gegeben sein - wie sollte man etwas lernen können, wenn man das Lernen erst lernen müßte? Und genauso wie Erikson ohne weitere Umstände von Ich-Identität als Fähigkeit übergeht zu Ich-Identität als dem Gefühl, diese Fähigkeit zu besitzen, setzen Luhmann und Schorr »Lernfähigkeit« umstandslos mit »Lernbereitschaft« gleich239 - obwohl klar ist, daß die Bereitschaft, etwas Bestimmtes zu lernen, keineswegs mit der Fähigkeit gleichzusetzen ist, dies tatsächlich lernen zu können. Und wie bei Erikson die »Ich-Identität« 235 Luhmann/Schorr 1979a, S. 85 236 Ebd. 237 Ebd., S. 90 238 Die Gleichsetzung von »Erwachsensein« mit »Lernfähigkeit« rührt wohl daher, daß das Kind der traditionellen Auffassung zufolge von Natur aus lernt, während der Erwachsene ausgelernt hat, also lernunfähig geworden ist. Die Kritiker dieser Position operieren weiterhin vor diesem Hintergrund, sie wollen mittels didaktischer Prozeduren den natürlichen Verfall der Lernfähigkeit blockieren. Als Ubergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter erscheint dann derjenige Moment, in dem die natürliche Lernfähigkeit durch die gelehrte Lernfähigkeit ersetzt wird. 239 Ebd., S. 86 f.

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wird bei Luhmann und Schorr die »Lernfähigkeit« mit der Berufsfähigkeit gleichgesetzt. In einem späteren Aufsatz wiederholt Luhmann sein Plädoyer für »Lernfähigkeit« als Zentralkategorie und erklärt - mit Verweis auf Lenzen -, man werde dennoch »nicht notwendigerweise bis ins hohe Lebensalter von >Kindern< sprechen«.240 Das ist eine versteckte Selbstkritik: Die Orientierung an »Lernfähigkeit« ermöglicht es keineswegs, die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen zu rekonstruieren, sie ist mit dieser Unterscheidung nur schwer vereinbar, denn sie legt es nahe, alle Individuen als Kinder anzusehen. »Das Medium [d. h. der pädagogische Kindheitsdiskurs] bleibt an die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen gebunden, aber es kann die Terminologie >Kind< durch andere ergänzen (Schüler, Studenten oder schließlich: Lernende). Das ist letztlich nur ein Problem der Benennung.«241 Luhmann behauptet also, daß in der Pädagogik mit folgender Begriffsstruktur gearbeitet wird: (Kind [Schüler, Student, ..., Lernender] : Erwachsener). Er übersieht, daß Begriffe wie »Schüler« oder »Lernender« Komplementärbegriffe sind, daß also der Versuch, den Terminus »Kind« zu ergänzen, deshalb unweigerlich darauf hinausläuft, daß nicht nur die eine Seite der Opposition erweitert wird, sondern daß die Opposition insgesamt durch weitere Oppositionen ergänzt wird, durch Schüler/Lehrer, Lernende/Lehrende usw. Diese Aquivalenzenkette wird jedoch durch die Kategorie des Erwachsenen nicht zwangsläufig majorisiert, der Sinn gleitet. Einerseits teilt sich die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen den anderen Oppositionen mit, Lehrende scheinen erwachsen zu sein und Lernende nichterwachsen. Andererseits wirkt das Supplement auf die Ausgangselemente zurück und transformiert sie; die Kind-Erwachsenen-Opposition wird durch die von Lehrenden und Lernenden gestützt und zugleich in Frage gestellt. Lernen Erwachsene etwa nicht?

240 Luhmann 1991b, S. 34 241 Ebd.

4 Rekonstruktion Wenn man die Behauptung, daß es Kinder und Erwachsene gibt, begründen will, muß man drei Fragen beantworten: Erstens: Wie ist die Dualisierung zu erklären? Warum bestehen die Lebensläufe aus zwei Hauptphasen? Warum gibt es überhaupt einen Einschnitt - warum verläuft die Entwicklung nicht kontinuierlich oder gradualistisch? Und warum gibt es nur einen Haupteinschnitt und nicht etwa zwei oder drei? Zweitens: Wie läßt sich das timing begründen? Warum liegt die Hauptzäsur mehr oder weniger kurz nach dem Abschluß der Pubertät? Warum wird sie nicht weitaus früher angesiedelt oder sehr viel später? Drittens: Woher rührt die Allgemeingültigkeit dieser Struktur? Warum bezieht der Unterschied sich auf alle, unabhängig von Klasse und Geschlecht? Wie kommt die Massenhaftigkeit des Phänomens zustande? Außerdem muß man sich zu einer vierten Frage äußern: Handelt es sich bei der Kind-Erwachsenen-Opposition um eine anthropologische Konstante oder um eine historische Konstruktion? Die bisherigen Antworten sind nicht sonderlich überzeugend; zu allen drei Behauptungen gibt es plausible Alternativen. Das habe ich zu zeigen versucht. Natürlich ist denkbar, daß die drei behaupteten Sachverhalte auf unterschiedliche Faktoren zurückzufuhren sind. Sparsamer und also erklärungskräftiger wäre es, wenn die Zahl der Faktoren sich reduzieren ließe. Aus diesem Grunde suche ich nach einem X, welches alle drei Bedingungen gleichzeitig erfüllt, nach einem Faktor also, der den Lebenslauf in zwei Phasen zerteilt, der den Einschnitt zugleich auf ein bestimmtes Alter datiert und der außerdem bewirkt, daß dieser Dualismus allgemeingültig ist. Es gibt mehrere Argumente, die diese Bedingungen erfüllen: die Veränderung der Genitalorgane, der Stillstand des Größenwachstums und das moderne Recht.

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4-1 Physische Dualismen Auf der physischen Ebene läßt die Kind-Erwachsenen-Opposition sich sehr einfach rekonstruieren; die Tatsachen sind allgemein bekannt. Binär ist erstens die Entwicklung der Geschlechtsorgane. Man darf jedoch nicht, wie Bühler oder Benedict, nach deren Funktion fragen242 ; man muß sich an die Oberfläche halten, an die sichtbare Erscheinung. In der Pubertät kommt es bekanntlich zu einer schubhaften Veränderung der Genitalien; das Auftreten der Schambehaarung erzeugt eine Zweiteilung menschlicher Wesen in, wenn man so will, Behaarte und Nackte. Diese Zweiteilung ist zugleich sichtbar und unsichtbar, genau in dem Moment, in dem die Geschlechtsorgane sich offensichtlich verändern, müssen sie verhüllt werden; vorsichtiger formuliert: die Regeln, nach denen sie enthüllt werden, werden - zumindest in unserer Kultur - restriktiver. Einer binären Struktur unterliegt außerdem die Körpergröße. Hier allerdings darf man sich nicht, wie Luhmann, an dem orientieren, was unmittelbar sichtbar ist.243 Binär strukturiert ist nicht die wahrnehmbare Größe, sondern das Wachstum; einige Jahre nach dem Durchlaufen der Pubertät kommt das Längenwachstum bekanntlich zum Abschluß, die Etymologie von »erwachsen« verweist auf diesen Zusammenhang. Den Unterschied zwischen »noch wachsend« und »nicht mehr wachsend« kann man nicht erblicken, man kann ihn nur wissen. Zwischen diesen beiden Einschnitten liegt ein Abstand von einigen Jahren, der Beginn des Erwachsenenalters wird im Alltag irgendwo in diesem Zeitraum angesiedelt. Mehr ist hierzu nicht zu sagen; man wundert sich nur, warum man - wenn überhaupt - von Größenunterschieden spricht statt von Wachstumsdifferenzen. Warum verweist man auf die Fortpflanzungsfähigkeit statt auf die Beschaffenheit der Genitalorgane? Warum vermengt man also im einen Fall das Sichtbare mit dem Wißbaren, und warum übersieht man im anderen Fall das, was doch so deutlich in die Augen fällt?

242 Siehe oben S. 27 f., 105 f. 243 Siehe oben S. 14 ff.

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4-2 Zweierlei Rechtssubjekte Das bürgerliche Recht unterscheidet zwei große Altersgruppen: Minderjährige und Volljährige. Diese Unterscheidung erfüllt alle drei Bedingungen, die der Dualisierung, der Datierung und der Generalisierung. Das moderne Recht ist dualistisch. Es unterscheidet solche, die im juristischen Sinne handlungsfähig sind, von solchen, die es nicht sind. Zwar ist jedes Individuum von Geburt an rechtsfähig - auch ein Säugling kann etwas erben -, aber nur einige Individuen sind zugleich handlungsfähig. Ein handlungsfähiges Subjekt kann Rechtsgeschäfte abschließen, ist für unerlaubte Handlungen verantwortlich und muß für schuldhafte Pflichtverletzungen einstehen, kurz, es ist geschäfts-, delikt- und verschuldensfähig. Dieser Dualismus ist mit einem speziellen timing verbunden. Für die meisten Rechte und Pflichten gilt, daß sie an das Erreichen eines bestimmten Alters gebunden sind. Alles hat seine Zeit - die Ehemündigkeit, die Testierfähigkeit, das Recht auf öffentlichen Alkoholkonsum, das Recht, ein Auto zu steuern, und das, sich dem Geschlechtsverkehr hinzugeben. Das Recht erzeugt auf diese Weise ein juristisches Alter, welches in der Regel an das Geburtsjahr gebunden ist.244 Diese Verknüpfung von Recht und Alter führt - zwischen Wiege und Bahre - zu einer ganzen Serie von Zweiteilungen des Lebenslaufs. Der dualistische Charakter dieser Struktur beruht darauf, daß fast alle Rechte, einmal zuerkannt, bis ans Lebensende wirksam sind; das unterscheidet den Rechtserwerb vom Status- oder Rollenerwerb. Berufs- oder Heiratsrollen können wieder verlassen werden, anders als die meisten Rechtspositionen führen sie deshalb nur selten zu einer Zweiteilung des Lebenslaufs.245 Die zu verschiedenen Zeiten erworbenen Rechte sind miteinander verknüpft; das Hauptverbindungsglied ist die Volljährigkeit. Durch diesen übergreifenden Dualismus werden die einzelnen Kompetenzbrüche zu Schritten auf dem Weg in die Volljährigkeit. Ein ausdifferenziertes System chronologischer Altersstufen wurde im Zivilrecht erstmals mit dem

244 Cain spricht von »legal age« (vgl. Cain 1964). 245 Der Zusammenhang zwischen Rechtsnormen und Altersstrukturierung ist bislang kaum untersucht worden. Ausnahmen sind: Cain 1964, Cain 1976, Eglit 1985.

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Code civil verwirklicht.246 Heute gilt man vor dem Gesetz bis zum Ende des 13. Lebensjahr als Kind, danach bis zum Ende des 17. Lebensjahrs als Jugendlicher, ab 18 als Erwachsener. Vor der Herabsetzung der Volljährigkeit auf das 18. Lebensjahr wurde man zwischen 18 bis 21 zur Kategorie der Heranwachsenden gerechnet, das Kinder- und Jugendhilfegesetz spricht jetzt von »jungen Erwachsenen«; rechtlich hat diese Gruppe noch immer eine Sonderstellung, etwa in bezug auf die Strafmündigkeit. Die rechtliche Handlungsfähigkeit erzeugt zwar eine Dualisierung des Lebenslaufs mit bestimmtem timmg, sorgt aber nicht schon automatisch dafür, daß diese Struktur allgemein gültig ist. Es wäre ja möglich, daß die Unterscheidung von Handlungsfähigen und Nicht-Handlungsfähigen nur für einige gilt. Die Generalisierung dieser Zweiteilung beruht darauf, daß die gesamte Bevölkerung ein und demselben Rechtssystem unterworfen ist. Diese Vereinheitlichung beginnt sich erst im absolutistischen Staat herauszubilden. Der Untertan wird zunehmend »staatsunmittelbar«. Erst jetzt erscheint der Staat nicht mehr als das letzte Glied einer hierarchischen Kette; erst jetzt wird er zu einem allgemeinen Bezugspunkt, auf den sich jeder ohne den Umweg über die partikularen Mächte beziehen kann, jenseits der Macht von Zünften, Kommunen, Grundherren und Familien. Erst jetzt entsteht die Allgemeinheit der Individuen, sie ist gebunden an die Allgemeinheit der Unterwerfung unter den Staat in seiner jeweiligen Besonderheit. Erst unter diesen Bedingungen entspricht der Rede von »den« Erwachsenen eine soziale Realität: die Position der dem Staat unmittelbar unterworfenen rechtsmündigen Bürger; in diesem Prozeß hat die allgemeine Schulpflicht übrigens eine wichtige Rolle gespielt.247 Diese Universalisierung ist im Absolutismus jedoch nur der Tendenz nach vorhanden; noch immer unterscheiden sich die Rechte nach Ständen und Wohnorten. Erst während der Französischen Revolution bildet sich, mit der Verfassung von 1791, das Konzept der staatsbürgerlichen Gleichheit heraus.248 Die staatsbürgerliche Gleichheit ist eine Form der rechtlichen Ungleichheit. Die Verstaatlichung der Individuen geht einher mit ihrer Spaltung in diejenigen, die dem Gesetz unterworfen sind, und diejenigen, die ihm fernstehen. Zwei Teilungsoperationen werden vollzogen. Die erste besteht 246 Vgl. Cain 1976 247 Vgl. Leschinsky/Roeder 1976 248 Vgl. die Aufsätze von Lefort und Gauchet in Rödel 1990; außerdem Gerstenberger 1990

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in einer inneren Kolonisierung, darin, daß - auf ein und demselben Terrain - zwischen einer herrschenden Bevölkerung und einer beherrschten Bevölkerung unterschieden wird, zwischen den Staatsangehörigen, die dem Gesetz unterworfen sind, und den bloßen Einwohnern - Untertanen, die mit Hilfe von Verordnungen verwaltet werden.249 Zweite Teilung: Die Staatsangehörigen werden in zwei Gruppen aufgespalten, in Staatsbürger und bloße Staatsangehörige (oder in »aktive« und »passive Staatsbürger«). Die (aktiven) Staatsbürger haben bestimmte Rechte und Pflichte - staatsbürgerliche Rechte wie aktives und passives Wahlrecht, Zugang zu allen öffentlichen Amtern, bürgerliche Grundrechte und bürgerliche Ehrenrechte; staatsbürgerliche Pflichten wie Gehorsam gegenüber Verfassung und Gesetzen, Pflicht des Steuerzahlens und Wehrpflicht. Die bloßen Staatsangehörigen haben weder diese Rechte noch diese Pflichten. Für den hier untersuchten Zusammenhang ist entscheidend, daß für die Unterscheidung von Staatsangehörigen und Staatsbürgern ein scheinbar natürliches Merkmal zur Anwendung kommt: das Alter. Die Volljährigkeit interveniert also ein zweitens Mal; sie verklammert die Geschäftsfähigkeit mit der Staatsbürgerschaft und verbindet so den Zugang zum privaten Recht mit dem zum öffentlichen Recht. Nur in dieser Verbindung gibt es tatsächlich eine Gleichheit der Rechte.250 Erst durch die Staatsbürgerschaft also kommt es dazu, daß die juristische Handlungsfähigkeit generalisiert wird. Handlungsfähigkeit ist unter diesen Bedingungen kein Privileg und kein Ideal; mit dem Erreichen der Volljährigkeit wird sie im Normalfall zugesprochen. Die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen ist hier nicht eine bloße Vorstellung, ein Deutungsmuster, ein Wissensbestandteil, sondern eine Institution, die mit einem ganzen Bündel von Organisationen verknüpft ist - Fürsorge, Jugendgerichte, Jugendstrafanstalten usw. - und die mit einer Differenzierung in den Formen der Rechtsprechung und der Bestrafüng einhergeht. Es gibt hier zwar einen Interpretationsspielraum - ein Betätigungsfeld für Jugendrichter -, aber die Deutung, ob jemand mit dem Erreichen der Volljährigkeit schon handlungsfähig ist oder nicht, erfolgt vor dem Hintergrund einer Normalitätsannahme. Meine These lautet also: Der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen entsprechen wirkliche Unterschiede, Unterschiede physischer 249 Vgl. Balibar 1993, S. 49 ff. 250 Vgl. hierzu auch Dreeben 1980, Kap. 6 »Schule und Staatsbürgerschaft«

