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German Pages 748 [752] Year 2010
Killy Literaturlexikon
Band 8
Killy Literaturlexikon Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes 2., vollständig überarbeitete Auflage Herausgegeben von Wilhelm Kühlmann in Verbindung mit Achim Aurnhammer, Jürgen Egyptien, Karina Kellermann, Steffen Martus, Reimund B. Sdzuj Band 8 Marq – Or
De Gruyter
Die erste Auflage erschien unter dem Titel Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache im Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh/München, herausgegeben von Walther Killy unter Mitarbeit von Hans Fromm, Franz Josef Görtz, Gerhard Köpf, Wilhelm Kühlmann, Gisela Lindemann, Volker Meid, Nicolette Mout, Roger Paulin, Christoph Perels, Ferdinand Schmatz, Wilhelm Totok und Peter Utz. Die in diesem Lexikon gewählten Schreibweisen folgen dem Werk „WAHRIG – Die deutsche Rechtschreibung“ sowie den Empfehlungen der WAHRIG-Redaktion. Weitere Informationen unter www.wahrig.de Redaktion: Christine Henschel (Leitung) und Bruno Jahn Redaktionsschluss: 30. April 2010
ISBN 978-3-11-022046-9 e-ISBN 978-3-11-022047-6 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. für die 1. Auflage by Bertelsmann Lexikon Verlag GmbH, Gütersloh/München 1988 – 1993 Alle Rechte vorbehalten für die 2. Auflage 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen Satz: Process Media Consult, GmbH Druck: Hubert & Co., Göttingen 1 Gedruckt auf säurefreiem Papier * Printed in Germany www.degruyter.com
Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Irmgard Ackermann Sylvia Adrian Robert J. Alexander Stefan Alker Angelika Alwast Jendris Alwast Frieder von Ammon Alfred Anger Heinrich Anz Thomas Anz Sebastian Arnold Inge Arteel Helmut G. Asper Friedbert Aspetsberger Ilse Auer Friedhelm Auhuber Achim Aurnhammer Elke Axmacher Thomas Bach Hans-Jürgen Bachorski Martina Backes Matthias Bauer Stefan Bauer Werner M. Bauer Günter Baumann Reinhard Baumann Sabina Becker Michael Behnen Maria Behre Jan Behrs Joseph Berlinger Rüdiger Bernhardt Toni Bernhart Eckhard Bernstein Wolfgang Biesterfeld Dietrich Blaufuß Helmut Blazek Herbert Blume Hans Erich Bödeker Holger Böning Klaus Bohnen Gerhard Bolaender Erika Bosl
. Agnieszka Bozek Angelika Brauchle Michael Braun Thomas Brechenmacher Bernd Breitenbruch Astrid Breith Reinhard Breymeyer Gisela Brinker-Gabler Birgit Brix Hilary Brown Rüdiger vom Bruch Horst Brunner Friedhelm Brusniak Ulrich Bubenheimer Dörthe Buchhester Walter Buckl Axel Bühler Michaela Bürger-Koftis Hans Peter Buohler Karl Heinz Burmeister Mark Chinca David Clarke Sibylle Cramer Michael Curschmann Ralf Georg Czapla Birgit Dankert Annette Deeken Rudolf Dellsperger Rudolf Denk Heinrich Detering Hartmut Dietz Detlef Döring Alfred Dreyer Reinhard Düchting Sophia Ebert Jürgen Egyptien Trude Ehlert Hans Peter Ehmke Jost Eickmeyer Susann El Kholi Stefan Elit Clara Ervedosa Karl Esselborn
Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Walter Fanta Eckhard Faul Jörg-Ulrich Fechner Heinrich Feldt Katharina Festner Bernhard Fetz Annemarie Fiedermutz-Laun Peter Fischer Thorsten Fitzon Jochen Fried Hans-Edwin Friedrich Waldemar Fromm Monika Frommel Frank Fürbeth Rainer Fürst Stephan Füssel Klaus Garber Sabine Geese Guillaume van Gemert Robert Gillett Ingeborg Glier Frank Göhre Jürgen-Wolfgang Goette Walter Grab Jürgen Grambow Jochen Greven Wolfgang Griep Norbert Grob Elisabeth Grotz Isabel Grübel Walter Grünzweig Frank Grunert Christa Gürtler Detlef Haberland Wilhelm Haefs Claudia Händl Günter Häntzschel Barbara Handwerker Küchenhoff Wilfried Hansmann Michael Harbsmeier Wolfgang Harms Volker Hartmann Ludger Heid Manfred Heiderich Horst Heidtmann Jürgen Hein Ernst Hellgardt Mechthild Hellmig-Widdig Günter Helmes Leon Hempel Gabriele Henkel Fritz Hennenberg Christine Henschel Ulrich Herrmann
Peter Heßelmann Wilhelm Hilgendorff Klaudia Hilgers Carola Hilmes Norbert Hinske Winfried Hönes Stefan Höppner Jochen Hörisch Peter Hoffmann Helmut Holzhey Gerlinde Huber-Rebenich Klaus Hübner Reinhold Hülsewiesche Rainer Hugener Adrian Hummel Stefan Iglhaut Wilfried Ihrig Cornelia Ilbrig Ingo Irsigler Andrea Jäger Anne Maximiliane Jäger Hans-Wolf Jäger Bruno Jahn Johannes Janota Herbert Jaumann Clemens Joos Ulrich Joost Renate Jürgensen Werner Jung Rudolf Käser Marc Kalwellis Elke Kasper Rudolf W. Keck Torsten Kellner Dirk Kemper Florian Kessler Christian Kiening Joseph Kiermeier-Debre J. Klaus Kipf Ulrich Kittstein Kathrin Klohs Ewout van der Knaap Joachim Knape Reinhard Knodt Jörg Köhler Peter König Barbara Könneker Ulrich Köpf Michaela Kopp-Marx Katrin Korch Gisela Kornrumpf Alexander Kosˇenina Fritz Krafft Thomas Kramer
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VII Robert Krause Hannes Krauss Helmut K. Krausse Ernst Kretschmer Wynfrid Kriegleder Florian Krobb Hans-Martin Kruckis Christiane Krusenbaum Astrid Kube Gunhild Kübler Ulla Britta Kuechen Wilhelm Kühlmann Volker Kühn Josephine Kujau Walther Kummerow Hans Peter Kunisch Gerhard Kurz Bernhard Kytzler Volker Ladenthin Fabian Lampart Peter Langemeyer Corinna Laude Christoph Launer Ingrid Laurien Elisabeth Lebensaft Maria-Verena Leistner Gerald Leitner Gerrit Lembke Ernst Leonardy Hans Leuschner Pia-Elisabeth Leuschner Ulrike Leuschner Ludger Lieb Werner Liersch Joachim Linder Uta Lindgren Charles Linsmayer Walburga Litschauer Dieter Löffler Freimut Löser Martin Loew-Cadonna Hans-Martin Lohmann Dieter Lohmeier Sabine Lorenz Günther Lottes Raffaele Louis Michael Ludscheidt Wolfgang Lukas Matthias Luserke Daniel Lutz Ulrich Maché Bettina Mähler Barbara Mahlmann-Bauer Lea Marquart
Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Hanspeter Marti Madeleine Marti Christine Martin Dieter Martin Matías Martínez Arno Matschiner Beat Mazenauer John A. McCarthy Volker Meid Albert Meier Andreas Meier Ute Mennecke-Haustein Dieter Merzbacher Erika A. Metzger Uwe Meves Dietrich Meyer Alain Michel Zymunt Mielczarek Helmut Mörchen Elfriede Moser-Rath Stephen Mossman Dominik Müller Hermann-Josef Müller Roger W. Müller Farguell Gunnar Müller-Waldeck Lothar Mundt Martin Muschick Wolfgang Neuber Volker Neuhaus Bernd Neumann Gunther Nickel Klara Obermüller Ute Obhof Georg Objartel Ruth Oelze Herbert Ohrlinger Walter Olma John Osborne Bernadette Ott Norbert H. Ott Walter Pape Iulia-Karin Patrut Georg Patzer Zoja Pavlowskis Dietmar Peil Mischa von Perger Ole Petras Martin Petrowsky Berthold Petzinna Dana Pfeiferová Kristina Pfoser-Schewig Robert Pichl Roland Pietsch Barbara Pittner
Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Hans Pörnbacher Gesine von Prittwitz Rosemarie Inge Prüfer Fidel Rädle Jürgen Rathje Martin Rector Pia Reinacher Heimo Reinitzer Angela Reinthal Hubert Reitterer Stefan Rhein Matthias Richter Ulfert Ricklefs Nicolai Riedel Oliver Riedel Wolfgang Riedel Gerda Riedl Walter Riethmüller Werner Röcke Hans-Gert Roloff Karin Rother Franz Rottensteiner Bärbel Rudin Arnd Rühle Walter Ruprechter Clemens Ruthner Stefan Christoph Saar Johannes Sachslehner Eda Sagarra Sascha Salatowsky Jutta Sandstede Hans Sarkowicz Ingrid Sattel Bernardini Nicholas Saul Mario Scalla Walter E. Schäfer Uta Schäfer-Richter Frieder Schanze Heinz Scheible Irmgard Scheitler Carola Schiefke Jürgen Schiewe Michael Schilling Wolfgang Schimpf Karen Schleeh Christof Schmid Christine Schmidjell Wolf Gerhard Schmidt Helmut Schmiedt Hilde Schmölzer Sabine Schmolinsky Wolfram Schneider-Lastin Barbara Schnetzler Eva Schörkhuber
Detlev Schöttker Hermann Schreiber Marco Schüller Sonja Schüller Hans J. Schütz Hans Schuhladen Gerhard Schulz Johannes Schulz Ursula Schulze Eckhard Schumacher Thomas B. Schumann Hans-Rüdiger Schwab Christian Schwarz Rolf Schwendter Reimund B. Sdzuj Astrid Seele Robert Seidel Andreas Seifert Reinhart Siegert Franz Günter Sieveke Friedhelm Sikora Kai Sina Rudolf Smend Karl Solibakke Andreas Urs Sommer Dietrich Sommer Johann Sonnleitner Walter Sparn Stephan Speicher Ingeborg Springer-Strand Paul Stänner Michael Stahl Guido Stefani Hartmut Steinecke Hajo Steinert Frank Steinmeyer Gideon Stiening Eva Stollreiter Peter Strohschneider Dieter Sudhoff Anette Syndikus Marian Szyrocki Karin Tebben Christian Teissl Joachim Telle Reinhard Tenberg Kristin Teuchtmann Götz-Rüdiger Tewes Hellmut Thomke Harry Timmermann Michael Töteberg Tomas Tomasek Dietmar Trempenau Peer Trilcke
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IX Bertram Turner Suzanne Tyndel Elke Ukena-Best Helgard Ulmschneider Armin von Ungern-Sternberg Martin Unkel Christa Veigl Rudolf Vierhaus Martin Andre Völker Reinhard Vogelsang Dominica Volkert Benedikt K. Vollmann Gisela Vollmann-Profe Hartmut Vollmer Karin Vorderstemann Lieselotte Voss Bernhard Walcher Armin A. Wallas Klaus-Peter Walter Peter Walter Christian Weber Ernst Weber Walter Weber Thomas Wegmann Thomas Weidner
Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Wolfgang Weismantel Christoph Weiß Dieter Wenk Frank Wessels Björn Weyand Hermann Wiegand Thomas Wilhelmi Ulla Williams Werner Williams-Krapp Silvia Wimmer Christof Wingertszahn Heinz Wittenbrink Winfried Woesler Gerhard Wolf Herbert Wolf Jürgen Wolf Franz-Josef Worstbrock Elisabeth Wunderle Uli Wunderlich W. Edgar Yates Klaus Cäsar Zehrer Marc Andre Ziegler Christian von Zimmermann Michael Zywietz
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Marquard vom Stein, * 1425/1430, † um 1495/96. – Verfasser der Exempelsammlung Ritter vom Turn, übersetzt u. bearbeitet nach der französischen Vorlage Le Livre du chevalier de la Tour Landry pour l’enseignement de ses filles. M. v. S. entstammte einem schwäb. Adelsgeschlecht. 1457 wurde er Pfandherr von Florimont im Elsass, 1460 Landvogt der Grafschaft Montbéliard (Mömpelgard), die 1397 an die Grafen von Württemberg gefallen war. In den Auseinandersetzungen zwischen den linksrheinischen württembergischen Territorien u. Burgund 1474–1477 übernahm er diplomatische u. militärische Aufgaben. Die Vorlage des Ritter vom Turn verfasste 1371/72 Geoffroy IV. de la Tour (um 1326 bis um 1404). M. folgt ihr im Aufbau. Er bietet Beispiele vorbildl. oder sündhaften Verhaltens von Frauen, die zunächst Fragen der religiösen Praxis, sodann Ehe, Familie u. Situationen des alltägl. Lebens betreffen; schließlich werden positive u. negative bibl. Frauenfiguren behandelt. Der Erstdruck erfolgte 1493 in der Basler Offizin Michael Furters, wohl im Auftrag oder sogar in Zusammenarbeit mit Johann Bergmann von Olpe; für beide ist die Vorliebe für reichen Bildschmuck kennzeichnend. Die Urheberschaft der Holzschnittillustrationen ist bislang ungeklärt; genannt wurden u. a. Dürer u. Grünewald. Nach einigen Folgedrucken wurde der Ritter vom Turn in einem Straßburger Druck von 1538 (Jakob Cammerlander) gründlich im protestant. Sinne überarbeitet; ganze Geschichten oder Geschichtengruppen wurden gestrichen, andere hinzugefügt. In der Folge wurde der Ritter vom Turn in dieser Form nachgedruckt (vgl. v. a. die Ausg. Ffm. 1587 in Feyerabends Buch der Liebe) u. – nach einer Notiz Cyriacus Spangenbergs – zu einem der meistgelesenen Bücher der Zeit. Die Exempelsammlung formuliert Regeln einer spezifisch weibl. Alltagsethik, die für die Konstitution des höfischen, aber auch des bürgerl. Frauenbildes in der Frühen Neuzeit kennzeichnend wurden: Verlangt wird der Verzicht auf eigene Interessen oder körperl. Affekte jegl. Art, die bedingungslose Unter-
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werfung unter Vorrecht u. Gewalt des Manns, schließlich die Bereitschaft zu Geduld u. Demut, Gehorsam u. liebevoller Zuwendung, auch u. gerade im Fall der Demütigung u. männl. Gewalt. Die Exempla dienen ausschließlich der Einübung in die angeblich selbstverständl. Wahrheit des Gegebenen. Der Quellenfundus des Ritter vom Turn soll die Lehre von der Ungleichheit der Geschlechter historisch wie biblisch-theologisch legitimieren. Allerdings bedarf es dazu erheblicher hermeneut. Kunstgriffe; so soll etwa die Erzählung vom Mord des Herodes an seiner Frau die Frauen dazu anhalten, »gegen jren mannen züchtig und demütig zu syn / und güte und süsse antwurt geben«. Geduld im Leiden, demütiger Gehorsam, aber auch der Verzicht auf vorlautes Sprechen, das Emporrecken u. Drehen des Kopfs (als Zeichen von »Hoffart«!) u. alle Formen des Genusses u. der Artikulation eines selbständigen Willens sind die Zeichen einer hier noch literarisch imaginierten, in der Folge faktisch immer mehr realisierten Reduktion der Frau zum Objekt patriarchaler Herrschaft. Ausgabe: M. v. S.: Der Ritter vom Turn. Hg. Ruth Harvey. Bln. 1988. Literatur: Alexander Kehrmann: Die dt. Übers. der Novellen des Ritter vom Turn. Diss. Marburg 1905. – Louis Poulain: Der Ritter vom Turn. Diss. Basel 1906. – Barbara Weinmayer: Studien zur Gebrauchssituation früher dt. Druckprosa. Mchn. 1982, S. 179–188. – Hans Joachim Kreutzer: Marquart v. S. In: VL. – Ingrid Bennewitz: ›Darumb eine fraw jrem mann nit kan zu viel gehorsam seyn‹. Zur Konstituierung v. Weiblichkeitsidealen im ›Ritter vom Thurn‹ des Marquart v. S. In: FS Ingo Reiffenstein. Hg. Peter K. Stein u. a. Göpp. 1988, S. 545–564. – Susanna Burghartz: Ehebruch u. eheherrl. Gewalt. Literar. u. außerliterar. Bezüge im Ritter vom Turn. In: Ordnung u. Lust: Bilder v. Liebe, Ehe u. Sexualität in SpätMA u. Früher Neuzeit. Hg. Hans-Jürgen Bachorski. Trier 1991, S. 123–140. – Reinhard Hahn: Zu Marquarts v. S. ›Ritter vom Turn‹. In: AKG 74 (1992), S. 125–146. – R. Harvey: M. v. S.: Der Ritter vom Turn. Komm. Aus dem Nachl. v. R. H. hg. v. Peter Ganz. Bln. 1996. – Ulrike Gaebel: Erzähler u. Erzählkonzepte in Marquarts v. S. ›Der Ritter vom Turn‹. In: Erzählungen in Erzählungen. Hg. Harald Haferland u. Michael Mecklenburg. Mchn. 1996, S. 393–409. – Hélène Odile Lambert: L’image de la femme dans le ›Livre du Chevalier de la Tour Landry pour
Marquard von Lindau
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l’enseignement de ses filles‹ (1372) et dans ses transportations en langue allemande (1493, 1538). In: Kultureller Austausch u. Literaturgesch. im MA. Hg. Ingrid Kasten, Werner Paravicini u. René Pérennec. Sigmaringen 1998, S. 259–262. – Anne Simon: Framing Lives. The Narratives of Behaviour in ›Der Ritter vom Turn‹. In: Daphnis 28 (1999), S. 35–59. – Dies.: Framing the Dame. Text and Image in ›Der Ritter vom Turn‹. In: Oxford German Studies 30 (2001), S. 52–79. – Daniela Hempen: ›... heymlich schleck essen‹. Nahrung u. Sensualität in M.s v. S. ›Der Ritter vom Turn‹. In: Germanic Notes and Reviews 33 (2002), S. 13–17. – A. Simon: ›guote suesse red vnd antwurt‹. Dialog im ›Ritter vom Turn‹. In: Dialoge. Hg. Nikolaus Henkel u. a. Tüb. 2003, S. 299–313. Werner Röcke / Red.
Marquard von Lindau, † 15.8.1392 Konstanz. – Verfasser theologischer, mystischer u. geistlicher Schriften. Unter den Verfassern volkssprachlicher Werke in der zweiten Hälfte des 14. Jh. ist der Franziskaner M. die herausragendste Figur. Die kaum überschaubare handschriftl. Überlieferung seiner Schriften ist im deutschsprachigen Raum vor dem 16. Jh. nur mit der des heutzutage viel bekannteren Heinrich Seuse zu vergleichen. Über den Verlauf seiner Karriere ist wenig bekannt. Erst 1373 ist er urkundlich belegt: Die Erwähnung von einem »Marquard lector« in einer Straßburger Urkunde bezieht sich vermutlich auf ihn u. bezeugt eine akadem. Tätigkeit am Straßburger »studium generale« seines Ordens. In diesem Umfeld entstand demnach sein lat. Hauptwerk De reparatione hominis, in dem er eine ausführl. Schöpfungs- u. Erlösungslehre stark franziskanischer Prägung entfaltete, u. dessen Abfassungszeit mit einiger Sicherheit in das Jahr 1374 zu datieren ist. Lindau war vermutlich M.s Heimatkloster, dem er 1377 als »custos« der Bodensee-Kustodie des Franziskanerordens ein silbernes, mit Perlen u. Edelsteinen bestücktes Kreuz schenkte. 1379 wurde ihm der Magistertitel vom avignonesischen Papst Clemens VII. angeboten; obwohl er ihn offensichtlich nicht angenommen hat, verlor er kurz danach das Vertrauen seines Ordensprovinzials wegen einer nur unzureichend dokumentierten Episode in
der verwirrenden Anfangsphase des Großen Schismas. Erst 1382 bekam er seine Kustodie wieder. Am 19. Nov. 1389 wurde er schließlich zum Provinzial der oberdt. Franziskanerprovinz ernannt. Als Provinzial ist seine Mitwirkung an der Gründung des Klarissenklosters Valduna belegt sowie seine Teilnahme am Straßburger Häresie-Prozess gegen Johannes Malkaw. Durch einen geistl. Sendbrief über die Ordensleitung ist sein Kontakt mit Konrad von Braunsberg bekannt, dem Prior des dt. Johanniterordens. Weitere Kontakte zum Straßburger Kloster zum Grünen Wörth, an dessen Gründung Konrad sich maßgeblich beteiligte, u. darüber hinaus zu den sog. »Gottesfreunden« um Rulman Merswin sind weder bekannt noch anzunehmen. M. starb am 15. Aug. 1392 in Konstanz u. wurde in der dortigen Franziskanerkirche begraben. Hinsichtlich des Ausmaßes u. Themenreichtums seiner literar. Tätigkeit ist M. mit kaum einem anderen Mitgl. des Franziskanerordens in Deutschland vor der Reformation zu vergleichen. Seine Werke, die mit Ausnahme des oben erwähnten De reparatione hominis u. einer 1389 vollendeten Predigtsammlung nicht zu datieren sind, lassen sich grob in vier Gruppen unterteilen. Erstens bieten zahlreiche lat. Werke die ausführl. Behandlung einzelner theolog. Probleme, wie z.B. die Eigenschaften der Armut im geistl. Sinne (De paupertate) oder die Besonderheiten des Körpers u. der Seele Christi (De perfectione humanitatis Christi); diese sind sämtlich auf M.s Lehrtätigkeit in den franziskan. Studia zurückzuführen. Unter diesen lat. Werken ist sowohl De reparatione hominis als auch eine theologisch-philosoph. Auslegung von Johannes 1, 1–14 hervorzuheben. Jener scholast. Kommentar ist ein umfangreiches Werk von hohem intellektuellen Niveau, in dem M. sich intensiv mit den Grundthesen der lat. Schriften Meister Eckharts auseinandersetzte. Die zweite Gruppe besteht aus vier allegor. Traktaten im viktorin. Stil u. umfasst lateinische (De arca Noe) u. dt. Werke (den Auszug der Kinder Israel, De Nabuchodonosor u. den HiobTraktat). Der in der Literaturgeschichte fast völlig unbeachtete Auszug zeichnet sich durch seinen ungewöhnlich hohen literar. Stil aus u.
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war sehr erfolgreich; vollständig ist er in ca. 80 Handschriften u. zwei Druckfassungen des 16. Jh. überliefert. M. paraphrasiert anfangs den Benjamin minor Richards von St. Viktor, um dann die daraus entliehene exeget. Methode über die gesamte Geschichte des Auszuges der Israeliten ins Land der Verheißung auszudehnen, die er als den kontemplativen Aufstieg der menschl. Seele interpretiert. Besondere Beachtung wird dem Umgang mit der Versuchung, der Anfechtung u. der inneren Leidenserfahrung im geistl. Leben geschenkt; eine Thematik, die in allen vier allegor. Traktaten dominiert. Die Predigten M.s bilden die dritte Gruppe. Neben mehreren lat. u. einem halben Dutzend dt. Texten, die verstreut überliefert sind, ist in erster Linie seine 1389 vollendete Sammlung von 41 deutschsprachigen Lesepredigten zu nennen, die fast nur in Handschriften aus oberdt. Frauenklöstern enthalten ist. In seiner Predigtsammlung entwirft M. eine eigenständige Mystik. Sie verbindet eine für den Franziskanerorden typische voluntarist. Konzeption der myst. Einung mit einer in der dominikan. Tradition wurzelnden negativen Theologie, die auf eine gründl. Beschäftigung mit dem gesamten pseudodionysischen Textkorpus sowie den darauf bezogenen lat. Kommentaren u. den Werken Eckharts zurückgeht. Zur vierten Gruppe gehören M.s erfolgreichste Werke in der Volkssprache: seine pragmat. Schriften zu Kernfragen des christl. Lebens. Der dreiteilige, deutschsprachige Traktat De anima Christi führt den Leser in die Nachahmung Christi ein u. enthält im dritten Teil eine aus dem Matthäuskommentar des Petrus Johannis Olivi adaptierte Auffassung des immerwährenden inneren Leidens Christi. M.s Eucharistietraktat war die erfolgreichste mittelalterl. Abhandlung des Themas in dt. Sprache. Er stellt kein rein katechet. Werk dar, sondern bietet dem Leser verschiedene Zugänge zu einem näheren Verhältnis mit Gott durch den Empfang des eucharist. Sakraments. M. bekämpft ein herrschendes Klima der Angst vor dem leibl. Empfang der Hostie, indem er die in der Eucharistie enthaltene Liebe Gottes zum Menschen betont u. auf einer fast neuzeitlich wirkenden Lehre von der Rechtfertigung des
Marquard von Lindau
Menschen zum sakramentalen Empfang besteht. Schließlich enthält die in mehr als 130 Handschriften überlieferte u. schon 1483 gedruckte Dekalogerklärung eine allg. Lebenslehre, in der ein moralisch-eth. Kommentar zu jedem Gebot durch die beispielhafte Lebensführung Mariens verdeutlicht u. mit mystisch-kontemplativen Anweisungen bereichert wird. Vor allem durch jene pragmat. Schriften in der Volkssprache wird M. zu einem frühen Vertreter der literar. Tradition der sog. »Frömmigkeitstheologie«. Sie verraten jahrelange Erfahrung in der Seelsorge, richten sich aber an ein breites Publikum, das geweihte Priester u. Beichtväter, Novizen, religiöse Frauen in mehr oder weniger inklausurierten Gemeinschaften u. gebildete Laien umfasst. Zgl. ist die Belesenheit M.s erstaunlich. Dies gilt nicht nur für die Patristik u. die monast. u. scholast. Literatur des MA. Er kannte die deutschsprachigen Werke der bedeutendsten Mystiker des 14. Jh. auswendig u. hatte eine besondere Vorliebe für Tauler u. Ruusbroec. Darüber hinaus rezipierte er einige äußerst schmal überlieferte lat. Texte von großer Brisanz: die bibl. Kommentare Eckharts, Olivis verbotenen Kommentar zum Matthäusevangelium u. den sonst in Deutschland nicht vor dem 17. Jh. belegten Pugio fidei des span. Dominikaners Ramon Martí. Aus jenem Traktat schöpfte M. seine Kenntnis islamischer Schriften, aufgrund deren er eine neue (u. zwar gegen den Dominikanerorden gerichtete) Verteidigung der unbefleckten Empfängnis Mariens schuf. Durch seine Kenntnis des Pugio fidei lässt sich nun mit Sicherheit beweisen, dass M. der anonyme christl. Gesprächspartner aus Lindau war, der dreimal im hebr. Sefer ha-Nizzahon des Prager Rabbis Jom-Tow Lipmann Mühlhausen erwähnt wird. Die Nachwirkung M.s ist kaum erforscht. Die Überlieferung der dt. Werke erstreckte sich bis über die niederländ. Sprachgrenze. Sehr früh – vielleicht noch zu M.s Lebzeiten – entstanden Übersetzungen vieler der dt. Werke ins Lateinische u. umgekehrt. Bemerkenswert ist die dt. Übersetzung der schwierigen Johannes-Auslegung, die dann eine
Marriot
größere Beliebtheit als das Original erfuhr. Im observanten Milieu wurden seine Werke bes. intensiv gelesen, vermutlich wegen M.s sorgsamer Seelenführung u. seiner expliziten Zurückhaltung exzessiven Ausdrücken der zeitgenöss. Frömmigkeit gegenüber. Im Franziskanerorden wurden die lat. Werke zusammen gesammelt, u. im frühen 15. Jh. entstand aus dieser Sammeltätigkeit ein autoritatives Werkverzeichnis. Unter den späteren Autoren, die M.s Werke nachweisbar beeinflussten, sind v. a. die Franziskaner Konrad Bömlin u. Johannes Sintram, der Augustiner Johannes von Indersdorf u. der Straßburger Prediger Johann Geiler von Kaysersberg zu nennen. Rätselhaft bleibt der Satz in der ersten Auflage des Verfasserlexikons: »Luther hat ihn gekannt«. Ausgaben: vollst. Auflistung aller Ausgaben vor 1987 durch Nigel F. Palmer: M. v. L. OFM. In: VL. Seitdem erschienen: Rüdiger Blumrich: M. v. L. Dt. Predigten. Tüb. 1994. – Stephen Mossman: Zu M. v. L., Konrad v. Braunsberg, den Gottesfreunden u. dem Gottesfreundschaftsbegriff. In: Oxford German Studies 36 (2007), S. 327–354 (Ausg. des geistl. Sendbriefs). Literatur: Bibliografie vor 1987 bei Palmer (s. o.). Seitdem erschienen: Freimut Löser: Rezeption als Revision: M. v. L. u. Meister Eckhart. In: PBB 119 (1997), S. 425–458. – Bernard McGinn: The Harvest of Mysticism in Medieval Germany (1300–1500). New York 2005. – Stephen Mossman: The Western Understanding of Islamic Theology in the Later Middle Ages. Mendicant Responses to Islam from Riccoldo da Monte di Croce to M. v. L. In: Recherches de théologie et philosophie médiévales 74 (2007), S. 169–224. – Ders.: M. v. L. and the Challenges of Religious Life in Late Medieval Germany. The Passion – the Eucharist – the Virgin Mary. Oxford 2010. Stephen Mossman
Marriot, eigentl.: Emilie Mataja, auch: Emil M., * 20.11.1855 Wien, † 5.5.1938 Wien. – Erzählerin. M. fasste bereits als junges Mädchen den Entschluss, Schriftstellerin zu werden – gegen den Willen der Eltern, die der bürgerl. Mittelschicht Wiens angehörten. Unterstützung u. Ermutigung erhielt sie von Paul Heyse, Leopold von Sacher-Masoch (vgl. Seiner Herrin Diener. Briefe an Emilie Mataja. Mchn.
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1987), Karl Emil Franzos, Maximilian Harden. M. sah die zunehmenden gesellschaftl. Probleme v. a. als Folge des Glaubensverlusts des modernen Menschen u. des Großstadtlebens. Bereits ihr realistischer »Roman aus dem Wiener Leben«, Die Familie Hartenberg (Bln. 1883. Auch in: Wiener Allgemeine Zeitung, 1880), beeindruckte durch sein rückhaltlos klar gezeichnetes Gesellschaftsbild. Themenschwerpunkte ihres Werks sind die Problematik des Priesterlebens, die sie u. a. in ihren »geistliche[n] Novellen« Mit der Tonsur (Bln. 1887) aufgreift, Fragen der bürgerl. Moral, des Liebeslebens u. der Ehe; dabei zeigt M. Engagement für die Unterdrückten u. Schwachen u. auch tiefes Empfinden für die Leiden der Tiere, das von ihrer Beschäftigung mit der Philosophie Arthur Schopenhauers beeinflusst ist. M. schrieb auch Beiträge für österreichische u. dt. Zeitungen u. Zeitschriften, in denen sie u. a., vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrung, für die umfassende Erziehung, Bildung u. individuelle Entfaltung der Frau eintrat. Weitere Werke: Egon Talmors. Wien 1880 (R.). – Der geistl. Tod. Wien 1884 (R.). – Novellen. Bln. 1886. – Die Unzufriedenen. Bln. 1888 (R.). – Moderne Menschen. Bln. 1893 (R.). – Die Starken u. Schwachen. Bln. 1894 (N.n). – Der Heirathsmarkt. Bln. 1895 (Lustsp.). – Caritas. Bln. 1895 (R.). – Seine Gottheit. Bln. 1896 (R.). – Junge Ehe. Bln. 1897 (R.). – Gretes Glück. Bln. 1897 (Schausp.). – Auferstehung. Bln. 1898 (R.). – Thiergesch.n. Bln. 1899. – Schlimme Ehen. Bln. 1901 (N.n). – Menschlichkeit. Bln. 1902 (R.). – Anständige Frauen. Bln. 1906 (R.). – Sterne. Drei Erzählungen. Bln. 1908. – Heinz Henning. Bln. 1911 (R.). – Kinderschicksale. Lpz. 1913 (N.n u. Skizzen). – Der abgesetzte Mann. Bln. 1916 (R.). – Das Sündengesetz. Heilbr. 1920 (R.). Literatur: Lexikon dt. Frauen der Feder. Eine Zusammenstellung der seit dem Jahre 1840 erschienenen Werke weibl. Autoren, nebst Biogr.n der lebenden u. einem Verz. der Pseud.e. Hg. Sophie Pataky. Bd. 2, Bln. 1898. Neuausg. Bern 1971, S. 18 f. – Herta Schminke: Die Anfänge des Wiener Gegenwartsromans. Diss. Wien 1931. – Gertrud Falkensammer: E. M. Beiträge zum österr. Ständeroman um 1900. Diss. masch. Wien 1950. – John Byrnes: The Short Fiction of E. M. Diss. John Hopkins University 1977. – Ders.: An Introduction to E. M. In: MAL, Nr. 3/4 (1979), S. 45–48, Bibliogr. S. 59–76. – Ders.: Emil M. A Reevaluation Based on
5 her Short Fiction. Bern u. a. 1983. – Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen 1800–1945. Hg. Gisela Brinker-Gabler, Karola Ludwig u. Angela Wöffen. Mchn. 1986, S. 212 f. – Andrea Dopplinger-Loebenstein: Frauenehre, Liebe u. der abgesetzte Mann. Bürgerl. Frauenlit. in Österr. (1866–1918) am Beispiel v. Franziska v. Kapff-Essenther, Julie Thenen, Rosa Mayreder, Dora v. Stockert-Meynert u. Emilie Mataja. Diss. Wien 1987. – Cornelia Fritsch: Emilie Mataja. Ein Beitr. zur Forsch. der österr. Frauenlit. um 1900. In: Zeman, Bd. 1, S. 805–822. – Helga Hofmann-Weinberger u. Christa Bittermann-Wille: Erotik. Theoret. Diskurs u. literar. Chiffren in der Frauenlit. des Fin-de-siècle. In: Der verbotene Blick. Erotisches aus zwei Jahrtausenden. Hg. Österr. Nationalbibl. Redaktion Michaela Brodl. Klagenf. 2002, S. 146–180. Gisela Brinker-Gabler / Robert Krause
Marschalk, Marschalck, Nikolaus, auch: Thurius, * 1460/70 Roßla/Thüringen, † 12.7.1525 Rostock. – Jurist, Dichter, Fachschriftsteller, Drucker. Der wohl aus adligem Geschlecht stammende M. erwarb in Erfurt die Grade eines Magisters der Philosophie (1496) u. Baccalaureus iuris; er lehrte an der Juristen- u. der Artistenfakultät. Wohl kurz nach 1496 wurde er auch secretarius senatus der Stadt. M. bezog neben seinem Freund Maternus Pistorius als erster Erfurter Universitätslehrer explizit Position gegen den traditionellen Sprachunterricht. Als »poeta« (u. a. Carmina de moribus archigrammateorum hoc est scribarum. Carmen de Diva Anna. Erfurt 1501) feierten ihn u. a. Mutianus Rufus u. Sibutus. In Erfurt begann er eine Presse in seinem Haus zu betreiben; Vorbild erster Publikationen war Manutius. M.s Grammatica exegetica (Erfurt 1501; Apologie der studia in der Einleitung) bezieht das Griechische ein; sein Enchiridion poetarum clarissimorum enthält die früheste umfassendere Einführung in die griech. Dichtung in Deutschland. Mit Priscians Syntax (Erfurt 1501) brachte M. wohl das erste ganz in griech. Lettern gedruckte Buch in Deutschland heraus. Zu seinen Schülern zählten Johannes Lang u. Spalatin; griechische u. hebräische (u. a. Introductio ad litteras hebraicas Utilissima. Erfurt 1502) Elementarbücher M.s wirkten auf Luther.
Marschalk
1502 ging M. als elfter dort überhaupt Eingeschriebener an die Universität Wittenberg, wo er lehrte u. den Dr. iur. erwarb. Die ersten in Wittenberg aufgelegten Bücher wurden auf M.s Presse gedruckt. 1503 hielt er eine Rede zur ersten Bakkalaureatspromotion (Neudr. mit engl. Übers. u. Einf. v. Edgar C. Reineke u. Gottfried G. Krodd. Valpariso [1967]). Der von Friedrich dem Weisen Unterstützte war auch für den Hof tätig, wurde dann nach einem Intermezzo in Brandenburg nach Mecklenburg berufen u. erhielt eine Stelle als herzogl. Rat in Schwerin. Ab 1510 lehrte er, wohl des Hoflebens müde, in Rostock die Rechte, hielt daneben aber auch histor. Vorlesungen (Annalium Herulorum ac Vandalorum [...]. Rostock 1521). Dem »höchst gelehrten« M. widmete Hutten eine seiner »Lötzeklagen«. Weitere Werke: Res a iudaeis perfidissimis in monte stellarum gesta. Rostock 1510. 1522. Hbg. 1730. – Orationes, hymni, nomina dei, & testamenti veteris, ac alia [...] hebraice. Rostock 1516. – Historia Aquatilium latine ac grece cum figuris. Buch 3 (Illustrationen), Rostock 1517. Bücher 1 u. 2, Rostock 1520. – Deflorationes antiquitatum ab origine mundi. Rostock 1522. – Vorw. zu: Petrus Ravennatus: Compendium iuris civilis. Paris [1530?]. – Schr.en zur Gesch. Mecklenburgs, darunter eine ›Teutsche Meklenburgische Reim-Chronik‹ u. die v. Elias Schede übers. ›Annales Herulorum‹. In: Monumenta Inedita Rerum Germanicarum. Hg. Ernst Joachim v. Westphalen. 4 Bde., Lpz. 1739–45. Literatur: VD 16. – Christian Schoettgen: Commentatio de vita N. Marschalci [...] quam [...] curavit et annotationibus auxit J. T. Schmidius. Rostock 1752. – Helmar Junghans: Der junge Luther u. die Humanisten. Weimar u. Gött. 1985 (Register). – DBA. – Ernst Wunschmann: N. M. In: ADB. – Heinrich Grimm: N. M. In: NDB. – Thomas Haye: Notizen zu N. M. In: Daphnis 23 (1994), S. 205–236. – Christa Cordshagen: Der Einfluß der Kirchberg-Chronik auf die Geschichtsschreibung, insbes. die Reimchronik N. M.s. In: Mecklenburg. Jbb. 115 (2000), S. 25–43. – Andreas Röpcke: ›ein ausztzog der Meckelburgischen Chronicken‹. Ebd., S. 43–75. – Thomas Elsmann: Germanen, Antike u. Amazonen. N. M. u. seine Verarbeitung antiker Quellen u. Mythen. Ebd. 116 (2001), S. 57–77. – Günter Werner: Ahnen u. Autoren: Landeschroniken u. kollektive Identitäten um 1500 in Sachsen, Oldenburg u. Mecklenburg. Husum 2002. – Mi-
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chael Bischoff: Geschichtsbilder zwischen Fakt u. Fabel. N. M.s Mecklenburg. Reimchronik u. ihre Miniaturen. Lemgo 2006. – Gerlinde Huber-Rebenich: N. M. In: VL Dt. Hum.
Martens, Kurt, * 21.7.1870 Leipzig, † 16.2.1945 Dresden. – Erzähler u. Dramatiker.
Heinz Wittenbrink / Red.
Nach dem mit der Promotion abgeschlossenen Jurastudium in Leipzig war M. seit 1895 freier Schriftsteller, zuletzt in München u. Dresden. Ein Freund Thomas Manns u. Bewunderer Nietzsches, trat er vorwiegend als formsicherer Erzähler hervor. Seine Opposition zum Naturalismus äußerte sich in Themenwahl (das Seelenleben der höheren gesellschaftl. Schichten) u. Verachtung jeglicher Popularität (vgl. Literatur in Deutschland. Bln. 1910). M. verstand sich als Kritiker der Dekadenz. So überwindet im Roman aus der Décadence (Bln. 1898) der Held seine dekadenten Tendenzen u. findet seine Bestimmung im wiss. Studium als Voraussetzung zur Bewältigung der Zukunft. Lebensprobleme des modernen Menschen spiegeln zahlreiche psycholog. Entwicklungsromane u. Novellen. M., der auch – unbedeutendere – Dramen verfasste, wandte sich zuletzt verstärkt dem histor. Roman zu (Verzicht und Vollendung. Bln. 1941).
Marschall, Josef, * 2.10.1905 Wien, † 24.11.1966 Eisenstadt. – Lyriker u. Prosaautor. Nach dem Studium der klass. Philologie u. Germanistik in Wien arbeitete M. als Bibliothekar an der Universitätsbibliothek in Wien. Er nahm am Zweiten Weltkrieg teil u. war bis 1947 in Gefangenschaft. K. debütierte mit kulturgeschichtl. Prosa (Der Dämon. Erzählung aus dem Leben Hugo Wolfs. Lpz. 1930. Bremen 2004). Im Heimatroman Der Fremde (Bln. 1940. Eisenstadt 1988) bleibt die Zeitgeschichte ausgeklammert: Leonhard verlässt den Wanderzirkus, mit dem er in ein burgenländ. Dorf gekommen war, u. verdingt sich als Landarbeiter bei der Witwe eines Weinbauern, deren Zuneigung er gewinnt. Wegen der ablehnenden Haltung von deren Kindern muss er das Dorf wieder verlassen. In der Fragment gebliebenen Novelle Agnes Rosner (in: Wortmühle. Literaturblätter aus dem Burgenland, H. 3, 1981, S. 18–31) schildert M. die Ängste der Landbevölkerung in den ersten Tagen nach Kriegsende; die Sowjettruppen sind dabei sehr negativ gezeichnet. M.s Lyrik zeigt zwar die souveräne Beherrschung antiker Strophenformen, ignoriert aber deren Historizität. Als Mitgl. des nationalsozialist. »Bundes deutscher Schriftsteller Österreichs« bekannte er sich 1938 zum NS-Deutschland. Weitere Werke: Die vermählten Junggesellen. Lpz. 1931. – Herbstgesang. Düsseld. 1949 (L.). – Schritt im Unendlichen. Wien 1954 (L.). – Alles Atmende. Wien 1955 (L.). – Die Vertreibung aus dem Paradies. Wien 1956 (E.). – Erwartungen. Wien 1964 (N.n). – Flöte im Lärm. Wien 1964. Literatur: Egon Henel: J. M. In: Biblos (1967), S. 62–64. – Margit Pflagner: J. M. Leben u. Werk. Oberwart 1997. Johann Sonnleitner / Red.
Weitere Werke: Die Vollendung. Bln. 1902 (R.). – Kaspar Hauser. Bln. 1903 (D.). – Drei Novellen v. adeliger Lust. Bln. 1909. – Die alten Ideale. 3 Bde., Bln. 1913–15 (R.-Trilogie). – Schonungslose Lebenschronik. 2 Tle., Wien 1921. – Die junge Cosima. Lpz. 1937 (R.). Ausgaben: Briefe an K. M. I: 1899–1907. Hg. Hans Wysling u. Thomas Sprecher. In: Thomas Mann-Jb. 3 (1990), S. 175–247. – Briefe an K. M. II: 1908–35. Hg. dies. Ebd. 4 (1991), S. 184–260. Literatur: Karl-Heinz Denecke u. Claudia Renner: K. M.: ›Roman aus der Decadence‹. Autobiogr. Versuch einer Überwindung der Dekadenz. In: Dekadenz in Dtschld. Beiträge zur Erforsch. der Romanlit. um die Jahrhundertwende. Hg. Dieter Kafitz. Ffm. 1987, S. 159–187. – Peter Fix: K. M. u. die Literar. Gesellsch. in Leipzig. In: Das Leipziger Musikviertel. Hg. Anne Schönfelder u. Klaus Adam. Lpz. 1996, S. 93–97. – Volkmar Hansen: Das Goethe-Bild v. K. M. u. Thomas Mann. In: Goethezeit – Zeit für Goethe. Auf den Spuren dt. Lyriküberlieferung in die Moderne. Hg. Konrad Feilchenfeldt u. Christoph Perels. Tüb. 2003, S. 239–250. – Karl Smikalla: K. M. – der tot geglaubte Freund aus Dresden. In: Thomas Mann u. die Engel v. Dresden.
7 Hg. ders. u. Dirk Heißerer. Berg am Starnberger See 2005, S. 87–139. Wolfgang Weismantel / Red.
Marti, Hugo, auch: Bepp, * 23.12.1893 Basel, † 20.4.1937 Davos. – Erzähler, Lyriker, Essayist.
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Legendenzyklus, den Jugenderinnerungen Eine Kindheit (Bern 1936) u. dem ergreifendpersönlichen, vom Tod vorgezeichneten Davoser Stundenbuch (Bern 1935. Zürich 1981. Ffm. 1990) spiegeln alle seine Werke eine intensive, tiefgreifende Begegnung mit einem anderen Land u. dessen Bewohnern. Das gilt nicht zuletzt auch für seinen einzigen Gedichtband Der Kelch (Basel 1925), der mit dem Zyklus Haff und Heide nochmals die Verzauberung der ostpreuß. Landschaft fassbar macht, während die sieben Birkenlieder wohl zum Schönsten gehören, was in dt. Sprache über Norwegen geschrieben worden ist.
Der Sohn eines Bankkaufmanns u. einer Pfarrerstochter verlebte seine Kindheit in Basel, Liestal u. Bern, wo er nach dem frühen Verlust der Eltern ab 1912 auf Wunsch seiner Stiefmutter Jurisprudenz studierte. 1913/14 setzte er die Studien in Berlin u. Königsberg fort u. verbrachte mehrere Monate auf Gut Viehof bei Labiau an der Deime/Ostpreußen, Weitere Werke: Balder. Eine Dichtung. Basel wo sein Romanerstling Das Haus am Haff 1923. – Rumän. Mädchen. Bern 1928 (N.n). – No(Basel 1922. Zürich 1981. Ffm. 1990) spielt. tizbl. v. Bepp (M.s Pseud. beim ›Bund‹). Bern 1928. Nach Bern zurückgekehrt, wechselte er im 1942. 1969. 1987. – Die Herberge am Fluß. Bern Sommer 1914 zur Germanistik über, reiste 1931 (Schausp.). – Rudolf v. Tavel. Bern 1935 aber vor Studienabschluss, im Spätsommer (Biogr.). – Der Jahrmarkt im Städtlein. Basel 1937 (drei E.en). 1915, als Hauslehrer des Fürsten Cantacuzino Ausgaben: H. M. u. Lucian Blaga: Im Zeichen nach Rumänien – ein Aufenthalt, den er der Freundschaft (enth. ›Rumän. Intermezzo‹, später u. d. T. Rumänisches Intermezzo (Bern ›Rumän. Mädchen‹, Briefw. mit L. Blaga). Bukarest 1926) literarisch gestalten sollte. Als er die 1985. – ›Die Tage sind mir wie ein Traum‹. Das ihm anvertrauten Kinder in die Schweiz in erzähler. Werk. Mit einem biogr. Nachw. hg. v. Sicherheit bringen wollte, musste M. wegen Charles Linsmayer. Stgt./Wien 2004. des U-Bootkriegs 1917 für zweieinhalb Jahre Literatur: Carl Günther: H. M. Mensch u. in Norwegen bleiben. Auch diesem Land, wo Dichter. Bern 1938. – Charles Linsmayer: H. M. er seine spätere Frau Elsa Lexow-Breck ken- Nachw. zu ›Das Haus am Haff‹ u. ›Davoser Stunnenlernte, hat M. mit dem atmosphärisch denbuch‹. Zürich 1981. Ffm. 1990, S. 207–247. dichten, an Hamsun erinnernden LiebesroCharles Linsmayer / Red. man Ein Jahresring (Basel 1925) aus wehmutsvoller Erinnerung heraus eine beweMarti, Kurt, * 31.1.1921 Bern. – Lyriker, gende Hommage gewidmet. 1921 schloss M. Erzähler, Essayist. in Bern seine Studien mit der Promotion ab u. wurde nach einem Zwischenspiel beim »Pes- M. studierte in Bern u. Basel (bei Karl Barth) talozzi-Kalender« ab März 1922 Feuilleton- evangelisch-reformierte Theologie. 1947/48 redakteur des Berner »Bund«. In dieser war er ökumen. Kriegsgefangenenseelsorger Funktion entfaltete er in den folgenden Jah- in Paris, danach Pfarrer in Leimiswil, in Nieren eine für die Deutschschweizer Literatur derlenz (1950–1960) u. schließlich (bis zu jener Zeit außerordentlich förderl. Tätigkeit seiner Pensionierung 1983) an der Nydeggu. wurde zur krit. Instanz für viele junge kirche in Bern. Er wurde wiederholt ausgeTalente wie Friedrich Glauser oder Kurt zeichnet, u. a. mit Preisen der SchweizeriGuggenheim. schen Schillerstiftung (1967, 1986), dem Sein eigenes, von formaler Eleganz u. the- Großen Literaturpreis des Kantons Bern mat. Vielfalt geprägtes, nach damaligem (1972), dem Johann-Peter-Hebel-Preis (1972), Empfinden »unschweizerisches« literar. dem Literaturpreis der Stadt Bern (1981), Werk stellte er dabei bewusst in den Hinter- dem Lyrikpreis des deutschen Verbandes grund. Abgesehen vom Erzählband Das evangelischer Büchereien (1982), dem KurtKirchlein zu den sieben Wundern (Basel 1922), Tucholsky-Preis (1992), dem Karl-Barth-Preis einem in der Gegend von Basel angesiedelten (2001) sowie der Ehrendoktorwürde der
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theologischen Fakultät der Universität Bern (1977). Dass eine Respektsperson, wie sie ein Pfarrer im Kt. Bern darstellte, in der Öffentlichkeit als pointierter Kritiker auftritt, war schon zu Gotthelfs Zeiten ein Ärgernis. M., »der Prototyp eines ›engagierten‹ Autors« (Elsbeth Pulver), wurde von jenen, die beim Politisieren nichts vom Christentum u. in der Kirche nichts von Politik hören wollen, über Jahre verketzert, traf aber auch auf entschiedene Zustimmung. In seinen Aufzeichnungen, die in Aphorismen, Notizen, aber auch knappen Essays bestehen können (Zärtlichkeit und Schmerz. Notizen. Darmst./Neuwied 1979. Im Sternzeichen des Esels. Sätze, Sprünge, Spiralen. Zürich/Frauenfeld 1995), seinen Tagebüchern (Zum Beispiel: Bern 1972. Darmst./Neuwied 1973. Ruhe und Ordnung. Aufzeichnungen, Abschweifungen 1980–1983. Darmst./Neuwied 1984) u. seinen Kolumnen »Notizen und Details« in der Zeitschrift »Reformatio« (ges. in Herausgehoben. Stgt. 1990, u. Das Lachen des Delphins. Zürich 2001) benennt u. überdenkt er Symptome der Zeit u. artikuliert die Sorgen, den Zorn u. das Ohnmachtsgefühl vieler Zeitgenossen. Wie andere Leitfiguren der 68er-Bewegung – ein Rückblick darauf ist das »Erzählgedicht« 68er florilegium in kleine zeitrevue (Zürich 1999) – interessierte er sich früh für ökolog. Fragen (Tagebuch mit Bäumen. Darmst./Neuwied 1985. Högerland. Ein Fußgängerbuch. Ffm. 1990), die er aus einer philosophisch-christl. Warte angeht (Schöpfungsglaube. Die Ökologie Gottes. Stgt. 1983). Der Pfarrer, dem ein Christsein vorschwebt, das sich dem Weltlichen nicht verschließt – Von der Weltleidenschaft Gottes. Denkskizzen (Stgt. 1998) – u. Lachen Weinen Lieben (Ermutigungen zum Leben. Stgt. 1985) sowie das Zweifeln mit einbezieht, verfällt in seinen literar. Büchern kaum je ins Predigen. M. schuf jedoch auch ein umfangreiches theolog. Œuvre, das seit den 1980er Jahren vom Stuttgarter RadiusVerlag betreut wird. Dazu zählt u. a. (Das Aufgebot zum Frieden. Basel 1969. Bundesgenosse Gott. Predigten. Basel 1972. Dialog Christ-Marxist. Zürich 1972, ein mit Konrad Farner geführtes Gespräch. Gottesbefragung. Stgt. 1982) auch ein ausführl. Kommentar zu allen 150
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Psalmen (Die Psalmen. Annäherungen. Stgt. 2004). Den literar. Ruhm verdankt M. seinen Gedichten, die einen innovativen u. spielfreudigen Formkünstler verraten, dessen clowneske Züge dem Engagement jegl. Verbissenheit nehmen. Angeregt durch die konkrete Kunst Max Bills u. die Poesie von dessen Assistenten Eugen Gomringer (zu Gomringers »Konstellationen« Gedichte wozu? in: Deine Träume, mein Gedicht. Hg. Cornelius Schnauber. Nördlingen 1989) schuf er raffiniert-einfache Wortarrangements, die das Wortspiel zur Ergründung von Sachverhalten nutzen u. in der Schweiz zum Inbegriff literarischer Modernität wurden. Im Isolieren u. Wörtlichnehmen der Wörter sieht M. ein Instrument, die im öffentl. Gerede verschlissene Sprache wieder »genauer, ehrlicher, sachlicher« zu machen. So hat das Sprachexperiment eine meditative, reinigende, aber auch eine subversive Wirkung. Die republikanischen gedichte (St. Gallen 1959) sind provokative Denkanstöße zur polit. Verfassung der Schweiz, die gedichte am rand (Teufen 1963. Neuausg. u. d. T. geduld und revolte. Stgt. 1984) knappe Reformulierungen meist religiöser Inhalte, in denen sich aber schon, in Abkehr vom Kargheitsgebot der konkreten Poesie, die Freude an ausgefallenen sprachl. Fundstücken bemerkbar macht, die im vielleicht kühnsten seiner Gedichtbände, gedichte, alfabeete & cymbalklang (Bln. 1966) voll ausgelebt wird. Vom Ritual des Nachrufs gehen die leichenreden (Neuwied/Bln. 1969. Neuaufl. mit einem Vorw. v. Peter Bichsel. Zürich 2001) aus u. kehren es um in eine von echter Anteilnahme getragene Anklage gegen die Verhinderung von Leben: »dem herrn unserem gott / hat es ganz und gar nicht gefallen / daß gustav e. lips / durch einen verkehrsunfall starb«. Neben den durch ihren Lakonismus wirkenden Texten gibt es aber auch – etwa in Nancy Neujahr und Co. (Leverkusen 1976) oder abendland (Darmst./Neuwied 1980) – das ausgelassene Sprachspiel, das ganz vom Klang lebt oder sprachl. Gesetzmäßigkeiten ad absurdum führt. Weisheit u. Nonsens durchdringen sich in der prosanäheren »Sprachtraube« des Rätselbuchs Paraburi (Bern 1972). M.s spätere Gedichte, etwa in zoé zebra
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(Mchn./Wien 2004), tendieren oft auch zum theolog. Aphorismus u. lassen Persönliches aufscheinen, obwohl auch hier das »ich« vermieden u. im Gedicht »das ichtier« gar denunziert wird. Am meisten Aufsehen erregten M.s Gedichte »ir bärner umgangssschprach« rosa loui (Nachw. v. Helmut Heißenbüttel. Neuwied/ Bln. 1967) u. undereinisch (Darmst./Neuwied 1973), mit denen er, anknüpfend an den Wiener Kreis um H. C. Artmann, bewies, dass die Mundart nicht automatisch Verniedlichung u. Rührseligkeit mit sich bringt. Sie begründeten eine moderne schweizerische Mundartliteratur, die im Chanson, im Mundart-Rock u. neustens in der Slam-Poetry-Szene weitere Blüten trieb. Von M.s Rolle als Anreger u. Förderer zeugt neben Einführungen u. Kommentaren zu Texten seiner weniger bekannten Schriftstellerkollegen auch der Band Die Schweiz und ihre Schriftsteller – Die Schriftsteller und ihre Schweiz (Zürich 1966). Als Prosaist schreibt M. mit Vorliebe Kurztexte (Dorfgeschichten. Gütersloh 1960. Erw. Neuausg. u. d. T. Wohnen zeitaus. Geschichten zwischen Dorf und Stadt. Zürich/Stgt. 1965. Bürgerliche Geschichten. Darmst./Neuwied 1981. Nachtgeschichten. Darmst./Neuwied 1987. Fromme Geschichten. Stgt. 1994). Mit soziolog. Genauigkeit u. der für M. typischen teilnehmenden Satire fängt er unscheinbare Schicksale ein u. registriert die kleinen Irritationen, in denen sich große Umbrüche bemerkbar machen. Wenn auch von kritischem Gehalt, leben diese Texte von den Aussparungen u. überlassen es den Lesenden, Folgerungen zu ziehen. In M.s späteren Werken – nach der Pensionierung steigerte sich seine Produktion nochmals bedeutend – stellt sich immer dringlicher die Frage von Zeit u. Vergänglichkeit. In den grundsätzl. Erörterungen werden theologische, polit. u. ökolog. Aspekte ins Spiel gebracht. Doch hält M. auch Rückschau auf sein eigenes Leben. Eigenartigerweise tut er dies in Form des Gedichts, wenn es um die markanten histor. Umbrüche geht (kleine zeitrevue) u. in Form eines in distanzierter Er-Form erzählten Erinnerungsberichts, wenn es um die private Entwicklung
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bis hin zum Antritt der ersten Pfarrstelle geht (Ein Topf voll Zeit 1928–1948. Mchn. 2008). Weitere Werke: Boulevard Bikini. Biel 1958 (L.). – Das Markus-Evangelium. Basel 1967. Neuaufl. Zürich 1985. – heil-vetia. Basel 1971 (L.). – Abratzky oder Die kleine Brockhütte. Lexikon in einem Band. Neuwied/Bln. 1971. – Die Riesin. Ein Ber. Darmst./Neuwied 1975 (R.). – meergedichte, alpengedichte. Bln. 1975. – Grenzverkehr. Ein Christ im Umgang mit Kultur, Lit. u. Kunst. Neukirchen-Vluyn 1976. – Für eine Welt ohne Angst. Ber.e, Gesch.n, Gedichte. Hann. 1981. – Der Aufstand Gottes gegen die Herren. Stgt. 1981 (L.). – Widerspruch für Gott u. Menschen. Aufsätze u. Notizen. Freib. i. Br. 1982. – Schon wieder heute. Ausgew. Gedichte. Darmst./Neuwied 1982. – Mein barfüßiges Lob. Darmst./Neuwied 1987 (L.). – Urgrund Liebe. Stgt. 1987 (L.). – Der Gottesplanet. Aufsätze u. Predigten. Darmst./Neuwied 1988. – Die gesellige Gottheit. Ein Diskurs. Stgt. 1989. – Erinnerung an die DDR u. einige ihrer Christen. Zürich 1994. – Gott gerneklein. Stgt. 1995 (L.). – Der cherubin. Velofahrer u. andere Belustigungen. Illustrationen v. Hannes Binder. Zürich 2001. – Woher eine Ethik nehmen? Streitgespräch über Vernunft u. Glauben. Zürich 2002 (mit Robert Mächler). Ausgaben: Werkausw. in 5 Bdn. Ausgew. v. K. M. u. Elsbeth Pulver. Zürich/Frauenfeld 1996. – Zart u. genau. Reflexionen, Gesch.n, Gedichte, Predigten. Ein Lesebuch. Hg. Siegfried Bräuer u. Hansjürgen Schulz. Bln./DDR 1985. – Wen meint der Mann? Gedichte u. Prosatexte. Ausw. u. Nachw. v. E. Pulver. Stgt. 1990. Aktualisierte Ausg. 1998. Literatur: Werner Weber: K. M. ›Rosa Loui‹. In: Ders.: Forderungen, Bemerkungen u. Aufsätze zur Lit. Zürich 1970, S. 264–271. – Cornelius Schnauber: K. M. In: Die dt. Lyrik 1945–75. Hg. Benno v. Wiese. Düsseld. 1981, S. 318–328. – Elsbeth Pulver: K. M. In: KLG. – Johannes Maassen. Die Stadt am Ende der Zeit. Zur Prosa v. K. M. 1970–85. In: Blick auf die Schweiz. Zur Frage der Eigenständigkeit der Schweizer Lit. seit 1970. Hg. Robert Acker u. a. Amsterd. 1987, S. 131–154. – Ernst Rudolf Rinke: Der Weg kommt, indem wir gehen. Theologie u. Poesie der Zärtlichkeit bei K. M. Stgt. 1990. – Vladimir D. Sedel’nik: K. M. Satire u. Barmherzigkeit. In: Germanist. Jb. DDR – Republik Ungarn 9 (1990), S. 164–170. – Birgit Lönne: Entwicklungslinien der deutschsprachigen Lyrik in der Schweiz v. den frühen fünfziger bis zu den frühen achtziger Jahren. Erika Burkart, Eugen Gomringer, K. M. u. Beat Brechbühl. Diss. Lpz. 1990. – Michael Butler: K. M. ›Chaos in die Ordnung bringen‹. In: Rejection and Emancipation. Writing in German-Spea-
Martin von Cochem king Switzerland, 1945–91. Hg. ders. New York u. a. 1991, S. 119–137. – Christof Mauch (Hg.): K. M. Texte, Daten, Bilder. Ffm. 1991. – Ders.: Poesie, Theologie, Politik. Studien zu K. M. Tüb. 1992. – Paul Konrad Kurz: Ohne die Akustik der Kirche. K. M.s barfüssige Sprechtexte. In: Ders.: Komm ins Offene. Ess.s zur zeitgenöss. Lit. Ffm. 1993, S. 180–187. – Stephan Leimgruber: K. M. Theosophie mit Zeitindex. In: Grenzfall Lit. Hg. Joseph Bättig u. a. Freiburg (Schweiz) 1993, S. 294–305. – E. Pulver: Ein literar. Multiversum. In: K. M.: Werkausw. in 5 Bdn. Bd. 1, S. I-XXVIII. – Franz Hohler: K. M. In: LGL. Dominik Müller
Martin von Cochem, bürgerlich: Martin (?) Linius, * 13.12.1634 Cochem, † 10.9. 1712 Waghäusel/Bruchsal. – Kapuziner; geistlicher Volksschriftsteller. 1653 trat M., über dessen Jugend kaum etwas bekannt ist, in Aschaffenburg in den Kapuzinerorden ein. 1659 wurde er zum Priester geweiht u. lehrte 1664–1668 Theologie in Mainz. Als seine ersten Werke Anklang fanden, widmete er sich zunehmend der Schriftstellerei, die er als Mittel zur Durchsetzung u. Festigung der vom Tridentinum initiierten innerkirchl. Reformbewegung ansah. 1682–1685 war er Visitator im Erzbistum Mainz. Die Kriegswirren vertrieben ihn zwischen 1689 u. 1696 nach Günzburg bzw. Linz u. Prag. Anschließend war er bis 1700 Visitator der Trierer Diözese. Seine letzten Jahre verlebte er als Wallfahrtsprediger u. Beichtvater in Waghäusel. M.s umfangreiches Œuvre von insg. etwa 70 Schriften, das bislang nur unvollständig erforscht ist, steht primär im Dienst der Seelsorge. Gebets- u. Andachtsbücher einerseits u. Exempel- bzw. Legendensammlungen andererseits machen den Löwenanteil aus. Unter seinen frühen Schriften ist das Kinderlehr-Büchlein (Köln 1666) hervorzuheben, das in der überarbeiteten Fassung von 1682, für die M. sich u. a. auf Petrus Canisius stützte, zum offiziellen Mainzer Katechismus wurde. M.s erster großer Erfolg war sein Leben Christi (Ffm. 1677), später Das große Leben Christi (2 Bde., Mchn. 1681), für das er mittelalterl. Quellen (Bonaventura, Ludolf von Sachsen) wie neuzeitliche (Adam Walasser, Christian Adrichomius, William Stanihurst)
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ausschöpfte u. das noch Anna Katharina Emmerick beeinflusste. Von den Andachtsbüchern hat bes. die Messerklärung Medulla missae (lat. Köln 1700. Dt. ebd. 1702; Einsiedeln 1895. Nachdr. Oettingen 2007), die zum klass. religiösen Volksbuch über die Messe wurde, nachhaltig gewirkt. M. betont hier v. a. den Opfercharakter der Messe u. macht diese zum Zentrum der Frömmigkeit. Zur Kategorie der Exempel- u. Legendensammlung zählen beliebte Schriften wie das u. a. von Valentin Leucht beeinflusste Auserlesene History-Buch (4 Bde., Dillingen 1687–1702) u. die Verbesserte Legend der Heiligen (Dillingen 1705) bzw. die Neue Legend der Heiligen (4 Bde., Augsb./Dillingen/Ffm. 1708). In eben diesen Zusammenhang gehört auch M.s popularisierender Auszug aus Baronius’ Annales, die Historiae ecclesiasticae [...]. Das ist: Kirchische Historien (2 Bde., Dillingen 1694. Mainz 1706). Mit seiner unkrit. Legendenauffassung sowie seiner beschönigenden Darstellung der Kirchengeschichte erweist sich M. als Kind seiner Zeit. M.s Werke waren ungemein verbreitet, wurden in viele Sprachen übersetzt u. erlebten Dutzende, vereinzelt sogar Hunderte von Neuauflagen bis weit ins 20. Jh. Dies ist zum einen auf die schlichte, volkstüml. Sprache (M. schrieb nicht für »Lateiner und Gelehrte«, sondern für »Teutsche und Unstudirte«), zum anderen auf die konkrete u. realist. Darstellung zurückzuführen. Die Aufklärung versuchte vergebens, der Verbreitung von M.s Schriften Einhalt zu gebieten. Man parodierte ihn verschiedentlich (u. a. Heinrich Lindenborn, der ihn als »Oberseufzervorschneider« bezeichnete, Anton von Bucher in seiner Seraphischen Jagdlust 1784 u. Blumauer in Pater Cochems Himmels-Reise und Höllenfahrt 1792), was aber nicht verhindern konnte, dass das 19. Jh. erneut ein positives Verhältnis zu M. fand: Görres etwa schätzte ihn sehr; für Tiecks Leben und Tod der heiligen Genoveva war das History-Buch eine wichtige Quelle. Immer wieder fanden sich Bearbeiter innerhalb wie außerhalb des Kapuzinerordens, die M.s Schriften aktualisierten u. sie dem veränderten Zeitgeschmack anpassten.
11 Weitere Werke: Geistl. Baumgärtlein. Mainz 1675. – Größeres Krankenbuch. Ffm. 1686. – Guldener Himmels-Schlüssel. Ffm. 1690. – Unerschätzl. Büchlein v. Gott. Mainz 1708. Literatur: Bibliografien: Konradin Roth: P. M. v. C., 1634–1712. Versuch einer Bibliogr. KoblenzEhrenbreitstein 1980. – Frank-Rutger Hausmann: Bibliogr. der dt. Übers.en aus dem Italienischen [...]. Bd. 1, Tüb. 1992, Nr. 0082. – VD 17. – Weitere Titel: F. X. Kraus: M. v. C. In: ADB. – Hans Stahl: P. M. v. C. u. das ›Leben Christi‹. Bonn 1909. – Johann Chrysostomus Schulte: P. M. v. C. 1634–1712. Freib. i. Br. 1910. – K. Roth: M. v. C. In: Dictionnaire de Spiritualité. Bd. 10 (1980), Sp. 680–682 (Lit.). – Pater M. v. C. [...]. FS zur Feier des 350. Geb. [...]. Hg. K. Roth u. a. Koblenz 1984. – Dieter Breuer: Apollo u. Marsyas. Zum Problem der volkstüml. Lit. im 17. Jh. In: Lit. u. Volk im 17. Jh. [...]. Hg. Wolfgang Brückner u. a. Tl. 1, Wiesb. 1985, S. 23–43. – HKJL, Bd. 2, Sp. 190–207, 1557 f. u. Register. – Franz M. Eybl: ›P. Abrahams u. Kochems Wust.‹ Zur Ausgrenzung der populären geistl. Lit. in der Aufklärung. In: Europ. BarockRezeption. Hg. Klaus Garber u. a. 2 Bde., Wiesb. 1991, Bd. 1, S. 239–248. – Martin Persch: M. v. C. In: Bautz. – Elfriede Moser-Rath: Kleine Schr.en zur populären Lit. des Barock. Hg. Ulrich Marzolph u. a. Gött. 1994 (Register). – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 21, S. 111 f. – Wolfgang Brückner: Gesch.n u. Gesch. [...]. Würzb. 2000, S. 378–420. – D. Breuer: Endzeitl. Ausblicke ins Himml. Jerusalem bei Johann Matthäus Meyfart, Angelus Silesius u. M. v. C. In: Morgen-Glantz 10 (2000), S. 67–94. – Ders.: M. v. C.s Legendenkonzeption u. ihre gattungsgeschichtl. Wirkung. In: Legenden. Gesch., Theorie, Pragmatik. Hg. Hans-Peter Ecker. Passau 2003, S. 83–113. – Ruth Gstach: Himml. Paradies u. ewige Hölle. Tod u. Jenseitsvorstellungen im 17. Jh. Laurentius v. Schnifis (1633–1702) u. M. v. C. (1634–1712). In: Montfort 59 (2007), S. 261–289. Guillaume van Gemert / Red.
Martin von Reutlingen ! Maier, Martin Martin von Troppau, um 1200, † wohl 1278 Bologna. – Autor der populärsten lateinischen Chronik des Mittelalters. M., im schlesischen, zum Königreich Böhmen gehörigen Troppau geboren, wurde im Prager Dominikanerkonvent St. Clemens erzogen u. zum Priester geweiht. Am 22.6.1278 ernannte ihn Papst Nikolaus III. zum Erzbischof von Gnesen (vermutlich daher der spä-
Martin von Troppau
tere Beiname »Polonus«). Er war aber, wie die häufige Bezugnahme in der Chronik auf die Päpste Clemens IV. (unter dessen Pontifikat M. das Werk begann), Gregor X., Johannes XXI. u. Nikolaus III. nahelegt, davor längere Zeit in Rom tätig; 1261–1278 ist er als Pönitentiar bezeugt. Zentralwerk M.s ist – außer einer Sermones-Sammlung u. einer in mehr als 100 Handschriften verbreiteten alphabet. Realkonkordanz zum Decretum Gratiani (Margarita Decreti) – das Chronicon pontificum et imperatorum, die wohl wirkungsmächtigste, in weit über 400 Handschriften vom Ende des 13. bis ins 16. Jh. überlieferte Papst-Kaiser-Chronik des MA, die in viele Volkssprachen, u. a. ins Armenische u. Persische, übertragen wurde. M. schöpft dabei u. a. aus Orosius, der Historia Romana des Paulus Diaconus, Gottfried von Viterbo, Vinzenz von Beauvais, der Legenda Aurea des Jacobus de Voragine u. der Kirchengeschichte des Eusebios-Rufin. Die Arbeit versteht sich als Fortsetzung von Petrus Comestors Historia Scholastica für die nachapostol. Zeit u. als Zeittafel zum Decretum Gratiani. M.s Zielpublikum sind Theologen u. Juristen, denen es bes. zukomme, über die Regierungszeiten von Päpsten u. Kaisern informiert zu sein. Das Werk ist streng annalistisch strukturiert: Synoptisch werden nach dem erstmals von Hugo von St. Victor im Liber de tribus maximis circumstantiis gestorum praktizierten Muster auf der linken Seite der Handschrift die Päpste, auf der rechten die Kaiser mit ihren Regierungsdaten u. den in diesen Zeitraum fallenden gleichzeitigen Ereignissen vorgestellt; auf je zwei Doppelseiten sind dabei parallel 50 Jahre abgehandelt. In der jüngsten Rezension steht dieser doppelsträngigen Darstellung ein Einleitungskapitel über die vier Weltreiche u. die Topografie u. Entwicklung Roms voran. Die Wirkung von M.s streng systemat. Chronik war so außerordentlich, dass schon um die Wende zum 14. Jh. ähnlich organisierte, anonyme Werke M. zugeschrieben, ja die gesamte Gattung der Papst-Kaiser-Chroniken nach ihm benannt wurde (Chronica Martiniana). Nahezu alle annalistischen, ihren Stoff gleichermaßen grafisch präsentierenden
Martin
deutschsprachigen Chroniken des SpätMA zehren von M.s Chronicon. Ausgaben: Martini Oppaviensis Chronicon Pontificum et Imperatorum. Hg. Ludwig Weiland. Hann. 1872. Neudr. Stgt./New York 1963 (MGH SS 22, S. 377–475). – Dt. Übers. hg. v. San Marte in: Archiv 23 (1858), S. 337–403; 24 (1858), S. 27–84, 291–342; 25 (1859), S. 259–310. – Wolfgang-Valentin Ikas (Hg.): Fortsetzungen zur Papst- u. Kaiserchronik M.s v. T. aus England. Hann. 2003. 2 2004. Literatur: Thomas Kaeppeli: Scriptores Ordinis Praedicatorum Medii Aevi 3. Rom 1980, S. 114–123. – Anna-Dorothee v. den Brincken: Zur Herkunft u. Gestalt der Martins-Chroniken. In: Dt. Archiv 37 (1981), S. 694–735. – Dies.: M. v. T. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Dies.: Studien zur Überlieferung der Chronik des M. v. T. (Erfahrungen mit einem massenhaft überlieferten histor. Text). In: Dt. Archiv für Erforsch. des MA 41 (1985), S. 460–531. – Dies.: M. v. T. In: Geschichtsschreibung u. Geschichtsbewußtsein im späten MA. Hg. Hans Patze. Sigmaringen 1987, S. 155–193. – Dies.: Studien zur Überlieferung der Chronik des M. v. T. Zweiter Teil. In: Dt. Archiv für Erforsch. des MA 45 (1989), S. 551–591. – Dies.: Studien zur Überlieferung der Chronik des M. v. T. Erste Nachträge. Ebd. 50 (1994), S. 611–613. – Wolfgang-Valentin Ikas: Neue Handschriftenfunde zum ›Chronicon pontificum et imperatorum‹ des M. v. T. Ebd. 58 (2002), S. 521–539. – Ders.: M. v. T. (Martinus Polonus). O. P. († 1278) in England. Überlieferungs- u. wirkungsgeschichtl. Studien zu dessen Papst- u. Kaiserchronik. Wiesb. 2002. – Heike Johanna Mierau: Das Reich, polit. Theorien u. die Heilsgesch. Zur Ausbildung eines Reichsbewußtseins durch die Papst-Kaiser-Chroniken des SpätMA. In: Ztschr. für histor. Forsch. 32 (2005), S. 543–575. Norbert H. Ott / Red.
Martin, Hansjörg, * 1.11.1920 Leipzig, † 11.3.1999 Mallorca. – Autor von Kriminalromanen, Kinder- u. Jugendbüchern. M. studierte Gebrauchsgrafik u. angewandte Kunst in Leipzig. Nach dem Zweiten Weltkrieg betätigte er sich in unterschiedlichsten Berufen, arbeitete u. a. als Bühnenbildner, Lehrer u. Dramaturg in einer Hamburger Filmfirma, bevor er sich 1963 in Wedel/Holstein als freier Schriftsteller niederließ. M.s Werk umfasst über 80 Bände. Als »Begründer des neueren deutschen Kriminalromans« wurde ihm 1986 das Bundesver-
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dienstkreuz verliehen; seit 1965 übte er großen Einfluss auf die Entwicklung dieses Genres aus. Auch die Verfilmung einiger Romane (u. a. Einer fehlt beim Kurkonzert. Reinb. 1966. Bei Westwind hört man keinen Schuß. Reinb. 1973) haben zur Popularität M.s beigetragen. M.s Kriminalromane zeichnen sich weniger durch einen sorgfältig konstruierten Plot u. die Beschreibung kriminalistischer Aufklärungsarbeit aus als durch die, z.T. amüsant-ironische, Schilderung bundesrepublikanischer Verhältnisse. Bevorzugter Handlungsort ist die norddt. Kleinstadt. In gesellschaftskrit. Absicht versteht M. seine Romane gleichsam als »Medizin in Bonbonbeuteln«. Er zeigt das Verbrechen nicht nur als individuelles Fehlverhalten, sondern als Folge sozialer Einflüsse u. gesellschaftl. Umstände, deren Opfer der Täter ist. Die für Kinder u. Jugendliche verfassten Werke sind formal u. thematisch sehr vielfältig; sie reichen vom Sachbuch (Ein Menschenfischer. Johann Hinrich Wichern, sein Leben, Wirken und seine Zeit. Hbg. 1981) über Hörspiele, Schulfunksendungen, Theaterstücke (Das Gespenst von Altona. 1983) u. Fernsehspiele bis hin zu Kriminalgeschichten (Die Sache im Stadtpark. Reinb. 1982). Zunehmend konfrontierte M. auch seine jugendl. Leser mit gesellschaftl. Problemen. Seit 2001 verleiht die Vereinigung deutschsprachiger Kriminalschriftsteller »Das Syndikat« den Hansjörg-Martin-Preis für den besten Kinder- u. Jugendkrimi des Jahres. Weitere Werke: Überfall am Okeechobee. Vom Freiheitskampf der Seminolen-Indianer. Reinb. 1972 (Jugendbuch). – Spiele auf Spiekeroog. Geschrieben mit einer 6. Klasse. Reinb. 1973. – Der Kammgarn-Killer. Reinb. 1979 (Kriminalr.). – Kein Platz für Tarzan. Reinb. 1980 (Jugendbuch). – Gegen den Wind. Mchn. 1984. Reinb. 1987. – Medizin in Bonbonbeuteln oder: Die Situation des dt. Krimis u. seiner Autoren. In: Der neue dt. Kriminalroman. Hg. Karl Ermert u. Wolfgang Gast. Rehburg-Loccum 1985, S. 81–87. – Süßer Tod. Reinb. 1987 (Kriminalr.). – Mitgegangen, mitgefangen, mitgeh... Mchn. 1996 (Kriminalr.). Literatur: Winfred Kaminski: H. M. In: LKJL. – Erhard Schütz (Hg.): Zur Aktualität des Kriminalromans. Mchn. 1978. – Rudi Kost: Der moderne dt. Kriminalroman 1: -ky, H. M., Irene Rodrian,
Martin
13 Friedhelm Werremeier. Stgt. 1981. – Kriminelle Sittengesch. Deutschlands. Bd. 2: H. M. Kein Schnaps für Tamara. Hg. Frank Göhre. Köln 2008 (enth. ein Porträt M.s). Wilhelm Hilgendorff / Frank Göhre
Martin, Johann Schnüffis
!
Laurentius
von
Martin, Marko, * 17.9.1970 Burgstädt/ Sachsen. – Romanautor, Essayist, Lyriker, Verfasser von Reiseberichten, Kurzprosa u. Hörspielen.
desrepublikan. Traditionen u. Umbrüche im Spiegel der Kulturztschr. ›Der Monat‹. Ffm. u. a. 2003. – Sonderzone. Nahaufnahmen zwischen Teheran u. Saigon. Lüneb. 2008. – Herausgeber: Ein Fenster zur Welt. 70 Ess.s aus vier Jahrzehnten ›Der Monat‹. Weinheim 2000. – Hörspiel: Das Schloß in Sachsen. Sender Freies Berlin 1997. Literatur: Cordula Stenger: ›Simple Storys‹ aus dem Osten? Wie eine Generation junger Autoren u. Autorinnen ihre Erfahrungen in Lit. verwandelt. In: Rückblicke auf die Lit. der DDR. Hg. HansChristian Stillmark unter Mitarb. v. Christoph Lehker. Amsterd./New York 2002, S. 389–415. – Bernd Wagner: M. M. In: LGL. Frank Wessels
M. siedelte im Mai 1989 als Kriegsdienstverweigerer von der DDR in die Bundesrepublik Martin, Thomas, * 31.10.1963 Berlin/ über. Nach dem Abitur am Bodensee stuDDR. – Dramatiker, Lyriker, Publizist u. dierte er Germanistik, Politikwissenschaft Regisseur. sowie Geschichte in Berlin, wo er seitdem als In Ostberlin aufgewachsen, war M. nach dem freier Autor arbeitet. In seinem ersten Buch Mit dem Taxi nach Abitur u. a. als Transportarbeiter u. BühnenKarthago. Ein Ex-Ossi entdeckt die Welt (Heidelb. techniker tätig. Seine literar. Produktivität 1994) beschreibt M. das Ende der DDR in begann mit der Veröffentlichung von Lyrik, Gedichten, Essays u. Reiseberichten als Frei- Prosa u. Essays in Zeitungen, Zeitschriften u. setzung neuer individueller Handlungsmög- Anthologien seit 1987. Seit 1990 erscheinen lichkeiten u. reflektiert scharfsichtig-pole- seine Reportagen, Rezensionen u. Kolumnen misch das Leben im wiedervereinten u. a. in »FAZ«, »taz« u. »Freitag«. Als RegieDeutschland. Zahlreiche Auslandsaufenthal- assistent, Dramaturg u. Autor am Deutschen te dienen M., der zeitweise in Paris, San Theater Berlin (1988–1993) arbeitete M. mit Francisco u. Amsterdam wohnte u. immer Heiner Müller u. Frank Castorf zusammen. In wieder lange Reportagereisen unternimmt, Venedig (1992–1994) inszenierte er mit der zgl. der teilnehmenden Beobachtung u. der von ihm gegründeten freien Theatergruppe Schärfung der Wahrnehmung deutscher Le- »Teatro Furioso« u. a. Brecht, Shakespeare u. bensumstände. Der Roman Der Prinz von Berlin Maeterlinck. 1996 als Dramaturg am Berliner ([Bln.] 2000) entfaltet durch die Augen des Ensemble sowie 1997–1999 als Redakteur der jungen Libanesen Jamal ein breites Panorama Berliner Zeitschrift »Sklaven« (Ausg. 41–50) deutscher Gesellschaft von unten. Sommer tätig, lebt M. heute als freier Autor in Berlin. 1990 (Mchn. 2004) berichtet als Reisetagebuch 2003–2006 leitete er die Internationalen vom Besuch des 19-jährigen Autors in der Brecht-Tage im Literaturforum Berlin. Aufsehen erregte M. in der Theaterszene früheren Heimat. M. verfasst literarisch-polit. Reiseberichte zunächst mit Adaptationen u. Neubearbeifür Zeitungen u. Radio u. veröffentlicht in tungen: Castorf inszenierte M.s StrindbergAnthologien u. literar. Zeitschriften. Sein Dramatisierung Schwarze Fahnen (Urauff. Schaffen wurde durch verschiedene Stipen- 1997 in Stockholm) sowie Krähwinkelfreiheit dien gewürdigt, darunter das Arthur F. Burns (Karambolage nach Nestroy) (Urauff. 1998, Fellowship 1994. M. ist Mitgl. im P. E. N.- Burgtheater Wien). Die »Compagnie Scènes« Zentrum deutschsprachiger Autoren im (Lyon) unter der Leitung von Philippe Vincent, mit M. seit 2001 in enger ZusammenAusland. Weitere Werke: Orwell, Koestler u. all die an- arbeit verbunden, führte seine Orestie-Bearderen. Melvin J. Lasky u. ›Der Monat‹. Asendorf beitung 2003 u. 2005 in Korsika, Marseille, 1999. – ›Eine Ztschr. gegen das Vergessen‹. Bun- St. Etienne u. Lyon auf.
Martinez
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An Brecht u. Heiner Müller geschult, nutzt M.s Dramatik die Selbstreflexivität des Mediums, um das dramat. Erzählen selbst zu thematisieren, etwa durch gesprochene Szenentitel oder monologische Einschübe. Formen des antiken Theaters wechseln mit Traumsequenzen u. surrealist. Figurentheater; an Stelle einer geschlossenen Handlungsführung stehen vielfältige Spiegelung u. assoziative Dichte. Seine neueren Bühnenstücke schreiben sich in aktuelle Diskurse ein: Heimatstück (Teil-Urauff. 2002 in Lyon) montiert Bruchstücke deutscher Identität um die Ereignisse der Wende 1989. Blackbox. Ein Stück vom Fliegen (2007) rekapituliert den Absturz eines von Terroristen entführten Flugzeugs, während Lasset die Kindlein (2008) sich der vorgeblich unbegreifl. Tat einer Mutter nähert, die neun ihrer Kinder hat sterben lassen. Weitere Werke: Theaterstücke: Leben u. Sterben der Semiramis oder Calderóns Tochter der Luft. 1992. – Die Patriotin. Urauff. Lyon 2005. – Gedichtbände: Monologe u. Stein. Ein amerikan. Journal. Bln. 1995. – Sehzwang vor allem. Lpz. 1997. – Nachdichtung: John Donne: Das Todes Duell [...]. Bln. 1995. – Sammelband: Brecht plus minus Film (hg. zus. mit Erdmut Wizisla). Bln. 2004. – Hörspiele: Brecht oder Von der Unzulänglichkeit der Dialektik. WDR 2006. – Die Patriotin. WDR 2007. – Tochter der Träume. WDR 2008. – Ich darf alles, denn es kleidet mich! MDR 2008. – Dokumentarfilme: Krise u. Kritik. 2006. – Arno Fischer, Fotograf. 2008. Literatur: Andreas Koziol: T. M. In: LGL.
M. hat sich bes. um die Verbreitung des romanischen geistl. Schrifttums im dt. Sprachraum auf dem Wege der Latinisierung verdient gemacht. Aus dem Französischen übersetzte er u. a. Predigten von Pierre de Besse, Pierre Coton u. Jean-Pierre Camus sowie die Philothea Franz von Sales’ (Köln 1628), aus dem Italienischen Schriften von Fulvio Androzio u. Bernardino di Balbano, aus dem Spanischen Werke von Francisco Arias u. Alonso Rodriguez. Die frühe dt. Teresa de Ávila-Rezeption förderte M. durch die lat. Fassung ihrer Schriften (Köln 1626/27), die der ersten dt. Ausgabe von 1649/50 mit zugrunde lag, sowie durch seine Übersetzung der Teresa-Vita von Francisco de Ribera. Nicht zuletzt die hohe Qualität von M.’ Übersetzungen führte dazu, dass sie vereinzelt bis ins 19. Jh. neu aufgelegt wurden. Weiteres Werk: Dictionarium tetraglotton [...]. Antwerpen 1632 u. ö. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: A. Beeckman: M. M. In: Biographie Nationale. Bd. 13, Brüssel 1894/95, Sp. 899 f. – A. de Wilt: De verspreiding van S. Franciscus van Sales’ ›Introduction‹ in de Nederlanden [...]. In: Ons Geestelijk Erf 27 (1953), S. 62–88 (Werkverz.). – Ders.: Rodriguez en de Nederlanden. Ebd. 29 (1955), S. 84–110. – Jos Andriessen: M. M. In: Dictionnaire de Spiritualité, Bd. 10 (1980), Sp. 716. Guillaume van Gemert / Red.
Martini, Christian (Lebrecht), * 1728 Leipzig, † 23.11.1801 Leipzig. – Schauspieler, Bühnendichter.
Carola Schiefke
Martinez, Matthias, eigentl.: M. Martinus (de) Waucquier, * etwa 1580/90 Middelburg, † 1642/43 Antwerpen. – Philologe, Übersetzer. Über M.’ Leben ist kaum etwas bekannt; es lässt sich nicht einmal entscheiden, ob er in der niederländ. Stadt Middelburg oder in der gleichnamigen ostflandr. Gemeinde geboren wurde. Er lebte längere Zeit in Köln, ist aber zwischendurch auch in Antwerpen nachweisbar. Dort betätigte er sich spätestens ab 1639 als Korrektor in der Offizin PlatinMoretus.
Der Sohn eines Buchhändlers wurde Schauspieler u. schloss sich 1750 der Gesellschaft Schönemanns an, die 1757 nach Hamburg ging. Bei ihr blieb er, unterbrochen von mehreren Engagements bei der Koch’schen, später bei der Ackermann’schen Truppe, bis zum 23.3.1779. Unter Schönemann spielte M. zus. mit Johann Christian Krüger u. Adam Gottfried Uhlich, die auch Theaterdichter waren. Als Konrad Ekhof am 5.3.1753 in Schwerin begann, regelmäßige Zusammenkünfte der Truppen, die »Stiftung einer deutschen Schauspiler-Akademie«, zu organisieren, um Prinzipien der Schauspielkunst zu diskutieren, übernahmen auch Schönemann u. die
Martini
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Mitglieder seiner Truppe Ämter: Schönemann wurde Präses, M. Inspektor. Nachdem er die Schönemann’sche Truppe verlassen hatte, trat M. der Koch’schen Gesellschaft in Hamburg bei, gehörte dort zu den ausgezeichneten Schauspielern u. soll bes. in der Rolle des Wirts aus Lessings Minna von Barnhelm gefallen haben. Aus literatursoziolog. Sicht stellt sich M.s empfindsames Trauerspiel Rhynsolt und Sapphira (Altona/Lpz. 1755) als frühes Beispiel des von aufklärerischem Optimismus getragenen bürgerl. Dramas dar, das von der grundsätzl. Moralisierbarkeit aufgeklärter Herrschaft ausgeht. Weitere Werke: Dt. Schausp.e v. M. Dresden/ Lpz. 1765 (darin die Lustsp.e: Der Vormund; Die ausgekaufte Lotterie, oder: Der Ehemann durchs Loos; Die umgekehrte Comödie, oder: Der rückwärts gespielte Roman). – Lustspiele: Der Liebhaber als ein Schriftsteller u. Bedienter. Ffm./Lpz. 1750. – Die Heyrath durchs Los. o. O. 1752. – Die Prachtsüchtige. In: Neue Slg. v. Schausp.en. Hg. Johann Friedrich Schönemann. Bd. 1, Hbg. 1754. Friedhelm Auhuber / Red.
Martini, Cornelius, * 1568 Antwerpen, † 17.12.1621 Helmstedt. – Philosoph, Mitbegründer der Schulmetaphysik. Nach unstetem Leben als Glaubensflüchtling studierte M. seit 1584 im späthumanist. Rostock (Melanchthon-Schüler David Chytraeus u. Johannes Caselius; Duncan Liddel) u. ging mit Letzteren als Prof. der Logik 1592 an die aufblühende Universität Helmstedt. Er wirkte erfolgreich erstens dadurch, dass er die melanchthonische, material diskutierende Dialektik im Gegensatz zu deren ramistischer Fortentwicklung (Adversus Ramistas. Helmst. 1596) im Sinne der instrumentalistischen paduanisch-aristotel. Methodologie, die in Helmstedt durch Owen Günther repräsentiert wurde, revidierte (De analysi logica tractatus. Helmst. 1599. 91687) u. die seit der Reformation verpönte aristotel. Metaphysik, nun allerdings als Ontologie verstanden, einführte. Beides wurde auch an anderen protestant. Hochschulen betrieben, aber M. war der Erste, der Metaphysik las (1597–1599: Metaphysica commentatio. Straßb. 1605. Disputationes metaphysicae. Helmst.
1604–08. Metaphysica [...] methodice conscripta. Helmst. 1638). Diese ontolog. Metaphysik wurde 1603 durch den Schüler Jakob Martini nach Wittenberg, durch Johann Gerhard nach Jena übertragen u. als luth. Schulmetaphysik etabliert. Zweitens gelang es M., die Universität auf der Linie der iren. Orientierung Melanchthons zu halten. Im Streit M.s mit dem Theologen Daniel Hofmann, der zwar ebenfalls die (fortentwickelt luth.) Konkordienformel ablehnte, aber eine fideist. Theologie mit der These der »doppelten Wahrheit« entwickelte u. mit Ramisten für eine »christliche Philosophie« plädierte, siegten 1601 u. nochmals 1609 die »Caselani«. M. galt als gut lutherisch, wie 1601 seine Entsendung neben dem Wittenberger Aegidius Hunnius zum Regensburger Religionsgespräch mit den Dillinger Jesuiten belegt. Doch akzeptierte er nicht eine auch auf die Logik sich erstreckende Unterordnung der Philosophie unter die Theologie u. setzte sich z.B. gegen Balthasar Meisner selbstbewusst zur Wehr. Seine deutlichere Unterscheidung wissenschaftlicher Theologie von persönl. Frömmigkeit, verbunden mit der Schätzung der historischen bzw. der natürl. Theologie (Theologiae compendium. Wolfenb. 1650) wurde von den theolog. Schülern Georg Calixt u. Konrad Hornejus methodisch fixiert u. mit tendenziell aufklärerischer Irenik verbunden. Bedeutende philosophisch-polit. Schüler M.s waren Henning Arnisaeus u. Hermann Conring. Noch 1741 (Magdeburg) wurden Anekdota sive Epistolae ad familiares scriptae ediert. Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Paul Tschackert: M. In: ADB. – Bautz. – Horst Dreitzel: Protestant. Aristotelismus u. absoluter Staat. Wiesb. 1970. – Walter Sparn: M. In: NDB. – Siegfried Wollgast: Philosophie in Dtschld. zwischen Reformation u. Aufklärung. Bln. 21993. – W. Sparn: Die Schulphilosophie in den luth. Territorien. In: Ueberweg 4/1 (2001), S. 559–562. – Markus Friedrich: Die Grenzen der Vernunft. Gött. 2002. Walter Sparn
Martini
Martini, Jacob, * 16.10.1570 Langenstein bei Halberstadt, † 30.5.1649 Wittenberg. – Philosoph und Theologe der lutherischen Orthodoxie. M.s Vater Adam Martini war luth. Pastor in Langenstein, seine Mutter Anna Werner die Tochter eines angesehenen Bürgers in Halberstadt. Nachdem M. seine Schulausbildung in Halberstadt u. Aschersleben beendet hatte, begann er 1590 sein Studium der Philosophie in Helmstedt. Dort lehrte der im Luthertum stark umstrittene Theologe Daniel Hoffmann, dessen Ansichten insbes. zur doppelten Wahrheit M. kritisch gegenüberstand. Auch weil der Calvinismus dort stark im Schwange war, wechselte er 1593 nach Wittenberg, wo Polykarp Leyser d.Ä. sein Patron wurde. Noch im selben Jahr erwarb M. seinen Magistergrad in Philosophie, die er anschließend öffentlich u. privat unterrichtete. 1597 ereilte ihn der Ruf als Rektor an das Gymnasium in Norden (Ostfriesland). Dort kam es zu ersten Disputationen mit den Jesuiten, die sich im Umkreis des Grafen Johann III. aufhielten. Von diesem Grafen erhielt M. auch den Auftrag, einen Konsens zwischen den Reformierten in Emden u. den Lutheranern in Norden auszuhandeln. Weil er diesen Zusammenschluss unter den gegebenen Umständen ablehnte, entschloss er sich zur Flucht nach Hamburg u. wenig später nach Hildesheim, wo er zus. mit Leyser erneut gegen die Jesuiten disputierte. Dort erreichte ihn 1602 der Ruf auf die Professur der Logik in Wittenberg. Bereits 1603 veröffentlichte M. seine erste, aus Disputationen hervorgegangene Schrift zur Logik, in der er ihr durch Zabarella neu begründetes Verständnis als habitus instrumentalis intellectualis für alle anderen wiss. Disziplinen (auch die Theologie) gegen ramistische u. semiramist. Tendenzen aufseiten der Reformierten verteidigte (Logicae peripateticae per dichotomias in gratiam Ramistarum resolutae, libri duo; wie alle Schriften in Wittenberg veröffentlicht). Noch im selben Jahr disputierte er als einer der Ersten auf luth. Boden zur Metaphysik (veröffentlicht 1604 u. d. T. Theorematum Metaphysicorum Exercitationes Quatuordecim), der er zwischen den Je-
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suiten wie Francisco Suárez u. den Reformierten wie Clemens Timpler ein eigenes luth. Gepräge zu geben versuchte. So lehnte er z.B. Timplers Versuch, das Nichts zum Gegenstand der Metaphysik zu machen, vehement ab, da es weder intelligibel noch überhaupt sei. Es folgten innerhalb kürzester Zeit Disputationsreihen zur Ethik (Disputationes ethicae. 1605), Psychologie (Exercitationes nobiles de anima. 1606) u. Physik (Collegium Physicum Generale. 1607), die in den nächsten Jahren durch weitere Schriften zu allen eben genannten Disziplinen ergänzt u. teilweise erheblich erweitert wurden. Dabei bildeten die Logik u. Metaphysik den eigentl. Schwerpunkt von M.s philosoph. Wirken. Er löste sich mit diesen Schriften von der aristotel. Kommentartradition, systematisierte stattdessen das Wissen gemäß den damaligen method. Standards. Zunehmend griff M. auch theolog. Themen auf. Früh begann er seinen Kampf gegen den Antitrinitarismus in Gestalt des aus Siebenbürgen stammenden György Enyedi, des Sozinianers Adam Goslav u. des von ihm so titulierten Semijudaizans Martin Seidel (De tribus Elohim liber primustertius, 1614, 1615 und 1619). Dabei zögerte er nicht, Bücherverbrennungen zu fordern, um der Häresien Herr zu werden. Weitere antisozinian. Schriften erschienen 1623, 1633 u. 1646. Kritisierte M. bei den Sozinianern einen unreflektierten Gebrauch der Vernunft in der Theologie, so umgekehrt bei den »enthusiastischen Vernunftstürmern« um Wenzeslaus Schilling u. Johann Angelius von Werdenhagen gerade ihren fehlenden Gebrauch. Dies verdeutlichte M. in seinem 1618 veröffentlichten Vernunfftspiegel, der eine der ersten philosoph. Abhandlungen auf Deutsch ist. Darin warb er für ein besonnenes, die Eigenheiten der Theologie bewahrendes Philosophieren. Später folgten Schriften gegen die Katholiken (u. a. Vindiciae Ecclesiae Lutheranae contra Valerium Magnum. 1631) u. Reformierten (u. a. Collegium publicum Anti-Calvinianum. 1642). Dieses umfassende Engagement für die luth. Kirche würdigte die Wittenberger Universität, indem sie M. 1623 zum Professor der Theologie ernannte, nachdem er kurz zuvor den Doktortitel erworben hatte. 1627 wurde
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M. nach dem Tod Balthasar Meisners Propst an der Wittenberger Schlosskirche u. Assistent des Konsistoriums. Er war wiederholt Dekan der philosophischen u. theolog. Fakultät wie auch Rektor der Universität. Exegetische oder erbaul. Schriften scheint er nicht verfasst zu haben. Eine Monografie über M.s umfassendes Wirken in Philosophie u. Theologie steht noch aus. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Johannes Scharf: Militia Christiana, Geistl. christl. Streit oder hochberühmter GlaubensKampff [...] Bey sehr ansehnl. Volckreicher u. Christl. Leichbegängnüß des hochEhrwürdigen [...] Herrn Jacobi M. Wittenb. 1650. – Jeremias Reusner: Programma in obitum viri [...] Dn. Jacobi Martini. In: Henning Witte: Memoriae theologorum nostri saeculi clarissimorum renovatae decas sexta. Ffm. 1675, S. 714–727 (mit umfangreicher Bibliogr.). – Zedler 19, 1839e-g. – Walter Sparn: Wiederkehr der Metaphysik. Stgt. 1976. – Ulrich Leinsle: Das Ding u. die Methode. Augsb. 1985. – Heinz Kathe: Die Wittenberger Philosoph. Fakultät 1501–1817. Köln 2002. – W. Sparn: Die Schulphilosophie in den luth. Territorien. In: Ueberweg, Bd. 4/1, S. 499 ff. – Sascha Salatowsky: De Anima. Die Rezeption der aristotel. Psychologie im 16. u. 17. Jh. Amsterd. 2006. Sascha Salatowsky
Marton, Jenö, * 25.11.1905 Hamburg, † 18.6.1958 Zürich. – Erzähler, Kinderbuchautor. M., Kind ungarischer Zirkusartisten, kam 1917 in die Schweiz, besuchte in Zürich u. Aarburg die Schulen u. begann früh, als Aktivist der Pfadfinderbewegung, kleinere Texte u. dann auch Jugendbücher zu schreiben. Obwohl gelernter Schneider, arbeitete er als Reklameberater, Filmregisseur u. zuletzt als Kaufmann u. Direktor einer Importfirma. Nach dem Jugendroman Zelle 7 wieder frei...! (Aarau 1936), der seinen Aufenthalt in der Jugendbewahranstalt Aarburg thematisiert, gelang ihm mit dem originell aufgemachten Kinderbuch Stop Heiri – da dure... (Aarau 1936) ein lang anhaltender Erfolg. Ein weiteres, ebenfalls viel gelesenes Jugendbuch, Jimmy, Jacky und Jonny, die Zirkusbuben (Zürich 1941), verarbeitet auf lebendige, jugendgerechte Weise Erinnerungen an seine Artistenkindheit.
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Mit dem Ameisenroman Gunaria das Reich. Sinn und Deutung der Gemeinschaft (Zürich 1942) gelang M. auf Anhieb eine in ihrer Art einzigartige Parabel auf die moderne Staatlichkeit u. deren Bedrohung durch Totalitarismus u. Kollektivismus. 1943 gewann M. mit seinem Roman Jürg Padrun (Zürich 1944) den großen Preis der Büchergilde Gutenberg. Dieses sprachlich bewusst altertümlich gehaltene, in Romanisch-Graubünden angesiedelte Berg-Epos, das um 1800 spielt, lässt in der Figur des Titelhelden einen verlachten Außenseiter zum Retter einer ganzen Talschaft werden. Innerhalb der Schweizer Bergu. Heimatliteratur des 20. Jh. gehört dieser Roman, der mit seiner volkskundl. Präzision u. dem Einbezug von rätoroman. Liedgut auch über die Grenzen der Gattung hinausweist, zu den eigenwilligsten u. überzeugendsten Texten. Weitere Werke: Dreihäuserkinder. Chur 1935 (Jugendroman). – Die blauen Sonette. Zürich 1947. Charles Linsmayer / Red.
Marwitz, Bernhard von der, * 29.11.1890 Groß-Kreutz, † 8.9.1918 Valenciennes/ Nordfrankreich (gefallen). – Dichter. Der Sohn eines Rittergutsbesitzers wurde weiten Kreisen erst nach dem Ersten Weltkrieg durch eine Nachlass-Ausgabe bekannt (Eine Jugend in Dichtung und Briefen an Götz von Seckendorff. Dresden 1924); kurz vor Kriegsende war er gefallen. Für die Rezeption erwies sich weniger das schmale dichterische Werk von Bedeutung, das aus einigen Gedichten, einer Novelle, einer Messe, Dramenfragmenten u. Übertragungen besteht, als vielmehr sein in den Briefen an den befreundeten Maler Seckendorff dargestelltes künstlerisches Glaubensbekenntnis u. seine Einstellung zum Krieg. Novalis u. Hölderlin waren M.’ Vorbilder. Ihnen folgte er im Streben nach formaler Perfektion u. in der Bestimmung der Rolle des Dichters als eines prophet. Sehers. Wie Paul Claudel, für dessen Dichtungen er sich nach 1913 begeisterte, glaubte er, Kunst müsse eine religiöse Qualität besitzen. Weil sich bei M. adlige Abstammung, religiös verstandenes Dichtertum u. blinde soldati-
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sche Pflichterfüllung verbanden, konnte er zum Sinnbild »reinsten Deutschtums« u. sein Leben u. Werk zum »Vermächtnis« für die junge Generation erklärt werden. Was man darunter verstand, zeigte die zweite Ausgabe seiner Schriften, in der die literaturgeschichtlich wichtigen Claudel-Übersetzungen hinter Kriegstagebuchblättern zurücktraten, in denen der Krieg als ästhetisches Schauspiel verklärt wurde (Stirb und werde. Breslau 1930). Literatur: Rainer Maria Rilke: Zwei Briefe zum Tode des Leutnants B. v. d. M. In: Das Inselschiff 17 (1935/36), S. 4–8. – Otto Brues: Zweierlei Vermächtnis. In: Der Kreis 9 (1932), S. 336–342. – A. Espiau de la Maëstre: Claudel et B. v. d. M. In: Roman. Forsch. 75 (1963), S. 400–412. Peter König / Red.
Marwitz, (Friedrich August) Ludwig von der, * 29.5.1777 Berlin, † 6.12.1837 Friedersdorf/Küstrin; Grabstätte: ebd., Kirche. – Politiker, Militär, Ökonom; politischer Schriftsteller. Nach Hofmeistererziehung erfuhr der Spross eines der ältesten Adelsgeschlechter der Mark 1791 in dem Eliteregiment Gens d’armes bis 1801 seine militär. Ausbildung. Als Premierlieutenant nahm er den Abschied, bewirtschaftete mit modernen Wirtschafts- u. Anbaumethoden nach der Heirat 1803 mit Franziska Gräfin Brühl die Familiengüter im Oderbruch. 1805/06 suchte M. den König zu einem entschieden antifrz. Kurs zu bewegen: Sein Pamphlet Fragmente aus dem Tagebuch eines Patrioten (1806) blieb ungedruckt; Entwurf blieb die gleichgesinnte Vorstellung der Kurmärkischen Stände an den König (Juli 1806). Im Kontext der polit. Ereignisse u. Kriege 1806–1815 wandte sich M., dessen Bruder Alexander Rahel Levin u. Varnhagen nahestand, mehrfach wieder dem aktiven Militär zu, diente von Okt. 1805 bis Febr. 1806 auch in der Schlacht bei Jena als Rittmeister u. Adjudant des Fürsten Hohenlohe. Nach der Kapitulation von Prenzlau u. seiner Entlassung auf Ehrenwort schlug sich M. zum Hof des Königs nach Ostpreußen durch. M. verfasste Analysen der Jenaer Niederlage, beteiligte sich an militär. Reform- u. norddt. In-
surrektionplänen (Über eine Expedition nach der Mark), erhielt aufgrund der Denkschrift Über die Errichtung von Freikorps 1807 Erlaubnis zur Aufstellung eines Blüchers Truppen zugeordneten Freikorps, das er auf dem Seeweg nach Rügen brachte, wo die schwed. Armee stand u. 20.000 Engländer landeten. Der Tilsiter Friede beendete das Unternehmen. M. heiratete 1809 in zweiter Ehe Charlotte Gräfin Moltke. In Reaktion auf die Reformedikte Hardenbergs opponierte M. 1810/11 in führender Rolle gegen die Umwandlung des Ständestaats zu nivellierter Eigentümergesellschaft, was ihm zus. mit dem Gutsnachbarn Graf Finck von Finckenstein als Verfasser der Eingabe Letzte Vorstellung der Stände des Lebusischen Kreises an den König (1811, Meusel II, 2, S. 1–23) im Juli 1811 fünf Wochen Festungshaft in Spandau einbrachte (Tagebuch in Spandau, Meusel II, 1, S. 18–45). 1813 kehrte M. auf die militärisch-polit. Bühne zurück u. organisierte als Adelsvertreter im vierköpfigen Ausschuss die Landwehrtruppen des Lebuser Kreises. Im 63-seitigen Kommentar zum Stutternheim zugeschriebenen Werk über den österr. Krieg 1809 zog er sein militärisch-gesellschaftspolit. Fazit (Mai 1812, Frie 200 f.) u. analysierte die außenpolit. Situation nach Rückkehr der frz. Armee aus Russland: Von dem gegenwärtigen Interesse des Königs von Preußen (31.12.1812) u. Herbst 1813: Von dem Wesen des jetzigen Krieges (Nov. 1813, Meusel II, 2, S. 210–223). Er befehligte 1813/14 als Oberstleutnant die 3. kurmärk. Landwehrbrigade u. die Kavallerie der 1. Division, schrieb Aufsätze zur Kavallerie (Die Zäumung mit der Kandare. Bln. 1852) u. zur Art der Kriegsführung, entschied das Gefecht von Hagelsberg (8700 Tote), nahm Magdeburg ein u. bedrängte 1814 die Festung Wesel. In Frankreich kämpfte er, anschließend hoch dekoriert u. seit April 1815 als Oberst der Reservekavallerie, erfolgreich bei Ligny, Wavre u. Namur. Von Paris aus unternahm er die im scharfsichtig diagnost. Tagebuch (Meusel II, 1. Bln. 1913) dokumentierte Englandreise. Nach den napoleon. Kriegen verband M. (seit 1817 General) von der Garnison Frankfurt/O. aus, bis zum Abschied als Generalleutnant 1827, Militär-
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dienst, Gutsbewirtschaftung u. Abgeordnetentätigkeit auf Kommunal- u. Provinzebene. Erst 1816/20 hatte M. sich über den Schwager Gustav von Rochow erneut der aktiven Politik zugewandt. Er stand dem Thronfolger nahe, wirkte 1824–1831 – seit 1827 als Landtagsmarschall – im brandenburg. Provinziallandtag, wurde zum Mitgl. des Staatsrats berufen u. bekleidete bis 1833 das Amt des Landarmendirektors. Nach 1831 widmete sich M. dem Archiv der polit. Schriften u. dem polit. u. autobiogr. Memoirenwerk Nachrichten aus meinem Leben, für meine Nachkommen (1777–1808; entstanden 1832–37; Bln. 1852 u. Meusel Bd. 1, Bln. 1908), das seinen Schriftstellerruhm begründete. Es wurde ein Lieblingsbuch Fontanes. Ausschließlich als handschriftl. Nachlasswerk, nicht in Drucken zu Lebzeiten liegen die Schriften M.’ vor. Eine Ausnahme bildet die anonyme Beschreibung des Treffens von Hagelsberg [...] 27. Aug. 1813 (Bln. 1817) u. die Hymne an die Erbärmlichkeit (Minerva 1806; Meusel II, 2, S. 538 f.). M. verstand sich nicht als Publizist, bürgerl. Öffentlichkeit war kein Raum für den altadligen Politiker mit direktem Zutritt zum König; literar. Meriten suchte er nicht. Das Korpus der Schriften, die Eingaben, Memoranden, Manifeste, Protokolle u. Ä. waren an polit. Durchsetzung orientiert, Zeugnisse unermüdl. Reflexionsu. Wirkkraft. M. war kein Theoretiker, als Politiker avant la lettre, spottete er über »[u]nsere theoretischen Luftspringer«. In seinen Lebensverhältnissen auf Handeln, Führung u. Entscheidung gestellt, misstraute er der Welt der Intellektuellen u. Literaten. Unverstellt begegnet M. in den Briefen (1803–1821) an die Schwägerin Marie von Clausewitz, geb. Gräfin Brühl (Meusel II, 2, S. 519–557). Meusels Ausgabe, ein »etwa auf die Hälfte verkürzter Auszug« der Memoiren, enthält auch Verlorenes: Nur zwei der fünf handschriftl. Foliobände, die Meusel vorlagen, sind noch vorhanden: I (1777–97) u. III (1806/ 07). Für 1809–1827 sind zeitnäher notierte knappe Aufzeichnungen im Hausbuch überliefert (leere Seiten des Hauptrechnungsbuchs 1804–28). Der Lebensbericht enthielt auch Exkurse u. themat. Kapitel über das
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Religionsedikt, das Allgemeine Landrecht u. den Domänenverkauf. Eine krit. Gesamtedition schien Meusel nicht praktikabel. M. erlebte die Gegenwart als Verfall ehemals bestehender, klar umrissener Ordnung. Volk wird, anders als bei Herder u. den Romantikern, nicht als nat. Substanz begriffen, sondern, im Revolutionskontext, als zu bändigende, »bewußtlose« Menge (»eine tote Masse zum notwendigen Gebrauch für den Staat«) bzw. als durch adlige Gutsherrschaft, Offiziersführung oder Zunftgenossenschaft patriarchalisch mediatisierte Unterschicht. Als Militär wie als Gutsherr erlebte M. Untergebene als Objekte verpflichteter Führung. Daraus folgt die Ablehnung demokrat. Repräsentation: »Dummheit und Bewußtlosigkeit« eines Standes, die »gehaltlose Menge« solle nicht repräsentiert werden; das Majoritätsprinzip stehe dem Staatszweck entgegen. Gemeinsinn (»Ineinanderleben aller Bürger«) u. Gemeinwesen sind leitende Ideen; auf den »Gesinnungen seiner Bürger« beruhe die Wohlfahrt des Landes. Im patriarchal. Staatsmodell, vom ersten »Hausvater« Adam abgeleitet u. im König wie im Grundadel göttlich sanktioniert, solle der Staat mit seinen Bürgern »zusammenhängender« gemacht, »das Bild der großen Familie«, »vollständiger dargestellt« werden (Von den Ursachen des Verfalls des Preußischen Staates, 1811). Neben dieser Schrift sind der krit. Kommentar zum Stein’schen Testament (1811), der Benzenberg-Aufsatz (1821), die AdelsSkizze über Feudalismus und Antifeudalismus (1810. 2/1, S. 162–166), der Aufsatz über die Notwendigkeit eines Mittelstandes in einer Monarchie (1810), der Vergleich der preuß. u. frz. Verfassung (1831) u. die Skizze Über eine naturgemäße Verfassung für den Preußischen Staat (1821) von grundsätzl. Bedeutung. Die »Idee eines gemeinsamen teutschen Vaterlandes« gab M. Hardenberg mit auf den Wiener Kongress (2/2, 223). Das Unausweichliche der epochalen Wende von Feudalherrschaft zu kapitalist. Wirtschafts- u. Gesellschaftsordnung u. den Übergang zur Republik verkennend, kämpfte M. gegen die Kapitalisierung des Grundeigentums u. die Nivellierung der Standesunterschiede, kritisierte die »philanthropischen
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Gleichheits- und Flachheitideen« der Edikte, nem Leben (1777–1808). Hg. Günter de Bruyn. Bln. deren Begriffe »ganz aus Adam Smith ge- 1989. – Nachlass: Gut Friedersdorf; seit 1957: schöpft« seien, sah durch die Reformen den Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam Revolutionsgeist verstärkt. Als Folgen fürch- (BLHAP). Literatur: Biografie: Theodor Fontane: Kap. tete er anonyme (finanzielle, bürokrat.) statt in der Mark »patriarchalische« Abhängigkeiten, Elimi- Schloß Friedersdorf in: Wanderungen Brandenburg. Bd. 2, Bln. 31879. – Meusel I, S. XXInierung des Adels als Mittelstand zwischen XLV. – de Bruyn 1989 (s. o.), S. 315–354. – Nekrolog König u. Volk, Übermacht der Zentralgewalt u. Testament: Meusel I, S. 713–720. – Weitere Titel: u. Bürokratie, u. Aufkommen eines durch NND. – Karl Erich Born: M. In: ADB. – Gerhard Kapital funktionalisierten liberalen Bürger- Ramlow: M. u. die Anfänge konservativer Politik u. Staatsanschauung in Preußen. Bln. 1930. – Harald tums. Vor allem wirkungsgeschichtlich gewann v. Koenigswald: Pflicht u. Glaube. Lpz. 1936. – M.’ Gestalt u. Werk seit den Publikationen Walther Kayser: M. Ein Schicksalsber. aus dem von 1852 u. 1908–1913 (im Licht von 1848 u. Zeitalter der unvollendeten preuß.-dt. Erhebung. Hbg. 1936. – Paul Ostwald: M. Bielef. 1940. – Klaus 1918) Bedeutung u. Kontur. Die Brüder GerVetter: Kurmärk. Adel u. preuss. Reformen. Lpz. lach, König Friedrich Wilhelm IV., konser- 1979. – Madelaine v. Buttlar: Die polit. Vorstelvative Kreise beriefen sich im ideolog. Kampf lungen des M. Ein Beitr. zur Genesis u. Gestalt der Liberalen u. Konservativen des 19. Jh. auf konservativen Denkens in Preußen. Ffm. 1980. – ihn, sahen ihn als »Vorläufer der konservati- Bernhard Gölz: Altständ. Konservatismus u. preuß. ven Parteien von heute, [...] einer der Be- Reformen: M. In: Polit. Vjs 15 (1984 = 25. Jg.), gründer konservativer Parteianschauung« S. 359–377. – Bernhard v. Poten: M. In: NDB. – K. (Meusel 1908). Seine Position im Diskursfeld Vetter: Über M. u. den Umgang mit seinem schriftl. der Wirtschafts- u. Staatstheorien (Physio- Nachl. In: Brandenburg. Landesgesch. u. Archivwiss. FS Lieselott Enders. Hg. Friedrich Beck u. kraten, Merkantilisten, Bellizismus, Feuda- Klaus Neitmann. Weimar 1997, S. 271–285. – lismus, Adelstheorie) des 18. Jh. kam weniger Ewald Frie: M. Adelsbiogr. vor entsicherter Stänin den Blick. M. wurde Symbolfigur des degesellsch. In: Adel u. Bürgertum in Dtschld. I. preuß. Konservatismus durch seine führende Hg. Heinz Reif. Bln. 2000, S. 83–102. – Ders.: M. Rolle in der zur Adelsfronde stilisierten Op- Biogr.n eines Preußen. Paderb. 2001. position gegen die Stein-Hardenberg’schen Ulfert Ricklefs Reformen. »Erst von Marwitz’s Zeiten ab existiert in Preußen ein politischer Mei- Marwitz, Roland, auch: Hans Malow, nungskampf« (Fontane). * 10.2.1896 Stettin, † 7.10.1961 MünM. wurde auch Gestalt in der Literatur, ist chen. – Dramatiker, Romanautor, Lyriker. mit seiner Zivilcourage, Originalität u. seiDer Sohn eines Kaufmanns verbrachte seine nem Draufgängertum Fontane ein Vorbild Jugend in Berlin u. begann seine berufl. für Berndt von Vitzewitz in Vor dem Sturm Laufbahn als Schauspieler. In den 1920er (1878) u. begegnet als Major von Quarwitz Jahren wechselte er nach Bonn, wo er als auf Ilitz in Willibald Alexis’ »vaterländiDramaturg u. Spielleiter arbeitete, Bühnenschem Roman« der Erhebung Isegrimm blätter redigierte u. mit Paul Bourdin die (1854). Zeitschrift »Der Keil« herausgab. 1929 wurde Ausgaben: Aus dem Nachlasse M. auf Frieders- seine erste Komödie aufgeführt (Ewig Europa. dorf. Hg. Marcus Niebuhr [Redigierte u. gekürzte Bonn). Monty Jacobs von der »Vossischen Ausg. der ›Lebensbeschreibung‹ = Bd. 1. Nur hier: Zeitung« druckte erste Novellen, Gedichte u. Militair. Aufsätze, Bd. 2, S. 3–186]. Bln. 1852. – M. Buchbesprechungen. Neben weiteren KomöEin märk. Edelmann im Zeitalter der Befreiungsdien (u. a. Scherben bringen Glück. Bln. 1933) kriege. Hg. Friedrich Meusel. 2 Bde. in 3, Bln. 1908–13 [Bd. I: Lebensbeschreibung. Bd. II,1: Ta- entstand das histor. Drama Dänische Ballade gebücher, Polit. Schr.en u. Briefe. Bd. II,2: Polit. (Bln. 1932. Urauff. Stgt. 1933) um Aufstieg u. Schr.en u. Briefe]. – Friedrich Schinkel: Preuß. Fall des Altonaer Stadtarztes Johann FriedAdel. Aus den nachgelassenen Schr.en des M. rich Struensee, der 1766–1772 zum Minister Breslau 1932. – Auswahl: M. Nachrichten aus mei- am Hof des dän. Königs Christian VII. u. zum
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Geliebten der Königin aufstieg, doch Opfer einer Intrige wurde. Von 1933 bis zu seiner Entlassung 1934 war M. Regisseur in Magdeburg, danach lebte er als Autor von Unterhaltungsromanen (u. a. Die nächste trifft ins Herz. Oldenb. 1937. Alle Frauen sind dein. Bln. 1939) zurückgezogen am Rand von Berlin. Nach dem Krieg war er Chefdramaturg der Kammerspiele in Passau u. schrieb Radioessays für den BR. In seinem großen Berlin-Roman Der Maulwurf und die Schwalbe (Köln 1961), der die Stadt als Heimat der Heimatlosen darstellt u. dessen Titel auf die Untergrund- u. die Hochbahn im Wilhelminischen Berlin anspielt, zeigte sich M. als verhaltener, zu melanchol. Humor neigender Erzähler. Weitere Werke: Tanz im Thermidor. Wien 1941 (D.). – Nachklang. Mchn. 1946 (L.). – Ich glaube an Preisausschreiben. In: Welt u. Wort 13 (1958). – Die Wandlung. Köln 1963 (R.). Peter König / Red.
Marx, (Friedrich Heinrich) Adolf Bernhard, urspr. Samuel Moses M., * 15.5. 1795 Halle, † 17.5.1866 Berlin. – Musiktheoretiker, -publizist u. Komponist. Als Sohn eines jüd. Arztes erhielt M. eine gründl. Ausbildung, die auch Musikunterricht einschloss. Von 1812–1815 studierte er in seiner Heimatstadt Jura u. ging nach Abschluss dieses Studiums an das Oberlandesgericht in Naumburg; während dieser Zeit trat er zum protestant. Glauben über u. wechselte den Vornamen. Seine Kompositionsstudien betrieb M. weitgehend autodidaktisch, studierte aber auch Generalbass bei Daniel Gottlob Türk. Vermutlich im Okt. 1821 siedelte M. nach Berlin über, wo er eine Anstellung am Kammergericht erhielt u. kurze Zeit Unterricht bei Carl Friedrich Zelter nahm. Die Tätigkeit am Gericht gab M. bald auf, um ausschließlich als Lehrer für Gesang, Klavier u. Generalbass zu wirken. In Berlin machte er die Bekanntschaft bedeutender Musiker (Spontini, Meyerbeer u. a.) u. verkehrte freundschaftlich im Hause Mendelssohn. Die Freundschaft mit Felix Mendelssohn, der M. zunächst als Komponisten schätzte, brach später ab. Bes. einflussreich
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wurde M. als Redakteur der neu gegründeten »Berliner Allgemeinen Musikalischen Zeitung« (BAMZ), die von 1824 bis 1830 erschien u. in der M. nachdrücklich für ein neues Beethovenbild eintrat. In der BAMZ begleitete M. auch die Wiederaufführung der Bach’schen Matthäuspassion (1829) unter Leitung Mendelssohns publizistisch. M.’ Bedeutung als Musikschriftsteller liegt denn auch gleichermaßen in der Propagierung älterer Musik (neben Bach u. Händel ist v. a. Gluck zu nennen), dem Einsatz für Beethoven u. der krit. Auseinandersetzung mit dem zeitgenöss. Konzertleben. Ohne gesondertes Promotionsverfahren, lediglich aufgrund einiger seiner bis dahin erschienenen Schriften, promovierte die Universität Marburg M. 1831. Im Jahr zuvor war er bereits zum a. o. Prof. für Musik an der Berliner Universität ernannt worden. M. gehörte damit zu den ersten Repräsentanten einer akadem. Musikpflege, die zur Etablierung des Faches Musikwissenschaft an den Universitäten führen sollte. Zusätzlich hierzu erhielt er nach dem Tode Zelters (1832) die Stelle als Universitätsmusikdirektor. In den Jahren 1837 bis 1847 erschien M.’ Hauptwerk, die vierbändige Kompositionslehre (Die Lehre von der musikalischen Komposition. Lpz.), die zahlreiche Neuauflagen erlebte u. den Kompositionsunterricht auf Jahrzehnte hin prägte. Sein erstmals 1841 aufgeführtes Oratorium Mose fand keine ungeteilt positive Aufnahme u. blieb, wie die meisten seiner seit 1830 im Druck erschienenen Werke, erfolglos. Seine Hoffnungen, als Komponist Anerkennung zu finden, erfüllten sich nicht; vielmehr blieb die Wirkung seiner Kompositionen auf das akadem. Umfeld der Berliner Universität beschränkt. 1850 beteiligte sich M. an der Gründung eines Konservatoriums (des späteren Sternschen Konservatoriums), an dem er bis März 1857 als Kompositionslehrer tätig war. Literatur: Elisabeth Eleonore Bauer: Wie Beethoven auf den Sockel kam: die Entstehung eines musikal. Mythos. Stgt. 1992. – Michael Zywietz: A. B. M. u. das Oratorium in Berlin. Eisenach 1996. Michael Zywietz
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Marx, Friedrich, * 20.9.1830 Steinfeld/ Kärnten, † 19.6.1905 Oberdrauburg/ Kärnten. – Lyriker, Dramatiker, Erzähler, Übersetzer. Der Sohn eines Privatbeamten entschied sich für die militär. Laufbahn. Als Hauptmann 1866 wegen eines Halsleidens verabschiedet, 1877 reaktiviert, trat M. 1892 als Oberst endgültig in den Ruhestand. Im Grazer literar. Leben eine bekannte Gestalt, pflegte der Freund Hamerlings u. Vertreter der Norischen Schule als Lyriker (u. a. in Gemüth und Welt. Graz 1862. 31877) epigonale, optimistisch grundierte Gedankendichtung, fand aber auch zu überzeugenden Naturbildern u. inniger Selbstaussprache. Neben Erzählungen (Clarisse. Wien 1878) u. Übersetzungen (Longfellows Ausgewählte Dichtungen. Lpz. 1868) trat M. mit histor. Jambendramen hervor, die das Plastisch-Koloristische in den Vordergrund stellten. Das Hamerling u. Jordan gewidmete Trauerspiel Olympias (Wien 1863) behandelt, auf Droysens Darstellung basierend, einen Stoff aus hellenistischer Zeit. In Jakobäa von Bayern (Lpz. o. J. [1870]) gestaltet M. den Freiheitskampf der Holländer gegen die Burgunder; der Titelheldin gelingt die Entsagung. Literatur: Nagl-Zeidler-Castle 3, S. 443 f. – Erika Scholz: F. M. Diss. Wien 1948. – Erich Nußbaumer: Geistiges Kärnten. Klagenf. 1956. – Ders: M. In: ÖBL. Arno Matschiner / Red.
Marx, Karl Heinrich, * 5.5.1818 Trier, † 14.3.1883 London; Grabstätte: LondonHighgate, North Land Cemetery. – Philosoph, Ökonom, politischer Journalist u. Politiker. M. wuchs in behüteten Verhältnissen auf; sein Vater gehörte als Justizrat u. langjähriger Vorstand der Anwaltschaft in Trier zur gesellschaftl. Funktionselite der preuß. Stadt. Ausdrücklich stellte sich Heinrich Marx in die Tradition der frz. Aufklärung, deren Ideen er dem Sohn früh vermittelte. 1824 konvertierte die Familie zum Protestantismus, obschon auch zuvor die jüd. Religion den Alltag der säkularisierten Marxens nicht bestimmte. Zu Recht hat M. stets jegl. Bedeu-
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tung seiner religiösen Herkunft für seine wissenschaftlichen u. polit. Theorien zurückgewiesen. Nach dem erst spät einsetzenden Besuch des Gymnasiums begann M. 1835 ein Studium der Rechtswissenschaften in Bonn; zuvor hatte er sich mit seiner Jugendfreundin in aller Heimlichkeit verlobt: Jenny von Westphalen – die hoch gebildete Tochter aus preuß. Beamtenadel u. zgl. »das schönste Mädchen von Trier«. Im Winter 1836 wechselte M. an die Berliner Universität, die mit heftigen u. über die Philosophie hinaus einflussreichen Kontroversen um den Hegelianismus in den 1830er Jahren große Anziehungskraft auf die studierende Jugend ausstrahlte. Tatsächlich geriet auch M. – wie viele seiner Zeitgenossen – in den »Bann« der Hegel’schen Philosophie, die er intensiv zu studieren begann u. in den Vorlesungen Eduard Gans’, des begabtesten Hegelschülers, hörte. Der Tod des Vaters 1838 ermöglichte M. den längst ersehnten Studienwechsel zur Philosophie. Befördert durch die Debatten im sog. »Doctorclub« um den Theologen u. Religionskritiker Bruno Bauer, den er später einer scharfen Kritik unterziehen sollte, entschied sich M. für eine Promotion in der Philosophie, genauer: der Philosophiegeschichtsschreibung. M. schrieb damit seine erste Qualifikationsarbeit in einer Disziplin, die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. als akadem. Fach allererst entstand u. seit den 1830er Jahren deutlich prosperierte. Wohl durch Vermittlung Bauers konnte M. 1841 in Jena bei Oskar L. B. Wolff über das Thema Die Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie (MEW, Erg.-Bd. 1, 257–373) promovieren. In einer durchaus zeittyp. Weise vermischte M. in dieser Studie die philosophiehistorische Rekonstruktionsarbeit mit systemat. Interpretationen u. polit. Reflexionen. Vor allem der Atheismus Epikurs wird in seiner kulturpolitisch u. mentalitätsgeschichtlich befreienden Funktion herausgestellt. M.’ Hoffnungen auf eine akadem. Laufbahn zerschlugen sich am Berufsverbot für Bruno Bauer, dem im Okt. 1841 die zunächst für die Universität Bonn erteilte Lehrerlaubnis entzogen wurde. Als eine der wenigen
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berufl. Alternativen bot sich M. die journalist. Tätigkeit, die er 1841 mit Artikeln für die u. a. von dem sozialliberalen Unternehmer Gustav Mevissen begründete »Rheinische Zeitung« aufnahm. Sein polit. Journalismus geriet M. so erfolgreich, dass er ab Okt. 1842 – kaum 24-jährig – die Chefredaktion übernahm. Bis zum Verbot im April 1843 nachdrücklich von den liberalen Eigentümern unterstützt, entwickelte sich die »Rheinische Zeitung« während der kurzen Mitarbeit M.’ zu einem der führenden Oppositionsblätter. Nach der im Sommer erfolgten Heirat mit Jenny gingen beide im Okt. 1843 nach Paris, um mit Arnold Ruge den Plan Deutsch-Französischer Jahrbücher zu verwirklichen. Auch wenn dieses Projekt schon nach dem ersten Jahrgang scheiterte, konnte M. mit der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie u. einer Auseinandersetzung mit der sog. »Judenfrage« zwei bedeutende Beiträge zur polit. Staats- u. Religionsphilosophie beenden u. publizieren. Dabei stellte er in beiden Texten den systematischen u. polithistor. Zusammenhang zwischen einer »Kritik der Religion« u. einer »Kritik des Rechts« her. Unter dem Einfluss Heines entfaltete M. ein polit. Geschichtsverständnis, das in der Verwirklichung einer krit. Philosophie die Emanzipation des Proletariats u. damit des Menschen anvisiert: »Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.« (MEW 1, S. 391). Auch wenn die Kritik an Hegels Rechtsphilosophie vielfach im Moralischen verbleibt, entwickelte M. in diesen frühen Texten neben der philosoph. These, dass »Rechtsverhältnisse wie Staatsformen in materiellen Lebensverhältnissen wurzeln« (MEW 13, S. 8), einen erkennbaren Stil, der in einer Vermittlung von aggressivem Politjournalismus u. Hegel’scher Philosophie einen bedeutenden Einfluss bis ins späte 20. Jh. behielt. In die ersten Pariser Jahre fielen auch die Begegnungen mit Heine u. Friedrich Engels. Mit Heine verbindet M. eine nie unverkrampfte u. doch zeitweilig herzl. Freund-
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schaft. Auch wenn der gegenseitige Einfluss lange überschätzt wurde, dürften die Berichte von häufigen Besuchen u. gemeinsamen Arbeiten an Texten zwischen 1843 u. 1845 der Wahrheit entsprechen. Der späte Heine hat M. allerdings eines »verstockten« Fanatismus beschuldigt. Persönlich u. politisch wichtiger wurde die freundschaftl. Verbindung zu Engels, die 1844 in Paris begann. Nicht nur vertraten beide eine politisch radikale Position, vor deren Ausrichtung auf die vollständige Umwälzung der bestehenden Verhältnisse Heine zurückschreckte, M. u. Engels entwickelten auch eine Vermittlung von zunächst philosophischer, dann polit-ökonom. Wissenschaft, polit. Journalismus u. polit. Praxis, die paradigmatisch wurde für viele Generationen polit. Aktivisten nach ihnen. Engels hat darüber hinaus – der polit. u. persönl. Freundschaft zuliebe – lange Jahre die von ihm verabscheute Arbeit im elterl. Unternehmen ausgeübt, um M.’ Familie zu ernähren. Noch in Paris arbeitete M. erneut an einer Auseinandersetzung mit der Hegel’schen Philosophie u. den Positionen des Hegelianismus. Dabei gelang ihm in den erst postum publizierten Ökonomisch-philosophischen Manuskripten (MEW, Erg.-Bd. 1, S. 465–588) nicht nur erstmalig eine Theorie der Arbeit, des Kapitals u. des Grundeigentums, v. a. entwickelte er eine Konzeption von »Entfremdung«, die auf der Grundlage der Feuerbach’schen Anthropologie Arbeit als Instrument einer grundlegenden Wesensentfremdung des Menschen von sich selbst begreift. Sowohl das »Produkt« als auch die »produktive Tätigkeit« wie letztlich das Verhältnis des Produzierenden zu sich selbst als Mensch entfremden den Lohnarbeiter wie den Kapitalisten von sich selbst. M. hat sich später von dieser anthropolog. Fundierung sozioökonomischer, -politischer u. -kultureller Erklärungsmodelle distanziert; insbes. in Teilen der westeurop. Linken der 1960er u. 1970er Jahre behielten diese Überlegungen jedoch prägende Bedeutung. Ebenfalls noch in Paris entstand als erste Gemeinschaftsarbeit zwischen M. u. Engels Die heilige Familie, die – schon im Untertitel (Gegen Bruno Bauer & Konsorten) kenntlich –
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eine ebenso gründliche wie polem. Auseinandersetzung mit dem Hegelianismus darstellt (MEW 2, S. 3–223). Dass diese »Kritik der kritischen Kritik« v. a. eine kompromisslose Auseinandersetzung mit der eigenen idealist. Vergangenheit darstellt, wird im Text nur an wenigen Stellen deutlich. Im Zentrum der explizit als »Polemik« ausgewiesenen Streitschrift, die der ambivalenten Tradition schärfster innerlinker Kontroversen einen ersten Höhepunkt verschaffte, steht eine Auseinandersetzung mit der Religionskritik des ehemaligen Mentors Bruno Bauer. Neben der Realitätsferne idealistischer Sozialpolitik werden die Verzerrungen einer abstrakten Hegel-Rezeption werden verworfen. Philosophisch gründlicher geriet M. die Kritik am Hegelianismus einschließlich Feuerbachs in der Schrift Die Deutsche Ideologie (MEW 3, S. 9–530). Geschrieben in den Jahren 1845/46 fanden die Autoren im Londoner Exil allerdings keinen dt. Verleger, sodass sie »das Manuskript der nagenden Kritik der Mäuse« (MEW 13, S. 10) überlassen mussten. Überzeugender als in der »Heiligen Familie« gelang M. u. Engels die Kontroverse auch deshalb, weil sie eine Konzeption materialistischer Geschichtsentwicklung entworfen u. in ihre Kritik integriert hatten. Vor allem im ersten, Feuerbach gewidmeten Teil entfaltet M. seine Vorstellungen von Historizität u. der ihr zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeit, die trotz der – später abgelegten – erkenntnismethodischen u. -theoret. Anbindung an den Feuerbach’schen Empirismus zu Ergebnissen führte, welche zur Grundlage eines histor. Materialismus dienen konnten. Die Menschheitsgeschichte ist hiernach nicht mehr – wie im Idealismus – als Abfolge von »Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins« (MRW 3, S. 26) im Prozess der Selbstrealisation des Geistes bzw. als rein ideengeschichtl. Konstellationen zu begreifen, sondern als Veränderung der materiellen Existenz des Menschen u. deren Strukturgesetzen, mithin der gesellschaftl. Produktionskräfte u. deren Verkehr: »Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologien und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie
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haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein.« (ebd., S. 26 f.). Ersichtlich wies M. schon in diesem Text dem Begriff der »Produktion« einen über den Bereich der Ökonomie hinausgehenden Status einer allgemein-historiograf. Kategorie zu; auch »Ideen« u. »Bewußtsein« werden seit 1845 »produziert«. Eine auch nur relative Eigenständigkeit wissenschaftlicher, literar. oder künstlerischer Reflexion gegenüber den materiellen Bedingungen des »wirklichen Lebens« sind in der Konzeption allerdings nicht vorgesehen. M. hat sich von dieser Form eines einseitigen Bedingungsgefüges später distanziert; bis in die aktuellsten Debatten zwischen Struktur- u. Kulturhistorikern wird jedoch die Frage nach den Bedingungen realgeschichtl. Prozesse sowie der durch sie induzierten Interessenlagen des Menschen einerseits u. seinen ideellen Produkten andererseits kontrovers diskutiert. M. sieht in der Deutschen Ideologie die Entfremdung des Menschen in den Formen gesellschaftl. Arbeitsteilung u. der zu ihrer Durchsetzung erforderl. Herrschaftsgewalt fundiert. In der Deutschen Ideologie propagiert er eine »Aufhebung der ganzen alten Gesellschaftsform« (ebd., S. 34) durch Aufhebung »der Herrschaft überhaupt« (ebd.), was ihn in die utop. Tradition der spätestens durch Fichte inaugurierten Konzeption allgemeiner Staats- u. Herrschaftsfreiheit stellt. Die Lebensformen der durch die Revolution zu erreichenden »kommunistischen Gesellschaft« beschreibt M. folgendermaßen: »Seit nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die
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allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.« (ebd., S. 33). An dieser wie an vielen weiteren, später zu Berühmtheit gelangenden Passagen zeigt sich auch, dass M. – kaum 30-jährig – zu einem Stil u. einer Rhetorik gefunden hatte, die den polit. Erregungszustand der entwickelten Inhalte in eine charakterist. Form zu gießen vermochten, wenn er etwa davon spricht, das die »herrschenden Gedanken« mit den »Gedanken der herrschenden Klasse« identisch seien (ebd., S. 47). Insg. bildet sich in der Deutschen Ideologie der po li th i st or isc h e Systematiker u. Rhetoriker M. zu jener Form aus, die seinen Einfluss bis heute begründet. Noch während der Arbeit an der ersten idealismuskrit. Studie musste M. auf Druck der preuß. Regierung im Febr. 1845 Frankreich verlassen u. begab sich nach Brüssel. Hier hielt er sich u. seine Familie mit Vorträgen u. Publikationen über Wasser u. organisierte ein epistolares Verbindungsnetz europ. Sozialisten. Eine Frucht der im ersten Brüsseler Jahr zentralen Arbeit an der Deutschen Ideologie sind die Thesen über Feuerbach, die den Versuch unternehmen, sich vom »bisherigen Materialismus« der Feuerbach’schen Fundamentalanthropologie zu lösen. Um sich aus dem latenten Determinismus dieser Konzeption zu befreien u. in einer Dialektik von Theorie u. Praxis politisch herstellbare Veränderungen zu begründen, sucht M. »die Welt« – wie es in der ebenso berühmten wie berüchtigten 11. These heißt – nicht nur zu interpretieren, sondern »zu verändern« (ebd., S. 7). Obwohl M. bei der Einreise nach Brüssel schriftlich versichern musste, sich nur philosophisch u. nicht politisch zu betätigen, nahmen seine polit. Aktivitäten gerade in diesen Jahren erheblich zu. Zu diesen Tätigkeiten gehörte neben den Kontakten zum Bund der Kommunisten in London u. der Übernahme der Präsidentschaft der Brüsseler Sektion dieser Parteiung die theoretisch-krit.
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Arbeit in der Auseinandersetzung mit PierreJoseph Proudhon. Erneut nutzt M. die scharfe Polemik, La Misère de la Philosophie, zur Darlegung eigener konstruktiver Überlegungen, so hinsichtlich der Grenzen philosophischer Begriffs- u. Kategorienbildung für eine vollständige Erfassung polit-ökonomischer Prozesse in Geschichte u. Gegenwart sowie der Notwendigkeit des Entwerfens einer zwischen ökonom. Einzelwissenschaft u. philosoph. Grundlagenforschung vermittelnden Reflexionsform. Kurz vor Ausbruch der 1848er-Revolution erfüllten M. u. Engels den Auftrag des Bundes der Kommunisten, eine Programmschrift der Bewegung zu verfassen. Mit dem Kommunistischen Manifest (MEW 4, S. 459–493), dessen zeitgenöss. Wirkung wegen der Konfiszierung eines Großteils der Auflage eher begrenzt ausfiel, gelang es beiden Autoren gleichwohl, eine der berühmtesten Schriften des wiss. Sozialismus zu verfassen. Dabei ist es weniger der »hinreißende Stil« (Fetscher) als vielmehr die Verbindung einer Kritik der polit. Öffentlichkeit (gegenüber den Vorurteilen über Kommunisten) mit polit-ökonom. Argumentation u. polit. Agitation für eine revolutionäre Veränderung u. bessere Zukunft, die den Nerv von Krisenzeiten der bürgerl. Gesellschaften seither trifft. Nicht zufällig werden Büchners Hessischer Landbote u. das Kommunistische Manifest v. a. in sozioökonom. Krisenzeit häufig neu aufgelegt. In vier Abschnitten können M. u. Engels nicht nur das »Gespenst des Kommunismus« (ebd., S. 461) verscheuchen, ihre weiterentwickelte Theorie des Verhältnisses von Kapital u. Arbeit, Eigentums- u. Produktionsverhältnissen sowie des Industriekapitalismus anschaulich vermitteln, in Absetzung von anderen sozialist. Modellen u. oppositionellen Parteien wird der »nächste Zweck des Kommunisten« zudem klar benannt: »Bildung des Proletariats zur Klasse, Sturz der Bourgeoisieherrschaft, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat« (ebd., S. 474). Das Wissen um das polit. Machtpotential unterprivilegierter Klassen, deren Armut durch die Produktionsverhältnisse hergestellt u. perpetuiert wird, für die bürgerl. Gesellschaft, das sich im Laufe des 19. u. 20. Jh. partiell
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noch verstärken sollte, kristallisierten die Autoren in die machvolle Parole: »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« (MEW 4, S. 493). Zwar schien sich die in dieser Formel ausdrückende Hoffnung kurzzeitig zu erfüllten; M. konnte im April 1848 nach Preußen zurückkehren u. leitete während der Revolutionsmonate die »Neue Rheinische Zeitung«, die das polit. Geschehen aktiv begleiten konnte. Doch schon im Mai 1849 war alle Hoffnung zerstoben, die »Neue Rheinische« wurde verboten, u. M. musste unter entwürdigenden Bedingungen ins engl. Exil. Hier brach eine Zeit größter materieller Probleme aus, die der ganzen Familie Marx größte Entbehrungen auferlegte. Erst in den 1860er Jahren wurden diese – nur durch Engels’ Unterstützungen gemilderten – Bedingungen allmählich verbessert; Jenny Marx aber durchlebte diese Jahrzehnte der Armut in zunehmender Depression u. erkrankte schließlich schwer. M. analysierte in diesen Jahren die polit. Ereignisse der vergangenen Jahre, insbes. die 1848er-Revoltion, als Klassenkämpfe in Frankreich. Erst allmählich widmete er sich wieder der Aufgabe einer systemat. Programmschrift zur Politischen Ökonomie. Im Jahre 1852 erschien jedoch zunächst eine erneut polit. Schrift: Der 18te Brumaire des Louis Bonaparte (MEW 8, S. 111–207). Darin bemüht sich M., aus einer minutiösen Rekonstruktion der polit. Ereignisse zwischen 1848 u. 1852 die polit. Gesetzmäßigkeiten für die Niederlage nicht allein des Proletariats, sondern auch der bürgerl. Fraktionen zu erklären. Methodisch orientiert sich M. an den histor. Rekonstruktionen der Französischen Revolution, die in Frankreich seit Adolphe Thiers’ Revolutionsgeschichte (1823–27) ein wichtiges Moment der polit. Kultur ausmachten. Nach dieser langwierigen Verarbeitung der bürgerl. Revolution von 1848 widmete sich M. neben der aus finanziellen Gründungen notwendigen journalist. Tätigkeit insbes. für amerikan. Zeitungen endlich den ökonom. Studien. 1859 legte M. mit der Broschüre Zur Kritik der politischen Ökonomie (MEW 13, S. 3–160) erste Ergebnisse dieser Arbeiten vor. Die schon früh durch Engels Anregungen
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erfolgte Lektüre der ökonom. Schriften Adam Smiths u. David Ricardos zeitigte in der Fortentwicklung der Arbeitswerttheorie sowie der Entfaltung einer Zirkulationstheorie produktive Erkenntnisse. Vor allem aber lieferte M. eine erste Fassung derjenigen Warentheorie, die ins Zentrum seiner ausgereiften Kapitalismusanalyse führen sollte. Schon in der berühmtem Vorrede zeigt sich allerdings, dass es M. mit seiner Form der krit. Ökonomie um mehr als um die Analyse moderner Wirtschaftkreisläufe zu tun war: Seine krit. Politökonomie zielte vielmehr als allg. Grundlagentheorie auf eine umfassende materialist. Erkenntnis- u. Sozialtheorie, welche »die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie« (ebd., S. 8) aufzufinden postulierte: »Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.« (ebd., S. 8 f.). Die Antinomien dieses noch undifferenzierten Soziodeterminismus werden von M. erst spät aufgelöst. Es dauerte allerdings acht weitere Jahre, bis M. seinen groß angelegten Versuch, »das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen« (MEW 23, S. 15), der Öffentlichkeit präsentieren konnte. Beendet wurde Das Kapital, das auf insg. drei umfangreiche Teile angelegt ist, allerdings erst nach dem Tod M.’ durch die beherzte Redaktion Engels’ (Bd. 2: 1885; Bd. 3: 1894). Dennoch liefert M. schon im ersten Band seines Hauptwerkes eine grundlegende Analyse der »Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als eine[s] naturgeschichtlichen Prozesses« (MEW 23, S. 16), so – im systemat. Zentrum – die krit. Analyse der Ware »als Elementarform [...] der kapitalistischen Produktionsweise« (ebd., S. 49). Darüber hinaus zeigt M. die Zusammenhänge mit den Gesetzen der Umwandlung von
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Geld in Kapital sowie die Formen der Mehrwertproduktion durch Arbeitsverwertung auf. Auch in der in sich differenzierten Systematisierung von absolutem u. relativem Mehrwert liegt eine der profunden Erkenntnisse des Kapitals vor. Auch wird schon hier die heute unter dem Stichwort »Globalisierung« debattierte Notwendigkeit eines kapitalist. Weltmarktes aufgezeigt (ebd., S. 161 u. ö.); die lückenlose Kommerzialisierung aller Lebensbereiche wird von M. prognostiziert u. selbst die systemimmanente Notwendigkeit wirtschaftl. Prosperität – von zeitgenöss. Ökonomen durchaus bestritten – wird präzise nachgewiesen. Demgegenüber haben sich M.’ Verelendungsthesen u. seine Überzeugung von der prakt. Überlegenheit planwirtschaftlicher Modelle als Fehler erwiesen. Eine systematisch, historisch u. methodisch angemessene Kommentierung u. Interpretation – insbes. der Teile 2 u. 3 – steht nach den häufig interessegeleiteten Debatten der Gehalte allerdings noch aus. Seit den 1860er Jahren schienen M. neben seiner wiss. Arbeit auch polit. Aktivitäten wieder erfolgversprechend. So gehörte er neben Engels zu den Gründungsmitgliedern der Ersten Internationale, die sich im Jahre 1864 in London als Internationale ArbeiterAssoziation formierte. Bis 1872 wirkte er als graue Eminenz im Hintergrund dieser Arbeitsorganisation u. galt deshalb auch – wenngleich zu Unrecht – als wichtiger Drahtzieher der Pariser Kommune von 1871. 1881 starb seine Frau nach jahrlangem Kampf gegen den Krebs; M. folgte ihr zwei Jahre später. Zu der auch heute wieder erkennbaren welthistor. Bedeutung gelangte M.’ Werk aber weder durch seine polit. Aktivitäten noch aufgrund der zu Lebzeiten publizierten Schriften. Diese Stellung erlangte er allererst durch die Wahrung u. Popularisierung seines polit. u. wiss. Erbes, das Engels bis zu seinem Tode (1895) unter enormen Einsatz u. mit großem Geschick kultivierte. Seinen editorischen u. publizist. Leistungen sowie seinem taktischem Gespür ist es zu verdanken, dass die wiss. Ergebnisse M.’ in der dt., russ. u. internat. Arbeiterbewegung breiten politischprakt. Einfluss erhielten. Trotz erheblicher
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sachl. Differenzen sah sich auch Lenin als Anhänger der M.’schen Lehre u. erwirkte so jene gleichsam kirchenväterl. Stellung seines Werkes, die ihm in den sozialist. Staats- u. Gesellschaftsformen des 20. Jh. zugeschrieben wurde. Auch im Westen der Nachkriegszeit erfuhr M.’ Werk im Zusammenhang der internat. Studentenbewegung seit den 1960er Jahren eine z.T. emphat. Rezeption. Obwohl nach dem Zusammenbruch des Ostblocks eine Zeitlang als »toter Hund« gehandelt, werden seine Texte seit einigen Jahren wieder breiter u. intensiver rezipiert. Dabei entwickelte sich in den letzten beiden Jahrzehnten neben der emphat. Lektüre in polit. Gruppierungen – insbes. der Globalisierungsgegner – eine solide wiss. Auseinandersetzung, die jene »Parteilichkeit« überwunden hat, welche noch bis 1989 hermeneut. Wirksamkeit beanspruchte. Werkausgaben: K. M. u. Friedrich Engels: Werke. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. 39 Bde. u. 4 Erg.-Bde., Bln. 1956–90. 22007 ff. (hg. v. der Rosa-LuxemburgStiftung, = MEW). – K. M. u. F. Engels: Gesamtausg. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU u. vom Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED. Seit 1990 hg. v. der Internat. Marx-Engels-Stiftung, Amsterdam [unabgeschlossen, geplant auf 114 Bde.]. Bln. 1975 ff. (= MEGA). – Ökonomisch-philosoph. Manuskripte. Hg. Barbara Zehnpfennig. Hbg. 2008. Literatur: Bibliografien: Die derzeit vollständigste Bibliogr. ist abzurufen unter www.marxforschung.de. – Zeitschrift: Marx-Engels-Jb. Hg. von der Internat. Marx-Engels-Stiftung. Bln. 2003 ff. – Lexika: Hans J. Lieber u. Gerd Helmer (Hg.): M.Lexikon. Darmst. 1988. – Konrad Lotter, Reinhard Meiners u. Elmar Treptow (Hg.): Das M.-EngelsLexikon. Begriffe v. Abstraktion bis Zirkulation. Köln 2006. – Biografien: Franz Mehring: K. M. Lpz. 1918. – Karl Vorländer: K. M. Lpz. 1929. – Auguste Cornu: K. M. u. Friedrich Engels. 3 Bde., Bln. u. Weimar 1954–68. – Richard Friedenthal: K. M. Mchn. 1981. – Francis Wheen: K. M. A Life. London 1999. Dt. Mchn. 2001. – David McLellan: K. M. A Biography. New York 2006. – Studien: Andreas Arendt: K. M. Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie. Bochum 1985. – Matthias LutzBachmann: Gesch. u. Subjekt. Zum Begriff der Geschichtsphilosophie bei Immanuel Kant u. K. M. Freib./Mchn. 1988. – Wolfgang Röd: K. M. u. Friedrich Engels. In: Die Philosophie der Neuzeit 4
Marzik [Gesch. der Philosophie Bd. X]. Hg. Stefano Poggi u. ders. Mchn. 1989, S. 216–247. – Anneliese Griese u. Hans-Jörg Sandkühler (Hg.): K. M. – Zwischen Philosophie u. Naturwiss.en. Ffm. u. a. 1997. – Françoise Giroud: Das Leben der Jenny M. Mchn. 1997. – Terrell Carver: The Postmodern M. Manchester 1998. – Iring Fetscher: M. Freib. 1999. – Helmut Fleischer (Hg.): Der Marxismus in seinem Zeitalter. Lpz. 1994. – Étienne Balibar: La Philosophie de M. Paris 2001. – Gerhard Höhn: HeineHdb. Zeit – Person – Werk. Stgt./Weimar 32004, S. 127–130. – Christian Iber: Grundzüge der M.’schen Kapitalismuskritik. Bln. 2005. – Johannes Rohbeck: M. Lpz. 2006. – Rolf Peter Sieferle: K. M. zur Einf. Hbg. 2007. – Andreas Arndt: Der Begriff des Materialismus bei K. M. In: Weltanschauung, Philosophie u. Naturwiss. im 19. Jh. Hg. Kurt Bayertz, Myriam Gerhard u. Walter Jaeschke. Bd. 1: Der Materialismus-Streit. Hbg. 2007, S. 260–274. – Joachim Hirsch, John Kannankulam u. Jens Wissel (Hg.): Der Staat der Bürgerl. Gesellsch. Zum Staatsverständnis v. K. M. Baden-Baden 2008. – Ingo Elbe: M. im Westen. Die neue M.-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965. Bln. 2008. – Harald Bluhm (Hg.): K. M. / Friedrich Engels: Die Deutsche Ideologie. Bln. 2009. Gideon Stiening
Marzik, Trude, eigentl.: Edeltrud Marczik, * 6.6.1923 Wien. – Lyrikerin, Erzählerin.
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insg. 13 Auflagen erschien; in diesem Band findet sich auch ihr berühmtestes Gedicht Mei Bua. Einige literar. Anerkennung erlangte die »Erzeugerin unkomplizierter volkstümlicher Literatur« (so eine Selbstaussage) durch ihre Parallelgedichte (Wien 1973), die Lyrik von Goethe bis Brecht in wienerischer Mundart nachdichten. Neben Gedichten verfasste M. auch Prosa: Ihr erster Roman Hochzeitsreise 45 (Wien 1984) hat das Kriegsende in Österreich in Form einer autobiogr. Rückschau zum Thema; vom Ersten Weltkrieg über die NSÄra bis in die Gegenwart erstreckt sich der Handlungsablauf des zweiten Romans Mizzi. Ein Mädel aus der Vorstadt (Wien 1987). Der Vorwurf der Kritik, hierbei handele es sich um »törichte Trivialliteratur«, ficht die erfolgreiche Autorin nicht an; sie kennt ihr Publikum: »Es versteht gern, was man ihm vorsetzt.« Im Gegenzug bescheren die Leser dieser »Verseschmiedin« (so ein Kritiker) Auflagenzahlen in sechsstelliger Höhe. M. wurde 1986 das Silberne Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien, 1987 der Johann-Nestroy-Ring der Stadt Wien u. 2008 der Buchpreis der Wiener Wirtschaft verliehen. Weitere Werke (alle Wien): A bissl Schwarz, a bissl Weiss. Gereimtes u. Ungereimtes. 1972. – T. M.s Wunschbüchl für festl. u. a. Gelegenheiten. 1974 (L.). – Das gewisse Alter. 1979 (L.). – Die Zeit ändert viel. 1983 (P.). – Hin u. wieder. 1985 (L.). – Kultur mit Schlag. 1992 (L. u. P.). – So lustig wie’s geht. 1995 (L.). – Was ist schon dabei, wenn man älter wird. 1997 (L.). – Romeo Spätlese. 1998 (P.). – Am Anfang war die Kuchlkredenz. 2000 (L. u. P.). – Schlichte Gedichte. 2003 (L.).
M. begann an der Universität Wien ein Studium der Anglistik u. Germanistik, brach dieses aber infolge des Zweiten Weltkriegs ab; daneben nahm sie privaten Schauspielunterricht. Nach Kriegsende verdiente sich M. ihren Lebensunterhalt zeitweise durch Kabarettauftritte. Von 1946 bis 1975 war sie Angestellte bei einer Fluggesellschaft in Literatur: Hans Weigel: Die Prosa ohne ImWien, wo sie bis heute lebt. perfekt. In: Die Welt, 14.3.1987. – Hans Haider: Das umfangreiche Œuvre der lokal promi- Glücklich im Zwischenreich. In: Die Presse, 4./ nenten Schriftstellerin kennzeichnet insg. die 5.6.1988. Christa Veigl / Kai Sina facettenreiche Poetisierung der wienerischen Mundart in den verschiedensten Spielarten: Masen, Jacob, Jacobus Maseninus, auch: Io»vom Salon bis zum Gemeindebau und von annes Semanus, * 28.(23.?)3.1606 Dalem/ der Zwischenkriegszeit bis in die Gegenwart« Herzogtum Jülich, † 27.9.1681 Köln. – (Hans Weigel). M. verfasste zunächst GeleJesuit, Rhetoriker, Poetiker, Historiker u. genheits- u. Mundartgedichte für den PriDramatiker. vatgebrauch, bis sie (protegiert u. a. durch den bekannten österr. Radiomoderator Heinz M. besuchte das Dreikönigsgymnasium in Conrads) mit dem Gedichtband Aus der Köln u. lehrte dort, nach seinem Eintritt in Kuchlkredenz (Wien 1971) debütierte, ihr bis den Jesuitenorden (14.5.1629), Poetik u. heute bekanntestes Buch, das bis 1996 in Rhetorik. Nach Ablegung der großen Gelüb-
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de (1648) war er als Priester u. theolog. Schriftsteller in Köln, Paderborn (enge Kontakte mit Ferdinand von Fürstenberg) u. Trier tätig. Historische Interessen, die er bereits in Paderborn gezeigt hatte, äußerten sich sehr deutlich, als sich M. mit der durch Zusätze erweiterten Neuausgabe (Lüttich 1670) der Antiquitatum et Annalium Trevirensium libri XXV seines Ordensbruders Christoph Brower, die kurfürstl. Zensur zum Opfer gefallen waren, große Verdienste um die Erforschung der Stadt u. des Erzbistums Trier erwarb. Eine Fortsetzung fanden diese histor. Studien durch die Bearbeitung der ebenfalls unter Brower verfassten Annalen u. d. T. Epitome Annalium Treverensium (Trier 1676), einer sorgfältig recherchierten Geschichte Triers mit zweispaltigem Sachregister. Beachtung fand auch seine ökumenischtheolog. Schrift zur Frage der Wiedervereinigung von Protestanten u. Katholiken Methodus certa pacem religionis in Europa et vera fidei unitatem consequendi (Ffm. 1652). Sie führte zu einer Einladung, über diese Frage 1658 auf dem Fürstentag in Frankfurt/M. zu referieren. M. veröffentlichte seine dort vorgetragenen Gedanken, die eine heftige Kontroverse auslösten, in der Meditata Concordia Protestantium cum Catholicis in una Confessione Fidei (Tl. 1–3, Köln 1661/62. Conclusio. Köln 1665. Tl. 1 übers. v. Caspar Jäger: Wohlbedachte Vereinigung der Protestirenden mit den Catholischen. Aschaffenburg 1662). M. reiht sich mit den geäußerten Überlegungen in die Schar derer ein, die die konfessionelle Spaltung auf friedl. Weise überwinden wollten. Bei aller ernsthaften Absicht ist er – wie die übrigen Ireniker – natürlich doch ein Anwalt der eigenen Konfession, die ja durch das Konzil von Trient von den beklagten Missständen befreit sei. Die Einheit im Glauben soll aber nicht durch Zugeständnisse erfolgen, sondern auf die Hl. Schrift u. ihre Auslegung zurückgehen. Bei der Interpretation der Schrift sind die Kirchenväter die maßgebl. Autorität, wodurch dann der rechte Glaube unzweifelhaft erwiesen werde. Als Verfasser dichtungstheoretischer u. rhetor. Schriften fand M. jedoch die größte Anerkennung. Vertreter des Argutia-Ideals, entwickelte er in seiner Ars Nova Argutiarum
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Honestae Recreationis in tres Partes divisa (Köln 1649. Weitere Aufl.n bzw. Bearbeitungen bis 1710) eine angesehene Theorie des ArgutiaStilideals u. der Epigrammatik. Das Werk steht gleichberechtigt neben Tesauros Cannocchiale Aristotelico (1654) u. Graciáns Agudeza y arte de ingenio (1648). Auszüge finden sich in Christian Weises De poesia hodiernorum (1678) sowie in Otto Aichers Theatrum funebre (Salzb. 1675). M.s Bemühen zielt darauf ab, mithilfe der Fonteslehre Struktur u. Wirkung arguter Pointen präziser zu analysieren. Dies führt u. a. dazu, dass die normale Metapher zu einem echten »concetto« wird, weil z.B. widersprechende Prädikate von ein u. demselben Subjekt ausgesagt werden können bzw. von verschiedenen Subjekten das gleiche prädiziert werden kann. M.s Werk zeichnet sich durch eine strenge u. differenzierte Systematik aus u. dient damit der theoret. Untermauerung der sich in der Mitte des 17. Jh. in Deutschland ausbreitenden »argutia«-Bewegung. Die Beobachtung des arguten, scharfsinnigen Stils sollte dazu beitragen, dass die nlat. u. später auch die dt. Poesie eine gleichberechtigte Position im Rahmen der europ. Literatur erlangte, wird doch auf diese Weise die Verbindung zum manierist. Stil Italiens u. Spaniens hergestellt, wo die Lehre von der »acutezza« eine entscheidende Rolle spielte. Ein weiteres Werk, das, v. a. indem es über das Aussehen der allegor. Figuren des Barockdramas informiert, das heutige Verständnis der Literatur des 17. Jh. fördert, ist das Speculum Imaginum Veritatis Occultae (Köln 1650. Weitere Aufl.n bis 1714). M. liefert hier eine Untersuchung über Geschichte u. Theorie der Emblematik mit einem umfangreichen Nachschlagewerk zum Thema. Franciscus Lang diente diese Abhandlung als wichtige Quelle für seine Dissertatio de actione scenica (1727). Eigentlich für den Unterricht bestimmt war M.s poetolog. Hauptwerk Palaestra Eloquentiae ligatae (Köln; Tl. 1: 1654. 21661. 3 1682; Tl. 2: 1654. 21661. 31683; Tl. 3: 1657. 2 1664. 31683). Der erste Teil behandelt die Poetik allgemein, Fragen der poet. Erfindung u. der Stilistik sowie der Formgebung u. Gattungsdefinition. In diesen Zusammen-
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hang gehört auch die Erörterung der Prosodie u. der Metrik, deren Gesetze durch zahlreiche Beispiele veranschaulicht werden. Der zweite Teil befasst sich mit einzelnen Gattungen, v. a. mit der Elegie, dem Epos u. der »Lyrik«, d.h. Gedichten, die in enger Verbindung zur Musik stehen. Angefügte Beispiele dienen auch hier der Veranschaulichung. Als ein solches Exempel ist sein 2486 Verse umfassendes Epos Sarcotis (Separatausg.n: London 1753. Paris 1757. Übers.en: Treviso 1769. Paris 1771. an. Basel 1780. L. Heinze. Gött. 1839), das den Sündenfall u. die Vertreibung aus dem Paradies behandelt, beigefügt. Welchen Einfluss es auf Miltons Paradise lost ausübte, lässt sich nicht genau ermitteln. Jedenfalls wurde lange der Vorwurf des Plagiats gegen den Engländer erhoben. Aber nicht nur eigene Werke werden hier mitediert, auch gelungene Stilmuster anderer Autoren werden besprochen. So rühmt M. zum Beispiel an der Lyrik seines Ordensbruders Balde Schönheit, Kraft, Knappheit u. Ironie, v. a. aber die Befolgung des »argutia«-Ideals. Auch bei der Behandlung der »Ode« wird auf Balde als Vorbild verwiesen, weil dieser sich an Horaz orientiert. Im dritten Teil behandelt M. das Drama, für dessen Theorie er in Deutschland zu den poetolog. Autoritäten zählte. Obwohl er sich auf Aristoteles beruft u. die Diskussion um dessen Tragödien-Definition in den PoetikKommentaren der Humanisten kennt, orientiert er sich doch auch an der Schauspielpraxis seiner Zeit u. versucht mit Erfolg, die vorherrschenden Formen hinsichtlich ihrer Erscheinungsweise u. des verfolgten Zwecks zu definieren. So unterscheidet er neben »Tragoedia« u. »Comoedia« noch »Tragicocomoedia« u. »Comicotragoedia« – je nach Stil, Dramenausgang u. agierenden Personen. Auch hier liefert er für jeden von ihm charakterisierten Dramentyp entsprechende Musterdramen mit, wie z.B. die fünfaktige Ollaria (Topfkomödie): Ein Geizhals, der einen Schatz versteckt hat, wird von seinem Vater geheilt. M. benutzt als Stoffquelle den 13. Dialog aus Petrarcas De remediis utriusque fortunae libri II. Typisch für die Dramen M.s ist es, den Personen sprechende Namen zu geben. So heißt der Geizhals »Desiderius«, sein
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Vater, der mit Geld sinnvoll umzugehen versteht, »Abundius«. Geiz, Reichtum, List werden als personifizierte Allegorien eingeführt. Die bekannteste Komödie dieser Sammlung u. eines der meistgespielten Jesuitendramen ist Rusticus imperans (Der Bauer als König), das die bekannte Geschichte eines betrunkenen Bauern behandelt, der für einen Tag zum König gemacht wird u. dann in die Unbedeutendheit zurückfällt. In M.s Stück gibt der »regierende« Schmiedemeister mit dem bezeichnenden Namen »Mopsius« der Klage seines Gesellen wegen erlittener Misshandlung statt u. setzt diesen als Meister ein. Am Ende muss er selbst die Rolle des Gesellen übernehmen. Es sind »vanitas«-Themen sowie Motive vom »Leben als Traum« u. »Jedermann«, die hier anklingen. Die Kommentierung des Stücks erfolgt in den allegor. »Scenae mutae« – einer Besonderheit M.s. Von den Schauspielen sei der Androphilus (dt. von Sigmund von Birken: Androfilo. Wolfenb. 1656) erwähnt. Hier verwendet M. zur Behandlung des Themas von der Erlösung des Menschen – ebenfalls unter Verwendung sprechender Namen für die Akteure – die Parabel vom Königssohn (Androphilus), der zum Knecht wird, um den Diener (Anthropus) zu retten. Natürlich dürfen der Vater des Königssohns (Andropater) u. seine Gegenspieler Andromisus (Teufel) u. Thanatus (Tod) nicht fehlen. Die sinnbildl. Deutung des dramat. Geschehens erfolgt gleich dreifach: durch die Parabel selbst, ferner durch die »Scenae mutae« (anstatt der sonst übl. Choreinlagen) u. durch die Beziehung des Dramas auf die durch den Chor dargestellte Menschheit. Seine theoret. Überlegungen zur Rhetorik legte M. in seiner Palaestra Oratoria (Köln 1659. 41707) dar, einem ebenso systemat. Werk wie die erwähnten dichtungstheoret. Untersuchungen. Dem Sonderaspekt der Stilistik unter Berücksichtigung antiker Exempel dient die Palaestra Styli Romani (Köln 1659. Weitere Aufl.n bis 1710). Die Exercitationes Oratoriae (Köln 1660. Weitere Aufl.n bis 1717) sind ein Übungsbuch mit Musterreden. Diese rhetor. Lehrbücher waren bis ins 18. Jh. im Schulunterricht beliebt.
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M. hat sich auch als Kanzelredner u. als Polemiker gegen protestant. Theologen einen Namen gemacht. Zum Zeitpunkt seines Todes war er unter Theologen, Dichtern u. Gelehrten ein bekannter u. geachteter Mann. Vor allem seine theoret. Überlegungen zu Epigrammatik u. Drama übten ihren Einfluss auf andere Autoren des Barock aus (z.B. Weise). Ausgaben: Theoretisches aus J. M.s ›Palaestra Eloquentiae Ligatae‹. In: Willi Flemming: Das Ordensdrama. Lpz. 1930, S. 37–46, u. David E. George: Dt. Tragödientheorien vom MA bis zu Lessing. Texte u. Komm.e. Mchn. 1972, S. 119–132. – ›Rusticus imperans‹ oder der Schmied als König. Histor. Lustsp. Übers. v. Josef Grosser. Wien 1947. Übers. u. bearb. v. Otto Leisner. Nürnb. 1948. Hist.krit. Ausg. v. Harald Burger. In: LitJb 10 (1969), S. 53–94. – Exerzitien- u. Missionsbüchlein (lat.: Dux viae ad vitam puram, piam, perfectam). Trier 1927. – The Jesuit Theatre of J. M. 3 Plays, Translated, with an Introduction of Michael C. Halbig. New York/Bern/Ffm. 1987. – Internet-Ed. etlicher Texte in: CAMENA (Abt. Thesaurus). Literatur: Bibliografien: Backer/Sommervogel 5, S. 681–696. – Dünnhaupt 2. Aufl., Bd. 4, S. 2673–2695. – Weitere Titel: Nikolaus Scheid: Der Jesuit J. M. Köln 1898. – Nikolaus Nessler: Die Dramaturgie der Jesuiten Pontanus, Donatus u. M. Brixen 1905. – Eduard Sambhaber: M.s Theorie der Tragödie. Diss. Graz 1906. – Bernhard Duhr: Christoph Brower u. J. M. In: FS des Marzellengymnasiums. Köln 1911, S. 98 ff. – Ders.: Gesch. der Jesuiten in den Ländern dt. Zunge. Bd. 2, Freib. i. Br. 1913, S. 688–690. – Carl Kaulfuss-Diesch: Untersuchungen über das Drama der Jesuiten im 17. Jh. In: Archiv 131 (1913), S. 1–17. – Alfred Happ: Die Dramentheorie der Jesuiten. Diss. masch. Mchn. 1922. – Willi Flemming: Gesch. des Jesuitentheaters in den Landen dt. Zunge. Bln. 1923, S. 76–82. – Johannes Müller: Das Jesuitendrama in den Ländern dt. Zunge vom Anfang (1555) bis zum Hochbarock (1665). 2 Bde., Augsb. 1930. – Michaela Zelzer: ›Palaestra Eloquentiae Ligatae‹. In: Kindler. – Harald Burger: J. M. ›Rusticus Imperans‹. In: LitJb N. F. 8 (1967), S. 31–56. – George C. Schoolfield: J. M.s ›Ollaria‹. Comments, Suggestions, and Resumé. In: FS Walter Silz. Chapel Hill 1974, S. 31–70. – Michael C. Halbig: The Dramatist J. M., a Translation and Critical Introduction. Diss. 2 Bde., Yale 1975. – Thomas W. Best: Time in J. M.s ›Rusticus Imperans‹. In: Humanistica Lovaniensia 27 (1978), S. 287–294. – Ders.: On Psychology and Allegory in J. M.s ›Rusticus Impe-
Masius rans‹. In: Mlat. Jb. 13 (1978), S. 247–252. – JeanMarie Valentin: Le théâtre des Jésuites dans les pays de langue allemande (1554–1680). Bern/Ffm./Las Vegas 1978, Bd. 2, S. 811–838, Bd. 3, S. 1277–1286. – Ders.: La ›Meditata Concordia‹ de J. M. et le raprochement des églises en Allemagne au XVIIe siècle. In: Revue d’Allemagne 13 (1981), S. 238–269. – Barbara Bauer: Jesuit. ›ars rhetorica‹ im Zeitalter der Glaubenskämpfe. Ffm./New York 1986. – Gunther Franz: Das Gedächtnis Friedrich Spees in Trier. Die Historiker u. Schriftsteller M., Wyttenbach u. Laven. In: Friedrich Spee. Trier 2 1991, S. 242–249 (= Ausstellungskat.). – Karl Keller: Der rheinländ. Speeschüler J. M. u. sein Exerzitienbuch ›Dux Viae‹ (1667). In: Geldr. Heimatkalender 1993 (1992), S. 236–243. – Richard G. Dimler: J. M.s ›Imago Figurata‹. From Theory to Practice. In: Emblematica 6 (1992), S. 283–306. – Wilhelm Kühlmann: Macht auf Widerruf: der Bauer als Herrscher bei J. M. SJ u. Christian Weise. In: Christian Weise. Hg. Peter Behnke u. Hans-Gert Roloff. Bern u. a. 1994, S. 245–260. – R. G. Dimler: J. M.s Critique of the ›Imago Primi Saeculi‹. In: The Jesuits and the Emblem Tradition. Hg. John Manning u. Marc van Vaeck. Turnhout 1999, S. 279–295. – Karl Bernhard Silber: Die dramat. Werke Sigmund v. Birkens (1626–81). Tüb. 2000, S. 276–288. – J.-M. Valentin: Le drame de martyr européen et le ›Trauerspiel‹: Caussin, M., Stefonio, Galluzzi, Gryphius. In: Ders.: L’école, la ville, la cour. Paris 2004, S. 419–460. – Jörg Robert: Nachschrift u. Gegengesang. Parodie u. ›parodia‹ in der Poetik der Frühen Neuzeit. In: ›Parodia‹ u. Parodie. Hg. Reinhold F. Glei u. Robert Seidel. Tüb. 2006, S. 47–66. – Michael Embach: Der Jesuit J. M. (1608–81) als Geschichtsschreiber. In: Spee-Jb. 14 (2007), S. 77–86. – Frank Pohle: J. M. als Dramatiker. Ebd., S. 97–118. – Dieter Breuer: J. M. u. die iren. Bewegung des 17. Jh. Ebd., S. 119–144. – R. G. Dimler: Studies in the Jesuit Emblem. New York 2007. Franz Günter Sieveke
Masius, Hector Gottfried, * 13.4.1653 Schlagsdorf bei Ratzeburg, † 8.9.1709 Gut Raunstrup/Seeland. – Theologe, dänischer Hofprediger, Verfechter des orthodoxen Luthertums. Als Sohn eines luth. Pastors besuchte M. zunächst die Schule in Lübeck u. studierte anschließend in Gießen Philosophie u. Theologie. Nach weiteren Studienaufenthalten in Straßburg, Tübingen u. Basel reiste er nach Holland, ein geplanter Aufenthalt in England
Masius
konnte aus gesundheitl. Gründen nicht realisiert werden. M. kehrte nach Lübeck zurück u. begab sich nach Kopenhagen, wo ihn der dän. König 1682 zunächst mit der Position eines Legations-Predigers der dän. Gesandtschaft in Frankreich betraute, drei Jahre darauf wurde M. Hofprediger. Er promovierte in Theologie u. wurde wenig später Theologieprofessor u. Mitgl. des Consistoriums. Ansehen u. Einfluss von M. waren in Kopenhagen u. am dän. Hof – seinen Positionen entsprechend – ausgesprochen groß. Dies wird in den einschlägigen bio-bliogr. Handbüchern des 18. Jh. stets betont, wobei ihn Cuno in seinen Gesammelten Nachrichten von den Lebensumständen und Schriften Evangelisch Lutherischer Theologen (1769) sogar als einen der »größten Theologen seiner Zeit« vorstellt: Vor allem »durch seinen Eifer für die Reinigkeit der Lehre und durch seine vortrefflichen Schriften« habe M. Ruhm erworben. In der Tat galt ein großer Teil von M.’ Schaffen der Reinerhaltung der luth. Lehre u. der vehementen Bekämpfung u. Diskreditierung anderer Konfessionen u. Glaubensrichtungen. Dabei ging es nicht immer um theolog. Wahrheiten u. religiöse Heilsgewissheiten, sondern nicht selten um die handfeste Kalkulation politischen Nutzens. In diesem Sinn legte M. mit seinem 1687 in Kopenhagen erschienenen Interesse principum circa religionem evangelicam dem dän. König eine Denkschrift vor, in der er den Vorzug der luth. Konfession mit der polit. Zuverlässigkeit der Lutheraner begründete: Weil luth. Konfessionsangehörige die höchste Gewalt im Staat unmittelbar vom Willen Gottes (»immediate a Deo«) ableiteten u. die Obrigkeit daher unmittelbar als Stellvertreter Gottes auf Erden gelte, seien alle denkbaren Formen rechtmäßigen Widerstandes ausgeschlossen. Insofern könne jede Obrigkeit sich auf den unbedingten Gehorsam der Lutheraner verlassen; weder Katholizismus noch Calvinismus seien zu ähnl. Gewährleistungen in der Lage. Hintergrund der Denkschrift war die Entscheidung des dän. Königs, nach der Aufhebung des Edikts von Nantes (1685) die Ansiedlung französischer Calvinisten in Dänemark zu erlauben, u. da die dän. Königin selbst reformierten Glaubens war, musste die
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luth. Orthodoxie eine Schwächung ihrer hegemonialen Position befürchten. Die rechte Wahrnehmung wurde dem Text erst zuteil, als Christian Thomasius sich seiner annahm u. ihn 1688 in seinen periodisch erscheinenden Monatsgesprächen nicht nur auf der Grundlage seiner zeitgleich ausgearbeiteten Naturrechtslehre sachlich kritisierte, sondern ihn auch der Lächerlichkeit preisgab. Die Auseinandersetzung eskalierte rasch, u. am Ende erreichte M., dass die inkriminierten Schriften seines Gegenspielers »durch des Büttels Hand cum infamia Autoris« in Kopenhagen öffentlich verbrannt wurden. Der inzwischen vom sächs. Leipzig in das kurbrandenburg. Halle übersiedelte Thomasius reagierte zwar noch mit einem Rechtsgründeten Bericht auf das Autodafé, hielt sich mit Rücksicht auf die Gunst seines neuen Landesherrn aber vorsichtshalber zurück. Die Debatte um M.’ anticalvinist. Ausfälle wurde nun von dem reformierten Theologen Johann Christoph Becmann weitergeführt. In Becmann fand M. seinen Wunschgegner, der bereit war, die polit. Frage theologisch zu verhandeln. In kurzer Zeit wurde eine bemerkenswerte Anzahl von z.T. umfangreichen Streitschriften gewechselt, weil aber M. seine Argumente lediglich wiederholte u. Becmann die Vorbehalte gegen den Calvinismus aufgriff u. spiegelbildlich gegen das Luthertum richtete, konnte die Debatte zu keinem Ergebnis führen. Mit seinem historisch späten Votum für eine »immediate a Deo« abgeleitete Souveränität blieb M. in der Literatur des 18. Jh. präsent, außerdem war man theologisch noch lange nach M.’ Tod an seiner Verteidigung des Luthertums bzw. an seiner krit. Auseinandersetzung mit dem Calvinismus interessiert. Insbes. der Kurze Bericht von dem Unterschied der wahren evangelisch-lutherischen und der reformierten Lehre (Kopenhagen 1691) wurde mehrfach aufgelegt, zuletzt 1843 in Hamburg u. 1880 in Gütersloh. Weitere Werke: Défense de la religion Lutherienne, contre les Docteurs de l’église romaine. Ffm. 1684. – Päbstl. Sauerteig, ausgefeget. Kopenhagen 1688. – Orthodoxia Lutherana de origine imperii divina et immediata in epist. ad Rom. XIII. V.I.2. fundata. Kopenhagen 1688. – Evang. Unter-
Massow
33 richt v. der wahren Selbstverleugnung. Kopenhagen 1703. – Väterl. Erinnerung an seine Kinder v. der Unsterblichkeit der Seele. Kopenhagen 1706. – Dissertationes academicae. Kopenhagen 1719. Literatur: Frank Grunert: ›Händel mit Herrn Hector Gottfried Masio‹. Zur Pragmatik des Streits in den Kontroversen mit dem Kopenhagener Hofprediger. In: Appell an das Publikum. Die öffentl. Debatte in der dt. Aufklärung 1687–1796. Hg. Ursula Goldenbaum. Bln. 2004, S. 119–174. Frank Grunert
Maßmann, Hans (Johann) Ferdinand, * 15.8.1797 Berlin, † 3.8.1874 Muskau/ Schlesien. – Mediävist u. Vorkämpfer der Turner-Bewegung.
für die Mitwirkung bei der Wiedereinführung u. Einrichtung des Schulturnens in Preußen beurlaubt. 1846 aus dem bayer. Staatsdienst entlassen, erhielt er zudem im Nebenamt an der Universität Berlin gegen Lachmanns Widerstand eine a. o. Professur für Pädagogik u. dt. Sprache u. Literatur. M. verlor bereits 1850/51 seine Stelle in der Turnausbildung u. bemühte sich wiederholt ohne Erfolg um eine o. Professur. Wissenschaftlich wenig anerkannt u. durch die baldige Änderung seines Lehrplans gekränkt, starb M. vereinsamt. Außer frühen Burschenschaftsliedern u. biedermeierl. Gelegenheitsgedichten (Armins’s Lieder. Mchn. 1839) publizierte M. Anleitungen zum Turnsport (Leibes-Übungen. Landshut 1830). Deutschtümelnde Propagandaschriften (Deutsch und Welsch, oder der Wettkampf der Germanen und Romanen. Mchn. 1843) u. eine nationalromantisch orientierte Literaturbetrachtung (Das vergangene Jahrzehnt der deutschen Literatur. Mchn. 1827). Seine wissenschaftsgeschichtl. Bedeutung liegt aber zweifellos auf editorischem Gebiet: Trotz manchmal mangelnder Sorgfalt beeindrucken noch heute Abundanz u. Interessenvielfalt (u. a. Erläuterungen zum Wessobrunner Gebet. Bln. 1824. Neudr. Niederwalluf 1871. Geschichte des mittelalterlichen, vorzugsweise des deutschen Schachspiels. Quedlinb. 1839. Neudr. Wiesb. 1983. Die Literatur der Todtentänze. Lpz. 1840. Neudr. Hildesh. 1963. Tristan und Isolt. Lpz. 1843 Neudr. Hildesh. 1977. Der Keiser und der Kunige Buoch [...]. 3 Bde., Lpz. 1849–54. Ulfilas. Stgt. 1857).
Der Uhrmachersohn M. avancierte schon während seiner Studienzeit in Berlin u. Jena (1814–1818) zum vertrauten Lieblingsschüler von »Turnvater« Jahn. Er unterbrach sein Theologiestudium 1815, um sich am Befreiungskampf gegen Napoleon zu beteiligen. Politische Einigungs- u. Reformideale im Sinne Jahns veranlassten den engagierten Burschenschafter (vgl. Kurze und wahrhaftige Beschreibung des großen Burschenfestes auf der Wartburg [...] nebst Reden und Liedern. Jena 1817) auch zur Mitorganisation des »Wartburg-Festes« u. einer aufsehenerregenden Bücherverbrennung (18.10.1817). Schon dieser antiabsolutistischen Aktion waren deutschtümelnde u. antifrz. Ressentiments inhärent; staatl. Anpassungsdruck (Karlsbader Beschlüsse, Demagogenverfolgung) u. zunehmende MA-Begeisterung M.s, der als (Turn-)Lehrer, Handwerker, Student u. mediävist. Forschungsreisender ruhelos umherLiteratur: Carl Euler u. Rudolf Hartstein (Hg.): zog, beförderten ihn darin. Unter dem Ein- M. Bln. 1902. – Joachim Burkhard Richter: M. [...]. druck einer festen Anstellung in München Bln./New York. 1992. – Heidrun Markert: M. In: (seit 1827 Turnlehrer am Kadettenkorps) u. IGL. – Hartmut Schmidt: H. F. M. – ein ›unverder Berufung zum a. o. Prof. für altdt. Spra- schämter Eindringling‹. In: Stil, Schule, Disziplin. che u. Literatur (1829) wandelte er sich end- Hg. Lutz Danneberg u. a. Ffm. 2005, S. 197–213. Adrian Hummel / Uwe Meves gültig zum monarchietreuen Patrioten u. übte nicht unerhebl. Einfluss auf die Kunstpolitik König Ludwigs I. aus. Als ehemaliger Massow, Apollonia Elisabeth (?) von, * 17. Kommilitone u. gescheiterter Mitbewerber Jh. – Geistliche Liederdichterin. um das Münchner Professorenamt verfolgte Heine diese Entwicklung mit Sarkasmus (u. a. 1718 versuchte der Konrektor des Stettiner Lobgesänge auf König Ludwig, Nr. II, Atta Troll, Gymnasiums, Franz Woken, in seinem PomCaput IV). 1835 zum o. Prof. für ältere dt. merschen Ehrenpreiß eine Beweisführung daSprache u. Literatur ernannt, wurde er 1843 hingehend, dass »die Pommerische Land-
Mastalier
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schafft nicht unfähig sey, zur Gelehrsamkeit in Stadt u. Region. Hg. Wilhelm Kühlmann u. geschickte Ingenia hervor zubringen« u. Horst Langer. Tüb. 1994, S. 601–620. Dörthe Buchhester verwies dabei auch auf »A. E. v. M.«, Priorin des Klosters Stolp. Eine A. E. v. M. gab es jedoch nicht, hier ist Woken einem Irrtum Mastalier, Karl, * 16.11.1731 Wien, † 6.10. erlegen, der auch die spätere Forschung be- 1795 Wien. – Rhetoriklehrer u. Lyriker. stimmte. Den genealog. Nachrichten der Fa- M. war mit 18 Jahren in die Gesellschaft Jesu milie Massow zufolge war eine Apollonia von eingetreten. Neben der vorgeschriebenen Massow mit dem Rittmeister Hans Adam von geistl. Ausbildung studierte er Philosophie u. Güntersberg u. ihre Schwester Elisabeth mit die freien Künste (Magister) u. wurde dann Claus von Zitzewitz verheiratet. Eine weitere überwiegend als Lehrer für Beredsamkeit u. Schwester, Anna Hedwig, war Priorin im Stilistik im Lateinischen, später auch im Kloster Stolp. Es liegt nahe, in Letzterer die Deutschen, eingesetzt. Er versah dieses Dichterin der geistl. Lieder zu vermuten, de- Lehramt 1763–1773 (Aufhebung des Ordens) ren Manuskript Woken druckfertig vorlag u. an der Schule im Professhaus der Jesuiten in die, den Versen der Zueignung folgend, »zu Wien u. wurde dann Titularkanonikus von Gottes Ehr gedichtet und geschrieben« hat. Laibach. Das in 16 Abteilungen gegliederte Werk ist Wie Michael Denis, Joseph Burkhard u. nur in wenigen Auszügen bei Woken über- andere gehörte M. zu jener Gruppe von Reliefert, der in den sog. Waysen-Liedern (3. Abt.) delehrern, die unter dem Eindruck der Aufselbst einen Hinweis auf die Identität der klärung im Österreich des ausgehenden 18. Dichterin gibt: »Da jeder Vers mit einem Jh. die bodenständige lat. (u. ital.) DichBuchstaben aus Anna Hedewig Massowen tungstradition der Jesuitenschule mit ihrem anhebt«. Kanon an Normen u. Techniken in die SpraAusgaben: Franz Woken: Pommerischer Ehren- che der dt. zeitgenöss. Literatur überführten. Preis, oder [...] Beweis, daß die Pommerische Diese neuen Formen wurden nach überkomLandschafft nicht unfähig sey, zur Gelehrsamkeit menem didakt. Muster der »Rationes stugeschickte Ingenia hervor zubringen. Alten Stettin diorum« gelehrt (»praecepta, exempla, imi1718, S. 3 f. (Vorrede). – Ders.: Beytr. zur Pommetatio«). So öffnete sich der österr. Literatur rischen Historie, Mehrentheils aus geschriebenen Urkunden [...] zusammen getragen. Lpz. 1732, das Tor zur dt. Entwicklung. Die nicht sehr zahlreichen Gedichte des S. 147–152 (Zueignungsverse, Gliederung des Redelehrers M. – Gedichte nebst Oden aus dem Textes, Titel der Lieder). Literatur: Amandus Carl Vanselow: Gelehrtes Horaz (Wien 1774. Vermehrte Aufl. 1782) – Pommern, oder alphabet. Verzeichniß einiger in sollten Vorbild sein u. wurden tatsächlich bis Pommern gebohrnen Gelehrten, männl. u. weibl. in den Vormärz hinein in den österr. RhetoGeschlechtes, nach ihren merckwürdigsten Um- rikanleitungen zitiert. Die Sammlung besteht ständen u. verfertigten Schrifften. Stargard 1728, aus Lobgedichten auf das Herrscherhaus, die S. 69. – Johann Carl Oelrichs: Histor. Nachrichten vorher schon in Einblatt- oder Broschürenv. Pommerschen gelehrten Frauenzimmern. In: drucken verbreitet worden waren, u. aus eiDers.: Historisch-Diplomat. Beyträge zur Gesch. ner Reihe von Nachdichtungen horazischer der Gelahrtheit, bes. im Herzogtum Pommern. Bln. Oden im zierlichen u. anakreont. Stil. M.s 1767, S. 13 f. – Paul Hermann Adolph v. Massow u. Trauerrede auf Franz I., Römischen Kaiser (1765) Ewald Ludwig Valentin: Nachrichten über das Geschlecht derer v. Massow. Bln. 1878, S. 61. – v. galt als Musterstück einer Laudatio funebris Bülow: A. E. v. M. In: ADB. – Wilhelm v. Massow: u. wurde ins Französische übersetzt. M. lieDie Massows. Gesch. einer pommerschen Adelsfa- ferte auch lyr. Beiträge zum Vossischen, milie. Halle 1931, S. 455. – Jean Woods u. Maria Leipziger u. – regelmäßig – zum WieneriFürstenwald: A. E. v. M. In: Dies.: Schriftstelle- schen Musenalmanach. rinnen, Künstlerinnen u. gelehrte Frauen des dt. Barock. Ein Lexikon. Stgt. 1984, S. 66. – Monika Schneikart: Frauen u. Lit. in der Region Pommern. In: Pommern in der Frühen Neuzeit. Lit. u. Kultur
Weitere Werke: Auf Gellerts Tod. Wien 1770. – Das Bild Maria Theresiens, der Mutter der schönen
35 Künste u. Wiss.en. Wien 1772. – Trauerrede auf Maria Theresia. Wien 1780. Literatur: Ignaz de Luca: Das gelehrte Österr. Bd. 1/1, Wien 1776, S. 314. – Johann Nepomuk Stoeger: Scriptores Provinciae Austriacae Soc. Jesu. Wien 1855, S. 220. – Franz Gräffer: Josephin. Kuriosa. Bd. 1, Wien 1848, S. 165 f. – Wurzbach 17. – A. Schlossar: M. In: ADB. Werner M. Bauer / Red.
