Kinder lernen leiblich: Praxisbuch über das Phänomen der Weltaneignung 9783495817896, 9783495487891


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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation
1. Was ist der Leib und was heißt leibliches Lernen?
2. Kinder verleiben sich die Welt ein
3. Kinder erleben sich eng und weit
4. Wenn Enge und Weite zusammenwirken: Die Einleibung
5. Wie Kinder sich ihre Umwelt aneignen
6. Wie Kinder zur Persönlichkeit werden – Die persönliche Situation
7. Mensch wird man nur zusammen mit anderen – die gemeinsame Situation
8. Aufwachsen in gemeinsamen Situationen
9. Auf dem Weg zur Persönlichkeit – Die Entfaltung der Gegenwart
10. Auf dem Weg zur Persönlichkeit – Die personale Emanzipation
11. Reifungsschritte zur autonomen Person
12. Verkörperte Regeln – Wie Kinder Regeln leiblich abspeichern
13. Normen als verinnerlichte soziale Gesten
14. Warum der eigene Leib für das Einhalten von Normen sorgt
15. Welche Voraussetzungen braucht das Kind, um Normen zu verinnerlichen?
16. Formen der Provokation oder wie erhalte ich Aufmerksamkeit?
17. Wie entwickelt sich Identität – Die spielerische Identifizierung
18. Familie oder Institution – Welche Bezugsgruppen sind wichtig?
19. Situationen und Konstellationen
20. Kinder lernen in Atmosphären
21. Zusammenfassung
B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag
22. Einleibung in den ersten Wochen und Monaten
23. Mein Körper, mein Leib – grundlegende Erfahrungen der persönlichen Situation
24. Wenn der Leib das Laufen lernt
25. Die Sprachentwicklung als Form der leiblichen Kommunikation
26. Sauber werden
27. Der kompetente Umgang mit Gefühlen
28. Die Entwicklung von Sozialkontakten
29. Grenzen setzen
30. Ein Gespür für die eigene Geschlechtlichkeit entwickeln
31. Mädchen und Jungen in der Schule
32. Das Erlernen von Fertigkeiten des täglichen Lebens
33. Das Erlernen von Bewegungsabläufen im Sport
34. Das Erlernen eines Musikinstrumentes
35. Der Übergang von der Familie zur Kindertagesstätte
36. Die Situation in der Kindertagesstätte
37. Der Übergang von der Kindertagesstätte zur Schule
38. Die Situation in der Schule
39. Mobbing in der Schule
40. Gestaltung von Atmosphären in der Schule
41. Atmosphären, die Lernen begünstigen
42. Atmosphären, die Lernen beeinträchtigen
43. Schluss
44. Literaturverzeichnis
45. Glossar
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Kinder lernen leiblich: Praxisbuch über das Phänomen der Weltaneignung
 9783495817896, 9783495487891

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Pädagogik und Philosophie 8

Barbara Wolf

Kinder lernen leiblich Praxisbuch über das Phänomen der Weltaneignung

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817896

.

B

Barbara Wolf Kinder lernen leiblich

PÄDAGOGIK UND PHILOSOPHIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

Lernen – was ist das eigentlich? Ist es ein Vorgang, den man ohne weiteres in die vier Bereiche kognitives, motorisches, soziales und emotionales Lernen unterteilen kann? Ist es nicht doch ein ganzheitlicher Prozess? Oder ist das Gehirn vor allem dafür verantwortlich, dass wir lernen? In diesem Buch erfahren Sie: Kinder lernen vor allem durch die alltägliche Erfahrung, zuhause, im Kindergarten und in der Schule. Das Spüren am eigenen Leibe ermöglicht es ihnen, sich selbst, die anderen und die Dinge kennen zu lernen. Lernen ist ein zutiefst subjektiver Prozess: Kinder lernen leiblich.

Die Autorin: Barbara Wolf, geb. 1965, nach langjähriger Berufserfahrung im pädagogischen Elementarbereich Diplom-Studium der Erziehungswissenschaften an der Universität Koblenz, Promotion 2012 in Erziehungswissenschaften und Soziologie, seit 2013 Professorin für Kindheitspädagogik an der SRH Hochschule Heidelberg.

https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

Barbara Wolf

Kinder lernen leiblich Praxisbuch über das Phänomen der Weltaneignung

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

Pädagogik und Philosophie 8 Wissenschaftlicher Beirat: Daniela G. Camhy, Ursula Frost, Ekkehard Martens, Käte Meyer-Drawe, Hans-Bernhard Petermann, Matthias Rath, Volker Steenblock, Barbara Weber und Franz Josef Wetz

2. Auflage 2017 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48789-1 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81789-6

https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.

Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation . . . . . . . . . Was ist der Leib und was heißt leibliches Lernen? . Kinder verleiben sich die Welt ein . . . . . . . . Kinder erleben sich eng und weit . . . . . . . . .

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. . . . Wenn Enge und Weite zusammenwirken: Die Einleibung . Wie Kinder sich ihre Umwelt aneignen . . . . . . . . . .

Wie Kinder zu Persönlichkeiten werden – Die persönliche Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . Mensch wird man nur zusammen mit anderen – Die gemeinsame Situation . . . . . . . . . . . . . . . . Aufwachsen in gemeinsamen Situationen . . . . . . . . . Auf dem Weg zur Persönlichkeit – Die Entfaltung der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . Auf dem Weg zur Persönlichkeit – Die personale Emanzipation . . . . . . . . . . . . . . . Reifungsschritte zur autonomen Person . . . . . . . . . . Verkörperte Regeln – Wie Kinder Regeln leiblich abspeichern . . . . . . . . . . Normen als verinnerlichte soziale Gesten . . . . . . . . . Warum der eigene Leib für das Einhalten von Normen sorgt Welche Voraussetzungen braucht das Kind, um Normen zu verinnerlichen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formen der Provokation oder wie erhalte ich Aufmerksamkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie entwickelt sich Identität – Die spielerische Identifizierung . . . . . . . . . . . . . .

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11 11 16 19 22 26 30 34 36 38 43 47 50 54 57 60 64 68 5

https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

Inhalt

18. Familie oder Institution – Welche Bezugsgruppen sind wichtig? 19. Situationen und Konstellationen . . 20. Kinder lernen in Atmosphären . . . 21. Zusammenfassung . . . . . . . . .

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Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22. Einleibung in den ersten Wochen und Monaten . . . . . .

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B

23. Mein Körper, mein Leib – grundlegende Erfahrungen der persönlichen Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . 24. Wenn der Leib das Laufen lernt . . . . . . . . . . . . . 25. Die Sprachentwicklung als Form der leiblichen Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . 26. Sauber werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27. Vom kompetenten Umgang mit Gefühlen . . . . . . . . 28. Die Entwicklung von Sozialkontakten . . . . . . . . . . 29. Grenzen setzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30. Ein Gespür für die eigene Geschlechtlichkeit entwickeln . 31. Mädchen und Jungen in der Schule . . . . . . . . . . . 32. Das Erlernen von Fertigkeiten des täglichen Lebens . . . 33. Das Erlernen von Bewegungsabläufen im Sport . . . . . 34. Das Erlernen eines Musikinstrumentes . . . . . . . . . 35. Der Übergang von der Familie zur Kindertagesstätte . . 36. Die Situation in der Kindertagesstätte . . . . . . . . . 37. Der Übergang von der Kindertagesstätte zur Schule . . 38. Die Situation in der Schule . . . . . . . . . . . . . . . 39. Mobbing in der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . 40. Gestaltung von Atmosphären in der Schule . . . . . . . 41. Atmosphären, die Lernen begünstigen . . . . . . . . . 42. Atmosphären, die Lernen beeinträchtigen . . . . . . . . 43. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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109 118 123 136 144 152 157 162 166 172 175 181 186 190 196 201 203 209 212

44. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45. Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

Einleitung

Im Grunde lernt der Mensch vom ersten Atemzug bis zum letzten Augenblick seines Lebens. Diese Erkenntnis ist so einfach, dass man ihr eigentlich nichts mehr hinzufügen muss. Dennoch machen sich Eltern und Pädagogen heute immer mehr Sorgen darüber, wie Kinder am besten, am effektivsten, am grundlegendsten, am frühesten und am sinnvollsten lernen. Mit Parolen wie: »Bildung von Anfang an« entsteht die Vorstellung, dass alle Kinder möglichst früh in allen Lernbereichen gefördert werden – und dies am besten in einer Institution wie der Kinderkrippe, der Kindertagesstätte und natürlich in der Schule. Eltern, Erzieher, Kindheitspädagogen und Lehrer interessieren sich plötzlich für Synapsen und Neuronen-Netzwerke im Gehirn ihrer Kinder. Die Neurowissenschaften prägen den »Mythos der frühen Jahre«, der die Bedeutung der ersten Lebensjahre für kindliches Lernen hervorhebt. Dabei stellt man sich das Gehirn des Kindes als »Festplatte« vor, die von Anfang an umfassend »programmiert« werden muss. Dadurch sollen jene kognitiven Leistungen ermöglicht werden, die am Ende einen guten schulischen Abschluss und damit die Chancen auf Wohlstand und gesellschaftliche Teilhabe garantieren. Hirnforscher wie John Bruer und Wolf Singer stehen solchen Mythen jedoch skeptisch gegenüber. John Bruer weist auf die langjährige Plastizität des Gehirns hin, die keineswegs auf die ersten Jahre beschränkt ist. 1 Wolf Singer rät von einer Überfrachtung der Kinder mit Lernangeboten ab, da dies eher dem Elternehrgeiz als Prinzipien kindlicher Entwicklung entspricht. Es macht somit hirnphysiologisch keinen Sinn, Entwicklung forcieren zu wollen. 2 Vergl. John Bruer, Der Mythos der frühen Jahre – warum wir lebenslang lernen, Weinheim/Basel 2000, S. 164 2 Wolf Singer, Was kann ein Mensch wann lernen?, in: W. E. Fthenakis (Hrsg.), Elementarpädagogik nach PISA, Freiburg i. Br. 2003, S. 74 1

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Einleitung

Davon abgesehen ist die Konzentration auf kognitives Lernen und die neurobiologische Sichtweise ohnehin viel zu eindimensional, um den umfangreichen Prozess kindlicher Entwicklung zu fassen. Die zentrale These dieses Buches lautet daher: Kinder lernen leiblich. Denn sie sind Wesen, die mit all ihren Sinnen über ihre Handlungen und vor allem über ihr Spüren lernen. Spüren ist eine Fähigkeit, die über den Leib vermittelt wird. Der Leib ist dabei als der menschliche Organismus zu verstehen unter dem Aspekt seiner Lebendigkeit. Der Begriff des Leibes geht über den Begriff des Körpers hinaus, da dieser nur den messbaren, organisch-physischen Aspekt unserer Person darstellt. Der Leib dagegen umfasst die gesamte lebendige Interaktion mit unserer Umwelt, die auch das seelisch-geistige Erleben umfasst. Eine Erzieherin im Kindergarten beschreibt: »Kinder merken sehr genau, wie viel oder wenig ich sie schätze. Sie merken sehr genau, wie gut ich ihnen zuhöre, ob ihre Worte und Signale wirklich bei mir ankommen. Sie merken sehr genau, ob ich ihnen voll zugewandt bin und mich wirklich mit ihnen abstimmen will. Nehme ich wahr, was sie wünschen, beabsichtigen und brauchen oder geht es nur um meine Ziele und Absichten?« Es geht also um ein wechselseitiges Spüren der Befindlichkeit, der Bedürfnisse und Interessen des anderen. Das Spüren geht dabei weit über das hinaus, was man mit den Sinnesorganen wahrnehmen kann. Folgendes Beispiel trug sich im ganz normalen Kindergartenalltag zu: Eine Erzieherin beobachtet, wie intensiv ein Kind sich mit einer Gießkanne beschäftigt. Zunächst schöpft es mit einem Sandförmchen aus einem Wasserbecken Wasser in die schmale Öffnung der Gießkanne. Hochkonzentriert bemüht es sich, möglichst wenig Wasser zu verschütten. Arme, Oberkörper und Gesicht sind voll auf die Kanne zentriert. Der gespitzte Mund ahmt quasi das Einsaugen des Wassers in die Gießkanne nach. Verwoben mit dem Lerngegenstand merkt es gar nicht, wie ein Teil des Wassers auf die Hose läuft. Die Erzieherin weiß, dass das Kind bei diesem kühlen Wetter eine Matschhose benötigt. Aber sie kann nur spüren, wann der richtige Augenblick kommt, um es anzusprechen. Sonst wirft das Kind die Gießkanne weg und die Lernsituation ist vorbei. Es kommt darauf an, wie sie sich ihm zuneigt, es anspricht, welchen Tonfall sie wählt, wartet, mit ernstem Blick erklärt und wieder lächelt. Das Kind spürt, ob es da jemand gut mit ihm meint oder nur rigide eine Regel umsetzen will. Es merkt, ob die Fachkraft das Zutrauen und die Geduld hat, dass es selbst in die Matschhose steigt oder 8 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

Einleitung

ob es rasch »hineingestopft« wird. Es merkt, ob sein eigenes Lernen im Vordergrund steht oder die rasche Bewältigung der Situation. Dieses Beispiel macht deutlich, wie früh Kinder wesentliche Lernerfahrungen machen und dass diese auch unabhängig von verbalen Erklärungen ablaufen. Die subtile Form der Wahrnehmung der eben genannten Fachkraft beeindruckte mich und ich fragte sie, ob sie schon einmal etwas über »leibliche Kommunikation« gehört hat. Dies war nicht der Fall. Als ich ihr kurz erklärte, dass es sich hier um die Beschreibung von Prozessen handelt, die sich zwischen Menschen abspielen, die jeder spüren, aber selten beschreiben kann, zeigte sie sich sehr interessiert. Sie schilderte, wie häufig sie im beruflichen Alltag an die Grenzen dessen gelangt, was durch pädagogische Konzepte oder auch psychologische Theorien abgedeckt ist. Sie machte deutlich, wie sehr ihr an einer professionellen Haltung und an pädagogischer Fort- und Weiterbildung gelegen sei. Und dennoch erlebte sie häufig im pädagogischen Tagesablauf, wie umfassend sie auf ihr Gespür für den Augenblick, für das individuelle Kind oder für die ganz besondere Situation angewiesen ist. Dies ließe sich jedoch fachlich nicht artikulieren, da es eher als eine Art Intuition wahrgenommen werde, die scheinbar konträr zu professionellen Konzepten, Erklärungsansätzen und Theorien erlebt wird. So ist die Idee entstanden, ein Buch mit dem Titel »Kinder lernen leiblich« zu schreiben. Gerade die Aspekte im pädagogischen Alltag, die spürbar aber bisher schwer zu benennen waren, sollen hier zu Wort kommen. Dabei bezieht sich dieses Verständnis von Lernen nicht allein auf die Elementarpädagogik, sondern auch auf die Erziehung zuhause und im schulischen Kontext. Da der Begriff »leiblich« bzw. »Leib« heutzutage eher ungebräuchlich ist, wird dieser im ersten Kapitel genauer beschrieben. Das Buch ist insgesamt in zwei Teile gegliedert: So werde ich in Teil A zunächst verschiedene Begriffe aus Hermann Schmitz’ Konzept der leiblichen Kommunikation vorstellen, die mit Beispielen aus der pädagogischen Praxis illustriert werden. Diese Fachbegriffe können jederzeit im Glossar nachgeschlagen werden, denn die einzelnen Kapitel des Buches bauen auf diesen Bezeichnungen auf. In Teil B werden dann typische Lernsituationen im pädagogischen Alltag beschrieben, die plausibel machen, was mit der Behauptung »Kinder lernen leiblich« gemeint ist. So erhalten Eltern, Kindheitspädagogen, Erzieher und Lehrer Anwendungsbeispiele für leibliche Kommunikation mit Kindern. Die Vorstellung, dass Kinder leiblich lernen, bietet die Möglich9 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

Einleitung

keit, gemeinsame Situationen mit Kindern aus einer neuen Perspektive wahrzunehmen und zu gestalten. Sie zeigt auf, wie früh und wie umfangreich kindliches Lernen eigentlich geschieht. Lernen findet nicht nur da statt, wo der Pädagoge oder die Eltern intentional ein Angebot vorbereitet haben, das spezifische Kompetenzen des Kindes fördern soll. Lernen kann sich in jeder Situation des Alltages abspielen, es kommt nur darauf an, dass man die Neugierde, den Wissensdurst des Kindes wirklich erkennt, seine Fragen wirklich versteht und darauf so eingeht, dass die Antwort beim Kind ankommt. Dies wiederum gibt Aufschluss darüber, wie Pädagogen und Eltern als Interaktionspartner von Kindern durch ihr eigenes Verhalten Atmosphären des Lernens positiv gestalten können. Dabei kommt es weniger auf fertige Konzepte oder neue Methoden an, sondern vielmehr darauf, dem eigenen intuitiven Spüren in gemeinsamen Situationen mit Kindern mehr Aufmerksamkeit und mehr Vertrauen zu schenken.

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A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

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Was ist der Leib und was heißt leibliches Lernen?

In meinen Seminaren lasse ich Studierende manchmal analysieren, was Kinder bei einem bestimmten Spiel alles lernen können. Wir spielen das Gemeinschaftsspiel »Bello-Dein-Knochen-Ist-Weg«. Einer kniet mit geschlossenen Augen in der Mitte eines Kreises voller Mitspieler vor einem »Knochen« und muss horchen und raten, wer da den Knochen gestohlen hat. Nun besinnen sich die Studierenden auf die gängige psychologische Lerntheorie, die besagt, dass Lernen eine wiederholte Erfahrung ist, die zu dauerhaften Veränderungen im individuellen Wissen und Verhalten führt. 1 Dann deklinieren die Studierenden das lustige Kinderspiel nach den vier Lernbereichen durch: • Kognitiv: Die Kinder schließen aus einem Geräusch von Hinten, dass der Hund aus dieser Richtung kommt. Sie äußern ihre Vermutung sprachlich. • Psychisch: Sie ertragen das alleine im Mittelpunkt Stehen und die Spannung, Bello zu finden. Sie lassen sich von der Freude anderer anstecken. • Sozial: Die Kinder erschließen den Sinn der Spielhandlung und teilen ihn mit anderen. Dabei passen sie sich den Spielregeln an. • Motorisch: Die Kinder machen feinmotorische Erfahrungen beim Stibitzen des Knochens und grobmotorische beim Davonschleichen.

Vergl. Anita Woolfolk, Pädagogische Psychologie, München 2008, S. 257; vergl. Wolfgang Einsiedler, Margarete Götz, Andreas Hartinger, Friederike Heinzel, Joachim Kahlert, Uwe Sandfuchs, Handbuch Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik, Bad Heilbrunn 2011, S. 341; vergl. Ute Koglin, Franz Petermann, Psychologie in: Cornelsen, Kinder erziehen, bilden und betreuen – Lehrbuch für Ausbildung und Studium, S. 337

1

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A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

Am Ende entsteht meist eine Diskussion darüber, ob Sprache nicht nur kognitive, sondern auch motorische und soziale Kompetenzen erfordert; oder dass Wegschleichen neben motorischen auch psychische Aspekte umfasst; oder dass die Bereiche eigentlich alle ineinander greifen. So endet der Diskurs oft bei der Schlussfolgerung, dass die vier Lernbereiche lediglich analytische Krücken sind, die den ganzheitlichen Prozess des Lernens nicht vollständig erfassen können. Es scheint ein umfassenderer Vorgang zu sein, der das gesamte Wesen des Kindes ergreift. Denn es geht ja nicht nur darum, Wissen aufzunehmen und zu reproduzieren. Es bedeutet auch, Erfahrung zu verinnerlichen, diese Fertigkeiten gekonnt anzuwenden und zusätzlich beurteilen zu können, ob die erworbene Kompetenz auch der jeweiligen Situation angemessen ist. Ein Kind, das den Bello spielt, konzentriert sich nicht nur auf die Geräusche der anderen. Es wird für eine Weile selbst zum Hund Bello, der hungrig, ärgerlich oder traurig ist und der entsprechend laut bellt oder leise winselt. Es spürt die anderen rundherum, ihre Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche. Dabei empfindet es die Aufregung, ob es den Dieb erwischt. Es möchte sich nicht blamieren und zugleich dazu gehören. Aber es erlebt auch den Spaß am Spiel und will immer wieder dran kommen. Das Kind erfährt keine Lernbereiche, es erlebt eine gemeinsame Spielsituation. Diese Spielsituation spürt es leiblich: Das Grinsen der anderen, die Spannung im Raum, die eigene Aufregung, die ansteckende Freude, die aufkommende Langeweile usw. Aber wie lernen Kinder leiblich und was kann man darunter verstehen? Bei dem Spiel sind sicher alle vier klassischen Entwicklungsbereiche beteiligt. Doch eine Zugangsweise, die alle vier Lernbereiche integriert und dennoch darüber hinausgeht, bildet die leibliche Kommunikation. Der Leib wird dabei als Resonanzboden für die vielfältigen Lernerfahrungen betrachtet, die dem Kind begegnen. Wenn wir den Menschen jenseits seiner kognitiven, psychischen und sozialen Fähigkeiten betrachten, dann normalerweise über den Körper. Tatsächlich unterscheiden sich die Begriffe Leib und Körper aber in einer Weise, die gerade dann bedeutsam wird, wenn wir von der Bildung der Persönlichkeit sprechen. Der Körper ist im Gegensatz zum Leib das naturwissenschaftlich Messbare. Man kann ihn mit exakten Methoden ausmessen. Die Mutter misst mit dem Thermometer, ob das Kind Fieber hat. Auf der Waage stellt sie das Körpergewicht fest und dosiert danach das fiebersenkende Mittel. Durch 12 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

1. Was ist der Leib und was heißt leibliches Lernen?

Ultraschall kann der Arzt feststellen, ob eine Blinddarmentzündung vorliegt. Aber häufig haben Menschen auch Beschwerden, die medizinisch nicht messbar sind. Das heißt, sie spüren etwas, können es aber nicht genau lokalisieren und beschreiben. Es befindet sich etwa in der Gegend des Bauchnabels und strahlt nach links aus. Gerade hier setzt der Begriff des Leibes an. Thomas Fuchs beschreibt den Leib nicht als den sichtbaren, tastbaren und empfundenen Körper sondern als »unser Vermögen zu sehen, zu berühren, zu empfinden«. 2 Dabei geht es keineswegs nur um Schmerzen, die scheinbar keine physische Ursache haben. Es geht allgemein um das Spüren der eigenen Person, die sich als lebendiges Wesen wahrnimmt. Auch wenn wir in einem völlig dunklen Zimmer auf einem Bett liegen, spüren wir, dass wir liegen, ob wir angespannt oder locker sind, ob wir hungrig, durstig, unruhig, ängstlich oder erschöpft sind. Wir spüren eine dumpfe oder entspannte Atmosphäre im Raum. Wenn fremde Geräusche zu vernehmen sind entscheiden wir mit dem Bauchgefühl, ob wir der Sache auf den Grund gehen oder nicht. Diese Empfindungen sind unmittelbar zugänglich und wir spüren sie jenseits der Sinnesorgane wie Augen, Ohren, Nase, Zunge oder Haut aber doch in der Gegend des eigenen Körpers. Der Leib ist somit nicht messbar, sondern spürbar und geht unter Umständen über die Körpergrenzen hinaus. Ebenso wie Erwachsene spürt auch ein Kind sehr früh, wie ein Gegenüber gestimmt ist, was er von ihm erwartet und wie es sich in seinen Augen verhalten soll. Es kann sehr früh die Bedeutung von Haltungen und Gesichtsausdrücken deuten. Auch nimmt es geschürzte Augenbrauen, gespitzte Lippen, ein entspanntes Lächeln, ausladende, gewährende Gesten und entspannte Lockerheit als Gestaltverläufe des Leibes wahr. Noch bevor Kinder die damit transportierten Stimmungen sprachlich ausdrücken können, erfassen sie bereits den Sinn dieser leiblichen Signale. 3 Diese sind nicht einfach mit den Augen zu beobachten, sondern gehen eher atmosphärisch von einer Person aus. Das Kind spürt an der Art, wie die Mutter sich zu ihm umdreht, es anspricht und sich ihm zuwendet, ob alles in Ordnung ist oder etwas nicht stimmt. Thomas Fuchs, Das Gehirn – Ein Beziehungsorgan, Stuttgart 2013, S. 99 Klaudia Schultheis, Macht und Erziehung, in: Hans Jürgen Wendel, Steffen Kluck (Hrsg.), Zur Legitimierbarkeit von Macht, Freiburg i. B./München 2008, S. 102

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A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

Der Vorgang dieser leiblich vermittelten Wechselwirkung mit anderen kann als Schlüssel jeglichen Lernens betrachtet werden. Da der Mensch ein soziales Wesen ist, bildet sich die Identität des Kindes aus der Interaktion mit anderen. Jede Geste löst eine Gegengeste aus, eine Haltung wird zurückgespiegelt. Besonderes Merkmal dieser leiblichen Kommunikation ist, dass sie sich bereits vorsprachlich vollzieht und Worte lediglich noch der Verstärkung bestimmter Haltungen und Gesten dienen. Der Leib und sein eigenleibliches Spüren spielt also eine zentrale Rolle als Resonanzboden für die Umwelt. Über ihn werden wesentliche Signale, Atmosphären und Bewegungssuggestionen vermittelt, die in der Entwicklung der Persönlichkeit eine elementare Rolle spielen. Bewegungssuggestion meint dabei den Aufforderungscharakter, den bestimmte Bewegungen und Gesten haben und zur Nachahmung anregen. Der Philosoph Hermann Schmitz beschreibt Bewegungssuggestionen auch als »Vorzeichnungen von Bewegung«, die von einem Gegenstand ausgehen. 4 Sie verleiten uns dazu, die Bewegung in uns aufzunehmen und leiblich auszudrücken. Eine Melodie gibt uns beispielsweise eine Gestalt vor, die wir tänzerisch zum Ausdruck bringen. Oder ein mächtiger alter Baum mutet uns mit seiner majestätischen Ruhe an und bringt uns zum Stillhalten. Gleichzeitig verleihen die Gebärden auch einen Gebärdensinn, indem sie zwischen zwei Menschen eine Bedeutung übermitteln. Durch die Gebärde angeregt übernimmt das Kind somit nicht nur ein Handeln, sondern auch den Sinn dieser Handlung, etwa das Kopfschütteln als »nein« oder das Händeschütteln als Begrüßung. Auch kognitives Wissen wird nicht einfach im Gehirn abgespeichert. Vielmehr verinnerlicht ein Kind in der tätigen Auseinandersetzung mit Dingen, wie man sie gebraucht. Das Spielen einer Flötenmelodie oder das Abzählen von Bonbons erfolgt zunächst über den Leib. Bei der Flöte erfahren zunächst die Finger die Abstände der einzelnen Löcher und ihre Größe. Das Kind probiert aus, wie fest es die Öffnungen mit den Fingern abdecken muss, damit ein klarer Ton hervorkommt. Auch muss es spüren, wie fest es in die Flöte blasen muss, um eine Melodie zu erzeugen. Die Finger beherrschen irgendwann eine Bewegungsfolge auf der Flöte, wenn es sie immer wieder übt. Dies erfolgt anfangs noch ohne Noten, einfach aus dem Gespür und dem leiblichen Gedächtnis heraus. Dann gelingt das erste Stück. Beim 4

Vergl. Hermann Schmitz, Atmosphären, Freiburg/München 2014, S. 67

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1. Was ist der Leib und was heißt leibliches Lernen?

Zählen fasst das Kind die Steine oder Münzen zunächst an oder zieht sie sogar auf eine Seite. Es übt die Abfolge der Zahlen: eins, zwei, drei, vier und lernt, diese Reihenfolge beim Zählen einzuhalten. Nun wird das Deuten auf die Gegenstände und das Nennen der Zahlwörter verknüpft. Dies wird so lange wiederholt, bis das Kind allein mit dem Blick erkennen kann, wie viele Gummibärchen auf dem Tisch liegen: eins, zwei, drei, … Die psychischen Aspekte des Lernens werden allein schon durch das affektive Betroffensein angestoßen. Das Kind begegnet etwas Neuem und ist dabei aufgeregt, ängstlich, neugierig, begeistert oder erschrocken. Durch diese leiblichen Regungen wird es affiziert und setzt sich in Beziehung zu den Gegenständen, etwa einer Maus, einem Nagel oder Seifenblasen. Lernen als leiblicher Prozess beinhaltet sozusagen bereits soziales, motorisches, kognitives und psychisches Lernen. Er geht jedoch über die einzelnen Lernbereiche hinaus. Da wir es in einer technisch und naturwissenschaftlich geprägten Kultur nicht gewohnt sind, Phänomene wie Gespür, Intuition, Fingerspitzengefühl, Takt, Vorahnung, Sensitivität und subtile Austauschprozesse zwischen Personen ernst zu nehmen, werden hier häufig grundlegende Fähigkeiten und Möglichkeiten zur Gestaltung von Interaktion übersehen. Diese sind jedoch bei der Gestaltung pädagogischer Beziehungen zwischen Kindern und Pädagogen bzw. Kindern und Eltern sehr bedeutsam. Dieses Buch möchte die Aufmerksamkeit und Sensibilität für Vorgänge und Phänomene wecken, die jeder Mensch mühelos bei sich selbst und anderen spüren und entdecken kann. Da Kinder auf eine sensitive Zuwendung und empathische Interaktion mit Erwachsenen angewiesen sind, kann die Entdeckung leiblicher Dimensionen der pädagogischen Beziehung dabei helfen, Kinder besser zu verstehen, ihre Bedürfnisse klarer zu erkennen und ihren Lernwünschen in angemessener Weise zu begegnen. Genauso wichtig ist es, dass Erwachsene ihre eigenen leiblichen Impulse wahrnehmen, während sie mit Kindern agieren. Sie erhalten wichtige Botschaften über eigene Befindlichkeiten, Bewertungen und unbewusste Rückwirkungen auf kindliches Verhalten, die immerhin die gemeinsame Situation mit Kindern erheblich beeinflussen. Beide Aspekte können sowohl für den beruflichen Kontext in pädagogischen Institutionen als auch zuhause in der Familie bedeutsam sein. Schließlich lernt das Kind über seinen Leib die Umwelt kennen, in dem es einen Regenwurm, einen Stein, oder ein Gewitter nicht nur 15 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

sieht, hört, fühlt, schmeckt oder riecht, sondern mit einer entsprechenden emotionalen Betroffenheit sich den Dingen zu- oder abwendet und sich als ganze Person tätig mit ihnen auseinandersetzt. Das Konzept der leiblichen Kommunikation von Hermann Schmitz umfasst Begriffe, die grundlegende leibliche Regungen des Menschen und elementare Zustände des Lebendigen beschreiben. Diese werden im Folgenden nach und nach eingeführt und anhand von Beispielen aus der Lebenswelt des Kindes erklärt. Sie helfen dabei, leibliches Lernen von Kindern zu verstehen.

2.

Kinder verleiben sich die Welt ein

Man sagt, Kinder erleben ihr Spiel mit Leib und Seele. Was ist damit gemeint? Zunächst bedeutet diese Aussage, dass Kinder häufig vollkommen konzentriert einen Gegenstand betrachten, damit hantieren, experimentieren und seine Gebrauchsregeln erforschen. Maria Montessori nannte das »Polarisation der Aufmerksamkeit«. 5 In der Sprache der leiblichen Kommunikation heißt das »Einleibung«, eine intensive Konzentration auf einen Gegenstand, der mich in besondere Weise anspricht und berührt. 6 Daraus entsteht eine ausgeprägte Wechselbeziehung, die mich emotional ergreift, affiziert und nicht so leicht wieder loszulassen scheint. Stellen wir uns ein Kind vor, das mit allen Sinnen eine Miesmuschel wahrnimmt. Es hält sie in den Händen und spürt das Feuchte, sieht die dunkle Farbe, die längliche Form und riecht den salzigen Meeresgeruch. Und doch sieht, tastet und riecht es sie nicht nur. Hinzu kommt noch eine lustvoll emotionale Neugierde auf das Meerestier, ein affektives Betroffen sein. Die zwei Hälften der Muschel sehen wie ein Mund aus und scheinen etwas zu verbergen. Bekomme ich das Gefäß geöffnet? Was passiert dann? Werde ich gebissen? Findet sich darin ein Geheimnis? Aufgeregt hantiert das Kind, bis die Muschel mit einem lauten Knacken auseinander bricht – und es ist nichts darin! Ein wohliger Schreck durchfährt es und es atmet schneller. Denn die Situation hat das Kind am ganzen Leibe gepackt, in Anspannung versetzt und eingenommen. Wie viele Muscheln wird es wohl

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Vergl. Sigurd Hebenstreit, Maria Montessori, Freiburg i. B. 1999, S. 54 Vergl. Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 2007, S. 151

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2. Kinder verleiben sich die Welt ein

mit der gleichen Aufregung untersuchen, bis die Neugierde gestillt ist? Im Moment ist das Thema »Muscheln« etwas, was ganz eng zur persönlichen Eigenwelt des Kindes gehört. 7 Die persönliche Eigenwelt ist der Aspekt seiner Persönlichkeit, der sich mit vollem Engagement und affektiver Betroffenheit auf das Erforschen der Muschel einlässt. Sie ist subjektiv eingefärbt, da sie genau die Dinge in ihrem Erfahrungshorizont zulässt, die aktuell für das Kind bedeutsam sind. Bei einem zweijährigen Kind setzt sich die persönliche Eigenwelt unter anderem aus solchen Aspekten zusammen: Hat Mama mir einen Kuss gegeben? Wo sind die Gummibärchen? Finde ich heute wieder Muscheln? Gehen sie auf? Was finde ich darin? Bekomme ich die Hausschuhe alleine an? Was macht die Ameise auf meinem Bett? Kann ich mir selbst Saft eingießen? Lacht der Papa mit mir? All diese Aspekte sind sehr aktuell und für das Kind von hoher emotionaler Bedeutung. Die persönliche Eigenwelt besteht jeweils aus den Sachverhalten, Fragen, Wünschen und Ängsten, die dem Kind heute oder in einer bestimmten Phase seiner Entwicklung begegnen, sein Interesse fesseln und sein emotionales Einlassen begünstigen. Sie ist daher auch sehr unbeständig und wandelbar. Das Kind integriert ganz individuell und subjektiv die Dinge und Personen in seine persönliche Eigenwelt, die es in diesem Zeitraum etwas angehen. Dies kann etwas Erschreckendes oder Unheimliches sein, etwa die Vorstellung von einem Geist auf dem Dachboden. Aber es kann auch etwas sein, mit dem es neu in Berührung gekommen ist und es entwickelt sich eine unendliche Neugier, zum Beispiel auf die Muschel. Es kribbelt in den Fingern, man wird davon regelrecht angezogen und kann dem Aufforderungscharakter nicht widerstehen. Sobald aber der Gegenstand bekannt ist und seine Eigenschaften bis in Letzte betrachtet und geprüft wurden, wird er zunehmend unwichtiger, gleichgültig oder auch überflüssig. Nachdem eine Sätti7

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A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

gung der Neugier eingesetzt hat, folgt die Entlassung des Objektes in die persönliche Fremdwelt. Ein Mädchen, das tagelang konzentriert und aufmerksam immer das gleiche Puzzle zusammengesetzt hat, bemerkt irgendwann: Ich kann es. Dann bestätigt es diese Erfahrung noch mehrmals, bis der Reiz des kürzlich noch so schwierigen Puzzles verloren geht. Nun gehört das Puzzle immer noch zur persönlichen Welt der jungen Dame, denn es steht ja schließlich im Spielzeugregal. Aber die emotionale Bedeutung ist stark herabgesetzt, das zusammengesetzte Puzzle löst keine Euphorie mehr aus. Während die Beschäftigung damit bisher subjektiv bedeutsam und durchwärmt war, ist sie nun neutralisiert und als etwas außerhalb der Situation des Kindes entlassen. An dieser Stelle gibt das Kind dieses Spielzeug aus der persönlichen Eigenwelt in die persönliche Fremdwelt ab. 8 Diese enthält all diejenigen Sachverhalte, die nach intensiver und affektiv betroffener Auseinandersetzung nun eher objektiv betrachtet werden, weil sie ihre unmittelbare Anziehung und den besonderen Stimulus verloren haben. Es wendet sich auch leiblich von dieser Sache ab, um sich etwas anderem zuzuwenden. Die subjektive Bedeutsamkeit und das affektive Betroffensein haben nachgelassen, sodass das Mädchen den Gegenstand nun als objektive Sache ansieht, die neben anderen Dingen im Regal steht. Im Grunde ist es immer wieder möglich, dem Sachverhalt die Subjektivität zu entziehen oder zuzuordnen, je nachdem, wie betroffen oder gleichgültig man dem Sachverhalt gegenübersteht. Wenn das Mädchen der kleinen Schwester beibringt, wie das Puzzle zu legen ist, kommt es wieder für eine Weile in die persönliche Eigenwelt. Durch die Auseinandersetzung mit Dingen, Phänomenen und Menschen bildet sich somit die Persönlichkeit entlang der persönlichen Eigenwelt und der persönlichen Fremdwelt. Für jedes Kind ist Wasser zunächst ein faszinierendes Element mit seinen fließenden Eigenschaften aber auch seinen Aggregatszuständen von fest über flüssig bis gasförmig. Dennoch wird jedem Menschen irgendwann klar, dass Wasser den Durst löscht, zum Reinigen geeignet ist, nach unten fließt, usw. und er wendet sich irgendwann neuen Sachverhalten zu. Trotzdem sind die Charakteristika des Wassers in der persönlichen Fremdwelt weiterhin präsent, nur nicht mit der gleichen emotionalen Aufmerksamkeit, wie in der persönlichen Eigenwelt. Denn um im Beispiel zu bleiben: Wasser bleibt für jeden Menschen ein 8

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3. Kinder erleben sich eng und weit

Gegenstand, der täglich in die persönliche Welt hineinwirkt, nur dann in objektivierter Form. Erst wenn die Selbstverständlichkeit, Wasser zu haben, verloren geht, etwa in der Wüste, bekommt es wieder eine tiefe emotionale Bedeutung. Das Wechselspiel zwischen persönlicher Eigenwelt und persönlicher Fremdwelt hat Anteil an der Ausbildung der individuellen Persönlichkeit. Denn jedes Kind wendet sich anderen Gegenständen zu, bildet unterschiedliche Interessen aus, und beschäftigt sich mehr oder weniger intensiv damit. Dennoch kann man davon ausgehen, dass alle Menschen in einem spezifischen Kulturraum auch ähnliche Grundinformationen einholen, die durch den signifikant Anderen (etwa den Vater oder die Mutter) oder den generalisierten Anderen (»die Gesellschaft« in Form eines Lehrers, einer Zeitung, eines Buches, etc.) als bedeutsame Symbole und Gegenstände identifiziert und vermittelt werden. 9 Dennoch können bei jeder Person durch die unterschiedlichen Grade des Berührtseins sehr verschiedene Perspektiven auf die Welt möglich sein. Aber es wird deutlich, wie sich das Kind von seiner Umwelt locken, erschrecken, faszinieren, entzücken und verführen lässt mit seiner gesamten Zugewandtheit, Aufmerksamkeit und mit seinem ganzen Leib. Es verschmilzt geradezu mit seinem Tun und vergisst dabei Raum und Zeit. Auch bei Erwachsenen kennt man dieses Phänomen, etwa beim leidenschaftlichen Klettern oder Modelleisenbahn bauen oder beim Konsolenspiel. Man verleibt sich sozusagen den Gegenstand seines Interesses ein. Wie diese leibliche Auseinandersetzung mit der Welt nun zum Lernen, zur Bildung und zur Ausbildung der Persönlichkeit führt, wird in den folgenden Kapiteln geklärt.

3.

Kinder erleben sich eng und weit

Es ist wohl kaum möglich, innerpsychische Vorgänge des Säuglings in den ersten Lebenstagen zu beschreiben. Diese Vorgänge bleiben im Verborgenen. Die Neurobiologie misst die Aktivität der Gehirnströme und zeigt, dass bei dem jungen Menschen bereits eine sehr aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt stattfindet. Doch über das Erleben des Kindes sagt dies im Grunde nicht viel aus. Wie kann man Vergl. Peter Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 1980, S. 142 ff

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A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

sich die Atmosphäre des Aufwachsens in den ersten Tagen vorstellen, welche Anhaltspunkte gibt es, an denen man Grundempfindungen des Neugeborenen erkennen könnte? Ein Säugling erfährt durch zärtliche Berührung beim Stillen, Baden, Wickeln und Getragen werden, dass es ihn gibt, wo er anfängt und wo er aufhört. Über die Haut entwickelt er ein Empfinden dafür, was ihm angenehm oder unangenehm ist. Doch schon bald spürt das Baby nicht nur, ob die Nahrung zu heiß, das Badewasser zu kalt, eine Umarmung angemessen ist. Es erfasst auch intuitiv, ob die Mutter eine freundliche, zugewandte Atmosphäre stiftet oder eher eine gleichgültige oder abwesende Ausstrahlung hat. Dies kann nicht allein durch einzelne Sinnesorgane aufgenommen werden, wie etwa sehen, hören, fühlen, riechen oder schmecken. Vielmehr nimmt das Kind atmosphärische Schwingungen war, die seinen Leib als Ganzes erfassen. Die beiden grundlegenden leiblichen Regungen des Menschen sind nach Hermann Schmitz »Weisen des Zusammenspiels von Enge und Weite«. 10 Enge und Weite sind dabei als Qualitäten zu verstehen, die sich in unserem subjektiven Erleben zeigen. Diese Empfindungen sind unmittelbar zugänglich und auch von einem Säugling wahrnehmbar. Die Enge ist der dumpfe Druck, den wir zum Beispiel empfinden, wenn sich Angst oder Schmerz in uns breit machen. Ein plötzlicher Schreck, eine Bestürzung oder Überraschung bringen uns aus der Fassung und unterbrechen die momentane Ausrichtung auf ein bestimmtes Handeln. Beispielsweise haben wir uns beim Kochen in den Finger geschnitten. Oder eine Datei, die wir seit Tagen bearbeiten, ist abgestürzt. Oder das Töchterchen stößt im Nebenzimmer einen spitzen Schrei aus. Wir zucken zurück, ziehen den Kopf ein, spannen die Arme an, lassen etwas fallen oder erstarren einfach in unserer Bewegung. Dies geht einher mit verkrampften, geschlossenen, verfestigten Haltungen, die durch eine gewisse Anspannung gekennzeichnet sind. Die Enge reicht dabei von einem leichten Eindruck des Betroffenseins bis hin zu einer unerträglichen Aufdringlichkeit. Ein Säugling ist der Enge seines Leibes ausgeliefert, wenn er Hunger oder Schmerzen hat, friert oder sich einsam fühlt. Er macht sich durch akustische Signale bemerkbar. Dabei spannt er die Gesichtsmuskulatur an, um Schreie zu erzeugen, ballt die Hände zur

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3. Kinder erleben sich eng und weit

Faust und verkrampft Arme und Beine, um lauter brüllen zu können. Das Baby hat zunächst nur das Mittel des Schreies, um auf Empfindungen aufmerksam zu machen, die es als unangenehm empfindet. Lärm, Kälte, Nässe, Einsamkeit, Hitze, Hunger und Blähungen treiben es in die Enge seiner leiblichen Existenz. Es ist affektiv betroffen von diesen unangenehmen Regungen und es gibt kein Entrinnen, bis ihm jemand zu Hilfe eilt. Die Weite bildet den Gegenpol zur Enge. Ein Säugling, der gerade gestillt wurde, an der Schulter der Mutter sein Bäuerchen gemacht hat und in ein sanftes Dösen verfällt, strebt gerade in Richtung Weite, weil er sich nun jenseits von Entbehrung und Schmerz befindet. Weite ist dann gegeben, wenn der Mensch relativ losgelöst ist von inneren Spannungen. Die Körperhaltung wird locker, der Muskeltonus weich, der Blick ist in die Weite gerichtet. Man genießt entspannt den gegenwärtigen Augenblick und taucht ungezwungen in Raum und Zeit ein. Auch das Empfinden von Weite unterliegt einer großen Spannbreite von sanfter Lockerheit nach dem Aufwachen bis zur Ekstase bei einem Musikkonzert. Da sich das leibliche Empfinden des Menschen selten in einem Zustand von reiner Enge oder unendlicher Weite befindet, sondern eher in unterschiedlichen Abstufungen in Richtung Weite oder Enge tendiert, spricht Hermann Schmitz von Tendenzen der Engung und Weitung. 11 Engung ist das leibliche Empfinden in Richtung Enge und Weitung das Gleiche in Richtung Weite. Diese beiden Zustände bestimmen das menschliche Dasein, da wir immer zwischen diesen beiden Polen hin und her schwingen. Auf ihnen baut sozusagen die Subjektwerdung auf. Der Mensch wird zunächst durch das gefühlsmäßige Betroffensein durch seine Umwelt bestimmt, bevor er sie mit seinem Verstand einordnen kann und allmählich Strategien entwickelt, um damit umzugehen. Daher muss das Kind zunächst lernen, wie es Zustände der Engung und Weitung bewältigt und wie es zunehmend eine Haltung zwischen den beiden Extremen findet. Denn erst im Bereich mittlerer Spannung ist es in der Lage, Lernerfahrungen konstruktiv zu bewältigen. In der Enge des Leibes gefangen, sei es durch Schreck, Schmerz oder Angst, kann es seine Aufmerksamkeit weder auf die Mutter noch auf die Umwelt richten. In totaler Weitung befindet es sich in einem Zustand völliger Entspannung, der Lernen ebenfalls verhin-

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A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

dert, da die Grenzen von Ich und Du verschwimmen und so eine Konzentration auf ein Gegenüber ebenfalls nicht mehr möglich ist.

4.

Wenn Enge und Weite zusammenwirken: Die Einleibung

Nicht nur das leibliche Empfinden des Menschen schwankt zwischen Engung und Weitung. Auch die Kommunikation und Interaktion zwischen Personen entsteht im Wechselspiel von Engung und Weitung. Das Baby erfährt Engung beim Schmerz des Hungers, die Mutter empfindet ebenso Engung beim Schrei des Kindes. Dagegen erlebt die Mutter Weitung, wenn sie beim Stillen ihre Nahrung zum Kind ausströmen lässt und das Kind sinkt in Weitung, je wohliger sich die Sättigung im Leib breit macht. Die Engung des Säuglings durch Bauchdruck wird beim getragen und gewiegt Werden in Weitung und Entspannung umgewandelt. Die angespannte Engung der Mutter angesichts des untröstlichen Kindes geht in Weitung über, wenn es schließlich sanft an der Schulter einschläft. Hier erfolgt also bereits ein Dialog, der ohne Worte auskommt und als leibliche Kommunikation bezeichnet werden kann. Nachdem das Kind anfangs rein leiblich durch Interaktionsprozesse an der Umwelt teilhat, wird es später die Worte der Bezugsperson verstehen. Bei einem Verbot nimmt der Erwachsene eine angespannte Haltung ein, streckt etwa den Zeigefinger, erhebt die Augenbrauen und entwickelt einen lauten, festen Tonfall bei dem Wort »nein«. Diese Konzentration auf den Widerstand gegen das kindliche Verhalten erfordert Engung. Aber auch das Kind erfährt dabei Engung, da es durch die Haltung des Erwachsenen erschreckt oder brüskiert wird. Es wird sozusagen auf sein unerwünschtes Tun zurück geworfen. Die so empfundene Engung wird es erst wieder los durch eine Veränderung seines Verhaltens und die Zustimmung der Bezugsperson. Will man ein Kind unterstützen und anspornen, etwa beim Laufenlernen, wird man sich mit geweiteten Armen, freundlich aufforderndem Nicken und gelöster Zuwendung vor dem Kind öffnen. Diese Weitung kann das Kind ermutigen, aus der Enge seines Leibes herauszutreten. Das Kind wird sich auf den lächelnden Blick des Erwachsenen fixieren, seine Angst vor dem Gehen überwinden und losgelassen ein paar Schritte nach vorn stolpern. Immer greifen also Engung und Weitung ineinander. Der Engepol, geht je nachdem, wer die Situation beherrscht, von 22 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

4. Wenn Enge und Weite zusammenwirken: Die Einleibung

der einen zur anderen Person über. Die andere Seite gleitet dann in Weitung über, in dem sie der anderen Person entgegen kommt und sich der Situation fügt. Oder sie wird ebenso von Engung erfasst und es beginnt ein Ringen um die Vormachtstellung in der gemeinsamen Situation. Dies ist nicht als reiner Machtkampf zu verstehen, sondern eher als natürlicher Aushandlungsprozess: Im Alltag geht es schließlich ständig darum, ob das Kind jetzt noch einmal rutschen darf, noch einen Moment bei Tisch sitzen bleiben soll, den 17. Gute-Nacht-Kuss bekommt und so weiter. Doch genau dieses Ringen, wer jetzt das Sagen hat, macht den Erziehungsalltag häufig so anstrengend. Denn es kostet Kraft, weil die Engung immer eine innere Anspannung und Konzentration erfordert, die je nach dem Grad der Widerständigkeit des Kindes sehr intensiv sein kann. Man kommt aus einer Situation nicht heraus, ohne die »Machtfrage« und den Engepol auszuhandeln. Vermeidet man diese Klärung und bringt nicht den notwendigen Widerstand ein, verschiebt sich das Problem so lange in die Zukunft, bis eine klare Konsequenz erfolgt ist. Das Begriffspaar von Enge und Weite, bzw. von Engung und Weitung beschreibt tendenzielle Grundempfindungen des Menschen, die für den erwachsenen Leser vom Phänomen her leicht nachvollziehbar sind. Da sie sehr grundlegende, präemotionale Prozesse beschreiben, also Regungen, die noch nicht in bestimmte Kategorien von Gefühlen eingeordnet werden, können sie auch für den Säugling angenommen werden. Zwar hat er nicht den Begriff oder ein Denkschema von »Druck« oder »Schmerz«. Aber zum Erleiden derselben ist er von Anfang an in der Lage. Ebenso kann er die Abwesenheit dieser Zustände registrieren, da er sonst nicht aufhören würde zu schreien. Diese intensiven Wechselprozesse von Engung und Weitung, die sich zwischen zwei Personen abspielen, nennt Hermann Schmitz Einleibung. So definiert er »Einleibung ist immer Konzentration auf ein Gegenüber«. 12 Die Einleibung ist keine Reaktion auf zunächst empfangene und womöglich schon analysierte Signale. Sie geschieht unmittelbar im Augenblick, wobei die andere Person jeweils am eigenen Leibe gespürt wird durch ihre Bewegungssuggestionen und Gestaltverläufe, ja ihre leibliche Präsenz schlechthin. Dieses am eigenen Leibe Spüren kommt somit nicht vom eigenen Leibe, sondern ist etwas Fremdes, das über diesen kommt und ihn einnimmt. Hermann 12

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A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

Schmitz beschreibt dies folgendermaßen: »Man fühlt sich in wechselseitiger Einleibung vom anderen irgendwie – eventuell eigentümlich – berührt«. 13 Wie beeinflussen nun diese phänomenologisch beschreibbaren Vorgänge das Lernen und die Entwicklung des Kindes? Dazu benötigen wir einige Beispiele, um uns die Auseinandersetzung des Menschenkindes mit der Welt vor Augen zu führen. Erwachsener und Kind treten in der Einleibung in eine umfassende Kooperation miteinander und entwickeln ein gegenseitiges Eingespielt sein. Diesen Vorgang kann man beispielsweise beschreiben, wenn die Erzieherin ein Kind tröstet. Das Kind sitzt am Maltisch und möchte ein Bild malen. Doch plötzlich vermisst es so sehr seine Mutter, dass die Trauer es völlig einnimmt und es durch diese Engung emotional so blockiert ist, dass es nur noch weinen kann und nicht mehr malen. Die Brust drückt und stockt, die Arme sind wie gelähmt, die Atmung wird geschüttelt durch das Weinen. Die Erzieherin sieht, wie sich die Engung durch Tränen entlädt. Sie regiert darauf, indem sie das Kind auf den Schoß nimmt. Mit ihren Armen bildet sie einen schützenden Rahmen um das Kind, das im Moment wehrlos seinen Gefühlen ausgeliefert ist. Sie konzentriert sich auf das Befinden des Kindes. Durch die ruhige Stimme und die wohlige Nähe der Erzieherin erfährt das Kind Entspannung und Weitung. Die empfundene Enge geht zurück und allmählich ist das Kind wieder in der Lage, ruhiger zu atmen, einen Gedanken zu fassen, einen Stift zu ergreifen und ein Bild zu malen. Nun kann sich auch die Erzieherin wieder zurücknehmen und sich in Weitung dem Gesamtgeschehen der Kindergartengruppe zuwenden. Einleibung ist also eine besondere Konzentration auf das Gegenüber. Doch ereignet sich dieses Gerichtetsein auf den jeweils anderen nicht nur von Person zu Person, sondern es kommt vor allem auf das »Zwischen« an, das sich intersubjektiv zwischen beiden Beteiligten vollzieht. Es sind atmosphärische Schwingungen, die nur bis zu einem bestimmten Grad an Mimik, Gestik oder Körperhaltung festgemacht werden können. Wer den anderen kennt, der spürt, ob etwas nicht stimmt oder ob alles in Ordnung ist. Etwas in der Haltung oder Ausstrahlung des anderen wirkt auf mich und lässt mich eine bestimmte Gestimmtheit ahnen. Solche Atmosphären kann man einer-

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4. Wenn Enge und Weite zusammenwirken: Die Einleibung

seits leiblich erfahren aber auch selbst ausstrahlen. Um den Begriff der Einleibung näher zu betrachten, müssen erst seine beiden Erscheinungsformen beschrieben werden. Die solidarische Einleibung ist wie ein sich aufeinander Einstimmen, das ein gemeinsames Tun erst ermöglicht. Beim Rudern eines Bootes bewegen alle gleichzeitig die Ruder in einem bestimmten Rhythmus und das Boot kommt nur gut voran, wenn sich alle im Gleichklang befinden. Man spürt an dem mehr oder weniger gleichförmigen Gleiten des Bootes, dem Luftzug des Hintermanns und dem Schwung des Vordermanns, in welchem Takt es sich zu bewegen gilt. Bei einem Fingerspiel im Kindergarten vollbringen Kinder gleichsam eine Höchstleistung, wenn sie ihre Stimmen, die Fingerbewegungen und womöglich noch Mimik und Gestik in Einklang bekommen. Der gemeinsame Rhythmus, der von der Erzieherin vorgegeben wird, ermöglicht eine Orientierung, auf die sich alle gleichzeitig einlassen müssen. Dabei sind sowohl das aktive Tun, etwa die Bewegung der Finger wichtig, als auch das passive sich Einlassen auf die Situation des Spiels als ein Mitschwingen mit anderen. Singt ein Kind zu laut oder zu schnell, gerät die ganze Gruppe durcheinander und der gemeinsame Takt geht verloren. Auch beim Wiegen eines Säuglings handelt es sich um solidarische Einleibung. Das Kind lässt sich in die Schaukelbewegung fallen und der beruhigende gleichmäßige Rhythmus der Mutter spendet Trost und überträgt sich auf das Kind. Wenn Kinder mit einer Doppelsäge arbeiten, können sie nur erspüren, wie fest der eine ziehen und der andere drücken muss, damit das Holzstück zerteilt wird. Verbale Kommandos wie etwa: »Jetzt musst du ziehen« bewirken hier nur sehr wenig, weil es vielmehr auf eine gegenseitige Feinabstimmung des Spürens ankommt. Auch ein gelingendes Gespräch ist geprägt von einer solidarischen Einleibung. Die Gesprächspartner wenden sich einander zu und stimmen zunächst die Gesten sorgfältig aufeinander ab. Sie beugen sich unbewusst vor und zurück, nehmen das Glas auf und stellen es wieder ab. Dabei synchronisieren sie die Bewegungen und geraten in einen Gleichklang. Sie finden einen gemeinsamen Sprechrhythmus, etwa, wie schnell sie reden, wie lang die Sätze und Pausen sind, etc. Dabei wägen sie die Worte behutsam ab, um auf der persönlichen Ebene die angemessene Achtung vor dem anderen zum Ausdruck zu bringen. Auch die inhaltliche Ebene orientiert sich an dem Horizont des Gegenübers, um ihn nicht über- oder unterfordern zu müssen oder ihn bloß zu stellen. So wird ein Gleichgewicht austariert, damit sich kei25 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

ner wegen erhöhter oder zu niedriger Spannung abwendet und das Gespräch verlässt. Die antagonistische Einleibung dagegen sondiert die Über- und Unterordnung. Es liegt in der Natur des Menschen, die Hierarchie der Sozialpartner auszumessen. Dabei kommt dem Blick eine hohe Bedeutung zu. Er offenbart ganz unmittelbar, wie jemand zur anderen Person steht, wie die Beziehung definiert wird, ob eine Über- oder Unterordnung besteht und wie die Reaktion auf den anderen ausfällt. Schon bevor Kinder sprechen lernen, können sie Blicke, Gesichtsausdrücke, Gesten und Haltungen deuten und ihnen einen spezifischen Sinn zuordnen. 14 Eine gerunzelte Stirn, in die Hüften gestemmte Hände und eine nach vorn gerichtete, angespannte Haltung können sie ebenso deuten wie offene Arme bei lässig lächelnder Miene. Kinder nehmen diese Signale nicht einzeln auf, sondern als Gestaltverläufe, die als bedrohlich oder aufmunternd wahrgenommen werden. Sie werden als leibliche Engung oder als richtungsgebende Weitung spürbar und mit Bedeutung verknüpft. Kinder können durch antagonistische Einleibung früh erkennen, wer »der Bestimmer« in einer Situation ist. Dies bildet eine elementare Grundlage aller Sozialkontakte, die Kinder erwerben müssen. Dabei ist ein Sich-AnpassenKönnen ebenso wichtig, wie eigene Interessen durchzusetzen. Dies ist jedoch nur möglich, wenn sie erwachsene und gleichaltrige Sozialpartner haben, an denen sie sich reiben können und durch intensive Einleibung entsprechende Erfahrungen sammeln können. Ein Wirgefühl in einer Gruppe oder Familie entsteht vor allem in solidarischer Einleibung. Denn hier erleben Kinder und Erwachsene Gleichklang bei gemeinsamem Spielen, Singen, etc. Soziale Regeln und Grenzen lernen Kinder vor allem bei der antagonistischen Einleibung.

5.

Wie Kinder sich ihre Umwelt aneignen

Wir haben gesehen, dass Kinder zunächst ein Gleichgewicht zwischen Enge und Weite benötigen, um in Kontakt mit der Umwelt treten zu können. Dabei helfen ihnen die Bezugspersonen, die dem Kind in solidarischer und antagonistischer Einleibung begegnen. Das Kind Klaudia Schultheis, Macht und Erziehung, S. 99–115 in: Hans Jürgen Wendel, Steffen Kluck (Hrsg.), Zur Legitimierbarkeit von Macht, Freiburg i. B. /München 2008, S. 102

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5. Wie Kinder sich ihre Umwelt aneignen

macht zunächst völlig unbewusst die Erfahrung, dass sein affektives Betroffensein eine Antwort findet, dass die Mutter es dabei unterstützt, von der Engung zur Weitung zu gelangen und seinen Leib als ein angenehmes Zuhause zu empfinden. Die Beziehung zur Mutter wird zunehmend verlässlicher und es entsteht das, was der Entwicklungspsychologe Erik Erikson als Urvertrauen bezeichnet. Doch aus dem Mitschwingen der Mutter mit dem Betroffensein des Kindes lernt das Kind im Umkehrprozess auch das Mitschwingen mit der Gestimmtheit der Mutter. Es lässt sich aus den Tiefen der Engung herausführen und lernt im Zustand einer mittleren Spannung seine Aufmerksamkeit auf Gegenstände außerhalb seiner selbst zu richten. Wenn das Kind für eine Weile frei ist von den Unannehmlichkeiten drückender Bedürfnisse wird es auch offen für neue Entdeckungen und Erfahrungen. Eine gelungene Einleibung ist also die Voraussetzung für die Öffnung zu Welt und für Lernerfahrungen. Wie lernt das Kind nun, sich in der Welt zu Recht zu finden? Wie setzt es sich mit den Dingen und den Mitmenschen auseinander? Als soziales Wesen ist der Mensch existenziell auf seine sozialen Bezugsgruppen angewiesen. Daher ist es notwendig, dass er sich einerseits an die Gruppennormen anpasst und seine spezifische Rolle findet. Andererseits muss er sich mit seinen individuellen Interessen und Forderungen immer wieder behaupten, um Selbstwirksamkeit zu erfahren und nicht in der Gruppe unterzugehen. Zunächst lernt das Kind einfach durch das Vorbild, wie sich Menschen in seinem Kulturkreis verhalten. Dabei bildet die primäre Gruppe, nämlich seine Familie, etwa Vater, Mutter und Geschwister das erste und bestimmende Vorbild. Der Säugling besitzt bereits früh die Fähigkeit, sich durch Gestaltverläufe und Bewegungssuggestionen anregen zu lassen, sie zu verinnerlichen und mimetisch nachzuvollziehen. Gestaltverläufe sind vorgezeichnete Figuren, die von Personen oder Dingen ausgehen. Ein schleppender Gang und ein dynamisches Schreiten zeigen einen unterschiedlichen Gestaltverlauf. Der schleppende Gang hat etwas Schweres, Müdes, während das dynamische Schreiten Kraft und Frische zum Ausdruck bringt. Auch eine flatternde Fahne oder eine schwingende Glocke muten als unterschiedliche Gestalten an. Dabei nimmt man insbesondere die Gesamtfigur der Gestalt auf, nicht nur einzelne Teilabschnitte. Gestaltverläufe werden zum Beispiel durch Musik und ihren Rhythmus vorgegeben. Ein Kind kann sich früh davon anregen lassen, welche Figuren eine bestimmte Melodie eröffnet. Aber auch die Art und Weise, wie sich der Vater vom 27 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

Stuhl erhebt oder die Mutter die Haare aus dem Gesicht streicht bilden Gestaltverläufe, die das Kind möglicherweise verinnerlicht und selbst nachvollzieht. Dies geschieht jedoch nicht in erster Linie durch verbale Instruktion, sondern vielmehr durch leibliche Kommunikation. Bewegungssuggestionen entstehen durch den Aufforderungscharakter, den viele Bewegungen besitzen. Ein Klatschen ist sehr interessant, weil es eine ausladende Bewegung beinhaltet und zusätzlich ein lautes Geräusch erzeugt. Kinder ahmen so etwas gerne nach. Sie sehen und spüren den anderen als lebendige, leiblich anwesende Person agieren und erfahren über seine Gesten und Ausdrucksformen Bewegungssuggestionen. In dem Kosespiel »Steigt ein Büblein auf den Baum« kann man diese Interaktion zwischen Erwachsenem und Kind einfach nachvollziehen. Es lautet: Steigt ein Büblein auf den Baum Oh so hoch man sieht es kaum. Hüpft von Ast zu Ästchen Hüpft ins Vogelnestchen. Ei da lacht es, ei da kracht es – Plumps da liegt es unten. Das Kind fühlt sich a)

durch die Bewegungen angesprochen und interessiert

Dies wird deutlich, wenn eine Erzieherin beim Wickeln das Kind an den Händen fasst und es an ihrem Oberkörper empor »klettern« lässt. Das Kind merkt, dass es hier um es selber geht und die Bewegungen auf es gerichtet sind. Es nimmt aufmerksam die Worte und Bewegungen wahr und lässt sie zunächst interessiert aber passiv über sich ergehen. b)

durch die Bewegungsverläufe dazu angeregt, diese nachzuahmen oder darauf zu reagieren

Die Fachkraft bewegt gleichzeitig sich selbst und das Kind und es entsteht dabei eine Kooperation. Das Kind merkt, dass es nicht nur passiv bewegt wird, sondern auch einen eigenen Part in dem Spiel hat. Es fühlt sich angeregt, sich mit zu bewegen. Nach mehreren Wiederholungen merkt es, dass die Erzieherin der Baum und es selbst das Büblein ist. Es bewegt die Beine und klettert allmählich selbst auf 28 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

5. Wie Kinder sich ihre Umwelt aneignen

den Baum, weiß schon, wann die Stelle mit dem »Nest« kommt und springt hinein. Es fühlt sich also durch die Bewegungen zur Nachahmung angeregt und reagiert darauf. c)

durch den Anblick des anderen zu subtilen eigenleiblichen Empfindungen angeregt

Beim Anblick der Erzieherin bei dem Spiel spürt das Kind freudige Spannung in seinem Körper, die Bewegungen zu vollführen. Es assoziiert mit ihrer Anwesenheit bei der Wickelsituation, dass nun wieder dieses Spiel kommt und entwickelt sowohl Vorfreude als auch Körperspannung, um sich darauf einlassen zu können. d)

durch die soziale Wahrnehmung zu Mitempfindungen für den anderen bewegt

Das Kind spürt nicht nur das eigene Vergnügen an der Bewegung, sondern es reagiert auch auf die Anregungen und das Lächeln der Erzieherin. Gemeinsam schütteln sie sich vor Lachen, weil sie ahnen, wie das Spiel ausgeht. Die Überraschung, wenn das Kind wieder vom Baum fällt und sanft aufgefangen wird, endet als geteilte Freude in der gemeinsamen Situation. Zwischen den beiden Interaktionspartnern erfolgt also eine zwischenleibliche Resonanz. Bewegung und Wahrnehmung greifen ineinander und lösen beim jeweils anderen ein spezifisches Verhalten aus. Nun ein weiteres Beispiel: Ein Vater bringt beispielsweise regelmäßig Holz in einem Korb ins Haus für den Holzofen. Der 18 Monate alte Sohn sieht, wie er immer wieder die Holzstücke auf der Abstellfläche neben dem Ofen aufschichtet. Eines Tages ist der Korb überfüllt und es fallen drei Holzstücke zu Boden. Nun bringt der Junge nacheinander die Holzstücke an den richtigen Platz und schichtet sie auf. Der Vater nickt anerkennend, klopft dem Kind auf die Schulter und sagt »gut gemacht«. In den nächsten Tagen ist der Junge dabei zu beobachten, wie er immer wieder Holzstücke vom Stapel nimmt und im Zimmer ablegt. Dann bringt er sie wieder zurück auf die Abstellfläche und schichtet sie dort ordentlich auf. Dabei sagt er »Papa, ooohhh…« was etwa heißen soll: ich strenge mich an wie der Papa. Der Blickkontakt zwischen Vater und Sohn und die positive Resonanz war hier sehr wesentlich, um eine Bestätigung für das Tun zu erhalten. Der gemeinsame Bezug zum Sachverhalt »Holz aufschichten« wird somit durch Blicke und Gesten verhandelt. Hätte der Vater den Kopf geschüttelt oder mit strenger Stimme 29 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

»nein« gesagt, wäre die Nachahmung wohl eher unterblieben. Der Junge spürt sehr deutlich eine positive Resonanz auf sein Verhalten, die sich nur am Rande im Kopfnicken widerspiegelt, vor allem aber in der gesamten leiblichen Gestimmtheit des Vaters und der Atmosphäre im Raum, die durch seine Stimmlage und Körperhaltung entsteht. Die wechselseitige Wahrnehmung wird also durch unterschiedliche Bewegungen angeregt. Es sind einerseits grobmotorische Bewegungen, wie das Schleppen und Aufschichten von Holz, andererseits feine, subtile Bewegungen der Gesichts- und Halsmuskulatur und bei einem Lob der Einsatz der Stimme, die der gemeinsamen Situation die entscheidende Richtung geben. Der gesamte Lernprozess mit seinen motorischen, psychischen, sozialen und kognitiven Anteilen wird also über leibliche Kommunikation vermittelt. Das Kind lässt sich durch die Gestaltverläufe und Bewegungssuggestionen des Vaters anregen.

6.

Wie Kinder zur Persönlichkeit werden – Die persönliche Situation

Die leiblichen Regungen Engung und Weitung ermöglichen dem Kind zunächst einmal, sich selbst wahrzunehmen, denn es ist eine zutiefst subjektive Erfahrung, »meinen Hunger« oder »mein Wohlsein« zu spüren. Das Kind lernt eigene Empfindungen gewahr zu werden und zum Ausdruck zu bringen. Durch die Einleibung setzt es sich in Beziehung zur Welt. Es lässt sich durch Gestaltverläufe und Bewegungssuggestionen zum eigenen Bewegen und Handeln anregen. Dabei tritt es in Wechselbeziehung mit der Mutter, dem Vater, den Geschwistern und den Dingen seiner Umgebung. Es entwickelt Konzentration auf ein Gegenüber, die durch ein Berührtsein, ein Affiziertsein angeregt und aufrechterhalten wird. Darauf hin initiiert es auch eigene leibliche Botschaften der Kommunikation. Bildung bedeutet genau dieses in Beziehung treten des Kindes mit Mensch und Welt. Es ist kein formaler, vernünftiger Vorgang, sondern ein mit dem ganzen Leib gespürter, neugieriger, überraschter, manchmal erschreckter, oft begeisterter Prozess. Wer hat nicht ein Kind vor Augen, das bei einer neuen Entdeckung vor Begeisterung in die Luft springt? Anfangs beginnt das Lernen noch zaghaft und wird dann mit zunehmender Entwicklung der Persönlichkeit kraftvoll und einnehmend. Daraus entsteht die persönliche Situation. 30 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

6. Wie Kinder zur Persönlichkeit werden – Die persönliche Situation

Eine Erzieherin beschreibt in einem Interview treffend die zaghaften Anfänge bei der Entstehung der Persönlichkeit: »Denn (…) ich habe versucht mich da mal in die Lage zu versetzen, ich bin jetzt hier ein Kind von 14 Monaten, das gerade laufen kann und kann nicht sprechen (…) – Aber wenn es ihm jetzt schlecht ginge, würde es das mit Sicherheit zum Ausdruck bringen. Oder wenn ein Kind gebracht wird morgens und der macht die Arme schon auseinander und man darf ihn in den Arm nehmen und dann ist das für die Eltern auch so ein Zeichen, dass sie sich wohl fühlen«. 15 Die Erzieherin macht deutlich, dass dieses Kind noch am Anfang der Entwicklung steht. Seine motorischen und sprachlichen Fähigkeiten sind noch wenig ausgeprägt und es kann seine Situation und Befindlichkeit im Kindergarten noch schwer artikulieren. Trotzdem sind ihm Möglichkeiten gegeben, seinen Gemütszustand in gewisser Weise zum Ausdruck zu bringen. Es kann Klagen und Weinen oder die Arme vertrauensvoll öffnen. Es lässt sich durch eine andere Person in den Arm nehmen und zeigt damit eine gelungene Kooperation mit der Erzieherin. Die Fachkraft beschreibt einerseits, wie labil die kindliche Verfassung noch ist, andererseits ist jedoch das nonverbale Ausdrucksvermögen sehr vital. Dieses Zerbrechliche der Persönlichkeit und ihre allmähliche, facettenhafte Zusammensetzung, die sich mühsam im Laufe des Lebens konzipiert, bezeichnet Schmitz als persönliche Situation. 16 Bei der Personalisation eines Kindes, die in der Psychologie auch häufig mit dem Begriff der Persönlichkeitsentwicklung bezeichnet wird, wirken sehr unterschiedliche Faktoren mit. Entwicklungspsychologen wie beispielsweise Mahler, Erikson oder Piaget erklären die Entwicklung eines Kindes meist in Phasen, aus denen es mit bestimmten Fähigkeiten oder Eigenschaften hervorgeht. Daraus entsteht dann das Bild einer Person, die mehr oder weniger unverwechselbar ist. Der Begriff der persönlichen Situation bleibt hier jedoch etwas flexibler. Er versucht der Art, wie ein junger Mensch seinen vielfältigen Eindrücken begegnet, die er dann individuell einfärbt

Barbara Wolf, Bildung, Erziehung und Sozialisation in der frühen Kindheit, Freiburg i. B. 2012, S. 285/286 16 Hermann Schmitz, System der Philosophie, Die Person, Bonn 1990, S. 287 15

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A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

und wieder zum Ausdruck bringt, gerecht zu werden. Herrmann Schmitz definiert die persönliche Situation wie folgt: »Die (…) persönliche Situation macht im Wesentlichen aus, was man sonst als Persönlichkeit, Eigentümlichkeit, Individualität pp. eines Menschen ausgibt und mit Hilfe solcher Ausdrücke doch nicht scharf und schmiegsam an den Phänomenen zu fassen weiß.« 17 Er geht davon aus, dass die persönliche Situation einerseits geprägt ist durch vergangene Aspekte wie etwa die individuelle Lebensgeschichte. Aber auch zukünftige Faktoren, wie Hoffnungen, Wünsche und Befürchtungen spielen dabei eine Rolle, wie sich die Person entfaltet. Die persönliche Situation setzt sich also aus einer Summe von Empfindungen, Erlebnissen, Schlussfolgerungen und Entscheidungen zusammen, die sich quasi im Laufe des Lebens als beständig und für die Person typisch herauskristallisiert haben und je nach Situation stärker hervor- oder zurücktreten. Somit ist die persönliche Situation ein flüssiger Prozess, der zwar durch eine Unmenge von erlebten Situationen eine bestimmte Richtung eingenommen hat, jedoch bis zu einem gewissen Grade flexibel und veränderbar bleibt. Wichtig ist dabei zu bedenken, dass die persönliche Situation immer in gemeinsame Situationen und soziale Kontexte eingebettet ist. Sie ist veränderlich, weil der Mensch ein lebendiges Wesen ist, das nur in der Wechselwirkung mit seiner Umwelt zu denken ist. 18 Diese Umwelt wirkt somit auf die Person zurück, und erweckt bei ihr affektive Betroffenheit, da sie als Subjekt die Welt in eigenleiblichem Spüren wahrnimmt. Ein Mädchen beschäftigt sich beispielsweise momentan intensiv mit Tieren der heimischen Landwirtschaft und hilft auf einem Bauernhof im Stall mit. Es weiß, wie Kühe gefüttert werden, was die Schweine fressen und erkennt die unterschiedlichen Hühner an ihrem Federkleid. Plötzlich erfährt sie davon, dass die Freundin einen jungen Leguan bekommen hat. Es kann nun sein, dass die heimischen Tiere in die persönlichen Fremdwelt entlassen werden und exotische Tiere Einzug in die persönliche Eigenwelt erhalten. Insgesamt würde man das Mädchen zwar als »tierliebend« bezeichnen, doch dieses Interesse oder diese Eigenschaft ist nicht statisch und kommt unter17 18

Ebd., S. 287 Thomas Fuchs, Das Gehirn – Ein Beziehungsorgan, Stuttgart 2013, S. 113 ff

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6. Wie Kinder zur Persönlichkeit werden – Die persönliche Situation

schiedlich zum Vorschein. Ebenso könnte passieren, dass durch einen schmerzhaften Biss des Hofhundes die Begeisterung für Tiere getrübt wird und sie künftig andere Interessen entwickelt, etwa das Pflanzen von Gemüse im Garten. Die Tatsache, dass sie von bestimmten Gegenständen oder Lebewesen angesprochen wird, hängt zunächst von affektivem Betroffensein in Engung und Weitung ab. Die Begeisterung für ein junges Ferkel erwächst erst durch ein tiefes Entzücken über das als niedlich empfundene kleine Tier mit dem Rüssel. Eine Abneigung gegen den Hund entsteht durch die Gefahr, gebissen zu werden und Schmerzen erleiden zu müssen. Beide Aspekte gehen auf die Engung zurück, da das Kind emotional berührt wird. Weitung entsteht etwa, wenn das kleine Ferkel auf dem Schoß einschläft. Hier geht dem Kind sozusagen das Herz auf über die Verbundenheit mit dem Tier, das sich entspannt dem Menschen anvertraut. In wechselseitiger Einleibung entwickeln Kind und Tier eine Beziehung, die damit auch Merkmal der persönlichen Situation des Mädchens wird. In dieser Weise gestaltet das Kind seine persönliche Welt, natürlich immer auch beeinflusst von der Interaktion mit anderen Menschen. Da es auf die Liebe und Fürsorge Erwachsener angewiesen ist, wird es sich so verhalten, dass es einen Kompromiss zwischen seinen eigenen Interessen und den Erwartungen der Bezugspersonen erfährt. Im eben genannten Beispiel ist das Mädchen auch noch Schülerin und Tochter, zwei soziale Rollen, die ihre persönliche Situation sicher ebenfalls stark beeinflussen. Wenn sie zu häufig bei den Tieren ist, wird sie zuhause vermisst oder schafft die Hausaufgaben nicht. Dies könnte dann wieder zu Situationen des affektiven Betroffenseins führen, wenn sie in Mathematik eine fünf bekommt oder die Eltern enttäuscht sind, wenn sie zu spät zum Abendessen kommt. Je nachdem, wie die unterschiedlichen Situationen aufeinander treffen, gestaltet sich dann die persönliche Situation des Kindes. Alle genannten Beispiele haben jedoch gemeinsam, dass die persönliche Situation nicht isoliert zu betrachten ist, sondern sich meist in Interaktion mit anderen konstituiert. Daher nimmt die gemeinsame Situation bei der Entstehung der persönlichen Situation eine bedeutsame Stellung ein.