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und rechtlicher Natur. Die körperlichen Unterschiede sind, wenn man so will, oberflächlicher Natur: die sichtbare Entwicklung der Geschlechtsorgane und das körperliche Größenwachstum folgen einem Zwei-PhasenSchema. Die juristische Differenz wird erzeugt durch die Kombination zweier politisch-rechtlicher Dualismen, durch die Unterscheidung von unvollständiger und vollständiger Handlungsfähigkeit und durch die Differenz zwischen Staatsbürgern und Staatsangehörigen. Der dualistische Charakter dieser Unterscheidungen beruht auf einer Eigenart des modernen Rechtssystems, darauf nämlich, daß bestimmte Rechte, einmal zugesprochen, in der Regel nicht mehr abgesprochen werden. Die allgemeine Gültigkeit der Zweiteilung erklärt sich durch die Institution der Staatsbürgerschaft. Und die Datierung im Umkreis des Pubertätsabschlusses entspricht dem Zeitpunkt der Volljährigkeit. Die Volljährigkeit verknüpft beide Dualismen, mit dem Zeitpunkt der Volljährigkeit gewinnt man zugleich die Handlungsfähigkeit und die aktive Staatsbürgerschaft. Der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen ist also sowohl eine anthropologische Universalie als auch eine historische Konstruktion. Er bezieht sich nicht auf psychische Dispositionen, sondern auf körperliches Wachstums und auf soziale Positionen. Der soziale Status des Erwachsenen beruht nicht auf Schule, Wirtschaft oder Familie, sondern auf Recht und Staat. Wenn man die Geschichte der Kind-Erwachsenen-Opposition schreiben wollte, müßte man erstens die sozialen Formen nachzeichnen, in denen die Enthüllung und Verhüllung der »Scham« altersspezifisch geregelt wird. Man müßte zweitens beschreiben, wie Differenzen der Körpergröße sozial artikuliert werden, auf welche Weise Gesellschaften sich also in »Große« und »Kleine« aufteilen, wie Körpergröße modifiziert, skaliert, bewertet, mit Bedeutungen aufgeladen wird. Und schließlich müßte man den Prozeß darstellen, in welchem die traditionelle Kirchenmündigkeit in die moderne Rechtsmündigkeit umgewandelt wird und in dem die Kirchenmitgliedschaft ihre beherrschende Stellung an die Staatsbürgerschaft abtritt. Zu dieser dritten Frage erhält man einen Hinweis, wenn man Aries* Überlegungen zur Struktur des Lebenslaufs weiter nachgeht und die Gliederung des Lebenslaufs im Mittelalter genauer zu bestimmen versucht. In Le Roy Laduries bekannter Untersuchung über die Lebensverhältnisse in Montaillou zu Anfang des 14. Jahrhunderts findet sich eine knappe Darstellung der Altersgliederung. Bis zum 2. Lebensjahr heißen Kinder »in-

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fans« oder häufiger noch »filius« bzw. »filia«. Zwischen 2 und 12 Jahren werden sie durchweg als »pueri« klassifiziert. Ab 12 Jahren wird ihnen von den Katharern, aber auch von der katholischen Inquisition die Einsieht in den Unterschied von Gut und Böse zugeschrieben: Alle diejenigen, die so aussehen, als ob sie das 12. Lebensjahr vollendet hätten, werden von der Inquisition verhaftet. Ab 13, 14 Jahren nennt man sie »adolescens« oder »juvenis«. Die jungen Leute über 15 bilden eine besondere Gruppe, die an Festtagen ihre eigenen Tänze und Spiele veranstaltet. Mit 18 Jahren werden die Knaben unter die erwachsenen Männer aufgenommen (leider erklärt Le Roy Ladurie nicht, was man unter »erwachsenen Männern« zu verstehen hat). Im Alter sinkt das Ansehen der Männer, sie stehen unter dem Kommando ihrer erwachsenen Söhne. Anders ist es mit den alten Frauen: deren Ansehen steigt.251 Es gibt hier zwei Kategorien, die sich auf unsere heutige Rede vom Erwachsensein beziehen lassen. Erstens natürlich jener Status, der von Le Roy Ladurie ohne weitere Erläuterung als »erwachsen« bezeichnet wird und der sich vermutlich auf den Status in der Dorfgemeinschaft bezieht. Der Zeitpunkt - 18 Jahre - stimmt mit dem heutigen überein. Dieses Erwachsensein funktioniert jedoch anders als die hier untersuchte Kind-Erwachsenen-Opposition. Denn es ist, erstens, nicht generalisiert, man findet es nur bei Männern. Und zweitens ist die Gliederung nicht dualistisch - im Alter, wenn die Söhne an die Macht kommen, verliert der Vater den Status des »erwachsenen Mannes«. Die zweite Kategorie, die an das hier untersuchte Erwachsensein erinnert, ist die Kirchenmündigkeit, die mit 12 Jahren erreicht wird. Grundlage ist die Lehre vom »usus rationis«, vom Gebrauch der Vernunft, wie sie seit dem 13. Jahrhundert im kanonischen Recht zu finden ist; die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden, wird hier auf ungefähr das 10. bis 12. Lebensjahr festgesetzt.252 Diese Kirchenmündigkeit ist dualistisch - einmal erworben, geht sie nicht mehr verloren. Und sie ist generalisiert, sie gilt für beide Geschlechter und für alle Klassen. Der Unterschied zur hier behandelten Kind-Erwachsenen-Opposition liegt auf der Hand, er besteht in der Datierung. Niemand würde heute ein zwölfjähriges Kind als erwachsen bezeichnen. Als Stichdaten für die Geschichte der rechtlichen Altersgliederung würden sich die Jahre 1215, 1804 und 1957 anbieten. 1215 ist das Jahr des Laterankonzils, auf dem das Erreichen des »Alters der Unterscheidungsfä251 Vgl. Le Roy Ladurie 1983, S. 237 ff. 252 Vgl. Lenzen 1985, S. 239

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REKONSTRUKTION

higkeit« - der Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden - zum Kriterium für die Vergabe des Abendmahls erklärt wird; dieses Kriteriumwird von Thomas von Aquin mit einem chronologischen Alter verknüpft, mit dem 10. oder 11. Lebensjahr, und damit beginnt die Vorgeschichte der Kind-Erwachsenen-Opposition.253 Der Code civil von 1804 besiegelt den Ubergang von der Kirchenmündigkeit zur modernen Form der Rechtsmündigkeit und verknüpft diese mit der Staatsbürgerschaft; um diese Zeit wird der Ausdruck »erwachsen« in den pädagogischen Wortschatz übernommen.254 1957 wird in der Bundesrepublik der Gleichberechtigungsgrundsatz in das Zivilrecht aufgenommen. Erst jetzt werden die Frauen im juristischen Sinne zu Erwachsenen. Man sieht dann, warum es genau zwei Gruppen von Menschen gibt, die auch in fortgeschrittenem Alter immer wieder als »Kinder« bezeichnet worden sind: Frauen und Kolonisierte. Beide waren traditionell von der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen.

253 Vgl. ebd. 254 Vgl. Stroß 1994, S. 408

ANSCHLÜSSE

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4-3 Anschlüsse Wie verhält sich die juristische Rekonstruktion der Kind-ErwachsenenDifferenz zu den wichtigsten anderen Erklärungsversuchen, denen von Eisenstadt, Erikson, Postman und Aries? Eisenstadt hat die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen unter dem Gesichtspunkt der Inklusion analysiert, also der Teilhabe am Sozialsystem.255 In allen Gesellschaften, so läßt seine These sich zusammenfassen, folgt die Inklusion ein und demselben Muster: immer ist sie binär schematisiert, immer wird nämlich zwischen unvollständiger und vollständiger Mitgliedschaft unterschieden, und immer wird diese Differenz mit dem Alter verknüpft. Auch die hier von mir vorgeschlagene Rekonstruktion bezieht sich auf das Inklusionsproblem. Die Unterscheidungen zwischen Handlungsfähigen und Nicht-Handlungsfähigen sowie zwischen Staatsbürgern und Nicht-Staatsbürgern regeln die Teilhabe am Rechtssystem und am politischen System nach einem binären Schema. Beide werden durch die Institution der Volljährigkeit verknüpft und erzeugen so jenes Inklusionsschema einer generalisierten Zweiteilung - allerdings nicht für die Gesellschaft schlechthin, sondern für zwei Teilsysteme, für Recht und Staat. Eisenstadts Leistung besteht darin, daß er die Erklärungsbedürftigkeit der Kind-Erwachsenen-Differenz überhaupt wahrgenommen hat und daß er diese Unterscheidung auf das Inklusionsproblem bezogen hat, er irrt insofern, als er aktuelle Formen der Inklusion auf traditionelle Sozialsysteme zurückprojiziert und damit zugleich die besondere Wirkungsweise der modernen Rechts- und Politiksysteme verkennt. Erikson zufolge handelt es sich bei den Erwachsenen um diejenigen Individuen, die zur Einheit gekommen sind, zur Ich-Identität.256 Ein solcher Identitätsbegriff ist eine Echo auf die klassischen - eng verknüpften - Ideale der Verantwortlichkeit, der Zurechnungsfähigkeit, der Mündigkeit und der Autonomie. Deren Hintergrund bilden bestimmte Formen der politischen und der juridischen Subjektivität. Der Staat ist nicht nur eine administrative, eine ökonomische und eine militärische Maschinerie, sondern auch eine symbolische.257 Obwohl er ein Teil der Gesellschaft ist, 255 Siehe oben S. 109 ff. 256 Siehe oben S. 118 ff. 257 Vgl. zum folgenden die Aufsätze von Lefort und Gauchet in Rödel 1990

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REKONSTRUKTION

verweist er in seiner Symbolik auf einen Ort, der außerhalb der Gesellschaft liegt. Durch den Bezug auf diesen transzendenten Ort können sich die Gesellschaftsmitglieder als ein »Wir« begreifen, als Einheit. Die vormoderne Staatsmacht ist ostentativ, sie arbeitet ständig daran, eine respekterheischende Kluft zwischen den Herrschenden und den Beherrschten darzustellen und sich hierdurch als etwas zu präsentieren, was nicht einfach ein Teil der Gesellschaft ist, sondern als Institution, die der Gesellschaft prinzipiell unähnlich ist. Die Herrscher repräsentieren die Götter, der Staat erscheint als Instanz, die der Gesellschaft äußerlich ist, als ihr absolut Anderes. Hierbei spielt die Schriftlichkeit eine entscheidende Rolle. In den staatlich verfaßten Agrargesellschaften erhält das Gewicht »weniger das bloße Schreiben als vielmehr das Geschriebene, und in der Agrargesellschaft erhält in diesem Bereich das Geheiligte eindeutig den Vorrang vor dem Profanen. Daher sind Schreiber und Leser Spezialisten und zugleich mehr als Spezialisten; sie sind Teil einer Gesellschaft und beanspruchen zugleich, für die ganze Gesellschaft zu sprechen.«258 Aber auch der säkularisierte Verwaltungsstaat, der funktional gesehen zu einem System neben anderen wird, verweist symbolisch auf einen Ort, der außerhalb der Gesellschaft liegt. Er vermittelt den Individuen das Gefühl, in einer Welt zu leben, die in ihrer Gesamtheit erfaßbar ist: durch eine souveräne Gewalt beherrschbar, durch ein universales Wissen erkennbar und durch eine gesetzliche Ordnung regulierbar. Aus diesem Grund ist die Verfassungsfiktion der Trennung von Staat und Gesellschaft so stabil. Der Staat produziert das unmittelbar staatsunterworfene Individuum den Untertan bzw. den Staatsbürger -, und das bewirkt, daß die symbolische Struktur des Staates auf das Individuum übertragen wird. Man denke an den traditionellen Vergleich zwischen der Vernunft des einzelnen und der Macht des Monarchen: »Wenn in den Menschenherzen eine königliche Macht regiert, so kann dies nur die Regierung eines Einzigen sein, nämlich der klaren Vernunft - sie ist ja der beste Teil unseres inneren Ichs -; wo sie aber die Herrschaft ausübt, da ist kein Platz für sinnliches Sichgehenlassen, kein Platz für Zornausbrüche, kein Platz für leichtfertiges Handeln.«259 Diese Staatsförmigkeit erscheint zunächst als Eigenschaft von staatsnahen Eliten; mit der Generalisierung der Staatsunmittelbarkeit im Absolutismus wird sie zur Eigenschaft von jedermann. Hierauf hat bereits Hegel in seiner Kant-Kritik verwiesen: Das autonome Sub258 Gellner 1991, S. 52 259 Cicero 1966, S. 53

ANSCHLÜSSE

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jekt ist historisch bedingt, es hat seine Grundlage im Staat als der Wirklichkeit des substantiellen Willens. Die Einheitlichkeit des Erwachsenen zeigt sich wie die des Staates daran, daß er sich selbst begreift - er weiß, was er denkt und was er tut -, daß er sich selbst beherrscht und daß er sich von generalisierten Normen leiten läßt. Das moderne Rechtssystem ist Teil einer umfassenden Struktur funktionaler Differenzierung. Grundlage ist die Ausdifferenzierung eines relativ autonomen ökonomischen Systems. Damit kommt es zur Ablösung des Primats der Politik durch den Primat der Ökonomie.260 Im Gefolge dieses Prozesses verändert sich die dominierende Form sozialer Differenzierung. Die Klassendifferenz wird überlagert und modifiziert durch einen anderen Differenzierungstyp, durch die von der verselbständigten Ökonomie vorangetriebene funktionale Differenzierung. Es entstehen relativ autonome Teilsysteme, die darauf spezialisiert sind, für die Gesellschaft bestimmte Funktionen zu erbringen. Recht und Wirtschaft, Politik und Wissenschaft können ohne massenhafte schriftliche Kommunikation nicht arbeiten. Eine entscheidende Bedingung für das Funktionieren der Teilsysteme ist deshalb der Buchdruck und die Verallgemeinerung der Schriftkompetenz.261 Die Hauptaufgabe des sich ausdifferenzierenden Bildungssystems besteht in der Vermittlung von Schriftkompetenzen, von der Beherrschung des Alphabets bis zur Bewältigung komplexer schriftfündierter Symbolsysteme wie Mathematik und Literatur. Die Verallgemeinerung der Buchschule (das Thema von Postman) und die Institutionen der Volljährigkeit und der Staatsbürgerschaft sind also zwei Aspekte einer umfassenden Dynamik: des epochalen Phänomens der fünktionalen Ausdifferenzierung.262 Die fünktionale Differenzierung geht einher mit dem Aufstieg der bürokratischen Organisationen. Fast alle Funktionssysteme beruhen auf Organisationen, auf Institutionen mit hierarchischer Disziplinarmacht und dem Anreiz, Karriere zu machen. Auch das Bildungssystem operiert zunehmend auf der Grundlage von Organisationen. Allerdings war der Aufstieg der Organisationswelt offenbar nur möglich, indem sich zugleich die von Aries beschreibene Gegenwelt der intimisierten Kleinfamilie her-

260 Vgl. Luhmann 1991a, S. 204 ff. 261 Vgl. Luhmann 1984, S. 223 f., 409 f. 262 Eine interessante Reformulierung von Postmans These, die Kindheit sei ein Produkt des Buchdrucks, findet sich in Luhmann 1991b, S. 32 f.