Matejka, Peter, * 19.12.1949 St. Pölten. – Prosa-, Hör- u. Fernsehspielautor.
Mathar
u. dessen Gesellschaftsbild. Der Kriminalroman Der Halbmord von Gagging (Wien/Bln. 1984. Neuausg. Wien 2000) schließlich entlarvt mit den Stilmitteln der Trivialliteratur die mörderischen sozialen Verhältnisse in der Enge der Provinz. Nach der Publikation dieses Buches zog sich M. für viele Jahre aus der literar. Szene zurück. Erst in der Zeit der umstrittenen schwarz-blauen Regierung in Österreich, einer Periode starker Polarisierungen, meldete er sich wieder regelmäßig zu Wort, mit pointierten, polem. Arbeiten von geringem Umfang wie etwa Happy Austria – Kurze Geschichten zur Lage der Nation (Wien 2003), u. glossierte in unprätentiöser, lakon. Sprache die herrschenden Verhältnisse in seinem Heimatland. Auf der Basis dieser Bestandsaufnahmen u. Befunde gelangte er nach u. nach zu einer radikalen Medienkritik. Davon zeugen der schmale Band Anarchie des Alphabets (Wien 2005) u., in bes. Deutlichkeit, das satir. Prosabuch Putsch und Schtup (Wien 2009), dessen Bühnenfassung mit dem bezeichnenden Untertitel Eine zeitlose Mediengroteske noch im selben Jahr aufgeführt wurde.
M. betrat die literar. Szene in einer Zeit des Paradigmenwechsels innerhalb der österr. Literatur. Das Ende der Nachkriegsharmonie wurde damals zum Programm einer neuen Schriftstellergeneration, die im Zeichen von Traditions- u. Tabubrüchen antrat. M., Angehöriger dieser im Zweiten Weltkrieg oder kurz danach geborenen Generation u. eine ihrer exemplarischen Stimmen, positionierte u. profilierte sich von Anfang an als Verfasser einer lustvoll experimentellen, sprachkrit. Literatur im Umfeld der »Grazer Gruppe«. In deren Zeitschrift, den »manuskripten«, debütierte er bereits mit 19 Jahren. Nach abgebrochenen Studien, einigen Jahren als freier Schriftsteller u. einer Tätigkeit als VersicheWeitere Werke: große schweinfurther chorungsangestellter in Niederösterreich lebt er ralythik. 1970 (E.). – Was bisher geschah. SDR 1970 (Hörsp.). – Proletenliebe. ORF 1974 (Fernsehsp., heute wieder in Wien. Bereits in seinem Frühwerk, das inzwi- zus. mit Hans Trummer). – Häfenbruder Kennedy. schen in einer repräsentativen einbändigen Wien 2004 (P.). – Wohin? Reiseskizzen. Horn 2004 Sammelausgabe u. d. T. Die andere Donau (mit (P.). Christian Teissl einem Nachw. v. Otto Breicha. Graz 1997) vorliegt, erweist M. sich als ein Meister der Mathar, Ludwig, * 5.6.1882 Monschau bei kleinen Formen wie Prosaskizze, Kurzroman Aachen, † 15.4.1958 Monschau bei Aau. Dramolett. Viele seiner Miniaturen widchen. – Erzähler. men sich der spielerischen Demontage sprachlicher Schablonen u. der Dekonstruk- M. war erst im höheren Schuldienst tätig u. tion gängiger literar. Muster u. Genres. In wurde nach dem Ersten Weltkrieg freier seiner ersten selbständigen Publikation, kuby Schriftsteller. Er hatte sowohl als Kulturgeo– eine schöpfung (Ffm. 1970), einem pseudo- graf wie auch als Unterhaltungsschriftsteller dokumentarischen Vexier- u. Verwirrspiel, Erfolg. Nach Kriegsgedichten (Auch ich war zusammengefügt aus vielen verschiedenen dabei. Itzehoe 1915) erschien 1922 sein erster Mikrotexten u. Fragmenten, erzählt er die Roman, Die Monschäuer (Mchn./Kempten u. Biografie eines tödlich verunglückten Autors Mchn. 21925), 1922 u. 1924 Die Rheinlande. namens Peter Matejka. Der »Mami-Roman« Bilder von Land und Kunst (2 Bde., Köln). Mit Der kleine Mirko (zus. mit Hans Trummer. der Schilderung von Landschaft u. Handwerk Wien/Mchn. 1972. Verfilmung ORF 1972. in Die Monschäuer kam er, wie auch in anderen Neuausg. Wien 2006) ist eine Parodie auf den Romanen, der Heimatkunst nahe. In Vater der Groschenroman, dessen Glücksverheißungen Geißel. Trauerspiel eines Volkes. Ein Moselroman
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aus dem 17. Jahrhundert (Kempten 1924) benutzte er altertüml. Chronikstil u. Grobianismen als Gestaltungsmittel. Auch humorist. Romane u. Erzählungen legte M. vor (Fünf Junggesellen und ein Kind. Freib. i. Br. 1924. Aachen 1992. Settchens Hut. Freib. i. Br. 1925). Insg. spiegelt M.s erzählerisches Werk mit seiner Verherrlichung des Kleinbürgertums u. seiner heimatkundl. Tendenz den Geschmack breiter bürgerl. Schichten in der Zeit der Weimarer Republik wider. Während des Dritten Reichs wandte sich M. großdt. Themen zu (Der Reichsfeldmarschall. Paderb. 1939). Nach dem Zweiten Weltkrieg bevorzugte er christl. Themen, die auch in seinem früheren Werk eine Rolle gespielt hatten. Weitere Werke: Das Glück der Oelbers. Ein rhein. Tuchmacherroman aus dem 18. Jh. Köln [1923]. – Ein voller Herbst. Drei Moselgesch.n aus drei Jh. Regensb. 1925. – Primavera. Frühlingsfahrten ins unbekannte Italien. Bonn 1926. – Die ungleichen Zwillinge. Ein Schelmen- u. Tugendroman. Bln. 1927. – Wunder der Heimat. Führer durch Montjoie u. seine Umgebung. Jena 1927. – Das Land an Erft u. Niers. Kulturbild des Kreises Grevenbroich. Paderb. [1928]. – Die Rache der Gherardesca. Roman aus Sardiniens Heldenzeit. Einsiedeln [1929]. – Herr Johannes. Mchn. 1930 (R.). – Heilige der Heimat. Dt. Legenden. Dülmen 1931. – Straße des Schicksals. Freib. i. Br. 1933 (R.). – Meister am Dom. Trier 1949 (R.). Literatur: Heinz Sieben: Gedanken zu L. M. u. seinem Schaffen. In: Das Monschauer Land 20 (1992), S. 184–186. Christian Schwarz / Red.
Mathesius, Matthesius, Johann(es), * 24.6. 1504 Rochlitz/Sachsen, † 17.10.1565 St. Joachimsthal (Jáchymov). – Protestantischer Prediger, Verfasser der ersten Lutherbiografie. M., Sohn eines Ratsherrn u. Berggewerken, besuchte Schulen in Rochlitz, Mittweida u. Nürnberg, studierte in Ingolstadt u. schloss sich als Hauslehrer auf Schloss Odelzhausen bei Augsburg (1526/27) dem luth. Bekenntnis an. 1529/30 studierte er an der Universität Wittenberg, wurde Lehrer in Altenburg/ Thüringen u. 1532–1540 Rektor der Lateinschule in Joachimsthal; für sie schuf M. eine Schulordnung (Druck Nürnb. 1567), die klass. Bildung u. Pflege der Muttersprache in
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protestant. Bindung regelte. Während des mit Magistergrad u. Ordination abgeschlossenen Wittenberger Theologiestudiums 1540–1542 schrieb M. als Hausgast Martin Luthers dessen Tischgespräche auf (Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Tischreden. Bde. 4–5, Weimar 1916–19). Von 1542 bis zu seinem Tod übte er das Joachimsthaler Predigeramt aus. Über seinen geistl. Auftrag hinaus konsolidierte er seine Diasporagemeinde u. verlieh der prosperierenden Silberstadt geistiges Gepräge. So bereicherte er das literar. Leben durch Schulaufführungen u. Einbeziehung zeitgenöss. Poesie (u. a. des befreundeten Kantors Nikolaus Herman) in seine Predigten. Die Joachimsthaler Kultur blühte, zumal M. polit. Krisen beilegte u. für die Versöhnung zwischen Deutschen u. Tschechen in evang. Geist eintrat. Etwa 1500 Predigten M.’ gelangten, teilweise überarbeitet, zum Druck. Es sind v. a. von Perikopen ausgehende Postillensammlungen sowie Zyklen, die bibl. Büchern folgen, thematisch angelegt oder nach Kasualien geordnet sind. Die protestant. Standespredigt begründete M. mit Kanzelreden wie denen der Sarepta oder Bergpostill. Ihre 16 Predigten gingen aus Bergmannsgottesdiensten hervor u. wurden in erweiterter Fassung gedruckt (Nürnb. 1562; insg. 14 Aufl.n. Nürnb. 1564. Nachdr. Prag 1975). M. verknüpft bibl. Texte u. Aussagen durch sprachl. u. sachl. Bezugnahme auf das Montanwesen, wodurch der Predigtzyklus in origineller Weise den frühneuzeitl. Bergbau widerspiegelt. Das nachhaltigste Vermächtnis M.’ bilden seine aus 17 Kanzelreden entstandenen »Lutherhistorien«. Diese auf persönl. Eindrücken beruhende Lebensbeschreibung des Reformators wird dank ihrer anschaul. Darstellungskunst als einmaliges Zeugnis der mittleren dt. Literatur hochgeschätzt. Seit dem Nürnberger Erstdruck von 1566 ist die dokumentarisch aussagekräftige Biografie in über 50 Auflagen sowie Übersetzungen verbreitet. Predigten M.’ dienten in der protestant. Homiletik lange als Vorbild, weil sie glaubwürdige Verkündigung mit volksnaher Beredsamkeit verbinden. Darüber hinaus ge-
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langten sie wegen lebendiger Sprache u. ausdrucksstarken Prosastils zu literar. Rang. Zu M.’ Ansehen als dt. Prosaist trugen auch von ihm allegorisierend einbezogene Exempel, v. a. Fabeln, bei. Diese Vorliebe repräsentiert die siebte Predigt der Lutherhistorien, die ausgiebig Luthers Beschäftigung mit der Aesop-Tradition behandelt u. zgl. auf die von M. selbst (auch in anderen Predigten) praktizierte Fabelverwendung hinweist. Die von M. in gebundener Sprache geschaffenen dt. u. lat. Dichtungen (geistl. Lieder, Spruchgut, Gelegenheitspoesie) sind von bescheidenem Wert u. blieben ohne nennenswerte Nachwirkung. Ausgaben: Historien, v. des ehrwirdigen in Gott seligen thewren Manns Gottes, Doctoris Martini Luthers, anfang, lehr, leben u. sterben [...]. Nürnb. 1566. Internet-Ed.: VD 16 digital. – Schöne geistl. Lieder sampt etl. Sprüchen [...]. Hg. Felix Zimmermann. Nürnb. 1580. – Wackernagel 3, Nr. 1330–1350. – Ausgew. Werke. Hg. G. Loesche, 4 Bde., Prag 1896–1904. – Briefe: Loesche 1895 (s. u., Lit.), Bd. 2, S. 223–371. – Nachträge: Luther-Jb. 8 (1926), S. 197–200. – ARG 24 (1927), S. 302–311; 29 (1932), S. 97–132, 260–284; 30 (1933), S. 37–66, 212–246; 31 (1934), S. 42–60. – Heimat u. Kirche. FS Erich Wehrenfennig. Heidelb. 1963, S. 131–138. – Geist u. Gesch. der Reformation. FS Hanns Rückert. Hg. Heinz Liebing. Bln. 1966, S. 139–154. Literatur: Bibliografien: Loesche 1895, Bd. 2, S. 378–435 (Werkverz.). – Schottenloher 2, Nr. 14 905–14 943; 5, Nr. 48 155–48 160. – Herbert Wolf: Beiträge zur M.-Bibliogr. In: Bohemia 5 (1964), S. 77–107. – VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Georg Loesche: J. M. 2 Bde., Gotha 1895. Nachdr. Nieuwkoop 1971 (Biogr.). – Hans Volz: Die Lutherpredigten des J. M. [...]. Lpz. 1930. – Walter Vogel: Die Bergbauallegorie des J. M. In: Dt. Jb. für Volkskunde 5 (1959), S. 350–360. – H. Wolf: Dt.slav. Begegnung in der Sprache der Reformationszeit. Ihre Widerspiegelung bei J. M. In: Die Welt der Slaven 10 (1965), S. 51–98. – Ders.: Die Sprache des J. M. Philolog. Untersuchungen frühprotestant. Predigten. Köln 1969. – Adalbert Elschenbroich: Die Fabelpredigt des J. M. In: Formen u. Funktionen der Allegorie. Hg. Walter Haug. Stgt. 1979, S. 452–477. – H. Wolf: J. M. In: NDB. – HKJL, Bd. 1, Register; Bd. 2, Sp. 391, 1565 f. u. Register. – Stefan Beyerle: J. M. In: Bautz (umfassendes Lit.Verz.). – Irmtraut Sahmland: Beschreibung u. Bewertung v. Krankheit in der Predigtlit. des 16. u. 17. Jh. am Beispiel der Bergpredigten. In: Heilkunde u. Krankheitserfahrung in der Frühen
Matsubara Neuzeit. Hg. Udo Benzenhöfer u. W. Kühlmann. Tüb. 1992, S. 228–246. – Dietmar Schubert: Die Bibl. der Lateinschule zu St. Joachimsthal. Spiegelbild des Renaissancehumanismus in einer böhm. Bergstadt. In: Stadt u. Lit. im dt. Sprachraum der Frühen Neuzeit. Hg. Klaus Garber. Bd. 2, Tüb. 1998, S. 997–1006. – Warren Alexander Dym: Mineral Fumes and Mining Spirits: Popular Beliefs in the ›Sarepta‹ of J. M. (1504–65). In: Reformation and Renaissance Review 8 (2006), S. 161–185. – Petr Hlavácˇek: St. Joachimsthal, J. M. u. der luth. ›Wallfahrtsort‹ Horní Blatná/Platten (1559). In: Wallfahrt u. Reformation [...]. Hg. Jan Hrdina. Ffm. u. a. 2007, S. 221–234. – Markus Wriedt: Kirchen- u. Schulordnungen. Dokumente des kulturellen Wandels im Zeitalter v. Reformation u. Konfessionalisierung am Beispiel der Kirchen-, Spital- u. Schulordnung des J. M. v. 1551. In: Kommunikation u. Transfer im Christentum der Frühen Neuzeit. Hg. Irene Dingel. Mainz 2007, S. 69–94. Herbert Wolf / Red.
Matsubara, Hisako, * 21.5.1935 Kyoto/Japan. – Erzählerin. M., als Tochter eines Shinto-Priesters in Japan aufgewachsen, studierte Religionswissenschaft in Japan, Theatergeschichte in den USA u. promovierte 1970 an der Ruhr-Universität Bochum. Sie war 1962 nach Deutschland gekommen, wo sie zunächst als Journalistin, dann auch als Buchautorin in dt. Sprache an die Öffentlichkeit trat. Bis 1984 lebte sie wechselweise in Kyoto u. in Köln, danach meist in Kalifornien/USA. Ihre Erfahrung des Aufeinandertreffens östl. u. westl. Kultur u. Geisteshaltung bildet das Grundthema ihrer Werke. Der Roman Abendkranich. Eine Kindheit in Japan (Hbg. 1981) schildert am Beispiel eines zehnjährigen Mädchens in der Familie eines ShintoPriesters den Umbruch japanischer Kultur am Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Roman Die Glückspforte (Hbg. 1980) zeigt, wie eine Japanerin in Deutschland gesellschaftl. Spannungen u. Klischeevorstellungen zum eigenen Vorteil nützt. Die Frauenthematik, bes. die traditionelle Rolle der Frau in Japan, ist ein weiteres zentrales Motiv, z.B. im Roman Brokatrausch (Hbg. 1978), der in acht Sprachen übersetzt wurde. M. zeigt subtile Beherrschung der dt. Sprache. Sie brilliert mit geistreichen Wen-
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dungen u. Pointen. In prägnant beobachteten Momentaufnahmen gelingt es ihr, Kulturspannungen u. Kulturkonflikte aufzuzeigen u. Europäern japanische Kultur zu vermitteln sowie typisch dt. Verhaltensmuster bewusst zu machen. Weitere Werke: Blick aus Mandelaugen. Ostwestl. Miniaturen. Hbg. 1980 (Ess.s). – Weg zu Japan. West-östl. Erfahrungen. Hbg. 1983 (Kurzp.). – Brückenbogen. Mchn./Hbg. 1986 (R.). – Raumschiff Japan. Hbg./Mchn. 1989 (Ess.s). – Karpfentanz. Mchn. 1994 (R.). – Himmelszeichen. Mchn. 1998 (R.). Irmgard Ackermann
Matt, Peter von, * 20.5.1937 Luzern. – Literaturwissenschaftler u. -kritiker, Essayist. M., Sohn eines Buchhändlers, wuchs in Stans (Kanton Nidwalden) auf u. besuchte dort Primarschule u. Gymnasium. Nach der Maturität 1957 studierte er von 1958 bis 1964 Germanistik, Anglistik u. Kunstgeschichte in Zürich, Nottingham u. London. 1964 wurde er mit einer Studie über Grillparzers Bühnenkunst zum Dr. phil. promoviert. Danach unterrichtete er für drei Jahre als Hauptlehrer an der Kantonsschule Luzern. Ab 1967 bekleidete er eine Assistenzstelle bei Emil Staiger an der Universität Zürich u. verfasste während dieser Zeit seine Habilitationsschrift über E. T. A. Hoffmanns Imaginationslehre (Die Augen der Automaten. E. T. A. Hoffmanns Imaginationslehre als Prinzip seiner Erzählkunst. Tüb. 1971). Die Habilitation erfolgte 1970, ein Jahr später die Wahl zum Assistenzprofessor. 1976 wurde M. zum Nachfolger Staigers gewählt; von da an war er, bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2002, Ordinarius für Neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich. Gastprofessuren führten ihn nach Basel u. Bern, 1980 an die Stanford University in Kalifornien. Neben seiner akadem. Lehrtätigkeit publizierte M. zahlreiche literaturkrit. Arbeiten, v. a. in der »Neuen Zürcher Zeitung« u. der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, in der er hin u. wieder auch als Autor der »Frankfurter Anthologie« anzutreffen ist. Daneben ist M. gelegentlich in Radio u. Fernsehen aufgetreten, u. a. 1991 im Literarischen Quartett des ZDF. Heute lebt er
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mit seiner Frau, der Literaturkritikerin Beatrice von Matt-Albrecht, in Dübendorf bei Zürich. Für seine viel gelesenen Bücher u. seine öffentl. Parteinahme für die Literatur erhielt M. zahlreiche Preise u. Auszeichnungen, etwa 1991 den Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, 1994 den Johann-Peter-Hebel-Preis, 1996 den Orden Pour le Mérite, 2000 den Kunstpreis der Stadt Zürich, 2004 den Deutschen Sprachpreis, 2006 den Heinrich MannPreis, zuletzt 2007 den Brüder-Grimm-Preis der Philipps-Universität Marburg. Bekannt wurde M. zunächst durch seine 1972 in Freiburg/Br. veröffentlichten Vorlesungen über Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, die bis heute als ein klass. Text der psychoanalyt. Literaturwissenschaft gelten (Neuaufl. Stgt. 2001). Es folgte 1983 eine Studie über das literar. Porträt (... fertig ist das Angesicht. Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts. Mchn./Wien), in der M. höchste philolog. Genauigkeit mit einer gedankl. Kühnheit paarte, die v. a. in den schönen essayist. Partien des Bandes ihren Ausdruck fand. Das 1989 in München u. Wien erschienene Buch Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur avancierte zu einem Bestseller im Bereich der Literaturwissenschaft. Es beschäftigt sich mit den Konflikten u. Katastrophen, die sich ergeben, sobald die Liebe zweier Menschen – als vorzivilisatorische, prälogische Kraft – in den Raum gesellschaftlicher Normen u. Konventionen eintritt. Das Spektrum der analysierten Texte reicht von Boccaccio bis Nestroy, von Dante bis Horváth. Wie M. sein Thema schrittweise entwickelt u. die zentralen Texte nacherzählt, ist so spannend u. genussreich zu lesen wie ein Roman. Gleiches gilt für seine brillante Studie über Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur (Mchn./Wien 1995). Darin betrachtet er die Familie in der Literatur als einen »Ort des Gerichts« u. erläutert in sieben großen Teilen das riskante, mal befreiende, mal vernichtende Widerspiel der Autoritäten von Vätern, Müttern u. Kindern anhand vieler Beispiele aus der Weltliteratur. Die literaturtheoret. Exkurse, die die Argumentation begleiten u. abstützen, etwa der-
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jenige zum moral. Pakt im 5. Kap., verfügen Matter, Mani, eigentl.: Hans Peter M., sowohl über Lebensnähe als auch sachl. Prä- * 4.8.1936 Herzogenbuchsee, † 24.11. gnanz u. Hellsichtigkeit. M.s letztes großes 1972 (Verkehrsunfall); Grabstätte: Bern, Projekt wurde 2006 mit der Veröffentlichung Bremgartenfriedhof. – Liedersänger, Proseiner Studie über Die Intrige. Theorie und Praxis saist. der Hinterlist (Mchn./Wien) abgeschlossen. M. M. studierte in Bern Jura u. arbeitete dann als entwirft darin ein Modell der Intrige (besteRechtskonsulent der Stadt Bern u. als Lehrhend aus den drei Phasen Planszene, Durchbeauftragter für öffentl. Recht an der dortiführung, Anagnorisis), das er an den wichgen Universität. tigsten Intrigentexten der Weltliteratur, aber Als Gymnasiast sang M. Lieder von George auch an Märchen, indian. Mythologie, Kri- Brassens zur Gitarre. Mitte der 1960er Jahre minal- u. Spionageromanen kenntnisreich begann er, zus. mit anderen berndt. Liederüberprüft u. erweitert. Immer wieder macht sängern (Ruedi Krebs, Bernhard Stirnemann, er dabei das Geschehen auf seinen anthropo- Jacob Stickelberger, Markus Traber, Fritz logischen u. alltagswirkl. Gehalt hin durch- Widmer), als »Berner Troubadours« öffentsichtig. lich aufzutreten. M.s Chansons (Us emene lääre Neben seinen großen Studien veröffent- Gygechaschte. Bern 1969. Warum syt dir so lichte M. zahlreiche Gedichtinterpretationen, truurig? Zürich/Köln 1973, u. aus dem NachAufsätze u. Essays, die zu einem großen Teil lass Einisch nach emene grosse Gewitter. Zürich in Sammelbänden zusammengefasst vorlie- 1992) gewannen dank einer bestechenden gen. Außerdem ist er seit 2003 der Heraus- Synthese von Heiterkeit u. Melancholie, Lageber der Reihe »Kollektion« im Verlag Nagel konismus u. Tiefsinn, gesundem Menschen& Kimche, die es sich zum Ziel gesetzt hat, verstand u. Nonsens eine große u. anhaltende eher vergessene Werke Schweizer Autoren Popularität. Sie wurden in der Schweiz zu einem breiteren Lesepublikum bekannt zu einer Art Volkslieder, von Kindern, Chören, machen (u. a. Adelheid Duvanel, Arnold aber auch von professionellen Sängern wie Kübler, Otto F. Walter). etwa Stephan Eicher oder Polo Hofer nachWeitere Werke: Der Grundriss v. Grillparzers gesungen u. von Komponisten wie Jürg Bühnenkunst. Zürich 1964. – Der Zwiespalt der Wyttenbach neu vertont. Sie bereiteten auch Wortmächtigen. Ess.s zur Lit. Zürich 1991. – Das dem Schweizer Mundart-Rock in Bern den Schicksal der Phantasie. Studien zur dt. Lit. Mchn./ Boden, u. Gerhard Ruiss sang von Reinhard Wien 1994. – Die verdächtige Pracht. Über Dichter Prenn ins Wienerische übertragene M.-Lieu. Gedichte. Mchn./Wien 1998. – Die tintenblauen der. So wie im frühen Chanson Ds Nüni-Tram Eidgenossen. Über die literar. u. polit. Schweiz. die Straßenbahn die Gleise verlässt u. zum Mchn./Wien 2001. – Ästhetik der Hinterlist. Zu Himmel fliegt, geraten M.s Lieder, ausgeTheorie u. Praxis der Hinterlist in der Lit. Mchn. hend von einer Alltäglichkeit, immer wieder 2002. – Öffentl. Verehrung der Luftgeister. Reden zur Lit. Mchn./Wien 2003. – Das Wilde u. die auf Abwege. Meist sind es Grübeleien, die zu Ordnung. Zur dt. Lit. Mchn./Wien 2007. – Der Verwicklungen führen, zu einer imaginierten Entflammte. Über Elias Canetti. Zürich 2007. – Katastrophe angesichts eines Zündhölzchens Wörterleuchten. Kleine Deutungen dt. Gedichte. oder einer umständl. Analyse der »Dialektik« des Sandwichs. Vom Alltäglichen geht auch Mchn./Wien 2009. Literatur: Ingeborg Harms: Wer liebt, hat die Sprache aus, ein unkompliziertes Bernrecht. Der unverdrossene Germanist P. v. M. In: deutsch, das aber in kunstvollem Lakonismus Merkur 49 (1995), H. 8, S. 723–728. – Peter Bichsel: zu intensiver Wirkung gelangt. In den hochEin Leser u. ein großer Erzähler. Laudatio auf P. v. dt. Tagebuchaufzeichnungen (Sudelhefte. ZüM. zur Verleihung des Züricher Kunstpreises. In: rich/Köln 1974. Rumpelbuch. Zürich/Köln Ders.: Das süße Gift der Buchstaben. Reden zur Lit. 1976) wird M.s reicher ReflexionshinterFfm. 2004, S. 90–97. – Heinrich Detering: War- grund sichtbar. Der »Värslischmied« erweist nung vor P. v. M. In: SuF 60 (2008), H. 1, sich hier vollends als intellektueller Frager, S. 131–135. Marco Schüller der nachdenkt über Moral u. Recht, Staats- u.
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Sprachphilosophie. Zwischen den Reflexionen stehen mit leichter Hand entworfene literar. Miniaturen u. vergnügte Sprachspiele. Literatur: Franz Hohler (Hg.): M. M. Ein Porträtband. Zürich/Köln 1977. – Christine Wirz: M. M. Vom ›Värslischmid‹ der ein Poet war. Bern 2002. – Heinrich Mettler: Ursprung, Anstoß/Hemmung, Reflexion. Fichte – Goethe – M. M. In: Präsenz ohne Substanz. Beiträge zur Symbolik des Spiegels. Hg. Paul Michel. Zürich 2003, S. 251–270. – Johannes Künzler: Schreiben vom Schreiben. M. M. im Dialog mit Ludwig Hohl. In: Ludwig Hohl. ›Alles ist Werk‹. Hg. Peter Erismann. Ffm. 2004, S. 227–236. – Film: Mani Matter. ›Warum syt dir so truurig?‹ Ein Film v. Friedrich Kappeler. Zürich 2003. Dominik Müller
Mattheson, Johann, * 28.9.1681 Hamburg, † 17.4.1764 Hamburg. – Komponist u. Musiktheoretiker. Die Hamburger Hauptkirche St. Michaelis bewahrt Epitaph u. Bildnis eines die Künste fördernden, freigebigen Mannes, der den Bau ihrer Orgel mit 44.000 Gulden unterstützt hat. Als Komponist u. Textautor, Diplomat u. Musiker wäre M. kaum ebenso der Erinnerung wert gewesen. Gleichwohl gilt er als bedeutender Musiktheoretiker seiner Zeit. Als Sohn des Steuereinnehmers Johann Mattheson u. seiner Frau Margarethe erhielt M. seine Ausbildung an der Gelehrtenschule des Johanneums u. war Schüler von Brunmüller, Praetorius u. Kerner. Bis 1705 agierte er als Sänger an der Oper, spielte mehrere Instrumente, dirigierte eigene Opern: 1699 Plejades, 1702 Porsenna, 1704 Cleopatra. Im selben Jahr trat er in den Dienst des engl. Gesandten Johann von Wich u. bekleidete fortan polit. Ämter, zuletzt, ab 1744, das eines Legationsrats beim regierenden Herzog von Holstein. Zwischen 1715 u. 1728 übte M. das Amt eines Musikdirektors am Domkapitel aus. Ungeachtet der zahlreichen öffentl. Verpflichtungen verfasste M. eine Reihe musiktheoret. Traktate, die der Oper zu ihrem Rang, der dt. Sprache in ihr zur angemessenen Form u. zu ihrem Recht verhelfen sollten. Gegen Gottsched gerichtet, vertrat M. die Auffassung, dass der Musik der Rang einer Wissenschaft außerhalb des Quadriviums
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zukomme, dass Oper u. Oratorium nicht der Verführung, sondern der Stärkung der Sinne dienen u. moralisch wirken sollten. Ursprung u. Alter der Musik bestimmt M. aus der Schöpfungsgeschichte u. begründet die Ernsthaftigkeit musikal. Tuns aus zahlreichen Bibelstellen, wobei ihm auffällt, »daß in unsrer deutschen Bibel [...] der eigentliche Ausdruck des Singens mit Fleiß, und gleichsam aus, ich weiß nicht, was für Beysorge, so wie das Wort Vernunft, vermieden wird« (Die neueste Untersuchung der Singspiele. Hbg. 1744, S. 42, §81). Kunst müsse über die Wirklichkeit hinausweisen u. ein Ideal wiedergeben (ebd., S. 91 ff.), die Sprache, in der sie dargestellt werde, bis in die Rechtschreibung hinein geordnet u. klar sein (Philologisches Tresespiel, als kleiner Beytrag zur kritischen Geschichte der deutschen Sprache [...]. Hbg. 1752, S. 16). Die Prosodie der Sprache u. der Musik müssen übereinstimmen. M. veröffentlichte mehr als 80 Schriften verschiedenen Inhalts, einige Abhandlungen sind bis heute nur handschriftlich überliefert, unter ihnen Das Buch oder Versuch einer Abhandlung vom Bücherschreiben. Der Bücherschreiber in einigen Mustern abgebildet. Der Nachlass befindet sich in der Staats- u. Universitätsbibliothek Hamburg. Weitere Werke: Der musical. Patriot, welcher seine gründl. Betrachtungen über geist- u. weltl. Harmonien [...] mittheilet [...]. Hbg. 1729. – Grundlage einer Ehren-Pforte, woran der tüchtigsten Capellmeister, Componisten, Musikgelehrten, Tonkünstler, etc. Leben, Werke, Verdienste, etc. erscheinen sollen. Hbg. 1740. Nachdr. Graz 1969. Hg. u. komm. v. H. J. Marx. Hbg. 1982. – Behauptung der himml. Musik aus den Gründen der Vernunft, Kirchenlehre u. hl. Schr.en erwiesen. Hbg. 1747. – Verlangte Ursachen, warum die Worte des 69. Psalms, v. 4, Lavoravi clamans etc., sich zu keiner vielstimmigen Fuge schicken. In: Hamburger Nachrichten 75. Stück (1759), S. 593–596. – Unsägl. Reichtum der Musik, dergleichen wohl keine andere Wiss. aufweisen kann. Ebd. 87. Stück (1760), S. 694–696. – Fröhl. Sterbelied, womit der nunmehro wohlselige Legationsrath Herr J. M. ihm selbst im 83. Jahre seines Alters zu Grabe gesungen. Hbg. 1764. Ausgaben (Auswahl): Das neu-eröffnete Orchestre. Hbg. 1713. Nachdr. Laaber 2007. – Das bestürzte Orchestre. Hbg. 1717. Nachdr. Laaber 2007.
41 – Das forschende Orchestre. Hbg. 1721. Nachdr. Laaber 2007. – Critica musica. 2 Bde., Hbg. 1722–25. Nachdr. Laaber 2003. – Kern melod. Wiss. Hbg. 1737. Nachdr. Hildesh. 1990. – Der vollkommene Capellmeister (1739). Studienausg. im Neusatz des Textes u. der Noten. Hg. Friederike Ramm. Kassel u. a. 2008. – Internet-Ed. mehrerer Werke in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. Literatur: Johannes Moller: Cimbria literata. Bd. 1, Kopenhagen 1744, S. 384. – Hans Schröder: Lexikon der Hamburg. Schriftsteller. Bd. 5, Hbg. 1870, S. 64–80. – Robert Eitner: J. M. In: ADB. – New M.-Studies. Hg. George J. Buerow u. a. Cambridge u. a. 1983 (mit zahlreichen Literaturhinweisen). – Hans Joachim Marx: J. M.s Nachl. Zum Schicksal der Musikslg. der alten Stadtbibl. Hamburg. In: Acta musicologica 55 (1983), S. 108–124. – Karl-Heinz Göttert: Rhetorik u. Musiktheorie im frühen 18. Jh. Ein Beitr. zu J. M. In: Poetica 18 (1986), S. 274–287. – H. J. Marx: J. M. In: NDB. – Werner Braun: Dt. Musiktheorie des 15. bis 17. Jh. 2. Tl. (Gesch. der Musiktheorie, Bd. 8/II), Darmst. 1994, passim. – Alberto Martino: Die ital. Lit. im dt. Sprachraum [...]. Amsterd. u. a. 1994, Register. – H. J. Marx u. Dorothea Schröder: Die Hamburger Gänsemarkt-Oper. Katalog der Textbücher (1678–1748). Laaber 1995, passim. – Wolfgang Hirschmann: Polemik u. Adaption. Zur KircherRezeption in den frühen Schr.en J. M.s. In: Neues musikwiss. Jb. 5 (1996), S. 77–93. – D. Schröder: Zeitgesch. auf der Opernbühne [...]. Gött. 1998, Register. – BBHS, Bd. 6, S. 25–27. – Beiträge zur Musikgesch. Hamburgs vom MA bis in die Neuzeit. Hg. H. J. Marx. Ffm. 2001, passim. – The Cambridge History of Western Music Theory. Hg. Thomas Christensen. Cambridge 2002, Register. – Joachim R. M. Wendt: Materialien zur Gesch. der frühen Hamburger Oper. Tl. I, Aurich 2002, Register. – David Yearsley: The Musical Patriots of the Hamburg Opera: M., Keiser, and Masaniello furioso. In: Patriotism, Cosmopolitanism, and National Culture: Public Culture in Hamburg 1700–1933. Hg. Peter Uwe Hohendahl. Amsterd. 2003, S. 33–53. – Hans-Joachim Hinrichsen u. Klaus Pietschmann: J. M. In: MGG 2. Aufl. (Pers.), Bd. 11 (2004), Sp. 1332–1349 (Lit.). – Esther Morales-Cañadas: Musikal. Resonanz des Galanten Stils in Hamburg. Vergleiche zwischen Lyrik u. Musik. In: Menantes. Ein Dichterleben zwischen Barock u. Aufklärung. Hg. Cornelia Hobohm. Bucha bei Jena 2006, S. 138–153. – Beate Kutschke: J. M.’s Writings on Music and the Ethical Shift Around 1700. In: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 38 (2007), S. 23–38.
Matthias Widman von Kemnat – W. Braun: J. M. oder: Wieviel Aufklärung verträgt die Musik? In: Strukturen der dt. Frühaufklärung 1680–1720. Hg. Hans Erich Bödeker. Gött. 2008, S. 247–261. Heimo Reinitzer / Red.
Matthias Widman von Kemnat, * 13.2. 1429 (?), † 1.4.1476 Heidelberg. – Hofdichter u. Historiograf. M. W. v. K. stammte aus der Oberpfalz u. wurde 1447 an der Universität Heidelberg immatrikuliert. Nach einem Aufenthalt auf der fränk. Plassenburg, wo ihn der ital. Humanist Arriginus in die Studia humanitatis einführte, kehrte er 1457 nach Heidelberg zurück u. wurde um 1460 von Kurfürst Friedrich I. als Hofkaplan aufgenommen. Briefe bezeugen freundschaftl. Beziehungen M. W.s v. K. zu den zeitweilig ebenfalls am Hof wirkenden Humanisten Luder, de Clapis, Hoest u. Wimpfeling. In der Lorscher Klosterbibliothek spürte M. W. v. K. alte Klassikerhandschriften auf; er beschäftigte sich mit wissenschaftlicher Prognostik u. Astrologie. Von seiner eigenen literar. Tätigkeit sind ein Kalendarium u. Gebetbuch für den Kurfürsten, eine astrolog. Sammelhandschrift sowie lat. Gelegenheitspoesien erhalten. Hauptwerk ist die dt. Prosachronik, die M. W. v. K. zwar traditionell als Weltchronik anlegte, in deren Mittelpunkt jedoch die panegyr. Verherrlichung des Kurfürsten steht. Sie diente Michel Beheim als Grundlage für seine Pfälzische Reimchronik u. fand unter Auslassung des universalhistor. Teils handschriftlich bis ins 18. Jh. hinein Verbreitung. Ausgaben: Des M. v. K. Chronik Friedrich I. des Siegreichen. In: Quellen zur Gesch. Friedrichs I. des Siegreichen. Hg. Conrad Hofmann. Mchn. 1862/63. Neudr. Aalen 1969. Bd. 1, S. 1–141; Bd. 2, S. 305–315 (unvollst. Wiedergabe v. Tl. 2). – Karl Hartfelder: Analekten zur Gesch. des Humanismus in Südwestdtschld. In: Vjs. für Kultur u. Litt. der Renaissance 1 (1886), S. 494–499 (G.e). – Wilhelm Wattenbach: Peter Luder [...]. In: Ztschr. für Gesch. des Oberrheins 22 (1869), S. 33–127 (S. 92 ff. Abdr. v. Briefen v. u. an K.). – Franz Fuchs u. Veit Probst: Zur Gesch. des Heidelberger Frühhumanismus: Neue Briefe des M. v. K. (gest. 1476). In: Wolfenbütteler Renaissance-Mitt.en 15 (1991), S. 49–61 u. 93–103.
Matthias Literatur: Birgit Studt u. Franz-Josef Worstbrock: K. In: VL (Lit.). – Bibliotheca Palatina. Ausstellungskat. Hg. Elmar Mittler. Heidelb. 1986 (Textbd.), passim. – B. Studt: Überlieferung u. Interesse. Späte Hss. der Chronik des M. v. K. u. die Geschichtsforsch. der Neuzeit. In: Historiographie am Oberrhein im späten MA u. in der frühen Neuzeit. Hg. Kurt Andermann. Sigmaringen 1988, S. 275–308. – Veit Probst: Petrus Antonius de Clapis. Mannh. 1989, S. 33 ff. – B. Studt: Fürstenhof u. Gesch. Legitimation durch Überlieferung. Köln u. a. 1992. – V. Probst: Zur Chronik des M. v. K. In: Mannheimer Geschichtsblätter N. F. 1 (1994), S. 49–58. – Jan-Dirk Müller (Hg.): Wissen für den Hof. Der spätmittelalterl. Verschriftungsprozess am Beispiel Heidelbergs im 15. Jh. Mchn. 1994 (darin Beitr. v. Ute v. Bloh, Theresia Berg, J.-D. Müller). Martina Backes
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Leben u. Sterben seiner zweiten Frau ist. 1955/56 konnte M. als erster westl. Autor auch das kommunist. China bereisen, worüber er das viel beachtete Buch China auf eigenen Wegen (Hbg. 1957) schrieb. In Die Kehrseite der USA (Reinb. 1964) zeichnete er ein äußerst krit. Amerikabild u. wurde damit zum intellektuellen Vorreiter des Antiamerikanismus der Studentenbewegung. Seit 1950 lebte er im Tessin, zuletzt erblindet; 1970 nahm er sich das Leben. Weitere Werke: Die Entfesselung. Zwei AbHandlungen. Bln. 1921. – Die Partitur der Welt. Bln. 1921 (Ess.s). – Klavier. Bln. 1922 (Kom.). – Die Entdeckung Amerikas Anno 1953 oder Das geordnete Chaos. Hbg. 1953. Literatur: Thomas B. Schumann: Vom Leben habe ich nun nichts mehr zu erwarten. In: Ders.: Asphaltlit. Bln. 1983, S. 145–148.
Matthias, Leo, seit 1936 L. L. (Leon LawThomas B. Schumann / Red. rence), auch: L. M. Lawrence, * 16.1.1893 Berlin, † 8.9.1970 Ascona/Tessin (Freitod). – Verfasser von expressionistischen Matthies, Frank-Wolf, * 4.10.1951 Berlin/ Texten u. soziologisch-politischen Reise- DDR. – Lyriker u. Prosaschriftsteller. büchern. M. studierte Jura, Soziologie u. Philosophie in München, Berlin, Genf u. Paris u. promovierte in Greifswald. Sein »groteskes Spiel« Der jüngste Tag (Lpz.) erschien 1914 in Kurt Wolffs berühmter gleichnamiger expressionist. Reihe. Zur Politisierung des Expressionismus in Form des Aktivismus trug er u. a. durch Mitarbeit an den Zeitschriften »Die Aktion«, »Die Erhebung« u. »Das Ziel« wesentlich bei. Seine zahlreichen Auslandsaufenthalte in den 1920er Jahren (vorübergehend war er sogar mexikan. Staatsbeamter) verarbeitete M. zu krit. Reisereportagen: Genie und Wahnsinn in Rußland. Geistige Elemente des Aufbaus und Gefahrenelemente des Zusammenbruchs (Bln. 1921), Ausflug nach Mexiko (Bln. 1926), Griff in den Orient. Eine Reise und etwas mehr (Lpz. 1931). Schon im März 1933 ging M. ins Exil; es wurde zu einer 18-jährigen Odyssee mit Stationen in Mexiko, Kolumbien, Guatemala, Venezuela u. den USA u. mit verschiedenen soziolog. u. pädagog. Lehrtätigkeiten. Von dieser Zeit handelt M.’ schönstes, persönlichstes Buch, Es hing an einem Faden (Reinb. 1970), das zgl. eine ergreifende Elegie auf
Früh geriet M., der nach dem Abitur in häufig wechselnden Berufen arbeitete, in Konflikt mit der Staatsmacht (1973 Untersuchungshaft wegen »Beleidigung und Herabwürdigung eines Repräsentanten der Parteiund Staatsführung der DDR«). Dementsprechend wurden seine schriftstellerischen Anfänge, in denen M. z.T. sehr deutl. Gesellschaftskritik übte, neben wenigen positiven Signalen (Lyrik-Preis der FDJ 1974, einzelne Veröffentlichungen in »NDL«, »Sinn und Form«) überwiegend von massiver Repression begleitet; Publikationsmöglichkeiten bestanden kaum. Als die Gedicht- u. Prosasammlung Morgen (Reinb. 1979) u. der Prosaband Unbewohnter Raum mit Möbeln (Reinb. 1980) in Westdeutschland erschienen, führte dies zu erneuter Haft u. weiteren Repressalien, in deren Folge M. 1981 mit seiner Familie nach Westberlin ausreiste. In der Bundesrepublik wurde M. – vor u. nach der Ausreise – positiv aufgenommen (1983/84 Villa-Massimo-Stipendium) u. als Hauptvertreter einer unangepassten DDR-Gegenöffentlichkeit wahrgenommen. Seit 1994 lebt M. in Friedrichsthal bei Oranienburg; 1998 war er Arnim-Stipendiat im Schloss Wiepersdorf.
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Weitere Werke: Lyrik: Für Patricia im Winter. M. kann als Wegbereiter der sog. »Prenzlauer-Berg-Szene« der 1980er Jahre gelten. Er Reinb. 1981. – Stadt. Hofheim 1986. – Poet’s Corimaginiert diesen Ostberliner Stadtbezirk als ner 10. Bln. 1992. – Du bist der Ort vor dem Ende von randständigen Existenzen bewohnten der Welt. Bln. 1992. – Adressen aus den Heften für Patricia. Gedichte 1981–89. Bln. 1993. – Von der Ort der künstlerischen Dissidenz u. schafft so Erotik des Zeiten vernichten. Bln. 2002. – Prosa: Die einen Gegenentwurf zum verordneten ge- Sehn-Sucht. Ein Reisetgb. in Briefen 1983/84. sellschaftl. Optimismus. Anders als die spä- Amsterd. 1986. – Gelächter oder die 120 Seiten aus teren Szenevertreter ist er nicht an einer Abprall. Hofheim 1987. – Inventar der Irrtümer. strukturalist. Sprachkritik interessiert, son- Bln. 1988. – Ein Lügner muss ein gutes Gedächtnis dern behält das direkt politisch intervenie- haben. Bln. 1998. – Auf der Suche nach dem verrende Subjekt u. einen realist. Anspruch bei: logenen Blei oder Ein Junkie an König Ubus Hof. »mir kommt es auf / die dinge an: die / Bln. 2001. Literatur: Franz Fühmann: Schneewittchen. wirklichen & wie sie / wirklich sind« (Fünf Ein paar Gedanken zu zwei jungen Dichtern. In: Fingerübungen über die Angst, in: Morgen). Mit SuF 28 (1976), S. 1259–1264. – Gerrit-Jan Bediesen Mitteln unternimmt er nach 1981 eine rendse: Grenz-Fallstudien. Ess.s zum Topos poet. Rekonstruktion seiner nun unzugängl. Prenzlauer Berg in der DDR-Lit. Bln. 1999. – GerOstberliner Umgebung, deren Verlust er als hard Bolaender: F. M. In: KLG. – Petra Ernst: F. M. maßgeblich für die eigene Sichtweise begreift In: LGL. Jan Behrs (Exil. Briefw. mit W. Lansburgh. Köln 1983). Das in dieser Hinsicht wichtigste Werk ist das Matthießen, Wilhelm, * 8.8.1891 GeTagebuch Fortunes (Ffm. 1985), das durch münd/Rheinland, † 26.11.1966 Bogen/ Aufspaltung der Erzählinstanz in scheinbar Bayern. – Romancier, Märchendichter, unverbundene Einzelstimmen sowie die Hörspielautor, Essayist. Einbeziehung von Texten anderer Autoren, Zeitungsartikeln u. Ä. den Realismus des M. studierte Philosophie in Berlin u. Bonn Frühwerks zu einer hochkomplexen Monta- (Promotion 1915). Nach kurzer Soldatenzeit getechnik weiterentwickelt. Das postmoder- war er freier Schriftsteller. In seinem umne Spiel mit Zitaten, Herausgeberfiktionen u. fangreichen Werk, darunter viele Erzählun(pseudo-)dokumentarischen Elementen prägt gen für Jugendliche, erweist er sich als auch M.’ spätere Prosa, etwa die im Vergleich Nachfahre der dt. Romantik. Die Brüder zum Tagebuch weniger hermet. Erzählungen Grimm, E. T. A. Hoffmann, Eichendorff, in Die Labyrinthe des Glücks (Hbg. 1990) u. Brentano, aber auch der Humor Jean Pauls prägten ihn. Schon in Regiwissa (Lpz. 1920) Omerus Volkmund (Bln. 1994). erwartet sich M. vom Märchen die Verklärung M. blieb der Ostberliner Subkultur vor u. der prosaischen Alltäglichkeit zu einer ideelnach dem Mauerfall kritisch verbunden u. leren Wirklichkeit. Seine fantasievollen, oft veröffentlichte in deren Hausverlag Galrev symbolisch-grotesken, nordische Mythologie seine nach dem Tagebuch einzige größere mit christl. Glauben verbindenden ErzähProsaarbeit, den Roman Aeneis (Bln. 1997). lungen künden von einer Einheit der Natur, Auch in der Zusammenarbeit mit bildenden alte Götter wie Pan treten auf. Zu seinen Künstlern nehmen seine Werke Bezug auf schönsten Märchen zählen Das alte Haus subkulturelle Praktiken: Es entstehen Bücher (Freib. i. Br. 1923 u. ö. Zuletzt 2006), Die mit Originalgrafiken etwa von Cornelia Katzenburg (Freib. i. Br. 1928. 41991) u. Das Schleime (Franz Lövenhertz. Bln. 1987) oder Mondschiff (Köln 1949). Das Totenbuch (Köln Lutz Leibner (Manifeste des DaDaeRismus. Bln. 1926) enthält märchenhaft-geheimnisvolle 1998), deren geringe Auflagen eine Tendenz Geschichten in musikal. Prosa. zur Exklusivierung u. zum Rückzug aus der Weitere Werke: James C. W. Plum Kabeuschen Öffentlichkeit ankündigen. Diese findet ihre oder der große Meister. Lpz. 1920. – Der große Pan. Fortsetzung in der seit 2004 im Selbstverlag Lpz. 1920. – Der verlorene Hund oder das Monderscheinenden Reihe Geisterbahn bzw. Der kalb. Lpz. 1921. – Das Gespensterschloß. Lpz. Ubuist in der Geisterbahn (seit 2007). 1922. – Die Sündflut. Bln. 1923. – Die Schatzgrä-
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ber. Ludwigsburg 1923. – Das Rote U. Eine Jungensgesch. Köln 1931. Zuletzt Mchn. 2008. Literatur: Martin Hollender: ›Das Rote U‹ v. W. M. In: Aus dem Antiquariat 6 (2008), H. 2, S. 87–92. Franz Rottensteiner / Red.
Matthisson, Friedrich von (geadelt 1809), * 23.1.1761 Hohendodeleben bei Magdeburg, † 12.3.1831 Wörlitz; Grabstätte: ebd., Schoch’sche Familiengruft. – Lehrer, Hofmeister, Gesellschafter; Lyriker, Reiseschriftsteller. M., einer der zahllosen dt. Dichter aus protestant. Pfarrhaus, stammt aus einer gegen Ende des 17. Jh. von Schweden nach Westpreußen eingewanderten Pfarrersfamilie; von seinem Vater Johann Friedrich Matthisson, einem begabten Stegreifdichter, erbte er das Talent zum Versemachen. Bald nach dessen frühem Tod (er starb wenige Wochen vor M.s Geburt) u. infolge der völligen Mittellosigkeit seiner Mutter Johanna Friederike (geb. Calezki) kam er zunächst zu einem Onkel, einem Diakon mit literar. Neigungen, wo sich v. a. eine nur zehn Jahre ältere, schwärmerisch verehrte Tante seiner annahm. Da der Onkel schon 1771 starb, zogen sie zum Großvater nach Krakau bei Magdeburg, wo M. v. a. in den alten Sprachen unterrichtet wurde. 1773 starb erst die Tante, dann auch der Großvater, u. der dergestalt mehrfach verwaiste M. kam als Freischüler in das strenge u. als miserabel beleumdete Pädagogium zu Klosterberge. Hatte er schon beim Onkel in Groß-Salza erste Eindrücke der Werke von Klopstock, Wieland, Lessing, Rabener, Zachariä u. Geßner gewonnen u. auch etwas von den »Bremer Beiträgern« (den Literaturbriefen von Nicolai, Mendelssohn, Lessing) gehört, so las u. lebte er in Klosterberge Lavaters Geheimes Tagebuch von einem Beobachter seiner selbst (1771–73), dem er während dieser ganzen Zeit verfallen blieb u. das ihm manche Freude verdarb – seine damals entstandenen Gedichte demonstrieren tiefe Schwermut. In der Bibliothek des Stifts las er wahllos, was er in die Finger bekommen konnte, u. nicht wenige Trivialitäten waren unter den überwiegend tränenseligen Werken der seinerzeit
regierenden Empfindsamkeit: Johann Martin Millers Siegwart (1777), Johann Timotheus Hermes’ Sophiens Reise von Memmel nach Sachsen (1769–73); aber auch Goethes Werther (1774), Nicolais »Allgemeine Deutsche Bibliothek«, Wielands »Teutscher Merkur« u. andere Zeitschriften sowie v. a. die Dichtungen Höltys. Ähnlich wahllos verschlang er ausländische Literatur, zeitgenössische wie klassische. 1778–1781 studierte M. Theologie u. Philosophie (dabei v. a. Philologie u. Literatur) in Halle, wo seine Verehrung für Klopstock sich bis zur Schwärmerei steigerte; erste Frucht seiner von Vorbildern selten ganz unabhängigen Muse waren die Lieder (Dessau 1781). Alsbald folgte eine schon zu Schulzeiten erwünschte Anstellung als Lehrer an Basedows Reformschule, dem Philanthropin in Dessau. Nach Auflösung der Anstalt 1783 verdingte sich M. bei wechselnden Herren als Hauslehrer u. Reisehofmeister. So ging er etwa mit dem jungen livländ. Grafen Sievers auf eine Reise durch Norddeutschland, wo er den verehrten Klopstock, Johann Heinrich Voß u. Matthias Claudius nun auch persönlich kennenlernte. Hernach hielt er sich zwei Jahre in Nyon am Genfer See bei seinem Freund Karl Viktor von Bonstetten auf. 1793 verheiratete er sich in Zürich mit Louise von Glafey (geb. Schwedt, 21.5.1770), Hoffräulein bei seiner späteren Arbeitgeberin u. Gönnerin, der Fürstin Luise von Anhalt-Dessau. Auf der Suche nach einer etwas unabhängigeren Stellung unternahm er 1794 eine Reise durch Deutschland (ohne seine Frau, von der er schon 1797 wieder geschieden wurde; der 1795 geborene Sohn starb 1799). Die Fahrt, die (wie seine späteren auch) zwischen Bern u. Kopenhagen keine literar. Zelebrität ausließ, scheint immerhin erfolgreich gewesen zu sein; jedenfalls trat M. 1795 als Gesellschafter, Vorleser u. vor allem als Reisebegleiter (1799 u. 1800–1802 in die Schweiz u. nach Österreich) bei der Dessauer Fürstin an – ein Amt, das er bis zu ihrem Tod 1811 innehatte. Die Reise mit ihr nach Italien 1795/96 zeitigte poet. Reisebilder in Distichen, die ein wenig individuelle Gestalt u. Natürlichkeit aufweisen (was M.s Werke sonst vermissen lassen). 1810 heiratete er Luise Schoch († 1824), trat
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nach dem Tod der Fürstin in die Dienste des sie durchaus epigonal an Haller u. Klopstock Herzogs Friedrich II. von Württemberg anknüpfen u. von der klassizist. Rezeption in (1812–1828 als Bibliothekar u. Theaterin- der Nachfolge Schillers getragen wurden (der tendant in Stuttgart), den er 1802 auf einer 1794 in der »Allgemeinen Litteraturzeitung« Schweiz-Reise kennengelernt u. ihm gleich viel zu kritisieren, aber auch zu loben fand), ein Auftragsgedicht zur Feier der bevorste- lange so beliebt gewesen sein; vermutlich aus henden Kurfürstenwürde verfertigt hatte. demselben Grunde aber sind sie heute naheSeinen Lebensabend verbrachte er ab 1829 in zu vollkommen vergessen. Schon die Dichter der Befreiungskriege u. die Romantiker des Wörlitz bei Dessau. Die Suche nach einer festen Anstellung in Schlegelkreises lehnten M.s Gedichte ab, die der Nähe des Hofes also war frühzeitig er- des Vormärzes äußerten sich nicht einmal folgreich verlaufen, u. während andere mehr zu ihnen. Höchstens die Vertonungen Dichter seiner Generation u. Herkunft durch mehrerer seiner Gedichte durch Beethoven u. Neigung oder Umstände zu Jakobinern oder Schubert halten ihn noch ein bisschen lepatriot. Freiheitskriegsdichtern wurden, war bendig. Zu M.s besten Leistungen zählt neben den M. allzeit ein treuer Diener u. Gesellschafter seiner Dessauischen Fürstin u. seines Würt- informativen u. anekdotenreichen Reisetembergischen Herzogs. Kein »Schreckens- briefen, die quantitativ den größten Teil seimann« war er mithin, sondern im Gegenteil nes Werks ausmachen, v. a. die Lyrische Anein stiller, loyaler Untertan, auch in der thologie (20 Bde., Zürich 1803–07), die sicheWeltflüchtigkeit seiner Gedichte. Eben dies res Geschmacksurteil bekundet u. durch aber garantierte in einer restaurativen Epo- weite Verbreitung eine Reihe älterer Texte che, die zu erleben alt genug er eben noch (freilich durch M.s Eingriffe hie u. da verwurde, einen überraschend anhaltenden Er- schlimmbessert) in Erinnerung hielt. Teile von M.s Nachlass befinden sich im folg: Bis zur Mitte des 19. Jh. erlebten seine Deutschen Literaturarchiv Marbach bzw. in Gedichte 15 rechtmäßige Auflagen. M. war in vieler Hinsicht ein freundl. Mit- der Anhaltischen Landesbücherei Dessau. telmaß, unambitioniert, alles andere als Ausgaben: Schr.en. 8 Bde., Zürich 1825–29 streitsüchtig, sondern vielmehr fügsam u. (Bd. 9 enthält eine Biogr. M.s v. Heinrich Döring). gefällig. Seine Neigung, auf Reisen wie ein Mikrofiche-Ausg. Wildberg 1989/90. – Literar. Autogrammjäger die Träger großer Namen Nachl. Hg. Friedrich Rudolf Schoch. 4 Bde., Bln. zu besuchen (allein sein Stammbuch überlie- 1832. Mikrofiche-Ausg. Wildberg 1989/90. – Gefert über 330), die offenbar durchweg seine dichte. Nebst dem Tgb. 1777–1800. Hg. Gottfried Bölsing. 2 Bde., Stgt. 1913. – Erich Wege, Doris u. Person als sehr angenehm empfanden, zeigt, Peter Walser-Wilhelm u. Christine Holliger (Hg.): dass er bei einwandfreiem Charakter doch Das Stammbuch F. v. M.s. 2 Bde., Gött. 2007. allzu sehr auf andere fixiert war, um jemals Literatur: Gottfried Bölsing: M.s Lyrik. Bln. schneisenschlagende Leistungen zu bringen. 1911. – Alois Heers: Das Leben F. v. M.s. Lpz. 1913. Als Metriker war er halbwegs sicher, obUlrich Joost gleich nicht selten von kindlichem, »leierigem« Rhythmus; seine Geschicklichkeit in der Nachahmung antiker Stilelemente grenzt Mattsperger, Melchior, * 1627 Augsburg, ans Parodistische. Eine verspätete Empfind† 1698 Augsburg. – Kaufmann, Gelegensamkeit mit antiken Kulturelementen heitsdichter u. protestantischer Erbaudurchsetzt ruft neuerlich Liebe, Freundschaft ungsschriftsteller. u. bes. Natur als poet. Ideale auf wie zur Zeit Ewald von Kleists u. Gleims. Derlei Tendenz Über M.s Herkunft u. Bildungsweg ist nichts kam offenbar den Bedürfnissen von M.s bekannt. Vermutlich hat er nach dem SchulZeitgenossen entgegen u. machte ihn kurz- besuch (vielleicht im Lyzeum bei St. Anna) zeitig zum Modedichter. Deswegen v. a. eine kaufmänn. Lehre begonnen. 1687 gedürften seine Gedichte, die geschmacksge- langte er in den Augsburger Rat u. wurde im schichtlich von einiger Bedeutung sind, weil selben Jahr auch Bürgermeister.
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M.s bedeutendstes literar. Werk ist eine Matusche, Alfred, * 8.10.1909 Leipzig, u. d. T. Geistliche Hertzens-Einbildungen (Augsb. † 31.7.1973 Karl-Marx-Stadt (heute: 1685. Nachdr. Hildesh. 1965. In 2 Tln. Chemnitz); Grabstätte: Berlin, DoroAugsb. 1688–1692. Internet-Ed.: BSB Mün- theenstädtischer Friedhof. – Dramatiker. chen) herausgegebene Sammlung mit insg. 500 »biblischen Figur-Sprüchen«. Auf 83 M. kam 1927 nach Abbruch eines TechnikKupfertafeln pro Band hat M. jeweils drei (u. studiums zur Literatur. Früh schon in enger einmal vier) thematisch oder motivisch zu- Verbindung zur Arbeiterbewegung, war er sammenpassende Bibelzitate geschnitten u. nach 1933 illegal tätig (Flugblätter, Schriften) dabei bis zu acht Wörter durch entsprechende u. verlor durch Verfolgung in der NS-Zeit sein bildl. Darstellungen in der Formtradition des gesamtes Manuskriptmaterial (Erzählprosa Bilderrätsels ersetzt; überwiegend werden u. Lyrik). Nach 1945 entstanden FunkarbeiKonkreta dargestellt, aber durch Personifi- ten; bald schrieb M. jedoch ausschließlich für kationen werden auch Abstrakta wie Liebe u. die Bühne. In vielen seiner Stücke widmet er Glaube (vgl. Tl. 1, Nr. 221) verbildlicht. Mit sich dem Thema Faschismusbilanz u. -übereinem zusätzl. Reimpaar paraphrasiert M. die windung (Die Dorfstraße. Bln./DDR 1955. Bibelzitate, deren originaler Wortlaut über Nacktes Gras. Bln./DDR 1959. Das Lied meines ein entsprechendes Register erschlossen wer- Weges. Bln./DDR 1969). M. galt als Außenseiter u. eigenwilliges Talent. Unbeeinflusst den kann. M.s »Hieroglyphen-Bibel« wurde ein gro- von der Auseinandersetzung um Brechts ßer Erfolg, da sie in ihrer Tendenz zu verin- Theaterkonzept, bekannte er sich zu einer nerlichender Wortfrömmigkeit dem Pietis- Katharsis-Strategie u. schrieb eindringliche, mus entgegenkam u. der Vorliebe der Zeit für gelegentlich das Symbolische streifende Texemblemat. Denken entsprach. Das Werk te. Seine Helden – auch in den Stücken Van wurde in Augsburg mehrfach nachgedruckt. Gogh (Bln./DDR 1971) u. Kap der Unruhe Einzelne Darstellungen wurden nachgesto- (Urauff. 1970) – sind unbedingte, schöpferichen u. (wie auch die in Einzelbilder zer- sche u. oft einzelgängerische Charaktere. Die schnittene Sammlung) als Merkbildchen Texte waren durch ihren starken moralischen wohl auch über konfessionelle Grenzen hin- Impetus eine große Herausforderung für das weg in Umlauf gebracht. Über die Kleine Bil- DDR-Theater. Erst kurz vor seinem Tod erder-Bibel des Thomas von Wiering (zuerst hielt M. den Lessing-Preis. 1687), die sich deutlich an M.s »biblischen Weitere Werke: Der Regenwettermann. In: Figur-Sprüchen« orientiert, wirkte das Werk Sozialist. Dramatik. Bln./DDR 1968 (Nachw. v. Karl-Heinz Schmidt). – Das Kammerspiel. Urauff. schließlich in ganz Europa nach. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Kosch. – K. Knoke: Zur Gesch. der Bibl. FigurSpruch-Bücher. In: Pädagog. Bl. für Lehrer u. Lehrerbildungsanstalten (1898), S. 531–549, 606–619. – Adolf Spamer: Das kleine Andachtsbild [...]. Mchn. 1930, S. 168 f. – Friedrich Braun: Zur Gesch. des Pietismus in Augsburg. 1. ›Biblische Figursprüche‹ des M. M. In: Ztschr. für bayr. Kirchengesch. 14 (1939), S. 224–241. – Eva-Maria Schenk: Das Bilderrätsel. Hildesh./New York 1973, S. 46 f. – HKJL, Bd. 2, Sp. 171–190, 1567 f. u. Register. Dietmar Peil / Red.
als Fernsehsp. 1963, als Bühnenstück 1968. – Welche, von den Frauen? Die Nacht der Linden. Prognose. An beiden Ufern. Stücke. Bln./DDR 1979. Ausgabe: Dramen. Hg. Gottfried Fischborn. Mainz 2009. Literatur: Christoph Trilse: A. M. In: Lit. der DDR. Hg. Hans Jürgen Geerdts u. a. Bd. 2, Bln./ DDR 1979. – Sigfrid Hoefert: Zur Wirkung Gerhart Hauptmanns im Hörsp. Unter besonderer Berücksichtigung einer funkdramat. Arbeit v. A. M. In: Gerhart Hauptmann, ›Nu jaja! – Nu nee nee!‹ (Ansorge in Gerhart Hauptmanns ›De Waber/Die Weber‹). Hg. Rüdiger Bernhardt. Köln 1998, S. 61–71. – Jürgen Serke: A. M., ›Hungern nach Himmel‹. In: Ders: Zu Hause im Exil. Dichter, die eigenmächtig blieben in der DDR. Mchn./Zürich 1998, S. 69–107. – Gottfried Fischborn (Hg.): Das
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47 Lied seines Weges. FS zum 100. Geburtstag v. A. M. Mainz 2009. Gunnar Müller-Waldeck / Red.
Mauersberger, Johann Andreas d.Ä., * 28.8.1649 Treschen bei Breslau, † 20.10. 1693 Panthenau bei Brieg. – Pastor; Epigrammatiker, Gelegenheitsdichter, Erbauungsschriftsteller. M. ging in Oels zur Schule u. dann in das Maria-Magdalenen-Gymnasium in Breslau. 1667 bis 1669 studierte er in Wittenberg, wo er am 27. April 1669 den Magistertitel erhielt. Mehrere Jahre lebte M. als Hauslehrer in Brieg. 1677 wurde er Pfarrer in Panthenau. 1676 betrauerte M. »mit Thränen-benetzter Feder« den Tod Georg Wilhelms, des letzten Piastenherzogs. Aus demselben Anlass verfasste er eine Rede auß dem Grabe, deß [...] Herren George Wilhelms (Brieg 1676. Internet-Ed.: HAB Wolfenbüttel). Lesenswert ist sein über 2000 Alexandriner zählendes Lobgedicht Breßlau, die weit-berühmte Stadt, das Haupt Schlesiens (Brieg 1679). Weitere Werke: Dissertatio historica de Vratislavia Silesiae Metropoli. Präses: Johann Lehmann. Autor u. Resp.: J. A. M. Wittenb. 1669. InternetEd.: ULB Sachsen-Anhalt. – Vier hundert bibl. Grab-Schrifften [...]. Brieg 1674. – Brieg, die Fürstl. Residentz-Stadt. Brieg 1675. – Unsterblichkeit deß [...] Ertz-Hauses Oesterreich [...]. Brieg 1675. – Andächtiger Hertzens-Wecker [...]. Wittenb. 1684. – Geistl. Rauch-Werck. Brieg 1686. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Siegismund Justus Ehrhardt: Presbyterologie des evang. Schlesiens. Bd. 2, Liegnitz 1782, S. 416 f. – Heiduk/Neumeister, S. 66, 204, 408. – Ewa Pietrzak: ›Ich singe diese Stadt/ zu mehren Jhren Ruhm‹. Stadt u. städt. Lit. in J. A. M.s Lobgedicht auf Breslau (1679). In: Stadt u. Lit. im dt. Sprachraum der Frühen Neuzeit. Hg. Klaus Garber. Bd. 2, Tüb. 1998, S. 899–922. – Lothar Noack: Christian Hoffmann v. Hoffmannswaldau (1616–79). Leben u. Werk. Tüb. 1999, S. 483–486. Marian Szyrocki † / Red.
Mauersberger, Uta, * 15.5.1952 Bernburg. – Lyrikerin, Kinderbuchautorin. Die Nichte der Dirigenten Erhard u. Rudolf Mauersberger studierte nach dem Abitur in Halle 1970–1974 Bibliothekswissenschaften in Ostberlin u. absolvierte anschließend ein
einjähriges Sonderstudium am Literaturinstitut Johannes R. Becher. Sie lebte im sorb. Dorf Litschen bei Hoyerswerda u. in Cottbus, seit 1984 in Leipzig als freie Schriftstellerin. Gefördert durch Singeklub- u. Poetenbewegung der Jugendorganisation FDJ, veröffentlichte M. zuerst in der Debütantenreihe Auswahl ’70 u. Auswahl ’80 (Bln./DDR). Der ersten eigenständigen Veröffentlichung, Poesiealbum 153 (Bln./DDR 1980), attestierte Peter Gosse, Lehrer am Literaturinstitut u. Lyriker, »die Dinge« lieferten sich M. nur »an den Rändern«, sozusagen wider Willen, aus. Schon der Titel des Bandes von 1983, Balladen. Lieder. Gedichte (Bln./DDR. 1983), versprach zunehmenden Formwillen. Obwohl M. naturnahes Leben in den Vers zu bannen sucht (u. a. im »Litscher Kalender« u. durch Nachdichtung sorb. Volkslieder), reizt sie die urbane Lebensweise (»[...] der Lärm verdunkelter Straßen / hat mich schon immer erregt«). Das Interesse am Sorbischen gründet aber weniger in eigenem verinnerlichtem Erleben (noch wirken hier Impulse Bobrowskis fort), vielmehr versöhnt M. Slawen u. Deutsche, also Sorben u. Sachsen in Porträtgedichten – angeregt durch Wohnortwahl u. Ehe mit dem Komponisten Jan Nagel. Bautzen, der berüchtigte Ort, schrumpft so zur Metapher dt.-slaw. Beziehungen. Seit den 1970er Jahren wurde M. wegen ihrer Kontakte zu Wolf Biermann, Siegmar Faust u. a. vom MfS observiert. Im Nov. 1982 rekrutierte man sie als IM »Karin Takt«. 1986 brach sie die Zusammenarbeit mit dem MfS ab. Weitere Werke (Erscheinungsort, wenn nicht anders angegeben, Bln./DDR): Rattenschwanz. 1989 (L.). – Kinderbücher: Gesch. vom Plumpser u. zwei andere. 1984. 41989. – Kleine Hexe Annabell. 1988. – Karolins Nachtrunde. Bln. 1991. 2000. – Vorfreude, schönste Freude. Eine Weihnachtsgesch. Lpz./Weimar 1991. Literatur: Dorotea v. Törne: Lebensintensität – sinnl. Nähe zu Menschen u. Dingen in den Stadtgedichten U. M.s. In: DDR-Lit. im Gespräch ’83. Bln./Weimar 1984, S. 313–319. – Joachim Walther: Sicherungsbereich Lit. Schriftsteller u. Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Bln. 1996. Jürgen Grambow † / Thomas Kramer
Maurer
Maurer, Georg, * 11.3.1907 Sächsisch-Regen (Reghin/Rumänien), † 4.8.1971 Potsdam; Grabstätte: Leipzig, Südfriedhof. – Lyriker, Essayist, Übersetzer. Aus einer siebenbürgisch-sächs. Lehrerfamilie stammend, wuchs M. in der traditionsbewussten Atmosphäre der dt. Minderheit am Rande Siebenbürgens, seit 1911 in Bukarest auf, wo er die Schulen der dt. evang. Gemeinde besuchte. Noch als Abiturient veröffentlichte er 1926 erste Gedichte in der deutschsprachigen Kronstädter Zeitschrift »Klingsor«; im selben Jahr begann er ein Studium der Kunstgeschichte, Germanistik u. Philosophie in Leipzig (im Winter 1926/27 in Berlin), das er jedoch Anfang 1934 abbrach. Unbeeindruckt von der faschist. Machtübernahme hielt er sich mit Literatur- u. Kunstkritiken für die »Neue Leipziger Zeitung« über Wasser u. schrieb weltfern-melancholische, von christl. Erlösungswünschen u. Rilkes »Weltinnenraum«-Beschwörung inspirierte Gedichte (Passionssonette. Zuerst in: Klingsor, H. 6, 1933. Wiederabgedr. in: Ewige Stimmen. Gedichte. Lpz. [1936]). 1940 wurde M. von der Wehrmacht eingezogen u. als Dolmetscher bei Bukarest eingesetzt, wo er 1944 in rumänische, dann in sowjet. Gefangenschaft geriet. Ende 1945 kehrte er nach Leipzig zurück u. versuchte, seine unfreiwillige Konfrontation mit Geschichte u. Politik nicht nur in Essays für Presse u. Rundfunk (in: Werke in zwei Bänden. Halle 1987), sondern auch in Gedichten gedanklich zu verarbeiten. Ohne in platte Bekenntnis- u. Agitationsverse zu verfallen, öffnete er sich von den Gesängen der Zeit (Lpz. 1948) bis zu den 42 Sonetten (Bln./ DDR 1953) den philosoph. Grundaussagen des Marxismus u. den kulturpolit. Zielen der DDR; er entwickelte die für ihn typische Form des Weltanschauungs-Gedichts, das in einem neoklass. Sprachgestus bewusst an Hölderlins hymn. Ton, Schillers rhetorisches Pathos u. Rilkes metaphys. Bildlichkeit anknüpfte. Dabei wich seine Klage über den Riss zwischen Gott u. Mensch einem sinnenfrohen Lob der Natur, die er in eigenwilliger Berufung auf Marx als empirisch fassl. Zeugnis für die universale »Kommunikation« einer Menschheit deutete, die in der
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Entfaltung ihrer Triebkräfte »Liebe« u. »Arbeit« zur friedl. Erfüllung ihrer Bestimmung gelange. 1955 wurde M. an das Literaturinstitut Johannes R. Becher berufen, wo er bis 1970, seit 1961 als Professor, die Lyrik-Klasse leitete u. sich als Mentor wichtiger DDR-Lyriker der mittleren Generation wie Volker Braun, Czechowski, Endler, Mickel, Rainer u. Sarah Kirsch verdient machte. Daneben übersetzte M. rumän. Literatur (u. a. Die Armen halten Gericht. Rumänische Erzählungen aus 100 Jahren. Bln./DDR 1953; Werke von Jon Luca Caragiale, Eugen Jebeleanu, Vladimir Colin) u. publizierte fast ein Dutzend, meist in Zyklen komponierte Gedichtbände, die sich trotz themat. Vielfalt – Reiseeindrücke aus der DDR (Poetische Reise. Bln./DDR 1959), Porträts literar. Vorbilder (Gestalten der Liebe. Halle 1964), Nachdichtungen u. a. von Shakespeare, Schiller oder Brecht (Variationen. Lpz. 1964. Veränderte Ausg. Halle 1965) – in Form u. Aussage im Wesentlichen gleichblieben. Grenzfälle bilden einerseits die heiter-spielerischen Verse des Dreistrophenkalenders (entstanden 1950/51. Halle 1961), andererseits der auch sprachlich authent. Zyklus Das Unsere (entstanden 1961/ 62. In: Gestalten der Liebe). Erst in seinen letzten, seit 1967 entstandenen u. postum in dem Band Erfahrene Welt (Halle 1973) erschienenen Gedichten begann M. an der harmon. Durchsetzung sozialistischer Humanität zu zweifeln u. beschwor, meist in myth. Chiffren, die Gefährdung des Erreichten durch Gewalt u. Krieg. M. unternahm Reisen in die Bundesrepublik Deutschland, die Niederlande, die Volksrepublik China u. in seine rumän. Heimat. Er war Mitgl. des Schriftstellerverbands u. (seit 1965) der Akademie der Künste der DDR. Neben Huchel, Bobrowski u. Fühmann war er einer der repräsentativen Lyriker der »Kriegsgeneration« in der DDR (Wolfgang Emmerich), doch zgl. blieb er mit seinem traditionsverpflichteten Ausdruckswillen, seiner eigenwilligen Konzeption der Naturlyrik (theoretisch begründet u. a. in dem Essay Die Natur der Lyrik von Brockes bis Schiller. Entstanden 1962. In: Werke, Bd. 2) u. seiner bildungsgesättigten Ideen-Metaphorik ein
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der bürgerl. Kultur verpflichteter Außenseiter. Literatur: G. M. 1907–71. Nur wenn die Bewegung aufhört, ist Starre u. Langeweile. Lpz. 1992. – Bleib ich, was ich bin? Teufelswort Gotteswort. Zum Werk des Dichters G. M. Hg. Gerhard Wolf. Bln. 1998. – Wolfgang Emmerich: M. In: KLG. Martin Rector
Maurina, Maurin¸a, Zenta, * 15.12.1897 Lejasciems/Lettland, † 25.4.1978 Basel; Grabstätte: Bad Krozingen. – Essayistin, Verfasserin literaturkritischer Werke, Übersetzerin.
1951. – Denn das Wagnis ist schön. Memmingen 1953. 101990 (Autobiogr.). – Im Zuge des Lebens. Memmingen 1956 (R.). – Die eisernen Riegel zerbrechen. Memmingen 1957 (Autobiogr.). – Auf der Schwelle zweier Welten. Memmingen 1959. 32003 (Ess.). – Aufgabe des Dichters in unserer Zeit. Mchn. 1965. – Jahre der Befreiung. Schwed. Tagebücher. Memmingen 1965. – Briefe aus dem Exil 1945–51. Memmingen 1980. Literatur: Maximilian Dietrich (Hg.): Buch der Freundschaft: Z. M. zum 70. Geburtstag. Memmingen 1967. – Z. M. zu Ehren. Texte zu ihrem 80. Geburtstag. Memmingen 1978. – M. Dietrich (Hg.): Z. M.: Bilder aus ihrem Leben. Memmingen 1983. – Bernhard Adamy: Z. M. – über Schopenhauer u. Hans Zint. Ein Beitr. zur Schopenhauer-Rezeption. In: Schopenhauer-Jb. 71 (1990), S. 169–182. – Ingrı¯ da Sokolova: Z. M. un vin¸as mı¯ l¸ ie, tuvie ...: Biogra¯fija fotogra¯fija¯s. Rı¯ ga 1997. – Z. M. 15.12.1897–25.4.1978. Gedenkschr. zum 100. Geburtstag. Memmingen 1997. – Ausma Cimdin¸a (Hg.): Eiropa, Latvija-kulturu dialogs: Zentai Maurinai-100. Rı¯ ga 1998. – Irene Mellis: Wege der Freundschaft. 32 Jahre mit Z. M. Memmingen 1999. – I. Sokolova: Z. M. Pielu¯gta¯ un pelta¯. Rı¯ ga 2000. – Irena Swiatlowska: Der Sieg des Geistes über die Materie. Zum Leben u. Schaffen v. Z. M. In: Selbstfindung – Selbstkonfrontation. Frauenbilder in gesellschaftl. Umbrüchen. Hg. Marion George u. a. Dettelbach 2002, S. 349–359. – A. Cimdin¸a u. L. Kalinka: Z. M. Eiropas tautu kultu¯ru dialoga¯. Rı¯ ga 2007. Zoja Pavlowskis / Red.
M., Tochter eines Arztes u. einer Pianistin, wuchs dreisprachig auf (Lettisch, Deutsch, Russisch). Seit ihrem sechsten Lebensjahr war sie, an den Rollstuhl gefesselt, häufig in schlechter gesundheitl. Verfassung. 1938 erhielt sie als erste Frau an der Universität Riga den Doktortitel (summa cum laude in Baltischer Philologie). M. war Mitbegründerin einer lett. Volksuniversität u. eine der Mitarbeiterinnen an einem vollständigen dt.-lett. Wörterbuch. Ihre öffentl. Vorlesungen in Riga zogen ein großes Publikum an. Vor dem Einmarsch der Sowjetarmee 1944 floh sie zunächst nach Deutschland, schließlich nach Schweden, wo sie ab 1946 als Gastprofessorin an der Universität Uppsala lehrte. Seit 1951 unternahm sie zahlreiche Vorlesungsreisen Mauritius, Mauricius, Moritz, Georg (d.Ä.), durch die Bundesrepublik u. die Schweiz. * 13.12.1539 Nürnberg, † 30.12.1610 1965 übersiedelte sie nach Bad Krozingen. Nürnberg. – Schuldramatiker. M. erhielt zahlreiche Ehrungen. Als brillante Essayistin u. Kommentatorin europ. M. studierte ab 1558 in Wittenberg u. wirkte Kultur wie auch als außergewöhnl. Mensch eine Zeit lang an der philosoph. Fakultät, wurde sie von vielen hoch geschätzt u. ver- bevor er 1573 als Nachfolger Thomas Brunehrt. Stilistisch war sie von Seneca, Montai- ners Rektor der Lateinschule in Steyr/Obergne u. Pascal beeinflusst, moralisch von österreich wurde. 1599 im Zuge der RestauDostojewskij wie auch vom lett. Volkslied, rationspolitik Rudolfs II. von dort vertrieben, das Nähe zu Natur u. zu Realität im Sinne zog er 1600 in seine Geburtsstadt, wo er bis einer Arbeitsethik betont. Ihre Interessen zum Tode Rektor der Spitalschule war. Newaren vielseitig u. ihre Kenntnisse unge- ben wenigen frühen lat. Gedichten u. allfälwöhnlich weitreichend. Nach 1945 schrieb liger Kasuallyrik stehen v. a. M.’ SchuldraM. ihre Bücher vorwiegend in Deutsch; vieles men, meist zeittypisch alttestamentl. Inhalts, wurde ins Lettische u. Schwedische übersetzt. allerdings in dt. Sprache, die er bereits in Auch als Mitarbeiterin lettischer, deutscher u. seiner Zeit in Steyr verfasste u. von denen schwed. Zeitschriften war sie tätig. einige 1606/07 gedruckt erschienen (Lpz.). Weitere Werke: Mosaik des Herzens. Mem- Stoffliche Parallelen, wohl z.T. auch Abhänmingen 1947 (Ess.). – Die weite Fahrt. Memmingen gigkeiten bestehen zu V. Volz (Comoedia von /
Mauritius von Nattenhausen
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David vnd Goliath, aufgeführt vor 1600), Ru- moedia v. Josaphat, aufgeführt nach 1595. Lpz. dolf Gwalther (Comoedia von Nabal, aufgeführt 1607. – Comoedia v. dem frommen Ezechia. Lpz. 1586) u. Thomas Naogeorg (Comoedia von 1607. Literatur: Leichpredigt in: Obitum Clarissimi, Haman. Lpz. 1607), gar zu Bernhard von Clairvaux (Comoedia vom jämmerlichen Fall vnd Doctissimi & Humanissimi Viri, Dn. M. Georgii frölichen Wiederbringung des Menschlichen Ge- Mauricii Noribergensis [...]. Nürnb. 1610. – Weitere Werke: Wilhelm Scherer: G. M. In: ADB. – Edmund schlechts. Lpz. 1606). Allerdings ist M.’ eigener Haller: Thomas Brunner (Pegäus) u. G. M. d.Ä., Anteil an den Stücken nicht geringzuschät- zwei Schuldramatiker aus Steyrs protestant. Verzen. Wenn M. in seine Comoedia von Graf gangenheit. In: Heimatgaue 4 (1923), Sp. 262aWalther von Salutz und Grisolden (aufgeführt 270b. – Theodor Wotschke: Aus Wittenberger KirSteyr 1582, Lpz. 1606) von Hans Sachs (Ge- chenbüchern. In: ARG 29 (1932), S. 169–223. – dultig und gehorsam marggräfin Griselda, 1546) u. Robert Stumpfl: Das alte Schultheater in Steyr im von der anonymen Augsburger Grysel insg. Zeitalter der Reformation u. Gegenreformation. etwa 1000 Verse übernimmt, ist dies doch nur Ein Beitr. zur Lit.- u. Theatergesch. Österr.s. Linz ein gutes Drittel des Textumfangs seiner 1933, bes. S. 15–29. – Albert Sturm: Theatergesch. Oberösterr.s im 16. u. 17. Jh. Graz/Wien/Köln 1964, Grisoldis, die insg. 2850 Verse umfasst. In S. 58–68. – Wolfram Washof: Die Bibel auf der seinen intertextuellen Anleihen macht sich Bühne. Exempelfiguren u. protestant. Theologie M. die Errungenschaften des volkstüml. im lat. u. dt. Bibeldrama der Reformationszeit. deutschsprachigen Theaters zu eigen, führt Münster 2007. sie aber eigenständig fort. Die Forschung Jost Eickmeyer / Achim Aurnhammer moniert zu sehr die Übereinstimmungen mit den Vorlagen, ohne den humanistisch-volks- Mauritius von Nattenhausen, Nattentüml. Kompromiss u. die Modernisierungs- husanus, bürgerlich: Johann Christoph prinzipien in M.’ Schuldramen hinreichend Schmid, * 1652 Nattenhausen bei Memzu würdigen. So verbessert er zum einen die mingen, † 12.11.1715 Meran. – KapuziStimmigkeit der Handlung, setzt die Dialoge nerprediger. zur Charakterisierung ein u. psychologisiert die Figuren, etwa die Grisoldis, durch Mo- M. trat am 14.9.1674 in den Kapuzinerorden nologe. Darüber hinaus verbindet M. Bibel- ein, gehörte wie Athanasius von Dillingen u. paraphrasen mit ebenso zeitgemäßen wie Heribert von Salurn zur tirolischen Provinz u. funktionalen Teufelsfiguren, lebendigen versah dort 26 Jahre angesehene Kanzeln, die Zwischenspielen u. – v. a. in den Prologen – längste Zeit die des Klosters St. Ulrich und Reflexionen auf seine gegenwärtige Situation Afra in Augsburg. Je zwei, insg. 3000 Seiten in konfessioneller oder pädagog. Hinsicht umfassende Zyklen von Sonn- u. Feiertags(Comoedia von dem Schulwesen, aufgeführt predigten brachte er u. d. T. Homo simplex et rectus, oder der alte redliche Teutsche Michel (1. Jg. 1578). 1701. 41718. 2. Jg. Ausgb. 1711. M.’ Sohn Georg (d.J.) aus erster Ehe mit Augsb. 3 1715) zum Druck. Er spielte damit, wie übApollonia, Tochter des Astronomen Caspar rigens auch auf Titelkupfern, auf eine SymCruciger, übertrug die dt. Grisoldis seines Vaters für die Universitätsbühne in Altorf bolfigur der Zeit gegen Überfremdung dt. wortgetreu in lat. Prosa (1621) – ein Beweis Sprache, Literatur u. Lebensformen an, die dafür, wie dauerhaft die Kluft zwischen lat. seit dem Dreißigjährigen Krieg von MoralisHumanismus u. volkssprachlicher Popular- ten wie Moscherosch u. Lauremberg als »Alamode-Wesen« angeprangert wurde. M. kultur fortwirkte. wollte die Bewegung für die geistl. Lehre Weitere Werke: Carmen heroicum de natura et genutzt wissen u. widmete seine Predigten officiis angelorum. Wittenb. 1565. – Comoedia v. Graf Walther v. Salutz u. Grisolden (nach H. Sachs), »Allen und jeden der Alten teutschen Einfalt aufgeführt Steyr 1582. Lpz. 1606. – Comoedia v. und Redlichkeit Liebhabern zum Trost, und den Weysen aus dem Morgenlande. Lpz. 1606. – dann allen eifrigen Seelen-Hirten und PrediComoedia v. allerley Standen, aufgeführt 1595. gern [...] zum Beyhilf [...]«. Im Anhang zum Lpz. 1606. Internet-Ed. in: VD 16 digital. – Co- ersten Jahrgang finden sich Kirchweihpre-
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digten u. am Ende des zweiten Festivale Neun Predigen von denen frembden Sünden (Augsb. 1712). Seine »guten moralia« hat M. oft mit »anmuthigen Historien«, auch Fabeln u. Schwanken der Zuhörerschaft schmackhaft gemacht. Bemerkenswert sind M.’ bildhaftdrast. Wendungen, wenn er auf Alltagsprobleme wie Ehestand, Kinderzucht oder Berufsleben einging. In der Ordensliteratur ist er zuweilen mit Abraham a Sancta Clara verglichen worden, wiewohl man dessen Neigung zum Wortspiel bei M. nicht findet. Weiteres Werk: Neundte Predigt gehalten v. [...] P. M. Nattenhusano [...]. In: Iubilaeum vindelico-eucharisticum, oder glücklich u. herrlich vollbrachtes Jubel-Fest [...]. Mchn. 1699. Ausgabe: Textausw. in: Bayer. Bibl. Bd. 2, S. 667–669, 1272. Literatur: Bibliografie: Kat. gedr. deutschsprachiger kath. Predigtslg.en. Hg. Werner Welzig. Bd. 1, Wien 1984, S. 249–253; Bd. 2, Wien 1987, S. 708. – Weitere Titel: Elfriede Moser-Rath: Predigtmärlein der Barockzeit. Bln. 1964, S. 306–320. – Robert Pichl: Zur Dokumentation der deutschsprachigen kath. Predigtlit. vom späten 16. bis zum frühen 19. Jh. In: Jb. für Volkskunde 1980, S. 166–193. – E. Moser-Rath: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen [...]. Stgt. 1991, Register. – Dies.: Kleine Schr.en zur populären Lit. des Barock. Hg. Ulrich Marzolph u. a. Gött. 1994, Register. – Theorien zu Fabel, Parabel u. Gleichnis. Hg. Reinhard Dithmar. Ludwigsfelde 2000. Elfriede Moser-Rath † / Red.
Maus, Isaak, * 8.(?)9.1748 Badenheim bei Kreuznach, † 31.12.1833 Badenheim bei Kreuznach; Grabstätte: ebd., Dorffriedhof. – Bauer u. Lyriker. M., siebtes u. letztes Kind wohlhabender Bauern, musste nach dem Tod des Vaters den elterl. Hof übernehmen u. bewirtschaftete ihn bis ins hohe Alter eigenhändig. Er scheint nie weit über Badenheim hinausgekommen zu sein – sein Tor zur (gebildeten) Welt waren Korrespondenz, Literatur u. Besucher. Den Zeitgenossen war M. Beweis dafür, dass man intellektuelle u. musische Interessen in jedem Stand entfalten u. dabei glücklich sein könne. Als »Naturdichter« (M. hatte, angeregt durch Gesangbuchlektüre, selbst zu dichten begonnen, bevor er durch Johann
Nikolaus Götz regelrecht geschult wurde) beteiligte er sich am geselligen Dichten der Gebildeten u. unterhielt einen ausgebreiteten poet. Briefwechsel. Seine rd. 310 lyr. Gedichte u. Versepisteln sind fast vollständig in drei Gedichtbänden (Gedichte und Briefe. Mainz 1786. Poetische Briefe. Mainz 1819. Lyrische Gedichte. Mainz 1821) enthalten, deren hohe Subskribentenzahl von dem Interesse zeugt, das der »Bauersmann in Badenheim« (wie er sich stets nannte) fand. M.’ Gedichte halten dem Vergleich mit der lyr. Durchschnittsproduktion der Zeit stand; die besseren ragen durch Natürlichkeit u. Witz sogar daraus hervor. Dabei gelang es M. durch Tüchtigkeit in seinem Beruf (Angebote zu Studium u. Verwaltungskarriere lehnte er ab) u. eine gewinnende Persönlichkeit, im Dorf sozial integriert zu bleiben u. Anerkennung zu finden. So stand er, als 1792 frz. Revolutionstruppen die Rheinpfalz besetzten, zunächst an der Spitze derjenigen Badenheimer, welche die Chance, mit den feudalist. Verhältnissen zu brechen, nutzten. Bei der Rückkehr des Ancien régime hatte er dafür zu büßen. In dieser Zeit schrieb er Versuch einer Apologie der Deutschen Bürger und Landleute, welche [...] den Freiheitseid geleistet haben (Ffm. 1794); auch werden ihm die brisanten Flugschriften Ein überrheiner Bauersmann an seinen Churfürsten (Mainz 1792) u. Gedanken eines pfälzischen Bauers über die gegenwärtigen kriegerischen Zeitläufte (Mainz 1793) zugeschrieben. Von 1809 bis 1825 war er Maire bzw. Bürgermeister von Badenheim u. 1818 bis 1825 Mitgl. des Rheinhessischen Provinzialrates. Weitere Werke: Etwas über Ackerbau u. Landwirthschaft. Ffm. 1788. – Leben u. Nachl. Hg. Heinrich Sander. 2 Bde., Mainz 1845. – ›Der Pflüger hat den Dichterspleen ...‹. Gedichte [...]. Ausgew. u. eingel. v. Reinhart Siegert. Alzey 1985. – Briefe des Bauerndichters I. M. an seinen Sohn Wilhelm. Hg. Heidrun Maus. Bad Kreuznach 1998. Literatur: Klaus Monath: I. M. Bad Kreuznach 1979. – Reinhart Siegert: I. M. [...]. Mit Personalbibliogr. In: IASL 10 (1985), S. 23–93. – Ders.: I.M.-Generalregister. Rheinfelden 1986. – Richard Auernheimer u. R. Siegert (Hg.): I. M. als Bauer,
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Familienvater, Bürgermeister u. Dichter in seinem Heimatort Badenheim. Alzey 1998.
phantast. Land‹. Das Österreichbild in den literar. Werken J. M.s. Diss. Wien 2008.
Reinhart Siegert / Red.
Christa Veigl / Red.
Mauthe, Jörg, * 11.5.1924 Wien, † 29.1. Mauthner, Fritz, * 22.11.1849 Horitz/ 1986 Wien; Grabstätte: Mollenburg bei Böhmen, † 29.6.1923 Konstanz; GrabWeiten/Niederösterreich. – Erzähler u. stätte: Meersburg/Bodensee. – Literat, Publizist. Philosoph. M. war promovierter Kunsthistoriker u. beruflich für Presse, Rundfunk u. Fernsehen engagiert. 1950–1955 leitete er die Wortabteilung des Radiosenders der US-Besatzungsmacht, »Rot-Weiß-Rot«, für den er gemeinsam mit Peter Weiser u. (anfangs) Ingeborg Bachmann die Serie Familie Florian (Wien 1990) schrieb. Beim ORF war M. u. a. Chefdramaturg u. Programmplaner (1969–1975). Ab 1978 setzte er sich als Stadtrat ohne Portefeuille in der Wiener Kommunalpolitik ein. M.s größter Erfolg als Erzähler wurde der Roman Die große Hitze oder Die Errettung Österreichs durch den Legationsrat Dr. Tuzzi (Wien 1974. Neuaufl. 1994), der Einblick in Funktionsweise u. Aktionsradius österr. Beamtentums vermittelt. Sein letztes Buch, Demnächst oder Der Stein des Sisyphos (Wien 1986), ist eine autobiogr. Schilderung der letzten Lebensmonate, die u. a. »vermächtnishafte« Stellungnahmen zu Fragen der Tages- u. Zukunftspolitik enthält. Weitere Werke: Wiener Knigge. Wien 1956. Neuaufl. 2007 (P.). – Nachdenkbuch für Österreicher, insbes. für Austrophile, Austromasochisten, Austrophobe u. a. Austriaken. Wien 1975 (P.). – Die Vielgeliebte. Wien 1979 (R.). – Die Bürger v. Schmeggs. Tgb. eines Ortsunkundigen. Wien 1989 (erstmals 1955 als Fortsetzungsroman in den Salzburger Nachrichten). Literatur: Peter Bochskanl u. a.: J. M. Sein Leben auf 33 Ebenen. Erinnerungen u. Visionen. Wien 1994 (Aufsatzslg.). – Edith J. Baumann: Der doppelte Spiegel. J. M.s ›Die große Hitze‹ u. die ›Vielgeliebte‹. Zwei literar. Utopien. Wien 1995. – Joanna Jablkowska: Was bitte schön ist Österr.? Witz u. Sendung bei J. M. In: Die habsburg. Landschaften in der österr. Lit. Hg. Stefan H. Kaszyn´ski u. Slawomir Piontek. Poznan´ 1995, S. 293–305. – Robert Kauer: J. M., der ›wiener. Protestant‹. In: Protestantismus u. Lit. Hg. Michael Bünker u. Karl W. Schwarz. Wien 2007, S. 609–633. – Markus Kóth: ›Aber es handelt sich eben um ein /
Der Sohn eines dt.-jüd. Webereibesitzers wuchs, wie er in seinen Erinnerungen (Mchn. 1918) beklagte, ohne Muttersprache u. Religion auf. Als Jude in einem zweisprachigen Land musste er »die Leichen dreier Sprachen« – Deutsch, Tschechisch, Hebräisch – erlernen, worin er später die Wurzel seiner sprachkrit. Haltung sah. Nach dem Besuch der Mittelschule in Prag u. dem Teilabschluss seines Jurastudiums nahm er eine Stelle in einer Kanzlei an, die er jedoch nach dem Tod seines Vaters aufgab, um sich ausschließlich der Schriftstellerei zu widmen. 1876–1905 schrieb er in Berlin Feuilletons u. Theaterkritiken für das »Berliner Tageblatt«, dessen Redaktion er von 1895 an leitete. Neben zahlreichen Parodien, deren Sammlung Nach berühmten Mustern (Stgt. 1878) ihn bekannt machte, verfasste er eine Reihe von Novellen u. Romanen, die politisch-soziale Themen der Zeit kritisch beleuchten oder histor. Personen (Xanthippe. Dresden 1884. Hypatia. Stgt. 1892) in nicht-historisierender Weise porträtieren. Bereits in Berlin begann M. an seinem radikal-skept. Projekt einer Sprachkritik zu arbeiten. Seit 1893 war er mit der Niederschrift seiner Beiträge zu einer Kritik der Sprache (3 Bde., Stgt. 1901/02) beschäftigt. 1905 zog er sich aus der Öffentlichkeit, die sein philosoph. Werk in ihn nicht befriedigender Weise aufnahm, ins private Gelehrtenleben zurück, zuerst nach Freiburg/Br. u. 1909 schließlich nach Meersburg/Bodensee. Die wichtigsten Werke dieser letzten Schaffensperiode sind das Wörterbuch der Philosophie (2 Bde., Mchn. 1910/11), in welchem M. die Methode seiner Sprachkritik auf die Begriffe der Philosophie anwandte u. an den in seinen Beiträgen ungelösten Problemen weiterarbeitete. Schließlich vollendete er das vierbändige Werk Der Atheismus und seine Ge-
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schichte im Abendland (Stgt. 1920–23. Ffm. 1989), in dem er die Geschichte der Freidenkerei seit dem MA darstellte. Von den literar. Arbeiten ist Der letzte Tod des Gautama Buddha (Mchn. 1917) zu nennen, wo M.s Weg zur »gottlosen Mystik« u. zum Schweigen als Konsequenz seiner Haltung dargestellt ist. M. ist heute v. a. durch seine Sprachkritik bekannt, während sein literar. Werk vergessen ist. Seine Sprachtheorie ist geprägt von tiefer Skepsis gegenüber jegl. Möglichkeit, die Wirklichkeit objektiv zu erfassen. Denn die Sinne, die M. Zufallsinne nennt, geben uns die Wirklichkeit nur gemäß subjektiven Bedürfnissen u. nicht ihrem Wesen nach zu erkennen. Darin zeigt sich M. sowohl von Gedanken Nietzsches beeinflusst als auch von der antimetaphys. Lehre von den Sinnesempfindungen bei Ernst Mach, dessen Prager Vorlesung M. hörte u. mit dem er in Briefwechsel stand. Sprache u. Denken, die M. gleichsetzte, vermögen die Sinneserfahrungen nicht zu transzendieren, da die Wörter einerseits nur Erkennungszeichen für die Empfindungen u. andererseits metaphorischvieldeutig sind, sodass das Resultat des sprachl. Zugriffs auf die Wirklichkeit immer nur ein so oder so gestaltetes Weltbild ohne Möglichkeit eines objektiven Korrektivs ist. In diesem Denken drückt sich freilich eine Aporie aus, deren Lösung eher in myst. Versenkung in die Wirklichkeit besteht als in M.s enorm gelehrter Anstrengung einer Kritik – von seinen Beiträgen über das Wörterbuch bis zu den nachgelassenen Drei Bildern der Welt (Hg. Monty Jacobs. Erlangen 1925) –, mit der er die Sprache als ein kosequent irreführendes Zeichensystem darstellen wollte. M. behandelte zu diesem Zweck das Verhältnis von Wahrnehmung, Denken, Sprache u. Wirklichkeit unter einer Vielfalt von Perspektiven, wobei ihm allerdings in den Beiträgen keine einheitlich-systemat. Darstellung gelang, was die Lektüre dieses Werks sehr erschwert. Ob M. auf die »Besten seiner Zeit« tief gewirkt hat, wie Ludwig Marcuse bemerkte, ist schwer zu beweisen. Explizit zu M. bekannten sich Gustav Landauer, Christian Morgenstern, Gustav Sack u. Julius Bab. Darüber hinaus ist ein Einfluss der M.’schen Sprachkritik auf Hugo von Hofmannsthal u. die
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Jung-Wiener Literatur anzunehmen (Walter Eschenbacher), selbst wenn hier Ernst Mach direktere Wirkung ausübte. Ludwig Wittgensteins Bemerkung im Tractatus, alle Philosophie müsse Sprachkritik sein, zeigt, dass Wittgenstein, trotz seiner ausdrückl. Distanzierung von M., wesentl. Motive seines Denkens teilte. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich Oswald Wiener u., durch ihn angeregt, die Wiener Gruppe mit M. auseinandergesetzt, was dessen Einfluss auf die österr. Gegenwartsliteratur im Allgemeinen erklären mag. Auch in der Philosophie hat seine Sprachkritik zu einer neuerl. Bewertung geführt: »Fritz Mauthner ist der ›Erfinder‹ der modernen Sprachkritik; und er ist der analytische Philosoph vor der Analytischen Philosophie« (Elisabeth Leinfellner). Weitere Werke: Kleiner Krieg: Krit. Aufsätze. Lpz. 1879. – Vom armen Franischko: Kleine Abenteuer eines Kesselflickers. Bern/Lpz. 1880 (E.). – Die Sonntage der Baronin. Zürich 1881 (N.n). – Der neue Ahasver: R. aus Jung-Berlin. Dresden/Lpz. 1882. – Dilettantenspiegel. Travestie nach Horaz. Dresden/Lpz. 1884. – Credo. Bln. 1886 (ges. Aufsätze). – Der letzte Deutsche v. Blatna: E. aus Böhmen. Dresden/Lpz. 1887. – Von Keller zu Zola. Bln. 1887 (Aufs.). – Schmock oder die literar. Karriere der Gegenwart. Bln. 1888 (Satire). – Der Pegasus: eine tragikom. Geschichte. Dresden/Lpz. 1889. – Glück im Spiel. Dresden/Lpz. 1891 (E.). – Lügenohr: Fabeln u. Gedichte in Prosa. Stgt. 1892. – Der Geisterseher. Bln. 1894 (R.). – Kraft. 2 Bde., Dresden/Lpz. 1894 (R.). – Aus dem Märchenbuch der Wahrheit: Fabeln u. Gedichte in Prosa. Stgt. 1896. – Die bunte Reihe. Paris/Lpz./Mchn. 1896 (R.). – Die böhm. Handschrift. Paris/Lpz./Mchn. 1897 (R.). – Der steinerne Riese: Eine fast wahre Gesch. Dresden/Lpz. 1897. – Der wilde Jockey u. anderes. Paris/ Lpz./Mchn. 1897 (E.en). – Aristoteles. Bln. 1904 (Ess.). – Spinoza. Bln. 1906 (Ess.). – Totengespräche. Bln. 1906 (Satire). – Die Sprache. Ffm. 1906 (Aufs.). – Gespräche im Himmel u. andere Ketzereien. Mchn./Lpz. 1914 (Ess.). – Ausgew. Schr.en. 6 Bde., Stgt. 1919. – Muttersprache u. Vaterland. Lpz. 1920. – Gottlose Mystik. Hg. Hedwig Mauthner. Dresden 1925. – Sprache u. Leben: Ausgew. Texte aus dem philosoph. Werk. Hg. Gershon Weiler. Salzb./Wien 1986. Literatur: M. Krieg: F. M.s Kritik der Sprache: Eine Revolution der Philosophie. Mchn. 1914. – W. Eisen: F. M.s Kritik der Sprache. Wien 1929. – M. Lederer: Der Sprachkritiker F. M. In: Dt. Rund-
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schau, Bd. 80, H. 2, S. 1278–1280. – Rudolf Haller: Sprachkritik u. Philosophie: Wittgenstein u. M. In: Sprachthematik in der österr. Lit. des 20. Jh. Wien 1974, S. 41–56. – Joachim Kühn: Gescheiterte Sprachkritik: F. M.s Leben u. Werk. Bln./New York 1975. – Walter Eschenbacher: F. M. u. die dt. Lit. um 1900: Eine Untersuchung zur Sprachkrise der Jahrhundertwende. Ffm. 1977. – Lars Gustafsson: Sprache u. Lüge: Drei sprachphilosoph. Extremisten: F. Nietzsche, A.B. Johnson, F. M. Mchn. 1980. – Katherine Arens: Funcionalism and Fin de Siècle: F. M.’s Critique of Language. New York/Bern/Ffm. 1984. – Linda Ben-Zvi: F. M. for Company. In: Journal of Beckett Studies 9 (1984), S. 65–88. – Helmut Eisendle: F. M. In: Österr. Porträts: Leben u. Werk bedeutender Persönlichkeiten v. M. Theresia bis I. Bachmann. Salzb. 1985, S. 659–671. – A. Hillach: Sprache, das hypertrophe Gesellschaftsspiel: über F. M. In: Die Horen, Bd. 31, Nr. 142, 1986, S. 24–40. – Elisabeth Leinfellner: Sprachkritik u. Atheismus bei F. M. In: Von Bolzano zu Wittgenstein: Zur Tradition der österr. Philosophie. Hg. János K. Nyíri. Wien 1986, S. 173–182. – Gerhard Fuchs: F. M.s Sprachkritik: Aspekte ihrer literar. Rezeption in der österr. Gegenwartslit. In: MAL 23 (1990), H. 1, S. 1–21. – Elizabeth Bredeck: Metaphors of Knowledge: Language and Thought in M.s Critique. Detroit 1992. – Martin Kurzreiter: Sprachkritik als Ideologiekritik bei F. M. Bern 1993. – F. M. Das Werk eines krit. Denkers. Hg. E. Leinfellner u. Hubert Schleichert. Wien/Köln/Weimar 1995. – Bettina Ullmann: F. M.s Kunst- u. Kulturvorstellungen: zwischen Traditionalität u. Modernität. Ffm. u. a. 2000. – F. M. – Sprache, Lit., Kritik: Festakt u. Symposion zu seinem 150. Geburtstag. Hg. Helmut Henne u. Christine Kaiser. Tüb. 2000. – K. Arens: Empire in Decline: F. M.s Critique of Wilhelminian Germany. New York u. a. 2001. – Brückenschlag zwischen den Disziplinen: F. M. als Schriftsteller, Kritiker u. Kulturtheoretiker. Hg. E. Leinfellner u. Jörg Thunecke. Wuppertal 2004. – Christine M. Kaiser: F. M.: Journalist, Philosoph u. Schriftsteller. Bln. 2006. Walter Ruprechter
Mautz, Kurt Adolf, * 1.6.1911 Montignylès-Metz/Lothringen, † 18.11.2000 Wiesbaden. – Lyriker, Erzähler u. Literaturwissenschaftler. Der Postbeamtensohn M studierte von 1930 bis 1936 Germanistik, Philosophie, Soziologie u. Geschichte in Frankfurt/M. u. Gießen. Mit einem Forschungsauftrag der DFG war er in den späten 1930er Jahren beschäftigt, be-
vor er 1941 in Konflikt mit den NS-Behörden geriet u. in den Krieg eingezogen wurde. Nach der Kriegsgefangenschaft u. kürzeren Lehraufträgen an der PH Frankfurt unterrichtete M. 1950–1972 als Gymnasiallehrer in Mainz, mit zeitweiligen Lehraufträgen für dt. Literatur an der Frankfurter Universität. Der Adorno-Schüler M. veröffentlichte nach seiner Dissertation über Stirner zunächst wiss. Arbeiten über Georg Heym u. den Expressionismus überhaupt sowie zu Heinrich Leo, Ranke u. Stifter. Der Lyrik wandte sich M. verstärkt erst nach seinem Ausscheiden aus dem Schuldienst zu, errang aber bald mit seinen experimentierfreudigen Bild- u. Anagrammgedichten (z.B. »germanisten«: »nistenmager [...] nistgermane [...] stangenreim [...] geistermann«) eine wichtige Position innerhalb der Konkreten Poesie. Die erzählerische Prosa setzt mit dem psychogrammartigen Text Passiver Widerstand (Düsseld. 1982) ein. Schwierige Passage (Düsseld. 1992) ist ein literar. Capriccio über das noch unbeschriebene Manuskriptblatt eines Autors. Furore machte der Schlüsselroman Der Urfreund (Paderb. 1996), der kaum verdeckt die Verwandlung des Kommilitonen u. später renommierten Philologen Wilhelm Emrich vom linken Revoluzzer zum linientreuen Nazi u. nach 1945 zum scheinheiligen Demokraten beschreibt. Weitere Werke: Die Philosophie Max Stirners im Gegensatz zum Hegelschen Idealismus. Bln. 1936. – Georg Heym. Mythologie u. Gesellsch. im Expressionismus. Ffm. 1961. – Schreibmaschinenpoesie. Mchn. 1977 (L.). – Augentest. permutationen, typogramme, collagen. Düsseld. 1979 (L.). – Gute Nacht, Adam Riese. Entzifferungen. Düsseld. 1982 (L.). – Ortsbestimmung. Gedichte, grammat. Balladen, Permutationen. Düsseld. 1984. – Letterntausch. Anagrammgedichte. Gießen 1993. – Dt. Träume. Gedichte u. Anagramme. Ffm. 1999. Literatur: Joachim Hempel: Literar. Leben in Rheinland-Pfalz 1968–1980. Landau 1986, S. 442–446. – Norbert Seitz: K. M. im Gespräch. In: Mainzer Vjs. für Kultur, Politik, Wirtschaft, Gesch. 6 (1986), H. 3, S. 90–94. – Klaus Jeziorkowski: Kant u. die Turnerin. In: Ders.: Eine Iphigenie rauchend. Ffm. 1987. – J. Frederiksen: Die zwei Leben des Lyrikers u. Erzählers K. M. In: Flugwörter. Hg. Sigfrid Gauch. Ffm. 2001, S. 240 ff. Günter Baumann
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Mauvillon, Eléazar de, * 15.7.1712 Tarascon/Provence, † 24.4.1779 Braunschweig. – Übersetzer, Literaturkritiker, Philologe u. Verfasser historischer Werke.
Mauvillon the Xth Congress of the International Comparative Literature Association. Bd. 1. Hg. Anna Balakian u. a. New York 1985, S. 70–75. – Pierre Larthomas: M. théoricien du style épistolaire. In: Langue, littérature du XVIIe et du XVIIIe siècle. FS Frédéric Deloffre. Hg. Roger Lathuillère. Paris 1990, S. 477–485. – BBHS, Bd. 6, S. 27–32. – Ruth Florack: Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nat. Stereotype in dt. u. frz. Lit. Stgt. u. a. 2001. – Pierre Hartmann: La Réception de Paméla en France: Les Anti-Paméla de Villaret et M. In: Revue d’histoire littéraire de la France 102 (2002), S. 45–56.
M. stammt aus einer kleinadeligen südfrz. reformierten Familie. Er behielt zeitlebens den Adelstitel bei. Als junger Mann verließ er Frankreich u. ließ sich als Übersetzer u. Sprachlehrer in Dresden nieder. Schon nach kurzer Zeit erreichte er die einflussreiche Stellung eines Privatsekretärs Friedrich AuHans Erich Bödeker / Red. gusts II. Spätestens seit 1740 lebte M. in Leipzig u. lehrte Französisch an dem von ihm gegründeten Erziehungsinstitut sowie an der Mauvillon, Jacob (Eléazar), * 8.3.1743 Universität. Ende 1758 ging er nach Braun- Leipzig, † 11.1.1794 Braunschweig. – schweig u. wirkte dort seit 1759 bis zu seinem Übersetzer, Literaturkritiker, politischer Tod als Professor der frz. Sprache am Colle- u. militärwissenschaftlicher Schriftsteller. gium Carolinum. M., einziges Kind aus der Ehe Eléazar de M. war ein erfolgreicher Übersetzer u. Mauvillons mit Marie Bonne Le Jeune de Schriftsteller. Seine vernichtende Kritik der Montant, wuchs in einem stark religiösen, zeitgenöss. dt. Literatur in den Lettres Fran- gutbürgerl. Elternhaus auf. Bis zum 15. Leçoises et Germaniques, ou Réflexions militaires, bensjahr war M. Schüler der Leipziger Tholittéraires et critiques sur ces deux Nations (Ams- masschule; nach 1758 besuchte er das terd. 1740) wurde weit diskutiert; sie trug zur Braunschweiger Collegium Carolinum, an Ausbildung einer eigenständigen dt. Litera- dem damals ein großer Teil der führenden dt. tur um die Mitte des 18. Jh. unter Führung Literaten lehrte, die auch M.s literar. Bildung Gottscheds u. Gellerts bei. Seine zahlreichen prägten. Mit seinem Vater, der ihn zum histor. Schriften erschöpften sich in schlich- Theologiestudium zwingen wollte, einigte er ter, unreflektierter Wiedergabe der Quellen; sich auf ein Jurastudium in Leipzig. Bereits sie waren kaum mehr als Chroniken der Er- nach knapp einem Jahr (1760) ließ sich M., eignisse. Unter seinen Übersetzungen ragt gegen den Willen des Vaters, für die handie der polit. Essays Humes heraus (Discours noversche Armee rekrutieren. Er avancierte politiques de Mr. Hume. Amsterd. 1753). zum Fähnrich u. erwarb damit das OffiziersWeitere Werke: Histoire de Frédéric Guil- patent. Am 12.1.1765 schied er aus dem aklaume, Roi de Prusse [...]. Amsterd. 1741. – His- tiven Dienst aus. Das schnell wiederaufgetoire de la dernière guerre de Bohème [...]. Ams- nommene Jurastudium in Leipzig brach er terd. 1745. – Remarques sur les Germanismes [...]. aus Desinteresse ebenso schnell wieder ab. Amsterd. 1747. – Droit public Germanique [...]. Zwischen 1766 u. 1771 wirkte M. als Lehrer Amsterd. 1749. – Dictionnaire des Passagers, der frz. u. ital. Sprache am kgl. hannoverFrançois-Allemand et Allemand-François, par schen Pädagogium in Ilfeld. Diese Zeit stand Frisch et M. Lpz. 1766. ganz im Zeichen der »schönen Literatur« u. Literatur: Wilhelm Beulecke: Die Hugenotten unterscheidet sich grundlegend von M.s späin Niedersachsen. Hildesh. 1960. – Roland Krebs: teren Interessen u. schriftstellerischen Arbei›Les lettres françaises et germaniques‹ de M. et leur ten. Zus. mit Ludwig August Unzer veröfréception en Allemagne. In: Dix-huitième siècle 14 fentlichte er Ueber den Werth einiger Teutschen (1982), S. 377–390. – Thomas Bleicher: Literaturvermittlung, Literaturkritik, Literaturentwicklung Dichter (2 Bde., Ffm. 1771/72). Diese verim 18. Jh. E. u. Jakob M.s Beiträge zur frz., dt. u. nichtende Kritik der zeitgenössischen, wevergleichenden Literaturgesch. In: GRM 34 (1984), sentlich von Gellert geprägten Literatur u. S. 54–69. – Ders.: Zur internat. Literaturvermitt- des ungebildeten Geschmacks des dt. Publilung im 18. Jh. Die Mauvillons. In: Proceedings of kums erregte im entstehenden literar.
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Deutschland größtes Aufsehen. Zu den wenigen zustimmenden Urteilen gehörte Goethes Rezension in den »Frankfurter Gelehrten Anzeigen«. Seit Nov. 1771 lehrte M. militär. Wissenschaften am Collegium Carolinum in Kassel, das damals wegen seiner zahlreichen jungen, aufstrebenden Lehrer (Dohm, Sömmerring, Forster) einen ausgezeichneten Ruf hatte. Gleichzeitig war er bis 1774 Wege- u. Brückenbauingenieur. 1773 heiratete er Maria Luise Scipio aus Arolsen; aus dieser Ehe gingen drei Kinder hervor. 1779 wurde M. zum Hauptmann u. stellvertretenden Leiter des neu errichteten adeligen Kadettenkorps ernannt. In seiner Kasseler Zeit entstanden wichtige Übersetzungen aus dem Französischen, wie Raynals Philosophische und Politische Geschichte der Besitzungen und des Handels der Europäer in beyden Indien (7 Bde., Hann. 1774–78) u. Turgots Untersuchungen über die Natur und den Ursprung der Reichthümer und ihrer Vertheilung unter den verschiedenen Gliedern der bürgerlichen Gesellschaft (Lemgo 1775), sowie seine Sammlung von Aufsätzen über Gegenstände aus der Staatskunst, Staatswirthschaft und neuesten Staatengeschichte (2 Bde., Lpz. 1776/ 77) u. seine Physiokratischen Briefe an den Hrn. Professor Dohm [...] (Braunschw. 1780). Der Schwerpunkt seiner Arbeiten in den 1770er Jahren lag eindeutig auf politischen u. wirtschaftl. Fragen. M. war einer der führenden Vertreter physiokratischer Theorien, die – immer mehr als nur wirtschaftliche – auch polit. Theorie waren. Im Febr. 1785 wurde M. zum Professor der Kriegswissenschaft u. Kriegsbaukunst am Collegium Carolinum in Braunschweig u. gleichzeitig zum Major beim dortigen Ingenieurkorps ernannt. 1790 beförderte man ihn zum Oberstleutnant u. ernannte ihn (darüber gibt es allerdings unterschiedl. Aussagen) zum Professor der Politik; ein Fach, das er niemals lehrte. Noch in Kassel hatte sich M. ganz der militär. Schriftstellerei zugewandt; davon zeugen seine zehn militärwiss. Schriften u. seine einschlägigen Rezensionen in führenden Journalen. Aus diesen Arbeiten ragt die Einleitung in die sämtlichen militärischen Wissenschaften für junge Leute, die bestimmt sind, als Offiziers bei der Infanterie und Cavallerie zu
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dienen (Braunschw. 1783) als das führende Lehrbuch des 18. Jh. heraus. Zu M.s umfangreichem, breit gefächerten Werk zählen Mann und Weib, in ihren gegenseitigen Verhältnissen geschildert; ein Gegenstück zu der Schrift des geheimen Kanzleysekretärs Brandes: Ueber die Weiber (Lpz. 1791), das die Vorstellung vom intellektuellen Defizit der Frau gegenüber dem Mann widerlegte, sowie Das zum Theil einzig wahre System der christlichen Religion (Bln. 1787) als Dokument seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit der christl. Religion. Weit wichtiger ist jedoch die zwischen 1786 u. 1788 in Zusammenarbeit mit Mirabeau entstandene umfangreiche Studie De la Monarchie Prussienne sous Frédéric le Grand (7 Bde., London 1788), die trotz aller Einwände eine detaillierte u. fundierte Analyse der Probleme des spätfriderizian. Preußen leistet. M.s letzte Lebensjahre waren überschattet von blindwütigen Angriffen u. Anfeindungen von Gegnern der Französischen Revolution (Leopold Alois Hoffmann, Kotzebue u. a.). Weitere Werke: Versuch einer Uebers. der Briefe der Marquisin v. Sevigné, mit histor. u. crit. Erläuterungen. Braunschw./Hildesh. 1765. – Ariost’s wütender Roland; aus dem Ital. 4 Tle., Lemgo 1777/78. – Essai sur l’influence de la poudre à Canon dans l’art de la guerre moderne. Dessau 1782. – Essai historique sur l’art de la guerre pendant la guerre de trente ans. Kassel 1784. – Von der Preuß. Monarchie unter Friedrich dem Großen. Unter der Leitung des Grafen v. Mirabeau abgefaßt, u. nun in einer [...] Uebers. hg. 4 Bde., Braunschw./Lpz. 1795. – Des Hrn. Malouet Briefe über die Revolution; aus dem Frz. übers. Nebst einer Vorlesung über die Frage: Welches sind die Kennzeichen der Freyheit? Lpz. 1793. – Gesch. Ferdinand’s, Herzogs v. Braunschweig-Lüneburg, obersten Befehlshabers der Armeen Sr. Maj. des Königs v. Großbritannien in Teutschland während des siebenjährigen Krieges [...]. 2 Tle., Lpz. 1794. – M.’s Briefw., oder Briefe v. verschiedenen Gelehrten an [...] M., ges. u. hg. v. seinem Sohn F. Mauvillon. Teutschland, recte Braunschw. 1801. Literatur: Jochen Hoffmann: J. M. Ein Offizier u. Schriftsteller im Zeitalter der bürgerl. Emanzipationsbewegung. Bln. 1981. – Gisela Winkler: Die Religionsphilosophie v. J. M. in seinem Hauptwerk. Bochum 2000. – Kurt Gloocke: Transfert d’une culture à l’autre. La pensée religieuse de J. M. et son
57 influence sur Benjamin Constant. In: Frz. Kultur – Aufklärung in Preußen. Hg. Martin Fontius. Bln. 2001, S. 243–251. Hans Erich Bödeker / Red.
Maximilian I., * 22.3.1459 Wiener Neustadt, † 12.1.1519 Wels; Grabstätte: Wiener Neustadt, St. Georgs-Kirche, Kenotaph: Innsbruck, Hofkirche. – Römischer König 1493 (Wahl 1486), Kaiserproklamation 1508 in Trient; Historiograf, Epiker, Mäzen. Die Ära M.s feierten Zeitgenossen als Beginn einer neuen Weltzeit, der Goldenen Zeit, in der die Künste u. Wissenschaften blühen u. das Reich, nach innen u. außen gefestigt, Frieden findet. M. öffnete u. a. die Universität Wien den humanist. Studien, förderte die lat. Poesie (Bebel, Celtis, Locher u. andere), besann sich zgl. auf die nationale volkssprachige Literatur (Ambraser Heldenbuch u. andere) u. imitierte die Renaissancekultur italienischer Fürstenhöfe (Triumphzug, Ehrenpforte, Reiterdenkmal etc.). Er stand feudalhöf. Traditionen ebenso aufgeschlossen gegenüber wie technischen, wiss. u. künstlerischen Neuerungen, dem Buchdruck, aber auch dem Geschützbau. In seine Regierungszeit fallen die Reichsreform, die Heeres- u. Behördenneuorganisation, die Ausweitung der habsburg. Heiratspolitik nach Burgund, Ungarn, Polen, Dänemark u. Spanien, die ständige Bedrohung durch die Türken sowie das erste Auftreten Luthers auf dem Augsburger Reichstag von 1518, an dem die Nachfolgefrage für M.s Enkel Karl V. entschieden wurde. Die von ihm geprägte, durch die institutionalisierte Dichterkrönung an ihn gebundene höf. Panegyrik feierte ihn als »rex litteratus«, der »fortitudo« u. »sapientia« idealiter in sich vereint. Das Festhalten von histor. Ereignissen für die Nachwelt, die Sorge um die »gedächtnus«, ist ein genuines Element der literar. u. künstlerischen Bestrebungen M.s. Er wollte damit einerseits Traditionen bewahren, andererseits »ain anweiser aller künftiger kunigen und fursten« sein u. für seine Nachfolger die Möglichkeit schaffen, die »kuniglichen und fürstlich gedächtnus eren« zu können. Nicht mehr nur die Tat selbst, auch
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ihre Archivierung war in seinen Augen wesentl. Aufgabe des Herrschers, zur eigenen »lob und er« wie zum Herrschaftserhalt, u. dazu nutzte er alle Medien seiner Zeit, von der Predigt u. dem Volkslied über die Kompositionen der Hofkapelle, Malerei u. Skulptur bis hin zum Flugblatt u. dem neuen Buchdruck. Die Bemühungen um den ird. Nachruhm bestimmen so neben der von christl. Demut geprägten Sorge um das ewige Heil das Bild M.s. Seine Diktate für die lat. Autobiographie u. den volkssprachigen Weißkunig waren Bestrebungen, die »materia« zu sammeln u. sie dann Fachleuten zur inhaltlichen u. sprachl. Überarbeitung anzuvertrauen. Die Autobiographie, die auf persönl. Aufzeichnungen u. Diktate in seinem »Reutterlatein« bis zum Jahr 1501 zurückgeht (u. von ihm in der Tradition der Commentarii Caesars gesehen wurde), redigierte sein Historiograf Joseph Grünpeck; fehlender erzählerischer Rahmen, stilistische u. sprachl. Brüche, histor. Lücken, mangelnde Ausrichtung unter einem leitenden Gesichtspunkt, etwa der »gedächtnus«, zeugen vom Fragmentcharakter dieses Unternehmens. Grünpeck überarbeitete diese Quellensammlung zweifach; sie ist in einer lat. Handschrift vor 1516 u. in einer erweiterten, nur in dt. Übersetzung überlieferten Fassung erhalten, die 1721 gedruckt wurde: Grünbecks Lebens-Beschreibung Kayser Friedrichs III. [...] und Maximilians I. (Tüb., hg. v. Johann Jakob Moser). Auch der Bearbeiter des Weißkunig, Marx Treitzsauerwein, nannte die von ihm 1514 vorgelegte Redaktion »ain materi und ain unvolkumenlich werk« u. erbat in einem »Fragbuch« von M. Aufschluss über die Zuordnung der Holzschnitte u. die Reihenfolge der verschlüsselten »Taten«. Der nach der Genealogie (Friedrich III.) u. dem Fürstenspiegel (Jugendjahre M.s) interessanteste dritte Teil über die politischen u. kriegerischen Ereignisse seit der Hochzeit mit Maria von Burgund (1477) wurde vom Kaiser mehrfach überarbeitet, die »heraldischen Mummereien« u. Anagramme z.T. wieder aufgelöst u. histor. Fakten ergänzt; es lassen sich daher bedingt polit. Einschätzungen u. Motivationen M.s (aus der Rückschau) er-
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kennen. Chronologische Verlässlichkeit u. Vermeidung von Dubletten konnten aber so wenig erreicht werden wie eine sprachliche u. stilist. Überarbeitung. 1775 wurde der Weißkunig erstmals gedruckt, mit umfangreichen Anmerkungen u. histor. Erläuterungen; die historisch vielfach exakteren Illustrationen von Hans Burgkmair, Leonhard Beck, Hans Schäufelein u. anderen wurden separat beigegeben. So verfuhren auch Alwin Schultz 1888 u. H. T. Musper 1956 (erste Ausgabe mit wiss. Kommentar). Insg. dominiert die Reduzierung komplexer histor. Ereignisse auf Turniere u. Kriege von »gesellschaften«, die durch ihre Wappenfarbe charakterisiert werden, polit. Hintergründe u. diplomat. Verhandlungen bleiben unerwähnt, die »kunige« handeln, wie im Turnier, auf sich allein gestellt. Das grundsätzlich siegreiche Vorgehen des idealen Protagonisten dominiert; die histor. Unbestimmtheit nimmt mit der weiteren poet. Stilisierung im Theuerdank (1517) zu. Dieses Versepos handelt in bewusster Anlehnung an mittelalterl. Vorbilder (»in form mass und weis der heldenpücher«) von 80 »geverlichkeiten« M.s bei der Brautfahrt zu Maria von Burgund, die in »verporgner weiß« präsentiert werden. Die beigegebene »clavis« des wichtigsten Bearbeiters, Melchior Pfinzing, entschlüsselt die sprechenden Namen (z.B. »Eernreich« für Maria von Burgund, »Romreich« für ihren Vater Karl den Kühnen, »Theuerdank« für M.) u. die hinter den stereotypen Handlungsabläufen versteckten histor. Ereignisse, die Gefechte, Jagdabenteuer, Naturkatastrophen u. Krankheiten. Die einzelnen âventiuren stehen nur im lockeren Zusammenhang mit der Brautwerbung, deren Telos, die Erringung der edlen frouwe, entgegen dem klass. Schema bereits im ersten Kapitel vorweggenommen wird: dort wird der eigentl. Zweck der Reise, die Erringung weltlicher u. göttl. Ehre, vorhergesagt. Ein Erzähler, »Erenhold«, begleitet den Helden durch 80 »geverlichkeiten«, die die drei Gegenspieler »Fürwittig«, »Unfallo« u. »Neidelhart« böswillig für ihn inszeniert haben. Theuerdank meistert alle Gefahren durch Besonnenheit, Weisheit u. Tapferkeit. Der Vollzug der Ehe wird nach
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literar. Vorbild bis nach der Eroberung des Hl. Landes u. der damit verbundenen Erringung göttl. »hulde« ausgesetzt. Der »beschluss dieser History« feiert Theuerdank dennoch als den von Gott begnadeten absoluten Sieger. 1517 lieferte der Augsburger Drucker Hans Schönsperger 40 Pergament- u. 300 Papierexemplare des Theuerdank im Folio-Format mit einer eigens geschaffenen, an den Handschriften orientierten Drucktype mit Schreibmeisterschnörkeln und 118 Holzschnitten von Leonhard Beck, Hans Burgkmair u. Hans Schäufelein. Die Buchdruckerkunst war hier nicht wegen ihrer einfachen Vervielfältigungsmöglichkeit gewählt worden, sondern um ein möglichst gleichmäßiges u. elegantes Satzbild zu erreichen u. damit die Exklusivität zu erhöhen. Gediegene Typografie u. wertvolle Illustrationen zeichnen auch das von M. angeregte u. betreute sog. jüngere Gebetbuch (Augsb. 1513; von Dürer, Cranach, Altdorfer u. Burgkmair ausgestaltet) u. die Druckvorlage seiner geplanten »Gebrauchsbücher«, wie das Jagdbuch, Fischereibuch u. die »Gedenkbücher«, aus, deren fragmentarische handschriftl. Überlieferung bereits den repräsentativen Charakter erkennen lässt. Richardus Sbrulius übertrug den Theuerdank auf Wunsch M.s in ein lat. »carmen heroicum«; er bemühte sich um eine allegor. Überhöhung der im Kern histor. Geschehnisse der dt. Vorlage. Schon die additive Reihung der unverbundenen Einzelepisoden vertrug sich aber nicht mit dem geschlossenen Aufbau eines klass. Epos. Sbrulius’ Magnanimus blieb daher unvollständig u. ist nur handschriftlich (Österr. Nationalbibl.) überliefert. Celtis’ Edition des Ligurinus mit der Rückbesinnung auf die geschichtl. Größe des Reichs u. Bartolinis Austrias traten an die Stelle des von M. intendierten lat. »Ruhmeswerkes«. Neben den schriftl. Zeugnissen stehen die bildl. Umsetzungen der Heldentaten im Triumphzug u. der Ehrenpforte. Beide monumentalen Werke vereinen die Geschichte des Hauses Habsburg, die Länder des Reichs, die Stände, die Siege u. Erfolge M.s zu einem umfassenden Triumph für das Geschlecht in
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antiker Tradition. Neben dem Stammbaum oder Epen feierten. Sie rühmten ihn als »imu. den Wappen sind auf 24 Tafeln die wich- perator litteratus«, dem es gelinge, perfekt tigsten polit. Ereignisse seiner Regierungs- im polit. Handeln u. in der literar. Umsetzeit über den Seitentoren der 3 x 3,5 m gro- zung zu sein, der in der Lage sei, »scribenda ßen papierenen Ehrenpforte abgebildet, an der gerere et gesta scribere«, »Schreibenswertes Albrecht Dürer, Hans Springinklee, Wolf zu vollbringen und Vollbrachtes niederzuTraut u. Albrecht Altdorfer mitarbeiteten. In schreiben« (Heinrich Bebel). der Holzschnittausführung des (aneinanderAusgaben: Freydal. Hs. Österr. Nationalbibl. gereiht) 57 Meter langen Triumphzuges wer- Wien. Erstdr. 1880. – Lat. Autobiogr. Hs. Österr. den der »Hof« die »Heiraten«, die »Kriege« Staatsarchiv Wien. Erstdr. 1888. – Der Weisskunig. u. die »Wappen, Titel und Besitzungen« Hg. Alwin Schultz. In: Jb. der Kunsthistor. Slg.en dargestellt. Den Höhepunkt bildet der Große des Allerhöchsten Kaiserhauses 6 (1888). – Die EhTriumphwagen von Dürer. In »vollkommener renpforte Kaiser M.s I. Ebd. 4 (1886). Neudr. 1972. – Kaiser M. I. Triumph. Ebd. 1 (1883); 2 (1884). – F. Allegorie« wird M. als Sonnenkönig aposWinzinger: Die Miniaturen zum Triumphzug M.s trophiert, der alle idealen Tugenden besitzt. I. Graz 1969. – Die Abenteuer des Ritters TheuerDer Exklusivität der genannten Werke dank. Neudr. v. 1517. Hg. mit kulturhistor. Einf. v. steht die von M. geförderte Verbreitung von Stephan Füssel. Köln 2003. Mandaten, Volksliedern usw. gegenüber. Er Literatur: Peter Diederichs: Kaiser M. I. als ließ einen Großteil der Reichstagsausschrei- polit. Publizist. Heidelb. 1931. – Heinz Otto Burbungen, Achterklärungen, Mandate u. Pa- ger: Der ›Weisskunig‹ als Literaturdenkmal. In: tente als offene Schreiben (litterae patentes) Kaiser M. I. Weisskunig. Hg. H. T. Musper u. a. herausgeben. Mit großer Auflagenhöhe u. Stgt. 1956, S. 13–34. – Hermann Wiesflecker: Kaidurch öffentl. Anschlag an Rathäusern oder ser M. I. 5 Bde., Mchn./Wien 1971–86. Neudr. Verkündigung auf den Kanzeln erreichte er Wien 2006. – William McDonald u. Ulrich Goebel: eine theoretisch unbeschränkte Reichsöf- German Medieval Literary Patronage [...]. Amsterd. 1973. – Dieter Mertens: M. I. u. das Elsass. In: Die fentlichkeit mit seiner Sicht aktueller polit. Humanisten in ihrer polit. u. sozialen Umwelt. Hg. Ereignisse: Reichstagsladungen enthielten Otto Herding u. Robert Stupperich. Boppard 1976, ausführl. Kriegsberichte, Siegesnachrichten S. 177–210. – Jan-Dirk Müller: Gedechtnus. Lit. u. wurden in Form kaiserl. Mandate verbreitet; Hofgesellsch. um M. I. Mchn. 1982. – Ders.: M. In: im Venedigerkrieg wurden Flugblätter zur VL. – Karl Schmid: ›Andacht u. Stift‹. Zur Grabpsycholog. Kampfführung hinter den Linien malplanung Kaiser M. I. In: Memoria. Mchn. 1984, S. 750–786. – Stephan Füssel: Riccardus Bartholiverbreitet. In einigen Punkten bekam M.s offizielle nus Perusinus: humanist. Panegyrik am Hofe KaiPublizistik Unterstützung durch die Flug- ser M. I. Baden-Baden 1987. – Thomas Ulrich schriften reichstreu gesinnter Humanisten; Schauerte: Die Ehrenpforte für Kaiser M. I.: Dürer u. Altdorfer im Dienst des Herrschers. Mchn. 2001. gerade Elsässer Literaten wie Wimpfeling – Falk Eisermann: Buchdruck u. polit. Kommunioder Brant äußerten sich dezidiert zu Fragen kation. Ein neuer Fund zur frühen Publizistik M. I. der Reichseinheit, der Bedrohung des In: Gutenberg-Jb. 2002, S. 76–83. – S. Füssel: Abendlandes durch die Türken oder gegen Dichtung u. Politik um 1500. Das ›Haus Österreich‹ das Partikularinteresse der Reichsfürsten. in Selbstdarstellung, Volkslied u. panegyr. CarmiNoch weitere Kreise erreichten die »feldmä- na. In: Zeman 1, S. 803–831. – Ders.: Die Funkren« durch die historisch-polit. Lieder u. tionalisierung der ›Türkenfurcht‹ in der PropaReimreden, die z.T. versifizierte Mandate ganda Kaiser M. I. In: Pirckheimer-Jb. 2005, waren bzw. sich amtl. Verlautbarungen eng S. 9–31. Stephan Füssel anschließen; mehrere Dichter standen über längere Zeit in Verbindung mit dem Haus May, (Paul) Christian Gottlieb, * 11.7.1748 Habsburg. Zittau, † 17.10.1813 Zittau. – Historiker Als Förderer humanistischer Studien fand u. Journalist. sich M. auch in der panegyr. Verherrlichung der Humanisten wieder, die ihn als wieder- Während M. in seinem selbstverfassten geborenen Augustus in Festspielen, Oden Schriftenverzeichnis (in: Gottlieb Friedrich
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Otto, s. Literatur) den Beruf seines Vaters mit May, Mai, Franz Anton, * 16.12.1742 Hei»Schulhalter« u. »Bücher Antiquar« angibt, delberg, † 20.4.1814 Mannheim. – Arzt; vermerkt das Taufregister, er sei der Sohn Verfasser volksbildnerischer u. gesundeines »Leinweber[s] auf der Globengasse« heitspolitischer Schriften. (heute Amalienstraße) gewesen. Weitere M., Sohn eines kath. Kaminfegermeisters, biogr. Einzelheiten zu M.s Werdegang sind studierte in Heidelberg u. erlangte dort 1762 unbekannt; zudem müssen die meisten seiden philosophischen, 1766 den medizininer Schriften wie etwa das anonym erschie- schen Doktorgrad. Darauf unterrichtete er an nene Drama Prudentia von Albertsburg und Bla- der neu gegründeten Hebammenschule in sius von Windheim (Zittau 1797), Die von der Mannheim; 1769 wurde er Medizinalrat im göttlichen Direktion festgekrönte Hoffnung Saxo- kurfürstl. Collegium medicum. Ab 1773 war niens. Ein allegorisches Gemälde auf die hohe Ge- er a. o., ab 1785 o. Prof. der Arzneikunde u. burt des Durchl. Prinzen Friedrich August (Zittau Hebammenkunst in Heidelberg, außerdem 1797) oder Tod und Cupido, als die zwey größten Leiter der dortigen Entbindungsanstalt. Als Raubschützen (Zittau 1797) als verschollen Leibarzt betreute er 1789–1794 Kurfürstin gelten. Hingegen haben sich v. a. in der Elisabeth in Mannheim. Christian-Weise-Bibliothek Zittau sowie der In seinen zahlreichen Schriften trat M. Sächsischen Landesbibliothek/Staats- und ebenso wie in seiner Berufspraxis als energ. Universitätsbibliothek Dresden einige seiner Sozialreformer v. a. im Gesundheitswesen Schriften erhalten, darunter die 1767 veröf- auf. Gegen den Widerstand des Collegium fentlichte Ode an Zittau, die an die Zerstörung medicum gründete er 1782 in Mannheim, der Stadt durch österr. Truppen während des 1787 in Heidelberg Krankenwärterschulen, Siebenjährigen Krieges am 23. Juli 1757 er- an denen er selbst unterrichtete (Unterricht für innert, oder seine Geistlichen Kantaten (Görlitz Krankenwärter zum Gebrauch öffentlicher Vorle1771). Weitere Schriften u. Chroniken weisen sungen. Mannh. 1782). Im Geiste der AufkläM. insbes. als historisch-heimatkundlich in- rung bemühte er sich um die Vermittlung teressierten Journalisten aus, so etwa das Ge- von medizinischem u. moral. Fortschritt, z.B. schichtliche Verzeichniß aller öffentlichen Hinrich- in Vorbeugungsmittel wider den Kindermord [...] tungen zu Zittau (Görlitz 1774), die Schrift (Mannh. 1781). Seinen wichtigsten Vorstoß über Zittau im literarischen Verhältniß der Vorzeit zugunsten der beabsichtigten »Körper- und und Gegenwart (Zittau 1805) oder diejenige Seelendiätetik« unternahm M. mit dem Entüber Nikol von Dornspach (Zittau/Lpz. 1812), wurf eines Hygienegesetzes, der sich aber in einen Zittauer Bürgermeister des 16. Jh. So- den polit. Wirren der Zeit verlor (Entwurf einer wohl mit dem Plan u. Entwurf eines heraus- Gesetzgebung über die wichtigsten Gegenstände der zugebenden Zittauer Wochen-Bogens gemeinnüt- medizinischen Polizei [...]. Mannh. 1802). Weitere Werke: Stolpertus, ein junger Arzt am zigen Inhalts (Zittau 1789) als auch mit der von ihm herausgegebenen Allgemeinen Weltchronik Krankenbette. 5 Bde., Mannh. 1777–1807. – Meoder Neue und wichtige Zeitgeschichte aller Länder dicin. Fastenpredigten [...]. 2 Bde., Mannh. 1793/ und Völker (Zittau 1796–98) verfolgte M. fer- 94. Literatur: Eberhard Stübler: Gesch. der mediner Ziele einer praktisch orientierten Aufzin. Fakultät der Univ. Heidelberg 1386–1925. klärung. Weitere Werke: Herrnhut u. Spangenberg [...], zwey Briefe. Lpz. 1791. – Sachsens uralt-berühmtes Königthum [...]. [Zittau ca. 1806]. – Das Hochgericht zu Zittau. Zittau 21812. Literatur: Gottlieb Friedrich Otto: Lexikon der [...] Oberlausitzischen Schriftsteller u. Künstler. Bd. 2.2, Görlitz 1803, S. 548–550 u. Suppl., Görlitz/Lpz. 1821, S. 265. – Hamberger/Meusel 11, S. 517–519. Hans Peter Buohler
Heidelb. 1936, S. 165–181. – Alphons Fischer: Beiträge zur Kulturhygiene des 18. u. zu Beginn des 19. Jh. im Dt. Reiche. In: Studien zur Gesch. der Medizin, H. 16 (1928), S. 57–115. – Holger Böning: Volksaufklärung u. Öffentlichkeit. In: IASL 15, 1 (1990), S. 1–92. Dominica Volkert / Red.
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May, Johann Friedrich, * 23.3.1697 Türchau/Oberlausitz, † 5.1.1762 Leipzig. – Schriftsteller, Pädagoge, Universitätsprofessor.
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Auch in seinen Schriften zum Theater ist M. dem Programm Gottscheds verpflichtet: Die Schauspiele haben der Förderung der Tugend u. der guten Sitten zu dienen sowie die Laster zu bestrafen; zugelassen ist aber auch ein »vernünftiges Vergnügen« (Abhandlung von der Schaubühne. Lpz. 1734). Im Rahmen der Deutschen Gesellschaft setzte sich M. intensiv für die Verbesserung der dt. Sprache ein, die »deutlich, regelmäßig, lebhaft und nachdrücklich« eingerichtet werden soll. Zus. mit Gottsched u. Johann Georg Hamann begründete M. die einflussreiche, v. a. für ein Frauenpublikum gedachte Moralische Wochenschrift »Vernünftige Tadlerinnen« (1725/26), gab die Mitarbeit daran aber bald wieder auf. M. setzte sich auch später für die Förderung der Frauenbildung ein u. war wesentlich daran beteiligt, die Dichterin Christiane Mariane Ziegler in die Deutsche Gesellschaft aufzunehmen (einziges weibl. Mitglied). Auf der Grundlage eigener Erfahrungen als Hauslehrer veröffentlichte M. Schriften zur Pädagogik (u. a. Kunst der vernünftigen Kinderzucht. 2 Bde., Helmstedt 1753/54), die u. a. einen praxisnahen Unterricht fordern u. damit zur Vorgeschichte des Philanthropinismus gehören.
Der Sohn eines Pfarrers besuchte das Zittauer Gymnasium u. studierte ab 1718 in Leipzig, wo er 1722 den akadem. Grad eines Magisters erwarb. Bis 1741 wirkte er als Hauslehrer in verschiedenen Leipziger Familien (darunter Hugenotten). 1741 wurde er in Leipzig zum a. o. Prof. der Philosophie berufen, 1742 zum o. Prof. für Moral u. Politik. M. blieb unverheiratet. Zeit seines Lebens stand er Gottsched nahe. Später war er auch dessen Frau Luise Adelgunde Victoria freundschaftlich verbunden. In enger Verbindung mit M. gestaltete Gottsched nach 1726 die »Teutschübende Poetische Gesellschaft« zur »Deutschen Gesellschaft« um, die zeitweise großen Einfluss auf die Entwicklung von Sprache u. Literatur im gesamten dt. Sprachraum ausübte. Nach Gottscheds Austritt aus der Gesellschaft übernahm 1738 M. deren Leitung als Senior, konnte allerdings das unter seinem Vorgänger erlangte Niveau der Sozietät nicht halten. M. war erklärter Anhänger der LeibnizLiteratur: Gottlieb Friedrich Otto: Lexikon der Wolff’schen Philosophie, zu deren Haupt[...] Oberlausitzischen Schriftsteller [...]. Bd. 2, vertretern an der Leipziger Universität er Görlitz 1803, S. 551 ff. – Catherine Julliard: zählte. In diesem Zusammenhang ist auch Gottsched et l’esthétique théatrâle française: La seine Mitgliedschaft in der Leipziger Gesell- réception allemande des théories françaises. Bern/ schaft der Alethophilen zu sehen, die sich um Bln. u. a. 1998, passim. – Detlef Döring: Die Gesch. den Grafen Ernst Christoph von Manteuffel der Dt. Gesellsch. in Leipzig. Tüb. 2002, S. 144–156 sammelte u. die Propagierung der Gedanken u. ö. Detlef Döring von Christian Wolff als ihre Aufgabe betrachtete. In seinem Werk Weisheit der Menschen nach der Vernunft (Lpz. 1754), das May, Karl (Friedrich), auch: u. a. Karl Gottscheds Weltweisheit verpflichtet ist, wird Hohenthal, Ernst von Linden, Capitain das Streben zur Glückseligkeit als Grundei- Ramon Diaz de la Escosura, Emma Pollgenschaft des Menschen geschildert. Inner- mer, * 25.2.1842 Ernstthal/Erzgebirge, halb des Kreises um Gottsched vertrat M. die † 30.3.1912 Radebeul bei Dresden; Grabentschiedenste Position, was die Überord- stätte: ebd., Friedhof. – Reise- u. Abennung der Vernunft über Glaube u. Offenba- teuererzähler. rung betrifft. Erst durch »gründliche Bewei- In einer verarmten Weberfamilie – die Mutter se« könnten die Aussagen der Hl. Schrift be- tat zusätzlich als Hebamme Dienst – wuchs legt werden. M. gehörte daher zu den weni- M. als fünftes von 14 Kindern auf, von denen gen, die den wegen seiner rationalist. Bibel- neun kurz nach der Geburt starben. Aus übersetzung (»Wertheimer Bibel«) verfolgten Märchenerzählungen der Großmutter Johann Lorenz Schmidt unterstützten. scheint sich die »große Fabulierlust« (Robert
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Müllers Nachruf) M.s gespeist zu haben, der als Kegeljunge zudem früh mit der inspirierend bunten Welt der örtl. Leihbibliothek – untergebracht in einer Schankwirtschaft – vertraut wurde. Da sich aus finanziellen Gründen ehrgeizigere Studienambitionen nicht realisieren ließen, strebte M. das Amt des Volksschullehrers an u. wurde 1856 in das Lehrerseminar Waldenburg aufgenommen. Die ausgeprägten Eigenwilligkeiten des Kandidaten kollidierten, wie auch offiziell vermerkt wurde, mit der dortigen strengen Disziplin, u. der Diebstahl einiger Kerzen, die M. vermutlich in den Weihnachtsferien mit nach Hause nehmen wollte, führte 1859 zu seiner Entlassung. M. durfte seine Ausbildung aber am Seminar in Plauen fortsetzen u. bestand dort die Abschlussprüfung im Sept. 1861 mit der Gesamtnote »gut«. Die anschließende Tätigkeit als Lehrer dauerte allerdings nur wenige Wochen: 1862 wurde er wegen eines Uhrendiebstahls zu sechswöchiger Haft verurteilt u. für immer aus dem Schuldienst entfernt. Diese Katastrophe trieb M. für einige Jahre in die Existenz eines umherstreifenden Kriminellen: In seiner Heimat u. deren näherer Umgebung trat er als Betrüger, Fälscher u. Dieb auf, getrieben – nach späteren eigenen Aussagen – von dem Wunsch nach Rache an der Gesellschaft, die ihn ausgestoßen hatte, u. gefangen in einer Art Dämmerzustand; zgl. lassen sich die teilweise kurios anmutenden hochstaplerischen Delikte, deren materieller Ertrag gering war, als Ausdruck einer »pseudologia phantastica« deuten, die Imagination u. Realität nicht streng zu scheiden vermag. Zwei Haftstrafen von insg. acht Jahren Dauer waren die Folge, sieben davon musste M. absitzen. 1874, nach der Entlassung aus dem Zuchthaus in Waldheim, begann M. seine schriftstellerische Laufbahn; auch fand er eine Anstellung als Redakteur bei Heinrich Gotthold Münchmeyer, Kolportageverleger en gros, in Dresden (1875–1877). 1879 kam er zum letzten Mal mit dem Gesetz in Konflikt (drakon. Strafe wegen »Amtsanmaßung«). 1880 heiratete er Emma Pollmer u. widmete sich ganz dem Schreiben. M. erprobte sein literar. Talent zunächst in verschiedenen Genres, vom Gedicht bis zum
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philosophisch ambitionierten Sachtext (Das Buch der Liebe. Dresden 1876), von romantisierend-didakt. Dorfgeschichten u. Humoresken bis zum histor. Roman, u. publizierte zunächst überwiegend in Zeitschriften, Kalendern u. dergleichen. Zwischen 1882 u. 1888 schrieb er fünf Lieferungsromane im Umfang von je ca. 2500 Seiten, die zum größten Teil unter Pseudonym u. wiederum im Verlag Münchmeyers erschienen. Die dauerhaft freundlichste Resonanz fand M. mit abenteuerl. Erzählungen aus fernen Weltgegenden, in deren Mittelpunkt ein dt. Reisender als Held steht; die Veröffentlichung derartiger Texte in Pustets »Deutschem Hausschatz«, dem kath. Pendant zur »Gartenlaube«, u. in der Jugendzeitschrift »Der Gute Kamerad« markierte deutl. Fortschritte der literar. Karriere auch in Bezug auf das gebildete Publikum. Den endgültigen Durchbruch zum renommierten Erfolgsschriftsteller brachte die Verbindung zu dem Freiburger Verleger Friedrich Ernst Fehsenfeld, der seit 1892 M.s Gesammelte Reiseromane (insg. 33 Bände) publizierte, eine Kombination früherer Zeitschriftenveröffentlichungen mit neuen Arbeiten. 1896 konnte M. die Villa »Shatterhand« (heute: Karl-May-Museum) in Radebeul bei Dresden beziehen. Auf dem jetzt erreichten Gipfel des Ruhms erfreute er die gewaltige Verehrerschar mit der immer wieder neu ausgeschmückten Mitteilung, seine Bücher schilderten wirkl. Erlebnisse u. er sei buchstäblich identisch mit seinem omnipotenten Ich-Erzähler u. -Helden; zur Produktion dieser aberwitzigen Legende trug vermutlich die Beharrlichkeit der pseudolog. Neigungen ebenso bei wie ein völlig aus dem Ruder laufender Versuch, exzessiv Werbung für die eigene Person zu machen. Am Ende kehrte sich die Legende freilich gegen M. selbst. Ausgerechnet zu der Zeit, als er erstmals eine anderthalb Jahre währende Orientreise unternahm (1899/1900) – 1908 folgte noch ein kurzer Ausflug nach Nordamerika – meldeten sich in der dt. Presse Kritiker zu Wort, die v. a. an der Selbststilisierung des Autors Anstoß nahmen. M. wehrte sich auf nicht immer geschickte Weise, u. in der Folgezeit eskalierte die Auseinandersetzung zu einer Vielzahl publizisti-
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scher u. jurist. Querelen, die nicht nur nach u. nach die reale kriminelle Vergangenheit des Autors enthüllten, sondern mehrere andere Komplexe einschlossen: die nunmehr als Schund diskreditierten Lieferungsromane; den Vorwurf des Plagiats; einen zu Unrecht geführten Doktortitel; die Suggestion des Protestanten M., er sei Katholik; die Affäre um M.s Scheidung (1903; unmittelbar danach Heirat mit Klara, der Witwe seines Freundes Richard Plöhn). Die Verkaufszahlen von M.s Büchern brachen ein, die zeitweise gerichtlich gebilligte Injurie vom »geborenen Verbrecher« erwies sich als höchste Stufe seiner Ächtung, u. zahlreiche Krankheiten warfen einen zusätzl. Schatten auf die letzten Lebensjahre. 1912 hielt M. in Wien seinen letzten Vortrag: Empor ins Reich der Edelmenschen; unter den Zuhörern befanden sich eine berühmte Freundin, die Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner, sowie, einer sehr vagen Legende zufolge, der begeisterte M.Leser Adolf Hitler. Ms. klass. Reise- u. Jugenderzählungen, die auf umfangreichen ethno- u. geografischen Quellenstudien basieren, sind hinsichtlich ihrer Grundtendenz auf höchst unterschiedl. Weise gedeutet worden. Für die einen Kritiker gestalten sie die Sehnsucht des Individuums nach dem Ausbruch aus den Zwängen eines übermäßig regulierten Lebens; das Abenteuer schafft Freiräume zur persönl. Bewährung u. bietet damit die bessere Alternative zu den einengenden Ordnungen der mitteleurop. Zivilisation. Für die anderen Kritiker reproduziert M. statt des Rebellischen das wilhelmin. Idealbild des Deutschen in fremden Ländern: des Kolonisten, der die Einheimischen penetrant von der Überlegenheit der christlich-abendländ. Kultur überzeugt, die in größerer Bildung, Klugheit u. Sauberkeit ebenso zutage tritt wie in wirkungsvolleren Waffen u. reiferen gesellschaftl. Strukturen. M.s bevorzugter Held agiert in Nordamerika unter dem Namen Old Shatterhand u. ist befreundet mit dem Indianerhäuptling Winnetou (u. a. Winnetou [, der rote Gentleman]. 3 Bde., 1893. Der Schatz im Silbersee. Stgt. 1890/91); im Orient wird er Kara Ben Nemsi genannt u. begleitet von Hadschi Halef Omar (v. a. in dem sechsbän-
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digen Zyklus von Durch die Wüste bis Der Schut. 1892). Geheimnis, Gefahr, Gewalt u. Gefangenschaft bilden die Spannungsmomente der Romane, christl. Erbarmen, Gerechtigkeit u. Erlösung (durch Überwindung der – oft metaphysisch dimensionierten – Bösen) die erbauenden Elemente. Zwar operiert M. durchweg mit einem eng begrenzten Repertoire von Figurentypen, Motiven u. Handlungssequenzen, verfährt innerhalb dieses Rahmens aber einfalls- u. abwechslungsreich; für Ernst Bloch war er »einer der besten deutschen Erzähler«. Die Neigung, exzessive Abenteuer u. schier unglaubliche heroische Leistungen mit dem Gestus realistischen, im schlichtesten Sinne »wahren« Erzählens zu präsentieren, unterscheidet M. von den meisten der im 19. Jh. tätigen Abenteuerschriftsteller, die durch ihre persönl. Kenntnis der fernen Handlungsschauplätze zu nüchterneren Darstellungen veranlasst wurden. Hat sich schon in den letzten Texten vor der Jahrhundertwende ein gewisser Überdruss an der bisherigen literar. Gestaltung angedeutet, so beschreiten M.s Werke im Anschluss an die realen Reisen zu seinen populären Schauplätzen erst recht neue Wege. Er verfasst einen voluminösen Band mit Aphorismen u. religiöser Lyrik (Himmelsgedanken. 1900) u. ein Drama (Babel und Bibel. 1906). Die neu geschriebenen Romane behalten zwar die Form der Reiseerzählung bei, reduzieren aber die Dominanz des äußeren Handlungsverlaufs u. der handfesten abenteuerl. Aktion zugunsten weit ausgreifender Dialoge u. eigenwilliger allegor. Konstruktionen. Am bedeutendsten sind die beiden letzten (1902/03) der vier Bände des Romans Im Reiche des silbernen Löwen (Bde. 1 u. 2, 1898), eine Verknüpfung von Religionsphilosophie u. autobiogr. Aufarbeitung mit gebrochenem Erzähler-Ich, sowie Ardistan und Dschinnistan (2 Bde., 1909), der menschheitsgeschichtl. Dimensionen mobilisiert u. in seiner Verschlüsselung hohe Abstraktionsgrade erreicht. In Und Friede auf Erden! (1904) votiert M. gegen den zeitgenöss. Imperialismus, u. in Winnetou IV (1910) geht es um den adäquaten Umgang mit dem gedankl. Erbe Winnetous. Neben den im engeren Sinne li-
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terarischen verfasst M. auch eine Reihe auto- bare Formeln verwandelt, die immer wieder biogr. Texte, darunter Mein Leben und Streben in aktuellen Berichten über die polit. Pro(1910) u. Frau Pollmer (1907), eine fulminante bleme der betreffenden Territorien VerwenHass-Schrift gegen die erste Ehefrau, die erst dung finden. Jahrzehnte nach M.s Tod veröffentlicht wurLiteratur: Bibliografien: Hainer Plaul: Illusde (Bamberg 1982). trierte K.-M.-Bibliogr. Lpz. u. Mchn. 1989. – Als einer der auflagenstärksten dt. Schrift- Wolfgang Hermesmeier u. Stefan Schmatz: K.-M.steller polarisierte M. nicht nur die Zeitge- Bibliogr. 1913–45. Bamberg/Radebeul 2000. – nossen. Namhafte Autoren wie die Expres- Weitere Titel: Hans Wollschläger: K. M. Reinb. 1965. sionisten Ehrenstein, Heym u. Robert Müller Neufassung u. d. T. K. M. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Gött. 2004. – Gerhard Klußmeier u. bekannten sich zu ihm, in späterer Zeit u. a. H. Plaul (Hg.): K. M. Biogr. in Dokumenten u. Carl Zuckmayer, Arno Schmidt – der M.s Al- Bildern. Hildesh. 1978. Neufassung u. d. T. K. M. u. terswerk zu den Gipfelpunkten der dt. Lite- seine Zeit. Bilder, Dokumente, Texte. Bamberg/ raturgeschichte zählte – u. Josef Winkler; Radebeul 2007. – Helmut Schmiedt: K. M. Ködagegen steht die radikale Ablehnung etwa nigst./Ts. 1979. Ffm. 31992. – Ders. (Hg.): K. M. Klaus Manns (Cowboy Mentor of the Führer. Ffm. 1983. – Martin Lowsky: K. M. Stgt. 1987. – 1940). Auch wurde M. selbst zum Gegenstand Gert Ueding (Hg.): K.-M.-Hdb. Stgt. 1987. Würzb. 2 2001. – Text + Kritik, Sonderbd. (1987). – Harald literar. Darstellung, z.B. in Peter Henischs Eggebrecht (Hg.): K. M. – der sächs. Phantast. Ffm. Erzählung Vom Wunsch, Indianer zu werden (1994), in der M. während seiner Reise nach 1987. – Bernhard Kosciuszko (Hg.): Großes K.-M.Figurenlexikon. Paderb. 1991. 3. Aufl. u. d. T. Das Amerika einen jungen Mann namens Franz große K. M. Figurenlexikon. Bln. 2000. – Heinrich Kafka kennenlernt. Die Literaturwissenschaft Pleticha u. Siegfried Augustin (Hg.): K. M. Leben – wandte sich M. erst seit den 1960er Jahren Werk – Wirkung. Ein Hdb. Stgt. 1996. – Claus intensiver zu, nicht zuletzt dank der Initia- Roxin: K. M., das Strafrecht u. die Lit. Tüb. 1997. – tiven der 1969 gegründeten Karl-May-Ge- Michael Petzel: Das große K.-M.-Lexikon. Bln. sellschaft (u. a. »Jahrbuch«). Seit 2008 ist sie – 2000. Neuausg. (von M. Petzel u. Jürgen Wehnert) in Kooperation mit dem Karl-May-Verlag u. u. d. T. Das neue Lexikon rund um K. M. Bln. 2002. der Karl-May-Stiftung – auch Herausgeber – Klaus Hoffmann: K. M.s Werke. Textgesch. – der von Hermann Wiedenroth u. Hans Woll- Textbearb. – Textkritik. Bln. 2001. – Hermann schläger 1987 begründeten »Historisch-kri- Wohlgschaft: K. M. Leben u. Werk. 3 Bde., Bargfeld 2005. – Dieter Sudhoff u. Hans-Dieter Steinmetz: tischen Ausgabe« der Werke; jahrzehntelang K.-M.-Chronik. 5 Bde., Bamberg, Radebeul 2005/ waren M.s Texte fast ausschließlich in 06. – Sabine Beneke u. Johannes Zeilinger (Hg.): K. sprachlich u. inhaltlich entstellten Fassungen M. Imaginäre Reisen. Bönen 2007. – H. Schmiedt u. erhältlich gewesen, die nach M.s Tod von Dieter Vorsteher (Hg.): K. M. Werk – Rezeption – Mitarbeitern des Karl-May-Verlags (Radebeul Aktualität. Würzb. 2009 bzw. Bamberg) erarbeitet wurden. Suzanne Tyndel / Helmut Schmiedt Mays singulärer Erfolg tritt auch in außerliterar. Bereichen zutage. In den 1960er Mayenburg, Marius von, * 21.2.1972 Jahren wurden seine Abenteuerromane zur München. – Dramatiker u. Dramaturg. Grundlage einer der kommerziell erfolgreichsten Serien der dt. Filmgeschichte, 2002 M. wuchs in München auf u. besuchte das füllte eine Parodie darauf, Der Schuh des Ma- Maximiliansgymnasium, an dem er 1991 das nitu, erneut die Kinos. Jährlich finden Karl- Abitur ablegte. Er studierte Altgermanistik May-Festspiele auf rd. einem Dutzend Frei- bis zur Zwischenprüfung, zunächst an der lichtbühnen des deutschsprachigen Raums Ludwig-Maximilians-Universität, ab Herbst statt. Der Name Winnetou ist über Jahrzehnte 1992 an der Freien Universität Berlin. Von hinweg ein Kristallisationspunkt deutscher 1994 bis 1998 studierte M. Szenisches Indianerbegeisterung gewesen u. auch heute Schreiben an der Hochschule der Künste in noch fast jedermann bekannt. M.’sche Buch- Berlin; Yaak Karsunke u. Tankred Dorst watitel wie Durchs wilde Kurdistan oder Durch das ren dort wichtige Lehrer für ihn. Seit Beginn Land der Skipetaren haben sich in frei verfüg- der Intendanz von Thomas Ostermeier 1999
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ist er Hausautor u. Dramaturg an der Berliner bourne (Australien) 2008. – Übersetzungen: Sarah Schaubühne am Lehniner Platz. Feuergesicht Kane: Gier (engl. Crave), 2000. In: Dies.: Sämtl. (Urauff. München 1998), ein expressives Werke. Reinb. 2002, S. 163–210. – William ShakeStück um Inzest, Mord u. Selbstzerstörung, speare: Macbeth. 2002. Hamlet. 2008. – Richard Dresser: Augusta. 2006. – Martin Crimp: Die Stadt u. Der Häßliche (Urauff. Berlin 2007), der vor (engl. The City). 2008. – Buchausgaben der Stücke: dem Hintergrund ökonomischen Leistungs- Feuergesicht. Parasiten. Zwei Stücke. Ffm. 2000. – drucks Fragen der Identität u. Individualität Das kalte Kind. Haarmann. Zwei Stücke. Ffm. u. deren Reproduzierbarkeit durch plast. 2002. – Eldorado, Turista, Augenlicht, Der HäßliChirurgie thematisiert, sind seine am häu- che. Stücke. Bln. 2007. figsten gespielten u. übersetzten Stücke. Literatur: Stephan Hilpold: M. v. M. In: LGL. Konflikte spitzen sich in M.s Stücken oft in Toni Bernhart spezifisch familiären oder familienähnl. Figurenkonstellation zu. In der Kritik gilt daMayer, Erich August, * 23.8.1894 Wien, her die Familie als M.s zentrales Thema. Ein † 9.4.1945 Wien (Freitod); Grabstätte: weiteres großes Thema ist der menschl. Körebd. Südwestfriedhof. – Erzähler, Lyriker, per. Er wird modifiziert u. deformiert, zerPublizist. stückelt oder neu zusammengesetzt. In Eldorado (Urauff. Berlin 2004), Turista (Urauff. Die Eltern M.s – der Vater war GymnasialWien 2005) u. Der Hund, die Nacht und das lehrer – stammten aus dem Sudetenland. Messer (Urauff. Berlin 2008) spielt die Natur 1912 begann M. ein Germanistikstudium, eine wichtige Rolle. Bäume, Wald und Tiere das er nach freiwilligem Kriegsdienst 1921 kontrastieren mit urbanem Raum oder mi- mit der Promotion abschloss. Als junger schen sich damit. Gespräch, Geschehen u. Lehrer, dessen Familie durch die Inflation ihr Geschichte entfaltet M. wesentlich auch aus Vermögen verloren hatte, verschrieb er sich der Sprache: Wortwitz u. bedeutungsver- zusehends dt.-völk. Gedankengut, so in der schiebende Wieder- u. Mehrfachaufnahmen Leitung der Wiener Sektion des Deutschen von Phrasen kennzeichnen viele seiner Stü- Schulvereins Südmark u. als Mitgl. der sog. cke. Dennoch sind die Dialoge straff. Cha- Morold-Runde um Max von Millenkovichrakteristisch für M.s Stücke sind der Kontrast Morold. Entscheidend wurde für M. jedoch zwischen rasch wechselnder Figurenrede u. die Begegnung mit Adolf Luser, dem wohl Monolog sowie die Verwendung filmischer bedeutendsten Verleger völkisch-nationaler Verfahren wie Schnitt u. Montage, etwa in Literatur der Ersten Republik. 1923 überDas kalte Kind (Urauff. Berlin 2002) oder Der nahm M. die Schriftleitung von dessen neu Stein (Urauff. Salzburg 2008). In fast allen gegründeter Familienzeitschrift »Der getreue Werken erkennbar ist der Glaube des Autors Eckart«, die, »auf streng arischer Grundlage an Linearität u. Erzählbarkeit von Lebens- geführt«, in kurzer Zeit zum populären völkisch-deutschnationalen Organ dieser Art läufen u. Geschichten. Weitere Werke: Theaterstücke: Messerhelden. wurde. Unterstützend gründete er 1927 den Urauff. Berlin 1996. – Monsterdämmerung oder »Eckart-Bund zur Förderung der schönen Von den fatalen Folgen des Ablebens v. Artur Moser Künste«. M., der »die Gedanken der Partei« senior, gestorben am neunzehnten April neun- in seinem »gesamten Schaffen« zu vertreten zehnhundertsiebenundneunzig in der Charité zu suchte u. 1932 der NSDAP beitrat, verbindet Berlin. Urauff. Berlin 1997. – Psychopathen. in seinen »Zeitromanen« zivilisationskritiUrauff. Wien 1998. – Parasiten. Urauff. Hamburg sche, völk. u. deutschnationale Elemente un2000. – Das Welttheater (zus. mit Roland Schimter zunehmend polit. Vorzeichen: Nach dem melpfennig, Albert Ostermaier u. Soeren Voima). Erfolg von Flammen (Wien/Bln./Lpz. 1928. Urauff. Frankfurt/M. 2000. – Haarmann. Urauff. 3 1940), einer dramatischen, im rumän. DoHannover 2001. – Fräulein Danzer. Eine blühende spielenden Dreiecksgeschichte, Landschaft. Urauff. Augsburg 2003. – Letzter naudelta wandte sich M. mit dem Entwicklungsroman Mann. Urauff. Düsseldorf 2006. – Augenlicht. Urauff. Berlin 2006. – Freie Sicht. Urauff. in engl. Gottfried sucht seinen Weg (Wien/Bln./Lpz. Übers. v. Maja Zade u. d. T. Moving Target, Mel- 1929) u. dessen Fortsetzung Werk und Seele
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(Wien/Bln./Lpz. 1930) einer unverhohlen antimodernen u. antidemokrat. Kritik der modernen Industriegesellschaft zu. Ein Kuriosum in formaler Hinsicht bildet sein Hexameterepos Paulusmarkt 17 (Wien 1935. 21943; 1937 Förderungspreis des österreichischen Staatspreises für Literatur), das den angebl. »Verfall« der bürgerl. Gesellschaft nach 1918 schildert. In seinen Bauernromanen Heimat (Gütersloh 1939. 31943. Zuerst als Fortsetzungsroman im »Getreuen Eckart« 1927/28) u. Der Knecht (Wien 1940. 31943) erklärt auch M. die »lebensspendende Erde« zur »ewigen« u. »heiligen« Konstanten der Geschichte. Weitere Werke: Raccolane. Wien 1923 (E.en). – O, ihr Berge! Wien/Bln./Lpz. 1931 (N.n). – Der Schuß in der großen Oper. Bln. 1932 (R.). – Der Umweg. Wien/Bln./Lpz. 1937. 31941 (R.). – Vergnügte Welt. Zehn heitere Gesch.n. Gütersloh 1941. 31942 (Feldausg.). – Schach dem Tode. Wien 1942. 41949 (R.). – Der Engel. Wien 1944 (R.). Literatur: Hermann Böhm: E. A. M. Völkischnat. Ideologie im österr. Roman der Zwischenkriegszeit. Diss. Wien 1980. Johannes Sachslehner / Red.
Mayer, Hans, * 19.3.1907 Köln, † 19.5. 2001 Tübingen. – Literaturwissenschaftler u. -kritiker; Essayist. M. wuchs auf als Sohn eines wohlhabenden jüd. Kaufmanns. 1925–1927 studierte er Jura, Geschichte u. Soziologie in Köln u. Berlin u. promovierte 1930 über Die Krisis der deutschen Staatslehre und die Staatsauffassung Rudolf Smends (Köln 1931). Die Große Juristische Staatsprüfung legte er im April 1933 ab. Als Mitgl. der kleinen Sozialistischen Arbeiterpartei floh M. 1933 vor der SA über Straßburg u. Paris nach Genf, wo er vorübergehend bei Hans Kelsen u. Carl J. Burckhardt weiterstudierte u. für Horkheimers Institut für Sozialforschung arbeitete. In Genf entstand seine erste, 1948 in Leipzig als Habilitationsleistung anerkannte germanist. Arbeit u. d. T. Georg Büchner und seine Zeit (Wiesb. 1946. Rev. Bln./DDR 1960). Nach Kriegsende kehrte M. nach Deutschland zurück, eine »Heimkehr in die Fremde«, wie er selbst sagte. Zunächst arbeitete er als Kulturredakteur der Deutsch-
amerikanischen Nachrichtenagentur u. 1946/ 47 unter Golo Mann als polit. Chefredakteur von Radio Frankfurt (Stephan Hermlin Literatur-, Karl Eduard von Schnitzler Jugendredakteur). 1948 erhielt er einen Ruf als Professor für Kultursoziologie, Geschichte der Nationalliteraturen u. Deutsche Literaturgeschichte nach Leipzig, wo er auch nach dem Mauerbau blieb. Es folgte ab 1956 die vielleicht schwierigste Zeit in M.s Leben. Nach jahrelanger Überwachung durch SED u. MfS u. zahlreichen öffentl. Angriffen musste er die DDR im Jahr 1963 verlassen. Auf Vermittlung von Walter Jens wurde er auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für dt. Literatur u. Sprache an die TU Hannover berufen (Lehrantritt 1965). Dort begründete er das »Literarische Colloquium Hannover«, das u. a. Günter Eich, Thomas Bernhard, Paul Celan, Elias Canetti u. den jungen Peter Handke zu seinen Gästen zählte. Nach seiner Emeritierng im Jahr 1973 kehrte M. dem ungeliebten Hannover den Rücken u. übernahm eine Honorar-Professur an der Universität Tübingen. Im Frühjahr 1979 lehrte er als Gastprofessor an der Hebräischen Universität Jerusalem. Im Wintersemester 1986/87 hielt er an der Universität Frankfurt einige PoetikVorlesungen, die u. d. T. Gelebte Literatur (Ffm. 1987) veröffentlicht wurden. Bis zu seinem Tod blieb M. als unermüdl. Publizist u. Vortragsredner tätig. Für sein essayist. Werk erhielt M. zahlreiche Preise, darunter 1955 den Nationalpreis der DDR für Wissenschaft u. Kunst (III. Kl.), 1980 den Literaturpreis der Stadt Köln, 1988 den Ernst-Bloch-Preis u. 1995 den HeinrichMann-Preis. M., der durch seine Leipziger Vorlesungen u. die häufige Teilnahme an den Tagungen der Gruppe 47 in Ost u. West zu einem der einflussreichsten Kritiker der neueren dt. Literatur geworden war, zeigte bereits in seinem Büchner-Essay, dass er sich auch als Germanist als »Außenseiter entworfen« hat. Nicht die Geistesgeschichte oder die sog. immanente Textanalyse sind Gegenstand seines Interesses, sondern die Literatur als Beitrag zur polit. Emanzipation u. als Aufbewahrung des Geistes in einer geistfeindl. Zeit. Dieser im weiten Sinne literatursozio-
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log. Ansatz hatte seine Wirkung v. a. in den Michael Lewin: Wir wollen nicht ohne Hoffnung 1960er u. 1970er Jahren u. wurde von M. in leben. Texte u. Beiträge anläßlich des 85. Geseinem Buch über Außenseiter (Ffm. 1975) burtstags v. H. M. Wien 1992. – Alfred Klein: Unbeispielhaft ausgeführt. Über den Kreis der ästhet. Feldzüge. Der siebenjährige Krieg gegen H. M. Lpz. 1997. – Ders., Klaus Pezold u. Manfred Fachwissenschaft hinaus wurde M. auch als Neuhaus (Hg.): H. M.s Leipziger Jahre. Lpz. 1997. – Vortragsredner bekannt, der aufgrund der Michael E. Sallinger: H. M. in seiner Zeit. Ein unüberschaubaren Zahl seiner persönl. Be- Versuch. Innsbr. 2004. – Mark Lehmstedt (Hg.): Der kanntschaften eine Literaturgeschichte aus Fall H. M. Dokumente 1956–63. Lpz. 2007. – Hanjo erster Hand zu liefern vermochte (z.B. in Kesting: Begegnungen mit H. M. Aufsätze u. GeZeitgenossen. Erinnerung und Deutung. Ffm. spräche. Gött. 2007. 1998). Tatsächlich ist der autobiogr. Bezug in Johannes Schulz / Marco Schüller fast allen Büchern u. Studien M.s vorhanden, am schönsten vielleicht in seinem 1999 in Leipzig erschienenen Buch Gelebte Musik Mayer, Hansjörg, * 27.2.1943 Stuttgart. – (Ffm. 1999). Wenn er im Nachwort zu seiner Verfasser konkreter Poesie, Typograf, Essaysammlung über Brecht (Ffm. 1996) sagt, Verleger. dass er »Erinnerung und Deutung miteinander verbinden möchte«, so ist das gewiss auch Nach einer Volontärzeit als Buchdrucker eine Aussage über die Intention hinter sei- studierte M. an der Hochschule für graphische Gestaltung u. bei Max Bense an der nem gesamten schriftstellerischen Schaffen. Universität Stuttgart. 1962 begann er, seine Weitere Werke: Ansichten über einige neue Bücher u. Schriftsteller (zus. mit Stephan Hermlin). »typoems«, eine typograf. Form der konkreWiesb. 1947. Erw. Bln. 1947. – Lit. der Über- ten Poesie, zu entwerfen u. in Stuttgart als gangszeit. Bln. 1949. Wiesb. 1951. – Thomas Handpressendrucke selbst zu verlegen. Schon Mann. Bln./DDR 1950. – Richard Wagners geistige alphabet (Stgt. 1963) präsentierte Arbeiten, die Entwicklung. Düsseld. 1954. – Dt. Lit. u. Weltlit. bis heute zu seinen bekanntesten zählen. Sie Bln./DDR 1957. – Von Lessing bis Thomas Mann. bestehen jeweils aus einem Buchstaben, verPfullingen 1959. – Bertolt Brecht u. die Tradition. vielfacht u. in verschlungenen KonstellatioPfullingen 1961. – Heinrich v. Kleist. Pfullingen nen abgebildet. Als Textbilder sind es Werke 1962. – Ansichten. Zur dt. Lit. der Zeit. Hbg. 1962. im Grenzbereich von Literatur u. bildender – Goethe. Ein Versuch über den Erfolg. Ffm. 1973. Kunst, eine Schrift ohne Semantik, visuell – Doktor Faust u. Don Juan. Ffm. 1978. – Versuche einprägsam, aber nicht zitierbar, reproduüber die Oper. Ffm. 1981. – Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen. 2 Bde., Ffm. 1982–84. – zierbar wie ein Bild oder ein Text. Später Ein Denkmal für Johannes Brahms. Versuche über verwendete M. auch komplexere SprachmitMusik u. Lit. Ffm. 1983. – Das unglückl. Bewußt- tel; beim Versuch, konkrete Poesie mit polit. sein. Zur dt. Literaturgesch. v. Lessing bis Heine. Engagement zu verbinden, entstand das beFfm. 1986. – Versuche über Schiller. Ffm. 1987. – rühmt-berüchtigte Ideogramm sau aus usa Die umerzogene Lit. Dt. Schriftsteller u. Bücher (Stgt. 1965). Mit der 1964 gegründeten edi1945–67. Bln. 1988. – Die unerwünschte Lit. Dt. tion hansjörg mayer, der zeitweise noch eine Schriftsteller u. Bücher 1968–85. Bln. 1989. – Galerie angegliedert war, wurde M. einer der Wendezeiten. Über Deutsche u. Dtschld. Ffm. wichtigsten Verleger für Schriftsteller u. 1993. – Der Widerruf. Über Deutsche u. Juden. Künstler, die in ähnl. Grenzbereichen arbeiFfm. 1994. – Brecht. Ffm. 1996. – Goethe. Hg. Inge ten. Die Autoren der Stuttgarter Gruppe um Jens. Ffm. 1999. – Bürgerl. Endzeit. Reden u. Vorträge 1980–2000. Ffm. 2000. – Briefe 1948–63. Bense, namentlich Reinhard Döhl, ferner Claus Bremer, Dieter Roth (The Piccadillies, Lpz. 2006. postum, 2005), Gerhard Rühm, André Literatur: Walter Jens u. Fritz J. Raddatz (Hg.): H. M. zum 60. Geburtstag. Reinb. 1967. – Inge Jens Thomkins, Oswald Wiener u. andere haben (Hg.): Über H. M. Ffm. 1977. – H. M. zu Ehren. bei M. Texte, Grafik, Schallplatten, Objekte Ffm. 1978. – Gert Ueding (Hg.): Materialien zu H. u. Videobänder veröffentlicht. Seit 1967 lebt M.s ›Außenseiter‹. Ffm. 1978. – Literar. Welt. Do- M. als Dozent der Watford School of Art meist kumente zum Leben u. Werk v. H. M. Köln 1985. – in London.