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A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

7.

Mensch wird man nur zusammen mit anderen – die gemeinsame Situation

Eigentlich könnte man einfach sagen, eine gemeinsame Situation liegt dann vor, wenn mehrere Personen zusammen sind. Faktisch stimmt das zwar. Aber erstens würde dies nicht alles umfassen, was die gemeinsame Situation ausmacht. Und zweitens fehlen noch ein paar besondere Merkmale, die für eine gemeinsame Situation kennzeichnend sind. Für die neue Phänomenologie hat Hermann Schmitz eine Definition der Situation entwickelt, die zwar zunächst etwas komplex klingt, aber im Folgenden leicht anhand von Alltagsbeispielen erklärt werden kann. Der Mensch lebt vorwiegend in Situationen, die nach Hermann Schmitz folgendermaßen zu definieren sind: »Eine Situation ist, ganz abstrakt gesprochen, eine (…) chaotisch-mannigfaltige Ganzheit, zu der mindestens Sachverhalte gehören.« 19 Im Kindergarten könnte das Mittagessen eine Situation sein, in der unterschiedliche Unterhaltungen stattfinden, heißer Tee verschüttet wird, ein Stuhl umfällt, eine Serviette in Brand gerät und die anwesenden Kinder und Erwachsenen unmittelbar und gleichzeitig Feuer löschen, trösten, Tränen trocknen, für Ruhe sorgen und aufräumen. Das Diffuse der Situation führt dazu, dass Handlungen nicht geplant nacheinander stattfinden, sondern simultan in leiblicher Kommunikation der affektiv Betroffenen. Die Ganzheit bedeutet hier zunächst, dass sich eine Situation als Ganzes von einer anderen unterscheidet. Zum Beispiel findet in einer Kindertagesstätte in der Löwengruppe gerade eine Geburtstagsparty statt, in der Bärengruppe dagegen machen die Kinder eine Stilleübung. Dies sind zwei unterschiedliche Situationen in derselben Einrichtung. Ebenso könnte sich innerhalb einer Gruppe in der Bauecke eine Situation des Streites zwischen mehreren Kindern entwickeln, während am Esstisch ein unterhaltsames Frühstück mit einer Erzieherin und vier Kindern abläuft. Eine Situation hebt sich also von der Umgebung ab. Das Doppelwort chaotisch-mannigfaltig bedeutet, dass die einzelnen Aspekte der Situation so miteinander verwickelt und verschlungen sind und sich gegenseitig bedingen, dass es schwierig wird, sie isoliert vom Ganzen zu sehen. 19

Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 2007, S. 65

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7. Mensch wird man nur zusammen mit anderen – die gemeinsame Situation

Das geschieht etwa, wenn man als Beobachter beschreiben würde, wie die Erzieherin beim Eingießen Tee verschüttet, die Kinder lachen und der neue Junge sich zum ersten Mal traut, in sein Brot zu beißen. Dies sind einzelne Tatsachen. Doch insgesamt könnte man spüren, dass sich durch subtile leibliche Signale allmählich eine fröhliche Atmosphäre entwickelt und sich die Kinder geborgen zu fühlen scheinen. Da wird gegrinst, jemand schüttelt sich vor Lachen, die Blicke treffen sich, Gesichter strahlen und ein ängstliches Kind entspannt sich. Hier hat der Beobachtende einige Aspekte der Situation benannt, die jedoch sicher nicht all das ausmachen, was die Frühstücksgruppe gerade gemeinsam erlebt. Die Sachverhalte in einer Situation sind dann diejenigen Aspekte, die von jedem erkannt und objektiv benannt werden können. Eine Situation »Unterricht« ist beispielsweise daran zu erkennen, dass eine Person an einer Tafel steht und etwas erklärend aufschreibt und die Klasse ruhig an den Tischen sitzt und abschreibt. Oder wenn in einer Kinderkrippe im Schlafraum alle Kinder ruhig im Bett liegen, kann man davon ausgehen, dass dies eine Situation »Mittagsschlaf« ist. Oder wenn auf einem Schulhof mehrere Kinder mit der Faust aufeinander losgehen, wird man das übereinstimmend mit dem Sachverhalt »Schlägerei« bezeichnen. Der Begriff Situation beschreibt also aktuelle Geschehnisse, die sich aus ein oder mehreren Akteuren, einem oder mehreren Sachverhalten und ihren unüberschaubaren, ineinander greifenden Interaktionen zusammensetzen. Im Unterschied zur gemeinsamen Situation bezieht sich die persönliche Situation auf das Erleben des Einzelnen und die Auswirkungen auf seine subjektive Befindlichkeit. Dabei scheinen immer aktuell Spitzen seiner Individualität hervor, jedoch sind vergangene und in die Zukunft orientierte Aspekte seiner Person latent ebenfalls beteiligt. Die gemeinsame Situation hingegen kennzeichnet Situationen, in denen mehrere Personen oder Lebewesen beteiligt sind. Das Abendessen in einer Familie, ein Stuhlkreis im Kindergarten, ein Gummi-Twist-Spiel in der Schulpause oder eine Gruppe Kranker im Wartezimmer eines Arztes können alle als gemeinsame Situationen bezeichnet werden. Eine gemeinsame Situation könnte auch sein, wenn das tierliebe Mädchen die Hühner füttert. Oder wenn ein Reitschüler versucht, sich auf dem Pferderücken so mit Gesäß, Schenkeln und Zügeln in der Hand zu bewegen, dass das Pferd in die richtige Richtung geht. Im pädagogischen Kontext interessiert uns jedoch vor allem die gemeinsame Situation unter Menschen. 35 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

8.

Aufwachsen in gemeinsamen Situationen

Der Embryo befindet sich von Anfang an in einer gemeinsamen Situation, weil er in der Gebärmutter ja unmittelbar mit der Mutter zusammen lebt. Diese gemeinsame Situation wird mit der Geburt zunächst jäh unterbrochen. Beim Verlassen des Mutterleibes geschieht ein Temperatursturz von mindestens 15° C. Die Welt draußen ist hell und die Geräusche sind nicht gedämpft. Das Umfangensein vom Leib der Mutter ist unterbrochen. Gegenüber der geborgenen gemeinsamen Situation im Mutterleib ist der Säugling zunächst verlassen. Der Säugling richtet nun im Grunde all seine Lebensenergie darauf, die gemeinsame Situation wieder herzustellen. Dazu stehen ihm der Greifreflex, der Saugreflex und die Fähigkeit zu schreien zur Verfügung. Mit diesen bescheidenen Mittel versucht er nun, die Nähe zur Mutter wieder zu gewinnen. Ohne den anderen ist das Menschenjunge dem Untergang geweiht. Umgekehrt sucht in der Regel auch die Mutter die Nähe zum Kind. Durch ihre hormonelle Ausstattung und durch soziale Vorbilder entwickelt sie normalerweise ein Fürsorgeverhalten, das ebenfalls auf die Nähe zum Säugling ausgerichtet ist. Die Mutter wird das Baby aufnehmen, stillen bzw. füttern, es reinigen und wickeln, es umhertragen und zärtlich berühren. Nur wenn die Mutter selbst aus Gründen affektiver Betroffenheit unterschiedlicher Art (Depression, Sucht, Apathie, etc.) nicht in der Lage ist, die gemeinsame Situation mit dem Kind herzustellen, wird die Lage für das Kind bedrohlich. Die gemeinsame Situation ist somit für den neuen Menschen existenziell. Sie entwickelt sich wie oben beschrieben im Antagonismus von Engung und Weitung. Die Mutter reagiert auf das affektive Betroffensein des Kindes, das durch Hunger, Schmerz, Müdigkeit, Einsamkeit, etc. ausgelöst wird. Sie antwortet auf die leiblichen Regungen des Kindes in ihrer ganz individuellen Weise. In den folgenden Tagen entwickelt sich ein Rhythmus, wie Mutter und Kind sich aufeinander einstellen. Meist liegen die Babys im Krankenhaus in einem Bettchen direkt neben der Mutter (RoomingIn). Es gibt nun eine Vielzahl von Möglichkeiten, wie die beiden in Beziehung zueinander treten. Es könnte sein, dass die Mutter das Kind ständig aufnimmt, herumträgt, an die Brust legt, es berührt, es reinigt und wickelt, ohne dass es bereits Signale ausgestoßen hätte. Selbst im Schlaf umsorgt sie das Kleine ständig. Das Baby erfährt eine Vielzahl von Berührungen und akustischen Signalen, es wird bewegt 36 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

8. Aufwachsen in gemeinsamen Situationen

und wieder abgelegt. So wirken eine Menge Stimuli auf es ein, die es leiblich spürt und zu denen es sich in individueller Weise verhält. Es erfährt die Anwesenheit der Mutter, jedoch in einer aufdringlicheren Weise als vor der Geburt. Oder die Mutter ist sehr erschöpft, mit der ganzen Situation noch überfordert, schläft viel, nimmt das Kind erst auf, wenn es massiv schreit und ist froh, wenn andere sich kümmern. Sie ist noch unsicher, wie sie das Kind halten soll, wie fest sie es berühren darf, wie der Kopf zu stützen ist, ob vertikal oder horizontal die bessere Lage ist. Das Baby erfährt hier wenige körperliche und stimmliche Signale und wird leiblich nur gering stimuliert. Der Kontakt zur Mutter ist für längere Zeiträume unterbrochen und es kann ihre Präsenz weniger spüren. Auch darauf wird jedes Kind anders reagieren. Schließlich ist es auch möglich, dass die Mutter sehr sorgsam auf die Signale des Kindes achtet, aber auch für sich selbst Ruhezeiten und Entspannung sucht. Sie bemuttert den Säugling nicht ständig, aber ist einfach da, wenn er sich meldet. Hier besteht ein mittleres Maß an Zuwendung und leiblicher Kommunikation zwischen Mutter und Säugling. Die Gestaltung der gemeinsamen Situation zwischen Mutter und Kind entwickelt sich allmählich und sehr individuell. Eine Bindung ist nicht von Anfang an da, sondern muss mühevoll aufgebaut werden. Je nachdem, wie die Mutter gestimmt ist und auf den Säugling reagiert, beeinflusst die Stimmlage, die Körperspannung, die Art der Berührung und die eigene Gestimmtheit der Mutter die gemeinsame Situation mit dem Kind. Dazu kommt natürlich auch die Reaktion des Babys auf ihre Bemühungen, seine Bedürfnisse zufrieden zu stellen. Wie leicht oder schwierig es sich beruhigen, sättigen und trösten lässt, wirkt auch auf ihr Befinden zurück. Wenn sie eine hohe Selbstwirksamkeit erfährt, weil der Säugling positiv auf ihre Bemühungen reagiert, wird sie sich gern mit ihm beschäftigen. Dagegen löst ständiges Schreien das Gefühl von Unzulänglichkeit und Erschöpfung aus. Dies wirkt wiederum zurück auf das Kind, denn die leiblichen Prozesse sind von Anfang an wechselseitig. Hinzu kommen noch die Einflüsse vom Vater, möglicherweise von Geschwistern und der Interaktion zwischen den Familienmitgliedern. Ist der neue Erdenbürger willkommen oder liegen Ängste, Eifersucht oder sogar Feindseligkeit vor? Solche Gefühle lösen unterschiedliche Gestimmtheiten und Verhaltensweisen aus, die sich in leiblichen Signalen ausdrücken. Drückt der große Bruder heftig den Arm des Babys oder berührt er sanft die Stirn? Nimmt 37 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

der Vater den Säugling sorgsam auf, um die Mutter zu entlasten oder hält er sich zurück? Daraus entstehen erste Atmosphären des Aufwachsens. Diese finden zwar vor dem Hintergrund sozialstruktureller Bedingungen statt (Geburt im Krankenhaus, Hausgeburt, Bildung der Eltern, soziales Umfeld, Wohngebiet, gesicherte Einkommensverhältnisse, etc.), besitzen aber eine eigene Qualität, die dadurch bestimmt wird, welche Vorgänge sich zwischen den Menschen abspielen. Diese Vorgänge des »Zwischen« können nun mit den Begriffen der Leiblichen Kommunikation besonders gut erklärt werden. Im Folgenden wird nun noch genauer betrachtet, wie sich die persönliche Situation aus gemeinsamen Situationen entwickelt und abhebt.

9.

Auf dem Weg zur Persönlichkeit – Die Entfaltung der Gegenwart

Das Kind benötigt also zunächst Mutter, Vater und womöglich Geschwister oder Großeltern, um in der Welt Unterstützung und Orientierung zu finden. Diese signifikant Anderen sind zunächst vorwiegend in gemeinsame Situationen mit dem Säugling involviert. 20 Doch wie entwickelt er sich weiter von einem zunächst eher abhängigen Wesen zu einer autonomen Persönlichkeit? Die wechselseitige Einleibung mit anderen scheint sehr wesentlich für das Gedeihen des Kindes zu sein. Doch wie lernt es, weniger abhängig zu sein und sein Leben autonomer zu gestalten? In den unterschiedlichsten Situationen erfährt das Kind, dass Mutter oder auch Vater oder Geschwister spüren, welche Bedürfnisse es in die Enge treiben und ihm helfen, diese zu befriedigen oder zu bewältigen. An der Art des Schreiens, etwa der Stimmlage, dem Tonfall, der Intensität und Lautstärke erkennen sie im Laufe der Zeit, ob es sich um Hunger, Bauchschmerz, Frieren, Einsamkeit, Unwohlsein oder andere Regungen handelt. Wie gut die Bedürfnisse befriedigt werden können, hängt im Wesentlichen auch davon ab, ob die Bezugsperson nicht zu sehr selbst in Engung gerät und in hektischer oder in übertriebener Weise versucht, dem Kind gerecht zu werden. Es ist notwendig, dass sie in der Konzentration auf das Kind eine gewisse Engung erreicht, aber sich doch nicht völlig von der Situation verschlingen lässt. Aber auch ein Vergl. Peter Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 1980, S. 142 ff

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9. Auf dem Weg zur Persönlichkeit – Die Entfaltung der Gegenwart

gewisser Grad an Weitung ist erforderlich, damit sie sich ruhig und offen dem Kinde annähert. Denn wenn die Bedürftigkeit des Säuglings beim Erwachsenen einen zu hohen Druck aufbaut, kann er nicht mit der nötigen Gelassenheit und Übersicht dem Kind begegnen und gerät selbst in massive Engung. Aus Angst, nicht gut genug zu reagieren, wird er fahrig, hektisch oder unsicher. Außerordentlich hilfreich ist hier, wenn die Mutter nicht die allein zuständige Bezugsperson darstellt, sondern immer wieder Ablösung erfährt durch Vater, Großeltern oder andere Personen des Vertrauens und zwischenzeitlich zur eigenen persönlichen Situation zurückkehren kann. Dort kann sie wieder ein Gleichgewicht zwischen Engung und Weitung herstellen. Es wird möglich, erneut Kräfte zu sammeln, um später die Gerichtetheit auf das Kind wieder herzustellen und in gesunder Nähe zu sich selbst und zu anderen zu bleiben. Wenn diese feine Abstimmung zwischen Mutter und Kind erfolgt ist, kommt es im Laufe der Zeit zu einem Gleichgewicht zwischen mütterlichen und kindlichen Bedürfnissen. Damit ist das Kind aber noch nicht unabhängiger geworden. Es macht lediglich die Erfahrung, dass sein affektives Betroffensein eine Antwort findet, die zunehmend verlässlicher wird und es entsteht das, was Erik Erikson als Urvertrauen bezeichnet. Doch aus dem Mitschwingen der Mutter mit dem Betroffensein des Kindes lernt das Kind im Umkehrschluss auch das Mitschwingen mit der Gestimmtheit der Mutter. Es lässt sich aus der Engung herausführen und lernt im Gleichgewicht zwischen Engung und Weitung seine Aufmerksamkeit auf Gegenstände und Atmosphären außerhalb seiner selbst zu richten. Wenn das Kind für eine Weile frei ist von den Unannehmlichkeiten drückender Bedürfnisse, wird es auch offen für neue Entdeckungen und Erfahrungen. Der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs spricht hier vom Prinzip der »offenen Schleifen« die im kindlichen Organismus angelegt sind und in Resonanz mit der Umwelt Verhalten modulieren. 21 So richtet sich der kindliche Leib auf seine unmittelbare Umgebung aus und sucht Anknüpfungspunkte, wie er mit welchen Objekten oder Subjekten in Einleibung treten kann. Es scheint geradezu ein Grundbedürfnis zu sein, sich auf andere oder anderes einzulassen. Das Kind hat von Anfang an die Fähigkeit, mimetisch Gebärden, Blicke und Haltungen anderer zu imitieren. Wenn die Mutter der 21

Thomas Fuchs, Das Gehirn – Ein Beziehungsorgan, Stuttgart 2013, S. 129

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A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

verzweifelten Engung des Kindes einen anderen Gemütszustand entgegenzusetzen hat, der womöglich angenehmer oder weiter führender ist, wird es sich darauf einlassen. Dieser Übergang von der Engung in die Weitung ist sehr wesentlich für die Persönlichkeitsentwicklung. Engung und Weitung befinden sich dabei zwischen den beiden extremen Existenzweisen der primitiven Gegenwart und der entfalteten Gegenwart. Diese beiden Begriffe sollen im Folgenden noch einmal ganz genau betrachtet werden: Wenn ein Mensch in seinem plötzlichen leiblichen Betroffensein erstarrt und den Empfindungen im Hier und Jetzt völlig ausgeliefert ist, bezeichnet dies Hermann Schmitz als primitive Gegenwart. 22 Die Wirklichkeit packt einen so unmittelbar, dass man nicht mehr in Distanz zum Hier und Jetzt treten kann und nur noch aus tiefem Schmerz, zitternder Angst oder prickelnder Überraschung besteht. Man erfährt vollkommene Engung. In ähnlicher Weise erlebt dies ein Säugling, der beispielsweise im überhitzten Auto auf dem Parkplatz eingesperrt ist und plötzlich nur noch diese brütende Hitze, diese erstickende Schwere und dieses absolute Unwohlsein am ganzen Leib empfindet. Das ist primitive Gegenwart, was keineswegs etwas mit minderwertig oder unbedeutend zu tun hat, sondern lediglich damit, dass der Mensch seine Fähigkeit verliert, über sein leibliches Empfinden im Hier und Jetzt hinaus zu gehen. Normalerweise ist der Säugling recht früh in der Lage, Bezüge zu seiner Umwelt herzustellen. Der Säuglingsforscher Martin Dornes hat bereits darauf hingewiesen, dass der Säugling keineswegs ein so passiv duldendes Wesen ist, wie das zunächst angenommen wurde, sondern dass er sich von Anfang an aktiv mit seiner Umwelt auseinander setzt. 23 Und so kann er auch schon recht früh seine Aufmerksamkeit auf Objekte seiner Umwelt richten. Doch in unserem Beispiel ist eine gerichtete Aufmerksamkeit auf äußere Zustände nicht mehr möglich, weil das Kind durch die aufgestaute Hitze zu sehr von der Engung ergriffen ist. Wie kommt es nun aus der primitiven Gegenwart wieder heraus? Ein Erwachsener muss es aus der bedrohlichen Situation befreien, weil es allein dazu nicht in der Lage ist. Er muss die Autotür öffnen, das Kind aus seinem Sitz holen, es auf den Arm nehmen, es womöglich von überflüssiger Kleidung befreien, ihm Luft zufächeln, es wiegen und trösten, bis der Tempera22 23

Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band IV: Die Person, Bonn 1990, S. 5 Martin Dornes, Der kompetente Säugling, Frankfurt a. M.1993, S. 193 ff

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turhaushalt wieder geregelt ist und die affektive Betroffenheit sich aufgelöst hat. Erst dann ist es wieder in der Lage, in Richtung Weite zu kommen und Anteil an der Umwelt zu nehmen. Das Gegenteil von primitiver Gegenwart ist die entfaltete Gegenwart. 24 Diese erfährt das Subjekt, wenn es sich über sein leibliches Gebunden sein im Hier und Jetzt erhebt und seinen Blick in Weitung öffnet für seine Umwelt. Dann entfaltet sich die Gegenwart in viele Facetten und das eigene Empfinden rückt in den Hintergrund gegenüber einer neuen Perspektive. Gespeist wird der Schritt in die entfaltete Gegenwart über die kindliche Neugier, die alles Anfassen, Spüren, Schmecken, Sehen und Greifen will, was vor seiner Nase liegt. Schon früh beginnt das Kind, ein Mobile über seinem Bett zu fixieren oder eine Rassel in seiner Nähe zu greifen und festzuhalten. Doch anfangs misslingt dies häufig und bis es die Rassel sicher greifen und festhalten kann, vergeht eine Weile, in der komplizierte Prozesse ablaufen, die wiederum durch leibliche Kommunikation zu erklären sind. Zunächst muss jemand dem Säugling einen Gegenstand anbieten, denn er kann sich anfangs noch nicht von einem Ort weg und auf einen Gegenstand zu bewegen. Anfangs ist es am einfachsten in der Rückenlage, da dann beide Arme frei beweglich sind. Die Bezugsperson muss z. B. eine Rassel in angemessenem Abstand hinhalten, damit der Säugling sie sehen und mit der Hand erreichen kann. Als erstes wird er mit groben Bewegungen auf den Gegenstand aufschlagen. Wenn er den Moment abgepasst hat, in dem er die Rassel berührt, wird er dann versuchen, zuzugreifen. Es gelingt zunächst nur kurz, die Rassel festzuhalten, da die Hand vielleicht nicht im richtigen Winkel zur Rassel steht oder er nicht die ideale Stelle erwischt hat, an der er gut zugreifen kann. Auch hat er noch keine Erfahrung mit dem Kraftaufwand, den er benötigt. In dieser Phase ist das Baby noch sehr hilflos, rasch frustriert und weint schnell. Doch irgendwann gelingt es dann, vielleicht auch, weil die Mutter den Gegenstand entsprechend in die richtige Position gebracht hat. Dann greift das Kind zu und schüttelt ein wenig die Rassel und sie macht das charakteristische Geräusch, was für das Kind ein zusätzlicher Anreiz ist, es erneut zu versuchen. Wenn das Kind nun in der Bauchlage sicherer ist, kann man die Rassel vor es legen. Mit einer Hand stützt es sich ab, mit der anderen greift es nach der Rassel. 24

Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band IV: Die Person, Bonn 1990, S. 3

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A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

Die Mutter wird die Versuche des Kindes mit wohlwollender Aufmerksamkeit und übertriebener Stimmmodulation kommentieren. Wenn es Schwierigkeiten bekommt, weil es nicht nah genug an die Rassel herankommt oder das Abstützen auf dem Bauch zu anstrengend wird, kann die Mutter das Kind ermutigen. Sie schiebt die Rassel ein wenig näher, nickt auffordernd mit dem Kopf, lächelt, wenn das Kind wieder zu greifen versucht und lobt es mit ausgelassener Stimme, wenn es gelingt, die Rassel festzuhalten und einen Ton zu erzeugen. Sie nimmt es lobend auf den Arm und drückt es zärtlich. Dies wird sicher nicht in jeder Alltagssituation so intensiv möglich sein, aber grundsätzlich bildet die Kooperation und Unterstützung durch die Bezugsperson eine wichtige Voraussetzung, um sich mit der Umwelt auseinanderzusetzen. Es lernt in dieser gemeinsamen Situation allmählich, dass es mit seinem Versuch, die Rassel zu ergreifen nicht allein ist und es die Anstrengung für eine Weile aushalten kann, gerade auch wegen der Ermutigung der Mutter. Wenn es misslingt, erfährt es Trost und Zuspruch. Die Phase der Anspannung wird als vorübergehend erlebt. Die Mutter zeigt womöglich noch mehrmals, wie man die Rassel greift und schüttelt. Dabei sieht es, wie auch andere das gleiche Interesse haben und es kann das Verhalten nachahmen. Implizit speichert sich im Leibempfinden die Erfahrung, wie das Greifen und Rasseln funktioniert und die Erwartung, es wieder zu tun und zu schaffen steigt. Wenn es dann dauerhaft gelingt, die Rassel zu halten und zu schütteln, gelangt das Kind aus der Engung der totalen Hilflosigkeit und Betroffenheit in primitiver Gegenwart zunehmend in entfaltete Gegenwart, weil es nun mühelos seine Fähigkeit ausführen und sogar variieren kann. Statt passiv einer Situation ausgeliefert zu sein, auf die es keinen Einfluss hat, erlebt es nun Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit. Es erhält Überblick über die Situation, mit einer Rassel umzugehen und kann sie selbst planen und beeinflussen. Dies ist ein elementarer Lernprozess. Denn wenn der Säugling diesen Schritt einmal erfolgreich gegangen ist und entsprechend von der Bezugsperson in wechselseitiger Einleibung unterstützt wurde, traut er sich an weitere Lernerfahrungen dieser Art heran. Er ergreift jetzt auch andere Gegenstände und versucht mit ihnen Geräusche zu machen, indem er sie etwa auf eine harte Oberfläche schlägt. Dieses Erheben über die primitive Gegenwart bezeichnet Hermann Schmitz auch als personale Emanzipation. Das Kind ist nicht mehr seinen Empfindungen der Engung in primitiver Gegenwart ausgeliefert, 42 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

10. Auf dem Weg zur Persönlichkeit – Die personale Emanzipation

sondern entwickelt die Kompetenz, die Situation erfolgreich zu bewältigen und sich souverän über sie zu erheben.

10. Auf dem Weg zur Persönlichkeit – Die personale Emanzipation Soeben wurde die primitive Gegenwart als Zustand extremster Engung, entfaltete Gegenwart als Zustand starker Weitung beschrieben. Den Vorgang, den ein Kind durchmacht, wenn es durch Engung so in affektive Betroffenheit fällt, dass sein Empfinden auf Schmerz, Angst oder Verzweiflung zusammen schrumpft, bezeichnet man als personale Regression. Statt sich in der entfalteten Gegenwart in kindlicher Neugier interessanten Gegenständen zuzuwenden oder mit anderen Personen in Interaktion zu treten, wird das Kind zurückgeworfen auf seine subjektiven Empfindungen in primitiver Gegenwart. Doch die personale Regression ist keineswegs als Rückschritt bei der Persönlichkeitsentwicklung zu betrachten. Nach Herrmann Schmitz erfolgt hier die Zündung der Subjektivität. 25 Das heißt, das Kind erfährt gerade in der gefühlsmäßigen Betroffenheit, dass es selber es ist, das diesen Schmerz, diese Freude oder diese Engung erfährt. Das intensive Spüren eines Affektes konfrontiert das Kind mit seiner leiblichen Existenz, die es im wohligen dahin Dösen eher weniger spürt. Es ist also durchaus notwendig, Zustände personaler Regression zu erleben, um sich selbst als leibliches Lebewesen zu erfahren. Doch wäre es fatal, wenn das Kind lediglich von einem Affekt in den anderen fallen würde, ohne je in die entfaltete Gegenwart zu finden. Daher ist es notwendig, dass es lernt, sich für gewisse Momente und Zeitabschnitte in personaler Emanzipation über eine Situation zu erheben. Dies ist der Vorgang, der in entfaltete Gegenwart führt. Man kann sich einen Jungen vorstellen, der in einem Sandkasten sitzt und einen großen Turm aufgeschichtet hat. Schaufel für Schaufel hat er den feuchten Sand angehäuft und festgeklopft, damit ein stabiler Turm entsteht. Nun möchte er noch einen Tunnel unter dem Turm graben. Zunächst höhlt er von der einen Seite eine Vertiefung unter dem Gebäude aus. Dann beginnt er von der anderen Seite zu graben. Er ist hoch konzentriert und begeistert bei der Sache. 25

Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 2007, S. 156

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A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

Gerade kommt die Mutter herbei und er möchte ihr das Werk zeigen. Doch plötzlich hat er in seiner Aufregung eine zu heftige Bewegung vollführt und der Turm sackt ein. Die Hälfte des Gebäudes bricht in sich zusammen. Der Junge ist sehr erschrocken und beginnt heftig zu weinen. Er wirft wütend Sandförmchen umher, ein Verhalten, das seinem Alter eigentlich nicht mehr entspricht. Er befindet sich in personaler Regression. Die Mutter redet beruhigend auf ihn ein. Sie äußert, wie riesig der Turm ist und welche großartige Arbeit er geleistet hat. Der Junge beruhigt sich ein wenig. Dann bietet sie ihm an, bei dem Tunnelprojekt mitzuhelfen. Sie schichten erneut Sand auf den Turm, bis er noch größer ist als vorher. Dann gräbt jeder von einer Seite einen Tunnel unter dem Bauwerk. Schließlich treffen sich die beiden Hände unterirdisch. Die beiden berühren sich und lachen ein wenig. Dann ist das Werk vollendet. Nun zeigt er auf das Gebäude und erklärt, dies sei die Festung Camelot von Ritter Arthus. Die Mutter nickt zustimmend und geht lobend auf die Arbeit des Jungen ein. Nachdem das Werk nun beendet ist und er eine entsprechende Rückmeldung erhalten hat, nimmt er einen gewissen Abstand zu seiner Leistung ein. Es setzt sich entspannt an den Rand des Sandkastens und betrachtet ein wenig die Burg. Nachdem er beim Arbeiten die ganze Zeit in Konzentration und Aufregung tendenziell Engung erfahren hat, geht der Blick nun in die Weite. Er ist wieder offen für die Umgebung, die bis dahin nur Ort seiner gezielten Handlung gewesen ist. In personaler Emanzipation betrachtet er seine Arbeit im Zusammenhang mit der Umgebung des Gartens, seiner gemeinsamen Situation mit der Mutter und seinen weiteren Zielen oder Wünschen für den Tag. Während Erwachsene die Fähigkeit entwickelt haben, zunehmend selbst den Prozess personaler Emanzipation zu bewältigen, müssen Kinder dies erst mühsam erlernen. Sie benötigen dazu einen Erwachsenen, der ihnen diesen Schritt erleichtert. Der Übergang von personaler Regression in personale Emanzipation erfolgt im Grunde schrittweise und wird meist von einer älteren und weiseren Person unterstützt. Zum Beispiel erlebt ein Kind, das neu im Kindergarten eingewöhnt wurde, immer wieder Momente von Heimweh nach der Mutter. In einem sensitiven Umfeld wird es nun erfahren, dass es erstens mit diesem schmerzhaften Gefühl nicht alleine gelassen wird, weil die Erzieherin es aufnimmt und beruhigend auf es eingeht. Zweitens merkt es im wiederholten Fall allmählich, dass man den Zustand des Heimwehs aushalten kann, er ist nicht so bedrohlich, 44 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

10. Auf dem Weg zur Persönlichkeit – Die personale Emanzipation

wie er zunächst erscheint. Drittens macht das Kind die Erfahrung, dass das Gefühl auch wieder vorübergeht, wenn es Trost erfährt und in seinem Leid ernst genommen wird. Viertens entdeckt es, dass auch andere Kinder Heimweh haben, wenn es etwa selbst nicht davon betroffen ist und sieht, wie auch andere den Zustand überwinden. Fünftens wächst mit der Zeit die Erfahrung, dass das schmerzhafte Betroffensein auch wieder endet und man die Engung sozusagen überwinden kann. Damit ist das Gefühl allmählich leichter zu ertragen. Und sechstens wird das Kind im Laufe der Zeit intuitiv erkennen, dass es selbst mehr ist, als die momentane Engung. Es wird nicht mehr jedes Mal völlig in die primitive Gegenwart einsinken, weil es eine gewisse Sicherheit im Umgang mit dem Gefühl des Heimwehs erlangt hat aber auch mit der Tatsache, dass die Mutter immer wieder kommt, um es abzuholen. Es sind also genau genommen sechs Schritte, in denen das Kind erlernt, von personaler Regression in personale Emanzipation zu gelangen. Dabei ist weder die Reihenfolge noch die Vollständigkeit der Abfolge entscheidend. Das Kind kann folgende Lernerfahrungen machen, wenn es sensitiv durch eine erwachsene Person begleitet wird, ohne dass es dabei die begriffliche Ebene von dem erreichen muss, was Engung ist: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Ich werde mit der Engung nicht allein gelassen Die Engung ist schmerzhaft aber nicht vernichtend Die Engung geht vorbei Auch andere Menschen sind von solch unangenehmen Regungen betroffen und überwinden sie Die Überwindung von Engung wird mit der Zeit einfacher Ich selbst bin nicht die Engung, sondern es ist ein Empfinden, das auf mich einströmt, von dem ich mich aber distanzieren und befreien kann.

Diese sechs Schritte erfordern nun eine intensive und sensitive Einleibung zwischen Erwachsenem und Kind. Die Erzieherin im Beispiel wird zunächst mimetisch auf den Kummer des Kindes eingehen. Mit zärtlichen Gesten, beruhigender Stimme und wiegenden Bewegungen wird sie das Kind auf den Arm nehmen und zunächst mitfühlend den Schmerz spiegeln. Dies kann von Worten begleitet sein wie etwa: »Das ist ja auch so traurig, wenn die Mama nicht da ist«. Sie schwingt sozusagen mit der Trauer des Kindes mit und bringt dies in der Inter45 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

aktion leiblich zum Ausdruck. Wenn sich das Kind in seinem Leid angenommen fühlt, wird es allmählich ruhiger werden. Die Ruhe der Erwachsenen überträgt sich allmählich als Gestaltverlauf auf das Kind. Zunächst handelt es sich um eine antagonistische Einleibung, weil die Erzieherin der Unruhe und Erregung des Kindes etwas oppositionell entgegensetzt, nämlich ihre Ruhe und Gelassenheit. Indem das Kind aber zunehmend die Engung loslassen kann, schwingt es mit den beruhigenden Bewegungen der Bezugsperson mit und gelangt in solidarische Einleibung. Es übernimmt die Bewegungssuggestion und lässt sich leiblich darauf ein. Dann versucht schließlich die erwachsene Person, das Kind von der Engung in Richtung Weitung zu führen, indem sie aufmunternde Gesten und Worte hervorbringt. Mit freundlicher Stimme sagt sie etwa »Bald ist die Mama wieder da«. Wenn das Kind dann wieder in der Lage ist, seine tränenverschleierten Augen auf andere Gegenstände zu richten, wird sie aufmerksam beobachten, was das Interesse des Kindes fesselt. Vielleicht ist es ein Mobile oder ein anderes Kind oder wie schön die Sonne in einer Pfütze glitzert. Sie wird das Kind über beruhigende Bewegungssuggestionen dazu führen, dass es sich schließlich mimetisch auf ihre aufhellende Stimmungslage einlässt. Sie wiegt es auf dem Arm, klopft beruhigend auf den Rücken, streichelt über das Haar oder summt eine aufmunternde Melodie. Dadurch bildet sie eine Brückenqualität, die von der personalen Regression des Kindes wieder in die personale Emanzipation führt. Das Kind bleibt nicht länger in der primitiven Gegenwart gefangen, sondern die Gegenwart entfaltet sich wieder zu einer offenen Weite, in der es viele interessante Dinge zu entdecken gibt und in der es sicher und geborgen ist, auch wenn die Mutter noch nicht wieder da ist. Die Tränen des Kindes sind ein erster Schritt von dem schmerzhaften Druck der Engung hin in die entspannende Weitung. Mit dem Austreten der Tränen fließt etwas von der Enge des Empfindens aus und die Anspannung des Leibes löst sich allmählich auf. 26 Die Tränen entlasten es einerseits von dem beengten Erleben und wirken andererseits als wichtiges Symbol für die Erzieherin, um die Stimmungslage des Kindes zu erkennen. So kann sie sich in die Lage versetzen, das Kind empathisch durch die Situation zu begleiten. Am Ende er-

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11. Reifungsschritte zur autonomen Person

hebt das Kind wieder den Blick, gelangt von dem beengten, eher passiven emotionalen Betroffensein wieder in eine aufmerksame, offene und aktive Haltung, die in die Weite gerichtet ist. Es emanzipiert sich von seiner subjektiven Gefühlslage und nimmt die Welt wieder als interessanten Ort wahr, den es neugierig zu entdecken gilt. Es sieht wieder die anderen Kinder und den Maltisch, an dem es gerne sitzt. Und so wird es vielleicht Gefallen daran finden, der Mutter ein Bild zu malen, weil es mit den neuen Buntstiften schon gut Blumen malen kann und die Mama sich darüber freut. Jetzt ist die personale Emanzipation gelungen. Mit zunehmendem Alter und ausreichender Erfahrung in bestimmten Situationen gelingt es dem Kind häufiger, selbst die personale Emanzipation zu erlangen. Wenn es etwa in den dunklen Keller geht und sich selbst genügend Licht anmacht und aus der mehrmaligen Erfahrung schöpft, dass eben kein Monster aus der Ecke springt.

11. Reifungsschritte zur autonomen Person Der Übergang von personaler Regression zu personaler Emanzipation scheint also ein wesentlicher Lernprozess zu sein, der das Kind hin zu mehr Autonomie führt. Gerade diese Entwicklung gestaltet sich jedoch vor allem in der Wechselbeziehung mit einer reifen Bezugsperson, die das Kind durch sensitive Verbundenheit von der Engung in die Weitung führt und somit eine Haltung der personalen Emanzipation erst ermöglicht. Wie bereits erwähnt, ist es nun nicht etwa so, dass personale Regression ein grundsätzlich abzulehnender Zustand des menschlichen Erlebens ist und personale Emanzipation die allein anzustrebende Haltung. Herrmann Schmitz erklärt, dass gerade die personale Regression den Menschen auf eine tief erlebte Subjektivität zurückführt und uns in der Welt verortet. Wenn ein Kind die Welt nicht mit seinen Gefühlen durchdringt und damit den je individuellen Bezug zu Menschen und Dingen erhält, lebt es über sie hinweg und kann seine persönliche Situation nicht verwurzeln. Durch Erlebnisse der personalen Regression können Personen Vorlieben, Abneigungen, Interessen und Einstellungen entwickeln, die sie als Subjekt ausmachen. Die personale Regression macht den Menschen verletzlich, hilflos, ausgeliefert aber auch menschlich, sensibel und sozial. Die Fähigkeit zu mimetischen Mitschwingen in empathischer Haltung ermöglicht es dem Kind, die »offenen Schleifen« 47 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

seines Organismus auf die Umwelt auszurichten und Anschluss zu finden. 27 Außerdem versetzen diese Kompetenzen die Mutter in die Lage, durch Einleibung eine intensive Bindung zum Kind aufzubauen, die es allmählich zu mehr Autonomie führt. Als leibliche Basis von Ruhe, Sicherheit und emotionalem Gleichgewicht ermöglicht die Bezugsperson dem Kind, immer wieder in den Prozess der personalen Emanzipation zu finden. Dieser befähigt den Menschen dazu, sich unabhängiger von der Engung durch das affektive Betroffensein in der Welt zu bewegen und zurechtzufinden. Es wäre im Laufe des Lebens ungeheuer anstrengend, immer nur von einem Affekt zum nächsten geworfen zu werden. Indem das Kind durch die Unterstützung anderer lernt, sich über das affektive Betroffensein zeitweise und zunehmend hinwegzusetzen, wird es in die Lage versetzt, inhaltliche Ziele zu verfolgen und sich für längere Zeit auf eine für es als sinnvoll empfundene Tätigkeit zu konzentrieren. Dies bedeutet nicht, dass der Übergang von personaler Regression zu personaler Emanzipation eine Gefühlsabstinenz herbeiführen soll. Es wäre fatal, wenn man diesen Wechselprozess als Aufforderung betrachten würde, Gefühle zu überwinden und rein durch die Vernunft gesteuert durch das Leben zu gehen. Es geht eher darum, eine gewisse Affektkontrolle zu erreichen, die dem reifenden Menschen ermöglicht, nicht Opfer seiner Betroffenheit zu sein, sondern angemessen damit umgehen zu können. Das Kind sollte so lange die Möglichkeit haben, den Schoß der Mutter, den schützenden Arm des Vaters oder die Unterstützung der Erzieherin zu nutzen, bis es eigenständig in der Lage ist, mit Erfahrungen der personalen Regression umzugehen. Kinder suchen anfangs vehement diese Unterstützung und es ist notwendig, dies auch als Kompetenz anzuerkennen, sich als soziales Wesen angemessene Hilfestellung zu suchen. Wenn Kindern die Möglichkeit verwehrt wird, eine empathische Begleitung von personaler Regression in personale Emanzipation zu erhalten, kann dies zu Reaktionen des »ungehaltenen Kindes« führen, auf die in Kapitel 27 bis 29 noch eingegangen werden soll. Auch der erwachsene Mensch benötigt immer wieder der Rückmeldung durch andere, um sein Selbstkonzept zu pflegen und seine affektive Befindlichkeit zu

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Thomas Fuchs, Das Gehirn – Ein Beziehungsorgan, Stuttgart 2013, S. 129

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11. Reifungsschritte zur autonomen Person

reflektieren. Bei Beziehungsstress, Ärger im Job oder Enttäuschungen im Alltag sucht der gesunde Erwachsene Personen seines Vertrauens auf, um sich von seiner Engung bzw. personaler Regression zu lösen. Die beste Freundin, der Vereinskamerad oder manchmal sogar die Friseurin bilden wichtige Partner, um sich von Zuständen personaler Regression zu befreien, indem man seinen Kummer, seine Wut aber auch seine Freude und Begeisterung jemandem mitteilen kann. Gelingt dies nicht im normalen Alltag, suchen viele Menschen professionelle Hilfe beim Therapeuten, der im Grunde genau diese Rolle spielt: Begleitung von personaler Regression in personale Emanzipation. Personale Regression und personale Emanzipation spielen also bei der Entwicklung der Persönlichkeit eine bedeutsame Rolle. Hermann Schmitz betrachtet die Wechselbeziehung zwischen den beiden Zuständen als Kreisprozess, der grundlegend für die Entstehung der persönlichen Situation ist. »Ohne personale Emanzipation bliebe der Mensch tierisch und würde gar nicht zur Person; ohne personale Regression bliebe die Person gleichsam hohl«, weil sie nicht in Kontakt zu ihrem subjektiven Betroffensein steht. 28 Die Bewältigung des Übergangs von personaler Regression zu personaler Emanzipation kann somit als wesentliche Bildungsaufgabe betrachtet werden. 29 Wenn Bildung ein Prozess der Auseinandersetzung mit sich selbst, dem anderen und der Welt ist, dann kann nicht geleugnet werden, dass diese Kompetenz wesentlich dazu beiträgt, die persönliche Situation erfolgreich zu gestalten. Sie bildet womöglich sogar die Voraussetzung dafür, zu wichtigen emotionalen, motorischen, sozialen und kognitiven Lernerfahrungen zu gelangen. Daher sollte diese notwendige Reifungserfahrung nicht als eine basale emotionale Sozialisationskomponente abgetan werden. Etwa in dem Sinne: Ja, Kinder brauchen halt ab und zu ein bisschen Trost und Annahme. Es geht um die grundlegende Tatsache, dass ohne Bindungserfahrung keine Explorationserfahrung möglich ist. 30 Der Umschlag von personaler Regression zu personaler Emanzipation zeigt

Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band IV: Die Person, Bonn 1990, S. 105 29 Barbara Wolf, Die persönliche Situation als Bildungsaufgabe, Rostocker Phänomenologische Manuskripte, Band 9, Rostock 2010, S. 26 30 Vergl. Karin Grossman, Klaus E. Grossmann, Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit, Stuttgart 2005, S. 37 ff 28

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in phänomenologischer Hinsicht, welche komplexen und sensiblen Wechselbeziehungen zwischen Bezugsperson und Kind stattfinden. Einerseits zeigt er, wie durch subtile, feine leibliche Signale das Band des Vertrauens aufgebaut werden kann. Zusätzlich macht er jedoch offensichtlich, wie das Kind über eine intensive Verbundenheit durch leibliche Kommunikation allmählich zu mehr Autonomie gelangt. Es wird deutlich, dass dies ein langwieriger und sensibler Prozess ist, der nicht nach kurzer Zeit vom Kind kognitiv abgespeichert werden kann, sondern immer wieder durch geduldige leibliche Zuwendung bestätigt und vertieft werden sollte.

12. Verkörperte Regeln – Wie Kinder Regeln leiblich abspeichern Das Erlangen von personaler Emanzipation ist eine Selbstkompetenz, die durch erwachsene Bezugspersonen in unterschiedlichen Formen der leiblichen Kommunikation sozial vermittelt wird. Doch im Reifungsprozess der Persönlichkeit sind auch soziale Kompetenzen bedeutsam, die es dem Kind ermöglichen, als Teil einer Gruppe akzeptiert zu werden und seinen Platz und seine Aufgabe zu finden. Dazu muss es einerseits lernen, sich an bestehende Regeln zu halten, die in der Gruppe gelten. Darüber hinaus ist es aber auch notwendig, individuelle Interessen zu artikulieren und eigene Wünsche durchzusetzen, um Selbstwirksamkeit zu erfahren und nicht in der Gruppe unterzugehen. Die antagonistische Einleibung zeigt, wie subtil Überund Unterordnung sich bilden, aber auch, wie die Ausbildung eines Wir-Gefühls entsteht. Zunächst lernt das Kind Regeln an dem Vorbild, wie sich Menschen in seinem Kulturkreis verhalten. In Asien isst man mit Stäbchen, in Europa mit Messer und Gabel, was zwar beides nicht ganz einfach ist, aber dennoch in den meisten Fällen erfolgreich vermittelt werden kann. Der Säugling besitzt bereits früh die Fähigkeit, Gestik und Mimik zu imitieren und mimetisch nachzuvollziehen. 31 Er nimmt die Bewegungssuggestionen und Gestaltverläufe des Gegenübers auf und setzt sie in eigener Bewegung um. Dabei bildet die primäre Gruppe, nämlich seine Familie, etwa Vater, Mutter und Geschwister das erste und bestimmende Vorbild.

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12. Verkörperte Regeln – Wie Kinder Regeln leiblich abspeichern

Die Soziologen Peter Berger und Thomas Luckmann bezeichnen dieses Vorbild als den »signifikant Anderen«. 32 Signifikant Andere sind diese Personen deshalb, weil sie am Anfang die Bezugspersonen schlechthin sind, denen das Kind regelmäßig Tag und Nacht begegnet und die es als beständiger personal anwesender Anteil seiner Umwelt erlebt. Sie vermitteln nicht nur typisch menschliche Verhaltensweisen, sondern auch kulturelle Besonderheiten der regionalen Lebensweise. Schließlich macht es einen großen Unterschied, ob man bei den Buschmännern in Afrika aufwächst oder in der sibirischen Tundra bzw. in Mitteleuropa. Ein deutsches Kind lernt, auf Stühlen an Tischen zu sitzen, sich die Nase in ein Papiertaschentuch zu schnäuzen, anderen bei der Begrüßung die Hand zu schütteln und bei einer roten Ampel stehen zu bleiben. All diese Verhaltensformen müssen erst erlernt werden. Dieses Lernen erfolgt jedoch nicht in erster Linie durch verbale Instruktion, sondern vielmehr durch leibliche Kommunikation. Kinder sehen den anderen als lebendige, leiblich anwesende Person agieren und erfahren über seine Ausdrucksformen Bewegungssuggestionen. Wie wir bereits weiter oben ausführlich erläutert haben fühlen sich Kinder a) b) c) d)

durch Bewegungen anderer angesprochen und interessiert durch Bewegungsverläufe angeregt, diese nachzuahmen oder entsprechend zu reagieren zu subtilen eigenleiblichen Empfindungen durch den Anblick des anderen angeregt in der Interaktion zu Mitempfindungen für den anderen bewegt.

Zwischen dem Erwachsenen, der eine Regel vermitteln möchte und dem Kind vollzieht sich also eine zwischenleibliche Resonanz. Der Erwachsene lebt ein Verhalten vor, das beim Kind eine Reaktion auslöst. In folgendem Beispiel kann man diesen Prozess nachvollziehen: Ein zweijähriges Mädchen in der Kindertagesstätte hat den Klangraum entdeckt. Dort steht ein großes Xylophon mit zwei Schlägeln. Begeistert läuft es darauf zu und patscht mit der Hand auf die braunen Klanghölzer. Geräuschvoll fallen drei davon zu Boden. Die Erzieherin sieht das und nähert sich dem Kind. Sie fragt: »Hast Du das Xylophon entdeckt?« Das Mädchen schaut erschrocken und fragend Peter Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 1980, S. 142 ff

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A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

von den zu Boden gefallenen Klanghölzern zur Erzieherin und bückt sich rasch, um sie aufzuheben. Leider gelingt es ihm nicht, die Hölzer richtig auf den Schallkörper zu legen. Die Erzieherin hilft dabei und erklärt dem Kind: »Das ist ein Xylophon«. Nun nimmt sie einen Schlägel in die Hand und spielt den Anfang von »Alle meine Entchen«. Das Mädchen strahlt fasziniert. Es fühlt sich durch den Anblick der musizierenden Fachkraft angeregt und begeistert. Es mag den vollen Ton der Xylophon- Hölzer und fühlt sich von den Bewegungen und Tönen, die seine Erzieherin gemacht hat, angesprochen. Nun spricht die Erzieherin das Mädchen gezielt an und zeigt ihm, wie sie den Schlägel hält. Sie zeigt, wie sie die Handflächen nach oben nimmt, den Schlägel hineinlegt und den Daumen darüber legt. Dann schwingt sie langsam damit über die Klanghölzer und erzeugt wieder dieselbe kleine Melodie. Dann sagt sie zu dem Mädchen: »Jetzt du«. Sie reicht dem Mädchen den Schlägel und hilft ihm, ihn richtig zu halten. Nun ist es angeregt, die Bewegungen der Erzieherin nachzuahmen. Es lässt den Holzkopf auf das Klangholz sinken aber viel zu leicht, es ergibt keinen hörbaren Ton. Dann traut es sich etwas fester. Nun hört man einen Ton. Das Mädchen spielt nun verschiedene Klanghölzer an und horcht auf die Töne, die es erzeugt hat. Bei jedem Ton schaut es die Erzieherin an und lächelt. Die Erzieherin nickt anerkennend und lächelt zurück. Sie sagt: »Das machst du sehr gut«. Es entsteht eine leibliche Resonanz zwischen den beiden und ein wechselseitiges Mitempfinden über die Freude am Musizieren. Zum Schluss wird das Mädchen ein wenig übermütig. Es hämmert sehr kraftvoll auf den Klanghölzern herum, wobei sich zwei davon verschieben und eins zu Boden fällt. Die Erzieherin zieht die Augenbrauen hoch schüttelt den Kopf, spannt die Arme vor dem Körper an und sagt »Nein, so geht das Xylophon kaputt«. Wieder blickt das Mädchen die Erzieherin an, errötet und zuckt ein wenig zusammen. Auch hier wirkt der Anblick des Gegenübers anregend und das Kind wird zu Mitempfindungen bewegt. Es handelt sich nun aber eher um Scham und Bedauern. Es bringt nun rasch die Klanghölzer wieder in die richtige Position. Dann legt es den Schlägel beiseite und sagt: »Alles wieder gut«. Damit zeigt es deutlich eine Reaktion auf die Empörung der Erzieherin und die Bereitschaft, sich dem Engepol, der von der Fachkraft ausgeht, zu beugen. In antagonistischer Einleibung bestimmt die Erzieherin den Ausgang der Situation. Am Ende lächelt die Erzieherin wieder, nimmt das Mädchen sanft bei der Hand und sie verlassen gemeinsam den Klangraum. 52 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

12. Verkörperte Regeln – Wie Kinder Regeln leiblich abspeichern

In diesem Beispiel vermittelt die Erzieherin vor allem durch ihr leibliches Vorbild und die Bewegungssuggestionen bestimmte Regeln des Xylophon-Spielens. Sie sagt wenig und zeigt vielmehr, wie es geht. Das Kind lässt sich auf die Situation ein und probiert, die Bewegungen nachzuahmen. Es merkt rasch, warum es noch von der korrekten Ausführung abweicht, weil es zu wenig Kraft aufgewendet hat. Durch den Blickkontakt und das Lächeln vermittelt die Erzieherin dem Kind Aufmerksamkeit, Unterstützung und Begleitung. Es fühlt sich gleichsam angespornt durch das Interesse an seiner Person. Die beiden teilen dann auch das Erfolgserlebnis des Kindes. Als es die Regeln des Spiels übermütig überschreitet, sendet die Erzieherin deutlich leibliche und verbale Signale aus, die aus der affektiven Betroffenheit heraus entstehen. Das Kind nimmt diese wahr und reagiert unmittelbar darauf, denn es möchte die angenehme gemeinsame Situation nicht zerstören. Schnell beseitigt es die Folgen seines übermütigen Verhaltens und bestätigt dies mit den Worten: »Alles wieder gut«. Daraufhin löst sich die Engung in der Haltung der Erzieherin auf, sie lächelt wieder und durch die Geste des Händefassens unterstreicht sie die Verbundenheit mit dem Mädchen. Es wird deutlich, dass die Vermittlung der Regeln stark von affektivem Betroffensein begleitet ist. Gleichgültig ob es die Gefühle sich als Neugier und Begeisterung oder als Scham und Bedauern zeigen, steht der Affekt stark im Vordergrund und bestimmt die Situation. Bei kleinen Kindern geht es zunächst vorwiegend darum, ob die Bezugsperson etwas gutheißt oder ablehnt. Da das Kind zunächst auf die Liebe und Fürsorge von Eltern und Pädagogen angewiesen ist, wird es sein Verhalten an diese einfache Verhaltensstruktur weitestgehend anpassen. Dabei wird es jedoch regelmäßig Grenzen überschreiten, da es erstens die üblichen Verhaltensregeln noch nicht kennt oder nicht genügend verinnerlicht hat. Und zweitens möchte es natürlich ausprobieren, ob das Essen mit Messer und Gabel oder das angemessene Klopfen des Schlägels auf einen Klangkörper auch heute wieder Anerkennung findet, auch wenn es gestern noch so gewesen ist. Aus diesen täglich ausgehandelten Regeln im Verhalten bilden sich dann allmählich Normen, die das Kind in seinem Leibgedächtnis abspeichert. Es wird ihm zur Gewohnheit, bei Tisch auf einem Stuhl zu sitzen, die Nase in ein Taschentuch zu schnäuzen oder nach einem Toilettengang die Spülung zu betätigen. Denn ein Kleinkind kann 53 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

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zunächst keine vernünftigen Gründe verstehen, warum ein Xylophon zum Musizieren gedacht ist oder warum man Essen auf eine Gabel schiebt. Es benötigt die billigenden oder zurückweisenden Bewegungssuggestionen, Gestaltverläufe und die damit verbundenen Worte des Erwachsenen, um Regeln zu lernen und zu wissen, wie man sich in der jeweiligen Kultur angemessen verhält. Erst später ist es dem Kind möglich, den Sinn und die Bedeutung von Regeln bewusst zu verstehen, zu reflektieren und sie gegebenenfalls zu modifizieren. Welche Bedeutung die Normbildung für die Ausbildung der persönlichen Situation des Kindes hat und wie sie zustande kommt, wird nun im Folgenden dargestellt.

13. Normen als verinnerlichte soziale Gesten Die Soziologie beschreibt Normen meist als Bündel von Verhaltenserwartungen, die an eine Rolle, zum Beispiel des Sohnes, der Tochter, geknüpft sind. Die Tochter grüßt die Nachbarn und zeigt den Eltern die Elternbriefe des Lehrers. Der Sohn bringt die geleerten Mülltonnen zurück in den Vorgarten und verteilt für den Vater die Vereinsnachrichten im Stadtteil. Für das Kind ist das Erlernen von Normen bedeutsam, weil sie die Voraussetzung für die Übernahme von Rollen und Statuspositionen des Kultursystems bilden. Nur wenn es weiß, wie »man« sich benimmt, kann es sich im sozialen Kontext orientieren und einfügen. Es weiß, welches Verhalten angemessen ist und welches nicht. Im Bus springt man nicht über die Sitzbänke, man läuft nicht nackt durch die Straßen und in Räumen spricht man in Zimmerlautstärke. Da der Mensch kein instinktgeleitetes Wesen ist, das stets intuitiv weiß, was zu tun ist, benötigt er Normen und Verhaltensregeln. Sonst wäre er ständig verunsichert, wüsste nicht, wie er sich beim Einkaufen, am Essenstisch oder in der Straßenbahn benehmen sollte und wäre in den zutiefst unterschiedlichen sozialen Situationen orientierungslos. So geht es etwa dem Kleinkind im Restaurant, in dem es nicht versteht, warum man so lange sitzen bleiben muss und man nicht einfach mal dem Tischnachbarn auf den Oberschenkel klopfen oder mit lautem Geschrei durch den ganzen Raum rennen darf. Mit zunehmendem Alter gewinnt das Kind Sicherheit, wie man sich in welcher Situation verhält, beispielsweise auch im Restaurant. »Normen sind eine anthropologische Voraussetzung für Han54 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

13. Normen als verinnerlichte soziale Gesten

deln«, erklärt Alfred Bellebaum. 33 Sie entlasten den Menschen von der Reizüberflutung der Situation und schaffen Erwartbarkeiten des Handelns. Das Verinnerlichen von Normen kann man etwa verstehen wie ein »Sich-selbst-feststellen« im eigenen Handeln. Denn eine Vielfalt von Möglichkeiten wird eingeschränkt auf eine bestimmte Art zu handeln. Dies geschieht jedoch immer zunächst durch ein »Sich-gegenseitig-Feststellen«, indem sich der eine am anderen orientiert und testet, ob und welche Normen gerade gelten. 34 Damit die Normen zu Geltung gelangen, arbeiten erziehende Bezugspersonen auch mit Sanktionen. Das kann eine gerunzelte Stirn oder ein missbilligendes Kopfschütteln sein. Es könnte sich auch in einem lauten Schimpfen oder einem Verweis ins Kinderzimmer zeigen. Bis heute werden in der Erziehung auch körperliche Sanktionen getätigt, von einem Festhalten oder Zurechtrücken bis hin zum berühmten Klaps, weil Eltern es damit eher gelingt, Grenzen einzufordern. Diese Erziehungsmittel werden heute aus pädagogischen und rechtlichen Gründen gesellschaftlich abgelehnt, weil sie das Kind schädigen können. Auf der anderen Seite gibt es positive Sanktionen, die ein Verhalten fördern sollen. Wenn das Kind hilft, den Tisch abzuräumen, darf es eine halbe Stunde länger wach bleiben. Wenn es die Hausaufgaben richtig erledigt hat, bekommt es von der Lehrerin einen PferdeStempel zur Belohnung ins Heft. Hat das Töchterchen den Teller leergegessen, wird es geküsst und erhält drei Gummibärchen zum Nachtisch. Meist ist die Belohnung von weitenden und öffnenden Gesten begleitet. Die Körperhaltung ist locker, gewährend und offen. Durch Nicken, Schulterklopfen und eine lobende, aufmunternde Stimme erfährt das Kind leibliche Bestätigung seines Tuns. Deutlich wird hier, dass Normen in erster Linie leiblich vermittelt werden. Positive Sanktionen fallen gewährend aus und führen eher in Richtung Weite. Der persönliche Handlungsspielraum wird erweitert oder es wird etwas erlaubt, was sonst eher nicht so leicht zugänglich ist. Bei negativen Sanktionen wird in antagonistischer Einleibung bei demjenigen, der die Normen überschreitet, eine Engung erzeugt. Je nachdem, wie widerständig das Kind ist, fällt die Engung stärker oder schwächer aus. Der Erwachsene muss sich ebenfalls konzentriert in Engung begeben, um eine klare Grenze zu ziehen, einen Wiederstand gegen das Verhalten des Kindes aufzubauen 33 34

Alfred Bellebaum, Soziologische Grundbegriffe, Stuttgart 2001, S. 36 Heinrich Popitz, Soziale Normen, Frankfurt a. M. 2006, S. 74

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und in den unerwünschten Verhaltensablauf des Kindes einzugreifen. Nicht nur seine Worte, sondern seine gesamte Haltung muss dem Kind zeigen, dass es so gerade nicht geht. Die Körperspannung ist hoch, die Stimme fest und die Gestik eher starr und begrenzend. Auf diesen Vorgang, der pädagogisch als »Grenzen setzen« bezeichnet wird, soll im Kapitel 29 noch ausführlich eingegangen werden. In den ersten Lebensjahren werden Regeln und Normen vor allem über Regungen der Zustimmung oder Ablehnung vermittelt. Für das Kind ist also das Erlernen von Regeln anfangs eine sehr emotionale Angelegenheit. Erst mit zunehmendem Alter kommen dann die Einsicht und Vernunft hinzu. Der Soziologe Friedrich Tenbruck betont, dass es auf Dauer nicht ausreicht, wenn Regeln und Normen nur auf positiven oder negativen Sanktionen basieren. »Gänzlich verloren geht dabei, dass Lernen und Handeln an Sinn gebunden bleiben und insofern nichts Beliebiges gelernt werden kann, wenn es bloß mit Lohn und Strafe verbunden wird«. 35 Menschen handeln also in der Interaktion miteinander gemeinsamen Sinn aus. Benimmregeln beim Essen sorgen etwa dafür, dass die Nahrung in Ruhe eingenommen und verdaut werden kann, dass hygienische Erfordernisse erfüllt sind, keine Nahrungsmittel verschwendet werden und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppe gestärkt wird. Die rote Ampel hat die Funktion, dass Verkehrsteilnehmer nicht gleichzeitig auf die Kreuzung fahren und zusammenstoßen. Das sieht jeder Mensch sehr schnell ein, besonders, wenn er schon einen Unfall mit all seinen Folgen erlebt hat. Doch die rote Fußgängerampel an der leeren Straße am Abend stellt die Sinnfrage noch einmal neu. Denn hier ist offensichtlich, dass keine Gefahr besteht, aber die Regel mit der roten Ampel gilt trotzdem. Manche Leute übertreten deshalb die Regel, andere, insbesondere wenn Kinder dabei sind, die die Regel noch nicht verinnerlicht haben, befolgen sie trotzdem. Es scheint also unterschiedliche Wege und Hintergründe zu geben, wie Normen vermittelt und ihre Geltung umgesetzt werden. Um diese feinen aber wesentlichen Unterschiede zu verstehen, erfordert es noch einmal eine genauere Betrachtung, wie sie zustande kommen.

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Friedrich Tenbruck, Geschichte und Gesellschaft, Berlin 1986, S. 113

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14. Warum der eigene Leib für das Einhalten von Normen sorgt

14. Warum der eigene Leib für das Einhalten von Normen sorgt Kinder erlernen und verinnerlichen Normen über ihre Bezugspersonen. Hermann Schmitz bezeichnet den Prozess, in dem Kinder in wechselseitiger Einleibung eine eingespielte Abstimmung der gemeinsamen Situationen mit anderen erreichen, als Sozialisierung. 36 Über die soziale Interaktion ergibt sich ein gemeinsam ausgehandelter Sinn, der in antagonistischer Einleibung vermittelt wird. Ein Stuhl ist ein interessantes Möbelstück. Man kann sich darauf knien oder stellen, um einen Gegenstand in großer Höhe zu erreichen. Man kann darunter durch kriechen oder mit den Händen darauf trommeln, um sich die Zeit ein wenig zu vertreiben. Dennoch lernen alle Menschen in unserer Kultur, dass man sich in erster Linie darauf setzt. Dies wird zunächst vermittelt etwa durch den verbalen und gestischen Hinweis des Vaters oder durch das missbilligende Kopfschütteln der Mutter, wenn das Kind sich eben nicht ruhig hinsetzt. Das Kind wird früher oder später begreifen, dass es Sinn macht, sich auf den Stuhl zu setzen, da es wie im Falle des Hochstuhls beim Kleinkind ansonsten gar nicht an seinen Teller heran kommt. Innerhalb der sozialen Beziehung wird gemeinsam ausgehandelt, dass der Stuhl zumindest beim Essen dazu dient, ruhig darauf zu sitzen. Hätte das Kind kein Vorbild und keinen gemeinsamen Verweis auf die Bedeutung eines dritten Gegenstandes, nämlich des Stuhls, wäre dieser ein neutrales Objekt, mit dem man anstellen kann, was man will. Der Soziologe Friedrich Tenbruck betont diesen Aushandlungsprozess: »Denn das Kind erlernt erstmalig Sinn- und Bedeutungszusammenhänge und erwirbt diese nur dadurch, dass es sein Handeln mit der sozialen Umwelt ineinander greifen lässt«. 37 In wechselseitiger Einleibung verinnerlicht im Laufe der Kindheit jeder Mensch die Norm, dass ein Stuhl vor allem zum Sitzen da ist. In der Neuen Phänomenologie bezeichnet man eine Norm als »ein Programm für möglichen Gehorsam«. 38 Das Programm könnte man als eine zukunftsgerichtete Sinnstiftung bezeichnen, die der Person Handlungssicherheit gibt. Die Geltung der Norm hängt keineswegs nur von entsprechenden Sanktionen ab, wie etwa Lob oder Stra-

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Hermann Schmitz, Die Aufhebung der Gegenwart, Bonn 2005, S. 67f Friedrich Tenbruck, Geschichte und Gesellschaft, Berlin 1986, S. 114 Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 2007, S. 323

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fe. Vielmehr gibt es drei Möglichkeiten, wie eine Norm sich als verbindliche Handlungsanweisung durchsetzt. So kann die personale Autorität als erste Instanz, die Normen aufzeigt, übermittelt und durchsetzt, bezeichnet werden. 39 Dies ist meist eine größere und weisere Bezugsperson, die eine bestimmte Regel in leiblicher Dominanz vorlebt. Diese Person hat die Norm bereits so verinnerlicht, dass sie diese klar, entschieden und auch gegen möglichen Widerstand durchsetzt. Das sind zunächst erst mal Vater und Mutter. Sie werden das Kleinkind immer wieder auf den Stuhl setzen und dies verbal kommentieren. Vor allem aber werden die Stimmen, die Mimik, die Gestik und die entschiedene körperliche Spannung dem Kind verdeutlichen, dass das Thema »Sitzen auf dem Stuhl« wichtig ist, gerade im Mittelpunkt steht und es um eine Einhaltung der Norm nicht ohne Folgen herum kommt. Die gemeinsame Situation wird sozusagen in wechselseitiger Einleibung um das Thema »Stuhlsitzen« gewebt. Das Gleiche werden auch die Großeltern, die Erzieherin im Kindergarten, der Nachbar und gegebenenfalls das ältere Geschwisterkind verlangen. Diese Personen werden in der Soziologie als der »generalisierte Andere« bezeichnet, da sie die Norm stellvertretend für die gesamte Gesellschaft verinnerlicht haben und nun einfordern. Eine personale Autorität ist also zunächst wichtig, damit das Kind eine Norm verinnerlichen kann. Nur durch die personale Wechselbeziehung und die Engung, mit der das Kind konfrontiert wird, wenn es die Norm nicht einhält bzw. die Weitung, wenn es sich angemessen verhält, kann es Normen als signifikante soziale Regeln erkennen und befolgen. Weiterhin kann die Autorität der Gefühle wirksam werden, wodurch das Kind eine Norm befolgt. Während bei der personalen Autorität noch die direkte Konfrontation mit der Bezugsperson besteht und eine antagonistische Einleibung zum Befolgen der Norm führt, tritt hier bereits eine verinnerlichte moralische Instanz in Kraft. Der Vater mit seiner dominanten leiblichen Präsenz ist jetzt womöglich gar nicht anwesend. Aber das Kind weiß, dass es das Butterbrot, das noch auf dem Teller liegt, nicht einfach nehmen und beim Erkundungsgang im Wohnzimmer verspeisen darf. Aus dem Gefühl der Übereinstimmung mit dem Vater, seiner Anerkennung, der eigenen Unterordnung oder auch seiner Angst, erwischt zu werden, setzt es 39

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14. Warum der eigene Leib für das Einhalten von Normen sorgt

sich auf den Stuhl und isst zu Ende. Im Kindergarten kann es sogar sein, dass es inzwischen selbst eine Empörung empfindet, wenn ein Kind beim Essen nicht sitzen bleibt. Denn wenn es die Norm tief genug verinnerlicht hat, wird es selbst zum generalisierten Anderen und fordert ein, was die Gesellschaft für richtig hält. Gefühle besitzen also eine große Autorität und unterstützen die Einhaltung von Normen. Wie stark die Wirkung der Gefühle ist, kann exemplarisch mit dem Gefühl der Scham gezeigt werden. Jedes Kind weiß, dass Getränke in ein Glas oder eine Tasse gehören und dass es negativ bewertet wird, wenn man etwas verschüttet. Wenn nun im Kindergarten ein Kind seinen Tee umwirft, ist ihm meist schon sehr deutlich bewusst, dass es gegen eine wichtige Norm verstoßen hat. Und gerade, weil es noch viele sehr kleine Kinder gibt, denen das aus Ungeschicklichkeit häufiger passiert, ist es zutiefst peinlich, wenn das einem »großen Kind« widerfährt. Das Kind schämt sich nun, während der Tee quer über den Tisch und auf den Boden läuft und dabei noch die Kleidung anderer Kinder durchnässt. Die anderen schauen es missbilligend an, zeigen mit dem Finger auf es und benennen hämisch das Missgeschick »der Max hat seinen Tee verschüttet«. Doch nicht nur die Blicke, die Finger und das Urteil der anderen wirken beschämend. Auch die eigene Erwartung an sich selbst, eben groß zu sein und die Sache mit der Tasse im Griff zu haben, setzt den Jungen emotional enorm unter Druck und führt zur Scham. »Warum muss mir das passieren«, fragt sich Max und würde am liebsten im Boden versinken. Gefühle haben also einen großen Einfluss bei der Befolgung von Normen, weil wir uns im sozialen Kontext gern souverän geben und die Einhaltung der Normen sicher und spielend bewältigen wollen. Wir wollen dazu gehören und nicht unangenehm auffallen. Jeder weiß, wie man sich in einer bestimmten Situation verhält. Daher will man seine Persönlichkeit normalerweise lieber im Dienste der Anerkennung als der Missbilligung inszenieren. Die dritte Form, durch die Normen verbindlich durchgesetzt werden, ist die Autorität der Wirklichkeit. 40 Diese Autorität der Wirklichkeit setzt sich immer dann durch, wenn niemand ernsthaft bestreiten kann, dass etwas der Fall ist. Wenn ein Kind gerade gelernt hat, mit der Gabel zu essen, ist es vielleicht unglaublich fasziniert von diesem tollen Werkzeug. Es kann damit Fleischstücke aufspießen und 40

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in den Mund stecken. Auch Gemüse kann es darauf schieben und dieses dann auf die Zunge balancieren. Nun möchte das Kind auch die Suppe mit der Gabel essen. Die Mutter erklärt, dass dies nicht möglich ist und versucht nun das Töchterchen zu überreden, mit dem Löffel zu essen. Doch das Kind möchte ja groß sein und nicht wie ein Baby mit dem Löffel essen. Und so besteht es weiter auf der Gabel. Doch nach einer Weile muss es erkennen, dass die Suppe immer wieder durch die Zinken der Gabel hindurchläuft. Die Suppe fällt zurück in den Teller und gelangt nicht in den Mund. Die physikalischen Bedingungen zeigen also als Autorität der Wirklichkeit, dass es einen ganz bestimmten Grund gibt, warum man die Suppe mit dem Löffel isst. Und selbst das bockigste Kind sieht dies irgendwann ein, weil es schließlich Hunger hat und die Nahrung in Mund und Magen doch besser aufgehoben ist als zwischen Gabel und Teller. Die Autorität der Wirklichkeit bildet also einen sehr objektiven Lehrer, um die Geltung von Normen zu begreifen und zu verinnerlichen.