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REKONSTRUKTION

ausbildete, worin sich die Kommunikationen nicht auf Rollen, sondern auf »einzigartige Personen« bezieht.263

263 Vgl. Luhmann 1990, S. 196-217

5 Funktion Die Untersuchung hat folgendes ergeben. Für die Pädagogik ist die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen grundlegend, denn die meisten Autoren begreifen Erziehung als ein Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen; die Erweiterung des pädagogischen Aufgabenfeldes hin zur Erwachsenenbildung verdoppelt und bekräftigt diese Bezugnahme. Der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen, so wird angenommen, entspricht ein wirklicher Unterschied. Diese Realitätsannahme liegt selbst der konstruktivistischen Position noch zugrunde, also der These, das Kind sei ein Konstrukt. Wenn man auf alle Prädikate verzichtet, bleiben mit der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen immer noch drei Behauptungen verknüpft. Erstens eine These über die Gliederung des Lebenslaufs: der Lebenslauf besteht aus zwei Hauptphasen. Zweitens eine Aussage über den Zeitpunkt des Einschnitts: die Zäsur erfolgt kurz nach der Pubertät. Und drittens eine Behauptung über den Geltungsbereich dieser Struktur: sie ist klassen- und geschlechterübergreifend und in diesem Sinne allgemein gültig. Worauf stützen sich diese Behauptungen? Auf die Klassiker der Pädagogik oder auf die modernen Humanwissenschaften. Für die hier untersuchten Autoren des pädagogischen Kanons - Schleiermacher, Humboldt und Herbart - ist die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen eine nicht weiter begründungsbedürftige Selbstverständlichkeit. Deren Plausibilität beruht auf verschiedenartigen rhetorischen Prozeduren: auf der Form der Präsupposition, auf der pädagogischen Aquivalenzenkette (Kinder : Eltern — Kinder : Erwachsene — Zöglinge : Erzieher — Nicht-Erzogene : Erzogene) sowie auf einer Reihe von Metaphern, bei Schleiermacher auf dem quantifizierenden Bild des Ubergewichts, bei Humboldt auf der phallische Phantasie der Vereinigung, bei Herbart auf dem Bild der Erstarrung. Trotz aller Diskussionen zur Geschichte der Kindheit, zur Sozialisation von Erwachsenen und zur Soziologie des Lebenslaufs ist die Kind-Erwachsenen-Opposition keine etablierte Problematik der Human Wissenschaften. Man findet hier jedoch zu den drei Behauptungen über die Gliederung, die Datierung und die Allgemeingültigkeit eine Reihe von Alternativen, und das heißt: von indirekten Einwänden. Die ausdrücklichen Begründungsversuche

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FUNKTION

sind nicht sehr zahlreich und, wie ich zu zeigen versucht habe, unzureichend. Die Untersuchungen zur Geschichte der Kindheit oder des Erwachsenseins geben auf die hier interessierende Frage keine Antwort. Entweder setzten sie, wie Lenzen, die Kind-Erwachsenen-Opposition stillschweigend doch wieder als anthropologische Universalie voraus, oder sie behaupten, wie Rutschky, die Historizität dieser Opposition, ohne sie begründen zu können, oder sie beschränken sich, wie Aries und Postman, auf bestimmte Abschnitte des Lebenslaufs, wobei die Frage der Gesamtgliederung offenbleibt und auch nicht erklärt wird, warum bestimmte Lebensphasen zur Kindheit zusammengefaßt und andere davon ausgeschlossen werden. Die wichtigsten universalistischen Rekonstruktionsversuche berufen sich auf das Konzept der Vollmitgliedschaft im Sozialsystem (Eisenstadt) oder auf den Begriff der Ich-Identität (Erikson). Vollmitgliedschaft ist jedoch keine universale Form sozialer Inklusion, und da Ich-Identität Erikson zufolge nicht nur das Merkmal einer bestimmten Lebensphase, sondern zugleich die Errungenschaft jedes einzelnen Lebensabschnitts sein soll, ist der Begriff zur Rekonstruktion der Zweigliederung ungeeignet. Ich habe zu zeigen versucht, daß es gleichwohl möglich ist, die Kind-Erwachsenen-Opposition theoretisch zu rekonstruieren. Die drei mit ihre verbundenen Behauptungen lassen sich gleich mehrfach begründen. Man kann erstens auf die mit der Geschlechtsreife verbundene sichtbare Veränderung der Genitalorgane verweisen, zweitens auf die Beendigung des Längenwachstums und drittens schließlich auf die Unterscheidung von Minderjährigen und Volljährigen in Verbindung mit der Institution der Staatsbürgerschaft. Soweit die Zusammenfassung. Das Problem scheint gelöst zu sein, und es bleibt eigentlich nur noch eine Frage zu beantworten: Wie kommt es, daß weder die biologische noch die juristische Rekonstruktion in der Pädagogik eine Rolle spielen?

5-1 Zuschreibung vs- Leistung Wie erwähnt, wird der Verweis auf die Rechtsmündigkeit von Schleiermacher ausdrücklich zurückgewiesen.264 »Staat und Erziehung«, so heißt es bei ihm darüber hinaus, »sind zwei Begriffe, welche an und für sich nicht zusammenfallen; denn der Staat ist ein Verhältnis der erwachsenen 264 Siehe oben S. 62

ZUSCHREIBUNG VS. LEISTUNG

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Menschen unter sich, und in dem Begriff liegt keine Beziehung darauf, woher die erwachsenen kommen; und die Erziehung ist ein Verhältnis der Generationen unter sich, in dem die eine erzieht und die andere erzogen wird, und die Erziehung kann sehr gut gedacht werden ohne den Staat und vor ihm.«265 Warum ist der Verweis auf die Volljährigkeit für die Pädagogik genauso inakzeptabel wie der Hinweis auf die Zäsuren biologischer Entwicklung?' Die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen bezieht sich in der Pädagogik auf die Ab- und Anwesenheit von Merkmalen, die bestimmten Bedingungen genügen müssen. Es muß sich um Dispositionen handeln, also um Fähigkeiten und Bereitschaften. Diese Qualitäten müssen dadurch erworben werden, daß das betreffende Individuum selbst tätig wird. Der Erwerb muß kontingent sein, sich also vor dem Hintergrund eines möglichen Nichterwerbs vollziehen. Und schließlich muß die Möglichkeit gegeben sein, durch Intervention von außen die Gefahr des Nichterwerbs einzuschränken. Insgesamt erscheint die Generierung von Fähigkeiten als prekäre teleologische Intervention in einen eigendynamischen Prozeß, sei es nun in handlungstheoretischer Akzentuierung (Frage nach den Zielen und Mitteln des Erziehers im Verhältnis zur Selbsttätigkeit des Zöglings), in interaktionistischer Beleuchtung (Frage nach der Koordinierung der Ziele von Edukand und Edukator) oder unter fünktionalistischem Aspekt (Frage nach Strukturalternativen bei der Kopplung sich selbst reproduzierender Systeme); andere Formen pädagogischen Wissens beziehen sich reflexiv auf diesen teleologischen Kern. Die »Persönlichkeits- und Handlungsstruktur des mündigen Erwachsenen« ist, wie es bei Heinrich Roth so schön heißt, »Entwicklungssoll«266 . Ganz offenkundig vollziehen sich die erwähnten physischen Veränderungen und der Erwerb der Volljährigkeit nach einer anderen Logik. Alle drei Merkmale sind nicht das Ergebnis von Leistungen, sondern von Zuschreibungen. Auch die rechtliche Handlungsfähigkeit ist keine Fähigkeit im Sinne einer subjektiven Disposition, sondern ein Gebot und eine Erlaubnis. Der Erwerb dieser Merkmale kann durch das fragliche Individuum nicht beeinflußt werden. Bei der Volljährigkeit gibt es zwei Ausnahmen: durch frühzeitige Eheschließung kann man erreichen, daß der Zeitpunkt vorverlegt wird, durch Täuschung (etwa durch das Vortäuschen einer Geisteskrankheit) kann man darauf hinwirken, daß einem die Mün265 Schleiermacher 1984, S. 155 f. 266 Roth 1976, S. 219

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FUNKTION

digkeit abgesprochen wird. Wenn der Erwerb der Rechtsmündigkeit scheitert, so ist das jedoch die Ausnahme, nicht die Regel; solche Abweichungen müssen umständlich begründet werden - im Rahmen von juristischen Prozeduren und mit Hilfe der Interpretationskünste von Richtern, Anwälten und Experten. Bei allen drei Merkmalen gibt es keine Gefahr des Scheiterns, die durch Intervention von außen zu vermindern wäre. Wenn man die biologische oder rechtssoziologische Rekonstruktion der Kind-Erwachsenen-Opposition auf die Pädagogik übertrüge, käme man zu der paradoxen Behauptung, die Erziehung sorge dafür, daß askriptive Merkmale erworben werden, sie verhindert etwas, was unmöglich eintreten kann - nicht erwachsen zu werden. Die Rekonstruktion der Kind-Erwachsenen-Opposition durch biologische oder rechtliche Einschnitte ist unpädagogisch. Es geht hier nicht nur um einen theoretischen Gegensatz, sondern um eine soziale Spannung. Der Widerspruch zwischen der juristischen Unterscheidung Minderjährigkeit - Volljährigkeit und der pädagogischen Artikulation der Kind-Erwachsenen-Opposition verweist auf ein allgemeineres Problem. Die Orientierung an erworbenen statt an zugeschriebenen Merkmalen gilt als eines der Prinzipien der Moderne, aber es ist leicht festzustellen, daß das chronologische Alter - also ein askriptives Merkmal - in keiner anderen Gesellschaft eine derart entscheidende Rolle spielt. Das gilt nicht nur für das Rechtssytem, sondern auch für die Schule mit ihren Jahrgangsklassen und die Wirtschaft mit der Orientierung am Rentenalter.267

267 Vgl. Kohli 1985

POSITIONSWECHSEL

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5.2 Positionswechsel Die Untersuchung steckt, so scheint es, in einer Sackgasse. Pädagogik und Erziehungswissenschaft operieren an entscheidender Stelle mit der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen. Die akzeptierten Begründungen sind unhaltbar, die haltbaren Begründungen sind inakzeptabel - zumindest für die Pädagogik. Wie weiter? Das Nichtvorhandensein von Beweisen ist, wie die Archäologen sagen, kein Beweis für das Nichtvorhandensein. Man könnte sich also nach anderen Rekonstruktionsmöglichkeiten umsehen - nach solchen Begründungen der Kind-Erwachsenen-Differenz, die auch im Rahmen der Pädagogik zustimmungsfähig sind. Ich halte es jedoch für unwahrscheinlich, daß eine solche Strategie von Erfolg gekrönt sein würde; auf jeden Fall sind meine Kapazitäten in dieser Richtung erschöpft. Meine Schlußfolgerung lautet deshalb: Der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen entspricht im Rahmen der Pädagogik kein wirklicher Sachverhalt. Es handelt es sich tatsächlich um ein Konstrukt, aber in einem radikaleren Sinne, als dies bislang angenommen wurde. Erstens ist nicht nur das Kind ein Konstrukt, sondern die Kind-Erwachsenen-Differenz insgesamt. Und zweitens handelt sich nicht nur insofern um eine Konstruktion, als die Prädikate, die Kindern und Erwachsenen im Rahmen der Pädagogik zugeschrieben werden, normativ und interessendeterminiert sind. Darüber hinaus gilt vielmehr: Die mit der Unterscheidung verknüpfte Existenzbehauptung ist eine kontingente Setzung. Die Unterscheidung markiert keinen wirklichen Unterschied - zumindest keinen, der für die Pädagogik relevant wäre. Innerhalb der Pädagogik bezieht sich die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen nicht einmal auf einen Rest von Realität. Angesichts dieses Referenzverlusts könnte man die Forderung erheben, auf die Kind-Erwachsenen-Opposition zu verzichten und sich an anderen Grundbegriffen zu orientieren. Man könnte sich den wenigen Erziehungstheorien anschließen, die nicht mit der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen operieren, etwa der »Theorie der symbolischen Gewalt« von Bourdieu und Passeron, worin das pädagogische Handeln als eine Machtbeziehung zwischen sozialen Gruppen dargestellt wird, eine Beziehung, in der es darum geht, kulturelle Bedeutungen durchzusetzen.268 Man könnte 268 Vgl. Bourdieu/Passeron 1973

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FUNKTION

Wolfgang Brezinka folgen, dem Wortführer der am Kritischen Rationalismus orientierten Pädagogik, dessen Erziehungsdefinition ebenfalls ohne die Kind-Erwachsenen-Opposition auskommt. »Erziehung« sind seines Erachtens »soziale Handlungen, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll beurteilten Komponenten zu erhalten.«269 Oder man könnte ein Primat der Didaktik verkünden und die Unterscheidung von Lehrenden und Lernenden - losgelöst von der Orientierung am »Generationenverhältnis« - zum entscheidenden Bezugspunkt erklären. Man würde damit fordern, daß eine Theorie in der Lage sein muß, ihre Grundbegriffe realistisch (empirisch, ontologisch, referentiell oder wie auch immer) zu interpretieren. Nun hat der Streit um die Grundbegriffe der Naturwissenschaften gezeigt, daß eben diese Forderung problematisch ist, naiv empiristisch. Die Tatsache, daß die Realität eines Unterschieds sich in nichts auflöst, liefert keinen Einwand dagegen, ihn weiterhin als Grundbegriff zu verwenden - zumindest keinen Einwand, der zwingend wäre. Der nicht-realistische Charakter der Kind-Erwachsenen-Opposition ist nicht notwendigerweise ein Mangel. Vielleicht sollte man eher davon sprechen, daß hier ein Sprachspiel geschaffen, eine Wirklichkeit erfunden wurde. Möglicherweise zeugt die bisherige Untersuchung von einem Mangel an Bildung. »Mangel an Bildung ist«, wie es bei Aristoteles heißt, »wenn man nicht weiß, wofür ein Beweis zu suchen ist, und wofür nicht.«270 Vielleicht ist für den Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen kein Beweis zu suchen - wenn man unter einem Beweis einen referentiellen Bezug versteht. Vielleicht beruht die ganze Analyse auf einem ontologischen Mißverständnis. Meine zweite Schlußfolgerung lautet: Die Forderung, daß die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen realistisch interpretierbar sein soll, muß aufgegeben werden.

269 Brezinka 1980, S. 132.- Diese Definition ist sehr weit und hat deswegen wenig Anklang gefunden. Auch Werbung und Gehirnwäsche wären hiernach Formen der Erziehung. 270 Aristoteles 1982, S. 139 (Metaphysik 1006a 6 f.)

POSITIONSWECHSEL

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Dritte Konklusion: Wenn die Kind-Erwachsenen-Opposition für die Erziehungstheorie zentral ist, dann nicht deswegen, weil dieser Unterscheidung ein wirklicher Unterschied entspricht. Warum dann?

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FUNKTION

5.3 Binäre Codierung Luhmann zufolge hat die Kind-Erwachsenen-Differenz folgenden Ursprung271 : Am Anfang war ein wirklicher Unterschied, der sich in Besonderheiten der Körpergröße und des Verhaltens zeigte. Dieser Unterschied wurde zum Gegenstand einer Grenzziehung und damit einet komplementären Unterscheidung: die eine Seite ist nicht die andere, die andere ist nicht die eine. Die Unterscheidung ermöglichte den nächsten Schritt: die Bezeichnung der beiden Seiten als »Kinder« und »Erwachsene«. Meine Version dieses Ursprungsmythos lautet folgendermaßen: Am Anfang waren wirkliche physische Unterschiede, am Anfang war aber auch ein juristischer Unterschied, der von Minderjährigen und Volljährigen. Auf diese Unterschiede hat die Pädagogik geantwortet, und zwar mit einer doppelten Geste. Mit der einen Hand wurden die vorhandenen Unterschiede durchgestrichen und gewissermaßen ein Nichts erschaffen. Mit der anderen Hand wurde eine neue Unterscheidung gesetzt: die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen. Diese Unterscheidung hat keinen Referenten; es handelt sich nicht um eine Benennung, nicht um ein repräsentierendes Zeichen. Die Unterscheidung ist ein Signifikant. Damit verändern sich die Fragen, die man stellen kann. Eine der neuen Fragen ist die nach der Funktion. Welche Probleme löst die Unterscheidung Kinder/Erwachsene für das hier interessierende Bezugssystem, die Pädagogik? Mit dieser Frage wechselt man den Rationalitätstyp. Rationale Rekonstruktion heißt dann nicht mehr, Argumente für Existenzbehauptungen zu liefern, sondern Einsichten in Funktionszusammenhänge zu gewinnen. Die Kind-Erwachsenen-Opposition läßt sich mit anderen Dualismen vergleichen, mit Gegensätzen wie »Yin und Yang«, »Himmel und Erde«, »Griechen und Barbaren« oder - bezogen auf die Politik - »rechts und links«. Immer geht es darum, daß eine bestimmte Entität - die Welt, die Menschen, ein politisches System - durch Zweiteilung als Ganzheit artikuliert wird. Nicht-realistisch betrachtet, stellt sich die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen demnach als besonderer Fall einer allgemeineren Struktur dar, der binären Opposition. Es müßte also möglich sein, durch Bezugnahme auf die Theorien über binäre Oppositionen die 271 Vgl. Luhmann 1991b, S. 24 und in dieser Arbeit oben S. 14

BINÄRE CODIERUNG

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Kind-Erwachsenen-Opposition weiter aufzuklären. An solchen Theorien ist kein Mangel. Sie haben ihre Herkunft einerseits in der mathematischen Informationstheorie, wo »binary digits« - oder »bits« - als Informationseinheit gelten, und andererseits in der Linguistik, in Jakobsons Analyse der Phoneme als Kombinationen von binär organisierten distinktiven Merkmalen; das Thema der binären Oppositionen liegt also im Überschneidungsbereich der beiden großen Generaltheorien der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, der Linguistik und der Systemtheorie. Was die sozialwissenschaftliche Analyse dieser Struktur angeht, so haben Theoretiker verschiedener Richtungen beobachtet, daß die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme - von Wissenschaft, Moral, Wirtschaft, Politik, Recht, Kunst usw. - mit der Herausbildung »letzter Unterscheidungen«272 einhergeht, beispielsweise wahr/falsch für die Wissenschaft, gut/böse für die Moral und schön/häßlich für die Kunst. Könnte es sein, daß der Gegensatz von Erwachsenen und Kindern ähnlich fünktioniert: als Leitdifferenz eines anderen Subsystems, der Erziehung? Die elaborierteste Theorie über das soziale Funktionieren solcher Leitdifferenzen ist Luhmanns Theorie der Kommunikationsmedien. Die Leitdifferenzen werden hier »binären Codes« genannt. Nun unterscheidet sich aber, Luhmann zufolge, das Bildungssystem von den meisten anderen Funktionssystemen dadurch, daß es über keine fünktionsspezifische Leitdifferenz verfügt.273 Gibt es sie möglicherweise doch? Ist die Kind-Erwachsenen-Opposition der binäre Code der Erziehung? Unbestreitbar ist die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen eine binäre Struktur oder, wenn man so will, ein binärer Code. Es werden genau zwei Weisen des Handelns und Erlebens unterschieden; sie werden verknüpft in Form einer Alternative, zu der es keine Alternative zu geben scheint: jedermann ist entweder ein Erwachsener oder ein Kind; es ist unmöglich, zugleich Kind und Erwachsener zu sein; und es ist unmöglich, weder Erwachsener noch Kind zu sein. Aber damit ist die Opposition Kinder/Erwachsene noch kein binärer Code im engeren Sinne. Binäre Codes haben eine bestimmte Funktion, sie bewirken funktionale Differenzierung, und zwar dadurch, daß sie die grundlegenden Operationen des Systems vor eine Entscheidungsalternative stellen. Beispielsweise bewirkt der binäre Code wahr/falsch die Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems dadurch, daß Sätze ausschließlich in bezug auf die Alter272 Schmitt 1987, S. 26 273 Vgl. Luhmann 1987