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Weitere Werke: 19 typographien. Stgt. 1962. – Serie rosenschuttplatz. Stgt. 1964. – fortführungen. Stgt. 1964–66. – alphabetenquadratbuch. Stgt. 1965. – typoaktionen. Ffm. 1967. – Just Ice. Bis zum Umfallen. London 1987. Literatur: H. M. typoems. Stgt. 1965 (Ausstellungskat.). – Publikaties van de edition en werk van H. M. Den Haag 1968 (Ausstellungskat.). – Thomas M. Neuffer: Über H. M. In: Minipressenmessekatalog. Mainz 1971. Wilfried Ihrig / Günter Baumann
Mayer, Johann Friedrich, * 6.12.1650 Leipzig, † 30.3.1712 Stettin. – Lutherischer Theologe, Gelehrter, Kirchenpolitiker. M. entstammte einer hochangesehenen Leipziger Familie, studierte an den Universitäten in Leipzig u. Straßburg, wurde schon 1668 Magister, 1672 Lic. theol. sowie 1674 Dr. theol. Sonnabendprediger in Leipzig 1672, versah er Superintendentenämter in Leisnig (1673) u. in Grimma (1678). Mit dem Antritt einer theolog. Professur in Wittenberg 1684 war ihm ein Lebenswunsch erfüllt. 1687 folgte er – ungern – einem Ruf auf das Jakobi-Pfarramt in Hamburg. Reiche Predigttätigkeit, akadem. Wirken in Hamburg u. Kiel u. (kirchen-)polit. Aktivitäten (sehr bald der Kampf gegen Separatismus, Streit um die – von M. nicht abgelehnte – Oper, Hamburger »Religions-Eid«, das Bürgertum stärkende Unruhen um Johann Heinrich Horb) zeichneten ihn ebenso aus wie umfangreiche literar. Tätigkeit. Sein Ruhm brachte ihm Rufe (u. a. nach Dorpat) u. Ämter ein: 1691 wurde M. vom schwed. König Karl XI. zum ersten Kirchenrat der Schwedenprovinzen in Deutschland ernannt, 1698 folgte die Ernennung durch die Fürstäbtissin von Quedlinburg zum Oberkirchen- u. Konsistorialrat sowie zum Vertreter am Berliner Hof. Sein neues Amt als Professor Theol. Prim. u. Pastor an St. Nicolai in Greifswald, verbunden mit der Generalsuperintendentur von Vorpommern u. dem Amt des Prokanzlers der Universität, trat M. 1701 an. In die Kriegswirren war er ab der Niederlage der Schweden 1709 verwickelt; vom übermächtigen russ. Feind an der Erfüllung seiner Amtspflichten ge-
hindert, legte er seine Ämter nieder u. zog sich nach Stettin zurück. M. war schließlich erklärter Gegner des seiner Meinung nach die Schwärmerei, den Synergismus u. die Lehrindifferenz fördernden Pietismus, dabei aber offenbar von »de(m) hochselige(n) [Johann] Arndt« absehend. Philipp Jacob Spener u. August Hermann Francke waren prominente, aber bei Weitem nicht die einzigen Gegner (z.B. Kontroverse mit Johann Melchior Stenger oder Kritik an Johann Reinhard Hedingers Übersetzung des Neuen Testaments, 1701). Speners eingeräumte, in gedruckten Predigten gelegentlich vernachlässigte »genaue beobachtung aller worte« (Schriften, Bd. 5, S. 520) provozierte Polemiken. Mit der unter dem Namen »Buttlarsche Rotte« bekannten Sozietät der Mutter Eva (von Buttlar) nutzte M. – von Christian Thomasius kritisiert – freilich einen spektakulären Vorgang zur Desavouierung des Pietismus (Nova atque antiqua abominanda Pietistarum Trinitas. Greifsw. 1705. 1709). Pauschalurteile über den »Pietistenhammer« M. lösen sich nur bei wirkl. Kenntnis seiner literar. Hinterlassenschaft auf, z.B. seines wichtigen Museum ministri ecclesiae (Bd. 1, Hbg. 1690 u. ö. Bd. 2, Lpz. 1718). Interesse an Spektakulärem zeigt auch M.s Beteiligung an Auseinandersetzungen um das »Rätsel« des Betrügerbuchs De Tribus Impostoribus (Mulsow 2002). Katholizismus u. (wohl weniger) Calvinismus waren die beiden weiteren literar. Gegner M.s. Der Kriegsverlust des größeren Teiles seiner riesigen Korrespondenzsammlung der Universitätsbibliothek Greifswald, die der 1887–1892 ebendort tätige Georg Steinhausen (1866–1933) für seine Geschichte des deutschen Briefes (1889/91) umfangreich herangezogen hat, ist nicht nur in diesem Zusammenhang ein herber Verlust. Die Auswertung noch vorhandenen Materials indes ist ertragreich (Blaufuß 2003, s. u., S. 330–333). Persönliche Kränkung spielt in M.s sich in Greifswald noch lange fortsetzender Polemik gegen den Pietismus, v. a. aber in derjenigen gegen Spener in den 1690er Jahren, gewiss eine (im Einzelnen schwer auszumachende) Rolle. Spener war im Oberkonsistorium amtlich mit der Ende 1686 erfolgten Schei-
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dung M.s von seiner Ehefrau Katharina Sabina Welsch (mit Verbot der Wiederverheiratung) befasst u. danach – ausweislich eines markanten Briefes vom 17.12.1691 (Blaufuß 2003, S. 335 f.) – in diesem Zusammenhang auch seelsorgerlich tätig. Das Übergehen M.s bei Wittenberger Lehrstuhlbesetzungen tat ein Übriges. Jenes individuelle Motiv darf nicht den Blick verstellen auf mögliche theolog. Gründe für die Auseinandersetzung (z.B. am Weltende Bewahrung der Gläubigen vor des Antichrists Verführung durch falsche Lehre). Mit dem Spener-Freund Johann Winckler konnte M. einig sein in der Fürsprache für Abraham Hinckelmanns Berufung nach Hamburg u. im Kampf gegen Johann Wilhelm Petersens Lehre vom Tausendjährigen Reich – letzteres in einem Dreifachbild M., Johann Wilhelm u. Johanna Eleonora Petersen visualisiert (Kremer, 1997, S. 115). Vor wenig maßvoller Polemik wichen jedoch wiederholt Kontrahenten zurück (Johann Heinrich Horb, Johann Fischer, Johann Konrad Dippel) u. ließen berechtigte Sachanliegen so nicht zum Zuge kommen. Die Fülle von Veröffentlichungen M.s, der sich auf nahezu allen theolog. Feldern, auch dem der Aszetik, literarisch bewegte (z.B. Bibliotheca biblica. Ffm./Lpz. 21709), ist schier unübersehbar. Stil u. Gehalt von Veröffentlichungen aus verschiedenen Zeiten unterscheiden sich z.T. erheblich. M. hat viele, meist lutherisch-orthodoxe, Werke anderer herausgegeben – wie auch nach M.s Tode noch manche seiner Werke z.B. durch Erdmann Neumeister veröffentlicht wurden. Als Kontroverstheologe ist M. nicht ausreichend charakterisiert. Die Melanchthon-Beschäftigung M.s, mit unterschiedl. Ergebnissen, tangierte durchaus sein Verhältnis zum luth. Bekenntnis. Erbauliche Predigten u. etwa Bemühung um ein Gesangbuch (1700 [?], s. Leube 1975, S. 58) waren auch Anliegen M.s. M. gehört in den Kreis jeweils sehr eigenständiger spätorthodoxer Lutheraner wie Ernst Salomon Cyprian, Erdmann Neumeister u. Valentin Ernst Löscher, wobei Letzterer in seiner Zeitschrift »Unschuldige Nachrichten« für die Bekanntmachung M.’scher Werke sorgte. M. repräsentiert – auch hinsichtlich der Gelehrsamkeit (M.s Bibliothek umfasste
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18.000 Bände) – eine durchaus vitale »Orthodoxie« des Luthertums. Weitere Werke: A. H. Francke: Streitschr.en. Bln./New York 1981 (mit M.-Texten). – Vermischte Slg. v. allerhand gelehrten u. nützl. Sachen/Greifswalder Wochenbl. v. J. H. Balthasar. Greifsw. 1744. – J. C. Dähnerts ›Pommersche Bibliothek‹. Bd. 2, Greifsw. 1753, S. 405–424, 445–459, 525–535; Bd. 3, 1754, S. 41–58, 83–93. – Kurt Detlev Möller: Johann Albrecht Fabricius 1668–1736. In: Ztschr. des Vereins für hamburg. Gesch. 36 (1937), S. 1–64, hier S. 43 ff. – Leibniz Akademie-Ausg. I, 16, N. 386, 398. – Handschriftl. Briefsammlungen in UB Greifswald, Staats- u. Universitätsbibl. Hamburg (über 80 Briefpartner: Krüger 1978, S. 1343 f.), Staats- u. Stadtbibl. Augsburg (an G. Spizel), Bibl. Predigerseminar Wittenberg (s. Blaufuß 2003, S. 328–334). Literatur: Bibliografie: Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller bis zur Gegenwart. Bd. 5, Hbg. 1870, S. 89–164, hier S. 102 ff. (v. Friedrich Lorenz Hoffmann). – Heiduk/Neumeister, S. 408–410 (dt. Schr.en). – Jaumann Hdb., Bd. 1, S. 442 (16 Werke M.s genannt). – Von M. hg. Werke: Blaufuß 2003, S. 319 f.; Kontroverse mit August Hermann Francke ebd., S. 309. – Postum herausgegebene Werke: Heiduk/Neumeister, S. 518, Nr. 44–47, 62; S. 522, Nr. 130. – Briefe: Estermann/ Bürger, Tl. 1, S. 818 f.; Tl. 2, S. 975. – Bibliothek: BIBLIOTHECA MAYERIANA. 2 Bde., Bln. 1715. 48. 1004 S. Erarbeitet v. Jakob Heinrich v. Balthasar [Schloss-Bibl. Pommersfelden]. – Weitere Titel: Zedler. – Johann Georg Walch: Histor. u. theolog. Einl. in die Religions-Streitigkeiten der Evang.Luth. Kirche. Tle. 3 u. 5, Jena 1733. 1739. Nachdr. mit einem Nachw. v. Dietrich Blaufuß. Stgt. 1985 (jeweils Register). – Johannes Geffcken: J. F. M. als Prediger. In: Ztschr. des Vereins für hamburg. Gesch. 1 (1841), S. 567–588. – F.[riedrich] L.[orenz] Hoffmann: J. F. M. In: Serapaeum 26 (1865), S. 209–222. – Theodor Pyl: M. In: ADB. – O. Rüdiger: Das Pfalzgrafendiplom für J. F. M. In: Mitt.en des Vereins für hamburg. Gesch. 7 (1903), S. 339–346. – Helmut Lother: Pietist. Streitigkeiten in Greifswald. Gütersloh 1925. – Adolf Hofmeister: Eine Denkschr. J. F. M.s [...]. In: Monatsbl. Hg. v. der Gesellsch. für Pommersche Gesch. u. Altertumskunde 45 (1931), S. 157–161, 173–181. – William Nagel: D. J. F. M. [...] (1701–12). In: FS zur 500-Jahrfeier der Univ. Greifswald. Bd. 2, Greifsw. 1956, S. 34–47. – Hermann Rückleben: Die Niederwerfung der hamburg. Ratsgewalt. Hbg. 1970. – Friedehilde Krause: Eine Buchauktion [...]. Das abenteuerl. Schicksal der Bibl. v. J. F. M. In: Marginalien. Ztschr. für Buchkunst u. Bibliogr. 45
Mayer (1972), H. 1, S. 16–28. – Hans Leube: Orthodoxie u. Pietismus. Ges. Studien. Bielef. 1975. – Nilüfer Krüger (Bearb./Hg.): Kat. der Uffenbach-Wolfschen Briefslg. Hbg. 1978. – W. Gordon Marigold (Hg.): Barthold Feind, ›Das verwirrte Haus Jacob‹. Bern/ Ffm. 1983, S. 25*-50*, 77*-82*. – Ernst Fischer: Patrioten u. Ketzermacher. In: FS Wolfgang Martens. Tüb. 1989, S. 17–47. – Gesch. Piet. Bd. 1, S. 344–351, 387 u. ö. (Register). – Katharina Bethge: Epistolae Theologicae [...] [an] Abraham Calov. In: PuN 22 (1996), S. 12–68. – Volker Gummelt: J. F. M. Seine Auseinandersetzungen mit Philipp Jacob Spener u. August Hermann Francke. Habil. Theol. (Masch.) Greifsw. 1996. – Martin Gierl: Pietismus u. Aufklärung. Theolog. Polemik u. die Kommunikationsform der Wiss. am Ende des 17. Jh. Gött. 1997, S. 593–595 u. ö. – Joachim Kremer: Joachim Gerstenbüttel (1647–1721) im Spannungsfeld v. Oper u. Kirche [...] Hamburgs. Hbg. 1997, S. 106–118 u. ö. – Willi Temme: Krise der Leiblichkeit. Die Sozietät der Mutter Eva [...]. Gött. 1998, S. 15–18 u. ö. – V. Gummelt: Äußerungen zu Philipp Melanchthon im Werk J. F. M.s. In: Melanchthonbild u. Melanchthonrezeption in der luth. Orthodoxie u. im Pietismus. Hg. Udo Sträter. Wittenb. 1999, S. 93–104. – August Hermann Francke 1663–1727. Bibliogr. [...]. Bearb. Paul Raabe u. Almut Pfeiffer. Halle/Tüb. 2001, S. 125 u. 648. – Martin Mulsow: Moderne aus dem Untergrund [...]. Hbg. 2002. – Dietrich Blaufuß: Der Theologe J. F. M. (1650–1712). Fromme Orthodoxie u. Gelehrsamkeit im Luthertum. In: Ders.: Korrespondierender Pietismus. Ausgew. Beiträge. Hg. Wolfgang Sommer u. Gerhard Philipp Wolf. Lpz. 2003, S. 303–336 (ohne die im Erstdr. 1994 enthaltene Abb. bei Gierl, S. 131; 304 Anm. 5 weitere Lit.). – Philipp Jakob Spener: Schr.en. Bd. 5, Hildesh. u. a. 2005, S. 68 der Einl. Dietrich Meyers [S. 15–73 (96)], S. 864–913. – Heike Krauter-Dierolf: Die Eschatologie Philipp Jakob Speners. Tüb. 2005, S. 90–107, 349 u. ö. – V. Gummelt: Der Maßlose. J. F. M. – Wächter der Orthodoxie, virtuoser Prediger, Bibliomane. In: Greifswalder theolog. Profile [...]. Hg. Irmfried Garbe u. a. Ffm. 2006, S. 45–56. – Greifswalder Köpfe [...]. Hg. Birgit Dahlenburg [...]. Rostock 2006 (Ölporträt M. im Rektoratsmantel). – Philipp Jakob Spener: Briefw. mit August Hermann Francke 1689–1704. Tüb. 2006; Briefe aus der Dresdner Zeit. Bd. 2, Tüb. 2009, S. 53 f., 453. Dietrich Blaufuß
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Mayer, Johann (Georg) Friedrich (Hartmann), * 21.9.1719 Herbsthausen/Franken, † 17.3.1798 Kupferzell/Hohenlohe. – Publizist, Autor von Reisebeschreibungen, volksaufklärerischen u. ökonomischen Schriften; Geistlicher. Der Sohn eines Schultheißen, Richters u. Gastwirts besuchte das Gymnasium in Öhringen u. studierte 1737–1740 in Jena Theologie. 1741 wurde er zunächst Pfarrer in Riedbach; im selben Jahr heiratete er Anna Charlotte Hirschmann, mit der er fünf Töchter u. neun Söhne hatte. 1745 wurde er zum Pfarrer in Kupferzell berufen, wo er bis zu seinem Tod auch als prakt. Landwirt u. Bauernaufklärer wirkte. Seine Tätigkeit als volksaufklärerischer Autor begann M. 1768 mit einem Aker-Catechismus, der in den Abhandlungen der bernischen ökonom. Gesellschaft u. 1770 als Catechismus des Feldbaues (Ffm.) auch separat erschien. Die in mehreren Auflagen zuerst 1768 in Ansbach erschienene Schrift Die Lehre vom Gyps ab einem vorzüglich guten Dung brachte ihm den respektvoll-spött. Beinamen »GipsMayer« ein. Großes Ansehen, das sich in der Berufung zum Mitgl. von neun gemeinnützigen u. gelehrten Gesellschaften zeigt, erlangte er durch seine Zeitschrift »Beyträge und Abhandlungen zur Aufnahme der Landund Haußwirthschaft nach den Grundsätzen der Naturlehre und der Erfahrung entworfen« (14 Bde., 1769–86), die zu einem der wichtigsten Foren der in der gemeinnützigökonom. Aufklärung engagierten Gebildeten wurde u. deren wichtigste Beiträge M. selbst verfasste. Charakteristisch für die Zeitschrift ist ein hohes Maß an Reflexion u. eine oft radikale Kritik an feudal-absolutist. Missständen. 1776 erschien hier u. d. T. Maximen in dem Lebenslaufe eines Bauren, welcher durch dieselben, vermittelst eines geringen Vermögens, ein reicher Mann geworden ist die erste literar. Gestaltung eines Musterbauern. Seit 1771 gab M. in Öhringen u. d. T. »Oekonomischer Schreib-Kalender« einen aufklärerischen Kalender heraus. Kulturgeschichtlich bedeutend ist das Lehrbuch für die Land- und Haußwirthe (Nürnb. 1773), das M. unter dem Eindruck der Hungerkrise verfasste, u. die vier-
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bändige Schrift Romani, eines edlen Wallachens, Landwirthschaftliche Reise (Nürnb. 1775–82). Zu den besten Werken unterhaltsamer literar. Volksaufklärung gehören M.s Schriften Gallerie von Schilderungen guter und böser Hauswirthe in ihren Lebensläufen (Nürnb. 1781) u. Kupferzell durch die Landwirthschaft im besten Wohlstande. Das lehrreichste und reizendste Beispiel für alle Landwirthe (Lpz. 1793). Weitere Werke: Die Lehre der Evang. Kirche zum Unterricht für die Jugend in Fragen u. Antworten abgehandelt. Ffm. 1771. – M. Terentius Varro: Von der Landwirthschaft mit Anmerkungen (u. Übers.) v. M. Nürnb. 1774. – Mein Ökonom. Briefw. Bde. 1–3, Ffm. 1778–80. – Der sichere Nothhelfer für Stadtbewohner u. Landleute. Wien 1795 – Predigtbuch für christl. Bürger u. Landleute [...]. Heilbr. 1800. Literatur: Karl Schumm: Pfarrer J. F. M. u. die hohenlohesche Landwirtschaft im 18. Jh. In: Jb. des Histor. Vereins für Württembergisch Franken (1955), S. 138–167. – Holger Böning u. Reinhart Siegert: Volksaufklärung. Biobibliogr. Hdb. zur Popularisierung aufklärer. Denkens im dt. Sprachraum v. den Anfängen bis 1850. Bd. 1, Stgt.-Bad Cannstatt 1990. – Alois Schmid: Pfarrer J. M. aus Kupferzell im Fürstentum Hohenlohe – der ›Gipsapostel‹. Ein Wegbereiter der dt. Agraraufklärung. In: Persönlichkeit u. Gesch. Hg. Helmut Altrichter. Erlangen/Jena 1997, S. 105–126. Holger Böning / Red.
Mayer, Karl (Friedrich Hartmann), auch: Tiro, * 22.3.1786 Neckarbischofsheim, † 25.2.1870 Tübingen. – Lyriker, Herausgeber u. Biograf. Der Sohn aus einflussreicher altwürttembergischer Honoratiorenfamilie bezog 1803 als Student der Rechte die Universität Tübingen, wo er Anschluss an den literar. Freundeskreis um Kerner u. Uhland fand. Zu dessen Gemeinschaftsunternehmen, dem handschriftl. »Sonntagsblatt für gebildete Stände« (1807), steuerte er v. a. satir. Zeichnungen gegen die rationalist. Gegner des romantisch orientierten Zirkels bei. Zunächst als Advokat in Heilbronn tätig, trat M. 1818 in den Staatsdienst u. wurde 1824 zum Oberamtsrichter in Waiblingen ernannt: sein gastl. Haus war eines der Zentren literar. Geselligkeit in Württemberg. 1831 entsandte ihn das Ober-
amt Weinsberg in den von König Wilhelm I. seiner liberalen Unbotmäßigkeit wegen bald wieder aufgelösten Landtag. 1833 mit großer Mehrheit erneut gewählt, konnte er sein Mandat nicht wahrnehmen, da ihm der König die dienstl. Beurlaubung verweigerte. Nach längerem Bemühen wurde er 1843 zum Oberjustizrat befördert u. an den Gerichtshof des Schwarzwaldkreises in Tübingen versetzt. Abgesehen von einigen Gedichten in zwei von Kerner u. Uhland 1812/13 redigierten Almanachen wurde M. erst als 40-Jähriger literarisch produktiv. Vermittelt durch Lenau, legte er 1833 bei Cotta die Sammlung seiner Lieder (erw. 21839. 31864) vor. Neben ihrer epigrammat. Kürze kennzeichnet die enge themat. Beschränkung M.s umfangreiches lyr. Werk, das seine Entstehung auf ausgedehnten Wanderungen u. »amtlichen Gängen durch Feld und Wald« keineswegs verschweigt. Mit Ausnahme weniger polit. Verse u. Gelegenheitspoesien ist die an Traditionen des 18. Jh. erinnernde Naturbeschreibung mit Blick auf die kleine, unscheinbare Einzelheit, häufig verknüpft mit moralischer Reflexion, das einzige Thema seiner gern zyklisch angeordneten Miniaturen in Reimstrophen. Dieser gelegentlich von unfreiwilliger Komik durchzogenen, dilettantischen Anspruchslosigkeit wegen diente M. in Heines Polemik (in: Die Romantische Schule, 1836) gegen die »Schwäbische Dichterschule« als bevorzugte Zielscheibe des Spotts: »er ist eine matte Fliege und besingt Maikäfer.« Hohe Wertschätzung erfuhr M. hingegen durch Mörike, der ihn ab 1840 in einem langen literar. Briefwechsel beim Druck seiner Gedichte beriet. Nach seiner Pensionierung 1851 wandte sich M. mehr u. mehr der Dokumentation seiner lebensgeschichtl. Zeugenschaft zu. Er besorgte eine kommentierte Edition der Korrespondenz mit Lenau (Stgt. 1853) u. veröffentlichte eine kurze Autobiografie (Album schwäbischer Dichter. 3. Lfg., Tüb. 1864). Mit den zweibändigen Erinnerungen Ludwig Uhland, seine Freunde und Zeitgenossen (Stgt. 1867), einer atmosphärisch reizvollen Darstellung, der als Anhang ein Aufsatz Über kurze Gedichtgattungen beigefügt ist, in dem er
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die eigene lyr. Praxis verteidigt, wurde er zum wichtigen Chronisten der »Schwäbischen Romantik«. Literatur: Ambros Mayer: Der schwäb. Dichterbund. Innsbr. 1886, S. 116–163. – Bernhard Zeller: K. M. Sein Freundes- u. Familienkreis. Marbach 1954. – Gerhard Storz: K. M. In: Ders.: Schwäb. Romantik. Stgt. 1967, S. 72–80. – Wilhelm Glässner: Eduard Mörike u. der Waiblinger Oberamtsrichter K. M. In: Schwäb. Heimat 27 (1976), S. 138–148. – B. Zeller: Lit. u. Geselligkeit. K. M. u. seine Freunde. In: Waiblingen in Vergangenheit u. Gegenwart 5 (1977), S. 97–116. – W. Glässner: K. M. Eine Bibliogr. Ebd., S. 117–121. – B. Zeller: K. M. d.Ä. (1786–1870) u. die literar. Zirkel. In: Aufruhr u. Entsagung 1992, S. 256–280, 472–473. – ›O welche Welt vor meinen Füssen!‹ K. M.s Naturlyrik. Hg. Helmut Herbst. Tüb./Stgt. 1994. Hans-Rüdiger Schwab / Red.
später setzten zahlreiche in- u. ausländ. Ehrungen ein. Weitere Werke: Die Mechanik der Wärme in ges. Schr.en. Stgt. 1867. 31893. – Kleinere Schr.en u. Briefe. Hg. Jacob J. Weyrauch. Stgt. 1893. – Die Mechanik der Wärme – Sämtl. Schr.en. Hg. Peter Münzenmayer. Heilbr. 1978. Literatur: Bibliografie: Gisela Eisert: R. M. Bibliogr. Heilbr. 1978. – Weitere Titel: Eugen Dühring: R. M. – der Galilei des 19. Jh. Chemnitz 1880. – Erich Pietsch u. Hans Schimank (Redaktion): J. R. M. u. das Energieprinzip. Bln. 1942. – Helmut Schmolz u. Hubert Weckbach: R. M. Sein Leben u. Werk in Dokumenten. Weißenhorn 1964. – Kenneth L. Caneva: R. M. and the Conservation of Energy. Princeton 1993. – Maria Osietzki: J. R. M. als Wissenschaftler des 19. Jh. In: Cardanus 4 (2004), S. 47–62. Roland Pietsch / Red.
Mayer, (Julius) Robert von (seit 1867), Mayer, Tobias d.Ä., * 17.2.1723 Marbach, * 25.11.1814 Heilbronn, † 20.3.1878 † 26.2.1762 Göttingen. – Mathematiker Heilbronn; Grabstätte: ebd., Alter Fried- u. Astronom. hof. – Arzt u. Physiker. Vom früh verstorbenen Vater im elementaren Der Apothekerssohn immatrikulierte sich nach dem Besuch des Gymnasiums 1831 in Tübingen als Student der Medizin. Wegen Mitwirkung im Studentenkorps Guestphalia zeitweise relegiert, legte er 1838 beide Staatsprüfungen ab u. wurde zum Dr. med. et chir. promoviert. 1839 trat er als Schiffsarzt in holländ. Dienste u. reiste 1840 auf einem Dreimastschoner von Rotterdam zur Insel Java. 1841 zurückgekehrt, wurde er zum Oberamtswundarzt des Bezirks Heilbronn gewählt. Die im trop. Klima Ostindiens gemachte Feststellung der Wärmeerzeugung im Blut anhand der auffallend hellroten Färbung des Venenbluts führte M. zu einer der größten physikal. Entdeckungen des 19. Jh.: dem Satz von der Erhaltung der Energie. 1842 veröffentlichte Liebig in den »Annalen der Chemie und Pharmacie« M.s Erstlingsarbeit: Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur. Wegen fehlender wiss. Anerkennung u. anderer Missverständnisse, die M. als Provokation empfand, stürzte er sich 1850 aus dem Fenster (nachfolgende Gehbehinderung); 1851–1853 wurde er in der Nervenheilanstalt Winnenthal behandelt. Erst Jahre
Bereich unterrichtet, erwarb M. sich während einer Malerausbildung weitgehend als Autodidakt die mathemat. Kenntnisse, um seinen Lebensunterhalt durch Privatunterricht verdienen zu können (hierzu verfasste er zwei Elementarbücher). Später trat er in den Kartenverlag Homann in Nürnberg ein, bevor er 1751 Professor für Mathematik u. Ökonomie in Göttingen wurde. Hier übernahm er 1754 auch die Leitung der neu errichteten Sternwarte, wo er sich im Bereich der angewandten Mathematik Problemen der Optik u. des Erdmagnetismus widmete, vorwiegend jedoch der Astronomie, in der ihm als Kartografen bes. die Verbesserung der geograf. Längenbestimmung am Herzen lag. Da diese v. a. auf See noch über gleichzeitig angestellte Mondbeobachtungen erfolgen musste, widmete er sich speziell der Theorie der Mondbewegung, der Mondtopografie u. der Vermessung der Fixsternörter in der Nähe der Ekliptik (Mondbahn). Er entwickelte hierzu neben instrumentellen Verbesserungen (u. a. Ablesemikroskop) Methoden zum Ausgleich von Instrumenten- u. Messfehlern, die erst von Gauß verbessert werden konnten. Die dem 1714 vom engl. Parlament einberufenen »Board of Longitude« eingereichten Ergeb-
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nisse – seine Mondtabellen blieben lange Solved the Greatest Scientific Problem of his Time. unübertroffen – überzeugten sowohl bei der New York 1995. Dt. Bln. 1996. – Dies. u. William J. astronom. Prüfung in Greenwich als auch bei H. Andrewes: The Illustrated Longitude [...]. Londer praktischen (auf offener See durch Beob- don 1999 u. ö. Dt. Bln. 1999 u. ö. – Fritz Krafft: Vorstoß ins Unerkannte. Weinheim 1999, achter der Britischen Admiralität) u. veranS. 287–289. – E. Roth: T. M. u. seine Landkarten. lassten nach M.s plötzl. Tod die Längen- Marbach 2000. – Axel Wittmann: ›Er habe selbst kommission, seiner Witwe einen beträchtl. nicht gewußt, daß er so viel wisse.‹ – T. M. u. seine Anteil (3000 Pfund) des ausgelobten Preises Bedeutung für Lichtenberg u. die Astronomie in auszuzahlen. 1760 gelang M. erstmals der Göttingen. In: Lichtenberg-Jb. 2008, S. 41–63. – Nachweis von Eigenbewegungen naher Fix- Reihe: Schriftenreihe des T.-M.-Museums e. V. sterne, womit die Kosmologie in eine neue Marbach (gegr. 1981). Fritz Krafft empir. Phase trat – ebenso wie durch seinen Nachweis des Fehlens einer MondatmosphäMayr, Beda, * 15.1.1742 Taiting bei Augsre. burg, † 28.4.1794 Donauwörth. – VerfasDie meisten Schriften u. Beobachtungsser theologischer Schriften; Dramatiker. aufzeichnungen M.s wurden erst postum herausgegeben: eine Mondtheorie (London Der Bauernsohn M. lernte in der Benedikti1767) u. neue Mond- u. Sonnentafeln (Lon- nerabtei Scheyern Musik u. Latein, besuchte don 1770) durch die Britische Admiralität; in Augsburg das Gymnasium u. studierte am Opera inedita durch Lichtenberg (Gött. 1775. Lyceum in München Philosophie, dann ein Engl. Übers. v. Eric G. Forbes. London 1971), Jahr in Freiburg/Br. Mathematik, trat 1761 in zu denen auch eine Mondkarte gehörte, wel- den Benediktinerorden des Hl. Kreuzklosters che die des Johannes Hevelius ablöste u. für Donauwörth ein u. legte sein Gelübde am fast hundert Jahre in der Exaktheit unüber- 29.9.1762 ab. Dessen Abt schickte ihn noch troffen blieb; ein Katalog der Zodiakalsterne, im gleichen Jahr ins Kloster Benediktbeuern, von dem – wegen der genauen Ortsangaben – Ausbildungsstätte der Benediktiner in Baynoch 1894 Arthur Auwers eine reduzierte ern, wo M. drei Jahre Theologie u. KirchenNeuausgabe zur Bestimmung der zwischen- recht studierte. Im Jan. 1766 zum Priester zeitl. Eigenbewegungen der Sterne veran- geweiht, wurde er 1767 Professor der Philosophie u. Theologie in Donauwörth; er lehrte staltete. M.s gleichnamiger Sohn (1752–1830) war darüber hinaus Rhetorik, Poesie, KirchenProfessor der (Mathematik u.) Physik in Alt- recht u. Mathematik. M. war so angesehen, dorf (ab 1780), Erlangen (ab 1786) u. Göttin- dass ihn viele seiner gelehrten Zeitgenossen um fachl. Rat bei schwierigen Problemen der gen (ab 1799). Weitere Werkausgaben: Unpublished Wri- Theologie u. Philosophie fragten; die Unitings. Hg. Eric G. Forbes. 3 Bde., Gött. 1972. – versitäten Salzburg, Ingolstadt u. Dillingen Schr.en zur Astronomie, Kartografie, Mathematik boten ihm Professuren an, die er ablehnte. Er u. Farbenlehre. Hg. Eberhard Knobloch. Bd. 1 ff., war befreundet mit dem konservativen Hildesh. 2006 ff. Theologen u. Pädagogen Johann Michael Literatur: Eric G. Forbes (Hg.): The Euler-M. Sailer. Correspondence (1751–55). London 1971. Dt. hg. v. M. dachte intensiv über die Möglichkeiten Erwin Roth. Marbach 1993. – Ders.: T. M. einer Zusammenführung der beiden Konfes(1723–62): Pioneer of Enlightened Science in Ger- sionen nach u. teilte seine Gedanken in einem many. Gött. 1980. Dt. Marbach 1993. – E. Roth: T. Brief dem Theologen Heinrich Braun in M. 1723–62: Vermesser des Meeres, der Erde u. des München mit, der diesen ohne Wissen M.s Himmels. Marbach 1985 (Kat.). – Ders.: Über den u. d. T. Der erste Schritt zur künftigen Vereinigung mathemat. Atlas v. T. M. Marbach 1991. Erw. 2 1992. – Ders.: T. M.s Mondkarten u. Mondkugel. der katholischen und der evangelischen Kirche, geMarbach 1994. – Ders.: T. M. Pionier der Positi- waget, – fast wird man es nicht glauben – von einem onsbestimmung. Wegbereiter der modernen Navi- Mönche 1778 in München publizierte. Das gationsastronomie. Marbach 1995. – Dava Sobel: fürstbischöfl. Ordinariat in Augsburg erteilte Longitude: The True Story of a Lone Genius Who M. eine Rüge u. verbot ihm, weiter Vorle-
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sungen über Theologie im Kloster zu halten. M. rechtfertigte sich mit der erst zehn Jahre danach publizierten, drei Teile umfassenden Schrift Vertheidigung der natürlichen, christlichen und katholischen Religion nach den Bedürfnissen unserer Zeiten (Augsb. 1787–90) sowie mit der Apologie der Vertheidigung der katholischen Religion (Augsb 1790), auch, um sich gegen Unterstellungen, v. a. von Seiten der Jesuiten, zu wehren. Von den öffentl. Auseinandersetzungen zermürbt, konzentrierte er sich bis zu seinem Tod ganz auf seine Lehre im Kloster. Er verfasste eine Reihe von Dramen, die auch von seinen Zöglingen aufgeführt wurden, schrieb Gelegenheitsgedichte, Predigten u. Trauerreden, verfasste zwei naturwiss. Abhandlungen über Kopernikus u. über die Bewegungen der Himmelskörper im Sonnensystem. Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils Donauwörth): Lustspiele: Der Schatz u. die Rarität. 1781. – Die gebesserten Verschwender u. der bestrafte Geiz. 1781. – Die Erde steht. 1792. – Die belohnte Ehrlichkeit. 1792. – Alles u. Nichts thun. 1793. – Schauspiele: Konradin, Hzg. aus Schwaben. 1783. – Die guten Söhne. 1783. – Ludwig der Höcker, oder der bestrafte Undank der Kinder gegen die Eltern. 1784. – Singspiele: Die Jagd der 7 Schwaben auf einen Hasen. 1786. – Die Mode. 1787. – Pyramus u. Thispe. 1794. Literatur: Philipp Schäfer: B. M. In: Bautz. Friedhelm Auhuber / Red.
Mayr, Franz Seraphim, * 5.1.1809 Rosenheim, † 2.1.1859 München. – Geistlicher Schriftsteller. M. ist ein typischer Vertreter des altbayerischen Klerus der ersten Hälfte des 19. Jh.: geprägt von Sailer, dem geistl. Beruf mit Leidenschaft ergeben, historisch interessiert u. bildungshungrig, weit gereist u. auf dem Gebiet der schönen Literatur dilettierend. 1831 zum Priester geweiht, wirkte er in Landshut, Rosenheim, Nußdorf u. Prutting, bis er 1852 ins Münchner Domkapitel berufen wurde. 1838 erschienen seine Blumen und Lieder (Landshut), schlichte Reime einer reinen kindl. Seele (Hamann). Erwartungen an den Dichter M., die sich daran knüpften, löste er nicht ein; die Seelsorge stand für ihn im Vordergrund. M.s Anthologie Fromme Sagen
von unserem Herrn, seiner heiligsten Mutter und seiner lieben Heiligen (Mchn. 1852) versammelte neben eigenen Gedichten Beiträge u. a. von Herder, Uhland, Eichendorff, Aurbacher, Guido Görres. Besinnlichkeit, Freude am Kleinen u. Sich-Bescheiden will M. vermitteln, ein »Ruhegärtlein in diesem Jammerthal« (S. IV); das Werk trägt unverkennbar Züge des »geistlichen Biedermeier«. Seine Predigten (Ausgewählte Predigten. 2 Bde., Regensb. 1861) verraten dagegen Elan u. doch auch Sinn für Poesie. Literatur: Magnus Jocham: Memoiren eines Obscuranten. Kempten 1896, S. 86–91 u. ö. – Peter Hamann: Geistl. Biedermeier im altbayer. Raum. Regensb. 1954, S. 136 ff. – Gerhard Stalla: F. S. M. als Priester u. Schriftsteller. In: Das bayer. InnOberland 48 (1988), S. 65–73. Hans Pörnbacher / Red.
Mayr, Leonhard, * 1590 Treidelheim bei Neuburg/Donau, † 5.7.1665 Treidelheim bei Neuburg/Donau; Grabstätte: ebd., St. Peter. – Katholischer Prediger; Erbauungsschriftsteller. M., dessen Eltern durch landesherrl. Entscheidung lutherisch geworden waren, wurde zur Ausbildung zu Verwandten nach Dillingen gegeben. Dort besuchte er das Gymnasium, studierte kath. Theologie u. wurde Priester. Schon 1617 erhielt er eine Pfarrei im heimatl. Neuburg. M. unterstützte die Armen, stiftete für die studierende Jugend, ließ mehrere Kirchen u. Kapellen erneuern, z.T. auch mit eigenen Mitteln erbauen. In zwei Traktaten wandte er sich 1630 mutig gegen den Hexenwahn. In der Leichenrede Vergiß mein nit (Neuburg 1665), zgl. ein Stück Autobiografie, vermeldet M., er habe 4600 Predigten gehalten u. 163 Büchlein u. Traktätlein veröffentlicht. Sein wichtigstes Werk, Mariae Stammen Buch (3 Bde., Dillingen 1655. U. d. T. Unser lieben Frawen Stammenbuch. Dillingen 1632 u. ö.), bis ins 18. Jh. (1741) mehrfach aufgelegt, ist eine Art Heiligen-Calender auff jeden Tag deß Jahrs. M. pflegte das geistl. Schrifttum, denn »die geistlichen Bücher seyn wie wol zugerichte Apotecken« für den Leser. Von seinen zahlreichen Veröffentlichungen sind nur mehr
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wenige bekannt, darunter einige Leichenpredigten u. ein kurzer Abriss der Kirchengeschichte Neuburgs. Weitere Werke: Der Seelen Sanduhr. Ingolst. 1631. – Cath. Leich Sermon [...]. Neuburg 1638. – Predig v. diser schnöden Welt. Neuburg 1640. – Fischer Netz deß hl. [...] S. Petri [...]. Neuburg 1642. – Alt u. newes Catholisch Neuburg [...]. Neuburg 1651. – Jdea u. Formular einer frommen christl. Ehefrawen [...]. Ingolst. 1654. Ausgaben: Mariae Stammen Buch [...]. Dillingen 1655. Internet-Ed.: Mystik & Aszese des 16.-19. Jh. (Belser Wiss. Dienst, 2004). – Textausw. in: Bayer. Bibl. Bd. 2, S. 389–391, 1274. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Josef Sedelmayer: Dr. L. M., Pfarrer u. Dekan [...]. In: Kollektaneen-Blatt für die Gesch. Bayerns 91 (1926), S. 19–44. – Birgit Boge: Nekrolog als Handlungsanleitung für weibl. Wohlverhalten [...]. In: Oratio funebris. Die kath. Leichenpredigt der frühen Neuzeit. Hg. Birgit Boge u. Ralf Georg Bogner. Amsterd. u. a. 1999, S. 131–169. Hans Pörnbacher / Red.
Mayr, Mayer, Mair, Meyer, Martin, eigentl.: M. Seiz, * um 1420 Wimpfen, † 1481 Landshut; Grabtafel: ebd. Martinskirche. – Jurist, Diplomat, Humanist. M. studierte ab 1438 in Heidelberg (eigenhändige Vorlesungsmitschriften in München, Universitätsbibl., 28 Cod. ms. 263). Nach dem Lizentiat 1448 trat er 1449 in die Dienste Nürnbergs, dessen Interessen er mit Gregor Heimburg, Heinrich Leubing u. anderen auf den Reichstagen vertrat. M. erwarb sich hier wie auch in seiner gleichzeitigen Tätigkeit für andere Städte (Ulm, Esslingen) u. Fürsten den Ruf eines geschickten Diplomaten, der ihn 1455 in das Kanzleramt bei Erzbischof Dietrich von Mainz führte. Aus seiner dortigen Tätigkeit, in der M. zum geistigen Führer der kurfürstl. Opposition gegen Friedrich III. wurde, erwuchs 1457 der Beschwerdebrief an Enea Silvio Piccolomini über die Ausbeutung Deutschlands durch die röm. Kurie, den dieser mit dem Traktat Germania beantwortete. 1459 wechselte M. als Rat u. Kanzler an den Landshuter Hof Herzog Ludwigs des Reichen. Drei erhaltene Reden des Diplomaten (Begrüßungsrede für den päpstl. Legaten Jo-
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hannes von Capistran in Nürnberg: München, Bayer. Staatsbibl., clm 24 504; Gratulationsrede anlässlich der Kaiserkrönung Friedrichs III.: Nürnberg, German. Nationalmuseum, Rst. Nbg. II/11; Entwurf einer vor Pius II. zu haltenden Rede in der Sache des böhm. Königs: München, Bayer. Staatsbibl., clm 454) greifen nicht über den tagespolit. Anlass hinaus. Dagegen entwirft M. 1472 in seiner Ansprache zur Eröffnung der Universität Ingolstadt ein Bildungsprogramm, das in seinen Grundzügen mit dem der ital. Humanisten verwandt ist. Wohl über seine Kontakte mit Heimburg u. mit Humanisten des Wiener Kreises hatte M. Zugang zu den Studia humanitatis gefunden. Von ihm selbst sind allerdings nur zwei kleinere Dialoge in humanistischer Manier überliefert: ein Tractatus de amicitia u. ein Tractatus de nativitate vel morte hominis an plus gaudendum sit vel dolendum (München, Bayer. Staatsbibl., clm 24 504); der Großteil seiner Korrespondenz u. seine Rechtsgutachten (Nürnberg, StA. Ratschlagbücher 2*-4*, 6*) sind von rein jurist. Thematik. Ausgaben: J. M. Düx: Der dt. Cardinal Nicolaus v. Cusa [...]. Regensb. 1847, S. 514–520. – Frantisˇek Palacky (Hg.): Urkundl. Beiträge zur Gesch. Böhmens [...]. Wien 1860, passim. – Karl Prantl: Gesch. der Ludwig-Maximilians-Univ. Ingolstadt. Bd. 2, Landshut/Mchn. 1872, S. 7–10 (Abdr. der ›Eröffnungsrede‹). – Adolph Bachmann (Hg.): Urkunden u. Actenstücke zur österr. Gesch. im Zeitalter Kaiser Friedrichs III. Wien 1879, passim. – Rudolf Wolkan: Neue Briefe v. u. an Niklas v. Wyle. In: PBB 39 (1914), S. 524–548, hier S. 542 f. – Adolf Schmidt: Enea Silvio Piccolomini [...]. Der Brieftraktat an M. Mayer. Köln/Graz 1962, S. 33 f. (dt. Übers. der ›Gravamina‹). Literatur: Paul Joachimsohn: Gregor Heimburg. Mchn. 1891, S. 318–324 u. ö. – Georg Schrötter: Dr. M. Mair. Mchn. 1896. – Rolf Schwenk: Vorarb. zu einer Biogr. des Niklas v. Wyle. Göpp. 1978, passim. – Franz Josef Worstbrock: M. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). Frank Fürbeth / Red.
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Mayr, Simon, auch lat.: Marius, * 10.1. 1573 Gunzenhausen, † 26./27.12.1624 Ansbach. – Astronom.
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nomie, zumal er keinerlei Unterstützung fand. 1618 stellte er seine Beobachtungstätigkeit ein. Literatur: J. Klug: S. M. aus Gunzenhausen u.
Wegen seiner schönen Stimme wurde M. Galileo Galilei. In: Abh.en der Bayer. Akademie der 1596 von Markgraf Georg Friedrich von Wiss.en, Math.-phys. Kl. 22 (1906), S. 385–526. – Ansbach-Brandenburg in die neu eingerich- Ernst Zinner: Zur Ehrenrettung des S. M. In: Vjs. tete Fürstenschule in Heilbronn aufgenom- der Astronom. Gesellsch. 77 (1942), S. 1–52 (mit men. Er hatte zwar hauptsächlich in der Bibliogr.). – Edward Rosen: M. In: DSB 9, S. 247 f. – fürstl. Kapelle mitzuwirken, erhielt aber nach Fritz Krafft: Vorstoß ins Unerkannte. Weinheim dem Abschluss 1601 die Mittel für eine Reise 1999, S. 290 f. Fritz Krafft nach Prag, um Tycho Brahes Beobachtungstechnik kennenzulernen, sowie ein Stipendium, um in Padua Medizin (d.h. Naturwis- Mayreder, Rosa, geb. Obermayer, * 30.11. senschaften) zu studieren. Hier erteilte M. 1858 Wien, † 19.1.1938 Wien. – Essayauch Astronomieunterricht. Mitte 1605 wur- istin, Philosophin, Schriftstellerin u. Made er Hofmathematiker u. -astronom in Ans- lerin. bach, musste sich jedoch den Lebensunter- M. ist die wohl bedeutendste Vertreterin der halt, wie seit dem Studium in Padua, weiter- ersten österr. Frauenbewegung. Ihre femihin durch die Veröffentlichung jährl. nist. Essays wurden mehrfach aufgelegt u. in Schreibkalender u. Prognostika für den Raum verschiedene Sprachen übersetzt, ihre BluAnsbach verdienen. men- u. Landschaftsbilder in Ausstellungen Aus der Fülle der Beobachtungen von Ko- des In- u. Auslandes gezeigt. meten, neu entdeckten Sternen u. anderen Die Tochter des Gastwirtes Franz OberHimmelsobjekten sowie Witterungserschei- mayer, der in Wien das gut gehende »Winnungen ist nur das wenige erhalten, das terbierhaus« betrieb, u. seiner zweiten Frau, Eingang in die Kalender sowie in die Schrift der wesentlich jüngeren Maria Engel, hat in Mundus Jovialis anno MDCIX detectus (1614. ihrem autobiogr. Werk Das Haus in der LandsLat.-dt. hg. v. Joachim Schlör. Gunzenhausen krongasse (Wien 1948. Neuausg. Wien 1998) 1988) gefunden hat. Es zeigt, dass M. bei ihre Kindheit u. Jugend detailreich geschilentsprechender Förderung einer der ganz dert. Sie beschreibt den Vater als autoritär u. großen Astronomen geworden wäre. zum Jähzorn neigend, die Mutter als sanft u. Seit 1609 stand ihm ein belg. Fernrohr zur still, aber gebildet. M., die im Kreis von 13 Verfügung, mit dem er – unabhängig von Geschwistern u. Halbgeschwistern aufwuchs, Galilei u. wahrscheinlich vor ihm – die vier fand die für bürgerl. Mädchen obligator. ersten Jupitermonde entdeckte, deren Bah- Privatschule äußerst langweilig, beneidete nen er aus den eigenen (besseren) u. galile- ihre Brüder um ihr Studium u. wollte bereits ischen Beobachtungen auch erstmals berech- früh Schriftstellerin werden, die sich zu den nete. Seit Aug. 1611 beobachtete M. regel- »Ideen der Emancipation« bekennt. mäßig die von ihm für Schlacken gehaltenen Mit 23 Jahren heiratete sie den zwei Jahre Sonnenflecken, stellte ihre Bewegungsrich- älteren Architekten Karl Mayreder, doch tung fest u. ahnte zumindest ihr zykl. Auf- blieb das Paar nach einer Fehlgeburt kindertreten; im Winter 1611/12 entdeckte er, los. ebenfalls unabhängig von Galilei, VenusphaAls die 34-jährige M. 1893 dem eben von sen u. schloss aus den Helligkeitsschwan- Auguste Fickert gegründeten »Allgemeinen kungen auf solche des Merkur. Am Österreichischen Frauenverein« (AÖFV) bei15.12.1612 beobachtete er erstmals im trat, war sie v. a. als Malerin bekannt. Ihre Abendland den Andromedanebel. Novellen u. Romane, in denen sie häufig eiNach 1614 von Galilei vorgebrachte u. in- gene Erlebnisse verarbeitet hat (u. a. Aus meiitiierte Plagiatsbeschuldigungen verleideten ner Jugend. 3 Novellen. Dresden u. Wien 1896. M. die weitere Beschäftigung mit der Astro- Idole. Geschichte einer Liebe. Bln. 1899. Pipin. Ein
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Sommererlebnis. Lpz. 1903), erschienen später. Mannheim 1896) geehrt u. geschätzt. Ihr feSie werden oft als Vorstufe zu ihren Essays minist. Engagement wieder entdeckt hat die betrachtet; eine umfangreiche Patriarchats- zweite Frauenbewegung. Der Staat Österkritik, wie sie ihre Essays auszeichnet, ist hier reich ehrte sie mit ihrem Bild auf dem letzten 500-Schilling Schein vor Einführung des allerdings nicht zu finden. M. war zehn Jahre lang Vizepräsidentin des Euro. AÖFV, kurzfristig Mitherausgeberin der Weitere Werke: Übergänge. Dresden 1897 Zeitschrift »Dokumente der Frauen« u. 1897 (N.n). – Zwischen Himmel u. Erde. Jena 1908 (SoMitbegründerin der »Kunstschule für Frauen nette). – Die Frau u. der Internationalismus. Wien/ und Mädchen«. Sie engagierte sich in der Lpz. 1921. – Der typ. Verlauf sozialer Bewegungen. internationalen Frauenfriedensbewegung u. Wien 1926. – Askese u. Erotik. Jena 1926. Neuausg. kämpfte gegen die Prostitution. Ihr erfolg- Dornbach 2001 (Ess.). – Mein Pantheon. Lebenserinnerungen. Dornach 1988. – Tgb. 1873–1937. Hg. reichster Essayband Zur Kritik der Weiblichkeit u. eingel. v. Harriet Anderson. Ffm. 1988 (mit Bi(Jena 1905. Neuausg. Wien 1998) ist die bliogr.). wahrscheinlich pointierteste Abhandlung zur Literatur: Hilde Schmölzer: R. M. Wien 2002. Geschlechterfrage, die uns die erste österr. Hilde Schmölzer Frauenbewegung hinterlassen hat. M. berücksichtigt in ihren kulturhist. Abhandlungen das Element Geschlecht u. die damit Mayrhofer, Johann (Baptist), * 3.11.1787 verbundenen Machtverhältnisse. Auch dass Steyr, † 5.2.1836 Wien. – Lyriker, Libretsie biologist. Ansichten sprengt, indem sie tist. gesellschaftl. Normen u. nicht die Natur für das Verhältnis zwischen den Geschlechtern Der Sohn eines Gerichtsprokurators war zuverantwortlich macht, bedeutete fast 50 Jahre nächst für einen geistl. Beruf bestimmt. 1806 vor Simone de Beauvoirs Deuxième sexe ein trat er in das Augustiner-Chorherrenstift St. absolutes Novum. Florian ein, welches er 1810 wieder verließ. M. war mit vielen bedeutenden Zeitgenos- Nach Abschluss eines Jurastudiums in Wien sinnen u. Zeitgenossen befreundet wie Ru- fand er 1815 eine Anstellung im k.k. Büdolf Steiner, Hugo Wolf, dem Sozialreformer cherrevisionsamt. 1814 lernte er durch seinen Rudolf Goldscheid, der ersten Dozentin für ehemaligen Mitschüler Josef von Spaun den Germanistik in Österreich, Christine Touail- Komponisten Franz Schubert kennen, mit lon, u. Auguste Fickert, herausragende Per- dem der begeisterte Musikliebhaber 1818 bis sönlichkeit der ersten österr. Frauenbewe- 1820 eng befreundet war u. sogar die Wohgung u. Präsidentin des AÖFV. nung teilte. 1824 gab M. einen Band Gedichte Schwere psych. Störungen ihres Mannes, (Wien) heraus. In seinem Brotberuf gewisdie 1912 einsetzten u. mit Unterbrechungen senhaft u. als strenger Zensor geltend, symbis zu seinem Tod 1934 andauerten, sowie die pathisierte er privat mit liberalen u. demoKriegs- u. Nachkriegsjahre, der Zerfall der krat. Ideen. Innere Zerrissenheit u. vermutFrauenbewegung u. zunehmend faschistoide lich chron. Depressionen prägten seine PerTendenzen führten bei M. zu einem wach- sönlichkeit u. führten dazu, dass er 1836 den senden Pessimismus, der bereits in ihrem Freitod wählte. zweiten großen Essayband Geschlecht und M.s Gedichte zeigen das Nachwirken der Kultur (Jena 1923. Neuausg. Wien 1998) seine Aufklärung u. den klassizist. Einfluss v. a. Spuren hinterlässt, v. a. aber in einer »Philo- Schillers u. Goethes, der sich auch in seiner sophie des Leidens«, wie sie in dem philo- Vorliebe für antike Stoffe manifestiert. Er soph. Werk Der letzte Gott (Stgt. u. Bln. 1933) öffnete sich jedoch zunehmend den Ideen der zum Ausdruck kommt. Frühromantik, insbes. dem Pantheismus eiAls Feministin fast vergessen, wurde sie nes Novalis, der auch seine Naturschilderunjetzt v. a. als Schriftstellerin, Kulturphiloso- gen prägte. Das Wesen der Kunst u. ihre Rolle phin u. Verfasserin des Librettos zu Hugo in der Gesellschaft waren zentrale Themen Wolfs einziger Oper Der Corregidor (Urauff. seiner Dichtung, so z.B. im Zyklus Heliopolis.
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Neben Goethe u. Schiller war M. der wichtigste Textdichter für Schubert, der sich ihm geistig verwandt fühlte u. 47 seiner Gedichte vertonte. M. schrieb für ihn auch die Opernlibretti Die Freunde von Salamanca u. Adrast, von denen sich jedoch nur die in Musik gesetzten Teile erhalten haben. Der gesamte Nachlass M.s, darunter wohl zahlreiche politisch brisante Gedichte sowie die Tragödien Timoleon u. Ulrich von Hutten, ging verloren. Literatur: Ernst v. Feuchtersleben: Erinnerungen an J. M. In: Lebensbilder aus Österr. Hg. Andreas Schumacher. Wien 1843, S. 99–115. – Fritz List: J. M., ein Freund u. Textdichter Franz Schuberts. Diss. Mchn. 1921. – Moritz Bauer: J. M. In: Ztschr. für Musikwiss. 5 (1922/23), S. 79–99. – Michael Maria Rabenlechner: J. M.s Leben. In: ›Gedichte‹. Neudr. Wien 1938, S. 209–262. – David Gramit: Schubert and the Biedermeier: The Aesthetics of J. M.s ›Heliopolis‹. In: Music & Letters 74 (1993), H. 3, S. 355–382. – Susan Youens: Schubert’s Poets and the Making of Lieder. Cambridge 1996, S. 151–227. – Michael Kohlhäufl: Poetisches Vaterland. Dichtung u. polit. Denken im Freundeskreis Franz Schuberts. Kassel u. a. 1999. – Ilija Dürhammer: Schuberts literar. Heimat. Dichtung u. Lit.-Rezeption der Schubert-Freunde. Wien u. a. 1999. – Michael Lorenz: Dokumente zur Biogr. J. M.s. In: Schubert durch die Brille 25 (2000), S. 21–49. – Giuseppina La Face Bianconi: La casa del mugnaio. Florenz 2003, S. 113–148. – Marjorie Hirsch: M., Schubert, and the Myth of ›Vocal Memnon‹. In: The Unknown Schubert. Hg. Lorraine Byrne Bodley u. Barbara M. Reu. Aldershot 2008, S. 3–23. Walburga Litschauer / Christine Martin
Mayröcker, Friederike, * 20.12.1924 Wien. – Autorin von Prosa, Gedichten, Hörspielen u. Kinderbüchern. Bis zum elften Lebensjahr verbrachte M. die Sommermonate auf dem großelterl. Hof im österr. Weinviertel. Dort schrieb sie 1939 ihr erstes Gedicht. Ab 1946 unterrichtete M. als Englischlehrerin an Wiener Hauptschulen, ließ sich 1969 beurlauben u. lebt seither als freie Schriftstellerin in Wien. 1946 erschien ein erstes Gedicht in der Wiener AvantgardeZeitschrift »Plan«. In derselben Zeit erfolgte die Bekanntschaft mit dem Kreis um Hans Weigel u. mit Andreas Okopenko. 1954 lernte
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M. bei den Jugendkulturwochen in Innsbruck Ernst Jandl kennen, mit dem sie bis zu dessen Tod 2000 eine Lebenspartnerschaft u. enge Zusammenarbeit verbanden. Auch Mitglieder der Wiener Gruppe wie Artmann u. Rühm gehörten zu ihrem Bekanntenkreis. 1956 erschien ihr erstes Buch Larifari. Ein konfuses Buch (Bergland Verlag, Wien). Wie viele damalige österr. Avantgarde-Autoren fand M. keine Publikationsmöglichkeiten in Österreich, dafür jedoch in Deutschland; 1966 erschien Tod durch Musen. Poetische Texte beim Rowohlt-Verlag. 1975 wechselte M. zum Suhrkamp Verlag. 1970/71 u. 1993 verbrachte sie längere Zeit in Berlin (Berliner Künstlerprogramm des Deutschen Akademischen Austauschdienstes). In den 1970er u. 1980er Jahren unternahm sie Vortragsreisen in die USA, die Sowjetunion, Frankreich u. Italien. M. ist Gründungsmitgl. der Grazer Autorenversammlung, Mitgl. der Akademie der Künste Berlin, des Forum Stadtpark Graz u. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt. 1988 wurde das Friederike-Mayröcker-Archiv der Wiener Stadt- u. Landesbibliothek eingerichtet. Ihr umfangreiches Œuvre wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. 1968 Hörspielpreis der Kriegsblinden für das Hörspiel Fünf Mann Menschen (zus. mit Jandl); 1977 Georg-TraklPreis für Lyrik; 1982 Großer Österreichischer Staatspreis des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst für Literatur; 1993 Friedrich-Hölderlin-Preis; 1996 Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Künste; 1996 Else-Lasker-Schüler-Lyrikpreis; 2000 Ehrendoktorwürde der Universität Bielefeld; 2001 Georg Büchner-Preis. Einflüsse von M.s Prosa u. Lyrik finden sich u. a. im Werk von Elke Erb, Thomas Kling, Marcel Beyer, Ulrike Draesner u. Erika Kronabitter. Mag sich M. auch als Einzelgängerin von der damaligen neo-avantgardist. Gruppenbildung distanziert haben, so hat sie sich in den ersten Dezennien ihres Schaffens dennoch ihre persönl. Avantgarde-Tradition erarbeitet: eine Tradition, die vom Barock über Romantik u. Frühexpressionismus, über Surrealismus u. Dadaismus bis zu den Nachkriegsavantgardisten Konrad Bayer u. Oswald Wiener läuft. Die spätere Prosa-Poetik des
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Nicht-Erzählen-Wollens u. des Textes als Netz oder Gewebe speist sich v. a. aus romantischen (Schlegel, Brentano), realistischen (Balzac, Raabe) u. modernistischen (Musil, Nouveau Roman, Arno Schmidt, Beckett) Poetiken. Die heterogene experimentelle Kurz- u. Kürzestprosa aus den Jahren bis 1975 ist von der wiss. Forschung noch kaum beachtet worden. Hier vollzieht sich eine Pendelbewegung zwischen spielerischem, assoziativem Schreiben u. disziplinierter, systemat. Materialbearbeitung. Überlieferte Schemata aus Mythen, Märchen u. den populären Medien werden in einem wohlkalkulierten Arrangement bestehenden Sprachmaterials demontiert, variiert u. persifliert. Hinzu kommt das Spiel mit konventionellen Ordnungsprinzipien wie Syntax, Alphabet u. Zahlenfolgen. Die frühe Prosa zeugt aber auch von M.s Hochschätzung der dichterischen Intuition u. Fantasie. Viele Texte der ersten Dezennien (Minimonsters Traumlexikon. Reinb. 1968. Fantom Fan. Reinb. 1971. Arie auf tönernen Füßen. Metaphysisches Theater. Neuwied u. a. 1972) wenden dialogische Strukturen an, ein Merkmal, das eng mit M.s intensiver Beschäftigung mit Hörspielarbeiten zusammenhängt u. sich bis in die jüngsten Prosaarbeiten manifestiert. Auch die bis heute anhaltende Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst tritt schon in der frühen Kurzprosa klar zutage. Der »erzählung« genannte Prosaband je ein umwölkter gipfel (Darmst./Neuwied 1973) kündigt eine auf das Erzählen ausgerichtete Neuorientierung an, die vermehrt mit erkennbaren Erzählbausteinen, autobiografischem Material u. tagtägl. Ereignissen arbeiten will. In Die Abschiede (Ffm. 1980) u. Reise durch die Nacht (Ffm. 1984) findet das Spiel mit autobiogr. Erzählmustern zu einer romanhaften Länge. Diese neue Phase läutet ein wachsendes literaturwiss. Interesse an der Autorin ein, deren Werk im Kontext des Konstruktivismus u. der Autobiografietheorie rezipiert wird. M.s Texte stellen Wahrnehmungsstudien dar: Sie streben die unmittelbare Versprachlichung des Wahrgenommenen an, wobei der Sprache keine abbildende Funktion, sondern – u. hier setzt der
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Konstruktivismus an – eine die Welt mitstrukturierende, manipulierende Aufgabe zukommt. Auch das Spiel mit den Konventionen der Autobiografie zielt nicht auf Abbildung der Biografie der Autorin. Zwar werden Basiselemente autobiografischen Schreibens herbeizitiert – so z.B. die Ich-Erzählerin, die sich der Selbstentblößung hingibt; die namentlich genannten Freunde u. Bekannten u. die Zitate aus deren Briefen u. Telefongesprächen; die Motive der Lebensreise u. der Wanderung (Reise durch die Nacht. Lection. Ffm. 1994); das Muster des Tagebuchs (brütt oder Die seufzenden Gärten. Ffm. 1998) oder des Briefromans (Paloma. Ffm. 2008). Diese Elemente werden aber zu rhetorischen Figuren u. Strukturelementen in einer ästhet. Inszenierung. Mittels Wiederholung u. Variation werden Kausalität, Chronologie u. Subjektgrenzen aufgehoben. Schreiben u. Leben fallen in M.s Poetik zusammen; das wahre Leben ist ein verschriftlichtes. M.s unaufhörl. Versuch, das eigene Leben zu schreiben, schafft wortwörtlich einen papierenen Korpus u. Körper. »ich lebe ich schreibe«, heißt die viel zitierte Formel in mein Herz mein Zimmer mein Name (Ffm. 1988). Inspiriert von u. a. Gertrude Stein, Michel Leiris u. Roland Barthes schreibt M. dazu: »Der Biographielosigkeit als Lebenshaltung stehen die Texte gegenüber, denen man als deren Autor einfach nicht entkommt. In ihnen wuchert rücksichtslos die eigene Vergangenheit.« (Gesammelte Prosa. Bd. II, S. 286). Nicht nur Schreiben u. Leben, sondern auch Schreiben u. Tod hängen seit Die Abschiede verstärkt zusammen. Im Versuch, das eigene Leben zu schreiben, ruft das schreibende Ich die verstorbenen u. abwesenden Weggefährten an. Es reicht in das Totenreich hinab u. macht sich so selbst den Toten gleich. Die Grenze zwischen Leben u. Tod wird in einem Lebensversuch mit »Stillebencharakter« (Stilleben. Ffm. 1991) aufgehoben, der als kraft- u. trostspendend erfahren wird: Er ermöglicht den Kontakt zu den Ahnen, schaut dem eigenen Tod rückhaltlos ins Auge u. beflügelt die dichterische Inspiration. Trauerarbeit leistet M.s Schreiben verstärkt in Requiem für Ernst Jandl (Ffm. 2001) u. Die kommunizierenden Gefäße (Ffm. 2003). Der Tod
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des Lebensgefährten bedeutet nicht nur den Verlust des Liebesobjekts, sondern auch des anerkannten männl. Künstlers, der im Schreiben des Ich stets die Rolle eines dialogischen Widerparts erfüllte. Die Lamentation wird aber in einen kräftigen Akt der kreativen Gewalt transformiert, wobei das Ich im Trauern die männl. künstlerische Tradition inkorporiert. Die Anerkennung der eigenen Schwäche führt überdies zu einer höheren Aufmerksamkeit für das Elend des Anderen (ob Mensch, Tier oder Ding) u. zu einer energ. Ethik des Mitgefühls. In dem noch immer dem verstorbenen Geliebten gewidmeten Und ich schüttelte einen Liebling (Ffm. 2005) hat die bejahende Auseinandersetzung mit der materiellen Umwelt endgültig den Sieg davon getragen. Im ganzen Œuvre M.s äußern sich die Aneignung u. Verwandlung der materiellen Umwelt in hohem Maße auf der intermedialen Ebene der Aneignung von fremdem Bildmaterial. Picasso im Hörspiel Die Umarmung, nach Picasso (WDR 1986), Goya in Reise durch die Nacht, Dalí in Das Herzzerreißende der Dinge (1985), Matisse u. Francis Bacon in brütt oder Die seufzenden Gärten – dies sind nur einige wichtige Namen in einer langen Reihe von bildenden Künstlern, die M. zitiert. Dabei liefern ihre Texte keine ekphrast. Bildbeschreibungen; das schreibende Ich, das sich selbst als »parasitär« definiert, dringt in die den Bildern eigene Motivik oder Dynamik ein u. macht diese für die eigene Schreibarbeit u. das eigene künstlerische Selbstbildnis produktiv. Die (motivischen, strukturellen) Eigenarten der betrachteten Bilder werden im Schreiben nicht thematisiert, sondern in der eigenen Textstruktur sichtbar gemacht. M.s Gedichte, von der Forschung bis jetzt nur ansatzweise berücksichtigt, veranschaulichen noch konzentrierter u. detaillierter den Dialog mit der stoffl. Umwelt u. deren Transformation in Sprache. M. entwirft kubist. Stilllebenszenen u. erprobt ihre Methode der »Unterfütterung«, eine der Schneiderei entnommene Technik: Unter einem Stoff wird eine zweite Schicht, ein Futter angebracht. Im Gedicht entsteht so eine mehrdimensionale Gleichzeitigkeit. Das zunehmende Alter lässt M.s poet. Kräfte nicht schwächer
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werden, sondern bringt eine noch größere Sprach- u. Dingbesessenheit mit sich, die sich vorwiegend den Resten u. Abfällen der Realität widmet: »die Poetin als Gassenfegerin! Krämerin! Lumpenfrau!« (Gesammelte Prosa, Bd. II, S. 283). Zwar hegt das Ich keine Illusionen über eine vermeintl. poet. Reinheit u. Freiheit – »das Gedicht ist gefesselt besudelt« (Gesammelte Gedichte, S. 548) –; es verzichtet aber nicht auf eine disziplinierte Anwendung poetischer Mittel (Syntax, Interpunktion, Metrik). Das besessene Alter (Ffm. 1992) u. Notizen auf einem Kamel (Ffm. 1996) reihen verstärkt präzise Wahrnehmungsfragmente aneinander. In Mein Arbeitstirol (Ffm. 2003) treten der Mitmensch u. anekdot. Erinnerungen an diesen vermehrt in den Vordergrund. Viele dieser Gedichte enthalten Zwiegespräche mit dem verstorbenen Lebensgefährten u. sind namentlich genannten Freunden gewidmet. Die Aufwertung des Anekdotischen findet sich auch in der jüngsten Prosa, dem Briefroman Paloma, wieder: Die an einen »lieben Freund« adressierten Texte lesen sich wie eine Inventur anekdotenhafter Erinnerungsfragmente aus dem langen Dichterleben. Auf jeder Seite werden Freunde, Weggefährten u. verwandte Autoren u. Künstler namentlich zitiert oder angeredet. Die »dunkle Kammer« der Kindheit, in der M. die Anfänge ihres Schreibens situiert, ist endgültig durch einen mehrstimmigen, weltoffenen u. Kraft spendenden Freundschafts- u. Verwandtschaftsraum ersetzt worden. Weitere Werke: Prosa: Ges. Prosa 1949–2001. Hg. Klaus Reichert. Bd. I-V, Ffm. 2001, – Mag. Blätter VI. Ffm. 2007 – Gedichte: Ges. Gedichte. Hg. Marcel Beyer. Ffm. 2004 – Hörspiele: Fünf Mann Menschen. Regie: Peter Michel Ladiges. SWF 1968 (zus. mit E. Jandl). – Arie auf tönernen Füßen. Regie: Heinz v. Cramer. WDR 1969. – Bocca della Verità. Regie: Hans Krendlesberger. ORF 1977. – So ein Schatten ist der Mensch. Regie: Ellen Hammer. RIAS/ORF-W/NDR/WDR 1983. – Der Tod u. das Mädchen. Regie: Götz Fritsch. ORF 1985. – Variantenverz. oder Abendempfindung an Laura. ORFHI 1988. – Repetitionen nach Max Ernst. Regie: Klaus Schöning. WDR/NDR 1989. – Nada. Nichts. Regie: Norbert Schaeffer. SDR 1991. – Die Hochzeit der Hüte. Bearb.: Helmut Peschina, Regie: Irene Schuck. BR 1995. – Das zu Sehende, das zu Hörende. Regie: G. Fritsch. ORF-HI/BR/WDR/DLR,
81 1997. – dein Wort ist meines Fuszes Leuchte oder Lied der Trennung. Regie: Renate Pittroff. ORF-HI/ WDR/BR 1999. – will nicht mehr weiden. Requiem für Ernst Jandl. Regie: Ulrich Gerhardt. BR/ORFHI 2001. – Das Couvert der Vögel. Regie: K. Schöning. WDR 2002. – Die Kantate oder Gottes Augenstern bist du. Regie: Wolfgang v. Schweinitz. BR/MaerzMusik/Berl.Fsp./ORF 2003. – Gertrude Stein hat die Luft gemalt. Regie: K. Schöning. DLF/ ORF-HD 2005. – Kabinett Notizen, nach James Joyce. Regie: ders. HR 2008. – Gärten, Schnäbel, ein Mirakel. Regie: ders. ORF 2008. – Kinderbücher: Sinclair Sofokles der Baby-Saurier. Wien/Mchn. 1971 (Illustrationen v. Angelika Kaufmann). – meine träume ein flügelkleid. Düsseld. 1974 (Illustrationen v. F. M.). – Pegas das Pferd. Salzb. 1980 (Illustrationen v. A. Kaufmann). – Ich, der Rabe u. der Mond. Graz 1981 (Illustrationen v. F. M.). – Zittergaul. Gedichte für Kinder. Ravensburg 1989 (Illustrationen v. F. M.). – Kinder Ka-Laender 1965. Wien 1991. – ABC-Thriller 1968. Wien 1992. – Das Alphabet der F. M. Wien 1993. Literatur: Bibliografie: Marcel Beyer: F. M. Eine Bibliogr. 1946–90. Ffm. 1992. – Monografien: Siegfried J. Schmidt: Fuszstapfen des Kopfes. F. M.s Prosa aus konstruktivist. Sicht. Münster 1989. – Daniela Riess-Beger: Lebensstudien. Poet. Verfahrensweisen in F. M.s Prosa. Würzb. 1995. – Helga Kasper: Apologie einer mag. Alltäglichkeit. Eine erzähltheoret. Untersuchung der Prosa v. F. M. anhand v. ›mein Herz mein Zimmer mein Name‹. Innsbr. 1999. – Klaus Kastberger: Reinschrift des Lebens. F. M.s ›Reise durch die Nacht‹. Wien 2000. – Edith Anna Kunz: Verwandlungen. Zur Poetologie des Übergangs in der späten Prosa F. M.s. Gött. 2004. – Andrea Winkler: Schatten(spiele): Poetolog. Denkwege zu F. M. in ›brütt oder Die seufzenden Gärten‹. Hbg. 2004. – Inge Arteel: gefaltet, entfaltet. Strategien der Subjektwerdung in F. M.s Prosa 1988–98. Bielef. 2007. – Alexandra Strohmaier: Logos, Leib u. Tod. Studien zur Prosa F. M.s. Mchn. 2008. – Sammelbände: Heimrad Bäcker (Hg.): jardin pour f. m. Linz 1978. – Otto Breicha (Hg.): protokolle 2/80 (1980). – S. J. Schmidt (Hg.): F. M. Ffm. 1984. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): F. M. Mchn. 1984. – K. Kastberger u. Wendelin Schmidt-Dengler (Hg.): In Böen wechselt mein Sinn. Zu F. M.s Lit. Wien 1996. – Gerhard Melzer u. Stefan Schwar (Hg.): F. M. Graz/Wien 1999. – Fausto Cercignani u. Sara Barni (Hg.): Studia Austriaca: F. M. Sonderh. 2001. – I. Arteel u. Heidy Margrit Müller (Hg.): ›Rupfen in fremden Gärten‹. Intertextualität im Schreiben F. M.s. Bielef. 2002. – Renate Kühn (Hg.): F. M. oder ›das Innere des Sehens‹. Studien zu Lyrik, Hörsp. u. Prosa. Bielef. 2002. – Weitere Literatur:
Mayröcker Jürgen H. Koepp: Die Bürgschaft des ästhet. Ichs. Zum Schreibproblem zwischen Akt u. Abbild. In: Merkur 7 (1989), Jg. 43, S. 588–603. – W. SchmidtDengler: ›ich lebe ich schreibe‹: F. M.s ›mein Herz mein Zimmer mein Name‹. In: GQ 3/4 (1990), Jg. 63, S. 421–428. – K. Kastberger: F. M.s unablässiges Schreiben, die widersetzl. Benennung der Welt. In: Die Zeit u. die Schrift. Österr. Lit. nach 1945. Hg. Karlheinz F. Auckenthaler. Szeged 1993, S. 297–308. – Gisela Lindemann u. M. Beyer: F. M. In: KLG. – Bodo Hell: ›durch mich aber nicht von mir‹. Motive u. Motionen in F. M.s ›mein Herz mein Zimmer mein Name‹. In: Strukturen erzählen. Die Moderne der Texte. Hg. Herbert J. Wimmer. Wien 1996, S. 200–210. – Beth Bjorklund: M.’s Fictional Autobiography. In: Out from the Shadows. Essays on Contemporary Austrian Women Writers and Filmmakers. Hg. Margarete Lamb-Faffelberger. Riverside 1997, S. 55–65. – Petra Maria Meyer: Gedächtniskultur des Hörens. Medientransformation v. Beckett über Cage bis M. Düsseld./Bonn 1997. – I. Arteel: ›Stirb und werde‹. Der Subjektbegriff in M.s ›Das Herzzerreißende der Dinge‹. In: Germanist. Mitt.en 55 (2002), S. 67–78. – Anke Bosse: Schreiben ›auf das Haltloseste und Disziplinierteste‹. Die Mottos zu F. M.s ›Die Abschiede‹. In: DU 3 (2003), Jg. 55, S. 14–37. – Gisela Steinlechner: ›Offene Adern‹: Von der Unabschließbarkeit des Schreibens in F. M.s ›Lection‹. In: Die Teile u. das Ganze: Bausteine der literar. Moderne in Österr. Hg. Bernhard Fetz u. K. Kastberger. Wien 2003, S. 139–154. – Helga Kasper: F. M.s Prosa: Spazierkunde u. andere Rundgänge. In: Schreibweisen. Poetologien. Die Postmoderne in der österr. Lit. v. Frauen. Hg. Hildegard Kernmayer u. Petra Ganglbauer. Wien 2003, S. 275–287. – Hannes Schweiger: Samuel Beckett and F. M.: Attempts at Writing the Self. In: Samuel Beckett Today/Aujourd’hui: An Annual Bilingual Review/ Revue Annuelle Bilingue 14 (2004), S. 147–160. – Nathalie Amstutz: Autorschaftsfiguren. Inszenierung u. Reflexion v. Autorschaft bei Musil, Bachmann u. M. Köln/Weimar/Wien 2004. – Martin A. Hainz: ›Schwarze Milch zu schreiben‹. Paul Celan u. F. M. In. WB 1 (2006), Jg. 52, S. 5–19. – Georgina Paul: ›Unschuld, du Licht meiner Augen‹. Elke Erb in the Company of F. M. in the Aftermath of German Unification. In: Schaltstelle. Neue dt. Lyrik im Dialog. Hg. Karen Leeder. Amsterd. 2007, S. 139–162. Inge Arteel
Mechow
Mechow, Karl Benno von, * 14.7.1897 Bonn, † 11.9.1960 Emmendingen; Grabstätte: Freiburg/Br., Hauptfriedhof. – Romancier, Erzähler, Herausgeber.
82 Abenteuer. Ein Reiterroman aus dem großen Krieg‹ (1930). In: Von Richthofen bis Remarque. Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg. Hg. Thomas Schneider u. Hans Wagener. Amsterd. 2003, S. 343–358. Walter Riethmüller / Red.
M., Sohn eines preuß. Obersten, nahm als Kriegsfreiwilliger am Ersten Weltkrieg teil, betätigte sich nach Kriegsende als Landwirt u. Mechtel, Angelika, eigentl.: A. Eilers, Kleinsiedler in Brandenburg u. Bayern, lebte * 26.8.1943 Dresden, † 8.2.2000 Köln. – als freier Schriftsteller in Freiburg/Br. u. starb Erzählerin, Lyrikerin, Kinderbuchautorin. geistig erkrankt in einer psychiatr. Klinik. In seinen ersten Romanen verarbeitet M. M. verbrachte ihre Kindheit u. Jugendzeit im das Kriegserleben seiner Generation (Das Rheinland, in München u. Würzburg. Schon Abenteuer. Mchn. 1930) u. die Erfahrung des während der Schulzeit veröffentlichte sie sich im Einklang mit der Natur vollziehenGedichte u. Kurzprosa in Zeitungen u. Zeitden bäuerl. Lebens u. Arbeitens (Das ländliche schriften. Nach dem Schulabgang 1962 arJahr. Mchn. 1929. Bearb. 1935). In dem seibeitete sie als Zimmermädchen, Lager- u. nerzeit viel beachteten u. gerühmten Roman Fabrikarbeiterin. Die Erfahrungen dieser Zeit Vorsommer (Mchn. 1933; bis 1956 200.000 lieferten den Stoff für viele ihrer sozialkrit. Exemplare) verschmolz er dieses Thema mit Hörspiele u. Reportagen. 1965 wurde sie dem Motiv einer sich langsam entfaltenden Mitgl. der Gruppe 61. Enthielten M.s erste Liebesbeziehung zwischen einem durch Lyrikbände lautmalerische, durch NaturmeKrieg u. Nachkrieg verbitterten Gutsherrn u. taphorik geprägte Gedichte, so nähert sich einem jungen natürl. u. lebensgläubigen die spätere Lyrik der Alltags- u. UmgangsMädchen. Die themat. Nähe der beiden Büsprache an. cher zur Ideologie des Dritten Reichs von der M.s vielfältiges u. umfangreiches Werk »Schollentreue« war nur äußerlich; der Vorweist sie als engagierte Kritikerin bundesdt. sommer konnte wegen seiner »Zeitlosigkeit« Gegenwart aus. Ihr zentrales Thema, die u. »Idyllisierung« als Flucht vor polit. Ver»Brutalität alltäglicher bürgerlicher Existenz einnahmung gedeutet werden (Lukács). in der Wohlstands- und LeistungsgesellSeit 1934 gab M. mit Paul Alverdes die schaft« (Laurien) griff sie in Erzählungen, national-konservative Kulturzeitschrift »Das Romanen, Reportagen, Hörspielen, Drehbüinnere Reich« heraus. Seine Hoffnung, darin chern u. auch Gedichten auf. Mit Dokumender deutschen Innerlichkeit eine »Stätte zu tationen, die z.T. verfilmt wurden, setzte sie bereiten«, sah er schon bald nicht mehr ge- sich für Randgruppen der Gesellschaft ein währleistet; 1938 legte er sein Amt nieder. (Alte Schriftsteller in der BRD. Mchn. 1972. Ein Nach dem der Heimat Adalbert Stifters, sei- Plädoyer für uns. Frauen und Mütter von Strafgenes literar. Vorbilds, gewidmeten Buch Leben fangenen berichten. Mchn. 1975). Im Mittelund Zeit (Mchn. 1938) schrieb er nur noch punkt von M.s Texten stehen meist Frauen, kleinere Erzählungen, zuletzt das Bändchen die sich mit einer von Männern dominierten Auf dem Wege (Freib. i. Br. 1956), das von der Gesellschaft auseinandersetzen müssen u. oft Leidensergebenheit Verfolgter in der Okto- auch an ihr zerbrechen. Nach Anfängen mit berrevolution 1917 kündet. makaber-surrealen assoziativen Texten unLiteratur: Paul Alverdes: K. B. v. M. In: NR 44 ternahm M. das Experiment einer »emanzi(1932/33), S. 841–845. – Bernt v. Heiseler: K. B. v. patorischen Trivialliteratur« (Laurien), wurde M. In: Ahnung u. Aussage. Mchn. 1939, ihren eigenen Ansprüchen zunächst jedoch S. 199–207. – Georg Lukács: Zwei Romane aus nur bedingt gerecht. Im Roman Friß Vogel 2 Hitlerdtschld. In: Schicksalswende. Bln. 1956, S. 97–102. – Werner Volke (Bearb.): ›Das innere (Mchn. 1972) behandelt M. das Schicksal ihReich‹ 1934–44. In: Marbacher Magazin 26 (1983; res Vaters, eines Journalisten, der 1967 im darin auch weitere Lit. zur Ztschr. ›Das innere Nahen Osten erschossen wurde. Die KindReich‹). – Hubert Orlowski: K. B. v. M.: ›Das heitserinnerungen Wir sind arm, wir sind reich
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Mechthild von Hackeborn
(Stgt. 1977), der Roman Die andere Hälfte der Mechthild von Hackeborn, * um 1241 Welt oder Frühstücksgespräche mit Paula (Mchn. Hackeborn, † 19.11.1299 Kloster Helfta. – 1980) u. die Erzählungen Das Mädchen und der Mystikerin. Pinguin (Mchn. 1986) werden dann wieder zunehmend stilistisch anspruchsvoller u. in M. stammte aus dem Geschlecht der in der Erzählstruktur komplexer, ohne an So- Nordthüringen u. am Harz begüterten Freizialkritik u. scharfer Satire nachzulassen. herren von Hackeborn. Sie wurde bereits Nach einer Phase, in der M. mit großem Er- siebenjährig in das Zisterzienserinnenkloster folg hauptsächlich Kinderbücher veröffent- Rodersdorf gegeben, wo ihre ältere Schwester lichte, gelang es ihr mit ihren beiden letzten Gertrud bereits Nonne war. Gertrud, Romanen Die Prinzipalin (Ffm. 1994) u. Das 1250–1291 Äbtissin, sorgte sich sehr um die kurze heldenhafte Leben des Don Roberto (Ffm. Bildung des Mädchens. Im Jahr 1258 wurde 1999), ihre heterogenen Schreibimpulse, das Kloster nach Helfta bei Eisleben verlegt, sarkast. Gesellschaftskritik, ein überborden- wo die auch musikalisch begabte M. als Leides Erzählbedürfnis u. ihren Hang zu artifi- terin der Klosterschule u. als Vorsängerin im zieller Prosa, zu integrieren u. so am Ende das Chorgesang diente. 1261 wurde ihr die fünfzu werden, was sie immer angestrebt hatte: jährige Gertrud von Helfta (Gertrud die eine souveräne Erzählerin, die die Muster der Große) zur Erziehung anvertraut. Ihre myst. Unterhaltungsliteratur unangestrengt hand- Erlebnisse verschwieg M. aus Bescheidenheit habt, ohne die polit. Dimension zu verlieren bis zu ihrem 50. Geburtstag, als sie bereits durch Krankheit bettlägrig war. Ihre Offenu. ins bloß Triviale abzugleiten. barungen wurden im Auftrag der Äbtissin Weitere Werke: Gegen Eis u. Flut. Mchn. 1963 (L.). – Lachschärpe. Mchn. 1965 (L.). – Das gläserne von Gertrud u. einer anderen Schwester Paradies. Mchn. 1973 (R.). – Die Blindgängerin. heimlich aufgeschrieben u. nach sieben JahMchn. 1974 (R.). – Hallo Vivi. Bayreuth 1975 ren von M. als richtig bestätigt. Mitschwester (Kinderbuch). – Die Träume der Füchsin. Stgt. 1976 in Helfta war ab ca. 1270 auch die Begine u. (E.en). – Kitty Brombeere. Bayreuth 1979 (Kinder- Mystikerin Mechthild von Magdeburg. Bald buch). – Meine zärtlichste Freundin. Pforzheim nach ihrem Tod wurde M. als Heilige verehrt. 1981 (L.). – Gott u. die Liedermacherin. Mchn. 1983 Der Liber specialis gratiae ist urspr. lateinisch (R.). – Himmelsgevögel. Pforzheim 1986 (L.). – verfasst, obwohl davon auszugehen ist, dass Zwiesprache mit einem Schweigenden. Würzb. das nicht für M.s mündl. Berichte an Gertrud 1989 (E.en). – Der Engel auf dem Dach. Bindlach 1989 (Kinderbuch). – Jeden Tag will ich leben. Ffm. u. die andere Schwester gilt. Das Werk gilt in 1990. – Kitty geht ihren Weg. Bindlach 1990 (Kin- der Forschung mittlerweile als eine kollektive derbuch). – Simon Monster u. die Märchenfee. Gemeinschaftsleistung mehrerer Frauen: Bindlach 1990 (Kinderbuch). – Flucht ins fremde Man geht davon aus, dass Gertrud u. eine Paradies. Ravensburg 1990 (Kinderbuch). – Cold oder auch mehrere Mitschwestern es nach Turkey. Die Drogenkarriere des Andreas B. Ra- M.s Erzählungen, ihrem »Diktat« u. in Abvensburg 1992 (Jugendbuch). – Tropenzeit. Mchn. sprache mit ihr aufgezeichnet haben. Als 1993 (Reiseber.). – Rettet Jorinde! Würzb. 1994 prägend für alle in diesem Zeitraum in Helfta (Kinderbuch). – Ikarus. Gesch.n aus der Unwirkentstehenden Werke – hier sind eingeschloslichkeit. Ffm. 1994 (E.). – Mein gelbes Tier. Aussen die Werke von M.s mystisch begabten gew. Gedichte 1962–94. Weilerswist 1995. Mitschwestern Gertrud der Großen u. Literatur: Karl Ermert u. Brigitte Striegnitz (Hg.): Die stille Gewalt des Alltäglichen. Autoren- Mechthild von Magdeburg – wird die Klostagung mit A. M. Rehburg-Loccum 1979. – Ingrid tergemeinschaft betrachtet: Sie ist Keim u. Laurien: A. M. In: Neue Lit. der Frauen. Deutsch- Nährboden des myst. Erlebens, Kommunisprachige Autorinnen der Gegenwart. Hg. Heinz zierens wie auch der daraus resultierenden Puknus. Mchn. 1980, S. 116–123. – Dies.: M. In: Verschriftlichung. KLG. – Waltraud Müller-Ruch u. Hermann Ruch: Der Liber zerfällt in sieben thematisch geA. M. In: LGL. Sylvia Adrian / Ingrid Laurien gliederte Teile: 1. M.s Visionen im Lauf des Kirchenjahrs, 2. der persönl. Umgang M.s mit Christus: ihre bes. Gnaden, 3. u. 4. mystisch
Mechthild von Magdeburg
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Literatur: Bibliografie: Gertrud Jaron Lewis: Bigeprägte Ausführungen über rechte Andacht u. über Tugendleben, 5. Jenseitsvisionen, 6. bliogr. zur dt. Frauenmystik des MA. Bln. 1989, Leben u. Tod der Äbtissin Gertrud, 7. ein S. 159–163, 184–195. – Weitere Titel: Carl RichstätDie Herz-Jesu-Verehrung des dt. MA. Regensb. wohl Gertrud von Helfta zuzuschreibender ter: 2 1924, passim. – Alois M. Haas: Gedanken M.s v. H. Bericht über M.s letzte Tage u. ihre Verzur christl. Rechtfertigung. In: Titlisgrüße 66 dienste. Legitimiert wird das Werk durch die (1980), S. 143–152. – Ders.: M. v. H., eine Form göttl. Herkunft von M.s Offenbarungen. Der zisterziens. Frauenfrömmigkeit. In: Die ZisterziCharakter des Liber u. des Legatus divinae pie- enser. Hg. Kaspar Elm. Bonn 1982, S. 221–239. – tatis Gertruds ist trotz Berührungspunkten Peter Dinzelbacher: Visionen u. Visionslit. im MA. wesentlich anders als frauenmyst. Werke in Stgt. 1981. – Margot Schmidt: Elemente der Schau der Volkssprache, was v. a. auf den hohen bei Mechthild v. Magdeburg u. M. v. H. In: FrauBildungsstand der Helftaerinnen zurückzu- enmystik im MA. Hg. P. Dinzelbacher u. Dieter R. führen ist. Die beiden lat. Texte sind durch- Bauer. Stgt. 1985, S. 123–151. – Dies.: M. v. H. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Sabine setzt mit Bibel- u. Väterzitaten (Augustinus, Spitzlei: Erfahrungsraum Herz. Zur Mystik des Hieronymus, Gregorius usw.), auch sehr gute Zisterzienserinnenklosters Helfta im 13. Jh. Stgt. Liturgiekenntnisse fließen in die Werke ein. 1991. – Susanne Köbele: Bilder der unbegriffenen Im Mittelpunkt beider Werke steht die Pas- Wahrheit. Zur Struktur myst. Rede im Spansionsbetrachtung, wobei das Herz Jesu immer nungsfeld v. Lat. u. Volkssprache. Tüb./Basel 1993, wieder die an sich unbeschreibbare persönl. S. 104–122. – Kurt Ruh: Gesch. der abendländ. myst. Verbindung mit Gott, die geistl. Mystik. Bd. 2, Mchn. 1993, S. 296–314. – MargaBrautschaft, versinnbildlicht: im häufigen rethe Hubrath: Schreiben u. Erinnern. Zur ›memoria‹ im ›Liber specialis Gratiae‹ M.s v. H. Paderb. Dialog mit Gott wird das spirituelle Verlan1996. – Claudia Kolletzki: ›Über die Wahrheit gen der Seele erweckt. dieses Buches‹. Die Entstehung des ›Liber Specialis Der Liber wurde mehrfach ganz oder teil- Gratiae‹ M.s v. H. zwischen Wirklichkeit u. Fiktion. weise ins Deutsche übersetzt. Die europ. In: ›Vor dir steht die leere Schale meiner SehnVerbreitung des Werks wird durch etwa 250 sucht‹. Die Mystik der Frauen v. Helfta. Hg. Milat. u. volkssprachl. Handschriften u. zahl- chael Bangert u. Hildegunde Keul. Lpz. 1998, reiche Drucke bezeugt. Durch die Domini- S. 156–179. – M. Hubrath: The ›Liber specialis kaner gelangte das Werk nach Florenz, durch gratiae‹ as a Collective Work of Several Nuns. In: die Kartäuser nach England. Auch in Spanien JOWG 1999, S. 233–244. – Dies.: Erweitertes Sinnpotential oder kontaminiertes Original? Zum wurde der Liber rezipiert. Die Werke der beiWerkbegriff einer myst. Offenbarungsschrift im den Helftaerinnen beeinflussten auch die Kontext ihrer lat. u. dt. Überlieferung. In: Zeitenkath. Frömmigkeit, v. a. durch die bis heute wende 5 (2002), S. 281–286. – Barbara Brüning: von der Kirche gepflegte Herz-Jesu-Vereh- Mechthild v. Magdeburg, M. v. H., Gertrud die rung. Der Jesuit Petrus Canisius förderte Große. Lpz. 2008. diesen Kult nachhaltig u. starb mit einem Werner Williams-Krapp / Astrid Breith Büchlein von Herz-Jesu-Gebeten M.s in der Hand. Zweifellos sind Gertrud u. M., von der Verbreitung u. Wirkung ihrer Werke her ge- Mechthild von Magdeburg, * um 1207, sehen, die berühmtesten dt. Mystikerinnen † um 1282 Kloster Helfta. – Verfasserin des mystischen Werks Das Fließende Licht überhaupt. Ausgaben: Revelationes Gertrudianae ac Mechthildianae. Bd. 2: S. Mechthildis [...] gratiae. Opus [...] editum Solesmensium [...] opera. Paris 1877. – Het boek der bijzondere genade van M. v. H. Hg. R. L. J. Bromberg. Zwolle 1965 (lat. u. mittelniederländ. Text). – Josef Müller: Leben u. Offenbarungen der hl. Mechthildis u. Schwester Mechthildis. Regensb. 1880 (nhd. Übers.). – M. v. H.: Das Buch vom strömenden Lob. Hg. Hans Urs v. Balthasar. Freib. i. Br. 2001.
der Gottheit (FL). Anhaltspunkte für eine »Biografie« M.s bietet – abgesehen von einer kurzen Passage in Gertruds von Helfta Gesandter der göttlichen Liebe – allein das FL. Freilich dürfen die dort mitgeteilten, nicht eben zahlreichen Angaben zur Person – sie können auf M. selbst oder auch auf Redaktoren zurückgehen – nicht ohne Weiteres als verbindliche lebensge-
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schichtl. Daten betrachtet werden. Auch in einem so »authentischen« Text wie dem FL ist selbstverständlich mit literar. Stilisierung, speziell mit hagiograf. Topik, zu rechnen (Peters). Doch müssen hagiograf. Topoi nicht notwendig ohne »fundamentum in re« sein, u. sie werden ergänzt durch eher en passant gemachte, der Autor-Stilisierung unverdächtige Bemerkungen, sodass sich doch Umrisse einer »Biografie« abzeichnen. Sprachliche Analysen (Neumann) weisen auf die Gegend um Zerbst als M.s Heimat. Ihre Familie war offenbar wohlhabend u. nicht ohne Einfluss. Sollte Wichmann von Arnstein, dessen myst. Texte Berührungen mit dem FL aufweisen (Ruh), wirklich – wie gelegentlich erwogen wurde (Neumann) – ein Verwandter M.s gewesen sein, hätte sie zu einer der einflussreichsten Familien des Landes gehört. Doch auch wenn über den Stand ihrer Familie keine Gewissheit zu erreichen ist, so ist es doch sicher, dass sie in höf. Umgebung aufwuchs. Das FL belegt ihre innige Vertrautheit mit höf. Leben, höf. Literatur u. höf. Werten. M.s Wunsch nach Aufgabe dieses Lebens entstand nach einer ersten myst. Erfahrung im Alter von zwölf Jahren u. er wurde in die Tat umgesetzt, als M. sich, etwa zwanzigjährig, nach Magdeburg begab, um dort unter Verzicht auf familiäre Geborgenheit u. sozialen Status als Begine in Armut zu leben. Konkrete Angaben über M.s Leben in dieser Stadt gibt es kaum; sicher ist aber ihre enge Verbindung zum seit 1224 dort ansässigen Dominikanerorden, der sie wohl weitgehend ihre theolog. Kenntnisse verdankt. Ein Dominikaner, Heinrich von Halle, war ihr langjähriger Beichtvater, u. M.s jüngerer Bruder Balduin trat, wohl auf Betreiben der Schwester, ebenfalls diesem Orden bei. In den 1260er Jahren scheint M. Magdeburg verlassen zu haben; Beginen-feindliche Beschlüsse einer Dominikaner-Synode (Neumann) mögen dabei ebenso eine Rolle gespielt haben wie eine schwere Erkrankung. Sie führte M. zur Familie zurück, wo sie Hilfe u. Pflege fand. Da ihre Entscheidung für ein geistl. Leben jedoch endgültig war, zog sie sich schließlich in das 1234 gegründete Zisterzienserinnenkloster Helfta zurück, wo sie nach langer Krankheit u. fast erblindet um 1282 starb.
Mechthild von Magdeburg
Mit dem Schreiben begann M. etwa um 1250, u. die Arbeit am allmählich zu einem Buch anwachsenden FL begleitete sie bis zu ihrem Lebensende. Dieses Schreiben war keineswegs selbstverständlich, sondern bedurfte der Rechtfertigung. Denn als Frau, die qua Frau vom Theologie-Studium ausgeschlossen war, standen ihr öffentl. Äußerungen zu theolog. Fragen nicht zu. M. war sich dieses Problems bewusst u. reagierte darauf wie andere Frauen in vergleichbarer Position (Spanily): mit dem demütigen Bekenntnis der eigenen Unfähigkeit u. dem Verweis auf den göttl. Schreibbefehl. Zgl. versicherte sie sich des kirchl. Schutzes, der ihr v. a. vonseiten des Dominikanerordens zuteil wurde. M.s Text stieß offenbar rasch auf Interesse. Greifbar wird dies in der sicher noch zu ihren Lebzeiten begonnenen Übersetzung des FL ins Lateinische, den sog. Revelationes (Rev.). Doch müssen bereits vorher »Teilpublikationen« des Textes vorgelegen haben, denn das FL reflektiert Publikumsreaktionen – positive wie negative –, u. die Rezipienten sind im Verlauf der langen Entstehungsgeschichte des Werks immer deutlicher präsent. Auf diese Weise wird im FL das Schreiben selbst zum Thema. Die inhaltl. Vielfalt des FL lässt sich am ehesten unter drei Aspekten bündeln, deren erster ein biografischer ist. Freilich handelt es sich um das »Fragment einer inneren Biographie« (Mohr), denn der Text erzählt die Geschichte der Beziehung einer Seele zu ihrem Gott, einer Beziehung, die am Ende des FL so zusammengefasst wird: »Deine Jugend war eine Freundin meines Heiligen Geistes, dein kraftvolles Erwachsensein war eine Braut meiner Menschheit, dein Alter ist jetzt eine Ehefrau meiner Gottheit« (VII 3). Dieser biogr. Aspekt bildet die »innere Struktur« eines Textes, der durch die Einteilung in sieben Bücher, die wiederum in durchnummerierte u. mit eigenen Überschriften versehene Kapitel untergliedert sind, nur eine sehr äußerlich-formale Gliederung aufweist, welche überdies kaum auf M. zurückgehen dürfte. Der zweite Aspekt ist der kirchliche: M. fühlte sich als von Gott beauftragtes Mitgl. der Kirche in bes. Weise für diese verantwortlich. Sie entwarf in einer großen Al-
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legorie ein ideales Bild von der Schönheit u. der großen Aufgabe der Kirche. Von diesem Ideal hatte sich nach M.s Überzeugung die Kirche in ihrer Zeit weit entfernt. Daher nimmt Kirchenkritik, die teilweise in sehr scharfer Form geäußert wird, beachtl. Raum im FL ein. Dabei werden freilich nicht die Institution, sondern nur ihre unwürdigen Vertreter angegriffen (Heimbach). Der dritte Aspekt, der sowohl die Geschichte der Einzelseele wie die der Kirche übergreift, ist der heilsgeschichtliche. M. erzählt Heilsgeschichte von der Erschaffung des Menschen bis zur ewigen Herrlichkeit nach dem Ende der Zeiten. Sie tut dies nicht chronologisch, sondern sie vergegenwärtigt Heilsgeschichte, zumeist in großen Visionen, als Geschichte des liebenden u. Gegenliebe wünschenden Gottes. Der Vielfalt des Inhalts korrespondiert die Vielgestaltigkeit der Form, die sich jeder Gattungszuordnung entzieht; vielmehr finden sich im FL »das Lyrische, das Dramatische, das Gedankliche« als Formen »in statu nascendi« (Mohr). Im Text konkretisieren sie sich als Formtypen, die sich mehr oder weniger eng an Bekanntes anschließen lassen: Liebespreis u. -klage, Gebet, Vision, Merkvers, traktatartige Abhandlung, Allegorie, Lehr- u. Streitgespräch. Doch treten diese Formtypen nicht rein auf, sondern erscheinen in vielfältigen Kombinationen. Als ein im gesamten Text gleichbleibend bedeutsames Gestaltungselement ist der Dialog hervorzuheben, wobei der Dialog mit Gott, »dem unvergleichlichen Partner« (Haug), das Zentrum bildet. Ebenso unkonventionell wie der Umgang mit literar. Formen ist auch die Behandlung von Vers u. Reim. M. unterwirft ihre Verse nicht den strengen Regeln, die in der höf. Klassik für Vers u. Reim verbindlich waren; sie umspielt sie vielmehr in ihren Versen recht frei. Dazu gehört auch, dass der Übergang von Prosa zum Vers u. umgekehrt oft nicht genau fixiert ist. Die Prosa kann Verse vorbereiten oder nachklingen lassen durch den Gleichklang der Satzteil-Schlüsse, im sog. Kolonreim (Neumann). Aussagen zu M.s Sprache u. Stil sind nur unter Vorbehalt möglich, weil der Klang des ursprünglich niederdt. Textes (s. u.) sich mit
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der Übertragung ins Oberdeutsche veränderte. (Auch die niederdt. Kolonreime wurden von den oberdt. Übersetzern weitgehend vernachlässigt.) Klar erkennbar blieben dagegen auch in der Übertragung die stilist. Elemente, mit denen M. arbeitet, Elemente, die allgemein als Kennzeichen myst. Sprechens gelten: Neologismen, Tautologien, Hyperbeln, Oxymora, antithet. Parallelismen, durch Präfigierung unterstrichene Steigerung von Adjektiven u. anderes mehr. Freilich macht M. von alldem höchst schöpferisch Gebrauch. Dies gilt bes. für Vergleich u. Metapher, denen große Bedeutung für die sprachl. Annäherung an die Unio zukommt. M. kombiniert in ihrer Metaphorik – hier entscheidend geprägt vom Hohenlied u. dessen Allegorese – auf ganz eigene Weise »Elemente der Literalebene mit solchen der Deutungsebene« u. erreicht damit «eine eigene narrative Logik« der Unio-Darstellung (Köbele), wobei sie freilich die Grenzen dieser literar. Möglichkeit immer präsent hält (Seelhorst). Die Wirkungsgeschichte des FL ist ungewöhnlich. Zwar hatte der Text durchaus einen spontan-zeitgenöss. Erfolg (s. o.), zu dem auch ein noch näher zu untersuchender Einfluss auf die Texte der Helftaer Mystikerinnen zu rechnen ist, doch erreichte das Buch seine stärkste Wirkung erst im Verlauf des 14. Jh. Zentrum dieses außergewöhnl. Interesses am FL war Basel. Hier ließ der Weltpriester Heinrich von Nördlingen, der wegen des Interdikts seine Heimat verlassen hatte, in den 1340er Jahren das in Basel unverständliche ursprüngl. Niederdeutsch des FL ins Oberdeutsche übertragen. Sieht man von der späten Wolhusener Handschrift (16. Jh.) ab, die eine Rückübersetzung der Rev. ist, wurde diese Übertragung zum Ausgangspunkt der gesamten dt. Überlieferung (vgl. dazu Poor). Zunächst aber wurde das FL in der oberdt. Fassung zum Vademecum eines frommen Zirkels, den Heinrich um sich versammelt hatte. Die Wirkung des Textes blieb aber nicht auf den Basler Raum beschränkt, sondern strahlte dank Heinrichs Verbindung zu seiner Heimat nach Süddeutschland aus, v. a. in die Dominikanerinnenklöster Engelthal bei Nürnberg u. Maria Medingen bei Dillin-
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gen/Donau. In Engelthal enstand vielleicht das vom FL angeregte myst. Gedicht Der Minne Spiegel; aus Maria Medingen stammen die Offenbarungen der Nonne Margaretha Ebner, in denen sich Reflexe der FL-Lektüre finden. Schließlich lässt sich der Einfluss des FL selbst in einem Werk aus dem nordöstlichsten dt. Sprachbereich finden, im Leben der heiligen Dorothea des Johannes Marienwerder, das im preuß. Deutschordensland entstand. Das Interesse, das das FL erweckte, lässt sich zudem an den Teilabschriften (Hss. in Colmar, Würzburg u. Budapest) sowie an der Streuüberlieferung kleiner u. kleinster Textteile ablesen. Ausgaben: Hg. P. Gall Morel. Regensb. 1869. Nachdr. Darmst. 1965. – Hg. Hans Neumann. Bd. I, Zürich/Mchn. 1990 (Text), Bd. II, Tüb. 1993 (Untersuchungen). – Hg. Gisela Vollmann-Profe. Ffm. 2003 (mit Übers. u. Komm.). – Hg. dies. Stgt. 2008 (Ausw. mit Übers. u. Komm.). – Revelationes Gertrudianae ac Mechtildianae. Bd. 2: S. Mechtildis [...] Lux divinitatis. Opus [...] editum Solesmensium O.S.B. monachorum cura. Paris 1877 (lat. Version [Rev.]). Übersetzungen: Margot Schmidt. Stgt.-Bad Cannstatt 21995. – Vollmann-Profe 2003 u. 2008 (s. o.). – Sr. M. Costanza: Het vloeiende Licht der Godheid. Brügge 1957 (niederländ.). – Frank Tobin: The Flowing Light of the Godhead. New York 1988 (engl.). – Paola Schulze Belli: La luce fluente della Divinità. Florenz 1991 (ital.). – Waltraud Verlaguet: La lumière fluente de la Divinité. Grenoble 2001 (frz.). Literatur: Bibliografie: Gertrud Jaron Lewis: Bibliogr. zur dt. Frauenmystik des MA. Bln. 1989, S. 164–183. – Weitere Titel: Grete Lüers: Die Sprache der dt. Mystik des MA im Werke der M. v. M. Mchn. 1926. – Hans Neumann: Beiträge zur Textgesch. des FL u. zur Lebensgesch. der M. v. M. Gött. 1954. Gekürzt wieder in: Altdt. u. altniederländ. Mystik. Hg. Kurt Ruh. Darmst. 1964, S. 175–239. – Wolfgang Mohr: Darbietungsformen der Mystik bei M. v. M. In: Märchen, Mythos, Dichtung. FS F. v. der Leyen. Hg. Hugo Kuhn u. Kurt Schier. Mchn. 1963, S. 375–399. – Caroline Walker Bynum: Jesus as Mother. Studies in the Spirituality of the Middle Ages. Berkeley 1982. – Walter Haug: Das Gespräch mit dem unvergleichl. Partner. Der myst. Dialog bei M. v. M. als Paradigma für eine personale Gesprächsstruktur. In: Das Gespräch. Hg. Karlheinz Stierle u. Rainer Warning. Mchn. 1984, S. 251–279. Wieder in: Ders.: Brechungen auf dem Weg zur
Meckauer Individualität. Tüb. 1997, S. 550–578. – H. Neumann: M. v. M. In: VL. – Marianne Heimbach (-Steins): ›Der ungelehrte Mund‹ als Autorität. Myst. Erfahrung als Quelle kirchlich-prophet. Rede im Werk M.s v. M. Stgt./Bad Cannstatt 1989. – Ursula Peters: Religiöse Erfahrung als literar. Faktum. Tüb. 1988. – Susanne Köbele: Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur myst. Rede im Spannungsfeld v. Latein u. Volkssprache. Tüb./Basel 1993. – K. Ruh: Gesch. der abendländ. Mystik. Bd. II: Frauenmystik u. Franziskan. Mystik der Frühzeit. Mchn. 1993. – Claudia Brinker u. a. (Hg.): Contemplata aliis tradere. Studien zum Verhältnis v. Sprache u. Lit. FS A. M. Haas. Bern u. a. 1995. – Elizabeth A. Andersen: The Voices of M. v. M. Oxford u. a. 2000. – Helena Stadler: Konfrontation u. Nachfolge. Die metaphor. u. narrative Ausgestaltung der unio mystica im FL v. M. v. M. Bern 2001. – Claudia Spanily: Autorschaft u. Geschlechterrolle. Möglichkeiten weibl. Literatentums im MA. Ffm. u. a. 2002. – Jörg Seelhorst: Autoreferentialität u. Transformation. Zur Funktion myst. Sprechens bei M. v. M., Meister Eckhart u. Heinrich Seuse. Tüb./Basel 2003. – Nikolaus Henkel u. a. (Hg.): Dialoge. Sprachl. Kommunikation in u. zwischen Texten im dt. MA. Tüb. 2003. – Sara S. Poor: M. of M. and Her Book – Gender and the Making of Textual Authority. Pennsylvania 2004. – Waltraud Verlaguet: L’›éloignance‹. La théologie de M. de Magdebourg (XIIIe siècle). Bern u. a. 2005. Gisela Vollmann-Profe
Meckauer, Walter, * 13.4.1889 Breslau, † 6.2.1966 München. – Romancier, Dramatiker, Lyriker. Der Sohn eines Versicherungsdirektors absolvierte von 1907 an eine Banklehre u. war 1910/11 Angestellter bei einer Überseebank in Peking (damals Peiping). Danach schloss er sein in Breslau begonnenes Philosophiestudium mit einer Dissertation über Bergson (Der Intuitionismus und seine Elemente bei Bergson. Lpz. 1917) ab. 1918–1922 war M. als Dramaturg u. Herausgeber verschiedener Zeitschriften tätig. M. vertrat nach eigenen Worten als Erzähler einen »spirituellen Realismus« u. griff auf Mythen u. Legenden seiner schles. Heimat zurück (so im Glashüttenspiel Der blonde Mantel. Breslau 1920). Ab 1926 freier Schriftsteller in Berlin, gelang M. 1928 mit dem China-Roman Die Bücher des Kaisers Wutai (Mchn.) der erste große Erfolg: Seinsproble-
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matik u. Zeitkrisis werden in einem Panora- Meckel, Christoph, * 12.6.1935 Berlin. – ma philosophisch-mythischer Zusammen- Schriftsteller u. Grafiker. hänge im Rahmen einer Familiengeschichte M.s künstlerische Kreativität entfaltet sich über Generationen hinweg gespiegelt. gleichermaßen in der Literatur u. in der BilEine 1933 angetretene Urlaubsreise geriet denden Kunst. Das umfassende Werk, das er M. zur Odyssee der Emigration: 1934 Rom, in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht später Positano, 1939 Frankreich. M. wurde hat, zeugt von einem außerordentlichen vermehrfach interniert; 1942 gelang ihm die Flucht in die Schweiz, 1947 ging er nach New balen u. visuellen Ausdrucksvermögen. In der York. Seine jüd. Mutter kam in Theresien- Gegenwartsliteratur nimmt M. seit Langem stadt um. M.s autobiogr. Roman Gassen in einen herausragenden Platz ein, obwohl er fremden Städten (Mchn. 1959. Ffm. 1985) sich nicht in den Vordergrund des literar. schildert ohne Hass u. Verbitterung diesen Lebens drängt. Seit über 50 Jahren schreibt M. Gedichte, Erzählungen, Romane, Essays, Leidensweg. 1952 kehrte M. nach Deutschland zurück. Kinderbücher u. gelegentlich auch Hörspiele. Der Roman Viel Wasser floß den Strom hinab Außerdem ist er Herausgeber u. Übersetzer (Mchn. 1957) u. die Erzählung Mein Vater Os- fremdsprachiger Literatur, insbes. der zeitwald (Stgt. 1955) wenden sich in autobiogr. genöss. Literatur aus Israel. Sein Engagement Weise der verlorenen Heimat zu u. schildern spiegelt sich darüber hinaus in zahlreichen bilderbogenartig das Leben in Schlesien vor Porträts befreundeter u. vom Kulturbetrieb dem Ersten Weltkrieg. M.s Romane wurden mitunter marginalisierter Kollegen, an die er mehrfach mit Preisen ausgezeichnet; der u. a. in dem Band Dichter und andere Gesellen Walter-Meckauer-Kreis mit Sitz in Köln ver- (Mchn. 1998) erinnert. Der Sohn des Schriftstellers Eberhard Megibt eine Walter-Meckauer-Medaille. ckel wuchs in einem kunstsinnigen Milieu Weitere Werke: Genosse Fichte. Polit. Satyrsp. Lpz. 1919 (Kom.). – Wesenhafte Kunst. Mchn. 1920 auf u. verbrachte seine Kinder- u. Jugend(Ess.). – Herr Eßwein. Breslau 1921 (N.). – Das dt. jahre überwiegend im vom Krieg zerstörten Denken. Erlenbach/Zürich 1948 (Ess.). – Wolfgang Freiburg/Breisgau. Nach dem Besuch des u. die Freunde. New York 1949 (R.). – Die Sterne Gymnasiums folgten zahlreiche Reisen ins fallen herab. Mchn. 1952 (R.). – Der ewige Kalen- europ. u. außereurop. Ausland, die sich für der. Gedichte nach dem Altdeutschen. Mchn. 1953. die Weltwahrnehmung u. Werkentwicklung – Der Lebenspsalm. Krefeld/Baden-Baden 1957 (L.). als sehr folgenreich erweisen sollten. – Das Reich hat schon begonnen. Mchn. 1959 (D.). – 1954–1955 studierte M. in Freiburg Grafik Heroisches Tgb. Karlsr. 1960 (Autobiogr.). – Ins Dasein beurlaubt. Karlsr. 1963 (D.). – Der Baum mit bei Rudolf Dischinger, ein Studium, das er den goldenen Früchten. Mchn. 1964 (E.). – 1956 an der Kunstakademie München fortsetzte, bevor er im Alter von 22 Jahren nach Schwalben über der Stadt. Karlsr. 1964 (L.). Literatur: Joachim Zeuschner (Hg.): W. M., Berlin ging u. den Sprung als freischaffender Mensch u. Werk. Mchn. 1959. – Brigitte Meckauer: Künstler wagte. Die an Radierungen reiche Die Zeit mit meinem Vater. Köln 1982. – W.-M.- Bildwelt, die M. im Laufe vieler Jahre zu einer Kreis (Hg.): Der Kudan. Köln 1984. – Ders. (Hg.): W. »Weltkomödie« ausgearbeitet hat, umfasst M. Köln 1984 (Ausstellungskat.). – Ders. (Hg.): W. heute rd. 1800 Blätter, bestehend aus Zyklen, M., Licht in der Finsternis. Fragmente seines Le- Serien, Triptychen, Diptychen, Einzelblätbens. Mit einer Einf. v. Carl ter Haar. Köln 1988 tern, Bildersammlungen u. Friesen. Zu M.s (mit Bibliogr.). – Veronika Bernhard: Die fremde grafischem Werk zählen ferner zahlreiche Stadt. Exotik als Katalysator projizierender Reflexion. In: LiLi 28, H. 112 (1998), S. 81–94. – Euge- Zeichnungen, Holzschnitte, Illustrationen u. niusz Klein: Was die Oder rauscht. Zu W. M.s Er- kolorierte Manuskriptbilder, die insg. ein innerungen an Schlesien. In: Zwischen Verlust u. außergewöhnl. Kunstprojekt bilden, das bisFülle. Studien zur Lit. u. Kultur. Hg. Edward her in ca. 80 Ausstellungen weltweit zu sehen Bialek. Wroclaw u. a. 2006, S. 232–240. war, systematisch künftig aber noch zu erOliver Riedel / Red. fassen ist. /
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Bereits mit seiner ersten Lyrik-Publikation Tarnkappe (Mchn. 1956) wurde man auf den jungen Autor aufmerksam; bekannt wurde M. spätestens Anfang der 1960er Jahre, zunächst v. a. durch die Gedicht- u. Grafikbände Nebelhörner (Stgt.) u. Moël (Hbg./Mchn.), die beide 1959 erschienen. Aber auch mit Prosaarbeiten wie Im Land der Umbramauten (Stgt. 1961) machte er sich schnell einen Namen als Verfasser von Erzählungen, die in surrealistisch-imaginäre Texträume führen u. von zahlreichen Kunstfiguren u. Fantasiegestalten wie dem Magier »Drusch« bevölkert sind. Bis heute hat M. weit über 100 Titel publiziert, darunter allein mehr als 20 Gedichtbände, die »das Kontinuum und das Zentrum« (Wulf Segebrecht) seines Schaffens bilden u. durch Themen- u. Formenvielfalt auffallen. Die Sammlung Ungefähr ohne Tod im Schatten der Bäume (Mchn./Wien 2003) bietet eine repräsentative Auswahl seiner LyrikProduktion. Als Liebeslyriker kann man M. etwa in den großen Zyklen der 1980er Jahre – Säure (Hbg. 1979), Souterrain (Mchn./Wien 1984) u. Anzahlung auf ein Glas Wasser (Mchn./ Wien 1987) – kennenlernen. Im nicht minder umfangreichen Prosawerk M.s findet sich neben einer teils der Fantastik, teils der Realistik verpflichteten Schreibweise ein ausgeprägter, stark autobiografisch inspirierter Zug. Beispielhaft dafür steht Nachricht für Baratynski (Mchn./Wien 1981). M. nähert sich darin einem russ. Lyriker aus der ersten Hälfte des 19. Jh. u. lässt gleichsam seine poet. u. autobiogr. Ader zusammenfließen, indem er Baratynskis Lebensgeschichte mit der eigenen verwebt. Gerade in diesem die Gattungsgrenzen sprengenden Text lassen sich ganze Passagen als Ausdruck gelebten Lebens lesen. Der Ich-Erzähler artikuliert unüberhörbar seinen »Hunger nach Welt« u. beschreibt, wie er einer als erstickend empfundenen Umgebung im Deutschland der Nachkriegszeit zu entkommen versucht. Dieser in M.s gesamten Text-Panorama prävalente Zug ins Weite u. Unbekannte hat mit biogr. Erfahrungen zu tun u. erklärt die Vorliebe des Autors für Globetrotter jeder Façon. Sein Faible für mobile Protagonisten zeigt sich u. a. sehr deutlich in dem Roman Bockshorn (Mchn.
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1973), dessen Personal gleich aus mehreren »Straßenhechten«, »Roadrunnern« u. »Fußakrobaten« besteht. Wer sich intensiver mit der Arbeit M.s befasst u. seinen Essay Merkmalminiaturen zu Eichendorff (Stgt./Bln. 1997) kennt, könnte den Eindruck gewinnen, als seien die Eichendorff-Zeilen »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt« die geheime Gravur dieses Werkes: Das Unterwegssein ist wohl das zentrale Motiv dieses Schriftstellers u. durchzieht frühe Erzählungen wie Dunkler Sommer und Musikantenknochen (Bln. 1963), Gedichte wie Jugend (in: Wen es angeht. Düsseld. 1974), aber auch jüngere Arbeiten wie die Prosasammlung Nachtsaison (Mchn./Wien 2008). Auffallend ist, dass sich der M.-Ton mit den Jahren verändert hat; in die Dur-Stimmung der frühen Texte mischen sich mehr u. mehr Moll-Töne, so etwa in dem Erzählband Einer bleibt übrig, damit er berichte (Mchn./Wien 2005). Zwar reagierte schon der junge M. mit seinen »Shanties« künstlerisch sensibel auf die Schattenseiten der (Post-)Moderne, doch spätestens mit Beginn des 21. Jh. steigt die Zahl der Randexistenzen, Flüchtlinge, Outcasts, oft Kinderfiguren wie Findel (in: Einer bleibt übrig, damit er berichte), die sich als Protagonisten in einer von Krieg u. Naturkatastrophen entstellten Welt vorfinden. Manche Kritiker haben M. deswegen Weltuntergangsstimmung vorgehalten, doch kaum einer konnte sich ganz der Sogkraft u. dem »Sound» seiner Sprache entziehen. So bescheinigte Helmut Böttiger der exquisiten Prosaetüde Perlesöd (Passau 2004), sie könne »nur aus einem eigenen Sprachraum heraus entstehen.« Nicht zuletzt M.s Spürsinn für Sprache, sein Erfindungsreichtum u. sein Sensorium für die zivilisator. Verluste unserer Tage, der sich z.B. in dem bekannten Gedicht Andere Erde (in: Wen es angeht) ausdrückt, brachten ihm zahlreiche Auszeichnungen ein, darunter den Bremer Literaturpreis, den Joseph-Breitbach-Preis u. 2005 den SchillerRing. Als besonders wirkungsmächtig u. auflagenstark erwiesen sich die Liebesgeschichte Licht (Mchn. 1978) u. v.a. sein viel diskutiertes Vaterbuch Suchbild. Über meinen Vater (Düsseld. 1980), dem wohl prominentesten u. ästhetisch gelungensten Beispiel für
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M. reflektiert seine Arbeit intensiv, so etwa die literar. Auseinandersetzung der jüngeren Generation mit der nationalsozialist. Ver- in dem Essay Über das Fragmentarische (Wiesb. gangenheit ihrer Eltern. M. artikuliert u. 1978) u. den Frankfurter Poetikvorlesungen personalisiert mit diesem Buch deutl. Kritik Von den Luftgeschäften der Poesie. Seine Literatur am Nationalsozialismus u. v.a. an der im ist keine Realisierung fester theoret. PrinziNachkriegsdeutschland geübten Verdrän- pien, sondern eher das Resultat seiner subgungspraxis u. Schlussstrichmentalität, was jektiven Welthaltung, die auf das Sichtbardie Geschehnisse während des Dritten Rei- machen anderer Realitäts- u. Sinnschichten ches anbelangt. Ein Erfolg beim Publikum gerichtet ist. Seine poetolog. Aussagen lassen wurde auch der 1997 erschienene Bericht Ein keinen Zweifel daran, dass das Schreiben u. unbekannter Mensch (Mchn./Wien), eine Hom- grafische Gestalten ihm die Möglichkeit biemage an einen südfranzösischen Bauer und ten, seiner Existenz Form u. Sinn zu geben. Weitere Werke: Wildnisse. Ffm. 1962 (G.e). – an die Landschaft der Provence. Bei Lebzeiten zu singen. Bln. 1967 (G.e). – VerM. besitzt die Fähigkeit, selbst Plunder (Mchn./Wien 1986) in Poesie zu verwandeln. schiedene Tätigkeiten. Gesch.n, Bilder u. G.e. Hg. Wulf Segebrecht. Stgt. 1972. – Christa Reinig: Die Auch wenn der »freundlich-distanzierte SoBallade vom blutigen Bomme. Original-Linol- u. litär« (Peter Henning), der derzeit in Berlin u. Holzschnitte v. C. M. Düsseld. 1972. – Ein roter Freiburg lebt, immer noch viel in der Welt Faden. Ges. Erzählungen. Mchn./Wien 1983. – Die unterwegs ist u. sich Von den Luftgeschäften der Kirschbäume. Sieben Gedichte. Warmbronn 1987/ Poesie (Ffm. 1989) ungleich stärker angezogen 88. – Hundert Gedichte. Ausw. u. Nachw. v. Harald fühlt als von den Geschäften des Literatur- Weinrich. Mchn./Wien 1988. – Die Messingstadt. betriebs, so bleibt der inzwischen 75-jährige Mchn./Wien 1991 (R.). – Shalamuns Papiere. »Troubadour« nach wie vor ungemein pro- Mchn./Wien 1992 (R.). – Beginn eines Sommers. Bücher u. Bilder für Kinder. Troisdorf 2001. – Seele duktiv. Wie in seiner Anfangszeit, legt er des Messers. Mchn./Wien 2006 (G.e). auch heute noch großen Wert darauf, mit Literatur: Uwe-Michael Gutzschhahn: Prosa u. Verlagen zusammenzuarbeiten, die v. a. äsLyrik C. M.s. Diss. u. Bibliogr. Köln 1979. – Albert thet. Kriterien folgen, was u. a. zu fruchtba- Baumgarten u. Helene Harth: Begegnungen mit C. ren Kooperationen mit dem Ellermann Ver- M. Freib. i. Br. 1985. – Franz Loquai (Hg.): C. M. lag, der Eremiten-Presse des Verlegers V. O. Eggingen 1993. – Wulf Segebrecht: C. M.s Bücher. Stomps, dem Verlag Ulrich Keicher oder Ein bibliogr. Verz. In: Fußnoten zur Lit. H. 33 neuerdings dem Libelle Verlag führte; 2008 (2000). – Ernest Wichner: C. M. In: LGL. – Herbert erschien hier die Erinnerungsprosa an Marie Glossner: C. M. In: KLG. – W. Segebrecht (Hg.): Luise Kaschnitz Wohl denen die gelebt (Kon- Rede vom Gedicht. Interpr.en zu Gedichten v. C. M. In: Fußnoten zur Lit. H. 54 (2005). – Ders.: Von der stanz). Aufgabe, Ideen zu haben, Vorstellungen u. WünDas literar. Porträt ist ein bevorzugtes sche. Kunstfiguren u. Lebenszeichen, Rigorismus Metier innerhalb der Prosa M.s. Bereits mit ohnegleichen: Dem Schriftsteller C. M. zum siebErinnerung an Johannes Bobrowski (Düsseld. zigsten Geburtstag. In: FAZ, 11.6.2005. – Axel 1978) hatte er einem Kollegen ein sprach- Helbig: Der eigene Ton. Gespräche mit Dichtern. schönes Denkmal gesetzt. Bestimmt von ei- Lpz. 2007. Christoph Launer ner plastisch-sinnl. Vergegenwärtigungskunst sind auch Suchbild. Über meinen Vater sowie Suchbild. Meine Mutter (Mchn./Wien Meckel, Eberhard, auch: Peter Sixt, * 22.3. 2002), wenngleich die Eltern deutlich dis- 1907 Freiburg/Br., † 7.6.1969 Freiburg/ tanzierter dargestellt u. förmlich vom Sockel Br. – Lyriker, Erzähler, Literaturkritiker, gestoßen werden. Beide Porträtbücher de- Hörspielautor. monstrieren darüber hinaus, dass M. ein to- M., Sohn eines Architekten u. Vater des pografisch ausgesprochen versierter Erzähler Schriftstellers Christoph Meckel, studierte ist, dem die poet. Durchdringung u. Anver- von 1926 bis 1930 Germanistik, Kunstgewandlung einer Landschaft, sei sie vorgefun- schichte u. Philosophie. Nach der Promotion den oder erfunden, gelingt. in Freiburg etablierte er sich in Berlin ab 1930
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als Lyriker, Kritiker u. Hörspielautor im Meding, (Johann Ferdinand Martin) OsUmkreis der jungen Autoren der Dresdner kar, auch: Gregor Samarow, Detlev von Zeitschrift »Kolonne« u. des Verlegers V. O. Geyern, Walter Morgan, Kurt von WalStomps; mit Eich, Huchel, Horst Lange u. feld, Leo Warren, * 11.4.1829 Königsberg, Martin Raschke war er befreundet. 1940 † 11.7.1903 Charlottenburg. – Romancier wurde er zum Militärdienst eingezogen. u. Journalist. Nach dem Krieg, den er mit einer schweren M., Sohn des ostpreuß. RegierungspräsidenKopfverletzung überlebte, kehrte er mit seiten, studierte Jura u. Volkswirtschaft in Köner Familie nach Freiburg zurück. nigsberg, Heidelberg u. Berlin u. trat 1851 in Die Lyrik M.s ist Goethe, Hölderlin, Eiden preuß. Justiz-, später Verwaltungsdienst chendorff u. Mörike verpflichtet. Über das ein. Unter der Regierung von Manteuffel war mit redseligem Pathos stets beschworene er in verschiedenen Verwendungen u. a. um Schöne, Edle, Reine, Stille u. Ewige, Maß u. den Ausbau einer konservativen Publizistik Gesetz, Heimattum u. Vaterland gelangte bemüht. Die liberale Politik der »Neuen Ära« sein Idealismus kaum hinaus. Ebenfalls konunter Prinzregent Wilhelm ließ ihn 1859 in ventionell sind die Natur- u. Weingedichte, die Dienste Georgs V. von Hannover treten, gelungener wirken nur jene um Einfachheit wo er 1863 Regierungsrat des Gesamtminisdes Ausdrucks bemühten Texte, die um die teriums mit direktem Vortragsrecht beim Kindheit kreisen. Größeren Erfolg erzielte M. König wurde u. v. a. mit Sonderaufgaben, u. a. mit seinen überwiegend im badisch-alemann. dem Aufbau einer Regierungspresse, betraut Raum angesiedelten Erzählungen (Wiedersewar. Nach dem Scheitern der von ihm 1866 hen mit der Jugend. Stgt. 1935. Die Frau in der vertretenen Neutralitätspolitik begleitete er Glocke. Seltsame Geschichten. Straßb. 1942), den König in den Feldzug u. später ins Exil unter denen autobiogr. Erinnerungen an Junach Hietzing. 1867–1870 vertrat er die welf. gend u. Krieg sowie historische, zumeist anInteressen politisch u. publizistisch in Paris ekdot. Stoffe u. Themen dominieren. Die u. vermittelte im Vorfeld des Deutsch-FranProsa M.s ist an Hebel (dessen Werke er herzösischen Kriegs in Berlin Amnestie u. Verausgab), Kleist, Stifter, Gotthelf u. Conrad sorgung für die Offiziere der von Georg V. Ferdinand Meyer orientiert. inzwischen aufgelösten welf. Legion. Als M.s Biografie u. sein literar. Weg sind freier Schriftsteller lebte er 1873–1879 in symptomatisch für viele konservativ-natioBerlin, danach auf einem Schloss bei Hannonale, christl. u. bildungsbürgerl. Autoren, die ver u., nach seinem wirtschaftl. Zusammenden Nationalsozialismus im Ganzen positiv bruch 1900, in Charlottenburg. beurteilten u. nur Hitler mit elitärer VerachSeine in Autopsie gewonnenen polit. tung begegneten; die Schwäche u. »VerführKenntnisse verarbeitete M. (unter Einfluss barkeit« ihrer Haltung gaben sie nach 1945 des ihm persönlich bekannten Goedschefreilich niemals zu. Retcliffe) zum »Zeitroman« Um Szepter und Weitere Werke: Wolfgang Robert Griepenkerl. Kronen in fünf Abteilungen zu je vier Bänden Seine allg. Grundlagen u. ihre Auswirkungen in (Stgt. 1872–76). Er schildert darin die Entseiner Literaturgeschichtsbetrachtung. Diss. Quakenbrück 1930. – Der Nachfahr. Bln. 1933 (L.). – stehung des Deutschen Reichs vom Krieg Flußfahrt. Hbg. 1936 (L.). – Durch die Jahre. Lpz. 1866 bis zum Tod des von ihm bewunderten 1939. Erw. 1943 (L.). – Conrad Ferdinand Meyer. Napoleon III. 1873, wobei der welfischStgt. 1940. – Ges. Gedichte. Lpz. 1949. – Die preuß. Konflikt in der dt. Einigung überScherbenschwelle. Lpz. 1956 (L.). wunden erscheint, ähnlich wie die schleswigLiteratur: Christoph Meckel: Suchbild. Über holsteinische Frage (Am Belt. Stgt. 1889) oder meinen Vater. Düsseld. 1980. – Ders.: Ber. zu dem der bayerisch-preuß. Gegensatz (Gipfel und Buch ›Suchbild. Über meinen Vater‹. In: Neue Slg. Abgrund. Stgt. 1888). M. diktierte unter ver26 (1986), S. 347–349. – Ders.: Eine Freundschaft schiedenen Pseudonymen in fabrikmäßiger (Peter Huchel, Günter Eich, E. M.). In: Text + Kritik Produktion insg. etwa 65 meist mehrbändige 157 (2002), S. 23–28. Wilhelm Haefs / Red. Zeit-, Gesellschafts-, »sociale« u. histor. Ro-
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mane, Memoirenwerke u. eine weit verbreitete Biografie Wilhelms I. Literatur: Volker Neuhaus: Der zeitgeschichtl. Sensationsroman in Dtschld. 1855–78. ›Sir John Retcliffe‹ u. seine Schule. Bln. 1980. – Heinrich Fischer: O. M.s Roman ›Unter fremdem Willen‹. In: Zettelkasten 20 (2001), S. 277–291. – Georg Ruppelt: O. M. hannoverscher Diplomat, preuß. Agent, Bestsellerautor. Hameln 2003. Volker Neuhaus / Red.
Meerbaum-Eisinger, Selma, * 14.8.1924 Czernowitz/Bukowina, † 16.12.1942 im Konzentrationslager Michailowka westlich des Bug. – Lyrikerin.
geradezu abenteuerl. Weise die Wirren der Zeit überstanden u. gelangten schließlich nach Israel, wo sie M.s Klassenlehrer als Privatdruck herausbrachte. 1980 erschien die Sammlung u. d. T. Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. Gedichte eines jüdischen Mädchens an seinen Freund (eingel. u. hg. v. Jürgen Serke. Hbg.) in der Bundesrepublik Deutschland u. wurde ein großer Erfolg (Neuausg.n 2005 u. 2008). Literatur: Thomas B. Schumann: Eine zweite Anne Frank. Über S. M. u. ihre Gedichte. In: Ders.: Asphaltlit. Bln. 1983, S. 149 f. – Wolfgang Emmerich: S. M.s Gedichte als ›Chronik der laufenden Ereignisse‹ in der Bukowina 1930–41. In: Die Bukowina. Studien zu einer versunkenen Literaturlandschaft. Hg. Dietmar Goltschnigg u. Anton Schwob. Tüb. 1990, S. 275–292. – Natalia Shchyhlevska: Deutschsprachige Autoren aus der Bukowina. Die kulturelle Herkunft als bleibendes Motiv in der Identitätssuche deutschsprachiger Autoren aus der Bukowina. Untersucht anhand der Lyrik v. Paul Celan, Rose Ausländer, Alfred Kittner, Alfred Gong, Moses Rosenkranz, Immanuel Weissglas, Alfred Margul-Sperber, S. M., Klara Blum, Else Keren. Ffm. u. a. 2004. 2., korrigierte Aufl. 2009. – Ortrun Niethammer: Innere Differenzierung. S. M. Rezeption ihrer Gedichte nach 1980. In: Als Kind verfolgt. Anne Frank u. die anderen. Hg. Inge Hansen-Schaberg. Bln. 2004, S. 181–194. – Marc Sagnol: S. M. Présentation d’une œuvre. In: EG 62 (2007), H. 1, S. 159–181.
M. war deutsch-jüdischer Herkunft u. wuchs in kleinbürgerlich-ärml. Verhältnissen auf. Ihr Vater betrieb einen kleinen Laden (Schreibwaren, Nähzeug). Obwohl ihr Zuhause völlig unliterarisch war (mütterlicherseits war sie allerdings durch einen gemeinsamen Urgroßvater mit Paul Celan verwandt) u. in der Schule nur Rumänisch gesprochen wurde, las M. früh dt. u. andere Literatur (bes. Heine, Rilke, Klabund, Verlaine, Tagore) u. übersetzte aus dem Französischen, Rumänischen u. Jiddischen (z.B. Verlaine, Discipol Mihnea, Itzik Manger, Halper Lejwik). Nach der Besetzung von Czernowitz musste sie mit Thomas B. Schumann / Red. ihren Eltern in das von den Nationalsozialisten errichtete Ghetto ziehen, von wo sie im Megede, Johannes Richard zur, * 8.9.1864 Juni 1942 in das SS-Arbeitslager Michailowka Sagan/Schlesien, † 22.3.1906 Bartenstein/ deportiert wurden. Entkräftet durch Terror Ostpreußen. – Erzähler. u. Strapazen, starb sie dort an Flecktyphus. Im Alter von 15 Jahren begann M. vor- Wie die Offizierslaufbahn brach M. auch sein nehmlich Natur- u. Liebeslyrik zu schreiben. Studium (Jura, Ästhetik u. Orientalistik) ab u. Wenn auch nicht unbeeinflusst (etwa von bereiste zahlreiche Länder, bevor er 1895 Rilke u. Hofmannsthal), zeigt sie doch auf- Verlagsredakteur in Stuttgart wurde. Als Augrund virtuoser Beherrschung verschiedener tor war ihm Sudermann künstlerisches VorGedichtformen, von Reim u. Rhythmus eine bild für die Darstellung des durch Landschaft beachtl. Begabung. Als hätte sie ihr Schicksal u. Umwelt geprägten Menschen. geahnt, zeugen viele ihrer Gedichte von In seinen Romanen (z.B. Unter Zigeunern. starkem Lebenswillen, Glücksverlangen u. Stgt. 1897. Von zarter Hand. 2 Bde., Stgt. 1898. Liebessehnsucht u. der gleichzeitigen Er- Felicie. Aus den Briefen eines Toren. Stgt. 1900) kenntnis von deren Unmöglichkeit. Nur insg. spiegelte M. aus dem Blickwinkel des adeli57 Gedichte, gewidmet ihrem Freund Lejser gen Zeitgenossen in skept. Distanz die auf Fichman, machen die schmale Hinterlassen- seinen Reisen gewonnene Welterfahrung. schaft dieses tragisch-kurzen Lebens aus, Bewegte Handlungsführung, teilweise vorlassen M. aber als Schwester im Geiste von dergründige Effekte u. psychologisierende Anne Frank erscheinen. Die Texte haben auf Darstellung kennzeichnen seine Gesell-
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schaftsromane, die auf histor. Stoffe (Quitt. Stgt. 1897) zurückgreifen oder die ostpreuß. Heimatlandschaften als Schauplatz seiner Gesellschaftsbilder (Das Blinkfeuer von Brüsterort. Stgt. 1901. Modeste. Stgt. 1906) wählen. Weitere Werke: Trianon. Stgt. 1903 (N.n). – Der Überkater. Stgt. 1905 (R.). – Josi. Stgt. 1906 (D.). Ausgabe: Ges. Werke. 12 Bde., Stgt. 1911. Wolfgang Weismantel / Red.
Megerle, Hans Ulrich ! Abraham a Sancta Clara Meggle, Basilius, eigentl.: Michael Anton M., * 4.7.1754 Stühlingen/Vorderösterreich, † 30.1.1830 Mammern/Schweiz. – Epigrammatiker, Zeitkritiker u. Übersetzer. Der Sohn eines Burgvogts im vorderösterr. Stühlingen wurde in den Gymnasien in Villingen u. Konstanz bei Benediktinern u. (ehemaligen) Jesuiten erzogen u. studierte dann an der Universität Freiburg/Br., wo Engelbert Klüpfel zu seinen Lehrern zählte. M. trat in den Benediktinerorden ein u. wurde Mönch in dem Kloster St. Peter im Schwarzwald. 1796 betraute ihn sein Abt Ignaz Speckle mit der zu St. Peter gehörenden Pfarrei St. Ulrich. Nach der Säkularisation übersiedelte M., der den Mönchsnamen Basilius trug u. zunächst mit einigen seiner Mitbrüder noch in St. Peter lebte, erst 1818 nach Freiburg, das er nur zu Kuren in Rippoldsau u. Triberg u. zu Besuchen in den Klöstern Rheinau u. Einsiedeln in der Schweiz verließ. Während eines dieser Besuche starb der greise Kleriker, der seinem aufgehobenen Kloster u. seinem Orden lebenslang die Treue hielt, im schweizerischen Mammern am Untersee. M., der seine Werke stets mit einem Kürzel kennzeichnete (P[ater] B[asilius] M[eggle] O[rdinis] S[ancti] B[enedicti]) erlangte einen gewissen Ruhm durch insg. sechs Bücher lat. Epigramme, die er von 1804 bis 1825 in Freiburg publizierte. In diesen erweist sich der Benediktinermönch als ein origineller Glossator der Zeitströmungen von der Französischen Revolution bis zur Restauration u.
als »skillful Epigrammatist« (Ijsewijn). Zeitlebens blieb er ein überzeugter Anhänger der alten Ordnung, in der die Stellung seiner Kirche noch unangefochten war, u. konnte sich nur schwer mit dem Ausscheiden der Habsburger aus dem dt. Südwesten infolge der Neuordnung durch Napoleon abfinden. Vor allem den Säkularisierungstendenzen der Französischen Revolution u. der Napoleonischen Ära galt seine scharfe Feder. Immer wieder spielt er mit dem Namen Bonaparte, um zu erweisen, dass dieser ihn zu Unrecht trage. So lässt er Europa klagen: »Nicht war schlechter mein Teil durch vieler Jahrhunderte Folgen / Als jetzt, da mich versklavt ›Gutteil‹ mit Namen ein Herr« (Übers.: H. W.). Der Antiklerikalismus der frz. Revolutionsanhänger wird von ihm ebenso aufs Korn genommen wie die Eroberungspolitik Napoleons. Mit den Ergebnissen des Wiener Kongresses für die kath. Kirche ist er keinesfalls einverstanden, hatte er doch auf die Restauration des kirchl. Besitzes u. der Stellung der Reichskirche gerechnet. Mit nicht geringerer satir. Schärfe verfolgt er den Reformkatholizismus der Anhänger des Konstanzer Bistumsverwesers Ignaz von Wessenberg, synkretist. Tendenzen erteilt er eine schroffe Absage. Neben über 1300 Epigrammen publizierte M. Elegien etwa auf die Völkerschlacht bei Leipzig De Victoria Ad Lipsiam Elegia (Freib. i. Br. 1813) oder an Papst Pius VII. In einigen eleg. Gedichten mahnt er die in Wien versammelten Fürsten Europas, ihrer Aufgabe, die alte Ordnung wiederherzustellen, gerecht zu werden. Mehrere Elegien, in denen barocke Bildtraditionen aufgenommen werden, preisen die jungfräul. Gottesmutter. Einige wenige seiner Gedichte übertrug M. in ein gegenüber seinem eleganten Latein eher holpriges Deutsch. Indessen zeigte er sich nicht unaufgeschlossen für die zeitgenöss. Literatur am Oberrhein, indem er etwa Epigramme des Elsässers Gottlieb Konrad Pfeffel oder des Schwaben Johann Christoph Friedrich Haug aus dem Deutschen ins Lateinische übertrug. Wenn M.s Werk auch in seinem lateinischen Sprachgewand literaturgeschichtlich überständig erscheinen mag, hat es doch seinen Ort in der übernat. Kultur
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der habsburgischen Monarchie, in der die lat. Literatur noch nicht obsolet geworden war. Weitere Werke: Vollst. Verz. bei Wiegand 2002 (s. u.), S. 469, Anm. 14. Literatur: Joseph Bader: Ein Kloster-Epigrammatist vom Uebergange des vorigen in’s gegenwärtige Jahrhundert. In: Freiburger DiözesanArchiv 14 (1881), S. 197–206. – Leo Fischer: Ein Benediktiner-Dichter aus den Tagen der Säcularisation. In: Studien u. Mitt.en aus dem Benediktiner- u. Cistercienser-Orden 6 (1885), II, S. 40–47. – Julius Mayer: Das ›Testamentum‹ des P. B. M. v. St. Peter bei der Ablegung der Kloster-Gelübde (1778). In: Freiburger Diözesan-Archiv 29 (1901), S. 298 f. – Hermann Wiegand: Solventur vincula populi. Aufklärung u. Französische Revolution im Spiegel der nlat. Dichtung. In: Der Altsprachl. Unterricht 32 (1989), H. 4, S. 59–87. – Ders.: ›Ewiger Ruhm wächst selbst aus den Verlusten dir zu‹. Der Benediktinerdichter B. M., die Französische Revolution u. Napoleon. In: Bad. Heimat 69 (1989), S. 387–396. – Ders.: Lat. Dichtung aus dem dem vorderösterr. Prälatenkloster St. Peter. Pater B. M. O. S. B. aus Stühlingen (1754–1830). In: Zwischen Josephinismus u. Frühliberalismus. Literar. Leben in Südbaden um 1800. Hg. Achim Aurnhammer u. Wilhelm Kühlmann. Freib. i. Br. 2002, S. 465–496 (Lit.). Hermann Wiegand
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Targum Scheni die Hauptquelle des Textes, der ebenfalls am Purimfest vorgelesen wurde. Ob »Eisek der Schreiber« (Epilog) Verfasser oder nur Abschreiber des Werks war, lässt sich nicht entscheiden. 3. In einer vermutlich 1522 entstandenen Bearbeitung (Hbg., cod. hebr. 144) wird der Stoff in 1334 Strophen in der Heunenweise (vier paarweise gereimte Langzeilen mit Binnenreim) romanhaft breit dargestellt. Der ungenannte Verfasser glaubte, mit seinem Werk auch in Konkurrenz zu den berühmten Werken der altjiddischen stroph. Bibeldichtung, dem Schmuel- u. dem Melochimbuch, treten zu können. Literatur: L. Landau: A Hebrew-German (Judeo-German) Paraphrase of the Book Esther of the Fifteenth Century. In: JEGPh 18 (1919), S. 497–555 (Abdr. der Oxforder Fassung). – Wilhelm Staerk u. Albert Leitzmann: Die Jüd.-Dt. Bibelübers.en v. den Anfängen bis zum Ausgang des 18. Jh. Ffm. 1923 (S. 228–241: Teilabdr. aus der Münchner u. Hamburger Hs.). – Wulf-Otto Dreeßen: Die altjidd. Estherdichtungen. In: Daphnis 6 (1977), S. 27–39. – Ders.: M. E. In: VL. – Barry Dov Walfish: Esther in Medieval Garb. Jewish Interpretation of the Book of Esther in the Middle Ages. State University of New York 1993. Hermann-Josef Müller / Red.
Megilass Ester. – Jiddische Bearbeitungen des Buches Esther, 14., 15. u. 16. Jh. Mehr, Mariella, * 27.12.1947 Zürich. – Erzählerin, Lyrikerin, Dramatikerin. 1. Die älteste jidd. Estherdichtung, entstanden vielleicht noch im 14. Jh. (heute in München, chm 347, fol. 86–109, 2. Hälfte des 15. Jh., unediert) erzählt in rd. 1800 gereimten Versen die Geschichte von der Errettung der pers. Juden durch Esther. Außer dem bibl. Estherbuch wurden von dem unbekannten Autor zahlreiche erbaul. u. belehrende Episoden aus Talmud u. Midrasch verarbeitet. Die Erzählung war offensichtlich zum Vortrag bei der zweitägigen Feier des Purimfestes bestimmt. Ein in nur einem Exemplar erhaltener Druck von ungefähr 1557 (Universitätsbibl. Basel), der eine teils gekürzte, teils erweiterte Fassung mit 1900 Versen überliefert, richtete sich dagegen wohl eher an ein Lesepublikum. 2. Eine jüngere Bearbeitung, entstanden im 15. Jh., niedergeschrieben 1544 (heute in Oxford), umfasst 380 Strophen im Hildebrandston. Neben dem Buch Esther ist das
Als Kind von Jenischen wurde M. dem Hilfswerk »Kinder der Landstrasse« der Pro Juventute übergeben. In ihrem Leben hat sie traumat. Stationen u. gewundene Wege hinter sich: Erziehung in Kinderheimen, Aufenthalte in psychiatr. Kliniken, Vergewaltigungen, Anstalten für Schwererziehbare, Elektroschockkuren, Frauenstrafanstalt, Arbeit als Dienstmädchen u. in verschiedenen Betrieben, arbeitsbedingte Krankheiten, Sterilisation ohne ihr Wissen, Selbstmordversuche. 1973 war M. unter den Gründern der »Radgenossenschaft der Landstrasse«, einer Dachorganisation der Jenischen. Ein Jahr danach begann sie mit ihrer publizist. Tätigkeit für Schweizer Zeitungen u. engagierte sich für die Rechte von Minderheiten u. gesellschaftl. Randgruppen (Zigeuner, weibl. Häftlinge), wofür ihr 1998 der Ehrendoktortitel der Universität Basel verliehen wurde.
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1997 zog M. nach Italien um. Ihre Werke für ihre Situation eine angemessene Sprache wurden ins Französische, Italienische, Finni- zu finden u. den Gründen sozial bedingter sche u. Ungarische übertragen. Für ihr Gewalt nachzugehen. In thematischer u. stiSchaffen erhielt sie mehrere Preise, u. a. Lite- list. Hinsicht ist Angeklagt als komplementär raturpreis des Kantons Zürich (1981), Litera- zu Daskind u. Brandzauber (Zürich 1998) zu turpreis der Stadt Bern (1983, 1987), Ida So- sehen. In ihren Werken entwertet M. die mazzi-Preis der Ida Somazzi-Stiftung Basel bürgerl. Gesellschaft als eine menschenwür(1988), Preis der Schweizerischen Schiller- dige Lebensordnung, ihre Protagonistinnen stiftung (1996), Buchpreis des Kantons Bern verkörpern nonkonformes, abweichendes Verhalten. (2002), Buchpreis der Stadt Bern (2002). Das literar. Werk von M. hat eine starke Weitere Werke: in diesen traum schlendert ein autobiogr. Note u. ist eigentlich monothe- roter findling. Gümligen 1983 (G.e). – Silvia Z. Ein matisch. In steinzeit (Bern 1981), ihrem ersten Requiem. Urauff. Chur 1986. – Anni B. oder Die Roman, entlädt sich die Gewalttätigkeit, die fünf Gesänge der Not. Eine Groteske. Urauff. Züder Autorin während ihrer Kindheit u. Ju- rich 1989. – Rückblitze. Gümligen 1990. – Zeus gend zugefügt wurde. Sie schildert in deliri- oder der Zwillingston. Zürich 1994 (R.). – Nachrichten aus dem Exil. Klagenf. 1998 (G.e). – Wiumartigen Erinnerungssequenzen die Gederwelten. Klagenf. 1998 (G.e). – Das Sternbild des schichte der Protagonistin Silvia/Silvana/Sil- Wolfes. Klagenf. 2003 (G.e). vio, die – krank aus Mangel an Zuneigung u. Literatur: Benita Cantieni: Schweizer Schriftstumm vor Verzweiflung – um ihr Überleben steller persönlich. Frauenfeld 1983. – Carmel Finkämpft. In Das Licht der Frau (Gümligen 1984), nan: M. M. In: LGL. – Klaus Pezold (Hg.): Schweieinem collageartigen Text aus Hymnen, An- zer Literaturgesch. Die deutschsprachige Lit. im 20. rufungen weibl. Urbilder u. Verwünschun- Jh. Lpz. 2007. – Beatrice v. Matt: Der Aufbruch der gen phallokrat. Normen, erkundet M. das Frauen (1970–2000). In: Schweizer Literaturgesch. Tötungsritual von Stierkämpferinnen. Im Hg. Peter Rusterholz u. Andreas Solbach. Stgt./ Zentrum von Kinder der Landstrasse. Ein Hilfs- Weimar 2007, S. 400–425. Pia Reinacher / Zygmunt Mielczarek werk, ein Theater und die Folgen (1987, Urauff. 1986), der Dokumentation eines trüben Kapitels Schweizer Sozialgeschichte, steht das Mehring, Daniel Gottlieb Gebhard, * 27.3. Theaterstück Akte M. Xenos ill. *1947- Akte C. 1759 Wenzeslaushagen (Venzlaffshagen) Xenos ill. *1966, in dem M. die gewalttätige bei Schivelbein/Neumark, † 29.4.1829 Trennung jenischer Kinder von ihren Eltern Berlin. – Theologe, Pädagoge, Publizist. durch das Hilfswerk »Kinder der Landstrasse« der Pro Juventute beschreibt. M. studierte in Halle evang. Theologie, war Eine bes. Bedeutung in M.s Gesamtschaf- für kurze Zeit Schulrektor in Schivelbein, fen kommt dem Roman Daskind (Zürich u. a. versah dann eine kleine Dorfpfarrei im an1995) zu, der Darstellung eines Kindes, das grenzenden Pommern, bevor ihm, knapp 30keinen Namen u. keine Sprache für seine Lage jährig, der Sprung nach Berlin gelang. Hier hat u. eine Schleuder zum Tötungsinstru- war er zunächst Feldprediger bei einem Inment u. Zeichen seiner Unmündigkeit macht. fanterieregiment u. seit 1797 Zweiter PrediEs will auf diese Weise Wahrheit vermitteln ger an der Friedrichwerderschen u. Doroüber sich selbst, sein eigenes Selbstverständ- theenstädtischen Kirche. nis. Dem Roman Angeklagt (Zürich 2002) ist M.s zahlreiche Schriften sind weitgehend ein seinem Inhalt adäquates Motto von Mi- der Pädagogik u. der Popularphilosophie chel Foucault vorangestellt: »Weibliches Tö- zuzurechnen; nach 1806 sind deutliche nat. ten ist ein Schritt aus der weiblichen Sprach- Töne vernehmbar. M. wurzelte in der fridelosigkeit.« Er erzählt die Geschichte einer rizian. u. Berliner Aufklärung, nahm aber jungen Außenseiterin namens Kari Selb, die, darüber hinaus Gedanken Pestalozzis über wegen Mordes u. Brandstiftung verhaftet, die Volksschulbildung auf. Er bediente sich bemüht ist, vor der Gerichtspsychologin das der Form des Aufsatzes (z.B. Einige Gedanken Signifikante aus ihrem Leben zu artikulieren, und Wünsche, den Gang der Erziehung besonders in
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niedern Volksschulen betreffend. Bln. 1792), der umfangreichen Abhandlung (Der Geist der Schule, oder Wie wird einzig ein kräftiges Volk gebildet? Bln./Lpz. 1816), des Lehrgedichts (Thauma, oder Der Gang durch’s Leben. Ein lyrischdidaktisches Gemälde der vier Lebensstufen. Bln. 1826) u. veröffentlichte (anonym) auch zwei philosoph. Romane, die jedoch wegen der schwachen poet. Einkleidung u. des pathet. Tons von der Kritik ungnädig aufgenommen wurden (Das Jahr 2500 [...]. Aus einer arabischen Handschrift. 2 Bde., Bln. 1794/95. Der Philosoph im Walde, oder über Vaterlandsliebe und Bürgertreue. Bln. 1796). Mit Valentin Heinrich Schmidt gab M. das Nachschlagewerk Neuestes gelehrtes Berlin (Bln. 1795) heraus. Literatur: Julius Eduard Hitzig: Gelehrtes Berlin im Jahre 1825. Bln 1826. – Goedeke 10, S. 392. – Matthias Wolfes: M. In: Bautz. Matthias Richter / Red.
Mehring, Franz (Erdmann), * 27.2.1846 Schlawe/Pommern, † 28.1.1919 Berlin. – Publizist, Literaturkritiker u. Historiker. Nach dem Studium der klass. Philologie in Leipzig u. Berlin arbeitete der Sohn eines preuß. Offiziers u. Finanzbeamten, dessen Mutter (geb. von Zitzewitz) aus altpreuß. Adel stammte, für die »Frankfurter Zeitung« sowie für die von Guido Weiß herausgegebenen Blätter »Die Zukunft« u. »Die Wage«; 1883–1888 war M. Chefredakteur der »Berliner Volkszeitung«. Der krit. Linksliberale (Herr von Treitschke der Socialistentödter und die Endziele des Liberalismus. Lpz. 1875; an.) trat zunächst als Gegner der Sozialdemokraten auf (Die deutsche Socialdemokratie. Ihre Geschichte und ihre Lehre. Bremen 1877. 31879. Diss. Lpz. 1882), näherte sich jedoch der SPD während des Sozialistengesetzes an, trat der Partei aber erst 1891 bei. 1892–1895 Vorsitzender der Freien Volksbühne Berlin, war M. zunächst keinem Parteiflügel eindeutig zuzuordnen. 1916 wurde er Mitgl. der Gruppe Internationale, dann Mitbegründer der USPD, des Spartakusbundes u. der KPD. Seit 1917 war er für den inhaftierten Karl Liebknecht Mitgl. des preuß. Abgeordnetenhauses. Der Leitartikler der von Kautsky herausgegebenen Wochenzeitung »Neue Zeit«
(1891–1912) u. Chefredakteur der »Leipziger Volkszeitung« (1902–1907) veröffentlichte neben der Edition Aus dem literarischen Nachlaß von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle (4 Bde., Stgt. 1902) die aufsehenerregende Schrift Die Lessing-Legende (Stgt. 1893. Mit Vorrede. 21906. Neudr. Ffm. 1972. Erstmals 1891/92 in der »Neuen Zeit«). Hier verwarf M. die in der vorherrschenden boruss. Geschichtsschreibung vertretene Meinung von der bedeutenden Rolle der Hohenzollern-Dynastie bei der Förderung einer dt. nationalen Kultur. Damit attackierte M., in polem. Wendung gegen die friderizian. Apologie von Erich Schmidts Lessing-Biografie, den »Verrat« des Bürgertums der Kaiserzeit am polit. Liberalismus. Mit seiner LessingLegende wurde der »glänzendste polemische Publizist der deutschen Sozialdemokratie« (Lukács) zum ersten systematisch sich äußernden materialist. Literaturkritiker, sodass Lukács noch 1934 von M.s »fast unumstrittener Monopolstellung« sprechen konnte. In seinen zahllosen Kritiken u. Charakteristiken, v. a. in Schiller. Ein Lebensbild für deutsche Arbeiter (Lpz. 1905), hatte sich M. gegen drei Positionen durchzusetzen: zunächst gegen die national-konservative Vereinnahmung der dt. Literatur durch die Germanistik in der Zeit Wilhelms II.; dann gegen die von Marx u. Engels aufgestellte These von der Flucht der dt. Klassiker in die »überschwengliche Misere«; schließlich gegen die in der SPDZentrale (Bebel, Eisner) vorherrschende Meinung, Positionen der bürgerl. Literatur könnten umstandslos von links beerbt werden. M. historisierte die dt. Literatur u. Philosophie als »Rettung des Geistes« im »Elend der deutschen Zustände«. Doch unter vorrevolutionären Bedingungen habe das Proletariat sein Vorbild nicht in Kunstprodukten zu sehen (»die Sache schwachherziger und schwachköpfiger Menschen«), sondern ein »menschenwürdiges Dasein zu erobern« (in: Schiller. Vorrede zur 2. Aufl. 1909). Als Kritiker von Naturalismus u. Symbolismus glaubte M., dass eine neue Literatur nur auf dem Boden der sozialist. Gesellschaft möglich sei. Diese kulturelle Skepsis denunzierte Lukács als »Trotzkismus auf literarischem Gebiet«, während Benjamin in seinem
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Kunstwerk-Essay zu M. notierte: »Die Ent- nen: Aspekte marxist. Lessing-Rezeption (M., wicklung der Kunst hat ihm recht gegeben.« Lukács, Rilla). In: Ders.: G. E. Lessing-Studien. Wie seine literaturkrit. u. polit. Publizistik Kopenhagen 2006, S. 137–150. – Dietrich Lohse: verstand M. auch seine Historiografie als ›Der erste moderne Dichter‹: das Heine-Bild F. M.s. Einblicke u. Anregungen. In: ›Wenn wir es dahin Beitrag zur Vorbereitung des revolutionären bringen, daß die große Menge die Gegenwart verKlassenkampfes. Seiner Konzeption fehlte steht ...‹. Hg. Heidi Beutin. Ffm. 2007, S. 79–103. jedoch eine gründl. Analyse der wirtschaftl. Michael Behnen Lage. So erscheinen M.s Schriften aus heutiger Sicht weniger als materialist. Analysen denn als materialreiche kulturgeschichtl. Mehring, Walter, auch: Glossator, Walt Darstellungen. Trotz einer Reihe von EinMerin, * 29.4.1896 Berlin, † 3.10.1981 zeluntersuchungen fehlt bislang eine quelZürich. – Lyriker, Prosaist, Essayist, Verlenkrit. Gesamtbewertung von M.s Arbeiten. Weitere Werke: Kapital u. Presse. Bln. 1891. – Gesch. der dt. Sozialdemokratie. 2 Tle., Stgt. 1897/ 98. Erw. 4 Bde., 21903/04. 121922. – Meine Rechtfertigung. Ein nachträgl. Wort zum Dresdner Parteitag. Lpz. 1903. – Dt. Gesch. vom Ausgang des MA. 2 Bde., Bln. 1910. – Karl Marx. Gesch. seines Lebens [teilweise v. Rosa Luxemburg]. Lpz. 1918. 4 1924. Neudr. Bln./DDR u. Ffm. 1964. – Herausgeber: Friedrich Engels: Der dt. Bauernkrieg. Bln. 1908. – Ferdinand Lassalle: Über Verfassungswesen. Hbg. 1909. – Schillers Werke. 10 Bde., Bln. 1910. – Heines Werke in 10 Bdn. Bln. 1911. Ausgaben: Ges. Schr.en u. Aufsätze. 7 Bde., Bln. 1929–33. – Ges. Schr.en. 15 Bde., Bln./DDR 1960–76 (nur Schr.en nach 1891). – Werkausw. Hg. u. eingel. v. Fritz J. Raddatz. 3 Bde., Darmst. 1974/ 75 (nur Literaturkritiken). Literatur: Bibliografie: Bibliogr. der Veröffentlichungen v. u. über F. M. Potsdam 1980. – Weitere Titel: Georg Lukács: F. M. [1934]. In: Ders.: Werke. Bd. 10, Neuwied 1969, S. 341–432. – Helga Grebing u. a.: F. M. In: Dt. Historiker. Bd. 5, Gött. 1972. – Wolfgang Hagen: Die Schillerverehrung in der dt. Sozialdemokratie. Stgt. 1977. – Monika Kramme: F. M. Theorie u. Alltagsarbeit. Ffm. 1980 (mit Bibliogr.). – Klaus Gille: ›Nur eine wertlose Scherbe‹. Zur Rezeption der Weimarer Klassik bei F. M. In: Neoph. 66 (1982), S. 246–258. – F. M. (1846–1919): Beiträge der Tagung vom 8. bis 9. Nov. 1996 in Hamburg anläßlich seines 150. Geburtstags. Hg. Wolfgang Beutin. Ffm. 1997. – York-Gothart Mix: Literaturgeschichtsschreibung als Legitimationswiss. F. M.s ›Lessing-Legende‹ u. die Funktionalisierung des Bildungskanons im wilhelmin. Dtschld. In: Text u. Kontext 22 (2000), S. 158–168. – Wolfgang Beutin: F. M.s Grösse als Literaturkritiker. 10 Thesen. In: Dem freien Geiste freien Flug. Lpz. 2003, S. 101–115. – Lars Fischer: ›Es ist überall derselbe Faden, den ich spinne‹. Annäherungen an F. M.s Haltung zu Antisemitismus u. Judentum. Ebd., S. 129–154. – Klaus Boh-
fasser von Kabaretttexten u. Theaterstücken.
M. wuchs in künstlerisch-intellektuellem, tolerantem jüd. Milieu auf. Seine Mutter war Sängerin (sie wurde in Auschwitz ermordet), sein Vater Sigmar Mehring (1856–1915) Schriftsteller, Übersetzer u. Chefredakteur der Satirebeilage »Ulk« des »Berliner Tageblatts«, ein scharfer Kritiker der wilhelmin. Gesellschaft. So erlebte M. früh couragiertes, oppositionelles Verhalten, was ihn fürs Leben prägte. Wegen »unpatriotischen Verhaltens« vom Gymnasium relegiert, machte er das Abitur extern u. studierte einige Semester Kunstgeschichte in Berlin u. München. Ab 1916 publizierte er in Herwarth Waldens »Sturm« u. war führendes Mitgl. der Berliner Avantgarde-Zirkel von Expressionismus u. Dadaismus, den er wesentlich mitprägte. Er schrieb für diverse Kabaretts, wie »Schall und Rauch« von Max Reinhardt, »Wilde Bühne« von Trude Hesterberg, »Größenwahn« von Rosa Valetti, u. veröffentlichte zahlreiche Bücher. Die 1920er Jahre waren seine produktivste u. erfolgreichste Zeit. M. war Mitarbeiter der »Weltbühne« (1920 bis 1924 u. 1929 bis 1933) u. des »Tage-Buchs« (1925 bis 1928). 1922–1928 lebte er in Paris. Als bekannter Gegner der Nationalsozialisten musste M. in der Nacht des Reichstagsbrands nach Paris fliehen, von wo er 1934 nach Wien übersiedelte. Beim Einmarsch der Deutschen in Österreich floh er 1938 erneut nach Paris; eine leidvolle Emigrationsodyssee folgte. 1941 schließlich erhielt M. durch Varian Fry ein Ausreisevisum in die USA. Dort lebte er am Rande des Existenzminimums u. in literar. Isolation.
Mehring
Seit 1953 wieder in Europa, vorübergehend in der Bundesrepublik Deutschland, hauptsächlich in der Schweiz (Ascona, Zürich), blieb er ein Außenseiter u. Unbehauster, wurde alkoholabhängig u. krank, enttäuscht über mangelnde Anerkennung u. Resonanz trotz einiger Auszeichnungen (Fontane-Preis) u. diverser Neuauflagen. Nach expressionistischen u. dadaist. Texten fand M. in den Lyrikbänden Das politische Cabaret (Dresden 1920), Das Ketzerbrevier (Mchn. 1921) u. Wedding – Montmerte (Bln. 1922) zu seinem eigenen unverwechselbaren Ton. Seine Gedichte u. Lieder v. a. aus dem Großstadt-, Zirkus-, Gangster-, Vagantenoder Asozialenmilieu erweisen diesen »Sprachkünstler ersten Ranges« (Dürrenmatt) als einen der bedeutendsten Lyriker der Weimarer Republik neben Tucholsky, Ringelnatz, Kästner u. Brecht, den er partiell beeinflusste. M. verwandte Sprachelemente verschiedener Sozialschichten, z.B. schnodderigen Berlinjargon; er durchbrach die syntakt. Ordnung u. benutzte den Refrain zur satir. Zuspitzung; er verwendete Elemente aus Volkslied, Schlager oder Kinderreim u. belebte die Villon’sche Ballade mit sozialem Inhalt; schließlich – dies ist die revolutionärste Neuerung – brachte er Rhythmen des Jazz ins Gedicht ein u. behandelte Gedichte als »Sprachen-Ragtime«. Die schonungslosen gesellschaftskrit., aggressiven Texte entlarven Spießertum u. Nationalismus von Staat u. Kirche. Früh thematisierte M. auch die Instabilität der Weimarer Republik u. die Gefahren von Rechtsextremismus u. Antisemitismus. Überwiegen in den Gedichten des Exils (z.B. Und Euch zum Trotz. Paris 1934) zunächst noch kämpferische Töne, so nehmen Resignation u. elegisch-melanchol. Stimmungen mit der Zeit zu, v. a. im Zyklus 12 Briefe aus der Mitternacht (erstmals vollst. Heidelb. 1971), dem ergreifendsten lyr. Epitaph des Exils: »verfaßt / vor Untergängen, / in Gefangenenlagern, / von Flucht zu Flucht.« In seinen Prosawerken geißelte M. zunächst auch auf satir. Weise Missstände wie z.B. den Sensationsjournalismus im Roman Paris in Brand (Bln. 1927) oder den Tourismus in der Erzählung Algier oder die 13 Oasenwunder
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(Bln. 1927). Müller. Chronik einer deutschen Sippe von Tacitus bis Hitler (Wien 1935) ist eine Persiflage auf den Typus des dt. Untertans u. Opportunisten. Nach 1945 haben M.s Prosabücher Rückblick- u. Erinnerungscharakter, v. a. Die verlorene Bibliothek. Autobiographie einer Kultur (Hbg. 1952. Zuerst engl. u. d. T. The Lost Library. New York/London 1951). Das 1929 von Piscator (zu dessen dramaturgischem Kollektiv M. zeitweilig gehörte) inszenierte Stück Der Kaufmann von Berlin (Bühnenbild: László Moholy-Nagy; Musik: Kurt Weill. Buchausg. Bln. 1929) verursachte den größten Theaterskandal der Weimarer Republik, v. a. wegen des Lieds der 3 Straßenkehrer mit dem Refrain »Dreck! Weg damit«, wobei ein Straßenkehrer das Inflationsgeld u. einen Stahlhelm wegfegt u. dabei mit dem Besen an einen Soldatenleichnam stößt. Es ist die Geschichte von Aufstieg u. Fall des Ostjuden Simon Chajim Kaftan, eines Shylock der Inflationsjahre, der mit 100 Dollar in die Hauptstadt kommt, »zu koifn ganz Berlin«. M. war auch ein talentierter Zeichner, der diverse eigene Bücher illustrierte. Weitere Werke: Einfach klassisch! Eine Orestie mit glückl. Ausgang. Bln. 1919. – Europ. Nächte. Eine Revue. Bln. 1924. – In Menschenhaut. Aus Menschenhaut. Um Menschenhaut herum. Phantastika. Potsdam 1924. – Neubestelltes abenteuerl. Tierhaus. Eine Zoologie des Aberglaubens, der Mystik u. Mythologie vom MA bis auf unsere Zeit. Potsdam 1925. – Westnordwestviertelwest oder über die Technik des Seereisens. Bln. 1925 (E.). – Arche Noah S. O. S. Neues trostreiches Liederbuch. Bln. 1931. – Die Nacht des Tyrannen. Zürich 1937 (R.). – Timoshenko. Marshal of the Red Army. New York 1942. – No road back. New York 1944 (L.; engl. u. dt.). – Verrufene Malerei. Von Malern, Kennern u. Sammlern. Zürich 1958. – Morgenlied eines Gepäckträgers. Hann. 1959 (L.). – Berlin Dada. Zürich 1959. – Kleines Lumpenbrevier. Gossenhauer u. Gassenkantaten. Zürich 1965. – Großes Ketzerbrevier. Die Kunst der lyr. Fuge. Mchn./Bln. 1974. Ausgaben: W. M. Werke, Hg. Christoph Buchwald. 10 Bde., Düsseld. 1978–83. Tb.-Ausg. Ffm./ Bln./Wien 1980 ff. – Ich hab die Welt zu malen, nicht zu ändern. Zeichnungen, Gedichte, Glossen. Hg. u. mit Nachw. v. Georg Schirmers. 2 Bde., Hann. 1989/90. – Der Kaufmann v. Berlin. In: Drei jüd. Dramen. Mit Dokumenten zur Rezeption. Hg. Hans-Joachim Weitz. Gött. 1995, selbstständig
99 Tüb. 2009, hg. u. komm. v. Georg-Michael Schulz. – Das Mitternachtstgb. Texte des Exils 1933–39. Hg. u. mit einem Nachw. v. G. Schirmers. Mannh. 1996. – Reportagen der Unterweltstädte. Berichte aus Bln. u. Paris 1918–33. Hg. u. mit einem Anh. v. G. Schirmers. Oldenb. 2001. Literatur: W. M. In: Text + Kritik 78 (1983). – Frank Hellberg: W. M. Schriftsteller zwischen Kabarett u. Avantgarde. Bonn 1983. – Christiane Spinoza u. Christoph Buchwald: W. M. In: Dt. Exillit., Bd. II, S. 652–664. – Hans-Peter Bayerdörfer: Shylock in Bln. W. M. u. das Judenporträt im Zeitstück der Weimarer Republik. In: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus u. deutschsprachige Lit. vom Ersten Weltkrieg bis 1933/38. Hg. Hans Otto Horch u. Horst Denkler. Tl. 3, Tüb. 1993, S. 307–323. – Barbara Bauer u. Renate Dürmeyer: W. M. u. Hertha Pauli im Exil. ›Zwei Parallelen, die im Geist’gen sich berühren‹. In: Dt.jüd. Exil: Das Ende der Assimilation? Hg. Wolfgang Benz u. Marion Neiss. Bln. 1994, S. 15–44. – Klaus Schuhmann: W. M. Teufl. Epiphanien. In: NDL 44 (1996), H. 3, S. 90–95. – Frithjof Trapp: W. M. – der Häretiker der Moderne. Zum Problem der Zeitgebundenheit satir. Strukturen. In: sozusagen. Hg. Edelgard Biedermann u. a. Stockholm 1996, S. 247–262. – Bettina Widner: Die Stunde des Untertanen. Eine Untersuchung zu satir. Romanen des NS-Exils am Beispiel v. Irmgard Keun, W. M. u. Klaus Mann. Diss. Bln. 1998 (elektron. Ressource). – Wolfgang Adam: Auf der Suche nach der ›Verlorenen Bibliothek‹. Gedächtnis u. autobiogr. Spurensicherung bei W. M. In: Leitmotive. Hg. Marianne Sammer. Kallmünz 1999, S. 143–159. – Jürgen Serke: Die verbrannten Dichter. Erw. Jub.Ausg. Weinh. u. a. 2002. – Hans-Peter Bayerdörfer: ›In eigener Sache?‹ – Jüd. Stimmen im dt. u. österr. Kabarett der Zwischenkriegszeit: Fritz Grünbaum, Fritz Lohner u. W. M. In: Hundert Jahre Kabarett. Hg. Joanne McNally u. Peter Sprengel. Würzb. 2003, S. 64–86. – Roland Jaeger: W. M. – künstler. Doppelbegabung. In: Blickfang. Hg. Jürgen Holstein. Bln. 2005, S. 240 ff. Thomas B. Schumann / Red.
Meibom, Meybaum, Heinrich, lat. Henricus Meibomius, * 4.12.1555 Alverdissen bei Lemgo, † 20.9.1625 Helmstedt. – Neulateinischer Dichter; Historiker; Professor für Poesie u. Geschichte in Helmstedt. M.s Vater Martin Meibom war Pfarrer in Alverdissen, seine Mutter Anna, geb. Dreyer, Tochter des Theologen Dr. Johannes Dreyer,
Meibom
der als Superintendent in Minden wirkte. Im Alter von nur 15 Wochen verlor M. innerhalb zweier Tage beide Eltern infolge einer Pestepidemie. Erzogen von Pflegeeltern in Lemgo, das er später als seine Heimatstadt ansah, erwarb er ebendort seine elementare Schulbildung. Danach besuchte er die Schule in Minden. Seit 1573 lebte er in Braunschweig, im Hause des Theologen Martin Chemnitius, der ihn als Lehrer seiner beiden Söhne beschäftigte. Am 17.10.1576 ließ sich M. an der in diesem Jahr von Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel gegründeten Universität Helmstedt immatrikulieren. Dort wurde er am 15.12.1580 zum Magister promoviert; drei Jahre später, am 6.8.1583, erfolgte seine Ernennung zum Prof. für Poesie u. Geschichte. Dieses Amt übte er bis zu seinem Tode aus, über einen Zeitraum von 42 Jahren. 1585 heiratete M. Sophie Bökel (1566–1625), die Tochter des herzogl. Leibarztes Daniel Bökel. Aus der Ehe gingen zehn Kinder hervor, drei Töchter u. sieben Söhne. Von diesen Kindern überlebten nur drei Söhne die Eltern, unter ihnen der Mediziner Johann Heinrich Meibom (1590–1655), Vater des berühmteren Mediziners u. Polyhistors Heinrich Meibom d.J. (1638–1700). M.s umfangreiches lyr. Gesamtwerk lässt sich nach vier teils gattungsmäßig, teils inhaltlich zu fassenden Hauptgruppen ordnen. Die erste Gruppe bilden seine Vergil-Centonen, die zgl. am Anfang seines poet. Schaffens in den Jahren 1579/80 stehen, die zweite seine Horaz-Parodien der Jahre 1588–1596, die dritte seine geistl. Gedichte, die den Schwerpunkt seines Schaffens in vorgerücktem Alter bilden. Die als vierte Hauptgruppe anzusetzende Gelegenheitspoesie erstreckt sich in zahlreichen Einzeldrucken wie bei vielen anderen nlat. Dichtern über den ganzen Zeitraum seiner berufl. Tätigkeit u. umfasst wie üblich vornehmlich Epicedien, Epitaphien, Epithalamien, Genethliaka u. Propemptika, daneben auch Gratulationsgedichte zu Anlässen des akadem. Lebens. Viele Gelegenheitsgedichte finden sich neben manch anderem in den Sylvarum libri duo (Helmstedt 1588). Von M.s Vergil-Centonen (mosaikartig zu neuen Aussagen zusammengesetzte Halb-
Meibom
verse aus den Werken Vergils) gehören die beiden ältesten ebenfalls der Gelegenheitsdichtung an: zwei Epithalamien zur Hochzeit von Johannes Olearius u. Anna Heshusen (Helmstedt 1579) u. von Heinrich Garber u. Margarethe Wolders (Helmstedt 1580). In zwei weiteren Centonen der Frühzeit (beide Helmstedt 1580) bearbeitete er bibl. Themen: Wirken u. Tod Johannes des Täufers (De ministerio et decollatione Johannis Baptistae) u. den Kampf zwischen David u. Goliath (De monomachia Davidis Israëlitae et Goliathi Philistae). Für eine aus Vergil-Centonen bestehende Reihe von knappen panegyr. Porträts der zehn habsburg. Kaiser von Rudolf I. bis zu Rudolf II., Imperatorum ac Caesarum Romanorum ex familia Austriaca oriundorum descriptiones breves et succinctae (Helmstedt 1589), verlieh ihm Kaiser Rudolf II. 1590 den Dichterlorbeer. Fünf Jahre später rief M. mit einem Vergil-Cento zum Krieg gegen die Türken auf (Classicum adversus Turcas Musulmanos. Helmstedt 1595). Mit der Veröffentlichung seiner Parodiarum Horatianarum libri duo (Helmstedt 1588) legte M., literarhistorisch im Gefolge der Parodiae morales (1575) von Henricus Stephanus (Henri Estienne), als Erster eine ganze Sammlung mit Texten einer Literaturgattung vor, die bis ins 17. Jh. hinein von verschiedenen Autoren kultiviert wurde. Es handelt sich hierbei nicht um Parodien im heute geläufigen Sinne, sondern um Kontrafakturen im Rahmen des humanist. Imitatio-Prinzips. Das Original, eine Horaz-Ode, wurde also nicht etwa ins Lächerliche gezogen, sondern ihm wurde eine völlig andere Aussage unterlegt, unter Beibehaltung des Metrums u. weitestgehender Bewahrung des Satzbaus. Bei dem zwingend notwendigen Austausch von Wörtern war darauf zu achten, dass, wenn irgend möglich, eine Lautähnlichkeit mit den Originalwörtern an den betreffenden Stellen gegeben war. Die neuen Inhalte, die M. so in ein Horazisches Gewand kleidete, sind sehr vielfältiger Art; sie betreffen geistliche, konfessionelle, moralphilosoph. u. allgemein zeitgeschichtl. Themen. Seinem ersten Band mit Horaz-Parodien ließ M. noch zwei Bände mit weiteren derartigen Produktionen folgen: Parodiarum Horatianarum reliquiae
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(Helmstedt 1589) u. Novae parodiae ad odas quasdam Horatianas (Helmstedt 1596). Vereinzelt finden sich bei M. (z.B. in den Sylvae, 1588) auch Parodien auf Catull-Gedichte; Terenz-Verse parodiert er in einer Art von poet. Lobschrift auf die Veröffentlichung der im Jahre 1577 abgeschlossenen Konkordienformel: Parodia Terentiana de Formula Concordiae recens in publicum emissa (Helmstedt 1580). Seine Lamentatio ad crucem Christi (Helmstedt 1598) ist erklärtermaßen Imitatio eines Werkes eines neuzeitl. Autors: des De morte Christi domini ad mortales lamentatio betitelten Gedichts des ital. Humanisten Jacopo Sannazaro (1456–1530). In seinen zahlreichen religiösen Gedichten findet man neben längeren geistl. Betrachtungen hauptsächlich knappe, epigrammatisch zugespitzte Ausdeutungen von Bibelstellen. Seine wichtigsten Publikationen auf diesem Gebiet sind: Piarum meditationum silvula (Helmstedt 1602), Flores verni (Helmstedt 1604) u. Flores serotini sive autumnales (Helmstedt 1604); die hierin u. in anderen Publikationen enthaltenen religiösen Gedichte hat M.s Enkel, Heinrich Meibom d.J., 40 Jahre nach dem Tode seines Großvaters gesammelt herausgegeben u. d. T. Poemata sacra (Helmstedt 1665). Eine eher periphere Rolle innerhalb des lyr. Gesamtwerkes spielen die sich mit den histor. Interessen des Autors überlagernden genealog. Dichtungen, wie man sie auch von Johannes Bocer kennt: katalogartige epigrammat. Porträts von Angehörigen eines Fürstenhauses in zeitl. Folge. Neben dem schon genannten Vergil-Cento über die zehn habsburg. Kaiser gehören hierzu die folgenden Werke: Catalogus Ducum Brunsvicensium et Lunaeburgensium, qui diversis in locis Episcopatibus praefuere (Helmstedt 1581); Genealogia [...] Domus Ducum Brunsvicensium et Lunaeburgensium, continua patrum serie, supra mille et ducentos annos, e nobilissimo Actiorum Romanorum sanguine repetita (Helmstedt 1585); Elogia sex Archiepiscoporum, qui ex una eademque familia ZollerioBrandeburgica oriundi continua serie Dioecesin Magdeburgensem Germaniae primatum totis pene centum annis [...] feliciter gubernarunt (Helmstedt 1609). Von vergleichbarer Machart sind die Heroes (Helmstedt 1604), epigrammat.
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Herrscherporträts nicht aus dynastischer, sondern aus welthistor. Sicht: von Ninus, dem Begründer des assyr. Reiches, bis zur Gegenwart (ähnlich auch die drei Abteilungen »Heroes« innerhalb der Agalmata. Helmstedt 1597). Wie als Historiker, so betätigte sich M. auch in seinem zweiten Fach editorisch: mit der Zusammenstellung einer Anthologie von Vergil-Centonen, darin eingeschlossen eigene Produktionen (Virgilio-Centones [...] antiquorum et recentium. Helmstedt 1597; Ergänzungsbd.: Centonum Virgilianorum tomus alter. ebd. 1600), ferner mit der Ausgabe sämtlicher poet. Werke von Euricius Cordus (Eurici Cordi [...] opera poetica quotquot exstant. Helmstedt 1614. 2 1616) u. mit der Ausgabe des lyr. Werkes zweier Zeitgenossen: der Gedichte von Joachim Mynsinger von Frundeck, Kanzler des Herzogs von Braunschweig-Wolfenbüttel (Poemata J. Mynsingeri a Frundeck. Helmstedt 1585, noch zu Lebzeiten des Verfassers!), u. von dessen früh verstorbenem Sohn Siegmund Julius (Sigismundi Julii Mynsingeri a Frundeck [...] iuvenilia sive libri poematum. Helmstedt 1602). M.s histor. Werk, auf das hier, da in seiner schwer überschaubaren Fülle noch kaum erschlossen, nicht näher eingegangen werden kann, besteht, abgesehen von Abhandlungen zu diversen Themen, hauptsächlich aus Quellenpublikationen zur dt. Geschichte des MA. Auffällig ist seine Vorliebe für Klostergeschichte. Von acht Klöstern hat er Chroniken verfasst; davon ist allerdings nur eine, die zum Kloster Riddagshausen (Chronicon Riddagshusense), zu seinen Lebzeiten im Druck erschienen (Helmstedt 1605. 21620). Sein Enkel Heinrich hat die histor. Werke in zwei Sammlungen neu herausgegeben: Opuscula historica (Helmstedt 1660) u. Rerum Germanicarum tomi III (Helmstedt 1688). Lebenszeugnisse: Zu seiner Magisterpromotion: Carmina gratulatoria in honorem [...] Hinrici Meibomii Lemgoviensis, cum in inclyta Academia Iulia [...] gradu Magisterii ornaretur [...]. Scripta ab amicis. Helmstedt 1580. – Zu seiner Hochzeit: Epithalamia in nuptias [...] Henrici Meibomii [...] et Sophiae Bokeliae [...] à [...] amicis decantata. In Archigymnasio Iulio, mense Octobri. Helmstedt 1585. – Gratulatoria aliquot carmina honori nup-
Meibom tiarum [...] Henrici Meibomii [...] sponsi et [...] Sophiae Bokeliae etc. sponsae dedicata ab amicis. Helmstedt 1585. – Gratulationsschrift zu seiner Dichterkrönung mit Abdruck des kaiserl. Diploms: Laurea poetica ab [...] Imperatore, Caesare Rudolpho II. [...] Henrico Meibomio [...] virtutis ergô clementissimè donata, et amicorum clarissimorum carissimorumque scriptis celebrata. Helmstedt 1591. – Stammbuch (Album amicorum), mit Einträgen 1575–1584: Dresden, Sächs. LB. – Zum Tode seiner Frau (Nachruf der Universität): Programma in funere [...] Sophiae Bokeliae coniugis [...] Henrici Meibomii [...]. Helmstedt 1625. – Zu M.s Tod (Nachruf der Universität, enthaltend die erste Biografie M.s): Programma in funere [...] Henrici Meibomii [...]. Helmstedt 1625. – Kupferstich-Porträt mit Biografie: Jean Jacques Boissard: Iconum virorum illustrium III. pars. Ffm. 1598, S. 118–123. Ausgaben: Delitiae poetarum Germanorum huius superiorisque aevi illustrium, collectore A. F. G. G. Ffm. 1612, Bd. 4, S. 310–321 (kleine Ausw. v. Gedichten aus den ›Silvae‹, 1588). Internet-Ed. in: CAMENA. – Opuscula historica varia res Germanicas concernentia. Partim antehac, nunc autem multo auctiora, partim numquam et è manuscripto primum edita ab Henrico Meibomio nepote. Helmstedt 1660. – Poemata sacra. Collecta et edita ab Henrico Meibomio nepote. Helmstedt 1665. – Rerum Germanicarum tomi III. [...]. Omnia recensuit et edidit Henricus Meibomius Junior. [...]. Helmstedt 1688. – Johann Georg Leuckfeldt: M. H. Meybaums Sen. [...] Chronicon des Jungfräul. Closters Marien-Born [...] So aus Allerhand alten Monumenten [...] v. ihm verfertiget worden, Welches aber ietzo zuerst Aus dem hinterlassenen Mscript, nebst beygefügten Leben des seel. Autoris [...] mittheilet J. G. L. Magdeb./Lpz. 1720. – Octave Delepierre: Tableau de la littérature du centon chez les anciens et chez les modernes. Bd. 1, London 1874, S. 269–278 (einige Proben aus M.s CentonenDichtung). – Chronicon Riddagshusense. H. M.s Chronik des Klosters Riddagshausen 1145–1620. Eingel., übers. u. erl. v. Gottfried Zimmermann. Braunschw. 1983 (ohne Ed. des Originaltextes). – Chronicon Marienthalense. H. M.s Chronik des Klosters Marienthal 1138–1629. Eingel., übers. u. erl. v. Gottfried Zimmermann. Mariental 1988 (ohne Ed. des Originaltextes). Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1283–1291 (Gesamtwerk; Titelkompilation aus zweiter Hand, in alphabet. Folge). – Ingrid Henze: Werkverz. M.: Poetica. In: Dies.: Der Lehrstuhl für Poesie an der Univ. Helmstedt bis zum Tode H. M.s d.Ä. († 1625). Hildesh./Zürich/New York 1990, S. 298–215 (ver-
Meichel zeichnet alle im Druck erschienenen lyr. Werke in zeitl. Folge, mit Standortnachweisen). – Nachlass (Bibliothek, Autografen, Briefwechsel): Hannover, Niedersächs. LB. – Weitere Titel: Paul Freher: Theatrum virorum eruditione clarorum. Bd. 2, Nürnb. 1688, S. 1517 f. – Johann Georg Leuckfeldt: Kurtze Histor. Nachricht v. dem Leben u. Schrifften M. Henrici Meibomii [...]. In: M. H. Meybaums [...] Chronicon des [...] Closters Marien-Born. Hg. ders. Magdeb./Lpz. 1720, S. 1–16. – Viktor v. Meibom: Nachrichten über die Familie v. Meibom. [Lpz. 1881] (Hs., vervielfältigt: UB Göttingen; HAB Wolfenbüttel). – Ders.: H. M. In: ADB. – Friedrich Koldewey: Gesch. der klass. Philologie auf der Univ. Helmstedt. Braunschw. 1895. Nachdr. Amsterd. 1970, S. 35–39. – Paul Zimmermann: Album Academiae Helmstadiensis. Bd. 1, Hann. 1926, S. 428 f. – Otto Herding: H. M. (1555–1625) u. Reiner Reineccius (1541–1595). Eine Studie zur Historiographie in Westfalen u. Niedersachsen. In: Westfäl. Forsch.en 18 (1965), S. 5–22. – Karl-Heinz Weimann: Der Nachl. M. in Hannover u. Göttingen. In: Medizingesch. in unserer Zeit. FS Edith Heischkel-Artelt u. Walter Artelt. Hg. Hans-Heinz Eulner u.a. Stgt. 1971, S. 171–188. – Gottfried Zimmermann: Chronicon Riddagshusense. H. M.s Riddagshäuser Klosterchronik 1145–1620. In: Braunschweig. Jb. 56 (1975), S. 7–26. – Ders.: Die acht Klosterchroniken des Helmstedter Historikers H. M. In: Jb. für niedersächs. Kirchengesch. 74 (1976), S. 53–63. – Eckart Schäfer: Dt. Horaz: Conrad Celtis, Georg Fabricius, Paul Melissus, Jacob Balde. Die Nachwirkung des Horaz in der Nlat. Dichtung Dtschld.s. Wiesb. 1976, S. 98–100. – I. Henze: Der Lehrstuhl für Poesie an der Univ. Helmstedt bis zum Tode H. M.s d.Ä. († 1625). Eine Untersuchung zur Rezeption antiker Dichtung im luth. Späthumanismus. Hildesh./Zürich/New York 1990. – Peter Johanek: H. M. In: NDB. – Karl-Heinz Kausch: Das Ende der Gelehrtendynastie M. in Helmstedt. In: Braunschweig. Jb. 75 (1994), S. 117–135. – Hanspeter v. Meibom: 400 Jahre. Lebenszeugnisse einer Familie. 1580–2000. [Bonn 1999] (vervielfältigtes Typoskript: HAB Wolfenbüttel; Niedersächs. LB Hannover). – Johannes Amann-Bubenik: Centonendichtung als HabsburgPanegyrik. In: Humanistica Lovaniensia 48 (1999), S. 234–250. – Ders.: Kaiserserien u. Habsburgergenealogien – eine poet. Gattung. In: Tradita et inventa. Beiträge zur Rezeption der Antike. Hg. Manuel Baumbach. Heidelb. 2000, S. 73–89. – Walther Ludwig: Der Humanist Heinrich Rantzau u. die dt. Humanisten. In: Humanismus im Norden. Frühneuzeitl. Rezeption antiker Kultur u. Lit. an Nord- u. Ostsee. Hg. Thomas Haye. Amsterd./
102 Atlanta 2000, S. 1–41. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1280–1292. Lothar Mundt
Meichel, Meychel, Joachim, * um 1590 Braunau/Inn, † 14.8.1637 München. – Jesuit; Lyriker, Übersetzer. Über die Kindheit u. Jugend des Lehrerssohns M. ist nur wenig bekannt. Die Schulzeit verbrachte er wahrscheinlich in seiner Geburtsstadt. Nach Abschluss seiner theolog. Studien in Dillingen u. München (1614) übernahm er im Kloster Weihenstephan die Stelle eines Präzeptors für die Novizen. 1623 erhielt er einen Ruf des bayer. Kurfürsten Maximilian als Geheimschreiber an den Hof nach München. Diese Tätigkeit übte er bis zu seinem Tode am 14.8.1637 aus. Die Stellung als »Beamter« erlaubte es ihm, seinen Ruf als anerkannter Übersetzer – bes. der Werke Drexels – im Münchener Dichterkreis um Balde u. Khuen auszubauen. Seine Übersetzungstätigkeit dürfte ein Grund dafür sein, dass sich die Literaturwissenschaft mit M.s lat. u. dt. Lyrik kaum beschäftigt hat. 1614 erschien ein Werk M.s, das über seine poet. Ambitionen vor der Münchener Zeit Aufschluss gibt: die Templa Frisingensia (Ingolst.), seine vermutlich einzige lat. Dichtung. In epigrammat. Manier werden hier die Kirchen u. Heiligtümer Freisings besungen, wobei sich M. als Meister der lat. Metrik u. Prosodie erweist. Religiöses Empfinden wird in den Distichen gekonnt mit humanist. Tradition (vgl. Wortwahl, Anspielungen usw.) verknüpft; Gelehrsamkeit, Frömmigkeit u. pädagog. Ambition verbinden sich harmonisch. Das Gebetbuch Geistliche Angelica Oder Seelen-Wurtz [...], das M. angeblich 1628 herausgab u. das kleinere metr. Dichtungen in dt. Sprache, vielfach Übersetzungen aus älteren Andachts- u. Gebetbüchern, enthalten soll, ist nicht mehr eindeutig nachzuweisen. Es wird jedoch in vielen literaturwiss. Arbeiten als Beispiel für M.s dt. Poesie genannt. M.s Drexel-Übersetzungen setzen 1626 mit Christlicher Trismegistus [...] (Mchn./Köln 1630. Mchn. 1631. Mehrmals abgedr. in den dt. Opera omnia Jeremias Drexels) ein. Im Vorwort dieses Traktats von der Reinigung des Ge-
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Meichsner
Ausgaben: Cenodoxus. Hg. Willy Flemming. In: wissens, der Verehrung der Heiligen u. der sträfl. Kleiderpracht erklärt Drexel, dass er Das Ordensdrama. Lpz. 1930, S. 47–183. – Dass.: M.s »Version und Dolmetschung alleinig für Hg. Heinrich Bachmann. Bln. 1932 u. ö. – Dass.: die seine und wahre erkennet«. 1627 folgte Erneuert v. F. Jost. Brig 1932. – Dass.: Bearb. v. Otto Rommel. Mchn. o. J. [1932]. – Dass.: Hg. Eddie dt. Übersetzung von Drexels Heliotropium gar Hederer. In: Dt. Dichtung des Barock. Mchn. u. d. T. Sonnenwend das ist / von Gleichförmigkeit 1965, S. 267–419. – Dass.: Hg. Rolf Tarot. Stgt. deß Menschlichen Willens mit dem Willen Gottes 1965. Bibliografisch erg. Ausg. 2001. [...] (Mchn. 10 weitere Aufl.n 1629–1756). Im Literatur: Bibliografie: Backer/Sommervogel 1, Erscheinungsjahr des Aeternitatis Prodromus Sp. 1455 f. (unter Bidermann). – Dünnhaupt 2. Aufl., übersetzte M. diesen von Drexel in bes. Weise Bd. 4, S. 2696–2708. – Weitere Titel: Georg Westerfür den prakt. Gebrauch bestimmten Traktat mayer: M. In: ADB. – Johannes Bolte: Eine Veru. d. T. Der Ewigkeit Vorlauffer oder Des Tods deutschung v. Bidermanns ›Cenodoxus‹. In: Jb. für Vorbott [...] (Mchn. 1628. 21630. 31636), der auf Münchener Gesch. 3 (1889), S. 535–541. – Wilhelm einen furchtlosen Tod vorbereiten sollte. An Flemming: Gesch. des Jesuitentheaters in den weiteren Übersetzungen von Drexels Trak- Landen dt. Zunge. Bln. 1923. – Johannes Müller: taten seien genannt Creutz-Schuel In welcher die Das Jesuitendrama in den Ländern dt. Zunge [...]. 2 Bde., Augsb. 1930. – Max Wehrli: Bidermanns Gedult gestärckt [...] wird (Mchn. 1630. 21631. ›Cenodoxus‹. In: Benno v. Wiese: Das dt. Drama. 3 Köln 1684), Zungen-Schleiffer Oder Brinnende Bd. 1, Düsseld. 1958, S. 13–34. – Rolf Günter TaWeltkugel von bösen Zungen angezündet [...] rot: Jakob Bidermanns ›Cenodoxus‹. Diss. Köln. (Mchn. 1631), Der Verdambten fewrige immer- Düsseld. 1960. – Karl Pörnbacher: Jeremias Drexel. wehrende Höllgefäncknuß [...] (Mchn. 1631. Mchn. 1965. – Heribert Breidenbach: Der Emble2 1639. Köln 31684) u. RichterStuel Christi [...] matiker Jeremias Drexel. Diss. University of Illi(Mchn. 1633). Im Rahmen der Überset- nois. Urbana 1970 [s. a. Gerhart Hoffmeister (Hg.): zungstätigkeit ist auch die Verdeutschung Europ. Tradition u. dt. Literaturbarock. Bern 1973, von Baldes Agathyrsus (Mchn. 1647) erwäh- S. 391–409]. – Rudolf Berger: Jacob Balde. Die dt. Dichtungen. Bonn 1972, S. 152–158 u. ö. – Frans nenswert. Stoks: J. M.s Büchlein ›Templa Frisingensia‹. In: FS M.s großes Verdienst ist die – einzige zeitPaul Wessels. Nijmwegen 1974, S. 75–97. – Ders.: genöss. – Übersetzung von Bidermanns Dra- M.s ›Epigrammata in funere reverendissimi domini ma Cenodoxus (u. d. T. Cenodoxus Der Doctor von Bartholomaei Schol‹. In: Grenzgänge. Amsterd. Pariß [...]. Mchn. 1635), die für lange Zeit das 1990, S. 51–63. Franz Günter Sieveke dramat. Schaffen Bidermanns exemplifizierte. Das in jamb. Senaren verfasste Original ist hier in Knittelverse gesetzt. Daraus erklärt Meichsner, Dieter, * 14.2.1928 Berlin, sich auch das quantitative Anschwellen der † 1.1.2010 Lenggries. – ProsaschriftstelVerse. M.s Leistung bedürfte einer eigenen ler, Bühnen-, Hörspiel- u. Drehbuchautor, Untersuchung. Das Auslassen von Szenen Dramaturg, Fernsehregisseur u. -produbzw. deren Umstellung im Vergleich zu der zent. Fassung der Ludi Theatrales von Bidermann dürfen nicht als Eingriffe des Übersetzers Der Sohn eines Privatgelehrten besuchte in angesehen werden, da fast alle diese Unter- Berlin das Gymnasium, bis er 1945 als Hitschiede auch in den Handschriften u. Perio- lerjunge eingezogen wurde. Nach dem Abitur chen zur Aufführung belegt sind. Die Über- u. sowjet. Haft begann er 1946 sein Studium setzung versucht bes., den sprechenden Per- der Germanistik, Anglistik u. Geschichte an sonen angemessenen Ton zu treffen, d.h. im der Humboldt-Universität Berlin. Seine ErBereich der elocutio den aptum-Vorschriften fahrungen als »Werwolf« hinter der Ostfront der Rhetorik zu genügen. u. bei der Schlacht um Berlin verarbeitete er Bekannt war M. auch als Leichenprediger, währenddessen in dem als »Tatsachenbewie u. a. seine Epigrammata in fvnere reveren- richt« deklarierten Buch mit dem programdissimi domini Bartholomaei Schol bezeugen. mat. Titel Versucht’s noch mal mit uns (Hbg. 1948), zu dessen Veröffentlichung ihn der Verleger Ernst Rowohlt u. dessen Autoren C.