15. Welche Voraussetzungen braucht das Kind, um Normen zu verinnerlichen? Wie oben beschrieben, erlernen Kinder also Normen und ihre Geltung erstens durch die personale Autorität einer Bezugsperson, zweitens durch die Autorität der Gefühle und drittens durch die Autorität der Wirklichkeit. Dies kann jedoch nur geschehen, wenn bestimmte Vorrausetzungen erfüllt sind. Zunächst einmal müssen erwachsene Bezugspersonen vorhanden sein, die Normen einerseits vorleben und andererseits auch durchsetzen. Dies bedeutet für Eltern und Pädagogen, sich immer wieder, auch gegen Widerstand, mit dem Kind auseinanderzusetzen. Das Kind möchte zunächst nur seine Bedürfnisse nach Zuwendung, Aufmerksamkeit, Hunger, Durst, Neugierde, Schlaf, Schutz und Sicherheit befriedigen. Die Normen sind dabei erst einmal lästig. Denn wenn ein anderes Kind leckere Schokolade dabei hat, ist es schließlich nicht einfach zu verstehen, warum ich jetzt nichts davon abbekomme. Normen dienen immer dazu, in gemeinsamen Situationen Regeln aufzustellen, die der Gemeinschaft das Zusammenleben erleichtern. Dies kann durchaus häufig den eigenen Interessen zuwiderlaufen. Und daher müssen die Verhaltensregeln auch zunächst vehement eingefordert werden. Doch Erwachsenen ist dies häufig zu anstrengend. Sie wissen 60 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

15. Welche Voraussetzungen braucht das Kind, um Normen zu verinnerlichen?

zwar um die Norm, resignieren dann aber relativ schnell, wenn sie merken, welchen Kraftakt es bedeutet, sie durchzusetzen. Die Entschuldigung, es sei ja nur ein Kind und irgendwann lerne es die Normen schon, reicht häufig aus, um der Situation aus dem Weg zu gehen, das Kind zu ignorieren oder Ausnahmen zu machen, die für das Kind nicht nachvollziehbar sind. Regeln sind dann nicht mehr klar zu identifizieren, wenn sie einmal gelten und einmal nicht. Kinder sind jedoch darauf angewiesen, dass Erwachsene ihnen die nötigen Widerstände bieten. Erst so können sie wichtige Verhaltensnormen verinnerlichen. Und vor allem brauchen sie Erwachsene, die Normen in angemessener Weise und zum richtigen Zeitpunkt durchsetzen. Anfangs geschieht die Unterordnung in erster Linie durch den Wunsch, von den Eltern geliebt zu werden und freundlich behandelt zu werden. Man folgt dann einer Aufforderung eher deshalb, weil man das Lächeln und die öffnenden und weitenden Gesten der Mutter den drohenden und engenden Haltungen gegenüber bevorzugt. Jedes Kind will lieber ein Lob und in den Arm genommen werden, als eine ernste Ermahnung oder Abweisung erleben. Doch mit zunehmendem Alter steigt auch die Einsicht in die Bedeutung und den Sinn von Regeln und Normen. Wie Tenbruck betont, geht es ja dabei um das Aushandeln von Sinn. Nach Hermann Schmitz ist eine Norm eine Zumutung, »sich durch ein willentlich steuerbares Verhalten, das ein Tun oder Unterlassen ist, zu fügen«. 41 Gehorsam wäre damit zumindest ab einem gewissen Alter willentlich steuerbar. Das ist er aber nur, wenn erstens eine gewisse Einsicht in die Geltung von Normen vorhanden ist und somit ein Wille zum Gehorsam bewusst entwickelt werden kann. Und zweitens ist der Wille zum Gehorsam nur möglich, wenn der Mensch in einer emotionalen Verfassung ist, in der er in der Lage ist, nicht allein seine subjektiven Bedürfnisse, sondern auch die Belange der anderen und der gesamten gemeinsamen Situation zu erfassen. Um eine gewisse Frustrationstoleranz aufzubauen und Bedürfnisaufschub zuzulassen, benötigt das Kind zunächst eine starke emotionale Unterstützung. Bei dem Wechselprozess von personaler Regression zu personaler Emanzipation wurde in Kapitel 9 bis 11 gezeigt, wie elementar es ist, dass Kinder im affektiven Betroffensein empathisch begleitet werden. Sie benötigen zunächst ein mimetisches Mitschwingen mit ihren engenden Gefühlen um über weitende Ges41

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ten dann in die Lage versetzt zu werden, die eigene Engung wieder loszulassen. Die Bezugsperson setzt dabei beruhigende und rituelle Handlungen ein, um das Kind in engem Körperkontakt wiegend, singend und ermunternd allmählich einen wieder nach außen gerichteten Aufmerksamkeitsfokus zu ermöglichen. Die personale Regression in heftiger affektiver Betroffenheit wird allmählich aufgelöst und das Kind gelangt Schritt für Schritt in eine Verfassung personaler Emanzipation, in der es sich über rein subjektive Empfindungen erhebt und sich der Welt wieder öffnen kann. Erst in personaler Emanzipation ist es möglich, die Umwelt auch mit objektiven Kriterien zu betrachten und intersubjektive Sichtweisen einzunehmen. Für die Empathie mit anderen ist zunächst das eigene subjektive Erleben und Erleiden konstitutiv. Ich selbst muss in etwa wissen wie sich Kummer, Leid, Freude und Begeisterung anfühlt, um es mitempfinden zu können. Doch um sich in andere einzufühlen und ihre Bedürfnisse und Empfindungen nicht nur wahrzunehmen, sondern sie auch zu unterstützen, erfordert es ein Loslassen eigener Bedürfnisse und die Fähigkeit, intersubjektive Gegebenheiten und objektive Notwendigkeiten zu erkennen. Dies lernen Kinder erst im Laufe der frühen Kindheit. Wenn alle Hunger haben, muss jemand erkennen, dass Lebensmittel besorgt, zubereitet und in eine verdauliche Mahlzeit umgeformt werden müssen. Ebenso muss jemand für die Gestaltung der Essenssituation sorgen, in der der Tisch gedeckt, Gefäße für das Essen aufgestellt, Werkzeuge zum Essen bereitgestellt und genügend Plätze für die Nahrungseinnahme zur Verfügung gestellt werden. Damit sich nicht nur die Stärksten auf die Nahrung stürzen und sie an sich reißen, bedarf es daher klarer Normen bezüglich der Essenssituation in der Gruppe. Die Regeln müssen von allen anerkannt sein. Dies gelingt jedoch nur im Zustand personaler Emanzipation, da es nur in diesem Modus möglich ist, gemeinsamen sozialen Sinn zu verstehen und zu reflektieren. Nur dann kann der Einzelne seine Bedürfnisse für eine Weile und zum Wohl der Gruppe zurückstellen. Wenn Kinder jedoch im Übergang von personaler Regression zu personaler Emanzipation nicht angemessen begleitet wurden, ist es für sie schwieriger, soziale Normen zu befolgen. Wenn sie die Kompetenz nicht erlernt haben, sich der eigenen Engung und dem damit verbundenen affektiven Betroffensein bewusst zu werden und damit umzugehen, fällt es ihnen viel schwerer, in einer gemeinsamen Situation auch objektive Erfordernisse zu er62 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

15. Welche Voraussetzungen braucht das Kind, um Normen zu verinnerlichen?

kennen und die Bedürfnisse anderer wahrzunehmen. Sie werden sich von der subjektiven Engung nicht befreien können und es scheint fast unmöglich, in personaler Emanzipation die Situation mit anderen konstruktiv zu gestalten. Objektive Normen sind dazu da, eine soziale Situation für alle erträglich zu regeln. Doch sie sind im Zustand affektivem Betroffenseins nicht nachvollziehbar, da meine Gefühle, meine Bedürfnisse und meine Engung mich im subjektiven Befinden so in Schach halten und gefangen nehmen, dass ich nicht in der Lage bin, eine sozialverträgliche Haltung einzunehmen. Dies zeigt umso mehr, wie elementar notwendig es ist, dass ein Kind in seiner Sozialisation gelernt hat, mit dem Übergang von personaler Regression zu personaler Emanzipation umzugehen. Es ist darauf angewiesen, diese wichtige Übergangsphase zunehmend zu meistern, damit es später in der Lage ist, seine Befindlichkeit in gemeinsamen Situationen selbstverständlicher zu bewältigen. Es muss lernen, eigene Bedürfnisse ernst zu nehmen und sie entweder als objektiven Faktor mit in die gemeinsame Situation einzubringen oder auch, sie zurückstellen zu können. Zur Einsicht in Normen wird das Kind dadurch befähigt, dass es frühzeitig und angemessen seiner Entwicklung an der Gestaltung von gemeinsamen Regeln beteiligt wird. Wenn ein Kind sich vernünftige Argumente überlegen darf, wie häufig sein Zimmer aufgeräumt, gereinigt oder gelüftet wird, wird es besser verstehen, wie Regeln überhaupt zustande kommen und welchen Sinn sie erfüllen. Wenn man ihm erklärt, warum es bestimmte Zeiten gibt, wann man schlafen geht und warum am Wochenende andere Regeln herrschen als in der Woche und dies auch konsequent einhält, wird es nicht mehr jeden Tag um Minuten feilschen, wie lange es wach bleiben darf. Wenn Kinder den kompetenten Umgang mit affektivem Betroffensein erlernen und das Wechselspiel zwischen personaler Regression und personaler Emanzipation als sinnvoll und notwendig erleben lernen, kann ein angemessener und auch kritischer Umgang mit Normen eher erwartet werden. Wenn aber nicht genügend gemeinsame Situationen mit Erwachsenen zur Verfügung standen und damit die leibliche Vermittlung der Normen nur oberflächlich stattfinden konnte, bilden nicht wahrgenommene Gefühle ein unkalkulierbares Risiko. Denn sie haben insofern Einfluss auf das Befolgen von Normen, da sie von Kindern erst angemessen artikuliert werden können, wenn sie den Umgang damit erlernt haben. Vorher agieren sie die Affekte aus, gleich 63 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

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ob dies der gemeinsamen Situation und ihren Regeln angemessen ist oder nicht. Wenn Kinder die dialogische Grundstruktur der Einleibung, auch pädagogisch als »Zuwendung« bezeichnet, nicht erfahren, kann es zur Folge haben, dass sie sich in einen eigenleiblichen Dialog zurückziehen (z. B. Wippen, Daumen lutschen). Diese Möglichkeit wird meist von zurückhaltenden Kindern gewählt, die vor expressiven Formen des Ausdrucks zurückschrecken. Eine andere Option ist es, um jeden Preis Aufmerksamkeit zu erregen. Durch Lärm, hektische Bewegungen oder unsoziales Verhalten provozieren sie die Engung anderer und vor allem die der erwachsenen Begleiter. Das auffällige Verhalten resultiert dabei aus der Tatsache, im wahrsten Sinne des Wortes »ungehalten« zu sein. Weil es keinen Halt findet in den Armen, in den Blicken, in den Gesten, in den Worten, in der Zugewandtheit der Bezugsperson, fordert das Kind Reaktionen heraus, die ihm diesen Halt – und sei es in Form von negativer Zuwendung – bieten. Auf welche Weise dies geschehen kann, soll im Folgenden betrachtet werden.

16. Formen der Provokation oder wie erhalte ich Aufmerksamkeit? Eines der elementaren menschlichen Bedürfnisse ist der Hunger nach Aufmerksamkeit. 42 Säuglinge und Kleinkinder zeigen dies sehr eindrucksvoll. Ein Säugling macht sich so lange mit seinen durchdringenden Schreien akustisch bemerkbar, bis die Bezugsperson kommt. Erst bei völliger Erschöpfung stellt er sein Rufen ein. Ein Kleinkind hängt sich absolut penetrant an den Rockzipfel der Mutter oder der Erzieherin, bis sie sich ihm zuwendet und die Aufmerksamkeit auf es richtet. Die Kinder verfolgen hartnäckig die Bezugsperson und geben nicht eher Ruhe, bis sie auf dem Schoss landen, bis sie eine Tasse Tee, ein Stück Brot oder ein bestimmtes Spielzeug bekommen haben. Zumindest bringen Kinder sehr lange diese Energie auf, um sich Zuwendung zu verschaffen, weil es ihr ureigenes Begehren ist. Erst wenn die Versuche, Aufmerksamkeit zu erhalten, häufig und langfristig scheitern, entwickeln die Sprösslinge Strategien, um mit dieser Situation

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16. Formen der Provokation oder wie erhalte ich Aufmerksamkeit?

umzugehen und ein neues Gleichgewicht herzustellen. Hier kann man zwei Grundtendenzen feststellen, die erneut mit phänomenologischen Begriffen erklärt werden können. Hermann Schmitz unterscheidet zwischen epikritischen und protopathischen Wahrnehmungen. 43 Diese Wahrnehmungsformen beschränken sich nicht auf einzelne Sinnesbereiche wie etwa sehen, hören oder fühlen, sondern sie beziehen sich auf intermodale Eigenschaften, also übergreifende Sinnesqualitäten. Epikritische Sinneseindrücke kann man am Besten beschreiben mit Adjektiven wie »dünn, scharf, spitz, leicht, hoch, klar, grell oder hell«. Dies alles sind Sinnesqualitäten, die eher als aufdringlich, aufschreckend oder wachrüttelnd beschrieben werden können. Wenn ein Pädagoge im Klassenzimmer Ruhe herstellen möchte, dann ist ein hell zischendes »pssst« wesentlich wirkungsvoller, als eine ausführliche Ansage, warum die Kinder gerade jetzt leise sein sollen. Wenn man den epikritischen Charakter als Gesamteindruck beschreiben möchte, eignet sich beispielsweise die Arie der Königin der Nacht in Mozarts Zauberflöte, weil sie diese Eigenschaften trifft. Ein Kind, das mit Begeisterung in eine Trillerpfeife bläst, ruft ebenfalls epikritische Sinnesqualitäten hervor. Protopathische Tendenzen werden dagegen meist als »dumpf, schwer, träge, dunkel, leise und langsam« empfunden. Dies sind eher hintergründige, randständige und unauffällige Merkmale, die nicht sofort ins Auge springen oder das Bewusstsein fesseln. Diese gedämpfte Schwere ist beispielsweise bei Rembrandts Kunstwerken zu finden. Ein Kind, das sich motzend in eine Ecke verzieht und dort traurig vor sich hin brummelt, würde protopathische Sinnesqualitäten repräsentieren. Somit wählen Kinder einerseits einen eher extrovertierten Weg, um aktiv wechselseitige Einleibung einzufordern. Durch schrille Stimmen und Laute, durch hektische Bewegungen und anhaltende Unruhe erreichen sie, dass nicht nur andere Kinder, sondern auch Erwachsene auf sie aufmerksam werden. Auch rasches Zupfen an der Kleidung oder den Haaren, ein kleiner Schubser, ein spitzer Ellenbogen gehören zu diesem Repertoire, um in epikritischer Weise Effekte zu erhaschen. Ebenso gehören dazu Elemente des Erschreckens, der Überraschung und der Provokation durch plötzliche Handlungen,

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wie ein Hineinplatzen in die Situation, ein kalter Wasserstrahl aus der Spritzpistole oder ein akutes Verschwinden, ohne dass jemand über den Verbleib Bescheid weiß. Es ist üblich, diese Verhaltensweisen als auffällig zu klassifizieren. Bei Syndromen wie etwa ADS oder ADHS tauchen solche epikritischen Tendenzen ebenfalls auf. In der Psychologie vermutet man als Ursache Stoffwechselstörungen im Gehirn. Doch könnte zusätzlich mangelnde Erfahrung von intensiver Einleibung diese Störungen auf der Verhaltensebene verstärken. Wenn ein Kind weniger Zuwendung, Nähe, und Anerkennung erhält, als es benötigt, sucht es sich Situationen, in denen es das Vermisste bekommt. Epikritische Sinneseindrücke wie zappeln, Nerv tötende Geräusche machen oder provokativ gegen Normen verstoßen sorgen in jedem Fall für Aufmerksamkeit. Daher wäre beim Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom zu hinterfragen, ob das Problem nur darin besteht, dass ein Kind nicht genügend Aufmerksamkeit für andere oder anderes aufbringt. Der epikritische Charakter seines Verhaltens könnte auch darauf hinweisen, dass es manchmal umgekehrt ist: Der junge Mensch sucht nach Aufmerksamkeit, weil man ihm zu wenig ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt und so ein Mangel an antagonistischer und solidarischer Einleibung besteht. Der zweite und eher introvertierte Weg, um auf einen Mangel an leiblichem Gehaltensein aufmerksam zu machen, ist derjenige über protopathische Sinnesqualitäten. Kinder, die diesen Weg gehen, sind eher zurückhaltend und in sich gekehrt. Ihr Verhalten wird zunächst nicht als auffällig charakterisiert, da es nicht im eigentlichen Sinne störend wirkt. Zumindest stören diese Kinder selten andere, indem sie still in einer Ecke sitzen, den ganzen Morgen schweigend am Maltisch verbringen oder träumend aus dem Fenster schauen. Sie verhalten sich ruhig, ihre Stimmen sind gedämpft, ihre Bewegungen langsam und wenig hervorstechend. In einer Gruppe oder Klasse sind sie diejenigen, die gerade nicht aktiv die Aufmerksamkeit des Pädagogen provozieren. Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen sehen dennoch die Problematik dieses Verhaltens: »Also ich habe ein bisschen die Sorge, dass die Kinder, die vielleicht in irgendeiner Weise auffällig sind und einem auch besonders den Blick fesseln, die Wahrnehmung leiten eben stärker im Interesse sind und ruhige Kinder, die auch, sagen wir mal, vielleicht auch unproblematischer erscheinen, weil die auch immer 66 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

16. Formen der Provokation oder wie erhalte ich Aufmerksamkeit?

etwas zu tun finden und in Gruppen auch sagen wir mal störungsfrei mitlaufen, dass die doch eher noch mal schneller aus dem Fokus heraus fallen«. 44 Es wird deutlich, dass die Chancen auf Zuwendung in einer Kindergartengruppe oder Schulklasse durch die unterschiedlich vermittelten Sinneseindrücke ungleichmäßig verteilt sind. Kinder, die durch epikritische Signale auf sich aufmerksam machen, erhalten zunächst den Vorzug vor Altersgenossen, die sich unauffällig mit protopathischen Sinnesqualitäten begnügen und daher eher angepasst wirken. Dies liegt daran, dass epikritische Wahrnehmungen im diffusen Geräuschund Bewegungspegel stärker empfunden und schneller beantwortet werden, als protopathische. Grelle Rufe, hektische Bewegungen, spitze Schläge werden als störender empfunden als ruhige, träge Betätigungen und Sprechweisen. Daher wird die Aufmerksamkeit der Pädagogen zuerst gefesselt von dem, was als epikritische Sensation aus der wabernden Betriebsamkeit der Kindergruppe heraus sticht. Ein Kind, das in protopathischer Gedämpftheit den ganzen Morgen schweigend aus dem Fenster schaut, fällt kaum auf, obwohl es vielleicht gerade besonderer Zuwendung bedarf. Es ist im Grunde nicht weniger auffällig als der wilde Zappelphilipp, doch die selektive Wahrnehmung erschwert es, diese unterschiedlichen Verhaltensweisen differenziert zu betrachten. Beide Formen des Verhaltens können ein individueller Ausdruck des eigenen Befindens sein, etwa der Wunsch nach Halt, Zuwendung und ungeteilter Aufmerksamkeit in leiblicher Kommunikation. Die Kinder, die es schaffen, einen Ausgleich zwischen Engung und Weitung zu erfahren oder für sich herzustellen, können in relativer Konzentration dem Unterrichtsgeschehen oder der Gruppenaktivität folgen, ohne besonders aufzufallen. Sie arbeiten an ihren Aufgaben und sorgen dabei gleichzeitig dafür, dass ihre momentanen Bedürfnisse wahrgenommen aber auf einen späteren Zeitpunkt aufgeschoben werden. Die Kinder, die zu stark in ihrem affektiven Betroffensein gefangen sind, können jedoch diesen Bedürfnisaufschub nicht leisten. Die Ursache kann unter anderem in einer mangelnden Begleitung des Prozesses von personaler Regression in personale EmanziBarbara Wolf, Bildung, Erziehung und Sozialisation in der frühen Kindheit, Freiburg i. Br. 2012, S. 360

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pation liegen. Kinder fühlen sich in der Gruppe möglicherweise ängstlich, vernachlässigt, ausgegrenzt, entmutigt, ermüdet, einsam oder einfach nur überfordert. Sie können diese Affekte aber nicht angemessen äußern oder steuern. Außerdem sind die Bedingungen in Klassenzimmern und Kindergartengruppen nicht immer so, dass sie den Bedürfnissen nach Bewegung und Ruhe, Aktivität und Passivität, Anregung und Beruhigung entgegenkommen. Weder die räumlichen Gegebenheiten noch die personelle Ausstattung entspricht hier unbedingt dem, was Kinder brauchen. All diese affektiven Bedürfnisse und Zustände zu erkennen und dann unterstützend zu intervenieren, bildet sicher eine umfangreiche Aufgabe für Pädagogen und Fachkräfte, die eine große emotionale und soziale Kompetenz erfordert und weit über bildungsfördernde Maßnahmen hinausgeht. Im Grunde kann eine erfolgreiche Begleitung leiblicher Prozesse von personaler Regression in personale Emanzipation selbst als eine Grundlage für alle wesentlichen Bildungsprozesse betrachtet werden. Denn erst, wenn Kinder in die Lage versetzt wurden, sich an geltende Gruppennormen zu halten und von der eigenen Bedürftigkeit zeitweise absehen zu können zugunsten der Erfordernisse der Gesamtsituation, können sie auch in Gruppen leben und lernen. In welchen pädagogischen Situationen die beschriebene leiblich vermittelte Unterstützung besonders notwendig ist, soll beispielsweise in Kapitel 41 weiter ausgeführt werden.

17. Wie entwickelt sich Identität – Die spielerische Identifizierung Das Kind erfährt sich zunächst als bedürftiges Wesen, das darauf angewiesen ist, dass sich ihm erwachsene Personen zuwenden. Doch sobald es in der Lage ist zu greifen, sich rollend oder kriechend fortzubewegen und damit entweder die Gegenstände der Welt zu sich herzuschaffen oder sich selbst zu ihnen hinzubewegen, wird es zunehmend autonomer. Es zeigt von nun an Explorationsverhalten und möchte sich die Welt in ihren Eigenschaften und ihrer Verwendbarkeit aneignen. Nachdem es sich nun mehr und mehr mit den Gegenständen vertraut gemacht hat, erkennt es auch, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, sich als Mensch in der Welt zu präsentieren. Die Mutter redet anders als der Vater, weil sich die Intonation der Stimme, die Vokabeln, die sie benutzen und die Mimik 68 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

17. Wie entwickelt sich Identität – Die spielerische Identifizierung

und Gestik stark unterscheiden. Aber auch Geschwister, Großeltern, Freunde und Nachbarn treten in das Blickfeld des Kindes und bilden unterschiedliche Rollenvorbilder. Sobald nun das Kind den aufrechten Gang und einen gewissen Grundstock an Sprache entwickelt hat, beginnt es, die Bewegungssuggestionen anderer in kleinen Szenen nachzuahmen. Dies geschieht meist mit anderen Kindern zusammen. Da sich aber in der Interaktion mit anderen vielfältige Situationen entwickeln, die sich höchst offen und unwillkürlich gestalten können, gehen die Kinder über eine reine Nachahmung von bekannten Personen hinaus. In Spielen wie Vater-Mutter-Kind oder Verkäufer-und-Kunde oder Räuber-und-Polizist übernehmen die Kinder zwar bestimmte Verhaltensdispositionen, die sie bei anderen beobachtet haben. Aber sie spielen nicht nur den Vater nach, wie sie ihn zuhause erlebt haben oder den Räuber Hotzenplotz, wie er in der Geschichte auftritt. Sie erkennen vielmehr, dass sie sich über eine rein mimetische Nachahmung erheben können, indem sie eine Rolle auch individuell ausfüllen und dabei zwar gewissen Mustern folgen aber eigene Gesten, Haltungen, Worte und Handlungsweisen hinzufügen. Sie lernen dabei, verschiedene Facetten ihrer Person auszuprobieren und zum Ausdruck zu bringen. Damit erheben sie sich bis zu einem gewissen Grad über die Realität und gestalten fiktive und phantastische Interaktionen. Hermann Schmitz nennt diese Möglichkeit der Gestaltung von Wirklichkeit spielerische Identifizierung. 45 Dabei meint er mit spielerisch nicht etwa, dass die Interaktion verspielt sei und keinen Wirklichkeitsgehalt besitzt. Er zeigt vielmehr, dass Kinder in kreativer Gestaltung der Situation von ihrem üblichen Verhaltensrepertoire abweichen und so versuchsweise die eine oder andere Rolle ausprobieren. Es geht also darum, verschiedene Facetten von Gestik, Mimik, Wortwahl, Haltung, Stimmlage, Tonfall und Gestaltverlauf auszuprobieren und in Beziehung zu der eigenen Person zu setzen: Welche Arten der Artikulation passen zu mir, wie fühle ich mich stark, schwach, beachtet, albern, überzogen, lächerlich, erhaben usw.? Das Besondere an der spielerischen Identifizierung liegt darin, dass sich das Kind im Spiel zwar in eine Rolle begibt, es sich aber nicht darin verliert. Es ist ihm stets bewusst, dass es einen bestimmten Habitus eben nur spielerisch an den Tag legt und kann, wenn es die Situation erfordert, sehr schnell wieder aus der 45

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Rolle heraustreten. Wenn also die Mutter ruft, es gäbe Eis oder die Kinder merken, es regnet und sie wollen jetzt lieber drinnen spielen, können sie die spielerische Identifizierung sehr rasch aufgeben und sind sich der gestellten Situation stets bewusst. Damit lernen sie gleichzeitig, sich selbst zu hinterfragen und sich in einer anderen Rolle als Objekt wahrzunehmen, das sie auch sein können. Daher hat die spielerische Identifizierung eine große Bedeutung bei der Identitätsentwicklung. Es ist im Grunde eine Kompetenz, die den Menschen vom Tier unterscheidet. 46 Denn das Tier kann zwar aus einem bestimmten Verhaltensrepertoire schöpfen, tut dies aber weitestgehend instinktiv und ist bei der Entscheidung stets an die gegenwärtigen Tatsachen gebunden. Der Mensch jedoch ist in der Lage, sich Situationen auszudenken, die er aus vergangenen Beobachtungen oder Erlebnissen schöpft und sogar, sie in die Zukunft zu verlagern. Kinder können spielen, »wenn sie groß wären« obwohl sie es noch nicht sind. Die Fähigkeit, sich vom Tatsächlichen der Wirklichkeit abzuheben und sich fiktiv in eine ganz andere Situation zu begeben, ist dem Menschen vorbehalten. Obwohl es gerade früher Morgen ist und sich eine Kleingruppe von Fünfjährigen gerade im Außengelände eines Kindergartens befindet, können sie spielen, es sei mitten in der Nacht und die Indianer würden gerade eine Ranch überfallen. Nun scheint ein solches Spiel an sich zunächst nur ein Eintauchen in eine andere Rolle zu sein. Aber es ist für das Kind enorm wichtig, verschiedene Möglichkeiten seines Seins und Handelns auszuprobieren. Es lernt dabei leiblich, seine Identität auszubauen und zu erweitern. Ein kleines Mädchen, das vielleicht immer sehr darauf bedacht ist, an es gerichtete Erwartungen zu erfüllen, etwa höflich und artig zu sein, sich nicht schmutzig zu machen, nicht laut zu werden und das zu tun, was man ihm sagt, kann in der Rolle als Piratenhauptmann ganz andere Facetten und Möglichkeiten in seinem Handlungsspielraum erleben. Es schreit lauthals Befehle aus, die andere zu befolgen haben, flucht dabei und fuchtelt drohend mit einem Stock herum, der ein Schwert darstellen soll. Es probiert ganz neue Gestaltverläufe aus und lässt sich durch Bewegungssuggestionen anderer inspirieren, die bisher nicht zum eigenen Repertoire gehörten. Ein Junge, der eher gewohnt ist, sich mit der Funktion von Miniaturautos zu beschäftigen, erprobt sich in der Rolle als Arzt als fürsorg46

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17. Wie entwickelt sich Identität – Die spielerische Identifizierung

licher Mensch, der um Wohl und Gesundheit seiner Patienten besorgt ist. Er horcht sie vorsichtig ab, tröstet sie über ihre Schmerzen hinweg und denkt sich Möglichkeiten aus, wie sie gelindert werden können. Er erfährt sich ebenso wie das Mädchen in einer ganz anderen Rolle mit sehr unterschiedlichen leiblichen Empfindungen. Das Kind lernt dabei also verschiedene Entwürfe seiner selbst kennen, die manchmal völlig übertrieben, einseitig, albern oder grotesk ausfallen können. Aber in diesem Ertasten unterschiedlicher Möglichkeiten kann es sich ausprobieren, ohne dem Ernst realer Umstände und Rollenerwartungen ausgesetzt zu sein. Gerade im Rollenspiel hat es den Freiraum, relativ kritiklos Facetten seiner Mimik, Gestik, Haltung, Sprechweise usw. auszuprobieren. So gibt es sich leiblich in diese Gestaltverläufe hinein und verinnerlicht neue Verhaltensweisen. Zwar geben sich Kinder im Rollenspiel durchaus auch Regieanweisungen, die den Verlauf des Spieles in eine bestimmte Richtung lenken können. Aber zunächst besteht die Möglichkeit, fernab der für die eigene Person typischen Rollenmuster eine Rolle zu mimen, die aus der eigenen Phantasie kreiert wird. Das Kind erfährt dabei, dass verschiedene Entwürfe seiner Person möglich sind und es nicht sofort in primitive Gegenwart versinkt, wenn es den Bereich des Üblichen verlässt. Vielmehr kann die spielerische Identifizierung eine Bereicherung sein, die der Person Mut macht, weitere Facetten des Verhaltens auszuprobieren und anzuwenden, weil damit andere Reaktionen und Handlungsoptionen möglich werden. Jeder Mensch verfügt ja, wie in Kapitel 2 berichtet, über eine persönliche Eigenwelt, in der immer wieder andere Aspekte bedeutsam werden und er entlässt objektivierte Tatsachen in die persönliche Fremdwelt. Gerade im Rollenspiel kann er ganz neue Aspekte in die persönliche Eigenwelt aufnehmen. Dazu kommt noch, dass er sich zunehmend bewusst wird, wie andere Personen ihn sehen und was sie von ihm erwarten. Somit entwickelt er allmählich eine Innenund eine Außenperspektive von sich selbst. 47 Der Entwurf versucht nun, zwischen den beiden Perspektiven zu vermitteln. Das Kind entwickelt eine spielerische Identifizierung mit der Außenwahrnehmung, ohne jedoch seine inneren Impulse völlig daran anzupassen. Im Alltag hilft es ihm dabei, sein Verhalten besser an den Anforderungen der Situation auszurichten. Es würde womöglich gerade am liebsten laut aufschreien vor Freude. Aber weil man das im Klassen47

Vergl. George Herbert Mead, Sozialpsychologie, Neuwied 1969, S. 268 ff

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raum nicht macht, reißt es nur die Arme hoch. Es nimmt eine gewisse Grundhaltung ein, die mit seinen üblichen Rollen im Alltag, etwa als Sohn, als Schulkind, als Enkel, als Freund korrespondieren. Dennoch bleibt es in der Lage, die Rolle zu modifizieren und gemäß äußeren Erfordernissen oder affektiver Betroffenheit anzupassen. So würde es beispielsweise absichtsvoll laut pfeifen, wenn es abends in den dunklen Keller geht, um mit der eher angstbesetzten Situation des dunklen Kellers besser zurechtzukommen. Es demonstriert sich selbst und einem möglichen Ungeheuer gegenüber Mut, um besser mit der ängstigenden Situation zurechtzukommen. Auch Erwachsene erleben solche Anpassungen, wenn sie einen besonders forschen Schritt wählen, die Stimme erheben oder sich einen Ruck geben, um eine schwierige Aufgabe zu meistern. Somit wirkt eine große Bandbreite an Handlungsoptionen, die durch spielerische Identifizierung erprobt und erworben wurde, förderlich auf die Bewältigung überraschender Anforderungen und plötzlicher Entscheidungen. Die persönliche Situation erhält dadurch eine Vielfalt an Facetten, die im entscheidenden Moment abgerufen werden können. Damit erlernt das Kind eine größere Sicherheit in der Auseinandersetzung mit komplexen, überraschenden, unvorhergesehenen und scheinbar überfordernden Situationen. Daraus folgt, dass kindliches Rollenspiel und die darin erprobte spielerische Identifizierung eine große Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung und das Handlungsrepertoire als Erwachsener besitzt.

18. Familie oder Institution – Welche Bezugsgruppen sind wichtig? In der aktuellen Diskussion um Kindertagesbetreuung erfolgt relativ rasch eine Einteilung in zwei Lager. Die »Fortschrittlichen« sind diejenigen, die ihr Kind möglichst früh in eine Kindertagesstätte oder Krippe geben, um ihm möglichst viele Bildungserfahrungen zu ermöglichen. Die »Rückständigen« sind jene, die den Sprössling zumindest die ersten drei Lebensjahre zuhause bei der Mutter oder dem Vater aufwachsen lassen, um ihm so viel Liebe und Geborgenheit wie möglich zukommen zu lassen. Der Streit wird zunehmend ideologisch geführt und im Zusammenhang mit dem Elterngeld fallen Begriffe wie »Herdprämie« und »Glucke« während die Eltern, die sich früh von ihren Kindern trennen einen Anspruch auf »Frühkind72 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

18. Familie oder Institution – Welche Bezugsgruppen sind wichtig?

liche Bildung« und auf Erziehung zur »Selbstständigkeit« vertreten. Bis heute ist nicht entschieden, welche Seite nun recht hat, denn immer wieder zeigen Studien, dass eine frühe Betreuung in Kindertageseinrichtungen keine schädlichen Wirkungen auf Kinder haben muss, während andererseits elterliche Betreuung besser sein kann, als ihr allgemeinhin zugeschrieben wird. 48 Im historischen Rückblick und in unterschiedlichen Kulturen gibt es genug Beispiele, wie verschieden der Nachwuchs betreut wurde, ob es nun immer die eigenen Eltern waren oder andere Bezugsgruppen. In traditionalen Kulturen werden die Kinder sehr lange getragen, gestillt und stehen in engem Kontakt zur Bezugsperson. In Frankreich besteht eine lange Tradition, Kinder schon sehr früh an Pflegepersonen wie Ammen oder die Betreuerinnen in der »École Maternelle« abzugeben. Es ist schwer zu entscheiden, was der Königsweg in der Erziehung ist, doch es bleibt ratsam, nicht zu ideologisch einseitig zu argumentieren, sondern eher im Einzelfall zu schauen, was für die Familie die bessere Lösung ist. Ein interessantes Erklärungsmodell für die Funktion von unterschiedlichen Gruppen bei dem Prozess des kindlichen Aufwachsens ist die Beschreibung von Hermann Schmitz zur includierenden und implantierenden Situation. 49 Wie bereits in Kapitel 7 beschrieben, wachsen Kinder vor allem in einem sozialen Umfeld auf, das in der Sprache der Neuen Phänomenologie als gemeinsame Situation bezeichnet wird. Dies ist eine chaotisch-mannigfaltige Ganzheit von Eindrücken, die durch die Anwesenheit von unterschiedlichen Personen gestaltet wird. Der Mensch ist als soziales Wesen auf die Anwesenheit und Zuwendung von Bezugspersonen angewiesen. Die beiden Formen der gemeinsamen Situation, über die im Folgenden gesprochen wird, zeichnen sich nicht durch eine besondere Größe der Gruppe, eine spezifische Funktion oder eine vertragliche Grundlegung aus. Es ist nicht entscheidend, wie jetzt etwa ein Soziologe die Gruppe charakterisieren würde, als primäre oder sekundäre, als formelle oder informelle Gruppe. Nein, es kommt hier vielmehr auf das persönliche Empfinden der Person an, die sich in der gemeinsamen Situation befindet. Der Grad an Tiefe, in den sich das Kind eingebunden fühlt, bestimmt, NICHD Early Childhood Care Research Network, The effects of infant child care on infant- mother attachement security, 1997, 68, S. 860–879 49 Hermann Schmitz, Situationen und Konstellationen, Freiburg i. B./München 2005, S. 25 ff 48

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ob es nun eine implantierende oder eine includierende Situation erlebt. Die implantierende Situation stellt sich für das Kind so dar, dass es sich tief eingewachsen oder eingepflanzt in die gemeinsame Situation fühlt. Es konnte hier Situationen starker affektiver Betroffenheit erleben, sowohl als Freude, Begeisterung, Liebe und Annahme als auch in Form von Trauer, Wut, Enttäuschung oder Eifersucht. Durch Momente starker Engung wurde das Kind auf sich und seine subjektiven Empfindungen zurückgeworfen, die dann aber mithilfe von Erwachsenen begleitet, unterstützt, überwunden und wieder in Richtung Weite gelenkt wurden. Der junge Mensch erfährt bei den Wechselprozessen zwischen personaler Regression und personaler Emanzipation eine nachhaltige Verankerung bei den Personen, die in besonderer Weise für ihn sorgen und ihre Aufmerksamkeit in sein Befinden investieren. Dabei bildet sich allmählich ein Muster an Vertrautheit, Gewohnheit, Erwartbarkeit und Verlässlichkeit von wechselseitiger leiblicher Kommunikation heraus, welches beim Kind ein großes Maß an Sicherheit und Geborgenheit auslöst. Personen haben ihm über Bewegungssuggestionen vermittelt, wie sehr sie an seinem Dasein, Befinden und Wohlergehen interessiert sind. Diese Bewegungssuggestionen übernimmt es wiederum mimetisch, gibt entsprechende Gesten und Botschaften zurück und so kommt es zu einer Art von »blindem Verstehen« innerhalb der implantierenden Situation. Dies führt ohne Frage zu fest verwurzelten Beziehungen, die einerseits von einer gewissen Kontinuität und andererseits von einer prägnanten Tiefe geprägt sind. Die Situation gestaltet sich somit durch die Anwesenheit immer gleicher Personen in einer gewissen Regelmäßigkeit und einer Atmosphäre, die eine wechselseitige Bezogenheit der Akteure begünstigt. Für das Kind bildet die Familie eine implantierende Situation. Doch es kommt durchaus vor, dass für herangewachsene Menschen die Clique, die Kneipe, der Verein oder sogar der Arbeitsplatz zu einer implantierenden Situation wird. Wenn die Merkmale dieser gemeinsamen Situationen denen der implantierenden Situation entsprechen, kann es sein, dass nicht nur Familie sondern auch weitere gemeinsame Situationen als implantierend erlebt werden. Es ist aber auch möglich, dass die eigene Familie nur noch als includierende Situation wahrgenommen wird, je nachdem, wie distanziert die Bindungen wahrgenommen werden. Es kommt also vor allem auf das subjektive Empfinden an, wie man sich eingebunden fühlt. 74 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

18. Familie oder Institution – Welche Bezugsgruppen sind wichtig?

Demgegenüber führt Schmitz die includierende Situation als ein gemeinsames Arrangement von Personen ein, das durch lockere Bezüge gekennzeichnet ist. 50 Die includierende Situation verfügt über eine bestimmte Einfassung, also Rahmenbedingungen, die ein Zusammentreffen und eine gemeinsame Interaktion erst ermöglichen. Innerhalb dieses Rahmens erfolgt dann eine entsprechende Einpassung der Personen nach bestimmten Regeln. Dies könnte eine Kindergartengruppe sein, ein Nachbarinnentreff oder auch ein Arbeitsplatz. Die beteiligten Personen stehen ebenfalls in regelmäßiger leiblicher Kommunikation zueinander. Jedoch fehlt eine tiefere Verwurzelung. Wenn die includierende Situation nicht mehr zustande kommt – aus welchen Gründen auch immer – führt dies zu keinem schweren emotionalen Verlust, allenfalls zu einem gewissen Bedauern. Die includierende Situation ermöglicht es dem Menschen, mit anderen Personen zusammen zu sein, gewisse Erfahrungen zu machen und die eigene Perspektive zu erweitern. Sie wird ebenfalls durch leibliche Kommunikation im Spannungsfeld von Engung und Weitung gestaltet. Jedoch besteht hier eine gewisse Hemmung, personale Regression in vollem Maße zuzulassen. In der Kindergartengruppe, am Arbeitsplatz, beim Nachbarinnentreff werden sicher auch affektive Befindlichkeiten ausgetauscht. Doch wenn die Person auf implantierende Situationen in anderen Bereichen zurückgreifen kann, wird sie in diesen Arrangements eine bestimmte emotionale Distanz aufrechterhalten. Wenn dann eine Erzieherin wechselt, das Nachbarinnentreffen ausfällt oder Kollegen kündigen, berührt das den Betroffenen sicher, doch es bedeutet in der Regel keine traumatische Ablösung von der gemeinsamen Situation. Sogar der Wechsel eines Kindergartens wird in den meisten Fällen recht gut verkraftet. Nur wenn die includierende Situation sich zu einer implantierenden Situation entwickelt hat und eine tiefe emotionale Verankerung erfolgt ist, wird ein Abschied ähnliche Folgen haben, wie wenn sich die Eltern scheiden lassen oder ein naher Verwandter stirbt. Es gibt durchaus ältere Menschen, die beim Übergang in die Rente solche Prozesse der Entwurzelung erleben, da sie stark mit der betrieblichen Situation verwachsen sind und außerhalb des beruflichen Kon-

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A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

textes kaum implantierende Situationen erleben. Auch bei Kindern, die ihr Zuhause weniger als implantierend erleben, kann der Wechsel einer Erzieherin oder eines Lehrers bedrohlich sein und als tiefer Verlust erlebt werden, da die gemeinsame Situation durchaus als mehr empfunden wird als ein includierendes Verhältnis. Die phänomenologischen Begriffe der implantierenden und includierenden Situation ermöglichen somit, den ideologisch geführten Diskurs über Vor- und Nachteile von familialer und institutioneller Betreuung von Kindern zu unterlaufen. Es kommt nicht mehr auf formal festgelegte Parameter an, welches Betreuungsarrangement nun das Bessere sei. Vielmehr kommt es auf das subjektive Empfinden des Kindes an, wie sehr es in eine bestimmte Situation eingebunden ist. Vor allem wird deutlich, dass ein Kind implantierende Situationen ebenso benötigt, wie includierende. Die implantierende Situation begründet eine tiefe Verbundenheit in antagonistischer und solidarischer Einleibung, die ein grundlegendes Geborgensein und Gehaltensein in der Welt bietet. Dagegen ermöglicht die includierende Situation zahllose weitere Kontakte und Interaktionen mit anderen Menschen, die der persönlichen Situation des Kindes eine Vielzahl von Auseinandersetzungen mit Mensch und Welt und eine entsprechende Gestaltung neuer Entwürfe seiner selbst gestattet. Beide sind notwendig, um Entwicklung und Lernen zu unterstützen. Eine gewisse Ausgewogenheit, sowohl zeitlich-quantitativ als auch intensiv-qualitativ spielt hier eine große Rolle. Und diese Balance ist sicher ein guter Indikator für Eltern, die sich über Möglichkeiten der Kinderbetreuung auseinandersetzen.

19. Situationen und Konstellationen Wie wir in den letzten Kapiteln gesehen haben, scheint es bei der Entwicklung der Persönlichkeit eines Kindes und der Ausgestaltung seiner persönlichen Situation sehr wichtig zu sein, dass es in engem Kontakt zu seinen Bezugspersonen steht. Auf dieser sicheren Basis erschließt es sich seine persönliche Welt durch eigene Kräfte, Interessen und Motivationen. Doch benötigt es dazu auch Menschen, die sich mit ihm im Wechselspiel von Engung und Weitung in leiblicher Kommunikation intensiv auseinandersetzen. Dieser Prozess vollzieht sich vor allem in gemeinsamen Situationen. Zunächst einmal ist die Berührung sehr wichtig. Das Kind braucht immer wieder die Erfah76 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

19. Situationen und Konstellationen

rung, leiblich präsent zu sein. Das Kind lernt aber erst, sich selbst zu spüren, wenn es durch taktile Erfahrung erlebt, dass es da ist. Beim Säugling erfolgt das fast automatisch bei einer liebevollen Pflege. Das Kind wird gewaschen, gebadet, eingecremt, massiert, nicht nur damit hygienische Anforderungen erfüllt sind. Denn es spürt durch die Berührung seinen Leib, wo es anfängt und wo es aufhört. Es erfährt sich nicht als isoliertes Wesen, sondern als eingebunden in der gemeinsamen Situation der Familie. Nehmen wir eine Situation beim Baden. Ist das Kind in der Badewanne unsicher und ängstlich, verkrampft es sich und zappelt aufgeregt hin und her. Ein fester, haltgebender Griff der Bezugsperson ist zwar zunächst von Engung gekennzeichnet, gibt aber auch Halt. Mit zunehmender Sicherheit wird das Kind sich entspannen und Weitung erfahren. Es liegt gelöst in der Badewanne gehalten von einem starken Arm. Die gemeinsame Situation des Badens dient somit nicht einfach nur der Reinigung, sondern bietet Chancen der wechselseitigen Einleibung, der Nähe und Zuwendung. Sobald das Kind seinen eigenen Willen entdeckt, also in der Zeit, die häufig als »Trotzalter« bezeichnet wird, braucht das Kind eine starke Begleitung durch den Erwachsenen, die ihm in doppelten Sinne des Wortes Halt gibt. Das Kind strebt nach Autonomie und lernt, seinen Willen auszutesten und wie weit er toleriert oder zurückgewiesen wird. Da es noch keine moralische Instanz entwickelt hat, was gut und was böse ist, wird es in Versuch und Irrtum alles Mögliche ausprobieren. Was passiert, wenn ich die kleine Schwester an den Haaren ziehe? Wie reagiert Papa, wenn ich ihm sage, er sei ein Wurm? Es kann auch noch nicht abschätzen, was nützlich und schädlich für es ist, was wohltuend und gefährlich ist. Drei Gummibärchen sind lecker, aber eine Tüte Gummibärchen machen Bauchweh. Autos sind interessant, aber wenn sie auf der Straße vorbeirauschen lebensgefährlich. Erwachsene müssen hier immer wieder ein »Halt« einbauen. Dies kann einerseits verbal geschehen, indem man sagt »halt«, »stopp« oder »nein«. Aber es kann auch in leiblicher Interaktion geschehen, indem man das Kind festhält, bevor es auf die Straße rennt. Man nimmt die Gummibärchen sanft aus der Hand des Sohnes, bevor sie zu viel Schaden anrichten. Der Autoritätstest an den Vater als Wurm kann mit einem scherzhaft piksenden Finger in den Bauch des Kindes beantwortet werden, weil es den verbalen Pikser adäquat beantwortet. Die alltäglichen kleinen Auseinandersetzungen, ob man 77 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

jetzt sein Malzeug wegpacken muss, nun die Schuhe für den Einkauf anziehen muss, gleich zum Essen kommt oder es endlich Zeit zum Zubettgehen ist, sind bedeutsame gemeinsame Situationen, die ungeheuer wichtig für die Ausbildung der persönlichen Situation sind. Das Kind lernt gerade durch den Widerstand der Eltern klare Grenzen und einen Rahmen, damit es sicher durch den Tag gelangt. Dieser wird durch antagonistische Einleibung ausgehandelt und erfordert von den Eltern einen enormen Einsatz an Energie, der durch tendenzielle Engung beim Bieten von Widerstand gekennzeichnet ist. Solche gemeinsamen Situationen erfordern Zeit, Raum und Geduld. Diese Formen wechselseitiger Einleibung setzten sich in der gesamten Kindheit fort und finden ihren Höhepunkt womöglich in der Jugend, wenn sich das Kind von den Eltern ablöst. Das Wort Ablösung beinhaltet schon einen sehr leiblich bestimmten Lernprozess, bei dem sich jemand von etwas löst. Dieser Lernprozess kann jedoch nur einsetzen, wenn auch jemand da ist, der sich als Angriffsfläche und Reibungspunkt zur Verfügung stellt, von dem man sich lösen kann. Wenn Eltern lieber jeder Diskussion um des lieben Friedens willen aus dem Weg gehen, fehlt dem Jugendlichen der Partner zur Auseinandersetzung. Eine antagonistische Einleibung unter starker Konzentration auf ein Gegenüber ist dann nicht möglich. Der junge Mensch wird es als eine Art Feigheit vor dem Feind empfinden. Zwar müssen Jugendliche vieles selbst ausprobieren und ihre Erfahrungen machen. Doch brauchen sie auch immer wieder gemeinsame Situationen, um den Kontakt, das Interesse und ein Feedback der Eltern zu erhalten. Ein klares Nein ist wichtig, selbst wenn der junge Mensch aus eigener Entscheidung heraus sich dennoch zum Gegenteil entscheidet. Denn ein »es ist mir egal, du machst sowieso was du willst« ist viel schlimmer, als ein unerwünschtes Urteil der Eltern. Hier fehlt der leiblich empfundene Halt, der Widerstand oder die Richtung. Eine klare Linie, die durch engende Gesten artikuliert wird, gibt Orientierung, sich für oder gegen etwas zu entscheiden. Indifferenz dagegen wirft den Jugendlichen auf sich selbst zurück und kann ihn überfordern. Es macht ihn haltlos oder un-gehalten. Diese Aushandlungsprozesse empfinden Eltern und ihre jugendlichen Kinder meist als extrem anstrengend. Denn sie sind von heftigem affektiven Betroffensein begleitet. Die Eltern, die meist nur das Beste für ihr Kind wollen, sind oft vor Sorge, Angst und Erstaunen vor den Handlungen des Kindes geschüttelt und fürchten um seine Sicherheit, Unversehrtheit oder sogar sein Leben. Hier ist es für Er78 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

19. Situationen und Konstellationen

wachsene notwendig, für sich selbst zu sorgen und sich beim Übergang von personaler Regression zu personaler Emanzipation unterstützen zu lassen. Dies kann der Partner sein, ein Freund oder aber eine Beratungsstelle. Denn Pubertierende bringen Eltern an ihre Grenzen und damit häufig auch in den Zustand personaler Regression. Die Kinder ihrerseits fühlen sich massiv missverstanden, bevormundet und nicht als Person akzeptiert, wenn die Eltern anderer Meinung sind. Auch sie benötigen verlässliche Ansprechpartner, die helfen, die personale Regression zu überwinden. Hier sind nicht nur Gleichaltrige hilfreich, sondern auch Großeltern oder andere Vertrauenspersonen. Im Konfliktfall prallen die beiden Engepole massiv aufeinander und führen zu Atmosphären affektiver Explosion. Denn es geht häufig um tief verinnerlichte Wertvorstellungen, wie das eigene Leben auszurichten ist. Das Aushandeln in gemeinsamen Situationen ist notwendig, um der jeweiligen Seite eine Weiterentwicklung zu ermöglichen. Beide Seiten müssen die persönliche Eigenwelt umbauen, da für den einen die Eltern, für die anderen das Kind allmählich ein Stück weiter in die persönliche Fremdwelt geschoben werden müssen. Nur durch einen allmählich objektiveren Blick auf den anderen in personaler Emanzipation gelingt es, den Menschen, der so eng zu einem gehört, ein Stück weit in die Weite entlassen zu können. Dieser Prozess erfordert ein Aushandeln von Distanz und Nähe, der einerseits mehr Abstand ermöglicht, dennoch aber die Verbundenheit erhält. Dieser wichtige Lernprozess ist oft von heftigen Auseinandersetzungen geprägt und wird häufig als schmerzhaft erlebt. Für Pädagogen sind diese Aushandlungen weniger existenziell, da sie den Vorteil einer professionellen Distanz mitbringen. Ein Lehrer, Trainer oder Jugendleiter ist nur bis zu einem bestimmten Alter, einem bestimmten Schuljahr oder bis zur Abmeldung von einer Institution zuständig für den jungen Menschen. Dennoch sind auch für Pädagogen diese beschriebenen Auseinandersetzungen mit Jugendlichen, die ihre eigene Identität suchen, herausfordernd, kraftraubend und anstrengend. Es gibt wenig Konzepte dafür, wie Erziehende in der entscheidenden Situation handeln sollen, da es vor allem eines sensiblen Gespürs bedarf, ob man in einer Situation jetzt reine Strenge oder Kompromissbereitschaft demonstriert. Diese Situationen erfordern die volle Aufmerksamkeit von Pädagogen oder Eltern. Es ist notwendig, in dem verwirrenden Setting von Protest und Widerstand einerseits und der Suche nach Anerkennung und Liebe andererseits 79 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

die wesentlichen Signale zu erkennen und winzige Nuancen von affektivem Betroffensein zu unterscheiden. Besonders wichtig ist es, den Kontakt nicht abreißen zu lassen und immer wieder in leibliche Kommunikation zu gehen. Günstig kann es sein, wenn es auch gemeinsame Interessen gibt wie etwa Angeln, Kochen, Spazieren gehen oder Musizieren. Hier kann ohne Worte wieder solidarische Einleibung vollzogen werden, ohne sich mit Worten zu verletzen. Gleich in welchem Alter sich die Kinder oder Jugendlichen befinden, ist es eine ganz besondere Kompetenz, die Atmosphäre richtig zu deuten, die Gestimmtheit des Gegenübers zu erspüren und auch widersprüchliche Gesten, Worte und Signale so zu deuten, dass der subjektive Sinn des anderen identifiziert und später auch verstanden werden kann. Dies ist jedoch nur möglich, wenn sich Erwachsene diesen gemeinsamen Situationen stellen, diese Lernprozesse begleiten, die ungeheuer bedeutsam für die Ausbildung der Persönlichkeit von Kindern sind. Die unangenehmen Aspekte der Engung, die aus erzieherischen Situationen entstehen, sind bewusst anzunehmen und auszuhalten. Die Auseinandersetzung in gemeinsamen Situationen wird jedoch dadurch erschwert, dass Erwachsene und Kinder immer weniger Zeit haben, sich in diese gemeinsamen Situationen zu begeben und sich ihnen zu stellen. Denn das Zusammenleben wird immer stärker durch Konstellationen bestimmt. Konstellationen sind nach Hermann Schmitz einzelne Faktoren, die man aus einer Situation analytisch expliziert und in einem theoretischen Konzept zusammenfasst. 51 Das ist zum Beispiel eine Theorie oder ein Modell. Zum Beispiel könnte man sagen, dass die Bindungstheorie eine Konstellation darüber ist, wie sich die Bindung von Menschen untereinander gestaltet. Dies ist zunächst sehr nützlich, da man auf diese Weise bis zu einem gewissen Grade rekonstruieren und reflektieren kann, wie die Bindung zwischen Mutter und Kind beschaffen ist und wie sie sich in Belastungssituationen manifestiert. Doch kann die Typisierung in Bindungsmuster nur eine grobe Orientierung liefern, wie sich die Bindung im tatsächlichen Leben vollzieht. Denn erstens wird Mary Ainsworths Test der »Fremden Situation« unter Laborbedingungen durchgeführt und nicht zuhause oder in der Kindergruppe. Zweitens gab es im Rahmen des Tests natürlich Hermann Schmitz, Situationen und Konstellationen, Freiburg/München 2005, S. 27 ff

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auch Kinder, die nicht in die vorgegebenen Kategorien gepasst haben und daher schwierig einzuordnen waren. Und drittens kann zwar ein Modell von unsicheren und sicheren Bindungsmustern einen gewissen Aufschluss darüber geben, wie sich die Beziehung von Mutter und Kind gestaltet, aber die Untersuchung kann niemals das gesamte Spektrum der Mutter-Kind-Interaktion wiedergeben. Denn die gelebte, alltägliche Situation des gemeinsamen Aufwachsens ist vielschichtiger, als dies ein Modell mit einigen analytisch gewonnenen Kriterien und Ergebnissen an den Tag bringen kann. Und die Bindungstheorie hilft auch nicht unbedingt weiter, wenn eine Fachkraft die pädagogische Beziehung gestalten möchte. Denn über das wie einer sensitiven Beziehung sagt die Bindungstheorie wenig aus. Sie zeigt eher, welche Merkmale einer bestehenden Beziehung in bestimmten Situationen zu beobachten sind, als wie sie positiv zu gestalten ist. Das moderne Leben ist durch zahlreiche Konstellationen bestimmt. Die Kontoauszüge zeigen, wie viel Geld wir ausgeben können. Die Anforderungen gesunder Ernährung sagen uns, was wir einkaufen sollen. Es gibt Konzepte über Erziehung, Gesundheit, Freizeitgestaltung, Urlaub, Medienkonsum, Zeitmanagement, Selbstmanagement, Partnerschaft, Autokauf und vieles andere mehr. Der Alltag ist durch Termine, Listen, Programme, Kurse, Bögen und Familienplaner untergliedert. Wir beschäftigen uns mit der Steuererklärung, einem Plan für die Haushaltsführung, führen ein Fahrtenbuch über Spritkosten, machen Pläne für die Kinderbetreuung und organisieren ständig den nächsten Schritt, die nächste Woche, das nächste Jahr. Aber die Zeit, uns unmittelbar und intensiv einzulassen auf den anderen in wechselseitiger Einleibung im Hier und Jetzt wird immer weniger. Das geschäftliche Meeting ist genau auf eine Stunde terminiert, der Unterricht in der Schule muss mit dem Klingeln enden, Abendessen ist um sieben und danach steht der Yogakurs an. Das Wochenende ist durchgeplant mit Museumsbesuch, Musikevent, Familienbesuch, Kino und Sport. Freiräume, Leerzeiten und ungeplante Freizeit schrumpfen erheblich zusammen. Eltern und Pädagogen lassen sich zunehmend seltener auf die Situation mit ihren Kindern ein. Aber gerade die Zeit für ausführliche Gespräche, notwendige Klärungen, Momente der Anerkennung und der Kritik in wechselseitiger Einleibung sind so ungeheuer wichtig für die Kinder. Daher müssen sich Erziehende fragen: Besteht überhaupt Raum, um personale Re81 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

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gression zuzulassen und Kinder in personaler Emanzipation zu begleiten? Oder ist es doch wieder wichtiger, sich zusammenzureißen, weil gleich der nächste Termin ansteht, man schon wieder los muss und die Aufmerksamkeit auf affektive Befindlichkeiten zu aufwändig wäre. Ebenso notwendig für ein Wir-Gefühl in solidarischer Einleibung ist es, gemeinsam etwas Schönes zu erleben, albern zu sein, zusammen zu lachen in ungezwungener Atmosphäre. Doch das erfordert Zeit und Muße. Und wie ist das in der Kindertagesstätte und in der Schule? Trotz aller methodischen Kniffe, den Unterricht zu individualisieren und pädagogische Angebote auf das jeweilige Kind abzustimmen, kommt doch eine individuelle Zuwendung, eine sensitive Interaktion und ein Gespräch über Wesentliches oft zu kurz. Erzieherinnen berichten, dass sie immer mehr Zeit für Verwaltung und Organisation, Beobachtung und Dokumentation, für Planung und Qualitätsmanagement benötigen und dementsprechend weniger Zeit für echte Begegnung mit den Kindern bleibt. 52 In der Schule steht ein Lehrer in der Regel bis zu dreißig Schülern gegenüber. Trotz aller Methoden und didaktischen Möglichkeiten bleibt da wenig Zeit für das einzelne Kind. Die intensive Gerichtetheit auf die Kinder mit ihren affektiven Impulsen und Bedürfnissen nach echter Zuwendung im Sinne solidarischer oder antagonistischer Einleibung kommt zu kurz. Konstellationen bestimmen immer mehr den Alltag und verdrängen die Bedeutung der Situation. Doch gerade die gemeinsamen Situationen mit ihren vielfältigen, diffusen und oft auch verwirrenden Eindrücken sind die Momente, in denen sich gelebte Gegenwart vollzieht und in denen Kinder häufig das meiste lernen. Kinder lernen vor allem in gemeinsamen Situationen in leiblicher Kommunikation. Doch diese Situationen erfordern Raum und Zeit.

20. Kinder lernen in Atmosphären Unter welchen Bedingungen wachsen Kinder heute eigentlich auf? Was beeinflusst ihre Entwicklung? Diese Fragen werden in der Pädagogik und Soziologie häufig gestellt. Der ewige Streit, ob es eher die individuellen Erbanlagen sind oder Faktoren der Umwelt, ist noch Vergl. Barbara Wolf, Bildung, Erziehung und Sozialisation in der frühen Kindheit, Freiburg i. B. 2012, S. 348

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20. Kinder lernen in Atmosphären

nicht entschieden. In der soziologischen Forschung erlangt der sozialökologische Ansatz als lebensweltliche Forschung eine hohe Bedeutung. Er geht auf Uri Bronfenbrenner zurück und betrachtet drei Bereiche des sozialen Umfeldes: 53 –





Erstens die unmittelbare personale Umwelt in Form von Eltern, Geschwistern, Großeltern und mit der Familie eng verbundene Personen; Zweitens die institutionelle Umwelt in Form von Kindertagesstätte, Schule, Verein, Krabbelstube, Arbeitsplatz, in die Familienmitglieder direkt involviert sind; Drittens die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die politische Organisation und die ideologische Ausrichtung des sozialen Umfeldes. (z. B. allgemeine Schulpflicht, Betreuungsgeld, Kindergartenplatzgarantie ab 1. Lebensjahr)

Die Lebensweltforschung untersucht Aspekte wie das Einkommen der Eltern, die Anzahl der Bücher in den Regalen, die Größe und Anzahl der Kinderzimmer, Auswahl des Spielzeuges, die Ausstattung mit modernen Medien, die Quadratmeterzahl der Wohnung und die Mitgliedschaft in Vereinen. Weiterhin interessiert, wie viele Stunden die Kinder bei welchen Betreuungspersonen verbringen, welche Betreuungs- und Förderinstitutionen sie besuchen und welche Kontakte außerhalb der Familie bestehen. Insgesamt sind dies vor allem sozialstrukturelle Daten, also mess- und zählbare Faktoren, die gleichzeitig Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung haben können. So wurde ein enger Zusammenhang zwischen Einkommen und Bildung der Eltern und den Bildungschancen der Kinder hergestellt. Doch die Frage ist nun, ob allein zähl- und messbare Variablen als Umwelteinflüsse kindlicher Entwicklung betrachtet werden müssen? Könnten nicht auch andere Faktoren bedeutsam für die Entstehung der persönlichen Situation von Kindern sein? Immerhin weisen die Bindungsforscher Bowlby und Grossmann nach, dass Explorationsverhalten eng mit Bindungsverhalten korrespondiert. 54 Das heißt, Kinder können erst lernen, wenn sie sich sicher und geborgen fühlen. Die Bedingungen für diese Geborgenheit liegen jedoch nicht alleine Vergl. Uri Bronfenbrenner, Ökologische Sozialisationsforschung, Stuttgart 1976, S. 203 ff 54 Karin Grossmann, Klaus E. Grossmann, Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit, Stuttgart 2005, S. 37 53

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im Einkommen, dem Bildungsgrad oder der materiellen Ausstattung der Familie begründet. Vielmehr kann es auch bedeutungsvoll sein, in welcher Grundatmosphäre ein Kind aufwächst. Die Atmosphäre wird einerseits bestimmt durch einen gewährenden oder strengen Erziehungsstil. Weiterhin über Aspekte wie eine zuversichtliche oder eher pessimistische Zukunftserwartung. Dazu gehören unterschiedliche Kommunikationsstile, etwa empathisch-einfühlsame oder sachlichkritische Sprechweise aber auch spirituelle Einstellungen, um nur wenige Beispiele zu nennen. Doch mit diesen Kriterien ist noch nicht erschöpfend beschrieben, was eine Atmosphäre des Aufwachsens ausmacht. Nach Hermann Schmitz entfalten sich Atmosphären im Raum und bewirken unterschiedliche Befindlichkeiten oder affektives Betroffensein beim Menschen. »Atmosphäre wird am eigenen Leib gespürt, aber nicht als Zustand des eigenen Leibes«. 55 Ein nasser, kühler, nebliger Novembertag etwa entfaltet eine Atmosphäre von Unwohlsein und Erschauern. Man spürt diesen äußeren Zustand, der einem unter die Haut geht als etwas, das in der Luft liegt. Dagegen wirkt die Atmosphäre eines kühlen, aber sonnigen Aprilmorgens mit den leuchtenden Farben der Blüten als erfrischend und aufmunternd. Der Philosoph Gernot Böhme bezeichnet Atmosphäre als das, »was von Dingen und Menschen ausgeht, was Räume mit affektiver Tönung erfüllt« (…). 56 Durch die Atmosphäre wird sich das Subjekt seiner Anwesenheit bewusst, weil es sich auf die eine oder andere Art berührt, gestimmt oder angesteckt fühlt. Auch Gefühle bewirken Atmosphären im Raum. Jeder, der einmal fröhlich singend in eine Gruppe trauriger Leute herein geplatzt ist, hat den Kontrast erlebt, der durch die Stimmung im Raum und das eigene Verhalten erzeugt wurde. Umgekehrt ist es für den Traurigen schwer erträglich, längere Zeit die Partylaune einer fröhlich feiernden Gruppe zu ertragen. Somit können Gefühle im Raum eine ganz bestimmte Atmosphäre transportieren, die von jedem einzelnen gespürt werden können. Hermann Schmitz geht sogar so weit, Gefühle als sich im Raum ergießende Atmosphären zu beschreiben, die sich der Personen bemächtigen, die anwesend sind. Damit haben sie einen eher überindividuellen Charakter. Doch gleichgültig, ob man Gefühle als individuelle innere Prozesse betrachtet oder als Atmo55 56

Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 2007, S. 293 Gernot Böhme, Atmosphäre, Frankfurt a. M. 1995, S. 177

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20. Kinder lernen in Atmosphären

sphären, die sich im Raum ausbreiten: Man kann nicht abstreiten, dass Gefühle sich zwischenmenschlich auswirken. Beispielsweise macht es durchaus einen Unterschied, ob man sein Frühstück mit einem fröhlichen, optimistischen Menschen verbringt, der sich auf die Anforderungen des Tages freut, oder mit einem depressiven, zynischen Zeitgenossen, der schon im Vorhinein erwartet, dass der Tag einen schlechten Ausgang haben wird. Gefühle bilden Atmosphären, die sich im Raum und über verschiedene Subjekte hinweg ausbreiten können. So kann es die persönliche Situation eines Kindes beeinflussen, wenn die Stimmung der Mutter von Schmerz und Leid geprägt ist oder aber von einer optimistischen Grundhaltung. Ebenso verursacht es ein unterschiedliches Erleben, ob Eltern ihre Konflikte im Wesentlichen gemäßigt austragen und ein eher verträgliches, verzeihendes und akzeptierendes Klima in der Familie herrscht, oder ob die Bezugspersonen leicht reizbar sind und Meinungsverschiedenheiten aggressiv und mit verbaler oder physischer Gewalt austragen. Das bedeutet nicht, dass eine Atmosphäre der künstlichen Harmonie, in der Konflikte unter den Teppich gekehrt werden, als günstiger eingestuft werden sollte, als eine Atmosphäre expressiver Aggression. Aber insgesamt kann auch ohne eine Messung der Konzentration des Stresshormons Kortisol die Aussage getroffen werden, dass ein Kind in einem weitestgehend authentischen und harmonischen Umfeld eher Geborgenheit, sensitive Zuwendung und eine sichere Bindung erfährt als in einem aggressiven und bedrohlichen Zuhause. Die Qualität von Atmosphären ist daher eng an den Sozialisationsprozess mit seiner spezifisch kulturellen Ausprägung gebunden. 57 Somit bildet der konstruktive Umgang mit Konflikten, die Fähigkeit, sich zu verzeihen und den anderen mit seinen Fehlern und Schwächen akzeptieren und lieben zu können, eine wesentliche Grundlage für eine warme und wohltuende Atmosphäre des Aufwachsens. Perfektionismus und Rigidität dagegen führen zu einer sehr kritischen Wahrnehmung des anderen und lassen die kleinste Unzulänglichkeit als Makel erscheinen, der abgestellt werden muss. Die Kompetenz zu lieben hängt daher im Grunde weniger vom »richtigen« Partner ab, als von der Fähigkeit der einzelnen Individuen, den anderen mit akzeptierenden und wohlwollenden Augen zu sehen, Vergl. Christian Julmi, Atmosphären in Organisationen, Bochum/Freiburg 2005, S. 110

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auch wenn er im Laufe des Lebens unweigerlich seine Schwächen und Widersprüche offenbart. Das Kind macht in einer solchen Atmosphäre prägende Erfahrungen und erwirbt soziale Kompetenzen, die weit über Empathie, Kooperation und Einhaltung von sozialen Normen hinausgehen. Eine solch akzeptierende Atmosphäre kann durchaus als entwicklungsförderlich eingestuft werden, da sie die Offenheit für Neues begünstigt. Dagegen ist ein Aufwachsen in ständigen Konflikten, kritischer Ablehnung des anderen oder einer reinen Kosten-Nutzenabwägung der Beziehungen sicher problematisch. Die Bereitschaft zu Lernen wird hier eher gehemmt. So gelingt es leider nicht, ein Miteinander zu erreichen, das wenigstens zeitweise von solidarischer Einleibung bestimmt ist. Vielmehr steht hier die antagonistische Einleibung, die Durchsetzung von Macht und die Behauptung der eigenen Person so sehr im Vordergrund, dass die gemeinsame Situation stärker durch die Interessen des Einzelnen geprägt ist, als durch eine Angleichung von Bedürfnissen, Wünschen, Zielen und Handlungen. Somit darf die Bedeutung von Atmosphären, die durch affektive Betroffenheit der einzelnen Personen und den Grad der personalen Emanzipation bzw. der personalen Regression geprägt sind, nicht vernachlässigt werden, wenn man die Genese der Persönlichkeit betrachtet. Auch wenn ein gesichertes Einkommen und hohe Bildung ein Mehr an Sicherheit und Zuversicht suggeriert, sollte dennoch berücksichtig werden, dass zufriedene Eltern in einer konstruktiven Beziehung auch unabhängig von sozialstrukturellen Bedingungen eine angemessene Atmosphäre des Aufwachsens für ihr Kind ermöglichen können. Die Atmosphäre des Aufwachsens ist weniger mit quantitativen als vielmehr mit qualitativen Methoden zu erfassen. 58 Dabei kann die Wahrnehmung der Kinder anders sein als die der Erwachsenen. Es wäre daher sicher notwendig, valide Methoden zu entwickeln, um die Atmosphären des Aufwachsens aus der Perspektive des Kindes zu erfassen. Dazu gehören sicher auch Faktoren, wie viel Zeit Eltern für ihre Kinder haben, wie sensitiv sie auf ihre Bedürfnisse eingehen können und wie viel Sicherheit sie durch ihre Anwesenheit und durch eine förderliche Grundstimmung vermitteln können. Denn solche leiblich vermittelten Atmosphären können das Lernen begünstigen oder beeinträchtigen. Barbara Wolf, Atmosphären des Aufwachsens, Rostocker Phänomenologische Manuskripte, Band 22, Rostock 2015, S. 17 ff

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21. Zusammenfassung

21. Zusammenfassung In den vorangegangenen Kapiteln konnte gezeigt werden, dass Kinder leiblich lernen. Sie richten ihre Aufmerksamkeit auf Personen und Dinge und lassen sich von ihnen anregen, ansprechen und affizieren. Je nachdem, wie sie subjektiv von einer Sache oder einer bestimmten Person betroffen sind, integrieren sie diese in ihre persönliche Eigenwelt. Dies ist der Bereich, der insbesondere emotional und motivational das persönliche Interesse und die besondere Bedeutsamkeit für das eigene Sein repräsentiert. Wenn diese Bedeutung und die Bezogenheit auf eine Person oder eine Sache abnimmt, wird diese in die persönliche Fremdwelt entlassen. Zwar gehört sie dann noch immer zur persönlichen Welt, wird aber eher zu einer neutralen Hintergrunderfahrung, die bei Bedarf wieder hervorgeholt werden kann. Kinder bilden ihre persönliche Situation, also das, was man gemeinhin Persönlichkeit nennt, in gemeinsamen Situationen mit anderen aus. Dabei ist ein intensiver Austauschprozess zwischen Erwachsenen und Kindern in leiblicher Kommunikation bedeutsam. Dieser vollzieht sich im Wechsel von Engung und Weitung, wobei beide Pole zwischen den Interaktionspartnern hin und her eilen. Die intensive leibliche Kommunikation wird auch als Einleibung bezeichnet, welche die beteiligten Partner umgreift und ein starkes Gerichtetsein auf den anderen durch intensives wechselseitiges Spüren ermöglicht. Dabei entstehen unterschiedliche Atmosphären, die von einer Person ausgestrahlt und von der anderen aufgenommen, geteilt oder auch zurückgewiesen werden. Einleibung kommt zunächst als antagonistische vor. Das heißt, hier wird die Vormachtstellung in der gemeinsamen Situation ausgehandelt. Meist ist der Partner mit dem stärkeren Engepol dominierend. Dies kann sowohl das Kind als auch der Erwachsene sein. In der solidarischen Einleibung lassen sich die Beteiligten spürend aufeinander ein und versuchen, ein harmonisches Mitschwingen in Sprache, Bewegung und Gestimmtheit zu erlangen, das eine Atmosphäre des miteinander Verbundenseins im Augenblick erzeugt. Dies entsteht etwa beim gemeinsamen Rudern oder beim Singen im Chor. Sowohl bei der antagonistischen als auch bei der solidarischen Einleibung lernen Kinder viel über Regeln und Normen. Bei der antagonistischen Einleibung erhalten sie häufig eine Grenze, ein Nein oder eine Zurückweisung, die ihnen deutlich macht, dass dieses Verhalten 87 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

nicht akzeptiert wird. Dagegen erleben sie bei der solidarischen Einleibung den Einklang, der entstehen kann, wenn sich alle an die gemeinsamen Regeln halten und die persönliche Situation des einzelnen in der gemeinsamen Situation aufgeht: eine wesentliche soziale Lernerfahrung. Kinder fallen noch häufig in Momente primitiver Gegenwart zurück, da sie durch Gefühle so stark ergriffen werden, dass sie den Überblick über eine Situation verlieren und durch das Betroffensein im Hier und Jetzt auf ihr subjektives Empfinden zurückgeworfen werden. Sie erfahren dabei personale Regression, da sie nicht über der Situation stehen und sie aus der Distanz beurteilen können. Es stehen ihnen keine Konzepte zur Bewältigung der Situation zur Verfügung. Entweder, weil viele Erfahrungen noch so neu sind, dass sie einfach noch nicht wissen, wie sie sich adäquat verhalten können (etwa wenn ein Hund sie anbellt, wenn ein Auto vorbei rast, plötzlich ein Donner ertönt, sie zum ersten Mal ein Feuerwerk erleben). Oder weil sie auch von alltäglichen Ereignissen immer wieder betroffen sind, weil sie damit bereits emotional belastende oder begeisternde Erfahrungen gemacht haben. Um einen Zustand der entfalteten Gegenwart zu erreichen, benötigen Kinder die Unterstützung von Erwachsenen. Diese gehen zunächst mimetisch auf die affektive Betroffenheit des Kindes ein und schwingen mit, um es dann durch eine Haltung von Ruhe, Sicherheit und Souveränität wieder in personale Emanzipation zu begleiten. Es lernt, aus einer starken Engung herauszutreten und sich wieder zu öffnen für das Umfeld, die gemeinsame Situation und in Weitung fallen lassen. Dass Kinder eine Begleitung bei diesem Wechselprozess von personaler Regression zu personaler Emanzipation erfahren, ist also von elementarer Bedeutung. Diese Unterstützung kann in implantierenden und includierenden Situationen geschehen. Kinder lassen sich womöglich in implantierenden Situationen, in denen sie eine tiefe Verwurzelung erfahren, eher mimetisch auf ein Gegenüber ein, um zur personalen Emanzipation gelangen. Doch wenn die Personen im unmittelbaren Umfeld des Kindes nicht verfügbar sind oder nicht die nötige Sensibilität aufbringen können, um die affektive Gestimmtheit des Kindes zu erfassen und sich empathisch darauf einzulassen, kann auch eine includierende Situation diesen Übergang leisten. Auch ein sensitiver Lehrer oder eine aufmerksame Erzieherin kann dem Kind ein wichtiger Partner in der leiblichen Kommunikation sein. 88 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

21. Zusammenfassung

Im pädagogischen Alltag können sich jedoch auch ungünstige Formen der Kommunikation entwickeln, die ein Mitschwingen und Sich-aufeinander-einstellen erschweren. Etwa, wenn ein Kind sehr epikritische Strategien entwickelt, um zu kommunizieren. Hohe, schrille Schreie, hektische Bewegungen, stichelnde Bemerkungen können von Erwachsenen als so qualvoll erlebt werden, dass sie sich schwertun, mimetisch mit dem Kind mitzuschwingen, um es auf eine andere Verhaltensebene zu führen. Bei protopathischen Tendenzen des Kindes besteht eher die Gefahr, dass seine leiblichen Signale übersehen werden, da sie eher dumpf, hintergründig und leise erscheinen. Hier muss die Aufmerksamkeitsschwelle des Erwachsenen sensibilisiert werden, da er es womöglich nicht gewohnt ist, solche unterschiedlichen Ausdrucksformen des Kindes bewusst zu reflektieren. Kinder machen unglaublich virtuose und reichhaltige Lernerfahrungen bei der spielerischen Identifizierung im Rollenspiel. Sie drücken leiblich aus, was sie in Bewegungssuggestionen aus ihrem persönlichen Umfeld wahrgenommen haben. Dabei setzen sie ihren Körper bewusst als Ausdrucksmittel ein, um Stimmungen, Atmosphären und Facetten ihrer persönlichen Situation auszudrücken. Sie erspüren dann, wie stimmig eine Haltung, eine Geste, eine Betonung für sie erscheint und welche Wirkung sie durch bestimmte Bewegungen, Worte und Stimmlagen erzielen können. Über den leiblichen Ausdruck erproben sie unterschiedlichste Nuancen menschlichen Handelns und finden dabei jene Aspekte heraus, mit denen sie sich selbst wohl in ihrer Haut fühlen. Solche Muster werden dann verinnerlicht und kommen in alltäglichen Handlungsvollzügen immer wieder zur Geltung. Kinder müssen zunächst erspüren, wer sie selbst und wer die anderen sind. Vom subjektiven Betroffensein und personaler Regression gelangen sie allmählich zu objektiveren Ideen, Theorien und Hypothesen über ihre Lebenswelt, die sie mit anderen austauschen und teilen. So gelingt allmählich ein Dasein in personaler Emanzipation. Das Kind entfaltet seine persönliche Situation zunächst über den Leib, durch Bewegungssuggestionen, Nachahmung und Einleibung. Es lernt vor allem über den Resonanzraum seines Leibes. Er ist sein Instrument, um am Konzert des Lebens teilzuhaben und sowohl im Einklang mitzuschwingen als auch das eine oder andere Solo zu erzeugen, das seine individuelle Bedeutung im Dasein unterstreicht. Das Gehirn kann nicht das Zentrum des Organismus sein, da es seine Funktion immer nur in Wechselwirkung mit dem Organismus und 89 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

A Theoretischer Teil: Einführung in die Sprache der leiblichen Kommunikation

der Umwelt vollziehen kann. 59 Da In-der-Welt-Sein nur als Mensch mit einem spürenden Leib möglich ist, stellt er eine elementare Grundlage für jeglichen Lernprozess dar. Im zweiten Teil des Buches soll nun anhand von wichtigen Entwicklungsschritten der Kinder gezeigt werden, welche Rolle leibliche Kommunikation und eigenleibliches Spüren beim Lernen elementarer Fähigkeiten und Fertigkeiten spielt.