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FUNKTION

native »wahr oder falsch« entschieden werden; das Treffen dieser Entscheidung wird zur Aufgabe der Wissenschaft. Die Opposition nicht-erwachsen/erwachsen müßte, um als binärer Code im Sinne von Luhmann zu funktionieren, die Ausdifferenzierung des Erziehungssystems vorantreiben. Luhmann begreift die Kind-Erwachsenen-Opposition zwar nicht als binären Code der Erziehung (wie gesagt, einen solchen Code gibt es ihm zufolge nicht); er ist jedoch der Auffassung, daß soziale Kommunikationen im Erziehungssystem sich an der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen orientieren, woraus folgen würde, daß sich die pädagogischen Kommunikationen in zwei Subsysteme aufteilen: Kommunikationen von Erwachsenen mit Kindern und Kommunikationen von Erwachsenen mit Erwachsenen. Er begründet das folgendermaßen: Das »Medium Kind« - also der Kindheitsdiskurs der Pädagogik - ist durch eine bestimmte Form der Ursachenzuschreibung gekennzeichnet. Das Verhalten von Kindern wird nicht ihnen selbst, sondern ihrer Umwelt zugeschrieben; in Luhmanns Terminologie: der Erzieher muß anstelle der Zurechnungsform »Handeln« die Zurechnungsform »Erleben« wählen.274 Ich denke, daß Luhmann sich hier irrt. Das pädagogische Wissen enthält eine Unzahl von Vorstellungen darüber, was ein Lernender aufgrund von Alter, Erfahrung, Instruktion schon können muß und was er noch nicht können kann. Auf dieser Grundlage werden die beiden Zurechnungsformen fortwährend gegeneinander abgewogen, und zwar keineswegs nur im Rahmen der moralischen Erziehung, sondern beispielsweise auch im Sachunterricht. Die Fähigkeit, eine korrekte Zuordnung vornehmen zu können, wird als entscheidende pädagogische Qualifikation angesehen; die pädagogische Theorie reflektiert das mit Kategorien wie »Schonraum«, »Selbsttätigkeit«, »Lebensnähe« oder »Altersgemäßheit«. Eine einseitige Auflösung in Richtung auf »Erleben«, wie Luhmann sie der Pädagogik zuschreibt, wird als unpädagogisch zurückgewiesen, als »Verwöhnung«, »Unterforderung« und »Lebensfeme«. Hinzu kommt, daß die Abwägung der beiden Formen der Kausalattribution an keine Altersgrenze gebunden ist. Auch in einem Volkshochschulkurs, der sich an ältere Menschen richtet, wird der Leiter beständig abwägen, »ob man das schon von jemandem erwarten kann« oder »ob jemand einfach noch nicht so weit ist«. Die von Luhmann den Pädagogen zugeschriebene Vorstellung, das Verhalten von Kindern werde durch ihre Umwelt determiniert, stammt 274 Vgl. Luhmann 1991b, S. 28 f.

BINÄRE CODIERUNG

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nicht aus dem Erziehungssystem, sondern aus dem Rechtswesen. »Zurechnungsfähigkeit« ist eine grundlegende Kategorie des bürgerlichen Rechts. Demjenigen, der als zurechnungsfähig bezeichnet wird, wird imputiert, daß er in der Lage ist, die herrschenden Normen zu verstehen, und daß er der bewußte Urheber, das Steuerungszentrum, seiner Handlungen ist. Nach heutiger juristischer Auffassung setzt Zurechnungsfähigkeit voraus, daß der Handelnde in der Lage ist, das Unerlaubte einer Tat einzusehen (Einsichtsfähigkeit) und danach zu handeln (Steuerungsfähigkeit). Die Differenz zwischen Minderjährigkeit und Volljährigkeit sorgt also nicht nur dafür, daß Rechte und Pflichten unterschiedlich verteilt werden, sie ist auch eine institutionalisierte Form der Kausalattribution. Das Verhalten von Minderjährigen wird pauschal als extern verursacht angesehen, das Verhalten von Volljährigen pauschal als Ergebnis freier Entscheidung. Natürlich gibt es abweichende Zurechnungen, aber sie bedürfen der ausdrücklichen Begründung. Unter besonderen Umständen (Rausch, Müdigkeit, Affekt) verhalten sich Volljährige wie Minderjährige; in Einzelfällen handeln Minderjährige, als ob sie schon volljährig wären (Frühreife). Ein weiteres Problem besteht darin, daß die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen sich nicht an die Grenzen eines Funktionssystems hält. Vielmehr verläuft sie quer zur fünktionalen Differenzierung in Familien und Schulen. Die Frage, ob ein Kind noch ein Kind ist oder schon ein Erwachsener, ist in (westlichen) Familien ein bedeutsamer Gegenstand der Kommunikation. Damit wirkt das binäre Schema Kinder/Erwachsene aber in eine Richtung, die Luhmanns binären Codierungen zuwiderläuft. Während diese eine Schließung der bereichsspezifischen Diskurse (der »Kommunikationsmedien«) ermöglichen und so eine Differenzierung von Funktionssystemen befördern, unterbricht die Kind-Erwachsenen-Opposition diesen Schließungsprozeß.275 Die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen ist eine entdifferenzierende Differenz. Dennoch sehe ich einen Zusammenhang zwischen der Kind-Erwachsenen-Opposition und binären Codes. Die Erziehung in Familien und Schulen arbeitet mit einer Art Senioritätsprinzip. Die Wahrscheinlichkeit, daß Verhaltenszumutungen übernommen werden, erhöht sich dadurch, daß die Komplementärrollen von Erzieher und Zögling mit einem Altersgefälle verknüpft sind. Im Erziehungssystem - und nicht nur dort fünktioniert der Altersunterschied als eine Form des Autoritätsverhältnis275 Vgl. hierzu den Begriff der Unterbrechung bei Silverman/Torode 1980

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FUNKTION

ses. Alter hat für den Erziehungsprozeß also eine ähnliche Bedeutung wie Reputation für den Wissenschaftsprozeß, wo die Wahr-Falsch-Opposition durch die Unterscheidung von Reputation und Nicht-Reputation ersetzt werden kann.276 Nun wird aber das Alter durch die Opposition von Kindern und Erwachsenen binär schematisiert. Also handelt es sich in eingeschränktem Sinne doch um einen binären Code: um eine Ersatzbildung für den fehlenden Code der Erziehung. Vergleichbare Phänomene werden von Luhmann als »Nebencodes« bezeichnet.277 Insgesamt jedoch ist die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen für das alltägliche Funktionieren der Erziehungspraxis nicht entscheidend. Es gibt hier eine Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis. Während die Kind-Erwachsenen-Opposition in der Theorie eine Schlüsselrolle spielt, ist ihre Bedeutung für die Erziehungspraxis - verglichen etwa mit der Bedeutung der Wahr-Falsch-Opposition für die Wissenschaft - eher marginal. Und sofern man sich in Familie oder Schule auf die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen bezieht, geht es meist um die Frage von Minderjährigkeit oder Volljährigkeit, also um jene Frage, für die die Pädagogik sich unzuständig erklärt.

276 »Im Kernbereich ausdifferenzierter Erziehung, in der Schule, wird die Ordnungsfunktion solcher Medien durch das Altersgefälle Lehrer/Schüler und durch die Interaktionsform ersetzt.« Luhmann/Schorr 1979a, S. 55 277 Zur Frage der Nebencodes vgl. Luhmann 1986, S. 183

STRUKTURKERN

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5A Struktur kern Die Tatsache, daß die Kind-Erwachsenen-Opposition für die Pädagogik von so großer Bedeutung ist, kann von der Erziehungspraxis her nur zum Teil aufgeklärt werden. Man muß die Opposition also unter einem anderen Aspekt betrachten: als Element des pädagogischen Wissen.278 Die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen ist, wie eingehend erläutert, mit drei Behauptungen verknüpft, mit Aussagen über die Gliederung des Lebenslaufs, die Terminierung des Einschnitts und den Geltungsbereich dieser Zweiteilung. Wenn die Unterscheidung nicht mehr realistisch interpretiert wird - wenn sie sich in einen Signifikanten verwandeln, in eine binäre Opposition -, dann verändert sich auch der Status der mit ihr verknüpften Feststellungen. Es handelt sich dann nicht mehr um Behauptungen, in denen ein Wahrheitsanspruch erhoben wird, also nicht mehr um Aussagen im engeren Sinne; diese Sätze sind vielmehr bloße Annahmen, für die die Frage nach Wahrheit oder Falschheit irrelevant ist. Insofern liegt es nahe, die Funktion der Kind-Erwachsenen-Opposition und der mit ihr verbundenen Feststellungen im Rahmen eines non-statement-view zu bestimmen, einer Nicht-Aussagen-Konzeption, wie sie von Sneed und Stegmüller für die strengen Wissenschaften entwickelt worden ist. Theo Herrmann hat diesen Ansatz für die Psychologie fruchtbar gemacht; in den folgenden Thesen versuche ich, seine Überlegungen auf die Erziehungstheorie zu übertragen und für sie weiterzuentwickeln.279 (1) Erziehungsdiskurse.- Pädagogik und Erziehungswissenschaft bestehen aus einer Reihe von locker miteinander verknüpften Diskursen. Einige dieser Diskurse werden durch Leitdifferenzen zusammengehalten. Ein großer Teil der Pädagogik orientiert sich an der Kind-Erwachsenen-Opposition; in Anspielung auf die Etymologie (griech. pais = Kind) könnte man den entsprechenden Diskurs als »pädagogischen Diskurs im engeren Sinne« bezeichnen. Daneben gibt es einen Diskurs, der durch die Unterscheidung von Lehrenden und Lernenden fokussiert wird - den didaktischen Diskurs - sowie schließlich einen Diskurs der sozialen Hilfe, der die Differenz zwischen Betreuern und Klienten ins Zentrum stellt.

278 Zu diesem Begriff vgl. Oelkers/Tenorth 1991b 279 Vgl. Stegmüller 1970, Herrmann 1976

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(2) Pädagogische Äquivalenzenkette.- Der Übergang zwischen den verschiedenen Diskursen wird insbesondere durch die pädagogische Äquivalenzenkette hergestellt, also durch die Struktur Erwachsene : Kinder ^ Lehrende : Lernende — Betreuer : Klienten usw. Die Trennung zwischen den Diskursen erfolgt nicht zuletzt durch die Unterbrechung solcher Aquivalenzketten. (3) HegemonieDie Einheit in der Vielfalt der Diskurse beruht auf Dominanzverhältnissen; diese Einheit verändert sich in dem Maße, wie die Kräfteverhältnisse sich verschieben. Hegemoniale Ansprüche des - im engeren Sinne - pädagogischen Diskurses kann man als »Pädagogisierung« bezeichnen, solche des didaktischen Diskurses als »Verschulung« und solche des Hilfediskurses als »Therapeutisierung«.280 Wenn man die Erwachsenenbildung - da sie es mit bereits Sozialisierten zu tun habe - zum Grenzfall der Pädagogik erklärt281, oder wenn man behauptet, Pädagogik und Erziehung würden ihren Gegenstand verlieren, wenn man die Differenz zwischen Kindern und Erwachsenen zum Verschwinden brächte282 , dann handelt es sich um Versuche, dem pädagogischen Diskurs die Hegemonie zu sichern. Ein Versuch der Verschulung liegt beispielsweise dann vor, wenn man »Lernfähigkeit« zum Zentralbegriff erklärt. (4) StrukturkernDer - im engeren Sinne - pädagogische Diskurs hat einen Strukturkern mit folgenden Elementen: a) die binäre Opposition Kinder/Erwachsene, b) die drei Annahmen über den Lebenslauf: über dessen Gliederung, über die Datierung des Einschnitts und über den Geltungsbereich dieser Struktur. (5) Non-statements.- Der Strukturkem des pädagogischen Diskurses ist, wie jeder Strukturkern, nicht falsifizierbar. Für die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen ist das selbstverständlich, da nur Sätze, nicht aber Begriffe falsch sein können. Aber außerdem gilt: Die Sätze »Es gibt Kinder« und »Es gibt Erwachsene« sind keine Existenzbehauptungen, und die drei Thesen über die Dualisierung des Lebenslaufs, die Terminierung des Einschnitts und die Allgemeingültigkeit dieser Struktur sind Thesen im wörtlichen Sinne: Positionen, Setzungen jenseits der Wahr-Falsch-Opposition. Nur von der Oberflächengrammatik her stellen sie sich als (falsifizierbare) Erfahrungssätze dar, der Tiefengrammatik nach handelt es sich 280 Vgl. hierzu, mit anderer Terminologie, Giesecke 1985, S. 30 ff. 281 So bei Dewe/Radtke 1991, S. 152 282 So bei Lenzen 1994, S. 360

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um grammatische Sätze im Sinne Wittgensteins, um Regeln der Sprachverwendung, die ein bestimmtes Sprachspiel ermöglichen.283 Im Rahmen des Kind-Erwachsenen-Diskurses sind Fragen wie die, ob es Kinder und Erwachsene gibt, ob der Lebenslauf tatsächlich aus zwei Phasen besteht usw., falsch gestellt. Dieser Strukturkern läßt sich zwar nicht widerlegen, er kann jedoch aufgegeben werden. Mit dem Strukturkern verschwände zugleich der pädagogische Diskurs, keineswegs aber Pädagogik und Erziehungswissenschaft, da diese noch aus einer ganzen Reihe von weiteren Diskursen bestehen. (6) Problematik.- Der Strukturkern bestimmt den Kind-ErwachsenenDiskurs insofern, als er mögliche Themen, Fragen und Argumentationen strukturiert. Die Kind-Erwachsenen-Opposition und die damit verbundenen Kernannahmen bilden eine Problematik: sie ermöglichen es, Probleme zu formulieren, und geben zugleich den Rahmen vor, innerhalb dessen diese Probleme gelöst werden müssen.284 (7) Zusatzannahmen.- Um die Probleme zu lösen, die im Rahmen des Strukturkerns formulierbar sind, werden die Kernannahmen durch Zusatzannahmen erweitert, die - auch wenn sie zum Alltagswissen oder zum Professionswissen gehören - häufig theologischen, philosophischen, anthropologischen, psychologischen oder soziologischen Theorien entlehnt sind (der Erwachsene ist mündig, zu formalen Denkoperationen fähig, kann eine Berufsrolle ausfüllen usw.). Anders als die Kernannahmen stehen diese Zusatzannahmen zur Disposition; man kann sie verändern, ohne daß der Kind-Erwachsenen-Diskurs zu existieren aufhört. Der pädagogische Diskurs (im engeren Sinne) ist auf diese Weise mit anderen Theorieformationen verknüpft, traditionell vor allem mit der Theologie und der Philosophie (Erwachsener als autonomes moralisches Subjekt), heute darüber hinaus mit der Psychologie (z.B. Entwicklungspsychologie), der Soziologie (z.B. Soziologie des Lebenslaufs) und der Sozialisationstheorie (z. B. Theorie der Erwachsenensozialisation). (8) Kolonisierung.- Sofern sich Theorien außerhalb der Erziehungswissenschaft an der Kind-Erwachsenen-Differenz orientieren, beruht dies auf einer Kolonisierung durch den pädagogischen Diskurs. Piagets genetische Psychologie und Eriksons Theorie der Ich-Identität beruhen auf einer Pädagogisierung der Psychologie bzw. der Psychoanalyse. 283 Vgl. Wittgenstein 1977, v.a. §§ 251, 258, 664 284 Vgl. Althusser 1968, v.a. S. 32, 126 f., Althusser/Balibar 1972, S. 206, Jäger 1985