Meidinger-Geise
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W. Ceram u. Ernst von Salomon ermutigt Stoffsteinbruch für Fernsehspiele benutzen: Interhatten. Sein erster Roman Weißt Du, warum? view mit D. M. am 20.7.1993. In: Fernsehgesch. der (Hbg. 1952) über den letzten Einsatz einer SS- Lit. Voraussetzungen – Fallstudien – Kanon. Hg. Einheit vor Kriegsende u. die Liebesge- Helmut Schanze. Mchn. 1996, S. 331–337. Volker Hartmann schichte zwischen einem dt. Soldaten u. einem jüd. Mädchen wurde ins Englische (London 1953. 1960. New York 1953) u. PolMeidinger-Geise, Inge, * 16.3.1923 Bernische (Warschau 1958) übersetzt u. festigte lin, † 10.10.2007 Erlangen. – Lyrikerin, M.s Ruf als authent. Stimme seiner meist als Verfasserin von Erzählungen, TheaterFlakhelfergeneration bezeichneten Altersstücken u. Hörspielen, Herausgeberin, gruppe. Auch der Roman Die Studenten von Kritikerin. Berlin (Hbg. 1954. Vom Autor durchgesehene Fassung ebd. 1963. Neuausg. Ffm. 2003. M. wurde als Tochter eines Kaufmanns in Verfilmt u. d. T. Nachruf auf Jürgen Trahnke. Berlin geboren, studierte dort u. in Erlangen Hessischer Rundfunk 1963) hat einen auto- Germanistik u. Geschichte. Seit 1943 lebte sie biogr. Hintergrund, das vom Autor als Er- als freie Schriftstellerin in Erlangen, von 1967 lebnis einer zweiten Gleichschaltung erfah- bis 1986 in Halle/Westfalen; 1945 wurde sie rene Studium an der Humboldt-Universität an der Universität Erlangen mit einer Arbeit u. die Gründung der Freien Universität Ber- über Agnes Miegel (Agnes Miegel und Ostpreulin 1948, wo M. 1952 einen Abschluss in den ßen. Würzb. 1955) zum Dr. phil. promoviert u. arbeitete von 1980 bis 1986 als wiss. Fächern Geschichte u. Anglistik erwarb. In der Folge wandte sich M. den elektron. Fachkraft für Literatur im Kulturamt der Medien zu u. verfasste Rundfunk-Features u. Stadt Erlangen. M. war u. a. von 1967 bis 1988 Vorsitzende Hörspiele, darunter Besuch aus der Zone (1956), dessen Fernsehspielfassung (Süddeutscher der Europäischen Autorenvereinigung Die Rundfunk 1958) zgl. den Beginn seiner Kar- Kogge u. Mitgl. des PEN-Zentrums Deutschriere als Drehbuchautor bedeutete. 1966 land. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, wurde M. Chefdramaturg des Norddeutschen z.B. den Hans-Sachs-Bühnenpreis (1976), den Rundfunks, eine Funktion, die er bis zum Wolfram-von-Eschenbach-Preis (1988), das Eintritt in den Ruhestand 1991 bekleidete. Ehrenkreuz des Pegnesischen Blumenordens Die von ihm verfassten Drehbücher decken (1993) u. das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ein breites themat. Spektrum ab, von Litera- (1999). Schon in ihren ersten zwei Romanen Der turverfilmungen (Stechlin. NDR 1974), über Kritik an der Studentenbewegung (Alma Ma- Mond von gestern (Nürnb. 1963) u. Die Freilaster. NDR 1969) bis hin zu der Wirtschafts- sung (Nürnb. 1958) erweist sich M. als krimi-Serie Schwarz Rot Gold. Als Produzent scharfsinnige, realist. u. krit. Beobachterin, war M. u. a. für erfolgreiche Fernsehserien die bes. die Nachkriegszeit, die gesellschaftl. wie die Familiengeschichte Die Unverbesserli- Situation im Deutschland der 1940er u. chen (1969–1971) u. den ersten Tatort (Taxi 1950er Jahre u. Probleme wie Schuld u. Sühne analysiert u. diese differenziert beschreibt. nach Leipzig. NDR 1970) verantwortlich. Zu den zahlreichen Auszeichnungen, die M.s Romane, Erzählungen u. Satiren sind M. erhielt, gehören der Adolf-Grimme-Preis geprägt von einem knappen, verständl. Stil; (1967, 1968, 1994), der Goldene Gong (1985, ihre satir. Gesellschafts- u. Zeitkritik richtet mit Dieter Wedel) u. die Goldene Kamera sich gegen Eitelkeit u. Maßlosigkeit (bes. in (1980). 1998 trat er nochmals als Roman- Kleinkost und Gemischtfarben. Satiren. Rothenschriftsteller hervor. Abrechnung (Bln.) be- burg/T. 1978). Als entscheidende Werte werschäftigt sich mit dem Thema Wiederverei- den Augenmaß u. Bescheidenheit dargestellt. Auch M.s lyr. Sprache ist schlicht, vernigungskriminalität. ständlich u. knapp; die der Alltagssprache Literatur: Brigitte Domurath: Das faktograph. Fernsehspiel D. M.s. Ffm. 1987. – Anja Weller: Wir angenäherte, reimlose Form begründet sie wollten Lit. nicht auf diese ungute Art u. Weise als folgendermaßen: »In Reimen / singen nur
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Meidner
noch Heimatchöre / von der Schönheit des Meidner, Ludwig, * 18.4.1884 Bernstadt/ Landes. / Ungereimt dies zu sagen / läßt Ge- Schlesien, † 14.5.1966 Darmstadt; Grabfühle knirschen / wie Lesebuchpapier.« (Jen- stätte: Darmstadt-Bessungen, Jüdischer seits der Wortmarken. Erlangen 1982). Poetolo- Friedhof. – Maler, Grafiker, Essayist, Lygie verbindet sich hier mit Zeitkritik; neben riker. dieser lakon. Illusionslosigkeit steht aber v. a. in den Essays, Reiseberichten u. -gedichten M. stammte aus einem jüd. Elternhaus, der M.s Hoffnung auf eine Welt, in der Einheit, Vater hatte ein Textilgeschäft. Auf Wunsch Gleichheit u. Brüderlichkeit verwirklicht u. des Vaters begann M. 1901 eine Maurerlehre, Grenzen (auch die zwischen Ost u. West) um Architekt zu werden. Ab 1903 besuchte er durch Menschlichkeit überwunden werden: die Königliche Kunstschule in Breslau, ging »Freiheit ist eine Sache / jenseits der Wort- dann mittellos nach Berlin u. wurde Modezeichner. 1906/07 studierte er, finanziell von marken« (ebd.). einer Tante unterstützt, an der Académie JuWeitere Werke: Helle Nacht. Mannh. 1956 (L.). – Das Amt schließt um Fünf. Nürnb. 1960 (E.en). – lian in Paris. Dann kehrte M. nach Berlin Saat im Sand. Nürnb. 1963 (L.). – Nie-Land. Ems- zurück, wo er unter bisweilen großer matedetten 1964 (E.en). – Die Schlucht v. Savojeda. SWF rieller Not intensiv künstlerisch u. publizis1965 (Hörsp.). – Von Wand zu Wand. SWF 1966 tisch arbeitete. (Hörsp.). – Gegenstimme. Hbg. 1970 (L.). – Die Enge Freundschaften mit vielen expressioFallgrube. Witten/Bln. 1971 (E.en). – Sündenbrand. nist. Autoren u. Malern führten 1912 zur Einakter. Urauff. Volkstheater Nürnberg, Gründung der Künstlergruppe »Die Patheti10.4.1976. – Ordentl. Leute. Makabre Gesch.n. ker«, deren Werke von Herwarth Walden im Dortm. 1976. – Heimkehr zu uns beiden. Frz. Reise selben Jahr in der »Sturm-Galerie« ausge1980. Bovenden 1981 (P.). – Alle Katzen sind nicht grau. Würzb. 1982 (E.en). – Eine Minute Vergäng- stellt wurden. 1918 hatte M. seine erste Einlichkeit. Alltagsgesch.n. Lpz. 1985. 1987. – Zwis- zelausstellung bei Paul Cassirer, der wie chenzeiten. Mchn. 1988 (L.). – Gutgebaute Häuser. Walden Verleger u. Galerist gleichzeitig war. Stgt. 1989 (E.). – Mit durchsichtigen Worten. Bis 1935 blieb M. in Berlin, unterbrochen von Nürnb. 1992 (L.). – Bodenpreise. Erlangen 1993 einem längeren Aufenthalt in Dresden 1914 (R.). – Siebzig u. mehr. Lahnstein 1993 (L.). – Feu- (gemeinsam mit dem Lyriker Ernst Wilhelm ernester. Gedichte in der Zeit. Mchn. 1998 (L.). – Lotz) u. dem Kriegsdienst 1916–1918. Nach Sachliteratur: Welterlebnis in dt. Gegenwartsdich- dem Krieg wurde M. Gründungsmitglied des tung. 2 Bde., Nürnb. 1956. – Margarete Windthorst (1921 aufgelösten) »Arbeiterrates für Kunst«. u. Westfalen. Emsdetten 1960. – Jean Gebser, ein 1927 heiratete er die Malerin Else Meyer; ihr Denker unserer Zeit. Dortm. [1965]. – Land u. gemeinsamer Sohn David wurde 1929 geboLeute in unserer Dichtung. Dortm. 1969. Literatur: Monografien: Wolf Peter Schnetz: ren. M. hat als Maler u. Grafiker das äußere Zum 65. Geburtstag v. I. M. Mchn. 1988 – I. M. Das Überleben lohnt. Zum 70. Geburtstag. Erlangen Erscheinungsbild des literar. Expressionis1993. – Beiträge: Jutta Sauer: Die Versuchung zu mus entscheidend geprägt. Viele seiner schreiben. Porträt der Autorin I. M. In: Anschläge. Zeichnungen erschienen auf den Umschlägen Magazin für Kunst u. Kultur 1988, H. 15. – Westf. von Pfemferts »Aktion«. Er fertigte TitelbilAutorenlex. – Hugo Ernst Käufer: I. M. G. In: KLG. der u. Illustrationen zu expressionist. Bü– Ders. u. Walter Neumann (Hg.): Sie schreiben chern u. schuf Porträts bekannter Autoren des zwischen Paderborn u. Münster. Wuppertal 1977. Expressionismus, die z.T. von Kurt Pinthus Cornelia Ilbrig in die Anthologie Menschheitsdämmerung (Bln. 1920) aufgenommen wurden u. seither in keiner illustrierten Darstellung der expressionist. Bewegung fehlen. Daneben ist M. auch durch literar. Arbeiten hervorgetreten. Die Doppelbegabung teilte er mit anderen Vertretern des Expressionismus (Kokoschka, Barlach u. Kubin). Wie die frühen Zeichnun-
Meienberg
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gen u. Gemälde sind auch M.s Texte durch gen, Druckgrafik. Ausstellungskat. Hg. Eva Scheid visionäre u. ekstat. Darstellungsformen ge- u. Winfried Flammann. Hofheim am Ts. 1995. – Im prägt. Dabei stehen die Großstadt, die Apo- Nacken das Sternenmeer. L. M., ein dt. Expressiokalypse u. die eigene Person im Mittelpunkt. nist. Ausstellungskat. Hg. Tobias G. Natter. Wien 2001. – Verteidigung des Rollmopses. Ges. FeuilDie Prosatexte, zuvor verstreut in expressioletons (1927–32). Hg. Michael Assmann. Ffm. nist. Zeitschriften gedruckt, erschienen 1918 2003. – L. M. – Weltentaumel. Die expressionist. bei Kurt Wolff u. d. T. Im Nacken das Sternen- Werkphase. Ausstellungskat. Hg. Verein Augustmeer (Lpz.) u. 1920 bei Cassirer u. d. T. Sep- Macke-Haus. Bonn 2004. temberschrei (Bln.). 1922 begann mit der HinLiteratur: Thomas Grochowiak: L. M. Reckwendung zu bibl. Themen eine neue Phase in linghausen 1966 (mit Bibliogr. der Primär- u. SeM.s bildnerischem Werk. Der expressive kundärlit.). – Joseph Paul Hodin: L. M., seine Gestus trat immer mehr zurück. Diese Ent- Kunst, seine Persönlichkeit, seine Zeit. Darmst. wicklung spiegelt sich auch in der Prosa- u. 1973. – L. M. 1884–1966. – Expressionismus u. Lyriksammlung Gang in die Stille (Bln. 1929). Moderne. Beiträge zur Retrospektive ›L. M., Maler, 1935 siedelte M. nach Köln über u. arbei- Zeichner, Literat‹ (1884–1966). Darmst. 1991. Hg. tete unter falschem Namen als Zeichenlehrer Institut Mathildenhöhe. Darmst. 1993. – Ljuba Berankova u. Erik Riedel (Hg.): Apokalypse u. Ofan einer jüd. Schule. Seine Werke wurden von fenbarung. Religiöse Themen im Werk v. L. M. den Nationalsozialisten als »entartet« einge- Sigmaringen 1996. – Herbert Hupka: Der Schriftstuft, viele vernichtet u. 1937 zum Teil in der steller L. M. In: Schlesien 41 (1996), H. 3, Ausstellung »Entartete Kunst« gezeigt. 1939 S. 129–139. – Idis B. Hartmann: Der schles. Maler floh M. mit seiner Familie nach England. u. Dichter L. M. Vom Propagandisten des Expres1940/41 war er auf der Isle of Man interniert. sionismus zum bekennenden Juden. In: Jüd. AuAnschließend lebte er unter miserablen fi- toren Ostmitteleuropas im 20. Jh. Hg. Hans Hennanziellen Verhältnissen in London. 1953 ning Hahn u. Jens Stüben. Ffm. 2000, S. 77–112 2 kehrte M. ohne seine Frau nach Deutschland ( 2002). – Jörg Schneider: Religion in der Krise. Die bildenden Künstler L. M., Max Beckmann u. Otto zurück, wohnte 1953–1955 im Jüdischen AlDix meistern ihre Erfahrung des Ersten Weltkrietersheim in Frankfurt/M., dann bis 1963 in ges. Gütersloh 2005. Detlev Schöttker / Red. Marxheim/Ts. u. schließlich bis zu seinem Tod in Darmstadt. Durch die zu Beginn der 1960er Jahre einMeienberg, Niklaus (Markus Maria), setzende Aufarbeitung der expressionist. Be* 11.5.1940 St. Gallen, † 22.9.1993 Zürich wegung konnte M. die Wiederentdeckung (Freitod). – Verfasser politischer Reportaseines bildnerischen Werks noch erleben. Der gen u. Essays, investigativer Journalist, Nachlass befindet sich seit 1994 im Besitz des Historiker, Schriftsteller u. Lyriker. Ludwig Meidner-Archivs, einer Einrichtung des Jüdischen Museums in Frankfurt/Main, M., in der Schweiz heftig umstrittener Kritidie sich der Erforschung des Themas »Kunst ker der Macht u. ihrer Repräsentanten, besuchte die benediktin. Klosterschule in Disim Exil« widmet. Weitere Werke: Hymnen u. Lästerungen. Hg. entis u. studierte in Freiburg/Schweiz, Zürich u. eingel. v. Hans Maria Wingler. Mchn. 1959. – u. Paris mit Lizentiatsabschluss Geschichte. Dichter, Maler u. Cafés. Hg. Ludwig Kunz. Zürich Als Schriftsteller trat er erstmals mit seinen 1973 (mit Schr.en v. u. über M.). – Ausstellungskat. Reportagen aus der Schweiz (Darmst. 1975. Hg. Kunstverein Wolfsburg. Wolfsburg 1985 (mit Neuaufl. Zürich 1994) hervor, die aus biogr. Texten v. u. über M.). – Apokalypt. Landschaften. Essays eine »Geschichte von unten« entwiAusstellungskat. Hg. Carol S. Eliel. Bln. 1990. – L. ckeln. Aus Frankreich, wo er ab 1966 als M. (1884–1966). Das druckgraph. Werk. Ein Auslandskorrespondent tätig war, folgten Überblick. Hg. Winfried Flammann. Hofheim am weitere Reportagen u. sozialkrit. MilieustuTs. 1991. – L. M. (1884–1966). Zeichnungen, Radierungen. Redaktion u. Gestaltung Bert Schlich- dien u. d. T. Das Schmettern des gallischen Hahns tenmaier. Grafenau 1994. – L. M. u. Hbg. Ausstel- (Darmst. 1976. Neuaufl. Zürich 1987). Aus der Biografie u. Prozessgeschichte Die lungskat. Hg. Harald Rüggeberg. Hbg. 1994. – L. M (1884–1966). Kneipe u. Cafe. Aquarelle, Zeichnun- Erschießung des Landesverräters Ernst S. (Darmst.
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1975. Erw. Neuausg. 1977/1992) entstand zus. mit Richard Dindo ein gleichnamiger Dokumentarfilm, prämiert 1976 mit dem Sonderpreis der Stadt Mannheim (vgl. Schallié 2008). Mit dem Textbuch zu dem Film Es ist kalt in Brandenburg (Zürich 1980) dokumentiert M. zus. mit Villi Hermann u. Hans Stürm den Fall des Hitler-Attentäters Maurice Bavaud. In seinem Gedichtband Die Erweiterung der Pupillen beim Eintritt ins Hochgebirge. Poesie 1966–1981 (Zürich 1981) ist M. der Montagetechnik verpflichtet. Hier sind Collagen aus literar. Zitaten, Zeitungsausschnitten u. Fotografien mit konkreter Lyrik zu einer provokativen Einheit kontrastierender Aussagen verbunden. Die in den 1980er Jahren erschienenen Sammelbände belegen M.s journalist. Arbeit u. folgen dem Prinzip des entlarvenden polit. Porträts. »Journalismus ist keine noble Gattung«, schreibt M. in Vorspiegelung wahrer Tatsachen (Zürich 1983), sondern bringt durch geduldiges Zuhören »die widerborstige Wahrheit an den Tag«. Seine umfangreichste histor. Studie Die Welt als Wille & Wahn. Elemente zur Naturgeschichte eines Clans (Zürich 1987. 72005) beschreibt familiäres Milieu u. Autoritarismus des Schweizer Generals Ulrich Wille. Ein Theaterprojekt über den Wille-Schwarzenbach-Stoff für das Zürcher Theater am Neumarkt zerschlug sich 1977 an juristischen, 1988 für das Schauspielhaus an konzeptionellen Hindernissen. In Anlehnung an amerikan. »Faction-Prosa« u. Methoden des »New Journalism« nimmt M.s Dokumentarliteratur in Anspruch, recherchierte Fakten u. Aussagen durch ihre eigene Logik zu entlarven. Der Stil seiner polit. Porträts soll als »Lackmusprobe« dienen: »Er zwingt die Gesellschaft, Farbe zu bekennen. Er macht Strukturen sichtbar.« Mit seiner provokativen Verknüpfung von histor. Forschung u. engagierter Publizistik erntete M. vielfach Ablehnung seitens der Fachhistoriker, aber auch Respekt, in einer breiten Öffentlichkeit zum Aufbrechen verhärteter Geschichtsbilder beizutragen (vgl. Durrer u. a. 1988). Sein rigoroses Berufsverständnis trug M. in der publizist. Rezeption sowohl den Ruf eines »Bürgerschrecks« als auch den eines zeitkrit. Impulsgebers ein (vgl.
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Stillhard 1992). Im Bereich der Schweizer Literaturkritik eröffnete M. im Herbst 1983 mit zwei polem. Rezensionen in der Zürcher »Wochenzeitung« die sog. »Realismusdebatte«, worin er die Verwendung unverfälschter Dokumente in Literatur u. Film verfocht (wieder abgedr. in: Der wiss. Spazierstock. Zürich 1985), was zur produktiven Konfrontation beitrage, statt zur Fortsetzung eines stillschweigenden »Friedensabkommens in der Literaturindustrie« (vgl. Caluori 2000). Unter dem Eindruck, innerhalb des Reportage-Journalismus alle Formen ausgeschöpft zu haben, wandte sich M. in den 1990er Jahren einer collagierenden Liebeslyrik zu, seiner Geschichte der Liebe und des Liebäugelns (Zürich 1992). Bedingt durch die Ohnmachtserfahrung angesichts des medialisierten Zweiten Golfkrieges konzentrierte er sich zunehmend auf Kriegsberichterstattung u. Milieureportagen von Krisengebieten, bereiste das Bürgerkriegsgebiet von Berg-Karabach u. verfasste Solidaritätsbotschaften sowie kontrastierende Essays zum transnationalen Heimatbegriff (Zunder – Überfälle, Übergriffe, Überbleibsel. Zürich 1993). Enttäuscht gab sich M. 1992 über Einsicht in seine Akte des Schweizer Geheimdienstes im Rahmen der sog. »Fichen-Affäre« (vgl. Renolder 2003, S. 53). 1988 erhielt M. den Werkpreis der MaxFrisch-Stiftung, 1989 den Zürcher Journalistenpreis; anlässlich der Verleihung des Kulturpreises der Stadt St. Gallen vom Nov. 1990 nahm M. in seiner Rede Stellung gegen die Institutionalisierung seiner Person. Ab Ende 1992 kündigte M. verschiedentlich seinen Freitod an (Nachlass, Schweizerisches Literaturarchiv). Weitere Werke: Heimsuchungen. Ein ausschweifendes Lesebuch. Zürich 1986. – Vielleicht sind wir morgen schon bleich u. tot. Zürich 1989. Neuaufl. 1998. – Weh unser guter Kasper ist tot, Plädoyers u. dergl. Zürich 1991. – Reportagen. Hg. Marianne Fehr, Erwin Künzli, Jürg Zimmerli. 2 Bde., Zürich 2000. – Herausgeber: Fabrikbesichtigungen. Zürich 1986 (Reportagen). Literatur: Judith Ricker-Abderhalden: N. M.: der Günter Wallraff der dt. Schweiz? In: Blick auf die Schweiz. Hg. Robert Acker u. Marianne Burkhard. Amsterd. 1987. – Martin Durrer u. Barbara Lukesch (Hg.): Biederland u. der Brandstifter: N.
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M. als Anlaß. Zürich 1988. – Christof Stillhard: M. u. seine Richter. Vom Umgang der Deutschschweizer Presse mit ihrem Starschreiber. Zürich 1992. – Aline Graf: Der andere Meienberg. Aufzeichnungen einer Geliebten. Zürich 1998. – Roger W. Müller Farguell: Literar. Journalismus. Hugo Loetscher u. N. M. In: Lit. in der Schweiz. Text + Kritik Sonderbd. 9, S. 157–169. – Marianne Fehr: M. Lebensgesch. des Schweizer Journalisten u. Schriftstellers. Zürich 1999. – Reto Caluori: N. M. ›Ich habe nicht im Sinn, mich auf die schweizerische Gutmütigkeit einzulassen‹. In: Nachfragen u. Vordenken. Intellektuelles Engagement bei Jean Rudolf v. Salis, Golo Mann, Arnold Künzli u. N. M. Hg. Sibylle Birrer u. a. Zürich 2000, S. 187–236. – Klemens Renolder: Hagenwil-les-deux-Eglises. Ein Gespräch mit N. M. Mit einem Fotoessay v. Graffenried u. einem Aufsatz v. Erich Hackl. Zürich 2003. – Béatrice Schmid: Visions de la Suisse à travers deux portraits de N. M. In: Visions de la Suisse: à la recherche d’une identité: projets et rejets. Hg. Peter Schnyder. Straßb. 2005, S. 165–177. – Charlotte Schallié: ›Wir haben nichts zu fürchten‹: N. M. u. die Schweizer Geschichtspolitik der siebziger Jahre. In: Dies.: Heimdurchsuchungen: Deutschschweizer Lit., Geschichtspolitik u. Erinnerungskultur seit 1965. Zürich 2008, S. 142–175. Roger W. Müller Farguell
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Meier, Christian, * 16.2.1929 Stolp/Pommern. – Althistoriker. M. wurde 1956 in Heidelberg promoviert u. habilitierte sich 1963 in Frankfurt/M. Von 1963–1966 war er Dozent in Frankfurt/M. u. Freiburg/Br., es folgten Ordinariate in Basel (1966 bis 1968, 1973 bis 1976), Köln (1968 bis 1973), Bochum (1976 bis 1981) u. München (1981 bis 1997, seitdem emeritiert). Wissenschafts- u. kulturpolitisch ist M. in verschiedenen Funktionen hervorgetreten: Von 1980 bis 1988 fungierte er als Vorsitzender des Verbandes der Historiker Deutschlands, er war Mitbegründer der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften u. 1996–2002 Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. 2003 erhielt er den Jacob-Grimm-Preis für Deutsche Sprache, 2007 den Reuchlin-Preis u. 2009 die Lichtenberg-Medaille.
M.s Buch Res Publica Amissa. Eine Studie zu Verfassung und Geschichte der späten römischen Republik (Wiesb. 1966. Ffm. 31997) stellte das Verständnis der Epoche auf neue Grundlagen, indem M. Problemstellungen u. Theorieangebote der Sozialwissenschaften für die Reflexion über eine Grundfrage der antiken Geschichte fruchtbar zu machen verstand. Die Untersuchung der »Grundbedingungen der Verfassungswirklichkeit« förderte die Bedeutung der durch das Bindungswesen (clientela) geprägten Sozialstruktur für die Funktionsweise der »politischen Grammatik« der republikan. Ordnung zutage. M. beschrieb die letzte Phase der röm. Republik als »Krise ohne Alternative«, da die aristokrat. Politik die großen, sich v. a. aus der Existenz des Weltreichs ergebenden Probleme nicht erfassen u. bearbeiten, aber auch kein grundlegend neues Politikmodell entwickeln konnte. M.s Analyse integriert Struktur, Handlung u. Prozessualität; durch die in diesen Hintergrund eingebettete Biografie Caesars als des allmächtigen u. zgl. politisch ohnmächtigen Diktators (Caesar. Bln. 1982. Mchn. 52002) hat M.s Bild breite Resonanz gefunden. M. hat auch die griech. Welt der archaischen u. klass. Epoche auf neue Weise wieder in den Horizont der Gegenwart geholt. Die welthistor. Einzigartigkeit der Griechen, mit der sich ein für die europ. Geschichte folgenreiches Erbe verband, besteht demnach in der Entdeckung des »Politischen« als des Lebenselements einer demokrat. Bürgergemeinde (Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Ffm. 1980. 21995). Wichtige Impulse erhielt die Herausbildung der Polis aus den Kulturen des Orients, aber M. betont die innovative Kraft, mit der die Griechen, am weitesten gehend in Athen, äußere Anregungen zu einem ganz Eigenen eingeschmolzen haben, das den Auftakt u. bleibenden Bezugspunkt der europ. Geschichte markiert (Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte. Bln. 1993. Zahlreiche Neuaufl.n). Grundlage der griech. Bürgerschaften bildete ein polit. Bewusstsein, das durch eine »autonome Intelligenz« formuliert u. in einer intensiven polit. Kultur gelebt wurde, sodass der Einzelne im 5. Jh. v. Chr. »mit Haut und
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Haaren Bürger« wurde (»Bürgeridentität«) (Politik und Anmut. Bln. 1985. Die politische Kunst der griechischen Tragödie. Mchn. 1988). Normativer Kern der Polis ist für M. die Freiheit, verstanden als bürgerl. Selbstbestimmung u. Widerstreben gegen Herrschaft ohne Teilhabe (Kultur, um der Freiheit willen. Mchn. 2009). M. postuliert, nicht nur unter anthropolog. Fragestellungen diachron u. interkulturell zu vergleichen, sondern auch die Fremdheit des Altertums anzunehmen, um dann aber durch diese hindurch nach neuen Bezügen zur eigenen Gegenwart u. Zukunft zu fragen. Durch seinen weniger erzählenden als räsonierenden, sich dabei möglichst der Alltagssprache bedienenden Stil u. indem er zgl. mit bohrenden Fragen scheinbare Selbstverständlichkeiten aus immer anderen Perspektiven in neues Licht rückt u. vorschnelle Antworten vermeidet, gewinnen M.s Texte eine eigene literar. Qualität. Durch zahlreiche publizist. Beiträge u. polit. Engagement in Gegenwartsfragen wie der Stellung zur NSZeit, dem Vorgang der Wiedervereinigung oder der Debatte um die Rechtschreibung (Deutsche Einheit als Herausforderung. Welche Fundamente für welche Republik? Mchn. 1990. Die parlamentarische Demokratie. Mchn. 1999. Als Hg.: Sprache in Not? Zur Lage des heutigen Deutsch. Gött. 1999) avancierte M. zu einem führenden Intellektuellen der Bundesrepublik. Weitere Werke: Entstehung des Begriffs ›Demokratie‹. Vier Prolegomena zu einer histor. Theorie. Ffm. 1970. – Von Athen bis Auschwitz. Mchn. 2002. Literatur: C. M. im Gespräch mit Stefan Rebenich. In: Neue Polit. Lit. 49 (2004), S. 185–215. – M. Bernett u. a. (Hg.): C. M. zur Diskussion. Autorenkolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forsch. in Bielefeld. Stgt. 2008. Michael Stahl
Meier, Emerenz, verh. Schmöller, Lindgren, * 3.10.1874 Schiefweg/Bayerischer Wald, † 28.2.1928 Chicago. – Erzählerin, Lyrikerin. Schon als 19-Jährige veröffentlichte M. ihre erste Erzählung Der Juhschroa in der Passauer »Donau Zeitung«. In der Figur der lebens-
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hungrigen, unangepassten, trinkfreudigen u. verarmten »Enzl« zeichnete M. ihr eigenes Schicksal prophetisch voraus. Vier Jahre später erschien ihr erstes – u. letztes – Buch, Aus dem Bayerischen Wald (Königsb. 1897). Anerkennung u. Lob von so unterschiedl. Schriftstellern wie Michael Georg Conrad u. Peter Rosegger sind bezeichnend: M. versöhnte in ihren realistischen u. volkstüml. Geschichten u. Gedichten den Naturalismus mit der Heimatkunst. Unversöhnlich war sie dagegen in ihrer Weltanschauung. Den Medizinstudenten Hans Carossa befremdete bereits 1898 bei seinem Besuch das »unbändig Aufrührerische« der freisinnigen Wirtstochter. In seinem Roman Das Jahr der schönen Täuschungen (1941) porträtierte er rückblickend die »sanfte Rebellin« u. widmete ihr ein ganzes Kapitel, Die Wanderung. M.s Weigerung, sich der patriarchal. Tradition u. den bäuerlichkleinbürgerlichen Konventionen anzupassen, machte sie schon früh zur gesellschaftl. Außenseiterin. Ihr ausbleibender literar. Erfolg, ständige Geldnot u. das Leiden an der provinziellen Enge erleichterten ihr den Entschluss, der vor übler Nachrede u. Schulden geflohenen Familie 1906 nach Chicago zu folgen. Der amerikan. Traum der Emigrantin wurde nicht wahr. Erst die Oktoberrevolution in Russland erweckte in ihr neue Hoffnung. So nachdrücklich, wie sie ihre literar. Arbeit in jungen Jahren begonnen hatte, beendete sie sie – unbewusst – in den 1920er Jahren auch wieder. Nach langem Schweigen meldete sie sich zurück mit Briefen in die alte Heimat, adressiert an die ehemalige Förderin Auguste Unertl: Briefe voller Leidenschaft für den Kommunismus u. voller Hass u. Verachtung gegenüber Kapitalismus u. Kirche. Das hinderte die Freundin nicht daran, M. sechs Jahre nach deren Tod in den Dienst der nationalsozialist. Ideologie zu stellen. In einem Vortrag beim gleichgeschalteten Bayerischen Rundfunk missdeutete sie 1934 »im jubelnden Aufbruch unserer Tage« M. als Volksdichterin »deutschen Blutes, deutscher Sprache, deutscher Treue und deutschen Geistes«. Es dauerte ein halbes Jahrhundert, bis die Person u. das Werk M.s rehabilitiert wurden. Sie jedoch literarisch auf eine Stufe mit Lena
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Christ oder gar Marieluise Fleißer zu stellen, wie häufig geschehen, führt zu weit. Weitere Werke: Gedichte. Hg. Max Peinkofer. Passau 1954. – Aus dem Bayer. Wald. Hg. Hans Bleibrunner u. Alfred Fuchs. Grafenau 1974. Ausgaben: Briefe. In: Joseph Berlinger: Emerenz. Feldafing 1980. – Ges. Werke. Hg. Hans Göttler. 2 Bde., Grafenau 1991. – Briefe E. M.s an Ludwig Liebl u. Auguste Unertl. In: Paul Praxl: Die unbekannte E. M. Waldkirchen 2008. Literatur: Max Peinkofer: E. M. Gedichte u. Lebensbild. Passau 1954. – Paul Praxl: E. M. – Herkunft u. Umwelt. In: Der Bayerwald, 86. Jg., Zwiesel 1994, Nr. 4, S. 18–27. – Cornelia Zetzsche: Die sanfte Rebellin. E. M. – die Sonnenbraut aus dem Bayer. Wald. In: Der Traum vom Schreiben. Hg. Edda Ziegler. Mchn. 2000, S. 38–57. – Florian Jung: E. M.s Lyrik in ihrer Zeit. Salzweg 2001. – Helmut Wagner: Das war die Koppenjäger-Pächterin E. M. In: Heimatglocken. Passau 2003, Nr. 9. – Christopher J. Wickham: Erzählter Wald – Notizen zur frühen Erzählkunst v. E. M. In: Die bair. Sprache. Hg. Albrecht Greule u. a. Regensb. 2004, S. 201–212. – Hans Göttler: ›...des freien Waldes freies Kind‹. Ein E.-M.-Lesebuch. Grafenau 2008. – P. Praxl: Die unbekannte E. M. Waldkirchen 2008. – Theaterstücke: Joseph Berlinger: Emerenz u. die Reise ins Amerika. Ffm. 1982. – Ders.: Zum Koppenjäger. Passau/Eggenfelden 2008. – Filme: Jo Baier: Schiefweg. 1987. – Erich Reissig: Ein Leben in den Wäldern. 1987. – J. Baier: Wildfeuer. 1991. – Klaus Ickert: E. M. – Von Schiefweg nach Chicago. 2007. – Hörbuch: Monika Drasch, Eva Sixt u. a.: E. M. – Out of Heimat. 2005. Joseph Berlinger
Meier, Georg Friedrich, * 29.3.1718 Ammendorf bei Halle/Saale, † 21.6.1777 Giebichenstein bei Halle. – Philosoph u. Kunsttheoretiker. M.s Werk u. Bedeutung verbinden sich zum einen mit der Ausbildung u. Popularisierung der Ästhetik als einer selbständigen philosoph. Disziplin in Deutschland, zum andern mit der systemat. Entwicklung der Hermeneutik als allgemeiner Auslegungskunst. Weit ausgeprägter als sein Lehrer u. Freund Alexander Gottlieb Baumgarten, der mit seiner Aesthetica (1750–58) dieser Disziplin ihren Namen u. ihr begriffl. Fundament gab, gelang es M., in der Übergangszeit zwischen Gottsched auf der einen u. Lessing, Wieland u. Herder auf der anderen Seite eine Brücke
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zwischen der kunstphilosoph. Reflexion u. der dichterischen Praxis zu schlagen. Sein diesbezügl. Einfluss erstreckte sich so gleichermaßen auf die Philosophie wie auf die Literatur des Aufklärungszeitalters. M.s Ausarbeitung der allgemeinen Hermeneutik ist zwar in der Nachfolgezeit weitgehend folgenlos geblieben, hat aber im Rahmen neuerer Forschung zur Hermeneutikgeschichte eine Neubewertung erfahren, als Zusammenführung verschiedener hermeneut. Ansätze von Theoretikern der Aufkärung zu einem systemat. Denkgebäude, das sich gerade heute wieder als fruchtbar erweist. M.s universitärer Wirkungskreis beschränkte sich zeitlebens auf Halle, Mittelpunkt der dt. Früh- u. Hochaufklärung u. das pietist. Zentrum der Zeit. M. nahm 1735 das theologische u. philosoph. Studium in Halle auf. Nach bestandenem Magisterexamen in Philosophie u. seiner Habilitation (beide 1739) las er zunächst über Mathematik u. hebr. Grammatik, seit 1740 – nach dem Wechsel Alexander Baumgartens an die Universität Frankfurt/O. – auch über Logik, Metaphysik, Ethik, Hermeneutik u. Ästhetik. 1746 wurde M. zum a. o. u. 1748 zum o. Prof. der Philosophie ernannt. Von Bedeutung für die intellektuelle Entwicklung M.s war nicht nur seine Freundschaft mit Baumgarten, sondern auch seine Beziehung zu dessen älterem Bruder, dem auch in Halle lehrenden Theologen Siegmund Jacob Baumgarten, der M. in seiner Universitätslaufbahn stark unterstützte. Gerade 30-jährig, wissenschaftlich ebenso anerkannt wie menschlich geschätzt, entfaltete er in der folgenden Generationsspanne eine publizist. Wirksamkeit, deren Anerkennung sich in der Mitgliedschaft zahlreicher wiss. Gesellschaften wie in der zweimaligen (1759/60 u. 1768/69) Wahl zum Prorektor (u. damit faktisch zum Leiter) der Universität niederschlug. Er verkörperte den für das Jahrhundert charakterist. Typus des Popularphilosophen, der das breite Wissen seiner Zeit ohne Voreingenommenheit zu sichten suchte, um die Aufklärung des räsonierenden Bürgers zu befördern.
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M., der an den Positionen Christian Wolffs weitgehend festhielt, vertrat in Halle die zweite Phase der dt. Hochaufklärung. Wie seine frühe Schrift Beweis der Vorherbestimmten Übereinstimmung (Halle 1743) zeigt, wird ihm die Leib-Seele-Frage zum Problem eines Philosophierens, das nicht nur um die Verbindung von »Sinnlichkeit« u. »Vernunft« kreist, sondern v. a. auch die Erkenntnis stärker an die Lebenswirklichkeit zu binden bemüht ist. Dem »Weltweisen« ist es daher vordringlich ein Anliegen, auf den Feldern der »practischen Philosophie« u. der »natürlichen Theologie« eine begrifflich fundierte Einsicht zu vermitteln, die Philosophie u. Religion ebenso miteinander versöhnt wie Kunst u. Ethik. Der größte Teil seines Lebenswerks ist diesen Fragen der Logik, Metaphysik, Ethik u. Theologie gewidmet, v. a. in Abhängigkeit von Baumgarten, dem M. dafür in Leben Alexander Gottlieb Baumgartens (Halle 1763) seinen Dank abstattete. Seine Vernunftlehre (Halle 1752), Philosophische Sittenlehre (5 Bde., Halle 1753–61), Metaphysik (4 Bde., Halle 1755–59. Nachdr. der 2. Aufl. [Halle 1765] mit einem Vorw. v. Michael Albrecht. Hildesh. 2007) u. Philosophischen Betrachtungen über die christliche Religion (8 Bde., Halle 1761–67) wurden zu Lehrbüchern der Zeit, deren sich auch Kant noch bediente. Zgl. jedoch öffnete sich der Fachphilosoph latenten anthropolog. u. psycholog. Fragen der Zeit u. bot dafür Lösungen an: Seine Gedancken von der Ehre (Halle 1746), die Gedancken von Gespenstern (Halle 1747) u. v.a. sein Versuch eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere (Halle 1749) erreichten ein breiteres Publikum u. zogen es in ihren Bann. Der orientierende u. die Aufklärungspraxis einbeziehende Gesellschaftsbezug, von den Systematikern unter seinen Kollegen oft bespöttelt, war ihm ein wesentl. Bestandteil seines Philosophierens: Anfangs leistete er dies durch die – zus. mit Samuel Gotthold Lange herausgegebene – Moralische Wochenschrift »Der Gesellige« (Halle 1748–50), später durch eine Allgemeine practische Weltweisheit (Halle 1764) u. eine Lehre von den natürlichen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten des Menschen (2 Bde., Halle 1770–73). In diesem Zusammenhang ist auch M.s Beitrag zur Äs-
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thetik u. Kunstdebatte der Zeit zu sehen. Baumgartens Bemühungen um die schönen Wissenschaften, wie sie sich in systemat. Form in der Aesthetica niederschlugen, fanden bei M. einen Widerhall, der der Theorie allerdings auch ihre prakt. Anwendbarkeit zur Seite stellte. Bereits in seinen Gedancken von Schertzen (Halle 1744. Neudr. Kopenhagen 1977) – 1754 erweitert u. umgearbeitet –, der ersten deutschsprachigen Schrift über das Lachen, suchte er der herrschenden »Witz«Kultur einen Platz in der Ästhetik als einer »Logik der sinnlichen Erkenntnis« anzuweisen. Wichtig ist dabei die philosoph. Rechtfertigung der Gefühlsprozesse, die im geglückten Scherz ebenso freigesetzt werden wie im gelungenen Kunstwerk u. die eine selbständige erkenntnisvermittelnde Bedeutung erhalten. Damit löst M. die scharfe Grenze der tradierten Schulphilosophie u. Poetik zwischen den »oberen« u. »unteren Erkenntnisvermögen« auf. Seine Anerkennung der »Gemüthsbewegungen« (Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt. Halle 1744. Neudr. Ffm. 1971, eine gründl. Klassifikation psychischer Fähigkeiten u. Tätigkeiten) brachte ihn in die Nähe der zeitgenössischen, den Empfindsamkeitskult vorbereitenden Sensualismustheorien in der Poetik, wie sie die Abweisung von Gottscheds Literaturtheorie forderte (Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst. 6 Stücke, Halle 1747/48. Neudr. Hildesh./New York 1975). In Klopstocks Messias, der seit 1748 die literar. Öffentlichkeit entzweite, sah er eine Verwirklichung seiner ästhet. Vorstellungen; seine überströmende Zustimmung zu Klopstocks Werk (Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. 2 Stücke, Halle 1749–52), die nicht unwesentlich zu dessen Erfolg beitrug, dem enthusiast. Bewunderer aber spött. Kritik einbrachte, lässt allerdings auch erkennen, dass M.s Eintreten für den Eigenwert der imaginativen Sinnlichkeit durch die Gebote von Moral u. Religion eine Grenze gesetzt war. M.s ästhet. Hauptwerk, die Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften und Künste (3 Tle., Halle 1748–50. Neudr. Hildesh./New York 1976), fasste die verstreuten Ansätze des Kunstrichters zusammen. Durch seine an-
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wendungsorientierte, mit vielen Beispielen F. M. Lpz. 1911. – Hans Böhm: Das Schönheitsbes. aus der Rhetorik u. Stilistik ausgestattete problem bei G. F. M. In: Archiv für die gesamte u. überdies durch die Verwendung des Psychologie LVI (1926), S. 177–252. – Joseph Deutschen gegenüber Baumgartens später Schaffrath: Die Philosophie des G. F. M. Eschweiler 1940. – Ferdinand Wiebecke: Die Poetik G. F. M.s. erscheinender Aesthetica favorisierte DarstelEin Beitr. zur Gesch. der Dichtungstheorie im 18. lung schlug es eine Bresche für die Ästhetik Jh. Diss. masch. Gött. 1967. – Klaus Bohnen: Eine als philosoph. Disziplin, die den Weg zu ›Critik der Schertze‹. G. F. M.s Rechtfertigung des Kants Kritiken ebnete. Mit dem Abbau der geselligen Lachens. In: ›Gedancken v. Schertzen‹. vernunftgeleiteten Erkenntnishierarchie u. Neudr. S. VIII-XXXXIV. – Leonard P. Wessell Jr.: G. der Freisetzung einer sich der Gefühlsbewe- F. M. and the Genesis of Philosophical Theodicees th gung verdankenden Einbildungskraft war of History in 18 -Century Germany. In: Lessing Yearbook 12 (1980), S. 63–84. – Uwe Möller: Rheder Dichtung zgl. eine Legitimationsbasis tor. Überlieferung u. Dichtungstheorie im frühen gegeben, die die Kunstperiode der Goethezeit 18. Jh. Studien zu Gottsched, Breitinger u. G. F. M. vorbereiten half. Im Versuch der allgemeinen Mchn. 1983. – Dichtungstheorien der dt. FrühAuslegungskunst (1757. Hg. u. eingel. v. Axel aufklärung. Tagungsber. Hg. Theodor Verweyen. Bühler u. Luigi Cataldi Madonna. Hbg. 1996) Tüb. 1995, passim (Register). – Oliver R. Scholz: vereinigen sich Entwicklungen der dt. Auf- Die allg. Hermeneutik bei G. F. M. In: Unzeitgeklärungshermeneutik: zum einen der me- mäße Hermeneutik. Verstehen u. Interpr. im Denthod. Ansatz der Wolff’schen Philosophie, ken der Aufklärung. Hg. Axel Bühler. Ffm. 1994, zum anderen empiristische u. probabilist. S. 158–191. – A. Bühler u. Luigi Cataldi Madonna: Tendenzen sei es im Denken Wolffs oder in Einl. zu G. F. M: Versuch einer allg. Auslegungsdem von Christian Thomasius, u. zum dritten kunst. Hbg. 1996, S. VII-XC. – Riccardo Pozzo: G. F. M.s ›Vernunftlehre‹. Stgt.-Bad Cannstatt 2000. – die ausgearbeiteten hermeneut. RegelkanoRainer Godel: Vorurteil – Anthropologie – Lit. Tüb. nes der pietist. Theologie. Vereinheitlichen- 2007, passim (Register). des Prinzip hierbei ist der Grundsatz der Klaus Bohnen / Axel Bühler hermeneut. Billigkeit, der bei der Textauslegung zum interepretatorischen Wohlwollen anhält u. dazu, dem zu interpretierenden Meier, Gerhard, * 20.6.1917 Niederbipp, Autor bei der Verfassung seiner Schriften † 22.6.2008 Langenthal. – Lyriker, ErRationalität zu unterstellen. zähler. Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils Halle): Abb. eines wahren Weltweisen. 1745. Nachdr. mit einer Einf. v. Mirjam Reischert. Hildesh. 2007. – Untersuchung einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks der Deutschen in Absicht auf die schönen Wiss.en. 1746. – Vertheidigung der Baumgartischen Erklärung eines Gedichts wider das 5. Stück des 1. Bandes des Neuen Büchersaals der schönen Wiss.en u. freyen Künste. 1746. – Gedancken vom Zustande der Seele nach dem Tode. 1746. – Gedancken v. Glück u. Unglück. 1753. – Vorstellung der Ursache, warum es unmöglich zu seyn scheint, mit Herrn Profeßor Gottsched eine nützl. u. vernünftige Streitigkeit zu führen. 1754. – Betrachtungen über die Schrancken der menschl. Erkenntnis. 1755. – Philosoph. Gedancken v. den Würkungen des Teufels auf dem Erdboden. 1760. – Betrachtung über die menschl. Glückseeligkeit. 1764. – Recht der Natur. 1767. Literatur: Samuel Gotthold Lange: Leben G. F. M.s. Halle 1778. – Ernst Bergmann: Die Begründung der dt. Ästhetik durch A. G. Baumgarten u. G.
Einige Jahre seiner Kindheit verlebte M. auf der Insel Rügen, woher seine Mutter stammte. Fast sein ganzes Leben war er mit dem Geburtsort Niederbipp im Berner Oberaargau verbunden, in diesem als Amrain verfremdeten Ort sind seine literar. Darstellungen angesiedelt. Nach dem Abbruch eines Hochbaustudiums in Burgdorf im Wintersemester 1934/35 war M. 33 Jahre lang als Arbeiter, Designer u. techn. Leiter in einer Lampenfabrik an seinem Geburtsort tätig. Mit Literatur beschäftigte er sich schon in der Jugendzeit, verzichtete aber ab dem 20. Lebensjahr darauf. Dem Schreiben wandte sich M. erneut mit 47 Jahren zu, u. als freier Schriftsteller lebte er erst seit 1971. Ihm wurden zahlreiche Literaturpreise verliehen, u. a. Großer Literaturpreis der Stadt Bern (1978), Großer Literaturpreis des Kantons Bern (1981), Petrarca-Preis (1983), Theodor-
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Fontane-Preis (1991), Kunstpreis Berlin (1991), Hermann-Hesse-Preis (1991), Kunstpreis des Kantons Solothurn (1992), Gottfried-Keller-Preis (1994), Heinrich-Böll-Preis (1999). M. veröffentlichte zunächst Gedichte, die ersten erschienen 1959 in der Zeitung »Die Tat«, u. erschloss sich dann zunehmend größere Formen. Bereits im Lyrikband Das Gras grünt (Bern 1964), seinem Buchdebüt, fand er zu einem persönlichen, Alltägliches pointierenden Ton. Der Blick von M.s Ich haftet hier an vertrauten Dingen des dörfl. Umfelds. Das Hinhören in die Wirklichkeit u. die an Robert Walser geschulte Kontamination von scheinbarer Simplizität u. Raffinesse gehören zu den Grundvoraussetzungen seines poet. Schaffens; jeglicher forcierte Formalismus ist ihm fremd. Die schlichte Wiedergabe von Wahrnehmungen u. Empfindungen ist auch für seine zweite Gedichtsammlung Im Schatten der Sonnenblumen (Bern 1967) kennzeichnend. Dieser Schreibweise folgt M. in seinen Prosaskizzen Kübelpalmen träumen von Oasen (Bern 1969) u. Es regnet in meinem Dorf (Olten 1971), in denen verborgene Bedeutungsschichten im Einfachen u. Gewöhnlichen, im Gefühl der Zugehörigkeit zur freien Natur, im Ausblick zum Himmel, dem Heim- u. Fernweh gesucht werden. Der Besonderheit der Darstellung im Prosastück Der andere Tag (Gümligen 1974) liegt ebenfalls der Realismus der dörfl. Lebenswelt zugrunde, die in ihren Erscheinungsformen (Berufsbezeichnungen, Speisen, Pflanzen, Tiere) dem Traum von der Einheit des Seins gerecht wird. Der andere Tag nimmt Erzählelemente vorweg, die später für M.s Romane charakteristisch werden: dialogische Struktur, indirekte Rede, fließende Übergänge zwischen Beobachtung u. Erinnerung, Realität u. Fantasie. In Der Besuch (Gümligen 1976), M.s erstem Roman, erwartet ein Spitalpatient einen Besucher, der nie eintrifft, u. probt dabei das Erzählen eines erinnerten Besuchs im Familienkreis. Im nachfolgenden Roman Der schnurgerade Kanal (Gümligen 1977) macht sich der thanatolog. Aspekt der menschl. Existenz geltend. Eine Ärztin liest in den Aufzeichnungen eines verstorbenen Jugendfreundes, das Gelesene vermischt sich mit
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eigenen Erinnerungen u. der unmittelbaren Gegenwart in einem Garten am Bodensee. Identifikativ für M.s groß angelegte Trilogie Baur und Bindschädler (Einzelteile: Toteninsel. Gümligen 1979; Borodino. Gümligen 1982; Die Ballade vom Schneien. Gümligen 1985) ist hingegen eine geistreiche Konversation, in der Baur u. Bindschädler, zwei Freunde u. Kriegskameraden, ihre Lebensgeschichte in drei Abschnitten vergegenwärtigen – auf einem ausgedehnten Spaziergang durch eine Kleinstadt, bei einem Besuch Baurs in Bindschädlers Wohn- u. Heimatort Amrain u. anlässlich eines Spitalbesuchs beim todkranken Baur. Die beiden Protagonisten entdecken sich selbst in den Erinnerungen, im Wissen um die eigene Biografie, sie legitimieren dabei das Kleine u. Gewohnte als Basis u. Sinnbild ihres Daseins. M.s Romane lassen sich zgl. als kategor. Nein gegenüber dem Wuchern des techn. Zeitalters erkennen. Seine Trilogie, 1990 um Land der Winde (Ffm.) erweitert, fügt Verschiedenes ineinander, sie gehorcht der Struktur des fein gewobenen Teppichs mit Augenblickseinfällen, Erinnerungen an Erlebtes, intertextuellen Bezügen, Reflexionen über Kunst u. Gesellschaft. Ausgaben: Werke in drei Bänden. Bern 1987 (alle Texte M.s, bis auf einige frühe Gedichte). Neue Ausg. als: Baur u. Bindschädler. Amrainer Tetralogie. Werke in vier Bdn. Ffm. 2007. – Signale u. Windstöße. Gedichte u. Prosa. Ausw. u. Nachw. v. Heinz F. Schafroth. Stgt. 1989. – Das dunkle Fest des Lebens. Amrainer Gespräche (zus. mit Werner Morlang). Köln/Basel 1995. Literatur: Gerda Zeltner: Das Ich ohne Gewähr. Gegenwartsautoren aus der Schweiz. Zürich 1980, S. 151–171. – Fernand Hoffmann: Heimkehr ins Reich der Wörter. Versuch über den Schweizer Schriftsteller G. M. Luxemburg 1982. – Sven Spiegelberg: Diskurs in der Leere. Aufsätze zur aktuellen Lit. der Schweiz. Bern u. a. 1990. – Dorota Sos´ nicka: Wie handgewobene Teppiche. Die Prosawerke G. M.s. Bern u. a. 1999. – Jan Watrak: G. M.s Lyrik u. Kurzprosa. Ffm. u. a. 2002. – Corinna Jäger-Trees: G. M. In: KLG. – Christina Weiss: G. M. In: LGL. – Klaus Pezold (Hg.): Schweizer Literaturgesch. Die deutschsprachige Lit. im 20. Jh. Lpz. 2007. – Peter Rusterholz u. Andreas Solbach (Hg.): Schweizer Literaturgesch. Stgt./Weimar 2007. Guido Stefani / Zygmunt Mielczarek
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Meier, Helen, * 17.4.1929 Mels/St. Galler Oberland. – Erzählerin.
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rin im Kurzprosaband Nachtbuch (Zürich 1992). M.s weiteren Prosawerken ist eine analoge Thematik eigen. In Lebenleben (Zürich 1989), ihrem ersten Roman, wird in Erinnerungssprüngen einer alternden Frau das gelebte u. verpasste Leben erzählt. Die Sammlung Liebe Stimme bringt Darstellungen von Lebensverhältnissen zwischen Männern u. Frauen, die sich einer Liebesherausforderung ausgesetzt sehen u. aus den Alltagsbahnen ausbrechen. Im Kurzroman Schlafwandel (Zürich 2006) werden zwei gebildete Frauen porträtiert: eine junge u. eine im vorgerückten Alter. Eine ähnlich gedachte Gegenüberstellung zweier Frauen (jung, schön vs. alt, »verlebt«) verwendete M. bereits in ihrem Roman Die Novizin (Zürich 1995), in dem ebenfalls der aus verschiedenen Alters- u. Erfahrungsperspektiven erkannte Drang des Lebens als Hauptgedanke des Ganzen anklingt.
Nach Beendigung des Lehrerseminars in Rorschach war M. Grundschullehrerin. Danach folgten Arbeitsaufenthalte in England, Frankreich u. Italien sowie ein nach vier Semestern abgebrochenes Sprach- u. Pädagogikstudium an der Universität Fribourg. M. arbeitete dann in der Flüchtlingshilfe des Roten Kreuzes u. war Sonderschullehrerin in Heiden/Kt. Appenzell-Ausserrhoden. Der Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1984 in Klagenfurt brachte ihr Anerkennung ein. Seit 1987 lebt M. als freie Autorin in Trogen. Für ihr Werk wurde sie mit zahlreichen Literaturpreisen geehrt, u. a. dem Rauriser Literaturpreis (1985), dem Preis der Schweizerischen Schillerstiftung (1985, 2000), dem Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis der Stadt Meersburg (2000) u. dem Kulturpreis des Kantons Sankt Gallen (2001). Weitere Werke: Das Gelächter. Zürich 1989. – Schreiben ist für M. ein Akt von Aufrich- Der Thurgau u. seine Menschen. 1930–90. Fotos v. tigkeit, dem ein handfester, um die Erfah- Hans Baumgartner. Frauenfeld 1990. – Die gegesrung der Liebe, Sexualität u. des Alterns ver- sene Rose. Zürich 1996. – Letzte Warnung. Zürich dichteter Erzählstoff zugrunde liegt; alle ihre 1996. – Adieu, Herr Landammann! Sieben BegegWerke sind Ausdruck dieses Grunderlebnis- nungen mit Jacob Zellweger-Zuberbühler. Herisau ses. M.s spätes literar. Debüt ist Trockenwiese 2001. Literatur: Beat Mazenauer: H. M. In: LGL. – (Zürich 1984), eine Sammlung von Geschichten über sozial Ausgesetzte u. deren Beatrice v. Matt: Der Aufbruch der Frauen Umgang mit Körper, Leidenschaft u. Gefühl (1970–2000). In: Schweizer Literaturgesch. Hg. Peter Rusterholz u. Andreas Solbach. Stgt./Weimar wie etwa das Liebeserlebnis eines Lernbehin2007, S. 400–425. – Heidy M. Müller: H. M. In: derten mit seiner Lehrerin. Im Jahr darauf KLG. Pia Reinacher / Zygmunt Mielczarek erschien Das einzige Objekt in Farbe (Zürich), 13 knapp erzählte Liebesgeschichten, in denen sich Eros als Faszination u. Sinnlichkeit, eine Form des Menschseins, zeigt; Lukrezia aus Meier, Herbert, * 29.8.1928 Solothurn. – der Titelerzählung des Bandes beginnt ihr Dramatiker, Erzähler, Lyriker, ÜbersetLeben erst »in der Liebe zu lieben.« Das Haus zer. am See (Zürich 1987) bringt Prosastücke über Nach dem Studium der LiteraturwissenHäuser als Orte in verschiedenen Funktionen, schaft, Geschichte u. Kunstgeschichte an den als Labyrinth, Käfig, aber auch als Schutz u. Universitäten Basel, Wien u. Fribourg proWärme bietende Muschel; bei M. sind wahre movierte M. über Ernst Barlach; seine DisHäuser im Innersten allemal feminin, dem sertation erschien u. d. T. Der verborgene Gott. Leben u. der Liebe zugewandt. Ihre Hausge- Studien zu den Dramen Ernst Barlachs (Nürnb. schichten sind im Grunde mehrfach gebro- 1963). Es folgten die Ausbildung zum chene Darstellungen menschlicher, bald Schauspieler, Arbeit als Lehrer u. Lektor in geistreicher, bald wieder grauenvoller Ver- Paris u. Poitiers, längere Aufenthalte auch in haltensweisen. Die Motive Altwerden, ver- Italien u. England, Tätigkeit als Dramaturg u. drängte Gefühle u. Emotionen, die einer Schauspieler am Städtebund-Theater in Biel/ Kompensation bedürfen, gestaltet die Auto- Solothurn. M. war Chefdramaturg am
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Schauspielhaus Zürich, hielt Gastvorträge über Dramaturgie in Sankt Gallen, Zürich u. Los Angeles u. moderierte die Fernsehsendung »Sternstunde: Philosophie«. Er gab die Bilder von Siegward Sprotte (Hbg. 1984) u. – zus. mit Pedro Ramirez – die Texte von Federico Garcia Lorca heraus (Ffm. 1986). M. übersetzte Stücke von Euripides, Shakespeare, Calderón, Paul Claudel, Jean Giraudoux, Luigi Pirandello u. a. Ihm wurden zahlreiche Literaturpreise verliehen, u. a. Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen (1955), Kunstpreis des Lions Club Basel (1957), Preis der Schweizerischen Schillerstiftung (1964), Willibald-Pirckheimer-Medaille (1964), Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis (1964), Welti-Preis (1970), Literaturpreis Zürich (1970), Kunstpreis des Kantons Solothurn (1975). In seinem reich verzweigten Gesamtwerk (Theater- u. Fernsehstücke, Hörspiele, Librettos, Romane, Geschichten, Gedichte, Essays) befasst sich M. mit der gleichen Frage: dem Vorrang des Menschlichen vor dem Menschenfeindlichen. Sein im Christentum verwurzeltes Ethos bildet eine Basis, auf der sein umfangreiches Schaffen über ein halbes Jahrhundert hinweg wuchs. M.s Intention geht dahin, nicht durch doktrinäre Härte u. moralisierende Aufklärung, sondern durch Nächstenliebe u. Verantwortlichkeit als Antrieb gesellschaftlicher Verhältnisse zu wirken. Dieser Überzeugung entsprechen die Dramen Die Barke von Gawdos (Druck u. Urauff. Zürich 1954), Jonas und der Nerz (Zürich 1958, Urauff. Bern 1959) u. Rabenspiele (Zürich 1968, Urauff. Bern 1971). Ähnliches hat M. mit seinem ersten Roman Ende September (Einsiedeln/Zürich/Köln 1959) geleistet, in dem am Beispiel der Lebensgeschichte eines an einer unheilbaren Nierenkrankheit sterbenden Schauspielers u. einer großbürgerlichen Abendgesellschaft der Konflikt zweier Prinzipien veranschaulicht wird: des Prinzips der Geisteskraft u. Hingabe an den anderen u. des Prinzips des rücksichtslosen Profit- u. Konsumdenkens. In diesem Kontext ist auch M.s Publikation aus dem politisch bewegten Jahr 1969, Manifest und Reden (Zürich), zu nennen, in der er sich dem Zugriff der ideologisch fundierten Tagesaktua-
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lität zugunsten christlich verstandener Humanität entzieht – entsprechend der These »Der neue Mensch steht weder rechts noch links – er geht.« Dem Problem der Ablösung des Guten durch das Böse u. Profane stellt sich M. auch im ausgesprochen modern konzipierten Roman Stiefelchen. Ein Fall (Zürich/Köln 1970). In den Mittelpunkt der Darstellung rückt hier die verkommene bürgerl. Gesellschaft, deren Züge ein seine Schülerinnen sexuell missbrauchender Gymnasiallehrer u. dessen Vater tragen; der Letztere erstellt einen zynischen Plan, dem zufolge seine Fabrik nach eventuellem Einmarsch der Nazis in die Schweiz in ein Konzentrationslager umfunktioniert werden soll. Der gleichen Thematik gilt M.s Interesse auch in seinen weiteren Werken. Mit drei Theaterstücken Stauffer-Bern (Frauenfeld 1975, Urauff. Zürich 1974), Dunant (Basel 1974. Neubearb. Bln. 1989; Urauff. Zürich 1976) u. Bräker (Druck u. Urauff. Zürich 1978) schuf er eine sich authentisch gebende Porträtgalerie, die jedoch nicht dokumentarisch, sondern metaphorisch zu deuten ist. Drei bekannte Persönlichkeiten aus der Schweizer Geschichte, der Maler Karl Stauffer-Bern, der Gründer des Roten Kreuzes Henri Dunant u. der Schriftsteller Ulrich Bräker, dienen M. zu einer Verflechtung von historischem Faktum, sozialem Umfeld u. persönl. Lebensgeschichte, in der einschneidende menschl. Erfahrungen u. Rituale illustriert werden – unter bes. Berücksichtigung der Spannung zwischen der Sensibilität eines idealistisch gesinnten Individuums u. dessen engstirniger, gewaltbereiter Umgebung. Der 700-JahrFeier der Entstehung der Eidgenossenschaft kommt M. entgegen in Mythenspiel. Ein großes Landschaftstheater mit Musik (Mchn. 1991, Urauff. Freilichtbühne Schwyz 1991), einem Massenspektakel von kultischem Profil u. lehrhafter, eine starke Verbindung zu den Wurzeln der Schweiz akzentuierender Tendenz. Weitere Werke: Ejiawanoko. Drei SüdseeMärchen. Zürich 1953. Erw. Ausg. Solothurn 1957 (zus. mit Hermann Eggmann). – Gedichte u. Märchen. Zürich 1954. – Siebengestirn. Zürich 1956 (G.e). – Herodias tanzt noch. Zürich 1956 (Schausp.). – Dem unbekannten Gott. Oratorium.
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Musik v. Albert Jenny. Zürich 1956. Urauff. Solothurn 1956. – Der König v. Bamako. Marionettenspiel in elf Szenen. Bln. 1960. Urauff. Zürich 1960. – Verwandtschaften. Einsiedeln u. a. 1963 (R.). – Skorpione. Einsiedeln u. a. 1964 (Fernsehsp.). – Die Vorstellung. Stück für eine Schauspielerin. Bln. 1965. Urauff. Zürich 1965. – Kaiser Jovian. Oper. Musik v. Rudolf Kelterborn. Kassel 1966. Urauff. Karlsruhe 1967. – Sequenzen. Einsiedeln/Zürich/ Köln 1969 (G.e). – Wohin geht es denn jetzt? Reden an Etablierte u. ihre Verächter. Zürich 1971. – Von der Kultur. Eine Rede. Zürich 1973. – Siegward Sprotte u. sein bildnerisches Werk. Wien 1973 (zus. mit Hans Ludwig C. Jaffé). – Anatom. Gesch.n. Zürich/Köln 1973. – Das Spiel vom Leben. Gebet eines Schülers an sich selbst gerichtet. Olten/Mchn. 1974. – Ophelia. Oper in fünf Szenen. Musik v. Rudolf Keltenborn. Urauff. Bln. 1985. – Baron Besenval. Bln. 1991. Urauff. Solothurn 1991 (Kom.). – Über Tugenden. Vaduz 1994. – Winterball. Bln. 1996 (R.). – Aufbrüche. Reisen v. dorther. Bln. 1998 (G.e u. E.n). – Ges. Gedichte. Freib. i. Br. 2003. – Denk an Siena. Eine Liebesgesch. Zürich 2004. – Morgen vor fünf Jahren. Fünf Szenen u. ein Nachspiel. Bln. 2005. Urauff. Zürich 2005. – Elisabeth. Der Freikauf. Ein Gesellschaftsstück. Einsiedeln 2007. Urauff. Meiningen 2007. Ausgabe: Theater. Hg. Peter Grotzer. 3 Bde., Mchn. 1993. Literatur: Gertrude Durusoy: H. M.s u. Louis Gaulis’ Beiträge zum zeitgenöss. Theater der Schweiz. In: Akten des VI. Internat. GermanistenKongresses Basel 1980. Hg. Heinz Rupp u. HansGert Roloff. Tl. 4, Bern u. a. 1980, S. 212–218. – Michael Butler: ›Frische‹ u. ›Dürre‹. Aspects of the Contemporary German-Swiss Theatre. In: Modern Swiss Literature. Unity and Diversity. Papers from a Symposium. Hg. John L. Flood. London 1985, S. 111–126. – Klaus Pezold (Hg.): Schweizer Literaturgesch. Die deutschsprachige Lit. im 20. Jh. Lpz. 2007. – Sabine Doering: H. M. In: KLG. Zygmunt Mielczarek
Meier, Joachim, Kryptonym: Imperiali, * 10.8.1661 Perleberg/Mark Brandenburg, † 2.4.1732 Göttingen. – Gymnasialprofessor, Jurist, Romanschriftsteller. Seine jurist. Studien absolvierte M., der wahrscheinlich einem armen Elternhaus entstammte, in Marburg (erster Abschluss 1685); zuvor hatte er schon an den Gymnasien in Lüneburg u. Braunschweig beachtliche musikal. Kenntnisse erworben. Nach
kurzer Tätigkeit als Hofmeister (Reisebegleiter durch Deutschland u. Frankreich) erhielt M. 1686 eine schlecht besoldete Anstellung am Göttinger Gymnasium als Kantor u. Lehrer der dritten Klasse, die ihn zu juristischer u. schriftstellerischer Nebentätigkeit zwang. Während er in Marburg mit einer Dissertatio inauguralis juridica de favore et odio deque favorabilibus et odiosis tam in genere, quam in specie ratione personarum actionumque (Marburg 1695) zum Lizentiaten u. Dr. iur. (1707) promoviert wurde, stieg er am Göttinger Gymnasium nach u. nach bis zum kommissarischen Direktor auf (1714). Nach seiner Emeritierung (1717) betrieb er eine florierende Anwaltspraxis. 1726/28 geriet er in eine musiktheoret. Fehde mit Johann Mattheson, der sich gegen M.s Unvorgreiffliche Gedancken über die neulich eingerissene theatralische Kirchen-Music (Gött. 1726) wandte u. die neue Kantatenform verteidigte. M.s Antwort, Der anmaßliche Hamburgische Criticus (Lemgo 1728), ist neben dem Schauplatz der englischen See-Räuber (Goslar 1728; nach einer frz. Übers. von Charles Johnsons General History of the Pirates. 1724) die letzte Veröffentlichung des vielseitigen Autors, bevor ihn 1729 ein »starcker SchlagFluß« (Gehirnschlag) traf. M.s polyhistor. Gelehrsamkeit zeigt sich in einer Reihe von jurist. Dissertationen u. Textsammlungen (u. a. Corpus juris Apanagii et Paragii [...]. Lemgo 1727), histor. Schriften (u. a. Origines et antiquitates Plessenses [...]. Goslar 1713) u. kuriosen etymologisch-familiengeschichtl. Untersuchungen über berühmte Träger der Namen Böhme, Fischer oder Meier (u. a. Antiquitates Meierianae, sive de Meieris dissertatio [...]. Gött. 1700). Auch M.s literar. Produktion, die außer einem Singspiel zu Ehren seines Landesherrn Ernst August (Die siegende Großmuth [...]. Gött. 1693) nur Romane u. Romanübersetzungen umfasst, steht zunächst im Zeichen der Gelehrsamkeit. So präsentiert er in seinem ersten Roman im Rahmen einer Liebesgeschichte nach Heliodor’schem Muster alle Gedichte Catulls – »nebst Einführung fast aller Geschichten damahliger Zeit [v. a. der Feldzüge Cäsars] / und vieler Römischen Antiquitäten« (Durchl. Römerin Lesbia [...]. Lpz. 1690. Neuaufl. u. d. T.: Das galante Rom [...]. Cölln [d. i.
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Lpz.] 1714). Der anschließend entstandene, als Vehikel der Wissensvermittlung u. der aber erst später gedruckte Tibull-Roman moralischen Belehrung (wozu ihm freilich verfährt entsprechend mit den Gedichten von eine Entschärfung der Gedichte Catulls anTibull u. Horaz u. der Geschichte zur Zeit des gebracht erschien). Verloren geht der theoloAugustus (Die durchlauchtigste Römerin Delia gisch-philosoph. Anspruch der Gattung (Ro[...]. Ffm./Lpz. 1706. Erw. Fassung u. d. T.: man als Theodizee), die in dieser epigonalen Der galante Römer Tibullus [...]. Ffm./Lpz. Form noch eine Zeitlang weiterlebte. Eine 1707). Ziel dieser sehr umfangreichen Werke Wirkung M.s auf die allerdings auch der gaist es, der drohenden »Barbarey« vorzubeu- lanten Richtung verpflichteten bibl. Romane gen, die durch neue Lehrmethoden u. -inhalte von Georg Christian Lehms ist anzunehmen. an Schulen u. Universitäten begünstigt werWeitere Werke: Experimentum juris publici de de. jure electorum [...]. Präses: Johannes Tesmar; AuDie nächsten Romane M.s signalisieren tor: J. M. Marburg 1685. – Leben, Thaten u. Todt eine Abkehr von der barocken Großform, Henrich des Leven [...]. Gött. 1694. Internet-Ed.: möglicherweise beeinflusst durch seine VD 17. – De claris Fischeris [...]. Gött. 1695. InterKenntnis zeitgenöss. frz. Kurzromane, von net-Ed.: VD 17. – Tractatus iurid[i]cus de favore et odio [...]. Gött. ca. 1695. – Lycurgus orbem in ordenen er zwei ins Deutsche übertrug (Zaraide dinem redigens, sive de optimo reipublicae statu [...]. Ffm./Lpz. 1695. Die türckische Asterie [...]. liber unus [...]. Lpz./Gött. 1697. Ffm./Lpz. 1700. Gött. 1720. Internet-Ed.: Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. dünnhaupt digital). Es handelt sich um fünf Bd. 4, S. 2709–2720. – VD 17. – Weitere Titel: kürzere, in einem Band vereinigte Texte, die Christoph August Heumann: Programma in funere sich zwar als bibl. Romane ausgeben u. Na- viri amplissimi consultissimique J. Meieri J. U. men u. einzelne Begebenheiten des AT ver- Doctoris. Gött. 1732. – Ferdinand Frensdorff: J. M. wenden, in Wirklichkeit jedoch weitgehend In: ADB. – Wilhelm Kurrelmeyer: J. M.’s Contrider Form u. der Motivik des höfisch-histor. bution to the German Language. In: MLN 63 Romans verpflichtet sind: Der durchlauchtigs- (1948), S. 293–303. – Georg Herrenbrück: J. M. u. ten Hebreerinnen Jiska Rebekka Rahel Assenath der höf.-histor. Roman um 1700. Mchn. 1974. – und Seera Helden-Geschichte (Lpz./Lüneb. 1697). Heiduk/Neumeister, S. 67, 204, 410. Volker Meid / Red. Dass sich M. mit diesen Werken von früheren Verfassern bibl. Romane distanzieren wollte, die die Quellentreue u. damit den theolog. Meier-Graefe, Julius, * 10.6.1867 ReSinn über das Schema des höfisch-histor. schitza/Banat, † 5.6.1935 Vevey/Schweiz. Romans stellten, macht seine Polemik gegen – Romancier, Kunstkritiker u. -historiker. Zesen deutlich (Assenat. 1670. Simson. 1679), dem er elende u. pöbelhafte Erfindungen Von 1888 bis zur Emigration 1934 pendelte bescheinigt, »ohne Abwechselungen / An- der Sohn eines dt. Ingenieurs zwischen Berlin muth und Verwirrungen«. Mit den höfisch- u. Paris. In seinem Hauptwerk, Entwicklungshistor. Romanen Die durchläuchtigste polnische geschichte der modernen Kunst. Vergleichende BeVenda (Lpz. 1702. Nachdr. Hildesh. in Vorb.) trachtungen der Bildenden Künste, als Beitrag zu u. Die amazonische Smyrna (Ffm./Lpz. 1705) einer neuen Ästhetik (Stgt. 1904), brachte M. die wendet sich M., wieder in durchaus pädagog. Entwicklung der europ. Kunst seit Giotto zur Absicht, der dt.-poln. u. der griech. Vorzeit zu Darstellung u. leitete so v. a. in Frankreich u. erhebt zgl. den (nicht nachprüfbaren) An- eine neue Bewertung der frz. Malerei des 19. spruch, unter dem Deckmantel der Ge- Jh., bes. des Impressionismus, ein. In schichte die »Veränderungen und Staats-Be- Deutschland galt er deswegen u. zumal nach gebenheiten itziger Zeiten« zu erzählen. Der Fall Böcklin und die Lehre von den Einheiten M. sieht sich als Antipode von August (Stgt. 1905) vielen als Verräter an der »deutBohse, der mit seinen galanten Romanen der schen Kunst«. Dieses Urteil übernahmen Jugend »den Gifft unter Süßigkeit des Ho- später auch die Expressionisten, die mit M. nigs« darbiete; er setzt dagegen auf die tra- eine gegenseitige Ablehnung verband. 1914 ditionelle Form des höfisch-histor. Romans meldete M. sich freiwillig zum Dienst als
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Sanitäter auf dt. Seite. Nach dem Krieg war er bis 1929 Kunstkritiker des »Berliner Tageblatts« u. der »Frankfurter Zeitung«. M.s »neue Ästhetik« ist gegen jede positivistische wie auch ideengeschichtl. Kunstwissenschaft gerichtet u. orientiert sich allein an der ästhet. Rezeption mit einem anerkannten Blick für »das Malerische«. In dieser Haltung hat er die Kunstkritik nachhaltig angeregt. Weitere Werke: Edouard Manet u. sein Kreis. Bln. 1903. – Der moderne Impressionismus. Bln. 1903. – Hans v. Marées. Sein Leben u. sein Werk. 3 Bde., Mchn. 1909. – Auguste Renoir. Mchn. 1911. – Eugène Delacroix. Beiträge zu einer Analyse. Mchn. 1913. – Vincent van Gogh. 2 Bde., Mchn. 1921–25. – Courbet. Mchn. 1921. – Cézanne u. sein Kreis. Mchn. 1922. – Dostojewski der Dichter. Bln. 1926. – Corot. Bln. 1930. – Hugo v. Hofmannsthal: Briefw. mit J. M. Freib. i. Br. 1998. – Kunst ist nicht für Kunstgesch. da. Briefe u. Dokumente. Gött. 2001. Literatur: August Piening: Der Kunstapostel J. M. u. seine Parteigänger. Bremen 21898. – J. M. Widmungen zu seinem sechzigsten Geburtstage. Mchn. 1927. – Kenworth Moffett: M. as art critic. Mchn. 1973. – Thomas Bremer: J. M.s Spanische Reise, die Entdeckung El Grecos u. die Kanondebatte in der dt. Kunstkritik um 1910. In: FS Titus Heydenreich. Tüb. 1999, S. 201–221. Walther Kummerow / Red.
Meinck, Willi, * 1.4.1919 Dessau, † 7.4. 1993 Zittau. – Erzähler, Kinder- u. Jugendbuchautor.
Die in der DDR geschriebene dt. Kinder- u. Jugendliteratur verdankt M. eine Reihe ihrer populärsten Werke, die in der Gegenwart, der Geschichte u. im Fantastischen angesiedelt sind. »Was für ein frisches, lebendiges Buch und trotz seiner Länge niemals langweilig«, schrieb Lion Feuchtwanger über den Roman Die seltsamen Abenteuer des Marco Polo (Bln./ DDR 1955. 171980. Bamberg 1967), der ein Bild vom Leben im Stadtstaat Venedig am Ende des 13. Jh. gibt. Ähnliche Bedeutung erlangte der Roman Untergang der Jaguarkrieger (Bln./DDR 1968. 91984) mit seiner Schilderung der span. Eroberung Südamerikas. M.s Reisen nach Indien u. Südostasien fanden ihren Niederschlag in Reportagen (Die gefangene Sonne. Halle 1971), Romanen (Tödliche Stille. Bln./DDR 1974. 91986) u. Nacherzählungen ind. Märchen u. Sagen (Das Ramayana. Bln./DDR 1976. 51985). M. erwies sich auch als iron., an Hemingway geschulter Geschichtenerzähler (Warten auf den lautlosen Augenblick. Halle u. a. 1980. Kaffeetrinken im Grandhotel. Halle 1984. 21989. In den Gärten Ravanas. Halle u. a. 1986. 21988. Katerträume. Bln./DDR 1988, zus. mit Karl-Heinz Appelmann. Der Oybin brennt. Waltersdorf 1992). 1960 entstand nach M.s Kinderbuch Hatifa (Bln./DDR 1958. 101976) der gleichnamige DEFA-Film. Weitere Werke: Das Geheimnis der finn. Birke. Bln./DDR 1951. – Der Herbststurm fegt durch Hamburg. Bln./DDR 1954. U. d. T. Kuddel u. Fietje. 1958. – Gedanken während der Arbeit. In: Beiträge zur Kinder- u. Jugendlit., H. 6 (1964), S. 40–43. – Salvi Fünf. Bln./DDR 1966. – Die schöne Madana. Bln./DDR 1973. – Delibab oder Spiel mit bunten Steinen. Bln./DDR 1978. – Die Blumenwiese am Auge des Himmels. Bln./DDR 1983.
M. wuchs in einer Dessauer Arbeiterfamilie auf u. erlernte 1929–1933 das Schriftsetzerhandwerk. Nach Verhaftung u. Misshandlung von Vater u. Großvater durch die SA Literatur: W. M. zum 70. Geburtstag. Der flüchtete er 1935 u. durchlebte mittellos in Kinderbuchverlag. Bln./DDR 1989. Ungarn, Frankreich u. der Schweiz das Werner Liersch Schicksal eines proletar. Emigranten. 1936 kehrte er nach Dessau zurück, wurde 1938 Meinecke, Friedrich, * 30.12.1862 Salzzur Wehrmacht eingezogen u. geriet 1945 in wedel, † 6.2.1954 Berlin-Dahlem. – Hisamerikan. Gefangenschaft. M. arbeitete ab toriker. 1946 als Neulehrer, wurde Direktor eines Lehrerbildungsinstituts u. wiss. Mitarbeiter Der Sohn eines protestant. Postbeamten des Schulbuchverlags »Volk und Wissen« in wurde 1901 Ordinarius in Straßburg, 1906 in Berlin. Seit 1955 lebte er als freier Schrift- Freiburg i. Br. u. 1914 in Berlin (emeritiert steller in Berlin u. später in Zittau u. Kallin- 1929). M.s histor. Methode bildete sich unter chen bei Berlin. dem Einfluss Johann Gustav Droysens u.
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Reinhold Kosers sowie in der Auseinandersetzung mit Heinrich von Treitschke heraus. In der heftigen publizist. Debatte um die dt. Kriegsziele im Ersten Weltkrieg hielt er sich zurück u. trat seit 1915 für einen Verständigungsfrieden ein. Als alleiniger Herausgeber der »Historischen Zeitschrift« (1896–1935) übte M. maßgebenden Einfluss auf die dt. Geschichtswissenschaft aus, indem er die ideengeschichtl. Richtung förderte, die Mediävistik zurückdrängte u. die Wirtschafts- u. Sozialgeschichte überging. Der Vernunftrepublikaner trennte sich nach Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialisten Walter Frank von der »Historischen Zeitschrift« u. bereits 1934 vom Vorsitz in der Historischen Reichskommission. Als erster Rektor der FU Berlin (neben dem die Geschäfte führenden Edwin Redslob) u. durch die Umbenennung des Historischen Seminars der FU in Friedrich-Meinecke-Institut (1951) erfuhr der greise M. nach dem Zweiten Weltkrieg eine späte Ehrung. M. wuchs früh aus der engen Fixierung seiner Fachkollegen auf die preuß. Geschichte, die boruss. Geschichtsauffassung u. die imperialist. Weltsicht heraus. Schon in seinen Arbeiten zur preuß. Reformzeit (Generalfeldmarschall Hermann von Boyen. 2 Bde., Stgt. 1896–99) u. zur Revolutionszeit von 1848/49 (Radowitz und die deutsche Revolution. Bln. 1913) betonte er die Verbindung der polit. Geschichte mit der Ideenwelt der Klassik, des Konservatismus u. der preußisch-dt. Nationalstaatsidee. Mit Zeitalter der deutschen Erhebung 1795–1805 (Bielef. 1906. 31924) setzte er dem frühen dt. Patriotismus u. Nationalismus ein bleibendes Denkmal. Vornehmlich ideengeschichtlich angelegt war sein erstes Hauptwerk, Weltbürgertum und Nationalstaat (Mchn. 1907. 71928), in dem er den Wandel des dt. polit. Denkens vom Universalismus der Aufklärung zur Nationalstaatsidee beschrieb. Durch die Idealisierung, Harmonisierung u. Personifizierung des Nationalstaats stellte er dem Chauvinismus der Kaiserzeit ein vergeistigtes, sublimiertes u. damit unzutreffendes Bild vom Verhältnis von Staat u. Politik gegenüber, zu dem seine öffentl. Äußerungen in einem unüberbrückbaren Gegensatz standen: »Man mag unsere
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Jugend dezimieren auf den Schlachtfeldern – unsere Volksgemeinschaft ist unsterblich« (Freiburger Zeitung, 6.8.1914). Sein zweites Hauptwerk, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte (Mchn. 1924. Rev. 31929), behandelt mit der Nachzeichnung der wichtigsten Theorien der Staatsräson seit Machiavelli »eine Schlüsselwissenschaft für die Geschichte und die Staatslehre überhaupt« (nach Meinecke). Kennzeichnend ist die dualist. Grundauffassung: Macht gegen Ethik, Natur gegen Geist. Die Aufgabe des Staatsmanns sei es, ein Gleichgewicht zwischen Macht u. Ethik herzustellen. Der Staat solle auch um seines Machterhalts willen Sittlichkeit wahren u. kulturelle Werte schaffen. Hier u. in späteren Schriften gab M. jedoch auch seiner Skepsis Ausdruck: Rückfälle in die Barbarei seien unvermeidlich. Zu einer grundsätzl. Wertschätzung des westl. Naturrechts u. der Demokratie als Lebensform konnte er sich aufgrund seiner negativen Bewertung der Französischen Revolution u. der Massendemokratie als Quelle unkontrollierbarer Leidenschaften nicht entschließen. Die Staatsinteressen blieben dem Staatsbürger übergeordnet, auch wenn M. dem Staatsmann zugestand, im Sinne einer Individualethik zu handeln. Eine eigenständige gesellschaftl. Wirklichkeit existierte für M. nicht. In seinem viel gelesenen Buch Die deutsche Katastrophe (Wiesb. 1946. 51955) empfahl er als Mittel zur Gewinnung einer neuen nat. u. persönl. Identität nicht die Orientierung an demokrat. Grundwerten, sondern an der dt. Klassik, etwa durch die Bildung von GoetheZirkeln. In einzigartiger Weise spiegeln sich in Person u. Werk M.s das Erbe des dt. Idealismus, eine selektive histor. Methode – Ausblendung der Industriegesellschaft als Untersuchungsgegenstand u. damit eines wesentl. Merkmals des 19. u. 20. Jh. – u. eine überzogene Bedeutung von Staat u. Staatsdenken in der dt. Geschichte der Neuzeit. Durch zahlreiche Schüler (Hajo Holborn, Hans Rothfels, Felix Gilbert, Hans Rosenberg, Gerhard Masur) hat M.s Geschichtsdenken große Wirkung erzielt.
Meinecke Weitere Werke: Preußen u. Dtschld. im 19. u. 20. Jh. Mchn. 1918. – Die Entstehung des Historismus. Mchn. 1936. 21946. – Erlebtes 1862–1901. Lpz. 1941. – Straßburg, Freiburg, Berlin 1901–19. Stgt. 1949. Beide Bde. u. d. T. Erlebtes. 2 Bde., Stgt. 1964. – Werke. Hg. Hans Herzfeld u. a. 8 Bde., Mchn. 1957–69. – Akadem. Lehrer u. emigrierte Schüler: Briefe u. Aufzeichnungen 1910–77. Hg. Gerhard A. Ritter. Mchn. 2006. Literatur: Walther Hofer: Geschichtsschreibung u. Weltanschauung. Gedanken zum Werk F. M.s. Mchn. 1950. – Hans Rothfels: F. M. Bln. 1954 (Trauerrede). – Waldemar Besson: M. u. die Weimarer Republik. In: Vierteljahrsh.e für Zeitgesch. (1959), S. 113–159. – Studium Berolinense. Hg. Hans Leussink u. a. Bln. 1960. – Walter Bussmann: F. M. Ein Gedenkvortrag. Bln. 1963. – Ernst Schulin: Das Problem der Individualität. In: HZ 197 (1963), S. 102–133. – Georg G. Iggers: Dt. Geschichtswiss. Gött. 1971. – Michael Erbe (Hg.): F. M. heute. Bln. 1981 (mit Bibliogr.). – Stefan Meineke: F. M. Bln. 1995. – Gisela Bock (Hg.): F. M. in seiner Zeit. Stgt. 2006. Michael Behnen / Red.
Meinecke, Thomas, * 25.8.1955 Hamburg. – Schriftsteller, Musiker, DJ. Aufgewachsen in Hamburg u. im Rhein-Neckar-Gebiet zwischen Heidelberg u. Mannheim, zog M. 1977 für ein Studium der Theaterwissenschaften, Neueren deutschen Literatur u. Kommunikationswissenschaften, das er mit einer Arbeit über Karl Philipp Moritz abschloss, nach München. 1978 gründete er dort mit anderen die Zeitschrift »Mode & Verzweiflung«, aus der 1980 die Band Freiwillige Selbstkontrolle hervorging, für die M. bis heute die Songtexte schreibt. Von 1978 bis 1986 veröffentlichte M. in »Mode & Verzweiflung« Prosa, Glossen u. Gesprächsprotokolle, von 1983 bis 1987 schrieb er die Kolumne Die aktuelle Kurzgeschichte in der Wochenzeitung »Die Zeit«, seit 1985 arbeitet er als Radio-DJ beim Bayerischen Rundfunk. 1986 erschien u. d. T. Mit der Kirche ums Dorf (Ffm.) eine Auswahl der in der »Zeit« u. in »Mode & Verzweiflung« veröffentlichten Texte als Buch (eine anders akzentuierte Auswahl wurde 1998 u. d. T. Mode & Verzweiflung, Ffm., wiederveröffentlicht). Hubert Winkels bezeichnete diese Prosatexte als »literarische Pop-Singles« u. lieferte damit das Stichwort »Pop«, mit dem die Texte von
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M. bis heute assoziiert werden. Wie im ersten Buch sind auch in der 1988 erschienenen Erzählung Holz (Köln. Ffm. 1999), entstanden im Rahmen eines Stipendiums des Literarischen Colloquiums Berlin, jene Fragen nach nationaler u. geschlechtl. Identität angelegt, die M. in seinen Romanen weiter verfolgte. So führt die Suche nach den »transatlantischen Luftwurzeln« der europ. Kultur im ersten Roman The Church of John F. Kennedy (Ffm.), der 1996, nach M.s Umzug in ein oberbayr. Dorf, erschien, den Protagonisten im Verlauf einer Reise durch die USA zu einer grundlegenden Infragestellung des Konzepts nationaler Identität. Dabei werden wichtige Züge der Erzählverfahren erkennbar, die auch die späteren Romane kennzeichnen: Sie dekonstruieren Identitätskonzepte durch verschiedene, häufig in Anlehnung an Verfahren der Popmusik entwickelte narrative Techniken, darunter Zitationsverfahren, Montagetechniken u. Perspektivwechsel zur Erzeugung von Mehrstimmigkeit. Der Schwerpunkt wird nicht auf Handlung, Spannungsbögen oder Figurenpsychologie gelegt, sondern auf die Konstruktion von diskursiv vermittelten Zusammenhängen u. deren – oft durch die Konzentration auf sprachl. Ambivalenzen forcierte – Dekonstruktion. In M. bekanntestem Roman Tomboy (Ffm. 1998 u. ö.) verlagert sich der Blick auf die Frage nach der Konstruktion bzw. Konstruiertheit geschlechtlicher Identität. Die Lektüre jener Theorieansätze, die in den 1990er Jahren unter den Stichworten »Dekonstruktiver Feminismus« u. »Gender Studies« diskutiert wurden, bildet nicht nur den Hintergrund, sie wird auch zum Gegenstand des Romans, insofern die Figuren, Studierende aus der Gegend um Heidelberg u. Mannheim, unablässig die entsprechenden Theorietexte lesen, diskutieren u. mit der eigenen Lebenspraxis abgleichen. Die in der Rezeption aufgekommene Vermutung, M. distanziere sich durch iron. Überzeichnungen von seinen Gegenständen, wird wenn nicht schon durch Tomboy selbst, dann durch die folgenden Romane widerlegt, die in der variierenden Fortsetzung der Problemkonstellationen u. Schreibverfahren deutlich machen, dass es nicht zuletzt seine eigenen, von der Faszina-
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tion für Musik u. kulturwiss. Fragestellungen getragenen Lektüre- u. Recherchepraktiken sind, die M. auf die Romanfiguren überträgt. Hellblau (Ffm. 2001) umkreist die Konstruktion ethnischer Identität aus verschiedenen, im Verlauf des Textes zunehmend ineinander verschränkten Perspektiven, darunter den Mythos des Black Atlantic u. weitere Ausprägungen diasporischer Kultur. Musik (Ffm. 2004) reformuliert die in diesen Zusammenhängen anfallenden Komplikationen, indem sie durch das Konzept der Queerness verschoben u. durch die Fokussierung auf die Konstruiertheit des vermeintlich Normalen neu konturiert werden. Die auch schon zuvor verfolgten Wechselwirkungen zwischen sozialem Geschlecht u. sexuellem Begehren buchstabiert der Roman Jungfrau (Ffm. 2008) nochmals neu aus, indem er die Aufmerksamkeit auf Zusammenhänge zwischen Katholizismus, Camp-Ästhetik u. Pop lenkt. Für seine literar. Texte erhielt M. zahlreiche Preise, zus. mit dem Techno-Produzenten David Moufang, mit dem er seit 1998 Hörspiele produziert, erhielt er 2008 den KarlSczuka-Preis für Hörspiel als Radiokunst. Weitere Werke: Plattenspieler. Hbg. 2004 (Gespräche; zus. mit Frank Witzel u. Klaus Walter). – Feldforschung. Ffm. 2006 (E.en). – RatzingerFunktion. Ffm. 2006 (zus. mit Barbara Vinken u. a.). – Lob der Kybernetik. Songtexte 1980–2007. Mit einem Nachw. v. Eckhard Schumacher. Ffm. 2007. – T. M. hört. Bln. 2007. – Die Bundesrepublik Dtschld. Hbg. 2008 (Gespräche; zus. mit F. Witzel u. K. Walter). Literatur: Hubert Winkels: Lob der Kybernetik. T. M.s Programme u. Prosaminiaturen. In: Ders.: Einschnitte. Zur Lit. der 80er Jahre. Köln 1988, S. 201–219. – Beat Mazenauer: T. M. In: KLG. – Thomas Kraft: T. M. In: LGL. Eckhard Schumacher
Meineke, Meinecke, Johann Heinrich Friedrich, auch: Aloys Frey, * 11.1.1745 Quedlinburg, † 23.7.1825 Quedlinburg. – Lehrer, Prediger u. Übersetzer. M., Sohn eines Predigers, studierte in Helmstedt u. Halle Theologie. In Halle, wo er – zur selben Zeit wie Bürger – im Haus des Theologen Johann August Noesselt lebte, hörte er bei Klotz auch Vorlesungen über die griech.
u. lat. Klassiker. 1767 kehrte M. nach Quedlinburg zurück, um Lehrer u. 1780 Rektor des Gymnasiums zu werden. Nach mehr als 30jähriger Lehrtätigkeit wurde er 1801 Prediger der St. Blasius-Kirche in Quedlinburg. M.s Schriften umfassen v. a. Arbeiten für Schulprogramme, zur Metrik u. Religionspädagogik sowie Übersetzungen aus dem Griechischen u. Lateinischen wie Anakreons Gedichte nebst [...] den Oden der Sappho (Lpz. 1776) u. Aetna. Ein Lehrgedicht des C. Lucilius jun. (Quedlinb. 1818). M.s im zeitgenöss. Kontext bedeutendste Arbeit ist die Übersetzung von Lukrez’ De rerum natura (Titus Lucretius Carus von der Natur. Lpz. 1795), die die Anerkennung von Gleim fand u. von August Wilhelm Schlegel in der »Allgemeinen Literatur-Zeitung« (1797, Bd. 4, Sp. 97 ff.) beifällig rezensiert wurde. Weitere Werke: Des Claudius Aelianus vermischte Erzählungen. Quedlinb. 1787 (Übers.). – Die Synonymen der Teutschen Sprache in einer Reihe v. Fabeln, Parabeln usw. Halberst. 1815. – Die Verskunst der Teutschen [...]. Quedlinb. 1817. – Die Bibel; ihrem Gesamtinhalte nach erläutert [...]. Quedlinb. 1819–21. – Handwörterbuch der Metrik [...]. Quedlinb./Lpz. 1825. Literatur: NND, H. 1 (1825), S. 830–840. – Heinrich Döring: Die gelehrten Theologen Dtschld.s im 18. u. 19. Jh. Bd. 2, Neustadt/Orla 1832, S. 466–470. Sabine Lorenz / Red.
Meiners, Christoph, * 31.7.1747 Warstade/Land Hadeln, † 1.5.1810 Göttingen. – Historiker u. Ethnograf. Der Sohn eines Postmeisters war seit 1772 Professor für Weltweisheit in Göttingen. Nachdem er sich durch eine Reihe antikantianischer Schriften hervorgetan hatte, widmete er sich in seinen mehr als 30 Büchern u. in zahlreichen Artikeln überwiegend religionsgeschichtlichen, kulturgeschichtl. u. völkerkundl. Themen. Schon zu Lebzeiten war der erstaunlich belesene M. als Vielschreiber berüchtigt. In seiner Allgemeinen kritischen Geschichte der Religionen (2 Bde., Hann. 1806/07) entwickelte M. eine vergleichende Religionsphänomenologie. Verdienstvoll waren seine universitätsgeschichtl. Werke. Bekannt wurde M. durch
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seinen Grundriss der Geschichte der Menschheit (Lemgo 1785. 21793. Neudr. Königst. 1981) u. zahlreiche völkerkundl. Aufsätze. Er vertrat darin eine Theorie der grundlegenden Verschiedenheit des »schönen«, weißen, keltischen Hauptstammes u. der »hässlichen«, farbigen, nichteurop. Völker. M.’ vergleichende Völkerschau kann als systemat. Enzyklopädie ethnozentrischer Vorurteile u. Feindbilder verstanden werden u. ist bereits von Georg Forster u. Herder kritisiert worden. M. ist als Vorläufer des Rassismus u. Antisemitismus des 19. u. 20. Jh. anzusehen. Weitere Werke: Gesch. des weibl. Geschlechts. 4 Bde., Hann. 1788–90. – Untersuchungen über die Verschiedenheiten der Menschennaturen in Asien u. den Südländern, in den ostind. u. Südseeinseln [...]. 3 Bde., Tüb. 1811–15. Literatur: Britta Rupp-Eisenreich: Des choses occultes en historie des sciences humaines: le destin de la ›science nouvelle‹ de C. M. In: L’Ethnographie 90/91 (1984). – Friedrich Lotter: C. M. u. die Lehre v. der unterschiedl. Wertigkeit der Menschenrassen. In: Geschichtswiss. in Göttingen. Hg. Hartmut Boockmann u. Hermann Wellenreuther. Gött. 1987. – Sabine Vetter: Wiss. Reduktionismus u. die Rassentheorie C. M. Aachen/Mainz 1996. – Jan Rachold: Die aufklärer. Vernunft im Spannungsfeld zwischen rationalistisch-metaphys. u. politisch-sozialer Deutung. Ffm. 1999. Michael Harbsmeier / Red.
Meinert, Joseph Georg, eigentl.: Joseph Johann M., * 22.2.1773 Leitmeritz (Litomeˇrˇ ice)/Böhmen, † 17.5.1844 Partschendorf (Bartosˇ ovice)/Mähren; Grabstätte in der Familiengruft der Grafenfamilie Pachta in Partschendorf. – Liedersammler, Schriftsteller, Professor für Ästhetik u. Pädagogik, Herausgeber literarischer Zeitschriften. Geboren als drittes von sechs Kindern des Stadtrichters Joseph Meinert u. seiner Frau Anna, geb. Peher (Beher), im böhm. Leitmeritz, ging M. nach dem Schulabschluss 1787 nach Prag, um dort auf Wunsch des Vaters Jura zu studieren. Nach zwei Jahren des obligator. Philosophiestudiums wechselte er zu den Fächern Literatur, Ästhetik u. Geschichte. Sein akadem. Lehrer Gottlieb August Meißner erkannte früh M.s literar. Begabung
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u. gab ihm schon als Student eine Publikationsmöglichkeit in seiner Revue »Apollo«, in der M. insbes. Fabeln in der Manier Gellerts veröffentlichte. In den Jahren 1795/96 setzte M. seine Studien in Jena fort, wo er Vorlesungen bei Fichte u. Schiller besuchte u. sich intensiv mit der Philosophie Kants befasste. 1797 kehrte er nach Prag zurück u. arbeitete als Erzieher bei der in Trennung von ihrem Ehemann lebenden Gräfin Josefine von Pachta. Zu dieser entwickelte sich eine Liebesbeziehung, die beide bis zum Tod der Gräfin 1833 verband u. aus der zwei Kinder hervorgingen. Über Josefine Pachta fand M. Zugang zu Prager aristokrat. u. intellektuellen Kreisen, in denen er als Lehrer u. Dichter hohes Ansehen genoss. Der Vermittlung der Gräfin u. ihres Vaters Graf Josef Emanuel Malabaila de Canale verdankte M. zunächst eine Anstellung als Lehrer an Prager Gymnasien u. nach seiner Promotion 1799 die Übernahme von Lehrtätigkeiten an der Prager Universität. Nachdem er sich 1801 vergeblich um die Nachfolge von Karl Heinrich Seibt auf den Lehrstuhl der Schönen Wissenschaften beworben hatte, verhalf ihm die Fürsprache des Grafen Malabaila de Canale u. anderer einflussreicher Prager Aristokraten bei einer späteren Bewerbung zum Erfolg. So wurde er 1806 als Nachfolger seines Lehrers Meißner zum Professor für Ästhetik u. Pädagogik in Prag bestellt. Bereits 1811 musste er jedoch wegen einer Kehlkopferkrankung vorzeitig pensioniert werden. Fortan lebte er zurückgezogen mit der Gräfin Pachta abwechselnd in Wien, Prag u. auf deren Gut Partschendorf (Mähren), wo er sich seinen literar. Studien widmete. Dort wurde er nach seinem Tod in der Familiengruft neben der Gräfin beigesetzt. M.s Werk, das in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg nahezu gänzlich in Vergessenheit geraten war, wird in jüngerer Zeit im Zuge der Erforschung der Geschichte der Germanistik in Böhmen wieder neu gewürdigt. Dabei wird sein Verdienst insbes. in der Vermittlung dt. Gegenwartsdichtung in Böhmen gesehen. M., der mit dt. Romantikern wie Rahel Levin u. Karl August Varnhagen, Joseph von Eichendorff u. Clemens Brentano befreundet war, machte die
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deutschsprachige Dichtung in seinen Uni- in den Böhm. Ländern. In: Jb. für ostdt. Volksversitätsvorlesungen u. in privaten Zirkeln in kunde 13 (1970), S. 213–226. Wieder in: Ders.: Prag bekannt. Zudem schuf er mit seinen li- Studien zur böhm. Volkskunde. Hg. u. eingel. v. terar. Zeitschriften »Der böhmische Wan- Petr Lozoviuk. Münster 2008. – Walter Kramolisch: Die Kuhländer Volksliedslg.en v. J. G. M. (1817) u. dersmann« (1801/02; auch ins Tschechische Felix Jaschke (1818). 3 Tle., Marburg 1987–89. – übers.) u. »Libussa« (1802–04) ein Forum für Lenka Vanˇkova: Das dt. Volkslied im Werk v. J. G. junge böhm. Dichter dt. Sprache. Beide Zeit- M. In: Jb. Ostrava 1995, S. 174–187. – Milan schriften befassten sich mit der böhm. Kul- Trvrdík u. Lenka Vodrázˇková-Pokorná (Hg.): Gerturlandschaft, wobei die Beiträge im »Böh- manistik in den böhm. Ländern im Kontext der mischen Wandersmann« eher volkserziehe- europ. Wissenschaftsgesch. (1800–1945). Wupperrische Züge annahmen, während sich die tal 2006. Katrin Korch »Libussa« in Gedichten, Erzählungen, histor. Studien u. Berichten über aktuelle polit. ErMeinhof, Ulrike (Marie), * 7.10.1934 Oleignisse an ein gebildetes Publikum wandte. denburg, † 8.5.1976 Stuttgart-StammGewisse Bedeutung kommt ferner M.s heim. – Politische Journalistin. Hauptwerk Der Fylgie. Alte teutsche Volkslieder in der Mundart des Kuhländchens (Wien 1817) zu Früh verwaist, wuchs M. als Adoptivtochter (ein zweiter geplanter Band mit den Melodi- der Historikerin Renate Riemeck auf. Nach en ist nicht erschienen). Dabei handelt es sich dem Studium der Philosophie, Pädagogik, um die erste Liedersammlung einer dt. Soziologie u. Germanistik in Marburg u. Landschaft überhaupt. Auf Drängen von Ja- Münster war sie in Hamburg 1959–1969 cob Grimm herausgegeben, präsentiert sie Mitarbeiterin, 1962–1964 Chefredakteurin fast vergessene Volkslieder dieser mähr. der Zeitschrift »konkret«. 1961–1968 war sie Landschaft. In einer umfangreichen Vorrede verheiratet mit dem Journalisten Klaus Raierläuterte M. seine method. Vorgehensweise ner Röhl. Als freie Journalistin u. Lehrbeaufu. fügte den Liedern einen Anhang über die tragte an der Freien Universität lebte sie seit Eigenheiten der Kuhländischen Mundart bei, 1968 in Berlin, wo sie nach Beteiligung an der den er durch ein Glossar ergänzte. Dadurch gewaltsamen Haftbefreiung Andreas Baaders gewinnt die Sammlung den Charakter einer 1970 in den Untergrund ging u. Mitbegrünliterarisch-wiss. Ausgabe, an die auch spätere derin der terrorist. »Rote Armee Fraktion« Volksliedsammlungen anknüpften. M.s ei- wurde. 1972 festgenommen, starb sie nach gene literar. Werke sind heute völlig verges- strenger Isolationshaft im Gefängnis Stuttsen. Dabei handelt es sich überwiegend um gart-Stammheim unter ungeklärten Umpatriot. Gedichte, die häufig auch vertont ständen, vermutlich durch Suizid. M.s seit 1959 erscheinende polit. Kolumwurden. Weitere Werke: Franz Petrarka. Biogr. Prag nen in »konkret« befassen sich in moralisch 1794. – Rede über das Interesse der Aesthetik, aufrüttelnden Analysen mit autoritären u. Pädagogik, Gesch. der Gelehrsamkeit u. Philoso- inhumanen Strukturen der bundesdt. Gephie für gebildete Menschen, bei seiner öffentl. sellschafts- u. Außenpolitik. Themen sind Einf. am 10. Dez. 1806 vorgetragen. Prag 1807. – etwa Vietnam und Deutschland (1966), die Alte teutsche Volkslieder in der Mundart des Kuh- Macht der »Bild«-Zeitung (Enteignet Springer! ländchens. Hg. u. erl. v. Joseph George Meinert. 1. 1967), Hilfsschulkinder (1969). Von bes. literar. Bd, Wien 1817. Unveränderter Neudr., mit einer Qualität sind Texte, die Auswirkungen gebiogr. Einl. nebst Vorwort v. Josef Götz. Brünn sellschaftl. Verhältnisse am Leben einzelner 1909. Menschen aufzeigen – so etwa Jürgen Bartsch Literatur: Goedeke 2. Aufl. Bd. 6, 745–748. – und die Gesellschaft (1968) oder das FernsehEugen Lemberg: Grundlagen des nat. Erwachens in Böhmen. Geistesgeschichtl. Studie am Lebensgang spiel-Manuskript Bambule (Bln. 1971. 1987) Josef G. M.s (1773–1844). Reichenberg 1932. – Josef über eine Rebellion in einem Fürsorgeheim. Pfitzner: J. G. M. In: Sudetendt. Lebensbilder. Unter dem Eindruck v. a. von Vietnamkrieg u. Bd. 3, Reichenberg 1934, S. 70–75. – Georg R. Notstandsgesetzgebung zweifelte M. zunehSchroubek: J. G. M. Zur Frühgesch. der Volkskunde mend am Sinn journalist. Arbeit in »einge-
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zäunter Spielwiesenfreiheit« (Kolumnismus. rialien zur Gesch. der RAF. Hg. Martin Hoffmann. 1968). Mit wachsendem Nachdruck, oft in Bln. 1997. Literatur: Peter Brückner: U. M. u. die dt. aggressiver Zuspitzung, forderte sie jetzt einen Weg Vom Protest zum Widerstand (1968; Verhältnisse. Bln. 1976. – Heinrich Böll: Will U. M. Aufs.). M.s Leben wurde zum Gegenstand Gnade oder freies Geleit? In: Essayist. Schr.en u. zahlreicher Kunstwerke. Darunter sind v.a. Reden 2. Köln 1982, S. 542–549. – Stefan Aust: Der Baader-Meinhof-Komplex. Hbg. 1985. – Matthew Heinrich Bölls Erzählung Die verlorene Ehre der Todd Grant: Critical Intellectuals and the New Katharina Blum (Köln 1974), Dea Lohers Stück Media. Bernward Vesper, U. M., the Frankfurt Leviathan (Ffm. 1994) u. Elfriede Jelineks School and the Red Army Faction. Diss. Cornell Drama Ulrike Maria Stuart (Urauff. Thalia University 1994. – Bettina T. Becker: ›Woman, Theater Hamburg, 2006) zu nennen, das den Violence, Nation. Representations of Female InKonflikt zwischen M. u. Gudrun Ensslin surgency in Fiction and Public Discourse in the spielerisch mit dem Handlungsmuster von 1970s and 1980s‹. In: Women in German Yearbook 16 (2000), S. 207–220. – Alois Prinz: Lieber wütend Friedrich Schillers Trauerspiel kombiniert. M.s Engagement in der RAF wurde zudem als traurig. Die Lebensgesch. der U. M. Weinheim Gegenstand zahlreicher Filme, von denen u. a. 2003. – Bettina Röhl: So macht Kommunismus Spass. U. M., Klaus Rainer Röhl u. die Akte KonStammheim von Reinhard Hauff (1986) u. v.a. kret. Hbg. 2006. – Kristin Wesemann: U. M. Der Baader Meinhof Komplex von Uli Edel (2008) Kommunistin, Journalistin, Terroristin. Eine polit. ein größeres Publikum erreichten u. kontro- Biogr. Baden-Baden 2007. – Matteo Galli (Hg.): vers diskutiert wurden. Ähnlich wie Rudi Mythos Terrorismus. Heidelb. 2007. – Sara HakeDutschke ist M. zur zentralen Figur in der mi: U. M. Ffm. 2008. – Inge Stephan u. Alexandra Diskussion um die Geschehnisse von 1968 u. Tacke (Hg.): NachBilder der RAF. Köln/Weimar/ ihren Folge geworden. Während etwa die Wien 2008. Heinrich Detering / Stefan Höppner ehemalige Grünen-Politikerin Jutta Ditfurth in Ulrike Meinhof. Die Biografie (Bln. 2007) ein Meinhold, (Johann) Wilhelm, * 27.2.1797 fast ausschließlich positives Bild zeichnet, Netzelkow (Lütow)/Usedom, † 30.11. beschreibt Jutta Brückner in Bräute des Nichts. 1851 Charlottenburg. – Erzähler, Lyriker. Der weibliche Terror (Bln. 2008) M.s Leben parallel zu dem von Magda Goebbels. Zwar Der Sohn eines in Gesundheitserziehung zielt sie auf die Biografien beider Frauen als (Sonett Der Wassertrinker. An meinen Vater) ri»Momente einer Phänomenologie der giden Predigers studierte 1813–1815 TheoEmanzipation« der Frau als polit. Subjekt, logie, Philologie u. Philosophie in Greifseffektiv setzt sie M. aber mit einer führenden wald, wurde Hauslehrer u. 1820 Rektor der Nationalsozialistin gleich. Wie die RAF Stadtschule Usedom. Seine dichterischen überhaupt ist M. daneben Objekt popkultu- Ambitionen u. Erfolge bestimmten auch den reller Aneignung, bes. von Bands aus der berufl. Weg. Jean Pauls Würdigung eines polit. Linken (u. a. Slime, Freundeskreis). Tragödienmanuskripts führte 1821 zur BeNeben diesen Aspekten wird M.s publizist. rufung auf die Pfarrei in Koserow/Usedom. Werk kaum noch beachtet. Trotz mehrerer 1826 wechselte er zur Pfarrstelle in Krummin Biografien existiert eine seriöse wiss. Aus- u. übernahm 1844 durch Protektion Friedeinandersetzung mit ihren Texten nur in rich Wilhelms IV. die von Rehwinkel bei Ansätzen. Stargard in Hinterpommern. Lange Jahre sah Weitere Werke: Dokumente einer Rebellion. er sich »an der äußersten Grenze deutscher 10 Jahre konkret-Kolumnen. Hg. Klaus Rainer Röhl Zunge, außer allem Verkehr mit Gelehrten«; u. Hajo Leib. Hbg. 1972. – Texte der RAF. Malmö/ der Umkreis von Berlin war deshalb Ziel seiSchweden 1977. – Die Würde des Menschen ist ner Wünsche. Den preuß. Kronprinzen hatte antastbar. Aufsätze u. Polemiken. Mit einem er 1827 zu den Trümmern des sagenhaften Nachw. v. Klaus Wagenbach. Bln. 1980. – Dtschld. Vineta geführt, als König las dieser den TeilDtschld. unter anderem. Aufsätze u. Polemiken. vorabdruck der Bernsteinhexe in der »ChristoBln. 1995. – Rote Armee Fraktion. Texte u. Mateterpe« (1841/42) mit der Fiktion des Manuskriptfundes im Chorgestühl der Koserower
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Kirche, ließ sich das Manuskript zusenden u. dem Autor das auf kgl. Veranlassung gedruckte Werk samt Honorar überreichen. Besseren Eingang in die Lesewelt konnte sich M. für das erfolgreichste seiner Bücher nicht wünschen; erst in der »Augsburger Allgemeinen Zeitung« (23.1.1844) bekannte er das Fiktive des Manuskriptfundes (desgleichen im Vorwort zur 2. Aufl., GS 1, 1846). 1844 erschien, ohne den erhofften Erfolg, das epische Gedicht Athanasia oder die Verklärung Friedrich Wilhelm des Dritten (Magdeb.). 1840 verlieh ihm die Erlanger Fakultät das theolog. Doktorat für das Kapitel Wunder und Weissagungen seiner Apologie des Christentums. 1850 legte M. nach langjährigen unerfreul. Auseinandersetzungen mit Gemeinde, Parteigegnern u. vorgesetzter Regierung sein Amt nieder u. widmete sich in Charlottenburg dem reformationskrit. Roman Sigismund Hager (s. u.). 1848 war für den theolog. Supranaturalisten, der als Rationalist begonnen hatte, ein Krisenjahr. Konservativ in Weltanschauung u. polit. Gesinnung, wandte er sich in einem Pamphlet gegen Die babylonische Sprachen- und Ideen-Verwirrung der modernen Presse, als die hauptsächlichste Quelle der Leiden unserer Zeit (Lpz.), ein beredtes Zeugnis, welch tiefe Irritationen der Übergang zur republikan. Staatsform noch 1848, Jahrzehnte nach den preuß. Reformen, verursachte. Die Schrift enthielt eine bittere Zeitdiagnose, sah im Proletariat das durch Gewerbefreiheit verursachte »neue demokratische Elend« u. übte grundsätzl. Kritik an den vier »Freiheiten«: der Gewissens-, Glaubens-, polit. u. Pressefreiheit, u. dem »Fortschritt«. Die Republik bedeute »sichern Untergang unseres Vaterlandes unter den furchtbarsten Kämpfen, vielleicht mit gänzlicher Vernichtung aller Sitte und Cultur.« Dahinter stand, neben der Eliteidee, Missachtung der Unterschicht u. einer bei Konservativen (s. von der Marwitz) verbreiteten massiven Revolutionsfurcht der Geist pessimistischer konservativer Anthropologie. M. focht 1849 mit einer metr. Übersetzung (Gedicht von 100 Zeilen) u. Kommentierung des »Vaticinium Lehninense«: Weissagung des Abtes Hermann von Lehnin um’s Jahr 1234 über die Schicksale des Branden-
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burgischen Regentenhauses wie über den Beruf Friedrich Wilhelm IV. zum Deutschen Könige (Lpz.), gegen eine mit Stellenfälschung aktualisierende antiroyale Broschüre: Das »unaussprechliche Verbrechen«, das der König nach der Prophetie verüben wird u. das »den grausen, mit Tod zu büßenden Frevel« nach sich zieht, sei am 18. März erfüllt, als der König auf das Volk schießen ließ. M.s religionsphilosoph. Einleitung über die Nachtseiten der Natur, Magnetismus, antikes Orakelwesen u. Weissagung stimmt mit Atmosphäre u. Ideenkreis der Klosterhexe (1848) zusammen. Im Tenor der Sprachen- und IdeenVerwirrung agitiert das dezidiert antijüd. Pamphlet Extrablatt über die Emancipation der Juden, das M. in Bd. 3 des Sidonia-Romans hinter das Rabbinergespräch über den Schem Hamphorasch einrückte u. von dem der Verleger sich distanzierte. M. trat seit 1823 mit weltl. Ideen-, Naturu. bedeutender religiöser Lyrik, Romanzen u. satir. Neunundzwanzig Distichen auf unsere Zeit (1831) hervor (Gedichte. Lpz. 1835). Seine »Sturm«- u. »Schiffbruch«-Idyllen erweitern den traditionellen Themenkanon der Gattung (GS 4, 1846). Gedichte an Pyrker u. Platen u. frühe Briefe bezeugen literar. Verbindungen. Goethe rubrizierte ihn, auf die Vermischten Gedichte (Greifsw. 1824) bezogen, unter »Individualpoesie«. Transzendenz, Unendlichkeit u. Verwesung sind Perspektiven der Lyrik, so Der Wurm am Meer oder Sidonia’s ungläubiger Vater am Sarge seiner Tochter (Aus einer mißlungenen Tragödie). Vor der Athanasia erschien 1826 das Epos des Pommernapostels St. Otto, Bischof von Bamberg, oder: die Kreuzfahrt nach Pommern (Greifsw.). Als Dramatiker empfahl sich M. nach der verschollenen Tragödie Herzog Bogislaf (1820) mit dem sprachlich archaisierenden Stück Der alte deutsche Degenknopf, das den Vater-Sohn-Konflikt Friedrichs des Großen 1730 thematisierte, u. mit dem Drama von Wallensteins Belagerung Stralsunds 1628 (GS 2, 1846). Daneben verfasste er Reisebilder u. Miniaturen zur engeren Heimat, über Rügen u. Usedom (Greifsw. 1830 u. Stralsund 1837). M.s großer, auch internat. Erfolg, der bis heute andauert u. sich in zahlreichen Ausgaben, Übersetzungen, selbst Dramatisierun-
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gen bekundet, war Maria Schweidler, die Bernsteinhexe (Bln. 1843, entstanden 1838/39; neuere Ausgaben: Lpz. 2005, als Tb.: Ffm. 1978). Unter der Fiktion einer Chronik wird hier in virtuoser Archaisierung der Sprache u. mit literar. Geschick die Mischung aus Kriegs-, Not-, Familien- u. Schauerroman, von Kriminal-, Inquisitionsgeschichte u. verfolgter Unschuld aus der Perspektive des Vaters in Szene gesetzt, der seine Tochter durch den Hexenprozess geleitet. Als kurze hochdt. Erzählung für eine Wiener Zeitschrift, Die Pfarrerstochter von Coserow (1826/27; Druck: Novellen-Zeitung, Lpz. 3.7.1844), war sie von der Zensur zurückgewiesen worden. Die emotionalisierte Form der Ich-Erzählung, die Anteilnahme des hexengläubigen Vaters am Schicksal der Tochter, stand dem Objektivitätsanspruch des neugefundenen »chronikalischen« Realismus entgegen, so wie sich im Mitleidspathos der Bernsteinhexe das urkräftig »Naive« gegen die »moderne Sentimentalität, als das Gift aller wahren Poesie« (GS 7, S. XIII) nur sehr bedingt durchsetzte. In dem durch philosophisch-theolog. Reflexion u. Thematisierung der Magie- u. Geisterwelt des 16./17. Jh. universalen u. durch Stoff u. Motivik extremen Kosmos des Hauptwerks: Sidonia von Bork die Klosterhexe, angebliche Vertilgerin des gesammten herzoglichpommerschen Regentenhauses (3 Bde., GS 5–7. Lpz. 1848. Teilvorabdr. in Novellen-Zeitung. Lpz. 1847/48) gestaltete M. in fantast. Freiheit u. archaisierter Sprache eine vormoderne Ungebrochenheit menschlicher Natur u. Kraft des Lebens, die sich nicht zuletzt in der Radikalität des Bösen bekundet. In dem seit Hebbels Kritik u. Zurücksetzung gegenüber der Bernsteinhexe (Hebbels Sämtliche Werke. Bd. 11, hg. v. H. Krumm, S. 178–188) in Rezeption u. Forschung vielfach vernachlässigten, nur in den GS zugängl. histor. Roman, zu dem die Koserow-Novelle u. die Bernsteinhexe die Vorbereitung bildeten, führte M. zwei sagenartig pointierte Stoffe der pommerschen Geschichtsschreibung zusammen: die Sidonia-Historie u. die Geschichte vom Bürgermeister von Stargard, Appelmann, der seinen Sohn Johannes (im Roman Liebhaber der Sidonia) hinrichten lässt. Die aus reichem pommerschem Altadel stammende Sidonia
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von Bork (1548–1620) war die Geliebte des Herzogs Ernst Ludwig von Wolgast, bevor sie aus Staatsräson als Hexe angeklagt u. nach dem erzwungenen Geständnis, dass sie die Ausrottung des pommerschen Herzogshauses betrieben habe, enthauptet wurde. Der erste Band des Romans schildert Aufstieg u. Scheitern der Sidonia; der disparate zweite (GS 6, 1847) ein pikareskes Abenteuerleben, das mit der erzwungenen Teilnahme an der Enthauptung des Liebhabers, 30-jährigem Untertauchen u. Aufnahme in das »Jungfernkloster zu Marienfließ« schließt; im dritten vollendet sich das Schicksal der durch eigene maßlose Rachsucht u. extreme Bosheit innerlich zerstörten Frau. Der auf konsequenten Realismus setzende histor. Roman M.s, das »Sittengemälde des siebzehnten Jahrhunderts« (Hebbel), ist auch ein Buch gegen die Dominanz von Kunstgesetzen wie Einheit, Entwicklung, poet. Form, wie Hebbel sie einforderte; es ist souverän gegenüber der Forderung künstlerisch abgeschlossener Totalität. Der Gewinn ist die Darbietung unbeschönigter, teils böser u. grausamer, ohne Einfühlung u. Relativierung dargestellter Wirklichkeit. Das Einmünden der Handlung in die Staatsperspektive am Schluss deutet, neben dem symbol. Bezug auf 1848, auf die staatl. Ordnungsfunktion gegenüber unbeherrschten, tendenziell bösen Lebensmächten. Der Untergang des Herzogsgeschlechts wird einmal als gnädige Errettung vor dem Dreißigjährigen Krieg, dann als Strafe für den »Pommerschen Schlurf« im Kontext der schrecklichsten Folterszene (Tod der »Käsmutter«) gedeutet, weshalb die Fürsten »beinahe nothwendiger Weise aussterben mußten« (GS 7, S. 219 f.). Im Sinne der jungdt. Literatur wird die Ebene des histor. Romans durch zeitaktuelle Beilagen des Autors über Erziehung u. Versorgung der Frauen überlagert, was ein eigentüml. Licht auf die Rolle des Weiblichen in der männl. Ordnungswelt wirft. Vor allem wird der Roman durch die Reflexions- u. Metaebene der Fußnoten um eine Dimension erweitert, die M. als seine »supranaturale Auffassung des Christentums« begriff u. welche die Phänomenologie u. Kritik des »Supranaturalen« im Geister-, Teufels-, Hexen- u. Zauberwesen der
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frühen Neuzeit (GS 7, S. 265 f.; 338 ff.; s. die Schriften Peuckerts) entfaltet. Durch formale Verfremdungsmittel wie gestuften Einsatz beglaubigender Erzähler, Herausgeberfiktion u. Spracharchaisierung zur Verhinderung modernist. Adaption sowie mit virtuoser Sprachfantasie u. stupender Detailgenauigkeit schuf M. einen Realismus des Fremden u. Fantastischen, der Härte u. Grausamkeit, der stärker kathartisch wirkt als die moralische Parteinahme. Programm ist die Vermeidung jeder Subjektivität des Narrativen. Entfalten konnte sich der neue, mit Otto Ludwigs Shakespeare-Studien (entstanden ab 1847) synchrone Realismus, »weil der Verfasser hier das entgegengesetzte Princip der Bernsteinhexe [...], nämlich das des Bösen behandelt und ohnedies der Dichter sich mehr oder minder an das rein Geschichtliche halten mußte.« (NND Bd. 29,2, S. 934). Die Ästhetik des Schreckens wird moderiert durch den unreflektiert hexengläubigen Erzähler Dr. Theodorus Plönnies, der 1629/30 im Auftrag des letzten Herzogs Bogislaw XVI. die Nachforschungen über Sidonie von Bork betrieb. M.s letzter Roman Der getreue Ritter oder Sigismund Hager von und zu Altensteig und die Reformation. In Briefen an die Gräfin Julia von Oldofredi-Hager in Lemberg (2 Bde., Regensb.) erschien erst postum; sein Sohn Aurel Immanuel (Priesterweihe 1853), der mit Das Kreuz von Vineta (1870) selbst als Romanautor hervortrat, edierte Bd. 1 (GS 8, 1852) u. zeichnete als Autor für Bd. 2 (Regensb. 1858; GS 9, 2 1859). Die im Ich-Bericht Hagers gebotene histor. Handlungsebene wird durch reformations- wie auch zeitkrit. Briefe des modernen Autors an die österr. Initiatorin des Werks überlagert, die im Titel genannte lyr. Dichterin Oldofredi-Haager (1813–1879), von der M. 1849 die Lebensnachrichten über den Ahnherrn Sigismund (geb. 1525) erhalten hatte. Der Anti-Luther-Roman rühmt im sprechenden Titel das »Getreue« u. »Alte« im Konfessionskontext; die konfessionellen Kontroversen spiegeln für M. den Streit zwischen Liberalismus u. Konservatismus um 1850. Archaisierende Sprache ermöglicht eine Spielfreiheit, die dem Tendenzroman sonst abgeht. Er enthält in Einzelheiten authentisches, vom Autor in Fußnoten kommentier-
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tes histor. Material. Als Beilage zu den 12 apologet. Briefen M.s, so die jungdeutscher Poetik entsprechende Fiktion, werden die einzelnen Romankapitel der Gräfin übersandt. Im zweiten, vom Sohn verantworteten Teil, der archaisierend erzählt ist u. mit dem Schmalkaldischen Krieg 1546/47 einsetzt, entfällt die Korrespondenz- u. Reflexionsebene. Für den Leser, der sich der latent apologet. Funktionalisierung entziehen kann, bietet der Roman ein detailfreudiges Zeitbild. Briefe u. Fußnoten gleiten stellenweise in Pamphletstil ab. Nach Intention, Konstruktion u. Ausführlichkeit kann dieses Alterswerk an Niveau u. Erfolg der früheren Schriften nicht anschließen. Für die Neuauflage der GS schrieb M.s Sohn Aurel 1872, dass die Romantrias »in dreifacher Folge in die magischen Kreise des Zauberwesens« einführe: »Wir finden die Ideen, die Görres in seiner Mystik« entwickelte, hier »in dramatischer Plastik gestaltet«. Sidonia von Bork zeige »die Nachtseite des menschlichen Herzens, welches mit seinem Wollen und Begehren freiwillig in die dunkle Tiefe der Leidenschaft hinabsteigend sich selber gebannt fühlt vom Wahne und vom dämonischen Zauber der Sünde, dem Alles opfernd es schließlich selber zum Opfer fällt.« Ausgaben: Ges. Schr.en. 7 Bde., Lpz. 1846–48. Bde. 8–9 u. Suppl., Regensb. 1852–58 (= GS; Titelauflage 1872). – Sidonia v. Bork: Bde. 1–2 in Lieferungen (folio): Novellen-Ztg. Bd. 4, N. F. Bde. 1–2, Lpz. 1847/48 (mit Porträt M.s). – Selbstbiogr. Ebd., 1.1.1846, Nr. 79. Bd. 2, S. 209–214. – Briefe. Hg. Walther Bethke. Greifsw. 1935 (Bibliogr.). – Entlegene Schriften u. Werkausgabe: Bibl. der Dt. Lit. Mikrofiche-Gesamtausg. nach Angaben des Taschengoedeke. Mchn. 1990/99. Literatur: NND. – Hermann Petrich: M. In: ADB. – Goedeke. – Kosch. – Heinrich Kleene: M.s ›Bernsteinhexe‹ u. ihre dramat. Bearb.en. Diss. Münster 1912. – Konstanze Trammer: W. M. als Romanschriftsteller. Diss. [masch.] Würzb. 1923. – Rupprecht Leppla: W. M. u. die chronikal. Erzählung. Bln. 1928. Neudr. 1967. – Eberhard Knobloch: Die Wortwahl in der archaisierenden chronikal. Erzählung. M., Raabe, Storm, Wille, Kolbenheyer. Göpp. 1971. – Carolyn Louise Krause: W. M. His Life, Works, and Reception in England and America. Diss. Northwestern University 1971. – Hans Dieter Huber: M. In: NDB. – Winfried
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Freund: Der Hexenautor v. Usedom: W. M. u. die Bernsteinhexe. In: Die Horen 43 (1998), S. 97–109. – Diana Kuhk: Der pommersche Autor W. M. Studie zu seinem Gesamtwerk. Diss. Greifsw. 1999. – Wulf-Dietrich v. Borcke: Sidonia v. Borcke: die Hexe aus dem Kloster Marienfließ 1548–1620. Schwerin 2002. – Andrea Rudolph: W. M.s Chroniknovelle ›Die Bernsteinhexe‹ (1843). In: Kulturraumformung. Hg. Maria Katarzyna Lasatowicz. Bln. 2004, S. 149–177. – Marion George u. A. Rudolph (Hg.): Hexen. Histor. Faktizität u. fiktive Bildlichkeit. Dettelbach 2004. – Bernadetta Matuszak-Loose: W. M.s Roman ›Sidona von Bork, die Klosterhexe‹. In: Klosterfrauen, Klosterhexen [...]. Hg. Hubertus Fischer. Neustadt am Rübenberge 2005, S. 77–107. Ulfert Ricklefs
Haus des Lebens u. Der Ring der Wiederkunft (zusammengefasst u. d. T. Die drei Sonettkränze. Pritzwalk 1920), deren Sonette so kunstvoll ineinander verwoben sind, dass das erste Gedicht zgl. die Anfangszeilen, das letzte Gedicht die Endzeilen aller Sonette enthält. Die meisten seiner Werke ließ M. in seinem eigenen Verlag, der Merlin-Presse, in kleinster Auflage erscheinen u. mit bes. Sorgfalt künstlerisch gestalten. M.s Synthese neuromantischer u. neuklass. Strömungen verdient Aufmerksamkeit. Einen Namen machte er sich unter Kennern mit seinen Umdichtungen der Rubayate des pers. Dichters Rumi (Ghaselen aus Rumis Diwan. Umdichtungen. Bln. 1969).
Meinke, Hanns, * 12.5.1884 Strasburg/ Uckermark, † 12.2.1974 Berlin. – Lyriker.
Weitere Werke: An Allegra. Pritzwalk 1918. – Gesichte u. Gesänge des Kindes Merlin. Bln./Potsdam 1923. – Atemzüge des Kindes Magus Merlin. Bln./Potsdam 1924. – ›Ich bin so ganz ein Kind im großen Garten‹. Bln. 1984. – Die Kränze zur chym. Hochzeit. Hg. Kurt Rüdiger. Karlsr. 1987.
M. wollte früh Dichter werden, doch arbeitete er zunächst lange Zeit als Dorfschullehrer. Bereits seine erste Veröffentlichung, Masken Ausgabe: Ausgew. Dichtungen. Kastellaun des Marsyas (Pritzwalk 1910; Privatdr.), ließ erkennen, unter welchem Einfluss er stand: 1977. Literatur: Albert Soergel: Dichtung u. Dichter Baudelaire, Rimbaud, Verlaine, Poe, Wilde u. der Zeit. Bd. 2, Lpz. 1927, S. 12–15. – Helmut E. T. A. Hoffmann sind je ein Sonett u. ein Röttger: Nachw. zu H. M.: Ausgew. Dichtungen. Holzschnitt gewidmet. Durch die Begegnung a. a. O. – Hartmut Heinze: Der Dichter H. M. mit Rudolf Pannwitz geriet er in den Kreis (1884–1974). In: NDH 31 (1984), S. 442 f. der Jugendbewegung, wurde mit den pädaPeter König / Red. gog. Prinzipien u. Ideen Berthold Ottos bekannt u. schloss sich der um die literar. Meinloh von Sevelingen, * zweite Hälfte Zeitschrift »Charon« versammelten charont. des 12. Jh. – Minnesänger. Bewegung Otto zur Lindes an. In »Charon« veröffentlichte M. 1905–1911 Der Sänger dürfte ein Vorfahre des um 1240 fast 100 Gedichte u. kleinere Prosastücke. bezeugten »Meinlohus de Sevelingen« sein, 1911/12 suchte M. Anschluss an Stefan Ge- der dem erst seit 1220 urkundlich nachgeorge, der ihm im Neuen Reich (1928) einen der wiesenen Geschlecht derer von Söflingen bei Sprüche an die Lebenden widmete. Auch nach Ulm angehörte. In den großen Liederhanddem Bruch mit den Charontikern bewahrte schriften vom Anfang des 14. Jh. sind unter M. wesentl. Züge der Bewegung, deren Vor- M.s Namen insg. 14 Strophen gesammelt. liebe für den Mythos u. den um Elementares Aufgrund ihrer sprachlichen, formalen u. u. Ursprüngliches kreisenden Naturalismus. inhaltl. Gestaltung rechnet man M. dem sog. Wichtige personae seiner Gedichte sind myth. donauländ. Minnesang (um 1150–1170/80) Gestalten (wie der Zauberer Merlin, Proteus, zu. Mit Ausnahme zweier Stollenstrophen, Dionysos oder Pan), u. seine Stoffe entstam- deren Echtheit umstritten ist, baut M. seine men meist dem antiken u. nordischen Sagen- Strophen aus paargereimten Langzeilern mit u. Mythenbereich. Daneben ist jedoch für M.s je zwei Vierhebern, die er zu Sechszeilern mit lyr. Werk die überaus strenge Form seiner u. ohne Steg u. zu Achtzeilern fügt. Er verGedichte (Sonett, Terzine, Ghasel, Stanze, wendet häufig Zeilenstil; Versfüllung u. Akrostichon usw.) charakteristisch. Beispiel- Auftakt gestaltet er meist frei. Neben Manhaft sind die Zyklen Der Frühlingskranz, Das nesstrophen setzt er Frauen- u. Botenstro-
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phen ein. Die einzelnen Strophen, deren wen‹ (MF 13,1). In: ZfdPh 115 (1996), S. 18–25. – Reihenfolge in den Überlieferungsträgern Andreas Hensel: Vom frühen Minnesang zur Lyrik weitgehend übereinstimmt, bilden in sich der Hohen Minne. Studien zum Liebesbegriff u. abgeschlossene Sinneinheiten, können aber zur literar. Konzeption der Autoren Kürenberger, Dietmar v. Aist, M. v. S., Burggraf v. Rietenburg, unter themat. Gesichtspunkten zu KleinzyFriedrich v. Hausen u. Rudolf v. Fenis. Ffm. u. a. klen, insbes. zu erweiterten Formen des 1997. – Elisabeth Schmidt: Die Inszenierung der Wechsels zusammengestellt werden. In der weibl. Stimme im dt. Minnesang. In: Frauenlieder Forschung werden unterschiedl. Reihungs- – Cantigas de amigo. Hg. Thomas Cramer u. a. Stgt. prinzipien vertreten: von der überlieferten u. a. 2000, S. 49–58. – Maurice Spague: ManifestaFolge abweichende Anordnung nach Stro- tions of Love. De amore and the Middle High Gerphenformen, Fügung der Strophen zu einem man Poetic Environment. In: ABäG 58 (2003), zykl. Minneroman oder Zusammenstellung S. 92–122, v. a. 97 f., 118. – Christoph Huber: thematisch zusammenhängender Kleinzy- Spruchhaftes im Minnelied des Donauraums. Budapester Fragment, M. u. spätere Traditionen. In: klen in der Strophenabfolge der HandschrifDt. Lit. u. Sprache im Donauraum. Hg. Christine ten. Pfau u. Kristy´na Slámová. Olmütz 2006, Die minnedidakt. Strophen I 3/4 u. II 1 S. 143–157. Claudia Händl haben spruchhaften Charakter u. handeln von verborgener Minne, von Verschwiegenheit u. von der in Minnedingen erforderl. Meisel, Hans, geb. James M., auch: James Entschlossenheit. Die Frauenstrophen I 7/8 u. H. M. (seit der Emigration), * 16.7.1900 II 2 entsprechen in bes. Maß der von Begeh- Berlin, † 2.3.1991 Bellevue/Washington. ren u. Erfüllung geprägten archaischen Min- – Romancier u. Politologe. nevorstellung der frühhöf. Dichtung, die M. aber in einigen Fällen durchbricht: Motive Nach Studium u. Promotion in Berlin u. wie die Dienstbereitschaft des Sängers, prei- Heidelberg wurde der jüd. Kaufmannssohn sende Überhöhung der Frau u. erzieherisch- 1925 Redakteur der »Vossischen Zeitung«. läuternde Funktion der Minne weisen bereits Ende der 1920er Jahre trat M. mit ersten liauf das Ritual hoher Minne der hochhöf. Zeit terar. Veröffentlichungen hervor. Neben den voraus u. lassen, wie auch die Abstraktheit in Dramen Geschäft (1928), Störungen (1929) u. Gedankenführung u. Sprachstil, M. als eine Fahnenflucht (1931) entstanden Erzählungen u. Novellen wie Hollis und noch einer (postum Übergangsgestalt erkennen. Bonn 2004). M.s erster, mit dem halbierten Ausgaben: Minnesangs Frühling 1, S. 28–31 (zit.). – Günther Schweikle (Hg.): Die mhd. Min- Kleist-Preis ausgezeichneter Roman Torstennelyrik 1. Darmst. 1977, S. 126–135, 378–387 (mit son. Entstehung einer Diktatur (Bln. 1927. Ffm. nhd. Übertragung u. Komm.). – Teilausgabe mit 1972. Bonn 2004) erzählt, stilistisch u. formal Übersetzung: Dt. Lyrik des Frühen u. Hohen MA. Ed. einem versachlichten Expressionismus verder Texte u. Komm.e v. Ingrid Kasten. Übers.en v. pflichtet, den vom Volk herbeigesehnten Margherita Kuhn. Ffm. 2005, S. 52–61; 594–598. Aufstieg des Generals Torstenson zum DikLiteratur: Bibliografie: Tervooren, Nr. 440–445. tator. Später als visionäre Vorwegnahme – Einzeltitel: Günther Jungbluth: Zu den Liedern Hitlers rezipiert, entfaltet der R. eine facetM.s v. S. In: Neoph. 38 (1954), S. 108–120. – Eli- tenreiche Gesellschaftsanalyse, in deren Versabeth Lea: Die Sprache lyr. Grundgefüge. MFr. 11, lauf ein ebenso kalkuliertes wie kapitalist. 1–15, 17. In: PBB (Halle) 90 (1968), S. 305–379. – Machtstreben zum politisch-sozialen Exzess Karl-Heinz Schirmer: Die höf. Minnetheorie u. M. führt. v. S. In: FS Fritz Tschirch. Köln/Wien 1972, 1934 floh M. nach Italien, von dort 1936 S. 52–73. – Günther Schweikle: M. v. S. In: VL (Lit.). nach Wien, wo er Lektor des Bermann-Fi– Manfred Eikelmann: Denkformen im Minnesang. Tüb. 1988 (Register). – Eva Willms: Liebesleid scher-Verlags wurde. Für Exilverlage überu. Sangeslust. Untersuchungen zur dt. Liebeslyrik setzte er antifaschist. Literatur, darunter des späten 12. u. frühen 13. Jh. Mchn. 1990 (Re- Sinclair Lewis’ Satire It Can’t Happen Here. gister). – Waltraud Fritsch-Rößler: Die Kunst des 1938 floh M. weiter in die USA, wo er Arbeit Komparativs. Zu M.s v. S. ›Ich bin holt einer vrou- als Sekretär Thomas Manns fand. Der damals
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fertiggestellte Spanien-Roman Aguilar oder Die Abkehr (Bonn 2001) erschien jedoch trotz Manns Fürsprache erst postum. So ging M. 1940 in die Wissenschaft. Zunächst als College-Lehrer, schließlich (1956–1970) als Professor für polit. Wissenschaften an der University of Michigan, Ann Arbor, widmete er sich nun in theoret. Schriften seinem Lebensthema von Macht u. Gewalt, Revolution u. Gegenrevolution. Erst auf Initiative Hans Benders erschien mit dem autobiogr. Text Eine Gondel ganz aus Glas (Mainz 1984) wieder ein belletrist. Werk in dt. Sprache. In diesen »Früherinnerungen« an eine bürgerl. Kindheit in Riga u. Warschau entwirft M. ein einfühlsames, wenngleich vom kommenden Unheil überschattetes Porträt einer unwiederbringlich verlorenen Welt des Baltikums u. des Judentums. Die Beachtung, die M. als Wissenschaftler genoss, blieb ihm bei seiner Rückkehr zur Literatur gleichwohl verwehrt. Weitere Werke, v. a. Romane in dt. wie engl. Sprache, sind unveröffentlicht. Weitere Werke: The Genesis of Georges Sorel. Ann Arbor 1951. – The Myth of the Ruling Class, Gaetano Mosca and the Elite. Ann Arbor 1958. Dt. Düsseld. 1962. – The Fall of the Republic, Military Revolt in France. Ann Arbor 1962. – Counter-Revolution, How Revolutions Die. New York 1966. – A Matter of Endurance. Chicago 1970 (N.). Literatur: Klaus Täubert: H. M. In: Dt. Exillit., Bd. 3, Tl. 1, S. 371–385. Thomas B. Schumann / Peer Trilcke
Meisl, Karl, * 30.6.1775 Laibach (heute: Ljubljana), † 8.10.1853 Wien. – Theaterdichter. Nach dem Gymnasium in Laibach besuchte M. die philosoph. Kurse am dortigen Lyzeum u. an der Universität Lemberg. Etwa 1794 trat er als Fourier (Rechnungsbeamter) in das Regiment Thun ein. Ab 1802 in der Hofkriegsbuchhaltung in Wien, wurde er 1840 als hoher Beamter pensioniert. Wegen seiner Fremdsprachenkenntnisse (Slowenisch u. Italienisch) war M. 1805 nach Venedig abkommandiert worden, wo er das Marineverrechnungswesen einzurichten hatte. Am Leopoldstädter Theater war M. seit 1801 ständig beschäftigt (außer 1822–1825),
schrieb seit 1823 jedoch für alle drei großen Vorstadtbühnen (Leopoldstädter Theater, Josefstädter Theater u. Theater an der Wien). 1807 hatte er für kurze Zeit an Bäuerles »Wiener Theaterzeitung« mitgewirkt. Von 1822 bis 1827 gab er das »Taschenbuch des Leopoldstädter Theaters« heraus. Seine Reputation veranschaulichen bes. zwei seiner dramat. Werke: Die Weihe des Hauses, 1822 zur Eröffnung des neuen Josefstädter Theaters von Beethoven vertont, u. Gisela von Bayern, erste Königin der Magyaren, ein Drama, mit dem er 1825 zur Krönung von Kaiserin Karoline zur Königin von Ungarn Grillparzers Auftragswerk Ein treuer Diener seines Herrn zuvorkam. Mit seinen rd. 190 Werken war M. neben seinen Zeitgenossen Bäuerle u. Gleich der produktivste Dramatiker des Altwiener Volkstheaters, an der Menge der Genres gemessen, kann er als der vielfältigste gelten. Am Beginn seiner Laufbahn standen mäßig erfolgreiche Räuberstücke, Lustspiele, histor. Schauspiele u. Lokalpossen. M.s erste große histor. Leistung liegt in der Begründung einer gegenüber Vorläuferwerken von Karl Giesecke, Josef Richter u. Joachim Perinet nun streng lokalisierten sog. Mythologischen Karikatur (Orpheus und Eurydice. Wien 1813. Die Entführung der Princessin Europa. Wien 1816): Das Wiener Leben wird in antikischer Camouflage auf der Bühne satirisch gegeißelt. Die zweite Leistung M.s liegt im iron., sittenkorrigierenden Besserungsstück (Der lustige Fritz. Urauff. 1818. Wien 1819. Die Abentheuer eines echten Shawls in Wien. Pest 1820), das auch in seinem dramaturg. Prinzip (Bilderreihe) auf Raimund u. Nestroy wirkte. M. prägte dieses Genre nicht nur aus, sondern konterkarierte es zgl. mit seiner Travestie, der Gespensterkomödie: Das Gespenst auf der Bastei (Urauff. 1819. Pest 1820) u. Das Gespenst im Prater (Urauff. 1821. Wien 1824) schufen einen dramaturg. Typus, der sich fruchtbar bei Nestroy (Der böse Geist Lumpacivagabundus, 1833) fortsetzte. Auch durch das von M. begründete Genre der Opernparodien ist eine eminent wichtige Vorläuferschaft im Hinblick auf Nestroy gegeben, der zu Beginn seiner Laufbahn unmittelbar daran anschloss.
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M. ist als der kreativste, gewandteste, satirischste u. daher bedeutendste Vertreter der Altwiener Volkskomödie vor Raimund u. Nestroy anzusehen. Weitere Werke: Carolo Carolini. Wien 1801 (Räuberstück). – Die travestierte Zauberflöte. Pest 1820 (Posse). – Die Fee aus Frankreich. Wien 1822 (Zauberspiel). – Der Karlstag. 1832 (ungedrucktes Festspiel). – Theatral. Quodlibet. 10 Bde., Pest/ Wien 1820–25. – Alt-Wiener Volkstheater. Hg. Otto Rommel. Bde. 3 u. 4, Wien u. a. 1914. Ausgaben: Moisasuras Hexenspruch (1827). Text u. Komm. In: Raimund-Almanach 13 (1998), S. 5–108. – Die Kathi v. Hollabrunn. Parodie in drei Akten mit Gesang. Hg. Jürgen Hein. Heilbr. 2006. Literatur: Rudolf Galle: K. M. Eine Monogr. als Beitr. zur Gesch. des Wiener Volkstheaters. Diss. Wien 1926. – Otto Rommel: Die Alt-Wiener Volkskomödie. Wien 1952. – Margret Dietrich: Jupiter in Wien. Graz u. a. 1967. – Erich Joachim May: Wiener Volkskomödie u. Vormärz. Bln./DDR 1975. – Sengle 3. – Richard Reutner: Lexikal. Studien zum Dialekt im Wiener Volksstück vor Nestroy. Ffm. u. a. 1998. – Fumihiko Sato: Die literar. Parodie des Wiener Volkstheaters am Beispiel K. M.s. Diss. Innsbr. 2004. Wolfgang Neuber
Meisner, Meißner, Balthasar, * 3.2.1587 Dresden, † 29.12.1626 Wittenberg. – Philosoph u. Theologe der lutherischen Orthodoxie.
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auch die Moralphilosophie belegt (Dissertatio de summo bono. Wittenb. 1614. Dissertatio de legibus. Wittenb. 1616). Schon 1612 zum Dr. theol. promoviert, rückte M. 1613 in eine theolog. Professur ein u. starb als Rektor der Universität. Eine ausgedehnte Disputationstätigkeit führte auch neue Themen ein (Religion, Hl. Schrift, fundamentum fidei, Theologiestudium). Neu war auch die nach soteriologischen status differenzierte, universale Anthropologia sacra (1612–15 u. ö.); eine auch innerlutherische strittige Lehrentwicklung disputierte die Christologia sacra (1618–20). Kontroverstheologisch publizierte M. gegen (»rationalistische«) Calvinisten, (»pelagianische«) Jesuiten u. (antitrinitarische) Sozinianer. Charakteristisch für M.s Orthodoxie ist, dass sie sich (wie bei seinem Freund Johann Gerhard) verband mit affektiv vertiefter Frömmigkeit u. pastoralem Engagement, was ihn freilich in einen Streit mit Cornelius Martini über die Reichweite syllogistischer Beweise verstrickte. Neben lat. Meditationen wirkten M.s dt. Erbauungsschriften, Predigten u. Briefe; die Predigten über die Augsburgische Konfession wurden postum 1630/33 (Ffm. 2 1658) publiziert, ebenso kirchenreformerische Pia desideria (Ffm. 1679) u. die herausragende Rede von 1622, De praestantia et dignitate Christiani (Lpz. 1693). Die Würdigung des Gesamtwerks u. des Briefwechsels steht noch aus.
Aus einer luth. Pfarrerfamilie stammend, studierte M. in Wittenberg (Aegidius Hunnius d.Ä., Leonhart Hutter, Jakob Martini), wo Ausgaben: Internet-Ed. mehrerer Schr.en in: er 1608 philosoph. Adjunkt wurde, dann in The Digital Library of Classic Protestant Texts Straßburg, Tübingen (Matthias Hafenreffer) (http://solomon.tcpt.alexanderstreet.com). u. Gießen (Balthasar Mentzer). 1611 wurde er Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Prof. für Ethik u. Politik in Wittenberg u. Zedler 20, 369–371. – Jöcher 3, 382 f. – Paul begann seine erfolgreiche Philosophia sobria, Tschackert: M. In: ADB. – RE 3. Aufl. 12, 511 f. – die auf dem neuen Niveau des methodolo- Walter Sparn: M. In: Bautz. – RGG 4. Aufl. 5, 996. – gisch abgeklärten u. durch Metaphysik wie- W. Sparn: Wiederkehr der Metaphysik. Stgt. 1976. – Heinz Kathe: Die Wittenberger Philosoph. Fader ergänzten Schularistotelismus die philokultät 1501–1817. Köln 2002. – Kenneth G. Apsoph. Aspekte der luth. Kontroversen mit pold: Orthodoxie als Konsensbildung. Tüb. 2004. Calvinisten (I, Gießen 1611) u. »Papisten« (II, Walter Sparn Wittenb. 1613; zuletzt Jena 1655) analysierte. Im Teil III (Wittenb. 1623) formulierte M. Meisner, Meißner, Daniel, * 1585 (?) Koerstmals die lange geltende Definition der motau (heute: Chomutov), † 31.3.1625 Theologie als praktische, analytisch vorgebei Frankfurt/M. (?). – Lyriker. hende Disziplin u. ordnete ihr die Philosophie als freies, nur durch die Autorität der M. lebte, zum Poeta laureatus gekrönt, länbibl. Offenbarung begrenztes Denken zu, wie gere Zeit in Sachsenhausen bei Frankfurt/M.,
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wo er mit dem Verleger u. Kupferstecher Der Meißner. – Sangspruchdichter, der Eberhard Kieser zusammenarbeitete. Unter zwischen etwa 1270 u. 1290 wirkte; beider Namen erschien zunächst in einzelnen überliefert in der Jenaer Liederhandschrift Büchern (ab 1623) das Politische Schatzkästlein, (J). das in einer lat. (Teil-)Übersetzung (von Johann Ludwig Gottfried ab 1625) u. in zahl- Die Lebensumstände des M. sind nur umreichen weiteren Auflagen (u. a. in neuer risshaft aus dem Werk selbst u. aus AnspieOrdnung bei Paul Fürst in Nürnberg ab 1637 lungen bei Dichterkollegen zu erschließen. u. d. T. Sciographia Cosmica) verbreitet wurde. Der Sprache nach gehört er ins östl. MittelSein Erfolg beruht auf der Kombination von deutschland, sodass wohl M. als HerkunftsStädteansichten u. Emblemen, die auch den name zu verstehen ist. Nach eigener Angabe würdigen Rahmen für die Benutzung als war er Wanderdichter, der sein Auskommen Stammbuch bieten konnten u. deren Verse u. primär an adligen Höfen suchte. Auf den erläuternde Texte, die großenteils (sämtl. geografischen u. sozialen Wirkungsraum Verse in den Büchern 1–6) von M. stammen, verweisen die Preisstrophen auf die ab 1268 als Sentenzen gelesen u. zitiert werden regierenden Brandenburger Markgrafen Otto konnten. Einer verwandten emblemat. Gno- V. († 1298), Albrecht III. († 1300) u. Otto IV. mik diente auch M.s postum (1626) publi- († 1308), auf Bischof Hermann von Kammin ziertes Werk Thesaurus sapientiae civilis. Von M. in Pommern († 1289) u. auf einen Herdegen stammen auch die Verse in Stoltzius von von Gründlach (Reichsministerialen bei NürnStoltzenbergs viel benutztem hermetist. berg). Auch sind Beziehungen zum König von Text-Bild-Band Chymisches Lustgärtlein (Ffm. Böhmen (wohl Ottokar II., † 1278) wahr1624. Neudr. hg. v. Ferdinand Weinhandl. scheinlich, den der M. Rudolf von Habsburg Darmst. 1964) sowie die dt. Verse in Julius als Reichsschenken empfiehlt. An den literar. Wilhelm Zincgrefs Emblemen in der Ausgabe Fehden u. Rangstreitigkeiten unter den von 1624 (u. d. T. Sapientia picta). In seinen Spruchdichtern war der M. aktiv wie passiv Gelegenheitsdichtungen verwendet er außer beteiligt. Er polemisierte wiederholt gegen den Marner, den er in naturkundlich-relider dt. auch die lat. Sprache. Weitere Werke: De maiestate et protestate im- giöser Gelehrsamkeit zu übertrumpfen peratoris. Gießen 1611 (Disputation). – Religionis suchte. Dafür bezogen andere, so Konrad von et Themidos interlocutio. Ffm. 1622. Abgebildet u. Würzburg, gegen den M. Stellung. Die komm. v. Cornelia Kemp. In: Flugbl. Bd. 4., Nr. IV, Norddeutschen Rumelant von Sachsen u. 307. Hermann Damen wiederum erklärten den M. Ausgabe: Thesaurus philopoliticus, Das ist: zum besten lebenden Spruchdichter neben Polit. Schatzkästlein guter Herren u. bestendiger Konrad von Würzburg († 1287). Trotz der Freund. 2 Tle., Ffm. 1625/26 u. 1627/31. Neudr. zeitgeschichtl. Bezüge sind genaue Datiehg. u. eingel. v. Klaus Eymann. Unterschneidheim rungen u. Aussagen zur Werkchronologie 3 1979. nicht möglich. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Der traditionelle Gattungszweck der Joachim Telle: Sol u. Luna [...]. Hürtgenwald 1980, Spruchdichtung – eingängige Mahnung zu bes. S. 116–119. – Hermann Ehmer: Der gekrönte Tugend u. Frömmigkeit – bestimmt auch Dichter D. M. In: Wertheimer Jb. 1993, S. 95–108. – Dietmar Peil: Emblematik zwischen Memoria u. beim M. die Wahl der Themen, Stoffe, poet. Geographie. Der ›Thesaurus Philo-Politicus. Das Formen u. Stilmittel. Die großen Vorbilder, ist: Politisches Schatzkästlein‹. In: Erkennen u. Walther von der Vogelweide, den Marner, Erinnern in Kunst u. Lit. In Verb. mit Wolfgang bes. aber Reinmar von Zweter, hat er genau Frühwald hg. v. D. Peil, Michael Schilling u. Peter studiert u. folgt ihnen bis in Einzelheiten der Strohschneider. Tüb. 1998, S. 351–382. – Flood, Formulierung. Will man beim M. ein – auch Poets Laureate, Bd. 3, S. 1300–1302. für die weitere Entwicklung der Gattung reWolfgang Harms levantes – Charakteristikum hervorheben, so ist es die religiöse Grundstimmung, die Nähe zu Bibel u. Volkspredigt. Ein pastoraler An-
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spruch macht sich geltend. Tugenden u. Edited with Textual and Musical Commentaries. Laster, die christl. Gebote, Sakramente u. Cardiff 1968. Bd. 1, S. 43–58; Bd. 2, S. 70–92. Literatur: Burghart Wachinger: Sängerkrieg. Glaubensdogmen (bes. Trinität u. Inkarnation) werden in immer neuen Variationen er- Untersuchungen zur Spruchdichtung des 13. Jh. läutert u. eingeschärft. Eine bes. Faszination Mchn. 1973. – Objartel 1977 (s. o.). – Ders.: Der M. In: VL. – Helmut Tervooren u. Thomas Bein: Ein haben für ihn die Wunder der Schöpfung, die neues Fragment zum Minnesang u. zur SangMerkwürdigkeiten im Reich der Natur, wie spruchdichtung. In: ZfdPh 107 (1988), S. 1–26, bes. auf geistl. Gebiet die unfassl. Mysterien des S. 11. – RSM 4, S. 329–350. – Franz-Josef HolznaGlaubens; hierzu gelingen ihm gehaltvolle, gel: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen u. auch in der Diktion originelle Verse. Seine Materialien zur Überlieferung der mhd. Lyrik. Versiertheit in den exeget. Techniken der Tüb./Basel 1994, S. 372 f.; 387–395. – Holger EckEtymologie, Typologie u. Allegorese beweist hardt: Plage des Bösen oder Kleinod der Schöpder M. an Stoffen des AT (z.B. Auszug aus fung: Vom Netz zur Spinne zwischen dem M. u. Trakl. In: Neoph. 81 (1997), S. 105–115. – H. TerÄgypten, Moses u. die Schlange) u. bes. auch vooren: Von der Masen tot op den Rijn. Ein Hdb. an Tiergeschichten aus der Physiologustradi- zur Gesch. der mittelalterl. volkssprachl. Lit. im tion (z.B. Aspis, Kaladrius, Pelikan, Phönix, Raum v. Rhein u. Maas. Bln. 2006, S. 141–143. Strauß). Zu den Bildungsgrundlagen seines Georg Objartel / Red. Werks ist noch zu sagen, dass er wohl Latein konnte u. gelegentlich Zugang zu gelehrten Schriften hatte. Jedoch ist sein spezielles Der Junge Meißner, * um 1300. – LiederWissen nicht immer exakt, daher eher aus dichter. dem Gedächtnis reproduziert; recht eigenÜber die Lebensumstände des Dichters ist willig wirkt beispielsweise die Darstellung nichts bekannt. Der Graf Ludwig von Öttinder sieben Zeichen bei Christi Tod u. der 15 gen, den er in A II, 1 preist, ist nicht sicher zu Zeichen beim Weltende. identifizieren: Es könnte sich um den zwiIm Kreise der zeitgenöss. Spruchdichter schen 1263 u. 1313 bezeugten Ludwig V. war der M. nach Ausweis der Zeugnisse eine handeln. Ob der 1303 in Ulten/Tirol urviel beachtete Persönlichkeit. Sein Werk – 128 kundlich erwähnte »Mihsnerius cantor« mit Strophen in 20 Tönen, dazu 16 Melodien – ist dem J. M. identisch ist, muss offen bleiben. das umfangreichste zwischen Reinmar von Von den unter seinem Namen aufgezeichZweter u. Frauenlob. Textliche Parallelen neten Strophen werden die 35 in den älteren bes. bei Hermann Damen u. beim Jungen Codices überlieferten dem J. M. zugerechnet, Meißner, weniger bei Rumelant von Sachsen während die 75 Strophen der jüngeren u. Frauenlob, sind z.T. wohl als Spuren lite- Handschriften als spätere Dichtungen in rar. Wirkung zu deuten. Dem M. fehlt jedoch meistersingerischer Tradition gelten. Aufdie meistersingerische Nachwirkung, die etl. grund der Reimsprache hat man eine Entseiner Zeitgenossen hatten. Vom M. überlie- stehung im mitteldt. Raum erwogen. Die fern parallel zur Jenaer Liederhandschrift je eine »echten« Strophen gruppieren sich in wenige Strophe die Heidelberger Liederhandschrift C Töne. Der Hauptton (I), in dem 25 Strophen (hier gefolgt von einer polem. Replik im tradiert sind, entspricht weitgehend Frauengleichen Ton) u. das Maastrichter Fragment. Die lobs Langem Ton (es fehlt Vers 17), einem der magere Wirkungsgeschichte mag auf Zufäl- vier »gekrönten« Töne im Meistersang. Wellen der Überlieferung beruhen, vielleicht aber cher der beiden Sänger der urspr. Tonerfinder auch darauf, dass metrisch-formale Glätte u. ist, kann nicht mit letzter Sicherheit geklärt stilist. Virtuosität nicht das Anliegen des M. werden; vieles spricht für Frauenlob. Ton II (zwei Strophen) u. Ton III (eine Strophe) sind waren. Ausgaben: Georg Objartel: Der M. der Jenaer einfacher gebaut; ihre Bauelemente finden Liederhs. Untersuchungen, Ausg., Komm. Bln. sich auch in Tönen anderer Liederdichter. Die 1977. – Ronald J. Taylor: The Art of the Minne- dreistrophigen Lieder IV u. V (mit Refrain) singer. Songs of the 13th Century Transcribed and sind Minnelieder mit Natureingang.
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Die jüngere Strophengruppe im Hauptton für eine bes. Wertschätzung des J. M. angedes J. M. unterscheidet sich von der älteren sehen werden. insbes. in Reimsprache u. Strophenbindung: Ausgaben: Der J. M. Hg. Günter Peperkorn. Die jüngeren Strophen weisen häufig ausge- Mchn. 1982. prägtere Dialektformen u. »ReimwillkürLiteratur: Helmuth Thomas: Untersuchungen lichkeiten« auf; die meisten der Strophen zur Überlieferung der Spruchdichtung Frauenlobs. sind inhaltlich wie formal zu Dreiergruppen Lpz. 1939, S. 148–170, 230 f. – Horst Brunner: Die verbunden, während es in der älteren Gruppe alten Meister. Mchn. 1975 (Register). – Georg Obkeine feste Einbindung in Bare gibt. Aller- jartel: Der Meißner der Jenaer Liederhs. Bln. 1977, S. 14–21, 62 f. – Peperkorn, 1982 (s. o.), S. 3–33, dings stehen einige der Einzelstrophen in 129–186. – G. Objartel: Der J. M. In: VL. – Frieder einem engeren themat. Zusammenhang (vgl. Schanze: Meisterl. Liedkunst zwischen Heinrich v. z.B. die Fürstenmahnung A I, 9–11), u. in der Mügeln u. Hans Sachs. Bd. 1, Mchn. 1983 (RegisWeingartner Liederhandschrift, die alle 25 Stro- ter). – G. Objartel: Der Meißner. In: VL. – RSM 4, phen des J. M. in Ton I überliefert, ist eine S. 135–148. – Michael Baldzuhn: Wege ins Meislockere Gruppierung in einzelne Themenbe- terlied. Thesen zum Prozess seiner Herausbildung reiche wie Fürsten-, Minne- u. Tugendlehre u. Beobachtungen am k-Bestand unikaler Strophen erkennbar. Die vom J. M. behandelten The- in unfesten Liedern. In: ZfdPh 119 (2000), Sonderh., S. 252–277. – Ders.: Vom Sangspruch zum men entsprechen dem in der SangspruchMeisterlied. Untersuchungen zu einem literar. dichtung der Zeit übl. Spektrum. Neben Traditionszusammenhang auf der Grundlage der Lehrhaftem finden sich »persönlicher« ge- Kolmarer Liederhs. Tüb. 2002, bes. S. 417–420. haltene Strophen mit Gönnerpreis (II), HeiClaudia Händl sche u. Sündenbekenntnis (III). Unverkennbar ist die zeitübl. Tendenz zu geistl. The- Meißner, Alfred, * 15.10.1822 Teplitz/ matik u. zum geblümten Stil. Der J. M. setzt Böhmen, † 29.5.1885 Bregenz. – Lyriker, Stilmittel wie Asyndeton, Apostrophe, Aus- Romancier, Erzähler, Versepiker. rufe, rhetorische Fragen u. »subjektive« Zwischenbemerkungen ein; in der Metapho- Der Enkel August Gottlieb Meißners rik bevorzugt er einfache verbale Metaphern stammte aus einer weltoffenen Familie; der Vater war Badearzt, die Mutter schottischer u. Genitivumschreibungen. Herkunft. M. studierte seit 1840 in Prag Der J. M. dürfte Sangsprüche u. die Goldene Medizin u. promovierte 1846. Wie sein StuSchmiede Konrads von Würzburg gekannt hadienfreund Moritz Hartmann begann er zu ben (vgl. A 11, 17 f.); Anklänge an Walther schreiben u. in Prager Zeitschriften Lyrik zu von der Vogelweide (vgl. das Zitat A 16, 1 von veröffentlichen. Seine Gedichte (Lpz. 1845. Walther 14, 8) sind vermutlich Übernahmen 12 1881) u. das Versepos über den böhm. von topisch gewordenen Formeln aus der Freiheitshelden Zˇizˇka (Lpz. 1846) machten zeitgenöss. Lyrik. Zahlreiche Verbindungen ihn im Vormärz als polit. Dichter bekannt. zur Dichtung des Meißners basieren wohl auf Seit 1846 lebte er in Leipzig, seit 1847 in Padirekter Rezeption, ohne dass eindeutig zu ris, wo er mit Heine bekannt wurde; M.s Erklären ist, wer der Gebende ist. Ohne eine innerungsband Heinrich Heine (Hbg. 1856. genaue Datierung der Strophen des J. M. gilt Neudr. Lpz. 1972 u. ö.) ist eine der wichtigsdiese Unsicherheit auch für Bezüge zur Min- ten Quellen für dessen Spätzeit. 1848 wurde nelehre des Johann von Konstanz u. v.a. zur M. als Vertreter des Wahlkreises Leitmeritz in Dichtung Frauenlobs. die Frankfurter Nationalversammlung geDer im 15. u. 16. Jh. häufig in Dichterka- wählt, wo er sich der äußersten Linken antalogen u. Sentenzensammlungen aufge- schloss. Nach dem Scheitern der Revolution nommene Name Meißner muss sich nicht radikalisierten sich seine Ansichten (vgl. Reimmer auf den J. M. beziehen. Die Übernah- volutionäre Studien aus Paris. 2 Bde., Ffm. me von Ton I durch spätere Dichter lässt sich 1849). durch die große Ähnlichkeit mit Frauenlobs Langem Ton erklären u. kann nicht als Zeugnis
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Literatur: Otto Wittner: Österr. Porträts u. In den Folgejahren war M. viel auf Reisen durch ganz Europa, seit 1869 lebte er in Charaktere. Wien 1906, S. 196–224. – Rudolf Bregenz. Politisch entwickelte er sich zum Humborg: A. M. Diss. Münster/Erfurt 1911. – Karl Anhänger konservativer u. nationalistisch- Oskar Beckmann: A. M.s Reifejahre. Diss. Wien 1931. – Max Brod: Der Prager Kreis. Ffm. 1979, preuß. Vorstellungen. Seit den 1850er Jahren bes. S. 29–37. – Wolfgang Häusler: A. M. Ein schrieb er zahlreiche Romane u. Erzählun- österr. Dichter zwischen Revolution u. Reaktion. gen, bei denen er sich in einem bis heute nicht In: Jb. des Instituts für dt. Gesch. 9 (1980), ganz geklärten Maße von Franz Hedrich S. 139–185. – Heinz Arnold: A. M.s ›Ziska‹-Gehelfen ließ. Als dieser M. erpresste u. seine sänge. In: Lenau-Jb. 25 (1999), S. 163–179. – Mitarbeit bekannt machte, kam es zu einem Wolfgang Häusler: Ein deutschböhm. Dichter öffentl. Streit u. literar. Skandal. M. starb an zwischen Sozialismus u. Nationalismus. In: Radikalismus, demokrat. Strömungen u. die Moderne den Folgen eines Selbstmordversuchs. In seiner Lyrik rief M., wie sein Vorbild in der österr. Lit. Hg. Jan Dvorák. Ffm. 2003, Lenau, weltschmerzlich-elegisch wie auch S. 123–140. – Hélène Leclerc: ›Ob deutsch, ob böhmisch endlich siegen soll‹. Dilemme et contrakämpferisch-pathetisch zum Freiheitskampf dictions chez A. M. à la veille de 1848. In: Le auf. Stärker als andere Vormärzdichter be- déchirement. Hg. Françoise Knopper. Paris 2006, fasste er sich auch mit sozialen Problemen. S. 109–129. Hartmut Steinecke / Red. Vor u. unmittelbar nach der Revolution verschärften sich seine polit. Stellungnahmen, so in dem an Heine geschulten satir. Versepos Meißner, August Gottlieb, * 4.11.1753 Der Sohn des Atta Troll. Ein Winternachtstraum Bautzen, † 20.2.1807 Fulda. – Unterhal(Lpz. 1850). Während die späteren Gedichte tungsschriftsteller, Übersetzer, Professor u. die Dramen wenig bemerkenswert sind, der Ästhetik. verlagerte sich M.s literar. Produktion immer stärker auf die Prosa. Seinen polit. Weg vom Wie kaum ein anderer Autor der Goethezeit Radikalen über den Liberalen zum Konser- brachte M. hervor, »Was die Deutschen lasen, vativen spiegeln die umfangreichen Zeit- u. während ihre Klassiker schrieben«. Mit dieGesellschaftsgemälde, in denen äußere sem ironischen Titel versuchte Walter BenjaSpannungsmomente u. Kolportagezüge im- min 1932 die heute vergessene Bestsellermer stärker hervortreten. Weit bedeutender kultur um 1800 zu erfassen. Doch schon im ist seine späte Autobiografie Geschichte meines »Almanach der Bellettristen und BellettrisLebens (2 Bde., Wien/Teschen 1884), die bes. tinnen für’s Jahr 1782« (Neudr. 2005) spöttelt in den Abschnitten über den Vormärz u. die Friedrich Schulz über diesen »LieblingsRevolutionszeit eine histor. u. literar. Quelle schriftsteller unsrer Nation«, der »überal mit von Rang darstellt. Beifal und Vergnügen gelesen« werde; u. Weitere Werke: Im Jahr des Heils 1848. Lpz. selbst Schiller muss einräumen, dass er seine 1848 (Versep.). – Das Weib des Urias. Lpz. 1851 eigenen Zeitschriften ohne so »interessante (Trag.). – Der Frhr. v. Hostiwin. 2 Bde., Lpz. 1855. Nahmen« wie M., mit ihren pikanten u. biErw. u. d. T. Die Sansara. 4 Bde., 1858 (R.). – Der zarren Geschichten, nicht würde halten könPfarrer v. Grafenried. 2 Tle., Hbg. 1855. U. d. T. nen. Zwischen Fürst u. Volk. 3 Bde., Lpz. 1861 (R.). – M. stammte aus dem gebildeten BürgerSeltsame Gesch.n. Prag/Hbg. 1859. – Schwarzgelb. tum in der Oberlausitz, seine Großväter wa8 Bde., Bln. 1862–64 (R.). – Novellen. 2 Bde., Lpz. ren Arzt u. Advokat, der Vater Ratskämmerer 1865. – Unterwegs. Reisebilder. Lpz. 1867. – Auf u. u. Senator in Bautzen. Nach dessen frühem nieder. 3 Bde., Bln. 1880 (R.). Tod im Jahr 1761 ging er mit seiner Mutter Ausgaben: Ges. Schr.en. 18 Bde., Lpz. 1871–73. – Mosaik. Eine Nachlese zu den Ges. Werken. 2 nach Löbau (bei Dresden), besuchte hier das Bde., Bln. 1886. – Briefe: Briefe aus dem Vormärz. Gymnasium (1765–1772) u. studierte anEine Slg. aus dem Nachl. Moritz Hartmanns. Hg. schließend Philosophie u. Jurisprudenz in Wittenberg (1773) u. Leipzig (1774/75). Dort Otto Wittner. Prag 1911. galt er als Lieblingsschüler des »philosophischen Arztes« Ernst Platner, dessen Anthro-
Meißner
pologie er später in psycholog. Kriminalgeschichten anwandte u. von dessen Vorlesungen zur Ästhetik er für die eigene Professur in Prag (1785–1805) profitierte. Dieser Stelle ging ein Posten als Kanzlist u. Registrator in Dresden (1776–1785) sowie die Ehe mit Johanna Christiana Elisabeth Becker (Heirat 1783, vier Kinder) voraus; im Anschluss an die Prager Zeit zog M. als Konsistorialrat u. Lyzeumsdirektor nach Fulda (1805–1807). In Leipzig pflegte M. näheren Umgang mit seinem späteren Verleger Johann Gottfried Dyck sowie den Schriftstellern Johann Karl Wezel, mit dem er 1779 durch Norddeutschland reiste, u. Johann Jakob Engel, der ihn zum Schreiben ermutigte u. dem er Werke widmete. Die produktive schriftstellerische Laufbahn – M.s Sämtliche Werke umfassen 36 Bände (1811/12) – begann mit verstreuten Gedichten (SW, Bd. 5) u. Bearbeitungen französischer Singspiele, wiederholt für die Truppe Abel Seylers. Dazu gehören u. a. Das Grab des Mufti (Lpz. 1776) nach Fenouillot de Falbaire, Der Alchymist (Lpz. 1777) sowie Die gegenseitige Probe (Lpz. 1777) nach Marc Antoine Le Grand, oder Arsene (Lpz. 1777) nach Charles Simon Favart. Hinzu kommen u. a. Übertragungen für Dramensammlungen wie Destouches für Deutsche (Lpz. 1779) oder Molière für Deutsche (Lpz. 1780), beide mit Christlob Mylius. M. übersetzte oder adaptierte aber auch aus dem Lateinischen (Livius und Sallust; SW, Bd. 33 u. 35), Italienischen (Bianca Capello nach Giulio Roberto Sanseverino, Lpz. 1798; SW, Bd. 20/21) u. Englischen, etwa die Geschichte Englands nach David Hume (Lpz. 1777–80; SW, Bd. 31/32), Kriminalgeschichten Henry Fieldings (SW, Bd. 16) oder Der unsichtbare Kundschafter nach Eliza Fowler Haywood (Bln. 1791–94; SW, Bd. 23/24). Diese Übertragungen haben M. so wenig über seine Zeit hinaus bekannt gemacht wie eigene Schauspiele (u. a. Johann von Schwaben. Lpz. 1780. Der Schachspieler. Lpz. 1782), Romane (Die Geschichte der Familie Frink. Lpz. 1779. Alcibiades. Lpz. 1781–88), Fabeln (SW, Bd. 6) oder Geschichtswerke u. Biografien (Masaniello. Lpz. 1784. Spartacus. Bln. 1792. Epaminondas. Prag 1798. Leben des Julius Caesar. Bln. 1799). Den großen Durchbruch brachten
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die Sammlungen von Erzählungen und Dialogen (Lpz. 1781–89) sowie Skizzen (Lpz. 1778–96), worauf sich der legendäre Ruf vom »SkizzenMeißner« als dem Verfasser von rd. 175 Prosatexten gründet. M. setzt damit die Tradition barocker Buntbücher u. Fallsammlungen fort (z.B. Happels, Harsdörffers), die moralische u. belehrende Erzählungen, kuriose histor. Ereignisse u. Rechtsfälle, Geistergeschichten u. Anekdoten enthalten. Bes. die Kriminalgeschichten, die M. als neues literar. Genre mit begründet hat, zeigen das Changieren zwischen Dokumentation u. Fiktion: Einige etwa von seinem Freund Engel zugesandte Fälle, deren Faktengehalt aus Parallelquellen ersichtlich ist, veränderte er im Erzählprozess zur Erhöhung der Stimmigkeit u. Spannung. Als Rechtsreformer zielte M. mit solchen Texten, die Karl Philipp Moritz als wichtige Quellen seiner Erfahrungsseelenkunde schätzte, v. a. auf eine Ergänzung des jurist. Urteils durch einen kriminalpsycholog. »Blick ins Innerste des Herzens« (Vorrede, Skizzen, Slg. 13). Sie waren höchst erfolgreich u. erschienen erneut als Supplement zu den drei Auflagen der Skizzen (Slg. 13/14, Lpz. 1796) sowie als Raubdruck u. d. T. Kriminal Geschichten (Wien 1796. Nachdr. mit Nachw. v. Hans-Friedrich Foltin. Hildesh. 1977). Neben dieser literarhistorisch innovativen Leistung hebt die Forschung gegenwärtig M. Beitrag zur Ästhetik hervor; seine Vorlesungen kann man anhand von Nachschriften von Studenten rekonstruieren. Ausgaben: Sämmtl. Werke. Hg. Franz Kuffner. 36 Bde., Wien 1811/12 (mit Kurzbiogr. u. Werkchronologie, Bd. 36). – Ausgew. Kriminalgesch.n. Mit Nachw. v. Alexander Kosˇ enina. St. Ingbert 2003. Literatur: Franz Schnorr v. Carolsfeld: A. G. M. In: ADB. – Rudolf Fürst: A. G. M. [...]. Stgt. 1894. – Goedeke 4/1. – Hertha Braune: A. G. M.s histor. Romane. Diss. Lpz. 1925. – Walter Weber: A. G. M. In: NDB. – Kosch. – Tomásˇ Hlobil: Der Begriff Rührung in den Vorlesungen über Ästhetik u. Poetik v. A. G. M. (Im Hinblick auf die dt. Ästhetik der Aufklärung). In: Estetika 41 (2005), S. 153–178. – Gunhild Berg: Der Prozeß der ›anthropologischen Zwänge‹ (Michel Foucault): Jurist., moral. u. psychol. Verhandlungen am Beispiel der spätaufklärer. Kriminalerzählungen A. G. M.s. In: Sexua-
137 lität – Recht – Leben. Hg. Maximilian Bergengruen. Paderb. 2005, S. 195–216. – Jürgen Weitzel: A. G. M. – der Mann u. seine Kriminalgesch.n. In: IASL 31 (2006), S. 131–141. – Alexander Kosˇ enina: Schiller u. die Tradition der (kriminal)psycholog. Fallgesch. bei Goethe, M., Moritz u. Spieß. In: Friedrich Schiller u. Europa. Hg. Alice Stasˇková. Heidelb. 2007, S. 119–139. – Hubert Göbels: A. G. M. In: LKJL 2. Alexander Kosˇ enina
Meißner Weltentdeckung. Nach alten Dokumenten neu erzählt. 13 Bde., Stgt. 1966 ff. – Es war mir nie zu weit. Abenteuer u. Reisen in aller Welt. Mchn. 1972. – Straßburg o Straßburg. Eine Familiengesch. Esslingen u. a. 1986. – In stürm. Zeit. Als Diplomat in London, Tokio, Moskau, Mailand. Esslingen u. a. 1990. – Himalaya. Reisen durch Nepal, Bhutan, Tibet, Sikkim u. Ladakh. Mchn. 1991. Literatur: Siegfried Augustin: H. M. In: Lexikon der Reise- u. Abenteuerlit. Hg. Friedrich Schegk. Meitingen 1988 ff. Hartmut Dietz / Red.
Meissner, Hans-Otto, * 4.6.1909 Straßburg, † 8.9.1992 Unterwössen/Oberbayern. – Verfasser von Sach- u. Reisebü- Meißner, Leopold Florian, * 10.6.1835 Wien, † 29.4.1895 Wien. – Erzähler, Drachern. matiker.
Der Sohn Otto Meissners, 1920–1945 Leiter der Reichspräsidialkanzlei, trat 1934, nach M. schlug eine Laufbahn als Kanzleiaspirant dem Jurastudium u. a. in Heidelberg u. bei der Polizeidirektion Wien ein u. war auch Cambridge, in den diplomat. Dienst ein, der nach nebenher betriebenem Jurastudium u. ihn in den Jahren 1935–1945 nach London, der Gründung einer eigenen Anwaltskanzlei Tokio, Moskau u. Mailand führte. Er lebt seit als unentgeltl. Rechtskonsulent für die Wie1950 als freier Schriftsteller meist in Mün- ner Sicherheitswache tätig. Die Erfahrungen aus diesem Bereich verarbeitete er in seiner chen. Um das Problem der Macht kreisen meh- Erzählsammlung Aus den Papieren eines Polirere Bücher M.s, u. a., auf Kenntnissen des zeikommissärs (5 Bde., Lpz. 1892–94). In proVaters beruhend, Die Machtergreifung. Ein Be- tokollarischem, authentisch wirkendem Stil richt über die Technik des nationalsozialistischen vermittelt M. ein umfassendes Sittenbild der Staatsstreichs (zus. mit Harry Wilde. Stgt. Wiener Gesellschaft vor der Jahrhundert1958. U. d. T. 30. Januar 1933. Hitlers Machter- wende. Populär wurde Wilhelm Kinzls Bearbeitung der Erzählung Evangelimann (in greifung. Mchn. 1983. 2002). M. ist mit über 60 Büchern der wohl er- Bd. 1, S. 45–56) zu einer Oper. Seine Vielseifolgreichste dt. Reiseschriftsteller der Nach- tigkeit stellte M. auch als Lokalpolitiker u. kriegszeit. Mehrere seiner Berichte führen zu Redakteur der »Deutschen Zeitung« u. des den Grenzen der bewohnten Welt, so Im »Neuen Wiener Tagblatts« unter Beweis. In Zauber des Nordlichts. Reisen und Abenteuer am seinen postum von seiner Frau, der SchriftPolarkreis (Mchn. 1972) u. Der kalte Süden. stellerin Franziska Meißner-Diemer, heraus12000 Seemeilen durch antarktische Gewässer gegebenen Weihnachtsspielen (Wien 1896) ver(Mchn. 1982). Trotz aller Faszination durch arbeitete er histor. Stoffe zu erbaulichen, exot. Natur bleibt die – gelegentlich ironische frommen Festspielen. Gerald Leitner / Red. – Distanz des Westeuropäers zu fremden Kulturen spürbar. Subjektive Impressionen treten meist hinter anekdotisch aufbereitete Meißner, Tobias O(liver), * 4.8.1967 Oberndorf/Neckar. – Romancier. histor. u. ethnolog. Informationen zurück. Weitere Werke: Völker, Länder u. Regenten. Zuerst u. d. T. So schnell schlägt Deutschlands Herz / So schnell dreht sich die Welt. Beide Gießen 1951 (Autobiogr.). – Gefährtin des Teufels. Hbg. 1952. U. d. T. Magda Goebbels. Ein Lebensbild. Mchn. 1978. – Der Fall Sorge. Roman nach Tatsachen. Mchn. 1955. – Bezaubernde Wildnis. Stgt. 1963. Neuausg. Mchn. 1983. 1989. – Atlanta. Duell in der Wildnis. Mchn. 1964 (R.). – Die Abenteuer der
Der in Berlin aufgewachsene M. studierte Publizistik u. Theaterwissenschaften, war als Journalist tätig u. ist seit 1997 wechselweise Fabrikarbeiter u. freier Schriftsteller. In seinen Arbeiten nutzt er Gattungsmuster der Populärkultur (Fantasy, Cyperpunk, ScienceFiction), des Populärfilms (Italowestern, Blaxploitation, Eastern) u. der Netzkultur
Meister Altswert
zur Behandlung komplexer Themen, insbes. Gewalt, Paranoia, Moral. Der erste Roman Starfish Rules (Hbg. 1997) steht in der Tradition der amerikan. Beatnick- bzw. Undergroundliteratur u. des postmodernism, verbindet Themen der pulp fiction mit einem Schreibansatz, der unterschiedl. Sprachebenen sowie experimentelle Typographie u. Buchgestaltung einsetzt. HalbEngel (Hbg. 1999) handelt im Milieu der Popmusik u. widmet sich dem Musiker Scott Walker (Pseud. von Scott Engel), der im Kontext der Unterhaltungsindustrie als radikaler Künstler arbeitet. Todestag (Ffm. 2000) enthält das Verhör eines geständigen Verdächtigen, der nach einem erfolgreichen Attentat auf den dt. Bundeskanzler seine Motive aufdeckt. Neverwake (Ffm. 2000) ist ein Cyberpunk-Roman, der das Konzept der Virtualität reflektiert u. die Medienspezialkultur der Computerspieler u. Hacker in der nahen Zukunft imaginiert. Das Paradies der Schwerter. Eine Geschichte über Kampf, Zufall und das Gegenteil von Nichts (Ffm. 2004) erzählt nach dem Vorbild von Computerspielen ein Turnier, dessen Ergebnisse durch Würfel ermittelt wurde, dessen Handlungsfolge aleatorisch ist, ad hoc motiviert werden musste. Als Hauptwerk versteht M. seine die Konzeption des Debüts fortführende, groß angelegte u. kühn konzipierte Romanserie Hiobs Spiel (bisher Frauenmörder. Ffm. 2002; Traumtänzer. Ffm. 2006), die den gleichnamigen Stoff aufgreift. Die Hauptfigur Hiob Montag spielt in einzelnen Episoden um Bestand oder Untergang der Menschheit. Die Spielsituation ist wie ein Computerspiel gestaltet, die Seite des Bösen präsentiert sich als synkretist. Bricolage traditioneller bibl. Motive u. moderner unterhaltungskultureller Mustern der Lovecraft-Rezeption. Seit 2005 erscheint die auf zwölf Bände angelegte Fantasy-Serie Im Zeichen des Mammuts. M. will »romantizistisch-tolkienistischen Kitsch« der Gattung vermeiden u. eine »realistische, schmutzige« (Meißner) Fantasiewelt gestalten, in der psychologisch plausible Figuren agieren, die mit politisch-gesellschaftl. Fragen wie Problemen der Umweltverschmutzung, des Machtmissbrauchs konfrontiert sind.