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Thomas Fuchs, Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, Stuttgart 2013, S. 111

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B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

22. Einleibung in den ersten Wochen und Monaten Jedes Kind wird zunächst einmal in eine Familie hinein geboren. Welche Rolle die leibliche Kommunikation von Anfang an spielt, konnte bereits in den voran gegangenen Kapiteln angedeutet werden. Die Körperpflege des Säuglings etwa hat keineswegs nur die Bedeutung, ihn hygienisch zu versorgen. Die Berührung der Haut ist enorm wichtig für das eigenleibliche Spüren des Neugeborenen. Nachdem das körperwarme Fruchtwasser der Gebärmutter nicht mehr vorhanden ist, spürt sich das Kind über die Hände der Bezugspersonen. Es fühlt einerseits die Grenzen seines Leibes, da ja die Haut die Schwelle zur Außenwelt bildet. Andererseits ist die taktile Sprache der Berührung sehr wesentlich, um Kontakt mit der Umwelt und anderen Personen aufzunehmen. Die Art und Weise, wie sensitiv und angemessen es angefasst wird, beeinflusst nicht unerheblich, wie häufig sich der Säugling in Engung oder Weitung befindet. Wenn der Körperkontakt zunächst als angenehme Erfahrung erlebt werden kann, wird er sich häufiger in Weitung befinden, als wenn die Berührung eher Schreck, Druck oder andere unangenehme Regungen auslöst. Dann zieht sich Haut und Muskulatur zusammen und das Baby erfährt immer wieder Engung. Es ist überhaupt nicht einfach und selbstverständlich, dass ein Körperkontakt als angenehm empfunden wird. Denn jedes Kind hat hier eine andere Sensibilität an den verschiedenen Leibesinseln und es erfordert genaues Hinschauen, Zuhören und Spüren, ob dem Kind nun eine bestimmte Berührung gut tut oder eher nicht. Auch wenn es natürlich grundsätzliche Regelungen gibt, wie man den Kopf hält oder wie man ein Kind wickelt, gibt es viele Möglichkeiten der Ausgestaltung in der konkreten Situation. Schon hier ist es bedeutsam, dass Füttern, Baden, Schlafen legen und Wickeln nicht nur als »Ver-

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B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

richtung« des Alltags betrachtet wird, sondern von Anfang an als leiblicher Dialog mit dem Kind. Es lernt viel über seinen Körper, seine Bezugsperson, über den Grad an Beachtung und Achtung vor seiner Person. Ausreichend Zeit zu haben, um das Kind in seiner jeweiligen Befindlichkeit wahrzunehmen ist dabei ebenso wichtig, wie die Reflexion der eigenen Empfindungen des Erwachsenen in der Pflege- und Betreuungssituation. Was gefällt dem Baby, was tut ihm gut, worauf reagiert es akzeptierend oder ablehnend? Wann fühle ich mich als Mutter oder Vater wohl, kompetent und in gutem Kontakt mit dem Kind? Wann fühle ich mich unsicher, unzulänglich oder auch überfordert? Diese Gefühle werden atmosphärisch an das Kind weitergegeben und verdienen daher Beachtung. Wenn sich die Interaktion konstruktiv entwickeln soll, kann die Aufmerksamkeit auf feine Nuancen der leiblichen Kommunikation wichtige Aspekte der Beziehung erhellen. Wie wirken die Schreie des Säuglings auf die Mutter und wie geht sie damit um? Gerät sie sofort in Engung, weil sie das Unwohlsein des Kindes schnellstmöglich beheben will. Oder fasst sie die Artikulationen einfach als kindgerechte Sprache auf. Können Vater und Mutter allmählich unterscheiden, wann das Kind Hunger, Durst, Bauchschmerzen oder Einsamkeit empfindet? Können sie die Bedürfnisse in einer Weise befriedigen, die das Kind aus seiner empfundenen Engung in Weitung befreit? An welchem Ort, auf welchem Stuhl fühlt sich die Mutter am wohlsten, um das Kind zu füttern? Wie gelingt es am Besten, das Einschlafen des Babys zu gestalten? Wie geht man damit um, wenn das Baby häufig nachts schreit? Wie sorgt man für Ausgleich bei durchwachten Nächten? Was benötigt die Mutter an Ruhe, Kontakt mit anderen Erwachsenen und Ausgleich für sich selbst, um sich immer wieder dem Kind angemessen widmen zu können? In leiblicher Kommunikation kann nur ein angemessener Rhythmus von Engung und Weitung entwickelt werden, wenn der Erwachsene sich in personaler Emanzipation befindet. Wenn er seine eigenen Bedürfnisse nicht beachtet, gerät er früher oder später in personale Regression. Aus einer Engung, die als Erschöpfung oder Ärger zutage tritt, kann er weniger überlegt und empathisch handeln. Der Dialog zwischen Elternteil und Kind kann sich dann nicht mehr in konzentriertem aufeinander Bezogensein vollziehen. Er wird unterbrochen, oberflächlich und erfolgt weniger synchron. Wenn die Eltern jedoch auch für sich sorgen, kann die wechselseitige Einleibung eher gelingen. Allmählich entwickelt sich ein Dia92 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

22. Einleibung in den ersten Wochen und Monaten

log zwischen Eltern und Kind, der einen gewissen Rhythmus hervorbringt. Aufwach- und Schlafenszeiten kristallisieren sich mit der Zeit heraus, sowie Fütter- und Ruhezeiten. Es entstehen Rituale beim Aufstehen, beim Baden, beim Füttern und beim Schlafengehen. Beim Aufstehen wird vielleicht immer das gleiche Mobile bewegt. Das Kind bleibt ein paar Minuten wach im Bett liegen und bevor es anfängt zu weinen, nimmt die Bezugsperson es auf. Am Frühstückstisch hat das Kind einen bestimmten Platz, bekommt ein spezielles Lätzchen an und die Mutter macht die gleichen Bewegungen beim Füttern. Das Baden geschieht etwa vor dem Abendessen, wenn das Kind noch einigermaßen aktiv ist und es gibt ein bestimmtes Waschtuch oder Badetier, das beim Baden dabei ist. Beim zu Bett gehen singt die Mutter immer wieder dasselbe Lied, macht in der gleichen Weise die Vorhänge zu und bleibt am Bettchen, bis die Augen zufallen. Im gleichen Maße, wie die Eltern an Sicherheit gewinnen, wird auch der Säugling sich zunehmend wohler fühlen in seiner neuen Umwelt außerhalb des Mutterleibes. Zustände von Engung werden schneller erkannt und begleitet. Doch da sich das Kind in einer ständigen und rasanten Entwicklung befindet, ändern sich auch rasch seine Befindlichkeiten und erfordern eine sensitive Wahrnehmung der Eltern. Dies bezieht sich natürlich auch auf pädagogische Fachkräfte, soweit sie Säuglinge und Kleinkinder in einer Krippe betreuen. Womöglich muss die Nahrung umgestellt werden, wenn das Kind von Milch allein nicht mehr satt wird. Die wachsenden Zähne lösen Schmerzen aus. Das Schlafbedürfnis ändert sich. Das Kind benötigt zunehmend Möglichkeiten, sich zu bewegen. Mit Beginn der Sprachentwicklung ist es auf ständige Unterstützung und Würdigung seiner Sprachversuche angewiesen. Der Prozess des Laufenlernens ist mit häufigem Scheitern verbunden. Immer wieder stürzt das Kind und seine Versuche erfordern, wie so viele Lernprozesse, Trost und Ermutigung. Jede Bezugsperson entwickelt gemeinsam mit dem Kind einen sehr spezifischen leiblichen Dialog. Dabei ist jede Beziehung von mehr oder weniger asymmetrischen Aspekten bestimmt. Bei der antagonistischen Einleibung geht es von Anfang an darum, wer die Situation regelt und bestimmt. In den ersten Lebensmonaten kristallisiert sich das Machtgefüge der gemeinsamen Situation heraus. Der Erwachsene entscheidet, wann das Kind gefüttert, gewickelt, gebadet oder aus dem Bett geholt wird. Je nach Haltung zum Kind lässt er sich hier in erster Linie von den Bedürfnissen des Kindes leiten oder verfolgt einen bestimmten Zeitplan, der eher unabhängig 93 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

von den Regungen des Kindes befolgt wird. Es gibt Familien, in denen die Bedürfnisse der Eltern an erster Stelle stehen und sich die Versorgung des Kindes in den Zeitplan der Erwachsenen einzufügen hat. Auf der anderen Seite kommt es vor, dass Eltern ihren ganzen Tagesablauf auf die Bedürfnisse des Kindes abstimmen und bei jedem Mucks des Säuglings alles stehen und liegen lassen und nur noch um den Nachwuchs kreisen. Vermutlich entwickelt sich aber in den meisten Familien ein Kompromiss aus den unterschiedlichen Anforderungen und Befindlichkeiten. In pädagogischen Tageseinrichtungen stehen die Fachkräfte ebenso vor der Notwendigkeit, einen Kompromiss zwischen den Bedürfnissen des einzelnen Kindes und den Erfordernissen der Gruppe oder der gesamten Institution zu finden. Auch die solidarische Einleibung spielt in der Erziehung eine große Rolle. Einen gemeinsamen Rhythmus der leiblichen Kommunikation zu finden ist in vielen alltäglichen Situationen wesentlich. Dies beginnt beim Anziehen oder Umziehen am Morgen. Es macht einen großen Unterschied, ob die Mutter oder Erzieherin dem Kind auf dem Wickeltisch einfach die Kleidung abstreift, es säubert und dann in frische Kleider steckt oder ob sie ihre Bewegungen mit dem Kind abstimmt. Schon früh kann das Kind durch Gesten und Blicke der Bezugsperson erkennen: jetzt bin ich dran. Man kann den Säugling auf dem Bauch sanft antippen, den Blickkontakt suchen und die Stimme erheben, indem man kurz äußert, dass es nun gewickelt wird. Natürlich versteht das Kind nicht den Sinn der Worte, aber es spürt: Hier geht es jetzt um mich. Beim Abstreifen der Kleider kann man sich dem Bewegungsrhythmus des Kindes anpassen. So muss die Bezugsperson der Muskulatur nicht zu viel Widerstand entgegensetzen und das Abschälen der Kleidung geschieht eher im Einklang mit den Regungen des Kindes. Weder das Kind gerät in Engung, weil es dem, was da geschieht aus Schreck oder Überforderung einen Widerstand entgegensetzt und die Muskeln anspannt. Noch erfährt die pflegende Person Engung, weil sie sich nicht dem strampelnden Kind widersetzen muss. Eher erfolgt ein fließender Übergang von Engung und Weitung, weil der Wechsel von Bewegung und Entspannung der Gliedmaßen dazu führt, dass das Kind reibungslos in seine Kleider gelangt. Auch das Wickeln kann sehr unterschiedlich gestaltet sein. Man kann die Beine des Kindes einfach festhalten und dann den Unterkörper reinigen. Es ist aber auch möglich abzuwarten, bis der Säugling von selbst eine günstige Position zum Reinigen anbietet, um dann 94 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

22. Einleibung in den ersten Wochen und Monaten

ohne zu starres Festhalten vorzugehen. Auch hier können die Bewegungen von Erwachsenem und Kind in ein gegenseitiges Mitschwingen geraten. Es geht darum, einen wechselseitigen Rhythmus von drücken, ziehen, sich hin- und wegdrehen zu entwickeln, der die Interaktion angenehm macht und für beide Seiten eher wenig Energie erfordert. Beim Stillen findet die Mutter mit etwas Gespür schnell heraus, in welcher Liegeposition das Baby die Brustwarze am Besten mit den Lippen festhalten kann. Sie hält es so, dass der Kontakt auch für sie selbst so angenehm wie möglich ist, ohne dass das Kind gestört wird. Das Saugen selbst unterliegt einem Rhythmus von festhalten und loslassen. Nach der stärksten Engung, nämlich dem Zusammenpressen der Mundmuskulatur erfolgt jeweils eine Weitung, weil sonst keine Möglichkeit besteht, die Flüssigkeit zu schlucken. Die Mutter muss lernen, diese extreme Beanspruchung ihrer Brust auszuhalten, denn sie ist eine äußerst sensible Leibesinsel. Für manche Mütter ist das Saugen zunächst unangenehm und erzeugt Schmerzen bis hin zur Brustentzündung. Bei anderen Frauen erfolgt eine Irritation, weil die Stimulation der Brust auch in andere Bereiche des Körpers ausstrahlt und widersprüchliche Gefühle von Lust und Schmerz auslöst. An der Art des Saugens merkt sie mit der Zeit, wann das Kind genug getrunken hat. Es saugt vielleicht weniger schnell und der Druck lässt etwas nach. Es sind feine Empfindungen, die sich zwischen den hochsensiblen Regionen der Lippen und der Brust abspielen. Wenn die Bewegungen im Fluss sind, wird die Einleibung solidarisch. Das Stillen ist dann ein erfüllender Vorgang, bei dem das Kind satt und die Mutter zufrieden wird, weil sie die Potenz zum Stillen erlebt. Auch das Füttern mit der Flasche erfolgt im Zuge wechselseitiger Einleibung. Hier kommt hinzu, dass die Flaschennahrung rechtzeitig zubereitet wird, bevor das Kind schon aus tiefster Engung um Nahrung schreit. Danach ist auf die richtige Temperatur der Milch, die angemessene Größe des Saugers und des Austrittsloches zu achten. Erst dann kann das Kind mit der Flasche gefüttert werden. Auch hier benötigt der Elternteil oder die Pädagogin eine entspannte Haltung und die Aufmerksamkeit, wie die Flasche am besten gehalten wird. Wichtig ist ebenfalls, welche Liegeposition das Kind bevorzugt, wann es eine Pause benötigt, welcher Ort am besten geeignet ist und wo sich der Erwachsene gut auf die gemeinsame Situation konzentrieren kann. Der Körperkontakt ist etwas indirekter als beim Stillen, aber 95 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

dennoch kann eine Situation der solidarischen Einleibung erreicht werden. Damit das Kind nach dem Saugen überflüssige Luft ausstoßen kann, legen die Eltern es meist über die Schulter und klopfen sanft den Rücken. Dabei machen sie wiegende Bewegungen mit dem ganzen Leib, summen womöglich eine sanfte Melodie und gehen rhythmisch hin und her. Sie erspüren dabei, wann das Kind sich entspannt und sein Bäuerchen macht. Wenn die Bewegungen dem Bedürfnis des Kindes angemessen sind, lässt es sich auf den Rhythmus ein, entspannt die Muskulatur und es gerät von angespannter Engung wegen möglicher Blähungen in lockere Weitung. Insgesamt ist zu erkennen, dass das gegenseitige aufeinander Einstellen von Erwachsenen und Kind auf die Bedürfnisse, Eigenheiten und Möglichkeiten des anderen einen äußerst sensiblen Prozess darstellt, der nur allmählich zu einem gewissen Gleichgewicht führt. Das Gleiche gilt natürlich, wenn der Säugling früh in eine institutionelle Betreuung gegeben wird und von einer professionellen Pädagogin betreut wird. Dies ist jedoch nur möglich, wenn die Bezugsperson die Chance hat, sich auf die leiblichen Regungen des Kindes zu konzentrieren und diese möglichst differenziert wahrzunehmen und zu deuten. Das bedeutet einerseits, dass Raum und Zeit vorhanden sein muss, um die Aufmerksamkeit auf das individuelle Kind zu richten, andererseits erfordert es auch die Fähigkeit des Erwachsenen, sich im Zustand personaler Emanzipation auf ein Gegenüber einlassen zu können und seine Bedürfnisse zu befriedigen, ohne dabei selbst auf der Strecke zu bleiben. Daher ist ein angemessener Ausgleich von Distanz und Nähe auch in der Beziehung zum Säugling schon bedeutsam, damit die primäre Bezugsperson nicht so stark in Anspruch genommen wird, dass sie dauerhaft in personale Regression gerät. Denn dann kann sie nicht fürsorglich für das Kind da sein. Eine sichere Bindung und ein ausgeglichener Zustand zwischen Engung und Weitung sind Voraussetzung für eine erste Auseinandersetzung mit der Umwelt und damit erste Lernerfahrungen.

23. Mein Körper, mein Leib – grundlegende Erfahrungen der persönlichen Situation Ein Säugling im Mutterleib probiert schon früh Bewegungen aus. Er bewegt Arme und Beine und stößt dabei an die Grenze seiner Be96 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

23. Mein Körper, mein Leib – Erfahrungen der persönlichen Situation

hausung, nämlich an den Rand der Gebärmutter bzw. an die Bauchdecke der Mutter. Er öffnet und schließt Augen und Mund, wobei das Fruchtwasser ihn umspült. Was er dabei spürt, können wir nicht wissen. Aufgrund der engen Verbundenheit mit dem Organismus der Mutter geht man jedoch davon aus, dass der Säugling sich selbst als eigenständiges Wesen zunächst noch kaum spürt. Bei der Geburt vollzieht sich dann die Trennung von Mutter und Kind. Die beiden Blutkreisläufe werden voneinander getrennt, indem die Nabelschnur durchschnitten wird. Das Neugeborene muss nun selbständig atmen und Nahrung durch den Mund aufnehmen, verdauen und wieder ausscheiden. Diese Vorgänge sind zunächst sehr anstrengend, erfordern fast seine gesamte Energie und bereiten häufig auch Schmerzen. Bisher gab es einen Zustand wie Hunger nicht, da das Kind gleichmäßig mit Nahrung über das Blut versorgt war. Nun erfährt es diese bohrende Empfindung, auf die es nur mit Schreien reagieren kann. Dabei wird es auf sich selbst zurück geworfen in seinem Schmerz. Es ist darauf angewiesen, dass jemand kommt und ihm Nahrung zuführt in einer Weise, die seinen Fähigkeiten angemessen sind. Ein Neugeborenes ist überfordert mit einem Stück Brot, weil es dieses nicht zerkleinern und verdauen kann. Es braucht flüssige Nahrung, die ihm so dargeboten wird, dass es sie einsaugen kann. Denn der Säugling verfügt über den Saugreflex. Er spürt dabei, wenn seinen Lippen ein greifbarer Gegenstand angeboten wird, den er umschließen kann. Dann wird im Wechsel von Engung und Weitung der Sauger der Trinkflasche oder die Brustwarze der Mutter zusammengepresst, um gleich wieder loszulassen, damit die Milch fließen und gleichzeitig geschluckt werden kann. Wie oben beschrieben werden die Lippen und der Mund beim Stillen sehr stark angeregt und der Säugling spürt hier durch die Stimulation seiner Lippen, den intensiven taktilen Kontakt mit der Milchquelle, aber auch durch den Geschmack der Milch den Mund als Leibesinsel. Während das Stillen sicher als angenehm empfunden wird, stellt der Druck in den Verdauungsorganen wohl eher eine schmerzhafte Erfahrung dar. Bei Magendruck und Blähungen handelt es sich um schmerzhafte Regungen des Leibes. Ob diese Schmerzen vom Säugling an einzelnen Leibesinseln oder als Erfahrungen am ganzen Leibe wahrgenommen werden, kann nicht eindeutig gesagt werden. Von manchen Kindern wird es als beruhigend empfunden, wenn die Mutter kreisförmig über den Bauch streichelt. Hier wird eher eine be97 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

stimmte Leibesinsel stimuliert. Andere lieben es, wenn sie wiegend durch das Zimmer getragen werden und damit der gesamte Leib gewiegt wird. Dann erfährt der Leib als Ganzes ein Umfangensein, einen von außen eingebrachten Rhythmus und Geborgenheit. Die Erfahrung von Engung und Weitung ist sicher eine grundlegende, die auch der Säugling schon vorreflexiv erlebt. Schließlich treibt ihn die Engung im Schmerz dazu, Schreie auszustoßen. Hermann Schmitz macht deutlich, dass der Mensch in primitiver Gegenwart die Zündung seiner Subjektivität erfährt. Denn im Schmerz wird er so affektiv betroffen, dass er unweigerlich die Erfahrung macht »ich bin traurig« oder »mein Bauch schmerzt«. Diese reflexive Erfahrung macht ein Säugling von 2 Wochen wahrscheinlich noch nicht. Er nimmt sich noch nicht als eigenes Selbst wahr, das von sich sagt: jetzt habe ich Hunger und jetzt ist er vorbei. Aber er spürt zumindest vorreflexiv die Regionen des Mundes und des Magens oder der Ausscheidungsorgane, die beim Wickeln gereinigt werden. Beim Baden erfährt das Baby, wie seine Haut von den Zehen bis zum Kopf berührt wird und lernt spürend allmählich seine Körpergrenzen kennen. Beim Strampeln stößt es an die harten Gitterstäbe seines Bettes, an den unnachgiebigen Boden, an die weiche Decke und lernt dabei feste und dehnbare Widerstände seiner Umwelt kennen. Über die Berührung mit anderen Menschen spürt es die Grenzen seines Körpers, die über die Haut wahrgenommen werden. Aber es spürt auch seinen Leib, indem es Schreck, Schmerz, Lust und Entspannung empfindet. Der eigene Leib wird zum Organ, über das ein Kind subjektiv Kontakt zur Umwelt aufnimmt. All dies sind wie bereits erwähnt zunächst vorreflexive Erfahrungen, die deshalb nicht weniger bedeutungsvoll für den Säugling sind. Es macht sicher einen Unterschied, ob ein Säugling häufig aufgrund des Empfindens von Engung seine Muskulatur verkrampft und seine Arme und Beine eng an den Körper heranzieht. Denn hier zeigt sich das in der Welt Sein eher als ein ständiges erschüttert Sein von heftigem leiblichen Empfinden. Oder ob er eher in einer mittleren Spannung zwischen Engung und Weitung und mit entspannten Gliedern sein Dasein erlebt. Aus diesem Zustand heraus empfindet er zwar hin und wieder Engung, wenn der Hunger groß oder der Schmerz stark ist, aber ansonsten ist er nicht allzu intensiv der Enge des Leibes ausgeliefert. Diese grundsätzlichen leiblichen Regungen zwischen Engung und Weitung beeinflussen die leibliche Disposition des kleinen Kindes. Die leibliche Disposition ist Grundlage dafür, wie persönliche 98 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

23. Mein Körper, mein Leib – Erfahrungen der persönlichen Situation

Lebenserfahrung gemacht und verarbeitet wird. Sie bildet eine angeborene Prädisposition, die jedoch durch das soziale Umfeld noch beeinflusst werden kann. Sie setzt sich aus verschiedenen Aspekten zusammen. Im Vorderrund steht die Vitalität mit den drei Dimensionen Antrieb, Reizempfänglichkeit und Zuwendbarkeit. 1 Der Antrieb meint dabei die Lebendigkeit des Individuums in seiner Fähigkeit, zwischen Enge und Weite hin und her zu wechseln. Die Reizempfänglichkeit markiert die Schwelle, ab der ein Kind Änderungen in der Umgebung (Lautstärke, Farbreize, Gerüche, Berührungen etc.) wahrnimmt. Ob es sich von jeder Kleinigkeit, etwa einem fliegenden Fusel oder einer zirpenden Grille, aus der Ruhe bringen lässt oder manche Reize auch einfach übersehen kann, weil sie gerade für die eigene Situation bedeutungslos sind, wird durch die Reizempfänglichkeit bestimmt. Die Zuwendbarkeit des Antriebs bezeichnet die Möglichkeit des Kindes, sich auf eine bestimmte Sache zu konzentrieren. Es beißt sich mit seiner Aufmerksamkeit sozusagen fest an einer Mücke, die am Fenster einen Ausgang sucht oder an einem Mobile, das es gerade ergreift oder eben nicht. Die leibliche Disposition entsteht in Interaktion mit der Umwelt. Robert Gugutzer beschreibt die leibliche Disposition als eine alle Regungen durchdringende, umhüllende Atmosphäre. Sie ist eine basale leiblich-affektive Anlage einer Person, die er auch als Grundstimmung bezeichnet. 2 Da sie eine individuelle Struktur des Leibes ist, die von sozialer Interaktion geprägt wird und quasi zwischen den Leibern in Einleibung ausgehandelt wird, kann sie durchaus auch von durch starke Affekte geprägte Atmosphären in Familie, Schule oder Kindergarten beeinträchtigt werden. So könnte eine gemeinsam ausgehandelte Grundstimmung in einer Familie durchaus Einfluss auf die leibliche Disposition einzelner Mitglieder haben. Jedes Kind ist täglich mehrmals heftiger oder weniger stark affektiv betroffen; sei es wegen Einsamkeit, Angst, Schmerz, Hunger, Jucken, etc. Es kommt nun darauf an, wie die Umwelt reagiert. Eine ruhige, aufmerksame Mutter bemerkt die leiblichen Regungen früh an den individuellen Ausdrucksweisen des Kindes. Es verzieht vielleicht den Mund, verdreht die Augen, zieht rhythmisch Arme oder Beine an oder windet den Oberkörper hin und her. Wenn die Mutter früh und angemessen reagiert und die Fliege verjagt, die Windel 1 2

Vergl. Hermann Schmitz, System der Philosophie IV, Die Person, S. 296 ff Robert Gugutzer, Leib, Körper und Identität, Wiesbaden 2002, S. 96

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B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

wechselt, Milch bereit hält oder das Kind umherträgt, wird die Engung nicht zu extrem ausfallen. Das Befinden des Säuglings gerät dann rasch wieder in ein Gleichgewicht zwischen Enge und Weite. Wenn die Bezugsperson eine lange Reaktionszeit hat und sich schwer tut, das Befinden des Babys zu deuten, dauert es länger, bis sein Empfinden von Enge wieder in Richtung Weite gelangt. Dementsprechend moduliert der Säugling in der Interaktion mit der Umwelt in den ersten Tagen und Wochen seine leibliche Disposition. Diese besteht einerseits aus seiner individuellen Reizempfänglichkeit, seiner Zuwendbarkeit zu Reizen und seinem vitalen Antrieb. Andererseits beeinflusst die Sensibilität und Reaktionszeit der Mutter, aber auch die Grundhaltung, die der neue Erdenbürger zur Welt hat: Ist jeden Moment eine neue Sensation, eine neue Beeinträchtigung zu erwarten, aus der man mühevoll mit Hilfe anderer wieder heraus gelangt? Oder wird das Dasein eher als schwebender Zustand erlebt, der zwar ab und zu durch eindrückliche Regungen unterbrochen wird, aber ansonsten eine Konstanz in relativem Gleichgewicht zwischen Enge und Weite behält? Leibliche Disposition ist somit eine am eigenen Leib erfahrbare Grundstimmung. Sie kann sich aufgrund besonderer Ereignisse verändern, wenn etwa die Bezugsperson aus bestimmten Gründen (Krankheit, Schicksalsschlag) die Art und Weise der Zuwendung verändert. Oder wenn das Kind selbst eine traumatische Erfahrung macht, die es so stark in Richtung Enge treibt, dass es sich schwer tut, wieder einen rhythmischen Ausgleich zwischen Engung und Weitung zu finden. Das kleine Kind macht also spürend Erfahrungen mit seinem Leib. Es kann Gegenstände ergreifen und kann sich kriechend oder später laufend von A nach B bewegen. Er bietet die Möglichkeit, sich tätig mit der Umwelt auseinander zu setzen. Über den Leib macht das Kind fundamentale Erfahrungen, durch die es sich als ein Selbst spürt. Der Schritt von einem vorreflexiven Betroffensein zu der Wahrnehmung: Das ist mein Schmerz, mein Hunger, meine Freude ist nun entscheidend für die persönliche Situation. In personaler Regression geht das Subjekt in seiner Leiblichkeit auf, Ich und Leib sind eins, es ist sein Schmerz, seine Freude, seine Angst. In personaler Emanzipation kann sich das Subjekt von sich selbst distanzieren. Es betrachtet sich selbst und die eigenen Reaktionen (Weinen, Schreien, um-sich-Schlagen) objektiv. Den entscheidenden Schritt zum personalen Subjekt bildet der Übergang von der personalen Regression zur personalen Emanzipation. 100 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

23. Mein Körper, mein Leib – Erfahrungen der persönlichen Situation

Dieser gelingt jedoch, wie in Teil 1 beschrieben, nur in Begleitung durch eine reifere Person. Nach dem mimetischen Mitschwingen im subjektiven Betroffensein des Kindes eröffnet die Bezugsperson dann umgekehrt beim affizierten Kind die Möglichkeit, die Situation wieder objektiver zu betrachten. Von »Ich bin traurig« gelangt das Kind in die distanzierte Sichtweise des Gegenübers: Ich sehe dein traurig sein, lasse mich aber nicht völlig davon ergreifen, sondern bleibe ruhig, tröste dich und warte, bis du wieder den Überblick über die Situation hast. Diese Selbstdistanzierung in personaler Emanzipation wird erst möglich durch intensives Selbstempfinden in personaler Regression. Das Selbstempfinden ist sehr wesentlich, um sich selbst als unverwechselbare Person wahrzunehmen. Das Kind muss zunächst lernen, diesen Zugang zum eigenen Spüren ernst zu nehmen, was erst allmählich in den ersten zwei bis drei Lebensjahren gelingt. Daher ist es so wichtig, dass es in seinem Selbstempfinden zunächst unterstützt wird. Dies erfordert eine hohe Sensibilität der Bezugsperson, damit sie nicht vor allem das eigene Empfinden auf die Situation des Kindes überträgt. Es erfordert ein genaues Hinspüren, was das Kind jetzt gerade bewegt. Worte dienen hier allenfalls als Krücken, um die Situation zu erfassen. Durch empathische Äußerungen wie: »jetzt bist Du aber traurig, begeistert, etc.« kann das Kind in seinem eigenleiblichen Spüren gestützt und in seiner Wahrnehmung bestätigt werden. Es kann aber auch sein, dass es dadurch von seinem eigentlichen Empfinden abgelenkt wird und ein erwünschtes Verhalten übernimmt. Es ist vielleicht nicht traurig, sondern wütend und auch nicht begeistert, sondern eher unentschieden. Für die Ausbildung der persönlichen Situation ist es daher sehr wichtig, dass das Kind ein authentisches Selbstempfinden entwickeln darf, auch wenn dies nicht immer den Erwartungen des Erwachsenen entspricht (ich habe Angst, ich bin neidisch, ich fühle mich ausgeschlossen, etc.). Das affektive Betroffensein erfordert vor allem eine leibliche Antwort durch das Da Sein, das Mitempfinden des Anderen, der die Gestimmtheit des Kindes aushalten und begleiten kann. Wenn Bezugspersonen diese Empfindungen mimetisch begleiten, ist eine unterstützende Grundlage für dieses Selbstempfinden gelegt. Dies ist damit gemeint, wenn der Erwachsene quasi mit der personalen Regression mitschwingt. Doch im nächsten Schritt lernt das Kind nun, von seinem Zustand affektiven Betroffenseins in Distanz zu sich selbst zu treten und sich selbst aus der Sicht eines Dritten 101 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

wahrzunehmen. Es gelangt einen Schritt aus der tiefsten, Trauer, Verzweiflung, Euphorie heraus in die Haltung: Aha, so fühlt sich also traurig sein, verzweifelt sein, euphorisch sein an und was mache ich nun damit? Da der Erwachsene nicht einfach mitweint oder mitjubelt, sondern selbst ein wenig in Distanz zu dem Gespürten bleibt, merkt das Kind, dass es da eine Alternative gibt, einen Ausweg, eine andere Möglichkeit, die Situation zu gestalten, als nur betroffen zu sein. Zunächst erfährt es ein tröstliches Streicheln, ein rhythmisches Wiegen, eine beruhigende Stimme. Es lässt sich leiblich auf die Bewegungssuggestionen, Gestaltverläufe und atmosphärische Verfasstheit des Gegenübers ein und erfährt eine Veränderung im eigenen Spüren. Die Engung und die Spannung des Leibes lassen nach, der Blick und die Körperhaltung gehen wieder in die Weite. Das Kind spürt, es gibt mich noch, auch jenseits des Schmerzes, der Angst usw. Es lernt sich selbst als jemanden kennen, der betroffen sein kann, aber auch als jemand, der die Situation wieder überblicken und reflektieren kann, sie quasi von außen betrachtet (Ich war traurig, aber jetzt ist es nicht mehr so schlimm und ich kann weiter malen). Dieser Übergang vom leiblichen Selbstempfinden zur geistigen Selbstobjektivierung ist entscheidend, um ein personales Selbst zu entwickeln. Das Kind gestaltet seine persönliche Situation, aus der immer wieder einzelne heiße Affekte, aber auch kühle Überlegungen hervortreten. Immer spürt es jedoch auch: das sind meine Affekte und meine Überlegungen. Das heißt nicht, dass leibliches Spüren und die objektivierende Sichtweise darüber ein rein subjektives Vermögen sind. Natürlich ist die Art und Weise des Spürens sowie der Interpretation dieses Spürens kulturell und historisch verankert. Denn bei der Vermittlung zwischen personaler Regression und personaler Emanzipation agiert die Betreuungsperson ja als Vertreter bestimmter kultureller Vorstellungen, wie man mit Kindern in bestimmten Situationen und ihren leiblichen Regungen umzugehen hat. Er kennt kulturspezifische Formen des Gefühlsausdrucks, die er als Bewegungssuggestion vorgibt. Der Erwachsene wirkt also auf die Ausbildung der leiblichen Disposition des Kindes mit ein. Es erlernt so allmählich einen Stil leiblicher Resonanz auf seine Umwelt, um mit ihren unterschiedlichen Anforderungen und Reizen mehr oder weniger fertig zu werden. Wichtig hierbei ist, dass die Personwerdung aus dem Hin und Her zwischen personaler Regression und personaler Emanzipation gerade nicht ein rein kognitiver Prozess ist. Der Leib als Resonanz102 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

24. Wenn der Leib das Laufen lernt

raum des Spürens spielt eine ganz wesentliche Rolle. Das Selbstempfinden ist ebenso wichtig wie die Selbstdistanzierung. Auch die Vermittlerfunktion des Erwachsenen vollzieht sich über zwischenleibliche Prozesse. Das mimetische Mitschwingen mit dem affektiven Betroffensein des Kindes ist dabei ebenso notwendig, wie die emanzipierte Haltung, die sich nicht in den Affekt hineinziehen lässt. So spürt das Kind atmosphärisch eine mögliche Alternative des eigenen Verhaltens, in die es sich einstimmen kann. Das Kind macht also elementare Schritte bei der Personwerdung nicht allein über kognitive Prozesse oder gar neuronale Verschaltungen (die natürlich beteiligt sein können) sondern vor allem über seinen Leib. Damit Kinder ein Selbst entwickeln, brauchen sie leibliche Lernerfahrungen.

24. Wenn der Leib das Laufen lernt Für jedes Kind, für alle Eltern dieser Welt ist es ein ganz besonderer Moment: Wenn es zum ersten Mal gelingt, in aufrechter Haltung einen Fuß vor den anderen zu setzen und ohne fremde Hilfe die ersten Schritte zu laufen. Der aufrechte Gang ist ein Spezifikum des Menschen. Zwar schaffen es höhere Menschenaffen ebenfalls, ein paar Schritte aufrecht zu gehen. Aber als die grundlegende Fortbewegungsweise ist das Gehen dem Menschen vorbehalten. Indem der Mensch sich von allen Vieren aufrichtet und sich auf zwei Beine erhebt, hat er die Arme frei, um zu handeln und der Blick kann sich in die Weite der Umgebung richten. Dies führt zu personaler Emanzipation. Er kann den Überblick gewinnen und über das Hier und Jetzt hinaus wachsen. Für das leibliche Befinden bedeutet das, sich gleichzeitig fortbewegen zu können und die Umwelt im Blick zu haben. Die Augen und die Hände koordinieren sich zu bestimmten Tätigkeiten: Einen Topf rühren, eine Figur schnitzen, einen Brief schreiben. Der Mensch kommt zu einem zielgerichteten Handeln, das einen Sinn hat weit über den Moment hinaus. All dies ist erst in der aufrechten Haltung möglich. Jedes Kind möchte so schnell wie möglich »groß« sein. Es möchte alleine die Tür öffnen, die Tasche tragen, den Kinderwagen schieben. Das Bedürfnis, auf den eigenen Beinen zu stehen ist sehr stark ausgeprägt. Die Vertikale spielt also eine bedeutsame Rolle im Leben des Menschen. Der Säugling nimmt zunächst meist die horizontale Haltung ein. Da er sich noch nicht fortbewegen kann und noch keine 103 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

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ausgebildete Muskulatur hat, um zu sitzen oder zu stehen, befindet er sich meist in der liegenden Position. In der Horizontale ist der Blick entweder zur Decke gerichtet oder, wenn das Kind auf dem Bauch liegt, zur Unterlage. Die Bauchlage bietet minimale Möglichkeiten, an der Umwelt zu partizipieren. Zwar kann das Kind den Bettbezug riechen, schmecken und fühlen, aber sehen kann er ihn kaum, weil er zu nah ist. Andere Personen oder Dinge sind nur sichtbar, wenn sie direkt vor dem Kopf erscheinen. Das Hören funktioniert dagegen recht gut, außer wenn der Kopf auf der Seite liegt und das Ohr somit abgedeckt ist. In der Rückenlage kann das Kind die Zimmerdecke sehen. Diese Leere ist wenig anregend. Daher hängen Eltern häufig ein Mobile über das Bett, damit das Baby etwas zu sehen oder zu greifen hat. Im Liegen können die Kleinen die Arme bewegen und mit den Beinen strampeln oder Kopf und Rumpf drehen. Da am Anfang die Muskeln nur schwach ausgebildet sind, steigert sich die Beweglichkeit zunächst noch täglich. Welche Mutter hat noch nicht erlebt, wie der Säugling, der gestern noch ruhig auf dem Wickeltisch lag, sich heute bis zum Rande des Abgrundes hingearbeitet hat und beinah herunter gefallen wäre? Es scheint, trotz unterschiedlicher leiblicher Disposition, ein fundamentales Bedürfnis des Menschen zu sein, sich zu bewegen. Bald windet und rollt sich das Kind voran, wenn es eine ebene Unterlage hat. Auch in einer Babyliege halten sich viele Kinder gerne auf, weil der Kopf hier etwas erhöht ist und der Ausblick vielfältiger, als in der Horizontalen. Doch da diese Liege die Bewegung einschränkt, ist die Freude meist nur von kurzer Dauer. Der Säugling hat als Vorbilder zunächst seine Eltern und Geschwister, die sich frei im Raum bewegen können. Er ist darauf angewiesen, dass andere ihn aufsuchen und ihn aufnehmen, füttern, etc. Obwohl ein Kind in diesem Alter seine Abhängigkeit noch nicht reflektieren kann, scheint dennoch sein ganzes Bestreben zu sein, sich ebenso fortbewegen zu können, wie die Großen. So beginnt es irgendwann zu robben und zu kriechen, um an ein Klötzchen oder die Puppe heranzukommen, die da in der Ecke liegt. Zunächst wundert sich der Erwachsene, wie das Kind plötzlich vom Teppich zum ein Meter entfernten Vorhang gelangt ist. Es sind winzige Verlagerungen des Gewichtes, Bewegungen von Armen, Beinen und Krümmung des Rückens, die das ermöglichen. Dann spürt das Kind allmählich, dass man sich mit den Füßen nicht nur von einem Schrank, sondern auch vom Boden abstoßen kann. Das erfordert eine 104 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

24. Wenn der Leib das Laufen lernt

mächtige Anspannung der Beinmuskulatur. Damit es nicht wieder zurück rutscht, muss das Baby Arme und Beine koordinieren. Dies funktioniert meist mit Versuch und Irrtum. Eines Tages hat es den Bogen heraus, wie man die Arme unterstützend einsetzen kann, damit die Beine es besser voran bringen. All das findet das Kind durch eigenleibliches Spüren heraus. Dabei muss der Kopf angehoben werden, damit er am Boden keinen Widerstand bildet. Außerdem will das Kind sehen, in welche Richtung es robbt. Denn meist ist der Anlass der Bewegung ja der Wunsch, sich irgendeinem Gegenstand oder einer Bezugsperson zu nähern. Man fühlt sich leiblich hingezogen zu einem Ort und versucht nun diesen auch zu erreichen. So wird das Kind allmählich geschickter, die Muskulatur kräftiger und die Bewegungen laufen koordinierter ab. Mit einem halben Jahr lernt das Kind allmählich, aufrecht zu sitzen. Es erfordert eine gut ausgebildete Rücken- und Bauchmuskulatur, damit das gelingt. Denn das Rückgrat muss schließlich entsprechend gestützt sein. Schon das Sitzen erfordert eine enorme Spannung. Man sieht es daran, wie Säuglinge anfangs noch häufig zur Seite wegsacken, weil es ihnen zu anstrengend wird. Das Stehen ist erst recht eine regelrechte Herausforderung im Kampf gegen die Schwerkraft. Was einem gesunden Erwachsenen so selbstverständlich erscheint, wird ihm erst bewusst, wenn er leiblich von einem Schwindel erfasst wird und unwillkürlich zu Boden sinkt. In diesem Moment personaler Regression kann man das Gleichgewicht zwischen Spannung und Entspannung nicht aufrechterhalten und erliegt der Schwerkraft: Der Körper sinkt zu Boden. Diese Erfahrung sammelt das Kind beim Laufenlernen ständig. »Erwachsenwerden ist das Streben in und nach der Vertikalen und bedeutet Leiberoberung, Leibbemächtigung.« 3 Dieser Satz von Charlotte Uzarewicz drückt aus, dass jedes Kind sich seinen Leib erst erobern muss. Es reicht nicht aus, die einzelnen Muskeln zu stärken. Es muss zusätzlich ein Gespür dafür entwickeln, wo sich seine einzelnen Glieder befinden und wie sie zusammen wirken. Kräftige Beine sind eine gute Voraussetzung, um auf eigenen Füßen zu stehen. Aber wenn das Kind sein Körperlot noch nicht gefunden hat, kann es nicht frei stehen. Das Gleichgewicht wird nicht allein durch den Gleichgewichtssinn bestimmt, der im Innenohr angesiedelt ist. Dieser wirkt Charlotte Uzarewicz, Über die Räumlichkeit des Sterbens, S. 201–223, S. 207, in: Heinz, Becker, Zugang zu Menschen, Freiburg/München 2013

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B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

nämlich zusammen mit dem eigenen Leibempfinden, das zu einer Art inneren Gleichgewicht führt. Einerseits muss die Richtung des gesamten Leibes nach oben austariert werden. Andererseits erfordert es eine ganz bestimmte Anspannung des Leibes, damit die aufrechte Haltung überhaupt »durchgestanden« werden kann. Ein besonderer Anreiz ist das Vorbild der Eltern, die wie selbstverständlich in der Vertikalen aufgerichtet sind. Es ist eine grundlegende Bewegungssuggestion, aufgerichtet zu sein und aufrecht durch das Leben zu gehen. Dabei kann man davon ausgehen, dass der aufgerichtete Leib in einer bestimmten Balance zwischen Engung und Weitung, Spannung und Entspannung stehen muss. Das Gehen ist nun in seiner Komplexität nicht zu unterschätzen. An dieser Stelle sollen nicht die einzelnen physiologischen Vorgänge beschrieben werden, dazu gibt es genügend Literatur. Es geht hier wieder um das leibliche Lernen beim Laufenlernen. Wenn das Kind aufrecht steht und sich mit einer Hand an einem Stuhl festhält, erhält es meist die Aufforderung eines Erwachsenen, doch herzulaufen. Es wird kurz den Stuhl loslassen und spüren, wie es sich anfühlt, allein auf eigenen Beinen zu stehen. Meist zittern die Knie ein wenig. Wenn das Kind noch nicht soweit ist, wird es nach unten sinken und sich lieber krabbelnd zum Vater begeben. Doch eines Tages kommt der Moment, da es den Impuls spürt, den ersten Schritt wagen zu können. Dies geschieht meist dann, wenn es sich in umfassender Einleibung mit dem Elternteil befindet. Der Vater schaut es intensiv an und redet auf es ein mit ruhiger Stimme. Er öffnet die Arme und macht eine weite, entspannte Geste, die ein Willkommen sein und freudiges Empfangen ausdrückt. Dies wirkt wie eine unwiderstehliche Einladung auf das Kind. Es spürt quasi etwas wie Zuversicht, die vom Vater ausgeht und gewinnt dabei noch an Spannung und Gerichtetheit. So lässt es den Stuhl los und wagt hastig ein paar Schritte in Richtung Vater, bis die Kräfte nachlassen, die Beine wanken und es zur Erde sinkt. Der Vater fängt es womöglich gerade noch auf, schließt es in die Arme und spricht freudig und beruhigend auf es ein. Dieses Aufgefangensein ist extrem wichtig, damit das Kind die Situation nicht als zu riskant und gefährlich einstuft. Sonst wird es den Mut verlieren und für eine ganze Weile keinen Gehversuch mehr wagen. Erlebt es aber Zustimmung, Lob und keine allzu negativen Folgen, außer, ein wenig zu straucheln, wird es gerne bereit sein, dieses Spiel immer wieder zu beginnen. Bei jedem Versuch lernt es, ein 106 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

24. Wenn der Leib das Laufen lernt

besseres Gespür für das Zusammenspiel des Leibes zu entwickeln. Unbewusst probiert es aus, sich weiter nach vorne oder nach hinten zu beugen, große oder kleine Schritte zu machen, die Arme entsprechend als Regulation für das Gleichgewicht zu nutzen. Vor Konzentration hält es vielleicht zunächst die Luft an, ein typischer Ausdruck von Engung. Erst allmählich wird der Leib entspannter sein bei dem Versuch, von einem Ort zum anderen zu schreiten. Um zu laufen, muss das Kind unweigerlich eine Körpermitte, ein Lot finden, von dem aus alle Bewegungen ausgehen. Es ist mehr als eine Koordination einzelner Körperteile, es ist ein umfangreiches Spüren, wie stimmig sich der Leib in Bewegung setzt. Dabei sind immer wieder auch die Bewegungssuggestionen Erwachsener oder älterer Kinder bedeutsam. Dabei schaut es sich nicht etwa einzelne Bewegungsformen an, wie das nach vorne Setzen des linken Beines oder wie dabei der rechte Arm vorwärts schwingt. Vielmehr nimmt es den Gestaltverlauf als Ganzes wahr, eine Figur, die sich leiblich nachempfinden lässt und dann in das eigene Gehen übergeht. Häufig haben Kinder einen ähnlichen Gang wie ihre Eltern, etwa besonders hastig oder ein schlaksiges Schreiten. Hier kann man die Ergebnisse der Einleibung ein wenig ablesen. Das Kind bemächtigt sich also allmählich seines Leibes. Dies ist ein langer Lernprozess, der sich häufig über viele Wochen hinzieht. Erst sind es nur wenige, holprige Schritte, dann kann es allmählich sicherer laufen, bis es auch einmal eine längere Strecke, etwa bis zum Bäcker um die Ecke mit den Eltern mitlaufen kann. Zunächst ist es dabei noch völlig mit sich und seinem labilen Gleichgewicht beschäftigt. Der Blick ist eher zu Boden gerichtet, um das nächste Stück Weg zu überschauen. Die Lippen sind vor Konzentration zusammengepresst, die Hände zu Fäusten geballt, typische Anzeichen von Engung. Erst allmählich nimmt die Konzentration auf das eigenleibliche Empfinden ab und der Blick geht eher in die Weite und das Umfeld. Die Körperspannung nimmt ab und das Gehen wird flüssiger im Verlauf. Das aufrechte Gehen ist ein wichtiger Schritt zur personalen Emanzipation. Wenn das Kind sich ohne weiteres selbst an einen Ort seiner Wahl im Raum begeben kann, bedeutet dies einen enormen Zuwachs an Freiheit und Autonomie. Es ist nicht mehr darauf angewiesen, von anderen getragen oder geschoben zu werden. Das Kind ist weniger gebunden an das Hier und Jetzt. Denn das Hier kann es ja nun aus eigenem Antrieb überwinden, indem es den Ort zum 107 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

Dort wechselt. Dabei gewinnt es neue Perspektiven, die allmählich auch das Jetzt ein Stück weit aufheben. Denn durch den Ortswechsel merkt das Kind irgendwann: eben war ich noch hier und jetzt bin ich dort. Es erlebt eine zeitliche Abfolge, eine erste Erfahrung von Vergangenheit und Zukunft. Vorher war ich da hinten, nun bin ich hier, als nächstes möchte ich nach dort drüben. Es lernt allmählich, sich über den Augenblick zu erheben und Pläne zu schmieden, was es als nächstes erreichen oder tun will. Damit das Laufen selbstverständlich wird, ist es entscheidend, dass Eltern und Erziehende dem Kind auch die Gelegenheit geben, zu gehen. In einem engen, mit Möbeln zugestellten Zimmer ist dies schwer möglich. Es bedarf Räumen mit Aufforderungscharakter: ein langer Flur, ein leerer Raum oder aber eine freie Fläche draußen. Gut für die Leibbemächtigung des Kindes ist es auch, wenn die Spielfläche uneben beschaffen ist. Kleine Kuhlen und Erhebungen, unterschiedlich raue und glatte Oberflächen, Bögen zum darunter durch Laufen und Stege zum darüber Laufen bieten weitere wichtige Erfahrungen, um sich selbst über ein Gelände zu transportieren. Dabei können Beine und Arme so eingesetzt werden, dass sie das Gleichgewicht stabilisieren. Die Spannung des Leibes wird in der Weise aktiviert, dass auch schwierige Positionen eingenommen werden können, ohne aus dem Lot zu kommen. Kinder lieben es, sich Räume einzuverleiben. Einmal habe ich ein Kind in einem Zug erlebt. Es kam in das Großraumabteil, setzte sich mit seiner Mutter auf die Bank und zog die Schuhe aus. Dann schritt es zunächst den Mittelflur ab. Danach bog es bei jeder freien Bank rechts oder links ab, stieg auf die Sitze und schritt sie bis zum Fenster ab. Dann ging es wieder zurück in den Mittelgang und die nächste Bank war dran. Man mochte denken, das Kind turne aus Langeweile im Zug herum. Aber es tat etwas viel Sinnvolleres. Es maß den Raum aus, verleibte sich seine einzelnen Abschnitte, Höhen und Tiefen ein und gewann so Orientierung. Bei solchen Experimenten sind Stürze als kleine Niederlagen so wichtig wie die Erfolge. Denn beim Sturz sinkt das Kind zurück in personale Regression. Es erlebt jedes Mal neu die Herausforderung, wieder aufzustehen, Herr der Lage zu sein und in personale Emanzipation zurück zu finden. Dabei spielen die erwachsenen Begleiter natürlich eine wesentliche Rolle. Auch wenn das Kind schon alleine laufen kann, ist es eine sehr stärkende und tröstliche Erfahrung, immer einmal wieder an der Hand des Vaters oder der Mutter gehen zu dürfen. Dies kann eine 108 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

25. Die Sprachentwicklung als Form der leiblichen Kommunikation

Form von solidarischer Einleibung sein, so zusammen zu gehen, den anderen zu spüren, eventuell ein paar Worte zu wechseln. In dieser gemeinsamen Situation handelt man leiblich eine gemeinsame Geschwindigkeit und Richtung aus. Es könnte aber auch eine antagonistische Einleibung sein, wenn das Kind den Weg und das Ziel nicht kennt und die Mutter eine Richtung und ein Tempo vorgibt, um rechtzeitig an das Ziel zu kommen. Kinder brauchen dann manchmal auch eine Führung, eine klare Richtung, damit die Situation bewältigt werden kann (etwa das Erreichen der Straßenbahn). Denn natürlich gibt es häufig noch Zusammenhänge, die das Kind nicht versteht und gerade im Straßenverkehr muss der Erwachsene Orientierung bieten – auch gegen den Willen des Kindes. Im Prozess des Laufenlernens braucht das Kind immer wieder Ermutigung und Lob. Es ist etwas Besonderes, dass es schon so weit laufen kann und vielleicht schon selbst kleine Dinge erledigen kann, wie etwa einen Becher zum Tisch bringen. So wird es in seiner neu gewonnenen Autonomie gestärkt. Es erlebt, dass es groß ist und nun in der vertikalen Ausrichtung ernst genommen wird als handlungsfähiger Mensch. Der Körper wird dabei zu einem Werkzeug, das nützliche Handlungen ausführen kann, wie etwas von A nach B bringen, etwas aufheben, etwas ablegen usw. Der Leib insgesamt wird zu einem Medium, das die Welt wahrnimmt, ihre Räume einnimmt und erobert und sich ins soziale Geschehen einmischt. Aus dem Säugling, der im Bett liegt und sich nur schreiend bemerkbar machen kann, ist ein Wesen geworden, das sich aktiv mit der Welt auseinander setzen kann. Er ist nicht mehr nur einfach eins mit seinem Leib, der von einem affektiven Betroffensein in das nächste fällt. Die Selbstempfindung mündet nun auch allmählich in der Selbstdistanzierung, da durch die Fähigkeit, den Ort zu wechseln auch ein Perspektivenwechsel möglich wird. Das Kind beginnt zu erkennen, wie es mit den Augen der anderen wahrgenommen wird. Doch dazu benötigt es zunehmend auch die Sprache.