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(9) Metaphern.- Metaphern haben im pädagogischen Diskurs eine systematische Funktion. Ihre Leistung besteht darin, Widersprüche zwischen dem Strukturkern und den Zusatzannahmen zu versöhnen, etwa den Konflikt zwischen dem dualistischen Lebenslaufschema und der Forderung nach unbegrenzter Selbstvervollkommnung. (10) Verknüpfung unterschiedlicher WissensartenDie Kind-ErwachsenenOpposition verbindet heterogene Formen des Wissens, sie verknüpft die wissenschaftliche Theoriebildung und das berufliche Wissen mit der psychischen Identifizierung und der öffentlichen Diskussion. Sie trägt wesentlich dazu bei, daß der Eindruck entsteht, in den verschiedenen Zusammenhängen werde über dasselbe geredet. (11) Integration.- Erziehungswissenschaft und Pädagogik sind also in gewissem Maße vereinheitlicht. Diese Einheit beruht nicht auf einem Quasi-Paradigma, sondern auf einem fiktiven Sachbezug. Quasi-Paradigmen sind in der Pädagogik die philosophischen und wissenschaftstheoretischen Orientierungen; sie gehören zu den stärksten Spaltungskräften. Der fiktive Sachbezug (dpmain285 ) wird durch die Leitdifferenzen und deren Kräfteverhältnisse hergestellt. Der dominante Diskurs ist noch immer derjenige, der sich an der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen orientiert; der von Roth behauptete integrative Charakter pädagogischen Wissens286 beruht - wie sein eigenes Werk bezeugt - nicht zuletzt auf der verbindenden Kraft dieser Unterscheidung. Die Kind-Erwachsenen-Opposition bildet erstens den Stützpunkt für die Hegemonisierung anderer Erziehungsdiskurse, des didaktischen Diskurses und des Hilfediskurses, sie liefert zweitens ein Raster für die Assimilation anderer Fachdisziplinen, und sie bildet schließlich einen Verbindungspunkt zwischen den unterschiedlichen Wissensarten. (12) Flottierender SignifikantDurch die Verknüpfüng mit Metaphern, Äquivalenzenketten, Zusatzannahmen und Wissensformen wird die KindErwachsenen-Opposition zu einem »flottierenden Signifikanten«, zu einem Signifikanten, der sich mit den unterschiedlichsten Bedeutungen aufladen kann. Natürlich müßten diese Thesen ausführlich begründet werden. Angesichts der Tatsache, daß man über das pädagogische Wissen nur wenig weiß, mag es jedoch genügen, das argumentum ad auctoritatem ins Feld zu 285 Den Begriff domain übernimmt Herrmann von Shapere (vgl. Shapere 1974). 286 Vgl. Roth 1962

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fuhren, also die Anschließbarkeit an die Nicht-Aussagen-Konzeption selbst schon zum Argument zu erklären. Erläutern will ich die sechste These. Wie strukturiert die Kind-Erwachsenen-Opposition mögliche Untersuchungsgegenstände, wie erzeugt sie eine Problematik? Dadurch, daß sie ein Raster für die binäre Strukturierung der drei Dimensionen des sozialen Raums liefert: des Sozialen, des Sachbezugs und der Zeit. Sie liefert so ein Schema für die Explikation pädagogischen Handelns.287 In sozialer Hinsicht stellt sich die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen als Differenz zweier Komplementärgruppen dar. Unter diesem Aspekt unterscheidet sie sich von Oppositionen wie zahlen/nichtzahlen, rechtmäßig/unrechtmäßig und wahr/falsch; sie ist vergleichbar mit Gegensätzen wie Männer/Frauen, Arme/Reiche, rechts/links. Mit einem derartigen Schema wird nahegelegt, daß die Gesellschaft ihre Einheit darin hat, daß sie sich in zwei Hälften spaltet, unter wirtschaftlichem Aspekt betrachtet in Armen und Reichen, politisch gesehen in Rechte und Linke, wissenschaftlich in Experten und Laien und unter dem Gesichtspunkt der Erziehung eben in Kinder und Erwachsene. Dieses binäre Schema kann dazu dienen, Handlungen zu klassifizieren. Man kann zwei Typen von Akteuren unterscheiden (Kinder und Erwachsene) und Formen der Interaktion voneinander abgrenzen (zwischen Kindern, zwischen Erwachsenen, Einwirkungen von Kindern auf Erwachsene, Einwirkungen von Erwachsenen auf Kinder, Wechselwirkungen zwischen Kindern und Erwachsenen usw.). Durch Verweis auf die Kind-Erwachsenen-Opposition kann das Gefüge der Komplementärrollen von Kindern und Eltern, Schülern und Lehrern, Jugendlichen und Sozialpädagogen als Variante eines grundlegenden Musters gedeutet werden, der differentiellen und hierarchischen Positionen von Kindern und Erwachsenen. Unter sachlichem Aspekt betrachtet, liefert die Kind-Erwachsenen-Opposition ein Raster für die Strukturierung von Aufgaben. Mit der KindErwachsenen-Opposition kann man sowohl Weil-Motive formulieren (erzogen wird jemand deswegen, weil er noch nicht erwachsen ist) als auch Um-zu-Motive: jemand wird erzogen, um seine Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen zu befördern. Man kann entlang der Dichotomie eine Problemverschiebung vornehmen und »Erwachsenenprobleme als Probleme von Heranwachsenden«288 formulieren. Wenn man das Erwachsensein mit Zusatzbestimmungen versieht (Vernünftigkeit, psychische Dispo287 Das Drei-Dimensionen-Raster übernehme ich von Luhmann. 288 Prange 1988, S. 7

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sitionen, soziale Rollen), kann man Handlungsziele präzisieren (Erwachsensein in bestimmter Form), über Ziel-Präferenzen diskutieren (Sollten Erwachsene eher so oder so beschaffen sein?) und ethische Fragen aufwerfen (Darf man Kinder zur Freiheit zwingen?). Man kann Mittel oder Wege gegeneinander abwägen (Welche Maßnahmen entsprechen am ehesten der Kindlichkeit des Kindes? Welche befördern am ehesten sein Erwachsenwerden?) Man kann Vergleiche zwischen Ist- und Sollzuständen vornehmen (Ist das Kind auf dem Weg des Erwachsenwerdens so weit, wie es sein sollte?), und man kann Maßnahmen vorschlagen, die eine Beschleunigung oder Verzögerung des Übergangs bewirken könnten. Das Schema ermöglicht Anschlüsse: Das Erwachsensein bestimmter Individuen kann auf deren Kind-gewesen-Sein oder auf das Erwachsensein anderer bezogen werden. Die Opposition Kinder/Erwachsene enthält eine Präferenz für das Erwachsensein: das Kind ist der Noch-nicht-Erwachsene. Die logisch negative Seite ist jedoch nicht einfach eine Störung; die Negation kann, anders als bei Einheitsformeln wie »Allseitigkeit« oder »Bildung«, einen positiven Wert bekommen. Das Kind ist nicht das reine Noch-Nicht, sondern zugleich ein Auch-Schon, es erhält ein »Eigenrecht«. Will man noch weiter gehen, bietet es sich an, die Bewertung umzukehren; erwachsen zu sein wird dann zum Nicht-Mehr, zum Verlust, und man kann fordern, der Erwachsene solle zum Kind reifen289 und an »Kindhaftigkeit«290 zunehmen. Der zeitliche Aspekt unterscheidet die Kind-Erwachsenen-Opposition von den anderen erwähnten Oppositionen. Das duale Schema reduziert die Komplexität von Lebensläufen, es neutralisiert, mit Lyotard zu sprechen, das Ereignis - das life-event -, und zwar dadurch, daß es den Alterungsprozeß aller Individuen einer einzigen Zäsur unterwirft und hierdurch eine Vorher-nachher-Opposition erzeugt. Das Kontinuum der Alterungsprozesse und die Wechselfälle des individuellen Lebens werden so in »soziale Zeit«291 verwandelt, in die allgemeingültige geordnete Sequenz von genau zwei aufeinanderfolgenden Perioden. Durch diese Zweiteilung erscheint die Biographie als Ganzheit. Das ermöglicht es, das Erziehungshandeln als Vorgang in der Zeit zu artikulieren. Die Kind-ErwachsenenOpposition bestimmt Anfang und Ende der Erziehung, entweder so, daß die Erziehung mit dem Beginn des Erwachsensein endet, oder so, daß die 289 Vgl. Montagu 1981 290 Dewey 1923, S. 59 (1976, S. 74); siehe oben S. 24 291 Zu diesem Begriff vgl. Sorokin/Merton 1937

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Erziehung zwei Phasen umfaßt, Kindheit und Erwachsenenalter. Die individuelle Mikrozeit läßt sich mit der Makrozeit der Gesellschaft verknüpfen. Die Kinder repräsentieren die Vergangenheit. Die Zukunft, sofern sie gewiß ist, ist in den Erwachsenen gegenwärtig. Steht die Zukunft jedoch in Frage, sind es die Kinder, in denen sie zum Vorschein kommt. Der Ubergang vom Kindsein zum Erwachsensein gilt als ewig oder doch zumindest als von langer Dauer. Immer schon war es so, daß Kinder zu Erwachsenen wurden, und immer wird es so sein.292 Die Kind-Erwachsenen-Opposition wird zum Schema einer Wiederholung und liefert so eine zeitliche Gewißheit, die wiederum in Zweifel gezogen werden kann. Wie alle Kinder wird auch dieses Kind erwachsen werden. Aber: Werden Kinder heutzutage überhaupt noch erwachsen?

292 Vgl. auch Luhmanns Überlegungen zur Fortsetzung der Erziehung (Luhmann 1991b, S. 35), die ich allerdings nicht nachvollziehen kann. Wieso garantiert die Mediensemantik »Kind«, daß immer wieder Kinder nachwachsen? Ist gemeint, daß »organisch-psychischen Systeme« nachwachsen (dafür spricht der folgende Satz über die Einschulung), oder geht es um eine Garantieerklärung? Falls letzteres gemeint ist: Wieso ist diese Garantieerklärung eine Leistung speziell des pädagogischen Diskurses (des »Mediums Kind«)?

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5-5 Evidenz Die mit der Kind-Erwachsenen-Opposition verknüpften Annahmen verdanken ihre Geltung der Tatsache, daß sie evident sind; das ontologische Mißverständnis ist für sie konstitutiv. Wie jede Evidenz hat auch diese zwei Aspekte, zwei Wertigkeiten: einen Realitätseffekt und einen Subjektivierungsseffekt. Der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen erscheint als evident, weil es sich um eine unbestreitbare Gegebenheit zu handeln scheint und weil zugleich das Subjekt auf unwiderstehliche Weise von dieser Gegebenheit erfaßt wird. Hieraus ergeben sich zwei weitere Thesen (mit denen ich den Rahmen der Nicht-Aussagen-Konzeption endgültig verlasse): (13) RealitätseffektDer Realitätseffekt der Kind-Erwachsenen-Opposition beruht auf einer Verbindung von biologischen und juristischen Konnotationen: Größenunterschied, Geschlechtsreife und Majorennität, und zwar genau insofern, als diese Bezüge verdrängt werden. (14) SubjektivierungseffektDer Subjektivierungseffekt beruht darauf, daß der Sprecher gezwungen ist, sich mit einer der beiden Seiten der Opposition zu identifzieren. Zur 13. These: Die Unterscheidung von Kindern ist das »Modell eines Originals«293 , genauer: das Modell mehrerer Originale. Die Originale sind biologischer und rechtlicher Natur: Geschlechtsreife, Beendigung des Größenwachstums, Unterscheidung von Minderjährigkeit und Volljährigkeit. Das pädagogische Modell unterscheidet sich gravierend von seinen Originalen. Statt um Zuschreibungen geht es um Leistungen. Hinzu kommt, daß die Kind-Erwachsenen-Opposition in der Humanbiologie und im Recht eine andere Funktion hat als in der Erziehung. In der Pädagogik handelt es sich um ein dominantes Element, in Recht und Biologie um ein dominiertes. Während Pädagogik und Erziehungswissenschaft die Beziehung zu philosophischen, soziologischen, psychologischen oder auch theologischen Diskursen immer wieder neu herstellen, spielt die Biologie nur am Rande eine Rolle; der juristische Diskurs wird eher gemieden. Das heißt jedoch nicht, daß die biologische und juristische Interpretation der Kind-Erwachsenen-Opposition in der Pädagogik unwirksam wä293 Vgl. Stachowiak 1973; Herrmann 1976, S. 81 ff.

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ren. Es gibt eine Verbindung zwischen der pädagogischen und der nichtpädagogischen Deutung, eine Verbindung durch Verdrängung -Verdrängung ist ja bekanntlich nicht Nichtexistenz, sondern eine Form der Wirksamkeit. Die biologischen und juristischen Zweiteilungen zeichnen sich dadurch aus, daß sie über jeden Zweifel erhaben sind. Es ist völlig klar, daß es Wachsende und Erwachsene gibt, es ist sichtbar, ob jemand die Pubertät durchlaufen hat oder nicht, darüber, daß es Minderjährige und Volljährige gibt, läßt sich nicht streiten. Die biologischen und juristischen Bipartitionen wirken in die pädagogische Differenz derart hinein, daß sie ihr die Gewißheit liefern. Es ist genau die Banalität der biologischen und juristischen Unterscheidung, welche dem pädagogischen Diskurs die Sicherheit verschafft, daß es sie gibt, Kinder und Erwachsene. Die ausgeschlossenen Bezüge funktionieren als Evidenzbeschaffer - nicht obwohl sie ausgeklammert werden, sondern weil sie ausgeklammert werden. Für die juristische Konnotation gilt: Die Kind-ErwachsenenOpposition hat keinen Referenten, sondern eine Referenz, es handelt sich um ein Zitat, ein Zitat aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch; dieses Zitat liefert den Realitätseffekt dadurch, daß es nicht in Anfuhrungszeichen steht. Die Denotation ist ein Resultat der juristischen Konnotation.294 Verrechtlichung ist also nicht eine Dynamik, welche die Sozialisationsprozesse erst in den letzten Jahren von außen erfaßt hat (durch Ausdehnung und Detaillierung des geschriebenen Rechts, durch Verschiebung der Kompetenzen von der Verwaltung zur Gesetzgebung, durch zunehmende Einschaltung der Gerichte in Bildungsstreitigkeiten - mit dem Ergebnis, daß die Beziehungen zwischen Kindern und Eltern, Schülern und Lehrern, Studenten und Hochschullehrern zunehmend nach rechtsstaatlichen Prinzipien reorganisiert werden, bis in die Erwachsenenbildung hinein295). Das Recht ist vielmehr eine Bedingung von Pädagogik und Erziehungswissenschaft, sofern diese sich am Verhältnis von Heranwachsenden und Erwachsenen orientieren. Genau dasjenige Elemente, welches Pädagogik und Erziehungswissenschaft die Einheit sichern soll, durchlöchert also diese Einheit und verbindet den Erziehungsdiskurs mit anderen Diskursarten. Wenn die geistes294 Ich habe mich hier anregen lassen durch Roland Barthes Unterscheidung von Denotation und Konnotation sowie durch die Diskurstheorie von Pecheux und Fuchs (vgl. Barthes 1976; Pecheux/Fuchs 1975, S. 208 f. sowie die Erläuterungen zu Barthes in Coward/Ellis 1979, S. 45 ff.). 295 Vgl. Reuter 1980

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wissenschaftliche Pädagogik darauf verweist, daß die Erziehungswissenschaft auf einer vorwissenschaftlichen Erfahrung beruht, so hat sie damit recht; diese Erfahrung entspringt jedoch nicht notwendigerweise der Erziehungspraxis (und es handelt sich sicherlich auch nicht um eine präsymbolische Erfahrung). Die Pädagogik ist in bezug auf ihre Grundbegriffe nicht autonom. Was ein einheimischer Begriff zu sein scheint, erweist sich bei näherem Hinsehen als Immigrant. Die Totalisierung von Pädagogik und Erziehungswissenschaft durch Orientierung an der Kind-Erwachsenen-Opposition wird durch eben diese Opposition unterbrochen.296 Unter den drei Realitätsbeschaffern sind der juristische und der sexuelle Bezug die wichtigsten. Die vorherrschende Deutung des Erwachsenen orientiert sich an der Moral - der Erwachsene als autonomes moralisches Subjekt; die Moralisierung der Kind-Erwachsenen-Opposition ist das Symptom des verdrängten Rechts- und Sexualitätsbezugs. Die neuzeitliche Moral entwickelt sich in beständiger Auseinandersetzung mit dem Recht. Ohne das moderne Recht gäbe es keine Vernunftmoral. Die Moral verweist aber zugleich auf die Sexualität. Denn die Moral - deren Aufgabe darin besteht, die Handlungsantriebe der Vernunftkontrolle zu unterwerfen - hat ihre größte Herausforderung im sexuellen Begehren, darüber herrscht in der philosophischen und pädagogischen Tradition kein Zweifel. Man denke an den »Emile«, wo der Eintritt in die Pubertät mit dem Wechsel von der negativen zur positiven Erziehung verbunden ist. Zur 14. These: Die verdrängte Beziehung zum Recht und zur Biologie verleiht der Kind-Erwachsenen-Opposition ihren Realitätscharakter. Diese Realität ist jedoch keine bloße Gegebenheit, kein Thema, nichts, was demjenigen, der über sie spricht, äußerlich wäre. Die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen ist Element einer reflexion engagee, und zwar notwendigerweise, aus logischen und linguistischen Gründen. Die Kind-Erwachsenen-Opposition ist totalisierend. Als binäre Codierung des Sozialen bezieht sie sich auf sämtliche Mitglieder der Gesellschaft und teilt sie in zwei »Hälften«. Das ist ihr mit der Opposition männlich/weiblich gemeinsam, unterscheidet sie aber beispielsweise vom Freund-FeindGegensatz (der Sprecher ist hier weder Freund noch Feind, sondern etwas Drittes: der Freund des Freundes bzw. der Feind des Feindes). Die KindErwachsenen-Opposition ist also eine totalisierende komplementäre Co-