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In Zusammenarbeit mit dem Zeichner Reinhard Kleist hat M. die Comic-Reihe Berlinoir geschrieben (bisher Scherbenmund. Wuppertal 2003; ›Mord!‹ Wuppertal 2004). Weitere Werke: Wir waren Space Invaders. Gesch.n vom Computerspielen. Ffm. 2002 (zus. mit Mathias Mertens). – Die dunkle Quelle. Im Zeichen des Mammuts 1. Mchn. 2005. – Die letzten Worte des Wolfs. Im Zeichen des Mammuts 2. Mchn. 2006. – Das vergessene Zepter. Im Zeichen des Mammuts 3. Mchn. 2006. – Brücke der brennenden Blumen. Im Zeichen des Mammuts 4. Mchn. 2007. – Ladezeit. Andere Texte über Computerspiele. Gött. 2008 (zus. mit M. Mertens u. a.). – Die Dämonen. Mchn. u. a. 2008. – Der Mann, der nicht geboren wurde. Im Zeichen des Mammuts 5. Mchn. 2009. – Herausgeber: Romeo u. Julia in Neukölln. Bln. 2002 (zus. mit Markus Steffens u. Antje Haferkamp). Literatur: Mathias Mertens (Hg.): ›Gott ist tot, u. es wäre doch schön, wenn jemand einen Plan hätte‹. Zu T. O. M.s ›Starfish rules‹. Hann. 1998. – Ulrich Rüdenauer: T. O. M. In: LGL. – Christian Kortmann: Die aus dem Nichts kommende Stimme. Zur Ästhetik des literar. Debüts in der Mediengesellsch. Würzb. 2006. Hans-Edwin Friedrich
Meister Altswert ! Altswert, Meister Meister des Lehrgesprächs ! Hiltalingen, Johannes Meister Eckhart ! Eckhart, Meister Meister Ingold ! Ingold, Meister Meister Stolle ! Stolle Meister, Ernst, * 3.9.1911 Hagen-Haspe, † 15.6.1979 Hagen; (Ehren-)Grabstätte: ebd., Friedhof Hagen-Delstern. – Lyriker, Prosa- u. Hörspielautor, Dramatiker. M.s Werk beschäftigt sich intensiv mit der Frage nach der »kosmischen Preisgegebenheit« des Individuums (Fragment 10.3.1971, in Prosa). Als Sohn eines Hagener Fabrikanten widmete er sich 1930 auf dessen Wunsch dem Studium der evang. Theologie, wechselte dann aber zu Philosophie, Germanistik u. Kunstgeschichte in Marburg, Berlin, Frankfurt/M. u. Heidelberg. Er war Schüler von
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Löwith u. Gadamer. Klaus Mann würdigte sein »ganz starkes lyrisches Talent«, als 1932 Ausstellung (Marburg. Neudr. Aachen 1985) erschien, der erste Gedichtband. M. meinte rückblickend über den Band: »Er hatte mit Bildlichem nichts zu tun, sondern meinte das Zeigen von Existenz.« Bereits früh hatte M. Erschöpfungszustände u. gesundheitl. Probleme. Das Studium wurde nach dem Krieg fortgesetzt, ein Dissertationsprojekt über die Schiffs- u. Flutmotivik bei Nietzsche scheiterte in den 1950er Jahren. Mit Else Koch, die er 1935 heiratete, bekam er vier Kinder. Von 1939 bis 1960 war er Angestellter in der väterl. Firma, 1940–1945 war er als Soldat in Russland, Frankreich u. Italien. Sechs Privatdrucke (Mitteilungen für Freunde. Aachen 2000) erschienen 1946/47. Ab 1962 veröffentlichte M. im Luchterhand Verlag, davor in der Eremiten-Presse, bei Limes u. Walltor. Zwischen 1953 u. 1979 erschienen 13 Gedichtbände, außerdem Auswahlbände, bibliophile Ausgaben u. eine Erzählung; zwei Dramen wurden aufgeführt. Im Zeitraum 1963–1975 wurden 13 Hörspiele gesendet. Überdies war M. ein begabter Maler, der u. a. in Séguret (Provence) produktiv war. Längere Aufenthalte erlebte er auch auf Ibiza u. in den Niederlanden. M.s Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet: Annette-von-DrosteHülshoff-Preis (1957), Literaturpreis der Stadt Hagen (1962), Großer Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen (1963), Petrarca Preis (1976), Rilke-Preis (1977) u. GeorgBüchner-Preis (1979). M. war ab 1975 Mitgl. des Internationalen PEN-Clubs u. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Seit 1981 gibt es den Ernst-Meister-Preis für Lyrik. M. verstand sich als philosophierenden Dichter, der den Leser einlud, über die »Existenz im Totum« mitzudenken: »Im Nichts hausen die Fragen« hieß es bereits 1932. Seine Lyrik weist Wirklichkeitsreferenzen auf, konzentriert sich aber hauptsächlich auf existentielle Fragen. M. war der Moderne verpflichtet, las intensiv u. a. die frz. Symbolisten u. Lyriker wie Rilke, Benn, Eich u. Celan, immer wieder aber auch Jean Paul, Novalis, Goethe u. Hölderlin. Philosophisch interessierten ihn vornehmlich die Vorsokra-
Meister
tiker, Montaigne, Pascal, die frz. Moralisten, Nietzsche, Schopenhauer, Heidegger, aber auch Lao Tse. Die Spuren dieser Traditionen sind aber in seinem Werk selten genau zu bestimmen, M. verwendete sie produktiv für seine Zwecke. Seine Lyrik weist sprachspielerisches Interesse auf, aber sogar aus einigen marginal publizierten Nonsense-Gedichten (»das Leben ist länglich, (/) dachte ich kürzlich«) geht erkenntnistheoretisches Interesse hervor. Post-surrealistische Metaphorik u. christl. Motivik streift M. in den 1950er Jahren ab. »Zeit zu denken«, wie es 1964 in einem Gedicht in der Abteilung Neue Gedichte heißt (Gedichte 1932–1964. Neuwied/Bln. 1964), macht M. sich zunehmend zur Aufgabe; jegliche Anschauung führt zu lyr. Reflexion über den »Zeitspalt«, das Dasein zwischen zwei Ewigkeiten (inspiriert von Pascal). M.s »meditative Lyrik« sei auf die Zusammenführung von »Bild und Gedanke« konzentriert, sie zeichne sich durch die Suche des Sinns »im Sinnenhaften« aus (Wallmann 1985). Bes. das Spätwerk ist todesbezogen, wobei M. zu der Erkenntnis kommt, dass der Mensch sich nur auf dem »Stern des Möglichen« (Zeichen um Zeichen. Neuwied u. a. 1968. Aachen 1999) behaupten kann: »Das dir zugesagte (/) Nichtsein wischt (/) alles Gedachte (/) weg. (//) Das Denken krümmt sich (/) im Wissen darum (/) und ist doch genötigt, (/) Welt zu verstehn.« (Wandloser Raum. Darmst. u. a. 1979. Aachen 1996). M. wurde oft Sperrigkeit vorgeworfen, breite Anerkennung erfolgte erst im letzten Lebensjahrzehnt. Zwar wurden ab 1985 Lyrisches u. Hörspiele vom Rimbaud Verlag nachgedruckt u. ein Band mit nachgelassenen Gedichten veröffentlicht, das Desiderat einer wissenschaftlichen Werkausgabe jedoch, die den vollständigen Nachlass erschließt, blieb. Eine textkritisch fundierte Studienausgabe wird im Wallstein Verlag vorbereitet. So könnte realisiert werden, was M. 1968 ironisch seiner Lektorin Elisabeth Borchers schrieb: »Ich bin eben der bekanntesten einer, ab dem Jahre 2000«. Weitere Werke: Lyrik: Unterm schwarzen Schafspelz. Ffm. 1953. Aachen 1986. – Dem Spiegelkabinett gegenüber. Stierstadt/Ts. 1954. Aachen
Meister 1986. – Der Südwind sagte zu mir. Stierstadt/Ts. 1955. Aachen 1986. – ... u. Ararat. Wiesb. 1956. Aachen 1987. – Fermate. Stierstadt/Ts. 1957. Aachen 1986. – Pythiusa. Stierstadt/Ts. 1958. Aachen 1987. – Zahlen u. Figuren. Wiesb. 1958. Aachen 1987. – Lichtes Labyrinth. Gießen 1959. Aachen 1987. – Die Formel u. die Stätte. Wiesb. 1960. Aachen 1987. – Flut u. Stein. Neuwied/Bln. 1962. Aachen 1988. – Es kam die Nachricht. Neuwied/ Bln. 1970. Aachen 1990. – Sage vom Ganzen den Satz. Darmst./Neuwied 1972. Aachen 1996. – Im Zeitspalt. Darmst./Neuwied 1976. Aachen 1994. – Ausgew. Gedichte 1932–76/79. Darmst./Neuwied 1977/79. – Der Gang u. andere Gedichte aus dem Nachl. Mchn. 1992. – Anderer Aufenthalt. Verstreut veröffentlichte Gedichte 1951–64. Aachen 1997. – Schatten. Verstreut veröffentlichte Gedichte 1965–79. Aachen 1998. – Gedichte aus dem Nachl. Aachen 1999. – Aus dem Zeitlied eines Kindes. Aachen 2007. – Prosa: Der Bluthänfling. Münster/Bielef. 1959. – Prosa 1931–79. Hg. Andreas Lohr-Jasperneite. Heidelb. 1989. – Hörspiele (gesendet): Schieferfarbene Wasser (1963). – Winterfabel (1965). – Das Glück (1966). – Die Sterblichen (1967). – Die Botschaft (1970). – Apologie des Zweifels (1971). – Hermann u. Alice oder Mühle spielen (1971). – Mut der Raupen (1972). – Die Reisenden (1972). – Das Souvenir (1973). – Unser Vater, der Seemaler (1973). – Das Schloß (1973). – ... u. aufwecken wollte ich ihn nicht (1975). – Ausgaben: Schieferfarbene Wasser. Aachen 1990 (3 Hörsp.e). – Apologie des Zweifels. Aachen 1994 (3 Hörsp.e). – Das Schloß. Aachen 2008 (7 Hörsp.e). – Theaterstücke: Verächter der Armen (1948). – Ein Haus für meine Kinder (1966). Literatur: E. M. Hommage, Überlegungen zum Werk, Texte aus dem Nachl. Hg. Helmut Arntzen u. Jürgen P. Wallmann. Münster 1985. – E. M. Mchn. 1987 (text + kritik 96). – Christian Soboth: Todes-Beschwörung. Untersuchungen zum lyr. Werk E. M.s. Ffm. u. a. 1989. – Zeichen um Zeichen. Der Lyriker E. M. als Maler. AK Münster 1990. – E.-M.-Jb. 1ff. (1990/91) – E. M. 1911–79. Leben u. Werk in Texten, Bildern, Dokumenten. Aachen 1991. – Reinhard Kiefer: Text ohne Wörter. Die negative Theologie im lyr. Werk E. M.s. Aachen 1992. – Marc Houben u. Françoise Lartillot: Die Handbibl. E. M.s. Aachen 1995. – Ewout van der Knaap: Das Gespräch der Dichter. E. M.s Hölderlinu. Celan-Lektüre. Ffm. 1996. – Beate Laudenberg: ›Zärtliche Wissenschaft‹. Zur Lyrik E. M.s. Köln u. a. 1996. – Andreas Kautz: Mythos u. Tod im lyr. Werk E. M.s. Aachen 1999. – Karin Herrmann: Poetologie des Erinnerns. E. M.s. lyr. Spätwerk. Gött. 2008. – Stephanie Jordans: Die ›Wahrheit der
140 Bilder‹. Zeit, Raum u. Metapher bei E. M. Würzb. 2009. – E. M. Perspektiven auf Werk, Nachl. u. Textgenese. Ein Materialienbuch. Hg. K. Herrmann u. S. Jordans. Gött. 2009. Ewout van der Knaap
Meister, Johann Gottlieb, * 12.9.1665 Mühlau bei Burgstädt/Sachsen, † 16.5. 1699 Leipzig. – Poetiker u. Epigrammatiker. M. besuchte die Schulen von Glauchau, Chemnitz u. Zittau; hier zählte Christian Weise zu seinen Lehrern. Anschließend studierte er in Leipzig (Deposition im Wintersemester 1677, Immatrikulation im Sommer 1688), wo er u. a. bei Valentin Alberti hörte u. am 27.11.1688 das Bakkalaureat u. am 30.1.1690 den Magistergrad erwarb. 1691 wurde er Konrektor, 1693 Rektor der Leipziger Nikolaischule. M. machte mehrfach hermeneut. Themen zum Gegenstand von Disputationen, so in der Disputatio philosophica de interpretatione verborum (Respondent: Johann Gabriel Mittwoch. Lpz. 1691) u. in zwei pro loco abgehaltenen Disputationen De signis eorumque interpretatione (Lpz. 1692/93). Von seinen weiteren lat. Disputationen – im VD 17 sind acht bibliografisch erfasst – weist die Disputation De epigrammatibus vernaculis (Respondent: Abraham Heinrich Große. Lpz. 1696) auf sein wichtigstes Werk voraus, die erste ausführl. Poetik des Epigramms in dt. Sprache: Unvorgreiffliche Gedancken von teutschen Epigrammatibus (Lpz. 1698). Der ausführl. Vorbericht von dem Esprit der Teutschen wendet sich gegen frz. Zweifel am dt. »esprit« u. kommt nach Widerlegung der verschiedenen Thesen – etwa dass die Körpergröße der Deutschen oder das Klima der nördl. Länder negative Auswirkungen hätten – zum Ergebnis, »daß unter Teutschen so wohl ein bel esprit als bey irgend einem andern Volcke könne gefunden werden«. M. definiert das Epigramm im Einklang mit anderen Theoretikern des 17. Jh. als »eine gebundene Rede / welche in einer deutlichen Kürtze etwas scharffsinniges von einer Person / That oder Sache vorträgt«, u. handelt im Einzelnen von den Voraussetzungen, die ein Epigrammatiker mitbringen muss (»hurtiges
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Naturell«), der Topik als Methode der Auffindung scharfsinniger Argumente sowie von stilistischen u. metr. Fragen. Zahlreiche Beispiele illustrieren die Darlegungen; eine Sammlung eigener Epigramme steht am Schluss. Weitere Werke: De exequiis principum. Präses: J. G. M.; Autor u. Resp.: Heinrich Crusius. Lpz. 1694. Internet-Ed.: ULB Sachsen-Anhalt. – Deliciarum manipulus, das ist: Annehml. u. rare Discurse v. mancherley nützl. u. curiosen Dingen. Dresden/Lpz. 1704 (Übers. v. 11 Traktaten verschiedener Autoren). Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Albert Forbiger: Beiträge zur Gesch. der Nikolaischule in Leipzig. Lpz. 1826, S. 33–35. – Bruno Markwardt: Gesch. der dt. Poetik. Bd. 1, Bln. 3 1964, S. 288–295. – Franz Heiduk: Die Dichter der galanten Lyrik. Bern/Mchn. 1971, S. 90. – Jutta Weisz: Das dt. Epigramm des 17. Jh. Stgt. 1979. – Peter Hess: Epigramm. Stgt. 1989. – DBA. – Thomas Althaus: Epigrammat. Barock. Bln. u. a. 1996. – Sieglinde Adler: Literar. Formen polit. Philosophie. Das Epigramm des 17. u. 18. Jh. Würzb. 1998. Ingeborg Springer-Strand / Red.
Meister, Leonhard, * 2.12.1741 Neftenbach/Kt. Zürich, † 23.10.1811 Kappel/Kt. Zürich. – Schrifsteller, Historiker, Theologe. Als Sohn des Pfarrers von Neftenbach u. der vier Jahre nach M.s Geburt verwitweten Anna Künzlin wurde M. auf den Pfarrberuf vorbereitet. Den Abschluss seiner theolog. Studien zögerte er jedoch mehrfach bis zu seiner Ordination 1764 hinaus, da sein Hauptinteresse der Dichtkunst galt, für die er sich schon früh begeisterte. Mit dem Jugendfreund Christoph Heinrich Müller widmete er sich einer ausschweifenden Lektüre u. a. von Spinoza, Jakob Böhme u. de La Mettrie. Zu seinen wichtigsten Lehrern zählten Bodmer, den er in Über Bodmern. Nebst Fragmenten aus seinen Briefen (Zürich 1783) würdigt, Breitinger u. Steinbrüchel. Nach seinem Studium war M. zunächst Privatlehrer u. a. im Haus des Appenzeller Landammanns in Trogen u. später in Zürich, bevor er 1773 zum Prof. für Geografie u. Geschichte an die neu gegründete Kunstschule in Zürich berufen wurde. Seiner Liebe zur Literatur sind auch die Beyträge zur
Geschichte der teutschen Sprache und NationalLitteratur (London 1777. Heidelb. 21780) geschuldet. Als Dichter machte M. sich auch in Deutschland durch die Sammlung Romantischer Briefe (Halberst. 1768) früh einen Namen. Der empfindsame Briefroman vereint alle sprachl. Symptome der überhitzten Leidenschaft u. spiegelt das literar. Feld, auf dem auch Goethes Werther wirken konnte. In den sog. »Schwärmerstreit« der 1770er Jahre griff M. mit der viel beachteten Vorlesung Über die Schwermerei (2 Bde., Bern 1775 u. 1777) ein, die ihn als vehementen Gegner von überzogenem Enthusiasmus, Melancholie u. Gefühlsfanatismus zu erkennen gibt, der sich v. a. auf Shaftesbury, Locke, Swift u. Stinstra beruft. Seine kompromisslos spätaufklärerische Kritik an Lavater u. Zinzendorf trug M. in der Folge wiederholt vor, so in den Schriften Über die Einbildungskraft (Bern 1778. 2 1795) u. Helvetische Szenen der neuern Schwärmerey und Intoleranz (Zürich 1785). Dank vertrautem Umgang mit seinem Onkel, dem Theologen Johann Heinrich Meister, u. dessen Sohn Jakob Heinrich Meister, dem Fortsetzer der Grimm’schen Correspondance aus Paris, erwarb M. ausgezeichnete Französischkenntnisse sowie galante frz. Bildung (Der Philosoph für den Spiegeltisch. Lpz. 1796). Dagegen konnte er sich weder als Privatlehrer noch als Professor in Zürich pädagogisch bewähren. In den 1770er Jahren zählte M. zu den »Libellisten« u. geriet doppelt in den gefährl. Ruch der Frivolität u. der polit. Wühlerei. Er verließ das Lehramt u. übernahm 1791 die Pfarrei St. Jakob bei Zürich, 1800–1807 war er Pfarrer in Langnau am Albis, 1808–1811 in Kappel. Sein Amt als Redaktionssekretär des helvet. Direktoriums (1799/1800 in Luzern u. Bern), das er ohne Besoldung ausüben musste, gewährte ihm einzigartige Möglichkeiten zur Einsicht in die schweizerische Tagespolitik (Helvetische Geschichte während der zwei leztern Jahrtausende oder von Caesars bis zu Bonaparte’s Epoche. 4 Bde., St. Gallen, Lpz. 1801, 1809. 21815). M.s Autobiographische Fragmente von 1805 erschienen 1816 im »Schweizerischen Museum«. Darin stellte sich M. selber als einen rast- u. hemmungslosen »Vielschreiber« dar u. übernahm so für sich selbst das Spottwort aus den Xe-
Meisterliederhandschriften
nien »Deinen Namen les’ ich auf zwanzig Schriften, und dennoch | Ist es dein Name nur, Freund, den man in allen vermißt.« Damit entband er die Nachwelt bis heute der Pflicht, seine schriftstellerischen Verdienste zu würdigen u. sein umfangreiches Werk gerecht zu beurteilen. Weitere Werke: Von der Mode. Bern 1769. – Launen der Muße. Bern 1770. – Souvenir auf dem Nachttisch meiner Freundin. Bern 1772. – Beyträge zur Gesch. der Künste u. Gewerbe, der Sitten u. Gebräuche. Zürich 1774. – Sittenlehre der Liebe u. Ehe für meine Freundin. Winterthur 1779. 2., erw. Aufl. 1785. – Kleine Schr.en vermischten Inhalts. Basel 1781. – Berühmte Züricher. 2 Bde., Basel 1782. – Kleine Reisen durch einige SchweitzerCantone: ein Auszug aus zerstreuten Briefen u. Tagregistern. Basel 1782. – Fliegende Blätter größtentheils histor. u. polit. Inhalts. Basel 1783. – Kaiser Rudolph v. Habsburg. Eine Skizze. Nürnb. 1783. – Hauptszenen der Helvetischen Gesch., nach der Zeitordnung gereyhet. 2 Bde., Basel 1783–85. – Gesch. v. Zürich [...] bis zum Ende des XVIten Jh. Zürich 1786. – Grundlinien der holländ. Gesch. v. ihrem Anfang bis auf die jetzige Zeit. Zürich 1787. – Friedrich des Großen wohltätige Rücksicht auch auf Verbesserung teutscher Sprache u. Litteratur. Zürich 1787. – Kurzgefaßte Gesch. der röm. Hierarchie u. ihrer hl. Kriege bis zur Vertilgung der Tempelherren. Zürich 1788. – Schweizerische Spaziergänge. St. Gallen 1789. – Schweizerische Gesch.n u. Erzehlungen. Winterthur 1789. – Kurze Gesch. des frz. Reichstages [...] nebst Neckers Vortrage. Zürich 1789. – Monatsschr. für Helvetiens Töchter. Zürich 1793. – Bibl. Erzählungen [dramatisiert]. Zürich 1794. – Briefe an Freundinnen. Wien 1794. – Histor. geograph.statist. Lexikon der Schweiz. 2 Bde., Ulm 1796. – Lehrmeister über die Verfassung des untheilbaren, helvet. Freistaates. Zürich 1798. – Ueber den Gang der polit. Bewegungen in der Schweiz. Zürich 1798. – Helvet. Revolutionsgesch. seit 1789. Zürich 1798. – Helvet. Blätter für das Bedürfniss der Zeit. St. Gallen 1802. – Der Greis im Frühling. Basel 1802. – Gemälde der Liebe. Basel 1803. – Erzählungen des Greisen am Kamine. Winterthur 1805. – Gesch. des Menschen nach Körper u. Seele: als Vorgesch. der Menschheit. Lpz. 1805. – Launigte Phantasien. Winterthur 1805. – Meisteriana oder über die Welt u. den Menschen, über Kunst, Geschmack u. Litteratur. St. Gallen 1811. – Persönl. Nachl., wiss. Vorarbeiten, Briefw. in der Zentralbibl. Zürich.
142 Literatur: Breitinger: M. In: G. Strickler: Die Familie Meister v. Zürich. Zürich 1919, S. 39–42. – Histor.-Biogr. Lexikon der Schweiz 5. – Sigmund v. Lempicki: Gesch. der dt. Literaturwiss. bis zum Ende des achtzehnten Jh. Gött. 21968, S. 323–325. – Wolfgang Doktor: Die Kritik der Empfindsamkeit. Diss. Bern u. Ffm. 1975, S. 270–277. – Hans-Jürgen Schings: Melancholie u. Aufklärung. Melancholiker u. ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde u. Lit. des 18. Jh. Stgt. 1977, S. 180–189 u. 203–211. – Dieter Martin: Barock um 1800. Ffm. 2000, S. 227 f. – Thorsten Fitzon: Der Greis im Frühling. Schöpferische Toposvariationen in der Lyrik des 18. u. 19. Jh. In: Alterstopoi. Das Wissen v. den Lebensaltern in Lit., Kunst u. Theologie. Hg. ders., Dorothee Elm, Kathrin Liess u. Sandra Linden. Bln./New York 2009, S. 187–220. Barbara Schnetzler / Thorsten Fitzon
Meisterliederhandschriften. – Sammlungen mit Liedern der Meistersinger aus dem 15. bis 18. Jh. Als Meistersinger bezeichnet man Einwohner dt. Städte, die sich vom ausgehenden 14. bis ins 18. Jh. (in Ulm u. Memmingen auch noch bis ins 19. Jh.) zum Zweck des Dichtens u. des Vortrags eines bestimmten Typs von Liedern, den »Meisterliedern«, in »Gesellschaften« oder »Bruderschaften« zusammenschlossen. Meist handelte es sich dabei um Handwerker, vereinzelt auch um Geistliche, Lehrer, Juristen. Die Singveranstaltungen, die »Singschulen«, fanden in Wettbewerbsform statt. Die Lieder hatten religiöse oder weltl. Inhalte, die Texte mussten strengen, in den »Tabulaturen« festgelegten Formvorschriften folgen, deren Einhaltung von den »Merkern« überwacht wurde. Sie waren in vorher festgelegten Strophenformen, den »Tönen«, abgefasst. Die Töne benannte man mit den Namen ihrer Urheber u. dem eigentl. Tonnamen, z.B. Hans Sachs, Rosenton. Die Lieder, die »Bare«, bestanden stets aus einer ungeraden Zahl von Strophen, mindestens drei. Aus dem 15. bis 18. Jh. sind ca. 17.000 Meisterliedtexte erhalten. Überliefert wurden sie auch nach dem Beginn des Druckzeitalters fast ausschließlich handschriftlich, gedruckte Überlieferung spielte nur eine Randrolle – nicht zuletzt auch deshalb, weil durch den Druck verbreitete Lieder seit dem
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16. Jh. bei den Singschulen nicht mehr vorgetragen werden durften. Unter den ca. 150 erhaltenen, teilweise voluminösen Handschriften unterscheidet man zum einen Sammel- u. Autorhandschriften, zum anderen Handschriften ohne u. mit den (grundsätzlich einstimmigen) Melodien. Aus vorreformatorischer Zeit stammende Meisterlieder finden sich überwiegend in Sammelhandschriften, d.h. in Handschriften, die Lieder mehrerer oder zahlreicher, in dieser Epoche (außer in Nürnberg) überwiegend anonym bleibender Autoren enthalten. Hervorgehoben aus dieser Gruppe, die insg. ein Dutzend Handschriften umfasst, seien die älteste M. überhaupt, München, BSB, Cgm 351 (Nürnberg, um 1425), u. die umfangreiche Handschrift Berlin, SB-PK, Mgq 414, in der Hans Sachs 1517/18 seine frühesten Lieder, dazu in großem Umfang Texte anderer Nürnberger Meistersinger (K. Nachtigall, Beckmesser, Eislinger, Folz, Nunnenbeck usw.) sammelte. Melodien zu den Texten überliefern aus vorreformatorischer Zeit einzig die äußerst umfangreiche Kolmarer Liederhandschrift, München, BSB, Cgm 4997 (Mainz oder Speyer, um 1450), u. die mit ihr nahe verwandte Donaueschinger Liederhandschrift (jetzt Karlsruhe, Badische Landesbibl., Cod. Donaueschingen 120; Oberrhein, um 1480/ 90). Autorsammlungen, d.h. Handschriften, die ausschließlich Texte eines einzelnen Autors enthalten, sind zwei Autografe (in Weimar u. München), in denen Hans Folz eigene Lieder zusammenstellte. In nachreformatorischer Zeit wurden vorreformatorische Lieder nur noch in verschwindend geringem Umfang überliefert. Der Meistergesang war nunmehr so gut wie ausschließlich eine Angelegenheit der Lutheraner, geprägt in erster Linie vom Vorbild des Hans Sachs (1494–1576), eines frühen Anhängers der Reformation. Bei den religiösen Liedern dominieren nunmehr Versifikationen von Bibeltexten; durch die weltl. Lieder werden meist die Inhalte historischer u. erzählender Literatur aus Antike, MA u. Gegenwart auf der Basis gedruckter Quellen, vielfach Übersetzungen, vermittelt. Hans Sachs selbst sammelte seine über 4000 Meisterlieder in chronologischer Folge in nicht
Meisterliederhandschriften
weniger als 16 (nicht durchweg erhaltenen) autografen Meistergesangbüchern; er schrieb Auswahlsammlungen seiner Liedtexte auch für andere. Große Sammlungen eigener u. fremder Meisterlieder zum Eigengebrauch erstellten etwa die Nürnberger Georg Hager (1552–1634), der mindestens zwölf Handschriften besaß (fünf sind erhalten), u. Wolf Bauttner (1573–1634), aus dessen Besitz ebenfalls fünf Handschriften erhalten sind, u. der Magdeburger Valentin Voigt (1487/88nach 1558), dessen kalligrafisch gestaltete Prachthandschrift (Jena, UB) auch einen Melodieteil enthält. Eine Summe der um 1580 verwendeten Liedtöne stellt das berühmte, 1588 abgeschlossene, am Ende des Zweiten Weltkriegs verloren gegangene »Singebuch« des Breslauers Adam Puschman (1532–1600) dar, das neben zahlreichen Texten unterschiedlicher Autoren auch über 300 Melodieaufzeichnungen enthielt. Als Lohnschreiber für andere Meistersinger betätigte sich in erhebl. Umfang der Nürnberger Benedict von Watt (1569–1616), dessen zahlreiche Handschriften vielfach auch die Melodien überliefern. Über 300 Melodien, meist ohne Texte, finden sich in um 1700 entstandenen, aus dem Archiv der Nürnberger Meistersinger stammenden kleinformatigen Handschriften (Nürnberg, Stadtbibl., Will III. 792 bis 796). Eine Art Chronik ist das von 1607 bis 1832 geführte »Rote Buch« der Ulmer Meistersinger; in ihm stehen Aufzeichnungen von Belangen u. Beschlüssen der Gesellschaft, Einträge zur Stadtgeschichte in Prosa u. in Reimpaarversen u. Lieder, teilweise mit den Melodien. Stammbuchcharakter hat eine Handschrift der Memminger Meistersinger, die vom Beginn des 17. Jh. bis 1788 geführt wurde. Darin haben verschiedene Singer ihre neu gedichteten Texte, teilweise mit den Melodien, eingetragen, dazu finden sich zahlreiche farbige Illustrationen, die sich auf den jeweiligen Namenspatron, das Handwerk oder den Inhalt des Liedes beziehen. Faksimiles: Die Kolmarer Liederhs. der Bayer. Staatsbibl. München (cgm 4997). Hg. Ulrich Müller, Franz Viktor Spechtler, Horst Brunner. 2 Bde., Göpp. 1976. – Walther v. der Vogelweide. Die gesamte Überlieferung der Texte u. Melodien. Hg. H. Brunner, U. Müller, F. V. Spechtler. Göpp. 1977. –
Meisterlin Die Töne der Meistersinger. Die Hss. der Stadtbibl. Nürnberg Will III. 792 bis 796. Hg. H. Brunner u. Johannes Rettelbach. Göpp. 1980. Literatur: RSM, Bd. 1. Horst Brunner
Meisterlin, Sigismund, * um 1435 Augsburg (?), † um 1500. – Historiograf, Humanist. M. trat um 1450 in das Benediktinerkloster St. Ulrich und Afra ein u. fand bald Kontakt zum Augsburger Humanistenkreis. Auf Anregung seines Förderers Sigismund Gossembrot schrieb er schon 1456 eine lat. Chronik (Chronographia Augustensium. Auszugsweise gedr. bei J. Bämler. Augsb. 1483), in der er die Sage von der trojan. Gründung Augsburgs u. dessen Geschichte während des Römischen Reichs u. des MA behandelt u. die er 1457 in dt. Übersetzung dem Rat der Stadt widmete. 1457 ging M. nach Padua, offiziell zum Studium des kanonischen Rechts, tatsächlich wohl eher, um mit den Freunden Ulrich Gossembrot u. Wilhelm von Reichenau seine Studien der lat. Sprache u. der antiken u. zeitgenöss. Autoren vertiefen zu können. Eine erste Frucht zeigte sich nach seiner Rückkehr 1461/62 in einer durchaus humanistisch geprägten Textkritik, der er, zus. mit Gossembrot, Handschriften der Klassiker unterzog, v. a. aber in der neuerl. Umarbeitung des Prologs zur Chronographia, der nun rhetorisch ausgestalteter erscheint. Mit dem Rückzug Gossembrots in das Straßburger Johanniterkloster 1462 verließ auch M. sein Heimatstift. Über St. Gallen, das elsäss. Kloster Murbach (1463) u. weitere Stationen kam er 1481 an die Pfarre zu Großgründlach bei Nürnberg, wo er, ermutigt durch Hartmann Schedel u. Sebald Schreyer u. finanziell unterstützt durch die Stadt Nürnberg, seine literar. Tätigkeit wieder aufnahm. Nach kleineren Arbeiten für das Augsburger Kloster (Chronicon ecclesiasticum. 1483. Index monasterii SS. Udalrici et Afrae. 1484) u. für den Nürnberger Rat (Legenda Nova St. Sebaldi. 1484) vollendete M. 1488 sein Hauptwerk, die Cronica Nieronbergensis, die er zgl. auch in einer dt. Umarbeitung vorlegte. Das Werk bietet eine vetus Neronberga, in der M. im chronolog. Rahmen der Kaiserreihe,
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wie er mittelalterl. Tradition entspricht, von der vermeintl. Stadtgründung durch Tiberius bis zum Anfang des 15. Jh. schreitet. Eine angekündigte moderna Neronberga, die nach humanist. Muster das Stadtbild hätte beschreiben sollen, wurde nicht ausgeführt. Breiten Raum nimmt die Darstellung des misslungenen Zunftaufruhrs von 1348 ein, an der bes. gut die von M. intendierte polit. Tendenz der Chronik zu erkennen ist. Ziel ist die Legitimation der patriz. Stadtherrschaft u. der Freiheit der Stadt gegenüber Reich u. Burggrafschaft. Diesem Zweck ordnet M. die Auswahl u. Anordnung seiner exzerptartig verarbeiteten Quellen unter, wobei er nun auf einen reichen Fundus 30-jähriger Sammeltätigkeit zurückgreifen kann. Neben den antiken u. mittelalterlichen Geschichtsschreibern kennt er jetzt auch die Werke der Zeitgenossen Flavio Biondo, Jacobus Bergomas u. Enea Silvio Piccolomini; dazu verwendet er die Chroniken der umliegenden Klöster. In dem ausgeprägten antiquarischen Interesse u. dem Versuch einer individuelleren Zeichnung der Geschehnisse erschöpft sich allerdings der humanist. Aspekt seines Werks, eine Quellenkritik im eigentl. Sinne kennt M. nicht. Vielleicht deswegen ist er von der zeitgenössischen humanist. Geschichtsschreibung nicht rezipiert worden; wohl aber hat die populäre Nürnberger Chronistik der folgenden Jahrhunderte ihn ausgeschrieben. Ausgaben: Johannes Pistorius (Hg.): Rerum Germanicarum [...] Scriptores VI. Ffm. 1607, S. 589–614 (›Chronicon ecclesiasticum‹). – Placidus Braun: Notitia historico-litteraria de codicibus. Tl. 3, Augsb. 1793, S. 54–70 (Auszug der ›Chronographia Augustensium‹), 42–52 (Auszug des ›Index monasterii‹). – Die Chroniken der dt. Städte. Bd. 3: Nürnb./Lpz. 1864, S. 32–178, 184–256 (dt. u. lat. Fassung der ›Nieronbergensis cronica‹). – Paul Joachimsohn: Die humanist. Geschichtsschreibung in Dtschld. H. 1: Die Anfänge. S. M. Bonn 1895, S. 254–279 (Korrespondenz), 303–324 (›Legenda sancti Sebaldi‹). Neudr. in: Ders.: Ges. Aufsätze. Hg. Notker Hammerstein. Bd. 2, Aalen 1983, S. 121–461. – Hans Gröchenig (Hg.): S. M.: ›Cronographia Augustensium. Chronik der Augspurger‹. Nach der Hs. 158/4 in St. Paul in Kärnten. Tl. 1: Abb. des dt. Textes; Tl. 2: Transkription des dt. Textes. Klagenf. 1998.
145 Literatur: Paul Joachimsohn, a. a. O. – Brigitte Ristow: Untersuchungen zu S. M.s Widmungsbriefen an Sigismund Gossembrot. In: PBB 85 (1963), S. 206–252. – Arno Borst: Die Sebaldslegenden in der mittelalterl. Gesch. Nürnbergs. In: Jb. für fränk. Landesforsch. 26 (1966), S. 19–177. – Katharina Colberg: M. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Norbert H. Ott: Zum Ausstattungsanspruch illustrierter Städtechroniken. S. M. u. die Schweizer Chronistik als Beispiel. In: Poesis et pictura. FS Dieter Wuttke. Hg. Stephan Füssel u. Joachim Knape. Baden-Baden 1989, S. 77–106. – Ders.: Von der Hs. zum Druck u. retour. S. M.s Chronik der Stadt Augsburg in der Hss.- u. DruckIllustration. In: Augsburg, die Bilderfabrik Europas. Hg. John Roger Paas. Augsb. 2001, S. 21–29. – Gernot Michael Müller: ›Quod non sit honor Augustensibus si dicantur a Teucris ducere originem‹. Humanist. Aspekte in der ›Cronographia Augustensium‹ des S. M. In: Humanismus u. Renaissance in Augsburg. Hg. ders. Bln./New York 2010, S. 237–273. – Harald Müller: Der Beitr. der Mönche zum Humanismus im spätmittelalterl. Augsburg. S. M. u. Veit Bild im Vergleich. Ebd., S. 389–406. Frank Fürbeth / Red.
Melanchthon, Philipp, eigentlich: P. Schwartzerdt, * 16.2.1497 Bretten/Kurpfalz (heute: Kreis Karlsruhe), † 19.4. 1560 Wittenberg; Grabstätte: ebd., Schlosskirche. – Humanist u. Reformator; Pädagoge, Philologe, Theologe, Lehrbuchautor, neulateinischer Dichter. Als der 21-Jährige auf den an der Universität Wittenberg neu gestifteten Lehrstuhl für Griechisch berufen wurde, schien sein Leben eine rein humanistisch-akadem. Bahn zu nehmen. Der älteste Sohn des gefragten Waffenschmieds u. kurpfälz. Rüstmeisters Georg Schwartzerdt aus Heidelberg u. der Tochter des Brettener Kaufmanns u. Schultheißen Johann Reuter lernte durch einen Hauslehrer gründlich Latein, bevor er 1508/ 09 an Georg Simlers angesehener Pforzheimer Lateinschule auch Griechisch trieb. Schon hier fand er die Anerkennung seines Verwandten Reuchlin. (Von diesem erhielt er 1509 seinen Humanistennamen, den er nach den Versuchen »Pullisolus« u. »Melas Brettanus« ab 1531 zu »Melanthon« vereinfachte.) In Heidelberg (1509–1512) u. Tübingen (1512–1518) durchlief M. den traditionellen
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Studiengang, wurde 1511 Baccalaureus, 1514 Magister artium u. begann zu lehren. Wichtiger waren ihm die Verbindungen zu Humanisten u. zum Buchdruck. Er las antike u. neuere Dichter. Bei Johann Stöffler studierte er Astronomie. Wegweisend wurde die 1515 erschienene Dialektik Rudolf Agricolas. 1516 wurde M. von Erasmus öffentlich gepriesen, Reuchlin empfahl ihn 1518 dem sächs. Kurfürsten als Professor. In Wittenberg geriet M. ganz unter den Einfluss Luthers. Er studierte Theologie. Die Botschaft von der geschenkten Gnade gab seinem Leben hinfort den dauerhaften Halt. Die gedankl. Durchdringung dieser Erfahrung führte ihn zur systemat. Entfaltung der reformatorischen Theologie. Schon seine Thesen für das theolog. Baccalaureat (9.9.1519) akzentuierten das Schriftprinzip u. die Kritik der Transsubstantiationslehre. Aus der Exegese des Römerbriefs entstand die erste evang. Glaubenslehre, Loci communes rerum theologicarum (1521). Zgl. wurde M. vor organisatorische Aufgaben gestellt, nicht nur an der Universität, wo der scholast. Studiengang zum humanistischreformatorischen umgestaltet werden musste. Während Luthers Aufenthalt auf der Wartburg war M. bemüht, auf die Wittenberger Bewegung mäßigend einzuwirken. Sein Rektorat 1523/24 wurde ein Markstein der Studienreform. Wenig später erhielt M. einen Sonderstatus, der es ihm erlaubte, an der theolog. Fakultät zu wirken, ohne seine umfassende Tätigkeit an der philosophischen aufgeben zu müssen; den Lehrstuhl für Griechisch übernahm einer seiner Schüler. Als Berater bei Schul-, Universitäts- u. Kirchenreformen wurde M. oft nach auswärts berufen, 1525 u. 1526 nach Nürnberg, 1536 nach Tübingen, 1539 nach Leipzig, 1543 zur – vom Kaiser verhinderten – Kölner Reformation nach Bonn, 1547 nach Jena, 1557 nach Heidelberg. Auch nach Hessen, Anhalt, Kurbrandenburg, Mecklenburg, Pommern, Preußen, Dänemark u. Siebenbürgen reichte sein Einfluss. Im Bauernkrieg wurde er in seiner Pfälzer Heimat als Ratgeber benannt; er votierte im Sinne Luthers für Reformen innerhalb der bestehenden Ordnung (MSA 1). Am Aufbau der Landeskirche Kursachsens
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war er maßgeblich beteiligt, exemplarisch als Visitator in Thüringen 1527/28. Dabei schrieb er den Unterricht der Visitatoren, der eine kurze, aber einflussreiche Schulordnung enthält (MSA 1). Da der geächtete Luther das schützende Kursachsen nicht verlassen konnte, wurde M. der wichtigste theolog. Berater der Protestanten auf Reichstagen u. Religionsgesprächen, erstmals in Speyer 1529. In Augsburg 1530 brachte er das bis heute gültige Bekenntnis in die lat. u. dt. Endgestalt u. verfasste dessen Apologie. Seine freundschaftl. Zusammenarbeit mit Luther schloss sachl. Differenzen nicht aus. Im Streit mit Erasmus um die Willensfreiheit bezog M. eine Mittelposition u. schrieb sie in der Confessio Augustana fest. Im Abendmahlsstreit mit den Zwinglianern stand er beim Marburger Religionsgespräch 1529 noch auf Luthers Seite. Dann unterstützte er die Vermittlungsarbeit Bucers u. schuf mit ihm 1536 die von Luther akzeptierte »Wittenberger Konkordie« (MBW 1744). M.s Lehre von der Aktualpräsenz erweist sich heute als ökumenisch tragfähig. Bei den Religionsgesprächen in Worms u. Regensburg 1540/41 erarbeitete er für die Rechtfertigungslehre einen Kompromiss, der damals abgelehnt wurde, aber heute wieder Beachtung findet. Über Priestertum u. Kirche jedoch gab es auch für M. keine Verständigung mit Rom. Nach der Niederlage des Schmalkaldischen Bundes 1547 stellte er sich dem neuen Landesherrn Moritz von Sachsen zur Verfügung u. verhinderte dadurch die Auflösung der Universität Wittenberg. M. gelang es auch, die evang. Lehre in Kursachsen zu bewahren u. das kaiserl. Religionsgesetz (Augsburger Interim) abzuwehren. Doch sein Entgegenkommen in äußeren Formen, die er für gleichgültig (Adiaphora) hielt, brachte ihm viele Angriffe auch ehemaliger Schüler ein. Die damit verbundenen Lehrstreitigkeiten schwächten das Luthertum u. beeinträchtigten seine polit. Handlungsfähigkeit, wie sich auf dem Wormser Religionsgespräch von 1557 in aller Öffentlichkeit zeigte. Gleichwohl erreichte M. im letzten Lebensjahrzehnt den Gipfel seines theologischen u. wiss. Einflusses. Für das Trienter Konzil schrieb er
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1551 die Confessio Saxonica (MSA 6); die Gesandtschaftsreise zum Konzil (1552) musste er freilich wegen des Fürstenkriegs schon in Nürnberg beenden. Die Mecklenburger Kirchenordnung 1552, die Vorbild für andere Territorien wurde, enthält sein theolog. Lehrbuch Examen Ordinandorum, das separat auch dt. u. lat. erschien (MSA 6). Sein theolog. Testament wurden die Responsiones ad impios articulos Bavaricae inquisitionis (1559), eine Auseinandersetzung mit der Gegenreformation (MSA 6). Die enge Zusammenarbeit mit der Universität Leipzig, wo seit 1541 M.s Freund Camerarius wirkte, u. mit der Regierung in Dresden bei der Gestaltung des Bildungswesens in Kursachsen führte ihn auch im Frühjahr 1560 zur Stipendiatenprüfung nach Leipzig. Dabei zog er sich eine Erkältung zu, an der er in seinem Renaissancehaus in Wittenberg starb. Er wurde an der Seite Luthers beigesetzt. M.s literar. Werk ist fast vollständig aus seinem Beruf als Universitätslehrer u. den damit verbundenen kirchl. u. polit. Aufträgen erwachsen. Doch seine erste Publikation, die der 13-Jährige Wimpfelings Gunst verdankte, waren zwei lat. Gedichte. M. hat zeitlebens immer wieder lat. u. auch griech. Gedichte verfasst. Dies gehörte zur akadem. Ausbildung eines Humanisten. M. beherrschte das Handwerk des Versemachens, nicht nur in den beliebten Distichen, sondern auch in anderen klass. Metren. Unter seiner Obhut sind namhafte nlat. Dichter herangewachsen. Er selbst hat sich nicht für einen großen Poeten gehalten. Seine Verse sind Gelegenheitsprodukte u. Zeitvertreib beim Reisen. Doch sie wirken durch die Klarheit der Sprache u. des Gedankens. Verehrer besorgten die Sammelausgaben (CR 10). In einer dt. Nachdichtung steht ein Hymnus M.s noch heute im Evangelischen Gesangbuch. M.s Hauptwerke sind lat. Fachprosa. Die erste bedeutende Publikation des 19-jährigen Tübinger Dozenten ist seine Terenzausgabe mit der gelehrten Einleitung über die antike Komödie (MBW 7), der Erasmus seine Anerkennung zollte; ungezählt sind die Nachdrucke. Aus dem Lehrbetrieb sind seine griechischen (1518 u. 1520) u. lat. (1525) Grammatiken erwachsen, die ebenfalls oft
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nachgedruckt u. z.T. von anderen erweitert, aber auch wieder gekürzt wurden (CR 20. MBW 16, 116, 2362, 3662, 3713). In der Regel hat M. seine Lehrbücher selbst überarbeitet, teilweise neu geschrieben u. mit verändertem Titel publiziert. So begleiteten ihn ihre Themen sein ganzes Leben hindurch. Die Rhetorik von 1519 entstand in Tübingen; sie wurde 1521 u. noch einmal 1531 umgeschrieben (MBW 40, 161, 1183). Hierin vergleicht M. die großen zeitgenöss. Maler Dürer, Cranach u. Grünewald mit den rhetor. Genera (CR 13, S. 504). Die Dialektik folgte 1520, wurde 1528 verändert u. erhielt 1547 ihre Endgestalt (CR 13. MBW 78, 695, 4875). Mit Aristoteles befasste sich M. sein Leben lang. In jugendl. Optimismus wollte er durch eine gemeinsame Anstrengung der dt. Gräzisten eine krit. Edition schaffen. Dies scheiterte nicht nur am Misskredit, in den der Stagirit durch die Reformation zeitweilig geriet, sondern auch an der Schwierigkeit der Aufgabe. Das theolog. Problem der aristotel. Ethik bewältigte M. durch die Unterscheidung von Gesetz u. Evangelium. Ab 1529 publizierte er in immer neuen Fassungen Kommentare zur Nikomachischen Ethik u. zur Politik. Hieraus entstand seine eigene Ethik Philosophiae moralis epitome (1538 u. ö. CR 16. MSA 3. MBW 855, 1236, 1890, 3825). Aus der Beschäftigung mit der aristotel. Physik erwuchs zunächst M.s Anthropologie De anima, die er nach vieljähriger Arbeit im Austausch mit Fachleuten wie Leonhard Fuchs in Tübingen u. Jakob Milichius in Wittenberg 1540 (MBW 2361) u. 1553 als Neubearbeitung herausbrachte (CR 13. MSA 3. MBW 5579, 6627). Sie enthält nicht nur Anatomie u. Physiologie, sondern auch eine christl. Psychologie: Die Seele ist unsterblich, der freie Wille von der Sünde geschwächt. Die Initia doctrinae physicae erschienen 1549 (CR 13. MBW 5641). Paul Eber war der Helfer. M. beginnt mit dem All u. den Himmelskörpern. Dabei lehnt er die Lehre des Kopernikus ab, ohne dessen Namen, der an anderen Stellen respektvoll zitiert wird, zu nennen. Unbeschadet dessen wirkten die Kopernikaner Georg Joachim Rheticus u. Erasmus Reinhold an der Universität Wittenberg u. erfreuten sich M.s Förderung.
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Mit Geschichte befasste sich M. seit seiner Jugend. Der dt. Chronik des Astrologen Johann Carion gab er die Druckreife (1532). In seiner Einleitung entwickelte er die Lehre von den drei Weltaltern nach der Weissagung des Elias. Das Buch wurde in der lat. Übersetzung des Hermann Bonnus ein großer Erfolg. M. jedoch war damit nicht zufrieden. Aus seinen Vorlesungen über Weltgeschichte entstand das Chronicon Carionis latine expositum et auctum (1558 u. 1560), das er nur bis zu Karl dem Großen vollenden konnte (CR 12. MBW 8600, 9269). Die Fortsetzung besorgte sein Schwiegersohn Caspar Peucer (1562–65). Es wurde eines der meistgebrauchten Lehrbücher der Weltgeschichte. Mit bes. Intensität pflegte M. die Gattung der akadem. Rede. 1517 in Tübingen legte er in dieser Form sein Wissenschaftsverständnis dar: De artibus liberalibus (MBW 18). Dem mittelalterl. Fächerkanon fügte er Geschichte und Poesie hinzu. Seine Wittenberger Antrittsrede De corrigendis adulescentiae studiis (MBW 30) propagierte die humanistische Studienreform mit der Einführung des Griechisch-, Hebräisch- u. Geschichtsunterrichts. 1523 konnte er die traditionellen Disputationen, durch die einseitig der log. Scharfsinn geschult wurde, durch Deklamationen (MBW 277) ergänzen, die pflichtgemäß alle zwei Wochen stattzufinden hatten. Er selbst schrieb etwa 180 solcher akadem. Festreden, die zum großen Teil von anderen vorgetragen u. unter deren Namen publiziert wurden. Sammelausgaben erschienen erstmals 1541 in Straßburg (CR 11 f. MSA 3). Die Disputationen wurden darüber nicht vernachlässigt u. erfuhren durch die Universitätsreform von 1533 einen neuen Aufschwung. M.s theologische u. philosoph. Thesenreihen sind geschliffene Komprimate seiner Ideen (CR 12). Überdies verfasste M. zahllose akadem. Gelegenheitsschriften (CR 10), viele Gutachten u. Briefe (MBW), Übersetzungen u. Erklärungen klass. Autoren (CR 16–19) u. nicht zuletzt Bibelkommentare (CR 13–15, 24 f. MSA 4 f.). Auch M.s bedeutendstes Werk, die Loci theologici, mit dem er nicht nur die erste Dogmatik der luth. Reformation, sondern auch eine neue Gattung der Fachliteratur
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geschaffen hat, ist aus der Arbeit am Text hervorgegangen. Zur Laufbahn eines Fachtheologen gehörte es, nicht nur über die Bibel, sondern auch über den Scholastiker Petrus Lombardus Vorlesungen zu halten. M. wollte dessen normative Struktur einer Dogmatik überwinden u. eine schriftgemäße Glaubenslehre darbieten. Er bediente sich dafür der antiken, auch von Erasmus empfohlenen Methode, bei der Lektüre eines Textes die Grundbegriffe, Topoi, Loci communes zu notieren, um sich den Inhalt besser aneignen zu können. Während noch Erasmus eine selbst aufgestellte Liste von Loci communes an die Texte herantrug, forderte M., die Loci u. ihre Gliederung aus den Texten selbst zu erheben. So fand er im Römerbrief die Hauptthemen Sünde, Gesetz, Gnade als Gliederungsprinzip. Doch hat er diesen fruchtbaren hermeneut. Ansatz nicht konsequent durchgehalten. Dreimal schrieb M. sein Hauptwerk um (CR 21 f. MSA 2). Die erste Fassung 1521 (MBW 132) wurde von Spalatin ins Deutsche übersetzt, die zweite 1535 (MBW 1555) von Justus Jonas (MBW 2921). Von der dritten 1544 (MBW 3419) verfasste er 1553 selbst eine dt. Bearbeitung, gewidmet der Frau seines Freundes Camerarius (MBW 6742. CR 22. Heubtartikel Christlicher Lere. Hg. Ralf Jenett u. Johannes Schilling. Lpz. 2002). Übersetzt wurden die Loci auch ins Italienische, Französische, Kroatische u. Holländische. M. war, was wenig beachtet wird, auch in seiner Muttersprache ein gewandter Stilist. Briefe, Gutachten u. Vorreden schrieb er in einem ungekünstelten Deutsch, wenn der Adressat bzw. der Text dies nötig machte. In der Flugschriften-, Erbauungs- u. Katechismusliteratur ist er mit einigen Titeln vertreten. An Luthers Bibelübersetzung, die er anregte, hat er ständig mitgearbeitet. Unterricht, Examen u. Loci wurden schon erwähnt. Im lat. Stil verließ er bewusst die modische Künstlichkeit seiner Jugend u. pflegte eine klare, sachbezogene Sprache. Ein Vorbild dafür war ihm Dürers Malstil (MBW 4499), dessen Entwicklung der reife Meister erläuterte, als er den jungen Schulreformer in Nürnberg zeichnete. Dürers Apostel Johannes ist die schönste Frucht dieser Begegnung.
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M. liebte es, seine Vorlesungen u. Schriften mit Anekdoten zu würzen. (Damit wurde er eine der wichtigsten Quellen für Fausts Leben.) Drei von ihm lateinisch erzählte Geschichten haben in der dt. Literatur eine starke Resonanz gefunden: Die Ständeparabel von den ungleichen Kindern Evas, erstmals bei Baptista Mantuanus bezeugt, von Johannes Agricola 1529 aufgenommen, erhielt durch M. 1539 (MBW 2165) die literar. Form, in der sie bei vielen Autoren bis hin zu Grimms Märchen nachwirkte. Die treuen Weiber von Weinsberg behandelte M. – vor Goltwurm, Hondorf, Bürger, Chamisso, Kerner u. Brecht – in der Oratio de Guelpho Duce Bavariae (1538. CR 11, S. 466). Die handschriftl. Quellen waren über Trithemius in die Chronik des Nauclerus eingegangen, an deren Drucklegung 1516 der junge M. beteiligt war. Schließlich geht auch Der reichste Fürst von Kerner auf M. zurück, der das wohl histor. Ereignis auf dem Wormser Reichstag 1495 vom Augenzeugen Reuchlin erzählt bekam (CR 11, S. 1028). Seit 1988 wird von M.s Heimatstadt Bretten für ein wiss. Werk der Melanchthon-Preis vergeben. Ausgaben: Opera. Hg. C. G. Bretschneider u. H. E. Bindseil. 28 Bde., Halle/Braunschw. 1834–60. Neudr. Ffm. 1963 (Corpus Reformatorum [= CR], Bde. 1–28). – Supplementa Melanchthoniana. 5 Bde., Lpz. 1910–29. Neudr. Ffm. 1968. – M.s Werke in Ausw. Hg. Robert Stupperich. 7 Bde., Gütersloh 1951–75. Z. T. in 2. Aufl. 1978–83 (= MSA). – M.s Briefw. Hg. Heinz Scheible. Stgt.-Bad Cannstatt 1977 ff. (= MBW). – P. M.: Glaube u. Bildung. Texte zum christl. Humanismus. Lat./dt. Hg. Günter R. Schmidt. Stgt. 1989. – P. M.: Loci communes 1521. Lat./dt. Hg. Horst Georg Pöhlmann. Gütersloh 1993. – P. M.: Enarratio secundae tertiaeque partis Symboli Nicaeni (1550). Hg. HansPeter Hasse. Gütersloh 1996. – Evang. Bekenntnisse. Hg. Rudolf Mau. Bielef. 1997. 22008. – HL, S. 339–357 u. 1144–1158. – M. deutsch. Hg. Michael Beyer, Stefan Rhein u. Günther Wartenberg. 2 Bde., Lpz. 1997. – Gedichte in: HL, S. 339–357 (mit Komm., S. 1144–1158). – P. M.: Orations on Philosophy and Education. Hg. S. Kusukawa, Übers. v. C. F. Salazar. Cambridge 1999. – P. M.: Elementa rhetorices. Grundbegriffe der Rhetorik. Mit den Briefen Senecas, Plinius’ d.J. u. den ›Gegensätzlichen Briefen‹ Giovanni Picos della Mirandola u. Franz Burchards. Hg., übers. u. komm. v. Volkhard
149 Wels. Bln. 2001. – P. M., Theologian and Humanist: A Microfiche Supplement to Modern Editions of His Works. Hg. Timothy J. Wengert. Leiden 2001. – P. M.: Heubtartikel Christl. Lere. M.s dt. Fassung seiner Loci Theologici, nach dem Autograph u. dem Originaldr. v. 1553. Hg. Ralf Jenett u. Johannes Schilling. Lpz. 2002. – P. M.: Oratio in qua Mysorum regio et gens describitur (1553) – Rede über die Meißn. Region u. Bevölkerung. Ed. u. Übers. v. H.-P. Hasse u. Andreas Gößner. In: Kirche u. Regionalbewußtsein in Sachsen im 16. Jh. Hg. M. Beyer u. a. Lpz. 2003, S. 151–187. – P. M.: Ethicae Doctrinae Elementa et Enarratio Libri quinti Ethicorum. Hg. Günter Frank u. M. Beyer. Stgt. 2008. – Internet-Ed. zahlreicher Schriften in: The Digital Library of Classic Protestant Texts (http://solomon.tcpt.alexanderstreet.com) u. in: Slg. Hardenberg. Literatur: Bibliografien: VD 16. – Wilhelm Hammer: Die Melanchthonforsch. im Wandel der Jahrhunderte. Ein beschreibendes Verz. 4 Bde., Gütersloh 1967–96 (Sekundärlit. bis 1970). – Horst Koehn: P. M.s Reden. Verz. der im 16. Jh. erschienenen Drucke. Ffm. 1985. Auch in: AGB 25 (1984). – W. H. Neuser: Bibliogr. der Confessio Augustana u. Apologie 1530–80. Nieuwkoop 1987. – ARG, Beih. Literaturber. (Rez.en der Sekundärlit.). – Lutherjb. (jährl. Bibliogr.). – Forschungsberichte: Peter Fraenkel u. Martin Greschat: Zwanzig Jahre Melanchthonstudium. Genf 1967. – Timothy J. Wengert: The Scope and Contents of P. M.’s Opera omnia, Wittenberg, 1562–64. In: ARG 88 (1997), S. 57–76. – Helmar Junghans: Das Melanchthonjubiläum 1997 [Literaturber.]. In: Lutherjb. 67 (2000), S. 95–162; 70 (2003), S. 175–214. – Weitere Titel: Karl Hartfelder: P. M. als Praeceptor Germaniae. Bln. 1889. Neudr. Nieuwkoop 1972. – Siegfried Wiedenhofer: Formalstrukturen humanist. u. reformator. Theologie bei M. 2 Bde., Bern/Ffm. 1976. – E. P. Meijering: M. and Patristic Thought. Leiden 1983. – Lutz Röhrich: Die ungleichen Kinder Evas. In: EM. – T. J. Wengert: P. M.’s Annotationes in Johannem in Relation to its Predecessors and Contemporaries. Genf 1987. – Stefan Rhein: Philologie u. Dichtung. M.s griech. Gedichte (Ed., Übers. u. Komm.). Diss. Heidelb. 1987. Mikrofiches Heidelb. 1992. – M.-Schr.en der Stadt Bretten. Stgt.-Bad Cannstatt 1988 ff. (bisher 10 Bde.). – Heinz Scheible: M. In: TRE (Lit.). – Günter Frank: Die theolog. Philosophie P. M.s. Lpz. 1995. – H. Scheible: P. M. Eine Gestalt der Reformationszeit. Lichtbildreihe. Hg. Landesbildstelle Baden. Karlsr. 1995. – Frank Pauli: Philippus. Ein Lehrer für Dtschld. Spuren u. Wirkungen P. M.s. Bln. 1996. 2 1997. – H. Scheible: M. u. die Reformation. For-
Melanchthon schungsbeiträge. Mainz 1996. – P. M. Ein Wegbereiter für die Ökumene. Hg. Jörg Haustein. Gött. 1997. – M. u. das Lehrbuch des 16. Jh. Hg. Jürgen Leonhardt. Rostock 1997. – P. M. u. Leipzig. Lpz. 1997. – M. neu entdeckt. Hg. S. Rhein u. Johannes Weiß. Stgt. 1997. – P. M. in Südwestdtschld. Hg. S. Rhein u. a. Karlsr. 1997. – H. Scheible: M. Eine Biogr. Mchn. 1997 (Lit.). – M. in seinen Schülern. Hg. H. Scheible. Wiesb. 1997. – P. M. u. das städt. Schulwesen. Halle 1997. – T. J. Wengert: Law and Gospel. P. M.’s Debate with John Agricola of Eisleben over Poenitentia. Grand Rapids/Carlisle 1997. – P. M. (1497–1560) and the Commentary. Hg. T. J. Wengert u. M. Patrick Graham. Sheffield 1997. – P. M. Exemplarische Aspekte seines Humanismus. Hg. Gerhard Binder. Trier 1998. – Martin H. Jung: Frömmigkeit u. Theologie bei P. M. Tüb. 1998. – 500 Jahre P. M. (1497–1560). Akten des interdisziplinären Symposions vom 25.-27. April 1997 im Nürnberger Melanchthon-Gymnasium. In: Pirkheimer Jb. für Renaissance- u. Humanismusforsch. 13 (1998). – H. Scheible: P. M. Leben u. Werk in Bildern. Sa vie et son œuvre en images. Life and Work in Pictures. Karlsr. 1998. – M.s bleibende Bedeutung. Hg. Johannes Schilling. Kiel 1998. – P. M. u. seine Rezeption in Skandinavien. Hg. Birgit Stolt. Stockholm 1998. – P. M. als Politiker zwischen Reich, Reichsständen u. Konfessionsparteien. Hg. Günther Wartenberg u. a. Wittenb. 1998. – T. J. Wengert: Human Freedom, Christian Righteousness. P. M.’s Exegetical Dispute with Erasmus of Rotterdam. Oxford 1998. – M. u. die Marburger Professoren (1527–1627). Kat. u. Aufsätze. Hg. Barbara Bauer. 2 Bde., Marburg 1999. 22000. – Glaube u. Bildung. Faith and Culture. Referate u. Ber.e des 9. Internat. Kongresses für Lutherforsch. Heidelb., 17.8.-23.8.1997. Hg. Helmar Junghans. In: Lutherjb. 66 (1999). – Melanchthonbild u. Melanchthonrezeption in der Luth. Orthodoxie u. im Pietismus. Hg. Udo Sträter. Wittenb. 1999. – Peter Walter: M. u. die Tradition der ›studia humanitatis‹. In: ZKG 110 (1999), S. 191–208. – Werk u. Rezeption P. M.s in Univ. u. Schule bis ins 18. Jh. Hg. G. Wartenberg. Lpz. 1999. – Johanna Loehr: War der Augsburger Reichstag von 1530 eine Kom. [...]? In: ARG 91 (2000), S. 47–86. – Volkhard Wels: Triviale Künste. Die humanist. Reform der grammat., dialekt. u. rhetor. Ausbildung an der Wende zum 16. Jh. Bln. 2000. – Ralf-Dieter Hofheinz: P. M. u. die Medizin im Spiegel seiner akadem. Reden. Herbolzheim 2001. – Dona Melanchthoniana. Hg. J. Loehr. Stgt.-Bad Cannstatt 2001. 22005. – H. Scheible: Die Verfasserfrage der Histori Thome Muntzers. In: Flugschr.en der Reformationszeit. Hg. Ulman Weiß. Tüb. 2001, S. 201–213. – Martin H. Jung: P. M. Humanist im Dienste der Refor-
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mation. In: Theologen des 16. Jh. Hg. ders. u. Peter Walter. Darmst. 2002, S. 154–171. – Nicole Kuropka: P. M.: Wiss. u. Gesellsch. Ein Gelehrter im Dienst der Kirche (1526–32). Tüb. 2002. – H. Scheible: M. In: RGG, 4. Aufl., Bd. 5 (2002), Sp. 1002–1012 (Lit.). – Ders.: P. M. In: The Reformation Theologians. Hg. Carter Lindberg. Oxford 2002, S. 67–82. – Fragmenta Melanchthoniana. Ubstadt-Weiher 2003 ff. – Isabelle Deflers: Lex u. Ordo. Eine rechtshistor. Untersuchung der Rechtsauffassung M.s. Bln. 2005. – James M. Estes: Peace, Order and the Glory of God. Secular Authority and the Church in the Thought of Luther and M. 1518–59. Leiden 2005. – Robert Kolb: M.’s Doctrinal Last Will and Testament: The Responsiones ad articulos Bavaricae inquisitionis as His Final Confession of Faith. In: Sixteenth Century Journal 36 (2005), S. 97–114. – Volker Leppin: Humanist. Gelehrsamkeit u. Zukunftsansage: P. M. u. das Chronicon Carionis. In: Zukunftsvoraussagen in der Renaissance. Hg. Klaus Bergdolt u. Walther Ludwig. Wiesb. 2005, S. 131–142. – Anna Briskina: P. M. u. Andreas Osiander im Ringen um die Rechtfertigungslehre. Ffm. 2006. – Konfrontation u. Dialog. P. M.s Beitr. zu einer ökumen. Hermeneutik. Hg. Günter Frank u. Stephan MeierOeser. Lpz. 2006. – Jürgen Helm: Interferenz v. Theologie u. Medizin in der Reformationszeit. M.s Schrift ›De anima‹. In: Kommunikation u. Transfer im Christentum der Frühen Neuzeit. Hg. Irene Dingel. Mainz 2007, S. 193–207. – H. Scheible: Christl. u. humanist. Menschenbild nach P. M., ein Leitfaden für polit. Handeln im 21. Jh. In: Jb. für bad. Kirchen- u. Religionsgesch. 1 (2007), S. 13–25. – Thorsten Fuchs: P. M. als nlat. Dichter in der Zeit der Reformation. Tüb. 2008. – T. J. Wengert: P. M. and Augustine of Hippo. In: Lutheran Quarterly 22 (2008), S. 249–267. – I. Deflers: Konfession u. Jurisprudenz bei M. In: Konfessionalität u. Jurisprudenz in der frühen Neuzeit. Hg. Christoph Strohm u. Heinrich de Wall. Bln. 2009, S. 33–46. – H. Scheible: Aufsätze zu M. Tüb. 2010. Heinz Scheible
Melander, Otho, eigentl.: Holzapfel (?), * 1571 Hohne/Eschwege, † 1640 Prag. – Advokat, kaiserlicher Hofrat; Schriftsteller. Der Sohn des Predigers Dionysius Melander studierte nach eigenen Angaben in Wittenberg (kein Eintrag in der Matrikel). Am 29. Nov. 1594 wurde er in Marburg zum Dr. iur. utr. promoviert. M. begab sich nach vergebl. Bemühungen um eine Advokatur in Mar-
burg, Hanau u. Herborn nach Böhmen u. machte sich als Jurist u. Diplomat in Diensten des Kaisers einen Namen. In einer seiner frühen jurist. Schriften u. d. T. Resolutio praecipuarum quaestionum criminalis adversus sagas processus (Lich 1597) hatte er sich kritisch mit den Praktiken der Hexenprozesse beschäftigt u. bes. die grausame »Wasserprobe« bei verdächtigten Frauen verurteilt. Danach wandte er sich einem ganz anderen literar. Genre zu, nämlich – auf Kollektaneen seines Vaters fußend – der seit dem Humanismus gepflegten Sammlung von lat. Schwanken, Witzen, Anekdoten u. Apophtegmata, die er im Anklang an Johannes Paulis Schimpff und Ernst (1522) u. d. T. Iocorum atque seriorum [...] centuriae aliquot (Ffm. 1603; Centuria secunda. Ffm. 1605; u. d. T. Jocorum atque seriorum [...] liber primus [-III]. Lich 1604 u. ö., zuletzt Nürnb. 1643) zum Druck brachte. Um Kritikern am gelegentlich derben Charakter seiner Histörchen zuvorzukommen, berief er sich im umfangreichen Quellenverzeichnis auf Autoren wie Bebel, Boccaccio, Frischlin, Gast, Nachtgall, Luther, Melanchthon u. andere. Der Schwerpunkt der Stoffauswahl M.s liegt auf dem Spott über den Klerus, den Adel u. das höf. Leben, auch über die Juden. Dazu kommen Gelehrtenanekdoten u. Witze aus dem vorwiegend hess. Studentenmilieu, Bauern-, Ehe-, u. Ehebruchsgeschichten, Betrugs-, Diebstahls- u. Narrenschwänke. In Dialogen verfiel M. des Öfteren in hess. Mundart. Für den Erfolg des Kompendiums spricht die schon 1605 von Wolfgang Ketzel besorgte dt. Übersetzung Joco-Seria, das ist Schimpff und Ernst (Lich 1605. Darmst. 1618), in der manche eher spröde Historien u. Betrachtungen M.s eliminiert u. dafür der Volksüberlieferung näherstehende heitere Erzählungen eingefügt wurden. Die Kompilatoren von Schwankbüchern des 17. u. 18. Jh. haben Materialien aus M.s Sammlung bzw. der Übersetzung häufig, oft sogar reihenweise in ihr Repertoire übernommen. Weitere Werke: Oratio poëtica, detestans angelorum lapsum [...]. Marburg 1590. – Ex decreto [...] Senatus juridicae facultatis in [...] Academia Marpurgensi, pro consequendis doctoratus in utroque iure insignibus ac privilegiis, centuriam hanc
151 controversarum universi juris feudalis quaestionum [...] disputandam exhibet M [agister]. O. M. Marburg 1594. Internet-Ed.: VD 16 digital. – Consultatio testamentaria, in qua discutitur gratißima et admodum controversa quaestio, an testamentum actis iudicis insinuatum, absque testibus valeat [...]. Lich 1597. – Oratio de universo philosophiae studio ad superiores facultates [...] recte riteque accommodando [...] Sigenae Nassoviorum publice habita et pertractata, ab Othone Melandro Hasso j. u. doctore, et professore ibidem publico [...]. Lich 1600. Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Jöcher 3, S. 391 f. – Jacob Minor: O. M. In: ADB. – Heiduk/Neumeister, S. 95, 236, 548 f. – Elfriede Moser-Rath: Lustige Gesellsch. Stgt. 1984, S. 9 f., 41 u. ö. – Erich Trunz: Pansophie u. Manierismus im Kreise Kaiser Rudolfs II. In: Zeman, Bd. 1, Tl. 2, S. 865–983. – Bengt Löfstedt: Zum Latein des Humanisten Otto M. In: Arctos 24 (1990), S. 97–106. – E. Moser-Rath: Kleine Schr.en zur populären Lit. des Barock. Hg. Ulrich Marzolph u. a. Gött. 1994, Register. – Frank Wittchow: Eine Frage der Ehre. Das Problem des aggressiven Sprechakts in den Facetien Bebels, Mulings, Frischlins u. M.s. In: ZfG N. F. 2 (2001), S. 336–360. – Johannes Klaus Kipf: Cluoge Gesch.n [...]. Stgt. 2009. Elfriede Moser-Rath † / Red.
Melchinger, Siegfried, * 22.11.1906 Stuttgart, † 2.3.1988 Strittberg bei Höchenschwand. – Theaterkritiker. M. studierte Germanistik u. klass. Philologie in Tübingen u. München (Dramaturgie des Sturm und Drangs. Diss. Gotha 1929). In den folgenden Jahren lernte er das Theater von allen Seiten kennen: zunächst von 1930 an als Theaterkritiker in Frankfurt/M., dann nach dem Krieg 1948–1950 als Chefdramaturg am Theater in der Josefstadt in Wien. 1953–1962 leitete er das Feuilleton der »Stuttgarter Zeitung« u. verschaffte ihm mit seinen fundierten Kritiken überregionale Bedeutung. Der theoret. Seite des Theaters widmete sich M. 1963–1973 als Professor an der Hochschule für Musik u. darstellende Kunst in Stuttgart. In zahlreichen Büchern beschäftigte er sich anfangs noch mit dem Theater der Gegenwart (Ffm./Hbg. 1956), wandte sich später aber der antiken Tragödie zu. In Das Theater der Tragödie (Mchn. 1974. 1990) versuchte er, das antike Drama im
Melker Marienlied
Hinblick auf Aufführungspraxis, organisatorischen Rahmen, bühnentechn. Bedingungen usw. zu rekonstruieren. M. war Mitherausgeber der Zeitschrift »Theater heute« u. hatte wesentl. Anteil daran, die dt. Theaterkritik zu entprovinzialisieren. Weitere Werke: Modernes Welttheater. Bremen 1956. – Sphären u. Tage. Hbg. 1962. – Gesch. des polit. Theaters. Ffm. 1971. – Die Welt als Tragödie. 2 Bde., Mchn. 1979/80. – Shakespeare. Ffm. 1986. Peter König / Red.
Melissus ! Schede, Paul Melker Marienlied, wahrscheinlich zwischen 1123 u. 1142 aufgezeichnet. – Frühmittelhochdeutsche Mariendichtung nach dem Typus des lateinischen Hymnus. Das Lied ist überliefert nur in der Handschrift 391 des niederösterr. Benediktinerstifts Melk (zumeist zwischen 1123 u. 1142 datiert, eventuell aber auch beträchtlich später). Sitz im Leben ist für das M. M. wohl der kirchlich-liturg. Vollzug des Festes Mariä Verkündigung. Die refrainartige Ausrufung »Sancta Maria« jeweils am Strophenschluss kann als Responsion der Gemeinde beim Liedvortrag gedacht gewesen sein. Trotz der unverkennbaren Nähe des Lieds zur lat. Hymnik hat man lat. Predigttexte als mutmaßl. Quellen ermittelt (Honorius Augustodunensis: In Annuntiatione S. Mariae u. Sigillum b. Mariae sowie Petrus Damiani: Officium Marianum). Formales Vorbild waren die sechszeiligen lat. Hymnenstrophen. Der dt. Dichter bemühte sich um eine geregelte Metrik bei seinen gemeinhin als Kurzzeilen interpretierten Versen (Maurer: Langzeilen). Er verwendet Reimpaare; nur die Schlusszeile steht unpaarig. Der reine Reim ist noch nicht verbindlich. Die sprachl. Architektonik ist einfach u. kraftvoll; wie in der lat. Hymnik beherrscht die Parataxe den Satzbau. Die Gedankenführung, zumal in den ersten drei Strophen, erreicht allerdings nicht die knappe Ausdrucksform des lat. Hymnus mit oft Zeile für Zeile rasch wechselnden Gedanken u. Bildern.
Melker Osterspielfragment
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In den Strophen 1–6 wird in bibl. Allego- Melker Osterspielfragment, auch: Melrien die alttestamentar. Verheißung der Er- ker Salbenkrämerspiel, in der ersten lösung thematisiert. Die narrativen Mittel- Hälfte des 15. Jh. aufgezeichnet. – Spätstrophen 7 u. 8 berichten von Empfängnis u. mittelalterliches geistliches Spiel. Geburt Jesu. In den Bildern der abschließenden Strophen 9–14 wird Marias Anteil an der Das M. O., so benannt nach einem möglichen vollzogenen Erlösung u. ihre Einzigartigkeit früheren Aufbewahrungsort, wurde in der ersten Hälfte des 15. Jh. im südl. Nassau oder gepriesen. Typisch für den hymn. Charakter, aber Oberhessen aufgezeichnet; seine Herausgeauch für die frühe Marienlyrik, ist die ge- ber vermuten als Entstehungsort Frankfurt/ wissermaßen »objektive« Ausdrucksform des M. oder eine seiner Nachbarstädte. Der Text, Lieds. Vorherrschend sind die »du«-Anrede der mit der Überschrift »Incipit ludus in durch ein liturgisch-kollektives »wir« u. die nocte pasche« einsetzt, umfasst knapp 600 inhaltl. Beschränkung auf theologisch-dog- Verse u. schließt mit einem »etc.«, ist also matisch fundierte Aussagen zur Rolle Marias nicht vollständig überliefert. Offenbar kam es im Erlösungswerk. Ein menschlich gezeich- dem Schreiber nur darauf an, jenen Teil eines netes, auf Innigkeit gerichtetes Marienbild ist Osterspiels aufzuzeichnen, der das sog. Krämerspiel mit dem Salbenkauf der drei Marien noch nicht entwickelt. enthielt, nicht aber deren Besuch am Grabe Ausgaben: Das M. M. aus F. Pfeiffers Nachl. in photograph. Nachbildungen. Hg. Josef Strobl. Christi oder weitere damit verbundene Wien 1870. – Friedrich Maurer (Hg.): Die religiösen Handlungen (z.B. Verkündigung der AuferDichtungen des 11. u. 12. Jh. Bd. 1, Tüb. 1964, stehung, Hortulanusszene usw.). Das KräS. 357–363 (mit Langzeilenversion). – Albert Waag merspiel, das in engem Zusammenhang zum u. Werner Schröder (Hg.): Kleinere dt. Gedichte des Erlauer Osterspiel (Erlauer Spiele – Erlau III) 11. u. 12. Jh. Bd. 2, Tüb. 1972, S. 232–238. – Walter steht u. Parallelen auch zu anderen mitteldt. Haug u. Benedikt Konrad Vollmann (Hg.): Frühe Texten, wie z.B. dem Innsbrucker Osterspiel, dt. Lit. u. lat. Lit. in Dtschld. 800–1150. Ffm. 1991, aufweist, beginnt mit der Suche eines S. 858–865 (mit nhd. Übers.). – Sidney M. Johnson: Quacksalbers (»Mercator«) – in Anpreisung The M. M. Text, Translation, Commentary, and Bibliography. In: ›Nu lôn’ ich iu der gâbe‹. FS seiner Ware u. bezüglich seiner HeilmethoFrancis G. Gentry. Hg. Ernst Ralf Hintz. Göpp. den etwa dem Doktor Eisenbart vergleichbar – nach einem Knecht (»Rubinus«) u. endet 2003, S. 321–330. Literatur: Herbert Kolb: Das M. M. In: Inter- mit dem gelungenen Versuch Rubins, die pr.en mhd. Lyrik. Hg. Günther Jungbluth. Bad Frau des Mercator zur gemeinsamen Flucht Homburg u. a. 1969, S. 47–82. – Gerhard M. Schä- in ein imaginäres Schlaraffenland zu bewefer: Untersuchungen zur dt. Marienlyrik des 12. u. gen. Eingebettet in diesen von Komik, 13. Jh. Göpp. 1971. – Hennig Brinkmann: ›Ave Wortspielereien, Grobheiten u. Obszönitäten praeclara maris stella‹ in dt. Wiedergabe. In: FS durchsetzten, aktionsreichen Spielteil ist der Hugo Moser. Bln. 1974, S. 8–30. – Hartmut Freyvon liturg. Gesängen begleitete Salbenkauf tag: Die Theorie der allegor. Schriftdeutung u. die der drei Marien beim Mercator. Im UnterAllegorie in dt. Texten bes. des 11. u. 12. Jh. Bern/ Mchn. 1982, S. 112–127. – Konrad Kunze: M. M. schied zu anderen vergleichbaren KrämerIn: VL. – Haug/Vollmann 1991 (s. o.), S. 1535–1541 spielen findet sich im M. O. eine Episode, in (Komm., Lit.). – Ralph Andraschek-Holzer: Das M. der eine alte Vettel (»antiqua vetula«) beim M. u. die literar. Tradition. In: Unsere Heimat. Mercator Heilung für ihre verlorene JungZtschr. des Vereines für Landeskunde v. Niederös- fernschaft sucht; Svejkovsky´ vermutet in terr. 60 (1989), S. 115–125. Joachim Knape / Red. dieser »Szene« ein parodist. Spiegelbild der Hauptszenen des Magdalenenspiels mit der Absicht, die Unfähigkeit des weltl. Arztes im Krämerspiel mit der Erlöserfunktion des Seelenarztes Christus zu konfrontieren, Diesseitsverhaftung u. Jenseitsbezogenheit einander also drastisch gegenüberzustellen.
153 Ausgabe: M. O. Hg. Curt F. Bühler u. Carl Selmer. In: PMLA 63 (1948), S. 38–62. Literatur: Frantisˇek Svejkovsky´ : Vetula-Episode im M. S. In: ZfdPh 87 (1968), S. 1–16. – Rolf Steinbach: Die dt. Oster- u. Passionsspiele des MA. Köln/Wien 1970, S. 25–36. – Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986. – Bernd Neumann: Geistl. Schauspiel im Zeugnis der Zeit. 2 Bde., Mchn. 1987. – Hansjürgen Linke: M. O. In: VL. – Christoph Petersen: Ritual u. Theater. Meßallegorese, Osterfeier u. Osterspiel im MA. Tüb. 2004 (Register). Bernd Neumann / Red.
Mell, Max, * 10.11.1882 Marburg/Drau (Maribor), † 12.12.1971 Wien; Ehrengrabstätte: ebd., Zentralfriedhof. – Dramatiker, Erzähler, Lyriker, Essayist. M.s Vater Alexander Mell, der Pionier der Blindenerziehung u. -fürsorge, war 1886 als Direktor an das Wiener Blindenerziehungsinstitut berufen worden. In Wien studierte M. Germanistik u. Kunstgeschichte (Dr. phil. 1905 über Wilhelm Waiblinger) u. lebte dann als freier Schriftsteller. Noch als Student veröffentlichte M. unter dem Einfluss von Neuromantik u. Symbolismus seine an den klass. Sprachen geschulten Lateinischen Erzählungen (Wien 1904). Erste dramat. Arbeiten sozialkritischen Inhalts (Der Barbier von Berriac. St. Veit an der Glan. [1907]) blieben erfolglos; für die ins bäuerl. Milieu führende Erzählung Barbara Naderers Viehstand (Lpz. 1914) erhielt M. hingegen 1914 den Bauernfeld-Preis. Der eigentl. Aufschwung zum repräsentativen kath. Autor der jungen Republik erfolgte mit dem Stationendrama Das Wiener Kripperl von 1919 (Wien 1921), das die Vision einer Überwindung von Chaos u. Not im Nachkriegs-Wien durch die »frohe Botschaft, Freude und Licht« entwirft. Die Form des alten Krippenu. Festspiels wieder aufnehmend, gelang es M. mit den erfolgreichen Stücken Das Apostelspiel (Graz 1924), Das Schutzengelspiel (Graz 1923) u. Das Nachfolge-Christi-Spiel (Mchn. 1927), dieses Programm von der alles verwandelnden Kraft einfacher Gläubigkeit einem breiten Publikum schmackhaft zu machen. Beeinflusst wurde er hierbei von der Auseinandersetzung mit Laienspielbewe-
Mell
gungen u. alten Volksschauspielen im Kreis um den steir. Volkskundler Viktor von Geramb. Der auf konservativem, kulturpessimist. Grund stehende M. wandte sich Anfang der 1930er Jahre zusehends dem deutschnationalen bzw. völk. Lager zu: Im Herbst 1933 unterzeichnete auch er den Aufruf der Deutschen Akademie der Dichtung zum Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund u. eine Unterstützungserklärung für den »Volkskanzler Adolf Hitler«. 1936 wurde er Vorsitzender des Bundes der deutschen Schriftsteller Österreichs, dessen Zweck es war, der Reichsschrifttumskammer in die Hände zu arbeiten u. den »Anschluss« vorzubereiten. 1940 ersuchte er um Aufnahme in die NSDAP. Im gleichen Jahr erhielt er den Grillparzer-Preis, 1941 den Preis der Stadt Wien. Nach 1945 entstand – auch im Hinblick auf die gewünschte Kontinuität eines österr. Autors kath. Prägung – die Legende vom apolitischen, zurückgezogen lebenden Autor M. (u. a. 1954 österreichischer Staatspreis). Mit dem Spiel von den deutschen Ahnen (Lpz. 1935), einem Zeitstück über die »Entwurzelung« von Grund u. Boden, näherte sich M. auch stofflich der völk. Ideologie an, die er in seiner Dramatisierung der Nibelungensage, Der Nibelunge Not (2 Tle., Salzb. 1942 u. 1951), in eine modern-christl. Sphäre zu heben versuchte. Ein Bühnenerfolg der 1950er Jahre wurde sein Drama Jeanne d’Arc (Wiesb. 1957), das noch einmal auf die heiligende Wirkung von Opfer u. Selbstüberwindung rekurriert. Weitere Werke: Die drei Grazien des Traumes. Lpz. 1906 (N.n). – Die Tänzerin u. die Marionette. Pantomime. Wien 1907. – Jägerhaussage u. a. Novellen. Bln. 1910. – Das bekränzte Jahr. Bln. 1911 (L.). – Erzhzg. Karl. Der Feldherr u. seine Armee. Wien 1913 (Ess.). – Gedichte. Mchn. 1919. Neuaufl. Wien 1929. – Hans Hochgedacht u. sein Weib. Wien 1920 (E.). – Die Osterfeier. Mchn. 1921 (Versnovelle). – Aus einem steir. Tgb. Mchn. 1923. – Morgenwege. E.en u. Legenden. Lpz. 1924. – Schausp.e. Mchn. 1927. – Die Sieben gegen Theben. Lpz. 1932 (D.). – Verheißungen. Lpz. 1942 (N.n). – Mein Bruder u. ich. Graz 1943 (E.). – Gabe u. Dank. Wien 1949 (L.). – Der Garten des Paracelsus. Graz 1974 (D.). – Herz, werde groß. Graz 1982 (L., D.).
Melusine Ausgaben: Ges. Werke. 4 Bde., Wien 1962. – Spiegel der Sünden. 3 E.en aus dem Nachl. Wien 1978. – Der Briefw. M. M. – Hugo v. Hofmannsthal (1907–29). Heidelb. 1982. – Steir. Lobgesang. Eine Ausw. v. fünf Stücken. Hg. Ulrich Gut. o. O. 1995. Literatur: Isolde Emich: M. M. Der Dichter u. sein Werk. Wien 1957. – M. M. FS zum 80. Geburtstag. Mchn. 1962. – Christoph H. Binder: M. M. Beiträge zu seinem Leben u. Werk. Graz 1978. – Margarete Dietrich (Hg.): M. M. als Theaterkritiker. Wien 1983. – C. H. Binder (Hg.): Tragik u. Harmonie. M. M.-Symposion. Wien 1984. – Lowell A. Bangerter: M. M. In: Major Figures of Austrian Literature. The Interwar Years 1918–38. Hg. Donald G. Daviau. Riverside 1995, S. 235–260. – Werner Volke: Verborgen – nun ›enthüllt‹. Einiges zum Briefw. Hofmannsthals mit M. M. In: ›Verbergendes Enthüllen‹. Zu Theorie u. Kunst dichter. Verkleidens. Hg. Wolfram Malte Fues u. Wolfram Mauser. Würzb. 1995, S. 289–295. – Karl Müller: Christlich-dt. Abendland – goldenes Wienertum. Zum dramat. Schaffen M. M.s u. Friedrich Schreyvogels. In: Zeit der Befreiung. Wiener Theater nach 1945. Hg. Hilde Haider-Pregler u. Peter Roessler. Wien 1998, S. 256–299. – Judith Beniston: M. M. in the First Republic. The Acceptable Face of Catholic Drama. In: From Perinet to Jelinek. Viennese Theatre in its Political and Intellectual Context. Hg. William E. Yates u. a. Oxford u. a. 2001, S. 179–190. – Timothy Capes: An Investigation of Adaptations of the ›Nibelungen‹ Material in the Dramas ›Der Nibelunge not‹ by M. M. and ›Die Tarnkappe‹ by Reinhold Schneider. Diss. Birmingham 2007. Johannes Sachslehner / Red.
Melusine ! Thüring von Ringoltingen Memel, Johann Peter de. – Nicht eindeutig geklärtes Pseud. des Kompilators eines erstmals 1656 erschienenen Schwankbuchs. Die u. d. T. Lustige Gesellschaft: Comes facundus in via pro vehiculo (Zippelzerbst im Drömbling 1656; mindestens 20 Aufl.n bis 1703) erschienene Sammlung von 1000 Schwänken, Witzen, Scherzreimen, Wellerismen, einigen Liedtexten, Hochzeitsgedichten u. Stammbuchversen wurde bestimmend für eine Gattung von Unterhaltungsbüchlein des 17. u. 18. Jh. Die heiteren, mitunter auch recht derben, zumeist im nord- u. mitteldt. Raum lokalisierten Erzählungen wurden, da der Plagiatsbegriff zu dieser Zeit geringe Geltung
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hatte, vielfach wörtlich u. reihenweise von anderen, meist anonym gebliebenen Autoren bis ins 18. Jh. tradiert, sodass der Lustigen Gesellschaft eine Schlüsselposition innerhalb der Schwankliteratur des Zeitraums zukommt. Typisch ist der ausgiebige Gebrauch plattdt. Dialoge, sofern es sich um Dorfpfarrer, Küster, Kleinbürger oder Bauern handelt; nur Fürsten u. höhere Beamte bedienen sich der Realität entsprechend des Hochdeutschen. So heißt es auch in Anweisungen für den Gebrauch des Büchleins in damals meist nicht lesefähiger Runde: »Brauche die gebührende Sprach: (Ist die Historia von Bauren, so rede dessen Sprach, ist sie aber von Fürsten, so rede gravitätisch).« Nicht völlig geklärt ist die Verfasserfrage. Simon Dach oder der in Hamburg wirkende Colonellschreiber Gottfried Schultze stehen längst nicht mehr zur Diskussion. Hingegen ist der schon 1893 von Gerhard gegebene Hinweis auf Johann Praetorius als Autor mit einer Reihe zwingend erscheinender Argumente von Dünnhaupt wieder aufgegriffen worden. Die Namensfolge J. P. d. M. in Übereinstimmung mit Pseudonymen u. Kryptonymen von Praetorius, auch dessen Angabe des fingierten Druckorts in einem anderen Werk veranlassten Dünnhaupt, die Lustige Gesellschaft mit allen Auflagen der Bibliografie des Praetorius einzuverleiben. Hingegen hat Waibler aufgrund von Stilvergleichen die Autorschaft Praetorius’ erneut in Zweifel gezogen u. auf einen in Memel wirkenden Geistlichen Christian Praetorius († 1673) verwiesen. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 5, S. 3145–3193 (Johann Praetorius). – VD 17. – Weitere Titel: Ferdinand Gerhard: J. P. d. M.s ›Lustige Gesellschaft‹. Halle/S. 1893. – Gerhard Dünnhaupt: Chronogramme u. Kryptonyme. Geheime Schlüssel zu Datierung u. Autorschaft der Werke des Polyhistors Johannes Praetorius. In: Philobiblon 21 (1977), S. 130–135. – Helmut Waibler: M. Johannes Praetorius, P. L. C., Bio-bibliogr. Studien [...]. Ffm. u. a. 1979, S. 50 f. – Elfriede Moser-Rath: ›Lustige Gesellschaft‹ [...]. Stgt. 1984, S. 19–22, 39 f. – Dies.: Kleine Schr.en zur populären Lit. des Barock. Hg. Ulrich Marzolph u. a. Gött. 1994, passim. Elfriede Moser-Rath † / Red.
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Memento mori. – Paränetisch-didaktische Reimrede vom Ende des 11. Jh.
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durch. Mit seinen didakt. u. paränet. Zügen zgl. spruch- u. predigthaft, bleibt es in der Schwebe zwischen beiden Gattungen. Angesprochen sind alle Menschen, bes. aber die Reichen. Die Intentionen des Autors lassen sich von den sozialgeschichtl. Umwälzungen seiner Zeit her ebenso verstehen wie von der Hirsauer Mönchsreform u. der Gottesfriedensbewegung des Jahrhundertendes, ohne dass eine genauere Festlegung möglich ist.
Als Autor bezeichnet der möglicherweise nachträglich eingefügte Schlussvers in der etwa eine Generation jüngeren Überlieferung einen Noker, den man wohl mit dem aus Einsiedeln/Schweiz nach Hirsau/Schwarzwald gekommenen späteren Abt Notker von Zwiefalten († 1095) identifizieren darf. Das Gedicht lässt sich in vier Teile gliedern. Ausgaben: Friedrich Maurer (Hg.): Die religiöIm ersten (vv. 1–48) werden mit universaler sen Dichtungen des 11. u. 12. Jh. Bd. 1, Tüb. 1964, Formel Mann u. Weib angeredet. Sie sollen S. 249–259. – Walter Haug u. Benedikt Konrad bedenken, wohin sie kommen werden. Die Vollmann (Hg.): Frühe dt. Lit. u. lat. Lit. in Dtschld. Wahl besteht zwischen der nicht näher aus- 800–1150. Ffm. 1991, S. 662–671 (mit nhd. gemalten ewigen Seligkeit oder der Ver- Übers.). dammnis. Schnell wie ein Lidschlag kommt Literatur: Marieluise Dittrich: Der Dichter des der Tod u. dann die Forderung nach Re- M. m. In: ZfdA 72 (1935), S. 57–80. – Hugo Kuhn: chenschaft für dieses Leben. Eindringlich Minne oder reht. In: FS Friedrich Panzer. Heidelb. wird der augustin. Gedanke gestaltet, dass 1950, S. 29–37. – Rudolf Schützeichel: Das alediese Welt ihren Liebhabern nie Genüge ge- mann. M. m. Tüb. 1962. – Gert Kaiser: Das M. m. In: Euph. 68 (1974), S. 337–370. – Günther währt, sondern nur unendl. Begehren. Der Schweikle: M. M. In: VL. – Francis G. Gentry: Nozweite Teil (vv. 49–78) spricht soziale The- ker’s M. M. and the Desire for Peace. In: ABäG 16 matik an. Alle Menschen stammen von einem (1981), S. 25–62. – Haug/Vollmann 1991 (s. o.), Urvater ab u. sind sich darin gleich. Gottes S. 1454–1460 (Komm., Lit.). – Dewey Weiss KraGebot aber, in Liebe zusammenzuleben, ha- mer: A Neglected Source of Medieval Literature: ben sie missachtet. Trotz gleichem Ursprung The Rule of St. Benedict and the M. M. In: Amerisind sie untereinander verschieden (mora- can Benedictine Review 43,2 (1992), S. 109–130. Ernst Hellgardt / Red. lisch u. intellektuell? – der Text ist hier gestört). Der Arme ist auf das Recht angewiesen, kann es aber nur für teures Geld kaufen. Wer das Recht verkauft, hat Gott selber dahinge- Menasse, Robert, * 21.6.1954 Wien. – Rogeben u. wird deshalb zur Hölle fahren. Im mancier, Essayist, Dramatiker. dritten Teil (vv. 79–114) wird vom Reichen Nach dem Studium der Germanistik, Philoradikal gefordert, dass er all seinen Besitz den sophie u. Politikwissenschaft in Wien, SalzArmen überlassen solle. Unerwartet wie ein burg u. Messina unterrichtete M. 1981–1988 Dieb wird der Tod kommen u. Arm u. Reich an der Universität Saõ Paulo, bis 1982 als gleich machen. Glücklich, wer dann sein Lektor für österr. Literatur, danach als GastVermögen richtig angelegt hat. Der vierte Teil dozent am Institut für Literaturtheorie. (vv. 115–144) erzählt allegorisierend von eiSein in Brasilien spielender, von der Kritik nem Mann, der sich auf der Reise unter einem mit ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit beschönen Baum vom Schlaf überwältigen lässt. dachter Roman Sinnliche Gewissheit (Reinb. Wie groß ist seine Reue beim Erwachen! Der 1988. Ffm. 1996) ist der erste Teil einer TriMann steht für alle Menschen, der Baum für logie mit dem Titel Trilogie der Entgeisterung die Welt, die zum Verweilen lockt. Eine hef- (Ffm. 1997). Der Weltgeist, dessen dialekt. tige Weltschelte schließt sich an. Ein Gebet zu Fortschritt von der »sinnlichen Gewissheit« Gott um Erbarmen u. die Fähigkeit zu rech- hin zum »absoluten Wissen« Hegel in seiner tem Handeln bildet das Ende (vv. 145–152). Phänomenologie des Geistes expliziert hat, hat, Das in Sprache u. Bilddenken stark biblisch so M., den Rückzug angetreten u. ist wieder geprägte Gedicht hält die Rolle eines Autor- an seinen Ausgangspunkt zurückgekehrt. Ichs in der Ihr-Anrede an das Publikum Diese Grundthese liegt der Konzeption des
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Romans zugrunde, in dem viele Aspekte der Literatur- u. Philosophiegeschichte anklingen. Eine Welt, die nur noch aus mehr oder weniger geistvollen Bruch- u. Versatzstücken zu bestehen scheint, soll anhand eines – allerdings umgekehrten – philosoph. Systementwurfs geordnet werden. Diese systemat. Rückentwicklung setzt sich im zweiten Teil Selige Zeiten, brüchige Welt (Salzb. 1991. Ffm. 1994) sowie im dritten Teil Schubumkehr (Salzb./Wien 1995. Ffm. 1997) der RomanTrilogie fort, um schließlich in einer Nachschrift in Form eines philosoph. Traktats reflektiert zu werden. Anhand dieser Post-Modernisierung des klass. Entwicklungsromans prägt M. das Genre des Rückentwicklungsromans, in dem sich das Individuum nicht mehr auf den Weg aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit begibt, sondern nur noch entgeistert mitfunktioniert. Die synthet. Fragmentierung der Welt, des Geistes, mündet in der X-Beliebigkeit eines globalen Systems der Alternativenlosigkeit. In dieser Hinsicht versteht sich M. als Vertreter einer 89er-Generation, deren mündige Zeitgenossenschaft darin bestehen sollte, sich gegen die Vereinnahmung durch ein scheinbar alternativenloses Weltwirtschaftssystem u. dessen fadenscheinige Sachzwänge zu engagieren. Fragen nach dem Geschick von ihrer Zeit hinterher- bzw. vorauseilenden Mitläufern werden auch in dem mit zahlreichen Auszeichnungen (Breitbach-Preis 2002, Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg 2002, Kaschnitz-Preis 2002, Fried-Preis 2003) versehenen Roman Die Vertreibung aus der Hölle (Ffm. 2001. 2003) intoniert. Anhand der Geschichten des zu Beginn des 17. Jh., während eines Autodafés in Lissabon geborenen Manasseh ben Israel (dem späteren Lehrer Baruch Spinozas) u. des 1955 in Wien zur Welt gekommenen Viktor Abravanel wird jenes Echo der Geschichte ausgelotet, welches sich in dem, von M. in seiner Dankesrede zum Hölderlin-Preis sowohl Rabbi Manasseh als auch Adorno zugeschriebenen Satz »Was einmal wirklich war, bleibt ewig möglich« bricht. Die narrative Verschränkung der beiden Lebensgeschichten bildet einen Resonanzraum, in dem dieses Echo vernehmbar wird, ohne sich auf eine schlichte Parallel-
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führung zweier Schicksale reduzieren zu lassen. In Don Juan de la Mancha oder die Erziehung der Lust (Ffm. 2007. 2009) wird die 89er-Generation als Erbin von Errungenschaften der 68er-Generation, die sie nicht mehr annehmen möchte, auf ihre Lustlosigkeit u. ihre abgeklärte Aufgeklärtheit hin befragt. Der Roman, dem ausgesprochen lustvolles Wiedererkennungspotential bescheinigt wurde, kreist um die in vielen Texten der Weltliteratur variierte Unmöglichkeit, sein Begehren mit dem Anspruch, Befriedigung zu finden, glücklich zu vereinen. Seine Poetik der mündigen Zeitgenossenschaft entwirft M. in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung (Ffm. 2006). Die Bedingungen der Möglichkeit, die Geschichte des vernünftigen Individuums unter der Voraussetzung einer globalisierten Gesellschaft fortzuschreiben, werden sowohl in ihren histor. als auch in ihren zeitgenöss. Dimensionen beleuchtet. Angesichts des sich sowohl in heftigen Diskussionen als auch in Auflagenstärke niederschlagenden großen Interesses an M.s Poetikvorlesungen erschien 2009 ein Essayband mit dem Titel Permanente Revolution der Begriffe. Vorträge zur Kritik der Abklärung (Ffm.), in welchem vermeintlich restlos abgeklärte Begriffe wie Demokratie, Arbeit, Kultur, Religion mit Fragezeichen versehen werden u. die zeitgenöss. Verfasstheit des globalisierten Selbstverständnisses weiter diskutiert wird. Neben seiner literar. Tätigkeit publiziert M. literatur- u. kulturkrit. Aufsätze. Der Grad, in dem sich polit. u. soziale Verhältnisse in literar. Werken reflektieren, spielt in M.s literatur- u. kulturkrit. Auseinandersetzung eine wichtige Rolle. Der Band Überbau und Underground. Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik. Essays zum österreichischen Geist (Ffm. 1997) behandelt die Entwicklung der österr. Literatur 1955–1980. Er geht von der Annahme aus, dass die Harmonisierung gesellschaftl. Widersprüche in der spezifisch österr. Institution der Sozialpartnerschaft ihre Entsprechung in der Literatur findet. In dem großen Essay Das Land ohne Eigenschaften (Wien 1992. Ffm. 1995) wird die reale u. symbolische Verfasstheit der Zweiten Repu-
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blik untersucht. Scheinbar den österr. Staat begründende Aspekte wie die Neutralität werden dabei als »Real-Fiktionen« ausgewiesen, d.h. als faktisch inexistent, empirisch aber wirksam. In seinen zahlreichen, in österreichischen u. dt. Zeitungen veröffentlichten, in verschiedenen Bänden (Hysterien und andere historische Irrtümer. Wien 1996. Dummheit ist machbar. Wien 1999. Erklär mir Österreich. Ffm. 2000. Das war Österreich. Ffm. 2005) versammelten Essays spürt M. den Entwicklungen des österr. Zeitgeistes nach, der, so M., seiner Zeit insofern voraus sei, als er mit den Mitteln der avancierten Postmoderne die Geschichte immer wieder zitiere, ihren Geist aber ausblende. Die österr. »Wende«, d.h. eine demokrat. Restrukturierung der polit. Praxis durch die Überwindung der sozialpartnerschaftl. Harmonisierung gesellschaftl. Widersprüche, wäre gerade durch die Wahl Kurt Waldheims 1986 u. der mit dieser verbundenen öffentl. Diskussion, sowie durch den polit. Aufstieg Jörg Haiders, der 1986 den Vorsitz der FPÖ übernahm, möglich geworden. Die Wahlerfolge der Haider-FPÖ rissen die Zweite Republik nicht nur aus dem großkoalitionären u. sozialpartnerschaftl. Dornröschenschlaf, sondern brächten außerdem stillschweigend hingenommene austrofaschist. Kontinuitäten zum Vorschein. M.s Österreich-Essays wurden kontrovers rezipiert u. boten immer wieder Anlass zu teilweise heftigen Polemiken. Dem Anspruch Rechnung tragend, in Form zeitgenöss. Essayistik gesellschaftl. Widersprüche zur Sprache zu bringen, stiftete M. mit dem Preisgeld, das er 1998 für den Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik erhielt, den Jean-Améry-Preis für Essayistik. Nach 2006 widmete sich M. in seinen kulturkrit. Aufsätzen v. a. sozialen u. polit. Widersprüchen innerhalb der EU sowie der sog. Globalisierung. Auch in diesen europ. bzw. weltweiten Zusammenhängen kritisiert M. jene strukturellen, demokratiepolit. Defizite, welche – vorgeblich strukturbedingt – als Sachzwang genommen werden u. den verantwortungsvollen individuellen Handlungsraum einschränken. Sein ursprünglich als Auftragswerk für das Wiener Burgtheater entstandenes, nach lan-
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ger, heftiger Debatte schließlich 2006 in Darmstadt uraufgeführtes Theaterstück Das Paradies der Ungeliebten (Ffm. 2006) bringt die Akteure einer von Rechtspopulismus u. resignierendem Konformismus geprägten polit. Praxis auf die Bühne. Von M. als ein europäisches »Staatstheater« konzipiert u. in Deutschland auch als ein solches betrachtet, wurde es in Österreich v. a. als eine Widerspiegelung spezifisch österr. Verhältnisse rezipiert. Die langjährige Präsenz u. Präsentation seiner viel diskutierten Österreich-Kritik konstituiert in einer breiteren, deutschsprachigen Öffentlichkeit das Bild M.s als streitbaren Intellektuellen. In jüngeren Forschungsarbeiten (Matthias Beilein: 86 und die Folgen. Bln. 2008. Verena Holler: Felder der Literatur. Ffm. u. a. 2003) werden die von M. eingenommenen bzw. eröffneten Positionen im intellektuellen u. literar. Feld differenziert dargestellt. Dabei werden auch die gesellschaftl. Bedingungen der Möglichkeit seiner essayist. u. literar. Ausdrucksweisen untersucht. Das literar. Werk wird seitens der Forschung auf unterschiedl. Aspekte hin befragt: die zahlreichen intertextuellen Anspielungen auf die Literatur- u. Philosophiegeschichte interessieren in dieser Hinsicht ebenso wie der erzählte u. erzählende Umgang mit Geschichtsbildern, jüd. Traditionen, philosoph. Denk- u. gesellschaftl. Wertesystemen. Weitere Werke: Das Ende des Hungerwinters. Hbg. 2008 (Audiobook). – Ich kann jeder sagen. Erzählungen vom Ende der Nachkriegsordnung. Ffm. 2009. Literatur: Dieter Stolz (Hg.): Die Welt scheint unverbesserlich. Zu R. M.s ›Trilogie der Entgeisterung‹. Ffm. 1997. – Gunther Nickel: R. M. In: LGL. – Wolfgang Strehlow u. Michael Rölcke: R. M. In: KLG. – Kurt Bartsch u. Verena Holler (Hg.): R. M. Wien/Graz 2004. – Kathrin Krause: R. M.s ›Trilogie der Entgeisterung‹. Ein Beitr. zur Theorie des Romans. Bielef. 2005. – Eva Schörkhuber (Hg.): Was einmal wirklich war. Zum Werk v. R. M. Wien 2007. – Hans-Dieter Schütt: Die Erde ist der fernste Stern. Gespräche mit R. M. Bln. 2008. Eva Schörkhuber
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Mencke, Johann Burkhard, Burchard, auch: Philander von der Linde, * 8.4.1674 Leipzig, † 1.4.1732 Leipzig. – Historiker, Herausgeber von Gelehrtenzeitschriften, Übersetzer, Lyriker. Nach dem Besuch der Nicolaischule in Leipzig nahm der Sohn des Ethik- u. Politikprofessors Otto Mencke 1691 das Studium der Philosophie an der Universität seiner Vaterstadt auf, erlangte 1694 den Magistergrad u. studierte dann Theologie u. Rechtswissenschaft. 1698/99 unternahm M. eine Reise nach Holland u. England, auf der er viele seiner späteren Briefpartner wie Pierre Bayle, Johann Georg Graevius, Johann Friedrich Gronovius, Pieter Burman u. Jakob Perizonius, dann aber auch die engl. Gelehrten Henry Dodwell u. William Cave persönlich kennenlernte. 1699 berief ihn Kurfürst Friedrich August I. an die Universität Leipzig auf die erstmals selbständige, vom Unterricht in den alten Sprachen befreite Professur für Geschichte. 1701 promovierte M. in Halle noch zum Dr. jur. 1702 heiratete er Katharina Margaretha, die Tochter des Leipziger Buchhändlers Johann Friedrich Gleditsch. Von seinem Vater übernahm M. 1707 die Herausgabe der »Acta Eruditorum«. Im selben Jahr wurde er erstmals Rektor der Leipziger Universität, 1708 kgl. poln. u. kurfürstl. sächs. Hofhistoriograf. 1715 förderte er die Edition der »Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen«, einer der ersten Gelehrtenzeitschriften in dt. Sprache. 1717 wurde M. Präses der Görlitzischen Poetischen Gesellschaft, die später unter dem Namen Teutschübende Poetische Gesellschaft u. von 1727 an, unter Gottscheds Einfluss, als Deutsche Gesellschaft bekannt wurde. M. ist v. a. durch seine Gelegenheitsgedichte, durch die Hoffmannswaldau nachahmenden Heldenbriefe sowie die in der Nachfolge Boileaus entstandenen Satiren bekannt geworden. Bereits in diesen (in: Schertzhaffte Gedichte. Lpz. 1706) verspottet er die Laster der Gelehrten; so verurteilt er den Missbrauch akadem. Titel oder lässt Philosophie u. Pedanterie einen Kampf ausfechten, bevor sie endlich Frieden schließen. M. bereute später, Satiren u. Liebesgedichte geschrieben
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zu haben; seine Gedichtsammlungen wurden jedoch mehrmals aufgelegt. M.s AnakreonÜbersetzungen haben Johann Christian Günther beeinflusst, der von M. großzügig gefördert wurde. M. versuchte sich in fast sämtl. lyr. Sparten, auch in der geistl. Lyrik, stellte mit seinen Übersetzungen den Kontakt zu anderen Nationalliteraturen her u. wollte so die Qualität der deutschsprachigen Dichtung verbessern. Die Poesie betrachtete er, wie Christian Weise, aber im Gegensatz zu Gottsched, als Zweig der Redekunst. Als Historiker machte sich M. durch Quelleneditionen wie durch eigene Darstellungen einen Namen. Er besaß eine kostbare Bibliothek (Katalog: Bibliotheca Menckeniana. Lpz. 1723), aus welcher er anderen Gelehrten wertvolle Handschriften zur Benützung oder gar zur Edition überließ. Er selbst ist v. a. als Herausgeber spätmittelalterl. Quellen zur sächs. Geschichte (Scriptores rerum Germanicarum praecipue Saxonicarum. 3 Bde., Lpz. 1728–30) u. durch die umfangreiche Biografie Leben und Thaten Sr. Majestät, des Römischen Kaisers Leopold des Ersten (Lpz. 1707) hervorgetreten. Einzelne der beliebten Dissertationen M.s (Dissertationum academicarum decas. Hg. Friedrich Otto Mencke. Lpz. 1734) behandeln geschichtstheoret. Fragen, so nach der Bedeutung histor. Zeugnisse für die Rechtswissenschaft (Diss. v. 1701, De eo quod iustum est circa testimonia historicorum) oder der Parteilichkeit als Ursache für die Meinungsverschiedenheiten unter den Geschichtsschreibern (Diss. X, 1717, De historicorum in rebus narrandis inter se dissidiis). M. gab ein Compendiöses Gelehrten-Lexicon (Lpz. 1715) heraus, den Vorläufer u. die Grundlage zu Christian Gottlieb Jöchers berühmtem Nachschlagewerk. M.s Vorliebe für die biografisch ausgerichtete Geschichtsschreibung zeigt sich auch in seiner Wertschätzung der Historia literaria, die einen Schwerpunkt in seinem akadem. Unterrichtsprogramm bildete. Als Verteidiger u. Kritiker der Gelehrtenrepublik ist M. durch die am 9.2.1713 u. am 14.2.1715 gehaltenen Reden De charlataneria eruditorum (Lpz. 1715) in ganz Europa berühmt geworden. Sie wurden in mehrere Sprachen übersetzt u. immer wieder, z.T. mit ergänzenden oder auch krit. Fußnoten, her-
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ausgegeben. Es werden dort u. a. Titelsucht, Pedanterie, mit emblemat. Sinnsprüchen durchsetztes Sprechen, Astrologie, Winkeladvokaten, Dichterfehden u. gestelzte Buchtitel angeprangert. Vor allem mit der Entlarvung des Aberglaubens verfolgte M. aufklärerische Ziele: Er hielt es für unverantwortlich, das einfache Volk durch falsche Prophezeiungen zu beunruhigen. M.s Gelehrtenkritik haben viele Zeitgenossen schroff zurückgewiesen, weil er die Scharlatanerie einseitig als Standeskrankheit statt als allg. verbreitetes Übel betrachtet habe. M.s Interesse für Sitten u. Umgangsformen (decorum), für deren räumlich u. zeitlich bedingte Unterschiede sowie für Geschmacksfragen belegen kleinere kulturgeschichtl. u. ästhet. Abhandlungen. Als eifriger Rezipient frz. Literatur kannte er viele einschlägige geschmackstheoret. Schriften, die er im dt. Sprachbereich bekannt machte. Gottsched, der eine Zeitlang M.s Bibliothek verwaltete, erwies sich gerade in seiner Hinwendung zur frz. Literatur wohl als M.s gelehrigster Schüler (vgl. Vorrede zur ersten Auflage der Critischen Dichtkunst. Lpz. 1729). Weitere Werke: Galante Gedichte. Lpz. 1705. – Ernsthaffte Gedichte. Lpz. 1706. – Vermischte Gedichte. Lpz. 1710. – Orationes academicae. Hg. Friedrich Otto Mencke. Lpz. 1734. Literatur: Richard Treitschke: B. M. [...]. Zur Gesch. der Geschichtswiss. im Anfange des 18. Jh. Lpz. 1842. – Agnes-Hermine Hermes: J. B. M. in seiner Zeit. Diss. Ffm. 1934. – Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik u. Fürstenstaat. Tüb. 1982, bes. S. 440–450. – Notker Hammerstein: J. B. M. In: NDB. – Marian Füssel: ›Charlateneria Eruditorum‹. Zur sozialen Semantik des gelehrten Betrugs im 17. u. 18. Jh. In: Ber.e zur Wissenschaftsgesch. 27 (2004), S. 119–135. – Markus Huttner: Gesch. als akadem. Disziplin. Lpz. 2007, passim.
1840 ohne Abschluss verlassen hatte, studierte er 1841–1843 an der Philosophischen Lehranstalt in Olmütz u. trat schließlich – von den Entbehrungen der Schul- u. Studienzeit erschöpft – in das Augustinerkloster von Altbrünn ein. Nach der Priesterweihe 1847 war er Hilfslehrer am Gymnasium in Znaim. Obwohl M. das Lehrerexamen nicht bestand, schickte ihn sein Orden 1851 für vier Semester an die Wiener Universität, wo er seine naturwiss. Kenntnisse vertiefte, das Examen indes wieder nicht bestand. Nach seiner Rückkehr übernahm M. den Klostergarten, wo er seit 1856 jene Kreuzungsexperimente mit Gartenerbsen durchführte, bei deren Auswertung er die später nach ihm benannten Vererbungsgesetze entdeckte. Als M. seine Ergebnisse 1865 vor dem Naturforschenden Verein in Brünn vorstellte, stieß er auf keinerlei Resonanz, was sich auch nach deren Veröffentlichung kaum änderte. 1868 wurde er nach dem Tod seines Förderers Cyrill Napp dessen Nachfolger als Abt von Altbrünn. M.s wiss. Leistung wurde erst 1900 durch die Botaniker Correns, de Vries u. Tschermak von Seysenegg wiederentdeckt, die ausdrücklich auf M.s Pionierleistung hinwiesen. Weitere Werke: Versuche über Pflanzenhybriden. 2 Abh.en (1865 u. 1869). Hg. Erich Tschermak. Lpz. 1901. – Briefe an Carl Nägeli. 1866–73. Hg. Carl Erich Correns. Lpz. 1905. Literatur: Ingo Krumbiegel: G. M. u. das Schicksal seiner Vererbungsgesetze. Stgt. 1967. – Josef Sajner: J. G. M. Würzb. 21976. – Rolf Löther: Wegbereiter der Genetik. G. M. u. August Weismann. Ffm. 1990. – Robin Marantz Henig: Der Mönch im Garten. Die Gesch. des G. M. u. die Entdeckung der Genetik. Bln. 2001. Günther Lottes / Red.
Hanspeter Marti
Mendelssohn, Joseph, * 10.9.1817 Jever/ Niedersachsen, † 4.4.1856 Hamburg. – Mendel, (Johann) Gregor, * 22.7.1822 Schriftsteller u. Journalist. Heinzendorf, † 6.1.1884 Altbrünn; GrabDer Sohn jüdischer Eltern besuchte von 1823 stätte: Brünn, Zentralfriedhof, Gruft des bis 1831 die Israelitische Freischule in HamAugustinerkonvents. – Biologe. Das Interesse des Kleinbauernsohns an Gartenbau u. Pflanzenzucht wurde schon durch den Pfarrer seines Heimatorts geweckt. Nachdem M. das Gymnasium von Troppau
burg u. machte danach eine Buchdruckerlehre. Nach kurzer Tätigkeit als Buchdruckergehilfe in Braunschweig widmete sich M. ab 1839 nur noch literar. Tätigkeiten. In Hamburg war er gut bekannt mit der Familie
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Heine u. begab sich 1839 dank der Unterstützung Salomon Heines für zwei Jahre nach Paris. Die frz. Erfahrungen schlugen sich in histor. Abhandlungen – etwa der Biografie über Ferdinand Philipp, Herzog von Orléans, Kronprinz von Frankreich (Altenburg 1842) –, aber auch in der Bearbeitung zeitgenössischer frz. Dramen nieder, etwa Er muß aufs Land, freie Bearbeitung nach Bayard und de Vailly (Hbg. 1845) oder Ein Weib aus dem Volke, nach Dennery und Mallion (Hbg. 1846). Am wichtigsten war jedoch 1841 die Veröffentlichung der Pariser Briefe (Lpz. Mikrofiche-Ausg. Mchn. [1994]), einer Art Reisetagebuch, das M.s Aufenthalt in Frankreich dokumentiert. 1846 heiratete M. in Hamburg die Tochter eines Buchdruckers, Radisch Berendsohn, die im selben Jahr im Kindbett starb. Neben seiner literar. Tätigkeit war M. Mitarbeiter diverser Zeitungen u. Zeitschriften, so von 1843 bis 1844 Redakteur der »Jahreszeiten«, 1844 bis 1848 Mitarbeiter der »Wöchentlichen Nachrichten«, später der »Wiener Theaterzeitung«. Weitere Werke: Blüthen, Gedichte u. Novellen eines Schriftsetzers. Braunschw. 1839. – Wilde Blumen, Dichtungen. Lpz. 1842. – Leben Salomon Heine’s. Hbg. 1844. – Eine Ecke Deutschlands, Reisesilhouetten. Oldenburger Bilder, Charaktere u. Zustände. Oldenb. 1845. – Überall Jesuiten! Schwank in einem Act. Hbg. 1846. – Der Theaterteufel. Humoristisch-satyr. Almanach für 1848. Hbg. 1848. Literatur: Franz Brümmer: Dt. Dichterlexikon. Biogr. u. bibliogr. Mittheilungen über dt. Dichter aller Zeiten. Bd. 2, Eichstätt/Stgt. 1877, S. 26. – Rudolf Eckart: Lexikon der niedersächs. Schriftsteller v. den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Osterwieck/Harz 1891. S. 123. – Salomon Winninger: Große jüd. Nationalbiogr. Bd. 4, Cernauti 1929, S. 339. Lea Marquart
Mendelssohn, Moses, auch: Moses (bzw. Mausche) Dessau, * 6.9.1729 Dessau, † 4.1.1786 Berlin; Grabstätte: ebd., Alter Jüdischer Friedhof. – Seidenfabrikant; Philosoph, Literaturkritiker, Übersetzer. Für den Sohn des jüd. Gemeindeschreibers Mendel Heymann aus Dessau war sein Aufstieg aus einfachsten Verhältnissen zum führenden Kopf der dt. Spätaufklärung u. zu ei-
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ner der überragenden Gestalten des Judentums stärker noch als bei Zeitgenossen wie Kant oder Lambert eine Sache der Selbstanstrengung u. Selbstaufklärung. Das begann schon bei der Sprache: Die seines Elternhauses war das späte West-Jiddisch. Zunächst das Deutsche u. dann das Lateinische, Französische u. Englische eignete er sich Schritt für Schritt durch Selbststudium an. 1757 schließlich nahm er zus. mit Nicolai Griechisch-Unterricht. Mehr noch verdankte M. seine unglaublich reiche Kenntnis der Philosophie u. Literatur eigener Arbeit. Alles in allem ist sein mehrgleisiger Lebensweg durch eine niemals abgebrochene Vertiefung in die Quellen seines jüd. Glaubens, eine unermüdl. Aneignung der dt. Kultur u. eine höchst erstaunliche bürgerl. Karriere gekennzeichnet. M. besuchte seit 1735 die höhere Schule für Talmud-Studien (Bet Hamidrasch) in Dessau. 1742 begann er mit der Lektüre des More Newuchim (Führer der Verirrten) von Moses Maimonides. Im Herbst 1743 folgte er seinem Lehrer David Fränkel nach Berlin, um bei ihm sein Talmud-Studium fortzusetzen. Zgl. aber begann unter schwierigsten materiellen Bedingungen seine leidenschaftl. Aneignung der modernen europ. Kultur durch Studium der Sprachen, Philosophie u. Mathematik. Insbes. die frühe Lektüre von Leibniz, Locke u. Wolff übte einen bleibenden Einfluss aus. Seinen Unterhalt verdiente M. zunächst durch Abschreiben hebräischer Texte. 1750 wurde er Hauslehrer bei dem Seidenwarenhändler Isaak Bernhard. 1754 machte ihn dieser zum Buchhalter seiner inzwischen gegründeten Seidenmanufaktur, die M. seit 1761 mehr oder minder selbständig leitete u. nach Bernhards Tod 1768 zus. mit dessen Witwe höchst erfolgreich weiterführte. Nicht weniger aber wurde M.s Leben durch eine Reihe intensiver Freundschaften bestimmt, insbes. mit Lessing (seit 1753), der ihm 1779 in seinem Nathan ein bleibendes Denkmal gesetzt hat, mit Nicolai (seit 1754) u. mit Abbt (seit 1761). 1762 heiratete M. Fromet Gugenheim in einer für das damalige Judentum alles andere als selbstverständl. Liebesbeziehung, die in M.s Brautbriefen (Einzelausg. Bln. 1936. Neudr. Königst. 1985) ihren bezaubernden Ausdruck gefunden hat.
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1763 erhielt M. durch Vermittlung des Marquis d’Argens nach langen Bemühungen das Privileg eines außerordentl. Schutzjuden, das seinen Aufenthalt in Preußen sicherte. In M.s Tätigkeit als Schriftsteller (u. als Übersetzer von Rang) lassen sich fünf Themenschwerpunkte unterscheiden, die bei allen Überlappungen auch Schaffensphasen charakterisieren: Metaphysik, Ästhetik, Literaturkritik, Fragen des Judentums u. polit. Theorie. M.s erste selbständige Veröffentlichung waren die Philosophischen Gespräche (Bln. 1755), die zentrale Themen der Leibniz’schen Metaphysik zum Inhalt haben. Noch im gleichen Jahr folgten die Abhandlung Über die Empfindungen (Bln. 1755) u. die zus. mit Lessing verfasste Kampfschrift Pope ein Metaphysiker! (Danzig 1755), die gegen die Königliche Akademie der Wissenschaften zu Berlin gerichtet war. Im Jahr darauf erschien M.s Übersetzung von Rousseaus Discours sur [...] l’inégalité (Abhandlung von [...] der Ungleichheit unter den Menschen. Bln. 1756). 1757 begann – im Verein mit Nicolai, Lessing u. Abbt – M.s ebenso unermüdliche wie vielseitige Tätigkeit als Literaturkritiker, die seinen Ruf als Vorbild u. Maßstab der dt. Sprache wesentlich mitbegründet hat. Die drei großen Rezensionsorgane der Zeit, die »Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste« (Beiträge 1757–1759), die »Briefe die Neueste Litteratur betreffend« (Beiträge 1760–1765) u. auch noch die »Allgemeine deutsche Bibliothek« (Beiträge ab 1765), wurden durch seine Mitarbeit geprägt. Einen ersten aufsehenerregenden Erfolg brachte das Jahr 1763: M. beteiligte sich an der Preisfrage der Berliner Akademie nach der Natur u. dem Grad der Gewissheit der metaphys. Wahrheiten – eine Frage, die bewusst einen Grundpfeiler der Wolff’schen Philosophie in Frage stellte – mit einer Abhandlung über die Evidenz in Metaphysischen Wissenschaften (Bln. 1764) u. erhielt den ersten Preis, während die Schrift Kants nur mit dem zweiten Preis ausgezeichnet wurde. In beiden Abhandlungen artikuliert sich in je eigener Form ein neues Verständnis von Aufklärung, das durch die Idee der Analysis bestimmt ist.
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Zu den wichtigsten Beiträgen der »Literaturbriefe« zählen die beiden höchst kontroversen Stellungnahmen von Abbt u. M. aus dem Jahr 1764 zu der Betrachtung über Die Bestimmung des Menschen (1748) des lutherischen Aufklärungstheologen Spalding. Diese Schrift, die der dt. Spätaufklärung geradezu einen ihrer Schlüsselbegriffe geliefert hat, hat auch M. tief beeinflusst. Sein vielleicht bekanntester Satz, »Bestimmung des Menschen. Nach Warheit forschen; Schönheit lieben; Gutes wollen; das Beste thun«, ist allem Vermuten nach eine Zusammenfassung der Grundgedanken Spaldings. Aus der Auseinandersetzung mit Abbts Skepsis ging schließlich diejenige Schrift hervor, die M.s europ. Ruhm begründet u. ihm den Titel des dt. Sokrates eingetragen hat: Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele (Bln./Stettin 1767). Allein acht gezählte Auflagen sowie Übersetzungen in zehn Sprachen zeugen von der Wirkung des Buchs, das zgl. wesentlich zur Platon-Renaissance beigetragen hat. Eine späte Weiterführung der anthropolog. Probleme enthalten M.s Anmerkungen zu Abbts freundschaftlicher Correspondenz (Bln./Stettin 1782), nach Altmann der »reifste und beredste Ausdruck der religiösen Weltanschauung Mendelssohns«. Der literar. Erfolg M.s fand u. a. darin seinen Niederschlag, dass die Berliner Akademie M. 1771 zu ihrem ordentl. Mitgl. vorschlug – wenngleich Friedrich der Große die Ernennung verweigert hat. Aber auch der linkische Bekehrungsversuch Lavaters 1769, der von M. in seinem Schreiben an den Herrn Diaconus Lavater zu Zürich (Bln./Stettin 1770) souverän zurückgewiesen wurde, spiegelt auf seine Weise die führende Rolle M.s im geistigen Leben seiner Zeit. Freilich wurde M.s Leben seit 1771 von einer schweren Nerven- bzw. Herzkrankheit überschattet, die ihn zu einer einschneidenden Neuakzentuierung seiner Interessen, insbes. zu einer verstärkten Vertiefung in die Quellen seines Glaubens, geführt hat. Auch nach seiner Wiederherstellung (1777) konnte M. nur noch in den »Morgenstunden« (daher der Titel seines letzten Werks) philosophisch arbeiten. Eine Frucht jener Schwerpunktverlagerung war die um 1774 begonnene Überset-
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zung u. Kommentierung der fünf Bücher lungskat.). – Ders., Eva J. Engel u. Norbert Hinske Mose (Bln. 1783). Sie wurde in hebr. Buch- (Hg.): M. M. u. die Kreise seiner Wirksamkeit. Tüb. staben gedruckt, war also an das jüd. Publi- 1994. – Dominique Bourel: M. M. La naissance du kum adressiert, u. sollte gleichermaßen der judaïsme moderne. Paris 2004 (mit umfangreicher Bibliogr.). Dt. Übers.: M. M. Begründer des moVertiefung in die Quellen des jüd. Glaubens dernen Judentums. Zürich 2007. – Shmuel Feiner: wie der Aneignung der dt. Sprache u. Kultur M. M., ein jüd. Denker in der Zeit der Aufklärung. dienen. An das dt. Publikum gerichtet war Aus dem Hebräischen v. Inge Yassur. Gött. 2009 dagegen M.s Psalmenübersetzung (Bln. (Biogr.). Norbert Hinske 1783), die zgl. etwas von dem Beter M. erkennen lässt. M.s bedeutendstes Werk zu Fragen des JuMendelssohn, Peter de (bis 1937: von), dentums – aber auch zur polit. Theorie u. auch: Carl Johann Leuchtenberg, Peter Aufklärung – ist jedoch seine Schrift Jerusalem Mendel, Clemens Rabener, Elisabeth Seeoder über religiöse Macht und Judentum (Bln. ger, Mirza von Schüching, * 1.6.1908 1783). M.s polit. Theorie (die auch auf die München, † 10.8.1982 München; GrabGesetzgebung in Preußen Einfluss genomstätte: ebd., Bogenhausener Friedhof. – men hat) fand daneben in seiner Mitarbeit in Journalist, Romancier, Sachbuchautor. der Mittwochsgesellschaft u. an der »Berlinischen Monatsschrift« ihren Ausdruck. Hier M. verbrachte als Sohn eines in der künstleerschien 1784 sein einflussreicher Beitrag rischen Reformbewegung engagierten GoldUeber die Frage: was heißt aufklären? (ur- schmieds Kindheit u. Jugend in der Künstsprünglich ein internes Votum für die Mitt- lersiedlung Hellerau bei Dresden. Nach dem wochsgesellschaft), in dem er am Ende den Abitur wurde er Redakteur beim »Berliner Gedanken der Dialektik der Aufklärung arti- Tageblatt«. Schon mit 24 Jahren hatte er zwei kulierte, einen Gedanken, der für das Le- Romane, einen Novellenband u. die große, bensgefühl des späten M. charakteristisch ist. autobiografisch gefärbte Liebesgeschichte M.s letzte Lebensjahre wurden von der Schmerzliches Arkadien (Bln. 1932. Verfilmt Auseinandersetzung mit Friedrich Heinrich 1954 u. d. T. Marianne) über Erlebnisse u. Jacobi über Lessings angebl. Spinozismus Empfindungen eines Auslandsdeutschen in überschattet (Morgenstunden oder Vorlesungen einem Internat am Bodensee veröffentlicht. M. verließ Deutschland 1933 u. kam über über das Daseyn Gottes. Bln. 1785. An die Freunde Lessings. Bln. 1786), die beim Übergang von Paris u. Wien nach London, wo er 1936–1945, der Aufklärung zum dt. Idealismus eine fol- dann wieder 1948–1970 lebte, seit 1941 als brit. Staatsbürger. Von 1938 an war er in genreiche Rolle gespielt hat. Ausgaben: M. M.s ges. Schr.en. Hg. Georg Ben- zweiter Ehe mit der Schriftstellerin Hilde jamin Mendelssohn. 7 Bde. (in 8), Lpz. 1843–45. Spiel verheiratet. Während des Kriegs arbeiNeudr. Hildesh. 1972–76. – M. M. Ges. Schr.en. tete M. im brit. Staatsdienst, von 1945 an für Jubiläumsausg. Begonnen v. Ismar Elbogen, Julius drei Jahre als Presse-Verantwortlicher bei der Guttmann, Eugen Mittwoch, fortgesetzt v. Alex- brit. Kontrollkommission in Düsseldorf; ander Altmann. 25 Bde. (in 37), Bln. 1929–32. später beteiligte ihn die amerikan. NachBreslau 1938. Stgt.-Bad Cannstatt 1971 ff. richtenkontrolle maßgeblich an der GrünLiteratur: Bibliografien: Herrmann M. Z. Meyer: dung der Zeitungen »Tagesspiegel«, »TeleM. M. Bibliogr. Bln. 1965. – Michael Albrecht: M. graf« u. »Welt« in Berlin. 1950–1970 war M. M. Ein Forschungsber., 1965–80. In: DVjs 57 Hörfunkkorrespondent des Bayerischen (1983), S. 64–166. – Gesamtdarstellungen: Bertha Rundfunks in London. 1970 siedelte er nach Badt-Strauss: M. M. Der Mensch u. das Werk. München über. Er war seit 1975 als NachfolZeugnisse, Briefe, Gespräche. Bln. 1929. – Alexander Altmann: M. M. A Biographical Study. London ger von Karl Krolow Präsident der Deutschen 1973. – Heinz Knobloch: Herr Moses in Berlin. Akademie für Sprache und Dichtung. M. war ein hochgebildeter, außergewöhnBln./DDR 1979. 21981 (überarb.). – M. Albrecht: M. M. 1729–86. Das Lebenswerk eines jüd. Denkers lich produktiver, leidenschaftl. u. gewissender dt. Aufklärung. Weinheim 1986 (Ausstel- hafter Schriftsteller. In seiner Londoner Zeit
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Meng
übersetzte er mehr als hundert Bücher ins von 20 Bänden der Frankfurter Ausgabe der Englische (u. a. Hermann Kasack) oder Deut- Werke Thomas Manns (Ffm. 1980 ff.) heraus. sche (Somerset Maugham, Eric Ambler) u. Weitere Werke: Fertig mit Berlin! Bln. 1930. verfasste selbst 40 Bücher – deutsch u. eng- Ffm. 2004 (R.). – Paris über mir. Bln. 1931 (R.). – lisch. Den Roman Die Kathedrale (Hbg. 1983) Das Haus Cosinsky. Bln. 1934 (R.). – Zeitungsstadt schrieb er 1948 angesichts der vom Krieg Berlin. Bln. 1959. – Von dt. Repräsentanz. Mchn. zerstörten Heimat. Das symbolbeladene 1972 (Ess.). – Das Gedächtnis der Zeit. Percha 1974 (R.). – Das Gewissen u. die Macht. Mchn. 1974 Fragment (unveröffentlicht) mit dem Unter(Ess.). – Unterwegs mit Reiseschatten. Ffm. 1977 titel Ein Sommernachtmahr – in apokalypt. (Ess.). Thematik, surrealistischem Stil u. ReflexiLiteratur: Hilde Spiel: Der Erzähler P. de M. onsreichtum Kasacks Stadt hinter dem Strom In: P. de M. ›Die Kathedrale‹ (s. o.). – Martin Greverwandt – übersetzte M. kurz vor seinem gor-Dellin: Verklärung des guten Arbeiters. Zum Tod ins Deutsche u. bezeichnete es als abge- Tod von P. d. M. In: NR 93 (1982), S. 165–169. – Waltraud Strickhausen: Exil oder zweite Heimat? schlossen. Die bes. schriftstellerische Stärke des in- P. d. M. in London (1936–70). In: GLL 45, H. 3 tellektuellen Weltbürgers M. lag im Essayis- (1992), S. 254–260. – Nicolas Berg: Intellektuelle tischen, Biografischen u. Monografischen, Distanzen. Versuch über Gottfried Benn, P. d. M. u. die Frage nach dem Gegenteil v. Gedächtnis. In: weniger im Erzählerischen. In England sehr Erinnern. Hg. Wolfram Mauser. Würzb. 2004, erfolgreich war eine verehrende Churchill- S. 111–124. – Marcus M. Payk: Der Geist der DeBiografie (dt. Bln. 1957. Engl. London 1961); mokratie. Intellektuelle Orientierungsversuche im in der westdt. Öffentlichkeit viel diskutiert Feuilleton der frühen BR. Karl Korn u. P. d. M. wurde die Aufsatzsammlung Der Geist in der Mchn. 2008. Arnd Rühle / Red. Despotie (Mchn. 1953) über das Verhältnis der Dichter Hamsun, Benn u. Ernst Jünger zum Nationalsozialismus. Meng, Brigitte, geb. B. Beck (auch als M.s wichtigstes Thema war der Lebenskreis Pseud. verwendet), * 19.2.1932 Frankfurt/ der Familie Mann, insbes. Werk u. Biografie M. – Lyrikerin, Erzählerin, Dramatikerin. Thomas Manns. Mit Klaus u. Erika Mann M.s Familie emigrierte 1933 nach Basel. verband M. seit Ende der 1920er Jahre eine 1952–1955 studierte sie am dortigen Institut Freundschaft. Beginn der schriftstellerischen für Angewandte Psychologie (Diplomarbeit Beschäftigung mit Thomas Mann waren 1948 über das Vaterproblem bei Kafka). »Drei Briefe über Doktor Faustus« u. d. T. Der M. macht in ihrem lyr. Schaffen mit konZauberer (Bln.; Ess.). Denselben Titel wählte ventionellen Metaphern u. gängigen Bildern M. später für seine umfänglichste Einzelar- traditionelle poet. Themen wie Liebe, Trenbeit, die nur in einem ersten Band erschie- nungsschmerz, Kindheitserinnerungen, zwinene Thomas Mann-Biografie, in der er auf schenmenschl. Beziehungen u. Naturbefast 1200 Seiten harmonisierend, aber histo- trachtungen zu ihrem Gegenstand. In der risch fair eine detaillierte Materialsammlung Gedichtsammlung Unter der Maske (Klagenf. über Leben u. Werk bis 1918 zusammentrug. 1988) sucht das lyr. Ich durch nostalg. RückAn der Fortsetzung, die etwa 5000 Seiten besinnung auf Kindheit u. Märchenzauber beansprucht hätte, arbeitete M. bis zu seinem nach Identität u. erkundet den eigenen Tod. Der Zauberer erschien 1975 zum 100. Standort im gesellschaftl. Beziehungsnetz, Geburtstag Thomas Manns in dessen Verlag das von Doppelmoral u. Täuschung geprägt S. Fischer. Über dieses Verlagshaus u. seinen ist. In ihrem autobiogr. Roman Das schwarze Gründer hatte M. schon fünf Jahre zuvor eine Zimmer (Zürich 1989) verfolgt M. in realistisolide Monografie vorgelegt (S. Fischer und sein scher u. eindimensionaler Erzählstrategie die Verlag, 1859–1934. Ffm. 1970), die im Erfassen Entwicklungsstufen der Protagonistin – von der literar. Epoche weit über die üblichen Kindheitsängsten u. Selbstisolation bis zum Firmengeschichten hinausgeht. M. gab die Neubeginn. In Für niemandes Kopf gedacht ersten fünf der Tagebücher u. die sechs ersten (Klagenf. 1990) empfindet die Autorin in
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einzelnen Szenen nach, wie wenig Innen- u. Außenwelt miteinander in Einklang zu bringen sind, u. greift bei ihren lyr. Schilderungen v. a. auf Sinnbilder aus der Natur zurück. Weitere Werke: Ein Fahrplan stimmt nicht mehr. Lausanne 1964 (Einakter). – Spürst du die Schatten? Basel 1965 (L.). – Ein Fingerhut voll Einsamkeit. Darmst. 1978 (L. u. lyr. P.). – Versuch, einen toten Schmetterling in einen lebendigen zu verwandeln. Darmst. 1993 (lyr. P. u. L.). Literatur: B. M. zum 50. Geburtstag. Darmst. 1982. Pia Reinacher / Sonja Schüller
Mengs, Anton Raphael, * 12.3.1728 Aussig/Böhmen (heute: Ústí nad Labem, Tschechische Republik), † 29.6.1779 Rom; Grabstätte: ebd., San Michele in Sassia. – Maler u. Kunstschriftsteller. Bis 1740 erhielt M. in Dresden Unterricht bei seinem Vater, dem Miniatur- u. Emailmaler Ismael Mengs (1688–1764), der ihn von 1741 bis 1744 zum Studium der ital. Renaissancemalerei nach Rom begleitete. Nach Dresden zurückgekehrt, ernannte August III. den 18Jährigen 1746 zum Hofmaler. Im Anschluss an einen zweiten Rom-Aufenthalt, während dessen M. zum Katholizismus konvertiert war u. die Italienerin Margarita Guazzi geheiratet hatte, rückte er 1751 zum Oberhofmaler auf. Ab 1752 wieder in Rom, wurde er in die Accademia di S. Luca aufgenommen, die ihn 1770 zu ihrem Principe wählte. Als Hofmaler Karls III. reiste M. 1761 nach Madrid, hielt sich aber ab 1771 als Direktor der Spanischen Akademie bis zu seinem Tod überwiegend in Rom auf. Aus den Kunstgesprächen, die M. ab 1755 mit Winckelmann in Rom führte, ging der Plan zu dem Gemeinschaftswerk Vom Geschmack der griechischen Künstler hervor, das noch in Form der handschriftlich überlieferten Abhandlung Beschreibung der Statuen im Belvedere greifbar ist; Zeitgenossen wiesen M. zudem Anteile an Winckelmanns kunsthistor. Schriften zu. In seiner Hauptschrift, Gedanken über die Schönheit und über den Geschmak in der Malerey (Zürich 1762 u. ö.), entwickelt M., ausgehend von der klassizist. Annahme eines Verfalls der
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Kunst nach ihrer Blüteperiode in Griechenland, ein Konzept, das dem neueren Maler eine erneute Annäherung an das Schönheitsideal der Griechen ermöglichen soll. Da in nachgriech. Zeit kein bildender Künstler mehr die vollkommene Schönheit, einige aber einzelne ihrer Aspekte vollkommen ausgebildet hätten, seien Ausdruck, Komposition u. Zeichnung Raphaels, das Helldunkel Correggios u. die Farben Tizians nachzuahmen u. zu kombinieren. Dieser Eklektizismus, der sämtl. Schriften M.’ durchzieht, beherrschte die Kunstliteratur Ende des 18. Jh. u. erlangte durch Werkausgaben in italienischer (Parma 1780. Bassano 1783. Rom 1787), span. (Madrid 1780. 1797), frz. (Paris 1781. Ratisbonne 1782. Paris 1786. 1787) u. engl. Sprache (London 1796) breite europ. Wirkung. Ansätze zu einem kunsthistorisch-analyt. System von Beschreibungskategorien bietet das Schreiben an Herrn Anton Pons (Madrid 1776. Dt. Wien 1778), eine Darstellung der kgl. Gemäldesammlung zu Madrid, in dessen erstem Teil M. die Begriffe des hohen, schönen, reizenden, bedeutenden, natürl. u. leichten Stils sowie die der Zeichnung, des Helldunklen, des Kolorits, der Erfindung u. Zusammensetzung entwickelt u. zu einer (noch sehr additiv-mechan.) Methode der Bildanalyse u. -kritik zusammenstellt. Lessing zeigt sich davon ebenso beeinflusst wie Johann Heinrich Meyer u. Goethe, deren Bildbeschreibungen sich an dieses Schema anlehnen. Eine in das 19. Jh. hineinreichende Wirkung erzielte M., dessen Ruhm in der Romantik jäh verfiel, mit seinem Praktischen Unterricht in der Mahlerei (Nürnb. 1783), der den neoklassizist. dt. Kunstakademien als Dokument der Überwindung des Rokoko galt. Ausgaben: Werkausgaben: Des Ritters A. R. M. hinterlaßne Werke. Hg. Christian Friedrich Prange. 3 Bde., Halle 1786. – Sämmtl. hinterlassene Schr.en. Hg. Gustav Schilling. 2 Bde., Bonn 1943/ 44. – Briefe: Briefe an Raimondo Ghelli u. Anton Maron. Hg. Herbert v. Einem. Gött. 1973. Literatur: Bibliografien: Winfried Lüdecke: M. In: Repertorium für Kunstwiss. 40 N. F. 5 (1917), S. 255–260. – Thieme/Becker 24, S. 390–392. –
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165 Bilderverzeichnis: Dieter Honisch: A. R. M. u. die Bildform des Frühklassizismus. Recklinghausen 1965. – Biografien: Azara u. Bianconi in: Werke, Bd. 1. – F. Pecht: M. In: ADB. – Franz v. Reber: R. M. In: Kunst u. Künstler des MA u. der Neuzeit. Hg. Robert Dohme. 1. Abt., 2. Bd., H. 38, Lpz. 1878, S. 21–40. – Zum schriftstellerischen Werk: Carl Justi: Winckelmann u. seine Zeitgenossen. Bd. 2, Lpz. 21898, S. 26–44 u. passim. – Otto Harnack: R. M.’ Schr.en u. ihr Einfluß auf Lessing u. Goethe. In: Ders.: Essais u. Studien zur Literaturgesch. Braunschw. 1899, S. 192–201. – Ulrich Christoffel: Der schriftl. Nachl. des A. R. M. Diss. Basel 1918. – Wilhelm Waetzoldt: Dt. Kunsthistoriker. Bln. 3 1986, S. 79–94. – Steffi Roettgen: A. R. M. and his British Patrons. London 1993. – Dies. (Hg.): M. – die Erfindung des Klassizismus. Mchn. 2001. Dirk Kemper / Red.
Mennel, Mennli, Manlius, Jakob, * um 1460 Bregenz, † vor 9.1.1525 Freiburg/Br. – Verfasser genealogisch-historisch-hagiografischer Schriften. M. wurde um 1460 in Bregenz geboren u. war eigentlich zum Geistlichen bestimmt. 1477 bezog er die Universität Tübingen (Magister 1484). Nach einer Zwischenstation als Lateinschullehrer in Rottenburg/N. nahm er 1493 das Rechtsstudium an der Universität Freiburg/Br. (Promotion 1505) u. vorübergehend auch an der Universität Basel auf. Ein dauerhaftes Auskommen, das auch seine anwachsende Familie erforderte, fand er 1496 als Stadtschreiber von Freiburg u. 1500 als Kanzler des Johanniterordens, dessen Großpriore in Heitersheim unweit Freiburgs residierten. Im hofnahen Klima, das die Stadt Freiburg im Zeitalter Kaiser Maximilians I. auszeichnete (Reichstag 1498), suchte u. fand er Anschluss an den kaiserl. Hof, wurde 1505 Rat u. schließlich Hofhistoriograf Maximilians. Dementsprechend umfasst M.s Œuvre Schriften, die aus der Schul- u. Rechtspraxis erwachsen sind, Schriften mit ausgesprochenem Werbecharakter u. genealogisch-hagiograf. Werke für den Kaiser. M.s juristischtheolog. Interessen entspricht die Passion in Form eines Gerichthandels, eine Mischung aus Musterformularsammlung u. Erbauungsbuch, die 1514 mit einem Vorwort Johann Adelphus Mulings in Straßburg erschien. Zu
den Werbeschriften gehört eine Bearbeitung des Schachzabels Konrad von Ammenhausens (Konstanz 1507), die, an eine Reichstagsöffentlichkeit gerichtet, mit der allegor. Tradition des Genres brach u. es zur Spielliteratur hin öffnete. Sein eigentl. Betätigungsfeld fand M. in der Erforschung der habsburg. Genealogie. Mit der gedruckten Reimchronik Cronica Habspurgensis Rigmatica, die die von Maximilian gewünschte fränkisch-burgundische Herkunft des Hauses Habsburg postulierte u. zwei Auflagen erlebte (Konstanz 1507 u. um 1510), gelang ihm auf dem Konstanzer Reichstag 1507 der Durchbruch. M.s Hauptwerk stellt die im Auftrag Maximilians entstandene, fünfbändige Fürstliche chronick, kayser Maximilians Geburtsspiegel genant (ÖNB Wien, Cod. 3072*-3077) dar. M. beschreibt darin die »habsburgische« Genealogie seit dem Untergang Troias, die sich aus den Seitenlinien ergebende Verwandtschaft des Erzhauses u. die Heiligen der Sipp-, Mag- u. Schwägerschaft, mit denen Maximilian ein habsburg. Kalendar zu etablieren versuchte. Mit der Fürstlichen Chronik sollte Maximilians europ. Dimensionen annehmende Politik genealogisch hinterfangen u. ein habsburg. Herkommen postuliert werden, das schlechterdings nicht zu überbieten war. Die Chronik wird ergänzt von der prächtig illustrierten Kurzfassung Der Zaiger (ÖNB Wien, Cod. 7892) u. dem Buch von den erlauchtigen und claren wybern (ÖNB Wien, Cod. 3077***), das die weibl. Herrscherinnen akzentuiert. M.s Konstruktionen bildeten die Grundlage für die genealog. Herrschaftsrepräsentation Maximilians (Ahnenreihe der Ehrenpforte, Holzschnittfolgen des habsburg. Stamms u. der Heiligen des Hauses u. nicht zuletzt die Bronzefiguren des Kaisergrabmals in Innsbruck). Seine Werke blieben aber ungedruckt u. nur schwer zugänglich, gerieten darüber rasch in Vergessenheit u. wurden eigentlich erst im vergangenen Jahrhundert neu entdeckt. M. selbst verlor mit dem Tod Maximilians seine Position am Hof, ein Angebot zur Umarbeitung der Fürstlichen Chronik von 1523 fand bei Erzherzog Ferdinand keine Resonanz, seine Auslagen blieben unbezahlt. Sein
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Spätwerk, darunter v. a. die Konstanzer Bis- Univ. Klagenf. 1999). – Tanja Reinhardt: Die tumschronik (handschriftl. Stadtbibl. Schaff- habsburg. Heiligen des J. M. Diss. phil. masch. hausen, Ms. 74; BLB Karlsruhe, Hs. KA 662; Univ. Freib. 2002. – Oliver Plessow: J. M. u. der Abdruck bei J. Pistorius: Rer. Germ. Script. Didaxeverzicht in der Schachzabellit. am Übergang zur frühen Neuzeit. In: Lit. – Gesch. – LiteraturVI., Ffm. 1607, S. 615–722) sowie kleinere gesch. Beiträge zur mediävist. Literaturwiss. FS Druckwerke sind als Versuche M.s zu verste- Volker Honemann. Hg. Nine Miedema u. Rudolf hen, mit den gesammelten Materialien neue Suntrup. Ffm. 2003, S. 917–936. – Clemens Joos: Auftraggeberkreise zu erschließen. Cronica v. den Hertzogen v. Zäringen, Stüffter der M. schrieb ein gutes Kanzleideutsch ohne Statt Freyburg im Breyßgaw. Studien zu Johannes literar. Anspruch, aber mit Sinn für plastische Sattlers Zähringer-Chronik aus dem Zeitalter Kaiu. mitunter humorvolle Formulierungen. Er ser Maximilians I. Diss. phil. Univ. Freib. (in Vorb.; ist einer der profiliertesten Vertreter der von mit vollständiger Biogr. u. Bibliogr.). Clemens Joos Ladislaus Sunthaym so benannten »Newen Historien«, die Innovationen der humanist. Geschichtsschreibung wie die systematische Mensching, Steffen, * 27.12.1958 Berlin/ Quellensammlung, das »ambulante« For- DDR. – Lyriker, Kabarettist, Filmschauschen u. die Einbeziehung nichtschriftl. spieler. Quellen in traditionelle, durch die Genealo- Nach dem Abitur 1977 studierte M. Journagie vermittelte Geschichtsentwürfe inte- listik in Leipzig u. Kulturwissenschaft/Äsgrierten u. deshalb methodisch in die Zu- thetik in Berlin. Als Autor u. Schauspieler kunft wiesen. Nach Freiburger Quellen war arbeitete er von 1979 bis zur Auflösung 1988 M. Anfang 1525 bereits tot. für das Liedertheater »Karls Enkel«. Als einer Weitere Werke: Bibliografie (mit Nachweis v. a. der meistgeförderten Nachwuchslyriker in der handschriftl. Überlieferung): VL (auch: Nach- der DDR der 1980er Jahre erhielt er literar. träge u. Korrekturen). – Druckwerke: Rethorica [sic!] Auszeichnungen, u. a. für seinen GedichtMinor cum tractatulo kalendarum, nonarum et band Erinnerung an eine Milchglasscheibe (Halle/ yduum Juvuenibus admodum utilis. Freib. i. Br. Lpz. 1984) den Debütpreis des Schriftsteller1494 (handschriftl. UB Freiburg, Hs. 178, fol. 11rverbands. Neben prosanahen Erzählgedich22r). – De inclito atque apud Germanos rarissimo actu ecclesiastico [...]. Augsb. 1518. Hg. J. K. F. ten, die in weit ausgreifenden Reflexionen Knaake. In: Jb. des dt. Reichs u. der dt. Kirche im Augenblicke dt. Geschichte beschwören oder Zeitalter der Reformation 1 (1872), S. 219–235. – an die Protagonisten einer »Ästhetik des WiKeyserall u. Bäpstall. Basel 1522 (handschriftl. derstands« erinnern (Mühsam, Majakowski Vorarbeit: Kayserart, ÖNB Wien, Cod. 8786). – Seel etc.), enthält die Sammlung satir. Strophen u. unnd Heiligenbuch Keiser Maximilians altfordern. kleine, zarte Liebespoeme. In Tuchfühlung Freib. i. Br. 1522 (handschriftl. lat. Fassung in: (Halle/Lpz. 1986) näherte sich M.s poet. BNE Madrid, Ms. 17980). – Ain hüpsche Chronick Diktion, inspiriert von den »long poems« der v. Heidnischen u. Christen Künigen der Teütschen amerikan. Beat Generation, noch stärker der u. Welschen Francken. Freib. i. Br. 1523. Prosa an. M.s Anknüpfen an offiziell kanoLiteratur: Dieter Mertens: Gesch. u. Dynastie – nisierte Literaturtraditionen der DDR (z.B. zu Methode u. Ziel der ›Fürstlichen Chronik‹ J. Brechts Realismus) brachte ihn in entschieM.s. In: Historiographie am Oberrhein im späten denen Gegensatz zu seinen rebellischen MA u. in der frühen Neuzeit. Hg. Kurt Andermann. Sigmaringen 1988, S. 121–153. – Karl Heinz Bur- Dichterkollegen vom Prenzlauer Berg. Kritimeister: Seine Karriere begann auf dem Freiburger ker warfen ihm poet. Konformismus oder Reichstag. Der Jurist u. Historiker Dr. J. M. »penetrante Didaktik« (Jan Faktor) vor. In (1460–1526). In: Der Kaiser in seiner Stadt. Maxi- seiner satir. Prosaarbeit Die Stadt (in: Schöne milian I. u. der Reichstag zu Freiburg 1498. Hg. Aussichten. Neue Prosa aus der DDR. Hg. ChrisHans Schadek. Freib. i. Br. 1998, S. 94–113. – Peter tian Döring u. Hajo Steinert. Ffm. 1990, Kathol: Studien zu genealog. Konzeptionen Maxi- S. 71–90) erzählt M. von einer Reise in eine milians I. unter bes. Berücksichtigung der ›Fürst- verführerische Metropole des Westens, die lichen Chronik‹ J. M.s. In: MIÖG 106 (1998) S. 365–376 (beruht auf: Ders., Diss. Phil. masch.
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sein Treueverhältnis zu seiner Heimat stark derselben Nacht. Das Traumbuch des Exils. Bln. 2001. – Mit Haar u. Haut. Xenien für X. Bln. 2006. erschüttert. Literatur: Hans-Eckardt Wenzel: S. M.s M.s ambivalente Position zu den polit. Zuständen seiner Heimat wird bes. in seinen ›Traumhafter Ausflug mit Rosa L.‹. In: Lyriker im kabarettist. Arbeiten deutlich. Zus. mit sei- Zwiegespräch. Traditionsbeziehungen im Gedicht. Hg. Ingrid Hähnel. Bln./Weimar 1981, S. 345–367. nem Kollegen Hans-Eckardt Wenzel trat M. – Dieter Schlenstedt: Die kleine Geste. Zu einem als Clownsduo »Meh und Weh« auf, das mit Gedicht v. S. M. In: DDR-Lit. ’85 im Gespräch. Hg. dem Programm Neues aus der Da Da eR (un- Siegfried Rönisch. Bln./Weimar 1984, S. 320–325. – publiziert) im Okt. 1982 in Dresden Premiere Christel u. Walfried Hartinger: Ich sehe das Land hatte u. als komisches Gegenstück zur FDJ- nicht als Provinz. Gespräch mit S. M. In: Positionen Kulturkonferenz intendiert war. Im Folge- 2. Wortmeldungen zur DDR-Lit. Halle 1986. – programm Altes aus der Da Da eR (I u. II, 1988/ Mathias Mayer: Mythos (und) Sozialismus: ›Pyg1989; unpubliziert) greifen M. u. sein Partner malion‹ (1991) v. S. M. In: Lit. für Leser 16 (1993), S. 126–133. – Daniel Robb: Zwei Clowns im Lande verschiedene Institutionen der DDR wie das des verlorenen Lächelns. Das Liedertheater Wenzel Politbüro in satir. Form an. Das sich ab- & Mensching. Bln. 1998. – Ruth J. Owen: The Cozeichnende Ende der DDR wird in den Ende lonizing West: Post-›Wende‹ Poetry by Heiner 1989 aufgeführten Clownsprogrammen Neues Müller, S. M. and Bert Papenfuß. In: Legacies and aus der Da Da eR u. Letztes aus der Da Da eR. Identity: East and West German Literary Responses Clowneskes Endspiel aus einem verjubelten Teil to Unification. Hg. Martin Kane. Oxford u. a. 2002, Deutschlands verarbeitet (gedr. in: S. M. u. S. 113–126. – Arnd Beise: S. M. In: LGL. – Peter Hans-Eckardt Wenzel: Allerletztes aus der Da Peters: S. M. In: KLG. Michael Braun / Bernhard Walcher Da eR / Hundekomödie. Hg. Andrea Doberenz. Lpz. 1991, S. 11–63). Die Handlungszeit ist in die »unvollendete Vergangenheit« verlegt u. Mensing, Mensingk, Johann, * etwa 1470/ setzt sich direkter als die Vorgängerpro- 1480 Zutphen oder Zwolle/Niederlande, gramme kritisch mit der DDR auseinander. † 8.8.1547 Halberstadt. – Dominikaner, Mit M. als Schauspieler wurde Letztes aus der Kontroverstheologe. Da Da eR 1990 verfilmt (Regie: Jörg Foth). Nach seiner Ausbildung im Magdeburger Im wiedervereinigten Deutschland trat M. Dominikanerorden, dem er seit 1495 angezunächst mit virtuos erzählten Prosaarbeiten hörte, erlangte M. im März 1517 in Wittenhervor, die autobiografisch gefärbt (Lustigs berg das Lizentiat der Theologie. 1518 wurde Flucht. Bln. 2005) oder mit politisch neukon- er in Frankfurt/O. zum Dr. theol. promoviert. textualisierten mytholog. Stoffen (Pygmalion. 1522–1524 war er Domprediger u. Prior in Ein verloren geglaubter dubioser Kolportage-Roman Magdeburg, 1526–1529 Hofprediger der aus den späten 80er Jahren. Entschlüsselt und her- Fürstin Margaretha von Anhalt in Dresden. ausgegeben von Steffen Mensching. Halle 1991. Auf dem Augsburger Reichstag 1530 gehörte 2., überarb. Aufl. Bln. 2005) die DDR-Ge- er zu den Verfassern der Confutatio. Nach eischichte v. a. in ihrem Verhältnis zur neuen ner Professur in Frankfurt/O. wurde M. 1534 Bundesrepublik thematisieren. Diesen Ge- Provinzial von Sachsen u. 1539 Weihbischof gensatz greift M. auch wieder in seinen Ber- von Halberstadt. Als solcher beteiligte er sich liner Elegien (Lpz. 1995) auf, in denen die an den Religionsgesprächen in Worms (1540) Sprecher jeweils deutl. Kritik an der westl. u. Regensburg (1541). Lebensweise u. am Kapitalismus üben. Seit M. zählt zu den entschiedensten frühen dem Jahr 2000 tritt M. mit Soloprogrammen Gegnern der Reformation. Er bediente sich in auf verschiedenen dt. u. ausländ. Klein- der Auseinandersetzung hauptsächlich der dt. Sprache. Dabei setzte er auf die Überzeukunstbühnen als Kabarettist auf. Weitere Werke: Poesiealbum 146. Bln./DDR gungskraft der Argumente u. ließ sich kaum 1979. – Der Struwwelpeter neu erzählt. Lustige zu Grobheiten hinreißen. Gegen die EinGesch.n v. S. M. u. drollige Bilder v. Heinrich wände seiner Gegner, darunter neben Martin Hoffmann. Bln. 1994. – (Hg.) Rudolf Leonhard: In Luther u. a. die Marburger Prediger Johann
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Fritzhans, Eberhard Weidensee u. Nikolaus Menzel, Gerhard, * 29.2.1894 WaldenAmsdorf, verteidigte er bes. den Opfercha- burg/Schlesien, † 4.5.1966 Comano/Tesrakter der Messe (Von dem Testament Christi sin. – Erzähler, Dramatiker, Drehbuch[...]. Lpz. 1526. Von dem opffer Christi yn der autor. Messe [...]. Lpz. 1526. Replica auff das wutige [...] M. wurde nach dem Besuch des Gymnasiums schandbuchlyn Eberhardts Wydensehe [...]. Lpz. in Waldenburg Bankbeamter. Nach dem 1526. Vorlegunge: des unchristlichen buchlyns [...] Ersten Weltkrieg, an dem er als Frontsoldat Hans Fritzhanses [...]. Lpz. 1527) u. die kath. teilgenommen hatte, war er Teilhaber eines Auffassung von der Werkgerechtigkeit (BeJuweliergeschäfts; durch die Inflation seiner scheidt ob der Glaube alleyn: on alle gute wercke finanziellen Mittel beraubt, wurde er filmdem menschen genug sey zur seligkeyt [...]. Lpz. begleitender Harmoniumspieler u. Kinobe1528. Errettunge des christlichen Bescheydts [...]. sitzer. Aufgrund erster literar. Erfolge zog er Lpz. 1528). Mit den (kirchen-)polit. Folgen nach Berlin, kehrte wieder nach Schlesien der Reformation befasste sich seine Vormelzurück u. ging nach der Zwangsaussiedlung dunge der unwarheit Luterscher clage (Frankf./O. 1946 nach Bad Reichenhall, 1952 nach Berlin. 1532). Gegen Melanchthons Apologie der Am Anfang seiner literar. Karriere stand Augsburger Konfession richten sich M.s das weitgehend monologische Drama Tobogletzte Werke, Antapologie (Frankf./O. 1533) u. gan (Potsdam 1928) über einen im Krieg geVom vordienste und rechtfertigungen: des glaubens: fallenen Hauptmann. Während der NS-Zeit lieben, und guter werck (Frankf./O. 1535). wandte er sich nationalen Themen zu Ausgaben: Von dem Testament Christi [...]. In: (Scharnhorst. Bln. 1935; D.). Als Erzähler beFlugschr.en gegen die Reformation (1525–30). Hg. gann M. mit einer Anklage gegen frauenAdolf Laube. Bd. 1, Bln. 2000, S. 225–234. – Replica auf das wütige Schandbüchlein Eberhard Weiden- feindlich-zyn. Geschlechtsmoral (Wieviel Liebe sees u. Franz Fritzhans’ die Messe belangend. Ebd., braucht der Mensch. Breslau 1931; R.). Der RoS. 360–370. – Gründl. Unterricht [...]. Ebd., man Flüchtlinge (Breslau 1933) schildert das S. 566–609. – Bescheid, ob der Glaube allein ohne Schicksal von Wolgadeutschen; der Roman alle guten Werke genug sei zur Seeligkeit. Ebd., Kehr wieder, Morgenröte (Breslau 1952) ist ein Bd. 2, S. 758–796. – Gegen das Bekenntnis Martin bunter histor. Bilderbogen um Jesus von Luthers (zus. mit Konrad Wimpina u. a.). Ebd., Nazareth. Als Drehbuchautor verwertete M. S. 1237–1247. – Examen scripturarum atque ar- einige seiner Romane u. Stücke (z.B. Flüchtgumentorum: quae aduersus sacerdotium ecclelinge. 1953). 1933 wurde der Krieg u. Helsiae: libello de abroganda missa, per M. Lutherum dentum idealisierende U-Boot-Film Morgenrot sunt adducta [...]. Oratio secunda. Lpz. 1527. Inuraufgeführt. Neben weiteren Drehbüchern ternet-Ed.: VD 16 digital. wie Die Sünderin (1951) u. Hanussen (1955) Literatur: Bibliografien: Klaiber, S. 195 f. – schrieb M. auch Hörspiele (Das Reich ist unser. Hans-Joachim Köhler, Bibliogr. der Flugschr.en des 16. Jh. Tl. 1, Bd. 3, Tüb. 1996, Nr. 3342–3352. – VD 1932). 16. – Nikolaus Paulus: Die dt. Dominikaner im Kampf gegen Luther [...]. Freib. i. Br. 1903 (Werkverz.). – Weitere Titel: Erwin Iserloh: Der Kampf um die Messe. Münster 1952. – Walter Delius: Gegner Luthers in der Mark Brandenburg. In: Jb. für Berlin-brandenburg. Kirchengesch. 47 (1972), S. 33–54. – Vinzenz Pfnür: J. M. OP († 1547). In: Kath. Theologen der Reformationszeit. Bd. 3, Münster 1986, S. 48–64. – Remigius Bäumer: J. M. In: NDB. – Michael Höhle: Univ. u. Reformation. Die Univ. Frankfurt (Oder) v. 1506 bis 1550. Köln u. a. 2002. – Ders.: J. M. In: Bautz. Guillaume van Gemert / Red.
Weitere Werke: Liebhabertheater. Bln. 1933 (Kom.). – Was werden wir dann tun? Bln. 1933 (N.n). – Die Fahrt des Jangtiku. Köln 1937 (Jugendbuch). – Filme: Barkarole. 1934. – Das Mädchen Johanna. 1935. – Savoy Hotel 217. 1936. – Am Vorabend. 1943. Neufassung u. d. T. Ein Blick zurück. 1945. – Bodelschwingh. 1957. Literatur: Wilhelm Meridies: Der Dramatiker u. Filmdichter G. M. In: Der Schlesier 16 (1964). – Ders.: Der Dramatiker u. Filmdichter G. M. In: Schlesien 11 (1966). – Helmut Kreuzer: Deutschsprachige Hörspiele 1924–33. Ffm. u. a. 2003, S. 87–102. Christian Schwarz / Red.
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Menzel, Gerhard Walter, * 18.2.1922 Schkeuditz bei Leipzig, † 4.4.1980 Leipzig. – Erzähler, Kinderbuch- u. Hörspielautor. M., Sohn eines Straßenbahnfahrers, schloss einer Buchhändlerlehre ein Fachschulstudium an u. wurde Hersteller in einem Fachbuchverlag, nach 1945 Verkehrsstatistiker. 1948–1952 Dramaturg der Hörspielabteilung des Senders Leipzig, lebte er ab 1960 als freier Schriftsteller in Leipzig. M.s Leistung als Hörspielautor liegt in der Vermittlung klass. Werke des Realismus (Der Revisor. Die Weber. Erstsendung jeweils 1949. Der brave Soldat Schweijk. Erstsendung 1950). Zu M.s etwa 25 Hörspielen gehören neben Bearbeitungen auch Originalhörspiele, u. a. Der Ruhm Frankreichs (zu Frédéric Joliot-Curies Leben. Erstsendung 1950) u. Die Flucht (zu Friedrich Schiller. Erstsendung 1956). Erfolgreich war auch das Volksstück Marek (1952). Ab Ende der 1950er Jahre schrieb M. ausschließlich Prosa, blieb aber der historisch-biogr. Thematik treu: Die Erzählung Wermut sind die letzten Tropfen (Lpz. 1958) handelt von Heines Deutschlandreise, der Roman Ein Stern weicht nicht aus seiner Bahn (Lpz. 1962) von Schillers früher Schaffensphase. Der Roman Pieter der Drollige (Lpz. 1969) verbindet die sachkundige Behandlung der Hauptwerke Pieter Brueghels mit der Darstellung des niederländ. Freiheitskampfes. Weitere Werke: Der Clown Pallawatsch. Bln./ DDR 1961 (Kinderbuch). – Pieter Bruegel d.Ä. Lpz. 1967 (Monogr.). – Der weiße Delphin. Bln./DDR 1968 (Kinderbuch). – Die Truppe des Molière [...]. Lpz. 1975 (fiktive Biogr.). – Vermeer. Lpz. 1977 (Monogr.). – Wolfenbüttler Jahre: eine Erzählerin um Lessing. Halle 1980. – Lessing u.a. Dichtergestalten. Halle 1985. Literatur: Waldtraut Lewin: Laudatio für G. W. M. In: Mitt.en der Akademie der Künste der DDR 18 (1980). Christian Schwarz / Red.
Menzel, Herybert, * 10.8.1906 Obernik/ Bezirk Posen (Poznan´), † Februar 1945 Tirschtiegel bei Posen (gefallen). – Lyriker, Erzähler. M. war Mitgl. der SA u. erhielt während des Dritten Reichs mehrere literar. Auszeich-
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nungen für seine Parteidichtung. Nach Anfängen mit subjektiver Lyrik wandte er sich völk. Themen zu, so im Roman Umstrittene Erde (Bln. 1930), u. schrieb nationalsozialist. Gemeinschaftslieder u. Kantaten. Agitationsziel v. a. der Marschlieder war die Opferbereitschaft der Soldaten. Bes. bekannt wurde das 1935 geschriebene Lied Soldaten sind immer Soldaten, das Wolf Biermann als Vorlage für seine pazifist. Umdichtung diente (Soldat Soldat in grauer Norm...). Mit seiner Propagandalyrik (Im Marschschritt der SA. Bln. 1933. Wenn wir unter Fahnen stehen. Wolfenb. 1938) schloss M. formal an das Lied der Wandervogelbewegung an. Mit ihrem Nominalstil u. pathet. Ton waren M.s Kantaten zum Vortrag bei Appellen u. feierl. Anlässen gedacht (Das große Gelöbnis. In unseren Fahnen lodert Gott. Beide Mchn. 1935). Daneben schrieb M. auch Heimatliteratur. Weitere Werke: Mond u. Sonne u. Stern u. ich. Lpz. 1926 (L.). – Im Bann. Bln. 1930 (L.). – Der Grenzmark-Rappe. Bln. 1933 (Slg., E.en, L.). – Wir sind der Sieg! Lpz. 1934 (Sprechchöre). – Die große Ernte. Mchn. 1935 (Kantate zur Feier ländl. Arbeit). – Gedichte der Kameradschaft. Hbg. 1936. – Ewig lebt die SA. Mchn. 1938. – Soldatenweihnacht 1940. Dortm. 1940. – Herrn Figullas Schaufenster. Hbg. 1941 (E.). – Das Siebengestirn. Hbg. 1942 (R.). – Anders kehren wir wieder. Hbg. 1943 (L.). – Noch einmal Napoleon? Bln. 1943 (Kom.). Literatur: Lisa Lader u. Wulf Segebrecht: H. M. In: Der Bamberger Dichterkreis 1936–43. Hg. W. Segebrecht. Ffm. 1987, S. 192–197. – Martin Travers: ›Selbstgefühl, Todesschicksal‹, and the End of ›Parteidichtung‹. H. M.’s ›Anders kehren wir wieder‹ (1943). In: GLL 54, H. 4 (2001), S. 331–344. Christian Schwarz / Red.
Menzel, Wolfgang, * 21.6.1798 Waldenburg/Schlesien, † 23.4.1873 Stuttgart; Grabstätte: ebd., Hoppenlaufriedhof. – Erzähler, Kritiker, Literaturhistoriker, Redakteur. Von seiner früh verwitweten Mutter erzogen u. zunächst von Hofmeistern unterrichtet, besuchte der aus einer wohlhabenden Arztfamilie stammende M. ab 1814 das Gymnasium in Breslau. Noch ein Schüler, begeisterte er sich für die Befreiungskriege u. schloss sich
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der Turnbewegung an. 1818 begann er in Jena Geschichte u. Philosophie zu studieren, wurde nach der Ermordung Kotzebues aber von der nichtpreuß. Universität verwiesen u. wechselte nach Bonn. Seine Zugehörigkeit zur studentischen Opposition, bes. seine schon in Jena begonnene aktive Tätigkeit als Burschenschafter, brachte ihn hier in Konflikt mit den staatl. Behörden des restaurativen Deutschland, weshalb er 1820 nach Aarau emigrierte. Eine Anstellung als Lehrer für Turnen u. alte Sprachen gab er nach zwei Jahren auf, um sich ganz dem Schreiben widmen zu können. 1824 kehrte M. nach Deutschland zurück. Er ließ sich in Heidelberg, ab 1825 endgültig in Stuttgart nieder, von wo aus er nur noch zwei kürzere Reisen 1831 nach Österreich u. 1835 nach Italien unternahm. Seit 1826 verheiratet mit Johanna Bilfinger, beteiligte sich M. rege am kulturellen Leben der Stadt u. zog 1831 u. 1848 als Abgeordneter in den württembergischen Landtag ein. Von 1826 (offiziell von 1830) bis 1849 oblag M. die Redaktion des Cottaschen »Literaturblattes« (Beilage zum »Morgenblatt«). Danach lebte er, ohne feste Anstellung, als freier Schriftsteller einzig von dem Ertrag seiner umfangreichen literar. Produktion. M. machte sich weniger als Dramatiker (Rübezahl. Ein dramatisches Mährchen. Stgt. u. a. 1829. Narcissus. Ein dramatisches Mährchen. Stgt. u. a. 1830) u. Erzähler (Furore. 2 Bde., Lpz. 1851. Nachgelassene Novellen. Hg. Konrad Menzel. Thalwil 1885) denn als Kritiker einen Namen. Die geistige Haltung allerdings, die seinem Urteil über Politik, Geschichte u. Literatur zugrunde lag, kann nicht als eine einheitliche charakterisiert werden. Anfangs ein Liberaler, der mit fortschrittlichen, politisch-romant. Ideen die Restauration in all ihren Erscheinungen bekämpfte (so in der Aphorismensammlung Streckverse. Heidelb. 1823), wandelte sich M. 1834/35 zu einem äußerst konservativen Verfechter eines »christlichen Teutonismus« mit deutlich antifrz. u. gar antisemit. Einschlag. Aus letzterem begründet sich die insg. recht zurückhaltende u. distanzierte, bis zum Vorwurf der Vorläuferschaft zum Nationalsozialismus
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reichende Rezeption, die M.s Werk heute erfährt. Seine Kritik errichtete M. meist anhand von Feindbildern. Die vehemente Gegnerschaft zu Goethe, den er bereits in seiner Zeitschrift »Europäische Blätter« (Zürich 1824/25) u. später in der weit beachteten Literaturgeschichte Die deutsche Literatur (2 Bde., Stgt. 1828. Neudr. Hildesh. 1981. 2., verm. Aufl. in 4 Bdn., Stgt. 1836) als »Symbolfigur der alten, aristokratischen Welt« bekämpfte, machte ihn berühmt u. begründete seinen Ruf als gefürchteter Kritiker. In noch größerem Maße wurde M. diesem fragwürdigen Ruf gerecht, als er 1835 mit einer vernichtenden Rezension des Romans Wally, die Zweiflerin seines ehemaligen Schülers u. Mitarbeiters Gutzkow ein von der Bundesversammlung verhängtes Verbot der Schriften des Jungen Deutschland auslöste. M., der einstige Förderer Börnes, der »Ziehvater des Jungen Deutschland«, prangerte mit seiner Kritik vermeintlich antichristliche u. unmoral. Tendenzen in der Literatur an u. machte sich damit zum Werkzeug der reaktionären Kulturpolitik Metternichs. Seine nationale, gegenaufklärerische, den Geist eines »reinen« Germanen- u. Christentums beschwörende Literaturkritik führte M. in einem eigenen »Literaturblatt« (1852–69) sowie in der dreibändigen Darstellung Deutsche Dichtung von der ältesten bis auf die neueste Zeit (Stgt. 1858/59) fort. Daneben waren es hauptsächlich polit. u. histor. Schriften, mit denen er für eine dt. Nation unter der Führung Preußens ebenso stritt wie gegen einen übertriebenen Nationalismus u. Partikularismus. Während Die Geschichte der Deutschen (3 Bde., Zürich 1824/25. Stgt. 61872), noch weitgehend frei von Polemik, vorrangig der romant. Geschichtsdeutung verpflichtet war, gerieten M.s spätere Übersichten zur neueren Geschichte (postum zusammengefasst in: Geschichte der Neuzeit. Vom Beginn der französischen Revolution bis zur Wiederherstellung des deutschen Reiches. 13 Bde., Stgt. 1877/78) zu einem bloßen Instrument der polit. Einflussnahme. M.s etwas weitschweifige, zeitgeschichtlich dennoch aufschlussreiche Autobiografie hat sein Sohn Konrad u. d. T. Denkwürdigkeiten
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(Bielef./Lpz. 1877) herausgegeben. Eine Ausgabe der Briefe an Wolfgang Menzel (Hg. Heinrich Meisner u. Erich Schmidt. Bln. 1908) liegt vor. Weitere Werke: Tb. der neuesten Gesch. Jg. 1–5, 1830–35. – Reise nach Österr. im Sommer 1831. Stgt./Tüb. 1832. – Reise nach Italien im Frühjahr 1835. Stgt./Tüb. 1835. – Geist der Gesch. Stgt. 1835. – Europa im Jahre 1840. Stgt. 1839. – Die Gesänge der Völker. Lyz. Musterslg. in nat. Parallelen. Lpz. 1851. – Christl. Symbolik. 2 Bde., Regensb. 1854. – Zur dt. Mythologie. Stgt. 1835. – Die Naturkunde im christl. Geist aufgefaßt. 3 Bde., Stgt. 1856. – Kritik des modernen Zeitbewußtseyns. Ffm. 1869. – Was hat Preußen für Dtschld. geleistet? Stgt. 1870. – Elsaß u. Lothringen sind u. bleiben unser. Stgt. 1870. – Die vorchristl. Unsterblichkeitslehre. 2 Bde., Lpz. 1870. – Roms Unrecht. Stgt. 1871. – Gesch. der neuesten Jesuitenumtriebe in Dtschld. Stgt. 1873. Literatur: Heinrich Heine: Über den Denunzianten. Hbg. 1837. – Ludwig Börne: M. der Franzosenfresser. Paris 1837. – Erich Harsing: W. M. u. das junge Dtschld. Düsseld. 1909. – Franz Jahn: W. M. als polit. Charakter. Bln. 1928. – Wilhelm Winkler: W. M.s Bedeutung in den geistigen Auseinandersetzungen des 19. Jh. Breslau 1938. – Erwin Schuppe: Der Burschenschafter W. M. Eine Quelle zum Verständnis des NS. Ffm. 1952. – David Heald: W. M. – The ›Denunziant‹ Revalued. In: New German Studies 5 (1977), S. 25–48. – Jost Hermand: ›Was ist des Deutschen Vaterland?‹ Börne contra M. In: Ludwig Börne. Bearb. v. Alfred Estermann. Ffm. 1986, S. 199–209. – Gerhart Söhn: W. M. Düsseld. 2006. Jürgen Schiewe / Red.
Menzinger, Stefanie, verh. Straub, * 24.3. 1965 Gießen. – Prosaautorin.
schen märchenhaftem Gestus u. sexueller Direktheit changieren. Auch in ihrem ersten Roman (Wanderungen im Inneren des Häftlings. Zürich 1996), formal angelehnt an die Briefromane des späten 18. Jh., setzt M. den metamorphierenden Körper als Spiegelfläche für einen individuellen Erfahrungsraum ein. Über postal. Lügen erschafft sich die an der lett. Küste lebende Einsiedlerin Emily Hazelwood – Parallelen zur Biografie Emily Dickinsons sind offensichtlich – eine Art Selbsthilfegruppe. Mal mimt sie vor ihren unbekannten Korrespondenzpartnern die femme fragile, mal die brustamputierte Kämpferin, immer aber ist es ein Spiel mit dem persönl. Schicksal Fremder u. erinnert an die Schamlosigkeit mancher Talkshow u. anderer medialer Inszenierungen. M. bringt dabei feminist. Diskurse um Schönheitsideale u. Geschlechteridentitäten mit kulturphilosoph. Sinndeutungen der Körper-Geist-Debatte zusammen. Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit lehrte M. als Lektorin des DAAD Deutsch als Fremdsprache, u. a. an der Pädagogischen Hochschule in Liepa¯ja/Lettland (1992–1994) u. an der Universität von Cluj-Napoca/Rumänien (1996–2002). Zahlreiche Stipendien u. Preise, darunter der Förderpreis des BDI 1995 u. der Anna-Seghers-Preis 1999 würdigen M.s literar. Schaffen. Weiteres Werk: Westkontakt. In: SuF (2000), H. 2, S. 281–288. Literatur: Claudia Wittrock: Anders sein – echt sein. Zur Attraktivität des versehrten Frauenkörpers in der jungen deutschsprachigen Gegenwartslit. Bremen 2000, S. 31–52. – Thomas Kraft: S. M. In: LGL. Josephine Kujau
Aufgewachsen in Wiesbaden, studierte M. von 1985 bis 1991 Germanistik u. Russistik in Mercator, Mercatoris, Gerhard, eigentl.: G. Frankfurt/M., Wien u. Moskau. Erstmalige Kremers, * 5.3.1512 Rupelmonde/FlanAufmerksamkeit vom Literaturbetrieb wurde dern, † 2.12.1594 Duisburg. – Kartograf, M. 1988 mit dem Förderpreis des Jungen LiInstrumentenmacher, Kupferstecher, teraturforums Hessen u. insbes. mit der VerChronist. leihung des Ernst-Willner-Preises 1994 in Klagenfurt zuteil. Der dort präsentierte Text M. wurde 15-jährig von seinem Onkel Gisbert Der Gärtner, der Kater und ich, eine sinnlich- auf die Schule der Brüder vom gemeinsamen obszöne Fantasterei unterlegt mit tierischen Leben nach ’s-Hertogenbosch geschickt, wo Allegorien u. Symboliken, erschien im selben er auf die Universität vorbereitet wurde. Am Jahr zus. mit weiteren disparaten Erzählun- 29. Aug. 1530 immatrikulierte er sich in Lögen (Schlangenbaden. Zürich 1994), die zwi- wen u. schloss das Philosophiestudium im
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Herbst 1533 mit der Promotion zum Magister artium ab. Anschließend befasste er sich v. a. unter Anleitung von Reiner Gemma, gen. Frisius, mit Mathematik u. Astronomie u. fertigte Armillarsphären, Astrolabien u. astronom. Ringe an. Kaiser Karl V., sein Kanzler Nicolas Perrenot de Granvelle u. dessen Sohn Antoine, Bischof von Arras, zählten zu M.s Auftraggebern. 1544 wurde M. – wie eine Reihe Löwener Bürger – als angebl. Lutheraner verhaftet. Nach Interventionen u. a. der Löwener Universität, wohl auch des Kaisers, kam er zwar frei, geriet aber in zunehmende Isolation; die Freunde M.s, die der Verfolgung hatten entkommen können, waren längst nach Deutschland emigriert. Im März 1552 zog M. in das religiös tolerante Duisburg u. führte hier, auf der Basis der in Löwen geleisteten wiss. Arbeit, seine kartografischen u. chronolog. Pläne aus. Er fand in dem klev. Kanzler Heinrich Bars, gen. Olischläger, einen Gönner u. Freund, desgleichen in Walther Ghim, Bürgermeister und herzogl. Schultheiß in Duisburg, auch M.s Biograf. Bei der Umwandlung der Duisburger Lateinschule in ein Gymnasium (1557) gehörte M. zu den Organisatoren. 1559–1562 lehrte er dort Mathematik. Seit Sommer 1560 stand M. auch als Landmesser im Dienst des Herzogs von Jülich. Schon seit den 1550er Jahren arbeiteten seine Söhne, später auch seine Enkel in seiner Offizin mit. Die Schönheit u. Klarheit von M.s Karten prägten den kartograf. Stil mehr als zwei Jahrhunderte lang. Nur für seine Karte Lothringens führte er 1563 eigene Vermessungsarbeiten durch, sonst sammelte er vorhandene handgezeichnete u. gedruckte Karten, dazu weitere Informationen v. a. aus Reisebeschreibungen. Zu nennen sind v. a. Einzelkarten Palästinas (1537), Flanderns (1540), Europas (auf 15 Platten 1554 u. 1572), Lothringens (1563), der Britischen Inseln (auf acht Platten 1564) u. der Welt (auf 24 Platten 1569). Als Humanist bekannte sich M. 1578 durch die Herausgabe der Tabulae Geographicae Cl. Ptolemaei (o. O. [Köln]), eine der schönsten Ptolemaeus-Ausgaben überhaupt. Ebenfalls in Bänden erschienen 1585 die Karten von Frankreich, den Niederlanden u. Deutsch-
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land, wozu auch die Schweiz, Ungarn u. Polen gehören, 1589 die Karten von Italien, dem Balkan u. Griechenland. Die Vollendung seines Atlas (Duisburg 1595. 21602) – hier wurde der Begriff erstmals für ein Sammelwerk geografischer Karten verwendet – erlebte M. nicht mehr. Teil 1 besteht aus einer »Cosmographie« (Schöpfung des Himmels u. der Erde), Teil 2 aus 106 gleichformatigen Karten, darunter 33 unpublizierten. Im März 1540 (51557) erschien in Löwen eine kleine Abhandlung über die kursive Schrift, die M. als die eleganteste u. am besten lesbare Schrift bes. für Karten empfiehlt. Diese Schriftart setzte sich rasch gegen die Fraktur durch u. bestimmte entscheidend den Kartenstil der folgenden zwei Jahrhunderte. Durch Reiseberichte angeregt, beschäftigte M. sich auch mit dem seit Peurbach bekannten Phänomen der magnet. Deklination. Er berechnete die Deklination von Danzig u. dann die Lage des Magnetpols. Die früheste Nachricht darüber gab er 1546 in einem Brief an seinen Gönner Nicolas Perrenot de Granvelle. 1552 nahm er das Problem in einer Erläuterungsschrift zu einigen für Karl V. gefertigten Instrumenten auf, 1569 in der Legende der Weltkarte, zu der eine kleine Karte der Polregion mit eingezeichnetem Magnetpol gehörte. Dies ist der älteste Versuch, die Lage des Magnetpols zu berechnen u. darzustellen. Die winkeltreue »Mercatorprojektion«, eine von vielen von M. verwendeten Projektionsmethoden, wurde für Seekarten wichtig, weil sie der Navigation geradlinige Kurse lieferte. Die neue Weltkarte von 1569, die M. »zum Gebrauch für Seefahrer verbessert und eingerichtet« hatte, war mit dieser Projektion hergestellt. Ein Cartouchentext auf der Karte deutet darauf hin, dass die Projektion im Anschluss an Reiner Gemma geometrischgrafisch durchgeführt wurde. Die mathemat. Darstellung erfolgte erst durch Eduard Wright Ende des 16. Jh. Weniger beachtet wurden die chronist. Publikationen M.s, die aus intensiven Geschichts- u. Bibelstudien hervorgingen u. Wurzeln in der spätmittelalterl. Weltchronistik hatten.