25. Die Sprachentwicklung als Form der leiblichen Kommunikation Sprechen lernen ist ein ebenso erstaunlicher Prozess wie das Laufenlernen. Daher untersuchen andere wissenschaftliche Disziplinen, wie die Sprachentwicklung verläuft. So bestehen Theorien über ein bei 109 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

allen Kindern angeborenes Sprachschema, das nur auf entsprechende Anregung treffen muss, um sich zu entfalten (Noam Chomsky). Oder die Vorstellung, dass Sprache eine Art Dressurakt darstellt, der von den Eltern geleistet werden muss (Ludwig Wittgenstein). 4 An dieser Stelle interessiert jedoch die phänomenologische Ebene der Sprachentwicklung. Im Laufe des ersten Lebensjahres beginnt das Baby zu lallen und unterschiedlichste Töne auszustoßen. Dies erfolgt natürlich auch infolge der Einleibung mit Erwachsenen. Wie bereits in Teil 1 erwähnt, übernehmen Säuglinge sehr früh die Bewegungssuggestionen des Sprechens von Bezugspersonen, etwa Öffnen und Schließen des Mundes, Herausstrecken der Zunge usw. Daher wundert es kaum, dass sie auch damit beginnen, Laute auszustoßen, die zunächst noch wenig mit artikulierter Sprache zu tun haben. Aber es ist ein so »tun als ob« man eben wie die Großen reden könnte. Häufig wiederholen Erwachsene die Laute auch, um dem Kind zu bestätigen: Ich habe das gehört und es gefällt mir. Zunächst ist die Zeigegeste ein wichtiges Element der leiblichen Kommunikation. Es geht dabei nicht nur um den Blickkontakt zwischen Bezugsperson und Kind und die wechselseitigen Konzentration auf die je eigenen Gesichtszüge und Mimik. Vielmehr deutet etwa der Vater auf einen Gegenstand namens Ball und benennt ihn auch laut. Die Einleibung vollzieht sich also zwischen Vater, Kind und Ball. Das Kind folgt dem zeigenden Finger und erkennt, dass die Situation durch ein Objekt bestimmt ist, das zusätzlich zum Vater und ihm selbst anwesend ist. Die Zeigegeste verdeutlicht: Darum geht es gerade. Das Kind wechselt nun den Blick vom Vater zum Ball. Der Vater wiederholt immer wieder den Namen des Objektes. Eines Tages wagt es das Kind, das Wort hervorzustoßen: Ball. Dies ist eine besondere Situation, die viel Mut und Aufmerksamkeit erfordert. Es ist zunächst ungeheuer schwierig, den Wortlaut einigermaßen korrekt nachzusprechen. Das Sprechen des Vaters bildet dabei eine Bewegungssuggestion. Das Kind sieht, wie er Mund und Lippen bewegt und hört die Laute. Es presst die Lippen zusammen für das B und öffnet danach den Mund für das A. Im dritten Schritt drückt es die Zunge an den vorderen Gaumen um ein L zu erzeugen. Gleichgültig, ob beim ersten Versuch nur ein »Ba« gelingt oder ein komplettes »Ball« – es kommt nun maßgeblich auf die Reaktion des Vaters an. Wenn er in diesem Moment einfach weggeht 4

Hermann Schmitz, Die Aufhebung der Gegenwart, Bonn 2005, S. 70 u. 72

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25. Die Sprachentwicklung als Form der leiblichen Kommunikation

oder die Äußerung des Kindes nicht beachtet, hat das Kind kaum Anreiz, das Ganze noch einmal zu versuchen. Doch wenn er den Sprössling verständnisvoll anstrahlt, nickt und vielleicht sogar noch einmal auf den Ball zeigt und die Äußerung des Kindes wiederholt, dann erfährt es eine Resonanz. Der andere hat es nicht nur verstanden, sondern auch wahrgenommen: Du kannst ja Ball sagen, das ist toll. In wechselseitiger Einleibung hat sich diese Verständigung ergeben. Häufig versucht das Kind nun, die Situation nachzueifern. Es zeigt erneut auf den Gegenstand und sagt »Ball«. Der Erwachsene wiederholt so lange immer wieder das Wort und gibt nickend und lächelnd Anerkennung, bis das Kind sicher in der Aussprache geworden ist. Es genießt seinen Erfolg. Kommt dann noch die Mutter oder eine andere Person hinzu, wird stets die neue Errungenschaft präsentiert. Der Vater sagt: Zeig mal der Mama den Ball. Das Kind wird nach kurzem Zögern auf den Ball zeigen und das Wort hervorstoßen. Nun bekommt es zusätzlich von der Mutter Lob und Anerkennung durch ein Nicken, ein Lächeln, ein Küsschen oder einen kleinen Applaus. Die gemeinsame Situation erhält durch die mit Worten begleitete Einleibung einen neuen Sinn. Etwas zu äußern erfordert immer eine gewisse Engung, da ja die Stille der Situation unterbrochen werden muss. Es kann sogar erforderlich sein, die Rede eines anderen zu unterbrechen. Somit muss sich der Sprecher auf das Hervorstoßen der Worte konzentrieren. Wenn dies ein ganz neu erworbener Vorgang ist, erfordert dies mehr Anstrengung als bei einem routinierten Sprecher. Doch immer muss erst der Entschluss gefasst sein, den Raum mit der eigenen Stimme anzufüllen und das kostet Überwindung. Man kann dies gut nachvollziehen bei einem Menschen, der in einem ungewohnten Raum unter fremden Menschen sitzt. Selbst wenn er die gleiche Sprache spricht, erfordert es mehr Überwindung, sich mit Sprache zu explizieren, als wenn es in gewohnter Umgebung mit bekannten Menschen ist. Sprache tritt als engende Geste mit ihrem Schall in die Weite des Raumes ein. Erst im Dialog wechselt dann der Engepol von einem zum anderen, je nachdem, wer gerade das Wort führt und die Situation bestimmt. Und dann kommt irgendwann der große Tag, an dem das Kind vielleicht fast zufällig das erste »Mama« oder »Baba« hervorstößt. Die Eltern sind meist begeistert und das Kind freut sich über die Anerkennung. Nun wird die Zeigegeste wieder bedeutsam, die sich 111 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

immer auf den Gegenstand richtet, der gemeint ist. Immer, wenn das Kind nun beispielsweise die beiden Silben »Baba« ausstößt, zeigt jemand auf den Vater. Der lacht, erhebt die Hände, nickt dem Kind zu und gibt leiblich zum Ausdruck, wie er sich angesprochen fühlt. Nach unzähligen Wiederholungen merkt sich das Kind, dass »Baba« und die Person des Vaters wohl irgendwie zusammengehören. Der Laut bewirkt, dass die Person sich zuwendet, aufmerksam wird und lacht. Irgendwann beginnt der Vater vielleicht, mit dem Finger auf das Kind zu zeigen und zu sagen »Mira«. Wenn er das immer wieder tut und die Mutter ebenfalls, merkt es irgendwann, dass der Laut »Mira« ebenso etwas mit ihm zu tun hat, wie »Baba« mit dem Vater. Irgendwann wagt das Mädchen dann vielleicht, etwas wie »Mia« zu äußern. Die Mutter wiederholt das begeistert und zeigt auf ihre Tochter. Dabei wird sie immer wieder auf die richtige Bezeichnung zurückgreifen, solange, bis das Kind auch das »r« hervorbringt. Nun beginnt das gleiche Spiel und dem Kind gelingt es bereits, zwei Subjekte mit einem Namen zu bezeichnen. Dies hat sich in einem komplizierten Prozess solidarischer Einleibung ergeben, denn die starke Gerichtetheit der Personen aufeinander, das Mitschwingen mit dem Gestaltverlauf der Laute und das Spüren, dass es sich um einen gemeinsamen Akt der Verständigung handelt, ist keineswegs selbstverständlich. Dabei sind das Zusammenspiel von Zeigen, Sagen und die entsprechenden leiblichen Signale von besonderer Bedeutung. Denn wenn das Kind sein erstes Wort hervorstößt und es erhält keine Resonanz, kann es sein, dass es zunächst nicht zur Wiederholung des Sprechens kommt. Wenn die Erwachsenen sein Bemühen nicht beachten, die mühevoll gebildeten Silben nicht imitieren und nicht anhand von leiblichen Signalen deutlich machen, dass es etwas Besonderes, Wichtiges und Erfreuliches ist, wenn das Kind spricht, wird es keinen Anreiz haben, es wieder zu tun. Da Sprache über wechselseitige Einleibung entsteht, wird sie gehemmt, wenn das Sprechbemühen des Kindes als Einbahnstraße erlebt wird. Daher ist es für den Spracherwerb enorm wichtig, dass das Kind nicht nur lebendige Sprachvorbilder hat, sondern auch die entsprechende Resonanz erhält, durch Eltern, pädagogische Fachkräfte oder andere erziehende Personen. Hermann Schmitz bezeichnet den Spracherwerb als ein Hineinwachsen in die Situation der Sprache. Es ist »die Fähigkeit, sich naiv und locker mit Hilfe orientierender, Rahmen setzender und Winke 112 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

25. Die Sprachentwicklung als Form der leiblichen Kommunikation

gebender Erfahrungen, […] in natürliche Sprachen einzuleben […]«. 5 Den Rahmen geben hier die Sprachvorbilder, die Worte und Sätze vorsprechen, aber auch immer wieder bei kleinen Abweichungen Anhaltspunkte geben, wie das Wort richtig klingt. Beim Erstspracherwerb braucht das Kind nicht etwa Grammatikregeln zu pauken, wie man dies beim Englischlernen als Fremdsprache kennt, sondern es wächst sozusagen ganz natürlich in Struktur, Melodie und Regeln der Sprache hinein. Das Wort »einleben« zeigt schon, dass Spracherwerb ein spielerischer Vorgang ist, der im Hin- und Herschwingen zwischen Bewegungssuggestionen, Lauten und leiblich vermittelten Bedeutungen entsteht. Das Sprechen lernen beginnt bereits in der vorsprachlichen Interaktion von Mutter und Kind. Da noch keine Worte zur Verfügung stehen, ist die Mutter darauf angewiesen, aus leiblichen Signalen und Gestaltverläufen beim Kind zu erahnen, ob es nun zufrieden, schmerzgeplagt, müde, hungrig oder einsam ist. Dies erfordert außer Beobachtung ein Hinspüren zum Kind, um feine Nuancen seiner Befindlichkeit zu erkennen. Ebenso lernt das Kind die Bewegungen der Mutter zu lesen als Aufforderung, Beruhigung, Anerkennung oder Ablehnung. Es lässt sich von Bewegungssuggestionen ansprechen und ahmt Bewegungen der Mutter nach. So entsteht bereits ein vorsprachlicher Dialog der Einleibung, ein gegenseitig aufeinander Gerichtetsein und Verstehen. Vorsprachliche Handlungen im Sinne der leiblichen Kommunikation werden auch von Sprachwissenschaftlern wie Colin Trevarthen (1977/79), John Dunn (1982) und auch Jerome Brunner identifiziert. Sie beobachten in der Interaktion von Mutter und Kind wechselseitige Prozesse, die durch Rituale, Blicke, Laute und Gesten Ausdruck finden. 6 Diese bilden die Basis für den Spracherwerb. Erwachsene sprechen mit Kindern anders als mit Erwachsenen. Sie benutzen einfache Worte, kurze Sätze und übertreiben ein wenig bei der Intonation. So wird die Stimme stärker moduliert, indem vor allem hohe, singende Töne verwendet werden, um etwas zu sagen. »Das hast du aber fein gemacht« würde man so zu einem Erwachsenen selten sagen und erst recht nicht mit einer starken Betonung auf dem Das und dem Fein mit einer Anhebung der Stimme. Das Kind stößt zunächst nur einzelne Worte hervor. Dies sind etwa für es rele5 6

Hermann Schmitz, Die Aufhebung der Gegenwart, Bonn 2005, 70 ff Vergl. Gisela Szagun, Sprachentwicklung beim Kind, Weinheim 1996, S. 177 ff

113 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

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vante Nomen: Brot, Hund, Auto, Bett, aber auch Zustandswörter wie heiß, kalt, auf, zu, hoch, runter, da und weg. Dann erst folgen Verben wie essen, schlafen, gehen, winken, weinen, lachen usw. Da die Äußerungen des Kindes zunächst noch sehr spärlich sind, ist es nun Aufgabe des Erwachsenen, den Sinn spürend zu erahnen. Dazu muss er sich keineswegs nur auf die Worte des Kindes konzentrieren, sondern auf seine Mimik, Gestik, Haltung und Gestimmtheit. Er kennt auch bestimmte Gewohnheiten und Vorlieben des Kindes und kann daher aus wenigen Begriffen einen Sinn konstruieren. Ein Kind sagt vielleicht: Sonne weg schlafen. Dies klingt zunächst sehr unzusammenhängend. Doch man kann verstehen, dass das Kind sagen möchte: Die Sonne ist untergegangen, nun wird es dunkel und das bedeutet Schlafenszeit. Da das Kind diese Worte vielleicht schon öfter in dem Zusammenhang geäußert hat, versteht die Mutter, wie sie gemeint sind. Sie paraphrasiert das Ganze mit ihren eigenen Worten. Das Kind kann nun zustimmend nicken oder den Kopf schütteln, um den gemeinsamen Sinn auszuhandeln. Wenn der Sinn von der Mutter zutreffend benannt wurde, versucht das Kind womöglich beim nächsten Mal noch mehr Worte der Mutter zu übernehmen. Der Erwerb der Sprache erfolgt also immer wieder durch die Bewegungssuggestion des Sprechens von lebendigen Vorbildern. Das Kind ahmt nach und schöpft dabei nach und nach einen eigenen Sinn des Gesprochenen. Es handelt sich auch hier um den Versuch einer solidarischen Einleibung. Denn zunächst geht es ja nicht darum, unterschiedliche Positionen zu vertreten, sondern gemeinsam etwas Drittes zu benennen und den gleichen Sinn zu verstehen. Das ständige Wiederholen der Worte oder der kurzen Sätze schwappt zwischen Eltern und Kind hin und her in einem gemeinsam entwickelten Rhythmus und verleiht ein Gespür für Verständnis. Zusätzlich entsteht ein Wir-Gefühl, da sich die Personen in besonderer Weise verstehen. Je besser die Mutter das Kind kennt, desto eher versteht sie auch die Aspekte, die das Kind noch nicht aussprechen kann. Sie fügt diese dann ungefragt dazwischen. Das Kind nickt entsprechend. Damit befreit die Mutter das Kind aus der Engung, sich nicht verständlich machen zu können. Indem es sich verstanden fühlt, gelangt es wieder in Weitung, wenn die Mutter das Problem dann mit dem Kind lösen kann. Sprache entsteht also über intensiven Austausch zwischen zwei Menschen, der nicht nur durch akustische Signale, sondern durch vielfältig wahrgenommene und gespürte Eindrücke und Empfindun114 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

25. Die Sprachentwicklung als Form der leiblichen Kommunikation

gen gekennzeichnet ist. Das Erlernen von Sprache erfordert günstige atmosphärische Bedingungen. So erfordert es einen Raum, in dem abgesehen von dem gesprochenen Wort nicht zu viele andere akustischen Reize in Konkurrenz stehen. Das heißt, es dürfen nicht zu viele unterschiedliche Lärmquellen vorhanden sein. Weiterhin erfordert es ein intensives aufeinander Gerichtetsein, wenn Erziehender und Kind in sprachliche Interaktion treten. Nicht nur das Hin und Her von Worten ist entscheidend. Die Betonung einzelner Worte oder Silben kann ermunternd oder niederschmetternd wirken. Die Lautstärke des Gesprochenen kann einschüchternd oder beruhigend anmuten. Die Stimmlage, der Rhythmus und die Melodie der Worte können eine freundliche und offene Atmosphäre oder ein angespanntes Klima verbreiten. Eine bestimmte Mimik wie Naserümpfen, Augenzwinkern, Stirnrunzeln, Lächeln oder Schmollen, Nicken oder Kopfschütteln betonen die gesprochenen Worte oder relativieren sie etwas. Vielsagend sind auch Pausen oder Schweigen. Je intensiver die wechselseitige Einleibung, desto stärker ist die Chance, beim Gegenüber eine Wirkung zu erzeugen. Beim Sprechen treffen sich die Blicke und sie zeigen, wie sehr man auf die Situation des anderen eingestimmt ist. Die ungeteilte Aufmerksamkeit im Kommunikationsprozess wirkt anregend auf das Kind, weil es so Vertrauen und Zutrauen entwickeln kann, um zu sprechen. Es fühlt sich gehalten. Schwierig für das Kind ist es, wenn entweder zu viele oder zu wenige sprachliche Bewegungssuggestionen angeboten werden. In einer Straßenbahn beobachtete ich eine Mutter, die ihrem zweijährigen die Geschichte sämtlicher Gebäude erzählte, an der die beiden vorbei fuhren. Das Kind wandte sich ab und richtete die Aufmerksamkeit auf die Leute in der Trambahn. Der Wortschwall der Mutter überforderte es. Es hätte kurze Begriffsangebote benötigt wie Haus, Dach, Baum, Auto. Doch die Mutter redete mit der Tochter wie mit einer Erwachsenen. Da dies nicht dem Bedürfnis des Kindes entsprach, klinkte es sich aus der Einleibung aus. Genauso problematisch ist es für ein Kind, wenn es zu wenig Begriffsangebote bekommt. Auf einem Spielplatz ging ein Junge in den Sandkasten und zeigte seiner Mutter aufgeregt die Schippe, den Bagger, den Sand und eine Ameise. Doch die Mutter reagierte nicht auf die Zeigegesten des Sohnes. Sie schien gerade gedanklich an einem anderen Ort zu sein, hatte womöglich große Sorgen. Sie war also für das Kind nicht präsent, obwohl sie anwesend war. Bei der 115 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

Einleibung ist jedoch die wechselseitige Konzentration auf den anderen sehr wesentlich. Durch die mangelnde Aufmerksamkeit konnte die Mutter weder der Zeigegeste des Kindes mit den Augen folgen, noch spiegelte sie die Worte des Kindes zurück. So erfuhr der Junge keine Bestätigung, ob die Mutter ihn verstanden hatte. Sie brachte keine erweiterten Sprachangebote ein, durch die der Junge seinen Wortschatz hätte vergrößern können. Er buddelte dann irgendwann im Sand, ohne zu sprechen. Die wechselseitige Einleibung war für eine Weile erloschen. Sprache beinhaltet somit ganz ausgeprägte Beziehungsaspekte. Wie sehr bemüht sich der andere, mich zu verstehen? Wie deutet er meine Sprachangebote? Nimmt er sie so wahr, wie sie gemeint sind? Tut er sie als banal ab? Misst er ihnen eine besondere Bedeutung zu? Erhalte ich eine Antwort, die mein Sprechen bestätigt oder weiter anregt? Selbstverständlich stellt sich ein Kleinkind nicht bewusst diese selbstreflexiven Fragen. Aber es spürt, wie ernst es der andere mit ihm meint und fühlt sich entsprechend angeregt oder gehemmt, weiter zu reden. Eine Fachkraft in der Kindertagesbetreuung beschreibt dies folgendermaßen: »Also die merken schon, wenn ich jetzt hier zwölf Erzieher habe, wissen sie schon ganz klar zu unterscheiden: Wenn ich den frage, der hört mir zu, der hilft mir oder wenn ich den frage, der sagt nur ja und dreht sich rum«. 7 Die Psychologen Lawrence Alan Sroufe (1979) und Paul Bloom (1990/91) haben festgestellt, dass Kinder im Zustand mittlerer Spannung und bei feinfühliger Betreuung die größten Fortschritte beim Spracherwerb machen. 8 Diese Ergebnisse sprachwissenschaftlicher Untersuchungen bestätigen, wie wichtig eine angenehme, zugewandte Atmosphäre bei der Sprachbildung ist. Wenn sich Kinder zu stark in Engung befinden, weil sie sich beim Sprechen unter Druck fühlen zu sprechen, geraten sie ins Stottern oder werden sprachlos. Wenn Kinder Angst haben, aufgeregt sind oder sich schämen, trauen sie sich nicht zu sprechen, weil sie überfordert sind. Ein mittlerer Zustand zwischen Engung und Weitung bildet also eine günstige Ausgangssituation für das Sprechen. Vergl. Barbara Wolf, Bildung, Erziehung und Sozialisation in der Frühen Kindheit, Freiburg i. B. 2012, S. 327 8 Vergl. Gisela Szagun, Sprachentwicklung beim Kind, Weinheim 1996, S. 194 ff 7

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25. Die Sprachentwicklung als Form der leiblichen Kommunikation

Die Aufgabe von Eltern und Erziehenden ist es daher, für die entsprechende Atmosphäre zu sorgen. Günstig sind zwanglose Situationen, in denen man gemeinsam etwas tut und sich das Sprechen automatisch einstellt. Wenn man zusammen einen Obstsalat macht, müssen verschiedene Gegenstände hin und her gereicht werden, die unterschiedliche Farben und Eigenschaften haben. »Liegt da drüben noch ein flaches Brettchen, damit wir die grünen Äpfel schneiden können?« ist eine auffordernde Frage, die aus der Situation heraus leicht eine Antwort findet. Bewegung und Sprache greifen hier ineinander, weil man beim Sprechen etwas herüber reicht und den Worten Wirkung verleiht. Auch bei Fingerspielen mit den Kindern verbindet sich gemeinsames Tun, gemeinsames Sprechen, Singen und die Teilhabe an gemeinsamen Sinnkontexten. Es stellt eine erstaunliche Leistung dar, wenn ein Kind im richtigen Rhythmus ein Lied mitsingen kann, die korrekten Bewegungen dabei macht und gleichzeitig daran Teil hat, welche Abenteuer der kleine Hase gerade durchlebt. Hermann Coenen schreibt solch intensiven leiblichen Prozessen die Entwicklung von Sozialität zu: »Denn im Begriff des Funktionszusammenhangs von leiblichen Bewegungen wird die Sozialität erst mit Recht das, was mich und dich umgreift. Es ist der Zusammenhang von dem her wir einander und uns selbst verstehen«. 9 Sprache ist also keine isolierte Übung, kein Unterricht, bei dem man einzelne Sätze oder Worte ständig wiederholt. Sie ist ein zwangloses Spiel, das sich so selbstverständlich einstellen sollte, wie die Bewegung. Daher ist Korrektur auch weniger wirksam als immer wieder ein korrektes Vorbild. Lieder, Reime, Klatschspiele, die vor dem Essen, dem Zubettgehen oder bei typischen Alltagshandlungen fast nebenbei die Aktion begleiten, fassen noch einmal kindgerecht und rhythmisch in Worte, was gerade getan wird. Dinge und ihre Bezeichnung, Tun und seine Bezeichnung wachsen zusammen, wenn man selbstverständlich die passenden Worte einfließen lässt und dem Kind die Möglichkeit gibt, diese zu äußern. Dies erfordert viel Geduld. Schnell ist der Erwachsene dem Kind zuvor gekommen, weil er schon ahnt, was das Kind sagen will. Hier abzuwarten, bis das Kind seine eigene Ausdrucksweise zutage fördert, ist ganz besonders wertvoll Hermann Coenen, Leiblichkeit und Sozialität, S. 197–228, in: Hilarion Petzold, Leiblichkeit, Paderborn 1985, S. 213

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B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

für die Sprachentwicklung des Kindes. Also ist Zurückhaltung des Erziehenden ebenso wichtig, wie ein Sprachvorbild zu sein. Aber auch die Gefühle und Stimmungen, die er in leiblicher Kommunikation übermittelt, können ermutigen oder ermahnen, Anreiz oder Hemmung sein für freies Sprechen und Verstehen des anderen. Für den komplexen Vorgang des Spracherwerbs sind also eine vertraute Umgebung, eine Person, zu der eine feinfühlige Bindung besteht und eine angenehme Atmosphäre elementare Voraussetzungen. So erreicht das Kind die Ruhe und Konzentration, um Sprache in mimetischer Nachahmung und wechselseitiger Einleibung zu erlernen. Gerade dann, wenn das Kind in seinem Sprachverhalten beeinträchtigt ist, befindet es sich in personaler Regression, weil es in seinem affektiven Betroffen Sein gefangen bleibt. Daher benötigt es eine besonders feinfühlige Begleitung, um die Lust am Sprechen wieder zu erlangen und viel Ermutigung und Bestätigung, um sich der Welt mitzuteilen. Durch Sprache kann es seine Befindlichkeit zum Ausdruck bringen, kann sich und anderen seine persönliche Situation erklären und Wege finden, wie es diese bewältigen kann. Sprache ermöglicht es, sich die Perspektive anderer zu erschließen und so in Distanz zu sich selbst zu treten. Man kann das eigene Wahrnehmen, das eigene Spüren noch einmal überdenken und gegebenenfalls die Einstellung ändern. Sprache erweitert die Möglichkeiten der personalen Emanzipation, weil man sich aus dem Betroffensein im Hier und Jetzt befreien kann.

26. Sauber werden Ein weiterer wichtiger Entwicklungsschritt passiert dann, wenn Kinder lernen, sauber zu werden. In früheren Zeiten war der Ehrgeiz zunächst darauf gerichtet, dass Kinder möglichst früh keine Windel mehr brauchen. Denn vor dem Zeitalter der Wegwerfwindel war es ein mühsames Geschäft, immer wieder die Windeln zu waschen, zu trocknen und zu glätten. Daher gelang es manchen Müttern schon kurz nach dem Laufenlernen, die Kinder so abzurichten, dass sie abgehalten werden konnten und keine Windel mehr benötigten. Dies war jedoch eher ein Dressurakt, der mit der bewussten Kontrolle der Schließmuskeln noch wenig zu tun hatte. Heute weiß man, dass Kinder etwa zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr in der Lage sind, ihren Körper so zu kontrollieren, 118 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

26. Sauber werden

dass sie bewusst Wasser oder Kot lassen können. Zunächst ist hier wieder das Vorbild des Erwachsenen bedeutsam. Die Kinder bekommen irgendwann mit, dass Eltern keine Windel haben und ihr Geschäft irgendwie anders verrichten. Zunächst sehen sie, dass die Erwachsenen in der Toilette verschwinden, einem kleinem Zimmer mit einem seltsamen Sitz. Irgendwann fragen sie danach, was Papa oder Mama dort machen. Die Eltern können es dann erklären und dem Kind deutlich machen, dass jeder Mensch Stoffe ausscheidet, der eine in der Windel, der andere in der Toilette. Natürlich möchte das Kind auch in diesem Falle »groß« sein und wie alles andere den Eltern die Verrichtungen auf der Toilette nachahmen. Deshalb ist es von großer Bedeutung für eine erfolgreiche Sauberkeitserziehung, dass die Tochter oder der Sohn selbst den Zeitpunkt bestimmen dürfen, wann sie das erste Mal aufs Töpfchen gehen. Da Kinder vor allem durch Anschauung und Selbstaktivität lernen, ist es sicher hilfreich, wenn der Zweijährige entweder einmal mit zur Toilette oder ins Badezimmer genommen wird oder zumindest an der Tür herein schauen darf. Auch bei einem älteren Geschwisterkind kann man zuschauen. Das Kind versteht besser, was da passiert und warum ein Toilettenstuhl praktisch ist. Denn zunächst einmal flößt ja alles, was neu ist, erst einmal ein wenig Angst ein. Dann kann man dem Kind zeigen, wie und warum das erzielte Resultat mit Wasser weggespült wird. Dabei darf es die Sicherheit gewinnen, dass ihm selbst nichts geschieht. Denn womöglich sieht es den Kot noch als einen Teil von sich an und muss die Trennung zwischen sich und seinem Produkt noch vollziehen. Bis das Kind nun selbst so weit ist, seine Exkremente in einer Toilette abzulassen, ist jedoch noch ein weiter Weg. Hermann Schmitz geht davon aus, dass der Mensch erst mit dem aufrechten Gang die entsprechende Spannung in der analen Zone entwickelt, die es ihm ermöglich, bewusst Kot oder Urin zu lassen. 10 Er beschreibt, wie der anale Schließmuskel allmählich durch den Druck des Darminhaltes gedehnt wird und dann den leiblichen Impuls von Engung auslöst. Beim Loslassen des Kots erfährt dann die Leibesinsel um den Enddarm Weitung und es wird meist als sehr angenehm erlebt, wenn das Produkt der Verdauung den Körper verlässt. Schmitz beschreibt diesen elementaren Vorgang so: »Daher bedeutet der Entleerungsvorgang für das Kind wenigstens zeitweise Hermann Schmitz, System der Philosophie Band 2, Der Leib (Teil 1), Bonn 1998, S. 319

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B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

eine eifrig und genießerisch gepflegte Übung.« 11 Das heißt, das Kind erlebt das Ablassen der Exkremente als befriedigend und genießt es, dies an einem ruhigen Ort zu erleben. Dieses leibliche Empfinden können Eltern mit der Zeit den leiblichen Regungen und der Körperhaltung des Kindes entnehmen. Sie sehen, wie das Noch-Windelkind sich vielleicht ein bisschen im Raum zurückzieht und sich nach vorne an einen Stuhl lehnt. Der Gesichtsausdruck wird etwas angespannt und die Hautfarbe ein wenig gerötet, um dann nach einer Weile zu entspannen. Andere Kinder gehen in einer stillen Ecke in die Hocke und stützen vielleicht die Hände unters Kinn. Augenscheinlich vollzieht sich das Kot lassen nicht mehr völlig unbewusst, wie etwa bei einem Säugling. Vielmehr spürt das Kleinkind bereits leiblich die Engung im Unterleib und sucht sich dann einen geeigneten Ort und eine Position, wo es ungestört sein Geschäft verrichten kann. Wenn Eltern dieses Verhalten beobachten, können sie ihr Kind, wenn es sprachlich dazu in der Lage ist, fragen, ob es gerade einen »Stinker« macht. Sie können gezielt mit ihm darüber sprechen, dass die »Großen« dazu auf Toilette gehen und wenn es möchte, darf es das auch. Beim ersten Mal wird alles viel zu schnell gehen und schon ist alles wieder in der Windel. Doch allmählich wird das Mädchen oder der Junge aufmerksamer auf die leiblichen Regungen, wann es Wasser oder Kot lassen muss. Es spürt den Druck der Engung im Darmbereich immer deutlicher und kann ihn von anderen Regungen des Leibes unterscheiden. Eines Tages fragt die Mutter vielleicht früh genug, ob das Kind zur Toilette möchte. Und dann gehen sie dort gemeinsam hin, das Kind wird darauf gesetzt und es gelingt. Doch manche Kinder haben Angst vor der Tiefe des Toilettensitzes oder der ungewohnten Sitzhaltung. Dann können sie nicht entspannen und die Inhalte des Darmes oder der Blase nicht loslassen. In diesem Fall sollte man nicht insistieren, sondern ein anderes Mal den Versuch wagen. Oder man versucht es mit einem niedrigen Töpfchen mit bunten Bildern, das weniger fremd und angsteinflößend ist. Oft setzen sich die Kinder anfangs lieber darauf. Oder die Eltern legen einen Toilettensitz auf die Klobrille, der das Loch in der Mitte etwas verkleinert und eine angenehmere Sitzposition ermöglicht. Auf jeden Fall sind oft mehrere Versuche nötig, bis das Kind zum ersten Mal wirklich seinen Urin oder Kot auf einer Toilette lässt. Wenn es dann geglückt ist, bedeutet dies ein enormes Erfolgserlebnis 11

Ebd.

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26. Sauber werden

für das Kind. Denn es wurde ihm erstmals – vielleicht mit Hilfe der Beobachtung der Eltern – bewusst, dass es gerade muss und konnte das Kot- oder Wasserlassen dann so lang heraus zögern, bis es tatsächlich auf dem dafür vorgesehenen Sitz saß und im entscheidenden Moment loslassen. Wenn dann das Produkt sichtbar wird, erfüllt das die Kinder in der Regel mit Stolz. Die Erziehenden loben das Kind meist ausgiebig und betonen, wie groß es jetzt schon ist. Das Kind konnte einen entscheidenden Schritt bei seiner Leibbemächtigung machen und gewinnt damit an Souveränität über die Vorgänge seines Leibes. Hermann Schmitz betrachtet die Kontrolle über die anale Zone als besondere Leistung des Menschen, die ihm spielerische Sicherheit bei dem Beherrschen der leiblichen Ökonomie, dem Wechsel von Spannung und Entspannung gibt. 12 In der Folge wird es immer wieder einmal passieren, dass das Kind zu spät merkt, wenn es muss und dann geht doch alles in die Windel oder in die Hose. In dieser Situation ist große Nachsicht erforderlich. Denn das Kind lernt ja erst mühsam den leiblichen Prozess, Urin oder Kot mit den Schließmuskeln aufzuhalten. Erst muss es jedes Mal die Engung im Unterleib registrieren, auch wenn es gerade mit anderen aufregenden Dingen beschäftigt ist. Danach darf es dem Impuls, die Exkremente loszulassen nicht direkt nachgeben, sondern muss zuerst zum Toilettenstuhl gehen. Dann gilt es noch die Hose herunter zu ziehen, auf den Sitz zu gelangen und danach die Ruhe und Entspannung zu finden, das Ganze laufen zu lassen. Dies ist zugegeben ein komplexer Prozess, bei dem es anfangs einfach noch häufiger zu Pannen kommen kann. Daher empfiehlt es sich auch, die Sauberkeitserziehung in den warmen Monaten des Jahres zu beginnen, wenn das Kind ohnehin leicht bekleidet ist und es keine allzu große Prozedur erfordert, die Kleidung abzustreifen. Im Winter geht es natürlich auch, aber es ist umständlicher für das Kind. Denn Kinder müssen häufig auch unterwegs relativ plötzlich auf Toilette. Und da ist es schon günstiger, wenn man nur rasch eine Hose abstreifen muss und der Junge rasch im Stehen hinter einem Busch sein Bedürfnis erledigen kann oder das Mädchen an einem diskreten Ort abgehalten wird. Ein entscheidender Punkt bei der Sauberkeitserziehung ist noch, wann auf die Windel verzichtet wird. Tagsüber bedeutet dies für das Hermann Schmitz, System der Philosophie Band 2, Der Leib (Teil 1), Bonn 1998, S. 323

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Kleinkind einen erhöhten Anreiz, achtsam mit den eigenen Leibesregungen umzugehen und im Falle des Falles rasch zur Toilette zu gehen. Solange es die Windel trägt, ist das zwar sicherer für die Eltern, aber es drückt auch ein gewisses Misstrauen in die Fähigkeiten des Kindes aus. Der letzte Schritt bei der Sauberkeitserziehung ist es dann, auch nachts die Windel wegzulassen. Dies kann sicher von Kind zu Kind unterschiedlich gelöst werden. Manche Kinder haben ihre Schließmuskeln so rasch unter Kontrolle, dass man sich bereits nach wenigen Wochen auch nachts die Windel sparen kann. Andere Kinder schlafen so tief, dass sie nicht spüren, wenn sie urinieren müssen. Dies erfordert viel Aufmerksamkeit und Geschick der Eltern. Selbstverständlich sollte das Kind abends vor dem Schlafen zur Toilette gehen. Oft empfiehlt es sich auch nachts, bevor die Eltern schlafen gehen, den Sprössling noch einmal kurz zu wecken und abzuhalten. Der eine oder andere Unfall wird sicher noch passieren. Deshalb lohnt es sich erst, die Windel wegzulassen, wenn das Kind allmählich zuverlässig erwacht, wenn es muss. Das Sauber werden ist ein Prozess, der sehr auf das leibliche Spüren angewiesen ist. Der Junge oder das Mädchen benötigt hier sensible Unterstützung und viel Verständnis. Wichtig ist, dass Kinder bei Misserfolgen nicht beschämt werden. Denn Scham ist ein sehr mächtiges Gefühl, das sicher nicht dazu beiträgt, einen komplexen Vorgang wie das Einbehalten von Kot oder Urin und das zeitgenaue loslassen derselben zu begünstigen. Kinder sollten nicht den Eindruck erlangen, die analen Vorgänge seien eklig oder man müsse sich dafür schämen. Deshalb sollten sie wie beim Laufen lernen immer wieder ermutigt werden und bei einem kleinen Unfall muss kein großes Theater gemacht werden. Die sicht- und riechbaren Produkte werden einfach relativ wortlos entfernt. Ansonsten kann das Sauber werden von einem einfachen Lernprozess, der sich über ein paar Wochen vollzieht, zu einem echten Machtkampf werden. Wenn ein Kind beschämt wird, weil nicht alles sofort so funktioniert, wie gewünscht, kann dies zu Trotzreaktionen führen. Und da die Exkremente deutlich wahrnehmbare Spuren hinterlassen, führt dies dann zu unangenehmen Folgen. Wenn Kinder nach längeren Phasen des Sauberseins plötzlich wieder einnässen oder einkoten ist dies ein Zeichen personaler Regression. Zwar spürt das Kind wahrscheinlich noch, wenn es muss aber es besitzt nicht den inneren Drang, das Bedürfnis unter Kontrolle zu bringen. Die bewusste Kontrolle über Vorgänge des Leibes be122 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

27. Der kompetente Umgang mit Gefühlen

deutet personale Emanzipation. Doch wenn ein Kind unbewusst auf diese gewonnene Autonomie verzichtet, ist dies meist ein Signal dafür, dass seine persönliche Situation aus dem Gleichgewicht geraten ist. Aus irgendeinem Grund benötigt es mehr Beachtung und versetzt sich selbst wieder zurück in den Zustand des Kleinkindes, als es noch umfassend versorgt wurde. Womöglich haben die Erziehenden hier an irgendeinem Punkt ein wesentliches Bedürfnis des Kindes übersehen. Eine liebevolle Zuwendung und ein sensitives Erspüren der Befindlichkeit des Kindes kann hier eventuell mehr bewirken, als eine Klingelhose oder ein Wecksignal. Es könnten aber auch organische Ursachen zugrunde liegen, die man beim Kinderarzt abklären lassen kann.

27. Der kompetente Umgang mit Gefühlen Affektiv betroffen sind Kinder von Anfang an. Sie kommen auf die Welt und sind affektiert von Kälte, Licht, Durst und der Trennung vom Mutterleib. Sie schreien aus Leibeskräften, um diesen Empfindungen Ausdruck zu verleihen. Diese leiblichen Regungen unterscheiden sich aber von dem, was ein Dreijähriges empfindet, wenn es Angst vor dem dunklen Keller, Eifersucht auf das jüngere Geschwister oder Begeisterung über ein Überraschungsei empfindet. Angst, Eifersucht, Wut, Freude, Begeisterung, Neugierde und Liebe bezeichnen wir gemeinhin als Gefühle. Nach unserer Vorstellung sind sie im einzelnen Subjekt verankert und werden sozial vermittelt. Das Kind sieht etwa, wenn der Vater vor Wut tobt und lernt nun, ebenfalls mit dem Fuß aufzustampfen und zu schreien, wenn etwas nicht so läuft wie gewünscht. Es erlebt, wie seine Mutter weint, weil die Oma sehr krank ist und lernt, diese Gemütslage als »traurig« zu bezeichnen. Beim zu Bett gehen streichelt die Mutter zärtlich über das Gesicht der Tochter und sagt: »Ich hab dich lieb«. Diese angenehme Empfindung wird von allen als »Liebe« definiert. Gefühle scheinen also emotionale Befindlichkeiten zu sein, die jeder einmal erlebt oder bei anderen nachempfindet. Nun ist die Frage, ob ein Gefühl wirklich etwas ist, das man als individuellen Zustand in der eigenen Seele finden kann. Davon geht man zumindest aus psychologischer Perspektive aus. Hermann Schmitz behauptet, Gefühle seien kein intimer Zustand der Psyche, sondern Atmosphären, die sich räumlich über dem Menschen aus123 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

breiten. 13 Er beschreibt verschiedene Situationen, etwa wenn ein fröhlicher Mensch in eine trauernde Gruppe hineingerät. Er spürt sofort, dass die Atmosphäre anders ist, als seine eigene Gestimmtheit und wird die eigene Freude noch allenfalls gedämpft zum Ausdruck bringen. Umgekehrt ist es, wenn eine traurige Person auf Leute in losgelassener Heiterkeit trifft. Auch hier spürt sie den Kontrast zwischen dem eigenleiblichen Empfinden und der Stimmung der Gruppe. Entweder er lässt sich von der Atmosphäre mitreißen oder zieht sich bald zurück, da er die Situation als unpassend erlebt. Ähnlich kann in einem Raum ein Klima kollektiver Aufregung, gespannter Erwartung, ausgelassener Albernheit oder steifer Betretenheit herrschen. Die Gefühle ergießen sich nach Schmitz im Raum wie eine schwüle Hitze auf dem Marktplatz der Großstadt oder eine erfrischende Kühle in einer Waldlichtung. Gefühle können sich als Atmosphären über viele Menschen gemeinsam legen und sie ergreifen. 14 Aber auch Gefühle, die man für die Privatsache des einzelnen hält, sind räumlich erfahrbar: Etwa als belastende Schwere, die als Druck auf der Brust erfahrbar ist oder als erhebende Freude, die als Empfindung von Leichtigkeit erlebt wird mit dem Drang, in die Luft zu springen. Die Scham erlebt man beispielsweise als peinliche Situation, in der die Finger aller anklagend auf einen selbst gerichtet sind. Bei Müdigkeit zieht einen die Schwerkraft zu Boden und man möchte in sich zusammen sinken. Nun unterscheidet Schmitz zwischen dem Wahrnehmen des Gefühls als Atmosphäre und der Ergriffenheit davon. 15 Der Mensch gerät häufig in Atmosphären, die er zwar spürt, von denen er sich aber in personaler Emanzipation distanziert. Er teilt nicht die Begeisterung von kreischenden Teenies angesichts des feschen Sängers und er lässt sich auch nicht von der traurigen Stimmung einfangen, die eine Fangemeinde nach dem verlorenen Fußballspiel entwickelt. Wann ergreift aber das Gefühl die Person? In dem Moment, wenn leibliche Regungen sie überkommen. Wenn sie wie ein Sog das leibliche Empfinden der Person einsaugen und sie gegenüber anderen Wahrnehmungen zunächst blind machen. Das ist beim Verliebtsein

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Vergl. Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 2007, S. 292 ff Vergl. Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 2007, S. 293 Vergl. Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 2007, S. 302

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27. Der kompetente Umgang mit Gefühlen

so, man kann dem Geliebten alles verzeihen. In unbändiger Wut dagegen kann man kaum Mitgefühl für ein hinkendes Kätzchen entwickeln. Vom Gefühl ergriffen wird der Mensch, wenn ihm vor Freude das Herz aufgeht, wenn er vor Begeisterung zu schweben beginnt, wenn sich die Wut auf den Magen legt oder die Angst den Nacken steif macht. Gefühle sind leiblich zu spüren, wenn sie einen ergreifen. Gerade Kinder werden von der atmosphärischen Macht des Gefühls ergriffen und durch Bewegungssuggestionen zum Ausdruck ihres Empfindens verleitet. Sie hüpfen vor Freude, stöhnen vor Schmerz, schreien vor Eifersucht und verdrücken sich vor Scham. Der angemessene oder kompetente Umgang mit Gefühlen ist eine Aufgabe, die nicht nur Kinder bewältigen müssen, sondern auch Erwachsene sind ihr ganzes Leben vor diese Aufgabe gestellt. Bei jedem Menschen wirkt sich die Überwältigung durch Gefühle ein wenig anders aus und die leiblichen Regungen unterscheiden sich durchaus in Nuancen des Empfindens. Da Gefühle sehr machtvolle leibliche Regungen auslösen, ist es nicht einfach, Raum und Zeit zwischen die Erregung und das anschließende Handeln zu bringen. Die engenden und weitenden Regungen suchen sich Richtungen, in denen sie ausagiert werden können. Daher erfordert es viel Erfahrung und ein bestimmtes Maß an personaler Emanzipation, um sich nicht völlig vom affektiven Betroffensein leiten zu lassen. Es braucht viel Übung und einen achtsamen Umgang mit sich selbst, um Atmosphären der Gefühle zwar zu empfinden, aber die leiblichen Regungen so unter Kontrolle zu bekommen, dass die Handlungen keine negativen Folgen für sich und andere haben. Wie kann man nun bei Kindern einen solch anspruchsvollen Reflexionsprozess einleiten? Kinder benötigen zunächst eine sensitive Begleitung von der personalen Regression affektiver Betroffenheit in personale Emanzipation. Dabei ist die personale Regression ganz besonders wichtig, damit das Kind tiefe subjektive Erfahrungen mit der Welt macht und sich diese förmlich einverleibt. Andererseits wird es zunehmend bedeutungsvoll, sich immer wieder auch über das Hier und Jetzt des Augenblicks zu erheben und allmählich Vergangenes und Zukünftiges mit in eigene Erwägungen einzubeziehen. Wie es Kinder schaffen, von der personalen Regression mithilfe Erwachsener in personale Emanzipation zu gelangen, wurde bereits in Kapitel 10 genauer beschrieben. Dort ging es jedoch ganz allgemein um affektives Betroffen Sein. Der Umgang mit speziellen Gefühlen hängt natürlich auch mit der kulturellen Akzeptanz von bestimmten Gefühls125 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

ausdrücken ab. Das Kind lernt den Umgang mit Gefühlen am Beispiel seiner Eltern. An dieser Stelle sollen lediglich exemplarisch einige Gefühle angeführt werden, etwa Angst, Wut, Neid, Trauer, Freude, Neugierde und Liebe. Immer wieder hilft hier der begleitende Übergang von personaler Regression zu personaler Emanzipation, der sich bei jedem Gefühl ein wenig anders vollziehen kann. Angst ist ein Gefühl, das Kinder noch sehr offen zeigen dürfen. Die Person wird in die Enge getrieben, weil sie eine Situation nicht einschätzen kann, etwa durch ein Geräusch (Donner), einen Gegenstand (Statue) oder ein Tier, das bedrohlich wirkt, vor allem bei Dunkelheit. Das Kind wird von der Atmosphäre bemächtigt und es sieht zunächst keinen Ausweg. Es verkriecht sich oft in eine Ecke, hält die Augen zu, zittert oder krampft sich eng zusammen. Wichtig ist hier, dass man es bei tatsächlicher Gefahr aus der Situation befreit. Bei Situationen, die das Kind nur nicht richtig einschätzen kann, etwa eine Spinne an der Wand, ist es sinnvoll, sich mit der vermeintlichen Gefahr auseinander zu setzen, um einen angemessenen Umgang zu erlernen. Der Gang in den Keller wird erträglicher, wenn anfangs jemand mitgeht und der Weg gut beleuchtet ist. Wichtig ist, dass man mit dem Kind darüber spricht, wenn es Angst hat. Dies erfordert eine gute Beobachtungsgabe der Erziehenden und entsprechende Einleibung, um zu erspüren, was das Kind wohl so erschreckt. Erst allmählich lernt es, über Gefühle zu sprechen. Man kann es fragen: »Was macht dir Angst?«, sodass es dies genau beschreiben kann. So kann es sein Gefühl einordnen und eines Tages selbst äußern: »Ich habe Angst.« Problematisch ist dies, wenn etwa einem kleinen Jungen schon früh nicht mehr zugestanden wird, ängstlich zu sein. Hier sollte der erwachsene Begleiter wirklich versuchen, empathisch zu verstehen, wie eine Situation auf einen Drei- oder Fünfjährigen wirken kann. Zu frühe Erwartungen, allein mit der Angst fertig zu werden, münden lediglich in personaler Regression und machen das Kind nicht stärker. Wut ist ein sehr heftiges Gefühl, das auch viele Erwachsene nicht gut im Griff haben. Es entsteht eine Engung im ganzen Leib, die zunächst nach einem heftigen Ausbruch verlangt. Es ist, wie wenn ein immenser Druck auf die Person wirkt, der wieder in die Umgebung zurückgegeben werden muss. Deshalb bilden lautes Schreien oder etwas Zerschlagen eine gutes leibliches Ventil, um den Druck wieder abzubauen. Dies wird jedoch im öffentlichen Kontext nicht geduldet. 126 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

27. Der kompetente Umgang mit Gefühlen

Daher wird die Wut häufig total unterdrückt, um dann an unpassender Stelle wieder zum Vorschein zu kommen. So kommt es bei Kindern manchmal vor, dass sie aus Wut, weil das eigene Bild nicht als schön genug empfunden wird, später das Bild eines anderen Kindes zerstören. Oder ein Erwachsener sagt dem Nachbarn nicht die Meinung, weil er zu laut war, sondern dreht am Abend den Fernseher viel zu laut. Der Leib scheint die enorme Spannung durch Wut unbedingt wieder los werden zu müssen. Daher ist es sehr wichtig, das Gefühl der Wut beim Kind anzusprechen und darüber zu reden, wie es sich als Atmosphäre in der Brust oder im gesamten Leib breit macht und mit Macht zum Ausdruck drängt. Wut zeigt häufig deutlich spürbare Merkmale wie rascher Atem, gerötetes Gesicht, angespannte Arme, geballte Fäuste und ruhelose Bewegungen. Es ist wichtig, dass Eltern darauf gelassen reagieren können und sich von der Atmosphäre der Wut nicht einfach einfangen lassen. Sie können auch hier das Kind aus der personalen Regression, die nach sofortiger Entladung verlangt, behutsam heraus führen. Dies geht am Besten, wenn das Kind erst einmal seine Wut benennen darf, auch wenn sie scheinbar unangemessen ist. Es darf dann vielleicht in ein Kissen schlagen, einen Boxsack bearbeiten oder in einem abgeschiedenen Raum die Wut heraus schreien. Wenn der erste Druck abgeladen ist, gelangt das Kind allmählich aus der spannungsgeladenen Engung wieder in Weitung. Der Atem wird ruhiger, die Gesichtsfarbe wieder normal und es kann vielleicht ruhiger darüber sprechen, was passiert ist. Über ein ruhige Begleitung durch die Eltern, etwa geduldiges Zuhören, das Gefühl spiegeln, trösten, erfährt das Kind Bewegungssuggestionen, die es wieder in eine andere gefühlsmäßige Atmosphäre einführen. Es schwingt sozusagen mit den eher gelassenen Reaktionen der Eltern mit, nachdem sie es vorher in seiner Wut begleitet haben. Sobald die Heftigkeit der Wut nachgelassen hat wird es wieder möglich, sich allmählich aus dem Hier und Jetzt zu lösen und sich über die Situation zu überheben. Das Kind merkt dann wieder, dass a) b) c) d) e)

es mit seinem Gefühl nicht allein ist die Wut schmerzhaft aber nicht allmächtig ist die Wut nur vorübergehend ist und sich abschwächt auch andere Menschen von solch unangenehmen Regungen betroffen sind und sie schon überwunden haben die Überwindung der Wut mit der Zeit einfacher wird 127 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

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f)

es selbst nicht die Wut ist, sondern es ist ein Empfinden, das auf es einströmt, von dem es sich aber distanzieren und befreien kann.

Auf diesem Wege gewinnt das Kind wieder Überblick über die Situation, ist der Wut nicht mehr ausgeliefert und kann wieder sozial verträglich handeln. Wut entsteht häufig aus dem Gefühl der Ohnmacht, wenn jemand sich vermeintlich nicht gegen ein Unrecht wehren kann, weil der andere überlegen oder eine Lage aussichtslos scheint. Im Gespräch mit anderen gewinnt das Kind neue Perspektiven und findet Wege, wie es künftig mit der Situation umgehen kann. Kinder werden auch häufig von Neid übermannt. Sie eignen sich die Welt an, in dem sie Dinge und Menschen in ihre persönliche Eigenwelt integrieren. Dabei lernen sie rasch, dass es Dinge oder Menschen gibt, die für sie nicht verfügbar sind. Ein anderes Kind hat einen riesigen Bagger, ein handgeschreinertes Piratenhochbett, es darf auf dem Ponyhof reiten gehen oder es hat einen großen Bruder, der sehr beliebt ist. Kinder spüren ganz schnell, wenn etwas für sie nicht erreichbar ist und das ist schwer auszuhalten. Das Gefühl von Neid ist meist begleitet von einer niederdrückenden Engung, die einen selbst klein und wertlos vorkommen lässt angesichts dessen, über was der andere doch verfügen darf. Dies liegt wohl darin begründet, dass Menschen ihren Wert häufig an äußere Dinge binden, die man besitzen kann. Es ist verständlich, dass man aus dieser »Niederlage«, die ganz leiblich empfunden wird als klein, am Boden liegend oder unsichtbar, rasch wieder heraus kommen will. Manche Kinder nehmen sich dann rasch das Spielzeug oder das Objekt ihrer Begierde und fallen sogleich durch dieses »auffällige« Verhalten auf. Andere fühlen sich einfach schlecht und wissen nicht, wie sie mit dem Neidgefühl umgehen sollen. Manchmal sprechen sie ihre Wünsche aus und erfahren dann, dass es für sie nicht möglich ist, diese Sache zu erreichen. Oft trauen sie sich aber auch gar nicht auszusprechen, was sie so begehren und beneiden andere im Stillen. Neid ist kein besonders anerkanntes Gefühl und doch beeinflusst es auch viele Erwachsene in ihrem Verhalten. Neidische Menschen sind weniger bereit, etwas zu teilen, sei es ihr Glück oder ihr Hab und Gut. Auch hier ist es wichtig, dass Erziehende zunächst das Gefühl zum Ausdruck kommen lassen. Das Kind soll es äußern dürfen, wenn es etwas begehrt, was andere haben und es nicht. Es gilt auch bei diesem Gefühl, es zunächst mimetisch mit zu vollziehen, um dann 128 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

27. Der kompetente Umgang mit Gefühlen

dem Kind die Augen zu öffnen, was es vielleicht selbst hat. Wenn die Erwachsenen sich nicht schockieren lassen von dem Neidgefühl, welches das Kind überkommt, sondern es als etwas annehmen, das eben ab und zu auftaucht und dann wieder verschwindet, gelingt es, gelassener mit dem Gefühl umzugehen. Das Kind lernt dann allmählich das zu schätzen, was ihm zugänglich ist. Es sieht zwar, dass es in der Welt so viele schöne Dinge gibt, aber dass man nicht alles für sich haben kann. Mit Unterstützung der Eltern oder Erziehenden lernt es aber vielleicht auch, für einen Wunsch zu kämpfen, indem man auf andere Dinge verzichtet. Dann findet es seine eigene Strategie, scheinbar schwer zu erreichende Ziele doch zu erreichen. Es könnte etwa Sparen auf ein besonderes Fahrrad oder Reitstunden. Oder andere Dinge verkaufen, um sich etwas leisten zu können. Oder mit viel Geduld die Zuneigung eines Menschen gewinnen, der scheinbar unerreichbar ist. Wichtig ist es, wie bei allen Gefühlen, nicht einfach vom Neid beherrscht zu werden, sondern den Umgang damit zu erlernen. Dazu muss das Kind die leiblichen Regungen wahrnehmen und sich dann entsprechend Unterstützung suchen. Besonders ernst zu nehmen ist bei Kindern das Gefühl der Trauer. Ein Kind kann wegen Dingen oder Ereignissen traurig sein, die ein Erwachsener kaum ermessen kann. Etwa wenn es versehentlich auf einen Marienkäfer getreten ist und dieser nun tot ist. Oder weil die Freundin das Bonbon nicht wollte, das man ihr anbot. Oder weil eine Wolke sich vor den Mond geschoben hat, der eben noch so schön geleuchtet hat. Trauer zieht sich ebenso wie eine Wolke als Atmosphäre über das Gemüt. Trauer drückt den Betreffenden durch die Engung räumlich mit einer gewissen Schwere nach unten. Die Handlungen werden langsamer und die Sprache wird eher prothopathisch, also gedämpft und träge. Bei der Trauer schwingt ein gewisser Ernst als Autorität mit, der nicht ohne weiteres durch eine lapidare Ablenkung durchbrochen werden will. 16 Daher sollten Erziehende mit der Trauer eines Kindes sehr behutsam umgehen. Denn Traurigkeit kann bei Kindern auch bei Ereignissen eintreten, die für Erwachsene eher schwer nachvollziehbar sind. Etwa wenn ein Kind zum Zahnarzt muss, weil es einen Milchzahn gezogen bekommt. Es kann unter Umständen sehr um diesen Zahn trauern, obwohl Erwachsene denken, es sei nur ein Milchzahn, 16

Vergl. Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 2007, S. 293

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der wieder nachwächst. Wichtig ist auch hier, dass man Jungen und Mädchen gleichermaßen in der Trauer begleitet. Denn Mädchen haben nicht von Natur aus ein größeres Bedürfnis nach Trauer. Auch hier sind die sechs Schritte der Begleitung von personaler Regression zu personaler Emanzipation, die in Kapitel 10 beschrieben wurden, sinnvoll. Das Kind soll erfahren, dass es in seiner Traurigkeit ernst genommen wird. Erst wenn die leibliche Regung des Traurigseins als empfundene Enge oder Druck sich wieder löst und die Aufmerksamkeit sich wieder in die Weite richtet, ist das Kind bereit, in personale Emanzipation zu treten. Sollte ein Kind nachhaltig, also über Tage, von Trauer erfüllt sein, sollte man unbedingt in einer fachlichen Beratung abklären, ob ein traumatisches Erlebnis vorliegt, das man vielleicht gar nicht mitbekommen hat. Selbstverständlich ist die Kindheit nicht nur erfüllt von unangenehmen Gefühlen, sondern auch von angenehmen. Dennoch ist es notwendig, diese Gefühle angemessen zu begleiten oder zu würdigen. Wie bereits bei dem Thema Sprechen lernen, Laufenlernen oder Sauber werden besprochen, ist es wichtig, dass man mit einem Kind einen freudigen Moment auch teilt. Wenn das Kind sein erstes Wort hervorstößt, die ersten Schritte geht oder zum ersten Mal auf Toilette war, ist es ganz wichtig, dass Erziehende diese Ereignisse freudvoll würdigen. Man freut sich am Erfolg des Kindes. Solche Momente zu übergehen bedeuten für das Kind, nicht wahrgenommen und in den eigenen Erfolgen nicht ernst genommen zu werden. Nicht umsonst sagt der Volksmund »geteilte Freude ist doppelte Freude«. Der von Freude erfüllte Mensch »möchte springen oder hüpfen; er fühlt sich leicht und beschwingt wie ein Vogel, als ob er fliegen könne (…)«. 17 Das ganze Leben scheint mühelos dahinzugleiten und man fühlt sich fast schwerlos. Manchmal ist das gar nicht so einfach auszuhalten, weil der Erwachsene vielleicht gerade in einer schwierigen Situation steckt. Dennoch ist die Mitfreude mit dem Kind sehr wichtig und kann den Erwachsenen in der wechselseitigen Einleibung auch mitreißen. Es wäre jedenfalls sehr schade, wenn man die kindliche Freude als unbedeutende Naivität abtut und sich in einer arroganten Haltung den kleinen Freuden des Lebens verschließt. Dennoch kann es wertvoll sein, dem Kind auch hier eine gewisse Distanz zu dem Gefühl der Freude zu ermöglichen. Das heißt natür17

Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 2007, S. 294

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lich nicht, dem Kind den Spaß zu verderben. Es bedeutet lediglich, ihm zu zeigen, dass sein Glück nicht von dem neuen Legohaus, einem Päckchen Gummibärchen oder einer bestimmten Fernsehsendung abhängt. Das Kind darf sich über all diese Dinge intensiv freuen und sie genießen. Als Erwachsener sollte man jedoch die Haltung vorleben, dass es keinen Weltuntergang bedeutet, wenn man einmal auf diese Dinge verzichten muss und das eigene Glück nicht davon abhängig ist, ob man ganz bestimmte Dinge haben kann oder nicht. Ein Freudentaumel kann sehr genussvoll sein. Jedoch ist der Alltag auch für ein Kind leichter zu bewältigen, wenn es nicht ständig von himmelhoch-jauchzende in zu Tode betrübte Zustände verfällt. Freude führt sehr weit in Richtung Weite und wird meist als angenehm empfunden. Doch im Alltag ist dann wieder ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen Enge und Weite erforderlich, um Anforderungen und Konflikten gewachsen zu sein, die automatisch immer wieder auftauchen. Deshalb bedeutet es einen gewissen Schutz für das Kind, auch in der personalen Regression der Freude mimetisch aufgefangen zu werden und dann allmählich wieder in personale Emanzipation geleitet zu werden. Denn ein vor Freude überschäumender Mensch kann nur schwer im nächsten Moment wieder für ihn wichtige Entscheidungen treffen. Und dies müssen auch Kinder schon jeden Tag. Ein Gefühl, das als sehr typisch für die Kindheit betrachtet wird, ist die Neugierde. Man sagt Kindern nach, dass sie von einer großen Neugier geleitet werden, wenn sie die Welt entdecken. Da sie ihrer Mitwelt in intensiver Einleibung begegnen, machen sie sich die Dinge ganz individuell zu Eigen. Sie integrieren sie in die persönliche Eigenwelt. Es interessiert sie meist wenig, wenn Erwachsene sie vor der heißen Kerzenflamme, dem scharfen Messer, dem kalten Wasser oder der klebrigen Creme schützen wollen. So gib es wohl kaum ein Kind, das nicht alle Warnungen in den Wind schlägt und eben doch in die Kerzenflamme greift, sich in den Finger schneidet, sich am Wasserhahn völlig durchnässt oder Creme auf die Kleider schmiert. All diese »ungehorsamen« Verhaltensweisen sind geleitet von einer unbändigen Neugierde. Sie resultiert aus einer Engung, die durch eine starke leibliche Spannung gekennzeichnet ist. Eine gelblich züngelnde Kerzenflamme ist ebenso unwiderstehlich, wie dieses fließende Etwas, das in rauen Mengen aus dem Wasserhahn strömt oder das Messer oder die Hautcreme, mit denen sich die Mutter so intensiv beschäftigt. Es scheint fast unmöglich, diesem engenden Impuls der Neugier zu widerstehen. 131 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

Gerade weil Kinder leiblich lernen, genügt es eben nicht, gesagt zu bekommen, das ist eine Kerzenflamme und die ist heiß. Jedes Kind möchte sich diesen Gegenstand einverleiben, indem es ihn intensiv betrachtet, riecht, spürt – und sich dann die Finger verbrennt. Ein Kind kann nur erleben, was heiß, nass, scharf oder klebrig ist, verstehen kann es das nicht. Mit seinem Leib verinnerlicht es all diese Eigenschaften und speichert sie im Leibgedächtnis. Dies ist weniger ein kognitiver Vorgang als ein durch Wiederholung und Auseinandersetzung in den Gliedmaßen gespeicherter Vorgang. Laut dem Psychologen Thomas Fuchs werden Informationen nicht einfach im Gehirn gespeichert, sondern eine Person erwirbt das Vermögen, eine Handlung zu reproduzieren. 18 Es werden integrale Bewegungs- und Wahrnehmungsgestalten gebildet, die mit Bedeutungs- und Sinngehalten gekoppelt werden. Man erkennt das Leibgedächtnis etwa daran, dass man Fahrradfahren oder Klavierspielen nicht völlig verlernt. Der Leib ruft diese Bewegungsmuster immer wieder ab. Und zum Glück ist die Neugierde des Kindes so groß, dass es sich sogar über die Verbote der Eltern hinwegsetzt. Sonst könnte es nicht lernen, die Welt nicht erforschen und für sich erobern. Jedes Kind muss einmal von irgendwo oben herunter gefallen sein, sei es vom Hochbett oder einem Klettergerüst, um das reißende Gefühl des Fallens kennen zu lernen, das künftig dafür sorgt, besser aufzupassen. Blutende Wunden zeigen dem Kind, wie strapazierfähig sein Körper und seine Haut ist – oder eben nicht. Die erfahrene Engung dieser Momente entwickelt im Kind erhöhte Aufmerksamkeit in bestimmten Situationen. Die Neugier ist tatsächlich eine Gier, die sich quasi in der Hand, dem Finger oder im Fuß verlängert und den Leib zwingt, in Kontakt mit einem Gegenstand, mit der Welt zu treten. Sie ist von leichtem Herzklopfen, einer gewissen Spannung, einem Kribbeln in den Fingern begleitet, die das Ganze zu einem besonderen Moment macht. Mit hoher Konzentration und starker engender Tendenz nähert sich das Kind dem Objekt seiner Begierde und nimmt es so lange auseinander, bis sein Hunger nach Erfahrung und Erkenntnis befriedigt ist. Im Unterschied zu älteren Kindern oder Jugendlichen, die ihre Mutproben eher gegen gesellschaftliche Konventionen richten, stellen Kleinkinder zunächst die physikalischen Gesetze auf die Probe. Fällt der Schnuller immer wieder herunter? Schneidet das Messer 18

Thomas Fuchs, Das Gehirn, ein Beziehungsorgan, Stuttgart 2013, S. 172

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27. Der kompetente Umgang mit Gefühlen

auch einen Stein? Geht eine Vogelfeder im Waser unter? Brennt das Blatt Papier ebenso wie das Plastikmännchen? Auffällig ist dabei, wie sehr das Kind in einer solchen Situation die Umwelt um sich herum vergisst, weil es sich so konzentriert in intensiver Einleibung mit dem Gegenstand befindet, dass es nichts anderes mitbekommt. Es erschrickt regelrecht, wenn die Erzieherin es am Wasserhahn erwischt, mit dem es gerade den Waschraum überflutet. Man könnte auch sagen, wer gerade neugierig ist, befindet sich in personaler Regression, denn man ist so ergriffen von dieser Gier, dass man andere Aspekte ausblendet und jeden vernünftigen Rat ausschlägt und es trotzdem probiert. Manchmal bringt Neugierde grundlos das eigene Leben in Gefahr, meist jedoch mit nicht allzu schlimmen Folgen, wenn ein Erziehender in der Nähe ist, der diese Attacken der Neugierde in angemessene Bahnen lenkt. Das Gefühl der Neugier kann von Erwachsenen ebenso begleitet werden wie oben beschrieben. So lernt das Kind, mit der Neugier angemessen umzugehen und sich nicht unnötig in Gefahr zu bringen. Aber eine gewisse Neugierde ist auch notwendig, um sich mit der Welt auseinander zu setzen. Daher ist es für das Lernen sogar notwendig, das Kind in seiner Neugier zu unterstützen. So kann es in Einleibung mit der Umwelt interessante Dinge und Personen in seine persönliche Eigenwelt integrieren und wichtige Lernerfahrungen machen. Bereits verinnerlichte Sachverhalte kann es dann in die persönliche Fremdwelt entlassen, um sich wieder neuen Dingen zuzuwenden. Doch bei Gefahr muss der Erwachsene natürlich trotzdem eingreifen und die Wissbegier zwar würdigen aber dennoch das Kind wieder von personaler Regression in personale Emanzipation führen. Bei Kindern, die noch nicht sprechen können kann man den ungefährlichen Umgang mit einer Sache immer wieder zeigen oder vormachen. Oder man muss sie einfach entfernen, weil das Kind noch nicht in der Lage ist, gefahrlos damit umzugehen. Bei älteren Kindern kann man darüber sprechen, was sie am Feuer oder an einem Messer so interessiert. Dann kann man Möglichkeiten suchen, wie sie ihre Neugierde befriedigen können, ohne sich zu gefährden. Wenn sich ein Junge beim Obst schneiden in den Finger geschnitten hat, kann man nochmal genau erklären und vormachen, wie man das Messer und das Obst hält bzw. bewegt, damit man nicht den Finger erwischt. Er lernt dann, seinen Impuls der Neugierde ein wenig zu bändigen und sich erneut seines Leibes zu bemächtigen, indem er bestimmte Bewegungen langsamer, vorsichtiger oder präziser macht, damit das 133 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

Schneiden gelingt. Dies erfordert ein genaues Hinspüren in die Finger, die Hände, die Arme und das Zusammenwirken des Leibes bei diesen Vorgängen. Auch hier wird es durch Bewegungssuggestionen, Gestaltverläufe und ergänzende Worte des Erwachsenen geleitet. Idealerweise lernt das Kind dann allmählich, seine Neugierde anzunehmen, sie aber dann in personaler Emanzipation so einzusetzen, dass es sich nicht gefährdet oder bestehende Regeln allzu sehr verletzt. Das wichtigste Gefühl für jeden Menschen ist die Liebe. In der Hospitalismus-Forschung hat man festgestellt, dass Säuglinge trotz der Versorgung mit Nahrung, Kleidung und Hygiene umkommen, wenn sie keine liebevolle Zuwendung erfahren. Liebe bedeutet als einzigartiges Subjekt erkannt zu werden. Ein Kind erfährt die Liebe zunächst von den Eltern, indem es fast bedingungslose Zuwendung, Sorge und Pflege erhält. Allmählich lernt es jedoch, die Sprache der Liebe, die überwiegend leiblich vermittelt wird, mimetisch nachzuahmen. Es spürt den liebevollen Blick von Vater oder Mutter, das zärtliche Streicheln über den Kopf, das schützende in den Arm nehmen. Auch die Liebe kann man als eine Atmosphäre bezeichnen, die sich wie ein wärmendes Licht um die Anwesenden legt und sie angenehm berührt. Vor Liebe scheint das Herz zu hüpfen, der ganze Leib wird leicht und frei und die leibliche Ökonomie verlagert sich in Richtung Weite. Von Liebe Ergriffene wenden sich dem anderen um seiner selbst willen zu, ohne zweckgerichtete Interessen. Die Liebe von Eltern zu Kleinkindern ist idealerweise selbstlos wie die Agape, die nur auf das Wohl des anderen gerichtet ist. Erst mit der Reifung der Person spielt auch eine Gegenseitigkeit mit, die Philia, die eine Wertschätzung von Eltern und Kind einschließt. Die erotische Liebe (Eros) ist latent vorhanden im Sinne des Ödipus-Komplexes, und wird in Form von kleinen Flirts oder auch Konflikten bezüglich der Geschlechterrolle zwischen dem Sohn und der Mutter oder dem Vater und der Tochter ausgelebt. Schon in den ersten Wochen kann das Baby ein Lächeln erwidern. Dies ist womöglich zunächst noch unbewusst. Doch allmählich erhalten seine Blicke, Gesten und die Mimik Bedeutung. Es verwendet die Geste des liebevollen Blickes, des zärtlichen Streichelns ebenfalls, um der Mutter gegenüber Zuneigung auszudrücken. Wenn die Bindung zwischen Mutter und Kind bzw. Vater und Kind einigermaßen sicher ist, kann es auch andere Menschen lieben. Denn es bedeutet immer einen Akt des Vertrauens, auf einen anderen zuzugehen, ihn anzusprechen oder sich ansprechen zu lassen. Wenn ein 134 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

27. Der kompetente Umgang mit Gefühlen

Mädchen eine gewisse Sicherheit hat, geliebt zu sein, kann es sich auch anderen Menschen öffnen, obwohl das Risiko, verletzt zu werden, immer latent vorhanden ist. Die Liebe ist wahrscheinlich das einzige Gefühl, zu dem grundsätzlich keine Distanz erforderlich ist. In ihrer gebenden und wertschätzenden Form unterstützt sie den Übergang von personaler Regression in personale Emanzipation, indem sie das Kind in seinem Sosein ernst nimmt. Sie fängt die personale Regression auf durch mimetisches Mitempfinden und tröstende Bewegungssuggestionen, um es dann durch Einleibung in den Zustand personaler Emanzipation mit zu ziehen. Das Gefühl der Liebe führt nur dann in personale Regression, wenn es sich um ein Verliebtsein im Sinne der sinnlich-erotischen Liebe handelt. Verliebtsein kann in extreme personale Regression münden, weil der Leib überflutet wird von Empfindungen wie Schmetterlinge im Bauch und einem hüpfenden Herzen. Das Hingezogen sein zum anderen wird so stark erlebt, dass das Leben ohne den anderen zunächst kaum auszuhalten ist. Alles Spüren ist vom Leib des anderen erfüllt und sehnt sich nach seiner Berührung. Manche Verliebte erleben sich als einen Leib mit zwei Köpfen. Alltägliche Verrichtungen erscheinen sinnlos und leer ohne den anderen. Verliebt sein kann sowohl als Engung erlebt werden in der starken Sehnsucht und der fundamentalen Betroffenheit durch die Liebe des anderen. »Es haut einen um«. Andererseits führt sie in extreme Weitung, denn oft sind Verliebte auch von einer Leichtigkeit erfüllt, die alles andere unwichtig erscheinen lässt. In solchen Phasen ist es eher schwierig, vernünftige Entscheidungen zu treffen, da eine Balance zwischen Engung und Weitung schwer zu finden ist. Das Auswandern nach Australien scheint eine Kleinigkeit zu sein, wenn man nur in der Nähe der geliebten Person sein kann. Für andere Konsequenzen ist man zunächst blind. Verliebtsein führt daher zeitweise zu personaler Regression. Daher ist es ein Zustand, bei dem es im Grunde sehr wichtig ist, hin und wieder von einer Bezugsperson in personale Emanzipation begleitet zu werden. Doch die Liebe als grundlegende Zuneigung, Wertschätzung und Anerkennung ist eine Atmosphäre, die Menschen in ihrer Entwicklung eher positiv unterstützt. Hermann Schmitz beschreibt eine solche Liebe als ein »Behagen, sich getragen und geborgen zu fühlen in der Liebe eines Menschen«. 19 Sie schützt und hilft bei Zuständen 19

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extremer Engung und umfängt bei dem Erleben übermäßiger Weitung. Im Grunde wird ein Kind, das sich in einer Atmosphäre gleichbleibender Liebe geborgen weiß, immer wieder in die Mitte zwischen Engung und Weitung, Spannung und Entspannung geführt. Dadurch gelingt ihm zunehmend der Übergang von personaler Regression zu personaler Emanzipation und es kann im Laufe der Zeit ein achtsames Leben führen, das durch besonnene und mitfühlende Entscheidungen geprägt ist. Dabei weiß es sich auch dann geborgen, wenn es leiblich zutiefst ergriffen ist von affektiver Betroffenheit. Dementsprechend tragen Kinder, die selten eine Atmosphäre von Liebe erfahren haben, ein Handicap mit sich, weil sie das umfassende in Liebe Gehaltensein als leibliche Erfahrung kaum gespürt haben. Dies kann dazu führen, dass sie seltener die Balance zwischen Engung und Weitung finden konnten und häufiger in personaler Regression gefangen sind, da sie nicht in dem Maße in personale Emanzipation begleitet wurden. Jedoch sind die Reaktionen sehr individuell und es hängt von der Resilienz des einzelnen Kindes ab, wie es mit zeitweisen Erfahrungen von Liebesentzug umzugehen lernt.