296 Laclau bezeichnet derartige Phänomene als dislocation; vgl. Laclau 1990.

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dierung nach dem Schema von Ego und Alter, Eigenes und Fremdes, Ich und Nicht-Ich, Selbst und Anderer. Die Identifizierung mit einer der beiden Kategorien ist zugleich die Identifizierung mit einer Gruppe. Sämtliche anderen werden vom Standpunkt des Sprechers aus in zwei Klassen geteilt, in diejenigen, die gleichartig sind und diejenigen, die andersartig sind. Die Ego-Alter-Formel wird so zu einer Wir-und-sie-Formel, zu einer Unterscheidung zwischen ingroup und outgroup. Das soziale Feld wird in zwei Kategorien zerlegt, diejenigen, in die ich mich einfühlen kann, zu denen ich in Beziehungen der Reziprozität und der Rivalität stehe, in denen ich mich wiedererkenne; und diejenigen, die mir fremd sind, bei denen die Möglichkeit der Einfühlung, der Reziprozität, der Spiegelung auf eine Grenze stößt, auf einen Widerstand, eine Unmöglichkeit. Im Prinzip sind beide Selbstzuordnungen möglich; in Alfred Anderschs Roman »Sansibar oder der letzte Grund« spricht der Schiffsjunge statt von »Erwachsenen« beharrlich von den »Anderen«. In Erziehungsdiskursen jedoch identifiziert sich der Sprecher mit der Kategorie des Erwachsenen. Und auch der Hörer wird als Erwachsener eingeordnet. Im pädagogischen Diskurs wendet sich der Sprecher, indem er das Verhältnis von Kindern und Erwachsenen zum Gegenstand macht, als Erwachsener an Erwachsene. Das sich äußernde Subjekt muß sich zu einer der beiden Kategorien zählen. Es ist entweder das eine oder das andere, entweder Kind oder Erwachsener. Der Sprecher befindet sich der Kind-Erwachsenen-Opposition gegenüber nicht in einer souveränen Position. Die Äußerlichkeit der Unterscheidung - und damit der Sprechvorgang als Beziehung zu einer Sache - wird hierdurch unterbrochen, die Unterscheidung wird zum Bestandteil des Sprechvorgangs selbst.297 Das Subjekt des Äußerungsvorgangs tritt rückwirkend in eine der beiden Positionen ein, die im Aussageinhalt enthalten waren. Psychologisch gesprochen: die Kind-Erwachsenen-Opposition zwingt den Sprecher zu einer Identifizierung, indem sie ihn mit zwei möglichen Subjektpositionen konfrontiert, zwischen denen er wählen muß. Er kann zwar versuchen, einen Ort zu definieren, der jenseits dieser Alternative liegt - etwa als Jugendlicher -, aber das ist eine sekundäre Bildung, bei der die Dichotomisierung bereits vorausgesetzt ist.298 Es gibt hier also eine Spannung zwischen der Ebene der Aussageinhalte und der 297 Auf ein ähnliches Phänomen verweisen Silverman/Torode in ihrer Kritik der Ethnomethodologie; vgl. Silverman/Torode 1980, v.a. S. 158 ff. 298 Vgl. hierzu auch Schmitt 1987, S. 35

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des Aussagevorgangs. Auf der Ebene der Aussageinhalte kann das sprechende Subjekt sich mit Hilfe der Kind-Erwachsenen-Opposition als Subjekt des autonomen Handelns darstellen; auf der Ebene des Äußerungsvorgangs jedoch wird es durch sein eigenes Sprechen determiniert.

6 Garantie Immer wieder hat man den Pädagogen ihre Allmachtsphantasien vorgeworfen, sicherlich nicht zu Unrecht. Dennoch gilt: Die Frage nach den Grenzen der Erziehung, nach ihren Dilemmata und Paradoxien gehört zu den klassischen Themen des Fachs299 ; Benner und Göstemeyer sprechen von der »aporetischen Grundstruktur neuzeitlichen pädagogischen Denkens und Handelns«300 . Vor diesem Hintergrund bekommt die Kind-Erwachsenen-Opposition ihre Bedeutung. »Der Vorteil der Unterscheidung Kinder/Erwachsene«, so erklärt Luhmann, »liegt in ihrer Offensichtlichkeit, und wie immer dient diese Offensichtlichkeit dazu, etwas zu verdecken. Verdeckt wird, daß man die Systeme gar nicht kennt und nicht kennen kann, die so bezeichnet werden.«301 Die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen kaschiert demnach eine Unmöglichkeit, die Unmöglichkeit, das wirkliche Kind und den wirklichen Erwachsenen zu erkennen. Ich möchte diese Feststellung aufgreifen und umformulieren. Meine letzte These zur Funktion der Kind-Erwachsenen-Opposition lautet: (15) Die Gewißheity erzogen zu sein.- Die Kind-Erwachsenen-Opposition verdeckt die Tatsache, daß der Erzieher nicht erzogen ist.

6-1 Wer erzieht die Erzieher? 1845 formuliert Marx seine berühmten Feuerbachthesen. In der dritten These heißt es: »Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Teile - von denen der eine über ihr erhaben ist - sondieren.«302 »Erziehung der Erzieher« - es ist merkwürdig, daß Marx als Autor dieser Wendung ins kollektive Gedächtnis eingegangen 299 Eine Liste einschlägiger Titel findet man in Hentig 1985. 300 Benner/Göstemeyer 1987, S. 65 301 Luhmann 1991b, S. 24 302 Marx/Engels 1958 ff., S. 5 f.- Zur Kritik an der Engelsschen Fassung der dritten These vgl. Labica 1996.

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ist; dabei handelt es sich um einen Topos der pädagogischen Literatur. Für die christliche Theologie des Mittelalters ist Christus der Lehrer, der die weltlichen Erzieher erzieht. Diese Figur wird von Lessing aufgegriffen und umgestaltet, als er 1777 in der »Erziehung des Menschengeschlechts« schreibt, Gott habe das Volk der Juden erzogen, »um in der Folge der Zeit einzelne Glieder desselben so viel sichrer zu Erziehern aller übrigen Völker brauchen zu können. Er erzog in ihm die künftigen Erzieher des Menschengeschlechts.«303 Eine ähnliche Wendung findet sich in Schleiermachers Abhandlung »Uber den Beruf des Staates zur Erziehung« von 1814. Sofern der Staat nicht nur eine hemmende, sondern eine hervorbringende Kraft ist, gehört zu seinen Zwecken auch das Erziehen. Falls dieser Zweck nicht speziell ist, sondern ganz allgemein, »so wird er unter anderem auch unmittelbar erziehen, nächstdem aber besonders die Erzieher erziehen.«304 Die Rede von der Erziehung der Erzieher bezieht sich hier, wie Luhmann es nennen würde, auf einen reflexiven Mechanismus, auf eine gestufte Struktur, in welcher Erziehung auf Erziehung angewendet wird; die oberste Stufe wird traditionell von Gott oder Christus besetzt, später vom Staat. Statt vertikal kann dieser Mechanismus aber auch horizontal strukturiert sein. Das Erzogenwerden der Erzieher ist dann von derselben Ordnung wie das Erziehen durch die Erzieher. In diesem Rahmen argumentiert beispielsweise Locke, wenn er in seinen »Gedanken über Erziehung« von 1693 schreibt: »To form a young Gentlemen as he should be, 'tis fit his Governour should himself be well bred«305 . Ganz ähnlich, nur abstrakter, heißt es bei Kant in den Vorlesungen über Pädagogik von 1776/77: »Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht. Es ist zu bemer-' ken, daß der Mensch nur durch Menschen erzogen wird, durch Menschen, die ebenfalls erzogen sind.«306 Zwanzig Jahre später kommt Kant auf das Thema zurück, diesmal jedoch mit einer völlig anderen Stoßrichtung. Im »Streit der Fakultäten« von 1798 äußert er sich zur Frage, ob ein Fortschritt durch Erziehung möglich sei. Die Antwort ist negativ, sie wird in zwei Schritten entwickelt. Zunächst heißt es, der Fortschritt durch Erziehung könne nicht 303 304 305 306

Lessing 1965, S. 11 (§ 18) Schieiermacher 1984, S. 158 Locke 1989, S. 150 (§ 93) Kant 1968, Bd. 12, S. 699.- Die Vorlesungen wurden mehrfach gehalten und 1803 auf der Basis von Hörermitschriften veröffentlicht.

WER ERZIEHT DIE ERZIEHER?

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»von unten herauf« bewirkt werden, sondern nur »von oben herab«, nicht durch Hausunterricht und Schulen, sondern nur dadurch, daß »das ganze Maschinenwesen dieser Bildung« einen Zusammenhang erhalte »nach einem überlegten Plane der obersten Staatsmacht«, wozu auch gehöre, daß der Staat sich von Zeit zu Zeit selbst reformiere und sich statt auf den Weg der Revolution auf den der Evolution begebe. Dann jedoch stellt Kant fest, daß auch diese Lösung zu Schwierigkeiten fuhrt, da »es aber doch auch Menschen sind, welche diese Erziehung bewirken sollen, mithin solche, die dazu selbst haben gezogen werden müssen«. Angesichts der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur und der Zufälligkeit der Umstände, welche die Erziehung begünstigen, ist ein Fortschritt deshalb nur zu erwarten von »einer Weisheit von oben herab (welche, wenn sie uns unsichtbar ist, Vorsehung heißt)«. Von Menschen könne man nur eine negative Weisheit erwarten und fordern, nämlich daß sie innerstaatlich ihre Verfassung auf echte Rechtsprinzipien gründen und außerstaatlich den Krieg zurückdrängen.307 Der Hinweis auf die Erziehung der Erzieher hat hier eine kritische Funktion, er zielt auf eine Grenze des Fortschritts. Fortschritt durch Erziehung wäre am ehesten durch eine staatliche Reform zu erwarten, aber da staatliche Reformen von Menschen gemacht werden, die selbst wiederum erzogen werden müssen, gibt es einen Zirkel. Der Fortschritt nimmt deshalb einen anderen Weg als den der Bildungsreform: er beruht entweder auf göttlicher Vorsehung oder besteht in der Vermeidung des größeren Übels. Wie beim späten Kant verweist auch bei Marx die Rede von der Erziehung der Erzieher auf eine Unmöglichkeit. Das Argument von Aufklärern wie Helvetius und d'Holbach hatte gelautet: Die Menschen sind Produkte der Umstände und der Erziehung; wenn sie schlecht sind, so deswegen, weil die Umstände und die Erziehung schlecht sind; also muß man, wenn man die Menschen verbessern will, die Umstände und die Erziehung reformieren. Das Problem wird hier auf der Seite des Edukanden angesiedelt, er ist mangelhaft, und die Aufgabe besteht darin, seine Un307 Alle Zitate: Ebd., Bd. 11, S. 366 f.- Ganz ähnlich heißt es in der »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht abgefaßt«, die im selben Jahr veröffentlicht wurde: »Der Mensch muß also zum Guten erzogen werden; der aber, welcher ihn erziehen soll, ist wieder ein Mensch, der noch in der Rohigkeit der Natur liegt, und nun doch dasjenige bewirken soll, was er selbst bedarf. Daher die beständige Abweichung von seiner Bestimmung, mit immer wiederholten Einlenkungen zu derselben.« A 321 (Kant 1968, Bd. 12, S. 678), vgl. auch ebd., A 325

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Vollkommenheit zu beseitigen. Die Position des Erziehers erscheint demgegenüber als sekundär. Kant und Marx vollziehen einen Perspektivenwechsel und geben dem sokratischen »Ich weiß, daß ich nichts weiß« eine neue Fassung. Nicht die Unvollkommenheit des zu Erziehenden ist das Problem, sondern die des Erziehers. Die Originalität von Marx gegenüber Kant besteht darin, daß er diesen Perspektivenwechsel mit einer Kritik der Pädagogik verbindet. Die Pädagogik gründet sich auf ein »Vergessen«. Wenn die Unvollkommenheit exklusiv auf der Seite des Zöglings angesiedelt wird, dann wird vergessen, daß auch der Erzieher unvollkommen ist, daß also auch er erzogen werden muß. Die Pädagogik unterstellt die Vollkommenheit des Erziehers, und diese Fiktion wird von Marx in der dritten Feuerbachthese ans Licht gezerrt. Marx* Originalität besteht außerdem darin, daß er die Aporie von der Erziehung der Erzieher nicht, wie Kant, dazu benutzt, um das Feld der Pädagogik zu verlassen, sondern um es umzustrukturieren. Traditionell wird die Erziehungspraxis handlungstheoretisch begriffen: als Entäußerung eines präexistierenden Subjekts, als Tätigkeit des erzogenen Erziehers. In den Feuerbachthesen entwirft Marx einen anderen Begriff der Praxis. Die Praxis wird nicht mehr vom Subjekt aus gedacht - die Erziehungspraxis nicht mehr ausgehend vom Erzieher -, das Subjekt wird vielmehr als Ergebnis der Praxis begriffen. Nicht nur der Edukand, auch der Erzieher ist Resultat der Erziehungspraxis. »Praxis« meint hier also nicht soziales Handeln. Damit beruht die Erziehung nicht mehr auf dem Unterschied zwischen denjenigen, die erziehen, und denjenigen, die erzogen werden, sie wird zur Selbstveränderung in der Veränderung der Umstände.308 Marx wechselt hier nicht von einem Absichts- zu einem Wirkungs-

308 Wie man weiß, war diesem Gedanken in der Arbeiterbewegung wenig Erfolg beschieden. Rosa Luxemburg hat ihn in ihrer Kautsky-Kritik aufgegriffen: das Proletariat ergreift die Staatsgewalt notwendigerweise verfrüht, denn erst im Verlauf der politischen Krise, die seine Machtergreifung begleiten wird, kann es den Grad an politischer Reife erlangen, der es zur endgültigen Umwälzung befähigen wird (vgl. Luxemburg 1966, S. 120 ff.). In der von Edward P. Thompson inspirierten Arbeitergeschichtsschreibung spielt die These von der Selbstveränderung durch Veränderung der Umstände hingegen eine prominente Rolle, man denke etwa an die von Michael Vester beschriebenen Lernzyklen der Arbeiterbewegung (vgl. Vester 1972, v.a. S. 25 ff.).- Interessanterweise begreift die geisteswissenschaft-

WER ERZIEHT DIE ERZIEHER?

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begriff der Erziehung; er verläßt das Modell linearer Kausalität, das dieser Alternative zugrunde liegt, und postuliert eine kreisförmige Kausalität, worin die Wirkung ihre eigene Ursache erzeugt. Er überwindet damit den überlieferten Bildungsbegriff, in welchem Erziehung und Politik durch die Figur des Aufschubs miteinander verbunden sind und die politischen Probleme durch Bildung in pädagogische Quarantäne genommen werden.309

liehe Pädagogik Pädagogik als Einheit von Wissenschaft, Handlungslehre und sozialer Bewegung. 309 Vgl. Prange 1988, S. 7 f.