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Aufsehen erregte im M.-Jubiläumsjahr 1994 die Publikation des Verkaufskataloges von M.s Bibliothek etwa zehn Jahre nach seinem Tod. Obwohl der Katalog mit Sicherheit nicht die vollständige Bibliothek umfasst, gestattet er doch genauere Einblicke in M.s Arbeitsweise. Erstaunlich ist v. a. der große Anteil von mathematisch-astronom. Schriften, neben historisch-geografischen. Literatur: Breusing: M. In: ADB. – Heinrich Averdunk u. J. Müller-Reinhard: G. M. u. die Geographen unter seinen Erben. In: Petermanns Mitt.en, Erg.-H. 182. Gotha 1914. – Maurice van Durme: Correspondance Mercatorienne. Antwerpen 1959. – FS zum 450. Geburtstag G. M.s. Hg. Günther v. Roden (mit lat. Text u. dt. Übers. der M.-Biogr. v. Walter Ghim). Duisburg 1962. – Ernst Bernleithner: G. M. In: Exempla historica. Bd. 27: Die Konstituierung der neuzeitl. Welt [...]. Zürich 1975. – Marcel Watelet (Hg.): Gérard M. Cosmographe – le temps et l’espace. Antwerpen 1994. – Wolfgang Scharfe (Hg.): G. M. u. seine Zeit. 7. Kartographiehistor. Colloquium Duisburg 1994. Vorträge u. Ber.e. Duisburg 1996. – Hans Wolff (Hg.): Vierhundert Jahre M. – Vierhundert Jahre Atlas. ›Die ganze Welt zwischen zwei Buchdeckeln‹. Eine Gesch. der Atlanten. Weißenhorn 1995. – M. & zijn boeken. Hg. vom Mercatormuseum Sint-Niklaas. Sint-Niklaas 1994. – Anna-Dorothee v. den Brincken: Kosmograph. Betrachtungen bei den Kirchenvätern, auf mittelalterl. Mönchskarten u. bei G. M. In: M. u. seine Welt. Hg. Rienk Vermij. Duisburg 1997. – Uta Lindgren: Geograph. Gelehrtenbibl.en um 1600: Vergleich der Bausch-Bibl. mit den Bibl.en v. M. u. Praetorius. In: Die Bausch-Bibl. in Schweinfurt. Wiss. u. Buch in der Frühen Neuzeit. Hg. Menso Folkerts u. a. Halle/S. 2000, S. 77–88. Uta Lindgren
Mercier, Pascal, eigentl.: Peter Bieri, * 23.6.1944 Bern. – Prosaautor. Pascal Mercier ist ein Pseudonym des Philosophen Peter Bieri, der von 1993 an als Professor an der Freien Universität Berlin lehrte, bis er sich 2007, verärgert über den fortschreitenden Niedergang der Universität als Forschungs- u. Bildungsanstalt, aus dem akadem. Betrieb verabschiedete. Unter seinem bürgerl. Namen wurde er v. a. durch seinen philosoph. Bestseller Das Handwerk der Freiheit (Mchn. 2001) u. seine krit. Auseinandersetzung mit Neurowissenschaftlern wie
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Wolf Singer u. Gerhard Roth bekannt. Im Gegensatz zu ihnen hält M. daran fest, dass menschl. Entscheidungen keineswegs nur Effekte unbewusst bleibender Hirnaktivitäten sind. Seinen vorzeitigen Rückzug aus der Universität erleichterte der überraschende u. überragende Erfolg seines dritten Romans, Nachtzug nach Lissabon (Mchn. 2004), von dem trotz geringer medialer Aufmerksamkeit im Hardcover knapp 200.000 u. im Taschenbuch rd. 1,5 Mio. Exemplare verkauft wurden. Er handelt von einem Berner Altphilologen namens Raimund Gregorius, der eines Morgens aus scheinbar nichtigem Anlass mitten in der Unterrichtsstunde die Schule verlässt, nach Lissabon fährt u. dort beginnt, den Lebensspuren eines Mannes nachzuforschen, von dem er zufällig in einem Antiquariat ein faszinierendes Buch erstanden hat. Dieser Mann, Amadeu de Prado, lebte als Arzt in der Zeit der Herrschaft Salazars in Portugals Hauptstadt u. war kein Freund der Diktatur. Er schloss sich dem Widerstand jedoch erst an, nachdem er sich verpflichtet gefühlt hatte, auch dem für seine brutalen Foltermethoden berüchtigten »Schlächter von Lissabon« nach einem Herzanfall das Leben zu retten – eine Tat, die sein weiteres Leben nachhaltig prägen sollte. Anhand zweier exemplarischer Biografien, die unterschiedlicher kaum sein könnten, thematisiert M., was erfülltes Leben ausmacht, u. zeigt, dass menschl. Entscheidungen u. bes. existentiell folgenschwere Entscheidungen von lebensweltl. Kontexten stark beeinflusst, aber keineswegs vollständig determiniert werden. Schon seinem ersten Roman, Perlmanns Schweigen (Mchn. 1995), hatte M. einen philosoph. Subtext unterlegt, der das Thema der Willensfreiheit berührt. Dessen Hauptfigur eignet sich wie der spontan nach Portugal reisende Raimund Gregorius Stück für Stück einen aufregenden Text in einer ihm zunächst völlig fremden Sprache an, hier ein linguist. Traktat über den Zusammenhang von Sprache, Erinnerung u. Gedächtnis sowie seine Bedeutung für die Konstitution von Identität. Die Rahmenhandlung, in der die sukzessive Lektüre dieser Abhandlung eingebettet ist, demonstriert gleichsam, welche
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fatalen lebensprakt. Konsequenzen sich aus den theoret. Überlegungen ergeben können. Darüber hinaus entwickelt sie sich allmählich zu einem Kriminalfall mit ganz erhebl. Thrillerqualitäten. Dass die Adaption von Erzählformen u. -mitteln, die gemeinhin trivialen Genres zugeschrieben werden, riskant sein kann, zeigte sich bei der Novelle Lea (Mchn. 2007). Von der Literaturkritik wurde sie erstmals in einem Umfang gewürdigt, den schon seine zuvor veröffentlichten Romane verdient hätten. Da M. jedoch weder Pathos noch Empfindsamkeit noch eine allzu plakative Bildlichkeit scheute, geriet er mit der Geschichte vom trag. Schicksal einer jungen Geigenvirtuosin diesmal zu sehr in das Fahrwasser der Kolportage, u. entsprechend negativ fiel das Presseecho aus. Dem Erfolg auf dem Buchmarkt tat dies allerdings erneut keinen Abbruch. Weiteres Werk: Der Klavierstimmer. Mchn. 1998 (R.). Literatur: Edith Püschel: Über die Unfreiheit des eigenen Willens. P. M.s ›Perlmanns Schweigen‹. In: Zwischen den Zeilen. Hg. Eva Jaeggi. Gießen 2004, S. 133–143. Gunther Nickel
Merck, Johann Heinrich, auch: J. H. Reimhart d.J., * 11.4.1741 Darmstadt, † 27.6.1791 Darmstadt (Freitod). – Literarischer, kunsthistorischer u. naturwissenschaftlicher Schriftsteller, Essayist, Rezensent, Übersetzer, Herausgeber. M., dessen Vater, ein Apotheker, drei Wochen vor der Geburt des Kindes starb, besuchte ab 1752 das Pädagog in Darmstadt, das humanistische Bildung u. pietist. Frömmigkeit pflegte, zgl. aber auch der Muttersprache, den neueren Fremdsprachen u. der Landesgeschichte gegenüber aufgeschlossen war. Zu M.s damaligen Mitschülern gehörten Helfrich Peter Sturz u. Lichtenberg. Seit Herbst 1757 als Student der Theologie an der Landesuniversität Gießen, wechselte M. im Sommer 1759 an die Universität Erlangen, wo er sich auch der dortigen Deutschen Gesellschaft anschloss, welche poetische u. prosaische Übungen der Mitglieder gemeinschaftlich diskutierte. M.s Beiträge
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sind nur dem Titel nach bekannt. Hier übersetzte er eine englische ästhet. Schrift: Franz Hutchesons Untersuchung unserer Begriffe von Schönheit und Tugend in zwo Abhandlungen (Ffm./Lpz. 1762). Reisen führten M. damals durch Süddeutschland u. öffneten seinen Blick für altdt. Kultur u. Kunst. Von Erlangen, wo er auch mit Johann Hermann von Riedesel, dem späteren Freund Winckelmanns, bekannt geworden war, wandte sich M. 1762 nach Dresden zum Studium an der dortigen Kunstakademie. Damit geriet er unter den Einfluss der kunsttheoretischen wie kunstgeschichtl. Anschauungen von Christian Ludwig von Hagedorn. Damals übersetzte M. das Trauerspiel Cato von Addison (Ffm. 1763) u. Herrn Thomas Shaws [...] Reisen oder Anmerkungen verschiedene Theile der Barbarey und der Levante betreffend (Lpz. 1765). Als Hofmeister eines Adligen reiste M. in die Schweiz, wo er Louise Françoise Charbonnier (1743–1810) in Morges kennenlernte. In Südfrankreich erhielt er Nachrichten über die Schwangerschaft der jungen Frau, kehrte nach Morges zurück, heiratete am 3.6.1766 u. ließ sich dann in Darmstadt nieder. Hier lebte u. wirkte seit 1765 die Erbprinzessin Henriette Caroline, die Goethe später als die »Große Landgräfin« bezeichnete. Während ihrer Herrschaftszeit (1768–1774) bildete sich der Darmstädter Kreis der Empfindsamen heraus, an welchem M. Anteil nahm. M. wurde in Darmstadt zunächst Sekretär der Geheimen Kanzlei (1767), dann Kriegszahlmeister (1768) u. schließlich Kriegsrat (1774). Dienstliche Reisen führten ihn nach Kassel (1767) u. 1773 nach St. Petersburg. Nach dem Tod der Großen Landgräfin (1774) wie auch nach dem Sturz des Präsidenten Friedrich Carl von Moser (1780) versuchte M. mehrfach vergeblich, andernorts – in Kassel, Berlin oder Weimar – eine neue Anstellung zu finden. Unterschiedliche Pläne, sich daneben als freier Unternehmer zu betätigen, blieben erfolglos. Auf einer Reise in das nachrevolutionäre Paris (1790/ 91) wurde M. Mitgl. des Jakobinerklubs. Als er von einflussreichen frz. Emigranten deshalb angefeindet wurde, setzte der ohnehin
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zur Melancholie neigende M. seinem Leben ein Ende. M.s literarische, kunsttheoret. u. naturwiss. Bestrebungen, die seinen Ruhm begründen, haben deutl. Züge nicht nur der Flucht aus den beengten Verhältnissen der hessen-darmstädt. Residenzstadt, sondern auch der Sehnsucht nach bürgerl. Freiheiten. Seine eigenen Arbeiten, die von ihm herausgegebenen Schriften u. sein Einsatz als Förderer u. Mäzen von Talenten der Literatur u. der bildenden Künste veranschaulichen seinen Reformwillen. Gegenüber der späteren harschen Charakteristik, mit der Goethe in Dichtung und Wahrheit M. als mephistophelische Gestalt umriss, steht deutlich M.s Lebensmaxime: »Wir sind doch nur insofern etwas, als wir was für andere sind.« M.s literar. Wirksamkeit, die vornehmlich den Zeitraum von seiner Rückkehr nach Darmstadt bis 1782 umfasst, vereinigt alle Stadien der Entwicklung dt. Literatur von der Aufklärung über Empfindsamkeit u. Sturm u. Drang bis zur Klassik. Seine vielseitige Tätigkeit umschließt polit. Resignation u. poet. Revolte, lebt von einer enzyklopädischuniversalen Weltoffenheit u. ist zgl. gebrochen durch amtliche u. häusl. Beschränkung. M.s Fabeln u. Verssatiren setzen die spätaufklärerische Literatur fort. Mit Pätus und Arria, einer Künstler-Romanze (fiktiver Ort: Freystadt 1775) greift M. in die Auseinandersetzung über die vermeintl. Gefährdung ein, die Goethes Leiden des jungen Werthers (1774) mancherorts durch die Obrigkeit unterstellt wurde. Die Geschichte des Herrn Oheim, 1777 in Wielands »Teutschem Merkur« erschienen, versucht mit den Mitteln der indirekten Satire, einen lehrhaften Entwurf für eine ideale Lebensführung literarisch zu gestalten. Bedeutsam ist M. als Herausgeber des denkwürdigsten Jahrgangs der »Frankfurter gelehrten Anzeigen«, in welchem er sich 1772 mit Schlosser, Goethe, Herder u. anderen von der antiquarischen u. rationalist. Methode damaliger Besprechungen abkehrte u. neue Maßstäbe für die literarische u. wiss. Kritik setzte. Durch Eingriffe der Obrigkeit wurden diese Neuansätze schon im ersten Jahr zunichte gemacht. Mit seinen fächerübergreifenden Interessen, mit der Schärfe seines Ur-
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teils u. mit der stilist. Sicherheit seines bildhaften Ausdrucks ragen M.s Beiträge u. Rezensionen in Nicolais »Allgemeiner deutscher Bibliothek« u. in Wielands »Teutschem Merkur« deutlich aus dem Mittelmaß der Zeit heraus. Für einen Literaten ungewöhnlich ist seine Kenntnis der bildenden Künste, deren essayist. Anwendung neue Bewertungen der zeitgenössischen wie der altdt. Kunst, etwa Dürers, einleitet oder vorwegnimmt. Ab 1782 beschäftigte sich M. vornehmlich mit naturwiss. Fragen, bes. zur Paläontologie, Osteologie, Mineralogie u. Botanik. Die damit verbundenen Forschungen führten zu Reisen in die Schweiz (1786, 1788) oder nach Holland (1784/85) u. ergaben Kontakte mit führenden Gelehrten Westeuropas, etwa Joseph Banks, Pieter Camper oder Soemmerring. 1771 war M. neben Andreas Peter von Hesse als Herausgeber an der auf nur 34 Exemplare begrenzten, privaten Darmstädter Ausgabe der Oden und Elegien Klopstocks entscheidend beteiligt. Gleichzeitig gründete er einen Verlag, in welchem zunächst preiswerte u. zuverlässige Nachdrucke vorbildlicher westeurop. Literatur in der Originalsprache erscheinen sollten, etwa von Claude Joseph Dorat, Goldsmith oder die Lieder Ossians. Bald schon öffnete M. sein Programm auch zeitgenöss. dt. Originalwerken, so z.B. von Goethe (Von Deutscher Baukunst. 1772. Götz von Berlichingen. 1773 u. a.) oder von Lenz. Freilich blieb auch dieses Unternehmen M.s ohne wirtschaftl. Erfolg. Als Begleiter u. Kunstführer der Herzoginmutter Anna Amalia von Sachsen-Weimar u. ihres Gefolges nahm M. 1778 an einer Rheinreise von Frankfurt nach Düsseldorf teil: ein frühes Beispiel der Landschaftserfahrung einer höf. Kunstreise. Durch seine vielseitigen Interessen, durch seine Reisen u. durch seine Teilnahme am Hofleben in Darmstadt trat M. mit vielen bedeutenden Zeitgenossen in persönl. Kontakt. Es entstanden wechselhafte Bekanntschaften u. Freundschaften etwa mit Herder, Goethe, Sophie La Roche, Gleim, Klopstock, Nicolai, Wieland, Lavater, Lenz, Jacobi, Claudius, Maler Müller oder Heinrich Leopold Wagner, die von einem vielsträngigen Briefwechsel begleitet u. dokumentiert sind.
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Die aktuelle Gesamtausgabe des erhaltenen Merckel, Wilhelm von, * 6.8.1803 FriedBriefwechsels bietet neue Möglichkeiten für land/Schlesien, † 27.12.1861 Berlin. – Judie Erforschung der biogr. Situation M.s u. rist, dilettierender Schriftsteller u. Fördeseiner geistesgeschichtl. Bedeutung. rer Theodor Fontanes. Ausgaben: Eine Gesamtausg. der Schr.en M.s fehlt bis heute. Zum intensiv komm. Briefw. vgl. J. H. M.: Briefw. Hg. Ulrike Leuschner in Verb. mit Julia Bohnengel, Yvonne Hoffmann u. Amélie Krebs. 5 Bde., Gött. 2007. – Teilausgaben: J. H. M.s ausgew. Schr.en zur schönen Lit. u. Kunst. Hg. Adolf Stahr. Oldenb. 1840. Neudr. Gött. 1965. – Briefe an J. H. M. v. Goethe, Herder, Wieland u.a. Zeitgenossen. Mit M.s biogr. Skizze. Hg. Karl Wagner. Darmst. 1838. – Briefe an u. v. J. H. M. Hg. ders. Darmst. 1838. – Briefe aus dem Freundeskreise v. Goethe, Herder, Höpfner u. M. Hg. ders. Lpz. 1847. – J. H. M.s Schr.en u. Briefw. Hg. Kurt Wolff. 2 Bde., Lpz. 1909. – J. H. M.: Werke. Ausgew. u. hg. v. Arthur Henkel. Briefe. Hg. Herbert Kraft. 2 Bde., Ffm. 1968. – J. H. M.: Galle genug hab ich im Blute. Fabeln, Satiren, Ess.s. Hg. Hedwig Voegt. Bln./DDR 1973. Literatur: Helmut Prang: M.-Bibliogr. In: Mercksche Familien-Ztschr. 19 (1953/54). – Franz Muncker: M. In: ADB. – Georg Zimmermann: J. H. M., seine Umgebung u. Zeit. Ffm. 1871. – Karl Esselborn: Darmstadt u. sein Hof zur Zopfzeit in zeitgenöss. Schilderungen. Darmst. 1915. – Walter Gunzert: Darmstadt u. Goethe. Darmst. 1949. – H. Prang: J. H. M. Ein Leben für andere. Wiesb. 1949. – Hermann Bräuning-Oktavio: Hg. u. Mitarbeiter der Frankfurter gelehrten Anzeigen 1772. Tüb. 1966. – Ders.: M. als Drucker, Verleger, Kupferstecher u. Mäzen. In: Philobiblon 13 (1969), S. 99–122, 165–208. – Ders.: M. u. Herder. Darmst. 1969. – Ders.: Goethe u. J. H. M. – M. u. die Frz. Revolution. Darmst. 1970. – Norbert Haas: Die Flucht zu den Dingen. M.s erster Landroman. In: Lit. der bürgerl. Emanzipation. Hg. Gert Mattenklott u. Klaus R. Scherpe. Ffm. 1973. – Fritz Ebner: Lichtenberg u. M. In: Staat u. Gesellsch. FS Hans Tümmler. Köln/Wien 1977, S. 241–253. – Darmstadt in der Zeit des Barock u. Rokoko. Ausstellungskat. 2 Bde., Darmst. 1980. – Anke-Marie Lohmeier: Arbeit u. Autonomie. Über J. H. M.s ›Geschichte des Herrn Oheim‹. In: GRM 32 (1982), S. 29–59. – Jürgen Hein: Vom ›guten, gesunden Alltagsleben‹. Die idyll. Utopie bei J. H. M. In: Literar. Utopie-Entwürfe. Hg. Hiltrud Gnüg. Ffm. 1982, S. 158–172. – Netzwerk der Aufklärung. Neue Studien zu J. H. M. Hg. Ulrike Leuschner u. Matthias Luserke-Jaqui. Bln./New York 2003. – Robert Seidel: Literar. Kommunikation im Territorialstaat. Tüb. 2003 (Register). Jörg-Ulrich Fechner
Der Kaufmannssohn, Neffe des späteren Oberpräsidenten von Schlesien, Friedrich Theodor von Merckel, studierte Rechtswissenschaften in Heidelberg. Seit 1839 wirkte er als Kammergerichtsassessor, seit 1850 als Kammergerichtsrat in Berlin. Dank erster Poetischer Versuche (Bln. 1840) fand er unter dem Namen »Immermann« 1841 Zugang zu dem literar. Verein »Tunnel über der Spree« (gegr. 1827), trat seit 1844 hier wie auch in den späteren, eher privaten Zweigvereinen »Rütli« u. »Ellora« in engeren Kontakt mit Theodor Fontane. Dieser erwies M. u. dessen Ehefrau Henriette für treue Hilfe in allen schwierigen Lebenslagen fortdauernden Dank (»der lauterste und gesinnungsvornehmste Mann, den ich in meinem ganzen Leben kennengelernt habe«, so Fontane im M.-Kapitel seiner Autobiografie Von Zwanzig bis Dreißig; wichtig daneben Fontanes Tunnelprotokolle, in: Autobiographische Schriften. Bd. III/1. Hg. Gotthard Erler. Bln. 1982; aufschlussreich der Familienbriefwechsel. Hg. ders. 2 Bde., Bln./Weimar 1987). M. besorgte Fontane eine Korrespondentenstelle in dem zum Innenministerium gehörenden »Literarischen Cabinett«, dann in dem regierungstreuen »Büro für Preßangelegenheiten« (1850–1859) u. unterstützte auch Fontanes Englandaufenthalte. Grundsätzlich äußerte sich M. als konservativer Monarchist mit antidemokrat. Affekten, die in den berüchtigten Schlussversen des Gedichtes Die fünfte Zunft ihren Ausdruck fanden (»Gegen Demokraten helfen nur Soldaten«). Neben polit. u. jurist. Denkschriften u. abseits seiner Rolle als Gesprächspartner u. Mäzen verstanden sich seine literar. Arbeiten, darunter legitimist. Kasualgedichte u. eine allegorisierende Erzählung, Der Frack des Herrn von Chergal (in dem von M. mit herausgegebenen Jahrbuch »Argo« 1854; nach Fontane sinnbildlich für die altständische Verfassung), als Liebhabereien eines dilettierenden Beamten.
177 Weitere Werke: Alter u. neuer Konservatismus. Bln. 1852. – Kleine Studien, Novellen u. Skizzen. Hg. Theodor Fontane. Bln. 1863. – Gedichte. Bln. 1866. Literatur: Brümmer. – Otto Drude: Fontane u. sein Berlin. Ffm./Lpz. 1998, S. 241–243. – Hdb. literarisch-kultureller Vereine, Gruppen u. Bünde 1825–1933. Hg. Wulf Wülfing, Karin Bruns u. Rolf Parr. Stgt./Weimar 1998 (Register!). – FontaneHdb. Hg. Christian Grawe u. Helmuth Nürnberger. Stgt. 2000 (Register!). – H. Nürnberger u. Dietmar Storch: Fontane-Lexikon. Mchn. 2007, S. 307 f. – Roland Berbig: Fontane-Chronik. 5 Bde., Bln./New York 2010 (Register!). Wilhelm Kühlmann
Mereau, Sophie ! Brentano, Sophie Friederike Merian, Maria Sibylla, verh. Graff, * 2.4. 1647 Frankfurt/M., † 13.1.1717 Amsterdam. – Malerin, Grafikerin, Naturforscherin u. Verlegerin. Die Tochter des Stechers u. Verlegers Matthäus Merian d. Ä. erhielt ihre künstlerische Ausbildung bei ihrem Stiefvater Jacob Marrell u. dessen Schüler Abraham Mignon. 1665 heiratete sie den Maler Johann Andreas Graff u. zog mit ihm 1668 nach Nürnberg. Hier widmete sie sich der Malerei von Blumen, Früchten u. Insekten. Sie gründete eine Malerinnenschule, in der ihre frühen Arbeiten als Lehrmaterial Verwendung fanden. Die Tochter des Kunsthändlers u. Verlegers Paul Fürst, Magdalena Fürst (1650–1717), war eine ihrer Schülerinnen. Diese hinterließ zahlreiche Blumenbilder, die denen M.s ähneln, meist aber mit M. F. signiert sind. 1675 erschien M.s Erstlingswerk, der erste Teil ihres Blumenbuchs Florum Fasciculus Primus (Nürnb. Tl. 2, 1677. Tl. 3, 1680. U. d. T. Neues Blumenbuch. Tle. 1–3, 1680. Neudr. Lpz. 1966. Hg. Helmut Deckert. Bln./Mchn./Wien 1968). Das Werk steht in der Tradition älterer Musterbücher, ist abhängig vom Florilegium renovatum ihres Vaters (1641), von Vorlagen des Stiefvaters, kopiert im ersten Teil aus einem Blumenbuch von Nicolaus Robert u. bringt nur wenige eigenständige Darstellungen. Auf der Grundlage eigener Naturstudien u. den seit 1674 begonnenen systemat. biolog.
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Untersuchungen der Entwicklung europ. Schmetterlinge auf deren Futterpflanzen erschien 1679 der erste Teil ihres Raupenbuchs (Der Raupen wunderbare Verwandelung. Nürnb. Tl. 2, Nürnb./Ffm./Lpz. 1683. Internet-Ed. v. Tl. 1–2 in: SUB Göttingen. Lat. Amsterd. [1714]. Tl. 3: Der rupsen Begin. Amsterd. 1717; hg. v. ihren Töchtern). Hatte M. in ihrem Blumenbuch u. a. in Abhängigkeit von Marrell meist fremdländ. Zierpflanzen mit Insekten belebt, »eins durch das ander gleichsam lebendig zu machen« (Raupenbuch, Tl. 1, fol. IIIr), ging es ihr hier in Bild u. Text um eine wiss. Aussage zur Metamorphose der Insekten u. ihrer Darstellung in den einzelnen Entwicklungsstadien vom Ei über Raupe, Puppe bis zum Schmetterling mit den dazu gehörenden einheim. Wirtspflanzen. Wenn M. im Titel ihres Raupenbuchs sagt, dass es »durch eine gantz neue Erfindung / Der Raupen / Würmer / Sommervögelein [= Schmetterlinge] / Motten [...] Ursprung / Speisen / und Veränderungen« darstelle u. beschreibe, so gehört sie in Bezug auf die Beachtung der charakterist. Wirtspflanzen zu den ersten, ist aber sonst von früheren Untersuchungen zur Metamorphose der Insekten beeinflusst. Hierzu gehören die Werke von Thomas Moffet, Insectorum sive minimorum animalium theatrum (London 1634. InternetEd. in: SUB Göttingen), Francesco Redis Esperienze intorno alla generazione degl’insetti (Florenz 1668), Jan Swammerdams Historia insectorum generalis (Utrecht 1669) u. bes. Jan Goedaerdts Metamorphosis et historia naturalis insectorum (3 Tle., Middelburg 1662–69. Internet-Ed. in: SUB Göttingen). M. hatte ihre Lateinkenntnisse ab 1674 vertieft, um naturwiss. Werke lesen zu können. Von Malpighi beeinflusst, ist sie »vermittelst der Seidenwürmer / auf der Raupen Veränderung gekommen« (Raupenbuch, Tl. 1, fol. IIIr), u. ihr Titelblatt verrät die bes. Nähe zu Goedaerdt, der wie sie Maler u. Naturforscher war. Die Vorstellung von einer Urzeugung (generatio spontanea) u. a. von Würmern u. Insekten wurde zwar erstmals von Redi 1668 widerlegt, hielt sich jedoch bis zu Louis Pasteurs endgültiger Widerlegung von 1864. Daher ist M.s Aussage beachtenswert korrekt, »Daß insgemein alle Raupen aus ih-
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rem Samen / so die Vögelein [= Schmetterlinge] zuvor gepaart / hervorkommen« (ebd., fol. IIIv). Ihre naturkundl. Forschungen u. Darstellungen von Insekten sind für sie ein Beitrag »Gottes Ehre / Ihn / als einen Schöpfer auch dieser kleinsten und geringsten Würmlein zu preisen« (ebd., fol. IIIr), sodass man sie mit den späteren Physikotheologen vergleichen kann. M. trennte sich 1685 von ihrem Mann u. zog mit ihren beiden Töchtern zu den Labadisten nach Holland, wo sie auf Schloss Waltha in Wieuwerd bis 1691 wohnte. Dort faszinierte sie eine Sammlung surinamischer Schmetterlinge. 1691 zog sie nach Amsterdam, nahm ihre entomolog. Forschungen u. ihre Malerei wieder auf, hatte Kontakt zu führenden Ärzten u. Botanikern u. Zugang zu berühmten Naturaliensammlungen der Stadt. Hier beeindruckten sie erneut die Fauna u. Flora Surinams, sodass sie sich um ein Stipendium bemühte, schließlich im Juni 1699 ihre Reise nach Surinam antrat u. dort bis Sept. 1701 blieb. Sie sammelte Naturalien u. fertigte zahlreiche Studienskizzen an. Diese bildeten die Grundlage für ihr 1705 erschienenes Werk Metamorphosis insectorum Surinamensium (Amsterd. 1705. Neudr., bearb. v. Helmut Deckert u. a. 2 Bde., Lpz. 1975. Lat. Amsterd. 1705. Neudr., bearb. v. Elisabeth Rücker u. William T. Stearn. 2 Bde., London 1980/82), mit dem sie internat. Berühmtheit erlangte. Es zeichnet sich durch hohen künstlerischen Anspruch u. eine genaue Wiedergabe der Fauna u. Flora aus, sodass fast in allen Fällen die Art bestimmt werden kann. Es ist das erste naturkundl. Werk über Surinam. Die dargestellten Pflanzen dienen meist einer ornamentalen Gestaltung des Blattes; der naturkundl. Zusammenhang zwischen Pflanze u. Tier, z.B. Wirtspflanze – Schmetterling, tritt zurück, sodass in diesem Werk die künstlerische Bildwirkung einer wiss. Aussage übergeordnet ist. Die von M. selbst kolorierten Exemplare gehören zu den prächtigsten Büchern des Barock. Das Werk erschien in mehreren Sprachen u. Auflagen. Vor einigen Jahren konnte M.s vermutete Mitarbeit an der Fertigstellung von Georg Eberhard Rumphs Werk D’Amboinsche Rariteit
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kamer (Amsterd. 1705) bewiesen werden, für das sie Muscheln, Schnecken, Krebse u. andere Seetiere malte. Neuauflagen ihrer Werke, zahlreiche biogr. Romane (u. a. von Olga Pöhlmann, Bln. 1935; Wilhelm u. Hildegard Treue, Bln. 1942) u. eine reiche Forschung bezeugen ein anhaltendes Interesse an Leben u. Werk M.s. Ihre Töchter u. zgl. Mitarbeiterinnen waren Johanna Helena Graff, verh. Herolt (1668–1745), u. Dorothea Maria Henrica Graff, verh. Hendriks, verh. Gsell (1678–1743). Die ältere reiste 1702 nach Surinam u. setzte dort die Forschungen ihrer Mutter fort; die jüngere begleitete M. nach Surinam u. gab nach dem Tod der Mutter deren Werke heraus. Neue Forschungen haben sich bemüht, den unterschiedl. Anteil der beiden Töchter am Werk der Mutter herauszuarbeiten. Teile ihres Nachlasses befinden sich in St. Petersburg im Archiv der Russischen Akademie der Wissenschaften u. im Botanischen Institut. Weitere Werke: Erucarum ortus. Amsterd. 1718. Internet-Ed. in: SUB Göttingen. – Dissertatio de generatione et metamorphosibus insectorum Surinamensium. Amsterd. 1719. – Over de voorteeling en wonderbaerlyke veranderingen der Surinaemsche insecten. Amsterd. 1719. Internet-Ed. in: SUB Göttingen. 1730. – Histoire des insects de l’Amerique. Den Haag 1726 (lat. u. frz.). – Histoire des insectes de l’Europe. Amsterd. 1730. – De Europische Insecten. Amsterd. 1730. Internet-Ed. in: SUB Göttingen. – Histoire generale des insects de Surinam. Paris 1771. – Originalmalereien: v. a. in London, British Museum, u. Windsor Castle. Literatur: Jantje Stuhldreher-Nienhuis: Verborgen paradijzen. Het leven van M. S. M. Arnheim 1944. 21945. – Elisabeth Rücker: M. S. M. Ausstellungskat. German. Nationalmuseum Nürnberg. Nürnb. 1967. – M. S. M. Leningrader Aquarelle. Hg. u. komm. v. Ernst Ullmann u. a. 2 Bde., Luzern/Lpz. 1974 (dt., engl., frz., russ.; mit reichhaltiger Lit.). – E. Rücker: M. S. M. als Verlegerin. In: De arte et libris. FS Erasmus 1934–84. Amsterd. 1984, S. 395–401. – Dies.: M. S. M. als Wissenschaftlerin u. Verlegerin. In: Aus dem Antiquariat. Beilage zum Börsenblatt für den Dt. Buchhandel 41 (1985), S. A 121–134. – Ingrid Guentherodt: Maria Cunitz u. M. S. M. In: Ztschr. für germanist. Linguistik 14 (1986), S. 23–49. – M. S. M. (1647–1717). Künstlerin u. Naturforscherin. Ffm. 1997. – Kurt
179 Wettengl (Hg.): M. S. M. (1647–1717). Kunstenares en natuurondersoekster. Haarlem 1998. – Ders. u. Katharina Schmidt-Loske (Hg.): Die Tierwelt der M. S. M. (1647–1717). Arten, Beschreibung u. Illustrationen. Marburg 2007. – Ella Reitsma: M. S. M. and Daughters. Women of Art and Science. Amsterd./Zwolle 2008. Ulla Britta Kuechen
Merigarto, vermutlich um 1070. – Anonym überliefertes frühmittelhochdeutsches Fragment einer Beschreibung des Meeres sowie wunderlicher Gewässer.
Merkel philolog.-histor. Monogr. Leiden 1973, S. 25–28. – Walter Haug u. Benedikt Konrad Vollmann (Hg.): Frühe dt. Lit. u. lat. Lit. in Dtschld. 800–1150. Ffm. 1991, S. 648–661 (mit nhd. Übers.). – Il M. Edizione e commento. Hg. Paola Spazzali. Mailand 1995 (mhd., mit ital. Übers.). Literatur: Theodor Grienberger: Ahd. Texterklärungen 2. In: PBB 45 (1921), S. 417–429. – Gerhard Eis: Zum M. In: PBB 82 (1960), S. 70–76. – Johannes A. Huisman: Utrecht im M. In: PBB 87 (1965), S. 379–389. – Voorwinden 1973 (s. o., Lit.). – Ders.: Das Regensburger M. In: ABäG 8 (1975), S. 21–31. – Heinz Endermann: M. – die erste geograph. Darstellung in dt. Sprache. In: Wiss. Ztschr. der Wilhelm-Pieck-Univ. Rostock 27 (1978), S. 99–104. – Fidel Rädle: M. In: VL. – Haug/Vollmann 1991 (s. o.), S. 1449–1454 (Komm., Lit.). Walter Buckl / Red.
Der Titel des in bair. Mundart verfassten Werks (Vom Meer umgebenes Land) stammt von Hoffmann von Fallersleben, der das Pergament-Doppelblatt 1834 in einer Prager Bibliothek entdeckte. Das entgegen älterer Forschungsmeinung urspr. wohl nicht viel Merkel, Garlieb (Helwig), * 19. (31. n.St.) umfangreichere Werk (überliefert sind insg. 10.1769 Pastorat Loddiger/Livland, 105 binnengereimte Langzeilen) behandelt † 27.4. (9.5. n.St.) 1850 Gut Depkinshof die aus der Genesis bekannte Trennung von bei Riga. – Erzähler, Publizist, Historiker. Land u. Meer u. beschreibt dann verschiedene Gewässer, darunter das Rote Meer u. das ge- M., Sohn eines Pastors, besuchte die Rigaer ronnene »Lebirmeer«. Im Anschluss daran Domschule, war ab 1786 Gerichtskanzlist u. berichtet der Verfasser von einem Aufenthalt mehrere Jahre Hofmeister. Seit Beginn der in Utrecht, wohin er wegen des Streites 1790er Jahre schrieb er literarische, polit. u. zweier Bischöfe in seiner Heimatdiözese histor. Werke u. begann sich als Mitgl. im (Konstanz oder Augsburg?) hatte fliehen Rigaer »Prophetenclub« zu profilieren. Nach müssen. Dort habe er den »vortrefflichen kurzen Aufenthalten in Leipzig u. Jena lebte Mann« Reginbert (ein Abt von Echternach?) er Anfang 1797 in Weimar, war dann für kennengelernt, der ihm aufgrund eigener wenige Wochen Sekretär des Ministers Reiseerfahrung geograf. Nachrichten über Schimmelmann in Kopenhagen u. kam 1799 Island mitgeteilt habe, die im Folgenden nach Berlin. Dort gab er mehrere Zeitschrifwiedergegeben werden. Mit der Schilderung ten heraus, 1803 das Unterhaltungsblatt wunderl. Quellen, Brunnen u. Seen fährt der »Ernst und Scherz« (1804–1806 mit KotzeText nach Ausfall einer oder mehrerer Lagen bues »Freimüthigem« vereinigt). 1806 auf dem zweiten Doppelblatt fort. Als Quelle musste M. wegen seines publizist. Kampfes für das letzte Drittel des Textes wurden – gegen die napoleonische Fremdherrschaft aus entweder direkt oder über Hrabanus Maurus’ Berlin fliehen u. kehrte nach Livland, in die De Universo – die Etymologien Isidors von Se- Nähe von Riga, zurück. M.s literarhistor. Nachruhm gründet sich villa (Buch XIII) verwendet. Aufgrund dieses Inhalts erweist sich das M. als Teil der »ima- auf die einflussreichen Briefe an ein Frauengines mundi«-Literatur. Als Herkunftsort des zimmer über die neuesten Produkte der schönen als poetisch dürftig geltenden Gedichts mit Litteratur in Deutschland (Bln. 1800–03). In ihmeist primitiven Reimen wird seit einer Hy- nen griff M. nicht nur Tieck sowie Friedrich pothese Voorwindens Kloster Prül bei Re- u. August Wilhelm Schlegel scharf an, sondern äußerte auch Kritik an manchen Werken gensburg angesehen. Ausgaben: Friedrich Maurer (Hg.): Die religiö- Schillers u. Goethes, deren überragende Besen Dichtungen des 11. u. 12. Jh. Bd. 1, Tüb. 1964, deutung er aber anerkannte. Seine ästhet. S. 65–75. – Norbert T. J. Voorwinden: M. Eine Kritik, antiidealistisch, gelegentlich auch
Merkel
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Weitere Werke: Hume’s u. Rousseaus’s Abh.en formalistisch u. moralisierend, steht in spätaufklärerischer Tradition u. setzt den von über den Urvertrag nebst einem Versuch über die Nicolai begonnenen Kampf gegen die Klassi- Leibeigenschaft [...]. Lpz. 1797. – Die Vorzeit Liefker u. Romantiker fort, freilich auf höherem lands. Ein Denkmahl des Pfaffen- u. Rittergeistes. 2 Bde., Bln. 1798/99. – Wannem Ymanta. Eine lett. theoret. Niveau. Dennoch wurde M., der Sage. Lpz. 1802. – Die freyen Letten u. Ehsten. Lpz. selbst vor Polemik nicht zurückschreckte, 1820. – Krit. Antiken. Ein Beitr. zur Literaturgesch. schnell zum beliebten Angriffsziel seiner li- Dtschld.s. Riga 1837. – Freimütiges aus den Schr.en terar. Gegner, allen voran Goethes: Als über- G. M.s. Hg. Horst Adameck. Bln. 1959 (Bibliogr.). – heblicher, gewissenloser Vielschreiber – meist Briefe an Carl August Böttiger. Hg. Bernd Maurach. in einem Atemzug mit Kotzebue – wurde er Bern 1987. – Herausgeber: Der Zuschauer. Eine liteimmer wieder bezeichnet, ein bis heute rar.-polit. Ztschr. Riga 1807–31. nachwirkendes Urteil. Literatur: Recke-Napiersky 3, S. 206–214. M., der u. a. mit Böttiger, Engel, Herder, Nachtr. 2, S. 43 f. – ADB. – Karl Christoph v. StritzSeume u. Wieland befreundet war, war be- ky: G. M. u. ›Die Letten am Ende des philosophideutsam auch als avancierter Schriftsteller schen Jahrhunderts‹. Riga 1939. – Winfried Theiss: des »aufgeklärten Absolutismus«: Er ver- M. als Rezensent Jean Pauls. In: Jb. der Jean-PaulGesellsch. 8 (1973), S. 78–99. – Georg v. Rauch: Der fasste eines der frühesten u. zgl. kritischsten Rigaer Prophetenclub. In: FS Heinz Ischreyt. Hg. Werke gegen die Leibeigenschaft: Die Letten, Wolfgang Kessler u. a. Bln. 1982, S. 233–242. – Inavorzüglich in Liefland, am Ende des philosophischen Ulrike Paul: M. In: NDB. – Jürgen Heeg: G. M. als Jahrhunderts (Riga 1796. Neuausg. 1924. Hg. Kritiker der livländ. Ständegesellschaft. Zur polit. Thomas Taterka. Wedemark 1998), ein be- Publizistik der napoleon. Zeit in den Ostseepromerkenswertes Zeugnis in der Geschichte der vinzen Rußlands. Ffm. 1996. – Jörg Drews (Hg.): Bauernbefreiung aus dem Geiste einer poli- ›Ich werde gewiß große Energie zeigen.‹ G. M. tisierten Aufklärung. Sozial- u. kulturge- (1769–1850) als Kämpfer, Kritiker u. Projektemaschichtliches Interesse verdient darüber hin- cher in Berlin u. Riga. Bielef. 2000. – Michael aus M.s Reiseschriftstellerei (v. a. Briefe über Schwidtal u. Armands Gutmanis (Hg.): Das Baltikum im Spiegel der dt. Lit. Carl Gustav Jochmann Hamburg und Lübeck. Lpz. 1801. Ueber u. G. M. Heidelb. 2001. – Cornelius Hasselblatt: Deutschland, wie ich es nach einer zehnjährigen Gesch. der estn. Lit. Bln./New York 2006, S. 94. Entfernung wieder fand. 2 Bde., Riga 1818). Von Wilhelm Haefs Bedeutung über das Autobiografische hinaus sind auch die Skizzen aus meinem ErinnerungsMerkel, Inge, * 1.10.1922 Wien, † 15.1. buche (4 H.e, Riga 1812–16. Neue, verm. Ausg. 2006 San Miguel de Allende/Mexiko. – Riga/Dorpat 1824) sowie Darstellungen und Erzählerin. Charakteristiken aus meinem Leben (2 Bde., Lpz. u. a. 1839/40. Ausw. u. d. T. Thersites. Die Er- M. promovierte in den Fächern Germanistik innerungen des deutsch-baltischen Journalisten u. Geschichte (Wien) u. legte die LehramtsGarlieb Merkel 1796–1817. Hg. Maximilian prüfung in Deutsch u. Latein ab. Nach einer Müller-Jabusch. Bln. 1921). Tätigkeit als wiss. Hilfskraft am Seminar für M. war eine schillernde Figur der literar. klass. Philologie in Wien arbeitete sie 1974 Öffentlichkeit in Preußen zwischen Aufklä- bis 1984 im Schuldienst. Mit der Beendigung rung u. Romantik, zgl. der wohl wichtigste, ihrer schriftstellerischen Laufbahn 2001 einflussreichste deutschsprachige Schriftstel- übersiedelte M. nach Mexiko, wo sie 2006 ler der balt. Provinzen in der Goethezeit. Die starb. Sie erhielt zahlreiche Preise u. Ehrunwiss. Auseinandersetzung mit seinem Werk gen, u. a. »Aspekte«-Literaturpreis (1982); begann erst in den 1980er Jahren; eine his- Preis der Stadt Wien für Literatur (1986); torisch angemessene Gesamtwürdigung sei- Anton-Wildgans-Preis (1987); Otto-Stoesslnes umfangreichen literarischen (mehrere Preis (1990); Ehrenmedaille der Stadt Wien Romane u. zahlreiche Novellen), polit. u. (2004). publizist. Werks steht allerdings noch aus. M., die 60-jährig ihren ersten Roman veröffentlichte, war eine konsequent unzeitgemäße Autorin. Von literar. Moden scheinbar
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Merker
wenig beeinflusst, gestaltet sie in ihrem Werk schichte zweier alternder, einsamer HerrThemen der Menschheitsgeschichte, die auf scher gestaltet. M.s dritter Roman Das große Spektakel. Eine literarhistorischen, theolog. u. mytholog. Kenntnissen basieren. Im Erstlingsroman Das todernste Geschichte von Windeiern aufgelockert andere Gesicht (Salzb. 1982), der mit der Vision (Salzb. 1990) ist ihr anspruchsvollstes Werk. einer Apokalypse endet, steht Wien – wie Darin erwägt M. einen Abriss der europ. auch in Die letzte Posaune (Salzb. 1985) – für Geistesgeschichte, der in der ironisch gebroeine Welt verwirrender, traumat. Wider- chenen Abwechslung von wiss. Abhandlunsprüche. Zentrales Thema des zweiten Ro- gen u. episodenhaften Erzählmomenten mans ist die psych. Krise einer Spiegelfigur ausgestaltet wird. Liegen der westl. Ideengeder Autorin, einer Lehrerin kurz vor der schichte mythologische u. jüdisch-christl. Pensionierung, deren Krankheitsgeschichte Deutungsmuster zugrunde, so steht die zur Lebensgeschichte erweitert wird u. den Doppelfigur der Artemis von Ephesos u. der Ausblick auf Menschheits- u. bibl. Geschichte Gott gebärenden Maria theotokos im Zenöffnet. Radikale Zeitkritik (inhumane Psy- trum einer humanistisch-anthropolog. Diachologie u. Pädagogik, Gesundheitsfanatis- chronie, die sich von der Antike bis zum Ende mus u. Freizeitindustrie) sowie die engagierte des 20. Jh. erstreckt. Die Protagonisten, der Diskussion der sog. »letzten Dinge« (Sünde, jüd. Geschichtsgelehrte Singer u. seine Tod, Gericht) ergänzen sich zu einem kom- schriftkundige, altphilologisch geschulte pliziert strukturierten Erzählwerk. M.s Bil- Mitstreiterin, entstammen M.s Erstlingswerk. Den Roman rundet eine medientheodungsreichtum u. Einfühlungsvermögen, ret. Reflexion über die Potenz weibl. Einbilihre unerschöpfl. Fantasie u. ihr bissiger dungskraft u. Autorschaft angesichts einer Humor erscheinen bes. deutlich in dem Rovon Männern geprägten abendländ. Schriftman Eine ganz gewöhnliche Ehe. Odysseus und kultur ab. Daher lassen sich gerade dessen Penelope (Salzb. 1987), der den antiken Mythos Schlüsselbegriffe auch auf das Gesamtwerk vom listenreichen Odysseus u. seiner klugen, M.s übertragen: der klass. Bildungsbestand treuen Penelope konsequent gegenläufig erals Dynamik für eine erinnerungskulturelle zählt u. Penelope vom Rand des Geschehens Tradierbarkeit, Philologie als Protest gegen in dessen Mittelpunkt rückt. M. aktualisiert moderne Massenphänomene u. stets kritidas homerische Epos u. versieht die durch die sche, ideologieferne Texthermeneutik als zwanzigjährige Trennung stark strapazierte Widerstand gegen die Verbohrtheit des Lebensgemeinschaft mit zeitgemäßen Vor- abendländ. Geisteserbes. zeichen, so die deutl. Kritik an der PflichtWeitere Werke: Zypressen. Salzb. 1983 (E.en). vergessenheit des Odysseus u. die Aufwer- – Aus den Geleisen. Salzb. 1994 (R.). tung der inneren Charakterfestigkeit PeneloLiteratur: Gerd K. Schneider: I. M. In: KLG. – pes. Deren resümierender Schlussmonolog Oliver G. Riedel: I. M. In: LGL. am Sterbebett des Helden bringt alle Facetten Sylvia Adrian / Karl Ivan Solibakke weibl. Wut, Verletztheit, Erbitterung, jedoch auch Nachsicht sowie ihre unerschütterl. Liebe zu dem Krieger u. rücksichtslosen Merker, Emil, * 7.4.1888 Mohr/Böhmen, Weltenbummler zum Ausdruck. Dadurch † 23.7.1972 Ebratshofen/Allgäu. – Lyrientlarvt M. das heroisch-mytholog. Erzähl- ker, Erzähler, Romancier, Essayist. muster als gewalttätig u. stellt ihm eine neue, Als 1935 ein Augenleiden M.s Berufsleben als weiblich geprägte, friedl. Weltordnung ge- Biologe u. Lehrer beendete, stand seine genüber. Dem intimen Charakter der Ehege- Schriftstellerlaufbahn erst am Anfang. Bereits schichte vergleichbar ist das letzte Prosawerk in seinem ersten Lyrikband (Verzückte Erde. M.s, Sie kam zu König Salamo (Salzb. 2001), das Eger 1931) verband M. expressionistische u. die Begegnung Salamos mit der Königin von neuromant. Elemente zu einem eigenständiSaba zur feinfühligen, mit dem Verzicht auf gen Stil, den er noch in seinen letzten Gedas gemeinsame Glück endenden Liebesge- dichten (Das brennende Staunen. Düsseld. 1958)
Merlin und Lüthild
pflegte u. der ihn zu einem bedeutenden sudetendt. Lyriker machte; trotzdem geriet er wegen seiner Vorliebe für bäuerl. Motive in die Gesellschaft völkischer Blut-und-BodenLyriker. M.s Selbstverständnis als Epiker äußert sich in zwei Stifter-Biografien (Stifter. Stgt. 1939. Das sanfte Gesetz. Mchn. 1959) u. seinem Essay Flaubert (Urach 1948). Er schwankte zwischen der Beschreibung seelischer Erlebnisse (so in der Erzählung Der junge Lehrer Erwin Moser. Karlsbad 1932) u. einem grellen Realismus wie in seinem Lebensbericht Unterwegs (Düsseld. 1951), in dem er seine Vertreibung 1945 aufarbeitet. Weitere Werke: Der Abgrund. Eger 1932 (E.en). – Der Weg der Anna Illing. Jena 1938 (R.). – Im Labyrinth. Hbg. 1948 (E.en). – Front wider den Tod. Augsb. 1954 (R.). Literatur: Eva-Maria Thaler: E. M.s Kunstauffassung u. Weltgefühl. Diss. Salzb. 1979. – Jozo Dzambo: Notiz zu den ›Notizen‹ E. M.s. In: StifterJb. 21 (2007), S. 93–99. Stefan Bauer / Red.
Merlin und Lüthild. – Zwei Vitenfragmente, gemeinsam überliefert in einer Handschrift des frühen 14. Jh. In einer Pergamenthandschrift des frühen 14. Jh. (seit 1910: Berlin mgq 1409) überliefern 324 Reimpaarverse in nordmittelfränkischer (ripuarischer) Schreibsprache fragmentarisch zwei vielleicht schon Mitte des 13. Jh. entstandene, nur oberflächlich verknüpfte Viten stofflich völlig divergenter Provenienz, die in der mittelalterl. Literatur nur hier miteinander verbunden sind: die des berühmten britannischen Propheten u. Zauberers Merlin u. die der im MA in Lüftelberg bei Bonn verehrten Lokalheiligen Lüthild. Im umfangreicheren ersten Teil (v. 1–232) wird (nach offenbar verlorenem Anfang) von der Taufe u. dem Einsiedlerleben Merlins berichtet, dessen Ruhm auf seinen sich stets bewahrheitenden (im Text zunächst ausgesparten) Weissagungen basiert. Die mehrfach aufgestellte Behauptung, dass Merlin nie lüge, wird an drei ausführlich geschilderten, kunstvoll ineinander verschachtelten Prophezeiungen demonstriert: Merlin weissagt einem Truchsessen, der ihn in verschiedenen Verkleidungen konsultiert, drei Todesarten;
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er prophezeit einem Jüngling mit neuen Schuhen, dass er diese nicht mehr benutzen werde, u. er gibt an, dass er selbst nur durch eine Jungfrau gefangen werden könne (Einhorn-Motiv, mit dem Christus-»imitatio« evoziert wird). Das Eintreffen aller Vorhersagen festigt Merlins Ruhm als Seher, dessen Gabe der Erzähler auf Christus zurückführt (v. 211 f.). An den Hof des Königs geführt, prophezeit Merlin den Tod des engl. Königs Richard Löwenherz u. eines (nicht identifizierbaren) Kaisers Heinrich. Ungewöhnlich an dieser Stoffauswahl ist nicht nur die Tendenz, Merlin zu einem der Wahrhaftigkeit verpflichteten, trotz aller Zweifel an ihm geduldigen, christlich-tugendhaften (v. 232, »sunder einge miswende«), ja geradezu von Christus begabten Seher zu stilisieren u. seine laut anderen Quellen dämonische Herkunft mit der Aussage zu verschleiern, dass nur Christus wisse, wie sein Vater zu seiner Mutter gekommen sei (v. 220–224); bemerkenswert ist v. a. auch das Fehlen jeden Hinweises auf den Artus- oder den Gralsstoff, in dem Merlin in der sonstigen europ. Literatur eine wichtige Rolle spielt. Zeit- u. Ortlosigkeit der Handlung u. die Namenlosigkeit der übrigen Akteure verleihen der Erzählung exemplarischen Charakter; demgegenüber leisten die als realisiert behaupteten Reichsprophetien sowie die Situierung von Merlins Tod in der unmittelbaren Vergangenheit (v. 230 f.) die Anbindung an die Gegenwart der Rezipienten. Ob jedoch der in der Nähe von Lüftelberg gelegene Ort Merl (im MA kaum mehr als ein Hof) Anlass bot, den derart umgeformten Merlin-Stoff in eine lokale Legendensammlung zu integrieren, bleibt fraglich. Ist die Figur Merlin mit Hilfe legendenhafter Motive gestaltet, so liegt in der L. ein eindeutiges, wenn auch ebenfalls fragmentarisches Exemplar der Gattung Legende vor. Tochter aus adligem Hause, muss Lüthild ihr gottgefälliges Leben gegen die Stiefmutter durchsetzen; Wunder (Verwandlung von Brot in Steine, Wiederbelebung einer toten Gans, Schlichtung von Grenzstreit – alles volkstümliche, legendarische Wandermotive) bestätigen ihren Status als Heilige. Die Verbindung beider Texte stellt der Erzähler durch
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die Bemerkung her, es gebe viel von Christi Wirken zu berichten. Ausgaben: Johannes Franck: Sente Lüthild. In: Westdt. Ztschr. für Gesch. u. Kunst 21 (1902), S. 284–316. – Der Rheinische M. Text, Übers., Untersuchungen der M.- u. L.-Fragmente. Nach der Hs. Ms. germ. qu. 1409 der Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz Berlin neu hg. v. Hartmut Beckers. Übers. u. Untersuchungen v. Gerd Bauer, Trude Ehlert u. a. Paderb. u. a. 1991. Literatur: H. Beckers: M. u. L. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Silvia Brugger-Hackett: Merlin in der europ. Lit. des MA. Stgt. 1991, S. 207–230. – Klaus A. Schmidt: Der verschmähte Merlin. Mögl. Gründe für die mangelnde MerlinRezeption in Dtschld. In: Die dt. Lit. des MA im europ. Kontext. Tagung Greifswald, 11.-15. Sept. 1995. Göpp. 1998, S. 61–83. Trude Ehlert
Merseburger Zaubersprüche, Anfang 8. Jh. oder älter. – Zwei magische Sprüche in althochdeutscher Sprache. Die im ersten oder zweiten Drittel des 10. Jh. auf dem freien Vorsatzblatt eines lat. Sakramentars aus dem 9. Jh. niedergeschriebenen Sprüche in ostfränk. Sprache sind älter als ihre Aufzeichnung – wie viel älter, ist umstritten. Der heidnisch-germanisch geprägte Inhalt der nach dem Aufbewahrungsort der Handschrift (Merseburg, Domstiftsbibl., Hs. 136) bezeichneten Sprüche weist in die Zeit vor der Christianisierung des Frankenreichs. Demnach dürften sie nicht später als zu Beginn des 8. Jh. entstanden sein. Die Sprüche, ein Lösezauber u. ein mag. Spruch zur Heilung einer Fußverletzung, bestehen je aus erzählender Einleitung u. in die Erzählung integrierter mag. Formel. Die Formel soll beim Sprechen die mag. Kraft von der myth. Begebenheit auf den aktuellen Fall übertragen (Analogiezauber). Das Magische im Inhalt wird durch Klang u. Form verstärkt. Die Sprüche sind nicht regelmäßig stabend; die Alliterationen unterstreichen die Tendenz der mag. Rede zur Wiederholung u. Parallelisierung. Inhalt u. Deutung der M. Z. sind in der Forschung bis in Wortlaut u. -bedeutung hinein umstritten. Im ersten Spruch treten (drei?) Gruppen von Idisen auf, welche Fesseln (des Feindes?) binden, (feindliche?)
Merseburger Zaubersprüche
Heere hemmen u. Fesseln (des Freundes?) lösen. Am Ende steht der Lösezauber zur Gefangenenbefreiung, formuliert als Befehl, den Fesseln zu entspringen u. den Feinden zu entfliehen (»insprinc haptbandun, inuar uigandun«). Die Idisen wurden u. a. als german. Schlachtjungfrauen, als germanisch-kelt. Matronen (»hehre Mütter«) u. als die drei Marien der Auferstehung interpretiert. Der Wortlaut unterstützt keine dieser Identifizierungen eindeutig; die ahd., altsächs. u. altengl. Belege für »itis, idis« (Frau) erlauben nur eine Interpretation als »(verehrungswürdige, zu verehrende) Frauen«, während der Kontext ihnen hier das Attribut »zauberkundig« zuweist. Im zweiten Spruch wird die Beinverletzung eines Götterpferdes (?) (»demo Balderes uolon«, v. 2) geheilt. Die Verrenkung wird dreifach parallelisierend besprochen, erst von Sinthgunt u. Sunna (v. 3), dann von Friia u. Uolla (v. 4) u. schließlich von Uuodan (v. 5), der die eigentl. mag. Formel, bestehend aus zweimal drei Gliedern, spricht: »sose benrenki, sose bluotrenki« (v. 6), »sose lidirenki« (v. 7): »ben zi bena, bluot zi bluodao« (v. 8), »lid zi geliden, sose gelimada sin!« (v. 9.) Dreigliedrigkeit kehrt in der sprachlichrhythm. Gestaltung (Masser, S. 21 ff.) u. im Gesamtaufbau (Verrenkung – Besprechung – Formel) wieder. Kontrovers diskutiert werden hier v. a. das auftretende Personal u. die mit den Namen evozierten Mythologien. Die auch sonst belegten Namen Uuodan, Balder, Sunna, Friia u. Uolla erlauben Identifizierungen mit den bekannten Göttern. Die Namen Phol u. Sinthgunt sind nur hier erwähnt. Sinthgunt wird meist – wie Sunna – als Planet gedeutet. Höchst umstritten ist Phol: Ist Phol eine andere Bezeichnung für Balder, ein unbekannter german. Gott, ein mit Uolla verwandtes göttl. Wesen (Fruchtbarkeitsgott?), Apollo, Paulus, das Pferd Uuodans, ein Tierdämon oder die Personifikation des Unheils bzw. seines Heilmittels? Ist statt »Phol ende Uuodan« (v. 1) »volende Uuodan« (der riesisch-teufl. Uuodan), »volen te Uuodan« (Uuodan zu Pferde) oder »folhende Uuodan« (der freigebige, der vollkommen weise Uuodan) zu lesen? Ist Balder Appellativum »Herr« u. somit auf Phol oder auf Uuodan zu
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beziehen? Ist der Auftritt Balders im Spruch Eleonora Cianci: Incantesimi e benedizioni nella genetisch sekundär, der Unfall urspr. Uuo- letteratura tedesca medievale (IX-XIII sec.). Göpp. dan zugestoßen u. liegt in der überlieferten 2004, S. 77–83. – Rudolf Simek: Zauberspruch u. Fassung demnach eine Kontamination eines Zauberdichtung. In: Reallexikon der German. Altertumskunde. Bd. 35, Bln./New York 2007, Phol-Spruchs mit der Baldermythologie vor? S. 441–446. – K. Düwel: Der Erste M. Z. – ein Mittel Eine eindeutige Lösung ist schwerlich zu er- zur Geburtshilfe? In: Erzählkultur. Beiträge zur zielen. Erkennbar bleibt die Form des zwei- kulturwiss. Erzählforsch. FS Hans-Jörg Uther. Hg. teiligen Zauberspruchs mit epischer Einlei- Rolf Wilhelm Brednich. Bln./New York 2009, tung u. mag. Formel, die auf einen entspre- S. 401–422. Claudia Händl chenden urspr. Gebrauch verweist. Die bereits im 19. Jh. entdeckte Parallele der Formel Merswin, Rulman, lat. Delphinus,* wahrzu einer Beschwörungsformel im ind. Athascheinlich 1307 Straßburg, † 13.7.1382 rva-Veda dürfte eher typolog. Verwandtschaft Straßburg. – Mystischer Schriftsteller, als genet. Abhängigkeit dokumentieren. VaStifter, »Gottesfreund«. rianten des Spruchs mit christl. Personal (vgl. den Trierer Pferdesegen, Steinmeyer, S. 367) Das Textkorpus, das zwischen 1352 u. 1402 belegen wohl weniger einen christl. Ur- im Umkreis M.s entstand, ist ein äußerst sprung des Spruchs als vielmehr eine Substi- vielschichtiger u. in mancher Hinsicht sintution heidn. Götter durch Christus u. Heili- gulärer Überlieferungskomplex der mittelalge im Rahmen der Missionierung german. terlichen myst. Literatur. Trotz intensiver Forschungsbemühungen ist es bislang nicht Gebiete. Während bei anderen ahd. Zaubersprüchen gelungen, die Rolle, die drei Figuren für Audie Gelegenheitsaufzeichnung in lat. Rezep- torschaft u. Überlieferung der Straßburger taren dafür spricht, dass sie noch des prakt. »Gottesfreundliteratur« zukommt, abschlieGebrauchs wegen interessierten, könnte die ßend zu klären: In den Handschriften des Überlieferung der M. Z. auf einem freien Johanniterkonvents zum »Grünen Wörth«, Blatt einer geistl. Handschrift eher auf ein für welche die Sammlung von Viten, Traktaantiquarisches Bemühen um mündlich- ten u. Exempla entstand, werden sechs Texte volkssprachliche, heidnisch-german. Texte R. M. zugeschrieben, für 17 weitere wird zur Zeit der Niederschrift hinweisen. Den- dessen spiritueller Freund u. Ratgeber, der noch ist nicht auszuschließen, dass der ur- »Gottesfreund aus dem Oberland« als Versprüngl. Lösezauber des ersten Spruchs in fasser genannt. Bei diesem nicht näher bespäterer Zeit noch prakt. Anwendung fand, zeichneten, nur durch die Vermittlung M.s bekannten Seelenführer u. Vertrauten Gottes etwa bei der Geburtshilfe (Düwel). Ausgaben: Die kleineren ahd. Sprachdenkmäler. handelt es sich jedoch um eine Mystifikation, Hg. Elias v. Steinmeyer. Bln./Zürich 31971, die entweder M. selbst erschuf oder sein SeS. 365–367 (zit.). – Walter Haug u. Benedikt Kon- kretär, der Priester, Redaktor u. Schreiber rad Vollmann (Hg.): Frühe dt. Lit. u. lat. Lit. in zahlreicher Handschriften, Nikolaus von LöDtschld. 800–1150. Ffm. 1991, S. 152 f. (mit nhd. wen (1339–1402), nach dessen Tod lancierte. Übers.). – Ahd. Lit. Hg. Horst Dieter Schlosser. Bln. Auch konnte die Funktion dieser komplexen 2 2004 (mit nhd. Übers.). Autorschaftskonzeption zwischen einer den Literatur: Hans-Hugo Steinhoff: M. Z. In: VL Stifter idealisierenden Fälschung myst. Erle(Lit.). – Haug/Vollmann 1991 (s. o.), S. 1142–1150. bens u. einer allein der literar. Wahrheit ver– Klaus Düwel: Über das Nachleben der Merse- pflichteten, spirituellen Unterweisung nicht burger Zaubersprüche. In: FS Helmut Birkhan. völlig durchsichtig gemacht werden. Bern u. a. 1998, S. 539–551. – Insprinc haptbanFolgt man den Angaben der in Ich-Form dun. Referate des Kolloquiums zu den M. Z. auf der verfassten Vita M.s, dem Büchlein von den Vier XI. Fachtagung der Indogerman. Gesellsch. Halle/ S. (17.-23.9.2000). Hg. Heiner Eichner u. Robert Jahren des anfangenden Lebens, sowie den AusNedoma. Tl. I. In: Die Sprache 41 (1999 [2002]), H. sagen des Lebensberichts, der in die Chronik 2, S. 87–228; Tl. II. Ebd. 42, H. 1–2 (2001/02 der von ihm gestifteten Johanniterkomturei [2003]). – Wolfgang Beck: Die M. Z. Wiesb. 2003. – inseriert ist, werden die Schriften des ange-
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sehenen Patriziers, reichen Kaufmanns u. einflussreichen Geschworenen der Münze durch ein religiöses Umkehrerlebnis veranlasst: Da auch seine zweite Ehe mit Gertrud von Bietenheim kinderlos bleibt, beschließt M. 1347 mit Zustimmung seiner Frau sich sowohl aus dem Geschäftsleben als auch von seinen städt. Ämtern zurückzuziehen, um ein enthaltsames, der Nachfolge Christi verpflichtetes Leben zu führen. Der auf göttl. Befehl verfasste Bericht über die ersten vier Jahre nach dieser Lebenswende unterscheidet drei Phasen: Auf eine erste, nach zehnwöchiger Reue gewährte Ekstase folgen (1.) selbstauferlegte Geißelungen, die ihm von seinem Beichtvater, dem Dominikanerprediger Johannes Tauler, verboten werden; auch bewährt sich M. (2.) in den teufl. Versuchungen der Unkeuschheit u. des Glaubenszweifels, um schließlich (3.) seinen freien Willen einem von Gott gesandten Vertrauten, dem »menschen in obber landen«, spirituell zu unterwerfen. In weiten Teilen literarischen Topoi mystischer Gnadenleben verpflichtet, erscheint eine schlicht faktograf. Interpretation dieses Lebensberichts als unmittelbare Reformulierung individuellen Erlebens jedoch nicht unproblematisch. Außerhalb der literar. Quellen, d.h. durch Urkunden bezeugt, ist allein M.s Stiftung der Johanniterkommende: In den Jahren 1366 bis 1368 gelingt es M., das Verfügungsrecht über das 1150 gegründete Trinitätskloster auf der IllInsel zum »Grünen Wörth« in Straßburg zu erwerben, indem er am 2.1.1367 den in wirtschaftl. Not geratenen Altdorfer Benediktinern 500 Silbermark leiht, die ihm für diese Summe nicht nur fünf an den »Grünen Wörth« angrenzende Grundstücke verpfänden, sondern auch das freie Benutzungsrecht über das Kloster zunächst für 30, dann für 100 Jahre übertragen u. sich darüber hinaus verpflichten, den Papst, wann immer M. es verlange, um eine Verstetigung der Stiftung zu ersuchen. Nachdem M. am 29.11.1367 auch alle Felder, Gärten u. Häuser, die an den »Grünen Wörth« stoßen, von den Benediktinern gekauft hat, ist er de facto der Besitzer des Klosters u. kann dessen geistl. Leitung – nach einer ersten Instandsetzung der Gebäude – am 13.1.1371 dem Johanniterorden
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übergeben, während die wirtschaftl. Verwaltung sowie die Organisation des »Zufluchtshauses«, in das die Kommende laikale, der Welt entsagende Pfründner aufnehmen soll, drei weltl. Verwaltern unterstellt wird, zu denen M. bis zu seinem Tod zählt. Der gesamte Komplex an Schriften, die M. u. dem Gottesfreund zugeschrieben werden, ist nicht von der Geschichte u. spezif. Organisationsform dieser Stiftung zu trennen, d.h. es handelt sich um »Hausliteratur«, für den »Grünen Wörth« konzipiert u. – bis auf wenige Ausnahmen – auch dort verblieben. Um die Klosterfamilia an das vorbildl. Leben der Stifter zu erinnern, Pfründner wie Ordensgeistliche auch über den Tod M.s hinaus auf die Spiritualität der »Gottesfreunde« u. die durch sie begründete Form des Gemeinschaftslebens zu verpflichten u. den rechtl. Status der Stiftung gegenüber der Ordensleitung zu legitimieren, entstehen für die laikalen u. klerikalen Gruppen der Gemeinschaft insg. acht Codices, die sog. Memoriale, von denen (neben Abschriften des 15.-18. Jh.) drei im Original erhalten sind: das Grosse deutsche Memorial, das Briefbuch u. das Pflegermemorial. Durch Einrichtung wie Textauswahl voneinander differenziert, kommt jeder dieser Sammelhandschriften eine spezif. Aufgabe bei der Ausbildung einer institutionellen Gruppenidentität u. somit für den Fortbestand der Stiftung zu. Als umfangreichste Sammlung von Gnadenviten, Visionsberichten u. myst. wie paränet. Traktaten fungiert das Grosse deutsche Memorial, das als eines der drei Urkundenbücher am Beginn der systemat. Ausarbeitung einer Haustradition für die Johanniterkomturei steht (die Handschrift entstand um 1391), als spirituelles Handbuch für die gesamte Konventsgemeinschaft, welches die Stifter u. ihre geistl. Freunde als Exempelgestalten nutzt, um die spirituelle Lebensform der Kommunität in büßender Weltabkehr, tugendhafter Christusnachfolge u. myst. Kontemplation zu fundieren. Die drei umfangreichsten Texte der Handschrift (das Neunfelsenbuch, das Buch von den zwei Mannen u. das Meisterbuch) sind dabei – trotz ihrer untypischen, da z.T. breiten Überlieferung – im Hinblick auf Kompositionsverfahren u.
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Texttypen charakterist. Beispiele der »Gottesfreundliteratur«. Das dialogisch gestaltete Neunfelsenbuch bietet weder in der Allegorese der Neunfelsenvision als Weg zur Vollkommenheit noch in dem vorangestellten Sündenspiegel der Stände eine – von der Rahmenerzählung gleichwohl suggerierte – Vertextung mystischer Erfahrung M.s; vielmehr bezeugen die stark divergierenden Fassungen des Textes, die außerhalb des »Grünen Wörth« überliefert sind, eine vielfältige Tradition des Motivs u. weisen das Neunfelsenbuch als Meditation über die Annäherung an Gott aus. Ebenso kompiliert das Meisterbuch, das im Verbund mit Taulerpredigten eine große Verbreitung erfuhr, den Pseudo-EckhartTraktat Die Zeichen eines wahrhaften Grundes, das christl. Lebensregeln aneineranderreihende Goldene ABC sowie den mystagogischen, die »triplex via« zusammenfassenden Traktat Von den drei Fragen im Exempel eines Meisters der Heiligen Schrift, der von einem Laien, der nur auf dem »Grünen Wörth« mit dem Gottesfreund identifiziert wird, von der Selbstbezogenheit der Schriftgelehrsamkeit zu gelebter Christusnachfolge geführt wird. Die aus den genannten Schriften konstruierte Bekehrungserzählung ist folglich nicht, wie in den frühen Tauler-Drucken geschehen, als biogr. Zeugnis zu interpretieren, sondern als narrative Interpretation der in den Traktaten beschriebenen »gelassenheit«. Das Buch von den zwei Mannen schließlich, für das bislang keine Vorlage benannt werden kann, präsentiert sowohl im wechselseitigen Lebensbericht von zwei Gottesfreunden als auch im angeschlossenen Lehrgespräch ein Panorama traditioneller katechet. wie myst. Lehre, das von der Anleitung zum Eucharistie-Empfang über eine Ehelehre bis hin zu einem myst. Aufstiegsschema in sieben Stufen reicht. Ist es die Aufgabe des Grossen deutschen Memorials, das die Komturei nicht verlassen, sondern an einem allen Bewohnern des »Grünen Wörth« zugängl. Ort aufbewahrt werden sollte, der Konventsgemeinschaft das spirituelle Leitkonzept der Gottesfreundschaft bekannt zu machen, sind die zwischen 1393 u. 1399 erstellten Exemplare des Pflegermemorials als Kompendium der Haustradition konzipiert, das die drei weltl. Verwalter
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der Stiftung, denen die Handschriften leihweise überlassen wurden, über die religiösen wie realweltlich-konkreten Grundlagen der Stiftung informieren u. ihnen so zur Legitimation wie Repräsentation ihres Amtes dienen sollte. Während sich die Chronik mit der Grundlegung der Stiftung in einer weihnachtl. Vision u. der Illustration ihrer Gottgefälligkeit durch ihre wiederholte, mirakulöse Bewährung in der krisenhaften Konventsgeschichte prototypischer Elemente mittelalterlicher Klostergeschichtsschreibung bedient, um die Stiftung sowie ihre Regeln zu sanktionieren, ergänzen die beiden Stifterviten die institutionelle Erinnerungskultur durch die exemplarische Illustration des spirituellen Konzepts der Gründung: Über die »memoria« der Heiligkeit des Stifters hinaus wird in der schemagerechten Vita des Büchleins von den Vier Jahren (s. o.) das asketisch-kontemplative Leben eines Gottesfreundes normgebend exemplifiziert. Auch das Buch von den fünf Mannen, das der Straßburger Überlieferung als Vita des Gottesfreundes gilt, will durch die Reihung der Bekehrungsgeschichten eines nach Enthaltsamkeit strebenden Ehemanns, eines konvertierten Juden u. eines der Weltweisheit entsagenden Domherrn sowie durch die Beschreibung ihrer anachoretischen, durch Ekstasen geprägten Lebensform unter der Leitung des Gottesfreundes Ordensgeistlichen u. laikalen Pfründnern ein Vorbild für ihr Gemeinschaftsleben auf dem »Grünen Wörth« vor Augen stellen. Der jüngste der im Original erhaltenen Codices, das Briefbuch (1391–1402), versammelt Abschriften aller Briefe, die der Gottesfreund an Komtur, Brüder u. Mitstifter der Johanniterkomturei sandte, bevor der Kontakt ins Oberland mit dem Tod M.s unvermittelt abbrach. Die archivierten Briefe erteilen der Gemeinschaft nicht nur göttlich inspirierte Ratschläge bei der Sanierung der Klostergebäude u. ermahnen einzelne Brüder zu Gehorsam u. Weltabkehr, sondern schildern auch detailliert die Abwendung des apokalyptischen, göttl. Zorns durch das anhaltende Gebet der Gottesfreunde. Indem das Briefbuch die Fürsorge des Gottesfreundes für seine Gründung u. ihre Bewohner ebenso
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wie seine Macht als Fürsprecher bei Gott Merz, Klaus, * 3.10.1945 Aarau. – Erzähveranschaulicht, partizipiert der Kodex an ler, Lyriker, Theater-, Fernseh-, Kindereinem lokalen Sonderbewusstsein: Als Inter- buch- u. Hörfunkautor. zessor garantiert der Gottesfreund den Fortbestand der Stiftung u. gemahnt eindringlich M. wuchs in Menziken auf, wo er schon als an die Bewahrung des Stifterwillens. Auch die Kind mit dem späteren Schriftstellerkollegen Integration der beiden Autografen in das Hermann Burger befreundet war. Nach dem Briefbuch ist durch die Vorstellung einer bes. Besuch des Lehrerseminars in Wettingen u. Präsenz der Stifter in ihrer Gründung moti- der Sekundarlehrerausbildung in Lausanne viert: Sowohl das nach M.s Tod aufgefundene sowie an der Akademie für Erwachsenenbileigenhändige Exemplar des Büchleins von den dung in Luzern unterrichtete M. »Sprache Vier Jahren als auch die (in Dialekt, Schreibung und Kultur« an der Schweizerischen Bauu. Papier auffällig mit diesem übereinstim- schule Aarau. Er lebt in Unterkulm/Kt. Aarmende) Urschrift des Buch von den fünf Mannen gau. 2004 erhielt er den renommiertesten sollen – nach dem Willen der redaktionellen Schweizer Literaturpreis, der im Namen Zusätze – als Reliquien der Stifter verehrt Gottfried Kellers vergeben wird. werden u. somit der Gemeinschaft die heilAnfangs trat M. v. a. als Lyriker auf (Mit bringende Aura der Gründer auch über ihren gesammelter Blindheit. St. Gallen 1967. GeschieTod hinaus gewähren. be – mein Land. Aarau 1969). In den 1970er u. Ausgaben: Sieben bisher unveröffentlichte 1980er Jahren wurde er als Erzähler (ObligaTraktate u. Lektionen. Hg. Philipp Strauch. Halle torische Übung. Geschichten. Aarau 1975), Dra1927. – M.s Vier anfangende Jahre. Des Gottes- matiker u. Fernsehautor bekannt, ohne die freundes Fünfmannenbuch (die sog. Autographa). Lyrik zu vernachlässigen. Für den ErzählHg. ders. Halle 1927. – M.s Neun-Felsen-Buch. Hg. band Latentes Material (Aarau 1978) erhielt er ders. Halle 1929. – Des Gottesfreundes im Oberland [= Rulmann M.’s] Buch v. den zwei Mannen. 1979 erstmals den Preis der Schweizerischen Nach der ältesten Strassburger Hs. Hg. Friedrich Schillerstiftung. Mitte der 1980er Jahre traLauchert. Bonn 1896. – Nicolaus v. Basel: Ber. von ten vermehrt Gedichte in Verbindung mit der Bekehrung Taulers. Hg. Carl Schmidt. Straßb. Prosaminiaturen auf (Bootsvermietung. Zürich 1875 (›Meisterbuch‹). – Karl Rieder: Der Gottes- 1985. Nachricht vom aufrechten Gang. Zürich freund vom Oberland. Eine Erfindung des Straß- 1991. Kurze Durchsage. Innsbr. 1995. Garn. burger Johanniterbruders Nikolaus v. Löwen. Innsbr. 2000. Löwen Löwen. Venezianische SpieInnsbr. 1905 (›Chronik‹, Briefe). – Myst. Texte des gelungen. Wien 2004). Die Erzählungen der MA. Hg. Johanna Lanczkowski. Stgt. 1999, 1980er u. 1990er Jahre, versammelt in TreS. 308–318. Literatur: Georg Steer: M., R. In: VL (Lit.; molo Trümmer (Zürich 1988) u. Am Fuß des Ausg.n) (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Jo- Kamels (Innsbr. 1994), werden gekrönt von hannes Janota: Straßburger Gottesfreunde. In: der Novelle Jakob schläft (Innsbr. 1997), für die Ders.: Vom späten MA zum Beginn der Neuzeit. M. u. a. mit dem Hermann-Hesse-Preis u. Tl. 1: Orientierung durch volkssprachl. Schrift- dem Preis der Schillerstiftung ausgezeichnet lichkeit (1280/90–1380/90). Tüb. 2004, S. 129–140. wurde. Anlässlich einer Ausstellung Der ge– Christiane Krusenbaum-Verheugen: Figuren der stillte Blick (Museum Strauhof, Zürich 2007), Referenz. Untersuchungen zu Textualität u. Komdie M.’ bildhafte Sprache mit seinem Interposition der ›Gottesfreundliteratur‹ in der Straßburger Johanniterkomturei zum ›Grünen Wörth‹. esse für die bildende Kunst verband, entstand das gleichnamige Buch mit gesammelten Diss. masch. Köln 2008. Christiane Krusenbaum-Verheugen »Sehstücken«, Feuilletons aus den vergangenen 20 Jahren. Die Affinität zur Kunst machte sich bereits 2004 in dem Buchprojekt Blicken (Alpnach) des Künstler Niklaus Lenherr bemerkbar, für das M. u. Zsuzsanna Gahse sich poetisch in kleinen Gedichtfacetten austauschten.
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M., der Sohn eines Bäckermeisters, skiz- Schlächter, mein Kind« oder »Nimm den ziert in knapper, präziser Sprache Individu- Stein, / nimm das Auge«. Doch solche Gealschicksale in kleinbürgerl. Dorfgemein- dankensplitter bleiben Teil eines Ganzen, das schaften, geprägt von eigenen Schicksals- wie zum Trost stimmige Bilder erzeugt: »Die schlägen: Ein älterer Bruder starb, bevor M. Welt hört nicht / auf, das muss man lernen«. geboren wurde, der jüngere Bruder Martin Weitere Werke: Vier Vorwände ergeben kein (1950–1983) – dessen Gedichte M. herausgab Haus. Zürich 1972 (L.). – Landleben. Zürich 1982 (Zwischenland. Innsbr. 2003) – kam schwer (L.). – Motel. Sieben Drehbücher zur Vorabendserie behindert zur Welt. Der Ausbruch aus der des Fernsehens DRS. Zürich 1984. – Die Schonung. unbefriedigenden Situation nichtgelebten Urauff. Zürich 1989. – Adams Kostüm. Innsbr. Lebens gelingt den Protagonisten selten oder 2001. – Das Turnier der Bleistiftritter. Achtzehn Begegnungen. Innsbr. 2003. – Die Tiere ziehen los! endet abrupt, wie in M.’ Erzählung Der EntBilderbuch. Zürich 2003 (mit P. Rappo). – Kunos wurf (Mchn. 1982; rev. Neuaufl. Innsbr. große Fahrt. Bilderbuch. Gossau 2005 (mit H. 1998): Die Geliebte ist unbekannt verzogen, Binder). – Priskas Miniaturen. E.en 1978–88. die »kleine Flucht« des Ich-Erzählers Dubois Innsbr. 2005. – Aus dem Staub. Innsbr. 2009. führt nach einem Autounfall ins KrankenLiteratur: Begegnungen mit Schweizer haus, wo er Szenen aus seinem Leben auf Schriftstellern. 9 Interviews. Zofingen 1986. – ElsKassette spricht. Auch wenn in M.’ Werk die beth Pulver: K. M. In: KLG. – Markus Bundi: K. M. kleine Form dominiert, zeigt er sich in Folge In: LGL. – Ders.: Die Schwerkraft im Gleichgeauch immer wieder als Meister erzählerischer wicht. Ein Ess. Eggingen 2005. Formate, wohl wissend, dass sie es nicht Hans Peter Kunisch / Günter Baumann darauf anlegen, »das pure ›an sich‹ der Sache zu überliefern wie eine Information oder ein Merz, Konrad, eigentl.: Kurt Lehmann, Rapport« (Walter Benjamin). In Jakob schläft, * 2.4.1908 Berlin, † 30.11.1999 Purme»eigentlich ein Roman«, erzählt er die traurend/Niederlande. – Prosaschriftsteller, rige Geschichte einer Familie in der JahrLyriker u. Librettist. hundertmitte, die im Grunde seine eigene ist, u. setzt dem totgeborenen älteren Bruder ein Der Sohn einer Arbeiterfamilie wurde nach unprätentiöses Denkmal. Der Abschied von dem frühen Tod des Vaters in ein Waisenhaus einem sterbenden Freund ist das Thema der gegeben, betätigte sich später als Statist an von der Schweizerischen Schillerstiftung der Oper u. in verschiedenen kaufmänn. Beausgezeichneten Erzählung Los (Innsbr. rufen, besuchte gleichzeitig das Abendgym2005), in der sich stille Anteilnahme u. pure nasium. Nach dessen erfolgreichem AbBeobachtung abwechseln. Aus verschiedenen schluss nahm M. ein Jurastudium auf, das er Blickwinkeln lässt M. in der Novelle Der Ar- 1933 wegen seiner jüd. Herkunft abbrechen gentinier (Innsbr. 2009) das Leben eines alten musste, u. verfasste erste Gedichte. Wegen Mannes aus der Perspektive seiner Enkelin polizeibekannten Kontakten zu einer WiderRevue passieren. standsgruppe flüchtete er 1934 in die NieM.’ Lyrik ist zu Beginn durch eine spät- derlande, lebte in Utrecht, Ilpendam u. Purexistentialist. Grundhaltung geprägt, wird in merend u. bestritt seinen Lebensunterhalt der Folge jedoch zunehmend experimentell u. a. als Stallbursche u. Gärtner. Seine erste u. zeitkritisch-politisch. Einzelne Anklänge Publikation Aus dem Tagebuch eines Berliner an Celan (Lichtgarbe Sommer, Niemandsschnee) Studenten erschien im Herbst 1934 in der Exilverschwinden, die Beschwörung symbolhaf- Zeitschrift »Das Neue Tagebuch«. Sie war ter Stimmungen u. Lebenssituationen – ver- zgl. eine Vorstufe der stark autobiogr. Buchwoben zwischen minimalist. Zustandsdar- veröffentlichung Ein Mensch fällt aus Deutschstellungen u. traumatisch-surrealen Bildern – land, die dank der Fürsprache des Kritikers weicht (beispielsweise) knappen Pointen oder Menno ter Braak 1936 bei Querido in AmsRatschlägen im Stil Günter Eichs oder En- terdam erschien. Eine niederländ. Übersetzensbergers, die den Adressaten zumeist ir- zung kam im folgenden Jahr heraus, nachritiert zurücklassen: »Sieh dich vor, werde dem ter Braak, Willy Haas u. Klaus Mann
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positive Rezensionen veröffentlicht hatten. Heidelb. 2002, S. 333–358. – Carina de Jonge: GeTer Braak hatte hervorgehoben, dass es sich brochene Welt, gebrochenes Deutsch? Der Einfluss um das erste Werk eines Autors überhaupt der Sprache des Gastlandes auf das Deutsch v. handele, den die Exilerfahrung zum Schrift- Exilschriftstellern anhand des Beispiels K. M. In: Neoph. 88 (2004), S. 81–101. – Jan Bürger: Ein steller gemacht habe. Das Manuskript der Mann, den Hitler nicht erschossen hat. Die DeporFortsetzung Generation ohne Väter ging zwei- tationspapiere des K. M. In: Exil. Ztschr. für mal verloren u. konnte erst 1999 in Berlin Ideengesch. H. II/1 (2008), S. 97–109. erscheinen. Es fand bei der Kritik eine geVolker Hartmann mischte Aufnahme. Während der dt. Besatzung der Niederlande konnte M. versteckt überleben. Danach Meschendörfer, Adolf, * 8.5.1877 Kronmachte er eine Ausbildung zum Physiothe- stadt/Brasov, † 4.7.1963 Kronstadt/Brarapeuten. Zur Literatur fand M. erst wieder in sov. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker. den 1970er Jahren u. veröffentlichte 1972 den schmalen Prosaband Schlächter, Weib und Ma- M., Sohn eines Kaufmanns, studierte Philojestät (Bln.). Er trägt ebenso wie Der Mann, den logie, Theologie u. Philosophie u. a. in Wien Hitler nicht erschossen hat (Darmst. 1976) den u. Berlin, arbeitete als Lehrer u. später als bezeichnenden Untertitel Erzählungen eines Direktor an einem Kronstädter Gymnasium. Masseurs, während Glücksmaschine Mensch Er trat zunächst als Kulturpolitiker hervor: (Zürich 1982) als Plaudereien eines Masseurs 1907–1914 gab er die einflussreiche Zeitfirmiert. Autobiografisch sind auch die bei- schrift »Die Karpathen« heraus. Darin forden letzten Werke Liebeskunst für Greise. Me- derte er eine siebenbürg. Literatur, die sich an moiren eines Jahrhunderts (Bln. 1992) u. Berliner, die europ. Entwicklung anlehnt, um sich als Amsterdamer und ach – Jude auch (Bocholt 1998), eigenständige Literatur zu behaupten. In dessen Titel noch einmal die Konstellation dem Roman Leonore (Hermannstadt 1920. seines Lebens u. Voraussetzung eines Schrei- Bukarest 1975), 1908 als Fortsetzungsroman bens bilanziert, das gerade in den späten in den »Karpathen« erschienen, setzt er seine Publikationen von abgründigem Humor ge- Forderung literarisch um. In der Lyrik blieb prägt u. sprachlich, wie immer wieder beob- M. der Tradition verpflichtet, seine Siebenachtet wurde, vom Niederländischen beein- bürgische Elegie (in: Gedichte. Mchn. 1930) flusst ist. Obwohl sich u. a. Ingeborg Drewitz, wurde vielfach kanonisch rezipiert. Im geWalter Huder u. Thomas B. Schumann für M. schichtl. Drama Michael Weiß (Kronstadt einsetzten, ist sein Werk von der Forschung 1919), das in Anlehnung an Gerhart Hauptmanns naturalist. Dramenkonzeption entnoch nicht gebührend beachtet worden. stand, wird die Bedrohung der EigenstänLiteratur: K. M. zum fünfundsiebzigsten Geburtstag am 2. April 1983. Hg. Klaus Schöffling. digkeit sächs. Lebens thematisiert. Sein erZürich 1983. – Thomas B. Schumann: ›Ein Mensch folgreichster Roman, Die Stadt im Osten (Herfällt aus Deutschland‹. Zum Werk v. K. M. In: NZZ, mannstadt 1931. Bukarest 1984), verbindet 27.7.1993. – Lothar Müller: Plaudermasseur. K. M. individuelle, kulturelle u. soziale Motive zu wird neunzig. In: FAZ, 2.4.1998. – Andreas Nent- einem mitunter melanchol. Zeitgemälde. Der wich: Aus Dtschld. verstoßen. K. M.’ Roman ›Ge- Roman gilt heute als einer der wichtigsten neration ohne Väter‹. In: NZZ, 30.3.2000. – Tilman der rumäniendt. Literatur aus der ersten Spreckelsen: Generation ohne Väter. Der Letzte im Hälfte des 20. Jh. Die Wendung zur völkischExil: Zum Tod des Schriftstellers K. M. In: FAZ, nat. Literaturauffassung erfolgte vermittelt 4.12.1999. – Andreas Oettel: In memoriam K. M., über M.s Heimatverständnis verstärkt nach 1908–99. In: Exil. Forsch., Erkenntnisse, Ergeb1933 zunächst in programmat. Schriften u. nisse 20 (2000), H. 2, S. 50–55. – Sabine Bierwirth: Der fast vergessene Schriftsteller K. M. u. sein im Roman Der Büffelbrunnen (Mchn. 1935). Lieblingsdichter Heinrich Heine. Zwei Deutsche, Darin dokumentiert sich kompensatorisch zwei jüd. Emigranten. In: Literar. Fundstücke. die Identitätsunsicherheit eines Autors, der Wiederentdeckungen u. Neuentdeckungen. FS einer deutschsprachigen Minderheit angeManfred Windfuhr. Hg. Ariane Neuhaus-Koch. hört. Nach 1945 trat M. als Autor kaum in
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Erscheinung, obwohl er 1954 Mitgl. im Rumänischen Schriftstellerverband wurde. Weitere Werke: Vorträge über Kultur u. Kunst. Kronstadt 1906. – Dramen. Kronstadt 1931. – Gedichte. Bukarest 1967. Teilausgabe: Gedichte, Erzählungen, Drama, Aufsätze. Bukarest 1978. Literatur: Edith Konradt: Grenzen einer Insellit. Ffm. 1987. – Michael Markel: A. M.s ›Siebenbürgische Elegie‹. Bausteine zu einer Rezeptionsgesch. In: Die dt. Regionallit.en in Rumänien (1918–44). Hg. Peter Motzan u. Stefan Sienerth. Mchn. 1997, S. 177–222. – Hans Kulcsar: Lit. des Abwegs – Lit. des Irrwegs. Die siebenbürgisch-dt. Lit. in der Mitte des 20. Jh. Eine literatursoziolog. Untersuchung am Beispiel v. A. M., Hans Liebhardt u. Arnold Hauser. Erlangen/Nürnb. (Diss. 2000). – S. Sienerth: A. M.s Ztschr. ›Die Karpathen‹ (1907–14). Ihr Beitr. zur Herausbildung einer südostdt. Identität im Donau-Karpathenraum. In: Aufbruch in die Moderne. Hg. Anton Schwob u. Zoltán Szendi. Mchn. 2000, S. 139–153. – Alexander Ritter: ›Auslandsdeutsche Literatur‹ u. nationalsozialist. Literaturpolitik. A. M.s Roman ›Der Büffelbrunnen‹ (1935). In: Brücken schlagen. Hg. A. Schwob. Mchn. 2004, S. 303–341. Waldemar Fromm
Mesmer, Franz Anton, * 23.5.1734 Iznang/Bodensee, † 5.3.1815 Meersburg/ Bodensee; Grabstätte: ebd., Friedhof. – Arzt u. Magnetiseur. Die Unterstützung des Bischofs von Konstanz, dessen Jäger M.s Vater war, ermöglichte den Besuch einer Klosterschule u. das Theologiestudium an der Jesuitenuniversität in Dillingen, von wo M. an die Reformuniversität Ingolstadt wechselte. Es folgte das Studium der Medizin in Wien. Dort promovierte er 1766 bei Gerard van Swieten mit der Doktorarbeit De planetarum influxu. Die Heirat mit der reichen Witwe Maria Anna von Posch (1768) öffnete ihm den Zugang zu den besten Kreisen Wiens. 1774 begann M., magnet. Heilbehandlungen durchzuführen, zuerst mit Hilfe von Stahlmagneten, die er an bestimmte Körperstellen (z.B. Magen u. Beine) heftete. Bald begriff er, dass »magnetische Striche«, Massagebewegungen, die von den Plexus in der Magengrube u. den »Hypochondrien« (Körperstelle zwischen den Rippen) ausge-
hen, eine ungleich größere Wirkung erzielten. Auf diese Weise meinte er, den Kranken den ihnen fehlenden »thierischen Magnetismus« zuzuführen (»thierisch«, um ihn vom mineralischen bzw. physischen zu unterscheiden). Denn Krankheit, in welcher Form auch immer, ist für M. nichts anderes als der Mangel an »thierischem Magnetismus« oder dessen Stockung, bzw. mangelhafter Durchfluss im menschl. Körper. So heißt es in einem der späteren Aphorismen: »Es gibt nur eine Krankheit, nur ein Remedium, eine Heilung.« Der »thierische Magnetismus« sei seinerseits ein Vehikel der »feinstofflichen Energie« (»fluide subtil«), die das ganze Universum erfüllt u. alle Körper durchdringt. Im Laufe der Zeit war M. mehr u. mehr davon überzeugt, dass er durch eine Gabe der Natur mit einer bes. Fülle an »thierischem Magnetismus« ausgestattet sei, den er den Kranken übertragen könne. Der Skandal, den der misslungene Heilversuch an der 18-jährigen Maria Theresie Paradis auslöste, zwang M., Wien zu verlassen. Er begab sich nach Paris. Die Pariser Periode markiert den Höhepunkt seines Ruhms u. Erfolgs, der ihm v. a. in gehobenen Kreisen zuteil wurde, bei wachsender Kritik, bes. aus wiss. Kreisen. M. erfand das »baquet«, eine Art von Kollektivtherapie, wohl um dem wachsenden Andrang an Patienten Herr zu werden. In einer Kufe sollte der »thierische Magnetismus« in einer Mischung aus Wasser, Scherben von Glasflaschen, Sand, Steinen, zerstampftem Schwefel u. Eisenspänen aufgestockt werden u. seine Heilkraft auf die um die Kufe versammelten Kranken ausüben, die sowohl mit ihr wie miteinander in Berührung standen. Auf die Verabreichung von Medikamenten verzichtete M. nach eigener Aussage. Kritik an M.s Heilkonzept und seinen Heilmethoden wurde v. a. in der Wissenschaft laut. Schon 1775 bezeichnete die Berliner Akademie den »thierischen Magnetismus« als Illusion. 1784 ernannte der König von Frankreich zwei Kommissionen zur Überprüfung von M.s Lehren u. Heilpraxis: Die erste bestand aus Mitgliedern der Medizinischen Fakultät u. der Akademie der Wissenschaften (darunter Benjamin Franklin u. Lavoisier), die zweite aus vier Mitgliedern der
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Société de Médecine. Die Gutachter kamen zu dem Schluss, dass es keinen Beweis für die Existenz des »magnetischen Fluidums« gebe; eventuelle Heilwirkungen seien nur der Einbildungskraft zuzuschreiben. M. scheint 1785 Paris verlassen zu haben. Bald zog er sich ganz aus der Öffentlichkeit zurück. Nach 1803 wohnte er meist in seiner alten Heimat, der Bodenseeregion. In den letzten Lebensjahren wurde ihm Rehabilitation zuteil, u. a. durch Oken, Reil, Kluge, Wolfart u. Hufeland. Der immense Nachhall, den der Mesmerismus in der europäischen (u. nordamerikan.) Literatur fand, geht nicht auf M., sondern auf dessen frz. Schüler Armand Marie Jacques de Chastenet, marquis de Puységur zurück, der als Erster auf jenen Komplex von Phänomenen stieß, der später – durch James Braid – als Hypnotismus bezeichnet wurde. Puységur bedient sich der Begriffe »sommeil lucide« (Kluge sagt später von diesen Kranken: »Er ist schlafend, im Schlafe aber wachend«), »somnambulisme provoqué« (künstlicher Somnambulismus), »magnetischer Somnambulismus«. Puységur machte seine Entdeckung im Jahre 1784. Seinen 23jährigen Knecht Victor Race, der an einem Brustleiden erkrankt war, hatte Puységur nach dem Vorbild M.s mit »magnetischen Strichen« behandelt. Das Resultat war überraschend: ohne dass die von M. für notwendig erachtete Krise eintrat (meist in Form von Konvulsionen), schlief Race friedlich in den Armen seines Herrn ein. Zgl. fand in Bewusstsein u. Persönlichkeit des Magnetisierten eine seltsame Verwandlung statt: »Aus dem albernen Bauern [...] wurde ein Wesen, welches ich nicht benennen kann.« Beim Erwachen aus der magnet. Trance blieb in Race keine Spur einer Erinnerung an das in ihr Vorgefallene zurück. Aus dieser »Urszene« der magnet. Trance leiteten spätere Mesmeristen jene Grundzüge ab, welche die europ. Literatur mesmeristischer Prägung kennzeichnen sollten. Der entrückte Magnetisierte erfährt eine Bewusstseinserweiterung u. wird paranormaler Fähigkeiten teilhaftig. In seinem Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel (hier zitiert nach der 2. Ausg. Bln. 1815) unterscheidet Kluge sechs
Mesmer
aufeinanderfolgende Grade im magnet. Schlaf, in denen der Kranke sich immer mehr von der Sinnenwelt entfernt. Im sechsten u. höchsten Grad, der nur äußerst selten von Somnambulen erreicht wird, »tritt der Kranke [...] in eine höhere Verbindung mit der gesammten Natur.« »Mit einer ungewöhnlichen Deutlichkeit durchblickt er oft das Verborgene in der Vergangenheit, das Ferne und Unbekannte in der Gegenwart [Umschreibung für das in der mesmeristischen Literatur häufig erwähnte »Zweite Gesicht«; E. L.], und das in seinen Keimen häufig noch schlummernde Zukünftige.« Die paranormalen Fähigkeiten verschwinden nach eingetretener Heilung der Krankheit. Das Bewusstsein des Magnetisierten ist verengt auf seinen »Rapport« zum Magnetiseur, »durch welchen er gewissermassen empfindet, denkt und handelt« (Kluge). Eine solche absolute Herrschaft des Magnetiseurs über seine Patienten (mehr noch: seine Patientinnen) musste die Einbildungskraft von Autor u. Lesern mächtig anregen, so etwa der Wunsch, eine begehrte Frau durch Einwirkung auf ihr Unterbewusstsein gefügig zu machen. Eine reiche literar. Produktivität entwickelte der Mesmerismus auf einem Gebiet, das von Magnetisten mit wiss. Anspruch (Kluge, Schubert, Fichte, Hegel, Carus u. a.) resolut in Frage gestellt wurde: dem Feld der Kontakte mit dem Jenseits, mit engelhaften Wesen (z.B. Schutzgeistern) oder Verstorbenen, von Botschaften dorther oder vom Erscheinen von Geistern, bzw. von Verstorbenen. Dieser Stoffkreis nährt sich teilweise aus einem Fundus alten volkstüml. Aberglaubens (wofür u. a. Jung-Stillings Theorie der Geisterkunde reichhaltiges Material bietet), aus Geistesströmungen im Vorfeld des Spiritismus (so den Esoterikern unter den Freimaurerlogen von Lyon, die bereits vor der Revolution die Lehre verbreiteten, die Somnambulen träten mit Engelwesen in Verbindung) u. aus den Übergangsperioden zwischen Magnetismus u. Spiritismus (Justinus Kerner in Deutschland, bes. ausgeprägt bei Victor Hugo in Frankreich). Insg. entwickelte sich der Mesmerismus zu einer gesamteurop. Literaturströmung, deren Bezug auf gemeinsame Quellen u. nat. Be-
Messenhauser
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sonderheiten zum allergrößten Teil noch Alison Winter: Mesmerised Powers of Mind in Vicunerforscht ist. In der dt. Literatur gehören torian Britain. Chicago 1998. – Bertrand Méheust: Jean Paul, Achim von Arnim, E. T. A. Hoff- Somnambulisme et médiumnité (1784–1930). mann, Justinus Kerner u. Kleist zu den Bd. 1, Le Plessis Robinson 1999. – Ernst Leonardy u. a.: Traces du mesmérisme dans les littératures wichtigsten Vertretern, in Frankreich Balzac, européennes du XIXe siècle – Einflüsse des MesVictor Hugo u. Alexandre Dumas d.Ä., im merismus auf die europ. Lit. des 19. Jh. Brüssel angelsächs. Sprachbereich Charles Dickens, 2001. Heinrich Feldt / Ernst Leonardy Edgar Allan Poe u. Nathaniel Hawthorne. Als fiktionale Figur tritt M. auf in Alissa Walsers Messenhauser, Cäsar Wenzel, auch: Roman Am Anfang war die Nacht Musik (Mchn./ Wenzeslaus March, Johannes Erin, * 4.1. Zürich 2010). Werke: M.s Schriften wurden bis auf kurze Abhandlungen in frz. Sprache veröffentlicht u. ins Deutsche übersetzt. Das folgende Verz. ist eine Ausw.: Diss. physico-medica de planetarum influxu. Wien 1766. – Abh. über die Entdeckung des thierischen Magnetismus. Karlsr. 1781. – Kurze Gesch. des thierischen Magnetismus bis April 1781. Karlsr. 1783. – Lehrsätze des Herrn M.s [...]. Hg. Caullet de Veaumorel. Straßb. 1785. – Über meine Entdeckungen. Jena 1800. – Mesmerismus. Oder das System der Wechselwirkungen [... ]. Hg. Christian Wolfart. 2 Bde., Bln. 1814/15. – A. M. J. de Chastenet de Puységurs Schriften in Auswahl: Mémoires pour servir à l’histoire et à l’établissement du Magnétisme animal Suite des Mémoires pour [ ...]. 2 Bde., Paris 1785/86. Neudr. Paris 2003. – Du Magnétisme animal, considéré dans ses rapports avec diverses branches de la physique générale. Paris 1807. – Recherches, expériences et observations physiologiques sur l’homme dans l’état de somnambulisme naturel et dans le somnambulisme provoqué par l’acte magnétique. Paris 1811. Literatur: Adam Crabtree: Animal Magnetism, Early Hypnotism and Psychical Research. 1766–1925. An Annotated Bibliography. New York 1988 (auch online verfügbar). – Justinus Kerner: F. A. M. aus Schwaben. Entdecker des thierischen Magnetismus. Ffm. 1856. – Henri Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewussten. Bd. 1, Bern 1973. – Maria M. Tatar: Spellbound – Studies on Mesmerism and Literature. Princeton 1978. – Robert Darnton: Der Mesmerismus u. das Ende der Aufklärung in Frankreich [...]. Ffm. 1986. – Heinz Schott (Hg.): F. A. M. u. die Gesch. des Mesmerismus. Stgt. 1985. – Ders. (Hg.): ›Wirkungen eines spekulierenden Arztes der Goethezeit‹. In: Freiburger Universitätsblätter 25 (1986), H. 93. – Gereon Wolters (Hg.): F. A. M. u. der Mesmerismus. Konstanz 1988. – Jürgen Barkhoff: Magnet. Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik. Stgt./Weimar 1995. – Ingrid Kollak: Lit. u. Hypnose. Der Mesmerismus u. sein Einfluss auf die europ. Lit. des 19. Jh. New York/Ffm. 1997. –
1813 Proßnitz (Prosteˇjov/Mähren), † 16.11.1848 Wien; Grabstätte: ebd., Währinger Allgemeiner Friedhof. – Erzähler.
Der Sohn eines Bataillon-Tambours besuchte das k. k. Knabenerziehungshaus des Ersten Infanterieregiments, wurde 1829 ausgemustert u. diente bei verschiedenen Einheiten, ab 1839 bei den Hoch- u. Deutschmeistern in Wien. 1847 wurde er, inzwischen Oberleutnant, nach Galizien versetzt, wo er sich im März 1848 in Lemberg an der Aufstellung einer Nationalgarde beteiligte. Im April nahm M. seinen Abschied, wurde jedoch im Okt. 1848 zum provisor. Oberkommandanten der Wiener Nationalgarde gewählt. Er stellte sich nach der Einnahme Wiens durch Windischgrätz den Militärbehörden, wurde wegen »bewaffneten Aufruhrs« zum Tode verurteilt u. im Stadtgraben nächst dem Neutor erschossen. Ungemein ehrgeizig, bildete sich M. während seiner Dienstzeit autodidaktisch weiter; die Bekanntschaft mit Saphir ermöglichte ihm Beiträge für dessen Journal »Der Humorist«. 1841 erschien sein Erstlingswerk, das erfolglose Trauerspiel Demosthenes (Wien). Größere Wirksamkeit erlangte er mit den Novellenbänden Wildnis und Parkett (Wien 1847) u. Die Polengräber (Lpz. 1848). Teils exotische Schauplätze verwendend u. getragen von schwärmerischem Idealismus, versuchte er hier die erzählerische Aufbereitung seiner polit. Überzeugungen. Weitere Werke: Ernste Gesch.n. Lpz. 1848. – Erzählungen des österr. Hausfreundes. Wien 1848. – Der Ratsherr. 4 Bde., Lpz. 1849 (R.). – Novellen u. Erzählungen. 5 Bde., Wien/Lpz. 1848–50. Literatur: Helene Fried: C. W. M. Seine literar. Arbeiten im Rahmen der österr. Offiziersdichtung.
193 Diss. Wien 1936. – Maximilian Ehnl: C. W. M. Wien 1948. Johannes Sachslehner / Red.
Messer, Max, * 7.7.1875 Wien, † 25.12. 1930 Wien. – Erzähler u. Essayist. Schon während seines Jurastudiums in Wien unternahm M. bei Aufenthalten in München u. Berlin 1899/1900 erste schriftstellerische Versuche. Neben seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt in einer eigenen Wiener Kanzlei war er Redakteur der Zeitung »Die Zeit«. M. gehörte dem Schriftstellerkreis »Junges Wien« an. In den Wiener Bummelgeschichten (Wien 1900) ist der Einfluss Schnitzlers deutlich; der Typus des nach erot. Abenteuern suchenden Flaneurs u. die »süßen Mädeln« sind aus Schnitzlers Werken bekannt. Dem Wertverfall u. Sinndefizit versucht M. im Essayband Moderne Seele (Lpz. 1899) durch eine Rückbesinnung auf den christl. Idealismus entgegenzutreten. Die Koppelung der Begriffe Kraft u. Gesundheit an das Christentum, des Nihilismus u. der Dekadenz an das Judentum sind Ausdruck des latenten Antisemitismus in weiten Kreisen des Wiener Bürgertums um die Jahrhundertwende. Weitere Werke: Der Traum vom Weibe. Dessau 1900 (R.). – Moderne Ess.s. Dresden 1901. – Variété des Geistes. Lpz. 1902 (Ess.s). – Max Stirner. Bln. 1907 (Ess.). Gerald Leitner / Red.
Messerschmid, Georg Friedrich, lat. Machaeropoeus; auch: Griphangus FaberMirandA, * ca. 1595 Straßburg, † ca. 26.9. 1635 Heilbronn. – Übersetzer aus dem Italienischen, Satiriker, Fachbuchautor. M. entstammte einer Straßburger Familie, zu der vermutlich auch Georg Messerschmid (geb. ca. 1505, † zwischen 1567 u. 1572), ein produktiver Druckerverleger u. Autor des Brissonetus, gehörte. M.s Vater, der hochbetagt noch 1635 lebte, hieß Paul u. ist für eine unbestimmte Frist als Stadt- u. Amtsschreiber in Ettenheim, dem bischöflich-straßburgischen Besitz rechts des Rheins, nachweisbar (um 1600). M. verfügte, obwohl in den Universitätsmatrikeln nicht eingetragen (Aufenthalt in Italien wahrscheinlich), über gediegene sprachl. u. jurist. Kenntnisse, die es
Messerschmid
ihm erlaubten, eine Zeitlang (bis 1622) als »Kanzlist« in Durlach (heute zu Karlsruhe gehörig) am Hof des badischen Markgrafen Georg Friedrich zu arbeiten. Seit 1623, spätestens seit 1625 lebte M. in angesehener Position als kaiserlich bestellter Notar u. Prokurator in der Reichsstadt Heilbronn, dort in engem Kontakt mit der auch literarisch interessierten Patrizierfamilie Hornmold. M.s literar. Produktion konzentrierte sich, von Fachbüchern u. Kompilationen abgesehen, in spezifisch oberrheinischer Tradition auf die Übersetzung u. Vermittlung satirischer Werke. Dieses programmatisch akzentuierte Angebot war auch durch den Straßburger Verleger Johannes Carolus inspiriert, der sehr bewusst die Tradition des v. a. durch Fischart bekannten Verlagshauses Jobin weiterführte. M.s Übersetzungen dreier satir. Schriften aus dem Italienischen (Antonio Maria Spelta, Adriano Banchieri, Tomaso Garzoni) bewegten sich im Darstellungsspektrum der menippeischen Satire u. schlossen sich teilweise eng an die ältere Überlieferung der letzthin auf Erasmus von Rotterdam zurückweisenden Narrenliteratur an. Werke: Sapiens Stultitia, Die kluge Narrheit. Ein Brunn deß Wollustes: Ein Mutter der Frewden [...]. Von A. M. Spelta. Straßb. 1615. Tl. 2 u. d. T.: Die Lustige Narrheit [...]. Straßb. 1615 u. 1622. – Von deß Esels Adel. Und der Saw Triumph. [Nach A. Banchieri, unter dem o. g. Pseud.]. o. O. [Straßb.] 1617. Abdr. in: Caspar Dornau: Amphitheatrum Sapientiae. Hanau 1619. Nachdr. hg. v. Robert Seidel. Goldbach 1995, Tl. 1, S. 564–599. – Spital Unheylsamer Narren/ u. Närinnen. Herrn Thomasi Garzoni. Straßb. 1618. – Tutitalologia sive Vocabularium Italo-Germanicum & Germanico-Italicum. [...]. Durlach 1625. – Histor. Blumengarten. Gesprächsweyse zugerüst [...]. [Nach Antonio de Torquemada u. Coelius Malaspina]. Straßb. 1626. – Juramentorum compendium. Straßb. 1630. – Insigniores Aphorismi: Erlesene Kriegs- u. Regentenregulen. Auß Cornelio Tacito [nach Sebastiano Querini]. Heilbr. 1633. Literatur: Erich Kleinschmidt: Stadt u. Lit. in der frühen Neuzeit. Köln 1982 (passim, Register!). – Guillaume van Gemert: G. F. M als Übersetzer. Zur dt. Rezeption ital. Lit. im frühen 17. Jh. In: Daphnis 20 (1991), S. 265–310. – Ders.: Tomaso
Messerschmidt Garzoni in der dt. Narrentradition. Zur HospidaleÜbers. v. 1618. In: Tomaso Garzoni. Polyhistorismus u. Interkulturalität in der frühen Neuzeit. Hg. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991, S. 54–75. – Walter E. Schäfer: Mehr als nur Übersetzer. G. F. M. (ca. 1595–1635). In: Daphnis 22 (1993), S. 311–328. Auch in: Kühlmann/Schäfer (2001), S. 375–388. – Ders. u. Frank Muller in: NDBA 26, S. 2616 f. Wilhelm Kühlmann
Messerschmidt, Georg, eigentl.: Jörg Waldmüller, latinisiert Machaeropioeus oder Macheropeus, * nach 1500, † ca. 1570 Straßburg. – Buchdrucker u. Stadtrichter in Straßburg, Verfasser eines dt. Originalprosaromans. Die ersten Jahrzehnte des Lebens von M. liegen im Dunkel (zur Biografie s. Brissonetus. Hg. Knape, S. XI-XLI). Urkundlich taucht M. erstmals 1535 in Straßburg als Setzer in der Knobloch/Albrecht’schen Druckerei auf, wo er ab 1539 auch die Geschäfte führte. Als angesehener Straßburger Bürger führte er zwei Ehen u. hatte mehrere Kinder, darunter Johann u. wohl auch Paul Messerschmidt. Ausweislich der lat. Vorrede zu seinem VitruvDruck von 1543 war er lateinkundig u. könnte studiert haben. Dieser Bildungshintergrund begründet vielleicht die Tatsache, dass er in Straßburg seit 1545 ununterbrochen als Stadtrichter fungieren konnte. Zu seinen berufl. Glanzstücken zählt das unter seinem Namen in der Knobloch-Offizin 1541 u. 1560 in Kooperation mit dem Reformator Bucer gedruckte Straßburger Gesangbuch, das man das wichtigste »Prachtwerk des Straßburger Buchdrucks« (Ficker) genannt hat. In den Jahren 1556–1558 druckte M. auch Werke von Jörg Wickram aus Kolmar, dem wichtigsten Autor dt. Originalprosaromane des 16. Jh. 1559 erschien in Frankfurt die Geschichte Vom Edlen Ritter Brissoneto mit einem Vorwort von M. Er gibt sich auf diese Weise als Autor zu erkennen, auch wenn er in der Vorrede behauptet, den Text aus einem »sehr alten Exemplar zusamen gelesen« zu haben. Diese archaisierende Quellenfiktion verweist bereits auf die ritterromantisch-nostalg. Färbung des Romans, mit dem sich M. in die
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Reihe jener Handvoll Autoren des 16. Jh. stellt, die zu dieser Zeit erstmals begannen, dt. Originalromane in Prosa zu verfassen. In der Tat entlehnt M. zahlreiche Elemente von Plot, Personal, Motivik u. Thematik aus Prosaisierungen älterer Ritterromane u. anderer ihm bekannter Prosadruckliteratur. An erster Stelle sind Wickrams Werke zu nennen, aber auch der Fortunatus, die Historien von Troja, von Tristrant und Isalde oder von Wigoleis sowie die Jerusalem-Pilgerbücher. Der Brissonetus erzählt nach Art eines Erziehungsromans den Aufstieg des Sohnes kleiner ital. Landadeliger zum König. Die Handlung basiert auf einer Variante des höfisch-literar. Zwei-Wege-Schemas: Der erste Weg führt Brissonetus in Italien über verschiedene Bewährungsproben zum Erwerb des Ritterschlags. Der zweite Weg führt ihn dann über eine Serie von Ritter-Abenteuern zum Königtum. Im zweiten Teil gelangt Brissonetus in exot. Gefilde, von Genua in den Orient (Jerusalem, Ägypten, Babilonien, Armenien usw.). Ziel ist es, die von der Königin Verecunda im Reich Pius Amor gestellten drei märchenhaften Aufgaben zu bewältigen, die zur Ehe mit ihr u. zum Erwerb des Königreichs führen. Die Aufgaben erinnern an jene im 6. Buch des Goldenen Esels von Apuleius u. werden mithilfe verschiedener Tiere gelöst. Brissonetus kann dabei seine charakterlichen u. körperl. Tugenden unter Beweis stellen u. erringt am Ende den Preis. Der ganze Roman ist von einem didakt. Impetus getragen, arbeitet mit einer Vielzahl von Lehrgesprächen u. ist mit vielen humanist. Bildungselementen angereichert (sprechende lat. Namen usw.). Insg. hervorstechend ist die auf Allegorisierungen setzende dichterische Methode. Der Roman war mit vier Auflagen zwischen 1559 u. 1656 recht erfolgreich. Ausgabe: Brissonetus (Ffm. 1559). Nachdr. hg. v. Joachim Knape. Tüb. 1988. Literatur: Bibliografie: Bodo Gotzkowsky: ›Volksbücher‹ [...]. Bibliogr. der dt. Drucke [...]. 2 Tle., Baden-Baden 1991–94, Tl. 1, S. 400–402; Tl. 2, S. 109–112. – Weitere Titel: Johannes Ficker: Das größte Prachtwerk des Straßburger Buchdrucks. In: ARG 38 (1941), S. 198–230. – Joachim Knape: ›Empfindsamkeit‹ in MA u. früher Neuzeit
Mettler
195 als Forschungsproblem. In: Liebe in der dt. Lit. des MA. Hg. Jeffrey Ashcroft u. a. Tüb. 1987, S. 221–242, hier S. 237–240. – Herfried Vögel: Erzählerische Bedeutungskonstituierung in G. M.s ›Brissonetus‹ (1559). In: Mittelalterl. Denk- u. Schreibmodelle in der dt. Lit. der Frühen Neuzeit. Hg. Wolfgang Harms u. Jean-Marie Valentin. Amsterd./Atlanta 1993, S. 175–195. – Frank Muller: G. M. In: NDBA, Lfg. 26 (1995), S. 2616. Joachim Knape
Metellus von Tegernsee, nach Mitte des 12. Jh. – Mittellateinischer Dichter u. Epiker.
Eklogenbuch gelingt es ihm, kurze Wundererzählungen mit Anlage u. Gedankenführung der Hirtengedichte Vergils zu verbinden. Während im Eklogenbuch der Heilige Bauern bestraft, die ihm bereits versprochene Rinder vorenthalten, werden im übrigen Werk Übergriffe weltlicher oder geistl. Herren auf Klostergut gegeißelt: Damit, aber z.B. auch mit der Forderung nach freier Vogtwahl, unterstützt M. das Streben des Abtes Rupert I. nach Unabhängigkeit. Im Zusammenhang mit der Wiederbelebung der Quirinus-Verehrung steht auch die fast gleichzeitige Prosafassung der Quirinalien eines Mönches Heinrich, von der alle späteren Klostergeschichten u. Legenden des Heiligen im Tegernseer Raum ausgehen.
Bis auf sein Pseudonym u. den Wirkungsort ist von M. nur wenig bekannt; in den Quirinalien (entstanden etwa 1165–1175) spricht er kaum von sich. Eine Handschrift, die M. Ausgaben: M. v. T.: Quirinalien. Hg. Peter selbst überarbeitet u. ergänzt hat, lässt im- Christian Jacobsen. Leiden/Köln 1965. – M. v. T.: merhin die Entstehungsphasen erkennen. Expeditio Ierosolimitana. Hg. ders. Stgt. 1982. Wie die Überschrift zeigt, plante M. zunächst Literatur: Peter Christian Jacobsen: Die Quirinur, Leben u. Martyrium des hl. Quirinus nalien des M. v. T. Untersuchungen zur Dichtkunst (Buch 1) sowie die Überführung der Reliquien u. krit. Textausgabe (s. o.). – Dietmar Korzeniewnach Tegernsee (Buch 2) in den Versmaßen ski: Die Anordnung der Eklogen in den ›Bucolica der horazischen Oden zu preisen. Mit »Ode« Quirinalium‹ des M. v. T. In: Classica et Mediaevalia 32 (1971–80), S. 289–295. – Peter Stotz: 22 endet die älteste Tegernseer »Passio«, die Sonderformen der sapph. Dichtung. Mchn. 1982, stoffl. Grundlage. Danach folgen in zwei passim. – Johann Weissensteiner: Tegernsee, die weiteren Odenbüchern zahlreiche Wunder Bayern u. Österr. Wien 1983 (auch zur Nachwirdes Klosterpatrons (z.T. aus mündl. Traditi- kung). – P. C. Jacobsen: M. In: VL. – Hildegund on); M. benutzt jetzt spätantike metr. Vor- Müller: M. v. T. u. Rom. Zur Interpr. der ›Quiribilder. Er hat also sein urspr. Vorhaben er- nalien‹. In: Pontes I. Hg. Martin Korenjak u. Karlheblich erweitert. Das neue Thema der zehn heinz Töchterle. Innsbr. 2001, S. 180–193. hexametr. »Eklogen«, Quirinus’ Fürsorge für Anette Syndikus / Red. das Vieh, ist im Prolog zum fünften Teil deutlich abgesetzt. Im Buch »von den AdvoMettler, Clemens, * 1.9.1936 Ibach/Kt. katen« schließlich entfernt sich M. vom bisSchwyz. – Erzähler. herigen Gegenstand: Er greift die Rechtsbrüche der adligen Klostervögte an. Ebenso Nach dem Besuch der Kunstgewerbeschule wie die letzten »Oden« (65–70) gehört es in Zürich u. der Ausbildung zum Zeichenlehrer die Zeit der abschließenden Überarbeitun- in Luzern lebt M. heute in Zürich. gen. Wohl noch vor den »Oden« hatte M. ein M., dessen erzählerisches Werk stark auEpos über den ersten Kreuzzug begonnen, tobiografisch geprägt ist, beschreibt in seidie Expeditio Ierosolymitana. nem erfolgreichen Erstling, dem Roman Der Zwei Besonderheiten zeichnen die Quirina- Glasberg (Zürich 1968. 2., überarb. Aufl. Lulien gegenüber anderen versifizierten Heili- zern 2007), die Suche des Jungschriftstellers genviten aus: die Anlehnung an antike Vor- Lorenz Waser nach Liebe u. Zuneigung. Der bilder u. der dezidierte Einsatz für die Be- Roman besticht durch den eigenwillig assolange der Reichsabtei. In den beiden ersten ziativen Stil u. eine umgangssprachlich geBüchern verteilt M. – angeregt von Horaz – färbte Sprache. Die »Kindheitsgeschichten« eine zusammenhängende Handlung auf for- Greller früher Mittagsbrand (Zürich 1971) ermal äußerst vielfältige Einzelgedichte; im zählen aus kindl. Perspektive das Heran-
Metzger
wachsen unter ärml. Verhältnissen in einer katholisch-konservativen, ländl. Welt. Die Erzählungen in Gleich einem Standbild, so unbewegt (Zürich 1982) thematisieren den Erwartungsdruck, der einen Künstler nach erfolgreichem Debüt belastet. M. erhielt u. a. 1983 den Förderpreis der Stadt Bremen. Weitere Werke: Farbenstück. Zürich 1969 (Experimentalstück). – Dieses Buch ist gratis. Zürich 1971 (L.). – Kehrdruck. Zürich 1974 (E.). – Symmetrie oder wie ich zu zwei Kommuniongespanen kam. Zürich 1998 (E.). Guido Stefani / Red.
196 Weiteres Werk: These ethicae de virtute. Präses: Georg Queccius; Resp.: A. M. Nürnb. 1603. Ausgaben: Fischer-Tümpel 3, S. 161–163. – Venusblümlein, erster Theil [...]. Nürnb. 1611. Nachdr. Stgt. 1997. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Hartmut Kugler: Handwerk u. Meistergesang [...]. Gött. 1977. – Heiduk/Neumeister, S. 67, 205, 412. – RSM 8, S. 115–478. – Johannes Rettelbach: Variation, Derivation, Imitatio. Untersuchungen zu den Tönen der Sangspruchdichter u. Meistersinger. Tüb. 1993. – Ders.: A. M. In: NDB. – Thomas Röder: A. M. In: MGG 2. Aufl. (Personentl.), Bd. 12 (2004), Sp. 109 f. Guillaume van Gemert / Red.
Metzger, Ambrosius, getauft 13.1.1573 Nürnberg, bestattet 16.12.1632 Nürnberg. – Meistersinger. Meusebach, Karl Hartwig Gregor Frhr. von, auch: Alban, Markus Hüpfinsholz, Der Sohn eines Barchentwebers besuchte die * 6.6.1781 Neubrandenburg, † 22.8.1847 Lateinschule zu St. Sebald in Nürnberg, späBaumgartenbrück bei Potsdam. – Philoter das Gymnasium in Steyr. Anschließend loge, Bibliophile. war er einige Zeit (Haus-)Lehrer. Nach dem Tod des Vaters (1600) heimgekehrt, studierte er in Altdorf, wo er 1603 den Magistergrad erlangte. Da er wegen eines Augenfehlers kein Pfarramt erhielt, unterrichtete er von 1607 bis zu seinem Tod an der Nürnberger Lateinschule St. Egidien. M. nahm als Akademiker unter den Meistersingern eine Ausnahmestellung ein. Vereinzelt verfasste er auch Werke, die nicht in diesen Bereich gehören, so eine zweiteilige Sammlung mehrstimmiger Gesellschaftslieder, Venusblümlein (2 Tle. Nürnb. 1611/12), eine Psalmenbearbeitung (Der Psalter David [...]. Nürnb. 1630), beide mit eigenen Melodien, u. ein Hochzeitscarmen in Alexandrinern (1632). M.s Hinwendung zum Meistergesang (erst 1623) dürfte mit dem sog. Nürnberger Singschulstreit von 1624 zusammenhängen. Dabei erschloss M. dem hauptsächlich laientheologisch ausgerichteten Nürnberger Meistersang Stoffe der antiken Mythologie, was zur verstärkten Orientierung am Ideal einer weltl. Gesellschaftskunst führte. M. dichtete an die 3000 Lieder, von denen sich etwa die Hälfte erhalten hat, u. komponierte etwa 360 Töne. Am bedeutendsten ist sein Zyklus Metamorphosis Ovidii (Hg. Hartmut Kugler. Bln. 1981), der 1625 entstand u. programmatisch humanistische sowie meistersingerische Traditionen vereint.
Nach dem Jurastudium in Göttingen u. Leipzig schlug M. 1803 in Dillenburg die Staatslaufbahn ein, die ihn über Trier u. Koblenz 1819 nach Berlin führte, wo er, zuletzt als Präsident des rheinischen Kassations- u. Revisionsgerichts, bis 1842 amtierte. M. war weniger als Autor – des Lyrikbands Kornblumen (Marburg 1804) u. des Geists aus meinen Schriften durch mich selbst herausgezogen und an das Licht gestellt (Ffm. 1809) in der Manier des verehrten Jean Paul – denn als Sammler (v. a. der dt. Literatur des 16. u. 17. Jh.) u. Nebenstunden-Philologe bedeutsam, obgleich er mehr als umfangreiche, detailbesessene Vorstudien (zu Editionen Fischarts, der ältesten dt. Volkslieder, eines LutherWörterbuchs) nicht hinterließ. M.s Bibliothek, mit 36.000 – von ihm oft annotierten – Bänden wohl die bedeutendste private der Zeit (heute der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz eingegliedert), war für Germanisten Pilgerstätte u. Treffpunkt (so von Lachmann u. Haupt). Seinen Hang zum Skurrilen bezeugen M.s »Klebebriefe«: aus Gedrucktem aufgespießtes Kurioses aller Art, das er der eigenen Korrespondenz verfremdend einflocht. Weitere Werke: Zur Recension der dt. Grammatik. Unwiderlegt hg. v. Jacob Grimm. Kassel 1826. – Fischart-Studien. Hg. Camillus Wendeler.
Meyer von Knonau
197 Halle 1879. – Briefw. mit Jacob u. Wilhelm Grimm. Hg. ders. Heilbr. 1880. Literatur: August Heinrich Hoffmann v. Fallersleben: Mein Leben. Bd. 1, Hann. 1868, S. 299–335. – ADB. – Annalise Wagner: Das Schicksal der M.schen Bibl. In: Jb. für Brandenburg. Landesgesch. 23 (1972), S. 135–145. – Peter Sprengel: Dokumente sanfter Rührung. K. H. G. M als Leser u. Verehrer Jean Pauls. In: JbDSG 22 (1978), S. 110–153. – Ders.: K. H. G. M. In: NDB. Arno Matschiner / Red.
Meusel, Johann Georg, * 17.3.1743 Eyrichshof bei Ebern, † 19.9.1820 Erlangen. – Historiker, Lexikograf, Bibliograf.
Christoph Hamberger (1726–1773) begonnenen, erstmals 1769 erschienenen biogr. Handbuchs Das gelehrte Teutschland oder Lexikon der jetzt lebenden teutschen Schriftsteller. M. übernahm die Aufgabe 1773. Bis zum Abbruch des Unternehmens 1834 (es wurde nach M.s Tod noch 14 Jahre von verschiedenen Redakteuren weitergeführt) erschienen in der Meyerschen Hofbuchhandlung in Lemgo insg. 47 Bände (inkl. der verschiedenen Ableger u. Auflagen). Ungefähr 14.000 Autoren sind hier mit ihren Schriften verzeichnet. Die alphabetisch geordneten Bände wurden bei Neuauflagen aktualisiert. Maßgeblich ist heute die fünfte Ausgabe (23 Bde., 1796–1834. Neudr. Hildesh. 1966. Registerbd. bearb. v. Maria-Theresia Kirchberg u. Rainer Pörzgen. Mchn. 1979). M.s Nachlass ist verschollen. Briefe befinden sich in der Universitätsbibliothek Erlangen u. der Landesbibliothek Weima
M. war als Schriftsteller nicht originell, wurde aber der bedeutendste Bibliograf der Goethezeit. Seiner Arbeit ist es zu verdanken, dass die zwischen etwa 1770 u. 1830 erschienenen literar. u. wiss. Schriften der Nachwelt zu großen Teilen bekannt blieben. M. war das älteste von neun Kindern eines Weitere Werke: Ital. Biogr.n. 2 Bde., Ffm./Lpz. Schuldirektors. Er studierte seit 1764 Ge- 1769/70 (aus dem Frz.). – Frz. Biogr.n. Halle 1770. schichte u. klass. Philologie in Göttingen, – Lebensbeschreibungen merkwürdiger Personen. wurde mit einer Dissertation über die Ausle- Breslau 1775. – Der Geschichtsforscher. 7 Bde., gung antiker Dichter 1766 in Halle zum Halle 1775–79. – Neueste Lit. der Geschichtskunde. Magister promoviert u. hielt hier anschlie- 6 Bde., Erfurt 1778–80. – Miszellaneen artist. Inhalts. 30 H.e, Erfurt 1779–87. Forts. bis 1803 unter ßend akadem. Vorlesungen über griech. u. verschiedenen Titeln. – Lexikon der v. 1750–1800 lat. Literatur sowie über Gelehrtengeschichte, verstorbenen dt. Schriftsteller. 15 Bde., Lpz. sein späteres Spezialgebiet. 1768 wurde M. 1802–16. Neudr. Hildesh. 1967/68. mit 25 Jahren zum o. Prof. der Geschichte an Literatur: Elias Steinmeyer: M. In: ADB. – Paul der Universität Erfurt ernannt u. 1779 auf Raabe: J. G. M.s Schriftstellerlexikon. In: Ders.: dieselbe Position nach Erlangen berufen, wo Bücherlust u. Lesefreuden. Stgt. 1984, S. 117–139, er mit Frau u. drei Kindern bis zu seinem Tod 294–300 (zuerst 1966 als Einführungsbd. zum lebte. Neudr. des ›Gelehrten Teutschland‹). – Karl Klaus Nach Gegenstand, Umfang u. Darstel- Walther: J. G. M. zum 250. Geburtstag. In: Philolungsweise war M.s Werk noch ganz dem biblon 37 (1993), S. 117–125. – Hans-Otto KeuneGelehrtenideal eines barocken Polyhistoris- cke: J. G. M. In: Fränk. Lebensbilder 17 (1998), mus verpflichtet. M. bearbeitete Periodika S. 111–128. Detlev Schöttker / Red. zum historiografischen Schrifttum, veröffentlichte Lehrbücher zur europ. StaatengeMeyer von Knonau, Johann Ludwig, schichte (Lpz. 1775. 41816), zur Statistik (Lpz. * 5.7.1705 Weiningen/Kt. Zürich, † 2.11. 4 1792. 1817) u. Geschichte der Gelehrsamkeit 1785 Weiningen/Kt. Zürich. – Fabeldich(3 Bde., Lpz. 1799/1800), redigierte gelehrte ter. Zeitungen sowie Geschichts- u. Kunstzeitschriften u. gab mehrere Personenlexika Der Gerichtsherr über die Herrschaft Weiheraus, von denen das Teutsche Künstlerlexikon ningen, ein malender u. dichtender Dilettant, (2 Bde., Lemgo 1778/79. 3 Bde., 21808–14; bewunderte Hallers Naturdichtungen u. umgearbeitet) noch heute von Bedeutung ist. übersetzte einige frz. Fabeln von Muralt. M.s Lebensleistung war jedoch die fast 50 Durch Bodmer gefördert, fanden M.s eigene Jahre währende Bearbeitung des von Georg Fabeln eine freundl. Aufnahme v. a. beim
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schweizerischen Publikum. Auch Herder u. später Abraham Fröhlich griffen auf Fabeln von M. für eigene Gedichte zurück. Der junge Wieland pflegte gesellschaftl. Umgang mit M. u. seiner Familie in Weiningen. M. distanzierte sich gegenüber Bodmer von Schäferdichtung u. frz. Literatur, indem er sich selbst als »von Geburt ein Schweizer und den Kühen näher als den beaux esprits« (zitiert aus: Neujahrsblatt zum Besten des Waisenhauses, 1876, S. 21) bezeichnete. Seine Spezialität war die naturnahe Wiedergabe von Tiercharakteren in den Fabeln. Als Jäger u. Naturbeobachter schöpfte er für die Fabel aus eigenem Erleben u. hatte ein bes. enges Verhältnis zu den Vögeln, die er auch als Maler naturgetreu mit zugehörigen Bäumen darstellte. Weitere Werke: Hss. im M. v. K.-Familienarchiv, Zentralbibl. Zürich. – Ein halbes Hundert neuer Fabeln. Mit einer krit. Vorrede [v. Bodmer]. Zürich 1744. Vermehrt mit 58 eigenen Kupfern, 2 1754. 31757. Nachdr. Zürich 1955. – Fünfzig neue Fabeln. Zürich 1771. Ausgaben: Das Fabelbuch M.s v. K. Ausw. v. F. Prosch. Wien 1891. – Ein halbes Hundert neuer Fabeln. [...]. Zürich 1744. Internet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. Literatur: Gerold Meyer v. Knonau (Hg.): Biogr. M. v. K.s v. seinem Enkel Ludwig M. v. K. In: Neujahrsbl. zum Besten des Waisenhauses. Zürich 1876, S. 18–32. – Ders.: Aus einer zürcherischen Familienchronik. Ebd. 1884, S. 60–83. – Lucas Wüthrich: J. L. M. v. K. als Künstler. In: Ztschr. für Schweizerische Archäologie u. Kunstgesch. 28 (1971), S. 198–207. – Kosch 10. – Edgar Bonjour: M. v. K. In: NDB. – Rüdiger Zymner: J. L. M. v. K. In: HLS. Barbara Schnetzler / Red.
Meyer, Alfred Richard, auch: Munkepunke, * 4.8.1882 Schwerin, † 9.1.1956 Lübeck. – Verfasser von Grotesken; Verleger. Nach dem Abbruch seines 1901 aufgenommenen Jurastudiums arbeitete M. ab 1905 als Lektor u. Journalist u. veröffentlichte früh Gedichte in literar. Zeitschriften (unter anderen »Hyperion«, »Sturm«, »Aktion«, »Gegenwart«, »Schaubühne«). 1907 datiert die Gründung eines eigenen Verlags in BerlinWilmersdorf: M.s »fünf lyrische Pastelle« Ahrenshooper Abende – noch als »Privatdruck
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des Verfassers« erschienen – initiierten jene neuartige Publikationsform, die als »der Beitrag Meyers zur Verlagsgeschichte des Expressionismus« (Paul Raabe: Die Zeitschriften und Zeitungen des Expressionismus. Stgt. 1964, S. 144) gilt: »Das Lyrische Flugblatt«. Von 1907 bis 1923 (kurzfristig nochmals 1930/31) verlegte M. über 130 solcher einzelnen, broschierten Bögen; einsetzend mit der Erstausgabe von Benns Morgue 1912, versammelte seine Reihe wichtige Namen des Frühexpressionismus (Edgar Firn, Heym, Lasker-Schüler, Lichtenstein). M. war außerdem 1912–1914 mit Heinrich Lautensack u. Anselm Ruest Herausgeber der Zeitschrift »Bücherei Maiandros« sowie verschiedener Anthologien. Als Mittelpunkt des Alfred-Richard-Meyer-Kreises war er eine wichtige Gestalt der literar. Boheme in Berlin. Der Doppelexistenz M.s als »Dichter-Verleger« – 1922 noch erweitert um literar. Verbandstätigkeit als Vorsitzender des Kartells Lyrische Autoren – entsprach jedoch nur bedingt eine Doppelbegabung: Als einen »geschickten Versefex [...] doch sicher kein Poet« titulierte ihn Richard Dehmel. Nach Anfängen im Stil von Arno Holz u. des Symbolismus, aber auch mit Anklängen an humorist. Studentenlyrik, übernahm M. die Technik des frühexpressionist. Reihungsstils, dessen groteske Effekte er artistisch zu nutzen wusste. Seinen größten dichterischen Erfolg hatte er mit »Munkepunke«, einer als Alter Ego erfundenen u. bis 1929 publikumswirksamen Kunstfigur, deren Bowlenbuch (1913), Tanz-Plaketten (1913), Groteske Liebesgedichte (1921), Gemisch-Gemasch (1921) u. Eroto-Phonetik (1922) den barock wuchernden Versuch darstellen, Gastrosofie u. Erotomanie aufgehen zu lassen in der Sprach- u. Sprechlust von Unsinnspoesie. Weitere Werke: Tiger. Ein kleines Hunde- u. Studenten-Epos. Bln. 1913. – Ein Landsturmmann geht seinen Gang durch Gent. Gent 1915 (L.). – Die Gesch. des unerschrockenen Hauptmanns Klapperholz. Bln. 1919. – Die sinnl. Hymnen. Physiolog. Psychopoesie. Bln. 1930. – Die maer v. der musa expressionistica. Düsseld. 1948. Neu hg. v. Klaus Naderer. Bonn 1995 (Ess.). Literatur: Fritz Max Cahén: Der A. R. M.-Kreis. In: Imprimatur N. F. 3 (1962), S. 190–194. – Her-
199 bert Günther: A. R. M. Ebd. N. F. 6 (1968/69), S. 163–191. – Ursula Saile-Haedicke: A. R. M., Till aus Kneitlingen u. ein braunschweiger Eulenspiegelabend. Spurensuche um einen neu zu entdeckenden Schriftsteller u. Verleger. In: EulenspiegelJb. 45 (2005), S. 73–99. – Paul Raabe: A. R. M. Ein Verleger des frühen Expressionismus. Ebd. 47 (2007), S. 57–78. Bernadette Ott / Red.
Meyer, Andreas, * 21.2.1742 Riga, † 22.9. 1807 Judenbach/Thüringen. – Verfasser populärer pädagogischer Schriften. Noch während seiner Schulzeit verfasste der Sohn Rigaer Kaufleute mehrere für den Schulunterricht konzipierte Bücher (Eine historische Abhandlung von den Kreuzzügen [...]. Riga 1758. Das theure Leben der Gesalbten, eine Ode, am Namensfest der Kayserinn Elisabeth. Riga 1759). M. studierte ab 1760 in Königsberg Philosophie (bei Kant, Johann Gottfried Teske) u. Jurisprudenz, wechselte dann an die theolog. Fakultät. Nach dem Studienabschluss 1764 in Erlangen pflegte er die schönen Wissenschaften in Leipzig bei Gottsched u. Gellert, dessen langjähriger Korrespondent er wurde u. dessen Einfluss in M.s Schrift Vergleichung eines süssen Herrn und Renommisten, ein Sendschreiben an Herrn G ** (Lpz. 1765) spürbar ist. 1766 kehrte M. als Prediger nach Riga zurück, trat aber nach dem Tod der Eltern (1768/69) von der sich ihm eröffnenden Laufbahn eines Landpastors zurück, bereiste 1770 erneut Deutschland u. vollendete die Schrift Wie soll ein junges Frauenzimmer sich würdig bilden? (Lpz. 1772. Erlangen 51786). 1772 ging er nach Kulmbach, wo er (zum Hofrat ernannt) am 16. Okt. die Tochter des Hofrats Johann Jakob Will heiratete. 1777 erschienen seine Briefe eines jungen Reisenden durch Liefland, Kurland und Deutschland [...] (Erlangen). Seine Biografie überliefert M. in groben Zügen selbst in den Biographischen und litterarischen Nachrichten von den Schriftstellern, die gegenwärtig in den Fürstenthümern Anspach und Bayreuth leben [...] (Erlangen 1782). Seit 1797 lebte er als Postmeister in Judenbach. Literatur: Friedrich Konrad Gadebusch: Liefländ. Bibl. Tl. 2, Riga 1777, S. 253. Andreas Meier / Red.
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Meyer, August Wilhelm, auch: A. Wilhelmi, Simon von Cyrene, * um 1770 Gandersheim, † um 1810/15 Paris (?). – Erzähler, Übersetzer. Nach dem Philosophiestudium in Leipzig lebte M. bis 1801 in Helmstedt, später in Hamburg, schließlich als prakt. Arzt in Paris. Er war als Unterhaltungsschriftsteller nicht ohne Erfolg. Die Forschung weist ihn nur als Stofflieferanten für August Friedrich Langbein aus, der sich ausdrücklich auf ihn berief. M. bereitete Narren-Biografien mit Anekdoten u. schwankhaften Episoden auf, so in Kyaus Leben und lustige Einfälle [...] neu erzählt (Lpz. 1797. 21800. BDL 15726), Schnurren, Schwänke und lustige Einfälle des Herzogs von Roquelaure. Ein Kumpan zu Kyau’s Leben [...] (Paris [d.i. Lpz.] 1797. BDL 15726) oder Sieben Narren auf einmahl, oder Kyau’s, Gonella’s, Barlacchia’s, Brusquets, Morgensterns, Junker Peters und Frölichs Leben und Schwänke [...] neu erzählt (Braunschw. 1800. BDL 15727). Mit Variationen dieser Erzählungen erzielte er mehrere Auflagen. Als kom. Helden figurieren Hofu. Volksnarren der frühen Neuzeit wie Gonella, berühmter Ferrareser Hofnarr des 15. Jh., aber auch der legendäre RenaissanceSchriftsteller Piovane Arlotto u. der Wittenberger Späthumanist Friedrich Taubmann (Taubmanns Leben, Anekdoten, wizzige Einfälle und Sittensprüche. Paris [d.i. Lpz.] 1797). So genannte Narrengalerien, z.B. Flögels Geschichte der Hofnarren (1789), dienten M. als Vorlage. Auf ital. Schwanksammlungen u. die mit Fabliaux- u. Facetientradition gesättigte zeitgenöss. frz. Unterhaltungsliteratur griff M. ebenfalls zurück, er trug so zu dem Strom »närrischer« Literatur bei, der seit Mösers Ehrenrettung des Harlekins (1761) gegenüber der narrenfeindl. Frühaufklärung entstand. M.s Vorliebe für die frühneuzeitl. Drastik zeigt sich auch in dem Lustspiel Stanislaus Hornkopf (Rostock u. Lpz. 1805), seiner Version von Molières Lustspiel Sganarelle ou le Cocu imaginaire, das er in Knittelversen übertrug. Zur populären Romanliteratur trug M. gleichfalls bei. Sein Polnischer Gil Blas oder Johann Lapaunzky’s lustige und seltsame Begebenheiten (2 Bde. Lpz. 1798–1800. 2. Aufl. u. d. T. Lapunzky’s lustige Streiche und seltsame Begeben-
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heiten. 2 Bde., Lpz. 1812. MPF Corvey) steht in der Picaro-Tradition u. kritisiert aus der Ich-Perspektive des scheinbar naiven Landstreichers die Missstände der frz. Gesellschaft. Auch als Übersetzer förderte M. die Einbürgerung populärer engl. u. frz. Romantypen. Wirkt das Gemälde nach dem Leben, oder Begebenheiten Caleb Williams (2 Bde. Lpz. 1788. Neubearb. Rastatt 1988), M.s Übersetzung von William Godwins Things as they are, in seinem sozialkrit. Realismus innovativ, so bleibt Die gesuchte Perleninsel oder William Thownsons wunderbare u. seltsame Begebenheiten (Lpz. 1800), die »neu erzählte Robinsonade« William Thownsons, die bereits 1753 u. d. T. Die gesuchte Perlen-Insul (Ffm. u. a. 1753) erschienen war, deutlich rückwärts gewandt. Auch M.s Übersetzung der Nachahmung eines engl. Sterne-Epigonen (Fragmente in Yoricks Manier. London [d.i. Regensb.] 1800. BDL 8592) ist als geschmackshistor. Dokument wichtiger denn als literarästhet. Leistung. Weitere Werke: Übersetzungen: Henriette u. Emma, oder Vernunft u. Schwärmerey. Aus dem Französischen [Constance de Cazenove D’Arlens: Henriette et Emma]. Lpz. 1797. – Abentheuerl. Begebenheiten eines Hofmeisters in Paris während der Revolution [Robert Martin Lesuire: Charmansage, dt.]. 2 Bde., Lpz. 1798/99. Eigene Werke: Drey närr. Pfaffen. Lpz. 1800 (BDL 15726 f.). Ein Narr für sich u. zwei Narren für Andere, oder Poncino’s, Claus’s u. Taubmanns Leben u. Schwänke. Helmstedt 1801. – Wilhelm v. Walter oder: ein kleiner Beitr. zum Lauf der Welt. Dtschld. 1801. Literatur: Wolfgang Promies: Der Bürger u. der Narr. [1966] Ffm. 1987 (zur Narrenthematik im 18. Jh.) Peter Michelsen: Laurence Sterne u. der dt. Roman des achtzehnten Jh. Gött. 21972, S. 84. Christian Schwarz / Achim Aurnhammer
Meyer, Conny Hannes, eigentl.: Chaim Tachner Meir, * 18.6.1931 Wien. – Lyriker, Hör- u. Fernsehspielautor, Regisseur. M., Sohn jüd. Eltern – der Vater Handlungsreisender, die Mutter Balletttänzerin – verbrachte seine frühe Kindheit bei einer Pflegefamilie in Salzburg, bis er schließlich Aufnahme in einem protestant. Kinderheim fand. Mit der Annexion Österreichs an NaziDeutschland begann für ihn ein sechsjähriger
Leidensweg, den er in seinem viel beachteten Erinnerungsbuch Ab heute singst du nicht mehr mit (Wien 2006) Station für Station nacherzählt. Bis 1942 gemeinsam mit zahlreichen anderen jüd. Kindern unter SS-Aufsicht in einem ehemaligen Wiener Kloster interniert, wurde er danach ins KZ Mauthausen deportiert u. im Mai 1945 schließlich durch amerikan. Soldaten befreit. Danach absolvierte M. eine Schriftsetzerlehre u. verdingte sich in verschiedenen Berufen, arbeitete eine Zeit lang als Zirkusartist, unternahm zahlreiche Reisen durch Europa, begann erste Gedichte u. Kurzgeschichten zu schreiben u. sich lebhaft für das Theater zu interessieren. Persönliche Begegnungen mit Bertolt Brecht Anfang der 1950er Jahre in Wien u. Berlin wurden für M. zum inspirierenden, wegweisenden Schlüsselerlebnis: Er erlernte das Handwerk des Bühnenregisseurs u. engagierte sich intensiv in der freien, experimentierfreudigen Wiener Theaterszene jener Jahre. 1958 gründete er gemeinsam mit seiner späteren Frau, der Schauspielerin Ilse Scheer, das Theaterensemble »Die Komödianten«, dessen Spiritus Rector er für die nächsten 25 Jahre blieb. Während dieser Zeit übernahm M. aber auch immer wieder Inszenierungen an größeren Häusern im In- u. Ausland. Neben seiner ausgedehnten u. vielfältigen Regiearbeit verfasste er zahlreiche Bearbeitungen, Collagen u. Stücke in der aufklärerischen Tradition des epischen Theaters, dessen Programm u. dessen Forderungen er sich bis heute verpflichtet weiß. 1977 erhielt er den Theodor-Körner-Förderungspreis für Kunst und Wissenschaft, wenige Jahre später schließlich einen Lehrauftrag am Wiener Max-Reinhardt-Seminar. Als Regisseur u. Theaterimpresario weithin anerkannt, ist M. als Schriftsteller eine unbekannte Größe geblieben. Die meisten seiner Stücke sind nie in Buchform erschienen, als Lyriker wiederum ist er über den Status eines Debütanten nie hinausgekommen. Sein erster Gedichtband, den mund von schlehen bitter (mit einem Nachw. v. Gerhard Fritsch. Salzb. 1960), der in Diktion u. Tonfall stark an den frühen u. mittleren Celan erinnert, kündet von einem apokalyptisch anmutenden Zeitalter der Angst u. artikuliert das in
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seinen Grundfesten erschütterte Welt- u. Menschenbild eines Überlebenden der Schoah. Im zweiten u. letzten, wenig beachteten Gedichtband, abseits der wunder (Bilder v. Franz Stadlmann. Wien 1963), attackiert M. die rasche, durch die wirtschaftl. Konjunktur begünstigte Verdrängung der Mitschuld an den NS-Verbrechen. Er tut dies ganz im Gestus eines Rhetorikers u. Theatralikers, der direkt zu einem Publikum spricht, sodass sich dieser Gedichtband ohne Weiteres als Bühnenmonolog lesen lässt. In seinen Theaterstücken gilt M.s besonderes Augenmerk histor. Stoffen, insbes. Themen aus der österr. Geschichte, wofür etwa das Stück Des Kaisers treue Jakobiner (Urauff. 1979) exemplarisch ist. Eine Sammelausgabe seiner wichtigsten Theatertexte fehlt nach wie vor; als Lyriker ist er vollends in Vergessenheit geraten. Weitere Werke: Der Alptraum, ein Leben. Wien 1979. – Rose Berndt. Wien 1980 (Bearb. nach Hauptmann). – Die Verschwörung des Fiesco. Wien 1982 (Bearb. nach Schiller). – Angelo Soliman oder die schwarze Bekanntschaft. Wien 1983. – Karl ist krank. Wien 1984. – Feuerloh. ORF 1987 (Hörsp.). – Till unterwegs. Urauff. Wien 1989 (Kinderstück). – Beth Ha Chajim. Szenen vom Albertinaplatz. ORF 1993 (Hörsp.). Literatur: Walter Schlögl: C. H. M. u. seine Komödianten. Phil. Diss. Wien 1994. – Erwin Riess: Biogr. Notate zu C. H. M. In: wespennest 137–139 (2005), S. 93–101. Christian Teissl
Meyer, Conrad Ferdinand, eigentl.: Conrad M., * 11.10.1825 Zürich, † 28.11.1898 Kilchberg bei Zürich; Grabstätte: ebd., Friedhof. – Lyriker, Erzähler. Der Sohn des Regierungsrats Ferdinand Meyer (1799–1840) u. dessen Ehefrau Elisabeth, geb. Ulrich (1802–1856), entstammte einer alten, reformierten Zürcher Patrizierfamilie. Am Gymnasium (ab 1837) u. durch den Kontakt mit dem intellektuellen Kreis um seinen Vater gewann M. Zugang zum Gedankengut des polit. Liberalismus u. erlangte eine grundlegende histor. Bildung. Dem Vater, mit dem er 1836 u. 1838 Bergwanderungen unternahm, verdankte er auch sein Verständnis für die Beziehung zwischen
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Landschaft u. histor. Ereignis, das für sein dichterisches Werk von großer Bedeutung werden sollte. Nach dem frühen Tod des Vaters (Tuberkulose) fiel die Verantwortung für die Erziehung M.s u. seiner Schwester Betsy (1831–1912) allein der Mutter zu. Ihrer pietistisch-puritan. Religiosität u. strengen Pflichtvorstellung war M.s künstlerische Sensibilität fremd, was zu erhebl. Spannungen führte. Das gestörte Mutter-Sohn-Verhältnis wurde durch die vermittelnde Rolle der Schwester nur teilweise ausgeglichen, aber früh entwickelte sich so die enge Beziehung der Geschwister zueinander. Nachdem M. zuvor das Gymnasium hatte verlassen müssen, führte ein Privataufenthalt bei dem Historiker Louis Vulliemin in Lausanne (1843/44) zur Erweiterung seiner Kenntnisse der frz. Kultur; v. a. die Lektüre der Spätromantiker regte ihn zu eigenem dichterischen Schaffen an. Dem mütterl. Wunsch sich fügend, immatrikulierte er sich bei seiner Rückkehr nach Zürich an der jurist. Fakultät; ihr negatives Urteil über sein Talent hatte der dichtungsfeindl. Mutter der ihr befreundete Gustav Pfizer bestätigt. Die künstlerischen Selbstzweifel wurden verschärft durch die Auseinandersetzung mit der realist. Ästhetik Friedrich Theodor Vischers (um 1850). Nach Anfällen von schwerer Depression ließ ihn die Mutter in die Heilanstalt Préfargier (bei Neuchâtel) einweisen. Mit Unterstützung des Direktors James Borrel u. dessen Schwester Cécile, zu der er bald eine tiefe Neigung fasste, fand M. neues Selbstvertrauen, das nach seiner Entlassung durch Vulliemin gefördert wurde, der ihn zum Studium der Geschichte u. zur Übersetzertätigkeit ermunterte. 1855 erschien als erste einer Reihe von Übersetzungen die von Augustin Thierrys Erzählungen aus den merowingischen Zeiten (Elberfeld. Neudr. Zürich 1973). Befreiend für seine dichterischen Ambitionen wirkte 1856 der Wassertod der an Depressionen leidenden Mutter. Kurz zuvor war der von ihr betreute, geistig behinderte Antonin Mallet gestorben, der sein bedeutendes Vermögen der Familie Meyer hinterließ. Durch einen wenig glückl. Aufenthalt in Paris (1857) u. eine längere Italienreise mit der
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Schwester (Rom, Florenz, Siena) im Frühjahr 1858 begann M. Bildungslücken gewissenhaft zu schließen. Seine fortdauernden geschichtl. u. kunsthistor. Studien (Lektüre der Werke Burckhardts, von Rankes, Michelets u. a.) wurden nun durch das unmittelbare Erlebnis großer Werke der bildenden Kunst u. Architektur untermauert: Grundlage für die späteren Kunstgedichte (Der römische Brunnen, Michelangelo-Gedichte). Auf der Rückreise erneuerte M. die Bekanntschaft mit Baron Bettino Ricasoli, Vorkämpfer für die Einheit Italiens, dessen leidenschaftl. Patriotismus in M.s Jürg Jenatsch nachhallen wird. Sein erster Lyrikband erschien 1863, als es, nach einer Absage seitens des Stuttgarter »Morgenblatts« (1861), Betsy gelang, einen Vertrag mit dem Metzler Verlag zu schließen, der die Zwanzig Balladen von einem Schweizer anonym u. auf Kosten des Dichters veröffentlichte. Durch seine Zusammenarbeit mit Betsy bei der Übersetzung der Vorträge des Genfer Philosophen u. Theologen Ernest Naville (die eingestreuten frz. Gedichte wurden von M. übersetzt) lernte er den Leipziger Verleger Hermann Haessel kennen. Dieser brachte 1869 u. d. T. Romanzen und Bilder eine zweite Sammlung von 54 Gedichten (darunter wiederum zahlreiche Balladen) heraus, noch immer auf M.s Kosten, aber nunmehr unter dessen eigenem Namen, dem der Vorname des Vaters hinzugefügt wurde, um Verwechslungen mit einem Zürcher Zeitgenossen zu vermeiden. Zwischen M. u. Haessel, der wesentl. Anteil an der Etablierung M.s auf dem dt. Literaturmarkt hatte, entwickelte sich ein freundschaftliches, wenn auch nicht immer spannungsfreies Verhältnis. Bis zum Erlöschen der Autorenrechte erschienen sämtl. Werke M.s bei Haessel. Das wachsende Selbstbewusstsein zeigte sich auch im Gesellschaftsleben des Geschwisterpaars, dessen Freundeskreis sich erheblich vergrößerte (u. a. Georg von Wyß, Mathilde Wesendonck, Gottfried Kinkel). Von der neutralen Schweiz aus verfolgte M. mit besorgtem Interesse die polit. Entwicklungen bis zur Reichsgründung von 1871. Briefe aus der Zeit des Deutschen Kriegs von 1866 an den Sachsen Haessel zeugen von
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tiefem Misstrauen gegenüber der zeitgenöss. Realpolitik; bis 1870 (Ausbruch des DeutschFranzösischen Krieges) hatte M. sich jedoch die dt.-preuß. Sache zur eigenen gemacht u. seine frz. Sympathien überwunden, denn es müsse »ein Entschluß gefaßt sein, da voraussichtlich der deutsch-franz. Gegensatz Jahrzehnde beherrschen und literarisch jede Mittelstellg völlig unhaltbar machen« würde (an Georg v. Wyß, 16.1.1871). Eine bedeutende Rolle in dieser polit. Entwicklung spielte François Wille, ein Nachbar der Meyers seit ihrem Umzug nach Küsnacht (1868). Wille, ein alter Burschenschaftler u. Bismarck-Anhänger, brachte M. entgegen, was ihm bislang gefehlt hatte, warmes Interesse u. dauernde Anregung von außen. Aber erst indem er die Arbeit an der Geschichte des moralisch problemat. Bündner Nationalisten Jürg Jenatsch unterbrach u. sich dem erbaul. Helden Ulrich von Hutten zuwandte, konnte der feinfühlige M. ein erstes größeres Werk vollenden. Das Versepos Huttens letzte Tage (1871) besteht aus einem Zyklus von thematisch gruppierten Einzelgedichten, der eine Folge von Episoden aus dem Leben des Helden vorführt. Die Liedhaftigkeit der Ballade wird mit der Reflexion der Lyrik, das histor. Kostüm mit einem politisch aktuellen Thema verbunden. Die Verwendung der Ich-Form u. der rückblickenden Perspektive des sterbenden Hutten deutet voraus auf das erzähltechn. Experimentieren u. die Betonung der Erzählerfigur, die von nun an für die Erzählkunst M.s charakteristisch sein werden. Im patriot. Jubel der Nachkriegsjahre brachte dem 46-jährigen dieses Feiern eines der Helden der NationalLiberalen sofort den langersehnten großen Erfolg. Darauf folgte ein zweites Versepos, die »Bergidylle« Engelberg (1872), in der M. die für sein Werk so zentrale Todesthematik entfaltet. Bis 1887 arbeitete M. ununterbrochen an seiner reifen Lyrik u. der Erzählprosa. 1882 ließ er die Sammlung Gedichte erscheinen, einen Zyklus von 191 Gedichten, die bis zur fünften Auflage 1892 auf 232 vermehrt u. z.T. vielfach überarbeitet wurden. Von den Zeitgenossen u. Dichterkollegen wurden die hochgradig komprimierten u. reflexiven
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Texte kontrovers aufgenommen; zwar wurde ihre formale Virtuosität allgemein anerkannt, doch aus einer traditionellen, am Paradigma der Erlebnislyrik orientierten Perspektive gebrach es ihnen an Unmittelbarkeit u. Subjektivität, ein Urteil, das Gottfried Keller in die viel zitierte Formel fasste: »Er hat ein merkwürdiges schönes Talent, aber keine rechte Seele“ (an Storm 29./30.12.1881). Auch Hofmannsthals harsches Urteil, der in M.s Gedichten allenfalls »vielleicht zwölf oder fünfzehn, die dem höchsten Rang sich nähern, und sieben oder acht, die ihn erreichen« (1925), erkennen wollte, beeinflusste lange Zeit die Rezeption. Heute indes zählen zahlreiche seiner Gedichte unbestritten zur bedeutendsten deutschsprachigen Lyrik der zweiten Hälfte des 19. Jh. Gedichten wie Schwarzschattende Kastanie, Wetterleuchten, Weihgeschenk u. anderen verdankt M. seinen Ruf, die Brücke von der Spätromantik zum Symbolismus der Frühen Moderne geschlagen u. mit seiner »objektiven« Lyrik die Grundlage für Rilkes Dinggedichte gebildet zu haben. Mit reimlosen, der Prosa angenäherten fünfhebigen jambischen Texten wie u. a. Stapfen, Erntegewitter oder dem einen Inneren Monolog in Szene setzenden Gedicht Cäsar Borjas Ohnmacht schuf er kühne experimentelle Gebilde, denen Carl Spitteler bescheinigte, sie seien »inhaltlich wie technisch von mustergiltiger Vollendung, neue Gebiete der Lyrik für alle Zeiten eröffnend« (1891). Im rein quantitativen Sinn bildet die Erzählprosa den weitaus größeren Teil von M.s Werk. Vorherrschend ist die Novellenform, die wegen ihrer straffen Struktur dem symbolist. Lyriker eher zusagte als der Roman. Auch an den Novellen feilte M. ständig weiter; ihr Vorabdruck in Zeitschriften entsprach seiner Arbeitsweise wie auch den Bedingungen des literar. Markts. Das Erscheinen des Heiligen in der renommierten »Deutschen Rundschau« (1879/80) leitete eine Periode enger u. gut dotierter Zusammenarbeit mit deren Herausgeber Julius Rodenberg ein; M.s Ruf als hervorragender Vertreter dieser Erzählform festigte sich. Dem geschichtl. Interesse der Leser dieses repräsentativen Organs des nationalliberalen Bildungsbürgertums kam der Stoff von M.s histor. Novellis-
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tik sehr entgegen. Beruhend auf gründlichen, wenngleich selektiven Forschungen in der wiss. Literatur, werden die Novellen zum größten Teil vom Standpunkt eines zeitgenössischen, indirekt beteiligten Berichterstatters erzählt; hinter dieser Maske bleibt der eigene Standpunkt des Autors zweideutig, wenn nicht gänzlich verdeckt. M. verfolgte den Zweck, die entfernte Vergangenheit zu aktualisieren; dementsprechend nahm er in Erzählungen wie Das Amulett (in Buchform: 1873), Jürg Jenatsch (31882. 11876 u. d. T. Georg Jenatsch), Der Heilige, Gustav Adolf’s Page (1882) u. Die Versuchung des Pescara (1887) seinen Stoff aus den Epochen der großen Konflikte zwischen den german. u. lat. Völkern, zwischen Protestantismus u. Katholizismus, zwischen Reformation u. Gegenreformation. Anders als bei seinen Zeitgenossen Keller u. Fontane stehen im Werk M.s die großen histor. Gestalten im Vordergrund; neben die naive, amoral. »Macht« eines Jenatsch oder eines Heinrich II. stellt er jedoch den leidenden »Geist« des edlen Rohan oder des undurchsichtigen Becket. Die Wirkung auf den Leser beruht weniger auf dem histor. Konflikt als auf der raffinierten psycholog. Entlarvung der Personen, die manchmal an Nietzsches Analyse des Willens zur Macht erinnert u. die – namentlich im Spätwerk Angela Borgia (1891) – auf lebhaftes Interesse an der Entwicklung der zeitgenöss. experimentellen Psychologie schließen lässt. Dem histor. Erzählen weist M. damit die Funktion einer alternativen Geschichtsdeutung zu, die – durchaus in Analogie zu Konzeptionen des zeitgenöss. Historismus – histor. Ereignisse letztlich auf unwandelbare anthropologisch-psycholog. Gesetzmäßigkeiten zurückführt. Eine Gruppe von Erzählungen scheint auch eigene psycholog. Probleme (Mutter-Sohn-Verhältnis, Inzestthematik) zu behandeln: Das Leiden eines Knaben (1883), Die Hochzeit des Mönchs (1884) u. Die Richterin (1885). Die letztgenannte Erzählung war Gegenstand der ersten Auseinandersetzung Freuds mit einem literar. Werk (vgl. die Briefe an Wilhelm Fließ). Trotz vereinzelter Ansätze in der Nachfolge Freuds hat sich die Forschung erst spät an diesen Aspekt des M.’schen Werks herangewagt. Da viel biogr.
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Material 1936 auf testamentarische Verfügung der Tochter M.s hin verbrannt wurde, müssen wesentl. Episoden seines Privatlebens jedoch im Dunkeln bleiben. Der Beginn der Reifezeit fiel zusammen mit M.s Eheschließung mit Louise Ziegler (1875; Geburt der Tochter Camilla 1879). Diese Heirat mit einer Frau aus der höchsten bürgerl. Gesellschaftssphäre bestätigte seine materielle Unabhängigkeit wie die soziale Rehabilitation des ehemalig »Geisteskranken«, der nunmehr selbstbewusst mit seinesgleichen verkehrte, u. a. mit Louise von François, Heyse u. Keller, obgleich das Verhältnis zu diesem, seinem Zürcher Nachbarn, immer eher kühl war. Die Heirat führte aber auch zu Spannungen in der Beziehung zur Schwester, die nach Abschluss des Heiligen aufhörte, als seine Sekretärin (und teilweise auch Mitautorin) zu arbeiten. Nach M.s schwerer Krankheit von 1887/88 (chronisches Halsleiden u. Depression) musste Betsy ihn bei der Abfassung von Angela Borgia wieder unterstützen. Bald darauf schwanden seine geistigen u. phys. Kräfte zusehends, was zu seiner Einweisung in die Anstalt Königsfelden führte (1892/93). Die Diagnose lautete auf senile Demenz. Die letzten Lebensjahre verbrachte er in Kilchberg in der Obhut seiner auf Betsy zunehmend eifersüchtigen Frau. Weitere Werke: Denkwürdige Tage. Lpz. 1878. Mikrofiche-Ausg. Mchn. u. a. [1994]. Darin ›Das Amulet‹ u. ›Der Schuß von der Kanzel‹ (E.en). – Plautus im Nonnenkloster. In: Kleine N.n v. C. F. M. Bd. 3, Lpz. 1882. Mikrofiche-Ausg. Mchn. u. a. [1994] (E.). – Aus dem Nachlass: C. F. M.s unvollendete Prosadichtungen. Hg. Adolf Frey. 2 Bde., Lpz. 1916. – Clara, eine Novelle v. C. F. M. Hg. Constanze Speyer. In: Corona 8 (1938), S. 395–416. – Gedichte an seine Braut. Hg. dies. Zürich/New York 1940. Ausgaben: Sämtl. Werke. Hist.-krit. Ausg. Hg. Hans Zeller u. Alfred Zäch. 15 Bde., Bern 1958–96. 2 1997/98. – Sämtl. Werke. Hg. Erwin Laaths. 2 Bde., Mchn. 1968. – Briefe: C. F. M. et Louis Vulliemin. In: Bibliothèque Universelle et Revue suisse 16 (1899), S. 225–240, 532–553. – Louise v. François u. C. F. M. Ein Briefw. Hg. Anton Bettelheim. Bln. 1905. 21920. – Der Briefw. mit Friedrich Theodor Vischer. In: Süddt. Monatsh.e 3 (1906), S. 172–179. – Briefe nebst Rezensionen u. Aufsätzen. Hg. Adolf Frey. 2 Bde., Lpz. 1908. – Robert
204 d’Harcourt: La crise de 1852–56. Lettres de C. F. M. et de son entourage. Paris 1913. – C. F. M. u. Julius Rodenberg. Ein Briefw. Hg. August Langmesser. Bln. 1918. – Von C. F. M. u. seinem Verleger. Hg. Anton Reitler. In: Jb. der Literar. Vereinigung Winterthur (1925), S. 5–20. – Briefe v. C. F. M. u. Betsy Meyer u. Jakob Hardmeyer-Jenny. Hg. Otto Schulthess. Bern 1927. – Friedrich W. Bissig: Mathilde Wesendonck. Wien 1942 (enthält M.s Briefe an sie). – Emil Bebler: C. F. M. u. Gottfried Kinkel. Ihre persönl. Beziehungen auf Grund ihres Briefwechsels. Zürich 1949. – Johanna Spyri u. C. F. M.: Briefw. 1877–97. Hg. Hans u. Rosmarie Zeller. Kilchberg 1977. – C. F. M.s Briefw. Hist.-krit. Ausg. Hg. H. Zeller. Bd. 1: C. F. M. u. Gottfried Keller. Briefe 1877–89. Bern 1998; Bd. 2: C. F. M. – François u. Eliza Wille. Briefe 1869–95. Bern 1999; Bd. 3: C. F. M. – Friedrich v. Wyß u. Georg v. Wyß. Briefe 1855–97. Bern 2004. Literatur: Gesamtdarstellungen, Biografisches: Adolf Frey: C. F. M. Stgt. 1900. 41925. – Betsy Meyer: C. F. M. in der Erinnerung seiner Schwester. Bln. 1903. – Robert d’Harcourt: C. F. M. Sa vie et son œuvre. Paris 1913. – Franz Ferdinand Baumgarten: Das Werk C. F. M.s. Renaissance-Empfinden u. Stilkunst. Mchn. 1917. 21948. – Robert Faesi: C. F. M. Lpz. 1925. Frauenfeld 21948. – Harry Maync: C. F. M. u. sein Werk. Frauenfeld/Lpz. 1925. – Maria Nils: Betsy, die Schwester C. F. M.s. Frauenfeld/Lpz. 1943. – Lily Hohenstein: C. F. M. Bonn 1957. – Louis Wiesmann: C. F. M. Der Dichter des Todes u. der Maske. Bern 1958. – Fritz Martini: Dt. Lit. im bürgerl. Realismus, 1848–98. Stgt. 1962. 4 1981, S. 801–844. – Karl Fehr: C. F. M. Stgt. 1971. 2 1980. – Alfred Zäch: C. F. M. Dichtung als Befreiung aus Lebenshemmnissen. Frauenfeld/Stgt. 1973. – David A. Jackson: C. F. M. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1975. – Einzeluntersuchungen: Hugo v. Hofmannsthal: C. F. M.s Gedichte. In: Wissen u. Leben. Neue Schweizer Rundschau 18 (1925), S. 980–987. – Leo Löwenthal: C. F. M.s heroische Geschichtsauffassung. In: Ztschr. für Sozialforsch. 2 (1938). – Heinrich Henel: The Poetry of C. F. M. Madison 1954. – Emil Staiger: Das Spätboot. Zu C. F. M.s Lyrik. In: Ders.: Die Kunst der Interpr. Zürich 1955, S. 239–273. – H. Henel (Hg.): Gedichte C. F. M.s. Wege ihrer Vollendung. Tüb. 1962. – W. D. Williams: The Stories of C. F. M. Oxford 1962. – Georg Lukács: Der histor. Roman. In: Ders.: Probleme des Realismus 3. Neuwied/Bln. 1965, S. 431–521. – Georges Brunet: C. F. M. et la nouvelle. Paris 1967. – Valentin Herzog: Iron. Erzählformen bei C. F. M. Bern 1970. – Friedrich A. Kittler: Der Traum u. die Rede. Eine Analyse der Kommunikationssituation
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205 C. F. M.s. Freib. i. Br. 1977. – Günter Häntzschel: Bemerkungen zum literarhistor. Ort v. C. F. M.s Lyrik. In: Lit. in der sozialen Bewegung. Hg. Alberto Martino u. a. Tüb. 1977, S. 355–369. – Marianne Burkhard: C. F. M. Boston 1978. – Tamara S. Evans: Formen der Ironie in C. F. M.s Novellen. Bern 1980. – Christian Sand: Anomie u. Identität. Zur Wirklichkeitsproblematik in der Prosa v. C. F. M. Stgt. 1980. – John Osborne: M. or Fontane? Bonn 1983. – Uffe Hansen: C. F. M.: ›Angela Borgia‹. Bern 1986. – Dennis McCort: States of Unconsciousness in three Tales by C. F. M. London 1988. – Deborah S. Lund: Ambiguity as Narrative Strategy in the Prose Work of C. F. M. New York 1990. – Beth L. Mugge-Meiburg: Words Chiseled into Marble. Artworks in the Prose Narratives of C. F. M. New York 1991. – Alexander Grinstein: C. F. M. and Freud. The Beginnings of Applied Psychoanalysis. Madison, Conn. 1992. – U. Henry Gerlach: C. F. M.-Bibliogr. Tüb. 1994. – J. Osborne: Vom Nutzen der Gesch. Studien zum Werk C. F. M.s. Paderb. 1994. – C. F. M. 1825–98. Gedenkband zum 100. Todesjahr. Hg. Hans Wysling u. a. Zürich 1998. – Andrea Jäger: Die histor. Erzählungen v. C. F. M. Zur poet. Auflösung des histor. Sinns im 19. Jh. Tüb. 1998. – Markus Fauser: Anthropologie der Gesch. Jacob Burckhardt u. die histor. Lyrik v. C. F. M. In: Euph. 92 (1998), S. 331–359. – C. F. M. im Kontext. Beiträge des Kilchberger Kolloquiums. Hg. Rosmarie Zeller. Heidelb. 2000. – C. F. M. Die Wirklichkeit der Zeit u. die Wahrheit der Kunst. Hg. Monika Ritzer. Tüb. 2001. – Wolfgang Lukas: C. F. M.s histor. Novellen. In: Realismus. Epoche – Autoren – Werke. Hg. Christian Begemann. Darmst. 2007, S. 139–155.
eine Szenekneipe in Westberlin anspielt, bewies M. sein literar. Geschick, grelle Alltagswirklichkeit u. subjektive Befindlichkeit unprätentiös, aber mit überraschenden Wendungen wiederzugeben. In seinem wohl bekanntestem Werk, der Trilogie Biographie der Bestürzung: Im Dampfbad greift nach mir ein Engel (1985), David steigt aufs Riesenrad (1987) u. Ein letzter Dank den Leichtathleten (1989, alle Düsseld.), schildert er mit spielerischer Ironie anhand der mit autobiogr. Merkmalen ausgestatteten Figur des Schriftstellers Dorn die Empfindungs- u. Erlebniswelt polyglotter u. kulturbeflissener Homosexueller. Der erste Band beschreibt Dorn als hedonist. Großstadtmenschen, der sich durch die Berliner Schwulenszene treiben lässt. Der zweite Teil spielt v. a. an der Nordseeküste, wo sich Dorn mit seinen Freunden Viktor u. Todora aufhält. Obwohl das in den 1980er Jahren einen kollektiven Schrecken auslösende Thema Aids in der gesamten Trilogie präsent ist, wird es erst im letzten Band beherrschend, da es Dorns Treiben ein Ende setzt. M. schrieb somit einer der ersten Aids-Romane. Der Roman Stern in Sicht, der zwischen Wirklichkeit u. Traum, Ohnmacht u. Hoffnung oszilliert, erschien 1998 (Hbg.). Das Sonnenkind, ein autobiografisch gefärbter Kindheitsroman aus dem Berlin der 1950er u. 1960er Jahre, konnte erst postum 2001 veröffentlicht werden (Bln.).
John Osborne / Wolfgang Lukas
Weitere Werke: Stehen Männer an den Grachten. Düsseld. 1990 (G.e). – Versprechen eines Wundertäters. Hbg. 1993 (G.e). – In meiner Seele ist schon Herbst. Eine Gymnasiastenliebe. Hbg. 1995. Bln. 2002 (R.). – Die PC-Hure u. der Sultan. Gesch.n 1986 bis 1996. Hbg. 1996. – Sind Sie das Fräulein Riefenstahl? Düsseld. 1997 (P.).
Meyer, Detlev, * 12.2.1950 Berlin, † 30.10. 1999 Berlin. – Lyriker u. Erzähler. M. studierte in Berlin u. Cleveland/Ohio Bibliotheks- u. Informationswissenschaft. Später arbeitete er u. a. in Kanada als Bibliothekar u. in Jamaika als Entwicklungshelfer. Seine Themen waren das Leben in der Schwulenszene sowie die Bedrohung durch Aids, dessen Folgen er selbst am Ende erlag. Er blieb aber kein reiner Szeneautor, sondern fand weiter darüber hinaus ein Publikum, auch wurde er in den Literaturabteilungen der wichtigsten überregionalen Zeitungen besprochen. Bereits in seinem ersten Gedichtband Heute nacht im Dschungel (Bln. 1981), dessen Titel auf
Literatur: Dieter Straub: L’esprit allemand hat einen Namen: D. M. In: Park, Bd. 18 (1994), H. 47/ 48, S. 62–64. – Marita Keilson-Lauritz: Ganz schön traurig: zum Tode v. D. M. In: Forum Homosexualität u. Lit. 1999, H. 35, S. 143–148. – Detlef Grumbach: D. M. In: LGL. Gerhard Bolaender / Clara Ervedosa
Meyer
Meyer, E. Y., eigentl.: Peter M., * 11.10. 1946 Liestal/Kt. Basel. – Erzähler, Dramatiker, Hörspielautor, Essayist. M. wuchs in Biel in einer Arbeiterfamilie auf. In den Jahren 1967–1969 studierte er Germanistik, Geschichte u. Philosophie u. arbeitete nach einer Lehrerausbildung ab 1971 als Primarlehrer in Ittingen bei Bern. Seit 1974 lebt M. als freier Autor. Er erhielt den Literaturpreis des Kantons Baselland (1976), den Gerhart-Hauptmann-Preis (1983), den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung (1984), den Welti-Preis (1985) u. den Buchpreis des Kantons Bern (2005). Mit dem Primat finsterer Bildlichkeit u. verschachtelter Syntax, der Darstellung des Alltäglichen als Grauenerregendes erinnert M.s literar. Debüt (die Erzählungen Ein Reisender in Sachen Umsturz. Ffm. 1972) an die Poetik der Prosa Thomas Bernhards mit deren Abgleiten ins Unwirkliche. Der Roman In Trubschachen (Ffm. 1973) erzählt von einem Studenten, der einige Tage in einem Landgasthof in Trubschachen, einem Emmentaler Dorf, verbringt, um eine Arbeit über Kant zu schreiben. Die Quintessenz der Lehre Kants wird von ihm als existenzielle Verunsicherung empfunden, die auf Wanderungen u. in Gesprächen immer wieder mit angstvoll düsteren Bildern durch die Oberfläche einer scheinbar heilen Welt bricht. Die Rückfahrt (Ffm. 1977) hingegen ist ein moderner Entwicklungsroman mit ausgeprägtem philosoph. Idiom: Ein junger Lehrer erholt sich nach einem schweren Autounfall in einem Kurhaus, zieht die Bilanz seines bisherigen Lebens u. sieht schließlich in der Hinwendung zur Kunst als Öffnung zu einer unmittelbaren Welterfahrung einen Ausweg aus seiner Krise. M.s scharfe Kritik an der Konsumgesellschaft u. der Selbstentfremdung des Menschen in einer technisierten Welt wird in den Essays u. Reden des Bandes Die Hälfte der Erfahrung (Ffm. 1980) pointiert fortgesetzt. M. befasst sich auch mit der Eigenart u. Funktion des Schreibens in diesem Kontext. Der Essay Plädoyer (Ffm. 1982) mit dem programmat. Untertitel Für die Erhaltung der Vielfalt der Natur beziehungsweise für deren Verteidigung gegen die ihr drohende Vernichtung
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durch die Einfalt des Menschen ist eine Auseinandersetzung mit der Gestaltung der Welt durch den Menschen, bes. in städtebaulicher u. architekton. Hinsicht, u. fordert eine radikale Revidierung des vorherrschenden »Welt-Bildes«. Im Mittelpunkt von M.s Theaterstück Sundaymorning (schwäb. Fassung v. Wolfgang Kunz. Ffm. 1981. Original in berndt. Mundart. Bern 1984. Hochdt. Fassung v. Wolfgang Brehm. Kreuzlingen/ Bern 1987) wird der Standort des Künstlers im modernen Zeitalter reflektiert. Im Roman Das System des Doktor Maillard oder Die Welt der Maschinen (Zürich 1994) kehrt der Verfasser zu dem bereits in seiner Komödie Das System (Ffm. 1983) behandelten Stoff zurück. Der machtbesessene Doktor Maillard u. seine auf den ersten Blick korrekt funktionierende Privatklinik für Geisteskranke werden zur Verkörperung des Bösen u. Wahnhaften stilisiert; in dem von ihm aufgebauten »System« wird der Einzelmensch rücksichtslos für unmündig gehalten. Schreiben ist also für M. eine eigenwillige Widerstandsform, u. seine Einzelwerke, zwischen Erzählung u. Essay schwankend u. keinem festen Baugesetz folgend, missbilligen die Expansion der geistig entkräfteten, konsumsüchtigen u. naturfeindl. Modernität aus allen mögl. Gründen. Sie sind nichts anderes als Reflexionen zu den Grundkonflikten u. der Krisensemantik der Gegenwart. Herausragend sind M.s Hommagen an Robert Walser (Eine entfernte Ähnlichkeit. Die Titelgeschichte des gleichnamigen Erzählbandes. Ffm. 1975. Neuausg.: Eine entfernte Ähnlichkeit. Eine Robert-Walser-Erzählung. Wien 2006) sowie an Jeremias Gotthelf (Der Ritt. Ein Gotthelf-Roman. Wien 2004). Weitere Werke: Wintergesch.n. Zürich 1995 (E.n). – Venezian. Zwischenspiel. Zürich 1997 (E.). – Die Stimme des toten Generals. Ein Requiem auf die Schweiz. Urauff. Bern 2006. – VerDingt. Ein Theaterstück. Urauff. Freilichttheater Moosegg 2007. Literatur: Gerda Zeltner: Das Ich ohne Gewähr. Zürich 1980, S. 120–125. – Beatrice v. Matt (Hg.): E. Y. M. Ffm. 1983. – Dies.: Lesarten. Zur Schweizer Lit. v. Walser bis Muschg. Zürich 1985, S. 140–149. – Cornel Joseph Wietlisbach: Mögl. Wirklichkeit – wirkl. Möglichkeit? Berkeley 1987. – Martin Dur-
Meyer
207 rer: Leben ohne Wirklichkeit – Schreiben gegen das Untergehn. Drei Studien zum erzähler. Werk E. Y. M.s. Bern u. a. 1988. – Peter Grotzer (Hg.): Aspekte der Verweigerung in der neueren Lit. aus der Schweiz. Zürich 1988. – Edeltraud Schmied Thomassen: Auf der Suche nach den Zusammenhängen. E. Y. M.s Versuch einer synopt. Sicht der Welt. Bergen 1988. – Sven Spiegelberg: Diskurs in der Leere. Aufsätze zur aktuellen Lit. der Schweiz. Bern u. a. 1990. – Marc Aeschbacher: Vom Stummsein zur Vielsprachigkeit. Vierzig Jahre Lit. aus der dt. Schweiz (1958–98). 2., überarb. Aufl. Bern u. a. 1998. – Klaus Pezold (Hg.): Schweizer Literaturgesch. Die deutschsprachige Lit. im 20. Jh. Lpz. 2007. – Peter Rusterholz u. Andreas Solbach (Hg.): Schweizer Literaturgesch. Stgt./Weimar 2007. Guido Stefani / Zygmunt Mielczarek
Meyer, Eduard, * 25.1.1855 Hamburg, † 31.8.1930 Berlin. – Althistoriker.
schichtsschreibung von den Sozialwissenschaften ab u. suchte den Führungsanspruch der Geschichte innerhalb der Geisteswissenschaften zu begründen, indem er den Staat in den Mittelpunkt historiografischen Interesses rückte. Das prägte zus. mit dem method. Insistieren auf der »Erforschung und Darstellung des Einzelvorgangs« lange das wiss. Paradigma nicht nur der Althistorie. Ungewöhnlich war M.s Betonung der Analogie von Geschichte u. Gegenwart u. damit verknüpft sein tagespolit. Engagement, zu dem ihn das Erlebnis des Weltkriegs u. der revolutionären Unruhen trieb. Die Pamphlete England (Stgt. 1915) u. Die Vereinigten Staaten von Amerika (in: Angewandte Geographie 49. Ffm. 1920) sind exemplarische Zeugnisse des an den Universitäten der Weimarer Zeit weit verbreiteten antidemokrat. Denkens. Weitere Werke: Caesars Monarchie u. das
In der Generation nach Theodor Mommsen Principat des Pompeius. Stgt. 1918. 31922. Neudr. war M. die beherrschende Gestalt unter den Stgt. 1963. – Ursprung u. Anfänge des Christendt. Althistorikern. Nach der Schulzeit auf tums. 3 Bde., Stgt. 1921–23. Neudr. 1963. – Kleine 2 dem Hamburger Johanneum studierte er Schr.en. 2 Bde., Halle 1924. Literatur: Heinrich Marohl: E. M. Bibliogr. Mit Orientalistik in Bonn u. Leipzig. Nach der Promotion in Ägyptologie 1875 u. der Habi- einer autobiogr. Skizze E. M.s u. der Gedächtnislitation für Alte Geschichte 1879 in Leipzig rede v. Ulrich Wilcken (1930). Stgt. 1941. –2 Karl Christ: Von Gibbon zu Rostovtzeff. Darmst. 1979, erschien noch vor M.s erster Professur in S. 286 ff. – E. M. Hg. William M. Calder. Leiden Breslau (1885, von 1889 an in Halle) der erste u. a. 1990. – Johanna Jantsch: Die Entstehung des Band seines Hauptwerks Geschichte des Alter- Christentums bei Adolf v. Harnack u. E. M. Bonn tums (5 Bde., Stgt. 1884–1902. 21907 ff. 1990. – Gert Audring (Hg.): Gelehrtenalltag. Der Neudr. 8 Bde., Essen 91984). Sie reichte, als Briefw. zwischen E. M. u. Georg Wissowa. Hildesh. M. 1902 einen Ruf nach Berlin angenommen 2000. Michael Stahl / Red. hatte (1919 Rektor), bis ins Jahr 350 v. Chr. M. gab später der Überarbeitung des Werks den Meyer, Friedrich Johann Lorenz, * 22.1. Vorzug vor einer Weiterführung. Auch als 1760 Hamburg, † 21.10.1844 Hamburg. – Torso freilich bleibt diese UniversalgeschichReiseschriftsteller. te des Altertums einzigartig als Versuch eines einzelnen Forschers, aufgrund eigener exak- Der Vater Johann Lorentz Meyer (1696 bis ter Detailforschung die gesamte Geschichte 1770), wohlhabender Weinhändler in Hamvon den Ägyptern über die altoriental. Reiche burg, hatte nach dem Tod seiner ersten Frau u. das Judentum bis zum klass. Griechenland spät erneut geheiratet. M., der jüngste überu. dem frühen Rom als einen einheitl. Ge- lebende Sohn aus dieser Ehe, erhielt eine schichtsraum zu durchdringen. In vielen Be- humanist. Schulbildung in Hamburg u. Otreichen der Alten Geschichte – M.s Gesamt- terndorf u. schloss das Rechtsstudium in werk umfasst etwa 500 Titel – lieferte M. Göttingen 1782 mit der Promotion ab. Schon lange gültige Darstellungen, so zum Juden- 1774 hatte ihm seine Mutter aus dem Erbe tum u. Christentum u. zur antiken Wirt- eine Präbende am Hamburger Domstift geschafts- u. Sozialgeschichte. Von größter kauft, durch die er zeitlebens versorgt war. Wirkung waren überdies M.s geschichts- Nach einer zweijährigen Bildungsreise durch theoret. Äußerungen. Er grenzte die Ge- die Schweiz, Italien u. Frankreich, die er auch
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literarisch verwertete (Darstellungen aus Italien. Meyer, Friedrich Ludwig Wilhelm, * 26. Bln. 1792), heiratete er 1785 die Tochter sei- (28.?) 1.1758 (1759?) Harburg, † 1.9.1840 nes ehemaligen Göttinger Professors, Amalie Gut Bramstedt/Holstein. – Publizist u. Böhmer, u. widmete einen Großteil seiner Bühnenschriftsteller. Zeit der aufklärerischen »Hamburgischen Gesellschaft zur Beförderung der Künste und M., Sohn eines Oberpostmeisters, besuchte nützlichen Gewerbe«, deren Sekretär er bis zunächst das Johanneum in Hamburg, ein 1825 war. 1796 u. 1801 nahm er an Ham- Jahr das Hamburger Gymnasium u. nach dem burger Gesandtschaften nach Frankreich teil. Tod des Vaters die gelehrte Schule in Ihlefeld; Im revolutionären Paris interessierte ihn, 1775–1779 studierte er in Göttingen Jura. trotz seiner Sympathien für republikan. Nach dem Examen, auf der Suche nach einem Ideale, allerdings weniger die Politik als gesicherten Einkommen, arbeitete er zuvielmehr Kunst u. Wissenschaft. Seine Ein- nächst als Privatsekretär in St. Petersburg u. drücke beschrieb er in den Fragmenten aus Berlin, für kurze Zeit auch in Wien. Erst 1783 Paris im IVten Jahr der französischen Republik (2 erhielt M. die Stelle eines Regierungsauditors Bde., Hbg. 1797) u. Briefen aus der Hauptstadt am Justizkollegium in Stade, wo er Friedrich und dem Inneren Frankreichs (2 Bde., Tüb. Ludwig Schröder wiedertraf, den er schon von Hamburg her kannte. Beide schlossen 1802). Nach mehreren Reisen durch Deutschland enge Freundschaft u. arbeiteten auch künst(Darstellungen aus Nord-Deutschland. Hbg. lerisch zusammen: Schröder spielte in M.s 1816) wurde eine Russland-Reise 1828, auf Schauspiel Kronau und Albertine (gedr. Wien der er auch Zutritt zum Hof fand, das große 1783) selbst mit, u. M. bearbeitete Stücke von Erlebnis seines Alters (Darstellungen aus Ruß- Schröder; er wurde Schröders erster Biograf. 1785 setzte sich Heyne für M. ein u. verlands Kaiserstadt und ihrer Umgegend. Hbg. schaffte ihm in Göttingen eine Stelle als Bi1829). M. blieb zeitlebens der Aufklärung ver- bliothekar, ein Amt, das er bis 1788 wahrbunden. Im Sinne eines klassizist. Kunstide- nahm. Neben seiner Bibliothekarstätigkeit als förderte er Maler u. bildende Künstler, war er einer der Erzieher der engl. Prinzen auch durch materielle Unterstützung. Enge von Sussex, Cambridge u. Cumberland. Freundschaft verband ihn mit Klopstock in Während dieser Zeit unternahm er mehrere dessen letzten Lebensjahren (Lobrede auf Klop- Reisen, die ihn u. a. mit dem Weimarer Kreis, auch mit Schiller, zusammenbrachten; M. stock. Hbg. 1805). Weitere Werke: Skizzen zu einem Gemälde v. schloss viele Bekanntschaften u. knüpfte Hamburg. 2 Bde., Hbg. 1800–04. – Klopstocks Kontakte in literar. Zirkeln. 1788 stellte er seine berufl. Arbeiten in Gedächtniss-Feier. Hbg. 1803. – Brieffragmente vom Taunus, Rhein, Neckar u. Mayn. Hbg. 1822. Göttingen ein u. hielt sich drei Jahre in EngLiteratur: Otto Beneke: Gesch. u. Genealogie land, Frankreich u. Italien auf. In jenen Länder Familie Meyer in Hamburg. Hbg. 1861. – Hans dern interessierte er sich sehr für das TheaSchröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller. terleben; in England lernte er den konservaBd. 5, Hbg. 1870, S. 258–264. – Karl Veit Riedel: F. tiven Staatstheoretiker u. Politiker Edmund J. L. M. [...]. Hbg. 1963. – Werner Oechslin: ›Ge- Burke kennen. meingeist‹, ›Weltkenntniss‹, ›Civilisation‹, ›PatrioErst im Sept. 1791 kehrte M. nach tismus‹. Hamburg um 1800, Frankreich u. F. J. L. M. In: Christian Frederik Hansen u. die Architektur Deutschland (Hamburg) zurück, arbeitete um 1800. Hg. Ullrich Schwarz. Mchn. 2003, noch einige Jahre als Schriftsteller in Berlin, war 1795 bis 1797 redaktionelles Mitgl. der S. 69–90. Wolfgang Griep / Red. Monatsschrift »Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmackes«, die er zus. mit Friedrich Eberhard Rambach herausgab. Als sein jüngerer Bruder Friedrich Albrecht Anton Meyer (1768–1795), der ebenfalls Bühnenschriftsteller war, schon mit 27 Jahren
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starb, verbesserte sich M.s finanzielle Situa- ne, Schröder u. A. 2 Tle. Braunschw. 1847. – Curt tion, sodass er 1797 das in Stolbergischem Zimmermann: F. L. W. M., sein Leben [...]. Ein Besitz befindl. Gut Bramstedt (nahe Ham- Beitr. zur Litteraturgesch. des 18. u. 19. Jh. Diss. burg) kaufen konnte, wo er bis zu seinem Tod Halle 1890. – Die Freimauerkorrespondenz. Friedrich Ludwig Schröder, F. L. W. M. 1802–16. publizistisch tätig blieb. Hg. H. Schneider. Bayreuth 1979. M. machte sich als Rezensent u. Übersetzer Friedhelm Auhuber / Dieter Martin engl., frz. u. ital. Werke einen Namen (Wilhelm Hodges Reisen durch Ostindien, während der Jahre 1780, 1781, 1782 und 1783. Hbg. 1793. Meyer, Georg Conrad, auch: Sincerus George Hamiltons Reise um die Welt in den Jahren Gallus, * 1.4.1774 Flensburg, † 18.7.1816 1790–1792. Bln. 1794. Horace Walpoles Die Burg Flensburg. – Politischer Publizist. von Otranto. Bln. 1794. Johanne Lane Buchanans M. begann 1792 an der Universität Kiel das Reisen durch die westlichen Hebriden während der Studium der Rechte. Er galt dort als »Apostel Jahre 1782 bis 1790. Bln. 1795). In Zeitschriften der unbedingten Gleichheit« u. nahm 1794 u. Almanachen veröffentlichte er Lyrik, so in an einer Sympathiekundgebung für Karl Heinrich Reichards »Theater-Kalender«, im Friedrich Cramer teil, der wegen revoluti»Musenalmanach« von Voß, im Göttinger u. onsfreundl. Gesinnung seines Lehramts entin Schillers »Musenalmanach«; M. schrieb hoben worden war. Relegiert, kehrte M. ohne Aufsätze u. Kritiken in der »Litteratur- und Abschluss ins Elternhaus zurück. Theaterzeitung«, im »Journal von und für 1796 begann M. mit der Herausgabe der Deutschland« u. in den »Göttingischen Ge- Wochenschrift »Der neue Mensch«, in der er lehrten Anzeigen«. Auch die meisten seiner in Vers u. Prosa für Volkssouveränität, verSchauspiele publizierte er zunächst in Thea- fassungsmäßige Verankerung der Menterzeitschriften. Zeitgenossen hoben seine schenrechte, Gewaltenteilung, GewerbefreiÜbersetzungsleistungen hervor. M. über- heit, Abschaffung der ständ. Privilegien, Jusetzte u. bearbeitete Dramen u. Singspiele denemanzipation u. Gleichberechtigung der frz. Autoren wie Madame de Beaunoir, Flo- Frauen eintrat. Er rechtfertigte die Hinrichrent C. Dancourt, Joseph de Lafont, Marc- tung Ludwigs XVI. u. forderte Egalisierung Antoine Le Grand, Marivaux, Marmontel u. der sozialen u. wirtschaftl. LebensbedingunJacques-Marie Boutet de Monvel, engl. wie gen. Als er einen scharfen persönl. Angriff Susanna Centlivre, William Congreve, Fiel- gegen den konservativen Hauptpastor Flensding, Samuel Foote, Arthur Murphy u. burgs richtete, kam er mit den Behörden in Shakespeare. Konflikt. Vor Gericht beschuldigt, monarWeitere Werke: Sammlungen: Neue Theater- chiefeindl. Grundsätze zu verbreiten, sah sich stücke. Bln. 1782. – Beyträge, der vaterländ. Bühne M. 1797 zur Einstellung seines Blatts gegewidmet. Bln. 1793 (enth. die Lustsp.e ›Der zwungen. Eine Zeitlang war er Schauspieler Schutzgeist‹; ›Wie gewonnen so zerronnen‹; ›Der bei einer Laien-Theatertruppe. Eine neue Schriftsteller‹; ›Die Prüfung‹). – Schauspiele. Alto- Zeitschrift M.s, »Der Feind Englands«, rief na 1818 (enth. ›Der Abend des Morgenländers‹; während des dän.-engl. Konflikts 1801 zur ›Spiel bringt Gefahr‹; ›Vertrauen‹; ›Der GlücksVaterlandsverteidigung auf. Seit 1810 wechsel‹; ›Der Verstorbene‹). – Einzelausgaben: Das Blendwerk. Gotha 1781 (kom. Oper). – Die Reue vor schwindsüchtig, verbrachte er seine letzten der Hochzeit. Bln. 1782 (Singsp.). – Die Heirath Lebensjahre im Krankenhaus. Dort verfasste durch ein Wochenblatt. Wien 1786 (Posse). – Spiele M. moralisierende Epigramme, die u. d. T. des Witzes u. der Phantasie. Bln. 1793 (L.). – Briefe Versuch in Grabschriften (Flensburg 1816) erüber Schauspielkunst, Theater u. Theaterwesen in schienen. Dtschld. Hbg. 1798. – Friedrich Ludwig Schröder. Beitr. zur Kunde des Menschen u. des Künstlers. 2 Tle., Hbg. 1819. Literatur: Zur Erinnerung an F. L. W. M., den Biographen Schröder’s. Lebensskizze nebst Briefen v. Bürger, Forster, Göckingk, Gotter, Herder, Hey-
Literatur: Fritz Valjavec: Die Entstehung der polit. Strömungen in Dtschld. 1770–1815. Mchn. 1951. Kronberg/Düsseld. 21978, S. 424 f. – Walter Grab: Demokrat. Strömungen in Hamburg u. Schleswig-Holstein zur Zeit der ersten frz. Republik. Hbg. 1966, S. 184–191. – Renate Erhardt-
Meyer Lucht: Die Ideen der frz. Revolution in SchleswigHolstein. Neumünster 1969, S. 151–158. – W. Grab: Leben u. Werke norddt. Jakobiner. Stgt. 1973, S. 66–72 (Ausw. aus M.s Schr.en, S. 249–281). – Ders.: Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern. Ffm. 1984, S. 387–397. Walter Grab † / Red.