28. Die Entwicklung von Sozialkontakten Wenn das Kind sich bereits mit der eigenen Gefühlswelt auseinandergesetzt hat, bildet dies eine gute Voraussetzung, um in Kontakt zu anderen Menschen zu kommen. Es ist bereits vertraut mit den Atmosphären, durch die es ergriffen werden kann und ist damit in die Lage versetzt, auch empathisch nachzuempfinden, wie es anderen in der gleichen Situation geht. Vor dem zweiten Lebensjahr spielen Kinder meist noch für sich alleine oder nebeneinander. Sie sind noch intensiv damit beschäftigt, in kindlicher Neugier ihre persönliche Eigenwelt zu erweitern. Dies geschieht anfangs vor allem mit unterschiedlichen Objekten. Am Anfang lernen Kinder den Umgang mit einer Rassel, einem Ball, einer Quitscheente oder einem Kuscheltuch. Den Säugling interessiert das Objekt zunächst rein oral, er nimmt alles in den Mund und muss es dazu entsprechend greifen können. Dann schmeckt und fühlt er mit Gaumen, Zunge und Lippen den Gegenstand und verleibt sich seine Merkmale förmlich ein. Er spürt dabei vor allem grundlegende Qualitäten wie weich, hart, körnig, glatt, fest, nachgiebig, salzig, sauer, süß, kalt, warm, feucht, trocken, ohne dies begrifflich artikulieren zu können. 136 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

28. Die Entwicklung von Sozialkontakten

Sobald er sitzen oder stehen kann, untersucht er die Dinge vor allem auf ihre physikalischen Eigenschaften. Besonders interessant sind Dinge, die sich aufeinander stapeln lassen oder sich in Einzelteile zerlegen lassen, wie etwa eine Babuschka. Solche Gegenstände haben den Vorteil, dass sie oft gleiche Eigenschaften vorweisen. Klötze sind meist in Würfelform und lassen sich immer wieder gleich aufeinander stapeln. Eine Babuschka kann immer wieder auseinander genommen und zusammengesetzt werden. Es erfordert zunächst viele Versuche, damit der Turm nicht gleich beim dritten Klotz umfällt, denn das Kind lernt über Versuch und Irrtum, wie die Statik funktioniert. Es entwickelt ein Gefühl dafür, wann der Turm stehen bleibt und ab wann er kippt oder wie viele Klötze man gefahrlos aufeinander setzen kann. Auch bei der Babuschka ist räumliches Gespür notwendig. Das Auseinandernehmen ist einfacher. Doch auch hier muss das Kind eine gewisse Kraftanstrengung aufbringen, um die Teile zu greifen und auseinander zu ziehen. Diese muss es zunächst leiblich einschätzen lernen. Am Anfang zieht es vielleicht zu fest und die Teile fliegen auseinander. Oder es arbeitet so zaghaft, dass gar nichts passiert. Das Zusammenstecken der Babuschkas ist dann wesentlich schwieriger. Es muss mit dem Blick abschätzen, welche Teile zusammen passen. Trotzdem erwischt es manchmal unterschiedlich große Teile. Danach müssen die Teile genau parallel zusammengeführt werden, weil sie sonst verhaken und sich sperren. Auch hier ist wieder der angemessene Kraftaufwand entscheidend. Mithilfe seiner unbändigen Neugier macht das Kind unzählige Versuche, bis es Erfolg hat und alle Babuschkas in der großen Außenhülle verschwunden sind. Der Vorteil bei dieser Einleibung ist die Tatsache, dass das Gegenüber in seinen Eigenschaften konstant bleibt. Das Spielzeug bleibt konstant in Farbe, Form und (Un-) Beweglichkeit. Bei Menschen ist das anders. Wenn ein Einjähriger einem anderen Kind gegenüber sitzt, ist es meist sehr erfreut, einen »Artgenossen« gefunden zu haben. Mit linkischen Bewegungen berührt oder umarmt er den anderen. Weil die Gebärden anfangs noch unsicher und nicht unbedingt zart genug sind, damit sie das andere Kind das als angenehm empfindet, wird die Begegnung rasch ungemütlich und es gibt Tränen. Die Atmosphäre ist zugleich bestimmt von Freude, Erstaunen, Überraschung, Erschrecken, Angst und Schmerz. Dies sind Merkmale der personalen Regression. Anders als bei der Begegnung mit Erwachsenen gibt es keinen Partner, der in personaler 137 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

Emanzipation die gemeinsame Situation einschätzt, überblickt und strukturiert. Beide Kleinkinder wissen noch nicht, wie man einander begegnet. Erst allmählich lernen sie, wie nah man einem anderen kommen darf, wo und wie fest man ihn berühren kann, ohne dass er Unwohlsein oder Schmerzen empfindet. Die Einleibung ist hier wesentlich schwieriger, weil ein anderer Mensch keine so konstanten Eigenschaften mitbringt wie ein Spielzeug. Das andere Kind kann gerade Zahnschmerzen haben und weint, wenn man es nur anschaut. Ein anderes Mal ist es froh gelaunt und lässt sich sogar an den Haaren ziehen. Jedes Kind muss erst mühsam lernen, die unterschiedlichsten leiblichen Signale des Gegenübers zu deuten. Winzige Nuancen im Blick, im Gesichtsausdruck, der Haltung, der Körperspannung, der Stimme können schon ein Zeichen dafür sein, ob man sich angemessen nähert, oder ob es dem anderen zu heftig, zu zaghaft, zu langweilig oder zu erschreckend ist. Während die Mutter sich dem Kind in der Regel in personaler Emanzipation nähert und dem Kind leiblich eher die Richtung für die leibliche Kommunikation weist, müssen Kinder die Interaktion erst aushandeln. Meist ist der Bann gebrochen, wenn sie das erste Mal miteinander gelacht haben. Bei Kindern setzt das Lachen meist bei Entspannung nach einem kurzen Moment erlittener Furcht ein. 20 Bei der Verwandlung von Vertrautem in Überraschendes, wie etwa den Zusammenbruch eines Turmes in viele einzelne Klötze müssen Kinder häufig lachen. Das Lachen führt von der Enge des kurzen Schrecks in die Weite der Entspannung und macht auch paradoxe Situationen erträglich. Es kommt vor, dass ein Mädchen, das aus Versehen ein anderes angerempelt hat, sich selbst einen kleinen Schlag verpasst, um zu zeigen: Jetzt habe ich mir auch wehgetan und wir sind jetzt in der gleichen Lage – ich bin wie du. Es kann sein, dass beide über diese paradoxe Handlung so erstaunt oder belustigt sind, dass sie sich vor Lachen biegen. Dann ist eine angenehme Grundstimmung geschaffen. Das Spiel: »Ich bin wie du« wird gerne fortgesetzt, indem beide Mädchen nacheinander die gleichen Grimassen schneiden, sich hinter einem Regal verstecken und wieder hervor schauen. Wenn dies symmetrisch geschieht, haben wir es mit solidarischer Einleibung zu tun. Die Mädchen erfahren sich leiblich in synoVergl. Hermann Schmitz, System der Philosophie Band 4, Die Person, Bonn 1990, S. 121

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nymen Bewegungsverläufen und erleben ihr Verhalten als eine wechselseitige Entsprechung. Dies führt zu einer momentanen Verlässlichkeit des Gegenübers. Trotz der vielen diffusen Eigenschaften, die ein menschliches Subjekt hat, erkennt man im anderen gewisse eigene Anteile wieder, die bekannt und nicht fremd sind. Man neigt sich einander zu und empfindet Zuneigung. Man traut sich, der anderen nahe zu kommen und das schafft zunächst Vertrauen. Im nächsten Moment werfen sich die Mädchen vielleicht Gegenstände zu. Ein Kuscheltier, ein Kissen, ein Holzauto. Auch dies sind Formen der solidarischen Einleibung in dem Sinne: Du gibst mir – ich gebe dir. Erst wenn die Gegenstände härter werden und ein Kind vielleicht jäh am Kinn getroffen wird, kippt die Atmosphäre. Ein Mädchen ist von Schmerz betroffen und fängt an zu weinen. Das andere spürt, dass sich die Situation geändert hat, weiß aber noch nicht so recht, was es tun soll, denn die laute Stimme des weinenden Mädchens wirkt erschreckend. Es kann sein, dass es durch die Bewegungssuggestion des Weinens mitgerissen wird und sozusagen »mitweint«, ohne selbst Schmerzen zu haben. Oder es zieht sich aus der Affäre, um der unangenehmen Situation zu entgehen: Es rennt weg. Erst nach viel Erfahrung in ähnlichen Situationen gerät es in die Lage, empathisch zu sein, mit zu empfinden und eventuell zu trösten oder sich zu entschuldigen. An dieser kleinen Situation kann man erkennen, wie schwierig es für Kinder ist, einen anderen Menschen in seinem Verhalten einschätzen zu lernen. Gemeinsame Situationen von Kindern gestalten sich besonders komplex, weil sie noch nicht so berechenbar sind wie bei Erwachsenen. Der durchschnittlich sozialisierte Erwachsene hält sich an bestimmte Verhaltensregeln, Normen und Rituale und nimmt spezifische Rollen ein. So lässt sich sein Verhalten wenigstes zu einem gewissen Grade voraussehen. Er befindet sich häufiger im Zustand personaler Emanzipation und lässt sich nicht von jedem ungewohnten Verhalten irritieren. Trotzdem bedeutet es auch für Erwachsene immer wieder eine Herausforderung, neuen Menschen zu begegnen, neue Kontakte zu knüpfen und Beziehungen einzugehen. Denn die doppelte Unsicherheit, was will der andere und wie soll ich ihm begegnen oder reagieren, bleibt immer erhalten, auch wenn sie durch Konventionen und Begrüßungsrituale überspielt werden kann. Kinder handeln noch viel spontaner und impulsiver. Sie sind als Subjekt der Einleibung nicht einfach einzuschätzen. Plötzliche Bewegungen oder ein lauter Ausruf können die Unsicherheit steigern, 139 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

wie man zum anderen Kontakt aufnehmen soll. Dafür lassen sie sich aber viel leichter auf Bewegungssuggestionen und solidarische Einleibung ein. Sie schätzen die Begegnung mit dem anderen weniger nach kognitiven Mustern ab, sondern eher phänomenologisch. Es ist die unbewusste Frage: Was spüre ich, wenn da jemand auf mich zukommt? Ist es Neugierde, Freude, Beklommenheit, Aufregung, Angst, Abneigung? Dabei wirkt ein anderes Kind in seinem gesamten Gestaltverlauf. Ist es besonders groß oder klein, sind die Bewegungen ruhig oder hektisch, spricht es schnell und eindringlich oder langsam und leise. Dieser Gesamteindruck bewirkt eher engende Zurückhaltung oder weitende Offenheit. Aber auch einzelne Merkmale können bedeutsam sein, wenn ein Junge mitreißend lacht, ein Mädchen eine ulkige Stimme hat, weil jemand so vorsichtig seine Puppe hält oder so ausgelassen ein Lied singt. Dabei muss die beginnende Einleibung nicht immer solidarisch sein. Auch durch antagonistische Einleibung ist eine Annäherung von zwei Kindern möglich. Man kann verwundert, irritiert, aufgerüttelt oder erschreckt sein durch das Erscheinungsbild eines anderen Kindes. Man spürt womöglich zunächst Engung und unangenehme Regungen wie Ablehnung oder Angst. Dies erhöht vorübergehend die Aufmerksamkeit gegenüber diesem Artgenossen. Gerade dadurch wird man aber gezwungen, sich leiblich mit diesem anderen auseinanderzusetzen und zu reagieren. Und vielleicht sind es dann gerade unbekannte Eigenschaften, weil der Junge oder das Mädchen besonders kühn, vorsichtig, wild, ruhig, grob oder zärtlich erscheint, die interessant erscheinen. Gerade der unterschiedliche Ausdruck leiblicher Kommunikation wirkt faszinierend, weil er im eigenen Repertoire so nicht vorkommt. So kann zumindest eine kurze Spielbeziehung entstehen, die durch den Reiz des Unbekannten genährt wird, dann aber so schnell endet, wie sie begonnen hat. Damit kurze Spielbeziehungen zu ersten Freundschaften werden, erfordert es jedoch ein bestimmtes Maß an Empathie. Einleibung ist nach Hermann Schmitz die besondere Konzentration auf den anderen und diese gelingt erst dann intensiv, wenn man das eigene Spüren mit dem des anderen in eine bestimmte Resonanz bringen kann. Diese Resonanz kann sehr harmonisch sein oder auch durch Differenzen im Empfinden begleitet sein. Aber zunächst muss ein Kind annähernd nachempfinden können, was den anderen bewegt. Diese Empathie kann jedoch nur in dem Umfang entstehen, wie das Kind in Kontakt mit den eigenen Gefühlen steht. 140 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

28. Die Entwicklung von Sozialkontakten

Wie weiter oben beschrieben, benötigen Kinder eine empathische Begleitung durch Erwachsene, wenn sie affektiv betroffen sind. Dies ist möglich, wenn Erwachsene auf ihre Gefühle eingehen, sie ernstnehmen und wenn sie ihnen beim Wechsel von personaler Regression in personale Emanzipation behilflich sind. So erleben Kinder Gefühle nicht einfach nur als Atmosphären, die über sie kommen und sie leiblich ergreifen oder bedrängen. Sie erfahren, dass diese Zustände, ob sie nun als angenehm oder als unangenehm erlebt werden, vorübergehend sind und einen zunächst zwar sehr betreffen, aber nach einer kurzen Weile vorüberziehen. Man ist ihnen nicht hilflos ausgeliefert. Sie erleben, wie es sich anfühlt, von Gefühlen betroffen zu sein und dass es hilfreich ist, wenn andere an den Gefühlen teilhaben und dass es einem danach besser geht. Sie benötigen also zunächst empathisches Hinspüren anderer, bevor sie dieses selbst entwickeln können. Das Vermögen, Gefühle wahrzunehmen und damit umzugehen, gewinnen Kinder zunächst durch eigenleibliches Spüren, das durch Erziehende begleitet und mit ihnen zusammen reflektiert wird. Dies ist eine wesentliche Lernerfahrung die alles, was man pädagogisch als Selbstkompetenz und als Sozialkompetenz bezeichnet, voraussetzt. Dann erst können Kinder den Transfer herstellen, sich in andere Menschen hinein zu versetzen und mit zu fühlen. Empathie ist ein wechselseitiger leiblicher Prozess, der in starker Konzentration auf den anderen, also in Einleibung, erfolgen kann. Durch die Bewegungssuggestionen, Gestaltverläufe und die Atmosphären, die von einem gegenüber ausgehen, kann das Kind Aspekte wiederentdecken, die es im eigenen sich Spüren vorfindet. Was jemand empfindet, drückt sich immer leiblich aus. Ein gesenkter Blick, ein offenes Strahlen, ein zögernder Schritt, ein Zusammenzucken eines anderen Kindes wird leiblich mitempfunden und mit den eigenen Erfahrungen in Zusammenhang gebracht. Ein solches Mitspüren oder sich Anstecken lassen von den Bewegungssuggestionen des anderen führt dazu, dass ein Kind im leiblichen Ausdruck des anderen nachempfinden kann, was es selbst schon erlebt hat. Doch für ein sozial angemessenes Verhalten, wie es Erwachsene leisten, ist ein weiterer Schritt nötig. Reine Empathie führt zunächst nur dazu, mit dem anderen mitempfinden zu können. Doch dies würde ja in seiner Reinform bedeuten, einfach mit dem anderen mitzuweinen oder mitzulachen, indem man mimetisch mit seinen leiblichen Regungen mitschwingt. Soziales Verhalten aber geht darüber 141 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

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hinaus, weil es im Grunde gemeinsame Situationen konstruktiv gestaltet und strukturiert. Eine solche Struktur kann man jedoch nur geben, wenn man sich über die primitive Gegenwart der personalen Regression erhebt und in personaler Emanzipation agiert. Das weinende Kind sucht Trost. Das neugierige Kind sucht Antworten. Wenn also ein Kind in der Lage sein soll, ein anderes zu trösten, muss es zwischen sich und dem anderen unterscheiden können. Ebenso muss es zwischen der Betroffenheit des anderen und seinem Betroffensein als Mitempfindender unterscheiden. Dies ist eine komplexe Aufgabe, die leibliche und kognitive Prozesse voraussetzt. Bei der Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen lernt das Kind sich als Subjekt in seinem in der Welt Sein kennen. Damit entwickelt es ein Selbstempfinden, das leiblich fundiert ist. Doch zunächst kann es sich von diesem rein gespürten subjektiven Selbst nicht distanzieren. Um eine objektivierte Sicht von sich selbst zu erlangen, benötigt es die anderen. Sie zeigen dem Kind, dass es über seine leibliche Betroffenheit hinaus besteht. Es gibt ein Jetzt und ein Nachher, ein Hier und ein Dort, ein Dasein und ein nicht Dasein, ein Dieses und ein Anderes, ein Ich und ein Du. Der momentane Augenblick mit der affektiven Betroffenheit im Hier und Jetzt ist wesentlich für das subjektive Spüren, dass ich es bin, der da gerade Angst, Freude, Trauer, etc. empfindet. Aber das Erheben über den Augenblick heißt, sich selbst auch aus einer objektiven Perspektive betrachten zu können. Ich bin die, die sich gerade über eine Freundin ärgert. Aber dennoch bin ich die, die gleich ein schönes Lied singt, die eine liebe Mama hat und die später bei der Zubereitung des Mittagessens hilft. In der personalen Emanzipation erlebt man nicht nur eine Dimension der eigenen Person, nämlich den momentanen Augenblick mit seiner affektiven Einfärbung. Viele Facetten der eigenen Person werden bewusst, die von der Vergangenheit bis in die Zukunft wirken. Dies geschieht im Prozess der Selbstobjektivierung. 21 Diese wird möglich durch die Fremdwahrnehmung meiner Person durch die anderen. Die Perspektive der anderen auf sich selbst erfährt das Kind spürend durch den Blick, die Mimik, Gestik, Haltung und Stimme der anderen. Ein anerkennendes Lächeln, ein liebevolles Streicheln, ein tadelndes Schweigen, ein abfälliges Kopfschütteln verraten dem Kind ständig, was andere von ihm halten, wie sie es sehen. Schon durch diese leiblichen Regungen der anderen reguliert es sein Ver21

Robert Gugutzer, Leib, Körper und Identität, Wiesbaden 2002, S. 98

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halten und passt sich ihren Erwartungen bis zu einem gewissen Grade an. Denn es möchte dazugehören, geliebt sein, anerkannt werden. Im Spiegel der anderen kann es sehen, wer es aus ihrer Sicht ist und was es kann. Es spürt leiblich: So einer bin ich also. Diese Rückmeldungen geben vielfältige Informationen über die eigene Person, die nicht immer mit dem übereinstimmen, was man durch das eigenleibliche Spüren über sich weiß. Sie weisen Rollen zu, drücken Erwartungen aus, geben Regeln und Normen vor, an denen man sich orientieren kann. Das Kind lernt, sich selbst mit den Augen der anderen, sozusagen aus einer Vogelperspektive zu betrachten. Es erkennt, dass es so aber auch anders handeln kann. Eine Situation verändert sich, was jetzt gilt ist später schon vorbei. Was hier erforderlich ist, kann an einem anderen Ort unnötig sein usw. Es kann sich in personaler Emanzipation selbst reflektieren und die Geschehnisse des Augenblickes in seiner Bedeutung relativieren. Für das Sozialverhalten ist es besonders bedeutsam, die eigene Perspektive mit der Perspektive der anderen verknüpfen zu können. Das Selbstempfinden ist zunächst sehr wesentlich um die Bedürfnisse der eigenen Person wahrzunehmen. Die Selbstobjektivierung ist nötig, um zu erkennen, vor welche Anforderungen ich in einer gemeinsamen Situation gestellt bin. Für eine Mahlzeit in einer gemeinsamen Situation genügt es eben nicht, genug Hunger mitzubringen. Das Kind würde nur rasch das verschlingen, was die eigenen Gelüste befriedigt. Es würde nicht darauf achten, dass andere auch etwas von dem Käsekuchen haben wollen und nicht nur den Gurkensalat bekommen, den man selbst verabscheut. Es käme keine gemeinsame Situation am Tisch zustande. Geschirr, Besteck, Gespräche und Tischschmuck wären überflüssig, weil jeder nur in sich hineinschlingt, was ihm gerade gefällt. Erst wenn ein Kind gelernt hat, sich in andere hinein zu versetzen, ist es in der Lage, auch Rücksicht auf ihre Bedürfnisse zu nehmen. Dann kann es eigene Bedürfnisse für eine Weile aufschieben, damit alle davon profitieren. Es findet ein Gleichgewicht dabei, sich zurück zu nehmen zum Wohle anderer und sich durchzusetzen, wenn seine Interessen verletzt sind. Es gewinnt einen Blick dafür, was eine gemeinsame Situation verlangt und wie es zum Gelingen dieser Situation beitragen kann. Es lernt spürend, sich in einen sozialen Kontext einzuordnen. Gemeinsame Ziele werden dann genau so wichtig wie die eigenen. Dies setzt immer voraus, das eigene Befinden zu spüren und es ins Verhältnis zum Befinden der Gruppe zu setzen. 143 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

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Da aber Menschen sehr unterschiedlich sind und jeder andere Wünsche, Bedürfnisse und Interessen hat, ist es häufig erforderlich, gemeinsame Situationen zu regeln. Daher ist es wichtig für Kinder, einen Umgang mit Regeln zu erlernen. Dies geht jedoch nur, wenn sie Erwachsene haben, die ihnen hier ein gutes Vorbild liefern. Sie haben verinnerlicht, welches Verhalten in einer bestimmten Kultur und einer bestimmten Epoche angemessen ist und vermitteln leiblich, wie dieses umgesetzt werden kann.

29. Grenzen setzen Kinder brauchen für das Zusammenleben Regeln und Normen. Warum ist das so? Dies liegt anthropologisch darin begründet, dass der Mensch kein instinktgeleitetes Wesen ist, das quasi von Natur aus gesteuert ist, wie es sich verhalten soll. Gerade durch seine Weltoffenheit und Instinktarmut benötigt der Mensch andere Möglichkeiten, sich im sozialen Gefüge zu orientieren. Daher schafft sich der Mensch in jeder Kultur eigene Regeln und Normen. Sie entlasten den Menschen von der Vielfalt der Handlungsoptionen. Es gäbe hundertfache Möglichkeiten, eine andere Person zu begrüßen, eine Mahlzeit zu gestalten, eine Arbeit zu verrichten. Aber Menschen legen fest, dass man sich die Hand schüttelt oder die Nasen aneinander reibt. Sie reglementieren, ob man an einem Tisch isst mit Messer und Gabel oder am Boden und mit Stäbchen. Einen Brief scheibt man von links nach rechts, von oben nach unten aber selten in Kreisform. Das Gebundensein an Normen bezeichnet Heinrich Popitz als »Sich-selbstFeststellen des Menschen als soziales Wesen« aber auch als »ein Sichgegenseitig-Feststellen«. 22 Regeln schaffen Erwartbarkeit des Handelns und vereinfachen den Alltag, weil man sonst ständig vor der Entscheidung stünde, was wie zu tun ist. Auch beim Entwickeln von Sozialkontakten sind Regeln und Normen wichtig. Wie lernen Kinder, sich so zu verhalten, dass sie mit anderen auskommen? Wie in Kapitel 12 bereits gezeigt wurde, geschieht das ebenfalls durch leibliche Kommunikation. Zunächst vermitteln die Eltern durch ihre personale Autorität die Verhaltensregeln innerhalb der Familie. Ihre liebevoll geöffneten Arme, ihre in die Hüften gestemmten Arme, ihr lächelndes Nicken 22

Heinrich Popitz, Soziale Normen, Frankfurt/M 2006, S. 64

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oder empörtes Kopfschütteln weisen dem Kind den Weg, was es tun und was es lassen soll. Einerseits sind Kinder sehr empfänglich für diese Signale. Andererseits erleben sie aber auch eine Menge Impulse, die sie dazu verleiten, gesetzte Regeln zu überschreiten. Diese Impulse beruhen meist auf Bedürfnissen, die zunächst nach Befriedigung suchen. Das kann Hunger, Durst, Einsamkeit, Frieren, Schwitzen, Neugierde, Langeweile, Bewegungsdrang und vieles andere mehr sein. Diese Affekte bringen das Kind aus der Mitte zwischen Engung und Weitung und verlangen nach einem Ausgleich der leiblichen Ökonomie. Bereits Säuglinge schaffen es, Grenzen zu überschreiten, die für Eltern kaum zuzumuten sind. So berichtete mir eine erschöpfte Mutter, wie sie ihr vier Monate altes Kind über sechs Kilometer durch die Stadt trug, weil das Kind schrie, wenn sie es in den Kinderwagen legte. Sobald sie es in das Tragetuch wickelte, wurde es wieder ruhiger und schlief dann ein. Es ist sicher ein Zeichen großer Fürsorge, dem Bedürfnis danach, getragen zu werden, Folge zu leisten. Doch bei einer so großen Entfernung heißt es auch abzuwägen, welche Risiken für die Mutter damit verbunden sind. Zumindest dann, wenn sie vielleicht selbst gesundheitlich nicht auf der Höhe ist oder Rückenbeschwerden hat. Ein Tragetuch ist sicher eine gute Erfindung und eine gute Möglichkeit, Kinder über kurze Strecken zu halten und zu transportieren. Aber auf Dauer muss auch die Mutter ihre Bedürfnisse nach Entlastung und Ruhe befriedigen. In der wechselseitigen Einleibung zwischen Mutter und Kind erfährt der Säugling, dass er immer getragen wird, wenn er etwas lauter schreit. Da Getragenwerden sicher angenehmer ist als auf der relativ festen Fläche einer Kinderwagenmatratze zu liegen, stößt er kräftige Schreie aus. An diesem Punkt kommt man natürlich sofort an Grundsätze pädagogischen Handelns. Darf man ein Kind auch einmal schreien lassen oder nicht? Hier gilt es, die Bedürfnisse von Mutter und Kind abzuwägen. Ist die Unversehrtheit der Mutter genauso wichtig, wie die Befriedigung des Bedürfnisses nach Getragen sein auf Seiten des Kindes? Wenn die Mutter ansonsten genügend Gelegenheiten bietet, dem Kind körperliche Nähe zu geben, muss ein kurzer Aufenthalt im Kinderwagen kein allzu großes Verhängnis sein, auch wenn der Säugling hier eine Weile die Engung des Unwohlseins ertragen muss. Wesentlich für die wechselseitige Einleibung ist, dass das Kind die Erfahrung macht, dass die Mutter auf seine Bedürfnisse reagiert. Wenn sie jedoch jede Regung beantwortet und die eigenen Bedürf145 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

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nisse nicht mehr ernst nimmt, gerät sie in personale Regression und reagiert nur noch auf das Kind. Dieses Verhalten ist wenig förderlich, solange es nicht als Ausnahme vorkommt, sondern zur Regel wird. Die pädagogische Beziehung zwischen Erwachsenem und Kind sollte von einem Gleichgewicht zwischen Bedürfnissen des Kindes und seiner Bezugsperson geprägt sein. Weiterhin benötigt das Kind klare Regeln im Alltag, um eine Orientierung dafür zu finden, was es tun darf und was nicht, wo es Rücksicht nehmen muss und wo es sich durchsetzen darf. Pädagogische Fachkräfte in Kindertagesstätten berichten davon, dass Kindern heute nicht mehr genügend Grenzen im Elternhaus gesetzt werden: »Eltern sind unsicher, die Kinder zu erziehen, unsicher, weil es so viele Möglichkeiten gibt. Und weil es so viele Möglichkeiten gibt, trauen sie sich oft weniger, Grenzen zu setzen, Regeln zu setzen und auch Konsequenz zu setzen und das ist das, was unseren Kindern fehlt. Aber sie lernen es auch einfach nicht mehr«. 23 Dieser Tatbestand führt nun dazu, dass pädagogische Fachkräfte zunehmend damit beschäftigt sind, jene Grenzen zu setzen, die zu Hause nicht eingefordert wurden. Denn in einer Krippe mit zehn Kleinkindern oder einer Kindergartengruppe mit 25 Kindern geht es ohne Regeln und Grenzen nicht. Hier endet die Freiheit des Einzelnen dort, wo die des anderen beginnt. So müssen die Kleinen häufig mühsam lernen, wie man sich an den Tisch setzt, wie man ein Spiel aufräumt, wo die Hausschuhe abgestellt werden oder nach welchen Regeln die Kinder in die Turnhalle gehen dürfen. Ohne diese Regeln gäbe es Chaos beim Frühstück, in den Spielecken, in den Regalen und keiner wüsste mehr, wo sich welches Kind gerade befindet. Viele Kinder können die Spielmöglichkeiten, die eine Kindertagesstätte bietet, gar nicht konstruktiv nutzen, weil sie nicht wissen, wie man mit so viel Freiheit überhaupt umgeht. Eine Erzieherin im Kindergarten berichtete davon, wie sie mit alten Computern und Tastaturen eine Art »Büro« eingerichtet hatte. Doch manche Kinder konnten damit nicht angemessen umgehen. Sie hämmerten auf der Tastatur herum, warfen die Computermaus vom Tisch und nutzen die Materialien nicht Barbara Wolf, Bildung, Erziehung und Sozialisation in der Frühen Kindheit, Freiburg i. B. 2012, S. 337

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für ein Rollenspiel, sondern zum Auseinandernehmen. Die Fachkraft erklärt: »Unsere Kinder brauchen in allen Bereichen auch oft eine Begleitung, oft eine Einzelbetreuung und eine starke Aufsicht, weil ihnen gerade auch solche Strukturen und Grenzen fehlen und wenn man dann nette Dinge vorhält, Spielmöglichkeiten setzt, ist es auch wichtig, dass man in gewissem Rahmen damit umzugehen lernt«. 24 Es genügt somit nicht, mit der Gruppe darüber zu sprechen, wie man neue Materialien benutzen kann und welche Regeln es einzuhalten gibt, damit andere auch noch in den Genuss einer neuen Spielecke kommen. Vielmehr müssen Kinder ganz individuell in antagonistischer Einleibung vermittelt bekommen, was im Einzelnen nun erlaubt ist und was nicht. Wenn sie erstmals solche Grenzen gesetzt bekommen, weil es zu Hause bisher nicht passiert ist, erfordert dies die doppelte Konzentration und leibliche Energie. Denn der Erwachsene muss einen Widerstand entgegensetzen sowohl in Gestik, Mimik und Haltung als auch mit Worten. Dies geschieht mit engenden Signalen wie straffer Körperhaltung, fester Stimme, einem klaren Nein. Da auch das Kind in Engung gehen wird, weil es womöglich auf seinem Willen beharrt und nicht aufhört, Regeln zu verletzen oder Grenzen zu überschreiten, bedeutet dies für den Pädagogen eine deutliche Grenze zu setzen, bis dahin, das Kind von dem Ort zu entfernen (wenn es etwa noch andere gefährdet). Die Regel muss auch gegen den Willen des Kindes durchgesetzt werden und das braucht Energie. Bei Kindergartenkindern ist dies mit etwas Ausdauer und Konsequenz noch zu leisten. Denn auch in diesem Alter sind die Kinder vor allem daran interessiert, dass die Bezugsperson sie mag und sie werden sich meist aufgrund der engenden Gesten fügen, da sie eher eine lächelnde Anerkennung suchen als ein schroffes Verbot. Manchmal sind auch Aushandlungsprozesse möglich. Wenn ein Junge wirklich großes Interesse daran hat, eine Tastatur auseinander zu nehmen, könnte man auch eine »Werkstatt« einrichten, in der es Schraubenzieher, Zangen, Hämmer und andere Werkzeuge gibt, um Dinge zu untersuchen und auseinander zu nehmen. Dann kann der Junge die Barbara Wolf, Bildung, Erziehung und Sozialisation in der Frühen Kindheit, Freiburg i. B. 2012, S. 341

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Erfahrung mit den Einzelteilen in seine persönliche Eigenwelt aufnehmen. Dies ist jedoch nur möglich, wenn genügend Materialien zum Auseinandernehmen vorhanden sind. Und auch hier müssen wieder Regeln verhandelt werden, an die sich die Kinder halten müssen, etwa dass sie Werkzeug und spitze Teile nicht durch das Zimmer werfen und am Ende wieder aufräumen. Der pädagogischen Fachkraft bleibt es nicht erspart, in antagonistische Einleibung zu gehen und die Regeln im Zweifel durchzusetzen, mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen, wie Blicke, Stimme, Mimik, Gesten, Worte und möglicherweise auch Arme und Beine, um ein Kind wegzuführen. Doch mit zunehmendem Alter wird das Grenzen setzen schwieriger. Zwar wollen auch Schulkinder noch gemocht werden, aber sie sind weniger abhängig von der Sympathie der Lehrperson, weil sie sich schon ein eigenes Urteil bilden darüber, was richtig und falsch ist, was Sinn macht oder eben nicht. Wenn Kinder in diesem Alter nicht gelernt haben, sich auch einmal im Sinne der Gemeinschaft unterzuordnen, werden sie versuchen, ihre Bedürfnisse und Interessen um jeden Preis durchzusetzen. Strafarbeiten und Predigten helfen hier nur bedingt. Häufig ist es hilfreich, dem Kind leibliche Erfahrungen zu ermöglichen, um sein Verhalten zu ändern. Etwa durch Gemeinschaftsspiele, bei denen es auf die Zusammenarbeit ankommt. Wenn es gilt, mit zwei Regenrinnen mehrere Murmeln über eine bestimmte Strecke zu transportieren. Dann reicht es nicht, wenn einer am lautesten ruft, am schnellsten rennt oder nicht mitmacht. In so einer Situation muss sich jeder dem geschickten Bewegungsablauf der Gruppe unterordnen, mit dem man die Murmeln von einer Regenrinne in die nächste gleiten lässt ohne sie fallen zu lassen und dabei gleichzeitig eine Distanz zu überwinden. Am Erfolg lernt dann das Kind womöglich, dass es durchaus sinnvoll sein kann, sich auch einmal unterzuordnen. Doch wenn ein Kind in den ersten Jahren nur selten die Erfahrung machen durfte, von der personalen Regression in die personale Emanzipation begleitet zu werden, hat es die leibliche Lernerfahrung verpasst, sich über momentane Befindlichkeiten und affektives Betroffensein hinwegzusetzen, um eventuell ein größeres Ziel zu verfolgen. Dann muss die Lehrperson mühsam in leibliche Austauschprozesse treten, um Regeln und Normen zu vermitteln. Dies geschieht vor allem durch das eigene Auftreten. Die Erwartungshaltung, dass Schüler eine gewisse Aufmerksamkeit und Respekt vor den Lehrenden und dem Unterricht mitbringen, ist durchaus berech148 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

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tigt und lässt sich leiblich vermitteln. Der Pädagoge befindet sich selbst in großer Konzentration auf die Klasse und auf das Thema, wenn er zur Türe herein kommt. Er verfügt über einen bestimmten Grad an Spannung und Engung. Der Schritt ist zielgerichtet, die Haltung aufrecht und der Blick zugewandt und auffordernd. Die Lehrperson übernimmt den Engepol, indem sie sich leiblich und sprachlich an die Klasse richtet, sie begrüßt und die heutige Stunde einleitet. Die Schüler spüren leiblich, dass hier jetzt etwas Neues beginnt, dass jemand Aufmerksamkeit einfordert aber auch mitbringt und die Pause nun zu Ende ist. In antagonistischer Einleibung ordnen sie sich zunächst unter. Eine ganz andere Wirkung hat es, wenn die Lehrperson langsam und unsicher in die Klasse schleicht, sich leise und unauffällig hinsetzt und zunächst abwartet, was passiert. Die Spannung ist gering, die Haltung schlaff und die Klasse spürt in antagonistischer Einleibung, dass ihnen hier wenig Energie entgegengesetzt wird. Nun ist es ein Leichtes, den Erwachsenen zu ignorieren, die Situation selbst zu bestimmen und bei Versuchen des Lehrers, den Unterricht zu beginnen, Widerstand zu leisten. Daher ist es auch für Lehrer bedeutsam, die Zusammenhänge der leiblichen Kommunikation zu verstehen. Wer in großer Nachgiebigkeit darauf wartet, dass die Schüler von selbst aufmerksam werden, verzichtet darauf, seine Rolle einzunehmen und zieht bei der antagonistischen Einleibung den Kürzeren. Somit ist es notwendig, dass angehende Lehrer die Wirkung von leiblichen Signalen kennen und auf ihr eigenleibliches Spüren zu achten lernen. Wenn sie großen Widerstand der Klasse spüren, müssen sie anders reagieren, als wenn bereits eine große Aufmerksamkeit besteht, wenn man an der Tür herein kommt. Jeder Lehrer entwickelt ein Gespür dafür, wie er den Engepol für sich gewinnt, sei es durch einen Witz, eine Überraschung, ungewohnte Strenge, eine bestimmte Phrase, ein Klingelgeräusch, eine Bewegung, etc. Durch das leibliche Signal ändert sich die gemeinsame Situation in der Klasse und die Konzentration schwingt zum Lehrer hin. Es gehört also durchaus dazu, als Lehrer nicht nur Fachwissen zu vermitteln, sondern auch dafür zu sorgen, dass die Atmosphäre im Unterricht so gestaltet ist, dass er auch Gehör und Aufmerksamkeit findet. Dies gelingt am besten, wenn er die gemeinsame Situation der Klasse leiblich erspürt und ein Gefühl dafür entwickelt, wie er darauf reagiert. Bereits Otto Friedrich Bollnow hat auf die Bedeutung der pädagogischen Atmosphäre hingewiesen und welche Kunst es be149 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

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deutet, ein gutes Klima zum Lernen zu entwickeln, wie in Kapitel 38 noch geschildert wird. Jedoch gibt es immer auch Schüler, die in der Klasse besonders auffallen und die auf einfache Mittel leiblicher Kommunikation nicht zu reagieren scheinen. Verschiedene Aspekte ihres Verhaltens weisen darauf hin, dass sie sich etwa nicht auf einen bestimmten Gegenstand konzentrieren können und sie von einem erhöhten Bewegungsdrang bzw. einer inneren Unruhe gepeinigt werden. Sie wackeln ständig mit einem Fuß, klopfen mit dem Stift auf den Tisch, schupsen den Sitznachbarn, machen störende Geräusche, stehen auf und setzen sich wieder, gehen oder rennen in der Klasse hin und her und so weiter. Dies geschieht in stärkerem oder schwächerem Ausmaß. Heute werden viele Kinder rasch mit der Diagnose ADHS konfrontiert. Es ist ein Syndrom, das sich aus sehr unterschiedlichen Merkmalen zusammensetzt und insgesamt eine verminderte Aufmerksamkeit auf Aspekte der Umwelt diagnostiziert. Die Frage ist jedoch, ob diese Kinder wirklich weniger Konzentration auf Äußeres aufbringen oder ob sie nicht auch umgekehrt die Aufmerksamkeit ihrer sozialen Umwelt suchen. Es wäre zu überlegen, ob die Impulse, die epikritischen Charakter haben, wie schrill, zappelig, hektisch, unruhig, etwa auch deshalb eingesetzt werden, weil sie selbst zu wenig Aufmerksamkeit und sensitive Zuwendung erfahren haben. Vielleicht konnten Eltern und Pädagogen zu wenig Zeit aufbringen, um dem Kind intensive Einleibung zu ermöglichen, sei es in Form von Wiegen, Streicheln, Festhalten, Anschauen, engenden und weitenden Gesten wie Lächeln oder Stirn runzeln, begleitende Worte in fröhlichen oder schwierigen Situationen. Womöglich konnte das Kind selten eine sensitive Begleitung von personaler Regression zu personaler Emanzipation erfahren. Zumindest können solche negativen Erfahrungen das Syndrom verstärken. Eine Bezugsperson, die sich intensiv auf die Befindlichkeiten und leiblichen Regungen des Kindes einlässt und diese angemessen beantwortet, gibt diesem in besonderer Weise Anlehnung, Zuwendung und Halt. Dies gilt sowohl für gewährende und unterstützende Haltungen als auch für unterbrechende und grenzsetzende Gesten. Denn das Kind erhält jeweils leibliche Orientierung für sein Verhalten. Wenn eine solche sensitive Einleibung fehlt, löst dies womöglich Verhaltensweisen aus, die sich im epikritischen Bereich äußern, etwa durch schrille Geräusche, hektische Bewegungen, zappelige Unruhe bis hin zu Ticks. Ein solches Verhalten kann nicht unbeachtet bleiben, 150 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

29. Grenzen setzen

weil es die Gruppe stört und so holt sich das Kind die Zuwendung, die es vermisst, auch wenn sie sich eher negativ manifestiert durch Ermahnungen und Tadel. Gerade im schulischen Kontext, in dem sich die erwünschten Kompetenzen vor allem im kognitiven Bereich abspielen, die viel Geduld, Disziplin und Ausdauer erfordern, können Schüler, die eher impulsiv, tatkräftig und bewegungsfreudig sind, eher scheitern. Es wäre zumindest einen Anlauf wert, wenn die Lehrkraft versuchen würde, das regressive Verhalten der betroffenen Schüler aus dieser Perspektive zu betrachten. Sie könnte versuchen, das augenscheinliche Bedürfnis nach Bewegung, Aufmerksamkeit, etc. in einer geeigneten Situation aufzugreifen und es entsprechend aufzufangen und anzunehmen, um dem Kind dann einen Weg in personale Emanzipation zu weisen, in dem es ein für sein Alter angemessenes Verhalten zeigen kann. Voraussetzung dieser Sichtweise ist die These, dass Kinder nur bei regelmäßiger Begleitung ihrer affektiven Zustände die Gebundenheit an primitive Gegenwart überwinden und in entfalteter Gegenwart überhaupt die kognitive Klarheit erlangen können, um zu erkennen, welche Regeln gültig sind und was eigentlich von ihnen erwartet wird. Erst wenn diese Vorgänge lange genug in antagonistischer Einleibung empathisch begleitet und vollzogen wurden, ist eine Akzeptanz von Normen überhaupt möglich. Auch Robert Gugutzer stützt diese Annahme, wenn er davon spricht, dass personale Identität aus dem Zusammenspiel von Selbstempfinden und Selbstdistanzierung entsteht. 25 Wenn man ein Kind in personaler Regression begleitet, unterstützt man sein Selbstempfinden. Beim Übergang in personale Emanzipation folgt Selbstdistanzierung. Dies ist im Rahmen des Unterrichts sicher schwer möglich, wäre aber ein Ansatz, der eher von der Perspektive des Kindes und seiner Befindlichkeit ausgeht und weniger von der Perspektive des Erwachsenen, der funktionstüchtige Schüler erwartet. Ein genauer Zusammenhang zwischen der Qualität leiblicher Kommunikation und der Akzeptanz von Regeln und Normen müsste sicher im Einzelnen mit geeigneten empirischen Methoden untersucht werden. Doch meine Hypothese an dieser Stelle lautet, dass ein Defizit an Aufmerksamkeit nicht nur gegenüber der Umwelt besteht, sondern auch bezüglich der eigenen persönlichen Situation, ihrer Beachtung und Zuwendung. 25

Robert Gugutzer, Leib, Körper und Identität, Wiesbaden 2002, S. 101

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B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

30. Ein Gespür für die eigene Geschlechtlichkeit entwickeln Das Geschlecht ist ein Persönlichkeitsmerkmal von immenser Bedeutung. Wenn wir einem Menschen begegnen, unterscheiden wir fast unbewusst, ob er männlich oder weiblich ist. Das merkt man besonders daran, wie irritiert wir sind, wenn jemand nicht eindeutig durch sein Äußeres einzustufen ist. Bereits mit sieben Monaten reagieren Säuglinge auf Männerstimmen anders als auf Frauenstimmen. 26 Noch bevor sich Kleinkinder selbst als Junge oder Mädchen wahrnehmen, sammeln sie bereits geschlechtsbezogene Eindrücke. Sie nehmen schon im ersten Lebensjahr bei Männern und Frauen verschiedene Gestaltverläufe bei ihren Bewegungsabläufen wahr und deuten unterschiedliche Vorlieben und Sinnmuster. Sie erkennen Unterschiede im Aussehen, in den Tätigkeiten und Aufgaben der beiden Geschlechter. Nach Kohlberg übernehmen Kinder ihre Geschlechterrolle in einem allmählichen Prozess, der sich etwa in fünf Phasen untergliedern lässt: 27 1. 2. 3. 4. 5.

Ich bin ein Junge/Mädchen und das ist gut so. Du bist männlich oder weiblich. Das tun Jungen/Mädchen oder Männer/Frauen. Ich handle als Mädchen (Junge) so, weil das Mädchen/Frauen (Jungen/Männer) tun und das ist wertvoll. Ich bin ein Junge/Mädchen und das ist immer so und auch gut so. Ich benehme mich wie ein Junge/Mädchen und was die Mädchen/Jungen tun (das andere Geschlecht) interessiert mich nicht, weil es eigenartig ist.

Erst mit etwa drei Jahren können Kinder sich selbst und andere sicher einem Geschlecht zuordnen. Sie entdecken im Umgang mit Gleichaltrigen, dass zwischen den Beinen zwei unterschiedliche Körperteile zu sehen sind. Sie lernen den Unterschied zwischen Jungen und Mädchen und die Begriffe Penis und Scheide oder ähnliche Bezeichnungen kennen. Beim Erkunden des eigenen Körpers ist es für Jungen einfacher, das Geschlechtsorgan zu betrachten, weil der Hodensack und der Penis nach außen gerichtet sind. Spätestens bei der SauberJens Asendorpf, Psychologie der Persönlichkeit, Heidelberg 2007, S. 390 Doris Bischof-Köhler, Von Natur aus anders. Die Psychologie der Geschlechterunterschiede, Stuttgart 2011, S. 67 ff

26 27

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30. Ein Gespür für die eigene Geschlechtlichkeit entwickeln

keitserziehung merkt ein Junge, dass sein Urin durch den Penis nach außen tritt. Dieser Vorgang ist durch die längliche Form des Penis recht gut steuerbar, manche Jungen bezeichnen ihr Organ deshalb auch als »Schlauch«. Sie lernen spürend die Schmerzempfindlichkeit des Hodensacks kennen, wenn sie sich unachtsam auf eine Stange oder ein Laufrad gesetzt haben. Mädchen haben es etwas schwerer, ihre Genitalregion zu erkunden. Sie ist schwer einsehbar und eher tastend zu erspüren. Meist erkennen sie zunächst, dass sie keinen Penis haben. Sie spüren dann oder sehen bei anderen Mädchen, dass sich etwas Lippenähnliches an ihrem Unterleib befindet, das in der Mitte geteilt ist. Jungen wie Mädchen machen sehend und spürend Erfahrungen mit ihrem Genital. Es ist kaum möglich, Vermutungen darüber anzustellen, was kleine Kinder an ihren Genitalien spüren. Unterschiede spüren sie jedoch möglicherweise in der Art und Weise der Bewertung des Geschlechtes. Wenn bei einem Brüderchen ein großes Gewese darum gemacht wird, wenn er schon allein im Stehen an einen Baum pullern kann, während bei der Schwester eigene Versuche dieser Art nicht beachtet werden oder kläglich scheitern, spüren Kinder subtile Unterschiede in der Anerkennung ihres Geschlechtes. Mädchen gelingt meist erst wesentlich später, allein im Freien ihren Urin abzulassen, ohne sich dabei einzunässen. Es ist motorisch einfach komplizierter. Es kann jedoch genauso gut möglich sein, dass weiblichen Genitalien von den Eltern große Bedeutung zugeschrieben werden und kleine Mädchen früh erfahren: Da wachsen die Babys und das ist ganz besonders wichtig. Allmählich erfahren Kinder somit Zuschreibungen für Mädchen und Jungen, die im Umfeld geäußert werden. Etwa welche hübschen Zöpfe oder welche starken Muskeln sie haben und sie setzen sich selbst in Bezug zu diesen Merkmalen. Sie erkennen, dass es eine gewisse Kleiderordnung gibt, etwa dass Mädchen auch Kleider und Röcke tragen, Jungen aber nicht. Oder sie erleben, dass bestimmte Farben eher Jungen oder Mädchen zugeordnet werden. Das gleiche gilt für Frisuren, Spielzeug, die Lautstärke beim Sprechen, die Bewegungen des Körpers usw. Je nach Umfeld sind die Zuschreibungen mehr oder weniger stereotyp. Wichtig ist jedoch, dass es sich bei Zuschreibungen nicht immer um explizit ausgesprochene Botschaften handelt, sondern meist um winzige Signale leiblicher Kommunikation, die sich hier vollziehen. Ein abfälliger Blick, wenn der Junge weint, ein Erheben der Augenbrauen, wenn ein Mädchen laut schreit. 153 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

Sobald Kinder sich selbst als Junge oder Mädchen wahrnehmen und erkennen, dass dieser Tatsache eine gewisse Bedeutung zugemessen wird, beginnen sie sich an Geschlechtsgenossen zu orientieren. Wie verhält sich das andere Mädchen, die Erzieherin, die Mama? Dies geschieht jedoch weniger kognitiv als vielmehr durch mimetische Nachahmung von Gestaltverläufen. Wenn sich die geliebte Erzieherin in einer gewissen Art und Weise das Haar aus dem Gesicht streicht, übernimmt es eventuell diese Geste, weil es sich davon angesprochen und berührt fühlt. Wenn der Vater sich in einer charakteristischen Weise hinter dem Kopf reibt, wenn er etwas Wichtiges zu sagen hat, kann der Sohn sich von dieser Geste leiblich angesteckt fühlen. Der Gestaltverlauf prägt sich ihm ein und er vollzieht ihn nach. Die Art des Lachens ist ebenfalls ein leiblich vermitteltes Phänomen. Für Kinder ist es eine angenehme Situation, wenn der Vater oder die Mutter mit ihnen lachen oder wenn alle gemeinsam miteinander lachen. Dies kann als ein Mitschwingen in solidarischer Einleibung beschrieben werden. Doch wird sich der Junge in solidarischer Einleibung eher der Intonation und der Lautstärke des Lachens beim Vater angleichen als dem der Mutter. Dies liegt einerseits am eigenleiblichen Spüren, eher wie er zu sein. Andererseits an den leiblichen Regungen anderer, die durch subtile Neigung des Kopfes oder eine Veränderung des Lächelns eher akzeptierend oder irritiert anmuten. Ein Mädchen, das sehr breit und tief lacht wird ebenso irritierte Reaktionen erhalten, wie ein Junge, der sehr schrill und hoch lacht. Die solidarische Einleibung des gemeinsamen Lachens kann man sich etwa vorstellen wie einen Chor, in dem man eine gemeinsame Tonlage sucht. Auch hier finden die Beteiligten einen gemeinsamen Rhythmus, eine Lautstärke, einen Tonfall, der als passend empfunden wird. Beim weiblichen Lachen stehen eher epikritische Tendenzen (hell, spitz, hoch) beim männlichen Lachen eher prothopatische Qualitäten (tief, dunkel, satt) im Vordergrund. Dies betrifft insgesamt wohl auch die Merkmale, die man mit einer männlichen oder einen weiblichen Stimme verbindet. Selbstverständlich bestehen gewisse Toleranzgrenzen, die eine reiche Vielfalt zulassen. Doch allein die körperliche Ausstattung der Stimmbänder sorgt hier bereits für bestimmte Tendenzen der Intonation. In diesem beschriebenen Sinne kann man sich eine soziale Normierung von Geschlechterrollen vorstellen. Welches Verhalten als Junge oder Mädchen angemessen ist, wurde bereits früh im Gedächtnis verankert. Zwar können Erwachsene und auch Kinder gewisse 154 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

30. Ein Gespür für die eigene Geschlechtlichkeit entwickeln

Aspekte der Geschlechterrollen reflektieren und ihr Verhalten ändern. Aber da gewisse Gestaltverläufe tief im Leibgedächtnis gespeichert sind, ist es schwierig, diese ohne weiteres zu ändern. Männer nehmen in der Regel viel Raum ein, weil sie erstens größer sind und mehr Volumen verkörpern aber auch durch Gesten wie breitbeiniges Sitzen oder Stehen und ausgreifende Armbewegungen. Frauen sind durchschnittlich kleiner und schmaler, lassen die Extremitäten näher am Körper und beanspruchen weniger Raum. Auch hier gibt es Abweichungen. Aber bereits Jungen bekommen von Eltern und Erziehern häufig mehr Bewegungsspielraum eingeräumt als Mädchen, nach dem Motto: ein richtiger Junge muss auch mal toben. Dies wird im Alltag dann wie folgt umgesetzt. Spielen ein paar Jungen in der Bauecke, können schon mal ein paar Klötze fliegen und es darf etwas lauter werden. In antagonistischer Einleibung messen die Jungen mit Blicken aus, wie weit sie gehen können. Die Fachkraft hat die Situation im Auge, wirft aber billigende Blicke in den Spielbereich und lächelt zurück, wenn die Jungen schauend ihre Resonanz prüfen. Erst wenn die Lautstärke erheblich die Atmosphäre beeinflusst oder ein Klotz ein anderes Kind trifft und verletzt, greift sie ein, indem sie das durch leibliche Engung zum Ausdruck bringt. Sie beugt den Körper vor, stemmt die Arme in die Hüften, erhebt die Stimme und die Augenbrauen. Mit fester Stimme unterstreicht sie die leibliche Kommunikation und sagt: Schluss! Wenn ein paar Mädchen am Maltisch sitzen und ein wenig übermütig werden, kann es schon sein, dass sie sich ein paar Papierschnipsel oder Korken zuwerfen und albern kichern oder quieken. Hier liegt die Toleranzgrenze in der Regel niedriger. Denn die Erzieherin hat selbst die Erfahrung einverleibt, dass Mädchen eher brav und vernünftig sind und deshalb auch ordentlich am Maltisch arbeiten. Ein solches Chaos mit fliegenden Fetzen und lauten Geräuschen wird eher als unangemessen erlebt. Ein missbilligender Blick oder ein Kopfschütteln kann schon ausreichen, um die Mädchen zur Ordnung zu rufen. Denn typische Geschlechterstereotypen sind tief verinnerlicht; etwa dass Mädchen als friedlich, nett, zart, ängstlich und passiv kategorisiert werden, während Jungen als aktiv, munter, aggressiv und klug charakterisiert werden. 28 Womöglich liegen eigene ErfahHartmut Kasten, Weiblich – männlich. Geschlechterrollen durchschauen, München 2003, S. 56

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B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

rungen der Scham dahinter, wenn eine Erzieherin vehement darauf besteht, dass die Mädchen leise, geordnet und brav basteln. Sie mussten sich selbst als Kind schämen, wenn sie sich so benahmen. Mädchen werden in der Erziehung eher gehemmt, ein Gefühl für die eigene Stärke zu entwickeln und diese selbstbewusst zu zeigen. Bei Jungen hingegen werden diese Initiativen nach Unabhängigkeit und Selbstwirksamkeit stärker unterstützt. Ein besonders wirksames Mittel, um leibliche Engung zu erzeugen und den vitalen Antrieb zu irritieren ist die Scham. Diese ist meist begleitet von starken leiblichen Regungen wie empfinden von Hitze, Herzklopfen und dem Gefühl, im Boden versinken zu müssen. Scham hat den Aufforderungscharakter »sei nicht so« oder gar »sei nicht« und wird daher oft gespürt als ein leibliches Zusammenstauchen und einem Bedürfnis, unsichtbar zu sein oder sich in Luft aufzulösen. Hermann Schmitz beschreibt diesen Vorgang sehr treffend als »Blicke und Finger, die als von allen Seiten bloß zeigend den Beschämten zugleich einkreisen« und ihn »in die Enge seines Leibes beugen«. 29 Es ist peinlich, sich nicht wie ein richtiger Junge, ein richtiges Mädchen zu benehmen. Wenn ein Mädchen sehr laut Kommandos gibt oder wild durch die Kindergartengruppe läuft, erntet es rasch empörte Blicke. Wenn es bastelt und malt erhält es womöglich mehr Zuwendung und Ermutigung, als wenn es versucht, ein Dreirad zu reparieren. Wenn ein Junge mit rot lackierten Fingernägeln in die Einrichtung kommt, erfährt er zwar Beachtung. Aber an der Art des Lächelns und der Haltung spürt er, ob es echte Bewunderung oder eher Spott ist, was ihm da entgegen tritt. Ein weinerlicher Junge geht den Erziehern sicher durch die epikritische Tendenz der Lautstärke und des Tonfalls ebenso auf die Nerven wie ein Mädchen. Dennoch wird womöglich leiblich eine graduell stärkere Abwertung seines Verhaltens transportiert, indem der Trost kürzer ausfällt, ein Streicheln weniger zärtlich geschieht oder eine gewisse Distanz des Tröstenden spürbar wird. Der Junge merkt, dass ihm zwar Zuwendung geschenkt wird aber die Einstimmung in sein Traurigsein nicht so intensiv erfolgt, wie er es sich wünscht. Dies ist selbstverständlich nicht immer so. Es kommt sehr darauf an, welche geschlechtsspezifischen Verhaltenserwartungen Erziehende mitbringen. Und sie verstärken stereotype Verhaltensmuster meist auch nicht absichtlich. Vielmehr haben

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Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 2007, S. 339

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31. Mädchen und Jungen in der Schule

sie diese selbst vorreflexiv verinnerlicht und sind sich momentan gar nicht bewusst, welchem alten Muster sie hier folgen. Deswegen ist es sehr wichtig, sich eigene Einstellungen und Haltungen bewusst zu machen. Dabei geht es nicht darum, Mädchen und Jungen gleich zu schalten, sondern ihr Gefühls- und Verhaltensrepertoire nicht unnötig einzuschränken. Auch Mädchen dürfen mal tapfer, laut, rebellisch, aktiv und frech sein. Und Jungen können es sich erlauben ruhig, traurig, ängstlich, brav oder passiv zu sein. Wenn Erziehende hier ihre Sensibilität erhöhen, können sie vermeiden, dass Kinder aufgrund ihres untypischen Verhaltens verunsichernde Engung erfahren. Häufig spüren Kinder nämlich eine intensive Scham, wenn sie den Erwartungen des Vaters oder der Lehrerin als Junge nicht entsprechen oder wenn sie in den Augen der Mutter oder des Pädagogen als Mädchen über die Stränge schlagen. Dazu reicht schon ein verachtender Blick, ein geringschätzendes Lachen oder eine fast unsichtbare Geste der Abwendung. Es kann die persönliche Situation eines Kindes sehr erschüttern, wenn eine gut gemeinte Handlung nicht honoriert oder sogar abgelehnt wird, weil sie nicht zu den geschlechtstypischen Rollenerwartungen der Erwachsenen gehört: Wenn ein Junge hingebungsvoll auf eine Melodie tanzt oder ein Mädchen einen Stuhl umstürzt, der für das gemeinsame Spiel im Wege stand. Solche Beschämungen können mit etwas Reflexion vermieden werden, ohne dass deshalb im Umkehrschluss alles erlaubt wird und Kinder keine Grenzen mehr erfahren.

31. Mädchen und Jungen in der Schule Aufgrund der eben vorgestellten Stereotype von Geschlechterrollen könnte man als Eltern oder Lehrer nun erwarten, dass Jungen möglicherweise die selbstbewussteren Schüler werden. Wenn Jungen als Säuglinge etwa durchschnittlich länger gestillt werden, genießen sie eindeutig mehr Zuwendung. Wenn Jungen in ihrer Selbstwirksamkeit und Unabhängigkeit unterstützt werden, haben sie die besten Voraussetzungen, um in der Schule selbstbewusst, klug und aktiv aufzutreten und gute Leistungen zu erbringen. Dagegen müssten die Mädchen als nette, passive und ängstliche Kinder auftreten, die ihre eigene Stärke zurückhalten und eher im Hintergrund des Klassengeschehens und des Unterrichts stehen. 157 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

Doch die Frage ist hier, was von den Kindern im Tagesablauf der Schule erwartet wird. Wesentliche Kompetenzen sind es, gut zuzuhören, still zu sitzen, abwarten zu können, bis man dran kommt und zielgerichtet Fragen zu beantworten. Es besteht die Notwendigkeit, sich den Erwartungen der Lehrperson, den Erfordernissen des Unterrichts und den sozialen Regeln der Klasse unterzuordnen. Man befasst sich vor allem mit Buchstaben, Zahlen, Texten und zweidimensionalen Bildern. Diese Tätigkeiten erfordern eine spezifische Aufmerksamkeit und Aktivität, die vorwiegend kognitive Fähigkeiten anspricht. Denken geht vor Handeln, Stillhalten steht vor Bewegung, Anpassen vor Durchsetzen. Natürlich bedeutet es eine gewisse Herausforderung, sich mit Buchstaben, Zahlen, Texten und Bildern zu befassen. Man muss den Mut haben, sich zu melden, etwas zu sagen, sich zu beteiligen und vor der Klasse zu exponieren. Aber Schüler erkennen auch schnell, dass der Lehrer/die Lehrerin nur bestimmte Antworten hören will bzw. akzeptiert, dass eigene Erfahrungen oft nicht mit dem Gelernten korrespondieren und dass der Stoff in einem gewissen Tempo durch gearbeitet sein muss. Eine Vielzahl an eigenen Fähigkeiten, wie etwa handwerkliches Geschick, Ideenreichtum, körperliche Stärke und Ausdauer, Mut bei Gefahren oder auch Führungskompetenzen sind im Unterricht jedoch wenig gefragt. Hier ist es besser, friedlich, nett, fleißig, freundlich und anpassungsfähig zu sein. Auch sprachliche Stärken sind nur bis zu einem gewissen Grade gefragt, denn Schüler sollen im Unterricht nur Beiträge, keine Vorträge einbringen. Da auch heute noch weniger forschende als dozierende Anteile im Unterricht vorkommen, wird die intrinsische Motivation im Laufe der Schulzeit weniger und die extrinsische Motivation durch Noten und Anerkennung durch den Lehrer mehr. Dies sind Bedingungen, die Mädchen vermutlich näher kommen als Jungen. Denn im Grunde muss man sich in der Schule vor allem an Regeln halten: Pünktlich kommen, Hausaufgaben vollständig erledigen, die richtigen Hefte und Materialien dabei haben, ordentlich schreiben und Hefte führen, nur reden, wenn man dran kommt, keinen Lärm machen usw. Über sich hinauswachsen, Grenzen testen, nicht nur kognitiv aktiv sein, selbständig Vorhaben planen und durchführen, Lerning by Doing, Lernerfahrungen mit Realitätscharakter und kritische Auseinandersetzung sind Verhaltensweisen, die nur bedingt gefragt sind. Hier könnten gerade Aspekte dabei sein, die Jungen stärker in ihren Neigungen unterstützen würden. Ohne Frage bildet die Schule 158 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

31. Mädchen und Jungen in der Schule

nur einen kleinen Ausschnitt sozialer Wirklichkeit ab. Sie kann nur einige ausgewählte Themen anbieten, einen kleinen Teil der tatsächlichen Kompetenzen der Kinder ansprechen und nur sehr begrenzt auf das spätere Leben vorbereiten. Dies gilt für Jungen wie für Mädchen. Doch scheinbar gelingt es Mädchen aufgrund ihrer Sozialisation besser, mit den Bedingungen von Schule zurechtzukommen. Im Vergleich zu Mädchen gelingt es Jungen weniger, sich den Regeln und Anforderungen der Schule zu stellen. Dies liegt womöglich auch an der leiblichen Disposition, worauf in Folgenden noch näher eingegangen werden soll. Die Umwelt eines Kindes hat erheblichen Einfluss auf sein Lernverhalten. Dies liegt darin begründet, dass Kinder leiblich lernen. Sie setzen sich über den Leib und ihr eigenleibliches Spüren mit der Welt auseinander. Ein kleiner Junge geht an einer Pfütze vorbei und fühlt sich durch das Glitzern des Wassers angelockt. Er springt mitten hinein und erlebt lustvoll, wie das Wasser mit einem lauten Platsch in alle Richtungen spritzt. Das habe ich gerade bewirkt! Er erlebt seine Selbstwirksamkeit, das Wasser in Bewegung zu setzen, das er als kühl, nass, frisch und schmutzig erlebt. Wenn die Mutter zuhause schimpft, weil die Hose nass und verdreckt ist, wird er vielleicht das nächste Mal die Pfütze als Hindernis sehen, die es zu überspringen gilt. Auch das ist eine Herausforderung. Kinder fühlen sich also von den Gegenständen ihrer Umwelt leiblich angesprochen. Sie lassen sich von den Dingen zum Handeln verführen, wollen alles begreifen und sich einverleiben. Die Sachen und Räume erwecken in ihnen ganz bestimmte Bewegungssuggestionen und tragen einen gewissen Aufforderungscharakter mit sich. Eine leere Halle lockt zum Rennen und Rufen. Das Kind möchte mit seinem Leib den Raum ausmessen und ihn mit der Stimme durchdringen. Ein mit Decken ausgelegtes Zelt verlockt zum Hineinkriechen und Verstecken oder Kuscheln. Ein großer alter Baum lädt ein zum Daruntersetzen und sich an seinen starken Stamm anzulehnen oder ihn zu umarmen. Eine düstere verfallene Scheune löst womöglich Unbehagen aus und lässt das Kind das Weite suchen. Auch das bereits erwähnte Beispiel des Mädchens, das im Zug auf die leeren Sitzbänke kletterte und diese leiblich ausmaß zeigt, wie Kinder sich Räume aneignen und ihre Umwelt erobern. Es handelt sich keineswegs um sinnloses Klettern im Zugabteil, sondern um eine Orientierung im Raum, um ihn besser abschätzen zu können und sich darin

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B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

aufgehoben zu fühlen. Es sind intensive Prozesse der Einleibung. Die Sachen und Räume werden in die persönliche Eigenwelt integriert. Auch die Schule ist ein Raum, dem das Kind zunächst leiblich begegnet. Wirkt das Gebäude grau, düster und erdrückend oder eher freundlich, hell und einladend? Sind die Treppen leicht zu überwinden oder eher steil und hoch? Sind die Räume so angeordnet, dass man leicht die eigene Klasse, die Toilette und den Schulhof findet oder gleicht es eher einem Labyrinth? Wie hoch sind die Decken und wie hell die Räume? Flößen sie eher Ehrfurcht ein und ein Gefühl, sehr klein und unbedeutend zu sein? Oder strahlen sie Geborgenheit und etwas Anheimelndes aus? Jedes Kind hat einen Sinn für seine Umgebung und empfindet vielsagende Regungen, wenn es ein Gebäude betritt. Selbst Erwachsene berichten häufig davon, dass sie noch heute die gleiche Empfindung haben wie damals, wenn sie das Schulgebäude betreten. Dies können mulmige, unsichere, ängstliche, lähmende, verwirrende Eindrücke sein, aber auch wohlige, geborgene, euphorische, begeisternde. Manche erleben den Raum auch als dumpf, leblos oder indifferent. Die Architektur hat also keine unbedeutende Auswirkung auf das leibliche Empfinden, das man an einem bestimmten Ort wie der Schule erfährt. Gernot Böhme schreibt: »Atmosphären sind etwas Räumliches und sie werden erfahren, indem man sich in sie hinein begibt und ihren Charakter an der Weise erfährt, wie sie unsere Befindlichkeit modifizieren (…)«. 30 Schon allein das Schulgebäude sorgt also für ein Grundgefühl, welches der Schüler in der Lerninstitution hat. Die leibliche Disposition ist nun bei Mädchen und Jungen sowohl innerhalb der Grenzen des eigenen Geschlechts wie auch zwischen den Geschlechtern unterschiedlich ausgeprägt. Ein Kind ist vielleicht eher langsam, ruhig und introvertiert, im Sinne des klassischen Phlegmatikers, während das andere lebhaft, neugierig und extrovertiert ist wie ein Sanguiniker. Je nachdem wirkt der Raum auch anders auf die leibliche Disposition. Ein buntes, mit vielen Sinnesreizen ausgestattetes Zimmer erscheint vielleicht dem Sanguiniker als interessant und anregend, dem Phlegmatiker als überfordernd und verwirrend. Ein Raum, der vollgestopft ist mit Stühlen und Tischen, wirkt vielleicht zunächst auf Mädchen wie Jungen gleichermaßen unattraktiv, weil man da wenig machen kann und zum Hinsetzen verdammt ist. 30

Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre, München 2006, S. 16

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31. Mädchen und Jungen in der Schule

Im Durchschnitt schaffen es dann aber die Mädchen eher, sich den Regeln des Raumes anzupassen und die Sitzhaltung einzunehmen. Sie halten sich eher an die Anweisungen der Lehrperson, weil sie keinen Ärger haben wollen. Deutlich mehr Jungen hingegen wandeln den Zweck der Möbel ab und verwenden sie als Hindernisse, über die man klettern, Verstecke unter die man kriechen oder Baumaterial, das man zusammen stellen kann. Dieses Verhalten wird aber leider selten als kreative Kompetenz betrachtet, um den ganzheitlichen Lernbedürfnissen gerecht zu werden. Kaum einer sieht die Einleibung mit dem Raum als wichtige Lernerfahrung. Eher wird ein solcher Junge als Störenfried betrachtet, der über Tische und Bänke geht und sich nicht an Regeln halten kann. Doch die Regeln sind allein bestimmt durch den einseitigen Zweck des Unterrichts, den der Lehrer verfolgt, selten durch die Lernumgebung und die Bedürfnisse der Kinder. Das Verhalten der Jungen wird also deshalb häufiger als »auffällig« eingestuft, weil hier der Handlungsspielraum wesentlich stärker eingeschränkt ist, als noch im Kindergarten. Hier gab es meist sehr unterschiedliche Möglichkeiten, sich leiblich mit der Welt auseinanderzusetzen. Wenn ein Schüler erst einmal in einer bestimmten Kategorie eingestuft ist, findet es bekanntlich kaum noch ein Entrinnen. Der Soziologe Klaus Ulich zeigt, dass Lehrpersonen Kinder vor allem danach bewerten, ob sie leistungsbereit sind und sich gruppenkonform verhalten. 31 Mädchen, die einmal als fleißig, nett, ehrgeizig und klug eingeschätzt wurden, finden auch häufig viel positive Zuwendung. Die Lehrkraft ist ihnen zugewandt, sie lächelt, lobt, verteilt kleine Geschenke. Für das betreffende Mädchen ist es leiblich zu spüren, wie sehr es angenommen ist. Ein Junge, der erst mal als laut, polternd, unruhig oder schlampig betrachtet wird, zieht schnell den Unmut des Lehrers auf sich. Er spürt schon am Blick und der Haltung des Erwachsenen, wie stark die Geringschätzung ausfällt. Häufig findet er nur Beachtung, wenn er gerade etwas »anstellt«. Wenn er gerade in Ruhe eine Aufgabe löst, wird dies womöglich weniger gesehen, als bei anders eingestuften Kindern. In der Aushandlung von Enge und Weite spürt das Kind quasi, ob die Lehrperson eher gewährende, zustim-

Klaus Hurrelmann/Klaus Ulich, Schulische Sozialisation, S. 377–396 in: Klaus Hurrelmann/Klaus Ulich (Hrsg.), Neues Handbuch der Sozialisationsforschung, Weinheim/Basel 1991, S. 387

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mende und ermutigende Gesten und Haltungen zeigt oder eher ablehnende, kritische und verurteilende. Das Schulkind erfährt also ständig eine leibliche Resonanz, sowohl durch Räume als auch durch Menschen. Dies beeinflusst sein Befinden in der Schule: ob es sich wohl fühlt und gerne lernt oder ob es sich unwohl fühlt und eher damit beschäftigt ist, seine Grundbedürfnisse nach Beachtung, Bewegung oder Akzeptanz zu befriedigen. Sicher ist es nicht die einzige Entwicklungsaufgabe eines Kindes, seine Geschlechterrolle zu erfahren und auszugestalten. Doch wie eben diskutiert spielt das Geschlecht bei der Ausbildung der persönlichen Situation eine wesentliche Rolle und das Kind entwickelt früh ein Gespür dafür, was ein »richtiges« Mädchen oder ein »richtiger« Junge zu tun und zu lassen hat. Für Erwachsene ist in diesem Zusammenhang wichtig, die eigenen Haltungen, Einstellungen, Abneigungen und Erwartungen genauer unter die Lupe zu nehmen, um nicht unbewusst leibliche Signale an das Kind weiterzugeben, die bei reiflicher Reflexion so gar nicht beabsichtigt waren.

32. Das Erlernen von Fertigkeiten des täglichen Lebens Was sind eigentlich Fertigkeiten des täglichen Lebens? Es sind die Kompetenzen, die Kinder und Erwachsene brauchen, um erfolgreich ihren Alltag zu bewältigen. Beispiele wären, sich den Schuh zu binden, den Schulranzen für den nächsten Tag zu packen, eine Fahrkarte am Automat zu ziehen, ein Handy zu bedienen oder ein Überweisungsformular auszufüllen. Diese Fertigkeiten lernen viele Menschen mühelos im Alltag, da sie erwachsene Vorbilder haben, die per Bewegungssuggestion diese Handlungen vorleben. Doch manche Kinder lernen diese Fähigkeiten nicht, da sie niemanden haben, der sie ihnen im Alltag vermittelt. Und so wird beispielsweise in einer Maßnahme für arbeitslose Jugendliche das pädagogische Angebot »richtig Busfahren – leicht gemacht« angeboten. In der Tat schafften es einige Jugendliche nicht, sich eine gültige Fahrkarte zu kaufen, in die richtige Linie einzusteigen und vor allem an der gewünschten Haltestelle auszusteigen. Dies liegt daran, dass keiner sie bisher einmal bei einer Busfahrt begleitet hat und diese Situation mit ihnen durchlebt hat. Die meisten Kinder erleben es recht früh, dass ihre Eltern oder Erzieher einmal mit ihnen mit dem Bus in die Stadt, in den Zoo oder zum Arzt fahren. Wie das mit dem Busfahren funk162 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

32. Das Erlernen von Fertigkeiten des täglichen Lebens

tioniert, lernen Kinder über leibliche Kommunikation, nicht im Unterricht. Um dies plausibel zu machen, soll hier eine möglichst detaillierte Beschreibung der Busfahrt erfolgen. Zunächst geht man an die Bushaltestelle. Sie ist meist durch ein gelbes Schild mit einem H gekennzeichnet. Dort befindet sich oft eine Bank oder ein kleines überdachtes Häuschen, wo man sich zum Warten hinsetzt. Denn der Bus kommt nicht sofort, sondern nach einem bestimmten Plan. Dies erkennen die Kinder daran, dass Erwachsene auf den Plan schauen und auf die Uhr. Jemand hat aufgeschrieben, wann der Bus kommt. Weil mehrere Pläne hängen, muss man schauen, welche Nummer der Bus hat. Die Nummer hat etwas damit zu tun, wohin der Bus fährt. Geht es in die Innenstadt oder in einen Vorort? Durch das Schauen auf die Uhr merken die Kinder, dass der Bus um eine bestimmte Uhrzeit kommt. Trotzdem muss man warten, bis der Bus da ist. In der Zwischenzeit darf man nicht zu viel Lärm machen oder herumlaufen, damit man andere nicht stört und sich selbst nicht gefährdet, denn die Haltestelle befindet sich an einer Straße. Wenn der Bus mit der richtigen Nummer kommt, muss man rasch einsteigen, denn er hält nur sehr kurz. Entweder kauft man dann beim Fahrer eine Fahrkarte oder man hat schon am Automaten an der Haltestelle eine gekauft. Das Kind lernt, wenn man mit dem Bus mitfahren darf, muss man dafür auch bezahlen. Nun steigt das Kind in den Bus ein. Man muss dort einen Automaten finden, der die Fahrkarte entwertet. Die Karte muss tief genug eingesteckt werden, bis ein Geräusch entsteht und dann zieht man die Karte wieder heraus und steckt sie gut weg. Das Fahren ist nicht ganz einfach, weil man nicht angeschnallt ist und der Bus schwankt sehr stark und manchmal bremst er plötzlich, sodass man ein Stück geschleudert wird. Es gilt also, das Gleichgewicht zu halten und nicht zu stürzen. Für Kinder ist es am besten, auf einem Platz zu sitzen. Im Stehen muss man sich gut festhalten, damit man beim Bremsen und Beschleunigen nicht umfällt. Es sitzen viele Menschen im Bus, manchmal so viele, dass man kaum aus dem Fenster schauen kann. Man fühlt sich bedrängt, es riecht seltsam und man gerät in Engung. Trotzdem muss man ständig aufpassen, an welcher Haltestelle man sich gerade befindet, damit man den richtigen Ausstieg nicht verpasst. Dazu muss man wissen, wie die Haltestelle heißt. Sie heißt nämlich nicht »bei Oma« oder »zum Arzt«, sondern vielleicht »Schillerplatz« oder »Gemarkungsgrenze«. Dann muss man vorher früh genug auf den Halteknopf drü163 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

cken und steigt dann aus. Oft wollen viele Menschen aussteigen und man muss es in dem Gewühl schaffen, den Ausgang zu finden. Nun muss es noch gelingen, den Weg von der Haltestelle zum eigentlichen Ziel zu finden. Für den Rückweg muss man sich merken, wo man entlang gelaufen ist. Insgesamt ist dies ein sehr komplexer Vorgang, weil man mit vielen verschiedenen Menschen und Orten konfrontiert ist. Man muss sich leiblich auf die Situation »Busfahren« einlassen, dabei warten, sitzen, schnell ein- und aussteigen, sich zwischen vielen Menschen bewegen, sich in Raum und Zeit orientieren, sich markante Nummern, Gebäude oder Landschaftsbilder merken. Alleine kann das ein Kind erst ungefähr mit dem Schulalter. Es wächst jedoch normalerweise allmählich in die Situation hinein, weil anfangs ein Erwachsener mitfährt. Idealerweise darf das Kind dann schrittweise immer selbstständiger mitfahren. Es darf die Fahrkarte kaufen, sich die Nummer des Busses merken, später den Namen der Haltestelle, bis es schließlich alle Vorgänge selbst mehrmals durchlebt und in Begleitung gemeistert hat. Über die Bewegungssuggestionen und Gestaltverläufe des Erwachsenen verinnerlicht es, auf was es beim Busfahren ankommt. Einem Siebzehnjährigen kann man den Vorgang zwar erklären, wenn er das erste Mal Bus fährt. Doch auch für ihn ist das Ganze zu komplex, um dies nur über Worte zu verstehen. Er muss ebenfalls begleitet werden und per Einleibung die Situation des Busfahrens erspüren und vertraut damit werden. Erst dann gelingt es ihm, eine Busfahrt von A nach B und zurück alleine zu bewältigen. Daher sind solche Angebote für unerfahrene Jugendliche durchaus sinnvoll. Kinder lernen viele solcher Tätigkeiten des täglichen Lebens. Dabei ist es notwendig, dass sich Erwachsene oder ältere Geschwister die Zeit nehmen, solche Vorgänge gemeinsam zu üben. Dies sind Handlungen wie etwa Toilettenspülung betätigen, Schuhe binden, Reißverschluss zu machen, Tisch decken, Geschirr spülen, sich im Auto anschnallen, über die Straße gehen, Fahrrad fahren, Brötchen kaufen, sich im Unterricht melden, ein Telefon bedienen, ein warmes Essen kochen, Fußball spielen, einen Tanz aufführen, ein Paket verschicken, für eine Klausur lernen, einen Vertrag unterschreiben, Auto fahren, mit dem Flugzeug vereisen, ein Vorstellungsgespräch bewältigen, einen Beruf erlernen, ein Studium abschließen, etc. etc. All dies sind Tätigkeiten, zu denen man andere Personen braucht, die eine Einführung in das richtige Tun geben. Es nützt we164 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

32. Das Erlernen von Fertigkeiten des täglichen Lebens

nig, nur eine mündliche oder schriftliche Beschreibung zu geben. Die genannten Fähigkeiten erlernen wir deswegen, weil es mindestens eine Person gibt, die uns zeigt, wie es geht. Schuhe binden lernt man nicht über Versuch und Irrtum. Jemand zeigt uns in einzelnen Schritten, wie es geht. Über die Bewegungssuggestionen begreifen wir, wie ein Schritt auf den nächsten folgt und es am Schluss gelingt. Ebenso ist dies beim Fahrrad fahren, bei dem man über die Gestaltverläufe des anderen leiblich nachvollzieht, wie der Vorgang vor sich geht und man mit viel eigenem Gespür für Balance, Geschwindigkeit und Kraftaufwand eines Tages das Vehikel beherrscht. Auch Tanzen lernt man kaum durch ein Buch, man braucht sichtbare Vorbilder, in deren Bewegungen man mimetisch mitschwingen muss. Eine IKEA-Anleitung zum Schrank aufbauen ist deshalb schwierig, weil keiner da ist, der es vormacht und zeigt. Jedoch geht es nicht nur um das formale Vormachen und Nachahmen. Bedeutsam ist immer wieder die Interaktion. Das Ineinandergreifen der Handlungen von Person zu Person führt zu einer sicheren Verinnerlichung der Situation. Gesten der Ermutigung, der Unterstützung, der Korrektur, der Anerkennung und der Bestätigung sind insbesondere bei Kindern sehr wesentlich, damit sie eine Tätigkeit angemessen durchführen lernen. Die wechselseitige leibliche Kommunikation erhöht die Motivation, etwas immer wieder zu üben, auch wenn es schwer fällt und mit Misserfolgen verbunden ist. Wie weiter vorn bei der Sprachentwicklung beschrieben, ist hier die Einleibung, also die gegenseitige Konzentration auf das gegenüber sehr wesentlich, um durch winzige Signale der Zuwendung, kleine Zeigegesten, Eselsbrücken und Kniffe das Ziel zu erreichen. Das Mitschwingen in der gemeinsamen Handlung, wie etwa beim Fingerspiel, gibt Sicherheit. Die gemeinsame Freude am Tun ist ebenso wichtig wie eine korrekte Ausführung der Handgriffe. Ein Moment der Zurückhaltung ermutigt das Kind, selber zu probieren und einen Schritt weiter zu kommen. Viele Eltern haben heute wenig Zeit, ihren Kindern die vielen alltäglichen Tätigkeiten in Ruhe vorzumachen und in leiblicher Kommunikation solche Fähigkeiten zu vermitteln. Oft muss es schnell gehen und dann bindet Mama oder Papa die Schuhe, macht den Reißverschluss zu, packt die Schultasche, deckt den Tisch, kocht, wirft den Brief ein, tätigt die Überweisung usw. Bis ein Kind solche komplexen Vorgänge beherrscht, braucht es viel Zeit und Geduld, zwei Ressourcen, die nicht immer vorhanden sind. 165 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

Daher kommen Pädagogen immer häufiger in die Situation, Kindern diese Tätigkeiten des täglichen Lebens zu vermitteln. Dies beginnt bereits mit elementaren Dingen wie dem Laufenlernen, dem Sauber werden und dem Sprechen. Denn wenn Kinder bereits mit einem Jahr in der Krippe aufwachsen, können Eltern diese Fähigkeiten nur noch unterstützend vermitteln. Weiter geht es mit anund ausziehen, klettern, hüpfen, rennen, kleben, schneiden, malen, hämmern, usw. Wichtig ist dabei für den Pädagogen, sich vor Augen zu halten, dass Kinder bei diesen Tätigkeiten nur wenige Vorbilder haben bzw. die gemeinsamen Situationen im Elternhaus immer seltener werden, in denen sie so etwas erleben. Sie können zuhause zu selten die Bewegungssuggestionen in Ruhe auf sich wirken lassen und Gestaltverläufe wiederholend nachvollziehen. Daher geht es in Institutionen weniger darum, die Kinder ergänzend zu schulen oder Tätigkeiten zu wiederholen, sondern immer häufiger darum, Kompetenzen und Fähigkeiten grundlegend zu vermitteln. Dies bedeutet natürlich einen erhöhten Aufwand für die Pädagogen. Denn während Kinder vor 30 Jahren noch sauber sein mussten, wenn sie in den Kindergarten kamen, bereits sprechen konnten und sich die Hausschuhe selbst anziehen konnten, bedeutet das heute bei der Betreuung von 25 Kindern immer wieder Schuhe anziehen, aufräumen, Tisch decken usw. zu üben. Dies gelingt nur, wenn man ein Verständnis dafür entwickelt, wie wesentlich diese leiblich vermittelten Lernvorgänge sind. Sie sollten als curriculare Lernmöglichkeiten verstanden werden, die genauso wichtig sind, wie das naturwissenschaftliche Experiment oder das kreative Angebot. Denn zunächst benötigen die Kinder eine Bemeisterung ihrer persönlichen Welt, bevor sie abstrakte Bildungsziele zu erreichen suchen. Dies erlernen sie über ihren Leib und das leibliche Vorbild ihrer Erzieher, Lehrer und Pädagogen.