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62 Die Unmöglichkeiten der Erziehung Inwiefern sind die Erzieher nicht erzogen? Insofern, als das Erziehen, wie es bei Freud einmal heißt, ein unmöglicher Beruf ist, ein Beruf, für den man niemals hinreichend erzogen sein kann. Vier Unmöglichkeiten sind es, durch welche die Erziehung vor allem geprägt wird: die Unmöglichkeit zu wissen, was man wissen soll (die Unmöglichkeit der Didaktik), die Unmöglichkeit zu bewirken, was man bewirken will (die Unmöglichkeit der Methode), die Unmöglichkeit, den Phantasmen zu entkommen, und die Unmöglichkeit, den Irrtum produktiv zu machen.310 Die Unmöglichkeit zu wissen, was man wissen soll.- Es ist unmöglich zu wissen, was gewußt werden soll. Aus allgemeinen Leitvorstellungen lassen sich keine konkreten Lernziele ableiten311, die Gegenstände der Erziehung können auch nicht aus den Wissenschaften abgeleitet werden (es gibt zu viel wissenschaftliches Wissen, es ist in Veränderung begriffen, und es ist kontrovers), aber auch die Anforderungen der Wirtschaft - der Qualifikationsbedarf - bieten kein Selektionskriterium, vor allem deshalb, weil auf eine unbekannte Zukunft hin qualifiziert werden muß. Der Lehrplan resultiert aus dem Kräfteverhältnis zwischen den politischen Akteuren312 , seine Fixierung ist ein Akt der symbolischen Gewalt313. Die Unmöglichkeit, zu bewirken, was man bewirken will- Lehrziele sind keine Lernziele. Zwischen dem Lehren und dem Lernen gibt es eine Kluft, die nicht geschlossen werden kann. Erziehung beruht auf Selbsterziehung, Didaktik auf Autodidaktik314, Hilfe auf Selbsthilfe. Das Verbot, Erziehung am Muster instrumenteller Rationalität zu orientieren, ist also das Verbot von etwas Unmöglichem.315 Luhmann und Schorr haben hierfür die Formel vom »Technologiedefizit der Pädagogik« geprägt.316 Mit Morin könnte man auch sagen: Durch Erziehung und Unterricht wird versucht, den Abstand zwischen der Hyperkomplexität des Gehirns und 310 Zu den folgenden Überlegungen habe ich mich durch Lacans Theorie des Universitätsdiskurses anregen lassen; vgl Lacan 1991. 311 Vgl. Meyer 1971 312 Vgl. Weniger 1952 313 Vgl. Bourdieu/Passeron 1973.- Instruktiv zu den Grenzen der Didaktik: Diederich 1988 314 Vgl. Diederich 1988, S. 63 315 Zu dieser Figur, dem Verbot des Unmöglichen, vgl. Zizek 1991 316 Vgl. Luhmann/Schorr 1979a und 1979b

DIE UNMÖGLICHKEITEN DER ERZIEHUNG

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der Komplexität sozialer Systeme zu überwinden, was jedoch unmöglich ist.317 In der älteren Terminologie geht es um die Freiheit des Zöglings und seine Selbsttätigkeit, aber auch um Natur, Umwelt und Klassenverhältnisse als Grenzen der Erziehung; in der Didaktik spricht man vom Unterricht als schöpferischem Akt oder von der Unverfügbarkeit des fruchtbaren Moments. Natürlich ist jede Erziehung das Unterfangen, diese Kluft zu überbrücken, und jede Reformpädagogik hat versucht, sich auf die andere Seite zu stellen, von der negativen Erziehung über die Aufforderung zur Freiheit und die Pädagogik vom Kinde aus bis zum schülerzentrierten Unterricht. Unabhängig von allen Verheißungen enthält die damit angezielte Demokratisierung die Anerkennung einer Kluft318: der Kluft zwischen Erziehung und Selbsterziehung. Die Unmöglichkeity den Phantasmen zu entkommenIn der Erziehung ist 319 es unmöglich, kein Utopist zu sein. Mit den Utopien kommen die Begierden ins Spiel und mit den Begierden die Phantasmen: unbewußte Szenen, von denen aus die Realität angegangen wird. Die Grundlage der Erziehung ist, wie es bei Herman Nohl heißt, ein »leidenschaftliches Verhältnis«320 . Die unauffälligeren Formen des pädagogischen Eros hat Aries dargestellt, vor allem die Kindzentriertheit der Familie. Das Kind erscheint hier nicht nur in funktionaler Perspektive als erziehungsbedürftig und erziehungsfähig, es wird zum Hoffnungsträger, zum Vorschein einer besseren Zukunft. Die damit verbundenen Mythen sind von Lenzen untersucht worden, etwa die Vergöttlichung des Kindes, wie sie bei Montessori zu finden ist.321 Wie alle phantasmatischen Beziehungen ist auch diese ambivalent. Das Begehren verbindet sich mit der Angst.322 Wenn Montessori das Kind als Hostie feiert, als Fleischwerdung des Geistes323 , dann zeugt das nicht nur von Fetischismus, sondern von den unheimlichen Seiten pädagogischer Leidenschaft: vom Opfer. Nicht nur vom Wunsch, sich für das Kind zu opfern, sondern auch von dem, es einzuver317 Vgl. Morin 1974 318 Zur Demokratie als Anerkennung einer sozialen Kluft vgl. die Beiträge von Lefort und Gauchet in Rödel 1990 319 Vgl. Oelkers 1990 320 Nohl 1978, S. 134 321 Vgl. Aries 1975, Lenzen 1985 322 Vgl. auch Fürstenaus klassische Arbeit zur Psychoanalyse der Schule (Fürstenau 1964) und Zizeks Überlegungen zur Institutionalisierung des Phantasmas (Zizek 1991) 323 Vgl. Montessori 1958, S. 48 ff.

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leiben und es selbst zu opfern. Im Bild des Jünglings, darauf hat Aries aufmerksam gemacht, überlagert sich die Gestalt des Cherubims mit der des Rekruten. Erziehung stützt sich auf den unbewußten Wunsch des Erziehers, auf das also, was dem bewußten Handeln entgeht und sich in ihm zugleich realisiert; aus diesem Grunde mußte der Versuch scheitern, die Psychoanalyse für die Neurosenprophylaxe pädagogisch fruchtbar zu machen.324 Die Unmöglichkeit, den Irrtum produktiv zu machen.- Die Aufgabe der Schüler besteht nicht darin, ein Wissen zu produzieren, sondern es zu reproduzieren; auch das entdeckende Lernen ist bloß nachentdeckend. Diese Reproduktion geht jedoch mit einem schöpferischen Akt einher; das, was geschaffen wird, ist der Irrtum. Natürlich haben Fehler die unterschiedlichsten Gründe, aber der Schulunterricht ist die Quelle für einen systematischen Irrtum: für die Vermengung von gesprochener und geschriebener Sprache. In der Schule geht es von der ersten bis zur letzten Klasse um die Vermittlung schriftgebundener Symbolsysteme, vor allem von Mathematik, Literatur und Grammatik.325 Die Schrift dient hier nicht zur Fixierung oder Systematisierung der gesprochenen Sprache - es gibt keine mündliche Mathematik, keinen mündlichen Roman und keine mündliche Grammatik -, sondern zur Erzeugung von Wissen und Sinn. Die Schule hat also die Aufgabe, in die Eigenlogik schriftlicher Symbolsysteme einzuführen; diese Eigenlogik kann jedoch nur auf dem Weg über die gesprochene Sprache angeeignet werden. Der Dreh- und Angelpunkt des Schulunterrichts ist deshalb die Konfrontation und Kollision zwischen den beiden Sprachen. Nur durch das Anknüpfen an die Muttersprache bekommt ein Schriftsystem für den Lernenden einen Sinn, dieses Anknüpfen ist jedoch zugleich eine entscheidende Quelle des Irrtums. Die Schriftsprachen werden nach dem Vorbild der gesprochenen Sprache interpretiert und also mißverstanden, die Aneignung der Schriftsprachen ist deshalb notwendigerweise fehlerhaft. Im Hiatus zwischen dem Nichtmehr und dem Noch-Nicht326 - dem nicht mehr mündlich und noch nicht 324 Vgl. Millot 1982 325 Zum Verhältnis von Schule und Schrift vgl. Schulenberg 1970, Schulze 1980, Nemitz 1984, Luhmann 1991b; zum Lehren und Lernen der geschriebenen Sprache: Hasler 1991; zur Psychologie des Schrifterwerbs: Wygotski 1977, Bruner u.a. 1971, Gardner 1985; sowie zur Psychoanalyse des Schrifterwerbs: die Aufsätze »Die Rolle der Schule in der libidinösen Entwicklung des Kindes« und »Zur Frühanalyse« in Klein 1981. 326 Vgl. Prange 1988

DIE UNMÖGLICHKEITEN DER ERZIEHUNG

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schriftlich - ist der Irrtum angesiedelt. Guter Unterricht bestünde darin, daß diese Irrtümer durchgearbeitet werden, also in einem Prozeß des Umlernens, in dem man beständig auf den Ausgangspunkt zurückkommt und ihn allmählich zersetzt.327 Da Irrtumsanalysen viel Zeit kosten und da Lerntempo und Irrtümer die wichtigsten Ansatzpunkte für Selektion sind, ist es im Schulunterricht in der Regel unmöglich, den Irrtum produktiv zu machen. (Das ist der Kern dessen, was für gewöhnlich als Widerspruch zwischen Qualifikation und Selektion beschrieben wird.) Es ist dieses Arrangement, durch welches der Irrtum zu einer existentiellen Bedrohung wird. Insgesamt befindet sich der Zögling also in einer gespaltenen Position. Einerseits nimmt er die Stelle eines faszinierenden Objekts ein, andererseits wird er gezwungen, auf Leistungsanforderungen mit Fehlleistungen zu reagieren, um ihn anhand dieser Irrtümer normalisieren zu können.

327 Eine Mathematikdidaktik, die nach der Wahrheit des Irrtums fragt, ist die von Baruk 1989; vgl. auch Radatz 1980. Versuche, den Irrtum für die Analyse von Lernprozessen fruchtbar zu machen, findet man in der Zweitsprachenforschung sowie in der Schreib-Lese-Forschung (vgl. Brügelmann 1984).

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63 Die Gewißheit, erzogen zu sein Erziehen ist ein unmöglicher Beruf, aus diesem Grunde kann der Erzieher nicht erzogen sein. Dies ist der Nährboden für die Idealisierung des »geborenen Erziehers«, aber auch für die Klage über die Praxisferne der pädagogischen Ausbildung. Der Skandal, daß der Verfasser des »Emile« seine eigenen Kinder ins Findelhaus gab, ist eine pädagogische Deckerinnerung; sie verhüllt diese Unmöglichkeit, deutet aber zugleich auf sie hin. Das Erzogensein des Erziehers kann nicht begründet, sondern nur konnotiert werden; dies leistet die Kind-Erwachsenen-Opposition. Sie reagiert auf die Unmöglichkeiten der Erziehung, indem sie den Erzieher mit dem Gütesiegel des Erwachsenseins versieht und so zu verstehen gibt, daß er erzogen ist. Dieses Zu-verstehen-Geben wird durch zwei Mechanismen realisiert: durch die pädagogische Aquivalenzenkette und durch eine Gegenidentifizierung. Die pädagogische Äquivalenzenkette hat die Form: Kinder:Eltern^Kinder:Erwachsene—Zöglinge:Erzieher^Nicht-Erzogene:Erzogene

Diese Kette erzeugt einen Bedeutungsüberschuß. Die Parallelisierung von Eltern, Erwachsenen, Erziehern und Erzogenen enthält die unausgesprochene Botschaft: Eltern, Erwachsene, Erzieher sind erzogen. Ist der Erzieher erzogen? Wenn man so direkt fragt, ist es schwer, eine Antwort zu geben. Aber daß er erwachsen ist, steht außer Frage. Als Erwachsener kann er sich sagen: »Ich weiß zwar, daß ich möglicherweise nicht vernünftig, reif und mündig bin, aber dennoch: so unvernünftig wie ein Kind bin ich noch lange nicht.« Sein Glaube an die eigene Vernunft kann sich auf das Gegenbild der kindlichen Unvernunft stützen.327 Der Mechanismus ist also ähnlich wie im Falle von Rassismus und Nationalismus. Die rassischkulturelle Identität der »echten Staatsangehörigen« ist zwar unauffindbar, aber es gibt sie dennoch, sie stützt sich auf die quasi halluzinatorische Sichtbarkeit der »falschen Staatsangehörigen« und vergewissert sich so ihrer selbst.328 Die Kind-Erwachsenen-Opposition ermöglicht, in der Luhmannschen Terminologie, die »Entparadoxierung« der Paradoxie, in der Sprache der Psychoanalyse die »Flucht vor dem Realen in die Realität«. Konfrontiert mit einer traumatischen Unmöglichkeit - der Unmöglichkeit der Erzie327 Vgl. Mannoni 1963/64 328 Vgl. Balibar 1990, S. 77

DIE GEWISSHEIT, ERZOGEN ZU SEIN

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hung - verhilft sie zur Flucht in eine unbestreitbare Wirklichkeit, zur Identifizierung mit einer binären Opposition, die uns, aufgrund des verdrängten Bezugs zum Recht, als Realität erscheinen muß. Das Erzogensein des Erziehers beruht also auf einer Identifizierung im Rahmen der Kind-Erwachsenen-Opposition. Wie jede Identifizierung geht auch diese mit einer Spaltung einher. Als Erzieher ist der Erwachsene erzogen, seine Entwicklung ist abgeschlossen; außerhalb des Erziehungsvorgangs erscheint er als imperfekt, als Wesen, das in Entwicklung begriffen ist. Daraus erklärt sich der Widerspruch in der Lebenslaufkonzeption von Humboldt, Dewey und Flitner, also die Koexistenz des Zwei-Stufen-Schemas und des gradualistischen Vervollkommnungsmodells.329 In der Erziehungstheorie wird seine Perfektion vorausgesetzt, in der Bildungstheorie unterliegt er dem Gesetz der Entelechie, der immer unvollkommenen Verwirklichung seines Wesens. Die Uberwindung dieses Widerspruchs ist das Werk von Metaphern (»Zeugung« bei Humboldt, »Festigkeit« bei Herbart 330 ); sie versöhnen das Erzogenwerden, das in Opposition zum Erzogensein steht, mit einem Werden, das unendlich ist.

329 Vgl. oben S. 24, 26, 68 330 Vgl. oben S. 69, 77

Eine Grenze der Vernunft Zum Schluß dieser Untersuchung möchte ich einen Einwand vorwegnehmen und zu beantworten versuchen. Er lautet: Der Erwachsene, das ist in der pädagogischen Tradition das mündige, autonome, handlungsfähige Individuum. Wie kann man versuchen, die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen zu rekonstruieren, ohne sich auf diese Bestimmungen einzulassen, ohne also die Vernunft ins Spiel zu bringen? Und das ist die Antwort: Der homo philosophicus definiert sich als Erwachsener331 , also im Gegensatz zum Kind. Die philosophischen Konzeptionen der Moral und des Handelns orientieren sich an der Unterscheidung von Vernünftigen und Unvernünftigen, von Handlungsfähigen und Handlungsunfähigen. Diese Unterscheidung kann aber nicht mehr vernünftig begründet werden. Eben das ist die Hilflosigkeit der Philosophen, von der Tugendhat spricht.332 Die Philosophen sind handlungsunfähig und zwar genau an dem Punkt, wo sie die Unterscheidung zwischen den Handlungsfähigen und den Handlungsunfähigen begründen sollen. Ich will das für eine bestimmte Variante der Vernunft-Unterscheidung etwas genauer zeigen, nämlich für diejenige, die sich an der Habermasschen Diskurstheorie orientiert. »Diskursfähigkeit« ist der noch immer aktuellste Versuch, den klassischen Begriff der Mündigkeit zu reformulieren und für die Pädagogik fruchtbar zu machen. Die Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen verwandelt sich in diesem Rahmen in die zwischen Diskursfähigen und Diskursunfähigen. Wie läßt sich aber die Behauptung, jemand sei diskursunfähig bzw. diskursfähig, rational begründen? Rationale Begründung kann in diesem Zusammenhang nur heißen: Begründung durch einen Diskurs. Wie läßt sich also ein Urteil über Diskursfähigkeit in einem Diskurs begründen? Habermas hat gezeigt, daß genau dies unmöglich ist.333