Meyer, Hans, * 22.3.1858 Hildburghausen, † 5.7.1929 Leipzig. – Geograf; Verleger u. Verfasser von Reiseberichten. M., Sohn des Inhabers des Bibliographischen Instituts Hermann J. Meyer, studierte 1878 bis 1880 Geografie, Geschichte u. Staatswissenschaften in Berlin, Leipzig u. Straßburg, wo er 1881 promovierte. 1884 trat er als Geschäftsleiter in den Verlag des Vaters ein u. betreute u. a. die Herausgabe von Meyers Lexika. Zwischen 1881 u. 1911 unternahm M. eine Weltreise, fünf Afrika-Reisen – wobei er 1889 als erster Europäer den Kilimandscharo bestieg –, Reisen nach Teneriffa u. Südamerika (Eine Weltreise. Lpz. 1884. Hochtouren im tropischen Amerika. Lpz. 1925. Hochtouren im tropischen Afrika. Lpz. 1928). Durch seine auf den Reisen durchgeführten Vulkan- u. Hochgebirgsstudien gelang es ihm, die globale Ausdehnung der Eiszeiten zu beweisen. Neben der Tätigkeit in kolonialpolit. Institutionen u. Vereinen stiftete er zur wiss. Fundierung der Kolonialpolitik eine Professur für Kolonialgeografie an der Universität Berlin u. ein Institut an der Universität Leipzig, dessen Direktorat er 1915 übernahm. Neben der Edition eigener Arbeiten, etwa Das deutsche Kolonialreich (2 Bde., Lpz. 1909/10), war M. als Verleger geografischer Werke u. Stifter reicher Sammlungen an Museen in Berlin u. Leipzig ein bedeutender Förderer der Kolonialgeografie. Für seine Tätigkeit erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. Literatur: Reinhart Bindseil: Ruanda im Lebensbild v. H. M. Bln. 2004. Dieter Löffler / Red.
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Meyer, Meier, Johann Friedrich von, auch: Imo Jaschem, Chiffre: J. M. O., gen. BibelMeyer, * 12.9.1772 Frankfurt/M., † 28.1. 1849 Frankfurt/M. – Verfasser theologischer Schriften u. Übersetzer. Der Sohn eines wohlhabenden Frankfurter Kaufmanns studierte seit 1789 an der Universität Göttingen Jura u. hörte philolog. Vorlesungen bei Heyne, die ihn zu ersten Arbeiten anregten. Ab 1793 in Leipzig, veröffentlichte er zahlreiche Beiträge in Wielands »Teutschem Merkur« (1794 f.), Arnold Heerens »Bibliothek der alten Literatur und Kunst« (1793) sowie der »Leipziger Monatsschrift für Damen« (1794). 1794 wechselte er nach Wetzlar, wo er sich im Juli 1795 mit Franziska von Zwackh-Hohenhausen vermählte. M.s bedeutende private Bibelstudien mündeten 1819 in eine Revision der LutherÜbersetzung, für die er 1824 von der Universität Erlangen den Dr. theol. erhielt (Die heilige Schrift in berichtigter Übersetzung. Ffm. 1819. Der Tempel Salomonis, gemessen und geschildert. Bln. 1831). Unter dem Einfluss Clemens Brentanos schloss sich M. vorübergehend der romant. Dramenästhetik an u. bearbeitete in deren Sinne Andreas Gryphius’ Leo Armenius (Ms.) sowie Piastus (in: Dramatische Spiele. Ffm. 1801). Nach mehreren durch die Napoleonischen Kriege bedingten Ortswechseln ließ sich M. 1802 in Frankfurt/M. nieder. Frühere dramat. Versuche empfahlen ihn für eine Tätigkeit als Leiter des dortigen Theaters (1803–1806). Trotz hoher Ämter in der Stadtverwaltung (u. a. 1824 Bürgermeister u. Präsident der gesetzgebenden Versammlung) trat M. weiter durch Übersetzungen (Ciceros Von der Natur der Götter. Ffm. 1806. Xenophons Kyropädie. Ffm. 1813. [Louis] Dutens Lebensbeschreibung [...]. 2 Bde., Amsterd. 1807 f.) u. mystisch-theosoph. Schriften (Hades. Ein Beytrag zur Theorie der Geisterkunde. Ffm. 1810) sowie als Herausgeber der »Blätter für höhere Wahrheit« (11 Bde., Ffm. 1818–32) hervor. Unter dem Pseud. Imo Jaschem kommentierte er das von Johann Arnold Kanne edierte Werk Weissagungen und Verheissungen der Kirche
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Jesu Christi auf die letzten Zeiten der Heyden (Nürnb. 1819). Weitere Werke: Kallias u. Damon (...). 2 Bde., Lpz. 1792 (R.). – Tobias. Ein ep. Gedicht in 7 Gesängen. Ffm. 1800. – Dramat. Spiele. Ffm. 1800. – Laura, Bl. aus ihrem Tgb. [...]. Ffm. 1801. – Wahrnehmungen einer Seherin. 2 Bde., Hbg. 1827–29. – Krit. Kränze. Bln. 1831. – Prosod. Hilfsbuch [...]. Kempten 1836. – Hesperiden. Poet. u. prosaische Schr.en. 4 Bde., Kempten 1836/37. – Zur Ägyptologie. Ffm. 1840. – Nachlass: Archiv der Theologischen Fakultät der Univ. Erlangen-Nürnberg, Nachl. Johann Friedrich von Meyer. Literatur: Eduard Heyden: Gallerie berühmter u. merkwürdiger Frankfurter. Ffm. 1861. – Georg Eduard Steitz: M. In: RE 13, S. 42 ff. – Hansjörg Schelle: Der junge M. im Briefw. mit Wieland. In: Schiller-Jb. 15 (1971), S. 36–107. – Hartmut Fröschle: Ein Dokument der Spätromantik. Der Briefw. zwischen J. Kerner u. M. In: GoetheJb. (Wien) 80 (1976), S. 76–88. – Jacques Fabry: Le théosophe de Francfort. J. F. v. M. (1772–1849) et l’ésotérisme en Allemagne au XIXe siècle. Bern u. a. 1989. – Dieter Martin: Barock um 1800. Ffm. 2000, S. 313–333. Andreas Meier / Dieter Martin
Meyer, Johann Heinrich, gen. GoetheMeyer, Kunst-Meyer, * 16.3.1760 Stäfa bei Zürich, † 11.10.1832 Jena. – Maler u. Kunsthistoriker. Seine künstlerische Ausbildung verdankte M. überwiegend dem Zürcher Maler u. Kunstschriftsteller Johann Caspar Füßli, dem Herausgeber der Geschichte der besten Künstler in der Schweiz u. begeisterten Anhänger der Lehren von Winckelmann u. Mengs, die er an seine Schüler weitervermittelte. M. entwickelte sich zu einem guten Zeichner u. Porträtisten, gelangte jedoch in der Historienmalerei nicht über das Mittelmaß hinaus. Während seines Italien-Aufenthaltes gewann er durch unausgesetztes Studium der klass. Altertümer u. der Meisterwerke der Malerei tiefe Einsichten in die histor. u. ästhet. Entwicklung der Künste. Seine reichen antiquarischen Kenntnisse konnte er ab etwa 1787 in Rom an Goethe weitergeben, der sich zgl. zu dem stillen u. bescheidenen Wesen seines neuen Lehrers hingezogen fühlte. Dies war der Beginn ihrer über vier Jahrzehnte dauernden Freundschaft u. Zusammenarbeit. Zunächst
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erwirkte Goethe von Herzog Carl August ein zweijähriges Stipendium für M., 1791 folgte der Schweizer einer Einladung nach Weimar. Zu dieser dürften auch die Herzogin Anna Amalia u. Herder vorgearbeitet haben, die seine Gesellschaft in Italien ebenfalls sehr geschätzt hatten. Bei einem neuerl. Aufenthalt in Rom u. Florenz 1795–1797 sammelte M. Material für eine von Goethe geplante ital. Kunstgeschichte. Anschließend lehrte er in Weimar am Freien Zeichen-Institut, dessen Leitung ihm 1806 übertragen wurde. Gemeinsam widmeten sich Goethe u. M. ihrer »Mission«, den allg. Kunstgeschmack zu verbessern u. jungen Künstlern den von Mengs u. Winckelmann vorgezeichneten Weg nahezubringen. Zu diesem Behufe gründeten sie die Kunstzeitschrift »Propyläen« u. organisierten zwischen 1798 u. 1805 regelmäßige Preisausschreiben u. Kunstausstellungen. Der erwünschte Erfolg blieb allerdings aus. Nachdem M. sich 1802 mit Amalie von Koppenfels verheiratet hatte, übersiedelte er 1803 nach Jena. Er beschäftigte sich nun zunehmend mit kunsttheoretischen u. -histor. Fragen. Seit 1801 arbeitete er an seinem Entwurf einer Kunstgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, der in dem von Goethe veröffentlichten Werk Winkelmann und sein Jahrhundert (Tüb. 1805. Neu hg. v. Helmut Holtzhauer. Lpz. 1969) erschien. Die von Karl Ludwig Fernow begonnene Herausgabe der Schriften Winckelmanns setzte M. gemeinsam mit Johannes Schulze zwischen 1809 u. 1820 fort. Schon 1795 skizzierte er in Schillers »Horen« seine entwicklungsgeschichtl. Ideen zu einer künftigen Geschichte der Kunst, die er dann zwischen 1809 u. 1815 für den gesamten Zeitraum der europ. Kunst konzipierte u. niederschrieb (aus dem Nachl. bearb. u. hg. v. H. Holtzhauer u. Reiner Schlichting als Geschichte der Kunst. Weimar 1974). Seine Quellen waren bes. Winckelmanns Arbeiten über die Kunst der Griechen u. Römer, die Vite Vasaris u. die ersten Bände von Fiorillos Geschichte der zeichnenden Künste, sodann seine eigenen ital. Aufzeichnungen u. seine Vorträge über Kunstgeschichte, die er 1809–1811 gehalten hatte.
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M.s Werk wird heute als bahnbrechende Leistung seiner Zeit bewertet, die v. a. die klass. Kunstauffassung der »Weimarischen Kunstfreunde« widerspiegelt. Eine Veröffentlichung der Geschichte der Kunst hätte bei dem bereits dominierenden romant. Geist in Deutschland jedoch wenig Beachtung gefunden. Gegen das »klosterbrudrisierende, sternbaldisierende Unwesen« polemisierte M. denn auch in dem Manifest Neudeutsche religiös-patriotische Kunst (1817 in Goethes Zeitschrift »Über Kunst und Alterthum«), einer Kampfansage an die Malerschule der Nazarener u. an die Romantik überhaupt, mit heftigen Angriffen bes. auf Friedrich Schlegel. Die Reaktion war entsprechend. M. wurde zu Goethes bösem Geist u. Mephisto abgestempelt. Dabei hatte M. in seinem Artikel keineswegs die mittelalterl. Kunst abgewertet. Entschieden verurteilte er hingegen eine unhistor. u. mystifizierende Verherrlichung des MA u. die mystisch-religiösen u. obskurantist. Tendenzen in der neudt. Kunst. Großen Wert legte Goethe auf M.s Urteil auch in poet. Fragen. Er verdankte M. die Beschreibung einer Schweizer Baumwollspinnerei u. ein Stimmungsbild am Zürcher See für Wilhelm Meisters Wanderjahre. Wie nur wenige Menschen hat M. Goethe nahegestanden, der in ihm gleichermaßen den aufrichtigen Freund, den Wissenschaftler, Kunstkenner u. Kunsthistoriker schätzte. Weitere Werke: Gesch. des Kolorits. In: Goethes Farbenlehre. Tüb. 1810. – Über die Altar-Gemälde v. Lucas Cranach in der Stadt-Kirche zu Weimar. Weimar 1813. – Gesch. der bildenden Künste bei den Griechen u. Römern. 3 Bde., Dresden 1824–36. – Max Hecker (Hg.): Goethe’s Briefw. mit H. M. Weimar 1917. Literatur: Kosch 10, S. 975–976 (Bibliogr.). – Goethe-Hdb. Hg. Bernd Witte u. a. Bd. 4/2, Stgt./ Weimar 1998, S. 703–706. – Jochen Klauß: Der ›Kunschtmeyer‹ J. H. M. Freund u. Orakel Goethes. Weimar 2001. Ingrid Sattel Bernardini
Meyer, Johann Heinrich Christian, * 18.5. 1741 Hannover, † 16.11.1783 Göttingen. – Satiriker, wissenschaftlicher Publizist. M. war Berufssoldat, zunächst Fähnrich, dann, seit 1775, Leutnant bei dem in Göt-
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tingen stationierten Chur-Hannoverischen Infanterieregiment Sachsen-Gotha, hielt Ende der 1770er Jahre aber auch geografischstatistische Vorlesungen an der Universität Göttingen. Kurzzeitiges lokales Aufsehen erlangten M.s insg. 13 satir. »Pröbgen«, die er in Fortsetzungen 1775/76 anonym u. d. T. Die neue Deutschheit nuniger Zeitverstreichungen in Göttingen erscheinen ließ (ges. Gött. 1776). Weil sich die ersten Folgen gegen die seinerzeit bes. von den Dichtern des Göttinger Hains gepflegte Bardendichtung wandten, vermutete man zunächst Lichtenberg, der diese ebenfalls angegriffen hatte, u. auch Kästner als Verfasser. Als satir. Mittel benutzte M., um die Deutschtümelei der Barden lächerlich zu machen, teilweise die niederdt. Sprache, was seinen Texten sprachhistor. Wert verleiht. In späteren Folgen seiner Neuen Deutschheit griff er, nicht sehr geschickt, Voltaire u. die Dichter des Sturm und Drang an. M.s gewichtigstes Werk sind seine Briefe über Rußland (2 Bde., Gött. 1778/79), die, im Stil des Empirismus seiner Zeit, auf subjektive Reiseschilderung ganz verzichten u. ein landeskundlich-statistisches Kompendium darstellen. Weitere Werke: Etwas zur richtigen Beurtheilung v. Palästina. Gött. 1773. – Lucilie u. Cleon oder die geprüfte Liebe. Eine Operette [...]. Von dem Verfasser der ›Neuen Deutschheit‹. Gött. 1776 (anonym). – Erläuterung der Freymäurerey. Aus dem Englischen [...]. o. O. [Gött.] 1776 (Übers.). Literatur: Goedeke 4, 1, S. 1092; 7, S. 565. Uta Schäfer-Richter / Red.
Meyer, Joseph, * 9.5.1796 Gotha, † 23.6. 1856 Hildburghausen; Grabstätte: ebd. – Verleger, Publizist. Der Sohn eines Schuhmachermeisters erlernte in Frankfurt/M. den Kaufmannsberuf u. ging nach kurzer Tätigkeit im aufblühenden väterl. Betrieb 1816 für drei Jahre nach London. Seine Spekulationsgeschäfte führten zum Ruin des Vaters († 1823); M.s »Gewerbsund Hülfsanstalt« für verarmte Weber ging 1822 bankrott. In Gotha publizierte er das »Correspondenzblatt für Kaufleute« (ab 1824) u. dt. Bearbeitungen einiger Shake-
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speare-Dramen u. Scott-Romane. Die belletrist. Zeitschrift »Meyer’s British Chronicle« (ab 1825) u. das »Handbuch für Kaufleute« (Gotha 1825; beide im Eigenverlag) folgten. Der Erfolg des von M. in Deutschland eingeführten Subskriptionswesens führte 1826 zur Gründung des »Bibliographischen Instituts« (Gotha. 1828–1874: Hildburghausen), das erstmals Reihen, u. a. dt. Klassiker, in Auflagen von mehreren 100.000 Exemplaren herausbrachte. Nach dem Verbot seiner liberalen Zeitung »Der Volksfreund« (Hildburghausen ab 1830) gab er ab 1833 das period. Bilderwerk »Meyer’s Universum« heraus, während der Restauration ein repräsentatives Organ der bürgerl. Gedanken- u. Empfindungswelt von internat. Ruf. 1839–1855 erschien auch die erste Auflage von Meyer’s Großem Konversationslexikon (52 Bde.). Ab 1837 engagierte sich M. für den Ausbau des dt. Eisenbahnnetzes u. den Aufbau von Industrien. Er scheiterte mit diesen Unternehmungen aufgrund seines Engagements für die 48er-Revolution, das ihn kurze Zeit wegen »Preßvergehen« in Haft brachte. Nur der Verlag konnte gerettet werden u. wurde nach M.s Tod von seinem Sohn Herrmann Julius zur Blüte gebracht. Dieter Löffler / Red.
Meyer, Nicolaus, auch: von Corti, N. Langbein, Victor, * 29.12.1775 Bremen, † 26.2.1855 Minden. – Lyriker, Erzähler; Briefpartner Goethes; Redakteur.
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Mitbegründer der Westphälischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. M.s literar. Arbeit begann, von Gelegenheitslyrik abgesehen, mit Tiefurth, eine Phantasie (Jena 1801). In Bremen wurden sein Neujahrsfestspiel Die Werbung (1801), die Posse Die lustigen Musikanten (1802; beide offenbar verschollen) u. Schillers Todtenfeyer (Bremen 1806) aufgeführt. Gedichte u. Verserzählungen erschienen in mehreren Teilbänden u. d. T. Blüthen (Bremen 1804). Das letzte umfangreichere Werk ist Lenore, ein Roman nach der Bürger’schen Ballade (Lpz. 1830). Literarisch wirksam war M. v. a. als Herausgeber des 1817 von Leopold von Hohenhausen gegründeten »Mindener Sonntagsblattes« (»zur Belehrung und Unterhaltung aus dem Gebiete des Schönen und Nützlichen«), das er noch im selben Jahr übernahm u. bis 1853 fortführte. Darin veröffentlichte er u. a. Arbeiten Hoffmanns von Fallersleben, der Droste, Heines, Freiligraths u. Levin Schückings. Weitere Werke: Bardale. Gedichte aus der Zeit des Krieges für die dt. Freiheit 1813, 1814. Bremen 1814. – Sechs neue hanseat. Jägerlieder zum Feldzug 1814. Bremen 1814. – N. M. u. Ernst Friedrich Mooyer (Hg.): Altdt. Dichtungen. Quedlinb./Lpz. 1833. – Etwa 90 Briefe an Goethe im GSA. Literatur: Karl Knebel: N. M. als Freund Goethes u. Förderer des geistigen Lebens in Westfalen. Diss. Münster 1908. – Hans Kasten (Hg.): Goethes Bremer Freund Dr. N. M. Briefw. [...]. Bremen 1926 (mit Bibliogr.). – Hans Nordsiek: N. M. (1775–1855) u. das kulturelle Leben in Minden. In: Zwischen Dom u. Rathaus. Beiträge zur Kunst u. Kulturgesch. der Stadt Minden. Hg. ders. Minden 1977, S. 249–268. – Werner Bellmann: Zur Wirkungsgesch. v. Brentanos ›Lustigen Musikanten‹. In: JbFDH (1981), S. 338–342. – Westf. Autorenlex., S. 283–287 (mit Werkverz.).
Der Vater, Juraprofessor am Bremer Gymnasium Illustre, starb schon 1782. M. erhielt von Friedrich Adolf Krummacher Privatunterricht, besuchte vom 14. Lebensjahr an das Athenaeum in Bremen, vom 16. an das Reinhard Vogelsang / Red. Gymnasium in Halle/Saale. Dort begann er 1793 sein Medizinstudium, setzte es 1794 in Kiel u. 1798 in Jena fort. Er gewann bei BeMeyer, Rahel, geb. Weiß, * 11.3.1806 suchen in Weimar durch seine literar. u. naDanzig, † 8.2.1874 Berlin. – Prosa-Autoturwiss. Interessen Goethes Vertrauen, worrin. aus sich ein umfangreicher Briefwechsel mit diesem, mit Christiane Vulpius u. beider M., geb. Weiß, wuchs in einem jüd. KaufSohn August entwickelte. Nach der Promoti- mannshaushalt in Danzig auf; nach dem on in Jena u. verschiedenen Reisen ließ sich Tode ihrer älteren Schwester Friederike heiM. 1802 als Arzt in Bremen nieder; er wech- ratete sie ihren Schwager, einen Bernsteinselte 1809 nach Minden. Hier war er 1825 händler. Ihr erster Roman, Zwei Schwestern
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(Bln. 1853), trägt deutlich autobiogr. Züge; er feiert Familienzusammenhalt u. die auf Glaubenstreue basierende Integrität der jüd. Gemeinschaft. Bis zu ihrem letzten Roman, In Banden frei (Bln. 1865), propagierte M. gegen die Versuchungen der Assimilation u. Konversion, aber auch gegen jüd. Orthodoxie u. Selbstisolation die Vereinbarkeit von weiblicher Existenz in bürgerlichem Rahmen mit der Treue zu jüd. Tradition u. Glaubensvorschrift. Bes. der dreibändige Roman In Banden frei ist gesättigt mit Anspielungen auf zeitgeschichtl. Ereignisse u. Persönlichkeiten von der Franzosenzeit mit ihren Emanzipationshoffnungen für die jüd. Gemeinschaft bis zu der gesellschaftl. Szene im vormärzl. Berlin. Dabei neigt M. oft zur Sentimentalität u. zum didakt. Vortrag ihrer Botschaft. Eines ihrer Werke wurde (als einziger Text einer Frau) in die Schriftenreihe des Instituts zur Förderung der israelitischen Literatur aufgenommen. Ab 1852 lebte M. in Wien, wo sie in den bürgerlich-jüd. Kreisen um Leopold Kompert u. Salomon von Mosenthal verkehrte; ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie in Berlin. Weitere Werke: Rahel. Bln. 1859. – Wider die Natur. Bln. 1862. Literatur: Meyer Kayserling: Die jüd. Frauen in der Gesch., Lit. u. Kunst. Lpz. 1878, S. 248–253. – Nahida Remy: Das jüd. Weib. Lpz. 1892, S. 262–265. – Florian Krobb: Spiegelungen der Salonepoche in der dt. Lit. des 19. Jh. In: Menora. Jb. für dt.-jüd. Gesch. 1995, S. 127–132. – MLdjL. – Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. Gudrun LosterSchneider u. Gaby Pailer. Tüb. 2006, S. 295–298. Florian Krobb
Meyer, Richard Moritz, * 5.7.1860 Berlin, † 8.10.1914 Berlin. – Philologe u. Literarhistoriker. Der Sohn eines jüd. Bankiers war neben Erich Schmidt der wichtigste Schüler Wilhelm Scherers, dessen Poetik-Vorlesungen er postum herausgab (Bln. 1888. Neudr. Hildesh. 1975). Meyers umfangreiches wiss. Œuvre umfasst die Altgermanische Religionsgeschichte (Lpz. 1910. Neudr. Essen 1986) wie die neuere Literaturgeschichte. Seine erfolgreichsten Werke sind die Goethe-Biografie (Bln. 1895) u.
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die Deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts (Bln. 1900). M.s große Verdienste als Theoretiker u. Didaktiker der Literaturwissenschaft in der Nachfolge Scherers werden neuerdings wieder deutlicher wahrgenommen. Ein kleiner Teil seiner theoret. Abhandlungen ist in dem Sammelband Gestalten und Probleme (Bln. 1905) zusammengefasst. M. zeigte sich stets an der Gegenwartsliteratur interessiert u. wies früh auf das Werk Georges hin. Für einen Philologen damals ungewöhnlich, verfasste er eine der ersten Nietzsche-Biografien (Nietzsche. Sein Leben und seine Werke. Mchn. 1913). Trotz herausragender wiss. Leistungen wurde ihm zeitlebens ein Lehrstuhl verweigert; seit 1901 war er a. o. Prof. in Berlin. Weitere Werke: Dt. Charaktere. Bln. 1897. – Grundriß der neuern dt. Literaturgesch. Bln. 1902. – Dt. Stilistik. Mchn. 1906. – Anleitung zur dt. Lektüre. Bln. 1914. – Literarhistor. u. biogr. Aufsätze. 2 Bde., Bln. 1927. Literatur: Roland Berbig: ›Poesieprofessor‹ u. ›literarischer Ehrabschneider‹. Der Berliner Literaturhistoriker R. M. M. Mit Dokumenten. In: Berliner H.e 1 (1996), S. 37–99. – Hans-Harald Müller: ›Ich habe nie etwas anderes sein wollen als ein deutscher Philolog aus Scherers Schule.‹ Hinweise auf R. M. M. In: Jüd. Intellektuelle u. die Philologien in Dtschld. 1871–1933. Hg. Wilfried Barner u. Christoph König. Gött. 2001, S. 93–102. – H.-H. Müller: R. M. M. – ein Repräsentant der SchererSchule. In: Übers. u. Literaturwiss. [...]. Hg. Per Øhrgaard u. C. König. Bern u. a. 2003, S. 225–230. Hans-Martin Kruckis
Meyer-Clason, Curt, * 19.9.1910 Ludwigsburg. – Prosaschriftsteller, Übersetzer. M. besuchte ohne Abschluss das EberhardLudwigs-Gymnasium in Stuttgart, absolvierte dort u. in Bremen Ausbildungen bei einer Bank u. als Kaufmann. Ab 1937 vertrat er eine nordamerikan. Baumwollfirma in Frankreich, Brasilien u. Argentinien. Wegen angeblicher Spionage für das Deutsche Reich wurde er 1942 zu 20 Jahren Haft verurteilt u. verbrachte die Zeit bis zur Aufhebung des Urteils 1947 auf der brasilian. Gefängnisinsel Ilha Grande. Seine tatsächl. Rolle vor der Verhaftung wird unterschiedlich beurteilt. Während seiner Haft entdeckte er seine Liebe
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zur brasilian. Kultur u. zum Übersetzen, die Sein eigenes schriftstellerisches Werk war ihn mit seiner großbürgerl. Herkunft bre- bislang nicht Gegenstand intensiverer wiss. chen ließ. Darüber berichten der von der Untersuchung. Kritik eher zurückhaltend aufgenommene Weitere Werke: Erstens die Freiheit. Tgb. einer autobiogr. Roman Äquator (Bergisch Gladbach Reise durch Argentinien u. Brasilien. Wuppertal 1986) sowie der Essay Ilha Grande (Wien u. a. 1978. – Die Menschen sterben nicht, sie werden 1998). Seit 1954 arbeitete M. als freier Lektor, verzaubert. Mchn./Zürich 1990 (Autorenporträts). Literatur: Dieter Strauss: Die Sprache der AkAutor u. Übersetzer von München aus, ehe er von 1969 bis zum Erreichen des Ruhestands ten. C. M. – ein Nazi-Agent? In: NZZ, 18.2.1998, 1976 das Goethe-Institut in Lissabon leitete. S. 47. – Hans-Martin Gauger: Stilist mit Verve. C. Literarischer Ertrag dieser Zeit waren die M. wird neunzig. In: FAZ, 19.9.2000, S. 57. Volker Hartmann mehrfach veröffentlichten Portugiesischen Tagebücher (Königst. 1979). Es folgten Bände mit Erzählungen u. Kurzgeschichten (Unterwegs. Meyer-Eckhardt, Viktor, eigentl.: V. Bergisch Gladbach 1989. Der Unbekannte. Meyer, * 22.9.1889 Hüsten/Westfalen, Mchn. 1999. Bin gleich wieder da. Weitra 2000). † 2.9.1952 Breyell/Niederrhein. – Lyriker, Größte Verdienste erwarb sich M. durch Erzähler, Übersetzer. seine Übersetzungstätigkeit. Von ihm stammen Übertragungen aus dem Französischen M., Sohn eines Kunstmalers, studierte Lite(u. a. Elie Wiesel), Englischen (u. a. Brendan raturgeschichte, Philosophie u. Französisch. Behan, Isaiah Berlin, Robert Lowell, Vladimir Nach dem Ersten Weltkrieg war er BiblioNabokov), Italienischen (Alberto Moravia) u. thekar, unternahm ausgedehnte Reisen, oft Spanischen (u. a. Augusto Roa Bastos, Jorge zu Fuß, durch Italien, Griechenland u. den Luis Borges, Gabriel García Márquez). Doch Vorderen Orient. Ab 1923 lebte er als freier waren es v. a. portugiesisch schreibende Au- Schriftsteller in Leutherheide. Seinem Famitoren, bes. auch aus Brasilien, die durch M.s liennamen fügte er in Veröffentlichungen Vermittlungstätigkeit im dt. Sprachraum den Geburtsnamen der Mutter, Eckhardt, heimisch wurden. Dazu zählen Jorge Amado, hinzu. Carlos Drummond de Andrade, Joaquim In konservativer Haltung setzte M. der liMaria de Assis, José Maria Eça de Queiroz, terar. Moderne eine formstrenge, inhaltlich João Guimarães Rosa u. Clarice Lispector. jedoch ekstatisch-myst. Lyrik entgegen; im Zahlreich sind die von M. herausgegeben Literaturbetrieb blieb er Außenseiter. Formal Anthologien (Die Reiher und andere brasiliani- lehnte er sich zunächst an Goethe, Hölderlin, sche Erzählungen. Herrenalb 1972. Der Gott der Nietzsche, in seinem Spätwerk an Homer, Seefahrer und andere portugiesische Erzählungen. Aischylos u. Shakespeare an. Mütterlichkeit Tüb./Basel 1972. Brasilianische Poesie des 20. u. allbeherrschendes Daimonion waren M.s Jahrhunderts. Mchn. 1975. Unsere Freunde die Themen in der Lyrik (Dionysos. Jena 1924. Das Diktatoren. Lateinamerikanische Schriftsteller Marienleben. Jena 1927), geschichtliche Epoheute. Prosa, Essays, Poesie. Mchn. 1980. Latein- chen (bes. die Zeit der Französischen Revoamerikaner über Europa. Ffm. 1987. Lyrik aus lution) die seiner Novellen u. Romane. In der Lateinamerika. Mchn. 1988. Portugiesische Lyrik Novelle Der Graf Mirabeau (Bln. 1940) soll des 20. Jahrhunderts. Mchn. 1993. Portugiesische durch den Versuch, eine konstitutionelle Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Freib. i. Br. Monarchie zu errichten, eine Revolution 1997). verhindert werden. Zyklisch angelegt sind M. wurde vielfach geehrt (u. a. Bundesver- die 21 Geschichten Menschen im Feuer (Bln. dienstkreuz 1. Klasse 1972, Übersetzerpreis 1939), die die Entwicklung abendländ. Geisder Deutschen Akademie für Sprache und tesgeschichte anhand von Einzelschicksalen Dichtung Darmstadt 1976, Übersetzerpreis nachzuzeichnen versuchen. Biografie des des Kulturkreises im Bundesverband der Stauferkaisers Friedrich II. u. zgl. EpochenDeutschen Industrie 1980, Übersetzerpreis bild ist die Romantrilogie Der Herr des Endes der Nationalbibliothek Rio de Janeiro 1985). (Düsseld. 1948).
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Weitere Werke: Das Vergehen des Paul Wendelin. Braunschw. 1922 (N.). – Das Glückshündlein v. Adana. Bln. 1935 (E.). – Stern über dem Chaos. Lpz. 1936 (N.n). – Orpheus. Bln. 1939 (L.). – Die Zecher v. Famagusta. Bln. 1940 (E.en). – Über die Erkenntnis der Formen. Düsseld. 1946 (Ess.). Christian Schwarz / Red.
Meyer-Förster, Wilhelm, auch: Samar Gregorow, * 12.6.1862 Hannover, † 17.3. 1934 Berlin. – Erzähler u. Dramatiker. Nach dem Rechts-, dann Kunstgeschichtsstudium lebte der Buchhändlerssohn von 1890 bis 1898 in Paris, danach in Berlin. Der Unterhaltungsautor M. fand anfangs als Erzähler (das bekannteste Pseud. Medings abwandelnd) Beachtung (Die Saxo-Saxonen. Bln. 1885. Elschen auf der Universität. Bremen 1886) u. erzielte mit Alt-Heidelberg (Bln. 1903), einer Dramatisierung seines Romans Karl Heinrich (Bln. 1899), einen sensationellen Dauererfolg. Von der Beliebtheit der gerade modischen Studentendramen profitierend, traf er den Geschmack eines internat. Publikums; Lubitsch drehte 1927 seine Filmversion The Student Prince. Alt-Heidelberg wurde zum Inbegriff des harmlos unterhaltenden Genrestücks, in dem Untertanenmentalität, standesbedingt unerfüllte Liebesromanze, Lob der »Goldenen Zeit« u. Burschenherrlichkeit das Bedürfnis nach unkritischer, rührender Operettenwelt bedienten. Weitere Werke: Die Fahrt um die Erde. Stgt. 1897 (R.). – Alltagsleute. Stgt. 1898 (R.). – Durchlaucht v. Gleichenberg. Stgt. 1923 (R.). Literatur: Bertolt Brecht: Schr.en zum Theater. Bd. 1, Ffm. 1963, S. 30 f. – Oliver Fink: ›Memories vom Glück‹. Wie der Erinnerungsort Alt-Heidelberg erfunden, gepflegt u. bekämpft wurde. Hbg. u. a. 2002. Wolfgang Weismantel / Red.
Meyer-Wehlack, Benno, * 17.1.1928 Stettin. – Hör- u. Fernsehspielautor, Erzähler. M. ist in Stettin, Kiel u. Berlin aufgewachsen. Er fühlte sich früh zum Theater hingezogen u. lernte als Jugendlicher Jürgen Fehling u. Gerhart Hauptmann kennen. Nach dem Zweiten Weltkrieg als Platzanweiser, Schauspieler u. Regieassistent arbeitend, lebt M.
nach einer Tätigkeit als Fernsehspieldramaturg beim SWF u. beim SFB seit Ende der 1960er Jahre als freier Schriftsteller in Berlin. 1966/67 lehrte er Dramaturgie an der dortigen Film- und Fernsehakademie. Bekannt wurde M., dessen erste Kurzgeschichten u. Hörspiele Mitte der 1950er Jahre entstanden, v. a. mit den beiden Hörspielen Die Grenze (NWDR 1955) u. Die Versuchung (NDR 1957. Mchn. 1958). Für Die Versuchung erhielt er 1958 den Hörspielpreis der Kriegsblinden: Ein junger Arbeitsloser kommt mit einem alten Angler am Ufer eines Flusses ins Gespräch. Als eine Leiche angetrieben wird, in deren Taschen sich viel Geld findet, stellt sich für den jungen Mann die Frage, ob er das Geld behalten u. seinen neuen Bekannten zum Komplizen machen darf. Das 1968/69 entstandene Fernsehspiel Ein Vogel bin ich nicht (SDR 1971) erschien in einer revidierten Fassung u. d. T. Modderkrebse. Stück über einen Bau (zus. mit Irena Vrkljan. Bln. 1971) als Buch. Ausgefallene Themen u. an Borchert orientierter poet. Realismus kennzeichnen auch die späteren Arbeiten M.s. Neben weiteren Hör- u. Fernsehspielen sind hier v. a. drei autobiogr. Texte zu nennen, die in eigentümlich hektischem Erzählstil Berliner Kindheitserfahrungen aus der NS- u. Kriegszeit schildern (Das Kinokind. Mit Linolschnitten v. Klaus Hohlfeld. Bln. 1980. Das Theaterkind. 1938–46. Mit 6 Farblinolschnitten v. K. Hohlfeld. Bln. 1984. Das Lesekind. In: L ’80, Nr. 37, 1986, S. 54–71). Motivisch in derselben Gegend wie Die Versuchung ist das Hörspiel Noch wie immer (SWR 2001) angesiedelt, in dem ein seit Langem zusammenlebendes Berliner Paar in einer sich verändernden Umwelt seinen Lebensspuren nachgeht. Um »Belege des Vergangenen oder Fortwirkenden« geht es in dem Roman Ernestine geht (Salzb./Wien 2003). M. ist Mitgl. des P.E.N.-Zentrums u. der Berliner Akademie der Künste, Sektion Filmund Medienkunst. Zus. mit seiner Ehefrau Irena Vrkljan hat er aus dem Kroatischen u. Serbischen übersetzt, u. a. den »Jahrhundertroman« Bel tempo (Bln. 1998) von Bora C´osic´.
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217 Weitere Werke: Ulla oder die Flucht in die schwarzen Wälder. ZDF 1974 (Fernsehsp.). – Die Frau in Blau. SDR 1981 (Hörsp.). – Pflastermusik. Gesch.n in Berlin u. anderswo. Mit sechs Linolschnitten v. Klaus Hohlfeld. Ffm./Bln./Wien 1982. – Und Pony singt. SFB 1990 (Hörsp.). – Das fliehende Kind. SWF 1995 (Hörsp.). – Der alte Mann u. das Stilleben. SWR 1999 (Hörsp.). – Sirovay Träume. WDR 2004 (Hörsp., zus. mit Irena Vrkljan). – An der Bordsteinkante. SWR 2006 (Hörsp.). – Marcus Behmer, B. M.: Schmale windige Zeiten. Ein Briefw. Mit einer Radierung v. Horst Hussel, drei Originalradierungen v. M. Behmer u. einem Text v. B. M. Ausgew. v. I. Vrkljan. Bln. 2006. – Hinter dem Zaun wuchs Rhabarber. Zeitungsgesch.n. Mit vier Radierungen v. H. Hussel u. einem Nachw. v. Erich Kuby. Bln. 2008. Literatur: Reclams Hörspielführer. Hg. Heinz Schwitzke. Stgt. 1969, S. 430–435. Peter König / Bruno Jahn
Meyer-Wehlack, Irena ! Vrkljan, Irena Meyern, Meyer, Mayer(n), Wilhelm Friedrich von (selbst angenommen), * 26.1. 1759 Freudenbach bei Creglingen, † 13.5. 1829 Frankfurt/Main. – Soldat, Romanautor, Dramatiker.
ter der fingierten Herausgeberschaft u. siedelt seine Handlung in einem fantast. Orient längst vergangener Zeiten an. Er erzählt von der Gründung eines Staats utop. Prägung. Das Volk ist für die Neuerungen nicht reif u. verjagt die Reformer, in einer letzten Schlacht fällt der Titelheld Dya. Das durch männerbündlerischen Militarismus u. Nationalismus bestimmte polit. Ideal des Textes – ein Element des Fürstenspiegel-Romans seit Xenophons Kyrupaideia – wirkte fatal bis ins 20. Jh. weiter. Schiller besprach 1788 den ersten Band des Romans unfreundlich, Arno Schmidt machte 1958 wieder auf ihn aufmerksam. Weitere Werke: Die Ruinen am Bergsee. Züllichau 1795. – Die Regentschaft. Züllichau 1795 (Trauersp.). – Hinterlassene kleine Schr.en. Hg. Ernst v. Feuchtersleben. 3 Bde., Wien 1842. Literatur: Editha Narath: F. W. v. M.s dichter. Lebenswerk. Unter bes. Berücksichtigung des Romans ›Dya-Na-Sore‹. Diss. Wien 1934. – Arno Schmidt: Dya na sore. In: Ders.: Dya na sore. Gespräche in einer Bibl. Karlsr. 1958, S. 14–53. – Günter de Bruyn: Taten u. Tugenden. M. u. sein dt. Revolutionsmodell. In: ›Dya-Na-Sore‹. Ffm. 1979, S. 935–973. – Wolfgang Griep: Abdul Erzerums neue pers. Briefe [...]. In: Die österr. Lit. Ihr Profil an der Wende vom 18. zum 19. Jh. Hg. Herbert Zeman. Tl. 2, Graz 1979, S. 805–828. – Claudia Michels: Idealstaat ohne Volk. Die skept. Utopie des F. v. M. Stgt. u. a. 1999. Wolfgang Biesterfeld / Red.
M., Sohn eines Zollbeamten, studierte in Altdorf u. Jena Jura u. Geografie. 1783–1786 war er in der österr. Armee bei der Artillerie. Er unternahm Reisen nach England, Italien, Griechenland, Sizilien u. in die Türkei, ging 1809 wieder in die Armee (bis 1812), wurde Meyfart, Johann Matthäus, * 9.11.1590 Hauptmann u. organisierte Landwehr u. Jena, † 26.1.1642 Erfurt. – Lutherischer Landsturm; zuletzt war er für Österreich in Theologe, Pädagoge, Rhetoriker. der Militärkommission der Bundesversammlung in Frankfurt tätig. Über die Biografie Als Sohn eines luth. Theologen wuchs M. in des zurückgezogen u. asketisch lebenden M. der von der Reformation geprägten kleinliegen nur wenige Informationen vor; ein städt. Welt Thüringens auf. Das Gymnasium großer Teil seiner Manuskripte gilt als ver- besuchte er in Gotha u. machte sich dabei loren. Wolfgang Griep hat M. als Verfasser vertraut mit der akadem. Literatur (Edition u. des Romans Abdul Erzerums neue persische Briefe Kommentare antiker Autoren, Deklamati(nur Tl. 1 ersch., Wien/Lpz. 1787) vermutet. onsschrifttum). Sie wurde hier namentlich M.s bekanntestes Werk, der Roman Dya-Na- von den publizistisch regen Gelehrten AnSore, oder die Wanderer. Eine Geschichte aus dem dreas Wilcke u. Johann Weitz in der Tradition Samskritt [!] übersezt (3 Bde., Wien/Lpz. des Melanchthon’schen Humanismus ge1787–91. Neudr. Ffm. 1979. Bd. 1: 21791. 5 pflegt. In Jena begann M. sein Studium Bde., Lpz. 1800. Hg. Ernst v. Feuchtersleben: (Herbst 1608). Unter den hier wirkenden 5 Bde., Wien 31840/41), in den späteren Auf- Professoren schloss er sich bes. an Wolfgang lagen stark erweitert, arbeitet mit dem Mus- Heider an. Heider hielt viel beachtete Reden
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u. interessierte sich bes. für die »philosophia practica«. In seinen sozial- u. politikwiss. Werken, grundsätzlich aristotelisch orientiert, vertrat er eine ständestaatlich gedachte Monarchie. Nach dem Erwerb der Magisterwürde (1623) wandte sich M. der Theologie zu, vorerst ganz im Sog der konfessionellen Polemik u. der akadem. Disputationstechnik. Sie fand in Albert Grauer (Grawerus) derzeit einen bes. rüstigen Vertreter. Auch M. veröffentlichte bis 1627 mehrere Streitschriften. Hier ging es nicht nur um den Kampf gegen die führenden Jesuiten, sondern auch um die Abwehr häret. Strömungen, etwa der Sozinianer (dazu M. in seinen voluminösen Meletemata theologica. Coburg 1623). Verlangt waren auf diesem Sektor gründl. Bibelkenntnis u. die Beherrschung der kontroversen Dialektik. Sattelfest mussten die dogmat. Grundlinien verteidigt werden. Sie waren – wegweisend für die nächsten 200 Jahre – von Leonhard Hutter festgeschrieben (Compendium locorum theologicorum, 1610). Er lehrte an der Universität Wittenberg, wo sich M. am 2.8.1614 immatrikulieren ließ. Freilich kehrte er alsbald krank u. ausgehungert in sein Elternhaus zurück (Winter 1615/16), konnte sich dann mit der Stelle eines Lehrgehilfen (Adjunkten) an der Universität Jena über Wasser halten (1616). In diese Zeit fallen die ersten Symptome einer endogenen Depression (»Melancholia hypochondriaca«), die M. immer wieder heimsuchte u. deutl. Spuren in seinem Werk hinterlassen hat. Es folgten die sog. Coburger Jahre. M. wurde zum Professor am dortigen Akademischen Gymnasium (1617), bald sogar zum Direktor dieses renommierten Instituts ernannt (1623). Herzog Johann Casimir legte Wert auf seine Landesschule, sorgte auch dafür, dass der neue Direktor in Jena den theolog. Doktorgrad erwerben konnte (1624). Ansonsten gebärdete sich der Landesherr jedoch nicht selten als launischer u. zügelloser Despot. M. beobachtete die Symptome u. Rücksichtslosigkeiten des fürstl. Regiments, sah das Elend der von Kriegsnöten, Seuchen u. Hungersnot heimgesuchten Bevölkerung, nicht zuletzt auch den Verfall der kirchl. u. akadem. Zucht. In zwei Disputationen De di-
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sciplina ecclesiastica (1633) kritisierte er das Verhalten der Geistlichkeit. Getroffen fühlte sich v. a. der Generalsuperintendent u. Hofprediger, ein Figurentypus, den M. wiederholt in seinen Schriften aufs Korn nahm. Der Vorwurf der Majestätsbeleidigung blieb nicht aus. Dies zumal angesichts einer Schrift, die zwar vordergründig nur Missstände des luth. Universitätswesens behandelte, daran anknüpfend aber auswuchs zu einer schneidenden Abrechnung mit der fürstenstaatl. Religions- u. Kulturpolitik: Christliche Erinnerung von der auß den Evangelischen Hohen Schulen in Teutschland [...] entwichenen Ordnungen und Erbaren Sitten und bey diesen elenden Zeiten eingeschlichenen Barbareyen (Schleusingen 1636). Unbefangen verwendete M. hier kath. Schrifttum, hielt sich auch an die von Johann Arndt formulierten Reformansätze im Sinne eines »wahren Christentums«. M. wurde wegen seiner öffentl. Kritik hart attackiert, sah man doch die Gefahr, dass durch die Verwendung der Muttersprache sogar der »gemeine Mann« aufgereizt werde. Während der Coburger Jahre betätigte sich M. unermüdlich als Schriftsteller. Er fühlte sich dabei in der Rolle eines die Gebrechen seiner Zeit anklagenden Propheten, dies nicht zuletzt in zahlreichen Predigten. Hier wandte er die bibl. Geschichten unbefangen auf seine eigene Gegenwart an. Bußmahnungen (Tuba poenitentiae prophetica. Das ist / Das dritte Capitel des Bußpropheten Jonae / in fünff unterschiedlichen Predigten. Coburg 1625) wurden bekräftigt in der furchterweckenden Vergegenwärtigung des Jüngsten Gerichts (Tuba novissima, Das ist / Von den vier letzten dingen des Menschen. Coburg 1626. Nachdr. hg. v. Erich Trunz. Tüb. 1980). Kompromisslos kündigte er an, dass bes. die höheren Stände von den Höllenstrafen betroffen würden. Seine fantasievolle Vision künftiger Vergeltung richtete sich auch gegen »die Finantzer / welche das Armuth aussaugen / bis aufs Bluth / und mit ihrem teufelischen Wucher den Schweiß der Dürfftigen an sich bringen«. Im Dogmatischen blieb M. jederzeit korrekt u. hielt sich von Einflüssen der Mystik frei. Immer wieder griff er zurück auf die Loci theologici des berühmten Theologen Johann Gerhard, den er im Sommersemester 1616 noch in Jena gehört hatte, – zus.
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mit dem späteren Nürnberger Prediger Johann Saubert, mit dem M. lebenslang im freundschaftl. Kontakt verblieb. Was in zykl. Predigten vorgetragen war, baute M. alsbald zu kompendiösen Erbauungsschriften aus, zu seiner sog. »eschatologischen Trilogie«, die den Zustand der Seele vor u. nach der Auferstehung der Toten ausmalte. Daneben wurde auch die geistl. u. weltl. Vokalmusik gepflegt (bekannt wurde M.s Lied Jerusalem, du hochgebaute Stadt), auch galt es, die Pflichten des akadem. Amtes wahrzunehmen (Schuldramen, Festreden, lat. Gelegenheitsdichtung). M. beherrschte das Lehrsystem der Rhetorik u. die Überlieferung der humanist. »Oationes«, in denen die Selbstdeutung von Kirche, Staat, Wissenschaft sowie die Aufgaben der Lehrenden u. Lernenden repräsentativ zur Sprache kamen. Natürlich war darin einbegriffen auch die Vorbereitung der künftigen Prediger. M. publizierte ein mehrteiliges Handbuch für den lat. Orator (Mellificium oratorium. 3 Bde., Lpz. 1628. 1633. 1637), verfasste daneben in kulturpatriotischer Absicht jedoch auch eine Teutsche Rhetorica / Oder Redekunst (Coburg 1634. Nachdr. hg. v. E. Trunz. Tüb. 1977). M. dachte, antike u. humanist. Exempel einbeziehend, an die verschiedenen Redeanlässe in Kirche u. Staat. Er behandelte nicht die Technik gedanklicher »inventio«, sondern beschränkte sich – unter dem Einfluss des Ramismus? – auf die Stilistik (Lehre von den rhetor. Figuren). Ihm kam es darauf an, für die angestrebte »Zierlichkeit« der dt. Sprache fassbare Regeln an die Hand zu geben. Dabei bewies er eine außerordentl. Sensibilität für rhythm. u. klangl. Wirkungen (»Eine künstliche Rede ist eine heimliche Harmoney oder Musica...«). In der Entwicklung der dt. Kunstprosa war dieses Werk ein erster Durchbruch zu einer Theorie muttersprachl. Kompetenz, die M. in seinen erbaul. Schriften auch praktisch – im Bemühen um eine klassizist. Konzinnität u. Architektonik des Satzbaus – unter Beweis stellte. Berühmter noch als durch diese literaturgeschichtlich bedeutsamen Werke wurde M. – bis hin zu Thomasius – durch seinen Kampf gegen die Hexenverfolgungen. In Coburg hatte er Unmenschliches mitansehen müssen.
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Die in vielen Köpfen ausgetüftelte Dämonologie der Zeit war ihm bekannt, jedoch auch die anonym erschienene, von dem Jesuiten Friedrich von Spee stammende Cautio Criminalis (1631). M. wagte es, in dt. Sprache unter seinem Namen das eigene Erleben ins Feld zu führen. An den dogmat. Fundamenten der Hexenlehre war nicht zu rütteln, doch konnte sich M. gegen die Willkür der Regenten u. Inquisitoren wenden, gegen die Fragwürdigkeit der auf der Folter erpressten Geständnisse, gegen das Leiden Unschuldiger, für deren Fantasien eher der Arzt als der Hexenrichter zuständig war. M. schrieb ein sehr persönl. u. bewegendes Buch, betroffen von dem Gebot »Errette die / so man tödten wil / und entzeuch dich nicht denen / die man würgen wil«. Als diese Christliche Erinnerung [...] wie das abschewliche Laster der Hexerey [...] auszurotten, aber in Verfolgung desselbigen auff Cantzeln und in Gerichtsheusern sehr bescheidentlich zu handeln sey erstmals erschien (Schleusingen 1635. Halle 1703), war M. mittlerweile zum Rektor der Universität Erfurt berufen worden (1634). Er erfuhr den Schrecken der um sich greifenden Pest, das wechselnde Kriegsglück u. die gerade in Erfurt zeitweise chaotischen Machtkonstellationen. Predigten, Disputationen, Didaktisches hielten M. in Atem; in den Vordergrund trat nun das Plädoyer für einen Ausgleich zwischen den protestant. Parteien. Dass sich M. in dieser Zeit auch ausführlich mit dem pädagog. Reformprogramm des Ratichius auseinandersetzte, bezeugt die bleibende Offenheit dieses Theologen für die gesellschaftl. Probleme seiner Zeit. Weitere Werke: Prodromus elucidarii theologici. Coburg 1620. – Suscitabulum clericorum. Coburg 1622. – Grawerus continuatus sive Disputationum anti-jesuiticarum [...]. Bd. 2, Jena 1622. – Nodus gordus sophistarum. Coburg 1625. – Oratio panegyrica, De Causis, ex quibus fiat, quod ordo literarius [...] laboret invidia. Lpz. 1626. – Tuba novissima [...]. a. a. O. Nachdr. mit einem Anhang: Ausgew. Stücke aus M.s Schr.en. Hg. Erich Trunz. Tüb. 1980. – Anti-Becanus sive Manualis Controversiarum theologicarum [...] Confutatio. 2 Bde., Lpz. 1627. – Das Himml. Jerusalem. 2 Bde., Coburg 1627. Nürnb. 1630 u. ö. – Das erste (ander) Buch v. dem hellischen Sodoma. Coburg 1630. Nürnb. 1640 u. ö. – Das Jüngste Gericht in zweyen Büchern
Meylan [...] beschrieben. Nürnb. 1632. – Compendium geographiae. Coburg 1629. – Ephemerides gymnasticae. Nürnb. 1631. – Gedenck Predigt uber den [...] Todt des Großmächtigsten Helden v. Mitternacht (d.i. Gustav Adolf). Erfurt 1634. – Bildniß Eines waaren Studenten. Erfurt 1634. – Programma publicum in exequiis [...] Wolfgangi Ratichii, didactici. Erfurt 1635. – Dissertatio academica de concilianda pace inter ecclesias per Germaniam Evangelicas. Erfurt 1636. – Ein kurtzer [...] Ber. v. der Prediger u. Schuldiener Besoldung. Jena 1645. Literatur: Bibliografien: Erich Trunz in: Teutsche Rhetorica [...]. a. a. O., S. 13–25 des Anhangs. – Dünnhaupt 2. Aufl., Bd. 4, S. 2721–2750. – Weitere Titel: Christian Hallier: J. M. M. Diss. 1926. Teildr. 1928. Neumünster 1982. – Waldtraut-Ingeborg Sauer-Geppert: ›Jerusalem, du hochgebaute Stadt...‹. Ein quellenkrit. Vergleich. In: FS Fritz Tschirsch. Köln 1972, S. 249–263. – Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik u. Fürstenstaat. Tüb. 1982, S. 107–111 u. ö. – Dieter Wölfel: Die Krankheit v. J. M. M. In: Ztschr. für bayer. Kirchengesch. 52 (1983), S. 53–59. – Henry Francis Fullenwieder: Das ›Mellificium‹. Die ›Honigmanufaktur‹ als Anthologiegattung der nlat. Lit. In: Humanistica Lovaniensia 33 (1984), S. 135–144. – E. Trunz: J. M. M. Theologe u. Schriftsteller in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Mchn. 1987. – Hartmut Lehmann: Die Deutung der Endzeitzeichen in J. M. M.s ›Jüngstem Gericht‹. In: PuN 14 (1988), S. 13–24. – E. Trunz: M. In: NDB. – Johann Anselm Steiger: Rhetorica sacra seu biblica. J. M. M. (1590–1642) u. die Defizite der heutigen rhetor. Homiletik. In: ZThK 92 (1995), S. 517–558. – Dieter Breuer: Endzeitl. Ausblicke ins Himml. Jerusalem bei J. M. M., Angelus Silesius u. Martin v. Cochem. In: Morgen-Glantz 10 (2000), S. 67–94. – Italo Michele Battafarano: Didaxe in der Übers. M.s, Seiferts u. Schmidts Verdeutschungen v. Spees ›Cautio Criminalis‹ u. Knorrs v. Rosenroth Übers. v. Della Portas ›Magia Naturalis‹. In: Morgen-Glantz 12 (2002), S. 279–340. – Oliver Pfefferkorn: Imagination der ewigen Herrlichkeit. J. M. M. u. sein Buch ›Vom himmlischem Jerusalem‹. In: Euph. 97 (2003), S. 379–403. Wilhelm Kühlmann
Meylan, Elisabeth, * 14.6.1937 Basel. – Erzählerin u. Lyrikerin. Nach dem Besuch der Allgemeinen Gewerbeschule Basel u. dem Philologiestudium an der Universität Basel promovierte M. 1968 in Germanistik. Danach war sie als Lehrerin, Lektorin u. Redakteurin einer Konsumentenzeitschrift tätig. Von 1981 bis 1996 wirkte
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M. als Stiftungsrätin der Schweizerischen Schillerstiftung. Seit 1973 lebt sie als freie Schriftstellerin in Basel. Sie wurde 1976 mit dem Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet. Bereits im ersten Erzählband Räume, unmöbliert (Zürich 1972) entwirft M. die zentralen Themen ihres Werks: die Leere des Alltags, der Konsumdruck, die Verödung interpersonaler Kontakte, die moderne Stadt – all das als dem Menschen unbehagl. Realitäten, die erst mit Geist u. Wärme zu »möblieren« sind. Der Roman Die Dauer der Fassaden (Zürich 1975), M.s Spitzenleistung (in poln. Übers. Warschau 1979), bringt die literar. Darstellung einer in urbaner Landschaft situierten Dreiecksbeziehung, in der nur »Fassaden«, nicht aber feste Bindungen zustande gebracht werden. In ideeller u. formaler Anlage ist dieser Roman – so wie auch Bis zum Anbruch des Morgens (Zürich 1980) – Entwurf eines lyr. Psychogramms; M.s Art des Redens ist verhalten u. diskret. Ihr TextEgo spürt in sich, ohne plakatives Urteil u. vordergründige Erklärung, ein leises Klagen über Zweckbeziehungen, rein funktionalistisch orientierte Momente im menschl. Miteinander – v. a. zwischen Mann u. Frau. Die Erzählungen Zwischen Himmel und Hügel (Zürich 1989) zeigen individuelle Ansätze zu einem Aufbegehren gegen die erstickende Enge des Alltags. In der Lyrik setzt sich M. mit Motiven auseinander, die auch in ihrer Prosa angesprochen werden. Gemeint ist in erster Linie die Fremdheit des Ichs in einer sich rasch wandelnden Welt, die im Gedichtband Entwurf zu einer Ebene (Zürich 1973) als eine »Wand / aus Glas davor« metaphorisiert wird. Ein anderer bedeutender Topos in M.s Lyrik ist die Humanisierung der modernen Stadt. In der Sammlung Im Verlauf eines einzigen Tages (Zürich 1978) sieht sich das Subjekt in den städt. Raum integriert – »dieses Dröhnen, / das frühmorgens aus den Straßenschächten steigt«. M.s Alter Ego erliegt der »Unersättlichkeit« der Stadt, die als vielgestaltige Landschaft erscheint, zu Lebenshunger u. Wahrnehmungsrausch anregen kann. Es lässt sich von der strömenden Menschenmenge mit fortreißen u. fügt sich in diese ein: »Und ich mag diese Menge und mag auch / mein
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Verschwinden darin, / das Gefühl meiner Einmaligkeit, / das mit diesem Verschwinden verbunden ist.« In tieferen Schichten weist jedoch M.s Erfahrung der Stadt Risse auf. Zu dem Gefühl der Sicherheit u. Integration gesellt sich das der Angst vor dem »Eingeschlossensein« u. der Einengung. In ihren Gedichten reflektiert M. auch über das Schreiben selbst. Sie macht dem Leser das moderne Dichten als eine handwerkliche, dem Fiktiven abgeneigte Schreibpraxis bewusst – eine solche, in der »sich keine Geschichten mehr / ausdenken lassen und die Wirklichkeit / alles Erfundene verdrängt«. Weitere Werke: Die Unruhe im Innern des Denkmals. Zürich 1991 (G.e). – Das Ende v. Weinbergs Schweigen. Zürich 1992 (R.). – Die allernächsten Dinge. Zürich 1994 (G.e). – Zimmerflucht. Zürich 1997 (E.en). Guido Stefani / Zygmunt Mielczarek
Meyr, Melchior, * 28.6.1810 Ehringen bei Nördlingen, † 22.4.1871 München; Grabstätte: ebd., Alter Südfriedhof. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker, Journalist; Religionsphilosoph.
Gotthelf verfolgt M. in seinen Geschichten keine christlich-moralisierende Absicht. In teils ironisch-humoristischem, teils philosophisch-reflektierendem Tonfall greift er auch brisante Themen der Zeit literarisch auf: die dt.-frz. Auseinandersetzungen 1866 in Gespräche mit einem Grobian (Lpz. 1866) oder die Starrheit gesellschaftl. Riten in dem 1870 in Leipzig erschienenen Roman Duell und Ehre. M.s Dramen verarbeiten vorwiegend histor. Stoffe (am bekanntesten: Herzog Albrecht. 1851. Stgt. 1862). Die sich in M.s philosoph. Schriften bezeugende Zuversicht in eine göttl. Weltordnung in Verbindung mit einem naiven Offenbarungs- u. Geisterglauben bedeutet einen Rückschritt hinter die Religionsphilosophie der Aufklärung (Gott und sein Reich. Stgt. 1860). Weitere Werke: Gedichte. Bln. 1857. – Vier Deutsche. 3 Bde., Stgt. 1861 (R.). – Ewige Liebe. 2 Bde., Braunschw. 1864 (R.). – Dramat. Werke. Hann. 1868. – Die Religion des Geistes. Lpz. 1870 (L.). – Gedanken über Kunst, Religion u. Philosophie. Hg. Graf Bothmer u. Moriz Carrière. Lpz. 1874. Literatur: August Ramminger: Die Gedankenwelt M. M.s. Mchn. 1936. – Mary Ann Niemczura Dietz: The Treatment of Love in M. M.s ›Erzählungen aus dem Ries‹. Diss. Vanderbilt University/ Nashville 1974. – Helmut Kreutzer: ›Ländlich-einfache Stoffe mit Leichtigkeit und Anmuth behandelt‹. Johann Wolfgang v. Goethe lobte M. M., den Klassiker des Rieses. In: Lit. in Bayern 24 (1991), S. 41–46. Stefan Iglhaut / Red.
Der Bauernsohn absolvierte nach der Nördlinger Lateinschule die Gymnasien in Ansbach u. Augsburg. Bereits 1829 studierte M. Jura an der Universität München, ab 1832 in Heidelberg. Er wechselte als Verehrer Schellings bald über zur Philosophie, schrieb sein erstes Versepos Wilhelm und Rosina (Mchn. 1835) u. promovierte 1836 in München. 1837 hielt er sich in Erlangen bei Rückert auf, 1840 Meyrink, Gustav, eigentl.: G. Meyer, zog er mit finanzieller Unterstützung des * 19.1.1868 Wien, † 4.12.1932 Starnberg; bayerischen Kronprinzen Maximilian nach Grabstätte: ebd., Friedhof HanfelderstraBerlin u. lebte dort als Schriftsteller u. Jourße. – Romancier, Erzähler, Dramatiker, nalist bis 1852. Wieder in München, widmete Übersetzer. er sich fortan verstärkt religionsphilosoph. Fragestellungen. M. war der unehel. Sohn der aus Hamburg Dem literar. Schaffen M.s war nur verein- stammenden Theaterschauspielerin Maria zelt Erfolg beschieden, so seinen Prosa- Wilhelmine Adelaide Meyer u. des württemsammlungen Erzählungen aus dem Ries (Bln. berg. Staatsministers u. Reichstagsabgeord1856) u. Neue Erzählungen aus dem Ries (Stgt. neten Friedrich Karl Gottlob Freiherr von 1860), die mehrfach erweiterte Neuauflagen Varnbüler von und zu Hemmingen. Die vererfuhren. An den Dorfgeschichten-Typus u. a. schiedenen Engagements der Mutter erAuerbachs anknüpfend, verlegt er die z.T. zwangen häufige Schulwechsel (München, idyllisierende Darstellung ländl. Alltagskul- Hamburg); 15-jährig kam M. nach Prag, wo tur in seine schwäb. Heimat. Anders als etwa er nach Abschluss des Gymnasiums eine
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Handelsakademie absolvierte. 1889 gründete M. gemeinsam mit einem Neffen Christian Morgensterns in Prag ein Bankhaus. Sein exzentr. Auftreten u. sein Interesse für alle Bereiche des Okkulten – M. war Mitgl. zahlreicher spiritist. Zirkel u. Orden – machten den bald selbständigen Bankier zum bewunderten u. angefeindeten Mittelpunkt der Prager Boheme. Nach mehreren Prozessen wegen Ehrenbeleidigung u. des – unbegründeten – Verdachts der Geldunterschlagung sowie einem dreimonatigen Gefängnisaufenthalt verließ M. Prag zwar rehabilitiert, aber geschäftlich u. sozial ruiniert. Die bleibenden Eindrücke, welche die »magische Stadt Prag« bei ihm hinterließ, verarbeitete er in mehreren seiner Werke. Nach kurzem Aufenthalt in Wien – M. war 1904 Redakteur der satir. Zeitschrift »Der liebe Augustin« – ließ er sich 1906 in München, 1911 in Starnberg nieder. Nachdem seine 1892 geschlossene erste Ehe mit Hedwig Aloysia Certl 1905 geschieden wurde, heiratete er im gleichen Jahr Philomena (Mena) Bernt. Entscheidend für M.s literar. Werdegang war die Veröffentlichung der Erzählung Der heiße Soldat (in: Der heiße Soldat und andere Geschichten. Mchn. 1903) 1901 im »Simplicissimus« durch Ludwig Thoma. Bis 1927 (mit größeren zeitl. Lücken) belieferte M. diese satir. Wochenschrift, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ein Forum der liberalen antiwilhelmin. Opposition in Deutschland, regelmäßig mit Beiträgen, die seinen Ruhm begründeten. Seine Texte, meist keine Satiren im eigentl. Sinn, waren fantast. Geschichten mit überraschenden satir. Schlusspointen. Hauptzielscheibe waren das Militär, bornierte Ärzte, eine heimattümelnde Kunstproduktion, die Anmaßung der modernen Wissenschaften u. das Bürgertum im Allgemeinen. Eine dreibändige Ausgabe der Erzählungen (Des deutschen Spießers Wunderhorn. Mchn. 1913. Wien 1987) wurde 1916 in Österreich verboten, u. in der ersten Gesamtausgabe (Gesammelte Werke. Lpz. 1917) fehlten die schärfsten Satiren. Wie schon bei der Erstveröffentlichung war M. wiederum den Attacken deutschnationaler Kreise ausgesetzt. Bes. der Spott über den Kindersegen protestantischer Pfarrersgattinnen in der Er-
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zählung Der Saturnring (in: Wachsfigurenkabinett. Mchn. 1907) wurde als Angriff auf die Werte dt. Mutterschaft verstanden. Nicht nur um seine prekäre finanzielle Situation zu verbessern, übersetzte M. in kurzer Zeit einen beträchtl. Teil des Werks von Charles Dickens (Ausgewählte Romane und Geschichten. Mchn. 1910) u. von Rudyard Kipling. Gemeinsam mit Alexander Roda Roda verfasste er 1912/ 13 – nicht sehr erfolgreiche – Komödien. M.s erster Roman, Der Golem (Mchn. 1915; zahlreiche Aufl.n. Engl. zuletzt Sawtry 2000), vom Kurt Wolff Verlag mit großem Werbeaufwand herausgebracht, erreichte innerhalb von nur zwei Jahren eine Auflage von 145.000. M. arbeitete seit 1907 an dem Roman. Der Austausch mit seinem Freund u. ursprüngl. Illustrator des Romans, Alfred Kubin, führte zur Publikation von Kubins einzigem Roman Die andere Seite (1909) mit den für den Golem vorgesehenen Zeichnungen; M.s Golem erschien mit Illustrationen von Hugo Steiner-Prag. Die sagenhafte Gestalt des Golem geht zurück auf Legenden aus dem Prager jüd. Ghetto, welche die Geschichte des Rabbi Löw erzählen, der im 16. Jh. eine aus Lehm geformte Figur zum Leben erweckt, die im Laufe der Jahrhunderte immer wieder auftaucht. Für den Erzähler, der in einer zweiten traumhaften Identität die Ereignisse als Gemmenschneider Athanasius Pernath miterlebt, werden die Begegnungen mit dem Golem zur Konfrontation mit den destruktiven Energien seines verdrängten Trieblebens. Die Struktur des Doppelgängers bzw. des wiedergeborenen Protagonisten findet sich auch in anderen Romanen M.s, beispielsweise in Der Engel vom westlichen Fenster (zus. mit Friedrich Alfred Schmid Noerr. Lpz./Zürich 1927. Mchn. 1975. Engl. zuletzt Sawtry 1999). Eine weitergehende Deutung könnte die Figur auch zum Sinnbild eines kollektiven Unbewussten machen, das – wenn es ausbricht – zu Krieg u. Zerstörung führt. Die Utopie des Romans ist die Aufhebung der triebhaften materiellen Sphäre in einer spirituellen Durchdringung aller Lebensbereiche. Dem fantast. Geschehen des Romans steht die expressionist. Beschreibung des Prager Ghettos im 19. Jh. gegenüber. Die Sanierung dieses Ghettos mit seiner
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viele deutschsprachige Prager Schriftsteller prägenden Aura des Unheimlichen u. Bedrohlichen (auch Franz Kafka u. Paul Leppin berichten davon) bedeutet den unwiederbringl. Verlust einer Lebenswelt, die M. zeit seines Lebens nicht losließ. Im Golem sind stilbildende Elemente der schwarzen Romantik (E. T. A. Hoffmann, Edgar Allan Poe), des Kriminalromans, der Satire sowie Gedankengut aus der Kabbala u. fernöstl. Kultur verschmolzen. Die Konjunktur okkulter Strömungen in den 1920er Jahren führte zur Bildung einer M.-Gemeinde. 1927 trat M., auch Herausgeber zahlreicher mag. Schriften, vom Protestantismus zum Buddhismus über. Vor allem die Romane Das grüne Gesicht (Lpz. 1916. Freib. i. Br. 1963. Lpz. 1986. Bln. 1998. Engl. zuletzt Sawtry 2004), Der weiße Dominikaner (Wien/Bln. 1921. Mchn. 1981. Engl. zuletzt Sawtry 1994) u. Der Engel vom westlichen Fenster enthalten eine Fülle esoter. Gedankenguts. In dem 1917 in Leipzig erschienenen Roman Walpurgisnacht (Neuaufl. Mchn. 1977) transformiert M. latent vorhandene Spannungen jener Zeit zwischen Tschechen, Juden u. Deutschen in Böhmen zu Bildern des Fantastischen u. des Komischen. Neuauflagen, Übersetzungen u. eine intensivere literaturwiss. Beschäftigung mit dem Werk M.s, auch im nicht deutschsprachigen Ausland, sind Indizien für das wiedererwachte Interesse an diesem Autor, dessen Wirkungsgeschichte mit dem Einfluss auf deutschsprachige Prager Autoren (u. a. Max Brod, Leppin, Kafka) schon früh einsetzte. Teile des Nachlasses befinden sich u. a. in der Bayerischen Staatsbibliothek, in der Stadtbibliothek u. im Literaturarchiv Monacensia (München), im Deutschen Literaturarchiv Marbach u. in der Bibliotheca Philosophica Hermetica in Amsterdam. Weitere Werke: Orchideen. Mchn. 1904 (E.en). – Jörn Uhl u. Hilligenlei. G. M. contra Gustav Frenssen. 2 Parodien. Mchn. 1907. – (Mitarb.) Der Roman der XII. Bln. 1909. Ffm. 1992. Der Kardinal Napellus. Mchn. 1913. Stgt. 1984 (E.). – Fledermäuse. 7 Gesch.n. Lpz. 1916. Mchn. 1981. – An der Grenze des Jenseits. Lpz. 1923 (Ess.). – Die heimtück. Champignons u. a. Gesch.n. Bln. 1925. – Goldmachergesch.n. Bln. 1925. – Das Haus zur
Meyrink letzten Latern. Nachgelassenes u. Verstreutes. Hg. Eduard Frank. Mchn. 1973. – Der Mönch Laskaris. Lpz. 2004 (E.en). Literatur: Bibliografie: Evelyn Aster: Personalbibliogr. G. M. Bern/Ffm. 1980. – Weitere Titel: Max Pulver: Erinnerungen an eine europ. Zeit. Begegnungen mit Kafka, M. u. a. Zürich 1953. – Eduard Frank: G. M. Werk u. Wirkung. Büdingen-Gettenbach 1957. – Helga Abret: G. M. Conteur. Bern/ Ffm. 1976. – Mohammad Qasim: G. M. Eine monogr. Untersuchung. Stgt. 1981. – Peter Cersowsky: Phantast. Lit. im ersten Viertel des 20. Jh. [...]. G. M., Alfred Kubin u. Franz Kafka. Mchn. 1983, S. 34–63. – Catherine Mathière: La dramaturgie de G. M. Imaginaire et mystique. Paris 1985. Jan Christoph Meister: Hypostasierung. Die Logik myth. Denkens im Werk G. M.s nach 1907. Ffm. 1987. – Ders.: Die myth. Semiotik der Phantastik. Zum Diskurs der phantast. Lit. am Beispiel der Novelle ›Das Grillenspiel‹ v. G. M. In: Acta Germanica 19 (1988), S. 28–48. Frans Smit: G. M. Auf der Suche nach dem Übersinnlichen. Mchn. 1988. H. Abret: Karl Eugen Neumann et G. M. In: Austriaca 13 (1988), Nr. 27, S. 85–99. – Günter Kunert: Die Banalität des Horrors. Über G. M.: ›Der Golem‹ (1915). In: Romane v. gestern – heute gelesen. Bd. 1 (1989), S. 231–237. Marino Freschi: Die mag. Welt G. M.s. In: Die österr. Lit. Ihr Profil v. der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart (1880–1980). Hg. Herbert Zeman. Graz 1989, S. 823–831. – Sjaak Onderdelinden: G. M.s Walpurgisnacht, een fantastische roman? In: De Gids 152 (1989), S. 65–70. – Roman Karst: G. M.s Traumwelt. In: Prager deutschsprachige Lit. zur Zeit Kafkas. Wien 1989, S. 69–80. – Rolf Geißler: Zur Lesart des mag. Prag. Perutz, M., Kafka. In: Lit. für Leser 12 (1989), S. 159–178. – Clemens Ruthner: Unheiml. Wiederkehr. Interpr.en zu den gespenst. Romanfiguren bei Ewers, M., Soyka, Spunda u. Strobl. Meitingen 1993. – Juliana W. Kaminskaja: Dostojewskijs Nachklänge in G. M.s Roman ›Der Golem‹. In: Dostojewski u. die russ. Lit. in Österr. seit der Jahrhundertwende. Hg. Alexandr W. Belobratow u. a. St. Petersburg 1994, S. 141–151. – Joachim Kalka: Das Unheimliche des Erzählens. G. M. zwischen Okkultismus, Satire u. Kolportage. In: Traumreich u. Nachtseite. Die deutschsprachige Phantastik zwischen Décadence u. Faschismus. Hg. Thomas Le Blanc u. a. Wetzlar 1995, S. 108–125. – Michael Mitchell: G. M. In: Major Figures of Austrian Literature. The Interwar Years 1918–1938. Hg. u. eingel. v. Donald G. Daviau. Riverside 1995, S. 261–295. – Hartmut Binder: Eine Prager Legende. Notiz zu G. M.s Roman ›Walpurgisnacht‹. In: Euph. 90 (1996), S. 219–225. – Evelyn
Meysenbug Konieczny: Figuren u. Funktionen des Bösen im Werk v. G. M. Wetzlar 1996. Jean-Jacques Pollet: Leo Perutz, G. M.: éléments de réflexion sur la littérature fantastique ›pragoise‹. In: Allemands, Juifs et Techèques a Prague [...]. Hg. Maurice Godé. Montpellier 1996, S. 285–296. Johannes Sachslehner: Die Komisierung des Grauens. Zu den sonderbaren satir. Gesch.n G. M.s. In: Komik in der österr. Lit. Hg. Wendelin Schmidt-Dengler. Bln. 1996, S. 189–197. – Michael Berger: ›Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, die Geschichte mit dem Golem läßt sich schwer fassen‹. Zu G. M.s Roman ›Der Golem‹. In: Brücken 5 (1997), S. 75–91. – Ralf Reiter: Das dämon. Diesseits. Phantast. Erzählen in den Romanen ›Walpurgisnacht‹ u. ›Der weiße Dominikaner‹ v. G. M. Wetzlar 1997. – Anne-Marie Baranowski: Le ›Golem‹ de G. M.: le livre des pérégrinations oniriques. In: Le texte et l’idée 13 (1998), S. 173–212. – Arndt Krieger: Wege der Erkenntnis in G. M.s Roman ›Der Golem‹ u. Franz Kafkas Erzählung ›Die Verwandlung‹. In: Brücken 6 (1998), S. 153–174. J.-J. Pollet: Le satiriste et l’ésoteriste. G. M. interprète de la Grande Guerre. In: Ecritures et langages satiriques en Autriche (1914–38) [...]. Hg. Jeanne Benay u. a. Bern u. a. 1999, S. 263–276. – Angela Reinthal: ›Alchemie des Poeten‹. John Dee (1527–1608) in G. M.s Roman ›Der Engel vom westlichen Fenster‹ (1927). In: Iliaster. Lit. u. Naturkunde in der Frühen Neuzeit. FS Joachim Telle. Hg. Wilhelm Kühlmann u. WolfDieter Müller-Jahncke. Heidelb. 1999, S. 221–239. – H. Abret: Subversion u. Destruktion. Zur Funktion des Phantastischen in G. M.s Frühwerk. In: Der Demiurg ist ein Zwitter. Alfred Kubin u. die deutschsprachige Phantastik. Hg. Winfried Freund. Mchn. 1999, S. 181–191. Martin Vavrˇ ina: G. M. Rezeption in der tschech. Republik nach 1945. In: Brünner Beiträge zur Germanistik u. Nordistik 15 (2001), S. 157–163. Alexandra Lembert: The Eternal Return of the Same? A Comparison between Peter Ackroyd’s ›The house of Doctor Dee‹ and G. M.s ›Der Golem‹ and ›Der Engel vom westlichen Fenster‹. In: The Golden Egg. Alchemy in Art and Literature. Hg. dies. u. Elmar Schenkel. Glienicke 2002, S. 101–114. – Sibylle Benninghoff-Lühl: Stein, Zitat, Apostrophe. Figuration in G. M.s ›Der Golem‹. In: De figura. Rhetorik, Bewegung, Gestalt. Hg. Gabriele Brandstetter. Mchn. 2002, S. 163–175. Sigrid Lange: Die hieroglyph. Botschaften der Golem-Legende. In: DU 56 (2004), Nr. 3, S. 15–21. – Joachim Telle: Dichter als Alchemiker. Vier Briefe v. G. M. an Alexander v. Bernus. In: Fenster zur Welt: Deutsch als Fremdsprachenphilologie [...]. Hg. Hans-Günther Schwarz u. a. Mchn. 2004, S. 357–379. – Aurélie Choné: G. M. et l’Inde. Métamorphoses d’une
224 fascination. In: La fascination de l’Inde en Allemagne 1800–1933. Hg. Marc Cluet. Rennes 2004, S. 183–209. – Friedbert Ficker: Der bulgar. Maler Ilija Petrov u. der dt. Dichter G. M. In: Ztschr. für bayer. Landesgesch. 68 (2005), Nr. 3, S. 1181–1185. Charitina Amanda Boyd: Demonizing Esotericism. The Treatment of Spirituality and Popular Culture in the Works of G. M. Amherst 2005. – Mike Mitchell: Vivo. The Life of G. M. Sawtry 2008. Theodor Harmsen (Hg.): Der mag. Schriftsteller G. M., seine Freunde u. sein Werk beleuchtet anhand eines Rundgangs durch die M.-Slg. der Bibliotheca Philosophica Hermetica Amsterdam unter Verwendung weiterer Slg.en. Amsterd. 2009. – H. Binder: G. M. Ein Leben im Bann der Magie. Prag 2009. Bernhard Fetz / Angela Reinthal
Meysenbug, Malwida, Freiin von, * 28.10. 1816 Kassel, † 26.4.1903 Rom; Grabstätte: ebd., Protestantischer Friedhof. – Verfasserin von Memoiren, Erzählerin, Essayistin, Dramatikerin. Die als uneigennützige Freundin berühmter Männer bekannte Schriftstellerin u. Frauenrechtlerin entstammte einer hugenott. Familie u. wurde »in jene glückliche Mitte zwischen dem Überfluß und dem Notwendigen« als neuntes Kind des späteren hess. Staatsministers u. (seit 1834) österr. Freiherrn Philipp Rivalier von Meysenbug geboren. M. genoss eine standesgemäße Erziehung, v. a. auf Betreiben der Mutter, die sich jedoch später dem Selbständigkeitsdrang der 30Jährigen erbittert widersetzen sollte. Die Schriften Bettine von Arnims, v. a. aber Rahel Varnhagens waren von nachhaltigem Eindruck. Mit dem liberalen Gedankengut des Vormärz wurde sie 1843 durch ihre verspätete Jugendliebe zu dem freireligiösen Schriftsteller Theodor Althaus (1822–1852) bekannt. Nach dem Tod des Vaters (1847) suchte sie sich mit ihrer bescheidenen Erbschaft von der Familie zu trennen, war begeisterte Anhängerin der 48er-Revolution, die sie in Frankfurt/M. miterlebte, u. begann ihre Lehrerinnenausbildung 1850 in Karl Fröbels Hamburger Frauenseminar, das kurz darauf von den Behörden geschlossen wurde. Aus Berlin 1852 wegen ihrer Verbindungen zu Revolutionären ausgewiesen, ging sie nach England, wo sie das Los vieler dt. Exilierter
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teilte, unterstützt von ihrer Freundin Johanna Kinkel. 1853–1856 wirkte sie als Gouvernante im Haus Alexander Herzens (dessen Tochter Olga sie später adoptierte); hier lernte sie Russisch, übersetzte Herzens Memoiren (Hbg. 1856) u. Erzählungen (Hbg. 1858) u. verkehrte mit Freiheitskämpfern wie Schurz, Kossuth, Mazzini u. Garibaldi; in diese Zeit fällt auch ihr erster Versuch als sozialkrit. Journalistin: Die Emanzipation der russischen Leibeigenen (Manuskript um 1858). Die damals noch liberale »Gartenlaube« brachte 1861 ihr Porträt Herzens u. d. T. Ein russischer Patriot. Die persönl. Ausstrahlung der schon in ihren mittleren Jahren wie eine alte Jungfer wirkenden, aber stets lebensklugen M. zog – weit über die Wirkung ihrer viel zitierten Memoiren hinaus – v. a. jüngere Menschen beider Geschlechter für deren ganzes Leben in ihren Bann. Nietzsche, der sich ihr gegenüber als »Sohn« bezeichnete, lernte sie 1872 in Bayreuth kennen u. blieb ihm bis in seine Krankheitstage verbunden; sie vermittelte auch die Bekanntschaft mit Lou Andreas-Salomé. M. wurde zur Hausfreundin beider Wagners in Bayreuth – Richard hatte seit 1859 in Paris Kontakt zu ihr u. machte sie mit der Philosophie Schopenhauers vertraut. Ihr Pazifismus hat Romain Rolland beeinflusst (der sie als »vom Korn Goethes genährte Lerche« apostrophierte). Geradezu bahnbrechend war M.s Einfluss auf die erste Generation studierender Frauen nach der Jahrhundertwende, denn das Recht auf Berufsausbildung, somit auf Arbeit u. Selbstbestimmung, stand im Zentrum ihres Emanzipationsstrebens. M. lebte seit 1860 abwechselnd in Frankreich, Deutschland u. – seit den 1870er Jahren ständig – in Italien. Nach der frz. Erstausgabe (Genf 1869) veröffentlichte sie 1876 die dt. Fassung ihrer Memoiren einer Idealistin anonym in Stuttgart (3 Bde., Bln./Lpz. 41899; unter eigenem Namen. Stgt. 42/431927. Gekürzte Neuausg. Ffm. 1985). Von hohem kulturgeschichtl. Wert, vermitteln sie einen klaren u. informativen Einblick in die Politik u. die geistige Welt der revolutionären u. nachrevolutionären Epoche. Erstaunlich waren ihr Mut als alleinstehende Frau zum öffentl. Be-
Meysenbug
kenntnis ihrer Ansichten über weibl. Recht auf höhere Bildung u. Beruf, ihre Aufgeschlossenheit für die Lage der Unterschichten wie für philosophisch-eth. Fragen sowie ihre Kritik an der christl. Religion. Gegen Ende ihres Lebens verarbeitete M. ihr zgl. utopistisches wie pragmat. Weltbild in Erzähltexten wie Gesammelte Erzählungen (Zürich 1885), Erzählungen aus der Legende und Geschichte für die reifere Jugend (Gera 1889) u. Himmlische und irdische Liebe (Bln. 1905) (mit Verarbeitung des Tannhäuser-Motivs). Postum erschien ihr 1886–1887 entstandenes Drama Der Segen der heiligen Katharina. Schauspiel in 4 Aufzügen (1922 als Bd. 5 der Gesammelten Werke). Ihre Erinnerungen an berühmte Freunde wusste sie, bei allem Decorum, in den 1890er Jahren kommerziell zu verwerten: Am Erfolg von Der Lebensabend einer Idealistin (Bln. 1898. 71907) lässt sich ihre fortdauernde Wirkung auf die Zeitgenossen ermessen, trotz oder vielleicht gerade wegen der darin enthaltenen Selbststilisierung einer 82-jährigen Frau, deren ganzes Leben »zu einer ununterbrochenen Folge von Erhabenheiten« (Tietz) geraten war. Ausgaben: Ges. Werke. Hg. Berta Schleicher. 5 Bde., Stgt. 1912. – Briefe v. u. an M. v. M. Hg. dies. Bln. 1920. – Briefw. mit Romain Rolland. Hg. dies. Stgt. 1932. – Briefe an Johanna u. Gottfried Kinkel 1849–85. Hg. Stefania Rossi. Bonn 1983. – Florence. Roman aus dem viktorian. England. Hg. Ruth Stummann-Bowert. Würzb. 2007. Literatur: Bibliografie: Astrid Otto: Bibliogr. In: Jb. der M. v. M.-Gesellsch. (1988), S. 67–95. – Weitere Titel: Gaby Vinant: Un esprit cosmopolite au XIXe siècle: M. v. M. Paris 1932. – Gertrud MeyerHepner: M. v. M. Bln. 1948. – Gunther Tietz: M. v. M. Ideal einer Frauengestalt des 19. Jh. Kassel 1983. – Martin Reuter: 1848, M. v. M. u. die europ. Demokratiegesch. Kassel 2001. – Werner Broer: M. v. M. (1816–1903). Eine ›aristokratische‹ Demokratin. In: Akteure eines Umbruchs: Männer u. Frauen der Revolution v. 1848/49. Hg. Helmut Bleiber u. a. Bln. 2003, S. 405–430. – Karl Heinz Nickel: Die Pariser Commune in der ›Phädra‹. In: ›Durch lauter Zaubergärten der Armida‹. Hg. ders. Kassel 2003, S. 150–175. – Ders.: Phaedra. E. R. (1885) u. Himml. u. ird. Liebe. R. (*1905). In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb. u. a. 2006, S. 302–304. – Nadine Spindler: Der Segen der Hl. Katharina. Schausp. in
Michael de Leone vier Aufzügen (*1922). Ebd., S. 298 f. – Michaela Holdenried: Memoiren einer Idealistin (1876). Ebd., S. 300–302 (mit Bibliogr.). Eda Sagarra
Michael de Leone ! Würzburger Liederhandschrift Michael, Friedrich, * 30.10.1892 Ilmenau/ Thüringen, † 22.6.1986 Wiesbaden. – Erzähler, Essayist, Dramatiker. Nach dem Studium der Theaterwissenschaften (Die Anfänge der Theaterkritik in Deutschland. Diss. Lpz. 1918) war M. freier Schriftsteller, Theaterkritiker u. Mitherausgeber der Zeitschrift »Das deutsche Buch« (1921–1931) u. 1933–1960 für den Insel Verlag tätig. Er gab u. a. Werkausgaben von Hölderlin, Heine u. Kleist heraus. In zahlreichen Essays u. Büchern stellte M. die Geschichte des dt. Theaters dar (u. a. Deutsches Theater. Lpz. 1923. Geschichte des deutschen Theaters. Stgt. 1969. Ffm. 1989) u. schilderte Verlagsarbeit u. Verlegerpersönlichkeiten (Wege zum Verlag. Stgt. 1958). Trotz des Verbots einiger seiner Romane durch die Nationalsozialisten war M. v. a. mit seinen Lustspielen während des Kriegs sehr erfolgreich u. erzählte in Romanen humorvoll von Eheproblemen oder Reisen nach Italien u. in den Fernen Osten. Weitere Werke: Die gut empfohlene Frau. Lpz. 1932. Sigmaringen 1984 (R.). – Flucht nach Madras. Ffm. 1934. Sigmaringen 1984 (R.). – Der blaue Strohhut. Lpz. 1942. Sigmaringen 1987. 1993 (Lustsp.). – Der Leser als Entdecker. Sigmaringen 1983 (Ess.). – So ernst wie heiter. Sigmaringen 1983 (mit Lebensber.). Literatur: Alexander Hildebrand: F. M. In: Ders.: Autoren Autoren. Wiesb. 1979. – Bertold Hack: Verleger u. [...] Poet dazu. In: Börsenblatt 42, Nr. 52 (1986), S. 1839 ff. Georg Patzer / Red.
Michael, Michaelis, Peter, gen. Brillmacher, * 1542 Köln, † 25.8.1595 Mainz. – Jesuit; Kontroverstheologe u. lateinischer Dramatiker. M., dessen Vater Marcus M. bereits den Beinamen »Brillmacher« trug, trat 1558 in Köln dem Jesuitenorden bei. 1560 erwarb er in dort den Magistergrad. Stationen seines sehr aktiven Lebens waren u. a. Trier (1561), Mainz
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(1563–1567), Paris (1567–1568), Speyer (1569–1578), Dillingen (1582) u. Münster (seit 1588). 1585–1587 wirkte M. am JülichKleveschen Hof. Am 25.8.1595 fiel er in Mainz einem Giftanschlag zum Opfer. M. war ein heftiger Feind der protestant. Lehre, die er u. a. mit seinem populärsten Buch, dem Brillenkästlein (Evidiotheca. Brillenkästlein, das ist, ein newes sehr nützlichs Büchlein, in welchem [...] mit kurtzen Schlußreden aller Artickel christlicher Religion, und derselbigen gründtlichen Beweiß [...] zusehen geben wirdt, welche auß den streitbaren Partheyen recht habe vor Gott [...]. Münster 1593), sowie mit polem. Dialogen über die Eucharistie (Controversiarum de eucharistiae augustissimo sacramento dialogi quinque [...]. Köln 1584) bekämpfte. Wichtig war sein Beitrag zur Entwicklung des Jesuitentheaters. M. ist der erste namentlich bekannte dt. Autor, dessen Dramen in der Frühzeit anstelle der (z.T. nicht ordenseigenen) Stücke aus den Niederlanden, Spanien u. Italien in nennenswertem Umfang gespielt wurden. Zwischen 1565 u. 1585 sind in Mainz, Speyer u. Köln acht Aufführungen von M.s Bibeldramen nachzuweisen. Zwei literarisch noch unbeholfene, ausgeprägt didakt. Texte (Daniel. Auff. Mainz 1565. Köln 1579 [?]. S. Magdalena. Auff. Köln 1579. Mainz 1583) haben sich in Handschriften erhalten. Weitere Werke: Serta honoris et exultationis ad Catholicorum devotionem exornandam [...]. Köln 1567 u. ö. – Catechismus, das ist christl. Bericht v. wahrer Religion u. Gottes dienst, sampt einem andechtigen Bettbuch [...]. Köln 1587. 1589. – Epistola ad amicum. Qua tanquam spongia, deterguntur mendacissimae calumniae a Stephano Isaaci ex Iudaeo, Pseudochristiano [...]. Münster 1592 (dt. Münster 1592). Ausgabe: Walter Michel: Das Jesuitendrama Daniel v. 1565 in Mainz. In: Mainzer Ztschr. 82 (1987), S. 123–149 (mit Übers.). Literatur: Bibliografien: Backer/Sommervogel, Bd. 2, Sp. 182–186. – VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Bernhard Ridder: Die Kontroverse zwischen P. M. Brillmacher S. J. u. dem Junker Johann v. Münster [...]. Münster 1929. – Erwin Iserloh: P. M. Brillmacher. In: NDB. – Jean-Marie Valentin: Le théâtre des Jésuites. Répertoire chronologique. Stgt. 1984, S. 1031 f. (mit Verz. der Aufführungen u. Hss.). – Ders.: Les Jésuites et le théâtre (1554–1680). Con-
227 tribution à l’histoire culturelle du monde catholique dans le Saint-Empire romain germanique. Paris 2001, Register. Fidel Rädle / Red.
Michaelis, Johann Benjamin, * 31.12.1746 Zittau, † 30.9.1772 Halberstadt. – Lyriker, Fabel-, Satiren- u. Singspieldichter.
Michaelis
spiels auf die Welt des Wunderbaren u. erschloss der Gattung auch das Reich antiker Mythologie: in rokokohafter Manier in Amor’s Guckkasten (verf. 1772) u. – auf dem Wege (wie schon Walmir und Gertraud) zur ernsten dt. Oper – in Herkules auf dem Oeta (verf. 1771). M. steht damit am Anfang einer Entwicklung, die über Wieland, Mozarts Zauberflöte, Webers Oberon weit ins 19. Jh. reicht.
M. war der Sohn eines reichen Tuchhändlers, der aber im Siebenjährigen Krieg sein geWeitere Werke: Poet. Briefe. Halberst. 1772. – samtes Vermögen verlor. Ab 1764 studierte Operetten. Lpz. 1772. – Sämmtl. poet. Werke. Erste M. in Leipzig Medizin, ein Fach, zu dem ihn vollst. Ausg. Hg. Franz Anton Schrämbl. 4 Bde., ein Stipendium verpflichtete. Trotz größter Wien 1791. Literatur: C. H. Schmid: J. B. M.’ Leben. Ffm. Genügsamkeit entstanden Schulden, aus denen er sich durch die Herausgabe seiner Fa- 1775. – Jakob Minor: Christian Felix Weiße u. seine beln, Lieder und Satyren (Lpz. 1766) zu befreien Beziehungen zur dt. Lit. des 18. Jh. Innsbr. 1880. – suchte. Die Sammlung wurde von der Kritik Ernst Reclam: J. B. M. Lpz. 1904 (mit vollst. Werku. Briefverz.). – Der Freundschaftstempel im gelobt u. erregte das Interesse von Gellert, Gleimhaus zu Halberstadt. Hg. Horst Scholke. Weiße, Gleim u. des Malers Oeser, die den Halberst. 2000, S. 145 f. – Winfried Woesler: Zu mittellosen Studenten auch durch die Ver- Mösers Brief an J. B. M. vom 8. Dez. 1771. In: mittlung von Gelegenheitsdichtungen un- Möser-Forum 3 (2001), S. 369–376. – Florian Gelterstützten. Nach schwerer Erkrankung gab zer: ›Romantisch-komisch‹: Zu einem literar. MoM. das Medizinstudium auf. Aus neuen dus in der dt. Lit. zwischen Frühaufklärung u. Schulden sollte ihn die Gleim gewidmete Klassik (Jacobi – M. – Wieland). In: GLL 59 (2006), Sammlung Einzele [sic] Gedichte (Lpz. 1769) S. 323–343. Alfred Anger / Red. befreien. Daneben half er seinem Freund u. späteren Biografen Christian Heinrich Michaelis, Johann David, * 27.2.1717 Schmid v. a. bei der Herausgabe des Leipziger Halle, † 22.8.1791 Göttingen. – Orienta»Musenalmanachs« (1770). Auf Lessings list u. Theologe. Empfehlung wurde M. Ostern 1770 zum Redakteur des Hamburger »Correspondenten« Als Gelehrter folgte M. familiärer Tradition: berufen, ein Amt, dem er jedoch nicht ge- Sowohl sein Großonkel Johann Heinrich Miwachsen war. Mehr Erfolg hatte er als Thea- chaelis (1668–1738) als auch sein Vater terdichter der Seyler’schen Schauspieltruppe Christian Benedict Michaelis (1680–1764) (offiziell ab Sept. 1770), die allerdings schon hatten als Theologen u. Orientalisten an der im Juni 1771 in Hannover vor dem Bankrott Universität Halle gewirkt. Er selbst studierte stand. Mittellos, verschuldet u. schon von v. a. bei seinem Vater, gewann aber auf einer schwerer Krankheit gezeichnet, folgte M. der Reise nach Holland u. England 1741/42 Einladung Gleims nach Halberstadt, wo er an Freiheit vom angestammten Pietismus u. Schwindsucht starb – von vielen (u. a. Gleim, Anschluss an die geistig-wiss. Tendenzen Göckingk, Hölty, Johann Georg Jacobi, Voß) Westeuropas. öffentlich betrauert. 1745 gelang ihm der Sprung an die UniBes. mit seinen Fabeln u. Satiren ragt der versität Göttingen, wo er zunächst mit begabte junge M. über die Durchschnittsware Übersetzungen engl. Literatur, voran Riseiner Zeit hinaus. Seine Stellung in der dt. chardsons Clarissa (Gött. 1748–53), Geld verLiteratur verdankt er jedoch seinen Operet- diente u. 1750 zum o. Prof. aufstieg. Ehrgeiz ten. Schon in Walmir und Gertraud (entstanden u. Geschick verschafften ihm schon früh eine 1766), dann in der Zauberposse Je unnatürli- Schlüsselstellung an der Universität u. der cher, je besser! (verf. 1768) erweiterte M. er- Akademie der Wissenschaften, machten ihn folgreich den Stoff des volkstümlichen, von aber auf die Dauer so unbeliebt, dass er in Weiße in Deutschland eingeführten Sing- höherem Alter fortschreitend vereinsamte.
Michaelson
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Im Stil seiner Zeit war M. auf vielen Ge- gen über dessen litterar. Charakter v. Eichhorn, bieten interessiert u. tätig. Im eigenen Fach Schulz – u. dem Elogium v. Heyne. Rinteln/Lpz. war seine Produktivität so immens, dass er in 1793. – Litterar. Briefw. Hg. J. G. Buhle. 3 Bde., späteren Jahren ein von ihm herausgegebenes Lpz. 1794–96. Literatur: Rudolf Smend: J. D. M. Festrede. Periodikum, die Orientalische und Exegetische Gött. 1898. – Hans Hecht: Thomas Percy, Robert Bibliothek (23 Tle., Ffm. 1771–89), dazu seit Wood u. J. D. M. Gött. 1933. – Friedrich Schaff1786 die Neue Orientalische Bibliothek (8 Tle., stein: F. J. D. als Kriminalpolitiker. Gött. 1988. – Gött.) allein bestreiten konnte. Ebenso wie Anna-Ruth Löwenbrück: Judenfeindschaft im die Philologie interessierten ihn die Lebens- Zeitalter der Aufklärung. Ffm. 1995. – Cornelia verhältnisse der biblisch-oriental. Welt u. Neis: Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jh. Zeit, deren Erforschung die berühmte, von Die Berliner Preisfrage nach dem Ursprung der ihm angeregte kgl.-dän. Arabien-Expedition Sprache (1771). Bln. 2003. – Florian Gelzer u. Jan von 1761 bis 1767 galt. In Mosaisches Recht (6 Loop: Samuel Richardsons Romane als ›heilige Bde., Ffm. 1770–75. Reutl. 21785) suchte er Texte‹? Die ›Clarissa‹-Übers. v. J. D. M. u. ihre Hintergründe. In: Scientia Poetica 10 (2006), im Sinne Montesquieus eine »Philosophie« S. 189–223. Rudolf Smend / Red. des alttestamentl. Gesetzes zu geben, indem er es in seine Entstehungsverhältnisse hineinstellte. Sein Verdienst war es, Robert Michaelson, Margarete ! Georgy, Ernst Lowth’ Praelectiones de sacra poesi Hebraeorum (Oxford 1753) durch eine eigene Ausgabe Michel, Karl Markus, * 4.9.1929 Hong(Gött. 1758–61. 21770) in Deutschland ein- kong, † 15.11.2000 Berlin; anonyme zuführen, aber die durch dieses Buch inau- Grabstätte auf dem Berliner Friedhof gurierte ästhet. Betrachtung des AT war seine Heerstraße. – Herausgeber, Essayist. Sache nicht; Herder, der ihn anfangs bewunderte, wandte sich schon bald von ihm M., als Sohn eines Missionars in Hongkong geboren, wuchs in Darmstadt auf. Als 15ab. Angeblich von Lessing angeregt, veranJähriger wurde er zur Darmstädter Flak einstaltete M. die 13-bändige Deutsche Übersetgezogen u. erlebte als Flakhelfer die Bomzung des Alten Testaments mit Anmerkungen für bardierung u. Zerstörung der Stadt. M. stuUngelehrte (Gött. 1769–83), der noch ein neudierte Literaturwissenschaften, Philosophie testamentl. Gegenstück folgte (2 Bde., Gött. u. Soziologie in Frankfurt/M. u. München. 1790–92). Den gewünschten Erfolg hatte das Die geplante Dissertation über Franz Kafka Werk nicht, weil der Übersetzung jede kam nicht zum Abschluss. 1955–1958 war M. Sprachgewalt fehlte u. die Anmerkungen wie Mitarbeiter Horkheimers u. Adornos am M.’ ganze Schriftstellerei unpräzise u. weitFrankfurter Institut für Sozialforschung, schweifig waren. 1959–1961 Redakteur beim Hessischen M. war ein gefeierter Lehrer; für die Rundfunk. 1961–1976 arbeitete er als Lektor Nachwelt verblasste sein Ruhm jedoch beim Suhrkamp Verlag in Frankfurt/M., zuschnell hinter dem seiner Tochter Caroline nächst im literar. Lektorat. Ab etwa 1964 Schlegel-Schelling. baute er gemeinsam mit Walter Boehlich das Weitere Werke: Hebr. Grammatik. Halle 1745. wiss. Programm auf u. edierte zus. mit seiner 3 1778. – Einl. in die göttl. Schr.en des Neuen Frau, der Übersetzerin Eva Moldenhauer, die Bundes. Gött. 1750. 4. Aufl. in 2 Bdn., 1788. – 20-bändige Hegel-Werkausgabe (Ffm. 1970/ Entwurf der typ. Gottesgelahrtheit. Gött. 1753. 71). Zgl. redigierte er die 1965 von Hans 2 1763. – Beurtheilung der Mittel, welche man anMagnus Enzensberger gegründete Zeitschrift wendet, die ausgestorbene Hebr. Sprache zu ver»Kursbuch«, die Ende der 1960er Jahre das stehen. Gött. 1757. – Compendium theologiae dogmaticae. Gött. 1760. – Vermischte Schr.en. Ffm. wichtigste Organ der intellektuellen Linken 1766. – Grammatica Syriaca. Halle 1784. – Einl. in in der Bundesrepublik wurde. Ab 1971 war die Schr.en. des Alten Bundes. Tl. 1., Hbg. 1787. – M. Mitherausgeber der Zeitschrift. Danach Lebensbeschreibung v. ihm selbst abgefaßt, mit betreute er bis 1982 in München die ZeitAnmerkungen v. Hassencamp. Nebst Bemerkun- schrift »TransAtlantik«.
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Seit 1983 lebte M. in Berlin. Er, der bereits während seiner Studienzeit zu schreiben begonnen hatte, verfasste zahlreiche Essays für die »Frankfurter Hefte«, die »Zeit«, »TransAtlantik«, das »Frankfurter Allgemeine Magazin« u. allein rd. 50, darunter einige unter Pseudonym erschienene, für das »Kursbuch«. Seine Essays zeichnen sich, in der Tradition der krit. Theorie stehend, durch genaue Kenntnis der intellektuellen Zeitströmungen sowie ihrer gesellschaftl., polit. u. geschichtl. Hintergründe aus, behandeln ihre verschiedenen Gegenstände meist polemisch, ironisch oder satirisch u. bedienen sich dabei häufig der Form des szen. Arrangements. M. verfügte in seinem Testament die Vernichtung all seiner Manuskripte u. Fotos sowie eine anonyme Bestattung. Freunde u. literar. Weggefährten erinnern sich seiner als eines höchst belesenen Mannes (Enzensberger, Ransmayr) u. als eines »Virtuosen der Kasuistik« (T. Spengler), »genau bis zur Pingeligkeit, besessen und engagiert« (Ingrid Karsunke). Im Jahr 1998 verlieh ihm die Berliner Akademie der Künste den HeinrichMann-Preis. Weitere Werke: Die sprachlose Intelligenz. Ffm. 1968. – Von Eulen, Engeln u. Sirenen. Ffm. 1988. – Gesichter. Physiognomische Streifzüge. Ffm. 1990. – Herausgeber: Polit. Katechismen. Ffm. 1966. – Bewegung in der Republik 1963–84. Eine Kursbuch-Chronik (zus. mit Ingrid Karsunke). 2 Bde., Ffm. 1985. Literatur: Kursbuch 146 (2001), S. 1–18 (Nachrufe auf M. v. Christoph Ransmayr, Hans Magnus Enzensberger, Tilman Spengler u. Ingrid Karsunke). Detlev Schöttker / Christine Henschel
Michel, Markus, * 18.9.1950 Liebefeld bei Bern. – Hörspiel-, Theater- u. Prosaautor. M. absolvierte eine kaufmänn. Lehre u. lebte als freier Schriftsteller mehrere Jahre in Frankreich, kehrte dann nach Bern zurück, wo er neben der Arbeit als Schriftsteller verschiedene Nebenjobs, u. a. als Kulturanimator, Veranstalter u. Museumsaufseher, ausübte. Er machte sich insbes. durch seine Beschäftigung mit dem Hörspiel u. als Theaterautor einen Namen. Er wurde u. a. 1981 mit dem Prix Suisse für das Hörspiel Jean und
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die Andern (DRS 1981) sowie 2003 für das Stück Fliegen – Grenzenlos (bisher nicht uraufgeführt) mit dem Preis der Schweizerischen Autorengesellschaft (SSA) für das Verfassen von Theaterstücken ausgezeichnet. Mehrere seiner Werke sind in Schweizer Mundart verfasst, darunter Dr Houzängu oder Dr Chöchi vom Dokter ire Güggu (DRS 1998) sowie die berndeutsche Bearbeitung von Shakespeares Der Sturm (Urauff. Aarberg 2003) u. die Nachdichtung von Jeremias Gotthelfs Novelle Elsi, die seltsame Magd (DRS 1997. Urauff. Bern 1997). Als groteskes Wahngebilde, als mörderische Maschinerie erscheint die Gesellschaft in frühen Arbeiten M.s, etwa in der Theaterszene und (Urauff. Bern 1971) oder in Tanz der Krähen (Urauff. St. Gallen 1982), in dem ein Flugzeugabsturz als Volksfest inszeniert wird. Im Hörspiel Das grosse Haus (DRS 1980) wird die angeblich freiheitl. Gesellschaft als kolossale kafkaeske Bürokratie erfahren. In den 1980er Jahren rücken die Mechanismen sozialer Diskriminierung in den Blickpunkt, die M. in seinen Werken ohne Überhöhungen u. mit dokumentar. Details aufzeigt: Hilde Brienz (DRS 1982. Urauff. St. Gallen 1984) gestaltet ein prototypisches Außenseiterinnenschicksal, Frost (DRS 1987. Urauff. Luzern 1991) die Leiden der mit Schikanen u. Aggression belohnten Saisonarbeiter, das Dialekthörspiel Hotel Wildbach (DRS 1988) die hilflos verlogene Haltung gegenüber Flüchtlingen. Zwischen 1988 u. 1990 bearbeitete M. mehrere Werke Friedrich Glausers für den Rundfunk (u. a. Wachtmeister Studer. SWF/DRS 1988. Matto regiert. SWF/ DRS 1989. Krock & Co. SWF/DRS 1990). 1991 erschien M.s erster u. bislang einziger Roman Reise nach Amerika (Bern). Wie in anderen Werken der 1990er Jahre, etwa dem Hörspiel Auf dem Weg nach Mailand (DRS 1996), steht hier die (uneingelöste) Sehnsucht sozial nicht privilegierter Menschen nach einer imaginierten Ferne im Mittelpunkt: Erzählt wird die Geschichte Jolis, der seiner Büroarbeit durch die Lektüre des Zugfahrplans sowie die Tätigkeit als Obmann der Statisterie im Berner Stadttheater entflieht. Durch zahlreiche Rückblenden weitet sich das berichtete Geschehen zur Lebensge-
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schichte Jolis aus. Die existentielle Verlusterfahrung M.s, welche die Hirntumorerkrankung u. der Tod seiner Ehefrau, der Kostümbildnerin Inge Borisch, bedeuten, verarbeitet der autobiogr. Band Pfirsich im Kopf. Aufzeichnungen und Gedichte über Sterben und Tod (Bern 2005), der mit Abbildungen von Kunstfiguren Inge Borischs versehen ist. Weitere Werke: Prosa: Abgestürzt. Bern 1972. – Hörspiele: Am Strassenrand abgelegte Träume. DRS 1977. – immer nur lächeln. DRS 1979. – Die Büglerin. DRS 1983. – Bürgertherapie. DRS 1984. – Altpapier. DRS 1986. – Winter ohne Schnee. DRS 1990. – Der kleine Tod. Ein Hörsp. aus dem nahen China. DRS 1990. – Intercity 91. DRS 1991. – Die Gesch. vom Fischhändler. DRS 1993. – HouzbeiHousi u Nasepööggen-Änni. Vier Kurzhörspiele. DRS 2000. – Theaterstücke: Sein. 1971. – Schwyzerpsalm. Eine bös-groteske Schweiz-Schau. 1978. – Käthis Zähmig. Berndt. Bearbeitung nach Shakespeares ›Widerspenstigen Zähmung‹. 1991. – Nötli. Vo Lüt u Chüngle, Gäud u Liebi. Lustspiel. 1999. – Ein Sommernachtstraum. Berndt. Bearb. nach W. Shakespeare. 2000. – Dr Chutz. Ein histor. Bilderbuch mit Musik, Bild, Gesang u. Wort. 2004. – Dällebach Kari. Eine kleine Berneroper. 2006 (Belp 2004). Dominik Müller / Björn Weyand
Michel, Robert, * 24.2.1876 Chaberˇ ice/ Böhmen, † 12.2.1957 Wien. – Erzähler, Dramatiker, Publizist. Der Sohn eines kaiserl. Ökonomieverwalters besuchte das Gymnasium in Prag u. trat 1890 in die Prager Infanteriekadettenschule ein. Seine weitere militärische Laufbahn führte M. 1895 nach Wien, wo er in Leopold von Andrian u. Hofmannsthal Förderer u. Freunde fand. Erste literar. Versuche erschienen in Bahrs Wochenzeitschrift »Die Zeit« u. in der »Neuen Deutschen Rundschau«. Entscheidend für sein Schaffen wurde ein zweijähriger Aufenthalt im Okkupationsgebiet Bosnien-Herzegowina von 1898 bis 1900, dessen südslawisch-oriental. Kultur ihn tief berührte u. in seinem Werk zu detailreichen, einfühlsamen Darstellungen gelangte. Der exot. Reiz dieses Schauplatzes trug wesentlich bei zum Erfolg seines Novellenbands Die Verhüllte (Bln. 1907), v. a. aber des Romans Die Häuser an der Dzˇ amija (Bln. 1915. Nachdr. Graz 2004), einer idyll. Dorfgeschichte.
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Während seiner Tätigkeit als Französischlehrer in Innsbruck (1900–1908) freundete sich M. mit Ludwig von Ficker an (vgl. Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1909–1914. Salzb. 1986), einige seiner Geschichten von Insekten (Bln. 1911) wurden auch in dessen »Brenner« abgedruckt; hier entwickelte M. seine zentrale These von der Bedeutung des »scheinbar Geringfügigen«. Nach seiner Rückkehr nach Wien arbeitete er im Kriegsarchiv, im Ersten Weltkrieg war er im Kriegspressequartier u. als Kriegsberichterstatter für die »österreichische Rundschau« u. die »Vossische Zeitung« tätig. M.s Popularität ausnützend, veröffentlichte S. Fischer u. a. die fingierten Briefe eines Hauptmannes an seinen Sohn (Bln. 1916). Gemeinsam mit Bahr u. Max Devrient leitete M. 1918 das Wiener Burgtheater, in der Folge lebte er als freier Schriftsteller. Mit dem 1927 in Wien erschienenen Roman Jesus im Böhmerwald, der Legende vom trag. Leben u. Sterben eines Kindes, konnte sich der ständig mit Finanzproblemen konfrontierte M. noch einmal durchsetzen (Adalbert-Stifter-Preis; bereits 1915 Kleist-Preis). Weitere Werke: Der steinerne Mann. Bln. 1909 (R.). – Mostar. Prag 1909 (Reiseber.). – Mejrima. Bln. 1909 (D.). – Das letzte Weinen. Wien 1912 (N.n). – Fahrten in den Reichslanden. Wien 1912 (Reiseber.). – Auf der Südostbastion unseres Reiches. Lpz. 1915 (Reiseber.). – Der weiße u. der schwarze Beg. Bln. 1917 (Lustsp.). – Briefe eines Landsturmlieutnants an Frauen. Bln. 1917. – Gott u. der Infanterist. Bln. 1919 (Legenden). – Der hl. Candidus. Bln. 1919 (D.). – Die geliebte Stimme. Lpz. 1928 (R.; als Libretto für die gleichnamige Oper v. Jaromir Weinberger. Wien 1931). – Die Burg der Frauen. Wien 1934 (R.). – Slaw. Weisen. Wien 1940 (E.en). – Halbmond über der Narenta. Wien 1942. 21946 (E.en). – Das Ringelspiel. Wien 1943 (E.en). – Die Augen des Waldes. Wien 1946 (R.). – Die allerhöchste Frau. Wien 1947 (ElisabethR.). – Die Wila. Wien 1949 (R.). Literatur: Ferruccio delle Cave: R. M. Eine monogr. Studie. Diss. Innsbr. 1978. – Ders.: ›Auf der Südostbastion unseres Reiches‹: R. M., Autorschaft zwischen Böhmen u. Bosnien. In: Stifter-Jb. 9 (1995), S. 38–53. – Andrea Frindt: ›Halbmond über der Narenta‹: Bosnien-Herzegowina im Werk R. M.s (1876–1957). In: Brücken 5 (1997), S. 45–73. – Anna Babka: ›Das war ein Stück Orient‹. Raum u. Geschlecht in R. M.s ›Die Verhüllte‹. In: Gedächtnis – Identität – Differenz. Hg. Marijan Bobinac u.
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231 Wolfgang Müller-Funk. Tüb. 2008, S. 125–136. – Riccardo Concetti: Von Feen u. Schatzgräbern: über die Filmversuche R. M.s. In: Stifter-Jb. 22 (2008), S. 153–172. Johannes Sachslehner / Ferruccio delle Cave
Michelsen, Hans Günther, * 21.9.1920 Hamburg, † 27.11.1994 Riederau bei Dießen/Ammersee. – Dramatiker, Schauspieler. Nach dem Besuch mehrerer Schulen, die er ohne Abschluss verließ, war M. Soldat u. blieb bis 1949 in Kriegsgefangenschaft. Es folgten Beschäftigungen als Dramaturg in Trier, als Mitarbeiter beim BR u. Pressereferent am Schiller-Theater in Westberlin; danach arbeitete M. als freier Schriftsteller u. Übersetzer, u. a. von Theaterstücken George Bernard Shaws. Von 1973 bis 1976 war er Schauspieler am Stadttheater Bremerhaven. M. lebte später in Riederau bei Dießen am Ammersee. Mit seinen an Beckett u. dem absurden Theater geschulten Stücken zählte M. in den 1960er Jahren für die Kritik zu den »begabtesten jüngeren Dramatikern Deutschlands« (Rolf Michaelis). Den themat. Kern der frühen Dramen bilden das Weiterwirken des NS-Faschismus sowie die v. a. psycholog. Spätfolgen des Krieges in der bundesrepublikan. Nachkriegsgesellschaft. Exemplarisch zu nennen ist an erster Stelle das Drama Stienz (Urauff. 1963), erstmals publiziert in der von Hans Magnus Enzensberger veröffentlichten Anthologie Vorzeichen (Ffm. 1962): Ein ehemaliger Major, wohnhaft in einem Trümmerhaus, wird durch die aus dem Off erklingenden Schritte u. militarist. Schreie (»Jawohemajo«) seines ehemaligen Hauptfeldwebels Stienz von der Verschriftlichung seiner Memoiren abgehalten, durch die er die Vergangenheit des Krieges zu überwinden versucht. Stienz repräsentiert die bedrohl. Verkörperung eben dieser Vergangenheit, deren unterdrückender Macht sich der Major nicht entziehen kann; am Ende bleibt die Bewältigung der Geschichte u. mit ihr der Schritt in die »neue Welt« aus. Während die Hauptfigur in Stienz zumindest den – gleichwohl vergeblichen – Wunsch nach histor. Aufarbeitung hegt, stellen sich
die fünf ehemaligen Nazi-Offiziere, die M. in seinem bekanntesten Stück Helm (Urauff. 1965) präsentiert, keineswegs einer solchen Herausforderung. Im Gegenteil: Diese Männer haben sich scheinbar problemlos in der Wirtschaftswunder-Gesellschaft eingerichtet u. ihre faschistische u. nationalist. Ideologie ungebrochen in die Demokratie übernommen, wenn auch unter dem Deckmantel einer unscheinbaren bürgerl. Existenz. Das feuchtfröhl. Zusammentreffen mit einem ihrer früheren Opfer, dem seinerzeit wegen einer Bagatelle zum Krüppel geschossenen Küchenunteroffizier u. jetzigen Gastwirt Fritz Helm, mündet in die Einladung, sein Jagdrevier zu besichtigen. Schließlich stehen die Männer auf einer Waldlichtung, auf Helm wartend, der sie aus dem Hinterhalt beschießt. Wie man von Stienz immer nur die Schritte u. sein Geschrei vernimmt, so hört man von Helm lediglich die Schüsse aus der Flinte als Signale einer Vergangenheit, die plötzlich wiederaufersteht u. Bewältigung oder Versöhnung unmöglich erscheinen lässt. Die Anerkennung, die M. u. a. für diese beiden Stücke erhielt, wurde in den darauffolgenden Jahren nicht bestätigt. Nach dem Misserfolg von Planspiel (Urauff. 1969) folgten zunächst keine neuen Werke. Ab 1977 wurden zwar neue u. politisch deutlich radikalisierte Stücke aus dem Arbeiter- u. Kleinbürgermilieu publiziert u. zur Aufführung gebracht (Sein Leben, Urauff. 1977; Alltag, Urauff. 1978; Kindergeburtstag, Urauff. 1981), von Erfolg beim Publikum u./oder bei der Kritik war dieses Comeback jedoch nicht gekrönt. M. erhielt u. a. den Gerhart-HauptmannPreis (1965) sowie den Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen (1965). Weitere Werke: Lappschiess. Ffm. 1963. – Feierabend 1 u. 2. In: Spectaculum 6 (1963). – Frau L. In: Dt. Theater der Gegenwart. Hg. Karlheinz Braun. Ffm 1967. – Zu Hause. ZDF 1968 (Fernsehfilm). – Drei Hörspiele. Episode. Kein schöner Land. Ein Ende. Ffm. 1971. Literatur: Rainer Taëni: Drama nach Brecht. Möglichkeiten heutiger Dramatik. Eine Einf. in dramaturg. Probleme der Gegenwart an Hand eingehender Analysen v. Werken der Autoren Dorst, Hildesheimer, M., Walser, Kipphard, Weiss. Basel
Mickel 1968, S. 46–82. – Marianne Kesting: H. G. M. – Gespenster der Vergangenheit. In: Panorama des zeitgenöss. Theaters. 58 literar. Porträts. Hg. dies. Rev. u. erw. Neuausg. Mchn. 1969, S. 320–323. – Lâle Köseogˆlu: Die Stellung der Frauenfiguren in den Dramen v. Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch u. H. G. M. bis 1968. Hbg. Diss. 1974. – Moray McGowan u. Michael Töteberg: H. G. M. In: KLG. Kai Sina
Mickel, Karl, * 12.8.1935 Dresden, † 20.6. 2000 Berlin; Grabstätte: ebd., Dorotheenstädtischer Friedhof. – Lyriker, Erzähler, Dramatiker; Dichtungstheoretiker. Weitgehend unbekannt im Westen, wurde M. auch in der DDR nur geringe Aufmerksamkeit zuteil. Gleichwohl überschlugen sich nach seinem Tod die Urteile der Experten hinsichtlich M.s Rang u. Bedeutsamkeit. Gewürdigt werden aber nicht nur Gewicht u. Bedeutung des Werks, sondern auch der Charakter M.s, der die mangelnde Bekanntheit des Werks mit erklären mag: »ein hochgelehrter Kauz«, so Kerstin Hensel, »ein sensibler, kreativer, sinnlicher, kostbarer, elitärer Widerpart«, so Friedrich Schenker, der zahlreiche Texte M.s vertonte. M.s Unnachgiebigkeit sich selbst wie aller Kunst gegenüber verweigert einfache Zugänglichkeit. »Zur Gedichtlektüre gehört Muße; deshalb setze ich meine Hoffnung in fortschreitende Verkürzung der Arbeitszeit«, erklärte er dem Publikum schon Mitte der 1960er Jahre angesichts der von Rudolf Bahro initiierten Lyrikdebatte in der FDJ-Zeitschrift »Forum«. Sich auf eine Anzahl von fünf Gedichten jährlich zu beschränken, nachdem die Techniken des Verseschreibens einmal angeeignet sind, ist aber nicht bloße Attitüde, um sich abzugrenzen von Massenproduktionen modischer Lyrikwellen. Die dichterische Konzentration bedingt ein nur schmales lyr. Œuvre. Der erste Band Lobverse und Beschimpfungen erschien 1963 (Halle/ S.), es folgten Vita Nova Mea (Bln./DDR 1966) u. Eisenzeit (Halle/S. 1975). Viele Gedichte des ersten Bands halten dem Anspruch einer Werkausgabe nicht stand u. wurden von M. 1990 aussortiert. Im Rahmen der Werkausgabe erschienen im letzten Jahr der DDR
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Palimpsest. Gedichte und Kommentare 1975–1989 (Halle/S. 1990) u. 1999 als Privatdruck Geisterstunde (Neuaufl. Gött. 2004). Das kleine, gerade fünfzeilige Gedicht Der November von 1965 führt exemplarisch M.s Haltung vor: Ein Ich behauptet aktiv seine Position als Dichter, indem es den poet. Anspruch, Geschichte sprachlich zu formen, reklamiert. In keinem Gedicht kommt M.s Materialismus drastischer zum Ausdruck als in dem 1963 entstandenen Der See. Die zuständigen Gemüter erregend, markiert das Gedicht eine Zäsur auf dem lyr. Terrain der DDR wie auch im Leben M.s. Es führt den Ton energisch ins Aggressive u. lässt die stupiden kulturpolit. Forderungen der Zeit nach Realismus, nach der heroischen Landschaft des sozialist. Aufbaus in einer konsequenten Dialektik von Zerstörung u. Vernichtung implodieren. Das Aussaufen des Gewässers, im Gedicht allegorisch vollzogen, vernichtet das Material naturlyr. Erbes. Einzigartig in der DDR, setzt M. dem zentralen marxist. Begriff der Arbeit den Genuss entgegen. M. gehörte einer Generation junger Lyriker an, die, in den späten 1950er Jahre sich formierend, ihr Selbstverständnis aus dem Gegensatz zu den verordneten Doktrinen der Kulturpolitik wie auch der Lyrik des Westens gewinnt. Stolz auf die proletarische Herkunft, trat er mit 17 Jahren in die SED ein, studierte ab 1953 Wirtschaftsgeschichte zunächst bei Hans Mottek an der Ostberliner Hochschule für Ökonomie u. ab 1956 bei Jürgen Kuczynski sowie Archivkunde bei Heinrich Otto Meisner an der HumboldtUniversität. Als Marxist forschte er nach den histor. Triebkräften u. ihren materiellen ökonom. Bedingungen u. suchte nicht zuletzt im Alltäglichen den histor. Stoff noch vor seiner ideolog. Bewältigung. 1960 wechselte M. von der Redaktion der Wirtschaftszeitung »Der deutsche Außenhandel« zur FDJ-Zeitschrift »Junge Kunst«, in der sich seit 1957 das neue Selbstbewusstsein junger Künstler dokumentierte. Die Zeitung wurde 1962 mit dem berüchtigten Argument der Papierknappheit im Zuge der »Bereinigung« der Zeitschriftenlandschaft in der DDR eingestellt. M. begegnete B. K. Tragelehn, lernte Adolf Endler kennen sowie
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Georg Maurer, Prof. am Institut für Literatur Johannes R. Becher in Leipzig. Unter marxist. Vorzeichen, aber zgl. undogmatisch vermittelte dieser in seinen Seminaren Literaturgeschichte von Dante bis Pound u. Saint-John Perse u. suchte nach Maßstäben für eine eigenständige moderne Lyrik in der DDR. Forderte Maurer von seinen Schülern – die sich nicht ohne Ironie den Namen Sächsische Dichterschule zulegten – Genauigkeit in der Wirklichkeitsbeobachtung, steigerte sich ihr poet. Wetteifer zu einem Kampf um eine historisch-materialist. Ästhetik. Kontur gewann diese bei M. schon im ersten Band Lobverse und Beschimpfungen von 1963. Nicht mehr auf Kontinuität u. Fortführung des klass. Erbes in sozialist. Gegenwart, sondern auf ein Prinzip wird verwiesen, das M. Schiller entlehnt u. sich als zentrale poetologisch-histor. Kategorie einverleibt: »Stoffvernichtung« betont gerade nicht die Sehnsucht nach harmonischer Einheit von Mensch u. Natur, welche in Kunst eingelöst scheint, sondern vielmehr deren untergründige Bedingung, die sentimental. Kondition des modernen Dichters inmitten einer nach wie vor zwiespältigen u. widerspruchsvollen Realität. Im Kontext der mit Endler gemeinsam herausgegebenen Anthologie In diesem besseren Land (Halle/S. 1966) erschließt das Prinzip der Historisierung oder »Stoffvernichtung« die Epoche der DDR-Lyrik seit 1945. Während sich an M.s Der See die Lyrikdebatte entzündete, brachten ihm die Auseinandersetzungen um das Vorwort ein Parteiverfahren mit der Folge eines Veröffentlichungsverbots ein. M. schlug sich in der Folgezeit v. a. mit Übersetzungsarbeiten durch, kehrte mit einem Lehrauftrag an die Hochschule für Ökonomie zurück u. begann am Roman Lachmunds Freunde zu arbeiten. Die ursprüngl. Keimzelle, die Lachmund-Novelle von 1962, verdeutlicht, Fiktionalität u. Kunstreflexion verknüpfend, einmal mehr M.s enge Verbindung zum 18. Jh., dem er seine poet. Verfahren vielseitig ablauscht. Für das Romanprojekt, eine Collage von Zeitgeschichte, ästhetischer u. philosoph. Reflexion u. Fiktion, ließ sich M. Zeit. Erst 1991 erschien der erste Teil als Band 6 der Werk-
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ausgabe. Das Bild des Boxkampfs strukturiert sowohl als narrativer Gegenstand wie als Metapher den Roman, der die Geschichte dreier Freunde in den ersten Jahren der DDR erzählt. Fantastisches mit Wirklichem verschmelzend, entwirft der zweite Band des Lachmund-Romans (hg. v. Klaus Völker. Gött. 2006) ein poet. Sachsen gegen die preußischprotestant. DDR. Vergleichbar mit Heiner Müller u. Peter Hacks griff er auf antiken Stoff zurück, um im Drama Nausikaa sowie im Gedicht Odysseus in Ithaka (1965) stagnierende Gegenwart zu beschreiben u. zu überwinden. 1970 wurde M. von Helene Weigel als dramaturg. Mitarbeiter am Berliner Ensemble engagiert u. betreute zahlreiche Arbeiten von Ruth Berghaus. Er lernte Paul Dessau kennen, der u. a. seinen Einstein (Bln. 1974) vertonte. Als komisches Pendant gelangte im gleichen Jahr Celestina oder die Tragikomödie von Calisto und Melibea zur Aufführung im Berliner Ensemble, eine Dramatisierung des altspan. Romans von Fernando de Rojas. Ab 1978 lehrte M. zunächst als Dozent u. ab 1992 als Prof. für Verssprache u. -geschichte an der Berliner Schauspielschule Ernst Busch. Zum Zeichen vollständiger Rehabilitierung wurde er 1986 in die Akademie der Künste der DDR gewählt. M.s Ehrgeiz zielte auf die Erfüllung sämtlicher Gattungen: Lyrik u. Libretti, Drama u. Roman u. die dichtungstheoret. Aufsätze u. Reden. In den im zweiten Band der Schriften (Palimpsest) versammelten Gedichten von 1975 bis 1989 potenziert sich Geschichte zur gegenständl. Bedrohung. Jetzt ist es der eigene Körper, der vom histor. Prozess verbraucht wird. Wurde in den 1960er Jahren Geschichte noch als abstraktes Prinzip beschworen, so erreicht der Materialismus jetzt den eigenen Körper, in dem er sich bezeugt, so in Theodicee (1986): »Ja sichtbarlich erhebt sich das Gerippe / Es kriecht ins Fleisch des Lebens, das da klaget«. Schreibt sich Geschichte dem Körper ein, so wird dieser zu ihrem Zeichen, zum Palimpsest. Zwangsläufig muss die Perspektive wechseln, müssen die beiden ineinander verschränkten Prinzipien von Genuss u. Geschichte neu akzentuiert werden.
Micovich
Noch im Todesjahr erschien im Rahmen der Werkausgabe der Band mit der Essayistik M.s u. d. T. Gelehrtenrepublik (Halle/S.), befreit vom Epitheton des Nationalen. Klopstocks Deutsche Gelehrtenrepublik von 1774 setzt den histor. Ausgangspunkt. Gleich der erste Satz des 1976 erschienenen Essays betont das Verfahren: »Die deutsche Gelehrtenrepublik, eine große Satire der Deutschen. Ich korrigiere mich. Klopstocks Weltbild ist eigentümlich unhistorisch« (Schriften 5, S. 25). M.s gegen jeden klassizist. Ewigkeitsanspruch gekehrtes Prinzip heißt Korrektur, die im Essay wie auch im Gedicht Tradition u. Gegenwart, Nähe u. Distanz zusammenschließt. Es sind Reflexionen eines Poeta doctus, die, im Steinbruch der Literaturgeschichte sich bedienend, Literaturgeschichte erst erschaffen, um im ebenbürtigen Zwiegespräch mit den großen Kunstwerken und den Geistern der Vergangenheit den eigenen Standort zu erkunden, sei es in der DDR, sei es im Rückblick auf ihr Verschwinden. Literatur: Manfred Jäger: K. M. In: KLG. – Erdmut Wizisla: K. M. In: LGL. Leon Hempel
Micovich, Jo, eigentl.: Jo Mitzkéwitz, * 9.5.1926 Barmen, † 8.7.2008 Wuppertal. – Dramatikerin, Hörspielautorin u. Erzählerin.
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Problemen Jugendlicher oder dem Widerstand des Einzelnen. Im Hörspiel Die Gedanken sind frei (WDR 1989) thematisiert sie die Haftbedingungen u. den Anspruch auf Resozialisierung im bundesdt. Strafvollzug. Das Hörspiel Cranger Kirmes (WDR 1989) handelt von der Liebe eines jungen Mannes aus dem Ruhrgebiet zu seiner bayerischen Freundin u. veranschaulicht emotionale u. soziale Konflikte. Die erst nach M.s Tod erschienene Erzählung Niemand ist entkommen. Eine Jugend im Hitlerstaat 1943 bis 1945 (Wuppertal 2008) erzählt von den Erinnerungen eines alten Mannes, der als Junge im Zweiten Weltkrieg Schreckliches erleben musste u. dem es trotz aller Bemühungen nicht gelingt, der Realität zu entfliehen. Für ihre Kurzprosa Bau eines Floßes (Aachen 1990) erhielt M. den Walter-HasencleverPreis, außerdem 1998 den Heinz-Risse-Preis (Solingen) für Kurzprosa. M. war auch als Herausgeberin u. Verlegerin tätig u. leitete seit 1979 Seminare u. Literaturwerkstätten an Volkshochschulen u. in Justizvollzugsanstalten. Immer wieder hielt sie sich in Spanien auf, wo sie auch beerdigt wurde. Weitere Werke: Sprechen lernen. Urauff. Hamm 1979 (Einakter). – Lücke in der Schallwand. Mainz 1979 (L.). – Die unbekannte Schweiz. Mainz 1980 (Prosacollage). – Erdbeeren. Bonn 1981 (Einakter). – Zugfahrt. Köln 1986. WDR 1986 (Hörsp.). – Breidenbach. WDR 1988 (Hörsp.). – Katalonien 1925. Rias 1992 (Hörsp.).
M., deren Vater Verwaltungsbeamter war, wuchs in Wuppertal auf. Nach dem Realschulabschluss nahm sie drei Jahre privaten Rosemarie Inge Prüfer / Red. Schauspielunterricht. 1950 gründete sie in Wuppertal das Ein-Mann-Puppentheater »Vagantenbühne«, mit dem sie über drei Micraelius, Johannes, eigentl.: J. LütkeJahrzehnte unterwegs war u. in dem sie auch schwager, * 1.9.1597 Köslin/Pommern, selbst auftrat. Ihre hieraus resultierenden † 3.12.1658 Stettin. – Historiker, RhetoErfahrungen veröffentlichte M. in einem riker, Theologe, Philosoph, Poet. Handbuch für Pädagogen, Das 1 x 1 des Handpuppenspiels (Wuppertal 1977). M., Sohn eines Archidiakons, erhielt seine Nach ersten Beiträgen für Zeitungen u. Li- Schulausbildung in Köslin u. Stettin. Seit teraturzeitschriften 1951 schrieb M. v. a. 1617 studierte er in Königsberg, wo er für den Bühnenstücke wie Der 60. Breitengrad (1977), brandenburgischen Sekretär Philipp Frenklin Die Spinne u. Weiss Blütenweiss (beide Urauff.en Akten übersetzte. In Greifswald erwarb er Kammerspiele Hamm 1978) sowie Gedichte den Magistergrad der Philosophie. 1623 hielt zum 50. Todestag von Federico García Lorca, er in Leipzig Kollegien u. lehrte ab 1624 als An den Absturz gelehnt (Wuppertal 1985). Professor der Rhetorik am Pädagogium in M. wollte für ein breites Publikum ver- Stettin. Während seiner 17-jährigen Tätigkeit ständlich sein. Ihr Interesse galt häufig den dort – u. a. auch als Professor der Theologie –
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leitete er seit 1627 auch die Ratsschule. Zu Krieges. Osterwieck 1897. – Lutz Geldsetzer: Über seinen schulreformerischen Bemühungen das philosoph. Lexikon des J. M. u. die philosoph. (s. u. a. De methodo in disciplinis, 1648) gehörte Lexikographie. Düsseld. 1966. – Wilhelm Schmidtauch, dass er den »sermo latinus« als Unter- Biggemann: Topica universalis. Hbg. 1983, S. 84, 292. – Wolfgang Dahle: J. M. – ein pommerscher haltungssprache der Schüler einführte. Den Pädagoge u. Historiker. In: Stettiner Bürgerbrief theolog. Doktorgrad erwarb er 1649 in (1998), S. 16–21. – Ders.: Pädagoge, Theologe u. Greifswald, wo er seit 1656 auch Prokanzler Verfasser der ›Pommernchronik‹. In: Heimath.e für der Universität war. Mecklenburg u. Vorpommern 8 (1998), S. 21–25. – Von seinen vielen Schriften – u. a. Schul- Katharina Berger: J. M. (1597–1658). In: Dies.: komödien mit Themen aus der Antike, ein Erzählungen u. Erzählstoffe in Pommern. Münster Drama anlässlich des Todes von Gustav Adolf u. a. 1999, S. 10. Franz Günter Sieveke mit der Klage des Volkes über den Tod des Retters, Disputationen u. Gelegenheits- Micyllus, Jacobus, eigentl.: Jakob Moltzer, schriften – behielt sein Geschichtswerk Altes * 6.4.1503 Straßburg, † 28.1.1558 HeiPommer Land [...] (Stettin 1640. Neuaufl. 1723. delberg. – Humanist, nlat. Dichter. Nachdr. mit einem Vorw. v. Roswitha Wisniewski. Hildesh. 2009) als Quellenwerk M. studierte 1518–1522 in Erfurt klass. Phibleibenden Wert. Seine histor. Kenntnisse lologie, danach setzte er das Studium in manifestieren sich auch in Syntagma historia- Wittenberg fort. Mit seinen Lehrern Eobanus rum ecclesiae (Stettin 1630. 41699) u. Syntagma Hessus u. Philipp Melanchthon blieb M. eng historiarum mundi (Stettin 1627. 2., verm. befreundet. Mehrere Gedichte bis zum EpiceAufl. 1633). Von den theolog. Schriften sei dion in Eobani Hessi Poetae (in: Sylvae I, sein Hauptwerk Ethnopronius, tribus dialogorum S. 41–56) drückten M.’ Verehrung für Hessus libris, contra gentiles [...] (Stettin 1647. 31674) aus. Im Kreis um Hessus, der sog. jüngeren erwähnt, das über die Unsterblichkeit der Erfurter Poetenschule, wurde M. zu ersten Seele, das Sein Gottes u. dessen Eigenschaften lat. Versen angeregt. Anlässlich der Todesfälle handelt. Hervorzuheben sind auch seine Ta- zweier bekannter Humanisten konnte er auch bellae historicae ad millenaria et secularia omnium Melanchthon, der ihn für das Lehramt ausregnorum et rerump. tempora [...] (Stettin 1652) bildete, von seinem poet. Talent überzeugen, mit ihren nach Nationen geordneten Auf- indem er sich an dem Wettbewerb beteiligte, zählungen von Herrscherdynastien u. Kom- Petrus Mosellanus ein literar. Denkmal zu mentierung geografischer Orte, Personen u. setzen, u. ein weiteres Epicedion für seinen Vorgänger als Leiter der Frankfurter Lateinanderer interessanter Fakten. Von unschätzbarem Wert für die Kenntnis schule, Wilhelm Nessen, verfasste (Erstdr.e der Wissenschaftsgeschichte des 17. Jh. ist das Wittenb. 1524. In: Sylvae I, S. 1–16.). Mit eiLexicon philosophicum terminorum philosophis nem Empfehlungsschreiben Melanchthons usitatorum (Jena 1653. 2., verb. Aufl. Stettin verließ M. 1524 Wittenberg. In einem Hodoe1662. Neudr. mit Einl. v. Lutz Geldsetzer. poricon beschreibt er in lyr. Szenen die Fahrt Düsseld. 1966). M. nahm hier die Termino- nach Frankfurt/M. (Wittenb. 1527. In: Sylvae logie aller klass. Wissenschaften der Artes li- III, S. 19–216. Deutsch in: Classen 1859, s. berales auf. Das Werk, dem ein Entwurf zu Literaturverz., S. 276–313). Obwohl M. einen einem enzyklopäd. Stammbaum der Wissen- Ruf an die Wittenberger Universität erhalten schaften beigegeben ist, wurde als »Lexicon hatte, trat er 1526 endgültig sein Amt als Rektor der seit 1520 bestehenden LateinPansophicum« bezeichnet. schule in Frankfurt an. Dieses in humanisLiteratur: Hennig Witte: Memoriae theologotisch-reformatorischem Geist gegründete rum. Ffm. 1674, S. 1282 ff. – Daniel Hartnack: Vorrede zur Bearb. des Syntagma historiae ecclesi- Gymnasium musste in Konkurrenz zu drei asticae. Lpz./Ffm. 1699. – Christian Wilhelm Ha- Stiftsschulen treten. Wiederholt beklagte M. ken: Versuch einer diplomat. Gesch. v. Cöslin. in Briefen u. Gedichten die gegen ihn geLemgo 1765. – von Bülow: M. In: ADB. – Karl richteten Angriffe u. Verleumdungen von Krickeberg: J. M., ein Dichter des dreißigjährigen kath. Seite u. den Niedergang der Schule.
Micyllus
Nachdem M. erklärt hatte, nicht dem Luthertum anzuhängen, erhielt er 1533 die Professur für griech. Philologie an der Universität Heidelberg. Die schlechte finanzielle Ausstattung des Lehrstuhls bewog ihn 1537 zur Rückkehr auf seinen Frankfurter Posten. In dieser zehnjährigen zweiten Amtszeit als Rektor beteiligte er sich an der Reform des Schulwesens u. erwarb sich durch Lehrpläne u. didakt. Leitlinien den Ruf eines frühen Reformpädagogen. Auch in Heidelberg, wo er ab 1547 bis zu seinem Tod erneut als Griechischprofessor wirkte, setzte er sich mit Unterstützung Melanchthons für eine Universitätsreform ein. Als Lehrer an Schule u. Hochschule verfasste M. verschiedene wiss. Arbeiten, darunter die Verslehre De re metrica (3 Bde., Ffm. 1539) u. eine Abhandlung über Geschichte u. Aufbau der antiken Tragödie (De tragoedia et eius partibus prolegomena quaedam. Basel 1562; dazu Daskarolis 2000). Dazu traten mancherlei Editionen (Livius, Lukan, Martial, Ovid, Valerius Maximus, aber auch Boccaccios De Genealogia Deorum, 1532) sowie Übersetzungen nicht nur ins Lateinische (Lukian), sondern auch ins Deutsche, darunter die Werke des Tacitus (1532. 1612). An beiden Stätten seines Wirkens boten sich für M. zahlreiche Anlässe, seine poet. Kunstfertigkeit unter Beweis zu stellen. Überwiegend in eleg. Dichtung erzählte M. nicht nur Begebenheiten aus seinem persönl. Umfeld, berichtete über seinen Alltag u. drückte seine Stimmungen aus, sondern er kommentierte auch, oft kritisch, die Zeitgeschichte. So richtete er im Namen der Stadt Frankfurt ein Huldigungsgedicht an Kaiser Karl V., in dem er die Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden u. die Überwindung der Glaubensspaltung ausdrückt (1530. In: Sylvae II, S. 101–109). Vor allem in Heidelberg entstanden Gedichte, die sich von der durchschnittl. Gebrauchslyrik abhoben. In einem Briefgedicht an seinen ehemaligen Studienkollegen Camerarius schilderte M. den Brand des Heidelberger Schlosses in eindringl. Versen (Conflagratio arcis veteris Heidelbergensis. Erstdr. Tüb. 1537. In: Sylvae III, S. 216–228. Abdr. mit Übers. u. Komm. in: Parn. Pal.). Vom großen Schützenfest, das Kurfürst
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Friedrich 1554 veranstaltete, entwarf er in einem »Toxeuticon« ein lebendiges Bild (Certamen sagittariorum, celebratum Heidelbergae. Erstdr. Heidelb. 1554. In: Sylvae III, S. 252–267; dazu Wiegand 2000). Eindrucksvoll ist das Trauergedicht auf den Tod seiner Frau, Epicedion in obitum Gertrudis uxoris suae (in: Sylvae I, S. 57–69; dazu Kühlmann 1994/2006), in dem sich der Übergang von der Sprache der antiken Liebeslyrik zum bürgerl. Ehelob studieren lässt. Neben der Elegie beherrschte M. sämtl. lyr. Kleinformen der Gelegenheitsdichtung. Die meisten poet. Arbeiten stellte M.’ Sohn Julius in den Sylvarum libri quinque (Ffm. 1564) zusammen. Teilausgaben: Internet-Ed.: CAMENA. – Vorreden u. Paratexte der Ed.en mit Komm. in: EH, Abt. I: Die Kurpfalz. Bd. 3, Turnhout (in Vorb., ersch. ca. 2010). – Gedichte: Parn. Pal., S. 16–37 mit der Vita S. 278–280. – HL, S. 359–393 mit dem Komm. u. der älteren Lit. S. 1159–1177. Literatur: Joannes Fridericus Hautz: J. M. [...] Commentatio historico-literaria. Heidelb. 1842 (mit Bibliogr.). – Johann Classen: J. M. [...] als Schulmann, Dichter u. Gelehrter. Ffm. 1859. – Ders.: Nachträge zu der Biogr. des J. M. Ffm. 1861. – Georg Ellinger: J. M. u. Joachim Camerarius. In: Neue Jbb. für das klass. Altertum, Gesch. u. dt. Lit. u. für Pädagogik 24 (1909), S. 150–173. – Ellinger 2, S. 28–44. – Otto Clemen: Zu J. M. In: Neue Heidelberger Jbb. N. F. (1941), S. 1–11. – Arthur Henkel: ›In Mortem Simii Heidelbergensis‹. Zu einem Epikedion des J. M. In: FS Leonard Forster. Baden-Baden 1982, S. 264–280. – Hermann Wiegand: Hodoeporica. Baden-Baden 1984, S. 63–71. – Robert Seidel: Gelehrte Freundschaft. Die ›Epistola ad Philippum Melanchthonem‹ des J. M. In: Daphnis 19 (1990), S. 567–633. – Franz Lerner: M. In: NDB. – Wilhelm Kühlmann: Von der erot. Elegie zum bürgerl. Ehelob. Bilder der Weiblichkeit in der Dichtung des dt. Humanismus (Jacob M. u. Petrus Lotichius Secundus). In: Kühlmann (2006), S. 183–210 [zuerst 1994]. – H. Wiegand: Deutsch u. Latein in der Dichtung der Frühen Neuzeit. Zu zwei poet. Bearbeitungen eines Heidelberger Schützenfestes v. 1554. In: Ders.: Der zweigipflige Musenberg. Studien zum Humanismus in der Kurpfalz. Ubstadt-Weiher 2000, S. 65–90 [zuerst 1995]. – Anastasia Daskarolis: Die Wiedergeburt des Sophokles aus dem Geist des Humanismus. Tüb. 2000, S. 136–143. – Ulrich Schlegelmilch: Destructio templi. Brandschilderungen in nlat. Gedichten des 16. Jh. (Beuschel, M., Grapheus). In: Würzburger Jbb. für Altertumswiss.
237 N. F. 27 (2003), S. 181–194. – Walther Ludwig: Die Epikedien des Lotichius für Stibar, M. u. Melanchthon. In: Ders.: Miscella Neolatina. Bd. 2, Hildesh. u. a. 2004, S. 235–267. – Ders.: Antike Metrik im 16. Jh. Die unbekannten metr. Kunststücke des Jakob M. In: Philologus 150 (2006), S. 290–330. Rev. u. erw. wiederabgedr. in: Ders.: Supplementa Neolatina [...]. Hg. Astrid Steiner-Weber. Hildesh. 2008, S. 51–95. Jörg Köhler / Wilhelm Kühlmann
Miegel, Agnes, * 9.3.1879 Königsberg, † 26.10.1964 Bad Salzuflen; Grabstätte: Bad Nenndorf, Bergfriedhof. – Lyrikerin u. Erzählerin. Die Tochter eines Kaufmanns ließ sich nach ihrer Pensionatszeit in Weimar ab 1902 für zwei Jahre in Bristol als Lehrerin ausbilden u. unternahm Studienreisen durch Frankreich u. Italien. 1920–1926 leitete sie das Feuilleton der »Ostpreußischen Zeitung«. Danach arbeitete sie als freie Schriftstellerin in Königsberg. 1945 musste sie fliehen u. lebte ab 1948 in Bad Nenndorf. 1901 erschienen in Börries von Münchhausens »Göttinger Musenalmanach« M.s erste Balladen. Noch im selben Jahr brachte Cotta in Stuttgart ihre Gedichte heraus. Ihren frühen Ruhm begründeten die Balladen und Lieder (Jena 1907), die trotz formaler Brillanz dem 19. Jh. verhaftet blieben. M. wählte zunächst v. a. Gestalten aus der Geschichte, der Sage oder dem Märchen, die sie mythisch überhöhte. Später kamen gefühlsbetonte Gedichte u. archaisch anmutende Erzählungen (Geschichten aus Alt-Preußen. Jena 1926. Noras Schicksal. Königsb. 1936) hinzu, in denen sie ihre ostpreuß. Heimat fast hymnisch verklärte. M. galt ihren konservativen Zeitgenossen noch in der Weimarer Republik als »größte lebende Balladendichterin«. Bereits 1916 hatte sie den Kleist-Preis erhalten; 1924 wurde sie mit der Ehrendoktorwürde der Königsberger Universität ausgezeichnet. Von den Nationalsozialisten mit Ehrungen überhäuft, bekannte sich M. öffentlich immer wieder zum NS-Staat. Nach dem Zweiten Weltkrieg publizierte sie ungebrochen weiter u. wurde v. a. von den Vertriebenenorganisationen gefördert. Um ihr Andenken kümmert sich heute die Agnes-Miegel-Gesellschaft.
Miegel
Eine krit. Auseinandersetzung mit ihrem Werk stand lange Zeit aus; jedoch hat in den 1990er Jahren u. bes. seit der Jahrtausendwende eine rege Forschungstätigkeit zu M. eingesetzt. Weitere Werke: Gedichte u. Spiele. Jena 1920. – Ostland. Jena 1940 (L.). – Du aber bleibst in mir. Hameln 1949 (L.). – Truso. Düsseld./Köln 1958 (E.). Ausgaben: Ges. Werke. 7 Bde., Düsseld./Köln 1953–65. – Gedichte aus dem Nachl. Hg. Anni Piorreck. Düsseld./Köln 1979. – Aus alten Ztg.en u. Schr.en. Feuilletons u. ein Vortrag. Hg. A.-M.-Gesellsch. Bad Nenndorf 1994. – Wie ich zu meiner Heimat stehe. Beiträge in der ›Königsberger Allgemeinen Ztg.‹ (1926–32). Hg. Helga Neumann u. Manfred Neumann. Schnellbach 2000. – ›Als wir uns fanden, Schwester, wie waren wir jung‹. A. M. an Lulu v. Strauß u. Torney. Briefe 1901–22. Hg. Marianne Kopp u. Ulf Diederichs. Augsb. 2009. Literatur: Bibliografie: Alfred Podlech: A.-M.Bibliogr. Detmold/Minden 1973. – Weitere Titel: Ruth Maria Wagner (Hg.): Leben, was war ich dir gut. A. M. zum Gedächtnis. Leer 1966. – Anni Piorreck: A. M. Düsseld./Köln 1967. Neuaufl. Mchn. 1990. 22001. – Klaus-D. Hoffmann: Das Menschenbild bei A. M. Dortm. 1969 (mit Bibliogr.). – Harold Jensen: A. M. u. die bildende Kunst. Leer 1982. – R. M. Wagner: A. M. Bonn 21985. – Annelise Raub: Nahezu wie Schwestern. A. M. u. Annette v. Droste-Hülshoff. Grundzüge eines Vergleichs. Bad Nenndorf 1991. – Marianne Kopp: Kindheit u. Alter im Werk v. A. M. Bad Nenndorf 1993. – Dies.: Annette v. Droste-Hülshoff u. A. M. Ihre E.en ›Die Judenbuche‹ u. ›Die Fahrt der sieben Ordensbrüder‹. In: Westpreußen-Jb. 46 (1996), S. 87–105. – Helga u. Manfred Neumann: A. M. Die Ehrendoktorwürde u. ihre Vorgesch. im Spiegel zeitgenöss. Literaturkritik. Würzb. 2000. – Sigita Barniskiene: Die Auswirkung des Heimatverlustes auf die Identität des lyr. Ich in den Gedichten v. A. M. In: Triangulum 7 (2000), S. 72–80. – Bärbel Beutner: Die Darstellung der Prußen im Werk A. M.s. Bad Nenndorf 2000. – H. u. M. Neumann: Die Freude am lyr. Gedicht. Die frühen Gedichte A. M.s in bedeutenden Rez.en. Bad Nenndorf 2001. – M. Kopp: ›Ich kam in dies Land wie in mein Erbe ...‹. A. M. als Dichterin der Heimat. Bad Nenndorf 2002. – Dies.: A. M. Leben u. Werk. Husum 2004. – Acar Sevim: Spuk u. Gespenster als Ausdruck des Jenseitsgefühls bei A. M. In: Bellek, mekân, imge. Hg. Mahmut Karakus¸ u. Meral Oralis¸. Istanbul 2006, S. 263–272. – Anna Gajdis: Marienmotiv im Werk v. A. M. In: Archetypen der Weiblichkeit im multikulturellen Vergleich. Hg. Miroslawa /
Miehe
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Czarnecka. Wroclaw/Dresden 2006, S. 61–67. – Walter T. Rix: ›Gleichnis höchsten Gutes‹. Königsberg im Werk v. A. M. Bad Nenndorf 2006. – Burkhard Bittrich: ›Das Land Nimmermehr‹. Ostpreußen im Werk v. A. M. In: Ostpreußen – Westpreußen – Danzig. Eine histor. Literaturlandschaft. Hg. Jens Stüben. Mchn. 2007, S. 436–449. – Bodo Heimann: Weltbürgerin der Poesie. A. M.s Gedichte neu gelesen. Bad Nenndorf 2008. /
Hans Sarkowicz / Red.
Miehe, Ulf, * 11.5.1940 Wusterhausen, † 13.7.1989 München. – Roman- u. Drehbuchautor, Regisseur. M. wurde in der Mark Brandenburg geboren u. wuchs in Norddeutschland, Berlin u. Westfalen auf. 1958 begann er eine Buchhändlerlehre u. war im Anschluss bis 1965 als Verlagsvolontär u. Lektor in Gütersloh tätig. M. arbeitete in verschiedenen Buch- u. Filmsparten in Berlin, bis er 1969 nach München übersiedelte. 1962 trat er als Koautor des Bandes Gedichte von Gertrud Höhler und Ulf Miehe zum ersten Mal öffentlich in Erscheinung. In den folgenden Jahren betätigte er sich als Herausgeber, veröffentlichte eine Lyrikanthologie u. gab 1968 mit Die Zeit in Wund anderswo (Wuppertal) sein Debüt als Prosaautor. 1973 gelang ihm mit seinem ersten Kriminalroman Ich hab noch einen Toten in Berlin (Mchn. Neuaufl. 2006) ein großer Erfolg. Das Buch wurde in zehn Sprachen übersetzt u. mit dem Literaturförderungspreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste ausgezeichnet. Seit dieser Zeit arbeitete M. als Roman- u. Filmautor u. Regisseur. Von der Kritik gelobt u. mit einem Bundesfilmpreis ausgezeichnet wurde die Script- u. Regiearbeit für John Glückstadt, nach der Storm-Novelle Ein Doppelgänger. M. starb im Alter von 49 Jahren an einer Hirnblutung. Weitere Werke: In diesem lauten Lande. 1966 (L.). – Puma. Mchn. 1976. Köln 1999 (R., mit Materialien zu Leben u. Werk). – Lilli Berlin. Mchn. 1981 (R.). – Herausgeber: Thema Frieden. Wuppertal 1965. – Panorama moderner Lyrik deutschsprachiger Länder (zus. mit Wolfgang Hädecke). Gütersloh 1966. – Drehbücher: Jaider – der einsame
Jäger. 1970. – Verflucht dies Amerika. 1973 (beide mit Volker Vogeler). Paul Stänner / Red.
Mierendorff, Carlo, auch: Dr. C. Willmer, * 24.3.1897 Großenhain/Sachsen, † 4.12. 1943 Leipzig; Grabstätte: Darmstadt, Waldfriedhof. – Politischer Publizist, Prosaautor. M., Sohn eines Kaufmanns, wuchs in Darmstadt auf. In seiner Gymnasialzeit gehörte er einem Kreis politisch-literarisch interessierter Schüler an, unter denen sich auch sein Freund Theodor Haubach befand. 1914 legte M. das Notabitur ab u. meldete sich als Kriegsfreiwilliger. Nach einer Kriegsverletzung hielt er sich 1915/16 in Darmstadt auf, wo er den Kleinverlag Die Dachstube (1915–1918) gründete. Hier erschienen auch die ersten Novellenbände, Der Gnom (1917. Darmst. 1980) u. Lothringer Herbst (1918. Darmst. 1980), »eine durchgearbeitete und nach ästhetischen Grundsätzen geplante Prosa im Stil des Expressionismus« (Albrecht, S. 26). Nach Kriegsende vollzog M. »eine radikale Abwertung der Kunst zugunsten einer radikalen Aufwertung der Politik« (Albrecht, S. 30). Orientiert an der Vorstellung, Demokratie u. Sozialismus in Deutschland zu verwirklichen, gründete M. 1919 die Zeitschrift »Das Tribunal« (ersch. bis 1920). Sie war anspruchsvoll konzipiert, moralpolitisch engagiert u. ästhet. Kriterien verpflichtet. In zahlreichen Essays u. Zeitschriftenbeiträgen setzte sich M. für den Expressionismus, die literaturpolit. Aktivität der Intellektuellen u. die Bildung u. Erziehung »der Massen« ein. M. studierte Staatswissenschaften, Soziologie u. Nationalökonomie (u. a. bei Max u. Alfred Weber). 1923 promovierte er in Heidelberg bei Alfred Lederer über Die Wirtschaftspolitik der Kommunistischen Partei Deutschlands. Er entwickelte die Idee einer polit. Wirksamkeit des Films in dem Pamphlet Hätte ich das Kino!! (Bln. 1920. Nendeln 1973). Seit 1918 für den Gewerkschaftsverband tätig, wurde M. 1930 Abgeordneter der SPD im Reichstag u. Pressereferent des hess. Innenministers Wilhelm Leuschner. 1933 ver-
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hafteten ihn die Nationalsozialisten. Er überlebte, v. a. durch Interventionen von Freunden, die Konzentrationslager Osthofen, Börgermoor, Lichtenburg u. Buchenwald. In Lichtenburg verfasste M. 1934 das histor. Drama Heinrich IV. Seit seiner Entlassung 1938 war er eine der wichtigsten Personen des sozialdemokrat. Widerstands, der Kreisauer Gruppe. M. kam bei einem Luftangriff auf Leipzig ums Leben. Ausgabe: Nachlässe Carl Ulrich (Abt. O 28), Wilhelm Leuschner (Abt. O 29) u. C. M. (Abt. ST 45). Bearb. v. Eckhart G. Franz, Eva Haberkorn u. Heike Rolf. Darmst. 2003. Literatur: Carl Zuckmayer: C. M. Porträt eines dt. Sozialisten. Bln. 1947. – Fritz Usinger (Hg.): In memoriam C. M. Darmst. 1947. – Ders.: C. M. Eine Einf. in sein Werk u. eine Textausw. Wiesb. 1965. – Jakob Reitz: C. M. Darmst. 1983. – Richard Albrecht: Der militante Sozialdemokrat. C. M. 1897–1943. Bln./Bonn 1987. – Ullrich Amlung, Gudrun Richter u. Helge Thied: ›... von jetzt an geht es nur noch aufwärts, entweder an die Macht oder an den Galgen‹. C. M. (1897–1943). Schriftsteller, Politiker u. Widerstandskämpfer. Marburg 1997. – Peter Steinbach: Widerstand gegen den NS – eine ›sozialistische Aktion‹? Zum 100. Geburtstag v. C. M. (1897–1943). Bonn 1997. – Elke Balzhäuser: C. M. Porträt eines Widerstandskämpfers. In: Die Zeit des NS in Rheinland-Pfalz. Hg. Hans-Georg Meyer. Bd. 2, Mainz 2000, S. 91–103. – Günter Brakelmann: Die Kreisauer. Folgenreiche Begegnungen. Biogr. Skizzen zu Helmuth James v. Moltke, Peter Yorck v. Wartenburg, C. M. u. Theodor Haubach. Münster 2003. – Ders.: C. M. u. die Demokratie v. Weimar. In: Gesch. als Last u. Chance. Hg. Franz-Josef Jelich u. Bernd Faulenbach. Essen 2003, S. 529–536. Peter Fischer / Red.
Miethe, Käthe, * 11.3.1893 Rathenow, † 12.3.1961 Ahrenshoop; Grabstätte: Wustrow/Ostsee, Friedhof. – Prosaautorin, Herausgeberin u. Übersetzerin. M., Tochter eines Wissenschaftlers, kam über Sprachstudien zur Übersetzertätigkeit. Nach längerem Aufenthalt in Skandinavien legte sie 1918 erste Pressepublikationen vor. Bevor sie den Beruf einer Bibliothekarin ergriff, trat sie mit Übersetzungen aus den nord. Sprachen u. aus dem Niederländischen hervor. Neben einer stattl. Menge literar. Tagespro-
Miethe
dukte – sie verfasste zwischen 1923 u. 1944 zahlreiche Jugend- u. Mädchenbücher – legte sie Arbeiten vor, die sie zu einer in der Küstenregion beliebten Heimatschriftstellerin werden ließen. Seit 1939 als freischaffende Autorin auf dem Fischland (Nehrung nahe der Ostseehalbinsel Darß) wohnend, fand sie nach 1945 im Osten Deutschlands neue Publikationschancen. Sie war trotz einiger Zugeständnisse (z.B. Friedel im Pflichtjahr. Köln 1940) vom Blut-und-Boden-Mythos der NSZeit unberührt geblieben. Die Nachkriegszeit bis in die Mitte der 1950er Jahre wurde ihre wichtigste Schaffensperiode. In rascher Folge erschienen Romane, Reportagen, Sachbücher u. von ihr als Herausgeberin betreute Heimatbücher anderer Autoren. Die eher gefühlig plaudernden, betrachtsamen u. anekdotisch-unterhaltenden Texte M.s (u. a. die Reportage Das Fischland. Rostock 1949. 92008, der Erzählband Unter eigenem Dach. Schwerin 1949. Fischerhude 1993, u. der »Fischländer Heimatroman« Bark Magdalene. Rostock 1951. 8 1999), vom heimatverbundenen Durchschnittsleser geschätzt, wurden ob ihres »Lokalchauvinismus« (Heiner Müller) gelegentlich attackiert. Weitere Werke: Jugendbücher: Die Smaragde des Pharao. Bln. 1923. – Zur rechten Stunde. Köln 1944. – Die Kinder vom Lindenhof. Köln 1944. – Die Flut. Rostock 1953. 52004 (Reportage). – Auf großer Fahrt. Rostock 1956. 21990 (Reportage). – Der erste Rang. Rostock 1957 (E.). – Rauchfahnen am Horizont. Rostock 1959 (R.). – Keine Möwe fliegt allein. Rostock 1960 (R.). – Herausgeberin: Arnold Gustavs: Die Insel Hiddensee. Rostock 1952. – Wolfgang Rudolph: Insel Rügen. Rostock 1953. – Gerta Anders: Die Halbinsel Darß u. Zingst. Rostock 1955. – W. Rudolph: Stralsund, die Stadt am Sund. Rostock 1955. Ausgabe: Die Welt im Dorf ist groß. Verstreute Texte. Hg. Cornelia Crohn. Rostock 2006. Literatur: Jürgen Grambow: K. M. In: Stah fast, mien oll leew Muddersprak. Hg. Volkskulturinstitut Mecklenburg-Vorpommern. Rostock 1991, S. 32–36. – Gunnar Müller-Waldeck u. ders.: K. M. u. die Bräuche des Fischlands (1893–1961). In: Dies.: Auf Dichters Spuren. Literar. Wegweiser durch Mecklenburg-Vorpommern. Rostock 2003, S. 73–77. – Matthias Schümann: Zu Hause in der Fremde. Die Schriftstellerin K. M. In: Kunststück
Migerka Ahrenshoop. Hg. Gerlinde Creutzburg u. a. Rostock 2004, S. 50–53. Gunnar Müller-Waldeck / Red.
Migerka, Helene, * 13.9.1867 Brünn (Brno), † 26.3.1928 Graz (Freitod). – Lyrikerin, Erzählerin. M. lebte von ihrem vierten Lebensjahr bis 1915 in Wien, dann in Graz. Durch ihr in Sozialfragen engagiertes Elternhaus lernte sie früh die Lebensverhältnisse der armen Bevölkerung kennen: Der Vater arbeitete als Gewerbeinspektor im Handelsministerium, die Mutter, die Schriftstellerin Katharina Migerka (1844–1922; Die stolze Lene. Erzählung für das Volk, 1887), setzte sich bes. für Wohlfahrtseinrichtungen für unbemittelte Lehrmädchen u. Arbeiterinnen ein. M.s Eintreten für Humanität u. Nächstenliebe war zeitlebens gepaart mit großer Verletzbarkeit u. Menschenscheu. Als Lyrikerin debütierte sie 1889 mit dem Band Gedichte (Wien), der, verhalten im Ton, sarkast. Gesellschaftskritik beinhaltet. Bekannt wurde M. mit pointierten Skizzen aus dem Gesellschaftsleben, die, zuerst in Zeitschriften veröffentlicht, gesammelt u. d. T. Das Glück der Häßlichen und andere Skizzen und Satiren (Lpz. 1913) erschienen. M. engagierte sich jahrelang im Präsidium des Vereins der Schriftstellerinnen u. Künstlerinnen für die Frauenbildung. In Graz lebte sie nach dem Tod ihrer Mutter äußerst zurückgezogen, bevor sie sich 1928 das Leben nahm. Weitere Werke: Neue Gedichte. Lpz. 1895. – Der neue Besen. Lpz. [1920] (Humoresken). Christine Schmidjell / Red.
Mihaly, Jo, eigentl.: Elfriede Steckel, geb. Kuhr, auch: Francesco Moletta, * 25.4. 1902 Schneidemühl/Posen, † 29.3.1989 Seeshaupt/Oberbayern. – Erzählerin, Lyrikerin, Kinderbuchautorin, Hörspielautorin, Tänzerin. M. wuchs als Tochter einer Gesangspädagogin u. eines Architekten im westpreuß. Schneidemühl (heute Pila/Polen) auf, wo sie bereits früh eine pazifist. Haltung entwickelte, die sich auch in ihrem breit rezipierten Kriegstagebuch ... da gibt’s kein Wiedersehen.
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. Kriegstagebuch eines Madchens, 1914–1918 (Freib. i. Br. 1982) manifestiert. M.s Lebensweg begann als Tänzerin mit einer Ausbildung im klass. Tanz in Berlin. Nach einer Deutschlandtournee mit dem Ballett, bei dem sie mit ihrem Künstlernamen Jo Mihaly (nach einem ungar. »Zigeuner«) auftrat, fand sie am Dreistädte-Theater Königshütte/Beuthen/ Gleiwitz eine Anstellung. Auf Anregung von Mary Wigman entwickelte sie eine bes. Form des sozialkrit. Ausdruckstanzes (»Tanzschauspielerin«). Ihre ersten Gedichte erschienen in der von Gregor Gog herausgegeben Vagabundenzeitschrift »Der Kunde«. M blieb der politisch-künstlerischen Vagabundenbewegung treu, als sie Gog im »Zigeuner«-Roman Michael Arpad und sein Kind. Ein Kinderschicksal auf der Landstraße (Bln. 1930) mit der Figur des Gregor, der den Titelhelden Arpad mit seiner Tochter Mascha freundlich bei sich aufnimmt, ein Denkmal setzte. Mit ihrem Mann, dem jüd. Schauspieler u. Regisseur Leonard Steckel, u. ihrer Tochter floh M. nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten nach Zürich, wo sie am Schauspielhaus u. a. zus. mit Ernst Busch auftrat. Das Angebot eines nationalsozialist. Funktionärs, »Kulturtänzerin des Dritten Reiches« zu werden, lehnte M. entschieden ab. Im Schweizer Exil fanden v. a. M.s »Tänze dieser Zeit« den begeisterten Zuspruch der Intellektuellen. 1934 übernahm M. in Zürich das Ensemble des »Neuen Chors«, das im Stile der Agitprop-Gruppen der Weimarer Republik konzipiert war. Um den zahlreichen Flüchtlingen in Gefangenenlagern zu helfen, gründete sie 1942 die »Kulturgemeinschaft der Emigranten« in Zürich, die auch mit der Jüdischen Kulturgemeinde zusammenarbeitete. Im Verlag Steinberg erschien der Roman Hüter des Bruders (Zürich 1942), der 1971 u. d. T. Gesucht: Stepan Varesku (Heilbr.) wiederaufgelegt wurde u. als ihr Hauptwerk gilt. In ihrem Romandebüt schildert M. anhand des Flüchtlings u. Bauernführers Stepan Varesku v. a. die Solidarisierung der aus der Gesellschaft Ausgeschlossenen. Die Hauptfigur wird in der Steppe von »Zigeunern« in ihr Lager aufgenommen u. vor der Militärbehörde versteckt. Die »Zigeuner« bezahlen ihr Eintreten für
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Mikeleitis
den »Fremden« mit vielen Toten. Der bereits Ott: Reminiszenzen an meine Mutter: In: J. M.: im Sept. 1943 fertiggestellte Exilroman Die Auch wenn es Nacht ist. Hürth bei Köln u. a. 2002, Steine (Stgt. 1946) konnte aufgrund mehrfa- S. 148–151. – Thomas B. Schumann: Nachw. ›Wir cher Verbote durch die Schweizer Zensur- verstummen nicht‹. Ein Porträt der vergessenen Schriftstellerin, Tänzerin u. Emigrantin J. M. stellen erst in der Nachkriegszeit erscheinen; (1902–89). Ebd., S. 152–163. – Petra Josting: ›Ziam Beispiel des Arztes Franz Hennig thema- geuner‹ in der Kinder- u. Jugendlit. der Weimarer tisiert er die Situation der aus Deutschland Republik am Beispiel v. J. M.s ›Michael Arpad u. geflüchteten Intellektuellen. Nach 1945 war sein Kind. Ein Kinderschicksal auf der Landstraße‹ M. als Vorsitzende maßgeblich an der Grün- (1930). In: ›Laboratorium Vielseitigkeit‹. Zur Lit. dung des Schutzverbandes deutscher der Weimarer Republik. Hg. dies. u. Walter FähnSchriftsteller (SDS) in Zürich beteiligt. Nach ders. Bielef. 2005, S. 171–190. Iulia-Karin Patrut einer Tätigkeit im Kulturdezernat u. Stadtparlament von Frankfurt/M. lebte sie seit Mikeleitis, Edith, verh. Ehlers, geschie1949 als Schriftstellerin am Lago Maggiore, dene M.-Winkelmann, auch: E. Schuwo sie mit anderen Autoren den Werkkreis mann, * 27.2.1905 Posen (Poznan´), † 8.7. der Literatur gründete. Zuletzt wirkte sie an 1964 Stuttgart-Degerloch. – Erzählerin. dem Film Fantasmi & Ospiti (Urauff. Mchn. 1989) mit, der sie noch einmal in der Rolle Die 1918 heimatvertriebene M. trat nach einer Ausbildung als Lehrerin mit dem Band ihres Lebens, als »Zeugin der Zeit«, zeigt. Polnische Märchen (Darmst. 1926) erstmals als Anlässlich ihres 100. Geburtstags erschien in Erzählerin hervor. Ihre seit der Novelle Hohe der Edition Memoria die ErstveröffentliWanderung (Braunschw. 1937) in rascher Folge chung des vermutlich Ende der 1940er Jahre entstandenen, überwiegend biogr. Romane u. entstandenen Romans Auch wenn es Nacht ist . . Erzählungen fanden weite Verbreitung bis in (Hurth bei Koln u. a. 2002). die 1960er Jahre. Die Romane Die Königin M.s Werk, das neben Romanen u. Gedich(Braunschw. 1940) über Luise von Preußen u. ten auch Kinderbücher, Novellenbände, Die Sterne des Kopernikus (Braunschw. 1943) Hörspiele u. Anthologien umfasst, wurde mit über den »deutschen Gelehrten« als myst. zahlreichen Auszeichnungen versehen, so Seher u. Übermenschen kamen ebenso wie u. a. der Ehrengabe der Stadt Zürich u. der die ostpreuß. Heimatgeschichten Der Teufel Stadt Ascona. im Faß (Feldpostausg., Braunschw. 1942) soWeitere Werke: Ballade vom Elend. Stgt. 1929 wohl den Interessen der nationalsozialist. (L.). – Kasperltheater u. andere nachdenkl. Gesch.n. Machthaber entgegen wie in ihrem trivialen Stgt. 1929 (E.en). – Das Leben ist hart. Drei Gesch.n Pathos den Neigungen breiter Leserkreise. aus dem Tessin. St. Gallen 1954 (E.en). – Der weiße Der Roman Der große Mittag (Darmst. 1954) Zug. Wer ist der Dieb. Basel 1957 (E.en). – Bedenke, verherrlicht die »Sternenfreundschaft« Mensch. Winterthur 1958 (Ep.). – Ländl. Madonnen im Tessin. Winterthur 1959. – Weihnachten Nietzsches u. Wagners. Bereits in dem Jakob . auf der Hallig, u. andere Erzahlungen um das Böhme-Roman Das ewige Bildnis (Darmst. Christfest. Basel 1959. – Was die alte Petrowna er- 1943. Zuletzt 1963) treten M.’ mystischzählt. Heilbr. 1970 (N.n). – Der verzauberte Hase. theosoph. Neigungen in den Vordergrund, Zwei Tier-Erzählungen. Heilbr. 1971. – Fremder, die nach dem Krieg vollends dominieren. Ihre kommst du nach Neufahrn. Neufahrn 1977 (Rei- letzten Schriften verkündigen die Lehren des seführer). – Wer ist der Dieb: eine Schuldfrage. österr. Theosophen Jakob Lorber (u. a. Jakob Stäfa 1988. – Zwei Weihnachtsgesch.n. Stäfa 2002. Lorber und sein Werk. Bietigheim 1964). Literatur: Werner Mittenzwei: Kunst u. Lit. im antifaschist. Exil 1933–45. Bd. 2: Exil in der Schweiz, Lpz. 1981, S. 232–246, 275–280, 361–367, 371–376. – Klaus Trappmann: Nachw. In: J. M.: Michael Arpad u. sein Kind. Bln. 1981, S. 150–159. – Renate Wall: J. M. In: Dies.: Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil 1933–45. Bd. 2, Freib. i. Br. 1995, S. 35–38. – Anja
Weitere Werke: Das andere Ufer. Braunschw. 1938 (R.). – Die Erweckung. Aus dem Leben einer Diva. Braunschw. 1939 (N.). – Das Herz ist heilig. Wolfenb. 1947 (E.). – Ariel. Heidelb. 1948 (N.). – Die blaue Blume. Braunschw. 1948 (R.). – Die Ju-
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daspassion. Gütersloh 1957. – Der Engel vor der Tür. Bietigheim 1962 (R.). Heinrich Detering / Red.
Milbiller, Joseph (Anton), * 5.10.1753 München, † 28.5.1816 Landshut. – Romanautor, Satiriker, Publizist, Historiker.
die Universität Ingolstadt u. lehrte dort bzw. in Landshut dt. u. europ. Geschichte sowie Statistik u. Geografie. 1808 wurde er korrespondierendes Mitgl. der Historischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München. Weitere Werke: Lesebuch für die Jugend v. reiferem Alter. Mchn. 1778. – Gesch. der christl. Religion u. Kirche. 2 Bde., Zürich 1792/93. – Ideal einer Gesch. der teutschen Nation in philosoph. Hinsicht. Ingolst. 1800. – Grundriß akadem. Vorlesungen über die Gesch. der dt. Nation. Mchn. 1803. – Kurzgefaßte Gesch. v. Baiern. Mchn. 1806. 6 1834. – Hdb. der Statistik der Europ. Staaten. 2 Bde., Landshut 1811.
M. betrieb juristische u. theolog. Studien in München u. Ingolstadt u. lebte nach der Priesterweihe als Weltgeistlicher in München. 1777 veröffentlichte er eine Satire über das Mönchswesen (Nachrichten von Klostersachen. o. O.). In den folgenden Jahren machte er in Kurbayern als krit. Publizist auf sich aufLiteratur: Clemens [= Clement] Alois Baader: merksam: Mit Ignaz Schmid u. a. gab er die Lexikon verstorbener Baierischer Schriftsteller des satir. Monatsschrift »Der Zuschauer in Bai- 18. u. 19. Jh. 1, 2, Augsb./Lpz. 1824, S. 42–45. – ern« heraus (Mchn. 1779–82; dann verboten. Dorette Hildebrand: Das kulturelle Leben Bayerns Forts. u. d. T. »Der beste Nachbar«. Mchn. im letzten Viertel des 18. Jh. im Spiegel v. drei 1783; nach wenigen Stücken ebenfalls ver- bayer. Ztschr.en. Mchn. 1971. – Michael Schaich: boten), 1781–1783 die literarhistorisch ori- ›Ein von seinem Vaterlande verfolgter Mann‹. Der entierten »Annalen der baierischen Littera- Publizist J. A. M. in München. In: Bayernspiegel 6 tur« (Nürnb.), Ende 1783 bis 1785 die (1991), S. 16–20. Wilhelm Haefs / Red. »Münchener Gelehrte Zeitung« (beide zus. mit Schmid). Im März 1785 wurde M. wegen Miller, Arthur (Maximilian), * 16.6.1901 »Verdacht, daß er mit auswärtigen JournaMindelheim, † 18.2.1992 Ottobeuren. – listen und Buchhändlern in Correspondenz Erzähler, Dramatiker, Lyriker. steht«, der Stadt verwiesen. Seit 1786, nachdem er eine Reise durch Der Sohn eines schwäb. Kaufmanns besuchte Deutschland unternommen u. ein halbes Jahr die Lehrerbildungsanstalten in Lauingen. Ab (unter dem Einfluss Johann Salomo Semlers) 1924 war er in Immenstadt/Allgäu als Volksin Halle gelebt hatte, wirkte er als Lehrer für schullehrer tätig. Weil er sich in seinen pädGeschichte, Rhetorik u. Dichtkunst in Passau. agogischen u. schriftstellerischen Werken 1787 erschien M.s Roman Sincerus, der Refor- vom Nationalsozialismus bedroht fühlte, ließ mator (Ffm./Lpz., recte Zürich), eine auto- er sich 1938 nach Kornau versetzen. Hier biografisch motivierte polem. Spiegelung des verblieb er auch nach der Pensionierung als Kampfs zwischen Aufklärung u. Gegenauf- freier Schriftsteller. klärung in Kurbayern im formalen Gewand Wie der mit ihm befreundete Peter Dörfler des Episodenromans. Ab Mitte der 1790er steht M. in der Tradition der christl. VolksJahre lebte M. (in Passau 1794 entlassen) in dichtung. Er verfasste schwäb. MundartWien. dichtung. In Bist du es? Roman eines Pharisäers M. veröffentlichte seit Ende der 1780er (Freib. i. Br. 1963), den er der befreundeten Jahre vornehmlich Abhandlungen, Mono- Gertrud von le Fort widmete, u. in seiner grafien u. eine Reihe popularisierender Wer- dramat. Dichtung Der Gral (Kempten 1976. ke zur dt. sowie zur bayerischen u. österr. Dillingen 1994) behandelt er Grundfragen Geschichte u. Kirchengeschichte. Bekannt des Christentums. Eines seiner Hauptwerke wurde er als Bearbeiter u. Fortsetzer von ist der auf mehrjährigem Quellenstudium Michael Ignaz Schmidts Neuere Geschichte der beruhende kulturhistor. Roman um Ruppert Teutschen (bzw. Neueste Geschichte der Teutschen. Nefs, den Bauherrn des barocken Klosters Tle. 7–22, Wien/Ulm bzw. Ulm 1797–1808). Ottobeuren, Der Herr mit den drei Ringen (Freib. 1799 erhielt er von Montgelas einen Ruf an i. Br. 1959. Dillingen 51996).
243 Weitere Werke: Die Glaskugel. Memmingen 1936 (M.). – Das Mindelheimer Weihnachtsspiel. Augsb. 1936. – Agath. Augsb. 1950 (Volksstück). – Schwäb. Gedichte. Memmingen 1954. – Schwäb. Weihnacht. Memmingen 1963. Dillingen 32007 (Mundart-Ep.). – Crescentia v. Kaufbeuren. Das Leben einer schwäb. Mystikerin. Augsb. 1968. U. d. T. Die hl. Crescentia v. Kaufbeuren. Stein am Rhein 2002 (Biogr.). – Briefe der Freundschaft mit Gertrud v. le Fort. Stein am Rhein 1976. – Abschied v. Sirmio. Kempten 1984 (N.n). – Das nördl. Gestirn. Kempten 1984 (R.). Literatur: Theo Waigel: ›Sein Vermächtnis ist uns Verpflichtung‹. Festansprache zum 100. Geburtstag v. A. M. M. am 16.6.2001 in Mindelheim. In: Der Schwabenspiegel 2 (2001), S. 36–46. – Rosmarie Mair: Zusammenspiel v. Wort u. Klang. A. M. M. u. Otto Jochum. Ebd. 4/5 (2004), S. 381–387. – Daniel Winiger: Die Freundschaft zwischen A. M. M. u. Gertrud v. le Fort: ›volkstümliche‹ u. ›hohe‹ Dichtung. Ebd., S. 387–398. – Iris Knöpfle: ›Ottobeuren, vernimm die Zukunft in einem Rätsel‹. Zu A. M. M.s Roman ›Der Herr mit den drei Ringen‹. Ebd., S. 371–381. – Dies.: Textgenese im Detail. Eine Untersuchung am Beispiel v. A. M. M.s Roman ›Das nördliche Gestirn‹. Augsb. 2006. Reinhard Baumann / Red.