33. Das Erlernen von Bewegungsabläufen im Sport Kinder wachsen heute in einer bewegungsarmen Umgebung auf. Es gibt wenig Freiflächen, Wiesen, Plätze und Straßen, auf denen sie ungestört spielen können. Die Wohnungen sind eher an den Bedürfnissen der Erwachsenen nach Ruhe und Funktionalität orientiert, als an den Bedürfnissen der Kinder nach Sinneserfahrung und Bewegung. Daher haben Kinder wenig Möglichkeiten, sich leiblich mit ihrer unmittelbaren Umwelt auseinander zu setzen. Bis zu zwanzig 166 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

33. Das Erlernen von Bewegungsabläufen im Sport

Prozent der Kinder leiden heute an Bewegungsmangel und Beeinträchtigungen des Bewegungsapparates. Doch nicht nur fehlende Bewegungsräume bilden die Ursache für mangelnde Möglichkeiten der Einleibung mit Sachen, Personen und Räumen. Auch Vorbilder für diese Prozesse fehlen. Selbstverständlich gibt es noch viele Familien, die regelmäßig mit Kindern wandern, Fahrrad fahren, schwimmen gehen und andere Bewegungsmöglichkeiten anbieten. Doch im Zuge der Arbeitsbelastung berufstätiger Eltern kommen gemeinsame Freizeitaktivitäten häufiger zu kurz. In der wenig verbliebenden Zeit besteht ein Bedürfnis nach Ruhe oder es müssen Abläufe für die kommende Woche organisiert werden. Eltern besuchen eher allein einen Sportverein und schicken die Kinder in Schwimmkurse, Tanzkurse, etc. Sicher ist es eine gute Möglichkeit für Kinder, in einem Kurs durch Einleibung eine bestimmte Bewegungsform zu erlernen. Gerade Schwimmkurse werden von gut qualifizierten Fachkräften angeboten, die spielerisch die Kleinen zum Seepferdchen führen. Doch auch bei der Bewegung geht es um Vorbilder im Alltag. Wenn Eltern lieber vor dem Fernseher oder Schreibtisch sitzen, Erzieherinnen häufiger am Basteltisch als in der Turnhalle zu finden sind, wenn Lehrer lieber hinter oder auf dem Pult sitzen als sich in Bewegung zu setzen, dann sind die Bewegungsvorbilder sehr begrenzt. Sie bleiben Ausnahmen wie die Sportlehrerin, der Fußballtrainer oder die Balletlehrerin. Doch motorische Entwicklung vollzieht sich im Alltag. Kinder benötigen von klein auf die Erfahrung, wie jemand mit ihnen läuft, hüpft, klettert, Ball spielt, Bogen schießt, die Erde umgräbt, Wäsche aufhängt, zum Bäcker geht (nicht fährt), das Fahrrad benutzt, ein Ruderboot voran bringt und so weiter. So verinnerlichen sie früh Bewegungssuggestionen, ahmen sie nach und perfektionieren sie. Ein Kind, das von klein auf mitbekommt, wie Holz gehackt wird, wird dies früher oder später selbst ausprobieren und beherrschen. Wenn die Eltern Fußball spielen, Joggen, Boule spielen oder Tennis, wird das Kind dies nachahmen wollen und mit den Eltern zusammen üben. Die Bewegungsabläufe verleibt es sich wie selbstverständlich ein, setzt sie um und verfeinert sie. Es verinnerlicht aufgrund der Gestaltverläufe anderer und seinem eigenleiblichen Spüren die Abfolge und Ausprägung der Bewegung und reproduziert diese mit der Zeit gleichsam automatisch. Doch wenn die Eltern dazu keine Zeit haben und keine älteren Kinder in der Nachbarschaft wohnen, die solche Tätigkeiten vorleben, bleiben wichtige leibliche Lernerfahrungen aus. 167 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

Viele körperliche Beschäftigungen waren bis vor 100 Jahren eher im Alltag integriert, denn solange noch 90 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeiteten, bedeutete Bewegung draußen eine alltägliche Erfahrung. Heute arbeiten viele Menschen im Büro und selbst wer im Handwerk körperlich arbeitet, muss dazu einen Arbeitsplatz außer Haus aufsuchen. So bekommen Kinder wenig von den Tätigkeiten mit, wenn die Eltern nicht gerade einen eigenen Betrieb führen. Deshalb sind auch hier wieder vor allem Pädagogen gefragt, die für die Kinder wesentliche Vorbilder in Sachen Bewegung darstellen. Zunächst sind es einfache Bewegungsformen, wie balancieren, rückwärts gehen, laufen, hüpfen, klettern, klatschen. Erst später kommen dann komplexere Abläufe dazu, wie etwa einen Ball werfen und fangen, einen Tanz einüben, ein Turngerät überwinden usw. Auch hier kommt es einerseits darauf an, das richtige Vorbild mit den entsprechenden Bewegungssuggestionen zu haben. Andererseits brauchen Kinder Ermutigung, Motivation, Bestätigung, Anerkennung und Unterstützung, damit sie solche differenzierten Bewegungsformen erlernen können. Dies leisten meist Erwachsene oder ältere Kinder, die dem Kind das Zutrauen geben, dass sie etwas können und nach allmählichem Üben zum Erfolg kommen. Auch hier sind wieder ermunternde Worte, öffnende Gesten, beherztes Zugreifen, Schulterklopfen, Lächeln, gemeinsame Begeisterung wichtige Aspekte, die in der leiblichen Kommunikation zwischen Pädagoge und Kind wirksam werden. Beim gemeinsamen Fußballspielen lernt das Kind, wie man einen Ball treten muss. In antagonistischer Einleibung kämpft es mit dem Gegner um den Ballbesitz. Dagegen erspürt es in solidarischer Einleibung, wo der Mitspieler in welcher Geschwindigkeit entlangläuft, um einen Doppelpass zu spielen. Es findet heraus, wie fest ein Torschuss sein muss. Es probiert aus, in welcher Fußhaltung man den Ball gezielt links oben platzieren kann und wie sanft ein Pass zum Mitspieler sein sollte. Die Bewegungsabläufe bekommt es vorgelebt und die Regeln ergeben sich wie von selbst aus dem Spiel, man muss sie nicht auswendig lernen. Wenn man gemeinsam ein Tor verhindert oder geschossen hat, einen Sieg errungen oder eine Niederlage erlitten hat, bekommt man allmählich ein Gefühl für das Spiel, seine Abläufe und Besonderheiten. Fußball spielen ist eine komplexe gemeinsame Situation. Das Kind stärkt nicht nur seine Muskeln, sondern seinen Gleichgewichtssinn, seine Koordination, seine Schnelligkeit, sein Gespür 168 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

33. Das Erlernen von Bewegungsabläufen im Sport

für den Standort der Gegner und der Mitspieler, seine Raumwahrnehmung, seine Kondition und die Kreativität. Dabei sind zahllose Wiederholungen der einzelnen Abläufe bedeutsam, damit das Kind die nötigen Bewegungsformen verinnerlicht und ohne zu überlegen abrufen kann. Wichtig ist, dass die Sportart vor allem aus Freude am Tun gepflegt wird, nicht nur um zu gewinnen. Denn der Spaß an der Bewegung und am Spiel ist wichtig, damit die leibliche Disposition für diese Bewegungsform ausgeschöpft werden kann. Ein Kind, das etwa reiten lernt, sollte dies vor allem aus Freude an der Bewegung und aus Liebe zum Pferd tun. Es bedeutet eine intensive Form der Einleibung, ein Pferd zu reiten. Zunächst begegnet das Kind dem Pferd und nimmt es in seiner Größe, seiner Beweglichkeit und seiner Kraft wahr. Da das Pferd ein Fluchttier ist, bemerkt man schnell, wie das Tier in die Defensive geht, wenn man sich laut und hektisch bewegt. Das Kind lernt spürend, wie vorsichtig es sich dem Pferd nähern muss, damit es nicht erschrickt. Es erfährt auch, dass es sich nicht gern in die Augen schauen lässt. Beim Bürsten und Satteln lernt es das Tier näher kennen. Welche Berührungen mag es an welcher Stelle, eher feste und klare Klapse oder sanftes Streicheln? Möchte es am Kopf oder den Beinen berührt werden? Dann muss Sattel und Trense angelegt werden. Diese Prozedur mögen viele Pferde nicht. Deshalb muss man hier sehr klar und bestimmt in den Bewegungen sein. Der Sattel wird rasch aber nicht hastig aufgelegt und die Riemen fest genug gezogen, damit man aufsteigen kann. Die Trense stülpt man möglichst fließend von unten über die Nase bis zu den Ohren über den Kopf. Wenn das Pferd wieder Ruhe hält, verschließt man die Riemen an Hals und Kehle. Auch beim Aufsteigen ist Ruhe und Bestimmtheit angesagt, damit das Pferd nicht zurück schreckt. Wenn das Kind erst oben sitzt spürt es, wie lebendig und kraftvoll das Tier unter ihm ist. Wenn der Ritt losgeht, ist es zunächst bedeutsam, sich leiblich auf den Rhythmus des Pferdes einzulassen. Das Pferd gibt durch seine Schritte und seinen bewegten Leib Bewegungssuggestionen vor. Wenn ein gemeinsamer Takt gefunden ist, kann der Reiter auch leibliche Kommandos geben. Dies könnte sein, den Gehrhythmus zu beschleunigen, indem man das Gesäß in einem schnelleren Tempo vor und zurück bewegt als der Rücken des Pferdes hin- und herschwingt. Dazu muss man sich gleichzeitig auf die Bewegung des Pferdes einstellen. Die Unterschenkel kann man leicht in die Seiten drücken, um das Pferd anzutreiben. Dies funktioniert jedoch nur, wenn es ein sanfter 169 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

aber spürbarer Impuls ist. Gerät das Anspornen zu fest, könnte das Pferd einen Satz nach vorne machen und den Reiter abwerfen. Die Zügel werden so aufgenommen, dass eine leichte Spannung zwischen Hand und Pferdemaul entsteht. So hat das Tier einen Rahmen, innerhalb dessen es sich bewegen kann. Zu feste Zügel engen das Pferd ein und bremsen es, zu weite Zügel verleiten dazu, den Kopf nach unten zu nehmen und zu fressen oder das Hinterteil nach oben zu werfen. Bei einer leichten Anlehnung an die Zügel ist die Konzentration höher. Das Gefühl des Getragenwerdens ist sehr erhebend und beruhigend. Reiten ist ein umfassender Prozess der Einleibung, bei der sich das reitende Kind auf die Bewegungen und leiblichen Regungen des Tieres einstellt und umgekehrt, stellt sich das Pferd auf den Reiter ein. Es ist ein gemeinsames Mitschwingen, das man besonders in den schnelleren Gangarten, dem Trab und Galopp, sehr deutlich spüren kann und das einen hohen Genuss der Bewegung beschert, weil es, wenn man nicht gerade bremsen oder antreiben muss, zu einer solidarischen Einleibung kommt. Die Aufgabe der Reitlehrerin ist es, zwischen Kind und Pferd zu vermitteln. Sie hilft, die Bewegungen und das Verhalten des Tieres zu deuten, damit das Kind in leibliche Kommunikation mit ihm treten kann. Sie oder andere fortgeschrittene Reiter können Vorbild sein, die Bewegungssuggestionen vorgeben, wie man mit dem Pferd mitschwingt, es antreibt oder anhält. Auch hier geht es wieder um geteilte Erfahrungen, um Anerkennung und Ermutigung aber auch um Eingreifen und Warnung vor Gefahren. Zahllose Wiederholungen der mannigfaltigen Bewegungsmuster ermöglichen es schließlich, eines Tages relativ sicher auf dem Pferd zu reiten. Dir richtige Haltung wird quasi verinnerlicht und bewirkt, dass man die Fähigkeit zu reiten im Grunde nicht verlernen kann. Die Bewegung beim Reiten ist doppelt initiiert, einerseits wird man durch das Pferd bewegt, andererseits bewegt man sich selbst aktiv. Die Anspannung und Entspannung der Muskeln geschieht fast unwillkürlich, weil das Tier viele Reaktionen provoziert. Aber auch Aktionen sind wichtig, wie das gezielte Lenken in eine andere Richtung, das Anhalten oder Antreiben. Das Kind setzt sich hier nicht nur mit einem Sportgerät auseinander, sondern mit einem Lebewesen, das eigene leibliche Regungen mitbringt wie Freude, Schreck, Impulsivität oder Zurückhaltung. Deshalb geht es nie nur darum, wie man sitzt, die Zügel hält, mitschwingt sondern immer auch um die Aspekte, die das Tier in die gemeinsame Situation mit einbringt. Das Kind 170 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

33. Das Erlernen von Bewegungsabläufen im Sport

macht hier sehr intensive leibliche Lernerfahrungen, weil es mit dem Pferd in Wechselbeziehung tritt. Angelegte Ohren und eine winzige Anspannung im Pferdeleib weisen darauf hin, dass das Tier eine Gefahr wittert und womöglich gleich schneller läuft oder einen Satz nach rechts oder links macht. Allmählich lernt das Kind, solche Signale richtig zu deuten und sich leiblich auf mögliche Reaktionen einzustellen. Das Erlernen von Bewegungsabläufen ist also ein komplexer Prozess. Es wird deutlich, dass Kinder, die wenige Bewegungsvorbilder und wenig Bewegungsräume haben, zunächst dazu animiert werden müssen, sich zu bewegen. Dazu dienen Vorbilder, die sich selbst mit Freude bewegen und die Bewegungsabläufe gleichsam vorleben. Spielerische Bewegungsformen finden bei Kindern großen Anklang. Dabei ist das Tun mit anderen von besonderer Bedeutung. In einem Mannschaftssport werden Kinder gemeinsam aktiv, übernehmen verschiedene Aufgaben, um das gemeinsame Ziel zu erreichen und bauen dabei gleichzeitig ihre Fähigkeiten aus. Ein Torwart muss etwas anderes können als ein Verteidiger oder Stürmer. Alle müssen den Ball treffen und den Willen haben, ihn zum gegnerischen Tor zu bringen. Diese gemeinsame Aufgabe ist sehr motivierend und lässt Kinder auch über sich hinaus wachsen, wenn es um Schnelligkeit, Ausdauer, Geschicklichkeit und Kampfkraft geht. Auch eine Mannschaft erlebt Prozesse der Einleibung, da sie sich spürend aufeinander abstimmen muss in ihrem Handeln. Beim Reiten steht zunächst die Auseinandersetzung mit dem Tier im Vordergrund. Als Bewegungspartner ermöglicht das Pferd wechselseitige Einleibung in der gemeinsamen Situation. Die Bewegungen müssen sorgfältig aufeinander abgestimmt sein, damit ein harmonisches Mitschwingen zwischen Reiter und Tier entstehen kann. Dazu braucht das Kind leibliche Vorbilder, Kenntnisse über das Pferd und viel Gespür für die gemeinsame Situation. Wie man sieht, geht es beim Erlernen von Bewegungsabläufen im Sport nur in zweiter Linie um die Kontraktion und Kräftigung von Muskeln. Vor allem geht es um Vorbild und Nachahmung von Bewegungssuggestionen und das eigenleibliche Spüren, wie ich meinen Leib in die gemeinsame Situation einbringe. Sowohl beim Fußball als auch beim Reiten geht es weniger um kognitive Prozesse, wie ich den Ball treffe oder das Pferd lenke. Vielmehr geht es um das Erspüren, wie fest und in welcher Position ich den Ball treffe, wie weit ich mich nach vorne lehne beim Schuss, wie ich mich dabei drehe und 171 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

ob ich den Mitspieler gleichzeitig im Blick habe und ahne, wie schnell er nach vorn läuft. Oder ich spüre ein Zögern in der Bewegung des Pferdes, das kurz vor einem Erschrecken steht und dem ich daher meinen gleichmäßigen Rhythmus für einen Moment aufzwinge, bevor ich wieder locker in seinem Takt mitschwinge. Kinder lernen diese Prozesse über ihren Leib und über Bezugspersonen, die Freude an Bewegung haben und sich leiblich mit ihnen auseinandersetzen. Bewegung setzt Spaß am Tun voraus. Ohne Bewegung und tätige Auseinandersetzung mit der Welt ist Entwicklung kaum möglich. Wie sehr Bildung und Lernen sich über den Leib vollzieht, kann man nirgends plausibler nachvollziehen, als beim Erlernen von Bewegung.

34. Das Erlernen eines Musikinstrumentes Der Umgang mit Musik ist ein wesentlicher Bereich menschlichen Erlebens. Wir sind ständig Geräuschen ausgeliefert, vor denen wir uns kaum verschließen können, da das Ohr nicht geschlossen werden kann. Es ist schwierig, wegzuhören. Musik aber lassen wir meist in einer bewussten Entscheidung an uns heran. Es ist eine Atmosphäre, die sich in Form von Schwingungen im Raum ergießt und uns in unterschiedlicher Form affiziert. Auch Musik gibt Bewegungssuggestionen vor, die wir durch ein Auftippen des Fußes, ein Kopfnicken oder ein Wippen in der Hüfte mehr oder weniger bewusst nachvollziehen. Kinder begegnen Musik meist in Form eines gesungenen Liedes oder Reimes. Eltern oder pädagogische Fachkräfte summen eine Melodie vor sich hin, singen bewusst ein Lied vor oder treten bei einem gesungenen Fingerspiel sogar in konkrete Interaktion mit dem Kind. Es erfährt Musik aber auch über elektronische Abspielgeräte, wenn die Eltern Musik nach ihrem Geschmack oder für die Ohren des Kindes auswählen und vorspielen. Die wohl intensivsten Klangerfahrungen macht ein Kind wahrscheinlich in Auseinandersetzung mit einem Musikinstrument. Wenn Eltern, Geschwister, Pädagogen oder Musiker ein Instrument in einer gemeinsamen Situation zum Klingen bringen, verbindet sich das Klangerlebnis mit der sichtbaren Bewegung beim Musizieren. Da müssen Tasten gedrückt, Saiten gezupft oder gestrichen werden, mit einem Schlägel geklopft werden oder Grifflöcher abgedeckt und Luft kräftig gepustet werden. Das In-

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34. Das Erlernen eines Musikinstrumentes

strument erzeugt dann Töne, die mehr oder weniger harmonische Melodien und Rhythmen hervorbringen. Kinder lassen sich meist sehr bereitwillig auf Gestaltverläufe und Bewegungssuggestionen von Musik ein. Wenn sie entsprechende Vorbilder haben, wie etwa andere Kinder oder Erwachsene, beteiligen sie sich gerne beim gemeinsamen Klatschen, Hüpfen, Tanzen und Singen. Musizieren zu lernen ist ein zutiefst leiblicher Vorgang. Denn es reicht nicht aus, kognitiv eine klangliche Abhebung vor dem Hintergrund einer allgemeinen Geräuschkulisse zu registrieren und dann im richtigen Moment eine passende Bewegung zu machen. Das Kind spürt leiblich die Anmutung der musikalischen Figur und agiert schon im selben Moment. Es handelt sich um eine solidarische Einleibung mit den Gestaltverläufen, die das Stück vorgibt. Auch Gehörlose können die Schwingung von Bässen spüren und sich danach bewegen. Diese Einleibung wird häufig als lustvoll erlebt, da sie Einklang und Harmonie erzeugt, wie beim gemeinsamen Tanzen oder beim Gesang eines Chores. Beim aktiven Erlernen eines Musikinstrumentes sind jedoch noch zusätzliche Schritte und Kompetenzen nötig, außer dem solidarischen Mitschwingen in vorhandene Klangräume. Zunächst setzt sich das Kind mit dem Gegenstand des Instrumentes auseinander. Ist es aus Holz, aus Blech, aus Kunststoff, aus Fell? Welche Form und Größe hat es und wie schwer ist es? Das Kind setzt sich in Relation zu Größe, Schwere und Form des Instrumentes und verleibt sich erst seine materiellen Eigenschaften ein. Dennoch steht im Zentrum des Interesses natürlich, welche Klänge das Instrument erzeugt und wie man sie ihm entlocken kann. Daher ist ein spielerischer, ungezwungener Zugang zunächst bedeutsam. Das Kind darf mit den Schlägeln auf den Klanghölzern des Xylophons herum klopfen. Es zupft ein wenig an den Saiten der Gitarre, es klimpert mit den Tasten eines Klaviers, es pustet in eine Flöte. Dabei erfährt es den Zusammenhang von Bewegung und Klang: Wenn ich da drücke, puste, zupfe, kommt dort etwas heraus. Dies ist eine wunderbare Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Am Vorbild des Erwachsenen erlebt das Kind aber, dass mit dem Instrument noch viel mehr möglich ist, als einzelne Klänge zu erzeugen. Es erlebt die Möglichkeit, ganze Melodien zu erzeugen, die einen Wiedererkennungscharakter haben. Ob das einfache Kinderlieder sind oder eine Sonate von Mozart: Es summt vielleicht die Melodie nach und findet Gefallen daran. Um nun selbst ein Instrument zu beherrschen, wartet noch ein 173 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

langer Weg auf das Kind. Dieser kann nun dadurch erleichtert werden, dass man ihn in kleinere Etappen aufteilt. Zunächst geht es vielleicht nur darum, dass das Kind das Instrument richtig hält und einen einzigen Ton hervorbringt. Das ist schon ein Erfolgserlebnis. Besondere Freude macht es, wenn aus ein bis zwei Tönen schon eine kleine Melodie gezaubert werden kann, die vielleicht eine Geschichte erzählt oder einen Dialog zwischen einer Amsel und einer Meise darstellt. Es erfordert bereits unzählige Wiederholungen, bis die Töne in der richtigen Reihenfolge, dem geeigneten Rhythmus, einem passenden Tempo hervorgebracht werden. Kleine Sequenzen, die besonders widerständig sind, weil hier die Finger weiter gespreizt, das Tempo besonders hoch ist oder hier zwei Töne verschwimmen, müssen wieder und wieder geprobt werden. Die Abstände von Saiten, Tasten, Löchern müssen verinnerlicht werden, bis das Kind quasi blind richtig zugreift. Das Kind befindet sich in intensiver Einleibung mit dem Instrument und tastet sich an den Gestaltverlauf der Melodie heran. Dabei bietet der Erwachsene wieder Unterstützung, indem er dem Kind bei Misserfolgen aus der personalen Regression heraushilft und Ermunterung, Kniffe und Tricks bereithält, wie das Ganze doch gelingt. Er kann das Stück vorspielen und dem Kind entsprechende Bewegungssuggestionen vermitteln. Scheitern und Erfolg gehören eng zusammen und die Ausdauer beim Übern wird durch Verständnis, Zuversicht und Ermutigung seitens des Erwachsenen gesteigert. Erst wenn einfache Klangfolgen sicher gelingen, folgen die nächsten Schritte: ein neuer Klang, ein neuer Ton und die Möglichkeit weitere und komplexere Stücke zu spielen. Wichtig ist hier natürlich, dass das Kind die Klangfolgen selber mag, weil dann die Motivation höher ist, sich immer wieder auf das Instrument einzulassen, die Fingerfertigkeit zu steigern und die Bewegungsabläufe zu verinnerlichen. Um das Instrument so weit zu beherrschen, dass man verschiedene Stücke in der konventionell üblichen Weise vorspielen kann, bedarf es nun weiterer Übung. Der erste Schritt ist zunächst, die richtige Tonfolge zu schaffen. Doch dann gilt es, die Lautstärke, das Tempo, den Rhythmus, die Pausen so zu modulieren, dass das Stück einen besonderen Ausdruck erhält. Dazu braucht das Kind einerseits ein Vorbild, das diese Feinheiten selbst vorzuspielen und zu unterscheiden in der Lage ist. Zusätzlich erwirbt das Kind die Fähigkeit, solche feinen Differenzierungen zu hören und zu erspüren, wie es diese mit dem Instrument, seiner Fingerfertigkeit oder seiner Atmung entstehen lassen kann. 174 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

35. Der Übergang von der Familie zur Kindertagesstätte

Denn zu wissen, auf was es ankommt und es tatsächlich auch so durchzuführen, dass das Klangergebnis stimmt, sind zweierlei. Es erfordert wieder unzählige Übungseinheiten, bis man die Klangfolgen verinnerlicht hat, die Melodien gleichsam im Schlaf abrufen kann und dies dann auch tatsächlich mit den eigenen motorischen Fähigkeiten und in Einleibung mit dem Instrument hervorlocken kann. Am Klavier muss immer wieder die gleiche Tastenfolge gedrückt, mit der Gitarre immer wieder die gleichen Saiten gezupft werden, bis die Melodie flüssig, korrekt und in richtigem Tempo, Takt und Lautstärke zu hören ist. Auch hier braucht das Kind wieder Geduld, Ausdauer und ein ermutigendes und wohlwollendes Vorbild. Schließlich kommt es aber nicht allein auf die Perfektion des Spieles an, sondern vor allem auf den Mut und den Willen, ein Instrument zu spielen und sich musikalisch auszudrücken. Denn auch ein mittelmäßiges Gitarrenspiel erfreut die fröhliche Runde am Lagerfeuer und auch ein wenig professioneller Dorfchor hat durch die solidarische Einleibung gemeinsam Freude beim Singen und kann andere bereichern. Jedoch wird auch beim Musizieren deutlich, wie sehr das Lernen eines Instrumentes leiblich vermittelt wird, da Töne allein schon räumlich ergossene Atmosphären sind, die man nicht einfach hören, sondern erspüren muss, um sie entsprechend wiederzugeben. Wenn man dann noch zusammen in einer Band oder in einem Orchester spielt, wird erfahrbar, wie sehr es auf die Gleichzeitigkeit, den Gleichklang ankommt, den man eben nicht absprechen, sondern erspüren muss und der nur in einem miteinander Mitschwingen erzeugt werden kann.

35. Der Übergang von der Familie zur Kindertagesstätte Einer der herausforderndsten Schritte in der frühen Kindheit ist der Übergang von der Familie in die Kindertageseinrichtung. Diese erste Transition von der Primärgruppe der Familie in die Institution Kindertagesstätte ist für jedes Kind mit vielfältigen neuen Eindrücken, Erwartungen und Befürchtungen verbunden. Während das Kind in der Familie bisher vor allem in leiblicher Kommunikation mit Eltern und Geschwistern gestanden hat, erweitert sich nun das soziale Umfeld erheblich. In der Familie lernt das Kind zunächst, wie bereits weiter oben beschrieben, sich auf die Bewegungssuggestionen, Gestaltverläufe 175 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

und sprachlichen Signale der Mutter, des Vaters und der Geschwister einzustimmen. Durch die Reaktion der anderen auf seine leiblichen Signale wie plappern, weinen, schreien, das Gesicht verzerren, mit den Armen fuchteln, mit den Beinen strampeln, lernt es sich selbst kennen. Indem sie es berühren, sich ihm zuwenden, Worte an es richten und seine Bedürfnisse in Form von Füttern, Säubern, Wiegen, Tragen usw. stillen, zeigen sie ihm: Du bist da. Es lernt aufgrund von Mimik, Gestik, Haltung, Körperspannung und der gesamten Gestimmtheit seiner primären Bezugspersonen, Situationen zu deuten, Sinn zu erfassen und gemeinsame Situationen mitzugestalten. Dabei sind die konstanten Vorbilder enorm wichtig, weil es über sie bestimmte Strukturen von Gestimmtheit, Bewegung, Verhalten, Handeln und Sprechen kennenlernt. Die ständige Wiederholung von Handlungssequenzen wie Frühstücken, Wickeln, Spazierengehen, Baden vermitteln eine gewisse Erwartbarkeit von Abläufen. Eine geregelte Tagesstruktur ermöglicht es dem Kind, sich in der Zeit zurechtzufinden. Mit einer Uhrzeit weiß es zunächst noch nichts anzufangen. Aber mit Aussagen wie »nach dem Waschen«, »vor dem Mittagessen«, »nach dem Mittagsschlaf« oder »vor dem Zubettgehen« sind Anhaltspunkte, die es allmählich einordnen und verstehen kann. All diese Tätigkeiten sind jedoch vorerst an bestimmte Personen gebunden. Morgens aufstehen heißt, von der Mutter aus dem Bett geholt zu werden. Frühstücken ist eng damit verbunden, dass sie eine Mahlzeit zubereitet und zunächst auch füttert. Wickeln heißt, von ihr zum Wickeltisch getragen zu werden. Der Nachmittagsspaziergang wird womöglich mit Opa assoziiert, weil er immer mit dem Sprössling zum Teich geht und die Enten füttert. Das Bad am Abend führt vielleicht regelmäßig der Vater durch und bringt Scherze, Wasser spritzen und mit dem Handtuch abrubbeln mit sich. Das Einschlafritual ist eventuell ebenfalls mit dem Vater verknüpft, der immer ein bestimmtes Gebet spricht oder noch eine Geschichte vorliest. So verbindet das Kind verschiedene Tätigkeiten mit bestimmten Personen und erschließt sich daraus seinen Tagesablauf. Wenn das Kind nun mit ein, zwei oder drei Jahren in eine Kindertagesstätte kommt, ändert sich zunächst einmal sehr viel. Es muss morgens um eine bestimmte Uhrzeit aufstehen und das Haus verlassen. Dadurch werden die Abläufe morgens klarer strukturiert und es besteht weniger Zeit, wach zu werden, zu träumen, in den Tag hinein zu leben. Die Eltern müssen mehr Regeln setzen, damit das Anzie176 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

35. Der Übergang von der Familie zur Kindertagesstätte

hen, Frühstücken, Waschen schneller gelingt und besser koordiniert ist. So sind häufig schon früh am Tag Auseinandersetzungen in Engung nötig. Die Eltern selbst haben dann meist weniger Zeit und Geduld, auf die kleinen Bedürfnisse und Vorlieben Rücksicht zu nehmen, die das Kind entwickelt hat, bevor es in den Kindergarten kam. Nicht nur die Räume, in denen sich das Kind aufhält, verändern sich, auch die Personen, mit denen es tagtäglich umzugehen hat. Zunächst einmal müssen die meisten Kinder für mehrere Stunden am Tag Abschied von der primären Bezugsperson nehmen. Dies führt beim Kind meist zu einer starken Engung, weil die Mutter und der Vater bisher sein ganzes Dasein begleitet haben und ohne ihre Anwesenheit zunächst eine gewisse Leere entsteht. Die Kinder sind in dieser Phase häufig sehr empfindsam, verunsichert und weinen leichter als vorher. Denn die Sicherheit, die das leibliche Mitsein der Eltern bietet, ist nun für eine gewisse Zeit des Tages zunächst unterbrochen. Die Fachkräfte in der Kindertagesstätte sind auf diese schwierige Umstellung für das Kind eingestellt. Die meisten Einrichtungen haben spezielle Rituale in der Eingewöhnungszeit eingeführt, die ein sanftes Hineinwachsen in die neue Situation ermöglichen sollen. Die gemeinsame Situation der Familie wird nun eingetauscht gegen die gemeinsame Situation in der Kindergartengruppe. Am Anfang spielt die Bezugserzieherin eine bedeutsame Rolle. Das Kind muss lernen, diese als Vertrauensperson anzunehmen. Es erfordert eine intensive wechselseitige Einleibung, um Vertrauen zu knüpfen. Dies geschieht zunächst so, dass Mutter und pädagogische Fachkraft gemeinsam für das Kind da sind und allmählich die Pädagogin immer mehr Aufgaben übernimmt. Sie zeigt dem Neuling Spielmaterial, gießt ihm zu trinken ein, hilft ihm die Schuhe anzuziehen usw. Die Eingewöhnung erfolgt im Wesentlichen über leibliche Prozesse, da die Fachkraft das Kind hält, führt, begleitet und zu ihm spricht. Sie nimmt Blickkontakt auf, spricht das Kind an, zeigt ihm interessante Dinge im Kindergarten, nimmt es an der Hand, auf den Arm und baut über leibliche Kommunikation eine Verbindung auf. Das Kind spürt: Diese Person meint es gut mit mir. Dabei achtet sie darauf, was dem Kind angenehm oder unangenehm ist, gibt ihm die Nähe, die es zunächst braucht aber räumt ihm auch Distanz ein, wenn dies nötig ist. Sie tröstet es, wenn es traurig ist, ermutigt es, wenn es sich nicht traut und schützt es vor gefährlichen Situationen. Dazu benötigt sie eine starke Konzentration auf die leiblichen Regungen des Kindes, damit sie rechtzeitig seine Signale deuten kann und sen177 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

sitiv auf es eingehen kann. Gerade bei Kindern, die noch nicht sprechen können, erfordert dies ein sensibles Gespür für die Befindlichkeit des Neulings. Wenn es keine Beschäftigung findet, lustlos auf einem Blatt Papier malt, den Kontakt zu den Kindern verliert, müde, durstig oder hungrig ist, muss sie dies zunächst erkennen, denn die meisten Kinder können noch nicht gezielt äußern, warum sie sich gerade unwohl fühlen. Auch kann die Fachkraft beobachten, auf was die Blicke des Kindes gerichtet sind, etwa bei der Kugelbahn oder bestimmten Bauklötzen, die sein Interesse verraten. Sie kann es dann anregen, sich mit dem Material zu beschäftigen. Für den Zeitraum der Betreuung muss die Pädagogin die Mutter oder den Vater ersetzen, ohne jedoch primäre Bezugsperson zu werden. Das erfordert ein Feingefühl zwischen Distanz und Nähe. Für das Kind ist der Kindergarten eine neue Welt, zumindest, wenn es diesen nicht schon durch ältere Geschwister kennt. All die Farben, Formen, die vielen anderen Kinder und Erwachsenen, die unterschiedlichen Räume sind zunächst fremd und neu. Von der Hand oder dem Schoß der Erzieherin aus erobert es sich ganz allmählich kleine Ausschnitte aus dieser neuen Umwelt. Je nach Interesse hält es sich erst einmal am Maltisch, in der Kuschelecke oder am Esstisch auf. Es beschäftigt sich meist erst mal mehrere Tage mit einem Material, etwa einem Puzzle, einem Tuch, einer Sorte Malstifte, mit etwas, das es vielleicht von zu Hause schon kennt. Diese Dinge gehören bereits zur persönlichen Eigenwelt des Kindes. Das gibt erst mal Sicherheit. Die Bezugserzieherin muss stets in der Nähe sein, damit die leibliche Bezogenheit auf die sichere Basis nicht unterbrochen wird. Das Kind kann am Anfang die Trennung zu dieser sehr neuen Vertrauensperson noch schwer verkraften. Erst allmählich setzt es sich per Einleibung mit neuen Materialien wie Bausteinen, Kastanien, Muscheln, Kuscheltieren, etc. auseinander. In der intensiven Auseinandersetzung mit dem Material nimmt es dieses in die persönliche Eigenwelt auf. Immer wieder baut es Türme mit den bunten Klötzen, macht es das Katzenpuzzle mit den 12 Teilen oder steckt die bunten Stecker in die Plastikunterlage. Es beschäftigt sich so lange mit einem bestimmten Material, bis es alle Möglichkeiten erkundet hat. Erst dann entlässt es dieses Spielzeug in die persönliche Fremdwelt und sucht sich neue Gegenstände seines Interesses. Allmählich nimmt der Neuling dann auch Kontakt zu einzelnen Kindern auf. 178 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

35. Der Übergang von der Familie zur Kindertagesstätte

Der Kontakt mit anderen Kindern ist eine besondere Herausforderung, da diese ebenso wie der Neuling sich noch in einer egozentristischen Lebensphase befinden. Das heißt sie nehmen nicht automatisch Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer, sondern sind zunächst mit dem Stillen der eigenen Wünsche, Interessen und Gelüste beschäftigt. Einerseits sind Kinder sehr neugierig auf Ihresgleichen und sie sind interessiert daran, was andere Kinder sagen und tun. Aber die Auseinandersetzung mit anderen Kindern ist auch anstrengend, da sie mit einer Vielfalt von Affekten einhergeht, die dann auch entsprechend verkraftet werden müssen. Wie weiter oben bereits beschrieben, spielen kleine Kinder zunächst einmal nebeneinander her. Sie beobachten andere Kinder und ahmen ihr Tun nach, indem sie mit einem anderen Förmchen versuchen, Sandkuchen zu backen, auf einer anderen Balancierstange versuchen, das Gleichgewicht zu halten oder ein anderes Bilderbuch durchblättern. Dabei greifen sie jeweils die Bewegungssuggestionen der Vorbilder auf und setzen sie in ihrer je eigenen Weise um. Manchmal treten sie dabei in Interaktion miteinander und klopfen gleichzeitig auf die Backförmchen oder winken sich beim Balancieren zu. Dieses Wiedererkennen des eigenen Tuns im anderen erzeugt meist freudige Begeisterung. Man fühlt sich irgendwie verbunden, zwei Verbündete in der Auseinandersetzung mit den Dingen und der Welt. In solidarischer Einleibung wiegen sie sich in einer Hängematte, klappern mit ein paar Stöcken oder summen ein Lied. Aber auch die antagonistische Einleibung gehört dazu: Wer erreicht zuerst das begehrte Dreirad? Da wird mit Blicken ausgemessen, dann gerannt, dann das Fahrzeug besetzt und losgefahren. Mit kleinen Tricks bringt man sich wieder mit ins Spiel, indem man als »Schutzmann« das Fahrzeug zum Halten bringt, als »Eisverkäufer« das andere Kind vom Vehikel weglockt oder als »Arbeiter« Eimer anschleppt, die mit transportiert werden müssen. So entsteht ein leiblicher Dialog, der dazu führen kann, dass am Ende beide auf dem Fahrzeug mitfahren oder auch mit Rückzug in einen anderen Spielbereich oder mit Tränen, weil die eigenen Interessen nicht verwirklicht wurden. Kinder erlernen in leiblicher Kommunikation erst mühsam den Aufbau sozialer Kontakte mit Gleichaltrigen. Sie erleben dabei gleichermaßen Freude und Trauer, Begeisterung und Enttäuschung, Zuneigung und Wut, Liebe und Eifersucht, Lust und Schmerz. Sie sind mit dem ganzen Leib involviert in diese Freundschaften und Spielgruppen und lernen dabei, mit ihren Eigenschaften und Fähigkeiten 179 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

sich ins Gesamtgefüge einzubringen. Im Gegensatz zu den meisten Spielmaterialien, die in ihren Eigenschaften konstant sind, wie Knete, Lego oder Sand, sind andere Kinder eher unberechenbar. Denn sie sind jeweils ihren Affekten und ihren Launen unterworfen und reagieren nicht jeden Tag gleich. Das freundliche Mädchen kann auch kratzbürstig und wütend sein, der lustige Junge ist am nächsten Tag vielleicht in sich gekehrt und ablehnend. So erleben Kinder in ihren Kontakten im Wechsel Engung und Weitung, Annahme und Ablehnung. Diese Erfahrungen sind sehr wesentlich für Kinder, um sich in der sozialen Umwelt zurechtzufinden. Dabei erleben sie erwachsene Bezugspersonen, die sie einerseits in ihren Interessen stützen, andererseits auch Grenzen setzen. Man sollte jedoch nie vergessen, dass dies ein langer Prozess ist, der mehrere Jahre dauert. Daher braucht man von Kindern nicht zu früh vernünftiges und jederzeit sozial angepasstes Verhalten erwarten. Insgesamt ist der Übergang von der Familie in die Kindertagesstätte ein für das Kind sehr anstrengender Vorgang, der die Kräfte des gesamten Leibes abverlangt. Auch wenn es gerne in die Tageseinrichtung geht, braucht es von Seiten der Eltern weiterhin Unterstützung und liebevolle Annahme. Obwohl es im Kindergarten bereits selbständig auftritt, benötigt es zuhause manchmal dennoch Trost, Zuspruch und Umsorgung. Eltern und pädagogische Fachkräfte haben die Aufgabe, leibliche Signale sorgfältig zu beobachten, ein intensives Gespür zu entwickeln, um mögliche Ängste, Schwierigkeiten und Überforderung zu erkennen und das Kind angemessen in seinen Interessen und Vorlieben zu unterstützen. Denn nicht alle Kinder zeigen mit epikritischen Äußerungsformen, ob sie sich wohl fühlen oder nicht. Manche verkriechen sich auch in protopathische Tendenzen, die wenig auffallend sind aber ebenso anzeigen können, dass ein Kind aus dem Gleichgewicht geraten ist. Die meisten Kinder bewältigen Übergänge recht gut und gewöhnen sich rasch an neue Situationen. Doch besteht immer ein gewisses Risiko, dass durch starke affektive Betroffenheit Kinder häufiger in personale Regression geraten und die Situation für sie zu einer emotionalen Belastung wird. Dann benötigen sie viel leibliche Zuwendung, Trost und Unterstützung von Seiten der Eltern und der Pädagogen.

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36. Die Situation in der Kindertagesstätte

36. Die Situation in der Kindertagesstätte Das Erleben in der Kindertagesstätte ist für Kinder wahrscheinlich ein ganz anderes, als für die Eltern und die pädagogischen Fachkräfte. Den Eltern sind meist die Öffnungszeiten wichtig, ob es ein gesundes Mittagessen gibt, dass die Kinder sinnvolle pädagogische Angebote erhalten und etwas lernen. Natürlich wünschen sie sich auch, dass die Kinder sich wohl fühlen, dass die Fachkräfte nett und einfühlsam sind und ein konstruktiver Dialog zwischen Eltern und Pädagogen stattfindet. Doch dies wird meist eher vorausgesetzt und steht nicht im Vordergrund der Auswahl des Kindergartens. Die Fachkräfte stehen für eine anspruchsvolle Konzeption und eine professionelle Einrichtung. Die Beziehung zu den Kindern wird als wesentlich für die pädagogische Arbeit angesehen, aber eher als grundsätzliche Haltung, weniger als konkrete Umsetzung im Einzelfall. Aus der Perspektive der Kinder sieht die gemeinsame Situation in der Tagesstätte ganz anders aus. Sie erleben tagtäglich unterschiedliche Räume, mindestens eine Bezugserzieherin und eine bestimmte Tagesstruktur. Wenn sie morgens früh in die Einrichtung kommen, werden sie in der Regel erst mal in einem Raum, der Frühgruppe, gesammelt und von den Fachkräften im Frühdienst in Empfang genommen. Das kann eine willkommene Abwechslung sein, weil das ein anderer Raum mit anderem Spielzeug und anderen Kindern ist. Für manche Kinder ist das aber schwierig, weil sie sich an einem fremden Ort erst zu Recht finden müssen. Kann man sich hier erst mal in eine Ecke zurückziehen oder ist es eher grell und bunt, sodass man gar nicht weiß, wo man sich hinsetzen soll? Gibt es gedämpftes Licht oder Neonröhren? Sind die Möbel hart oder weich? Wirkt der Raum eng und drückend oder weit und ausladend? Das Kind stellt sich sicher nicht solche konkreten Fragen, sondern es empfindet den Raum einfach als angenehm und einladend oder als befremdlich und unangenehm. Es spürt noch keine so große Vertrautheit zu den Pädagogen vom Frühdienst und traut sich nicht, sie anzusprechen. Wenn es dann gerade angefangen hat, zu spielen, müssen alle womöglich die Gruppe wechseln, weil nun die eigene Gruppe geöffnet wird. Dies ist zum Teil mit Engung verbunden, mit Gefühlen von Fremdheit und Unbehagen. In der eigenen Gruppe kommen die Kinder mit der Zeit meist gut zu recht, weil hier die Strukturen überschaubar sind. Es gibt bestimmte Spielecken, für alle gültige Regeln und einen wiederkehrenden Tagesablauf. Nach dem Mittagessen gibt 181 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

es für Jüngeren Ruhezeiten. Dazu begeben sie sich in einen bestimmten Raum zum Schlafen. Dies ist ebenfalls nicht ganz einfach, weil mehrere Kinder nicht so leicht zur Ruhe kommen wie ein einzelnes. So kann die Zeit, die zum Schlafen gedacht ist, für manche Kinder sehr anstrengend werden. Am Nachmittag werden die Kinder dann auch meist in ein bis zwei Räumen zusammen gefasst oder sie spielen draußen. Hier begegnen sie erneut Spielgefährten aus anderen Gruppen, die sich aber mit der Zeit kennen. Die Ganztagskräfte sind dann für alle zuständig, die eben bis nachmittags in der Einrichtung bleiben. So erleben die Kinder sehr unterschiedliche Räume und auch verschiedene Fachkräfte mit ihren je eigenen Erziehungsstilen, Fähigkeiten und Eigenschaften. Das kann für manche interessant und anregungsreich sein, für andere bedeutet das auch eine hohe Anforderung und Flexibilität. Im Laufe des Tages wechseln Freispielphasen, in denen Kinder ihre Spielpartner, Spielmaterialien und Räume selber wählen können mit Phasen von angeleiteten Angeboten ab. Die Fachkräfte bieten dann Lieder, Spiele, Bewegungsangebote, künstlerische Aktionen oder ganze Projekte an. Meist werden auch jahreszeitliche Themen und kulturelle Feste mit eingebunden. Jede Einrichtung bietet eine bestimmte Tagesstruktur, die Sicherheit und Orientierung gibt. Die meisten Kinder kommen mit einem normalen Kindergartentag ganz gut zurecht, auch wenn sie natürlich am Abend dann auch müde sind von all den Eindrücken und Lernerfahrungen. Was für Kinder aber zusätzlich spürbar ist, das ist die Atmosphäre, die in einer Einrichtung herrscht. Haben die Pädagogen Zeit, sich auf die Anliegen der Schützlinge einzulassen? Nehmen sie in den Arm, wenn Trost nötig ist? Hören sie geduldig zu, geben sie befriedigende Antworten, setzen sie sich mit den Fragen der Kinder auseinander? Zählt gerade dieser schöne Moment im Sandkasten oder ist es eher ein Hetzen von einem Angebot zum nächsten: Spielen, Aufräumen, Spielen, Aufräumen, Essen, Abräumen, Schlafen usw. Sind die Tage mit verschiedenen Angeboten angefüllt oder gibt es Freiräume? Werden die Sorgen, Nöte, Interessen und Wünsche der Kleinen ernst genommen oder ein Programm abgespult? Kinder spüren rasch das Klima einer Einrichtung. Ein gutes Konzept, das schriftlich abgefasst ist, bedeutet noch nicht, dass sich ein Kind im Kindergarten sicher und geborgen fühlt. Denn es kommt für Kinder vor allem darauf an, dass die Fachkräfte leiblich verfügbar sind. Diese Verfügbarkeit bezieht sich vor allem auf 182 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

36. Die Situation in der Kindertagesstätte

das Hier und Jetzt. Sie zeigt sich darin, wie aufmerksam und konzentriert man sich auf Jungen und Mädchen einstellen kann, ihre leiblichen Signale deuten kann und diese adäquat beantwortet. Wenn eine Pädagogin mit einer Kleingruppe ein Brettspiel spielt und merkt nicht einmal, ob sie mit dem Würfeln dran ist, weil sie in Gedanken gerade beim nächsten Sommerfest ist, dann ist sie nicht präsent und die Kinder spüren das. Sie merken das an den Blicken, an der Reaktion auf Fragen, an der Zugewandtheit und an der Stimme, wie an- oder abwesend sie im Augenblick ist. Eine Erzieherin beschreibt das so: »Also wenn Kinder merken, ich höre ihnen zu, wenn Kinder merken, ich schätze sie und wenn Kinder merken, wenn sie mir etwas sagen, das setze ich auch um und tue es nicht einfach ab, also wenn ein Kind z. B. mich etwas fragt und ich rede mit einem Erwachsenen, sage ich, du Moment ich habe gleich Zeit für Dich und ich enttäusche es dann nicht und dass ich auch ihm genau so zuhöre, wie ich vorher dem anderen Erwachsenen zugehört habe, das merken Kinder dann schon.« 32 Eine gute Fachkraft kann nur dann sensitiv auf Kinder eingehen, wenn sie ganz da ist und ihre Aufmerksamkeit und Konzentration voll auf das Gegenüber richten kann. In intensiver Einleibung fällt ein Schweigen, eine Trauer, ein Glücksmoment besonders auf, weil sie auf die Empfindungen und leiblichen Signale der Kinder gerichtet ist und diese auch wahrnimmt. Daher sind für das Wohlbefinden der jungen Menschen Arbeitsbedingungen wichtig, die den Fachkräften diese Konzentration auf die Kinder auch ermöglichen. Wenn zu viele unterschiedliche Anforderungen an den Fachkräften zerren, ist ein leibliches Ausrichten auf die Befindlichkeiten der Kinder sehr schwierig. Auch die Zusammenarbeit unter den Erwachsenen, also mit Kollegen und Eltern ist bedeutsam. Gehen die Fachkräfte freundlich und wohlwollend miteinander um oder kritisch und gereizt? Besteht ein besonderes Konkurrenzverhältnis zwischen einzelnen Gruppen oder Fachkräften? Hier steht die antagonistische Einleibung im Vordergrund. Die Klärung der Machtverhältnisse unter den Teammitgliedern ist dann wichtiger als der gemeinsame Auftrag gegenüber den Kindern. Fallen manche Kollegen wegen Krankheit häufig aus mit der Folge, dass eine Pädagogin die Gruppe alleine führen muss? Diese Barbara Wolf, Bildung, Erziehung und Sozialisation in der frühen Kindheit, Freiburg i. B. 2012, S. 327

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B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

Aspekte beeinflussen das leibliche Empfinden der Fachkräfte und führen zu Störungen, Belastungen oder Überforderungen. Dann gerät die Fachkraft selbst in personale Regression. Und wie weiter oben beschrieben wird es dann sehr schwierig, auf Kinder und ihre affektiven Betroffenheiten einzugehen. Denn die Pädagogin ist vor allem in ihrer personalen Emanzipation gefordert, um über der Situation zu stehen und die Struktur und die Atmosphäre eines angenehmen Lernklimas zu gewährleisten. Wenn die Belastung für die Erzieherin zu hoch wird, sie ständig mehrere Dinge gleichzeitig erledigen muss und die Konzentration auf die gemeinsame Situation sinkt, merken das auch die Kinder: »Und das merkt man auch an den Kindern. Die Kinder sind einfach lauter. Die sind einfach … das merken die Kinder, wenn man was am machen ist, dementsprechend ist die Gruppe … steht Kopf, das ist so!« 33 Auch die Eltern sind natürlich ein Faktor, der die Gesamtatmosphäre einer Einrichtung prägt. Sind die Eltern zufrieden oder kritisch eingestellt? Gibt es häufig Konflikte zwischen Eltern und Pädagogen? Sind die Eltern eher willkommen oder unerwünscht in der Einrichtung? Wie funktioniert die Kommunikation zwischen Eltern und Fachkräften? Auch hier geht es um Machtkämpfe in antagonistischer Einleibung. Wer hat hier mehr zu sagen, wer gilt als kompetent, wer nimmt wen ernst? Dies wird durch subtile Signale wie wegschauen, hinter der Tür reden, abschätzende Blicke aber auch über offene Gesten der Überlegenheit und verbale Kritik ausgehandelt. Wenn sich ein pädagogisches Team stark unter Druck gesetzt fühlt, geraten die Fachkräfte regelmäßig in Engung, wenn es Beschwerden gibt. Abwertende Blicke sind wie Pfeile, die in den vitalen Antrieb eindringen und ihn lähmen. Wenn dieser Zustand dauerhaft besteht, sinkt die Initiative und die Arbeit erfolgt eher als ängstliche Reaktion auf Beschwerden als aus Begeisterung am Beruf. Die Pädagogen können bei permanenter Kritik und fehlender Anerkennung kein positives berufliches Selbstverständnis entwickeln und es wird schwieriger, eine gute Lernsituation zu schaffen. Ein solch angespanntes Klima spüren Kinder, zwar nicht konkret als greifbaren Konflikt aber als diffuse Gestimmtheit der Personen, mit denen sie jeden Tag in Interaktion treten. Eine Fachkraft beschreibt dies so: 33

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36. Die Situation in der Kindertagesstätte

»Also ich denke die Kinder merken ganz klar, wie Erwachsene auch miteinander umgehen und erfahren auch ganz klar, wie Mama und Papa mit der Erzieherin spricht und umgekehrt und da haben sie ganz feine Antennen dafür.« 34 Meist werden Pädagogen in belastenden Situationen in ihren Entscheidungen rigider, verbieten mehr, vereinfachen sich den Alltag und nehmen einzelne Interessen und Bedürfnisse der Kinder weniger wahr. Oder aber sie werden permissiver, weil sie keine Kraft mehr haben, ständig Grenzen zu setzen und lassen viele Prozesse einfach laufen, auch wenn sie normalerweise hier eingreifen würden. Eine intensive antagonistische Einleibung unterbleibt. In diesen Momenten fehlt den Kindern dann der nötige Halt, sowohl als Individuum als auch als Gruppe. Sie spüren leiblich eine Leere, wo sie sonst den Widerstand der Erzieherin gewohnt sind, der mit einer gewissen Energie entgegengesetzt wurde. Wegen mangelndem Halt werden die Kinder ungehalten und benehmen sich auch so. »Genau und dadurch hat man auch wahrscheinlich wieder so mehr Lautstärke und mehr Chaos bei den Kindern. Das ist das, die reagieren ja auch da drauf.« 35 Meist endet dies dann so, dass sich die gemeinsame Situation zuspitzt, sodass man irgendwann umso autoritärer eingreifen muss. Nur ein massives Erheben der Stimme oder ein starkes Verbot kann dann die Situation noch retten. Dies ist für die Gruppe dann viel schwerer nachvollziehbar, als wenn Regeln klar formuliert und eingehalten werden. In einer solchen Situation mangelnder Einleibung können Kinder schwer lernen, weder in kognitiver, motorischer, emotionaler und sozialer Hinsicht. In der gemeinsamen Situation in der Tagesstätte sind für Kinder somit ganz andere Faktoren wesentlich, als aus der Perspektive der Erwachsenen. Nicht die Konzeption, die Angebote oder die Öffnungszeiten stehen für sie im Vordergrund, sondern ob sich die Erzieherin um sie gekümmert hat, ob sie lacht und freundlich ist, ob das Zusammensein mit Gleichaltrigen als angenehm empfunden wurde und ob man sich wohl gefühlt hat. Natürlich interessieren sich Kinder auch für bestimmte Materialien oder Tätigkeiten und freuen sich, Barbara Wolf, Bildung, Erziehung und Sozialisation in der frühen Kindheit, Freiburg i. B. 2012, S. 356 35 Ebd., S. 359 34

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wenn sie das erste Mal auf einen Baum geklettert sind. Aber eingerahmt ist ihr gesamtes Erleben doch durch die Atmosphäre, in der das geschieht. Daher sind die liebevolle und kindgerechte Gestaltung der Räume und ein konstruktives Miteinander ebenso wichtig wie das pädagogische Konzept. Für die Neuen zählt letztendlich, dass sich Menschen sensitiv zuwenden, dass sie interessante Entdeckungen machen dürfen und dass sie in einer offenen, entspannten Atmosphäre aufwachsen dürfen. Wenn dies dann noch konzeptuell abgesichert ist, umso besser.

37. Der Übergang von der Kindertagesstätte zur Schule Der Kindergarten ist in der Erziehung und Sozialisation dabei beteiligt, bei den Kindern Selbstkompetenz, Sozialkompetenz und Sachkompetenz zu entwickeln. Dies geschieht natürlich gleichermaßen im Elternhaus, da das Kind auch dort vielfältige sprachliche, motorische, soziale und emotionale Anregungen und Eindrücke erhält. Es lernt durch Einleibung, sich mit unterschiedlichen Themen und Objekten seiner Umgebung auseinanderzusetzen. So integriert es Legos, Puppen, Sand, Wasser, Dreirad, Geschirr, Kochtöpfe, Bücher, Farben, Stöcke, Steine usw. durch tätigen Umgang in seine persönliche Eigenwelt. Dabei entwickelt es vielfältige Kontakte mit anderen Kindern und Erwachsenen, die es durch ihre Bewegungssuggestionen und Gestaltverläufe zum Nachahmen anregen. Es lernt in antagonistischer Einleibung sich durchzusetzen oder sich zurück zu nehmen, in gemeinsamen Situationen Freude zu empfinden oder Enttäuschungen zu verkraften. Durch engende und weitende Erfahrungen spürt es sich selbst, seine Empfindungen, Abneigungen und Sympathien und lernt durch sensitive Begleitung von Erwachsenen, mit diesen leiblichen Regungen umzugehen. Das Kind lernt durch leibliche Erfahrung, was es kann und was es (noch) nicht kann, es erfährt Selbstwirksamkeit aber auch Ohnmacht. Es erlebt sich als einzigartiges Subjekt aber auch als Teil einer Gemeinschaft. So lernt es laufen, sprechen und die vielen kleinen Verrichtungen des täglichen Lebens, wie Schuhe binden, Jacke schließen, Tisch decken, Tasche packen usw. Mit sechs Jahren wird das Kind zunehmend unabhängiger von Erwachsenen, weil es sich immer mehr Bedürfnisse selbst erfüllen kann oder auf Gleichaltrige zurückgreifen kann, die es unterstützen. In diesem Alter naht nun der Übergang zur Schule. Die Schule 186 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

37. Der Übergang von der Kindertagesstätte zur Schule

als Institution dient vor allem dazu, die Kulturtechniken unserer Gesellschaft zu vermitteln, junge Menschen in das Leistungssystem einzubinden und sie durch ausgesuchte Kompetenzen auf das Leben des Erwachsenen in unserem Kulturkreis vorzubereiten. Der Übergang in die Schule wird häufig viel stärker gewürdigt und ernst genommen als die Transition von der Familie in den Kindergarten. Noch heute wird häufig vom beginnenden »Ernst des Lebens« gesprochen. Während als bevorzugte Lernmethode im Kindergarten das ganzheitliche Spiel eingesetzt wird, stehen in der Schule spezifische formale Lerntechniken im Vordergrund. Durch die Bewertung der Leistungen in einem Notensystem erhält das Kind Zugang zu einem umfassenden Konkurrenzsystem, das seinen Ausdruck in der hierarchischen Gliederung des Bildungssystems findet und die spätere gesellschaftliche Position bestimmt. Den Übergang von der primären Gruppe der Familie in die sekundäre Gruppe einer Institution haben die meisten Kinder bereits hinter sich, da 93,6 Prozent in Deutschland bereits eine Kindertagesstätte besuchen. 36 Somit sind viele Erfahrungen und Umstellungen, die mit dem Eintritt in die Schule verbunden sind, bereits gemacht: Für eine gewisse Zeit des Tages ohne die leibliche Nähe der Eltern auszukommen, Vertrauen zu anderen erwachsenen Bezugspersonen aufzubauen, sich in Einleibung mit vielfältigen Lerngegenständen und Materialien auseinanderzusetzen sowie sich mit Gleichaltrigen anzufreunden und sich im sozialen Umfeld zu positionieren. Dennoch bietet der Übergang in die Grundschule noch neue Dimensionen, die jeder neue Schüler erst einmal bewältigen und verkraften muss. Zunächst stellen die Räume für das Kind eine ungewohnte Umgebung dar, in der es sich erst einmal zurechtfinden muss. Ist der Eingang der Schule freundlich und überschaubar oder dunkel und unübersichtlich? Findet man leicht den Weg zum Klassenraum oder gilt es, viele Treppen und Abbiegungen zu überwinden, um zum relevanten Zimmer zu finden? Sind die Flure in kahlem Beton gehalten oder freundlich gestrichen und mit Bildern, Pflanzen und Plakaten verziert? Gibt es im Klassenzimmer genügend Fenster mit Ausblick nach draußen? Sind die Möbel und Einrichtungsgegenstände gepflegt? Dürfen die Kinder den Raum mitgestalten? Gibt es einen Platz www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Soziales/Sozialleistungen/ Kindertagesbetreuung/Tabellen/Tabellen_Betreuungsquote.html (15. 05. 2015)

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B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

für die privaten Gegenstände wie Tasche, Jacke, Turnsachen usw.? Wo sind die Toiletten und sind diese so gestaltet, dass man sich ohne Ekel darauf begeben kann? Dies sind Fragen, die sich Jungen und Mädchen nicht unbedingt bewusst stellen, deren Antworten sich aber auf das leibliche Befinden in der neuen Institution auswirken. Die räumlichen Gegebenheiten beeinflussen das Wohlbefinden oder Unwohlsein des Kindes an dem Lernort Schule. Weiterhin sind Rituale, Regeln und Verhaltensnormen in der Schule neu und Erstklässler müssen sich diese erst aneignen. Rituale erleichtern den Kindern, sich in den Alltagsstrukturen zurechtzufinden. Eine Begrüßung, ein Lied, ein Morgenkreis zu Beginn des Tages führen die Schüler ins Geschehen ein. Nun müssen alle lernen, dass man nicht ständig frei wählen kann, was man tun will. Die meisten sind es aus dem Kindergarten gewohnt, nach intrinsischer Motivation Beschäftigungen zu wählen, zusammen mit einer kleinen Anzahl von Spielgefährten ihrer Wahl. Zwar gibt es je nach Konzept der Grundschule auch eine gewisse Wahlmöglichkeit, aber diese ist doch eher eingeschränkt. Daher werden die Schüler eher extrinsisch durch die Lehrkraft motiviert, sich mit bestimmten Sachverhalten auseinanderzusetzen. Die Integration von Sachverhalten in die persönliche Eigenwelt ist nun schwieriger, weil man sich mit Zahlen, Buchstaben oder anderen Inhalten beschäftigen muss, die momentan vielleicht gar nicht so sehr das Interesse fesseln. Daher ist eine solch hohe Konzentration, wie sie aus intrinsischer Motivation entsteht, womöglich nicht zu leisten. Und diese ist schließlich die Voraussetzung für eine intensive Einleibung. Die Kinder müssen zusätzlich lernen, dass der Bewegungsraum eingeschränkt ist, da man in der Klasse vorwiegend auf dem eigenen Stuhl am Pult sitzt und dass man den Raum auch nur zu bestimmten Zeiten verlassen kann. Auch hier gibt es heute eine breite Variation von Lernverfahren, die auch ermöglichen, aufzustehen und zwischen den Tischen von einer Lernstation zur anderen zu wandern. Dennoch sind im Klassenraum die Möglichkeiten zur Bewegung eher beschränkt. Bei der Einleibung mit Lerngegenständen ist jedoch die Eigenbewegung sehr wichtig, da sich das Kind so optimal auf den Gegenstand zubewegen, sich mit ihm in Nähe oder Distanz bringen kann und sich von verschiedenen Seiten, von oben oder unten annähern kann. So findet es seine Perspektive auf das Objekt, den Text oder das Bild. Das ruhige Sitzen vor zweidimensionalen Blättern entspricht nicht den Prinzipien des kindlichen Lernens wie etwa An188 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

37. Der Übergang von der Kindertagesstätte zur Schule

schauung von echten Gegenständen, selbstaktive Auseinandersetzung mit diesen, lebensnahe Einführung von Themen wie Tiere, Pflanzen, Wetter usw. Von einem Blatt Papier, auf dem Birnen und Äpfel abgebildet sind, wird ein Kind kaum affektiv betroffen sein. Doch gerade die leibliche Betroffenheit, die sich in Spannung, Neugier, Wissensdurst äußert, ist ein wichtiger Motor des Lernens. Wenn Schüler selbst herausfinden müssen, wie viele Steine sie für eine echte Mauer im Schulhof brauchen, haben sie eine andere Motivation zum Zählen, Addieren, Subtrahieren oder Multiplizieren, als wenn sie eine Trockenübung auf dem Blatt Papier machen. Diese Schwächung der leiblichen Dimension des Lernens ist für viele schwer auszuhalten. Weiterhin müssen Schüler im Klassenraum die Nähe von bis zu 30 anderen in einer bestimmten Formation relativ lange aushalten. Im Kindergarten konnte man häufig in Spielecken, andere Räume oder ins Außengelände ausweichen, wenn man eine andere Spielsituation wählen wollte. Nun gilt es, all die verschiedenen Menschen mit ihren Gerüchen, Äußerungen, Bewegungen und Stimmungen für lange Zeiträume um sich herum zu tolerieren, auch wenn man vielleicht lieber etwas in Ruhe betrachten, mit zwei anderen besprechen würde oder gerade eine Auszeit braucht. Die leibliche Balance zu all den anderen Personen im Raum herzustellen erfordert bereits eine Menge Energie, ohne dabei bereits etwas Inhaltliches gelernt zu haben. Zusätzlich erfordert die Unterrichtssituation eine Fokussierung auf das, was die Lehrperson sagt, tut und vormacht. Dies kommt zwar in der Kindertagesstätte auch vor, aber nur in bestimmten Abständen und für gewisse Zeiten am Tag, weil die Kinder häufig miteinander spielen. In der Schule wird die Lernsituation vor allem von der Lehrperson bestimmt. Während im Kindergarten außer den Mahlzeiten vielleicht zweimal am Tag ein zielgerichtetes Angebot stattfindet, bei dem sich das Kind leiblich auf die verbalen Anweisungen und Bewegungssuggestionen der Fachkraft konzentrieren und einlassen muss, finden solche Situationen in der Schule sehr häufig statt. Die Lehrkraft trägt vor, zeigt, deutet, singt vor, macht vor, moderiert Einzelaufgaben und Gruppenarbeiten und ist somit zentraler Ansprechpartner für Lernprozesse. Schüler müssen sich für eine lange Zeit des Tages auf die Regeln, Erwartungen und Stimmungen der Lehrperson einlassen und in antagonistischer Einleibung die Interaktion mit ihr verhandeln und gestalten. Auch dies kann sehr anstrengend sein, weil 189 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

es in dem engen Raum wenige Ausweichmöglichkeiten gibt und nicht immer kann die Konzentration auf das Gegenüber gleich ausgeprägt sein. Dem Bedürfnis nach Nahrung, Bewegung, Rückzug und Distanz kann meist nur in der Pause nachgegangen werden. Die Kinder müssen lernen, diese Bedürfnisse unter Kontrolle zu halten und aufzuschieben. Es ist nicht so einfach, Essen, Laufen, Spielen und mit anderen in Kontakt zu treten in einer Viertelstunde Pause zu vereinbaren. Da sich häufig mehrere hundert Kinder auf einem Schulhof aufhalten, empfinden nicht wenige Schüler in der Pausensituation Engung. Laute Schreie, plötzliche Bewegungen, viele größere Kinder können erschreckend wirken. Die Neulinge müssen erst einen Ort finden, an dem sie sich wohl fühlen, sich gerne aufhalten und wo sie bekannte Gesichter treffen. Nach dem Klingelzeichen müssen sie dann wieder in die eigene Klasse finden, ohne von anderen umgerannt zu werden oder zu spät zu kommen. Manche Grundschulen haben für die Pause bestimmte Rituale eingeführt, um den Schülern mehr Sicherheit zu geben. Das Frühstück findet dann noch im Klassenraum statt. Sie werden nach draußen begleitet und zum Ende der Pause wieder in die Klasse geführt. Insgesamt kann man festhalten, dass die neue Situation in der Schule noch viele Anpassungsprozesse erfordert, die das Kind erst mühevoll bewältigen muss. Darüber hinaus kommt noch hinzu, dass die Handlungen des Kindes nun im Sinne individueller Leistungen bewertet und mit denen anderer Kinder verglichen werden. Auch hier müssen die neuen Schüler erst lernen, mit der Konkurrenzsituation und der permanenten Bewertung umzugehen.