331 Vgl. Elias 1976, Bd. 1, S. XLVII f. 332 Vgl. Tugendhat 1989, Wolf 1984, S. 115 333 Vgl. Habermas 1976a

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SCHLUSS

Ein Dialog ist - Habermas zufolge - nur dann ein Diskurs, wenn der Betroffene teilnimmt oder teilnehmen könnte. Also muß derjenige, dessen Diskursfähigkeit beurteilt werden soll, sich am Diskurs darüber beteiligen können. Wie läßt sich beurteilen, ob der Teilnehmer eines Diskurses diskursfähig ist, also ein kompetenter (gebildeter, zurechnungsfähiger, vernünftiger, autonomer, mündiger) Sprecher ist? Ein erster Weg scheint darin zu bestehen, seine Kompetenz an der Wahrhaftigkeit seiner Äußerungen zu bemessen. Die Absichten, die er im Vollzug seiner Sprechakte zu erkennen gibt, insbesondere die Verpflichtungen, dürfen nicht bloß vorgetäuscht sein. Aber damit stellt sich sogleich die nächste Frage. Wie könnte man die Wahrhaftigkeit seiner Äußerungen ermitteln? Habermas schlägt vor, dies wiederum daran zu messen, ob der Sprecher den Regeln, die für den Vollzug eines Sprechakts gelten - insbesondere für Verpflichtungen -, tatsächlich folgt. Um über die Wahrhaftigkeit von Äußerungen zu entscheiden, bezieht man sich also auf die Richtigkeit seiner Handlungen. Aber auch damit ist die Frage nur verschoben. Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit man berechtigt ist, Handlungen als regelrecht oder richtig zu bezeichnen? Diese Frage könnte nur durch einen Konsens zwischen den Beteiligten entschieden werden, also aufgrund eines Diskurses - und damit hat man sich im Kreis bewegt, denn es sollte ja herausgefunden werden, ob der andere diskursfähig ist. Um diskursiv zu ermitteln, ob jemand diskursfähig ist, muß man dessen Diskursfähigkeit als gegeben voraussetzen. Die Rationalität eines Urteils läßt sich daran messen, wie verfahren wird, wenn das Urteil umstritten ist. Eine rationale Konfliktlösung besteht nach allgemeiner Auffassung darin, daß man versucht, sich einzig durch Angabe von Gründen zu einigen. Der wichtigste Konflikt um ein Urteil über Diskursfähigkeit ist der, daß das Urteil auf »diskursunfähig« lautet und der Betroffene hiergegen Einspruch erhebt; an diesem Punkt hat sich die Rationalität des Urteils zu erweisen. Genau dieser Einspruch ist jedoch nicht mit Gründen entscheidbar. Würde man den Betroffenen an einem Diskurs über seine Diskursunfähigkeit beteiligen, würden sich die anderen Diskursteilnehmer in einen Widerspruch verwickeln. Falls sie versuchen würden, ihm seine Diskursfähigkeit abzusprechen, müßten sie das, was sie widerlegen wollen, vom ersten Satz an als gegeben voraussetzen, denn mit der Zulassung zum Diskurs wird dem Betroffenen seine Diskursfähigkeit bereits bescheinigt. An einem Diskurs über Diskursfähigkeit können also nicht alle teilnehmen. Es gibt mindestens einen, der prinzi-

EINE GRENZE DER VERNUNFT

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piell ausgeschlossen ist - der Betroffene. Damit ist ein Diskurs über Diskursfähigkeit jedoch kein Diskurs, denn ein Diskurs zeichnet sich, wie gesagt, dadurch aus, daß die Teilnahme aller Betroffenen prinzipiell möglich ist. Man stößt hier auf eine Unmöglichkeit der Begründung, wie sie schon Piaton vertraut war334 , und die von Watzlawick als »pragmatische Paradoxie«335 , von Habermas als »performativer Widerspruch«336 bezeichnet wird. Sprechakttheoretisch gesehen, besteht das Problem darin, daß die pragmatische Modalität einen Sachverhalt unterstellt, der auf der semantischen Ebene als falsch zurückgewiesen wird. Soziologisch betrachtet beruht die Paradoxie darauf, daß die Unterscheidung von Diskursfähigen und Nicht-Diskursfähigen ein Selektionsvorgang ist und daß es unsinnig ist, in bezug auf Selektion Konsens zu erwarten - zumindest von Seiten der negativ Betroffenen.337 Man kann versuchen, das Dilemma durch eine gradualistische Konzeption von Diskursfähigkeit aufzulösen. Erziehung vollzieht sich dann als Interaktion zwischen Leuten, die weniger diskursfähig sind, und solchen, die eher zu einem Diskurs in der Lage sind.338 Aber damit ist man wieder bei einer transitiv geordneten Reihe, nicht bei einer Zweiteilung. Eine andere Strategie besteht darin, den Diskurs zwischen Diskursfähigen und Diskursunfähigen in den Diskursfähigen hineinzuverlegen.339 Der Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern wird dann zur Unterscheidung zwischen denjenigen, mit denen man nur einen inneren 334 Vgl. die Dialogführung im »Philebos«: Philebos kann seinen Hedonismus nicht im Dialog verteidigen, da er dazu sein Luststreben unterbrechen müßte - er hätte dann durch die Tat das akzeptiert, wovon seine Gegner glauben, daß sie es innerhalb des Gesprächs zur Disposition stellen können (vgl. Wieland 1982, S. 73 f., 122 f.). 335 Vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 1972, S. 178 336 Vgl. Habermas 1983, S. 140.- Habermas bezieht sich hier auf Lenk 1970. 337 Vgl. Luhmann/Schorr 1979a, S. 257 f. 338 In diese Richtung geht Gößlings Auflösung des »pädagogischen Zirkels«; er bezieht sich jedoch nicht primär auf »Diskursfähigkeit«, sondern auf »Emanzipation« als oberstes Lernziel (vgl. Gößling 1977). 339 »Wegen der unhintergehbaren Asymmetrie des Verhältnisses der Generationen zueinander findet diese Einlassung im Regelfall nur simuliert statt. Der Erzieher fuhrt eine Art inneren praktischen Dialog mit dem Heranwachsenden, in dem dieser zunächst nur repräsentiert ist. Der ausgearbeitete äußere Dialog markiert ja gerade das Ende des pädagogischen Verhältnisses.« Mollenhauer 1980, S. 103

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SCHLUSS

Dialog fuhren kann, und denjenigen, mit denen ein äußerer Dialog möglich ist. Aber wie läßt sich diese Aufteilung begründen? Sie kann nur vorausgesetzt werden.340 Ein dritter Lösungsversuch besteht in einer »Als-ob«-Konstruktion. Mollenhauer u.a. erklären, der Erwachsene müsse in seinem pädagogischen Handeln gegenüber dem Heranwachsenden so tun, als ob dieser das vernünftige Subjekt sei, das er erst werden soll.341 Oser bezeichnet dieses So-tun-als-ob als »ethische Präsupposition«.342 Diese Lösung hat folgende Tiefengrammatik: Ich weiß zwar, daß dieses Individuum nicht diskursfähig ist, aber dennoch tue ich so, als ob es genauso diskursfähig wäre wie ich. Aber woher weiß ich, daß das Kind nicht diskursfähig ist? Jedenfalls nicht durch einen Diskurs. Mollenhauer u.a. erklären denn auch, daß es hier unvermeidlich um bloße Annahmen geht, daß also die Möglichkeit vernünftiger Begründung an diesem Punkt auf eine innere Schranke stößt: »Wenn ein Pädagoge Kinder zu >diskurs- und konsensfähigen< Subjekten erziehen will, muß er ihnen deshalb nicht nur Zurechnungsfähigkeit und gleiche Beteiligungschancen wie sich selbst unterstellen, er muß zugleich auch unterstellen, daß ihre Zurechnungsfähigkeit, verglichen mit der seinen, begrenzt und ihre Beteiligungschancen an der gemeinsamen Interaktion gemindert sind.«343 Erziehung beruht demnach auf der Verknüpfung von zwei Unterstellungen. Im ersten Schritt wird dem Edukanden die Diskursfähigkeit abgesprochen, im zweiten Schritt wird sie ihm wieder zuerkannt. Beide Unterstellungen können diskursiv nicht begründet werden. Die Unterscheidung zwischen den Diskursfähigen und den Nicht-Diskursfähigen hat unvermeidlich die Form des strategischen Handelns. Die Zulassung zum Diskurs kann diskursiv nicht eingeholt werden, die Mündigkeitserklärung bzw. die Entmündigung geht dann dem Diskurs voraus. Also ist die Struktur des Diskurses defizitär, sind seine Regeln unvollständig. Es gibt zumindest eine Norm, die diskursiv niemals begründet wer340 Im übrigen steht diese Lösung im Widerspruch zu den erklärten theoretischen Grundlagen. Diese sind kommunikationstheoretisch, nicht bewußtseinstheoretisch. Kommunikation ist immer ein »äußerer Dialog«, sie verlangt, im Unterschied zum bloßen Denken, einen wirklichen Kommunikationspartner; die Berufung auf einen »inneren Dialog« ist ein Rückfall in die Bewußtseinsphilosophie. Vgl. Tugendhat 1984, S. 108 ff. 341 Vgl. Mollenhauer u.a. 1982, Kurseinheit 2, S. 61 342 Vgl. Oser/Althof 1989, Kurseinheit 1, S. 116 ff. 343 Mollenhauer u.a. 1982, Kurseinheit 2, S. 61 f.

EINE GRENZE DER VERNUNFT

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den kann, nämlich diejenige, nach der über die Zulassung zum Diskurs entschieden wird. Dieser Mangel im Diskurs wird zum Ort einer kontingenten Entscheidung, einer Entscheidung, die so oder anders ausfallen kann, und die von den Regeln des Diskurses nicht beherrscht werden kann. Das heißt aber auch, daß die Akteure in der Struktur des Diskurses - in der Diskursfähigkeit - nicht aufgehen; nicht weil sie außerhalb dieser Struktur stehen, sondern weil die Struktur des Diskurses selbst unentscheidbar ist und damit eine extra-diskursive Form der Subjektivität erzwingt.344 Charakteristisch für die soeben referierten Lösungsversuche ist die Tatsache, daß nur die Diskursfähigkeit des Zöglings oder Kindes als Problem gesehen wird; die Seite des Erziehers oder des Erwachsenen bleibt aus dem Spiel. Es gibt also eine Präsupposition, die noch tiefer ansetzt, als die von der Diskursfähigkeit des Kindes. Das ist die Unterstellung, daß der Erzieher diskursfähig ist. Das heißt nicht, daß der Erwachsene in der pädagogischen Tradition durchweg idealisiert worden wäre. Man hat ihn dem pädagogischen Urteil unterworfen, ihn als verderbt charakterisiert und seine Veränderung eingeklagt. Da aber alle pädagogischen Sätze erziehen345 , ist derjenige, der solche Kritik formuliert, selbst ein Erzieher. Ein erzogener Erzieher? Keine Frage.

344 Tugendhat lokalisiert das irreduzibel kommunikative Element der Moral nicht auf der Ebene der Begründung, sondern auf der des Machtverhältnisses (vgl. Tugendhat 1984, S. 123 f.). Habermas hat hiergegen eingewendet, die Grundsätze der politischen Kompromißbildung müßten wiederum in praktischen Diskursen begründet werden (vgl. Habermas 1983, S. 82 f.). Auch solchen Diskursen liegt jedoch ein Machtverhältnis zugrunde: die Unterscheidung zwischen Diskursfähigen und Diskursunfähigen. 345 Vgl. Oelkers 1991b, S. 213

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Dilthey, W. 108 Döbert, R. 109 Dreeben, R 129 Duerr, H. P. 95 Eglit, H. 127 Eisenstadt, S. N. 18; 30; 109-114; 133; 138 Elias, N. 93-95; 173 Ellis, J. 157 Engels, F. 161 Erikson, E.H. 18; 118-123; 133; 138; 151 Ewald, F. 54 Flitner, W. 26; 88; 92; 171 Foner, A. 30; 47; 117 Foucault, M. 54; 103 Frank, G. 13 Frank, W. 18 Freud, S. 42-45; 52 f. Friedrichs, J. 31 Frobenius, L. 92 Fuchs-Heinritz, W. 32 Fürstenau, P. 167 Furstenberg, F. F. 31; 33; 83 Gardner, H. 168 Gauchet, M. 128; 133; 167 Gehlen, A. 76 Gellner, E. 134 Gennep, A. v. 84 f. Gerstenberger, H. 128 Giesecke, H. 17; 150 Gilgenmann, K. 29 Gilligan, C. 37 Goethe, J. W. v. 51; 71 Goffman, E. 85-87; 122 f. Gößling, H. J. 175

190

PERSONENVERZEICHNIS

Göstemeyer, K.-F. 161 Gouldner, A. W. 34 Graciän, B. 86 Griese, H. M. 118 Haan, G. de 78 Habermas, J. 48; 50 f.; 60; 85; 92 f.; 173-177 Haeckel, E. 91 Hall, G. S. 92 Harman, S. M. 28 Havighurst, R. J. 121 Hegel, G.W. F. 134 Helvetius, C. A. 163 Hentig, H. v. 161 Herbart, J. F. 18; 73- 78; 92; 137; 171 Herder, J. G. 91 Herrgott, G. 49 Herrmann, Th. 149; 152; 156 Hershberg, Th. 31; 33; 83 Holbach, P. A. T. d' 163 Holzkamp, K. 19; 39 Huge, W. 13; 18 Humboldt, W. v. 18; 68-72; 137; 171 Jackson, D.D. 175 Jacobson, E. 44 Jäger, M. 151 Jakobson, R. 145 Jennings, H. S. 108 Joas, H. 42 Jonas, H. 96; 108 Jung, C . G . 44 f. Kamp, K. 31 Kant, I. 48-50; 134; 162-164 Kautsky, K. 164 Kelly, G . A . 16 Kertzer, D. 30; 47; 117 Klein, M. 168 Kohlberg, L. 35-38; 51 f.; 89; 92 f.;

Labica, G. 161 Lacan,J. 52; 54; 166 Laclau, E. 67; 158 Langeveld, M. J. 13 Laplanche, J. 52 Lasaulx, E. v. 92 Le Roy Ladurie, E. 130 f. Lefort, C. 128; 133; 167 Leibniz, G. W. v. 68 Lenk, H. 175 Lenzen, D. 12-17; 31; 33; 68; 74; 102; 106; 115 f.; 131; 150; 167 Leschinsky, A. 128 Lessing, G. E. 162 Levine, Ch. 37 Levi-Strauss, C. 67; 96 Link, J. 54 Linton, R. 47 Lipp, W. 76 Lochner, R. 61 Locke, J. 162 Luckmann, Th. 15 Luhmann, N. 13 f.; 17; 76; 96; 124; 135; 144-148; 153; 155; 161 f.; 166; 168 Luxemburg, R. 164 Mannoni, O. 170 Marx, K. 161-165 Matthes,J. 32 f.; 83 f. Mead, G. H. 41 f.; 45 Meillassoux, C. 47 Merton, R. K. 154 Meyer, H. L. 166 Millot, C. 53; 168 Modell, J. 31; 33; 83 Mollenhauer, K. 175 f. Montada, L. 84 Montagu, A. 154 Montessori, M. 9; 167 Morin, E. 166 f. Mouffe, Ch. 67 Müller, F. 91

121

Kohli, M. 30; 82; 140

Neidhardt, F. 30

191 PERSONENVERZEICHNIS

Nemitz, R. 19; 168 Nohl, H. 167 Nunner-Winkler, G. 109 Oelkers, J. 78; 149; 167; 177 Oerter, R. 84 Olk, Th. 32 Oser, F. 176 Panoff, M. 116 Pareto, V. 76 Parmentier, M. 85 Parsons, T. 115 Pascal, B. 91 Passeron, J.-C-. 141; 166 Paulus 53 Pecheux, M. 157 Perrin, M. 116 Raget, J. 35; 37; 80 f.; 121 f. Pieper, M. 21; 29; 84; 121 Piaton 103 Poliakov, L. 91 Pontalis, J.-B. 52 Postman, N. 12; 35; 96 f.; 135; 138 Prange, K. 153; 165;168 Radatz, H. 169 Radtke, O. 150 Reimann, H. u. H. 32 Reuter, L.-R. 157 Riegel, K. F. 81 f. Riley, M. W. 83 Rippe, H.-J. 84 Rödel, U. 128; 133; 167 Roeder, P. M. 128 Rosenmayr, L. 33; 88 Roth, H. 27; 55; 57; 139; 152 Rousseau, J.-J. 82 Rutschky, K. 13; 93-95; 138 Sainsbury, R. M. 22 Scheuerl, H. 78

Schleiermacher, F. D. E. 18; 57-67; 137; 139;162 Schmitt, C. 145; 159 Schmitz, E. 41 Schorr, K. E. 123; 148; 166; 175 Schulenberg, W. 168 Schulze, Th. 168 Schurr, J. 58 Schütz, A. 15 Seebass, G. 74 Selye, H. 28 Shapere, D. 152 Shaw, G.B. 118 Silverman, D. 147; 159 Sneed, J. D. 149 Sorokin, P. 154 Spengler, O. 92 Stachowiak, H. 156 Stegmüller, W. 149 Stroß, A. M. 132 Talbert, G.B. 28 Tenorth, H.-E. 58; 149 Thomas von Aquin 132 Thompson, E. P. 164 Thoring, W. 67 Torode, B. 147; 159 Tugendhat, E. 173; 176 f. Vester, M. 164 Watzlawick, P. 175 Weber, M. 76 Weinstock, C. S. 83 Weniger, E. 166 Wheeler, S. 11; 83 Whitbourne, S. K. 83 Wieland, W. 175 Wittgenstein, L. 151 Wolf, U. 173 Wünsche, K. 14 Zizek, S. 166 f.