38. Die Situation in der Schule Wesentliche Strukturmerkmale des Lernortes Schule sind die zeitliche und inhaltliche Taktung des Tagesablaufes sowie die Notengebung. In der Regel werden Beginn und Ende der einzelnen Stunden mit einem Klingelzeichen oder Gong angekündigt. Nur in wenigen Reformschulen findet eine weniger strikte Zeiteinteilung des Unterrichts statt. Die Inhalte beziehen sich auf bestimmte Fächer. Zwar arbeiten viele Schulen mit dem Begriff des Gesamtunterrichts, der eine gewisse Planungsfreiheit der Lehrkraft zulässt. Doch auch hier

190 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

38. Die Situation in der Schule

wird zeitlich festgelegt, wann etwa Rechnen und wann Lesen im Vordergrund steht. Kinder müssen sich an diese Strukturen erst gewöhnen. Zwar gab es auch im Kindergarten bestimmte Lernzeiten, in denen sie sich auf bestimmte Inhalte konzentrieren mussten in einem vorgegebenen Setting. Doch dies betraf nur einzelne Tagesabschnitte. In der Schule ist der gesamte Tagesablauf zeitlich und inhaltlich gegliedert. Auf die individuelle Tagesform oder spezifische Bedürfnisse kann hier wenig Rücksicht genommen werden. Da das Lernen hier vorwiegend auf kognitive Prozesse ausgerichtet ist, steht das ruhige Sitzen und die Auseinandersetzung mit zweidimensionalen Arbeitsblättern im Vordergrund. Dies widerspricht, wie oben angeführt, wegen seiner Leibferne zunächst den Prinzipien des kindlichen Lernens. Weiterhin verhindert es eine ganzheitliche Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand. Die intrinsische Motivation als Lust, sich mit einer Sache auseinanderzusetzen, steht nicht mehr im Vordergrund. So ist das Kind mit seiner Affektivität und seiner leiblichen Gerichtetheit nicht immer in dem Maße auf den Lernstoff konzentriert, wie es der Fall wäre, wenn es sich diesen selbst ausgesucht hätte. Auch der persönliche Zugang zum Thema über allmähliche Annäherung, Hantieren, Üben muss in einem bestimmten Zeitraum, einem bestimmten Tempo und in der Art und Weise passieren, wie es von der Lehrkraft vorgegeben und akzeptiert ist. Hinzu kommt dann noch der Aspekt der Bewertung. Auch wenn in den meisten Grundschulen am Anfang eine verbale Bewertung steht und man zunehmend auf Beobachtungsverfahren zurückgreift, die den Schüler in seiner gesamten Entwicklung betrachten sollen, steht am Ende doch die Note. In der Schule geht es nicht mehr allein darum, dass man etwas überhaupt lernt, etwa Lesen, Schreiben oder Rechnen. Im Kindergartenalter ging es jeweils um den grundsätzlichen Kompetenzerwerb. Ob man gehen, sprechen, schneiden, balancieren oder klettern kann war zunächst wichtiger, als wie gut dies im Vergleich zu anderen gelingt. Nur bei besonderen Defiziten in einem bestimmten Lernbereich erfolgte womöglich gezielte Förderung, um in etwa auf den Stand der anderen Kinder zu kommen. In der Schule wird jedes Lernverhalten bewertet und ins Verhältnis mit den Mitschülern gesetzt. Es gibt ganz bestimmte Maßstäbe wie Rechtschreiberegeln, mathematische Gesetze usw. die scheinbar objektive Vorgaben machen, wie das Lernergebnis aussehen muss. Am Ende des jeweiligen Schuljahres muss jeder Schüler 191 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

bestimmte Lernziele erreichen, weil er sonst nicht in die nächste Klasse versetzt wird. Obwohl es durchaus unterschiedliche Entwicklungsschübe bei Kindern gibt, die einige Monate oder gar Jahre auseinanderliegen können, versucht man hier, die gleiche Leistungsfähigkeit zu erreichen. Für ehrgeizige und begabte Mädchen und Jungen ist dies relativ einfach zu erreichen. Für weniger ambitionierte Kinder oder solche mit weniger ausgeprägtem vitalen Antrieb kann dies schwierig werden. Das Kind muss lernen, eine Sache nicht nur um ihrer selbst willen zu lernen, sondern auch, um eine gute Note zu erhalten. Nehmen wir das Beispiel des Lesens. Zunächst muss der Lernende 26 Buchstaben lernen und vor allem bei ähnlich klingenden Konsonanten unterscheiden lernen, mit welchem nun das Wort geschrieben wird. Es ist durchaus eine leibliche Auseinandersetzung mit den Worten und ihren Klängen, um auf die richtige Schreibweise zu kommen. Was ein weiches oder ein scharfes »S« ist, muss man zunächst einmal bei der Aussprache spüren. Ob ein Satz eine Aussage oder eine Frage ist, erkennt man etwa an der Stimmmodulation und womöglich an der Haltung des Sprechenden. Manchmal gibt es jedoch keine Anhaltspunkte außer der Schreibregel selbst. Bei dem Wort Vogel wäre vom Klang her etwa die Schreibweise Fogel ebenso möglich wie die tatsächliche. Manche Kinder lernen die Buchstaben besser, wenn sie diese nicht nur mit dem Stift auf ein Blatt malen, sondern sie in der Turnhalle mit einem Seil legen und abschreiten. Auch das Schreiben mit Kreide auf einen Steinboden oder das Malen in weichen Sand ist für Lernende eine Möglichkeit, Buchstaben einprägsamer und leiblicher kennen zu lernen. Beim Lesen lernen müssen zunächst die Klänge der Buchstaben verinnerlicht sein. Dann kann das Kind anfangen, diese zusammen zu ziehen und miteinander zu verbinden. Es entwickelt ein Gespür dafür, was richtig klingt und was falsch. Dies basiert darauf, dass es die gesprochene Sprache bereits kennt und bestimmte Klangbilder vertraut sind. So spürt es rasch einen Zusammenhang zwischen der mühsam zusammengesetzten Buchstabenfolge und einem bekannten Begriff. Die Klangbilder gleichen sich und das Kind erfährt eine Kohärenz. Manche Schüler brauchen bis zum dritten Schuljahr, bis sie einen Text flüssig lesen können. Andere können das schon zu Beginn des zweiten Schuljahres. Dies hängt einerseits mit Begabung, andererseits mit Übung zusammen. Vor allem aber mit dem Zugang zum Lesen. Ein Text, der sich mit dem Lieblingstier des Kindes befasst, 192 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

38. Die Situation in der Schule

weckt ein anderes Interesse als manche Texte aus dem Lesebuch. Wenn ein Gegenstand der persönlichen Eigenwelt des Schülers entspricht ist er neugieriger, als wenn er keinen Bezug hat. Auch hier kommt es wieder auf das subjektive Betroffensein an, ob man etwas wirklich unbedingt verstehen will oder ob es sich nur um eine Aufgabe handelt, die man ohne persönlichen Bezug lösen soll. Die extrinsische Motivation, eine gute Note zu erhalten kann ein Anreiz sein, sich anzustrengen. Doch ist diese Art der Motivation auf die Dauer ermüdend, wenn der Lerngegenstand zu selten dem eigenen Sinnhorizont entspricht. Die Erfahrung, dass andere Kinder bessere oder schlechtere Zensuren erhalten als man selbst, gehört untrennbar zum Schulleben dazu. Sehr rasch wissen die Schüler, was es bedeutet, eine eins, zwei, drei, vier oder fünf zu schreiben. Wer eine gute Note hat, bekommt mehr Anerkennung durch Lehrer, Eltern und häufig auch durch die Mitschüler. Jeder Test, jede Klassenarbeit und vor allem das Jahreszeugnis geben in Zahlen kund, wie gut oder schlecht ein Schüler beurteilt wird. Schüler mit guten Leistungen fühlen sich kompetent, leistungsstark und selbstwirksam. Sie haben etwas gelernt und können das auch bei der Bewertungssituation abrufen. Wer eine schlechte Zensur erhalten hat, fühlt sich häufig unfähig, leistungsschwach und unterlegen. Manche Kinder empfinden das als persönliches Versagen und schämen sich. Solange die Ergebnisse sich ausgleichen, weil die Noten in einem Fach besser, in einem anderen schlechter sind, können Kinder das ganz gut aushalten. Doch wenn die Leistungen in vielen Bereichen schwach sind, nagt das am Selbstwert der Betroffenen. Dies geschieht deshalb, weil Schulnoten in unserer Gesellschaft einen ungeheuer großen Stellenwert besitzen. Obwohl in der Schule nur ein Bruchteil der Fähigkeiten abgefragt werden, die ein Mensch entwickeln muss, um erwachsen zu werden, scheint die Bewertung durch Noten wie ein unfehlbares Urteil die gesamte Person zu repräsentieren. Und schließlich bestimmen die Zensuren nach dem vierten Schuljahr auch, welche Schulkarriere eingeschlagen wird. Welche Bedeutung diese Entscheidung bei den Eltern und in der Gesellschaft hat, spüren Kinder sehr früh und sie fühlen sich davon entweder angespornt oder aber entmutigt. Das Problem dabei ist, dass viele Eigenschaften und Fähigkeiten der Kinder überhaupt keine Beachtung finden. Ein Kind, das Humor besitzt, ein besonderes Einfühlungsvermögen gegenüber Tieren hat, über einen ausgleichenden Charakter verfügt, großes handwerkliches Geschick 193 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

im Umgang mit Holz hat oder besonders empathiefähig ist, wird unter Umständen davon in der Schule kaum profitieren. Wer Eltern oder Mitschülern hilft, gut eine Klassenfeier organisieren kann, Verantwortung gegenüber Geschwistern übernimmt, ein leidenschaftlicher Tänzer ist, muss deshalb noch keine guten Zensuren in der Schule erhalten. Noten haben einen absoluten Charakter, der jedoch viele Facetten der individuellen Persönlichkeit ausklammert. Wenn Kinder sich gut an die speziellen Anforderungen der Schule anpassen können, werden sie womöglich auch gute Leistungen erbringen. Wem diese Anpassung weniger gut gelingt, wird es schwerer haben oder gar scheitern. Dies hat nun erhebliche Auswirkungen auf die Ausbildung der persönlichen Situation. Wenn Kinder in der Schule schlechte Leistungen erbringen, wird dies meist auf ihr persönliches Versagen zurück geführt. Zwar ist es möglich, per Fremdattribution die »Schuld« dem Lehrer zuzuschieben, da er das Thema schlecht erklärt habe. Doch wenn andere Schüler gute Noten haben, scheint diese Erklärung wenig plausibel. Somit scheint das Versagen doch auf der Seite des Schülers zu liegen. Hat er zu wenig geübt? Hat er das Thema nicht verstanden? War die Aufregung vor der Prüfung zu hoch? Ist er nicht in der Lage, das Thema mit seinen geistigen Fähigkeiten zu durchdringen? Häufig entsteht das Gefühl der Scham. Man ist nicht gut genug, schlechter als die anderen. »Mit mir stimmt etwas nicht« scheint die Schlussfolgerung zu sein. Dies äußert sich zunächst in Engung. Man fühlt sich irgendwie beengt, die Blicke der anderen scheinen einen wie Pfeile zu durchbohren. Worte der Kritik durch die Lehrkraft wirken wie eine schwere Last, die einen niederdrücken. Man ist wie gelähmt und fühlt sich momentan unfähig, sich weiter anzustrengen. Denn ohne Erfolg sinkt die Bereitschaft, sich zu engagieren, sich zu konzentrieren auf Dinge, die vielleicht ohnehin nicht voll dem eigenen Interesse entspringen. Dabei spielt die Situation der Notenvergabe eine gewichtige Rolle. Teilt die Lehrkraft die Arbeiten kommentarlos nach der Sitzordnung aus und zeigt lediglich den Notenspiegel? Oder werden die Arbeiten in der Reihenfolge der Benotung zurückgegeben, zuerst die Einsen, am Schluss die Fünfen. Dann steigen die Spannung und das Unbehagen der Schüler. Man wird mit der schwachen Leistung vor der gesamten Klasse bloß gestellt. Das Herz pocht, die Hitze steigt ins Gesicht, womöglich folgt ein Zittern oder eine gewisse Angststarre. Vor Scham könnte der Betroffene in den Boden versinken und fühlt 194 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

38. Die Situation in der Schule

sich in der Hierarchie ganz unten, eben als das Letze. Man ist den Blicken der Mitschüler ausgeliefert, der abwertenden Geste des Lehrers und kann sich eigentlich nur noch entziehen, indem man den Raum verlässt. Aber auch zu großer Erfolg kann zu Spott und Abwertung führen, zumindest bei den Mitschülern, die den Primus abfällig als »Streber« titulieren und ihn als vermeintlichen Lehrerliebling von gemeinsamen Aktivitäten ausschließen. Für Kinder ist es sehr wichtig, im Vergleich mit Gleichaltrigen nicht unterlegen zu sein. In der antagonistischen Einleibung wird ausgehandelt, wer wie viel und was zu sagen hat. Wer sich in verschiedenen Gebieten als unterlegen beweist, findet weniger Aufmerksamkeit im Gespräch, weniger Beachtung in der Interaktion, wird eher ignoriert oder erfährt womöglich sogar Spott. Die Niederlage in einem Gebiet kann sich auch in anderen Bereichen negativ auswirken. Oder man kompensiert es mit erhöhter Aggressivität, um sich Respekt zu verschaffen. So gerät das Kind zumindest wieder in eine bestimmte Spannung, die ihren Ausdruck sucht. Aber auch zu sehr über dem Durchschnitt zu stehen, kann zu Ausgrenzung führen, weil die Mitschüler neidisch sind auf den Erfolg, die Anerkennung des Lehrers oder weil jemand aufgrund seiner Begabung einfach anders ist als die anderen. Auch die Anerkennung durch die Eltern hat eine große Bedeutung. Sie drücken in weitenden Gesten Lob und Anerkennung aus. Die Haltung der Erwachsenen kann Stolz, Freude und Ermutigung offenbaren. In den weitenden Gesten spiegelt sich quasi die eigene Größe und Bedeutung. Mitfreude führt zu einem besonderen Getragensein in der Anerkennung der anderen. Bei Misserfolg dominieren engende Haltungen, die als Abwertung, Enttäuschung und Resignation zum Ausdruck kommen. Sie sind häufig begleitet von drohenden Worten, erniedrigenden Gesten oder auch betretenem Schweigen. Die mit diesen Gesten verbundenen Bewegungssuggestionen wirken sehr direkt auf das Befinden des jungen Menschen und es erfordert eine sehr empathische Einleibung, um ein solches Erlebnis später wieder auszugleichen. Entscheidend ist, ob in der Familie die schulischen Leistungen im Vordergrund stehen oder ob das Kind vor allem als Mensch mit seinen besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten gesehen wird. Wenn Eltern die Abweichung von dem erwünschten Verhalten ertragen können, spitzt sich die Situation weniger zu, als wenn die Schulleistung für die Familie das wichtigste Kriterium darstellt. Dies spiegelt 195 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

sich dann in der Atmosphäre der Familie wieder. Führen schlechte Zensuren zu Streit, Aggression, Abwertung und einer gespannten Stimmung besitzen diese einen hohen Stellenwert, der überprüft werden sollte. Bleiben schlechte schulische Leistungen eine Nachricht neben anderen und ein normaler Dialog ist möglich, kann man davon ausgehen, dass sie nicht im Vordergrund stehen. Natürlich schaffen es viele Kinder, sich mit der Institution Schule und ihrem Notensystem zu arrangieren. Sie bewältigen die Konkurrenzsituation und es gelingt ihnen dennoch, Kontakte und Freundschaften aufzubauen. Doch immerhin geht bereits ein Viertel der Grundschüler nicht gerne zur Schule, was zu einem großen Teil auf Angst vor den Noten zurück zu führen ist. 37 Schule als Institution bildet somit eine große Herausforderung für Kinder und führt sie in ein Leistungssystem der Gesellschaft ein, das trotz großer pädagogischer Ziele nicht zuletzt der Selektion dient, um die Guten von den weniger Guten zu unterscheiden.

39. Mobbing in der Schule Ein Phänomen, das im schulischen Alltag immer häufiger von sich reden macht, ist das Mobbing. Es bezeichnet eine bestimmte Art von Gewalt in der Schule. Im Grunde ist es nicht ungewöhnlich, dass es an einem Ort, an dem sich so viele Kinder auf engstem Raum aufhalten, zu Konflikten kommt. Nicht alle Schüler haben es gelernt, konstruktiv mit Meinungsverschiedenheiten umzugehen und so kommt es auch schnell zu massivem Streit oder gar körperlichen Auseinandersetzungen. Psychische oder physische Gewalt hat es in der Schule schon immer gegeben, doch in den letzten Jahrzehnten hat sich eine besondere Form der Gewalt manifestiert, die als Mobbing bezeichnet wird. Unter Mobbing wird eine Konfliktsituation meist unter Schülern verstanden, bei der eine unterlegene Person systematisch von einer oder mehreren Personen über einen längeren Zeitraum hin angegriffen oder diskriminiert wird mit dem Ziel, sie aus der Gruppe auszuschließen. 38 Meist beginnt Mobbing mit einer einfachen NeckeVergl. Dieter Ulich, Schulische Sozialisation, S. 377–396, in: Klaus Hurrelmann/ Dieter Ulich (Hrsg.), Neues Handbuch der Sozialisationsforschung, 1997, S. 379 38 Vergl. Imène Belkacem, Cyber-Mobbing, Hamburg 2012, S. 16 37

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39. Mobbing in der Schule

rei, wird dann jedoch immer massiver und endet nicht selten mit einer eklatanten Schädigung der Würde und des Wohlbefindens eines Kindes. Die Opfer von Mobbing stehen mehreren Tätern meist alleine gegenüber und fühlen sich unterlegen. Sie sind sozial eher isoliert, haben ein wenig ausgebildetes Selbstwertgefühl und schätzen ihre schulischen Leistungen als schwach ein. Mobbing kann sehr unterschwellig ablaufen und manifestiert sich erst mit der Zeit offensichtlich. Es beginnt beispielsweise mit leiblichen Signalen, die dem Opfer zunächst einfach unangenehm sind. Man verdreht genervt die Augen, wendet sich weg, grinst, macht hinter dem Rücken Zeichen und signalisiert dabei ein stillschweigendes Einverständnis darüber, dass jemand seltsam, anders und daher unerwünscht ist. Dabei ist es durchaus gewollt, dass der Gehänselte ein ganz klein wenig, fast zufällig mitbekommt, was da ihm gegenüber ausgetauscht wird. Die leiblich vermittelten Signale werden als befremdlich, peinlich und unangenehm erfahren. Indem die Blicke der anderen das Opfer gleichsam umzingeln und eingrenzen, fühlt er sich merkwürdig gefesselt und betroffen von diesem Spiel. Das Einvernehmen der anderen vermittelt zusätzlich ein Gefühl von Ohnmacht, weil man ja mehreren alleine gegenüber steht. Meist entsteht dabei der Verdacht: Mit mir ist etwas nicht in Ordnung, wenn mehrere mich das so spüren lassen. Da sich das Ganze auf einer sehr subtilen Ebene abspielt, kann sich der Betroffene auch kaum wehren. Denn es ist ja eher peinlich, sich bei Freunden oder der Lehrkraft zu beklagen: Die haben mich von hinten komisch angeschaut. Es geht beim Mobbing also ganz stark um das eigenleibliche Spüren, das durch Engung geprägt ist und ein unsichtbares Abgeschnittensein von der gemeinsamen Situation mit sich bringt. Weil die Situation sich so unterschwellig entwickelt, behaupten die Täter oft, sie haben nichts gemacht oder das sei doch nur Spaß gewesen. Entscheidend ist jedoch, was das Opfer leiblich spürt, ob es Gewalt, Unterlegenheit, Scham oder Isolation empfindet oder nicht. 39 Das pochende Herz, die Enge in der Brust, die Hitze im Gesicht, das Zittern der Hände, das flaue Gefühl im Magen nimmt zunächst nur der Betroffene wahr. Sobald jedoch seine Haltung dadurch zusätzliche Schwäche signalisiert, indem er etwas zusammen sinkt, den Kopf senkt, einen ängstlichen Blick sendet, fühlen sich die Täter unter Umständen noch angespornt. Denn in der 39

Vergl. Mustafa Jannan, Das Anti-Mobbing-Buch, Weinheim/Basel 2010, S. 15

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B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

antagonistischen Einleibung wird ausgelotet, wer das Sagen hat, wer überlegen ist. Wenn ein Kind eine solche Situation einmal erlebt hat, wird es zwar verängstigt sein, sich aber rasch wieder davon erholen. Doch wenn sie wiederholt und häufig auftritt und immer wieder durch dieselben Personen provoziert wird, denen man in der Schulklasse nicht aus dem Weg gehen kann, wird dies die persönliche Situation des Kindes stark beeinträchtigen. Für das Kind entsteht in der MobbingSituation eine Atmosphäre, die von Angst, Erniedrigung und Beschämung geprägt ist. Die Täter steigern allmählich ihre Angriffe an Intensität und Aggressivität. Bewegungen des Opfers werden nachgeahmt, es wird verbal verspottet, beleidigt oder mit Spitznamen versehen. Bei gemeinsamen Spielen in der Pause wird es wie Luft behandelt und von der Gruppe isoliert. Man kann dem Betroffenen den Stuhl wegziehen, die Jacke verstecken oder die Toilettentür verschließen. Auch dies sind wieder subtile Maßnahmen, die sonst kaum einer mitbekommt. Ebenso ist es, wenn man unangenehme Gerüchte über jemanden verbreitet, etwa dass er nachts einnässe, mit jedem ins Bett gehe oder der Vater im Gefängnis sitze. Dies merkt das Opfer zunächst nicht, aber es spürt, dass andere es seltsam anschauen, ihm aus dem Weg gehen und es meiden. So sprechen immer weniger Mitschüler mit dem Mobbingopfer und es fühlt sich immer weiter zurück gedrängt, einsam und nicht beachtet. Die Einleibung mit anderen führt nicht zu einem Erleben von Zusammensein, Zusammengehören und Getragensein, sondern zu der Erfahrung von Einsamsein, Fremdsein und nicht dazu zu gehören. Dies ist für ein Kind sehr schwer auszuhalten, da es ja seine persönliche Situation in gemeinsamen Situationen mit anderen entfaltet. Wenn es bei der Einleibung nicht zu einem Mitschwingen mit den Regungen und Gefühlen der anderen kommt, sondern zu einer Zurückweisung der eigenen Impulse durch verschmähen, verachten, ignorieren, abblocken, fühlt man sich als nicht vorhanden. Das Kind entwickelt seine Identität über die Interaktion mit anderen, die jedoch auf einen spürbaren positiven Widerhall angewiesen ist. Somit wird die eigene Daseinsberechtigung dem Opfer verweigert. Verstärkt werden kann das Mobbing noch durch das Internet. Heute wirken schon viele Kinder recht früh in so genannten sozialen Netzwerken mit. Sie sind dort jederzeit von allen möglichen Personen erreichbar, vor allem, wenn sie zusätzlich zum Computer noch ein internetfähiges Smartphone besitzen. So findet das Mobbing dann 198 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

39. Mobbing in der Schule

nicht mehr nur in der Klasse oder auf dem Schulhof statt, sondern es verfolgt Schüler bis ins Kinderzimmer. 40 Dazu kommt, dass man durch Bilder sehr viele Menschen sehr rasch über peinliche Situationen informieren kann, selbst wenn diese zunächst gar kein Interesse daran haben. Doch der problematischste Aspekt des Cyber-Mobbings ist die Tatsache, dass sich Opfer und Täter nicht mehr von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen. In der tatsächlichen gemeinsamen Situation, in der alle Beteiligten anwesend sind, müssen die Täter immerhin noch die Reaktionen des Opfers aushalten. Es könnte durchaus sein, dass sie in wechselseitiger Einleibung spüren, wo jetzt eine Grenze erreicht ist und wo man aufhören muss, das Oper weiter zu demütigen, weil dann doch eine eigene Schamgrenze erreicht ist. Doch im Internet fehlt diese direkte Gegenüberstellung. Man kann schreiben und senden, was man möchte, ohne dem Gegenüber in die Augen sehen zu müssen. Auch den Mitschülern muss man nicht persönlich begegnen und womöglich ihre ablehnenden Blicke aushalten. Im Grunde fehlt der Aspekt der wechselseitigen Einleibung, der eine unmittelbare Reaktion auf das Gegenüber ermöglicht und augenblicklich spürbar oder erfahrbar ist. Zwar ist ein Internetchat trotz allem eine gemeinsame Situation, sobald jemand eine Nachricht empfängt und sie als reale Interaktion wahrnimmt. Aber die geschriebenen Worte bleiben nur eine verbale Essenz, hinter der sich der Täter als Person verstecken kann. Gesendete Bilder bieten zusätzlich vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten, weil die Person immerhin in einem bestimmten Kontext zu sehen ist. Die Wirkmächtigkeit von Bildern ist nicht zu unterschätzen. Doch reißt auch ein Foto die Person jeweils aus dem erlebten Zusammenhang punktuell heraus. Und wer kennt nicht die eigene Reaktion auf ein Bild, das scheinbar nicht gelungen ist und einen nicht so zeigt, wie man sich selbst in dieser Situation wahrgenommen hat. Sowohl geschriebener Text als auch Bild sind somit zweidimensionale Botschaften, die das wechselseitige aufeinander Bezogensein in der echten Begegnung ausklammern. Ein Rest Empathie, der für das Opfer vorhanden sein kann, verschwindet dann in der Anonymität des indirekten Kontaktes. Daher sinkt auch leicht die Hemmschwelle, die man in der direkten Begegnung eventuell noch empfindet. Für das Opfer kommt hinzu, dass es vermutet, alle Freunde im Netz haben die Botschaft gelesen und stimmen ihr womöglich zu. Es 40

Vergl. Imène Belkacem, Cyber-Mobbing, Hamburg 2012, S. 54

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B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

kann nicht mehr unterscheiden, wer Freund und wer Feind ist und das verunsichert noch mehr. Mobbing ist also eine problematische Gewaltform, die vor allem leiblich vermittelt ist. Den Bewegungssuggestionen der anderen entnimmt das betroffene Kind, dass etwas mit ihm nicht in Ordnung ist. Da die Anerkennung von Gleichaltrigen besonders wichtig ist, um eine eigene Identität zu entwickeln, kann Mobbing wie ein Vorschlaghammer wirken, der die leibliche Disposition des Kindes zusammenstaucht. Sein vitaler Antrieb wird gehemmt, sodass es weniger offen auf andere und anderes zugeht und sich stark zurückzieht. Aufgrund massiv empfundener Engung wird es in seinem Empfinden so stark in die primitive Gegenwart zurückdrängt, dass es immer weniger in der Lage ist, ohne Angst in die Schule zu gehen und sich auf den Unterrichtsgegenstand einzulassen. Auch außerhalb der Schule verändert sich das Verhalten. Eltern und Pädagogen können nach einer Weile deutliche Veränderungen des Kindes beobachten. Es wirkt häufig bedrückt und in sich gekehrt, dabei spricht es wenig oder nur leise. Seine Körperhaltung ist eher angespannt und verkrampft. Seine affektive Betroffenheit kann aber auch rasch zu aggressivem oder launischem Verhalten führen. Es kann sich schwer konzentrieren, sei es auf die Hausaufgaben, auf Inhalte des Unterrichts, aber auch auf Dinge, die ihm früher Freude bereitet haben. Die Leistungen in der Schule werden schlechter und häufig klagt das Kind auch über Schmerzen. Der sozialen Isolation des Kindes kann man aus phänomenologischer Sicht zunächst begegnen, indem Eltern ihrer Tochter oder ihrem Sohn besonders viel Annahme und Geborgenheit vermitteln. Pädagogen erreichen viel über Aufmunterung, Zustimmung, Ermutigung und Bestätigung. Doch vor allem ist es wichtig, die MobbingKonstellation aufzubrechen. Dazu gibt es bereits vielfältige Maßnahmen wie etwa das Anti-Bullying-Programm und andere Formen sozialen Trainings. 41 Es geht dabei vor allem darum, die Handlungen offen zu legen, die beim Mobbing passieren. Das Opfer beschreibt beispielsweise in einem Tagebuch, was es erlebt und erträgt. Die Täter müssen zu ihren Handlungsweisen Stellung nehmen. Vor allem aber sollen Mitläufer und Unbeteiligte in der Klasse dazu motiviert werden, sich zu positionieren und diskriminierendes Verhalten anzusprechen und zu ächten. Dies kann die gemeinsame Situation in der Klasse verbessern und Mobbing-Aktivitäten abbauen. Doch die Frage ist, 41

Vergl. Dan Olweus, Gewalt in der Schule, Bern 2006, S. 65 ff

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40. Gestaltung von Atmosphären in der Schule

wie es überhaupt zu solchem Verhalten kommt und was im Vorfeld getan werden kann, um solche Eskalationen zu verhindern, die immerhin die Gesundheit und das Leben von Kindern stark beeinträchtigen. In der entsprechenden Fachliteratur ist häufig die Rede von einer Verbesserung des Schulklimas. Dies soll einerseits erreicht werden durch klare Regelungen bezüglich des Mobbings, durch Training der Sozialkompetenz und andererseits durch eine Kultivierung der Atmosphäre. Die Bedeutung von klaren Regeln und Grenzen und ihre leibliche Fundierung wurden bereits in Kapitel 12 bis 14 ausführlich erörtert. Das Training von Sozialkompetenz wird vor allem durch interaktive Spiele gefördert, bei denen es weniger um Konkurrenz als um Solidarität geht. Hier spielt wechselseitige Einleibung eine große Rolle, um etwa die Empathiefähigkeit zu stärken. Häufig muss jedoch noch die Wahrnehmung der eigenen Gefühle und des affektiven Betroffenseins geübt werden. Denn viele Kinder sind nicht ausreichend begleitet worden beim Übergang von personaler Regression in personale Emanzipation und tun sich selbst schwer, mit ihren heftigen Affekten umzugehen. Erst wenn sie ihre eigene Wut, Angst, Trauer, Freude und Begeisterung spüren, können sie empathisch mit anderen umgehen. Sie benötigen sozusagen Nachhilfe bei dem Prozess von personaler Regression in personale Emanzipation, die von kompetenten und sensitiven Pädagogen begleitet werden sollte. Welchen Einfluss die Gesamtatmosphäre auf das Schulklima haben kann, und welche Möglichkeiten es gibt, diese zu beeinflussen, soll nun im Folgenden gezeigt werden.

40. Gestaltung von Atmosphären in der Schule Der aktive Einfluss auf eine konstruktive Atmosphäre in der Schule ist nun ein Schritt, der aus einer phänomenologischen Perspektive besonders gut begleitet werden kann. Die Atmosphäre einer Schule ergibt sich aus der Umgebung, in der sie sich befindet, aus der räumlichen Gestaltung und vor allem aus der Stimmung oder dem Lebensgefühl, das hier im Vordergrund steht. Die Umgebung kann man wohl kaum ändern, ob die Schule nun mitten in einem Stadtteil steht, dicht an andere Gebäude angeschlossen oder auf dem Lande oder nahe dem Industriegebiet. Doch die Art und Weise, wie man die Schule architektonisch vom Umfeld abgrenzt, um etwas Ästhetisches ent201 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

gegenzusetzen oder wie man sie integriert, weil man sie dem freundlichen Umfeld angliedern will, ist durchaus beeinflussbar. Wenn die Schule noch von hohen Backsteinmauern umgeben ist, die sie vom Umfeld abgrenzt, kann man diese auch als farbenfrohen Schutzraum gestalten, der vor der lauten und eventuell hässlichen Umgebung schützt. Dennoch können Pflanzenkübel und Kräuterkästen den Hof begrünen und lebendig erscheinen lassen. Wenn die Umgebung weitläufig und naturnah ist, kann man die Begrenzung der Schule stärker öffnen und den Eindruck eines allmählichen Übergangs von außen nach innen ermöglichen. Die räumlichen Gegebenheiten haben einen enormen Einfluss auf die Gestimmtheit in einem Gebäude. Sind die Räume durch Tageslicht erhellt, gibt es viele Fenster und angenehme elektronische Beleuchtung oder sind sie duster und durch Neonröhren bestückt? Welche Materialien stehen im Vordergrund: Stein, Beton, Holz, Rigips? Wie wurden die Räume farblich gestaltet? Eher betongrau, in nüchternem Weiß oder mit freundlichen Farben wie etwa einem sanften Orange oder einem frischen Lindgrün? Sind die Decken tief und drückend oder hoch und weit? Vermitteln die Räume durch persönliche Gegenstände und ausdrucksstrake Bilder ein Gefühl der Behaglichkeit oder eher ein kühles, nüchternes Klima? Hallt der Schall von den Wänden oder ist der Raum durch weiche Materialien wie Vorhänge oder Teppiche gut gedämmt? Sind die Flure weitläufig und hell und ermöglichen es den Schülern, gut aneinander vorbeizulaufen oder sind sie beengend und dunkel, sodass man ihnen schnellstmöglich entkommen möchte? Sind die Toiletten sauber und hell oder schmuddelig, feucht und die Türen kaputt? Auch Kinder haben schon sehr früh ein Gefühl dafür, ob die Räume, in denen sie sich aufhalten, gepflegt sind und die Ausstattung eine haltbare und ästhetische Qualität hat oder ob Stühle abgenutzt sind, Tische wackeln, der Putz von den Wänden fällt, Türen nicht schließen, Risse sich durch den Boden ziehen und die gesamte Atmosphäre abgenutzt wirkt. Sie nehmen diese Aspekte vielleicht nicht in allen Einzelheiten wahr. Aber auch Räume eignen sich Kinder durch Einleibung an. Sie gehen die Wände entlang, messen mit Blicken aus, fühlen die Wände, kriechen am Boden, klappen die Tafel auf und zu, rütteln an Stühlen, klettern über Tische, zerren am Vorhang und machen sich leiblich vertraut mit der neuen Umgebung. Sie nehmen Gerüche, etwa das Putzmittel und Geräusche, etwa den Klingelton oder das Schaben der Kreide auf, die typisch für den Raum sind. Da202 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

41. Atmosphären, die Lernen begünstigen

mit verbinden sie angenehme oder unangenehme Empfindungen. Räume können als schützend, angenehm, erfrischend, erhebend erlebt werden oder aber als bedrückend, einschüchternd, ungemütlich und barackenartig. Man kann sich freuen, einen Raum zu betreten oder mit Beklemmung eintreten. Jedoch sind die räumlichen Bedingungen nicht der einzige Faktor, der eine Atmosphäre bestimmt. Hinzu kommen die Stimmungen, die von den Menschen produziert werden, die sich darin aufhalten. Und wenn auch das Budget für bauliche Maßnahmen und Raumgestaltung gering ist, so lässt sich die durch Personen gelebte Atmosphäre in jedem Fall beeinflussen. Sie stellt einen großen pädagogischen Fundus dar, der oft bei weitem nicht ausgeschöpft ist. Daher soll im Folgenden beispielhaft aufgezeigt werden, welche Atmosphären sich womöglich günstig auf die Lernbereitschaft von Kindern auswirken und welche eher schwierig für junge Menschen auszuhalten sind. Da Lernen über leibliche Prozesse abläuft ist es nicht unerheblich, wie sich Kinder in einer bestimmten Atmosphäre fühlen, damit sie Lust am Lernen entwickeln können oder eher in ihrer Neugierde gehemmt werden.

41. Atmosphären, die Lernen begünstigen Bereits die Bindungstheorie John Bowlbys legt nahe, dass Kinder auf eine sichere Bindung angewiesen sind, um Explorationsverhalten zu zeigen. 42 Sie brauchen also das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, um sich der Umwelt zu öffnen und zu lernen. Das Kind lernt in Einleibung die Gegenstände seiner Umwelt kennen, schließt sie in seine persönliche Eigenwelt ein oder entlässt sie nach ausgiebiger Auseinandersetzung in die persönliche Fremdwelt. Ebenso geschieht dies mit anderen Personen. Dabei erfährt das Kind unterschiedlich intensive Nuancen affektiven Betroffenseins. Es ist über bestimmte Eigenschaften eines Balles erstaunt, entzückt oder aber erschrocken oder verärgert. Der Ball hüpft sehr lustig aber er rollt auch weg, wenn der Weg abschüssig ist und dann wird er unerreichbar. Ein anderes Kind lacht sehr freundlich, aber es nimmt einem vielleicht auch den Ball weg und das macht sehr ärgerlich. Diese Affekte zu ertragen und Karin Grossmann, Klaus E. Grossmann, Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit, Stuttgart 2005, S. 37

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sich wieder von ihnen zu lösen bedarf der Unterstützung eines Erwachsenen, der das Kind von der personalen Regression in affektiver Betroffenheit in personale Emanzipation geleitet. Das Kind kann sich erst in dieser Verfassung unbedrängt neuen Erfahrungen widmen und mit großer Offenheit auf neue Gegenstände oder Kontakte konzentrieren. Im Kindergarten ist die emotionale Unterstützung des Pädagogen noch sehr wichtig, damit Kinder sich in der gemeinsamen Situation der Gruppe zurechtfinden und überhaupt das Angebot an Spielmaterial und Spielkameraden annehmen zu können. Für die Atmosphäre ist es bedeutsam, dass der Gruppenraum überschaubar gestaltet ist. Es sollten nicht zu viele farbige Reize gesetzt sein, aber eine angenehme Farbgebung der Wände ist sicher angezeigt. In kleineren Spielecken findet das einzelne Kind ein wenig Intimität und Geborgenheit, weil es anfangs noch schwierig ist, die Anwesenheit so vieler anderer Menschen auszuhalten. Eine gewisse Ordnung ist hilfreich, da es dem Kind den Überblick gibt, wo es was findet. Besonders eine klare Struktur der Abläufe ist für Kinder sehr wesentlich, um sich im Alltag zu orientieren. Denn sie kennen noch keine Uhr, können aber einordnen, ob etwas vor oder nach dem Frühstück stattfindet oder kurz vor dem Abholen. Daher ist ein gemeinsamer Morgenkreis, ein bestimmter Ablauf für Frühstück und Mittagessen sehr wichtig. Auch sollten Kinder erfahren dürfen, dass es immer eine bestimmte Reihenfolge beim Wechsel von angeleiteten Angeboten und freiem Spiel gibt. Für die Nutzung von Räumen und Materialien sollte es klare Regeln geben, die für alle gelten und die für das Kind leicht nachvollziehbar sind: Etwa im Bällebad spielen höchstens drei Kinder, weil sie sich sonst verletzen können. Am Nachmittag gibt es häufig eine Ruhezeit, danach einen Imbiss und dann bestimmte Spielangebote. Meist kennen die Kinder noch ein Abschiedsritual, etwa ein kleines Lied oder ein Winkespiel. Die Rituale, Abläufe und Strukturen helfen dem Kind, durch den Tag zu finden und bis zur Abholzeit durchzuhalten. Die Räume sollten Möglichkeiten zum Rückzug, zur Bewegung, zur kreativen Gestaltung und zu vertraulichen Gesprächen geben. Außer den Räumen bilden die pädagogischen Fachkräfte einen zentralen Faktor bei der Gesamtstimmung im Kindergarten. Otto Friedrich Bollnow spricht von besonderen Tugenden, die ein Pädagoge mit sich bringen sollte und an dieser Stelle werden die drei Eigen204 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

41. Atmosphären, die Lernen begünstigen

schaften Geduld, Hoffnung und Heiterkeit angeführt. 43 Geduld ist natürlich extrem notwendig, da Kinder ja häufig etwas noch nicht können und sich erst weiter entwickeln. Es kann sehr lange dauern, bis ein Kind ordentlich aus einem Glas trinken, einen Reißverschluss zu machen, auf der Linie schneiden oder einen vollständigen Satz artikulieren kann. Hier ist es notwendig, dass die Bezugsperson eine spürbare Geduld mitbringt. Denn das Kind merkt ganz genau, ob sein Gegenüber gelassen abwartet, was geschieht oder ob die Erwartung, dass es nun endlich so weit sei, ihn unruhig oder ungeduldig werden lässt. Selbst wenn er still da sitzt, spürt es an den Blicken, dem tappenden Fuß, dem Wegschauen, Schnaufen oder der mangelnden Konzentration, dass es nun endlich fertig zu werden hat. Natürlich hat der Erwachsene im Alltag nicht in jedem Augenblick Zeit. Aber es ist notwendig, dass Kinder in ihrem Tempo lernen dürfen, weil sonst immer das Gefühl bleibt: Du machst es richtig und ich falsch. Du bist schnell und ich bin zu langsam. Es bleibt somit ein Eindruck von Unzulänglichkeit zurück, der Schaden anrichten kann. Kinder lernen in unterschiedlicher Geschwindigkeit und ein erhöhter Druck bewirkt häufig nur das Gegenteil, nämlich dass sie aufgeben oder keine Lust mehr zum Lernen haben. Die Hoffnung ist ein sehr wesentliches Element in der pädagogischen Interaktion. Denn es gehört zum Lernen, dass ein Kind zwischen Versuch und Irrtum immer wieder auch Fehler macht und scheitert. Daraus kann es eigene Schlussfolgerungen ziehen und es das nächste Mal anders versuchen. Eine hoffnungsvolle Haltung des Pädagogen vermittelt ihm, dass gar kein Zweifel besteht, dass es früher oder später erfolgreich sein wird. Es ist sozusagen normal, dass nicht alles sofort funktioniert. Der Junge oder das Mädchen ist also in seinen mühevollen Versuchen, in seinem Scheitern mit seinen Fehlern ebenso akzeptiert und wertvoll, wie wenn etwas gelingt. Die Hoffnung des Pädagogen kommt per Einleibung beim Kind an, weil es diese optimistische Grundhaltung, dieses Zutrauen spürt und daher auch über sich hinaus wächst, um etwas Neues zu wagen. Diese Grundhaltung drückt sich aus durch ein Lächeln, einen liebevollen Blick, eine gelassene Haltung, ein ermunterndes Wort. Ein Kind, das nicht durch einen erwartungsvollen Perfektionismus bedrängt wird, der durch spürbare Erwartungen vermittelt wird, kann sich viel ausgiebiger und naiver an ein neues Problem, einen 43

Otto Friedrich Bollnow, Die pädagogische Atmosphäre, Heidelberg 1964, S. 11

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neuen Sachverhalt heranwagen, als eines, das mit Argusaugen beäugt wird und bei jedem Handgriff mit einem Ratschlag oder einer Kritik rechnen muss. Wenn etwa ein Junge das erste Mal mit einer Säge und Holz agiert, ist es sicher sinnvoll, erst einmal vorzumachen, wie man das Holz festklemmt, wie man die Säge hält und bewegt. Aber dann benötigt der Junge die Freiheit, es selbst auf seine Weise auszuprobieren, selbst wenn er ein paar Kratzer davon trägt. Er spürt, ob ihm der Pädagoge diese Tätigkeit zutraut oder ob er immer schon kurz davor steht, ihn zu unterbrechen. In antagonistischer Einleibung nimmt er wahr, ob sich der Pädagoge zurück hält und die Ruhe und freudige Erwartung ausstrahlt, dass es gelingen wird. Ebenso würde er bemerken, wenn der Erwachsene zitternd daneben steht und sich schon in großer Anspannung bereithält, einzugreifen, wenn etwas schief geht. Eine weitere elementare Eigenschaft des Pädagogen ist die Heiterkeit. Menschen verfolgen immer bestimmte Zwecke. Pädagogische Fachkräfte in der Kita möchten Kinder in ihrer Entwicklung weiterbringen, sei dies nun im Bereich Sprache, Bewegung, Selbständigkeit oder Naturerfahrung. Dies ist jeweils mit bestimmten Erziehungszielen verbunden, die durch bestimmte Methoden erreicht werden sollen. Manchmal wird diese Professionalität so ernst genommen, dass auch die Interaktion mit der Gruppe von diesem Ernst geleitet wird. Natürlich sollen sich Kinder auch einmal auf etwas konzentrieren und ernsthaft dabei sein. Aber dies heißt nicht, dass man sich einem pädagogischen Angebot nicht gelöst und offen nähern kann, ohne bereits zu hohe Erwartungen zu haben, was dabei heraus kommen soll. Die eigene Heiterkeit des Pädagogen, selbst wenn etwas misslingt, Unruhe herrscht oder sich eine Aktion anders entwickelt, als geplant, bildet eine grundsätzliche Voraussetzung, damit Kinder gerne lernen. Denn für sie bedeutet Lernen zumindest im Kindergarten, Spaß am Tun zu haben, sich genießend mit der Welt oder einem Gegenstand auseinanderzusetzen und sich überraschen zu lassen, was am Ende dabei heraus kommt. Dazu braucht die Fachkraft auch ein wenig Muße, sich auf die Lernsituation und die Kinder einzulassen. Dies erfordert eine gewisse innere Distanz zu der Situation und den Optimismus, dass die Aktion gut verlaufen wird. Die Kinder spüren, ob sich die Erzieherin selbst auf den Spaziergang im Wald freut und was es da heute wieder zu entdecken gibt. Oder ob sie eher gestresst davon ist, ob alle pünktlich fertig werden, ob sich alle Utensilien im Rucksack befinden und ob die 206 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

41. Atmosphären, die Lernen begünstigen

Zeit reicht bis die Eltern zum Abholen kommen. Heiterkeit kann in gewissem Maße die Anspannung beim Aufbruch, die Unsicherheit auf dem Weg und die Zweifel, ob sich die Anstrengung auch lohnt, beschwichtigen. Die Kinder schwingen leiblich mit der fröhlichen Stimmung des Erwachsenen mit und geraten weniger leicht in Engung, weil das Laufen vielleicht ein wenig unangenehm ist, etwas Durst oder Müdigkeit aufkommt. Die Fachkräfte geben dem Kind einen atmosphärischen Rahmen, aus dem es zwar ausbrechen kann, wenn es plötzlich von einem heftigen Affekt ergriffen wird. Aber er gibt der gemeinsamen Situation eine gewisse Gestimmtheit, die als Grundstimmung zunächst Freude, Geborgenheit, Offenheit und Neugierde vermittelt. Dies sind sicher gute Voraussetzungen, um zu lernen. In der Schule sind die Eigenschaften Geduld, Hoffnung und Heiterkeit nicht weniger elementar, um ein gutes Lernklima zu erzeugen. Gerade am Anfang brauchen Kinder viel Geduld, damit sie sich mit der neuen Umgebung und dem neuen Tagesrhythmus zu Recht finden. Sie kommen zu spät aus der kurzen Pause, haben das falsche Heft dabei oder vergessen sich vor dem Sprechen zu melden. Darüber hinaus bringt jeder Schüler ein anderes Lerntempo mit, auf das die Lehrerin Rücksicht nehmen sollte. Ein Kind braucht wenige Stunden, um die Addition zu verstehen, das andere muss mehrere Wochen üben und üben. Auch wenn die Lehrerin immer auch die Lernziele und das Curriculum im Auge haben muss, ist die Geduld mit den kleinen und großen Schwächen der Kinder sehr bedeutsam, damit sich alle mitgenommen fühlen. Die Hoffnung spielt ebenfalls eine besondere Rolle, gerade, weil durch die Noten das Kind auf eine bestimmte Leistungsstufe festgelegt wird. Die Schüler wissen schnell, wer ein Einserschreiber ist oder wer gerade noch eine vier schafft. Und auch im Kopf der Lehrperson ist hier schnell eine Kategorisierung geschaffen. Hier ist es unerlässlich, dass kein Schüler vorzeitig abgeschrieben wird, sondern die Hoffnung bleibt, dass jedes Kind etwas lernen kann. Dies müssen betroffene Kinder spüren. Sie haben empfindsame Antennen dafür, ob sie für fähig oder unfähig gehalten werden. Gerade schwache Schüler brauchen Nähe, freundliche Blicke, ermunternde Gesten, gute Worte, um nicht weiter entmutigt zu werden. Um die Lernfreude aufrecht zu erhalten, sollte die Lehrkraft ein Klima schaffen, indem es nicht wie im Sport nur um die drei Spitzenplätze geht und der Rest der Klasse sind nur Randfiguren. In jedem 207 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

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Kind kann man Potenziale sehen und diese auch im Alltag hervorlocken. Es kann Kindern helfen, Fähigkeiten oder Hobbys in der Klasse einzubringen, die zwar nicht benotet werden aber Anerkennung bringen. Ergänzend hilft natürlich die Heiterkeit dabei, schwierige Situationen zu entschärfen. Wenn ein Schüler eine freche Bemerkung macht, kann ein Lacher oder eine scherzhafte Antwort mehr Souveränität ausstrahlen als ein strenger Blick und ein ernstes Kritikgespräch. Auch die Annäherung an den Lehrstoff kann man mit einem heiteren Spiel oder Lied einleiten. Dies macht affektiv betroffen, weckt die Neugier auf das neue Thema und bricht die Schulroutine auf, die sich doch relativ rasch einstellt. Besonders wichtig ist es in der Schule, soweit möglich, den Leistungsdruck aus der Klasse zu nehmen. Zwar müssen Arbeiten geschrieben und Lernziele erreicht werden, aber es sollte nicht dazu kommen, dass sich alles nur noch um die Noten und die Leistungen dreht. Ein probates Mittel, um den Wettbewerbscharakter der Schule zu durchbrechen sind Gesprächskreise und Projekte. In Gesprächskreisen außerhalb des offiziellen Unterrichts können sich Schüler und Lehrer begegnen. Sie lernen, mit der Gestimmtheit anderer mitzuschwingen, sich empathisch einzufühlen und sich als Gruppe mit ähnlichen Interessen zu verstehen. Es geht nicht mehr darum, wer sich rascher und häufiger meldet, wer den klügsten Satz von sich gibt und wer am schnellsten zum Ergebnis einer Aufgabe kommt. Vielmehr finden die Schüler einen gemeinsamen Gesprächsrhythmus und selbst die Kinder mit eher prothopathischen Tendenzen können sich Gehör und Beachtung verschaffen. Die Einleibung erfolgt nicht mehr nur antagonistisch in dem Sinne, dass der jeweils Stärkste sich durchsetzt, sondern eher solidarisch, indem Gedanken, Stimmungen, Gefühle und Bewegungen der anderen nachvollzogen werden und man sich auf das Erleben anderer spürend einlässt. In Projekten geht es darum, gemeinsam eine Aufgabe zu bewältigen oder ein Problem zu lösen. Hier kommt es gerade auf die Zusammenarbeit an und nicht auf Einzelleistungen. Jeder kann sich mit eigenen Stärken einbringen und es geht nicht in erster Linie um das perfekte Ergebnis, sondern um den gemeinsamen Lernprozess. Die Kinder nähern sich in wechselseitiger Einleibung einem Thema oder einem Gegenstand an und lernen, die Objekte aus ihren persönlichen Eigenwelten in einen gemeinsamen Zusammenhang zu bringen. Gemeinsame Niederlagen spornen an, gemeinsame Erfolge werden ge208 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

42. Atmosphären, die Lernen beeinträchtigen

teilt. Hier entsteht große Solidarität unter den Schülern. Wichtig ist, dass bei Projekten der Wettbewerbscharakter herausgenommen wird und keine Benotung erfolgt. So können Kinder mit ihren je eigenen Besonderheiten die gemeinsame Situation mitgestalten ohne Angst vor numerischer Bewertung. Für die gemeinsame Lernsituation ist es notwendig, dass die Lehrpersonen das Projekt vor allem in personaler Emanzipation begleiten. Sie dürfen zwar begeistert sein von dem Thema und der Zusammenarbeit. Aber sie sollten durch eigene Wünsche und Erwartungen die Prozesse nicht zu sehr lenken oder einschränken. Daher ist auch hier eine heitere innere Distanz zur pädagogischen Aufgabe wesentlich, damit man den Schülern bei Problemen und Scheitern, aber auch bei Euphorie und Waghalsigkeit unterstützend zur Seite stehen kann. Gerade in solchen intensiven Lernsituationen kann es aufgrund kurzfristiger Enttäuschungen zu personaler Regression kommen und hier ist es notwendig, Kinder wieder in personale Emanzipation zu begleiten, damit sie ihre Schwierigkeiten selbst überwinden lernen. Die pädagogische Fachkraft hat somit eine moderierende Rolle inne, jedoch nicht nur bezüglich praktischer Durchführung von Aktivitäten, sondern auch bei der emotionalen Begleitung. Auch hier setzt sie den atmosphärischen Rahmen, damit weder Übereifer noch Frustration den gemeinsamen Prozess überlagern. Mit Geduld, Hoffnung und Heiterkeit kann dies meist gelingen. Insgesamt wird deutlich, dass gewisse Anforderungen sicher die Lernbereitschaft der Kinder anspornt, jedoch eine zu starke Leistungsorientierung nur antagonistische Einleibung fördert aber Fähigkeiten solidarischer Einleibung hemmt. Dies kann zu einem Klima führen, in dem Ungeduld, Abwertung, Pessimismus, Ausgrenzung und Perfektionismus regieren und nicht mehr das Wohlwollen und das Mitgefühl gegenüber jedem einzelnen im Vordergrund steht. Dies kann die Bereitschaft zum Lernen beeinträchtigen.

42. Atmosphären, die Lernen beeinträchtigen Wie bereits angesprochen wirken Räume sehr stark auf die Atmosphäre einer Lerngruppe. Wie hell, freundlich und gemütlich sie eingerichtet sind, welchen auffordernden Charakter sie haben und wie erträglich Farben, Geräusche und Gerüche angeordnet sind, wirken auf die Gestimmtheit und Konzentration der Anwesenden. Einlei209 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

bung ist die Konzentration auf ein Gegenüber, welches man in seinen Gestaltverläufen und Bewegungssuggestionen aufnimmt, nachahmt und modifiziert. Daher ist für das Lernen die Konzentrationsfähigkeit sehr wichtig. Wenn das Kind nun durch affektives Betroffensein sehr in Anspruch genommen ist, sei es aus Schreck, Überraschung, Angst, Staunen, Ekel, Trauer oder Entzücken, kann es sich schwer auf einen bestimmten Gegenstand konzentrieren. Daher sind räumliche Atmosphären günstig, die ästhetisch gestaltet sind aber kein Überangebot an Reizen transportieren. Wenn Räume zu eng, zu laut, zu vollgestopft sind oder durch seltsame Gerüche beherrscht sind, können Kinder sich darin schwer auf einen Gegenstand konzentrieren und sich in Einleibung mit ihm auseinandersetzen. Sie spüren sehr rasch die Kälte, Hitze, den Lärm, die Unruhe, die Überfrachtung, die Öde, die ein Raum ausstrahlt, ohne es im Einzelnen zu artikulieren. Infolgedessen werden sie unruhig und unkonzentriert, fliehen dann meist in einen anderen Raum oder suchen sich die noch angenehmste Ecke aus. In einem Klassenzimmer ist dies nun kaum möglich, weil hier meist eine feste Sitzordnung zu Grunde liegt und die Schüler bis zu sechs Schulstunden an einem Vormittag darin aushalten müssen. Daher ist es gerade in der Schule sehr wichtig, dass die Kinder an der Gestaltung des Klassenraums, aber auch weiterer Räume beteiligt werden, weil sie so die Möglichkeit erhalten, die Atmosphäre zu beeinflussen im Sinne ihrer Bedürfnisse. Abgesehen vom Raum spielt aber wie oben bereits erwähnt die Gestimmtheit der Personen eine wesentliche Rolle. Dazu gehört die pädagogische Haltung, die Pädagogen mitbringen und die sich leiblich manifestiert. Diese hängt nicht allein mit dem pädagogischen Selbstverständnis zusammen, sondern auch mit den Rahmenbedingungen, welche die pädagogische Institution zu bieten hat. Das eigene Selbstverständnis hat vor allem mit Einstellungen zu tun. Begegnet man den Kindern mit Offenheit, Zutrauen und Optimismus oder ist man eher bereits enttäuscht von vergangenen Beziehungen mit Kindern? Kann man die Eigenschaften Geduld, Hoffnung und Heiterkeit einbringen oder steht man so unter Druck, dass es schwer ist, solche Tugenden im Alltag leiblich zu übermitteln? Hier beginnt der Übergang zu den Rahmenbedingungen. Wenn die Räume gut ausgestattet sind, genug qualifiziertes Personal eingestellt ist und ein konstruktives Miteinander im Arbeitsteam möglich ist, können die persönlichen und beruflichen Ressourcen meist abgerufen und eingebracht werden. Bei Personalmangel, unangemessenen 210 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

42. Atmosphären, die Lernen beeinträchtigen

Räumen und starken Konflikten im Team stehen die Pädagogen zunehmend unter Stress und können aufgrund des eigenen affektiven Betroffenseins nicht mehr auf der Basis von personaler Emanzipation handeln. Vielmehr befinden sich die Fachkräfte aufgrund von permanenter Überforderung, Müdigkeit und Krankheit häufig in personaler Regression. In diesem engenden Zustand ist es schwierig, angemessen und ausgleichend auf Kinder zu reagieren, vorausschauend Situationen zu gestalten und die innere Distanz aufrecht zu erhalten, um eine Atmosphäre von freudiger Gelassenheit, Neugierde und Lust am Lernen zu ermöglichen. Viele Fachkräfte im Kindergarten erleben immer wieder solche Phasen, in denen eine hektische, angespannte und oft auch schwermütige Atmosphäre sich breit macht und es schwierig ist, trotz bester Konzeption und ausgefeiltem Qualitätsmanagement den Kindern ein angenehmes Lernklima zu vermitteln. Wenn in der Schule der Leistungsdruck immer stärker im Vordergrund steht, entsteht eine Atmosphäre von Neid und Missgunst, von Abwertung anderer und Selbsterhöhung. Wenn Kinder ständig den Druck spüren, noch besser werden zu müssen oder möglichst perfekt zu sein, sind sie mehr damit beschäftigt, eine starke Fassade aufrecht zu erhalten, als sich wirklich lernend mit der Welt auseinander zu setzen. Gerade das Phänomen Mobbing zeigt, wie Kinder ihre Möglichkeiten leiblicher Kommunikation weniger nutzen, um Gemeinschaft, Solidarität und Zugehörigkeit zu entwickeln, sondern genau das Gegenteil, nämlich Ausgrenzung, Herabsetzung und Isolation. Der Leistungsdruck bezieht sich nämlich nicht mehr nur auf die Schulnoten, sondern auf Schuhe, Kleidung, Schultasche, Handy, Auto der Eltern, Hobbys, Auftritt in sozialen Netzwerken usw. Die Konzentration auf ein Gegenüber in wechselseitiger Einleibung verläuft nicht mehr explorativ und kommunikativ, um eben die spannenden Seiten des anderen kennen zu lernen. Sie geschieht durch einen analytischen Filter, der eine empathische Begegnung, ein miteinander Mitschwingen in Gefühlen und Gedanken eher hemmt als fördert. Statt sich auf die gemeinsame Situation einzulassen, schiebt man Konstellationen vorweg, also Konzepte, Vorurteile und Meinungen, wie der andere zu sein hat. Vor dem eigentlichen sinnlichen Abtasten des anderen, dem leiblichen Begegnen steht schon ein Urteil, das ihn auf- oder abwertet. Solche Atmosphären können sehr abweisend, kalt und leer sein. Für Pädagogen ist es daher wichtig, darauf zu achten, dass die Kon211 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

kurrenzsituation in einer Lerngruppe nicht überstrapaziert wird. Dies ist sicher schwierig in einer Gesellschaft, in der die Ausbildung der individuellen Persönlichkeit geradezu verlangt, sich mit den je eigenen Stärken nach vorne zu kämpfen und sich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Daher sind womöglich Erziehungsziele wie Selbständigkeit, Autarkie und Kompetenz unbedingt zu ergänzen durch Aspekte der Solidarität, gegenseitiger Verbundenheit und Unterstützung. Mit anderen Worten: Wo nur noch Individualisten ihr Ego durchsetzen, kommt es nicht zur Lerngemeinschaft. Doch um Probleme der Zukunft zu lösen, bedarf es der Solidarität, der gegenseitigen Unterstützung und einer konstruktiven Teamarbeit. Daher erfordert die Herstellung einer konstruktiven Lernatmosphäre ein ungeheures Gespür für die gemeinsame Situation. Die pädagogische Fachkraft braucht nicht nur selbst eine heitere, optimistische und geduldige Gestimmtheit. Sie benötigt ein besonderes empathisches Vermögen, um in Einleibung die unterschiedlichen Gestimmtheiten der Kinder wahrzunehmen, unterstützend und hemmend darauf einzugehen und als atmosphärischer Rahmen den Kindern gleichzeitig Anhaltspunkte zu geben, wo es lang geht. Dies ist ein Kunststück, das nicht allein durch eine Ausbildung oder ein Studium vermittelt werden kann, sondern es bedarf auch viel Erfahrung, die aus erfolgreichen und gescheiterten pädagogischen Situationen geschöpft werden kann. Auch der Pädagoge sollte sich also vor Perfektionismus hüten und vor der Vorstellung, Erziehung und Bildung von Kindern sei beliebig optimierbar. Denn solche Konzepte setzen wiederum unter Druck, führen zu erhöhter Kritik an sich selbst und Kollegen und verhindern gerade die Gelassenheit, die so nötig ist, um eine heitere, konstruktive Lernatmosphäre zu schaffen.

43. Schluss Kinder lernen leiblich. Dieses Werk hat nun versucht, verschiedene Phänomene, die im erzieherischen Alltag erlebt, häufig gespürt aber schwer benannt werden können, zu beschreiben. Dabei spielte das Konzept des Leibes und der leiblichen Kommunikation eine entscheidende Rolle. Es ermöglicht Prozesse, die sich zwischen Menschen vollziehen, näher zu beschreiben. Dabei beschränkt es sich nicht darauf, die Begegnung von Menschen innerhalb ihrer festen körperlichen Grenzen zu erfassen, sondern es untersucht das Zwischen bei 212 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

43. Schluss

der Interaktion von Pädagogen, Eltern und Kindern. In antagonistischer oder solidarischer Einleibung pendelt der Enge- und Weitepol zwischen den beteiligten Personen hin und her und vermittelt, wer die Situation bestimmt und wer sich unterordnet. Dabei werden die Betroffenen durch Bewegungssuggestionen und Gestaltverläufe zur Nachahmung, zum Mitschwingen oder auch zu oppositionellen Bewegungen aufgefordert. Offenbar lernt das Kind viel mehr über die unmittelbare leibliche Erfahrung, als bisher angenommen. So spielt sein affektives Betroffensein und seine Zustände personaler Regression in primitiver Gegenwart eine bedeutsame Rolle bei der Suche nach der persönlichen Situation. Erst in dem Wechselspiel eines vertieften Sichselbst-Spürens und einer Loslösung von Affekten in personaler Emanzipation wird das Kind zur Persönlichkeit. Dieser Prozess wird idealerweise durch eine erwachsene Bezugsperson begleitet, die dem Kind Halt und Orientierung bietet, Regeln und Grenzen setzt. In affektiver Durchdringung integriert das Kind Personen und Dinge in die persönliche Eigenwelt, um sie dann wieder in die persönliche Fremdwelt zu entlassen. Mithilfe spielerischer Identifikation versetzt es sich in fremde Rollen, probiert alternative Verhaltensmuster aus, konstruiert Sinn und baut sich aus den gemachten Erfahrungen ein neues Verhaltensrepertoire auf. Über leibliche Kommunikation mit den Erziehenden erfährt das Kind Regeln und Grenzen. Es lernt Erwachsene als Reibungspunkte und Rahmen für sein Verhalten zu erspüren und handelt mit ihnen seine Möglichkeiten und Grenzen aus. In vielen spezifischen Situationen zeigt das Buch, wie der Pädagoge seinem Gespür vertrauen, seine Mittel der Einleibung einsetzen kann, um mit Kindern zu kommunizieren. Dabei schafft er Atmosphären, die eine förderliche Lernumgebung schaffen. Denn nicht nur eine ästhetische Gestaltung der Räume, sondern auch eine optimistische, heitere Stimmung ist erforderlich, damit Kinder sich offen und neugierig auf neue Lernprozesse einlassen. Der eigene Leib des Pädagogen als Resonanzkörper sagt viel über die pädagogische Situation aus. Ist er angespannt, übersensibel, locker, entspannt, konzentriert, verkrampft, ausgelassen? Meist nimmt er genau das aus der gemeinsamen Situation mit, was in dieser zwischen den Leibern verhandelt und gespürt wurde. Der Leib täuscht nicht über die Diskrepanz zwischen pädagogischen Zielen und erlebter Wirklichkeit hinweg. Er verschafft sich Ausdruck darüber, ob sich der Erwachsene im Gleichgewicht befindet, ob er viel Engung ent213 https://doi.org/10.5771/9783495817896 .

B Praktischer Teil: Leibliche Kommunikation im Erziehungsalltag

gegensetzen musste oder sich in Weitung einlassen konnte auf die Lernsituation. Die pädagogische Reflexion sollte sich daher nicht beschränken auf die Erreichung expliziter Erziehungsziele oder den passgenauen Einsatz von Methoden. Sie sollte auch die Resonanz zwischen Kindern und Erwachsenen umfassen, die viel stärker an der eigenen leiblichen Verfassung in und nach der gemeinsamen pädagogischen Situation gespürt werden kann, als durch messbare Ergebnisse in Form von Werken, Klausuren oder Noten. Ob Pädagogen die Kinder erreicht haben, lässt sich womöglich eher daran erkennen, wie intensiv die Einleibung, das affektive Betroffensein und die Resonanz der eigenleiblichen Erfahrung gewesen ist, als an systematisch ausgefüllten Beobachtungsbögen oder Testpapieren. Es erfordert Mut, dem eigenen Gespür genauso zu trauen wie messbaren Daten und Fakten. Dennoch lässt es sich nicht leugnen, dass die spürbaren Aspekte pädagogischer Interaktion einen genauso gültigen Wahrheitscharakter beinhalten, wie die gemessenen. Sie entfalten sich womöglich erst allmählich, wirken aber vielleicht auch nachhaltiger.

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44. Literaturverzeichnis

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45. Glossar

45. Glossar Atmosphären: Sie wirken auf den Leib von außen ein und können die Gestimmtheit der Person beeinflussen. Sie gehen von Räumen, Landschaften, Witterungsverhältnissen und Personen aus. Auch Gefühle können sich als Atmosphäre in einem Raum ergießen und die Anwesenden ergreifen. Es ist jedoch auch möglich, Atmosphären lediglich wahrzunehmen und sich davon zu distanzieren. Atmosphären können passiv erfahren, aber auch aktiv gestaltet werden. Bewegungssuggestion: Vorzeichnungen von Bewegung an ruhenden oder bewegten Gestalten. Sie werden am eigenen Leib gespürt in Intensität, Richtung und Ausprägung und regen dazu an, diese nachzuahmen. Einleibung: Einleibung ist die Konzentration auf ein Gegenüber. Dies kann eine Person oder ein Gegenstand sein. Durch Blicke und spürendes Abtasten des Gegenübers entsteht eine wechselseitige Resonanz zwischen den beiden Leibern, die nicht allein durch Worte und Körpersprache verhandelt wird. Sie wird zusätzlich durch subjektives Spüren von annehmenden und ablehnenden, erlaubenden und verbietenden, empathischen und apathischen Regungen begleitet. Einleibung, antagonistische: Hier wird Über- und Unterordnung ausgehandelt. Dies geschieht durch Blicke, Worte, Gesten oder Schweigen. Vor allem die Körperspannung drückt hier leiblich aus, wer eher den Engepol übernimmt und die Situation bestimmt und wer eher den Weitepol in gewährender Haltung einnimmt. Der Wille, sich durchzusetzen oder sich unterzuordnen drückt sich letztlich in leiblichen Signalen aus. Einleibung, solidarische: In diesem leiblichen Prozess steht das Mitschwingen mit dem Gegenüber im Vordergrund. Bei einem gesungenen Duett spüren sich die beiden Sänger in Tempo, Rhythmus, Tonlage und Melodie des Partners ein. Auch eine im Wind sich wiegende Birke oder ein in den Lüften kreisender Vogel kann zum Mitschwingen in solidarischer Einleibung anregen. Hier kommt es vor allem auf Einfühlung und synchrones Mittun an.

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45. Glossar

Engung: Eine leibliche Regung, die meist am ganzen Leibe empfunden wird als spürbarer Druck, Anspannung, Einengung und Begrenzung. Im Schreck oder Schmerz zieht sich der Leib zusammen, die Extremitäten sind nah beim Körper, der Kopf wird eingezogen. Der Blick ist eingeschränkt, weil das unmittelbare Empfinden die ganze Situation beherrscht. Dies kann auch bei der Konzentration auf eine Tätigkeit am Computer, bei dem Erfasstsein vom Blick des Geliebten oder bei einer freudigen Erregung vorkommen. Epikritische Tendenzen: Darunter versteht man intermodale (den einzelnen Sinn überschreitende) Wahrnehmungen, die als grell, spitz, schrill oder hell empfunden werden: Der Pfiff mit der Trillerpfeife Gegenwart, primitive: Dies ist der Moment, in dem sich die Person im Hier und Jetzt auf ein subjektives Empfinden in Engung reduziert. Bei einem Schock nach einem Unfall oder einem stechenden Schmerz schrumpft das eigene Empfinden der Person so sehr auf den Augenblick zusammen, dass sogar Ort, Zeit, eigener Name, Umstände der Situation, die anderen und das nächste Handlungsziel aus dem Blick geraten. Dies geschieht, weil die Engung sich so massiv über den gesamten Leib erstreckt, dass für einen Moment jegliche Perspektive von Weite verschwindet. Die leibliche Regung wird zum Mittelpunkt der Welt. Gegenwart, entfaltete: Hier kann die Person die Gesamtheit der Situation in all ihren Facetten spüren, ohne sie unbedingt als isolierte Einheiten wahrzunehmen. Der eigene Leib steht in offenem Austausch mit der Umgebung und kann entspannt in Kooperation mit der Umwelt treten. Gestaltverlauf: Figur, die ein Gegenstand (sich wiegende Birke), eine Person (hektische Flucht) oder eine Melodie (Rhythmus eines Walzers) vorgibt. Sie wird zunächst lediglich wahrgenommen und noch nicht am eigenen Leib gespürt und nachvollzogen. Konstellationen: Sie sind der Versuch, die zahlreichen zusammenwirkenden Faktoren einer Situation analytisch herauszulösen und als einzelne Ursachen oder Wirkungen in Netzwerken festzustellen. Viele Konzepte wie Verkehrsregeln, statistische Erhebungen und Kochrezepte bilden Konstellationen.

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Leib: Der Leib ist das, was in der Gegend des eigenen Körpers wahrgenommen wird, sich aber nicht einfach auf das bezieht, was mit den fünf Sinnen erkennbar ist, sondern vor allem auf die Aspekte, die man spürend an sich wahrnimmt. Ich spüre an meinem Leib Anspannung, Losgelassenheit, Mattigkeit, Hunger, Durst, Schmerz oder Lust. Dies ist eine zunächst rein subjektive Erfahrung. Sie wird jedoch durch Eindrücke aus der unmittelbaren Umgebung beeinflusst, weil sie auf den eigenen Leib wirken. Leibliche Disposition: Grundlegende leiblich-affektive Anlage eines Individuums, die durch Interaktion mit der Umwelt mitgeprägt wird. Diese Grundstimmung der Person besteht aus drei Aspekten: erstens aus dem vitalen Antrieb, der die Lebendigkeit und Vitalität darstellt; zweitens die Reizempfänglichkeit, die eine Aufgeschlossenheit für die Reize der Umwelt bedeutet; drittens die Zuwendbarkeit, also die Fähigkeit, sich in Interaktion mit anderen zu begeben. Leibliche Kommunikation: Dies Form der Kommunikation umfasst alles, was im Wechselprozess von Engung und Weitung in antagonistischer oder solidarischer Einleibung ausgehandelt wird. Auch hier steht das eigenleibliche Spüren im Vordergrund. Ob jemand mit einem guten oder schlechten Gefühl aus einem Gespräch geht hat nicht allein mit dem gesprochenen Wort zu tun, sondern welche Stimmung hier leiblich durch Haltung, Blicke, Pausen etc. vermittelt wurde. Personale Emanzipation: Die personale Emanzipation wird in einem relativen Gleichgewicht zwischen Enge und Weite erreicht. Die Person ist in der Lage, Situationen spürend wahrzunehmen, sie zu deuten, geeignete Modelle und Konzepte zu ihrer Strukturierung und Bewältigung anzuwenden. Dabei dient gerade das leibliche Gespür der Fähigkeit, die aktuell passende Reaktion oder Initiative in der Situation einzusetzen und angemessen zu agieren. Personale Regression: Der Leib ist hier durch affektives Betroffensein im Zustand relativ starker Engung. Die Situation reduziert sich auf das Hier und Jetzt des eigenleiblichen Spürens etwa von Schmerz oder Angst. Die Person hat in diesem Moment keine

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Konzepte zur Verfügung, mit denen sie der Situation gegenübertreten, sie sortieren und strukturieren kann. Persönliche Eigenwelt: Sie besteht aus all jenen Sachverhalten, die eine Person in rein subjektiver Auswahl aktuell als bedeutsam erachtet. Die Sachverhalte sind subjektiv durchleuchtet und durchwärmt. Persönliche Fremdwelt: Dies sind Sachverhalte, deren subjektiver Gehalt durch personale Emanzipation objektiviert wurde und aus der persönlichen Eigenwelt entlassen wurden. Persönliche Welt: Während die persönliche Situation das Sosein des einzelnen Menschen beschreibt, versteht man unter der persönlichen Welt all die Aspekte, mit denen das Subjekt zu tun hat und die sich in persönliche Eigenwelt und persönliche Fremdwelt unterscheiden. Persönliche Situation: Damit ist die Persönlichkeit gemeint, die jedoch nach Schmitz kein Gefüge fester Eigenschaften ist, sondern ein dynamisches Ganzes, aus dem immer einzelne Aspekte hervortreten und wieder zurückweichen. Sie beinhaltet auch das Temperament und den Charakter. Protopathische Tendenz: Spürbare intermodale (den einzelnen Sinn überschreitende) Wahrnehmung, die als langsam, leise, träge oder dumpf erfahren werden: Ein stilles Säufzen. Situationen: Dies sind alltägliche Lebensereignisse, in denen eine Fülle von Faktoren zusammen wirken und zunächst nicht analytisch vereinzelt werden können. Situationen enthalten unterschiedliche Sachverhalte (Tatbestände), Programme (Richtlinien des Verhaltens) und Probleme (Hoffnungen, Sorgen), die zunächst als Gesamteindruck aufgenommen werden. Erst im Nachhinein können dann einzelne Aspekte herausgegriffen und analysiert werden. Beispiel: Gefährliche Situation im Straßenverkehr, an der mehrere Autos, Fußgänger, Radfahrer, eine defekte Ampelanlage und die Dunkelheit als Faktoren beteiligt sind. Spielerische Identifizierung: Der Versuch, sich spielerisch in die Gestaltverläufe, Bewegungssuggestionen und Stimmungen einer an-

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deren Person oder eines Gegenstandes zu begeben und diese nachzuahmen und individuell auszugestalten. Dabei erfolgt eine gewisse Identifizierung, die jedoch willentlich jederzeit wieder aufgegeben werden kann. Rollenspiele von Kindern erfolgen meist nach dem Prinzip der spielerischen Identifizierung. Weitung: Eine weitere leibliche Regung, die dazu führt, dass der Leib als locker und entspannt wahrgenommen wird. Arme und Beine nehmen Raum ein, der Blick ist in die Ferne gerichtet, die Haltung offen und der Umwelt zugewandt. In der Weitung erreicht die Person ein eher losgelöstes Gebaren und taucht in der Umgebung ein. Sie spürt Verbundenheit mit der Situation bis hin zur Verschmelzung.

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