Miller, Johann Martin, * 3.12.1750 Ulm, † 21.6.1814 Ulm; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof. – Lyriker u. Romancier. M. wurde in Ulm geboren u. wuchs von 1753 bis 1762 im nahen Leipheim auf, wo sein Vater Pfarrer war. Seine dort in ländl. Atmosphäre verbrachte Kindheit hatte er zeitlebens in glücklichster Erinnerung. Nach der Übersiedlung der Familie nach Ulm 1762 besuchte er das dortige Gymnasium. Vom Wintersemester 1770/71 bis zum Sommersemester 1774 studierte er in Göttingen Theologie. Dort wurde er sehr bald mit Ludwig Christoph Heinrich Hölty u. mit Gottfried August Bürger bekannt. Seine ersten erhaltenen Gedichte, die zunächst ungedruckt blieben, stammen aus dem Jahre 1771. Entscheidend für seine literar. Entwicklung wurde seine Bekanntschaft mit Christian Heinrich Boie im darauffolgenden Jahr, der seit 1770 den Göttinger Musenalmanach herausgab. Von Anfang an gehörte M. dem Göttinger Hain an, einer am 12. Sept. 1772 gegründeten Dichtervereinigung, dessen
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Vorsitzender Johann Heinrich Voß war. Mit diesem verband M. eine lebenslange Freundschaft. Seine Korrespondenz mit ihm ist die wichtigste Quelle für seine Biografie. M.s früheste Dichtungen sind geprägt vom Geist des Rokoko u. der Anakreontik. Das änderte sich bald. Im »Göttinger Musenalmanach« von 1773 wurden die ersten Gedichte von ihm veröffentlicht, darunter das Klagelied eines Bauren, in dem er erstmals den von nun an für ihn charakteristischen, gelegentlich eleg. Volksliedton anschlug. Es begründete seinen literar. Ruhm, nicht zuletzt durch die rasch erfolgenden Vertonungen, darunter die von seinem späteren Freund Christian Friedrich Daniel Schubart in dessen Deutscher Chronik von 1774 mit dem veränderten Titel Hannchen, ein Baurenlied. Neben dem Lied im Volkston versuchten sich die Hainbündler auch in der Nachahmung der mhd. Minnelyrik. M. tat sich dabei bes. hervor, was ihm den Bundesnamen Minnehold eintrug. Er wurde deswegen u. wegen seines Liedschaffens überhaupt von Bürger grenzenlos bewundert u. auch beneidet. An Boie schrieb dieser am 22. April 1773: »Sagen Sie doch Millern, daß ich einige von den mir neulich abgeschriebenen Minneliedern ihm bis zum närrisch werden beneidete«, weiterhin an denselben im Okt. 1773: »Ich kann sagen, wenn mich einer im Hain eyfersüchtig macht, so ists Miller. Ohne Widerspruch ist er schier itzt schon unser bester Liederdichter« (Briefe von und an Gottfried August Bürger. Hg. Adolf Strodtmann. 4 Bde., Bln. 1874. Bd. 1, S. 106 u. 165). Seine zahlreichen Gedichte der nächsten Jahre veröffentlichte er nicht nur im »Göttinger Musenalmanach«, sondern auch im »Almanach der deutschen Musen« u. im »Taschenbuch für Dichter und Dichterfreunde«, beide herausgegeben von Christian Heinrich Schmid, dort allerdings nur die in seinen eigenen Augen weniger gelungenen, darunter seine frühe Rokokolyrik. Im Wintersemester 1774/75 studierte M. in Leipzig, ohne den Magistergrad zu erwerben. Im Frühjahr 1775 reiste er über Göttingen nach Hamburg, wo er die zweite Aprilhälfte verbrachte u. den Umgang mit dem von ihm u. allen Hainbündlern hochverehrten Klopstock genoss. Dann hielt er sich bis Mitte Juni
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in Wandsbek auf, wo Voß seit Kurzem lebte u. wo M. Bekanntschaft mit Matthias Claudius machte. Von dort trat er eine umwegreiche Heimreise nach Ulm an, wo er am 6.8.1775 eintraf. Vor der Ulmer Geistlichkeit legte er ein theolog. Examen ab u. war von diesem Zeitpunkt an Pfarramtskandidat mit der Verpflichtung, aushilfsweise zu predigen u. am Ulmer Gymnasium zu unterrichten. Im Spätherbst verliebte er sich in die kaum 17jährige Anna Magdalena Spranger, die seine Liebe erwiderte u. die er bald als seine künftige Frau ansah. Nach seiner Rückkehr nach Ulm kam M.s lyr. Schaffen sehr bald zum Erliegen. Zu den wenigen Gedichten, die er noch schrieb, zählt die bekannte Zufriedenheit. Ihre Eingangsverse lauten: »Was frag ich viel nach Geld und Gut / Wenn ich zufrieden bin.« Das Gedicht ist oft vertont worden, u. a. von Mozart, u. hat in unzählige Anthologien bis ins 20. Jh. hinein Eingang gefunden. Wohl mit Recht hat man vermutet, dass M. sich dabei an ein berühmtes Gedicht Matthias Claudius’ angelehnt hat mit dem Beginn: »Ich bin vergnügt, im Siegeston / verkünd’ es mein Gedicht.« (Kraeger S. 53). Schon in Leipzig hatte M. einen Roman begonnen, an dem er nun rasch weiter schrieb. Er erschien 1776 in 2 Bänden u. d. T. Siegwart. Eine Klostergeschichte. Der Verleger war Johann Friedrich Weygand in Leipzig, mit dem M. weitläufig verschwägert war u. der möglicherweise die Anregung dazu gegeben hatte. Der Erfolg war überwältigend. Schon im Jahr darauf erschienen zwei unberechtigte Nachdrucke u. eine zweite rechtmäßige, leicht überarbeitete u. verbesserte Auflage bei Weygand, die in den folgenden Jahren ebenfalls mehrfach nachgedruckt wurde. Der Roman wurde daneben in mehrere Sprachen übersetzt. In der Literaturgeschichtsschreibung galt der Siegwart lange Zeit als Nachahmung von Goethes Werther. Die Unterschiede sind jedoch beträchtlich. Werther geht zugrunde an seiner leidenschaftlichen u. maßlosen Liebe zu der bereits verlobten Lotte. Siegwart dagegen wird von Mariane wieder geliebt, aber ihr standesbewusster Vater, der Hofrat Fischer, steckt sie, weil sie von ihm nicht lassen will, in ein Kloster. Werther zerstört sich selbst, die bei-
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den Liebenden im Siegwart werden Opfer einer ihnen feindl. Gesellschaft. Im Werther wird viel geweint, aus Verzweiflung, im Siegwart beträchtlich mehr, nach der Zählung von Martin Greiner (S. 48) statistisch auf jeder zweiten Seite, aber aus Rührung über die Erhabenheit von Freundschaft u. Liebe. Schönsee bezeichnet M. sehr treffend als »Epikuräer der Tränen« (I, S. 247). Nach den Untersuchungen von Ingrid Engel ist der Siegwart nicht nur keine Wertheriade, sondern viele Romane, die bisher als Wertheriaden galten, sind als Siegwartiaden anzusehen. In rascher Folge schrieb M. weitere Romane: Beytrag zur Geschichte der Zärtlichkeit (Lpz. 1776), Briefwechsel dreyer Akademischer Freunde (2 Bde., Ulm 1776/77) u. Geschichte Karls von Burgheim und Emiliens von Rosenau (4 Bde., Lpz. 1778/79). In den beiden letztgenannten ist kaum mehr etwas von der hypertrophen Empfindsamkeit des Siegwart zu finden. M. wurde mehr u. mehr zum Aufklärer. Nach fast fünfjährigem Vikariat wurde er am 18.4.1780 Pfarrer in Jungingen nördlich von Ulm. Am 4.7.1780 heiratete er Anna Maria Spranger. Die Ehe war glücklich, blieb aber zu M.s Schmerz kinderlos. Am 14.8.1781 wurde er, wie bei den Ulmer Geistlichen üblich, im Nebenamt Professor am Ulmer Gymnasium u. am 19.8.1783 Prediger am Ulmer Münster. Seine literar. Fruchtbarkeit ließ nun deutlich nach. Er gab noch eine Sammlung seiner Gedichte heraus (Ulm 1783), es folgte der Briefwechsel zwischen einem Vater und seinem Sohn auf der Akademie (2 Bde., Ulm 1785) u. die Buchausgabe des Romans Die Geschichte Gottfried Walthers, eines Tischlers (Ulm 1786), der schon vorher in Fortsetzungen in den von ihm u. von Johannes Kern herausgegebenen Beobachtungen zur Aufklärung des Verstandes und Besserung des Herzens (3 Bde., Ulm 1779–82) erschienen war, schließlich noch einige Sammlungen seiner Predigten. Ganz gelegentlich schrieb er noch Beiträge für Zeitschriften. M.s weiteres Leben verlief nun in sehr ruhigen u. von ihm selbst als eintönig empfundenen Bahnen. Über die Ursachen seines Verstummens berichtet sein Ulmer Verleger u. Freund Konrad Friedrich Köhler, der Inhaber der Wohlerschen Buchhandlung: »Die Berufsgeschäfte, die er mit
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Miller
Genauigkeit, aber nicht ohne mühsame An- S. 75–104. – Erich Schmidt: J. M. M. In: ADB. – strengung verrichtete, und Lesereien von Ders.: Aus dem Liebesleben des Siegwartdichters. 2 Flug- und Tagesschriften, die ihm nach und In: Ders.: Charakteristiken. 1. Reihe. Bln. 1902, nach zum Bedürfnis wurden, hinderten ihn, S. 169–188. – Heinrich Kraeger: M. Ein Beitr. zur Gesch. der Empfindsamkeit. Bremen 1893. – Julius theils ein bestimmtes wissenschaftliches Ziel Endriss: Die Ulmer Aufklärung 1750–1800. Ulm zu verfolgen, theils den heiteren Musen zu 1942. – Martin Greiner: Die Entstehung der modienen.« (Köhler S. 89). dernen Unterhaltungslit. Studien zum TrivialroNachdem die Reichsstadt Ulm dem Kö- man des 18. Jh. Reinb. 1964. – Reinhard Schönsee: nigreich Württemberg einverleibt worden J. M. M.s Prosaschr.en als Krisenphänomen ihrer war, wurde M. am 23.11.1810 Ulmer Dekan. Epoche. Ein Beitr. zur Gesch. der Trivialität u. zur Seine Frau war am 9.3.1805 verstorben. Be- Gesch. des empfindsamen Romans im 18. Jh. 2 reits am 30.7.1805 heiratete er seine bisherige Bde., Diss. Hbg. 1972. – Alain Faure: M., romancier sentimental. Diss. Paris 1973. 1977. – Peter Magd Sybilla Juliana Ihle, die ihm späte VaUwe Hohendahl: Der europ. Roman der Empfindterfreuden brachte. Nach dem Tod seiner samkeit. Wiesb. 1977. – Ingrid Engel: Werther u. zweiten Frau schloss er am 27.10.1812 eine Wertheriaden. Eine Wirkungsgesch. St. Ingbert dritte Ehe mit der Pfarrerswitwe Magdalena 1986. – Bernd Breitenbruch: J. M. M. 1750–1814. Wörtz, die kinderlos blieb. Liederdichter des Göttinger Hain, Romancier, PreAls M. am 21.6.1814 ohne längere voran- diger am Ulmer Münster. Weißenhorn 2000. Bernd Breitenbruch gegangene Krankheit starb, hatte er seinen literar. Ruhm überlebt. Der letzte Nachdruck des Siegwart erschien 1802. Eine gegen die Miller, Johann Peter, * 26.4.1725 LeipMitte des 19. Jh. veranstaltete Ausgabe (Stgt. heim, † 29.5.1789 Göttingen. – Theologe 1844) ist eher historischem Interesse als ei- u. Pädagoge; Schriftsteller. nem wirkl. Leserbedürfnis zu verdanken. M., Sohn einer ulmischen Pfarrersfamilie, Seine Lyrik ist etwas länger lebendig gebliestudierte nach dem Besuch des Ulmer Gymben, bes. durch zahlreiche Vertonungen in nasiums auf Vermittlung seines gleichnamiden beiden letzten Jahrzehnten des 18. Jh., gen Onkels bei Mosheim in Helmstedt, desdurch Aufnahme in das oft aufgelegte Mildsen persönl. Sekretär u. Hauslehrer seiner heimische Lieder-Buch (51815) u. in die von Kinder er wurde. Mit Mosheim wechselte Hoffmann von Fallersleben begründete Anauch M. nach Göttingen, wo er bei Johann thologie, die in ihrer 4. Auflage aus dem Jahre Matthias Gesner 1748 zum Thema der Ar1900 noch elf Lieder von ihm enthält, sowie menfürsorge u. -erziehung promovierte. Von nicht zuletzt durch zahlreiche Liedflug1751 bis 1756 war er Rektor des Helmstedter schriften, die ein Indiz für ihre mündl. VerGymnasiums u. wechselte in gleicher Funkbreitung sind. tion 1756 an das Gymnasium Halle, das stark Weitere Werke: Predigten für das Landvolk. 3 unter dem pädagog. Einfluss Franckes stand. Bde., Lpz. 1776–84. – Predigten über verschiedene 1765 erhielt M. einen Ruf als Professor für Texte u. Evangelien, hauptsächlich für StadtbeDogmatik u. Polemik an die Universität wohner. Ulm 1795. – Sechs Predigten, bey besonGöttingen, den er einer gleichzeitigen Berudern Veranlassungen gehalten. Ulm 1795. fung zum Direktor des Gymnasiums zum Ausgaben: Der Göttinger Dichterbund. 2. Theil: Grauen Kloster in Berlin vorzog. L. H. C. Hölty u. J. M. Miller. Hg. August Sauer. M.s theolog. Position stand ganz unter dem Stgt. [um 1895]. – Siegwart. Eine Klostergesch. Faksimiledr. nach der Ausg. v. 1776. Mit einem Einfluss Mosheims, seiner Dogmatik, PoleNachw. v. Alain Faure. 2 Bde., Stgt. 1971. – Briefw. mik u. Ethik, dessen Vorlesungen zur Ethik mit Johann Heinrich Voß. Hg. Manfred v. Stosch (in (Sittenlehre) er erweiterte u. in vier Bänden Vorb.). – Briefw. mit Christian Heinrich Boie. Hg. (Halle 1762–70) publizierte. Auf dieser Grundlage war M. ein Mann des Ausgleichs Urs Schmidt-Tollgreve (in Vorb.). Literatur: K. R. [i. e. Konrad Friedrich Köhler]: zwischen luth. Orthodoxie, Pietismus u. J. M. M. In: Zeitgenossen. Ein biogr. Magazin für Aufklärung. Von M. gingen die entscheidendie Gesch. unserer Zeit. Bd. 4,1 (= 13. H.), 1819, den Anstöße für die beginnende Aufklä-
Millstädter Sündenklage
rungspädagogik aus: einmal durch sein Werk Grundsätze einer weisen und christlichen Erziehungskunst (Gött. 1769 u. ö.), einem bisher in der pädagogisch-histor. Forschung weithin unbeachtet gebliebenen ersten wiss. Systemwerk der Pädagogik; zum anderen durch seine Überlegungen zur Schulreform (Die Hoffnung besserer Zeiten für Schulen. Halle 1765), insbes. zur Errichtung von Real- u. Industrieschulen sowie Seminaren für die schulprakt. Ausbildung von Theologen, u. zur seminarist. Lehrerbildung. Für diese Neuerungen gestaltete M. die Waisenhauseinrichtung Göttingen, die der theolog. Fakultät unter seinem Direktorat zugeordnet wurde, ab 1765 um: Sie diente ihm als Musterschule im Sinne der Francke’schen Pädagogik u. als Übungsschule für die Katechisierübungen der angehenden Theologen. Dafür veröffentlichte er 1778 (Lpz.) eine Anweisung zur Catechesierkunst (viele Auflagen bis 1790). Mit zahlreichen Schriften, v. a. aber durch seine Historisch-moralischen Schilderungen zur Bildung eines edlen Herzens in der Jugend (5 Bde., Ffm. 1754 u. ö.), hat M. einer speziellen Kinder- u. Jugendliteratur den Grund gelegt. Literatur: Samuel Baur: Charakteristik der Erziehungsschriftsteller Deutschlands. Lpz. 1790, S. 404–410. – Rudolf W. Keck: J. P. M.s ›Grundsätze einer weisen u. christl. Erziehungskunst‹. In: Vjs. für wiss. Pädagogik (1969), S. 306–318. – Ders.: Die Aufklärungsuniv. Göttingen u. der Beitr. J. P. M.s für die Lehrerbildungsgesch. In: Informationen Erziehungs- u. Bildungshistor. Forsch. H. 20/ 21 (1983), S. 65–98. – Ders.: M. In: Bautz. Rudolf W. Keck / Red.
Millstädter Sündenklage. – Frühmittelhochdeutsches Gedicht (864 Verse), entstanden vermutlich um 1130 im alemannischen Raum. Als Hauptthema ist die reuevolle Klage u. Selbstrüge eines Mannes wegen seiner unermessl. Sünden gestaltet (vv. 315–614). Sie sind im Sinne eines typolog. Katalogs, nicht in dem einer persönl. Beichte zu verstehen. Von Fuß bis Kopf aufsteigend, werden sie als Taten u. Unterlassungen der Füße, Knie, Hände u. Arme, des Herzens, der Zunge, der Augen u. Ohren geschildert. Auch wird des Zusammenwirkens aller Glieder gedacht.
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Was die Zunge riet, hörten die Ohren, die Augen wiesen den Füßen die Bahn. Diese wandelten den Weg der Unkeuschheit u. Gewalttat, nicht den der Tugend u. des Kirchgangs. Die Knie wiederum beugten sich nicht zum Gebet, sondern in den Sumpf unreiner Lüste. Hände u. Arme waren mit Schwerthieb u. Faustschlag bereit zu Raub, Blendung u. Brandschatzung statt zum Schutz der Kirche, der Armen, der Witwen u. Waisen (Parodie auf Rittergelöbnis u. Schwertsegen). Solcherart ist die Sündenschilderung innerhalb des Schemas konkret wie metaphorisch originell u. fesselnd gestaltet. Den Bezichtigungen der einzelnen Organe werden jeweils – wie an Haltepunkten eines imaginären Stationsweges – Gebetsappelle angeschlossen, welche erlösungsgewiss einzelne Leiden u. Leidenswerkzeuge der Passion Jesu anmahnen. Dieser eigentl. Sündenklage ist eine feierl. Gottesanrufung u. der Hinweis auf das Exempel vom verlorenen Sohn vorangestellt. Die Furcht vor den Sündenstrafen beim Jüngsten Gericht wie die Ausmalung der Höllenqualen u. Himmelsfreuden motivieren die Klage des Sünders, welche so den Funktionstyp der Beichte verarbeitet. Den Schlussteil des Gedichts bilden wiederum gebetshafte Appelle an exemplarischen Erlösungsgeschichten des AT u. NT. Diese Berufungen begegnen wörtlich im Rheinauer Paulus wieder, wo sie dem Apostel als Gebet um die Gnade Gottes in den Mund gelegt sind. Da der Rheinauer Paulus der ältere Text ist, ergibt sich die schwer entscheidbare Frage, ob beide Gedichte aus einer gemeinsamen Quelle schöpfen oder ob die M. S. den Rheinauer Paulus exzerpiert. Die M. S. bildet vor dem Hintergrund lat. Planctus- u. Pönitenzialdichtung, vor dem lat. u. dt. Gebetsliteratur u. neben dem volkssprachigen, im Zusammenhang der Predigt überlieferten Gebrauchstyp »Glaube und Beichte« einen selbständigen poetischen Typ aus, der später nur noch gelegentlich (Vorauer Sündenklage) in vergleichbarer Weise begegnet. Ausgabe: Friedrich Maurer (Hg.): Die religiösen Dichtungen des 11. u. 12. Jh. Bd. 2, Tüb. 1965. S. 57–101.
247 Literatur: Max Roediger: Die M. S. In: ZfdA 20 (1876), S. 282–323. – Edgar Papp: M. S. In: VL. – Werner Schröder: Vom ›Rheinauer Paulus‹ zur M. S. Wiesb./Stgt. 1986. – Karin Schneider: Ein weiterer Textzeuge der M. S. In: ZfdA 124 (1995), S. 298–302. Ernst Hellgardt / Red.
Milow, Stefan, eigentl.: S. von Millenkovich, * 9.3.1836 Orsova/Banat, † 12.3. 1915 Mödling/Niederösterr.; Grabstätte: ebd. – Lyriker, Erzähler, Dramatiker.
Miltitz Weitere Werke: Auf der Scholle. Heidelb. 1867 (L.). – Ein Lied v. der Menschheit. Heidelb. 1869 (R.). – Neue Gedichte. Heidelb. 1870. – In der Sonnenwende. Heidelb. 1877 (L.). – Gedichte. Gesamtausg. Stgt. 1882. – Dt. Elegien. Stgt. 1885. – Drei Dramen. Stgt. 1888. – Aus dem Süden. Stgt. 1889 (L.). – Frauenliebe. Stgt. 1893 (N.n). – Fallende Blätter. Kassel 1903 (L.). – Jenseits der Liebe. Wien 1907 (D.). – Abendrot. Stgt. 1912 (L.). Literatur: Max Morold: S. M. Wien 1897. – Stefan Bruckschwaiger: S. M. als Erzähler. Diss. Wien 1938. – Eva Pawlik: S. M.s Lyrik. Diss. Wien 1951. – Edith Kodera: S. M. Diss. Wien 1951. – Roxana Nubert: Nikolaus Lenau – S. M. Beiträge zum lyr. Schaffen S. M.s. In: Lenau-Forum 18 (1992), S. 41–48. Johannes Sachslehner / Red.
Der Sohn eines serb. k. k. Obersten u. einer dt. Mutter trat 1849 in die Olmützer Kadettenkompagnie ein u. wurde als Berufsoffizier 1854 dem Militärgeographischen Institut in Wien zugeteilt. Verdient durch seine Erweiterung der Umgebungskarte von Wien, Miltitz, Carl Borromäus (Alexander Stemusste er jedoch bereits 1869 aufgrund eines phan) von, * 9.11.1780 Dresden, † 19.1. Nervenleidens den Abschied nehmen. Eng 1845 Dresden. – Erzähler, Lyriker, Mubefreundet mit Saar, widmete er sich seinem sikschriftsteller; Komponist. schriftstellerischen Schaffen. Ab 1909 bezog M. – Vater von Max Morold – eine Ehren- M. entstammte einer Familie des sächs. Dienstadels. Bis 1810 diente er als Offizier in pension der dt. Schillergesellschaft. Geprägt von der Philosophie Schopenhau- der sächs. Armee. Danach lebte er vorwiegend ers u. der Weimarer Klassik, deren Erbe er zu auf Burg Scharfenberg bei Meißen u. in bewahren suchte, war M. erfolgreich schon Dresden. 1813/14 gehörte er kurze Zeit der mit seinem Erstling Gedichte (Heidelb. 1865. österr. Armee an. Enge Freundschaft verband 2 1867): formvollendet, doch epigonal, mit ihn mit Fouqué, von dem er eine Reihe von Themen aus dem anerkannten Kanon bür- Gedichten u. ein Oratorium komponierte. gerl. Weltsicht. Konsequenter u. kritischer ist Opern (Der Bergmönch, 1830) u. Singspiele (Wie M.s erzählerisches Werk, in dem der sittl. man lieben muß, 1815) gehören außerdem zu »Niedergang« der Gesellschaft, insbes. auch M.’ kompositor. Werk. Als Erzähler trat M. zunächst in Zeitungen, der Aristokratie, des »bevorzugten Standes«, Zeitschriften oder Anthologien wie dem jenen kulturpessimist. Hintergrund bildet, Wunderbuch (1817) von Fouqué u. Friedrich gegen den Glück u. Leid seiner Helden projiziert werden; am bekanntesten wurde die Laun hervor. Später erschienen die ErzähNovelle Arnold Frank (erstmals in: Zwei Novel- lungen dann in mehrbändigen Sammelauslen. Heidelb. 1872. Prag 1885. Wien 1935), die gaben. Dominierend sind Stoffe aus der Welt Entwicklungsgeschichte eines empfindsamen des kleinen u. mittleren Adels in Geschichte jungen Mannes. Ein Panorama der sozialen u. u. Gegenwart, vorwiegend aber aus der polit. Probleme der Monarchie in den 1880er Sphäre des Militärs. Auch Familienkonflikte Jahren gibt M. in seinem vierteiligen Roman des Bürgertums, zumeist die Wahl des rechLebensmächte (Stgt. 1890). Für sein Schaffen ten Ehepartners betreffend, werden ernsthaft wurde er, dessen zahlreiche Bühnenwerke oder komisch vorgeführt. Die Lösungen sind wie König Erich (Bremen 1879. Zweite, we- konventionell, die Stände werden zumeist sentlich veränderte Aufl. 1888) oder Martin säuberlich auseinandergehalten, aber bürBrandt (Wien 1903) unaufgeführt blieben, gerl. Leben wird immerhin in den Respekt 1902 mit dem Bauernfeld-Preis ausgezeich- des Adels erhoben. Den literar. Kontext bilden Tiecks späte net. Novellen, die aber intellektuell weit über M.’ Erzählungen hinausragen, dazu die Novellen
Der Minne Born
u. Gespenstergeschichten der Dresdner Unterhaltungsschriftsteller Laun und August Apel, die ritterl. Epik Fouqués sowie in einzelnen Fällen die Erzählkunst Jean Pauls, bes. in der Novelle Chrysalide (in: Abend-Zeitung, 1819), einem grotesken Seitenstück zu D. Katzenbergers Badereise (1809). Weitere Werke: Ausstellungen in vermischten Erzählungen. 2 Bde., Erfurt 1819/20. – Orangenblüthen. 3 Bde., Lpz. 1822–25. – Ges. Erzählungen. 4 Bde., Lpz. 1825–28. Literatur: Otto Eduard Schmidt: Fouqué, Apel, M. Lpz. 1908. Gerhard Schulz
Der Minne Born. – Minnerede in deutschniederländischer Mischsprache, früheste Überlieferung zweite Hälfte 14. Jh. Neben einem vollständigen Text in der ripuarischen Berliner Liederhandschrift (Ms. germ. fol. 922, 1090 V.) aus dem ersten Viertel des 15. Jh. existieren zwei fragmentarische Überlieferungen (100 u. 262 V.). In einer Brunnenallegorie vermittelt die Minnerede das umfassende Programm einer dreigeteilten exemplarischen Minnewerbung – »Gewinnung der Minne / Verlust durch Verschulden / Wiedergewinnung« (Rheinheimer 1975, 95): Der Ich-Erzähler trifft in der Wildnis auf die Personifikationen der Minne. Vier königlich gekleidete Damen – Frau Venus, Frau Hoffnung, Frau Zweifel u. Frau Beständigkeit – umringen einen goldenen Brunnen, der die Liebe des Erzählers zu seiner Dame symbolisiert. Der Zugang wird ihm nur gewährt, wenn er sein Herz, zudem Verstand, Gesinnung u. sein Leben als Pfand hinterlegt. Zudem bedarf er der minnetheoret. Unterweisung: Frau Venus argumentiert, dass die Liebe ausschließlich auf Tugenden gegründet sei u. der geliebte Partner als Alter Ego fungiere. Sie kann die Herzen zweier Menschen so miteinander verbinden, dass einer des anderen Leid u. Freude teilt. Bis auf Kinder u. Alte sind alle Menschen (Ritter, Nicht-Ritter, Arme, Reiche, Kranke u. sogar Geistliche) zur Minne zugelassen. Frau Hoffnung u. Frau Zweifel agieren hingegen als antagonistische u. zgl. dialekt. Kräfte: Während die Erste Trost spendet, indem sie als Zunder die Hoffnung immer wieder an-
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facht, weiß die andere, dass Kummer u. Traurigkeit ebenso wichtige Antriebskräfte der Minne sind. Anhand eines Exempels unterweist Frau Beständigkeit den Erzähler: Ein Mann, der sich nach zehn Jahren der Werbung von seiner Dame abwendet, bleibt ohne Trost u. verschwendet seine Lebenszeit. Nur wer Beständigkeit bewahrt, wird Lohn für seinen Dienst erhalten. Nach der Belehrung u. dem wiederholten Versprechen des Erzählers, den Regeln der Damen zu folgen u. das geforderte Pfand zu entrichten, schenken sie ihm den Brunnen. Er trinkt aus einem goldenen u. mit einem Rubin besetzen Becher u. erlebt neben der unermessl. Freude der Liebe auch die belebende Wirkung eines Jungbrunnens. Um den Erzähler vor übermäßigem Genuss zu schützen, wird Frau Vorsicht zur Kontrollinstanz berufen: Er dürfe mit dem Brunnen zwar seine Trauer, nicht aber seine Sehnsucht stillen. Nur im Maßhalten sei seine wahre Süße zu schmecken. Auf Geheiß der Frau Vorsicht begibt sich der Erzähler auf einen Spaziergang u. gelangt in einen paradiesischen Garten (locus amoenus): Harmonie der Tierwelt, Vogelgesang, eine Gesellschaft schöner u. kostbar gekleideter Damen, Musik u. Tanz. Während der Abwesenheit des Erzählers wird der Brunnen von einem wilden sprechenden Tier mit Menschenantlitz vergiftet (Verleumdung durch die Klaffer). Trotz der Warnung durch Frau Vorsicht trinkt der Erzähler das bittere Wasser u. erlebt schlimme Minnequalen. In seiner Verzweiflung vermag ihn Frau Vorsicht zu trösten: Der Brunnen wird sich selbst reinigen u. so süß wie zuvor schmecken. Die Minnerede endet mit einer Lehre: Wer den Brunnen erwerben möchte, soll nach den Vorgaben der fünf Personifikationen leben. Neben der lat. »amicitia«-Tradition in der Argumentation der Venus verweist die Brunnenallegorie der Minnerede auf frz. u. niederländ. Vorbilder (»Rosenroman«-Tradition). Glier bemerkt, dass der letzte Teil der Minnerede mit Einschränkungen zu den sehr seltenen Beispielen einer »allegorisch verschlüsselten Erzählung mit nachfolgender Allegorese« (1971, S. 420 u. Anm. 57) gehört.
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Die Minneburg
Ausgabe: Wilhelm Brauns u. Gerhard Thiele (Hg.): Mhd. Minnereden 2. Bln. 1938. Neudr. 1967, S. 184–213 (Nr. 32). Literatur: Tilo Brandis: Mhd., mittelniederdt. u. mittelniederländ. Minnereden. Mchn. 1968, S. 196 (Nr. 497). – Walter Blank: Die dt. Minneallegorie. Stgt. 1970, S. 99 f., 131. – Ingeborg Glier: Artes amandi. Mchn. 1971, S. 279–283. – Melitta Rheinheimer: Rhein. Minnereden. Göpp. 1975, S. 95–101. – Dies.: M. B. In: VL. – Helmut Tervooren: Van der Masen tot op den Rijn. Bln. 2006, S. 181 f. Martin Muschick
Ausgabe: Karl Bartsch (Hg.): Die Erlösung mit einer Ausw. geistlicher Dichtungen. Quedlinb./ Lpz. 1858. Neudr. 1966, S. 242–277. Literatur: Wilhelm Preger: Gesch. der dt. Mystik im MA. Bd. 2, Lpz. 1881, S. 62–64. – Edgar Hederer: Mystik u. Lyrik. Mchn./Bln. 1941, S. 136–138. – Hans Neumann: Der M. S. u. Mechthild v. Magdeburg. In: ZfdPh 73 (1954), S. 217–226. – Ders.: Der M. S. In: VL.
Nach einer sehr kurzen erzählenden Einleitung bietet das Werk einen reinen Dialog zwischen Gott u. der Seele, wobei jeder von beiden in regelmäßigem Wechsel acht Reimpaarverse spricht. Am Anfang steht der Entschluss der Seele, sich von ihren Sünden ab- u. Gott zuzuwenden, doch Gott klagt sie an u. weist sie lange zurück. Indem die Seele nicht nur inständig bereut, sondern sich u. a. auf Inkarnation, Passion u. v.a. auf exemplarische Sünder beruft, die Gnade fanden (Zachäus, Paulus, Maria Magdalena, David), erlangt sie schließlich Vergebung. Gott erwählt sie zu seiner Braut, u. beide preisen in liebesmyst. Überschwang einander u. ihre Vereinigung. Doch dann entzieht sich Gott der Seele, um sie aus dem Leid ihrer Verlassenheit nur umso enger an sich zu binden. Die Seele vergleicht sich mit Hiob u. nimmt klagend das Leid der Gottesferne auf sich. Als sich Gott ihr am Ende wieder zuwendet, ist sie beglückt, muss aber erkennen, dass auch dies nicht von Dauer sein kann. Trotz der Sehnsucht der Seele wird die dauernde Vereinigung mit Gott ins Jenseits projiziert. Das Gedicht ist sprachlich anspruchsvoller als vergleichbare myst. Dialoge der Zeit u. lehnt sich mehrfach eng an Mechthilds von Magdeburg Fließendes Licht der Gottheit an. Statt nur zu zeigen, wie sich Gott u. die Seele langsam, aber stetig einander annähern u. sich dann jubelnd vereinen, lebt der M. S. aus einer ständigen Spannung von Gottesnähe u. Gottesferne u. betont so auch die Leidenskomponente myst. Erfahrung stärker.
Unter den mehr als 500 Minnereden des späten MA gilt die M. als herausragende poet. Leistung. In diesem ungewöhnlich langen Text sind mehrere, meist bisher unbekannte Allegorien, daneben Minnelehren, Minneklagen u. ein Minnegericht auf eigenwillige Weise vereint. Die Sprache sowie die Rolle des Ich-Sprechers sind höchst elaboriert. Die M. ist in fünf annähernd vollständigen Handschriften überliefert, die sich drei Fassungen zuordnen lassen. Dem Haupttext der längeren Reimfassung (einzige Hs.: cpg 455, um 1400, 5488 Verse) vorangestellt sind drei kunstvolle Prologstrophen: In der ersten wird die Minne als göttl. Liebe zu den Menschen heilsgeschichtlich legitimiert; die zweite vergleicht die Wirkung der menschl. Liebe zu Gott, nämlich die Erringung des Seelenheils, mit den ebenso positiven Wirkungen der ird. Minne im Allgemeinen; in der dritten Strophe tritt das Ich als minnendes Ich auf, das sein persönl. Minneleid in Freude verwandeln will. Das erste von fünf Kapiteln beginnt mit einer Spaziergangseinleitung. Der Sprecher (Ich-Erzähler) flieht vor der Hitze des Sommers u. folgt einem Fluss, auf dem er mit einem Floß in kurzer Zeit 200 Meilen weit durch eine sehr enge Gebirgsschlucht führt. Auf einem Anger entdeckt er eine hoch gemauerte Burg, die er während eines Gewitters betritt. Er findet eine hohe runde Säule, die oben fünf Fenster aus Spiegelglas hat. Hintern ihnen steht eine gläserne Männerfigur,
Ingeborg Glier / Red.
Die Minneburg. – Großform der Minnerede mit dominanten allegorischen AnDer Minne Spiegel. – Geistliches Gedicht, teilen, entstanden etwa 1325–1350 in vermutlich in der zweiten Hälfte des 14. Ostfranken, vermutlich im Bistum Würzburg. Jh. in oder um Nürnberg entstanden.
Die Minneburg
über dieser die Figur einer Frau aus Stahl u. Diamant. Der Sprecher sieht, dass durch die Spiegelfenster Bilder der äußeren Dinge erscheinen u. sich in der Figur des Mannes tausendfach deutlicher widerspiegeln. Die Frauenfigur kann erst etwas sehen, wenn sie sich freiwillig bückt u. die Abbilder in der männl. Figur anblickt. Eines Tages erscheint das Abbild eines Mannes in der männl. Glasfigur, das die Frau lange u. intensiv anschaut, bis ihr Stahl u. Diamant erweichen. Sie wird schwanger u. gebiert ein Kind: die Minne. Dem Sprecher gefällt das Kind sehr u. er stellt sich lebenslang in seinen Dienst. Das ihm anvertraute Minnekind beginnt im zweiten Kapitel vielerlei zu fragen. Da der Sprecher jedoch keine Antwort weiß, rät der Burgkämmerer zur Suche nach einem Buchgelehrten. In Alexandria findet der Sprecher schließlich den Meister Neptanaus. Dieser verspricht, ihn zur Minneburg zu begleiten. Dort angekommen, beginnt Neptanaus mit einer Allegorese, die an das Kind gerichtet ist: Das Gewitter sei die Heftigkeit der entzündeten Minne, die Säule eine ehrenhafte Frau, die fünf Fenster seien die fünf Sinne, die männl. Glasfigur die Vernunft, die weibl. Figur der unbeugsame Wille etc. Am Anfang des dritten Kapitels fordert der Sprecher minneinteressierte Frauen u. Knaben auf, das vorliegende Buch oft zu lesen. Es folgt eine erste von mehreren eingeschobenen Minnereden, die die Handlung (»materge« von lat. »materia«) unterbrechen. Hier stellt sich der Sprecher selbst als Minnender dar, dessen Liebe genau so entstanden sei, wie er selbst es im allegor. Vorgang beobachtet habe. Auf der Handlungsebene folgt ein ausgedehnter Frage-Antwort-Dialog (über 900 Verse) zwischen dem Minnekind u. Meister Neptanaus. In insg. 19 Fragen u. Antworten werden Eigenschaften, Symptome, Regeln u. Wirkungen der Minne dargelegt (bes. hervorzuheben sind die Ansiedelung der Minne in der Vernunft, ihre Exklusivität u. ihre prinzipielle Leidferne). Nach der 12. u. 19. Antwort unterbrechen zwei weitere umfangreiche Minnereden die Handlung, die im Text als »underbint« bezeichnet werden. Der erste »unterbint« besteht aus mehreren Teilen (konventionelle Werberede, Lob der Ge-
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liebten, Anrufung der Minne u. a.) u. wird mit einer längeren »Minnepredigt« abgeschlossen, in der der Sprecher vier »heilige« Worte (er sei 1. »eigen« der 2. »besten«, der 3. »schönsten« u. der 4. »beständigsten« Dame) einer Exegese unterzieht. Der zweite »underbint« ist eine Fortsetzung des ersten u. besteht wiederum aus mehreren in sich abgeschlossenen Teilen: Einer sprachartist. Minnerede mit seltensten Wörtern oder Neologismen (z.B. »morkelt«, »pfimpfen«, »beknudelt«, »gemuselt«) folgt ein Frauenpreis, der als eigenständige Minnerede in drei weiteren Textzeugen überliefert ist. Im vierten Kapitel unternimmt das Minnekind, das sich aufgrund der Lehren des Neptanaus für sehr stark hält, einen Spaziergang u. entdeckt mit Hilfe von Cupido die Burg Freudenberg. Angespornt durch die Begierde, will das Minnekind die Burg unbedingt erstürmen. Doch sein Heer von personifizierten Untugenden wird von den Tugenden der Burg zurückgeschlagen. Meister Neptanaus kommt zu Hilfe u. stellt für das Minnekind ein Heer von Tugenden auf, das aber ebenfalls geschlagen wird. Erst während eines zweitägigen Waffenstillstands lädt – auf Anraten der personifizierten Weisheit – die Burgherrin das Minnekind (inzwischen einfach nur »Minne« genannt) in die Burg ein, um es kennenzulernen. Dies geschieht, u. sogleich wird in der Burg die »Widerminne« (die dem Liebenden entgegengebrachte Gegenliebe) geboren. Ein dritter »underbint« über die Liebe des Sprechers beschließt das Kapitel. Er besteht aus einer Schönheitsbeschreibung seiner Dame u. einer Erzählung, in der der Sprecher nach einer Spaziergangseinleitung im Gebirge auf Amor u. Venus trifft: Als diese beiden ihn bitten, seine Frau zu beschreiben, weist er dies als unmöglich zurück u. bietet ersatzweise an, ein »Blatt« aus dem »Psalter ihres Lobes« vorzulesen – es folgt eine weitere eingeschobene, hyperbol. Minnerede. Frau Venus bemerkt daraufhin, seine Dame glaube ihm nur deshalb nicht, weil ein Mann gerne zu zehn Frauen gleichzeitig sage, sie allein sei ihm die allerliebste. Der Sprecher fährt daher zurück in sein Land u. dient seiner Dame ewig treu.
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Das fünfte Kapitel handelt zunächst von Minne u. Widerminne, die jetzt in trauter Eintracht auf Burg Freudenberg leben. Sie missachten eines Tages den Rat der Huote, sich nicht allzu öffentlich zu zeigen, u. gehen spazieren. Da greift ein großes Heer der Klaffer die Burg an u. zerstört sie teilweise. Wiederum auf Anraten der Weisheit wird die Burg gerettet: Man verbirgt nun seine Freude u. herrscht seitdem unbehelligt. Nach einer allegor. Auslegung dieser Ereignisse beginnt schließlich das Minnegericht, das bis zum Ende des Textes dauert u. in dem drei Damen angeklagt werden: Zunächst führt Frau Weisheit als Vertreterin der Anklage einen Ritter vor, von dem sie berichtet, dass er lange u. aufrichtig einer Dame gedient habe. Ohne dass er es wusste, habe diese schon oft voller Betrügerei das Minnespiel betrieben. Frau Minne bestätigt das, u. Frau Gerechtigkeit schlägt eine harte Strafe vor. Frau Minne spricht ein hartes Urteil u. verflucht die Frau. Im zweiten Fall führt Frau Gerechtigkeit einen jungen Ritter an ihrer Hand u. berichtet, dass dessen Dame ihn drei Jahre öffentlich missachtet habe. Frau Weisheit schlägt vor, dass die Dame ihrer Unbeständigkeit u. ihres schlechten Beispiels wegen nie mehr von beständigen Männern geliebt werden solle. Im dritten u. letzten Fall stellt Frau Treue einen Ritter vor, von dem sich im weiteren Verlauf herausstellt, dass dieser Mandant das Sprecher-Ich u. der Verfasser der M. selbst ist: Frau Treue trägt zunächst eine Minnerede vor, die der Verfasser der M. über den Fall ihres Mandanten, den er gut kenne, da er sein Zwillingsbruder sei, gedichtet habe: Das Ich dieser Rede folgt einer Stimme im Wald u. findet einen Einsiedler, der seinen unsagbaren Schmerz über die ungleich verteilte Minne beklagt u. auf Nachfrage seine Liebesgeschichte erzählt: Die schönste u. beste aller Damen habe die Minneglut in ihm entfacht u., als sie das bemerkte, sich dauerhaft von ihm abgewendet. Der Einsiedler bittet den Sprecher, er solle zu dieser so hartherzigen Geliebten gehen u. ihr sagen, wie sehr er leide. Nach Abschluss dieser Minnerede bittet Frau Treue darum, dass Frau Minne entscheide, ob es der Dame erlaubt sei, weiterhin so zu handeln, obwohl ihr Mandant doch
Die Minneburg
wohl im Recht sei. Um den Fall noch evidenter zu machen, dringt Frau Treue sofort darauf, mit dem Urteil zu warten u. lieber noch eine Minnerede anzuhören. Diese, die abermals vom Verfassers der M. stamme (u. wie die erste genau 346 Verse umfasst), solle durch ihren Mandanten selbst vorgetragen werden. Frau Minne stimmt zu. Diese zweite eingeschobene Minnerede macht die Identifikation des Sprechers/Verfassers der M. mit dem Mandanten der Frau Treue evident, weil es statt des zu erwartenden »Er sprach« heißt: »Ich sprach«, d.h. der Ich-Sprecher u. der Mandant der Frau Treue im Minnegericht fallen ineins. In dieser Minnerede beklagt das Ich erneut u. mit großem rhetorischen Geschick, dass seine Dame ihm böse sei, weil er ihr diene; stattdessen solle sie ihm seiner Treue wegen gewogen sein, auch wenn sie ihn nicht liebe. Frau Treue fordert nach dieser Darstellung ihres Mandanten/des Sprechers zwar ein Urteil von Frau Minne, doch bittet sie sofort erneut um Einhalt: Die Minne solle ihren Diener vielmehr auffordern, in einer weiteren Rede von seinem Jammer u. Kummer zu klagen. Frau Minne willigt in das Anliegen von Frau Treue ein, u. es folgt als dritter Minneredenvortrag ein Dialog zwischen dem Körper u. dem Herzen. Im Zentrum steht hier die Allegorie von einer Krähe (das Ich), die einen Adler (die Dame) liebe, obwohl dieser die Krähe peinige. Im Anschluss an diese Minnerede verzichtet Frau Treue darauf, noch auf einem Urteilsspruch der Frau Minne zu beharren, sondern fordert diese vielmehr dazu auf, nach weiteren Reden zu fragen. Frau Minne bekennt, dass sie gerne hundert solcher Reden hören wolle. Es folgt der Vortrag einer vierten Minnerede, deren Thema das nie gefundene »remedium amoris« ist. Kurz vor Abbruch des Textes der M. im cpg 455 beginnt die fünfte Minnerede, die nach sieben Versen nicht mehr lesbar ist. Die Konzeption der M. findet in den mittelalterl. Minneallegorien keine Parallele. Konsequent weist der Text – neben der formalen Gliederung in fünf Kapitel – auf seine kompositor. Konzeption u. die strikte Einteilung in »materge« u. »underbint« hin. Innerhalb der »materge« bedient sich der Verfasser eines komplexen allegor. Reper-
Mischkulnig
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Ausgabe: Die M. Hg. Hans Pyritz. Bln. 1950. toires, welches sein grundlegendes Wissen um die Konventionen u. Motive der lehrhaf- Neudr. Hildesh. 1991. Literatur: Gustav Ehrismann: Untersuchungen ten Minnedichtung veranschaulicht. Hier entwickelt sich ein chronologisch fortlaufen- über das mhd. Gedicht v. der M. In: PBB 22 (1897), der Handlungsstrang, der schließlich mit der S. 256–341. – Hermann Kreisselmeier: Der Sturm Verteidigung von Burg Freudenberg in einer der Minne auf die Burg. Meisenheim am Glan 1957. – Tilo Brandis: Mhd., mittelniederdt. [...] fast idyll. Szenerie endet. Im Gegensatz dazu Minnereden. Mchn. 1968, S. 191 f., Nr. 485. – reflektieren die »underbinde« lediglich die Walter Blank: Die dt. Minneallegorie. Stgt. 1970, narrative Struktur der »materge« u. bilden S. 216–223 u. ö. – Ingeborg Glier: Artes amandi. eine zweite Erzählebene. Als paradigmatisch Mchn. 1971, S. 127–156 u. ö. – Brigitte Hebert: arrangierte Beispielfälle präsentiert der L’adaptation des motifs religieux [...]. Un exemple: Sprecher seine »eigenen Erfahrungen«. Der la M. In: Actes du colloque [...] sur ›L’adaptation bewusst illustrierte Zwiespalt zwischen der courtoise‹ en littérature médiévale allemande. Hg. utop. Zustandsbeschreibung in der M. u. der Danielle Buschinger. Paris 1976, S. 107–114. – ernüchternden Realität des Sprecher-Ichs David Fletcher Tinsley: When the Hero Tells the stellt die zentrale Funktion der »underbinde« Tale. Princeton 1985. – W. Blank: Die M. In: VL. – D. Fletcher Tinsley: ›Also ist mir vil tummen welffe dar. Erst im abschließenden Minnegericht in mines synne throne‹. In: Euph. 84 (1990), werden beide Erzählebenen der M. ineinan- S. 59–74. – Ralf Schlechtweg-Jahn: Minne u. Meder verwoben. Die M. ist jedoch nicht nur die tapher. Trier 1992. – Lotte Kurras: Lassbergs AbDarstellung einer emotionalen Liebesbezie- schrift der M. In: ZfdA 124 (1995), S. 275–277. – hung des Sprechers, eingeflochten in eine Anja Sommer: Die M. Ffm. 1999. – Dorothea Klein: konventionell arrangierte Minneallegorie, Zur Metaphorik der Gewalt in der M. In: Würzsondern sie ist auch als »Metatext« (Volfing burg. Hg. Horst Brunner. Wiesb. 2004, S. 103–119. 2005, S. 205) zu verstehen, der eine Vielzahl – Dies.: Allegor. Burgen. In: Die Burg in Minnevon klar begrenzten Texteinheiten unter- sang u. Allegorie des dt. MA. Hg. Ricarda Bauschke. schiedl. Gattungen einschließt. Vor allem die Ffm. 2006, S. 113–137. – Annette Volfing: Die M. In: Texttyp u. Textproduktion in der dt. Lit. des starke Hinwendung zur subjektiven PerMA. Hg. Elizabeth Andersen, Manfred Eikelmann spektive des Sprechers gegen Ende des Textes u. Anne Simon. Bln./New York 2005, S. 203–216. – zeigt, dass die M. letztendlich ein aus meh- Ludger Lieb: Minne schreiben. In: Schrift u. Liebe reren Binnen-Minnereden konstruierter Text in der Kultur des MA. Hg. Mireille Schnyder. Bln./ ist, der sich der »materge«-Handlung als re- New York 2008, S. 191–220. – Jacob Klingner u. lativ konventioneller Plattform bedient. Die- ders.: Hdb. Minnereden. Bln./New York 2010, Nr. se Binnen-Minnereden entwerfen eine ganze B485. Ludger Lieb / Marc Andre Ziegler Palette von Ausdrucksformen, die in den Minnereden des 14. u. 15. Jh. typisch werden. Mischkulnig, Lydia, * 2.8.1963 KlagenIm Prozess ihrer Tradierung wurde die M. furt. – Verfasserin von Romanen, Erzähzweimal einschneidend bearbeitet. Die hier lungen u. Hörspielen. dargestellte längere Reimfassung ist nur im cpg 455 annähernd komplett überliefert. Nur M. studierte Bühnenbild sowie Film in Graz hier sind die drei Prologstrophen u. das u. Wien, wo sie heute lebt. Von der Literafünfte Kapitel mit dem Minnegericht über- turkritik wird M., die seit 1991 literarisch liefert. Die kürzere Reimfassung mit bis zu tätig ist, in der Tradition von Ingeborg 3628 Versen ist in vier Handschriften aus der Bachmann u. Elfriede Jelinek gesehen. Draszweiten Hälfte des 15. Jh. überliefert. Als tik u. groteske Komik sind ebenso Kennzeidritte Fassung kann eine ebenfalls aus dieser chen von M.s Prosa wie das Spiel mit NeoloZeit stammende Prosaauflösung der kürzeren gismen u. Sprachbildern. Im Debütroman Reimfassung gelten, die einen eigenständi- Halbes Leben (Graz/Wien 1994) verbinden sich gen Prolog bringt u. nur einmal überliefert ist Todesbeschwörungen mit Bildern von Ge(Wien, ÖNB 2984). burt u. Sexualität. Die Erzählungen des Bandes Sieben Versuchungen (Stgt. 1998) schildern Liebes- u. Geschlechterbeziehungen als
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abgründig u. von Macht- u. Manipulationsinteressen bestimmt. Um Fragen weiblicher Identität u. Identitätssuche geht es im Roman Umarmung (Stgt./Mchn. 2002), in dem sich das erzählende Ich in einem komplex gestalteten Prozess der Aufspaltung u. Verbindung dreier Frauenfiguren konstituiert. Mit ihren thematisch oft provokativen Texten lotet M. stets auch die Möglichkeiten u. Grenzen der Sprache aus. 2007 gründete sie mit Sabine Scholl die literar. Bewegung Tinternational Textunternehmen, deren Programm konsequent gemeinschaftliches u. wechselseitiges literar. Schreiben vorsieht. M. erhielt mehrere Preise u. Stipendien, u. a. das Österreichische Staatsstipendium für Literatur (1995), den Bertelsmann-Literaturpreis beim Ingeborg Bachmann-Wettbewerb (1996) u. den manuskripte-Preis (2002). Weitere Werke: Hollywood im Winter. Innsbr. 1996. – Mit Sabine Scholl: Böhm. Bibel. Unheilige Schrift für Puppen. Bd. 1: Fiona; Bd. 2: Libuse, Klagenf./Celovec 2008; Bd. 3: Herminator, Klagenf. 2009. – Hörspiele: Der Lärm der Stille. ORF 1994. – Hineinhören. ORF 2003. – Böhm. Bibel. Manifest u. Coopoetics. Mit Sabine Schott. ORF 2007. Literatur: Michael Fischer: L. M. In: LGL. Frank Wessels
Missenharter, Hermann, * 5.6.1886 Stuttgart, † 26.9.1962 Gerlingen bei Stuttgart; Grabstätte: Stuttgart, Waldfriedhof. – Theaterkritiker, Kulturhistoriker, Herausgeber. M. war seit 1910 in Berlin als Journalist tätig, von 1911 bis zu seinem Tod in Stuttgart als Theaterkritiker, Herausgeber u. Mitarbeiter von Zeitschriften. 1943–1948 arbeitete er als Lektor im Verlag Cotta u. kehrte danach wieder zur Pressearbeit bei den »Stuttgarter Nachrichten« zurück. Als Schriftsteller widmete sich M. v. a. der schwäb. Geistes- u. Kulturgeschichte. In dem Band Schwäbische Essays (Urach 1946) vereinigte er literar. Porträts u. a. zu Johann Kaspar Schiller, Philipp Matthäus Hahn, Wilhelm Waiblinger, Friedrich Theodor Vischer u. »barocken Figuren« aus Oberschwaben. Sein biogr. Hauptwerk galt Voltaire, den er –
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nach den Erfahrungen der Diktatur des Dritten Reichs – seinen Lesern als freien Geist u. Streiter für Vernunft, Gerechtigkeit u. Toleranz nahebrachte (Voltaire. Urach 1949) u. aus dessen Briefwerk er eine Auswahl vorlegte (Voltaire in seinen schönsten Briefen. Stgt. 1953). In mehreren Schriften befasste sich M. mit seiner Heimatstadt, so in dem Band Herzöge, Bürger, Könige. Stuttgarts Geschichte, wie sie nicht im Schulbuch steht (Stgt. 1955. 2005), einer anschaulich erzählten, in Kurzkapiteln unterhaltsam dargebotenen »Biografie einer Residenz« von der Gründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. In den weiteren Umkreis des schwäb. Landes führt sein Reisebuch Liebes altes Württemberg (Stgt. 1948. Neuaufl. 1988, mit Vorw. v. Otto Borst). Als Schauspielkritiker bewahrte er sich ein eigenständiges, von unbestechl. Qualitätssinn geleitetes, temperamentvolles u. auch streitbares Urteil, das über Jahrzehnte hinweg das Theaterleben der Stadt Stuttgart kritisch begleitete. M.s wichtigste Edition war eine Werkausgabe Schillers in sechs Bänden (zus. mit Kläre Buchmann. Stgt. 1944–50). Literatur: Renate Milczewsky: Schwäb. Dichter u. Schriftsteller im Dienste der Presse. Diss. Mchn. 1954, S. 85–113. Walter Riethmüller / Red.
Missfeldt, Jochen, * 26.1.1941 Satrup/ Schleswig. – Prosa-Autor, Lyriker. M. durchlief eine Ausbildung zum Starfighter-Piloten u. war Offizier der bundesdt. Luftwaffe. Nach seinem regulären Ausscheiden aus dem Militärdienst studierte er ab 1981 Musikwissenschaft, Philosophie u. Volkskunde in München u. Kiel, zgl. erschienen seither regelmäßig Reportagen, Essays u. Erzählungen in großen Tageszeitungen. Für seine Veröffentlichungen erhielt er u. a. 2002 den Wilhelm-Raabe-Preis. Er lebt in Oeversee bei Flensburg. M.s nordfries. Heimat u. sein technischmilitärischer Beruf bestimmten seine Arbeiten von Anfang an, werden aber erst im bisherigen Hauptwerk Der gespiegelte Himmel. Titanvogeltage (Bln. 2001) vollends produktiv aufeinander bezogen. Geleitet wird M.s Entwicklung dabei u. a. von der Überzeugung, dass die dt. Geschichte des vergangenen
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Jahrhunderts sowohl von ihren Spuren im Deckname Orpheus. Opernspiele. Ebenhausen Landschaftsraum als auch von ihren Tradie- 1997. – Seid gut zum Unkraut. Landschaften, Orte, rungen im Habitus einer Berufsgruppe her Jahreszeiten. Bamberg 2002. – Der Traum vom veranschaulicht werden kann. So treten be- richtigen Leben. Eichthal 2006 (E.). Literatur: Albert v. Schirnding: Geschenkte reits in den frühen Gedicht- u. Erzählbänden poetisch-empfindsame Naturschilderungen Zeit. Der Erzähler J. M. In: J. M. trifft Wilhelm Raabe. Gött. 2003. – Stephan Landshuter: J. M. In: neben exaktere Wiedergaben von Jargon u. LGL. Florian Kessler Lebensalltag. Zusammengeführt werden diese Erzählmittel durch Erschaffung des fiktiven schleswig-holstein. Fliegerhorsts Solsbüll, Mitgutsch, Ali, eigentl.: Alfons M., * 21.8. von dem in M.s gleichnamigem Romandebüt 1935 München. – Bilderbuchautor, Illus(Ebenhausen 1989) jedoch noch weitgehend trator, Grafiker. realistisch erzählt wird: Aus über 100 Biografien bildet sich das Panorama des Garni- Nach einer Lehre als grafischer Zeichner u. sionsstädtchens u. seiner Bewohner von der dem Besuch der Kunstakademie in München Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis zum Ende war M. zunächst als Gebrauchsgrafiker u. der 1950er Jahre. Ist bereits hier das proble- Bilderbuchillustrator tätig. Seit 1968 verfasst mat. Erbe militärischer Tradition aufgezeigt, u. gestaltet er vorwiegend Sachbilderbücher. wenn etwa Vater u. Großvater des jugendl. Für Rundherum in meiner Stadt (Ravensburg 3 Protagonisten Gustav Hasse als Flieger in den 1968. Jubiläums-Ausg. 1993. 1995) erhielt er beiden Weltkriegen umkommen u. seine 1969 den Deutschen Jugendbuchpreis; 2003 Mutter bei einem Luftangriff stirbt, so wird wurde ihm der Schwabinger Kunstpreis verdie Kontinuität deutschen Militärhandwerks liehen. M.s Absicht ist es, Kinder mit den unterin Gespiegelter Himmel zum bestimmenden schiedl. Bereichen ihrer Umgebung u. ihres Thema. Der von der Kritik einhellig gelobte, äußerst sprachmächtig konstruierte Roman Alltags vertraut zu machen. Er gibt ihnen schildert den weiteren Werdegang Hasses, anschaul. Schilderungen von Stadt, Dorf, Arder in Solsbüll u. beim US-Militär in Arizona beits- u. Familienleben (Bei uns im Dorf. Razum Kampfpiloten ausgebildet wird. Mit vensburg 1970. Neuausg. 1994. Was ich schon deutl. Verweisen auf entsprechende Faust- kann. Ravensburg 1971) u. zeigt an vielfältiMotive u. v.a. Thomas Manns Dr. Faustus- gen Situationen Beispiele sozialen VerhalRoman wird Zeitgeschichte aus Sicht des Be- tens. Seine als »Wimmelbilderbücher« berufsalltags von Starfighter-Piloten nicht ein- kannten Bücher, die auf einer Seite oder fach erklärt, sondern mittels expressionisti- Doppelseite ein Neben- u. Miteinander von scher, bisweilen stark symbolist. Sprache frei vielen kleinen Alltagsszenen zeigen, nennt von Wertung gleichsam wie im Fluge über- M. »sich selbst erzählende Bilderbücher«. Sie schaut. Ähnliches gilt für den nach wahren zeichnen sich aus durch ihre lebendige, geBegebenheiten recherchierten Roman Steil- genständl. Gestaltung, die es dem Kind erküste. Ein See- und Nachtstück (Bln. 2005), der laubt, in den Szenen seiner Bilder selbständig um ein nationalsozialist. Marine-Todesurteil umherzuwandern. Weitere Werke (Erscheinungsort, wenn nicht wenige Tage nach Kapitulation »Restgroßanders vermerkt, Ravensburg): Pepes Hut. 1959. – deutschlands« kreist u. bei dem M. sein poet. Ulus abenteuerl. Reise zum Nordlicht. 1960. – Nico Talent u. seine lakon. Beobachtungsgabe findet einen Schatz. 1961. – Die Hexe u. die 7 Fexe. abermals in Naturbeschreibungen u. Sozio- 1970. 1995 (zus. mit Irmgard Hailer). – Komm mit grammen integrieren kann. ans Wasser. 1971. Neuausg. 1994. 31996. – Von der Weitere Werke: Ges. Ängste. Texte. Bonn 1975. – Mein Vater war Schneevogt. Ebenhausen 1979 (G.e). – Zwischen Oben, zwischen Unten. Erzählung in 11 Heften. Ebenhausen 1982. – Capo Frasca u. andere Fliegergesch.n. Ebenhausen 1984. – Der Rapskönig. Kinderbuch. Wiesb./Zürich 1990. –
Rübe zum Zucker. 1972. Neuaufl. 1990. Köln 2006. – Vom Gras zur Butter. 1972. Neuaufl. 1989. Köln 2006. – Wir bauen ein Auto. 1973. – Vom Kakao zur Schokolade. 1975. Neuaufl. 1989. – Rund ums Rad. 1975. – Riesenbilderbuch. 1980. 221993. – Das riesengroße Spielpanorama. 1982. Neuaufl. 1993. –
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255 Wir spielen Abenteuer. 1983. – Unsere große Stadt. 1988. Neuausg. 1994. Zuletzt 1998. – Ritterbuch. 1990. 61995. – Fizzel malt sich eine Sonne. 1992. – Fizzel findet einen Freund 1992. – Fizzel baut eine Burg. 1992. – Zwiggel, der Zwerg. Weinheim 1996. 1999. – Alle spielen mit. 1997. 2002. – Das große Bauernhof-Spielbuch. 1999. – Das große Gespenster-Spielbuch. 2002. – Das große Piraten-Wimmelbuch. 2004. Literatur: H. Künnemann: Die Bildwelt des A. M. In: Archiv für angewandte Sozialpädagogik 6 (1971), S. 275–278. – K. Doderer u. H. Müller (Hg.): Das Bilderbuch. 1973. – Kristine Schmitt-Dietrich: Fizzel malt sich eine Sonne v. A. M. Schüler lesen ihr erstes Buch. In: Grundschulmagazin 11, H. 10 (1996), S. 11–14. – Maria Linsmann u. Barbara Scharioth (Hg.): A. M. Ein Chronist der Welt im Kleinen. Troisdorf 2005. Barbara Handwerker Küchenhoff / Red.
Mitgutsch, Anna, * 2.10.1948 Linz/Oberösterreich. – Prosa-Autorin, Verfasserin von literaturwissenschaftlichen Schriften, Rezensentin u. Übersetzerin. Nach ihrem Studium der Anglistik u. Germanistik in Salzburg (Dr. phil. 1974) arbeitete M. bis 1978 als Assistentin am Institut für Amerikanistik in Innsbruck. Es folgten Lehraufträge in England, Seoul u. den USA, wo sie von 1979 bis 1985 lebte. Nach der Publikation ihres ersten Romans Die Züchtigung (Düsseld. 1985. Brüder-Grimm-Preis der Stadt Hanau), der in zwölf Sprachen übersetzt wurde, kehrte sie nach Österreich zurück. Die Protagonistin in der Züchtigung ist Marie, ein ungeliebtes, misshandeltes u. ausgebeutetes Bauernkind, das während des Zweiten Weltkriegs in einem oberösterr. Dorf aufwächst. Trotz Heirat, Umzug in die Stadt u. eigener Familie gelingt ihr weder der ersehnte soziale Aufstieg noch das Ablegen des von Generation zu Generation weitergegebenen dumpfen Lebensgefühls, das von Lieblosigkeit u. Unfreiheit geprägt ist. Damit aus ihrer Tochter Vera etwas Besseres wird, beginnt sie sie zu schlagen, so wie sie selbst gezüchtigt wurde. Einerseits opfert sich Marie völlig für die Tochter auf, andererseits fügt sie ihr körperliche u. seel. Schäden zu, die Veras Weiterentwicklung u. auch ihre späteren Beziehungen zu Männern u. zu ih-
rer eigenen Tochter prägen werden. Über ihr Erstlingswerk meinte M. selbst, dass sie etwas getroffen habe, womit sich große Teile ihrer Generation stark identifizieren konnten, weswegen der Roman von allen Seiten »abgesegnet« worden sei. Der negative Effekt dieser »Absegnung« u. der hauptsächlich inhaltl. Analyse war die Zuordnung in die Kategorien der »Frauenliteratur« u. somit der »autobiografischen«, der »Selbsterfahrungsliteratur« u. des »Neuen Subjektivismus«. Dem entgegen stehen die Kommentare zu M.s Sprache, ihrer poet. Intelligenz u. geballten sprachl. Kraft, die noch verstärkt in ihrem zweiten Roman Das andere Gesicht (Düsseld. 1986) zur Geltung kommen. In zwei sich abwechselnden Stimmen erzählen zwei junge, anfangs völlig konträr wirkende Frauen vom Fremdsein u. von der beharrl. Suche nach Gemeinschaft u. Glück. Die Themenschwerpunkte Welt-, Ich- u. Sprachverlust, über die M. 1977 literaturwissenschaftlich arbeitete (›Weltverlust‹ in der zeitgenössischen Lyrik, exemplarisch dargestellt an Paul Celan und Sylvia Plath. In: Sprachkunst 8, S. 251–277), ziehen sich leitmotivisch durch ihr Werk. Die zentrale Rolle der Außenwelt für ihre Protagonisten, v. a. jedoch deren Bedeutung für die erfolgreiche Konstituierung eines Selbst bzw. einer eigenen Identität, zeigt sich bes. in den ersten vier Romanen (Die Züchtigung, Das andere Gesicht, Ausgrenzung. Darmst. 1989, u. In fremden Städten. Hbg. 1992), in denen die Protagonistinnen immer mehr vor der Realität in sich selbst flüchten u. dennoch der Wirklichkeit, die sie im Bewusstsein reflektieren u. in sich tragen – somit sich selbst – nicht entfliehen können. Als letzte Hilfe, das Gleichgewicht zwischen dem Bewusstsein u. seinem (Ich- u. Welt-)Verlust zu halten, erkennt M. die Sprache: »Sprache ist Bewußtsein«. Doch an der Grenze des Sagbaren endet auch das Bewusstsein. Jakob, der als autistisch diagnostizierte Sohn der Protagonistin in Ausgrenzung, hört mit zwei Jahren zu sprechen auf u. bricht damit die Verbindung zur Außenwelt, aber auch die Entwicklung seiner eigenen Identität ab. In den Grazer Poetikvorlesungen Erinnern und Erfinden (Graz 1999) erkennt M. die Faszination des Schreibens in dem »ewig Dunklen
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[...], den Rändern des Schweigens, den Antiheld Billy Budd, dem »sprachlosen EnGrenzen des Sagbaren [...]. Dort, wo die gel« – seine Sprachlosigkeit zum Verhängnis Sprache endet, wo das Schweigen beginnt, wird. Wie ihr amerikan. Berufskollege, desglaubt die Literatur Erkenntnis zu errei- sen Protagonisten sich ebenfalls zum Großchen.« In ihrem gesamten Werk beschäftigt teil als Außenseiter erkannten, präsentiert sie sich mit der Frage, wie dieses »ewig auch M. keine Hilfestellung oder Strategie, Dunkle« mithilfe der Literatur, v. a. aber der ihn vor der Welt zu retten, denn »in WirkSprache dargestellt u. eventuell auch erhellt lichkeit geschehen keine Wunder«. Bei einer Lesung im Salzburger Literaturhaus 2003 werden kann. Neben der inneren Fremdheitserfahrung erklärte M., die in der Zwischenzeit für ihr erleben viele ihrer Figuren auch eine äußere literar. Werk u. a. mit dem Anton Wildganstopografische: Jana u. Julia (Das andere Ge- Preis (1993), dem National Jewish Book sicht), Lilian (In fremden Städten), Dvorah (Ab- Award (1996), dem Österreichischen Würdischied von Jerusalem. Bln. 1995), Mira u. Max gungspreis (2000) u. dem Solothurner Lite(Haus der Kindheit. Mchn. 2000. Engl. Übers. raturpreis (2001) ausgezeichnet worden war, New York 2006). Während Jana, Julia u. abschließend: »Ich will etwas lernen von LiDvorah Touristinnen sind, die problemlos teratur, etwas, das zeitlos ist, etwas über die wieder in ihr Ausgangsland zurückkehren Abgründe der menschlichen Seele.« Dass sie könnten, beschreibt M. mit Lilian u. Max auf diesem Wunsch sowohl inhaltlich, v. a. aber völlig unterschiedl. Weise zwei Amerikaner auch sprachlich u. formal immer näherin einer österr. Kleinstadt: bei Lilian den Ort, kommt, zeigt ihr bisher jüngstes Werk am wo sie hingeheiratet hat u. ihre Kinder auf- augenscheinlichsten, das wohl düsterste u. ziehen soll, u. bei Max die Rückkehr an den zgl. vielschichtigste u. komplexeste, das von Ort seiner Kindheit, von wo er u. seine Fa- mehreren Rezensenten als ihr Opus Magnum milie vertrieben wurden. Während Lilian als bezeichnet wurde. Symbol für »Heimat« den Baum wählt, nach Literatur: Maria-Regina Kecht: Gespräch mit dessen Verwurzelung sie sich sehnt, wird Waltraud A. M. In: Women in German Yearbook. Max mit dem Symbol des Schiffs, als Zeichen Feminist Studies in German Literature and Culture seiner Unbehaustheit u. Freiheit, charakteri- 8 (1992). – A. M. In: Tonspuren ORF (Ö1), 29.3.1998. – Katherine Elizabeth Evans: ›Das Polisiert. So wie Mira u. Max lebt auch Edna, die tische ist nicht anders erlebbar als privat‹: A Study of A. M.’s Fiction and its Portrayal of Austrian SoProtagonistin des Romans Familienfest (Mchn. ciety. Diss. University of Bangor 2003. – Kristin 2003), die fundamentale jüd. Tradition des Teuchtmann: Über die Faszination des UnsagbaSich-Erinnerns, wenn sie am Pessach-Seder ren. A. M. – eine Monogr. Ffm. 2003. – Die Rampe. beispielsweise die Ereignisse des Auszugs aus Hefte für Lit. Porträt A. M. Linz 2004. Ägypten mit der Übersiedelung ihrer Sippe in Kristin Teuchtmann die USA parallelisiert. Denn das Erinnern stiftet Identität u. wird als einziges Mittel Mitscherlich, Alexander, * 20.9.1908 gegen den Tod verstanden. Im krassen GeMünchen, † 26.6.1982 Frankfurt/M.; gensatz dazu stehen die schweigenden, sich Grabstätte: ebd., Hauptfriedhof. – Psyder Erinnerung verwehrenden Figuren der choanalytiker. österr. Kleinstadt, auf die bereits Vera (Züchtigung) u. bes. Max (Haus der Kindheit) stoßen. Aus einer Fabrikantenfamilie stammend, die In ihrem bisher letzten Roman Zwei Leben väterlicherseits auf bekannte Naturwissenund ein Tag (Mchn. 2007) arbeitet M. meis- schaftler zurückblicken konnte, studierte M. terhaft mit Parallelen zu Leben u. Werk des zunächst Geschichte, Kunstgeschichte u. amerikan. Autors Herman Melville, das sie Philosophie, ehe er in den 1930er Jahren in kunstvoll mit den Lebensentwürfen ihrer drei Berlin eine Buchhandlung eröffnete u. das Protagonisten, der Literaturwissenschaftler Medizinstudium aufnahm. Wegen seiner Edith u. Leonard u. ihres gemeinsamen Sohns Kontakte zum Widerstandskreis um Ernst Gabriel verstrickt, dem – so wie Melvilles Niekisch wurde M. 1937 verhaftet, konnte
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Mittelfränkische Reimbibel
aber nach dreimonatiger Gestapo-Haft sein Psychologie der Deutschen in der NachStudium in Heidelberg bei Viktor von Weiz- kriegszeit u. ihren verfehlten Umgang mit säcker fortführen u. mit Promotion u. Habi- dem NS-Erbe. litation beenden. Nach dem Krieg baute M. Weitere Werke: Das Reiterbuch. Gedanken u. die Psychosomatische Klinik in Heidelberg Gesänge. Bln. 1935. – Die Idee des Friedens u. die auf u. gründete 1960 in Frankfurt/M. das menschl. Aggressivität. Ffm. 1969. – Toleranz. Sigmund-Freud-Institut, das er bis 1976 lei- Überprüfung eines Begriffs. Ffm. 1974. – Der tete. 1967 erhielt er einen Lehrstuhl an der Kampf um die Erinnerung. Psychoanalyse für Philosophischen Fakultät in Frankfurt/M., fortgeschrittene Anfänger. Mchn. 1975. – Ein Leben für die Psychonanalyse. Ffm. 1980. 1969 wurde er mit dem Friedenspreis des Ausgabe: Ges. Schr.en in 10 Bdn. Ffm. 1983. Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Literatur: Jürgen Habermas: Eine psychoanaNeben seinen Leistungen auf dem Gebiet der Psychosomatischen Medizin (Freiheit und lyt. Konstruktion des Fortschritts. In: Merkur 189 (1963), S. 112–117. – Jean Améry: Zwischen Marx Unfreiheit in der Krankheit. Hbg. 1946. Kranku. Freud. Fragen an A. M. Ebd. 264 (1970), heit als Konflikt. 2 Bde., Ffm. 1966/67), welche S. 383–390. – Hans-Martin Lohmann: A. M. Reinb. die anthropologisch geprägte Krankheitsleh- 1987. – Martin Dehli: Leben als Konflikt. Zur re Weizsäckers weiterführten, hat M. ein Biogr. A. M.s. Gött. 2007. – Tobias Freimüller: A. vielseitiges wiss. u. literar. Werk vorgelegt, M. Gesellschaftsdiagnosen u. Psychoanalyse nach das auf das öffentl. Klima der westdt. Nach- Hitler. Gött. 2007. – Timo Hoyer: Im Getümmel kriegsrepublik nachhaltig gewirkt u. seinem der Welt. A. M. Ein Porträt. Gött. 2008. Autor den Ruf eines »Volkspädagogen« (JürHans-Martin Lohmann gen Habermas) eingetragen hat. Als Resümee des Nürnberger Ärzteprozesses 1946/47 puMittelfränkische Reimbibel. – Umblizierte M. zus. mit Fred Mielke die Dokufangreiche, mit gut 1400 Versen nur mentation Das Diktat der Menschenverachtung knapp zur Hälfte erhaltene Dichtung bi(Heidelb. 1947. U. d. T. Medizin ohne Menschblischen, apokryphen u. legendarischen lichkeit. Ffm. 1960) über die Praxis der MenInhalts, entstanden um 1100 im mittelschenversuche u. -tötung durch NS-Ärzte. Sie bzw. niederrheinischen Raum. blieb lange Zeit die einzige zusammenfassende Darstellung des Themas u. sorgte für Die Bruchstücke erzählen aus dem AT u. a. nachtragenden Groll eines Großteils der dt. über die Schöpfungsgeschichte, Luzifers Ärzteschaft gegen M. Sturz, die Sintflut, die Patriarchen u. SusanZu den wichtigsten Leistungen M.s zählt, na; aus dem NT über Marias Besuch bei Elidass er sich früh um die durch den Natio- sabeth, Zacharias u. die Verheißung der Genalsozialismus verfemte und vertriebene burt des Täufers, über Einzelnes aus dem JeFreud’sche Psychoanalyse bemühte u. sie in susleben. Westdeutschland wieder heimisch machte. Anderes aus dem NT u. seinen Apokryphen Obwohl Mediziner, favorisierte er den kul- bleibt so fragmentarisch, dass eine Zuordturtheoret. Teil des Freud’schen Erbes (Auf nung nicht möglich ist. Spätere Rückverweise dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Mchn. 1963. lassen den Schluss auf eine mindestens teilDie Unwirtlichkeit unserer Städte. Ffm. 1965). In weise Behandlung auch der Apostelgeschichseinen Zeit- u. Gesellschaftsdiagnosen wand- te zu. In den NT-Stücken tritt das Erzählen te M. mit Erfolg das psychoanalyt. Begriffs- hinter Exegese u. Paränese, z.T. auch kurioser instrumentarium auf kollektive Phänomene Gelehrsamkeit zurück. Einen dritten Koman u. avancierte damit zu einem der ein- plex bilden Stoffe aus dem Bereich der flussreichsten Interpreten u. Kritiker der Apostelakten, der Legende u. der frühen westdt. Nachkriegsgesellschaft. Das Buch Die Kirchengeschichte. Neben der VeronikaleUnfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven gende u. den Berichten über Petrus, Simon Verhaltens (zus. mit Margarete Mitscherlich. Magus u. Mariä Himmelfahrt stehen eine Art Mchn. 1967) machte M. international be- Apostelmartyrolog u. die Legende von Helekannt; der Titel wurde zum Synonym für die nas Kreuzauffindung, verbunden mit der des
Mittelrheinischer Totentanz
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Eraclius u. Cosmas. Andere Heilige u. weltl. ossov Univ. Moskau. Kat., Beiträge u. Studien, Große der frühchristl. Geschichte werden nur Moskau 2008. Literatur: Hugo Busch: Ein Legendar aus dem kurz erwähnt. Den Schluss des Erhaltenen bildet eine Jenseitsspekulation über zwei Anfang des 12. Jh. In: ZfdPh 10 (1879), S. 129–204, Höllen u. Paradiese zus. mit der Geschichte 281–326, 390–485. – Ebd. 11 (1880), S. 12–62. – von Lazarus in Abrahams Schoß. Das Gedicht Ders.: Bruchstücke eines mittelfränk. Gedichtes. In: Beiträge zur dt. Philologie. Julius Zacher dargibt sich in diesem Stoffkomplex einen gegebracht als Festgabe zum 28. Okt. 1879. Hg. Ernst lehrten Anstrich mit schulmäßigen, z.T. fik- Bernhard u. a. Halle 1880, S. 277–292. – Joseph tiven Quellenberufungen (Sedulius, Arator, Schatz: Eine Reimbibel des 12. Jh. Neue BruchMelitos). stücke des sog. Mittelfränk. Legendars. In: ZfdA 59 Als umfangreiche geistl. Dichtung ist die (1922), S. 1–22. – Otto Mitter: Untersuchungen M. R. neben den frühen oberdt. Bibelepen über das Bruchstück v. der babylon. Gefangeneinmalig in ihrer Zeit u. ihrem mittelfränk. schaft u. sein Verhältnis zur M. R. In: PBB 60 Entstehungsraum. Bei der sonst typischen, (1936), S. 258–305. – Edgar Papp: M. R. In: VL. – unikalen u. späten Überlieferung zeitgenöss. David A. Wells: The Central Franconian Rhyming Dichtung ist auch die Bewahrung in drei Bible (M. R.). An Early-Twelfth-Century German Verse Homiliary. A Thematic and Exegetical ComHandschriften aus der ersten Hälfte des 12. mentary. With the Text and a Translation into Jh. etwas ganz Außerordentliches. Eine dieser English. Amsterd./New York 2004. Handschriften trägt die Spuren oberdt. Ernst Hellgardt Sprache u. bezeugt so die weite Verbreitung des Werks. Mittelrheinischer Totentanz. – AnonyMit ihrem quasi experimentierenden me Versdichtung mit Illustrationen aus Schwanken zwischen Erzählung, Exegese u. der zweiten Hälfte des 15. Jh. Paränese, naiver Gelehrsamkeit u. spekulativer Beschaulichkeit ist die M. R. typologisch In je acht meist 4-hebigen, oft unebenen schwer einzuordnen u. gewiss nicht zur Bi- Versen mit Paarreim spricht der »bittere belepik zu zählen. Gegen die chronolog. Tod« einzelne Ständevertreter an (u. zum Folge der Erzählstoffe wird immer wieder Schluss die bisher unberücksichtigten insgeverstoßen zugunsten einer thematisch- samt), diese antworten ebenso. Die städt. exemplar. Zusammenordnung. Gewiss wirk- Gesellschaft ist stark repräsentiert, die ländte auch der liturg. Gebrauchszusammenhang liche kaum. Die Bezeichnung »mittelrheider Quellentexte öfters strukturbildend. nisch« beruht auf dem Dialekt, der BenenNeuerdings wird das Werk als »Vershomili- nung einer Figur als »Wirt von Bingen« u. ar« verstanden. Es ist als Zeugnis für Ver- den Orten der ersten Drucke: Heidelberg u. mittlungs- u. Rezeptionsweise christlicher Mainz. Der Tod tadelt die unchristl. LebensBildungsstoffe um 1100 in der Volkssprache führung der meisten seiner Opfer. Sie reazu verstehen. Vorstellbar ist als Rahmen sei- gieren bestürzt u. fügen sich teils in die droner primären Rezeption insbes. die klösterl. hende Strafe, teils äußern sie Vertrauen auf Tischlesung u. Collatio für weniger gebildete Gottes Gnade. Angehörige einer geistl. Gemeinschaft, auch Die einzige spätmittelalterl. Handschrift Gebrauch in der Kloster- bzw. Domschule ist (Kassel) enthielt ursprünglich mindestens 35 denkbar. durchweg illustrierte Dialoge, von denen Ausgaben: Friedrich Maurer (Hg.): Die religiö- neun nur noch in Fotos oder einer Abschrift sen Dichtungen des 11. u. 12. Jh. Bd. 1, Tüb. 1964, aus dem 19. Jh. erhalten sind (Berlin). Die S. 95–168. – Handschriften: http://www.paderbor- Reihenfolge der Blätter ist gestört. ner-repertorium.de/ (im Verz. der Hss. unter Die ersten Ausgaben, eine Folge einseitig Halberstadt, Hall, Halle, Karlsruhe, Moskau). – bedruckter Blätter u. ein je beidseitig beCatherine Squires u. Natalija Ganina (Hg.): Dt. drucktes Buch, besorgte Heinrich Knobmittelalterl. Hss.- u. Druckfragmente in der ›Dolochtzer in Heidelberg um 1488. Diese mit kumentensammlung Gustav Schmidt‹ der LomonHolzschnitten versehene Fassung enthält 664 Verse in vier Teilen: Herbeirufung des Pu-
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blikums in das »Tanzhaus« (4 V.) – Ansprache eines toten Reichen (16 V.) – 38 Dialoge – auf dem Friedhof gesprochene Mahnrede (36 V., darunter leicht variiert V. 552–83 des »Spiegelbuchs«). Ähnliche Rahmentexte finden sich in den Drucken des »Pariser Totentanzes« (ab 1485), auf den auch manche Passagen der Dialoge zurückgehen. Trotz Unstimmigkeiten ist die Abfolge von drei Personengruppen erkennbar: geistl. Männer – weltl. Männer – Frauen. Der »Kleverländische Totentanz« (15. Jh.) stimmt in ganzen Strophenpaaren, der »Kientzheimer« (1517) in ca. 15 Dialog- u. den vier Einleitungsversen der Drucke mit dem M. T. überein. Um 1520–50 erweiterte Wilhelm Werner von Zimmern die einzelnen Textteile des M. T., so die Dialoge auf je 2x14 Verse. Kritische Ausgabe: Max Rieger: Der jüngere Todtentanz. In: Germania 19 (1874), S. 257–280. Literatur: Hellmut Rosenfeld: Der mittelalterl. Totentanz. Köln/Wien 31974, S. 230–254. – Reinhold Hammerstein: Tanz u. Musik des Todes. Die mittelalterl. Totentänze u. ihr Nachleben. Bern/ Mchn. 1980. – H. Rosenfeld: M. T. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Geert H. Claassens u. Brigitte Sternberg: Ein Klever Totentanz? Neu entdeckte Fragmente. In: ZfdPh 115 (1996), S. 55–83. – Hartmut Freytag: Klever Totentanz. In: VL (Nachträge u. Korrekturen). – Wilhelm W. v. Zimmern: Totentanz. Hg. Christian Kiening. Eggingen 2004. – Gunhild Roth: Das Totentanzfragment. In: Die kath. Pfarrkirche St. Johannes Baptist in Warburg. Hg. vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe. Münster 22008, S. 142–156. Mischa von Perger
Mitterer, Erika, verh. Petrowsky, * 30.3. 1906 Wien, † 14.10.2001 Wien. – Lyrikerin, Romanautorin, Dramatikerin u. Essayistin. In einem bürgerlich-liberalen Elternhaus aufgewachsen (Vater Architekt, Mutter Malerin), begeisterte sich M. früh für Dichtkunst (dt. Klassik, v. a. Goethe); beeindruckt von Tolstoi u. Dostojewski, wurde sie Fürsorgerin. Dank »halbjüdischer« Mutter u. jüd. Freundinnen war sie nicht anfällig für die NSIdeologie, blieb aber in Österreich. Ab 1955 engagierte sie sich für die Friedensbewegung
u. arbeitete in der Telefonseelsorge. 1965 konvertierte sie vom evangelischen zum kath. Glauben. Mit ihrem Ehemann Fritz Petrowsky hatte sie drei Kinder. M. erhielt für ihr literar. Werk höchste Ehrungen durch die Republik Österreich u. wurde 1985 in die Kurie für Kunst aufgenommen. M.s Werk wurde z.T. als restaurativ bzw. konservativ bezeichnet, weil sie sich Moden (auch sprachexperimentellen) widersetzte: »Bei ihr gibt der Sinn den Takt, nicht der Takt den Sinn« (Bubenik). M. schwamm »in gesellschaftspolitischen und ästhetischen Fragen immer wieder gegen den Strom«; ihre Bücher sind »spezifischer Ausdruck der Auseinandersetzungen mit politischen und gesellschaftspolitischen Strömungen des 20. Jahrhunderts« (Gottwald). Deshalb wird ihr heute bescheinigt, »mit ihrem unbestechlichen Blick für Krisen und Fehlentwicklungen eine Prosa geschrieben zu haben, die den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen des vergangenen Jahrhunderts standzuhalten vermochte« (Schmidt-Dengler). M. thematisierte die Schrecken des Nationalsozialismus u. des Zweiten Weltkriegs von Anfang an; der Vorwurf, die österr. Literatur habe diese Zeit lange verdrängt, trifft auf sie nicht zu. Dementsprechend gilt M. als Hauptexponentin der Literatur der Inneren Emigration in Österreich. Als M.s Prosa-Hauptwerk gilt Der Fürst der Welt (Hbg. 1940 u. ö. Neuaufl. Wien 2006) – die Geschichte der »Machtergreifung des Bösen« während der Inquisition in einer dt. Bischofsstadt. Dieses als Parabel auf das Dritte Reich verstandene Werk thematisiert die Verführbarkeit von Menschen, ihre Schwäche u. Bereitschaft zur Gemeinheit u. zeigt die Folgen von Inhumanität u. Selbstsucht mit psycholog. Scharfblick auf. Während in diesem die Nazi-Zensur täuschenden Roman der moralische Widerstand noch als einzig sinnvoller Weg erscheint, zeigt Alle unsere Spiele (Ffm. 1977. Wien 2001 u. 2008), M.s letzter, mit dem Handel-Mazzetti-Preis ausgezeichneter Roman, »auch den (christlichen) Widerstand im Untergrund, der auf den Sturz des Diktators hinarbeitete« (Dür). Der in der Ich-Form geschriebene Rechenschaftsbericht einer Mutter, die ihrem Sohn ihre NS-
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Begeisterung u. seine bislang verschwiegene Herkunft zu erklären versucht, weist als zeitgeschichtl. Roman »auch Merkmale der psychologischen und der engagierten Literatur auf. Die Zeitereignisse werden poetologisch reflektiert und erzähltechnisch modern dargestellt. Die Zeitebenen – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – fließen ineinander und sind dem Hauptanliegen des Romans, Erinnerungsarbeit zu leisten, untergeordnet« (Sass). Wir sind allein. Ein Roman zwischen zwei Zeiten (Wien 1945) erzählt die bedrückende Geschichte eines verwaisten Geschwisterpaares proletarischer Herkunft in den 1920er Jahren. 1935 bereits vom Staackmann-Verlag gesetzt, erschien dieser erste Roman M.s wegen der positiven Zeichnung eines jüd. Arztes erst nach dem Krieg. Der Roman Die nackte Wahrheit (Darmst. 1951) bietet ein plast. Zeitu. Lebensbild aus dem Österreich der ersten Nachkriegsjahre. Mit dem Satz der Protagonistin »Aber wer sonst kann die Menschen rechtzeitig erinnern, wenn die Dichter es nicht tun?« formuliert M. einen Anspruch an die Literatur schlechthin. Tauschzentrale (Wien 1958), ein mit Hesses Peter Camenzind vergleichbarer Entwicklungsroman, handelt während der ungarischen Revolution. Die Erzählungen Höhensonne (Stgt. 1933) u. Weihnacht der Einsamen (Zürich 1968) thematisieren sozialpolit. Probleme, Die Seherin (Hbg. 1942) u. Wasser des Lebens (Wien 1953) Fragen nach Sinn u. Bestimmung; Begegnung im Süden (Hbg. 1941) ist eine moderne Liebesgeschichte. M. schrieb zeitlebens auch Gedichte; in ihrem Gesamtwerk hat die Lyrik einen hohen Stellenwert. Die wichtigsten Bände sind Dank des Lebens (Ffm. 1930), Gesang der Wandernden (Lpz. 1935), Gesammelte Gedichte (Wien 1956), Klopfsignale (Wien 1970), Entsühnung des Kain (Einsiedeln 1974), Das verhüllte Kreuz (St. Pölten 1985) sowie die Ausgabe Das gesamte lyrische Werk (Hg. Martin Petrowsky. 3 Bde., Wien 2001). Nach Holzner steht die Lyrik M.s »stets mitten in und doch meistens quer zu allen zeitgenössischen lyrischen Strömungen, vom Beginn der Moderne bis zur Postmoderne. (...) In ihren eigenen Gedichten aber wahrt sie Distanz zu beiden Seiten.« Die größte internat. Beachtung erfuhr der erst
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1950 in Wiesbaden veröffentlichte Briefwechsel in Gedichten mit Rainer Maria Rilke aus den Jahren 1924–1926. Die späte Lyrik M.s, geprägt von einer kämpferischen künstlerischen Kraft, ist nach Schmidt-Dengler eines der wenigen Beispiele geglückter religiöser Dichtung. Als bedeutendstes dramat. Werk M.s gilt das Stück Verdunkelung (1956; Ausg. Wien 2001), das »die menschenverachtende Ideologie des Nationalsozialismus [...] an einem tragischen Einzelfall illustriert« (Wimmer) u. den Identitätsverlust analysiert, mit dem während des Dritten Reiches viele von den Rassengesetzen betroffene Menschen konfrontiert waren. Schon in ihrem ersten Drama Charlotte Corday (1930) hatte M. das Problem der Legitimität des polit. Mordes in einer Form aktualisiert, die »den Vergleich mit [...] Stefan Zweigs Adam Lux nicht zu scheuen braucht« (Abret). Weitere Werke: Kleine Damengröße. Wien 1953 (Jugendroman). – Dramen: Arme Teufel (1954), zus. neu hg. Wien 2003. – Wofür halten Sie mich? (1956). – Wähle die Welt (1959), zus. neu hg. Wien 2002. – Ein Bogen Seidenpapier (1960). Ausg. Wien 2001. Literatur: Joseph G. McVeigh: Continuity as Problem and Promise. E. M.’s Writings after 1945. In: MAL 12 (1979), H. 3/4, S. 113–126. – Catherine Hutter: E. M. In: Austrian Fiction Writers after 1914. Hg. James N. Hardin u. Donald G. Daviau. Detroit u. a. 1989, S. 252–257. – Margaret Ives: E. M. as a Christian Writer. In: ›Other‹ Austrians. Post-1945 Austrian Women’s Writing. Hg. Allyson Fiddler. Bern 1998, S. 83–90. – Herwig Gottwald: E. M. u. der Histor. Roman. In: Zwischenwelt 6 (1998), S. 213–234. – Österr. Gesellsch. für Lit. u. Martin G. Petrowsky (Hg.): Eine Dichterin – ein Jahrhundert. E. M.s Lebenswerk. Sammelbd. des Symposions 2001. Wien 2002. – Michael Hansel: E. M. (1906–2001). In: LuK 5 (2004), S. 103–109. – Esther Dür: Eine, die gegen den Strom schwamm. Zum Werk der österr. Schriftstellerin E. M. In Austriaca 60 (2005), S. 83–92. – Dies.: E. M. u. das Dritte Reich. Wien 2006. – M. G. Petrowsky u. Helga Abret (Hg.): Dichtung im Schatten der großen Krisen: E. M.s Werk im literaturhistor. Kontext. Wien 2006. – E. M. Gesellsch. (Hg.): Der literar. Zaunkönig. Wien 2003 ff. Martin G. Petrowsky
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Mitterer, Felix, * 6.2.1948 Achenkirch/ Tirol. – Dramatiker, Hörspiel- u. Drehbuchautor. M., als Kind einer verwitweten Kleinbäuerin geboren, wuchs als Adoptivkind eines Landarbeiterehepaars in Kitzbühel u. Kirchberg auf. Eine Ausbildung an der Innsbrucker Lehrerbildungsanstalt brach er vorzeitig ab u. arbeitete über zehn Jahre beim Zollamt Innsbruck. Seit Anfang der 1970er Jahre wurden Texte M.s zunächst im Rundfunk ausgestrahlt u. in Zeitschriften (u. a. »das Fenster«) veröffentlicht, später an verschiedenen Theatern u. im Fernsehen gespielt. Seit 1977 ist M. freier Schriftsteller, ab 1962 lebt er in Innsbruck u. seit 1995 in Castlelyons/ Irland. M. wirkte auch als Schauspieler in (z.T. eigenen) Theaterstücken u. Fernsehfilmen, er erhielt zahlreiche Literatur- u. Rundfunk-Preise. M., der sich selbst als »Tiroler Heimatdichter und Volksautor« bezeichnet u. dessen Dramen formal u. thematisch aus dem Volksstück hervorgehen, durchleuchtet kritisch Herrschaftsverhältnisse u. Außenseiterschicksale sowie gesellschaftl. u. kulturelle Missstände. Von einem »störenden Außenseiter«, einem »aus der Gesellschaft Verrückten« (Mitterer), handelt M.s erstes Bühnenstück Kein Platz für Idioten (Feldafing 1979. Urauff. Innsbr. 1977), das vom Leben eines behinderten Buben in einem Dorf erzählt. In Stigma. Eine Passion (Feldafing 1983) zeigt M. am Beispiel der Geschichte einer Dienstmagd im 19. Jh. die Zusammenhänge zwischen verdrängter Sexualität u. religiöser Hysterie auf. Die Uraufführung bei den Tiroler Volksschauspielen in Telfs 1982 sorgte für einen Skandal. Wiederholt thematisiert M., wie in Kein schöner Land (Innsbr. 1987. Urauff. ebd. 1987), die Rolle des Faschismus in der ländl. Gemeinschaft, im erfolgreichen Monolog Sibirien (Innsbr. 1989. Urauff. Telfs 1989) wiederum eine Außenseiterposition, hier die des Alten in der Gesellschaft bzw. im Pflegeheim. Große Bekanntheit erlangte M. mit Drehbüchern zu den TV-Vierteilern Verkaufte Heimat (ORF u. a. 1988/89. Innsbr. 1989) u. der umstrittenen »Komödie einer vergeblichen Zuneigung« Die Piefke-Saga
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(ARD/ORF 1989–92. Innsbr. 1991), einer bissigen Satire auf das Verhältnis von dt. Touristen u. Tiroler Tourismus-Profiteuren. Der Nationalsozialismus in Österreich ist ein Grundthema von M.s Werk – vom viel beachteten In der Löwengrube (Innsbr. 1998. Urauff. Wien 1998), der teilweise authent. Geschichte eines jüd. Schauspielers, der in der NS-Zeit als vermeintl. Tiroler Bergbauer seine Schauspielkarriere fortsetzt, bis zu Der Patriot (Innsbr. 2008) rund um Franz Fuchs, der Österreich in den 1990er Jahren mit politisch motivierten Briefbomben-Attentaten terrorisierte. Obwohl M.s Stücke zunächst dem ländlichregionalen Raum verhaftet sind, haben sie ihren Weg an zahlreiche große Bühnen gefunden. M. wurde zunächst v. a. von der Theaterkritik u. erst spät von Germanistik u. Theaterwissenschaft wahrgenommen; heute gilt er als hervorragender Vertreter eines kritischen österr. Volkstheaters. Als Stärken von M.s Stücken gelten weniger Differenziertheit u. Innovation als ihre aufklärerische Absicht u. polit. Streitbarkeit. Weitere Werke: Superhenne Hanna. Wien 1977 (Kinderbuch). – Veränderungen. Urauff. Graz 1980. – An den Rand des Dorfes. Wien 1981 (E.en, Hörsp.e). – Der Narr v. Wien. Aus dem Leben des Dichters Peter Altenberg. Salzb. 1982 (Drehbuch). – Karrnerleut 83. Urauff. Telfs 1983. – Besuchszeit. Vier Einakter. Mchn. 1985. Urauff. Wien 1985. – Die wilde Frau. Mchn. 1986. Urauff. Innsbr. 1986. – Die Kinder des Teufels. Innsbr. 1989. Urauff. Mchn. 1989. – Munde. Ein Gipfeldrama. Innsbr. 1990. Urauff. Telfs 1990. – Die Wildnis. Ein Filmbuch. Innsbr. 1992. – Das wunderbare Schicksal. Aus dem Leben des Hoftyrolers Peter Prosch. Innsbr. 1992. Urauff. Telfs 1992. – Abraham. Innsbr. 1993. Urauff. Linz 1993. – Krach im Hause Gott. Ein modernes Mysterienspiel. Innsbr. 1994. Urauff. Bregenz 1994. – Alle für die Mafia. Komödie einer Manipulation. Innsbr. 1997 (Drehbuch). – Die Frau im Auto. Innsbr. 1998. Urauff. Linz 1998. – Tödliche Sünden. Sieben Einakter. Innsbr. 1999. Urauff. ebd. 1999. – Die drei Teufel. Urauff. Hopfgarten 1999. – Mein Ungeheuer. Innsbr. 2000 (Hörbuch). Urauff. Telfs 2000. – Gaismair. Innsbr. 2001. Urauff. Telfs 2001. – Johanna oder Die Erfindung der Nation. Innsbr. 2002. Urauff. Salzburg 2002. – Andreas Hofer. Die Freiheit des Adlers. Wien 2002 (Buch zum Film). – Die Beichte. Innsbr. 2004. – Der Panther. Innsbr. 2007. – Fremdsein.
Mittermaier Literar. Wanderungen. Wien 1992 (hg. zus. mit Angelica Schütz). Ausgabe: Stücke. Bd. 1–4, Innsbr. 1992–2004. Literatur: Hans-Peter Kunisch: F. M. In: KLG. – F. M. Materialien zu Person u. Werk. Innsbr. 1995. – F. M. A Critical Introduction. Hg. Nicholas J. Meyerhofer u. Karl E. Webb. Riverside 1995. – Johann Holzner: F. M. (1948). In: Dt. Dramatiker des 20. Jh. Hg. Alo Allkemper u. Norbert Otto Eke. Bln. 2000, S. 805–820. – Hilde Haider-Pregler: Theater gegen das Vergessen. F. M.s Blick auf die Vergangenheit. In: Austriaca 26 (2001), Nr. 53, S. 155–176. – Dagmar C.G. Lorenz: The Issue of Male Violence in Dramatic Works of the Two Austrian Republics: Veza Canetti and F. M. In: Postwar Austrian Theater. Hg. Linda C. DeMeritt u. Margarete Lamb-Faffelberger. Riverside 2002, S. 213–235. – Thomas Kraft: F. M. In: LGL. – Birgit Ryschka: Constructing and Deconstructing National Identity. Dramatic Discourse in Tom Murphy’s ›The patriot game‹ and F. M.’s ›In der Löwengrube‹. Ffm. u. a. 2008. Kristina Pfoser-Schewig / Stefan Alker
Mittermaier, Karl Joseph Anton, * 5.8. 1787 München, † 28.8.1867 Heidelberg. – Strafrechtswissenschaftler u. Politiker. Der aus einer Apothekerfamilie stammende M. übersetzte während seines rechtswiss. Studiums in Landshut frz. u. ital. Gesetze für Paul Johann Anselm von Feuerbach. Trotz programmat. Gegensätze entwickelte sich ein kollegiales Verhältnis. So gab M. das Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts seines früheren Lehrers in der 12. bis 14. Auflage (Landshut 1836–47) heraus. 1809 wurde er in Heidelberg promoviert u. in Landshut Privatdozent, 1811 o. Professor. 1819 wechselte er nach Bonn, von 1821 an wirkte er als Hochschullehrer, Politiker u. Herausgeber zahlreicher Fachzeitschriften in Heidelberg. Von 1826 an war M. Mitgl. der Badischen Gesetzgebungskommission, badischer Landtagsabgeordneter u. mehrmals Präsident der zweiten Kammer. Die Wahl zum Präsidenten des Frankfurter Vorparlaments 1848 galt einem gemäßigten Liberalen, der gelernt hatte, rechtsvergleichende Kenntnisse politisch umzusetzen. Er trat für eine umfassende Reform des Strafverfahrens nach engl. Vorbild ein, da dieses stärker als das inquisitorische
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frz. Modell prozessuale Grundrechte achtete u. auf dem liberalen Prinzip der Waffengleichheit zwischen Ankläger u. Verteidiger beruhte. Die dt. Partikulargesetzgebung ging einen anderen Weg u. etablierte die Institution der weisungsgebundenen, hierarchisch organisierten Staatsanwaltschaft, die M. als Instrument der Despotie kritisiert hatte. 1849 zog sich M. resigniert aus der aktiven Politik zurück. Im Ausland galt er als der bedeutendste dt. Strafrechtler seiner Zeit, eine lebende Bibliothek der Rechtsvergleichung. In Deutschland war sein Ruf zwiespältig u. ist es bis heute geblieben. Als politisch aktiver u. erfolgreicher Strafrechtsreformer genoss er zwar ungeteilte Wertschätzung, aber sein Wissenschaftsideal wurde nicht geteilt. Gemessen an den Standards einer konstruktiven Jurisprudenz, dem Leitbild des ausgehenden 19. Jh., schrieb M. zu wenig dogmatisch. Man verstand nicht, dass dies seinen Grund hatte in der doppelten Distanz gegen den Quietismus der histor. Schule u. gegen rationalist. Systeme. M. versuchte stattdessen, auf erfahrungswiss. Grundlage eine politisch engagierte Rechtswissenschaft zu etablieren, was ihm jedoch nicht gelang. Immerhin initiierte er die Reform des Inquisitionsverfahrens in den 1820er Jahren u. begleitete sie publizistisch. Es gibt kaum eine strafprozessuale Frage, zu der er sich nicht originell u. vermittelnd, auf der Grundlage seines großen rechtsvergleichenden Erfahrungswissens, eingeschaltet hätte. Um die polit. Durchsetzbarkeit einiger zentraler Forderungen zu erhöhen, änderte er in den polit. Debatten mehrfach seine Meinung, etwa zur Frage des Geschworenengerichts. Aufgrund der polit. Flexibilität ist sein Werk, sobald einzelne Passagen aus dem polit. Kontext herausgenommen werden, schwer zu fixieren. M. schrieb – abgesehen vom Handbuch des peinlichen Prozesses (2 Bde., Heidelb. 1810–12. Rev. u. d. T. Das deutsche Strafverfahren. 41845/46) – kein klass. Werk, sondern dokumentiert mit seinen Schriften das Scheitern einer liberalen Rechtspolitik am Ende des 19. Jh. Kennzeichnend ist seine Perspektive, vor allen jurist. Regeln auf die sozialen u. polit. Verhältnisse zu achten u.
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Reformgesetze den Eigenheiten einer Rechtskultur anzupassen. Dieses Anliegen erschien späteren Juristengenerationen als »unjuristisch«, was ein bezeichnendes Licht auf den Wissenschaftsbegriff der Epoche wirft. Es wurde üblich, M.s »Weltkenntnis«, »Sprachgewandtheit«, »sicheres Zeitgefühl« u. »feinstes Empfinden für das Recht« zu loben. Nach dem Scheitern der 48er-Reform war die Zeit ungünstig für Rezeption u. Weiterbildung eines politisch reflektierten, erfahrungswiss. Ansatzes in der Rechtswissenschaft. Literatur: Bibliografien: Archiv für Zivilist. Praxis 50 (1867), S. 417 ff. – Antonius Jammers: Die Bibl. des Heidelberger Juristen K. J. A. M. u. ihre Eingliederung in die Universitätsbibl. Heidelberg. In: Bibl. u. Wiss. 3 (1966), S. 156–218. – Luigi Nozzo: Bibliogr. der Werke K. Josef A. M.s. Ffm. 2004. – Weitere Titel: Wilfried Küper (Hg.): Heidelberger Strafrechtslehrer im 19. u. 20 Jh. Heidelb. 1986. – Ders. (Hg.): C. J. A. M. Symposium 1987 in Heidelberg. Vorträge u. Materialien. Heidelb. 1988. – Martin Fleckenstein: Die Todesstrafe im Werk Carl J. A. M.s. Ffm. 1992. – Das Netzwerk der ›Gefängnisfreunde‹ (1830–72). K. J. A. M.s Briefw. mit europ. Strafvollzugsexperten. Hg. u. bearb. v. Lars Hendrik Riemer. 2 Bde., Ffm. 2005. Monika Frommel / Red.
Mitternacht, Johann Sebastian, auch: Michel Marth, Jocosus Severus Medicus, Der Erfreuliche (Deutschgesinnte Genossenschaft), * 30.3.1613 Hardisleben/Thüringen, † 25.7.1679 Zeitz. – Lyriker, Dramatiker; Schulmann. Der Sohn eines Schulmeisters u. späteren Predigers studierte in Jena Philosophie, Philologie u. Theologie. In Wittenberg wurde er 1636 zum Magister der Theologie promoviert. M. zählte zu den Hörern August Buchners, dessen Panegyricus funebris (1657) er 1664 ins Deutsche übersetzte. 1638 nahm M. in Teutleben/Thüringen eine Pfarrstelle an, die er wegen der Kriegswirren jedoch bald wieder aufgeben musste. In dieser Zeit schrieb er die Gebetbücher Seufftz-, Sing- und Betstunde (Erfurt 1639) u. Newes Gebet Buch (Stadt Saltza 1640. 41665), in denen er u. a. seine bedrückenden Kriegserlebnisse verarbeitete. 1642 wurde M. zum Rektor der
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Naumburger Stadtschule berufen. In den folgenden Jahren entstand der größte Teil seiner geistl. Lyrik, die er 1653 u. d. T. Feuerheisse Liebes-flammen veröffentlichte. Hier finden sich u. a. Naturbilder, die später auch in Spees Trutznachtigall (1660) zu finden sind. Noch in Naumburg schrieb M. sein erstes Schulbuch, die Grammatica Ebraea (Jena 1645); als Vorlage dienten die Forschungen seines Wittenberger Lehrers, des Orientalisten Martin Trost. 1646 übernahm M. das Rektorat des Rutheneums in Gera. Neben Gelegenheitsgedichten verfasste er dort programmat. Schriften zur Pädagogik sowie das Erziehungsbuch Paedia (Lpz. 1657. 41685), in dem er seine pädagog. Ansichten darlegte. Außerdem gab er mehrere Schulbücher heraus. Auf Vermittlung Seckendorffs wurde M. 1666 als Stiftssuperintendent nach Neustadt/ Orla u. bald darauf zum Oberhofprediger u. Assessor im Stiftskonsistorium zu Zeitz berufen, wo er bis zu seinem Tod blieb. Trotz des beachtl. Umfangs seines Œuvres, das zu vielen aktuellen Problemen der Theologie u. Philologie Stellung bezog, u. seines Einflusses auf die Entwicklung des dt. Schultheaters zählt M. zu den weniger bekannten Autoren des 17. Jh.; erst in jüngster Zeit erfuhr er die verdiente Würdigung. 1646 gab er das wiederholt neu aufgelegte Schulbuch Elementa rhetorica heraus, eine Kompilation aus den rhetor. Schriften Gerhard Johann Vossius’, das nur Tropen u. Figuren behandelt. M. fügte u. a. die Lehre von der inventio u. dispositio hinzu. 1656 u. 1657 gab er ergänzend dazu eine Praxis rhetorica heraus. In gleicher Weise stellte M. ein Kompendium zur Logik zusammen (Medulla manualis logici Scharfiana. 1648. 1660). Bereits 1648 hatte er anonym die wohl als Übungsanleitung für seine Schüler gedachte Prosodie Kurtzer iedoch [...] deutlicher [...] Bericht von der Teutschen Reime-Kunst (Lpz. 21653) veröffentlicht, in der er Auszüge aus Zesens Deutschem Helicon (1649) zusammenstellte. M.s scheinbar eigenständige Ergänzungen gehen auf Schottelius zurück. Einen Schwerpunkt von M.s pädagog. Arbeit bildeten die jährlich veranstalteten Schulaufführungen. Er verfasste u. inszenierte die Schulkomödien in lat. u. dt. Spra-
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Ausgabe: Dramen (1662–67). Neudr. Hg. Mariche. Wie Hans Sachs griff er dabei teilweise auf frühere Bearbeitungen biblischer u. no- anne Kaiser. Tüb. 1972 (mit Nachw.). Literatur: Bibliografien: J. S. M.: Rechtschaffevellistischer Stoffe (vgl. Kaiser, Nachwort zu ner Christen Helm Schild u. Wappen [...] Samt eiden Dramen, S. 18* f.) zurück. Größere Wirkung hatten die Dramen Der nem Catalogo oder Verz. derer [...] Schrifften die er unglückselige Soldat (Lpz. 1662. 21670) u. Poli- v. anno 1630, biß 1670 außgefertiget. Zeitz 1670. – Dünnhaupt 2. Aufl., Bd. 4 (1991), S, 2751–2806 tica dramatica (Gera 1667), die weit über den (Werk- u. Literaturverz.). – Weitere Titel: C. Wetzel: Rahmen der Schulkomödien hinausgehen, Histor. Lebensbeschreibung der berühmtesten obwohl sie sich im Aufbau ähneln (z.B. glei- Liederdichter. Bd. 2, Herrnstadt 1721, S. 179 f. – che allegor. Figuren, Neigung zum Ausmalen Zedler XXI (1739), S. 613 f. – J. A. Trinius: Beytr. zu rührender u. bewegter Szenen). Es fallen die einer Gesch. berühmter u. verdienter [...] GottesSicherheit in der Handhabung der Form u. gelehrten. Bd. 2, Lpz. 1754, S. 81–94. – J. S. M. In: die theatral. Gewandtheit auf. In Der un- ADB. – Richard Büttner: Rektor J. S. M. u. seine glückselige Soldat bearbeitete M. eine den zeit- Wirksamkeit am Geraer Gymnasium 1646–67. genöss. Zeitungen entnommene Schauerge- Gera 1888. – Georg Ellinger: J. S. M. Ein Beitr. zur Schulkomödie. In: ZfdPh 25 (1893), S. 501–537. – schichte u. dramatisierte sie im Sinne des R. Büttner: Gesch. des Fürstl. Gymnasiums Ruvierten Gebots u. »als eine exemplarische theneum zu Gera. Gera 1908. – Fritz Wirth: J. S. M. Kritik an dem höfischen Leitbild und dem In: Ztschr. des Vereins für Kirchengesch. der ProEhrgeiz als dessen hervorstechendsten Cha- vinz Sachsen u. des Freistaates Anhalt 28 (1932), rakteristikum« (Kaiser, a. a. O., S. 10* f.). Er S. 86–106. – Robert R. Heitner: J. S. M.s ›Der untrat für eine Moral ein, die »ihr Ideal in De- glückselige Soldat‹. Realism and Bourgeois Atmut und Bescheidenheit sah und die er als die mosphere in a Baroque Tragedy. In: Papers on allein christliche verteidigte« (ebd.). In der Language and Literature 2 (1966), S. 327–334. – Politica griff M. auf staatstheoret. Lehrsätze Marianne Kaiser: M. – Zeidler – Weise. Das proHieronymus Praetorius’ zurück u. entwarf testant. Schultheater nach 1648 [...]. Gött. 1972. – Ulrich Maché: J. S. M.s ›Ber. v. der Teutschen Reidas Modell einer guten u. schlechten Herrme-Kunst‹. In: Philipp v. Zesen [...]. Hg. Ferdinand schaft. In der Darstellung der Rebellion ver- van Ingen. Wiesb. 1972, S. 246–252. – Norbert arbeitete er bekannte histor. Begebenheiten. Sorg: Restauration u. Rebellion. Die dt. Dramen J. Formal lassen sich in diesem dramatisierten S. M.s. Freib. i. Br. 1980. – William Ashford Kelly: Fürstenspiegel Einflüsse Gillets’ de la Tesso- Addenda to the Bibliography of J. S. M. In: Daphnis nerie erkennen. M. trat für die Politica 14 (1985), S. 341–355. – Pyritz, Bd. 2, S. 480 f. – Christiana ein, die in vielen Punkten dem Kosch 3. Aufl., Bd. 10, Sp. 1153–1156 (Werkverz.). Seckendorff’schen Modell entsprach. Bemer- – Thomas Diecks: J. S. M. In: NDB. – Laura Auteri: kenswert ist, dass M. seine Dramen im Ge- Die Kunst der Verstellung bei Virgilio Malvezzi, Johann Michael Moscherosch u. J. S. M. In: Künste gensatz zum höf. Dichtungsverständnis in u. Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Hg. Prosa schrieb; er fühlte sich der Tradition des Hartmut Laufhütte. Wiesb. 2000, S. 969–983. – protestant. Schultheaters verpflichtet u. ent- Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1344–1358. – W. A. schied sich gegen den hohen Stil u. die Stän- Kelly: Additions to the Bibliography of J. S. M. In: deklausel. Er hielt damit neben dem von Daphnis 37 (2008), S. 627–644. Jutta Sandstede Opitz vertretenen ein älteres Dichtungsverständnis aufrecht. Nicht mehr vollständig bibliografisch er- Mnioch, Johann Jacob, * 13.10.1765 Elfassbar sind M.s zahlreiche Kasualpredigten bing, † 22.2.1804 Warschau. – Lyriker, u. -gedichte sowie die rd. 200 Schulpro- Erzähler, Essayist. gramme (vgl. Dünnhaupt). Nach Studium in Jena u. Tätigkeit als HausWeitere Werke: Vertrawl. Gespräch zwischen vier Päpstischen Scribenten. Lpz. 1653. – Paedia. lehrer in Halle wurde M. 1790 Schulrektor in Das ist: Unvorgreiffliches [...] Bedencken v. der Neufahrwasser bei Danzig, wo er mit Fichte Erziehung u. Underweisung der Kinder. Lpz. 1657. Bekanntschaft schloss. Ab 1796 war er As– Gründl. Wider- u. Niderlegung des Scheffleri- sessor bei der Lotteriedirektion in Warschau. Im Kreis der dort versammelten preuß. Verschen Abgottes. Lpz. 1666.
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waltungsbeamten mit vorrangig künstlerischen Ambitionen hatte er bes. zu Zacharias Werner u. Hitzig engen Kontakt. (Werner, den er zum Freimaurer bekehrte, verlegte M.s Todesdatum auf den »Schicksalstag«, den 24. Febr., dem die gleichnamige Tragödie gewidmet ist.) Bereits seit 1786 veröffentlichte M. erfolgreich Gedichte, u. a. in Wielands »Teutschem Merkur« (1788) u. in dem von Tieck u. August Wilhelm Schlegel herausgegebenen »Musen-Almanach für das Jahr 1802«. Mit Tieck u. E. T. A. Hoffmann stand er im Briefwechsel. Weitere Werke: Papillons. 2 Bde., Halle 1788/ 89 (E.en, L., Dialoge, poet. Episteln). – Lesebuch für den Mittelstand. Bln. 1790. – Kleine vermischte Schr.en. 3 Bde., o. O. [Danzig] 1794/95. – Sämmtl. auserlesene Schr.en. 3 Bde., Görlitz 1798/99. – Erläuterungs-Variationen über die Tendenz der Fichteschen Schr.: Bestimmung des Menschen. Görlitz 1801. – Analekten. 2 Bde., Görlitz 1804. Literatur: Daniel Jacoby: M. In: ADB. – Horst Orphal: Eine Freundschaft mit Polen. 1796–1804. Aus den Schr.en des Warschauer Dichters J. J. M. In: Sächs. Heimatbl. 25, H. 2 (1979), S. 82–90. Jochen Fried / Red.
Modersohn-Becker, Paula, geb. Becker, * 8.2.1876 Dresden, † 20.11.1907 Worpswede; Grabstätte: ebd. – Malerin; Verfasserin autobiografischer Schriften.
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Pariser Kunsthändler Ambroise Vollard, u. Stimmungen. Immer wieder verteidigt M. ihre Konzentration auf die Arbeit gegen den Vorwurf des Egoismus, der sie als Künstlerin im Besonderen trifft. Zwischen Edvard Munch u. dem dt. Expressionismus fand M. ihre künstlerische Position, geprägt durch die Worpsweder Künstlergruppe, von der sie sich jedoch weitgehend entfernte, u. die Pariser Kunst ihrer Gegenwart. Mit »wenigen Worten, die mehr sagen«, auszukommen war ihr Wunsch an die Malerei, der sich auch in den Briefen u. Tagebuchblättern zeigt: Es gibt keine wortgewaltigen Enthüllungen, keine kunsttheoret. Exkurse u., trotz ihrer Bekanntschaft mit Rilke, kaum lyr. Versuche. Vielmehr gelangte sie als Brief- u. Tagebuchschreibende zu immer größerer Wortkargheit. »Im ganzen geschah alles in unerhörter Einsamkeit«, bekundet ihre Schwester Herma. Weitere Werke: P. M., Briefe u. Tagebuchbl. Hg. Sophie Dorothea Gallwitz. Hann. 1917. Auch u. d. T. ›Briefe u. Tagebuchbl.‹ v. P. M. Bln. 12o. J. – P. M. in Briefen u. Tagebüchern. Hg. Günter Busch u. Liselotte v. Reinken. Ffm. 1979. Neu bearb. v. Wolfgang Werner. Ffm. 2007. – ›Kunst ist doch das Allerschönste‹. Briefe einer jungen Künstlerin. Hg. Corona Unger. Ffm./Lpz. 2007. Literatur: Heinrich Wigand Petzet: P. M. Ffm. 1976. – Christa Murken-Altrogge: P. M. Leben u. Werk. Köln 1980. – Liselotte v. Reinken: P. M. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1983. – Brigitte Uhde-Stahl: P. M. Stgt. 1989. – Cornelia Garwer: P. M. – der frz. Einfluß auf ihr Werk. Diss. Bochum 1989. – Marina Bohlmann-Modersohn: P. M. Eine Biogr. in Briefen. Bln. 1995. – Eric Torgersen: Dear Friend: Rainer Maria Rilke and P. M. Evanston 1998. – Charlotte Ueckert: P. M. – Barbara Beuys: P. M. oder: Wenn die Kunst das Leben ist. Mchn. 2007. – Kerstin Decker: P. M. Bln. 2007. – Rainer Stamm: ›Ein kurzes intensives Fest‹. P. M. Stgt. 2007. Sabine Geese / Red.
Den ersten Zeichen- u. Malunterricht in England 1892 setzte M. in Bremen fort. Dort besuchte sie auch 1893–1895 das Lehrerinnenseminar. Prägend wurden für M. der Unterricht bei Fritz Mackensen in Worpswede (1898/99) u. ihre zahlreichen Parisaufenthalte. 1901 heiratete sie Otto Modersohn. Die Briefe und Tagebuchblätter von M. wurden erstmals 1917 von der Kestner-Gesellschaft Hannover veröffentlicht. Diese Selbstzeugnisse einer Malerin um die Jahrhundertwende sind Dokumente alltägl. Begebenheiten u. Überlegungen; sie verzichten auf bewusste Modick, Klaus, auch: Lukas Domcik, * 3.5. literar. Gestaltung u. begleiten in schlichter, 1951 Oldenburg. – Romancier, Erzähler, überzeugender Weise M.s Leben. Die Briefe Lyriker, Essayist, Kritiker u. Übersetzer. an die Familie, an Otto Modersohn u. auch die Tagebuchblätter berichten von Begeg- Der Sohn eines Lehrers studierte Germanisnungen (u. a. mit Mackensen, Clara Westhoff, tik, Geschichte, Pädagogik, TheaterwissenErnst Nolde), künstlerischen Eindrücken, wie schaften u. Philosophie in Hamburg. Nach M.s Entdeckung von Cézanne 1900 bei dem der Promotion über Lion Feuchtwanger im
Modick
Kontext der zwanziger Jahre (Kronberg/Ts. 1981) arbeitete er zunächst als Werbetexter u. Redakteur, seit 1984 ist er freier Autor. Neben der Schriftstellerei trat M. als Übersetzer von englischsprachigen Autoren wie William Gaddis, Charles Simmons u. R. L. Stevenson hervor u. wurde weltweit als Gastprofessor tätig. Er schrieb außerdem zahlreiche Essays, die in Sammelbänden wie Mehr als Augenblicke. Polaroids im Kontext (Marburg 1983), Das Stellen der Schrift (Siegen 1988) u. Milder Rausch. Essays und Portraits (Ffm. 1999) erschienen sind. Derzeit lebt er in seiner Geburtsstadt Oldenburg. M. hat bereits ein umfangreiches ProsaWerk verfasst u. teilt somit nicht die gelegentlich auftretenden Schreibblockaden seiner Protagonisten. Dennoch weisen M.s Hauptfiguren autobiogr. Züge auf: Sie sind Schriftsteller, Übersetzer, Anagramme M.s (so der mehrfach auftretende Lukas Domcik), stammen aus Oldenburg oder sind wie er verheiratete Väter zweier Töchter. Das Interesse an der schriftl. Verarbeitung von Biografischem belegt auch die Publikation von nichtfiktionalen Tagebüchern wie Zuckmayers Schatten. Vermonter Journal (Gött. 2004) u. Vatertagebuch (Ffm. 2005). Der mehrfach ausgezeichnete Schriftsteller verdankt seinen Erfolg der in der deutschsprachigen Literatur seltenen Begabung, anspruchsvoll, anregend u. spannend zu erzählen. Seine Bücher, vorwiegend Romane, sind literarisch avanciert u. unterhaltsam zugleich. Seit den ersten Gedichten Meine Bäume sind die Häuser (Gött. 1983) ist das Verhältnis zwischen schriftstellerischer Tätigkeit u. Leben ein vielfältig variiertes Zentralthema. Im Roman Ins Blaue (Siegen 1985) beispielsweise, der 1990 vom ZDF verfilmt wurde, ist Schreiben Lebensersatz. Ein arbeitsloser Wissenschaftler, dem die Möglichkeit zum Reisen fehlt, verfasst eine erot. Reisegeschichte. In der Fortsetzung des Romans, September Song (Ffm. 2002), schreibt der mittlerweile berufstätige Familienvater eine Novelle, um die Vergangenheit aufzuarbeiten u. seiner Frau eine Affäre zu gestehen. Ganz anders verhält es sich wiederum in der Literatursatire Weg war weg. Romanverschnitt (Reinb. 1988), in welcher der Verlust
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des Romanmanuskripts für den Schriftsteller Lukas Domcik den Wiederbeginn der Lebenspraxis bedeutet. In Bestseller (Ffm. 2006), ebenfalls eine Literatursatire über die Absurditäten des Literaturbetriebs, gelingt es Domcik, den bislang ausgebliebenen Bestseller zu schreiben. Die gut aussehende Theaterpraktikantin, die Domcik verkaufsstrategisch als Autorin seines Manuskripts inszeniert, hintergeht ihn jedoch u. weist seine Geltungsansprüche zurück: War in Weg war Weg das Manuskript verloren gegangen, so geht Domcik hier als rechtmäßiger Autor verloren. Umgekehrt zum Verlust wird in anderen Romanen M.s das Auftauchen von Schriftstücken u. anderen Gegenständen der Aufhänger der Erzählung: In Der Flügel (Ffm. 1994) beispielsweise findet der Protagonist einen blauen Ordner, der ihn auf die Spur der nationalsozialist. Vergangenheit der Stadt Oldenburg u. seinem in der Fremdenlegion vergessenen Onkel bringt. In Der kretische Gast (Ffm. 2003) stößt ein Student auf eine Fotografie, die einen Kreter zeigt. Das Foto führt auf die Spur der vom Vater verheimlichten Vergangenheit – dieser wirkte in Kreta an den Verbrechen der Nazis aktiv mit. In Die Schatten der Ideen (Ffm. 2008) findet ein Schriftsteller hinter einem Regal Aufzeichnungen des im Zweiten Weltkrieg nach Amerika emigrierten Deutschjuden Julius Steinberg. Das Schriftstück führt auf die Fährte seiner Ermordung, die durch die amerikan. Regierung verschuldet wurde. Im Gegensatz zu Witz u. Komik der Literatursatiren beschäftigen sich diese Gesellschaftsromane ernsthaft u. feinnervig mit den interkulturellen Auswirkungen der Nazizeit. M. schildert die Gegenwart als Resultat vergangener Ereignisse. Die auftauchenden Gegenstände sind Fragmente vergessener Schicksale u. verlorener Liebe. Intertextualität ist für M. literarisches Programm. Seine Bücher sind postmodern nicht nur wegen M.s Zitierlust, sondern v. a. auch wegen des zuweilen ironisch gebrochenen Umgangs mit so unterschiedl. Vorbildern wie Feuchtwanger, Benjamin, Zuckmayer, Brecht, William Gaddis u. Umberto Eco.
267 Weitere Werke: Lion Feuchtwangers Roman ›Erfolg‹. Leistung u. Problematik schriftstellerischer Aufklärung in der Endphase der Weimarer Republik. Kronberg 1978 (zus. mit Egon Brückener). – (Hg.) Moos. Die nachgelassenen Blätter des Botanikers Lukas Ohlburg. Zürich 1984 (N.) – Das graue Tgb. Odisheim 1986 (Ber.). – Das Grau der Karolinen. Reinb. 1986 (R.). – Privatvorstellung. Sieben Liebesgesch.n nebst einem Essay über das Glück. Hbg. 1989 (E.en). – Der Schatten den die Hand wirft. Ffm. 1991 (Sonette). – Die Schrift vom Speicher. Ffm. 1991 (R.). – Das Licht in den Steinen. Ffm. 1992 (R.). – Das Kliff. Ffm. 1995 (R.). – Der Mann im Mast. Ffm. 1997 (R.). – Vierundzwanzig Türen. Ffm. 2000 (R.). – (Hg., zus. mit Helmut Mörchen) Von Lust u. Last literar. Schreibens. Ein Blick in die Werkstatt dt. Schriftsteller. Ffm. 2001. Literatur: Hanna Klainer: K. M.: Ins Blaue. In: NDH 32 (1985), S. 589 ff. – Helmut Salzinger u. K. M.: Gespräch. In: Das Nachtcafé 12, H. 26 (1986/ 87), S. 2 ff. – Michael Hielscher: K. M.: Das Grau der Karolinen. In: NDH 34 (1987), S. 400 ff. – Ulrich Baron: K. M. In: KLG. – Harry Nutt: Tiefbohrungen ins Blaue. Über den Schriftsteller K. M. In: Merkur 42, H. 11 (1988), S. 972–977. – Britta Kallin: Die besten Ideen u. die ›unverhofften Bekannten‹ kommen beim Schreiben. Interview mit dem Autoren K. M. In: Focus on Literatur 4 (1997), H. 1, S. 77–91. – Sabine Jambon: Moos, Störfall u. abruptes Ende. Literar. Ikonographie der erzählenden Umweltlit. u. das ›Bild‹gedächtnis der Ökologiebewegung. Düsseld. 2000. – Insa Segebade: Eigener Herr u. eigener Knecht: der Schriftsteller K. M. In: TextArt 2001, H. 3, S. 14–17. – Keith Stuart Parkes: ›Die Ungnade der späten Geburt?‹ The Theme of National Socialism in Recent Novels by Bernhard Schlink and K. M. In: German Culture and the Uncomfortable Past. Representations of National Socialism in Contemporary Germanic Literature. Hg. Helmut Schmitz. Aldershot u. a. 2001, S. 87 ff. – Arne Rautenberg: K. M. In: LGL. – Ralf Schnell: Gesch. der deutschsprachigen Lit. seit 1945. Stgt. 2005. Helmut Mörchen / Sebastian Arnold
Modius, Franciscus, eigentl.: Frans de Maulde [?], * 4.8.1556 Oudenburg bei Brügge/Belgien, † 23.6. (oder 22.1.) 1597 Aire/Nordfrankreich. – Philologe, Verlagskorrektor u. neulateinischer Dichter. Über M.’ Familie ist nichts bekannt; doch scheint der Jurist u. Philologe Franciscus Nansius (1525–1595) sein Vormund gewesen zu sein. M. studierte ab ca. 1570 die Rechte in
Modius
Douai, wo er 1573 promoviert wurde. Anschließend wandte er sich nach Löwen u. hörte an der Universität u. a. bei Justus Lipsius auch Philologie. 1578 immatrikulierte er sich in Leiden, flüchtete jedoch vor seinen Schulden u. den Kämpfen in seiner Heimat noch im selben Jahr nach Köln. Er lebte dort durch die Vermittlung des Juristen Hieronymus Berchem zunächst im Haushalt des Grafen Karl von Egmont, eines Sohnes des Staatsmanns Lamoral I. Graf von Egmont. Danach war M. von 1579 bis 1581 Sekretär des hess. Erbmarschalls Adolf Hermann Graf von Riedesel, dann bis 1584 des humanist. Mäzens, Würzburger Domherrn u. Propst des Stiftes Comburg bei Schwäbisch Hall Erasmus Neustetter, für den er auch als Bibliothekar tätig war. Während er in Riedesels Diensten stand, erarbeitete er u. a. Editionen der Historiae Alexandri Magni des Curtius Rufus (Köln 1579) u. der Epitoma rei militaris des Vegetius (Köln 1580). M.’ Poemata (Würzb. 1583), deren Widmungen seine Beziehungen zu zahlreichen dt., belg. u. niederländ. Humanisten dokumentieren, das Hodoeporicum Francicum (Würzb. 1583), die Beschreibung einer mit Neustetter unternommenen Reise ins böhm. Karlsbad (mit mancherlei interessanten Exkursen, z.B. zum Bergbau des Frankenwaldes) sowie sein bedeutendes philolog. Werk Novantiquae lectiones (Ffm. 1584) entstanden allesamt während der Würzburger u. Comburger Zeit. Nachdem er die Verbindung mit Neustetter gelöst hatte, trat M. nach einer kurzen Beschäftigung als Bibliothekar des Klosters Fulda u. einer Reise in die belg. Heimat 1585 eine Stelle als Korrektor des Frankfurter Verlegers Sigismund Feyerabend an, ehe er 1587 zu dessen Konkurrenten Andreas Wechel wechselte, den er noch im selben Jahr wieder verließ. Wie bei vielen seiner Kollegen ist nicht immer auszumachen, welchen über Lektoratsarbeiten hinausgehenden Beitrag er zu den von ihm betreuten Werken geleistet hat. Neben der Bearbeitung juristischer Werke kommt jedoch aus M.’ Frankfurter Zeit seiner Livius-Ausgabe (Ffm. 1588) besondere Bedeutung zu. 1587 machte er sich wieder nach Belgien auf, wurde aber bei Bonn im Rahmen einer lokalen Fehde als Geisel genommen u. kam erst
Mögling
1588, für den Rest seines Lebens gesundheitlich gezeichnet, wieder frei. 1590 erhielt er durch die Vermittlung des alten Gönners Karl von Egmont eine Pfründe in Aire. Er begab sich im folgenden Winter wieder auf die Reise ins Reich u. lehnte 1591 den Ruf auf einen Lehrstuhl für Kirchenrecht in Würzburg wohl aus gesundheitl. Gründen ab. 1593 kehrte er nach Aire zurück, wo er bis zu seinem Tod lebte. Weitere Werke: (Hg.) Ex Trogi Pompei historii externis. Köln 1582. – Pandectae triumphales. 2 Bde., Ffm. 1586. – Johann Sichard: In Codicem Iustinianum Praelectiones. Ffm. 1586. – (Hg.) Rerum criminalium praxes. 2 Bde., Ffm. 1587. – (Hg.) Pieter Cornelisz van Brederode: Repertorium sententiarum et regularum. 2 Bde., Ffm. 1587. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Anton Ruland: F. M. u. dessen Enchiridion. In: Serapeum. Ztschr. für Bibliothekswiss., Handschriftenkunde u. ältere Lit. (1853), S. 81–91, 97–108, 113–124, 129–134. – G. K. Wilhelm Seibt: F. M. Rechtsgelehrter, Philologe u. Dichter. Der Corrector Sigmund Feyerabends. Ffm. 1882. – [Franz] Eyssenhardt: M. In: ADB. – Paul Lehmann: F. M. als Handschriftenforscher. Mchn. 1908. – Alphonse Roersch: M., François ou De Maulde. In: Biographie nationale [...] de Belgique. Bd. 14, Brüssel 1897, Sp. 921–935. – Ders.: Particularités concernant François M. In: Le Musée Belge. Revue de philologie classique 12 (1908), S. 73–85. – Jozef Ijsewijn: Un poème inédit de François M. In: Latomus 25 (1966), S. 570–583. – Franz Römer: Tacitus in den ›Novantiquae Lectiones‹ des F. M. In: Latinität u. alte Kirche. FS Rudolf Hanslik. Red. Herbert Bannert u. a. Wien u. a. 1977, S. 251–262. – Hermann Wiegand: Hodoeporica. Studien zur nlat. Reisedichtung. Baden-Baden 1984, S. 277–283, 511 f. Volker Hartmann
Mögling, Möglin, Daniel, auch: Florentinus de Valentia, Theophil Schweighart, Valerius Saledinus, Valentin Theocritus von Hirschberg, * im April 1596 (getauft am 24.4.) Böblingen, † 19.8.1635 Butzbach/Wetterau. – Fachschriftsteller u. rosenkreuzerischer Publizist. Der Sohn des Böblinger Stadtphysicus Johann Rudolf Mögling erwarb in Tübingen die Magisterwürde (1615), studierte seit 1616 in Altdorf, hielt sich kurz in Ulm u. 1618 in Wittenberg auf, immatrikulierte sich wieder
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an der Universität Tübingen (1618) u. promovierte hier zum Dr. med. (1621). Seit 1621 wirkte er dann in Butzbach, wo er bis zu seinem Lebensende Landgraf Philipp von Hessen-Butzbach als Leibarzt u. astronomisch-astrolog. Helfer diente. Zu seinem Bekannten- u. Freundeskreis zählten Wendelin Sybelista, Johann Valentin Andreae, Christoph Besold, Johann Faulhaber, Ludwig Jungermann, Wilhelm Schickard u. Johann Kepler. M.s Nachruhm entspringt deutschsprachigen Schriften physikotheologischen Inhalts, in denen er der rosenkreuzerischen Reformbewegung Stimme verlieh u. eine auf innerer Offenbarung beruhende Weisheitslehre vertrat (»Pansophia rhodostaurotica«). Sie entstanden teilweise in Kontroversen mit Friedrich Grick (Rosa florescens, contra F.G. Menapii calumnias. o. O. 1617. 1618), zeigten sich gelegentlich dem Pseudonymus Julianus de Campis (Julius Sperber? Cornelius Drebbel?) verpflichtet u. tauchten rosenkreuzerisches Streben ins Licht einer maßgeblich von Grundgedanken der Imitatio Christi des Thomas von Kempen geprägten »Theosophia«. Wider die luth. Orthodoxie u. aristotelisch-galenist. Schulwissenschaft wird eine weigelianisch eingefärbte u. auf die »höchste Perfection« des Menschen zielende »Rhodostaurotosophia« gelehrt, die ihr Zentrum in einer »pansophischen Concordantz« von Gottes-, Natur- u. Selbsterkenntnis besitzt u. ihre Naturkunde auf paracelsist. Spekulation u. alchem. Lehrgut (M. Sendivogius) gründet. Ihren markantesten Niederschlag fand M.s auf Reform von Wissenschaft, Kirche u. Gesellschaft drängende Publizistik in der Pandora sextae aetatis, sive speculum gratiae (o. O. 1617) u. im Speculum sophicum rhodo-stauroticum (o. O. 1618), einem Pandora-Kommentar, der sich aufgrund seiner allegor. Illustrationen u. einer »arbor pansophiae«-Darstellung mit der »omnia ab uno / omnia ad unum«Formel von der rosenkreuzerischen Schriftenmasse vorteilhaft abhebt. Im rosenkreuzerischen Streitschrifttum des 17. Jh. blieb M. ein zitierter Autor. Das Speculum hinterließ Spuren im Werk von Ben Jonson (The Fortunate Isles, 1625) u. Umberto Eco (Il pendolo di Foucault, 1988); in Walter
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Möhler
Ummingers Briefroman Das Winterkönigreich (1994) gehört M. zu den markantesten Gestalten.
Günther Bien u. a. Stgt.-Bad Cannstatt 2002, S. 239–244. Joachim Telle
Weitere Werke: De usu cerebri secundum Aristotelem. Altdorf 1617. – Prognosis affectuum medica. Tüb. 1619. – Perpetuum Mobile. Ffm. 1625. – Cyclometria. 1627 (Hs.). – Instrumentum magneticum. Hg. Johann Ludwig Remmelin. Augsb. 1632. – Übersetzer: Philip Sidney: Arcadia. Ffm. 1629. – Guido Ubaldus: Mechan. KunstKammer Erster Theil. Ffm. 1629. – Briefe: Briefw. mit Schickard. In: Johann Kepler: Ges. Werke. Bd. 18, Mchn. 1959. – Wilhelm Schickard: Briefw. Hg. Friedrich Seck. Stgt.-Bad-Cannstatt 2002. – Reste des Briefwechsels M.s u. a. handschriftl. Mögliana bewahren Landesbibl. Darmstadt, Univ.Bibl. Erlangen, Kgl. Bibl. Kopenhagen, Landesbibl. Stuttgart, Stadtarchiv Ulm u. Nationalbibl. Wien. – Bei ›Menapius Roseae Crucis‹ (o. O. 1619) handelt es sich um eine v. Grick verfasste u. seinem Gegner M. untergeschobene Spottschrift. Die übl. Zuschreibungen des ›Prodromus Rhodo-Stauroticus Parergi Philosophici‹ (o. O. 1620) u. des ›Colloquium Rhodostauroticum‹ (o. O. 1621) an M. dürften nicht zutreffen. – Herausgeber: Simon Marius (Mayr): Widerlegung der PositionCirckel Claudii Ptolomaei. Ffm. 1625.
Möhler, Johann Adam, * 6.5.1796 Igersheim bei Mergentheim, † 12.4.1838 München. – Katholischer Theologe.
Ausgabe: Lo Specchio della Sapienza Rosacrociana (1618). Einl., Übers. u. Anmerkungen v. Manuel Insolera. Rom 2001. Literatur: Hans Schick: Das ältere Rosenkreuzertum. Bln. 1942, S. 184–189. – Frances A. Yates: The Rosicrucian Enlightenment. London/Boston 1972. Dt. Stgt. 1975 (Register). – Richard van Dülmen: D. M. In: Bl. für württemberg. Kirchengesch. 72 (1972), S. 43–70 (mit Abdr. des ›Speculum‹). – Will-Erich Peuckert: Das Rosenkreutz. Bln. 21973 (Register). – Friedrich Seck (Hg.): Wilhelm Schickard. 1592–1635. Astronom, Geograph, Orientalist, Erfinder der Rechenmaschine. Tüb. 1978 (Register). – R. van Dülmen: Die Utopie einer christl. Gesellsch. Johann Valentin Andreae (1586–1654). Stgt.-Bad Cannstatt 1978, S. 89–91. – Kosch. – Siegfried Wollgast: Philosophie in Dtschld. zwischen Reformation u. Aufklärung 1550–1650. Bln. 1988, S. 337–339. – Ulrich Neumann: M. In: NDB. – Ders.: M. In: Bautz. – Ders.: ›Olim, da die Rosen Creutzerey noch florirt, Theophilus Schweighart genant‹: Wilhelm Schickards Freund u. Briefpartner D. M. (1596–1635). In: Zum 400. Geburtstag v. W. Schickard. Hg. F. Seck. Sigmaringen 1995, S. 93–115. – F. Seck: Wer hat Sidneys ›Arcadia‹ ins Deutsche übersetzt? In: Wissenschaftsgesch. zum Anfassen. Von Frommann bis Holzboog. Hg.
Nach dem Theologiestudium in Ellwangen u. Tübingen 1815–1818, Priesterweihe 1819 u. anschließendem Vikariat, Repetententätigkeit am Tübinger Wilhelmstift u. einer wiss. Reise durch Deutschland 1822/23 lehrte M. an der Tübinger Katholisch-Theologischen Fakultät seit 1823 als Privatdozent, seit 1826 als a. o. u. seit 1828 als o. Prof. Kirchengeschichte u. Kirchenrecht, später auch Apologetik. Seit 1835 war er o. Prof. an der Theologischen Fakultät der Universität München. In den wenigen Jahren, die ihm zu selbständiger wiss. Arbeit zur Verfügung standen, hat M. ein auch an Umfang ansehnliches, inhaltlich tiefgründiges u. glänzend geschriebenes Werk geschaffen, das ihn zu einem der bedeutenden u. wirkungsmächtigen kath. Theologen des 19. Jh. machte. Anfängliche Züge aufgeklärten Denkens, die noch in M.s frühen Vorlesungen zu bemerken sind, wichen bald einer von der Romantik geprägten Anschauungsweise. 1825 erschien das von Schleiermacher beeinflusste Erstlingswerk Die Einheit in der Kirche oder das Prinzip des Katholizismus dargestellt im Geiste der Kirchenväter der ersten drei Jahrhunderte (Tüb. 1825. Krit. Ausg. Köln 1957), in dem M. die gegenwärtige Gestalt u. Lehre der Kirche aus ihrer Geschichte entwickelte. Zwei große histor. Darstellungen mit klarem Bekenntnis zum römischen Primat, Athanasius der Große und die Kirche seiner Zeit (Mainz 1827) u. Anselm, Erzbischof von Canterbury (in: Theologische Quartalschrift 9/10, 1827/28), folgten. M.s bedeutendstes Werk wurde die Symbolik oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnisschriften (Mainz 1832. Krit. Ausg. in 2 Bdn., Köln 1958–60), die in seinem Todesjahr bereits die fünfte Auflage erlebte. Als Ausgangspunkt der Unterschiede der Lehre in der abendländ. Christenheit sah M. einen grundlegenden Gegensatz in der Anthropologie, aus dem die verschiedenen An-
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schauungen von Rechtfertigung, Glauben u. guten Werken hervorgehen. Auf M.s Herausforderung antworteten die evang. Theologen Philipp Konrad Marheineke in Berlin u. Carl Immanuel Nitzsch in Bonn, am gewichtigsten u. schärfsten aber sein Tübinger Kollege Ferdinand Christian Baur. M.s Verteidigung Neue Untersuchungen der Lehrgegensätze zwischen den Katholiken und Protestanten (Mainz 1834) war dem Tübinger Gegner nicht gewachsen; ein Ruf nach München erlöste ihn 1835 aus schwieriger Lage. Im Katholizismus hat die in mehr als 20 Neuauflagen u. vielen Übersetzungen verbreitete Symbolik bis hin zum Zweiten Vatikanischen Konzil stark gewirkt. M. wird historisch sehr unterschiedlich eingeordnet; bes. problematisch ist seine Auffassung als großer Ökumeniker. Weitere Werke: Ges. Schr.en u. Aufsätze. Hg. Johann Joseph Ignaz Döllinger. 2 Bde., Regensb. 1839/40. – Vorlesung zum Römerbrief. Hg. Reinhold Rieger. Mchn. 1990. – Nachgelassene Schr.en. Hg. Rudolf Reinhardt u. R. Rieger. Bd. 1: Vorlesungen, Entwürfe u. Fragmente. Paderb. 1989; Bd. 2: Exeget. Vorlesungen. Mchn. 1990. – Vorlesungen über Kirchengesch. Hg. R. Rieger. Mchn. 1992. Literatur: Bibliografie: Verz. der gedr. Arbeiten J. A. M.s. In: Kirche u. Theologie im 19. Jh. Hg. Georg Schwaiger. Gött. 1975, S. 1*-71*. – Weitere Titel: Josef Rupert Geiselmann: Die theolog. Anthropologie J. A. M.s. Freib. i. Br. 1955. – Hans Friedrich Geisser: Glaubenseinheit u. Lehrentwicklung bei J. A. M. Gött. 1971. – Paul-Werner Scheele: J. A. M. In: Kath. Theologen Dtschld.s im 19. Jh. Hg. Heinrich Fries u. a. Bd. 2, Mchn. 1975, S. 70–98. – Harald Wagner: Die eine Kirche u. die vielen Kirchen. Ekklesiologie u. Symbolik beim jungen M. Mchn. 1977. – Joachim Köhler: J. A. M. In: Gestalten der Kirchengesch. Hg. Martin Greschat. Bd. 9/1, Stgt. 1985, S. 138–159. – H. Wagner (Hg.): J. A. M. (1796–1838) – Kirchenvater der Moderne. Paderb. 1996. – Michel Deneken: J. A. M. Paris 2007. Ulrich Köpf
Möllenkamp, Werner, eigentl.: FriedrichWerner, * 24.5.1921 Düsseldorf. – Autor von historischen Erzählungen, Romanen, Kriminalromanen u. Lyrik. M. wuchs in Ostpreußen auf, wurde nach Abschluss der Schule zum Wehrdienst ein-
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gezogen u. war bis 1945 Kriegsteilnehmer. Er studierte Elektrotechnik u. Energiewirtschaft u. übte seinen Beruf weltweit aus. Der erste Band seiner Ostpreußen-Trilogie ist die histor. Erzählung Die letzte Nacht muß man wachen (Ffm. 1958, wieder aufgelegt Limburg/L. 1997). Darin schildert der Autor die verzweifelte Lage von Soldaten, die sich nach dem Führerbefehl »Kämpfen bis zum letzten Mann« der sowjet. Übermacht entgegenstellen müssen. Schauplatz ist die Front in Ostpreußen im Winter 1944/45. Die Befehlsgeber ignorieren die ausweglose Situation u. gaukeln den erschöpften Soldaten den Einsatz einer Wunderwaffe vor, bis sie angesichts der Katastrophe die Soldaten sich selbst überlassen. Band 2 der Trilogie, Regen über Gerechte und Ungerechte (Neckargemünd 1970), erschien überarbeitet u. d. T. Gerechte und Ungerechte (Limburg/L. 2001). Er bietet eine umfangreiche Darstellung der Zeit von 1936 bis 1945, in der von den Verhandlungen der Politiker erzählt u. den histor. Fakten der europ. Geschichte ein breiter Raum gewährt wird. Vor diesem Hintergrund spielt sich das Leben des Ingenieurs Max Trojahn aus Ostpreußen ab, der zunächst in Angola seiner berufl. Tätigkeit nachgeht. Da er aber bereits ausgebildeter Soldat ist, wird er an die Front abkommandiert. Nach einer Verwundung ist er nicht mehr kriegsverwendungsfähig u. arbeitet nun für die Spionage u. Spionageabwehr; dabei erfährt er auch von den Absichten des Gegners, die jedoch bei der dt. Führung nicht berücksichtigt werden. Nach Gefangennahme, Internierung u. einer abenteuerl. Reise durch zerstörte Städte u. mithilfe von Beziehungen, die er während seiner Agententätigkeit geknüpft hat, gelingt es ihm, Angola u. seine Geliebte wieder zu erreichen. Auf der Grundlage von Tagebucheintragungen u. Erinnerungen gestaltet M. den dritten Band seiner Trilogie, Die Flucht. Historische Erzählung von Vertreibung und wiedergeschenkter Zeit (Limburg/L. 2005): Die Kriegswirren haben eine ostpreuß. Familie bereits auseinandergerissen. Von drei Schwestern überleben nur zwei die Flucht in den Westen. Nach einer risikoreichen Zugfahrt gemeinsam mit verwundeten Soldaten,
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alten Leuten u. Kindern erreicht die Älteste von ihnen zus. mit ihrem alten Onkel, einem pensionierten Studienrat, unversehrt Helmstedt. Krank u. verletzt durch Übergriffe von Rotarmisten, findet ihre jüngere Schwester Aufnahme im Flüchtlingslager Friedland. Die Jüngste von ihnen, eine Krankenschwester, die einen Transport mit Müttern u. ihren Kindern auf der Flucht begleitet, entgeht den Vergewaltigungen der Rotarmisten nicht u. stirbt an den Folgen. Berichtszeitraum ist der 26. Febr. bis 25. Nov. 1945. Die histor. Hintergründe bleiben nicht unerwähnt. Emotions- u. kommentarlos schildert der Autor die furchtbaren Ereignisse der Flucht. Seine Protagonisten diskutieren weder ihre Verantwortung noch ihre Schuld. Die junge Generation, selbst wenn sie traumat. Erfahrungen gemacht hat, arrangiert sich mit den Umständen u. versucht, das Beste daraus zu machen. Während die Jüngeren anderen Bedrängten in gleicher Situation helfen, trauert die ältere Generation der verlorenen Heimat nach. Hauptthemen von M.s Werken sind Geschichte u. Technik. Sie zeigen die Auswirkungen von polit. Entscheidungen auf das Schicksal des Einzelnen u. erzählen von den Chancen u. Möglichkeiten, die der intelligente Einsatz von Technik den Menschen bietet. Weitere Werke: Wanderer – Wohin? Darmst. 1977 (L. u. P.). – Die Cassassa Story. Darmst. 1977 (Montageber.). – Hackers Traum. Bln. 1986 (R.). – Gegen den Strom. Gernsbach 1989 (R.). – Eine Liebe in Iffezheim. Gernsbach 1990 (R.). – Mit einem Fuß im Sumpf. Bergisch-Gladbach 1991 (R.). – Der Chip. Bln. 1992 (R.). – Russ. Schokolade. Bergisch-Gladbach 1992 (R.). – Schwed. Diamanten. Bergisch-Gladbach 1994 (R.). – Das Duell der Paten. Bergisch-Gladbach 1994 (R.). – Tödl. Tango. Bergisch-Gladbach 1995 (R.). – Tod in der Börse. Elsdorf 1997 (Krimi-R.). – Die schöne Medusa. Elsdorf 2000 (Krimi-R.). Angelika Brauchle
Möller, Eberhard Wolfgang, auch: Anatol Textor, * 6.1.1906 Berlin, † 1.1.1972 Bietigheim. – Dramatiker, Lyriker u. Erzähler. Der Sohn eines Bildhauers studierte in Berlin Philosophie, Literatur-, Theater- u. Musik-
Möller
wissenschaft sowie Geschichte u. arbeitete danach als Dramaturg am Berliner Staatstheater. Für sein Weltkriegsdrama Douaumont oder die Heimkehr des Soldaten Odysseus (Urauff. Essen u. Dresden 1929) wurde er von der national-konservativen Kritik gefeiert. M. schloss sich der SA an u. stellte sich mit seinen historisierenden Dramen (z.B. der antisemit. »Komödie« Rothschild siegt bei Waterloo. Urauff. Weimar u. Aachen 1934) ganz in den Dienst der NS-Ideologie. 1934 wurde er Theaterreferent im Propagandaministerium, 1935 erhielt er den »Nationalen Buchpreis« für seine pathetisch-agitatorische Lyrik. Im Auftrag Goebbels’ verfasste M. das bei den Olympischen Spielen 1936 uraufgeführte Frankenburger Würfelspiel, das eine Episode des Kampfes zwischen Bauern u. Adel zu Beginn des 17. Jh. schildert. Es wurde zum »Modellstück« (Rühle) für die kurzlebige Thingspielbewegung, die Theater als kultischen Staatsakt zelebrierte. M. gehörte zu den Autoren des antisemit. Hetzfilms Jud Süß (1940) von Veit Harlan. Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb er v. a. Romane, die aber keine Beachtung mehr fanden. Weitere Werke: Panamaskandal. Bln. 1930 (D.). – Berufung der Zeit. Bln. 1935 (L.). – Das Schloß in Ungarn. Bln. 1935 (R.). – Chicago oder der Mann, der auf das Boot trat. Hbg. 1964 (R.). – Die feindl. Schwestern: Die Aufzeichnungen der Henriette Jacobs. Berg/Bodman 1983 (R.). Literatur: Günther Rühle: E. W. M. ›Das Frankenburger Würfelspiel‹. In: Ders.: Zeit u. Theater 1933–45. Bd. 3, Ffm./Bln./Wien 1974, S. 777–793. – Jay W. Baird: Hitler’s Muse. The Political Aesthetics of the Poet and Playwright E. W. M. In: German Studies Review 17, H. 2. (1994), S. 269–285. – Rufus J. Cadigan: E. W. M. Politically Correct Playwright of the Third Reich. In: Theatre in the Third Reich, the Prewar Years. Hg. Glen W. Gadberry. Westport 1995, S. 65–74. – Stefan Busch: ›Und gestern, da hörte uns Deutschland‹. NS-Autoren in der BR. Kontinuität u. Diskontinuität bei Friedrich Griese, Werner Beumelburg, E. W. M. u. Kurt Ziesel. Würzb. 1998. – Bernd Balzer: E. W. M. Der ›literarische Ahn‹ Wolfgang Borcherts? In: Jahresh. der Internat. Wolfgang-Borchert-Gesellsch. 14 (2002), S. 31–39. – Christina Jung-Hoffmann: Engagierte Lit. u. rhetor. Realismus. ›Panamaskandal‹ u. Weimarer Republik bei Wilhelm Herzog u. E. W. M. In: Engagierte Lit. zwischen den Weltkriegen. Hg. Stefan Neuhaus u. a. Würzb.
Möller 2002, S. 219–237. – Helmut Kreuzer: Deutschsprachige Hörspiele 1924–33. Ffm. u. a. 2003, S. 57–75. – J. W. Baird: Die faschist. Ästhetik v. E. W. M. In: Völk. Bewegung, konservative Revolution, NS. Hg. Walter Schmitz u. a. Dresden 2005, S. 399–412. Hans Sarkowicz / Red.
Möller, Heinrich Ferdinand, * 1745 Olbersdorf/Schlesien, † 27.2.1798 bei Fehrbellin. – Schauspieler, Bühnendichter.
272 1775. – Die Zigeuner. Lpz. 1777. – Schauspiele: Louise, oder der Sieg der Unschuld. Prag 1775. – Sophie, oder der gerechte Fürst. Lpz. 1777. – Wikinson u. Wandrop. Ffm. 1779. – Wladislaw II., böhm. Hzg., dann König. Prag 1791. – Trauerspiele: Ernest u. Gabriele. Prag 1776. – Emanuel u. Elmire. Ffm. 1778. – Heinrich u. Henriette, oder die unglückl. Verschwiegenheit. Lpz. 1778. Literatur: Max v. Schröter: H. F. M. Ein Schauspieldichter des XVIII. Jh. Bln. 1890. Friedhelm Auhuber / Red.
M. widmete sich seit 1760 dem Theater, Moeller van den Bruck, Arthur, auch: A. spielte selbst in Prag, war 1770 Schauspieler Moeller-Bruck, * 23.4.1876 Solingen, in Hamburg, Mitgl. der von Brunianischen † 30.5.1925 Berlin (Freitod); Grabstätte: Gesellschaft u. spielte seit Mitte der 1770er Parkfriedhof Berlin-Lichterfelde. – PolitiJahre in der Seyler’schen Truppe. In den scher u. Kunstschriftsteller, Übersetzer, 1780er Jahren fungierte er als Direktor der Redakteur. Hofschauspielergesellschaft des Markgrafen zu Braunschweig-Schwedt u. als Regisseur Aus einer rheinischen Bauratsfamilie stamdes Theaters zu Schwedt. Ab 1792 lebte u. mend, verließ M. das Gymnasium in Düsselarbeitete M. in Nürnberg. Er starb auf einer dorf vorzeitig. Einen bürgerl. Bildungsgang Reise von Schwerin nach Berlin. durchlief er zeitlebens nicht. Er ging nach M.s Stücke hatten großen Erfolg. Wie sich Leipzig, wo er im Kreis um Franz Evers verzeitgenöss. Rezensionen entnehmen lässt, kehrte. 1896 übersiedelte er nach Berlin u. inszenierte er außerordentlich bühnenwirk- heiratete Hedda Maase (später in zweiter Ehe sam. Sein erfolgreichstes Schauspiel, Der Graf mit Herbert Eulenberg verheiratet). Mit ihr von Walltron, oder die Subordination (Prag/Dres- übersetzte er Werke von Baudelaire, Barbey den 1776), wurde 20 Jahre lang in ganz Eu- d’Aurevilly, Maupassant, Defoe u. das geropa gespielt u. fand viele Bearbeiter u. samte Werk Edgar Allan Poes. Übersetzer ins Französische, Italienische u. Unter dem Einfluss Herders, der RomanSchwedische. Emanuel Schikaneder insze- tiker, Nietzsches, Houston Stewart Chamnierte es 1782 in Graz, 1783/84 in Pressburg berlains u. im Kreis der Berliner Boheme er(Bratislava), 1784 in Regensburg; Auffüh- warb sich M. als Autodidakt weite literarische rungen gab es in München u. Hannover, in u. kunstgeschichtl. Kenntnisse. Seine erste Nürnberg, Ulm u. Leipzig; 1785 war es in wichtige Veröffentlichung wurden die zwölf Berlin das am meisten gespielte Stück. Auf- Bände der Modernen Literatur in Gruppen und führungen sind am ehemaligen Jesuitenkol- Einzeldarstellungen (Bln. 1899–1902). leg in Hildesheim ebenso nachweisbar wie in 1902 zog M. aus ungeklärten Gründen – den Städten Luzern, Prag, Linz u. Zagreb. womöglich, um dem Militärdienst zu entFriedrich Gensicke inszenierte es in Wien; in kommen – nach Paris. In der frz. Hauptstadt Mailand wurde es mehrmals gespielt. politisierte sich der junge Literat zusehends Heute ist M. nahezu vergessen. Abschätzi- im Sinne eines erneuerten u. umfassenden dt. ge Urteile, auch so berühmter Zeitgenossen Nationalismus, ohne dass seine ästhetisch wie Schiller, wegen angeblich mangelnder geprägte Sichtweise dabei verloren ging. Dort literar. Qualität von M.s Bühnendichtungen lernte er durch Vermittlung seiner späteren verstellen (ähnlich wie bei Iffland u. Kotze- zweiten Frau Lucie Kaerrick den Dichter u. bue) den Blick auf einen bedeutenden Thea- Mystiker Dimitri Mereschkowski kennen, terpraktiker, der ein großes Publikum zu mit dem er die erste dt. Gesamtausgabe der faszinieren wusste. Werke Dostojewskis besorgte. In seinem Weitere Werke: Lustspiele: Ferdinand u. Wil- Buch Die Zeitgenossen. Die Geister – Die Menschen helmine, oder die wunderbare Entdeckung. Prag (Minden 1906) führte M. als Frucht dieser
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Jahre auch die Grundthesen seines ästhetisch inspirierten antiwilhelmin. polit. Programms aus, das eine starke nationalpädagog. Komponente für das vermeintlich »junge« dt. Volk beinhaltete. Sein vielbändiges Werk Die Deutschen (Minden 1904–10) wollte er als Erziehungsbuch verstanden wissen. In Beiträgen zu dt. Zeitungen u. Zeitschriften sowie in Broschüren folgten weitere programmat. Ausführungen dieser Tendenz, der die Annahme einer im Vergleich mit konkurrierenden Großmächten unzureichend ausgeprägten dt. Nationalkultur zugrundelag. Nach weiteren Reisen im europ. Ausland, u. a. in Italien mit Theodor Däubler u. Ernst Barlach, meldete sich M. zu Beginn des Ersten Weltkriegs freiwillig zum Militärdienst. Für ihn, der sein Ziel einer Einheit von Kultur u. Politik von einer tragenden großen Begeisterung abhängig sah, schienen sich mit den Exaltationen im Aug. 1914 neue polit. Möglichkeiten zu eröffnen. 1916 gelangte er durch Fürsprache in die Propagandaabteilung der Obersten Heeresleitung. In diesem Jahr erschien die Erstausgabe seines Buches Der preußische Stil (Mchn. 1916), in dem M. seine politisch-ästhet. Konzeption entfaltete. Für M., der auch den Krieg als eine Auseinandersetzung konkurrierender Nationalkulturen wahrnahm, bestätigte die dt. Niederlage, die ihn in eine tiefe Depression stürzte, seine seit der Vorkriegszeit gehegten Befürchtungen u. wies seiner weiteren Tätigkeit die Richtung. Auf den Gebieten der polit. Publizistik u. Pädagogik lag fortan der Schwerpunkt seiner Arbeit. Eine Plattform fand M. im 1919 gegründeten Juni-Klub. Der Berliner Klub, den er mitbegründete u. an dessen Grundsatzmanifest er intensiv mitwirkte, benannte sich aus Protest gegen den Friedensvertrag von Versailles vom Juni 1919. Zgl. setzte man sich dem demokratisch geprägten Novemberklub entgegen u. vermittelte den chiffrierten Anspruch, aus der vereinten Jugend heraus eine neues Reich zu schaffen – »Juni« stand dabei für Juvenum Unio Novum Imperium. Die Mitgliedschaft des exklusiven Klubs, in dem M. eine zentrale Rolle spielte, hatte ein deutlich literarisch-journalist. Profil. Mit der Wochenschrift »Gewissen« unterhielt der
Moeller van den Bruck
Klub ein eigenes Organ, das M. weithin bestimmte. Politisch verfolgte man aus dem Klub heraus mit einer breit gestreuten Publizistik ein jungkonservatives Programm: Antiparlamentarisch u. antiliberal, sollte sich der Wiederaufstieg des Deutschen Reiches auf ein sozial befriedendes ständ. Staatsmodell stützen; außenpolitisch bekämpfte man die Positionen der Westmächte. Diese in der Fluchtlinie seiner bisherigen politisch-ästhet. Vorstellungen und Publikationen liegende Programmatik fasste M. in seinem Buch Das Dritte Reich (Bln. 1923) zusammen. Dabei verstand sich der Klub nach dem Entwurf M.s als Keimzelle einer neuen, in lokalen Gruppen als Ring-Bewegung zu sammelnden dt. Elite, die ihrerseits auf Autorität gegründetes polit. Führertum ermöglichen sollte. In diesem Horizont stand auch die pädagog. Arbeit des Politischen Kollegs, einer durch den Juni-Klub 1920 betriebenen Gegengründung zur Deutschen Hochschule für Politik, in dem M. gleichfalls mitwirkte. Durch die vornehmlich auf Multiplikatoren u. die nachwachsende Generation gerichteten Kurse des Kollegs erreichte die Gedankenwelt des Klubs u. ihres Exponenten M. eine erhebl. Resonanz, insbes. in der Studentenschaft u. der Jugendbewegung. Mit der Stabilisierung der Weimarer Republik gingen jedoch der Einfluss des Klubs – der 1924 aufgelöst wurde – u. des Kollegs zurück, auch verringerte sich die Unterstützung der Geldgeber. In dieser persönl. u. polit. Krise wählte M. den Freitod. In der Endphase der Weimarer Republik fanden M.s Vorstellungen wieder stärkeren Widerhall. Im NS-System blieb er durch sein Buch Das Dritte Reich ein Stichwortgeber. Weitere Werke: Das Variéte. Bln. 1902. – Das Théâtre Français. Bln./Lpz. 1905. – Die ital. Schönheit. Mchn. 1913. – Das Recht der jungen Völker. Mchn. 1919. Literatur: Otto Ernst Schüddekopf: Nationalbolschewismus in Dtschld. 1918–33. Ffm. u. a. 1973. – Hans-Joachim Schwierskott: A. M. v. d. B. u. der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik. Gött. 1962 (mit Liste der Veröffentlichungen M.s). – Denis Goeldel: M. v. d. B. (1876–1925) un nationaliste contre la révolution. Ffm. u. a. 1984. – Louis Dupeux: ›Nationalbol-
Möllhausen schewismus‹ in Dtschld. 1919–33. Mchn. 1985. – Berthold Petzinna: Erziehung zum dt. Lebensstil. Bln. 2000. – Stefan Breuer: Ordnungen der Ungleichheit. Darmst. 2001. – Fritz Stern: Kulturpessimismus als polit. Gefahr. Stgt. 2005. Berthold Petzinna
Möllhausen, (Heinrich) Balduin, * 27.1. 1825 Bonn, † 28.5.1905 Berlin. – Romanautor; Verfasser u. Illustrator von Reiseberichten. Der Vater, Heinrich Möllhausen (1796–1867), war preuß. Offizier, Bauunternehmer u. Abenteurer; die Mutter, Baronesse Elisabeth von Falkenstein (1799–1837), stammte aus einer pommerschen Freiherrenfamilie. Kurz nach der Geburt M.s, des ersten von fünf Kindern, erwarb der Vater den »Jesuitenhof«, ein nördlich von Bonn gelegenes Gut, wo die Familie bis 1837 wohnte. Wohl infolge des finanziellen Zusammenbruchs verließ er 1836 jedoch Frau u. Kinder; der Hof musste 1837 verkauft werden, im selben Jahr starb Elisabeth Möllhausen an Tuberkulose. In den Folgejahren hielt sich der Vater, der als verschollen galt, in Amerika auf; 1848 kehrte er nach Europa zurück, Kontakte mit dem Sohn gab es wohl 1850 in Berlin sowie brieflich kurz vor seinem Tod am 18.12.1867 in Odessa. M. stand nach dem Tod der Mutter unter Obhut ihrer pommerschen Verwandten. Wohl bis 1840 besuchte er das Gymnasium in Bonn u. lebte dann als Kostgänger bei befreundeten Familien in Barth. Auf dem nahen Gut Divitz, das dem Vormund Graf Reinhold von Crassow gehörte, wurde M. nach dem Militärdienst 1845/46 zum Verwalter ausgebildet, im Verlauf der Revolution 1848/49 war er mehrfach für die Pommersche Landwehr dienstverpflichtet. Im Febr. 1850 wanderte M. nach Amerika aus, wo er zunächst bis Ende 1852 blieb. 1851/52 unternahm er als Begleiter des Herzogs Paul von Württemberg, eines der bedeutendsten Forschungsreisenden seiner Zeit, eine Reise in die jenseits der »frontier« gelegenen Regionen der südl. Rocky Mountains. Im Nov. 1851 ließ der Herzog M. bei einbrechendem Winter in der Wildnis zurück, wo er schwer erkrankte, sich gegen Angriffe verteidigen
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musste u. erst im Jan. 1852 von Indianern gerettet wurde. Auf einer Pelzhandelsstation verliebte er sich in die 14-jährige Halbindianerin Amelie Papin, die später auch zum Vorbild für Karl Mays Nscho-tschi (die Schwester Winnetous) wurde. Nach weiteren Expeditionen kehrte M. Anfang 1853 als Begleiter eines Tiertransports für den dortigen Zoo nach Berlin zurück, dessen Direktor, Martin Hinrich Lichtenstein, ihm u. a. die Bekanntschaft Alexander von Humboldts vermittelte. Vor seiner nächsten Abreise nach Amerika im Mai 1853 verlobte sich M. mit Caroline Seifert, offiziell Humboldts Patenkind u. Tochter von dessen Kammerdiener, tatsächlich wohl unehel. Tochter von Humboldt selbst, der M. seit der Verlobung intensiv förderte. 1855 folgte die Heirat mit Caroline, bald danach wurde der Sohn Alexander geboren. Zuvor (Juli 1853-März 1854) hatte M. als Zeichner an einer Regierungsexpedition quer durch die südl. Staaten der USA teilgenommen. Mit dem daraus hervorgehenden Tagebuch einer Reise vom Mississippi zu den Küsten der Südsee (Lpz. 1858), in der zweiten Auflage u. d. T. Wanderungen durch die Prairien und Wüsten des Westlichen Nordamerika (Lpz. 1860), wurde er in Deutschland bekannt. Im Rahmen einer Expedition zur Erforschung des Colorado unternahm M. zwischen Aug. 1857 u. Sept. 1858 die dritte Amerikafahrt, dokumentiert im Bericht Reisen in die Felsengebirge Nord-Amerikas bis zum Hoch-Plateau von Neu-Mexico (Lpz. 1861). Nach der endgültigen Niederlassung in Berlin gehörte er zur Tafelrunde des Prinzen Friedrich Karl von Preußen im Jagdschloss Dreilinden, wo er Theodor Fontane, Friedrich von Bodenstedt u. Philipp Galen kennenlernte. 1905 starb er als populärer u. öffentlich ausgezeichneter Autor; seit 1860 war er korrespondierendes Mitgl. der Historical Society of New Mexico, zum 80. Geburtstag verlieh ihm Wilhelm II. den kgl. Kronenorden III. Klasse. Zwischen 1861 u. 1905 veröffentlichte M. ca. 40 Romane u. 50 Erzählungen, Novellen u. Skizzen; weitere ca. 40 Erzählungen unterschiedlicher Länge blieben unveröffentlicht. Charakteristisch für sein Werk ist die Kombination von ethnografisch angereicherten Elementen des Abenteuerromans mit
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Mönch Felix
Strukturen des Geheimnisromans. In Grafs Banck u. Hermann Ethé. In der Forschung für die Forschung maßgebl. Monografien nach seinem Tod blieben die Arbeiten von wird M.s Romanschaffen in vier Phasen ge- Barba, Hartmann u. Miller bis in die 1990er gliedert, deren erste (1858–1870) auch die Jahre zentral. Eine Neuausrichtung ermögbeiden Reiseberichte umfasst u. im Zeichen lichten erst die Studien Andreas Grafs, v. a. der »Fiktionalisierung des Abenteuers« die grundlegende M.-Biografie Der Tod der steht; in Romanen u. Erzählungen – etwa Das Wölfe (Bln. 1991) sowie die Monografie zu M.s Mormonenmädchen (Jena/Lpz. 1864) oder Der Romanwerk, Abenteuer und Geheimnis (Freib. i. Meerkönig (Jena 1867) – überwiegt die literar. Br. 1993); Graf ist auch an den aktuellen Mischung von Selbsterlebtem u. fiktiver Ro- Werkausgaben maßgeblich beteiligt. manhandlung. In den Texten der zweiten Ausgaben: Illustrierte Romane, Reisen u. AbenPhase (»Politisierung durch Geheimnis«, teuer. Hg. Dietrich Theden. 30 Bde., Lpz. 1906–13. 1870–1880) wird eine vorwiegend an ameri- – Ausgew. Werke. Hg. u. komm. v. Andreas Graf. kan. Schauplätzen angesiedelte Abenteuer- Nachdr. Hildesh./Zürich u. a. 1998 ff. – Romane u. handlung um eine dt. Geheimnishandlung Erzählungen v. B. M. Mchn. 2000 ff. – Ausgew. erweitert, was sich oftmals als überspitze u. Texte online unter http://www.moellhausen.de [Zugriff 10.2.2010]. grelle Polemik gegen bestimmte gesellLiteratur: Preston Albert Barba: B. M. The schaftl. Entwicklungen (Bezüge zum KulturGerman Cooper. Philadelphia 1914. – David H. kampf, Jesuiten- u. Junkerkritik, antisemit. Miller: B. M. A Prussian’s Image of the American Elemente) im Horizont des bürgerl. Libera- West. Albuquerque 1970. – Horst Hartmann: Catlismus äußert; Beispiele hierfür sind Das lin u. M. Bln. 21984. – Peter J. Brenner: Ein ReiMonogramm (Bln. 1874) u. Die Hyänen des Ca- sender u. Romancier des 19. Jh. Über B. M. In: Die pitals (Bln. 1876). Die zwischen 1880 u. 1887 Horen 31 (1986), S. 70–79. – Friedrich Schegk: B. entstandenen Texte bieten laut Graf eine M. In: Lexikon der Reise- u. Abenteuerlit. Meitin»Ausgestaltung der Bürgerlichkeit«; sie sind gen 1988, S. 1–30. – Ausführl. bio- u. bibliogr. u. a. durch Stoffe gekennzeichnet, in denen Hinweise, Texte u. Materialien unter http:// Kritik an Adel u. Geistlichkeit sowie Offen- www.moellhausen.de [Zugriff 10.2.2010]. Fabian Lampart heit für Kapital, Intelligenz u. Bildung thematisiert werden, so in Wildes Blut (Jena 1886) oder Der Haushofmeister (Jena 1884). In der Mönch Felix. – Mittelhochdeutsche Miletzten Schaffensphase (»Erinnerung und rakelerzählung aus dem 13. Jh. melancholischer Abgesang«, 1889–1905) überwiegt die Wiederholung eigener Stil- u. Die Wundergeschichte von einem Mönch, der Strukturmerkmale. entrückt die ewige Seligkeit schaut, kurz dem M.s große Popularität zu Lebzeiten grün- Gesang eines Vogels lauscht, später zu seinem dete u. a. auf regelmäßigen Vorabpublikatio- Kloster zurückkehrt, um dort zu erfahren, nen seiner Romane u. Erzählungen in Zei- dass inzwischen viele Jahre vergangen sind, tungen u. Zeitschriften, etwa in Otto Jankes ist im SpätMA mehrfach bearbeitet worden. »Deutscher Roman-Zeitung«, der »Kölni- Die Erzählung ist erstmals als Exempel in den schen Zeitung« oder in der »Gartenlaube«, frz. Predigten des Maurice de Sully († 1190) seit den 1880er Jahren auch in Hermann belegt. Sie soll den Begriff der Ewigkeit verSchönleins »Bibliothek der Unterhaltung anschaulichen, der sich der menschl. Vorund des Wissens«. Die Verbreitung seiner stellungskraft entzieht. Werke erfolgte wesentlich über Leih- u. Die literarisch bedeutendste dt. Version ist Volksbibliotheken. Eine illustrierte, freilich die im Mitteldeutschen verfasste Erzählung stark gekürzte Gesamtausgabe erschien bald M. F. (380 Verse), die die Grundfabel ausnach seinem Tod, konnte aber aufgrund des schmückt, indem z.B. Felix auf einen über Ersten Weltkriegs keine Wirkung entfalten; 100-jährigen Mönch trifft, der sich noch aus danach geriet M. beim Lesepublikum in Ver- der Novizenzeit an ihn erinnert. Der Verfasgessenheit. Erste literaturwiss. Charakteri- ser dürfte Geistlicher gewesen sein; ob er sierungen zu M.s Lebzeiten verfassten Otto auch wie Felix Zisterzienser war, lässt sich
Mönch von Heilsbronn
nicht sicher sagen. Zwei wohl ältere, ebenfalls mitteldt. Versionen des Stoffs sind erhalten, eine nur fragmentarisch, eine andere eingeflochten in die Verserzählung Der Zweifler, die sich an ein adliges Publikum richtet, dem die Vergänglichkeit der Welt gepredigt wird. Vermittelt über auf Maurice zurückgehende Exempelsammlungen wurde der Stoff im 14. u. 15. Jh. mehrfach in Vers u. Prosa bearbeitet. Die Stofftradition reicht bis in die Moderne (u. a. Longfellow). Im 16. Jh. diente die Erzählung als Beispiel für kath. Irreführung in Hieronymus Rauschers Hundert [...] Papistische Lügen. Ausgaben: Erich Mai: Das mhd. Gedicht vom M. F. Bln. 1912 (wieder in: Röhrich 1962, s. u., S. 142–145). – C. v. Hardenberg: Geistl. Gedichte des 13. Jh. In: Germania 25 N. R. 13 (1880), S. 339–344 (›Zweifler‹). Literatur: Fritz Müller: Die Legende vom verzückten Mönch, den ein Vögelein in das Paradies leitet. Diss. Erlangen 1912. – Lutz Röhrich: Erzählungen des späten MA. Bd. 1, Bern/Mchn. 1962, S. 274–280 (Lit.). – Nigel F. Palmer: M. F. In: VL (Lit.; Nachweis weiterer Fassungen). Werner Williams-Krapp / Red.
Der Mönch von Heilsbronn, 14. Jh. – Verfasser geistlicher Traktate.
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zwei Handschriften u. einem Fragment überliefert. Das Buch von den sechs Namen des Fronleichnams hingegen war sehr beliebt, wie die 56 noch erhaltenen Textzeugen beweisen, die eine vornehmlich monast. Rezeption erkennen lassen. Es ist – um der größeren Wahrhaftigkeit willen, wie der Versprolog darlegt – in Prosa verfasst u. behandelt in sechs Teilen die sechs Namen des Fronleichnams: »Gutew genad (= Eucharistia), Gab, Speis, Gemainsam (= Communio), Opfer, Heilicheit (= Sacramentum)«. Jeder dieser Begriffe wird nach scholast. Methodik in Hinsicht auf seine Ursachen, Teile u. Bedingungen untersucht. Bes. ausführlich befasst sich der Mönch mit der »minne« Gottes u. des Menschen in ihren sechs Stufen, mit der Auslegung einer Allegorie auf das »chraut« u. mit vier Formen des Kontemplierens. Seinem Werk liegt der Eucharistietraktat De corpore Domini Alberts des Großen zugrunde; mögl. Bezüge zu anderen Quellen sind bisher nicht erforscht. Ausgaben: Der M. v. H. Hg. Johann Friedrich Ludwig Theodor Merzdorf. Bln. 1870. – Eucharistietraktat. Hg. Anton Birlinger. In: Alemannia 3 (1875), S. 108–119, 205–235. – Doris Asmussen: ›Das Buch der Sieben Grade‹ des M. v. H. [...]. Diss. Heidelb. 1965.
Literatur: Asmussen 1965 (s. o.). – Georg Steer: Am Ende zweier deutschsprachiger Traktate, M. v. H. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). die zuerst in Handschriften des späten 14. Jh. Sabine Schmolinsky / Red. überliefert sind, nennt sich der Verfasser ein »munich von Halsprunne«. Dass er daher dem Zisterzienserorden angehörte, bestätigt Der Mönch von Salzburg. – Liederdichsich in der Bezeichnung des hl. Bernhard als ter, zweite Hälfte des 14. Jh. seines Vaters (v. 1384 nach Asmussen). Ob er seinen Plan, ein Buch von der Minne zu schrei- »Mönch von Salzburg« oder schlicht »der ben, ausgeführt hat, ist unbekannt. münich«, »monachus« wird ein Autor geFür sein erstes Werk wird das Buch der Sieben nannt, von dem man lediglich weiß, dass er Grade gehalten, ein mystisch-aszet. Traktat in zur Zeit u. im Umkreis des Salzburger ErzPaarreimen (2312 Verse), der den in sieben bischofs Pilgrim II. von Puchheim Stufen sich vollziehenden Aufstieg der Seele (1365–1396) weltl. u. geistl. Lieder dichtete. zur »ainunge« mit Gott u. zum Absterben des Zwei Mariensequenzen sind Pilgrim bzw. Körpers sowie die begleitenden Gebete be- seinem Hofmeister Reicher von Radstadt geschreibt. Er richtet sich an alle Gläubigen u. widmet (G 2 u. 3, mit Namensakrosticha). Ein bes. an geistl. Personen; die eigene Erfahrung Lied gibt sich als 1387 ausgestellte Urkunde, des Verfassers endet allerdings vor der vierten in der 15 Angehörige des Salzburger Hofs Stufe, auf der gnadenhaft die Liebe Gottes in ihren Damen unverbrüchl. Treue erklären (W die Seele eintritt. Der Dichtung liegen ver- 19); ein anderes, das während eines unerfreul. mutlich Davids von Augsburg Sieben Staffeln Aufenthalts des Erzbischofs bei König Wendes Gebets als Gerüst zugrunde. Sie ist in nur zel IV. in Prag gedichtet sein soll, ist als Brief
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des »Pilgers« Pilgrim in »Senenstat« an sein »libstez E« im »Frëudensal« formuliert u. nach dem gleichnamigen Lustschloss bei Salzburg (heute Freisaal, Salzburg-Nonntal) betitelt (W 7, datiert 1392). In den widersprüchl. Angaben dreier Handschriften, der M. habe Hermann oder Johannes geheißen u. sei Benediktiner oder Dominikaner gewesen, steckt vielleicht ein authent. Kern. Einmal ist von einem Zusammenwirken mit dem »laypriester« Martin die Rede; es könnte sich um Pilgrims Küchenmeister handeln, doch bleibt offen, wie die Arbeitsteilung gegebenenfalls organisiert war. In Salzburg hatte wohl auch der ältere Jakob von Mühldorf gewirkt, dem die in G 5 übertragene Mariensequenz zugeschrieben wird. Peter von Sachs(en), der Partner eines Liedertauschs, von dem die Kolmarer Liederhandschrift (zu G 9) berichtet, ist nicht sicher identifizierbar. Eine zeitgenöss. oder direkt auf den M. zurückzuführende umfassende Sammlung des vielseitigen Liedschaffens, das mit seinem Namen verbunden wird, fehlt, u. sein Œuvre genau zu bestimmen, ist daher schwierig. Die Überlieferung setzt im letzten Drittel des 14. Jh. ein, ist weit gestreut u. für die geistl. Lieder sehr breit, aber überwiegend anonym. Die ältesten Belege für den Autornamen bietet um 1420 die Sterzinger Miszellaneen-Handschrift (zu W 15 u. 24). Erst kurz nach 1450 setzt die Corpusüberlieferung ein. Zentrale Bedeutung hat die Mondsee-Wiener Liederhandschrift, D (Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. 2856, Tl. II; mit Melodien), die 1472 der Salzburger Goldschmied Peter Spörl besaß; sie vereint geistl. Lieder mit einer großen Zahl vielfach nur hier bezeugter weltl. Lieder (darunter W 7 u. 19). Gerade D gibt freilich im Grundstock niemals den Dichternamen an. Doch ist ihr Repertoire nach Entstehungszeit u. -ort offenbar im Wesentlichen homogen. Drei der übrigen Corpushandschriften, die sich auf geistl. Lieder konzentrieren (ebenfalls mit Melodien), stammen vom zweiten der beiden Schreiber des D-Grundstocks oder zumindest aus demselben Skriptorium, in dem dieser tätig war (Schneider, Wachinger 1989). Am wichtigsten ist wegen ihres Umfangs u. der Ordnung nach themat. u. formalen Kriterien Handschrift A (München,
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Bayer. Staatsbibl., Cgm 715); die systemat. Anlage zog allerdings sekundäre Erweiterungen des überkommenen Bestands nach sich. Die weltl. Lieder (W 1–53, 54*-57*, meist dreistrophig) haben die Liebe zum Hauptthema, unterscheiden sich aber in Vokabular, Motiven u. Form beträchtlich vom Minnesang auch der Spätzeit. Die virtuosen Dialogszenen u. Tageliedvariationen W 1–5 gelten zus. mit dem Martinslied W 54* u. dem kleinen Martinskanon W 55* (beide aus dem Umkreis des M.?) als erste Zeugnisse weltl. Polyphonie in dt. Sprache; hinzu kommt W 31: ein großer dreistimmiger Kanon, dessen musikal. Vorlage eine frz. Chace bildete (März 1999). Zwei Formtypen herrschen vor: Lieder mit durchkomponierten Strophen, oft wahren Reimkaskaden, die eine Spezialität des M. zu sein scheinen (»Tenores«, März 1999), u. sprachlich-stilistisch weniger anspruchsvolle Refrainlieder mit dem Strophenbau aaBB (»Virelai-Balladen«, Willaert 1992), wie sie in dt. u. lat. Dichtung schon seit der ersten Hälfte des 14. Jh. en vogue waren. Die unstolligen Sonderformen einiger Lieder mit kürzerer zweiter Strophe könnten durch Rondeaux dt. Typs, die öfter gemeinsam mit Virelai-Balladen auftreten (Willaert), angeregt sein. Eine unstroph. Großform verwendet außer W 31 das Herbstlied W 47 über die vier Temperamente der Trunkenheit. Die geistl. Lieder (G 1–49) sind v. a. dem Marienpreis u. großen Festen des Kirchenjahrs gewidmet. Ein Novum stellen das umfängl. Corpus formgetreuer, sangbarer Übertragungen von lat. Sequenzen u. Hymnen (einige wohl nicht vom M.) u. die – in lat. Dichtung seit je beliebten – Neutextierungen von Sequenzmelodien dar. Das kunstvolle Goldene ABC (G 1), für das der M. wohl die in D u. A überlieferte Melodie selbst geschaffen hat, ist am ehesten hierher zu stellen, doch kann man darin zgl. einen Ausläufer der älteren dt. geistl. Leichdichtung sehen. Die zweite, kleinere Gruppe von Liedern (meist fünf- oder siebenstrophig) schließt an die dt. Tradition stolliger Strophenformen an; mehrfach hat der M. wiederum, einer im 14. Jh. geläufigen Praxis folgend, vorhandene Töne benutzt, so in G 20/38 (Minnelied XX
Mönch von Salzburg
Gottfrieds von Neifen), im Kalenderlied G 45 (Titurelstrophe), auch in dem lat. Lied G 9, mit dem er sich für den von Peter von Sachs(en) übersandten dt. Marienpreis revanchierte. Mit dieser Gruppe fand der M. Eingang in Meisterliedersammlungen des 15. Jh., v. a. in die Kolmarer Liederhandschrift. Am weitesten verbreitet war sein Tischsegen (G 42) in einfachen Reimpaarstrophen. Das heute noch gesungene Joseph, lieber nefe mein (G 22) u. das Passionslied G 24 sind vermutlich erst nachträglich in die M.-Überlieferung aufgenommen worden. Der M. ist für uns der bedeutendste Repräsentant der nichtmeisterl. Lieddichtung vor 1400. Welchen Einfluss er auf zeitgenöss. Autoren ausübte, ist kaum mehr festzustellen. Im 15. Jh. verdanken ihm jedenfalls Oswald von Wolkenstein u. Heinrich Laufenberg einige Anregungen. Sein Name blieb durch die Corpusüberlieferung, durch Drucke des Goldenen ABC (1473, ca. 1481/84), am kontinuierlichsten u. längsten aber in der meisterl. Liedtradition u. Literaturgeschichte lebendig. So erscheint er in den Sängerkatalogen Konrad Nachtigalls († 1484/85) u. eines Anonymus (RSM 6, Tüb. 1990, S. 252); Hans Folz († 1513) rühmt den M. zus. mit Frauenlob u. Heinrich von Mügeln u. dichtete Lieder in den Tönen von G 10/33/37 u. G 23 (»Langer Ton« bzw. »Chorweise«), die bis ins 17. Jh. von vielen, v. a. Nürnberger Meistersingern – allen voran Hans Sachs – verwendet wurden. Ausgaben: Die geistl. Lieder des M. v. S. Hg. Franz Viktor Spechtler. Bln./New York 1972 (= G; ohne Melodien); ergänzend Wachinger 1989 (s. Lit.), mit Neuausg. v. G 5. – Die weltl. Lieder des M. v. S. Texte u. Melodien. Hg. Christoph März. Tüb. 1999 (= W; mit Komm.). – Mondsee-Wiener Liederhs. [Faks.] Wiss. Komm. v. Hedwig Heger. Graz 1968. – Auswahl (mit Übersetzung): F. V. Spechtler, Michael Korth, Johannes Heimrath u. Norbert H. Ott: Der M. v. S., ich bin du u. du bist ich. Mchn. 1980 (mit Melodien). – Gedichte 1300–1500. Hg. Eva u. Hans-Jürgen Kiepe. Mchn. 1972 (22001), S. 149–168 (G 1, 11, 22, W 8, 22, 26, 47). – Dt. Lyrik des späten MA. Hg. Burghart Wachinger. Ffm. 2006 [Tb.-Ausg. in Vorb. für 2010], S. 490–536 (G 4, 12, 28, 47, 22, 24, W 2, 7, 11, 22, 38, 17, 47, 55*), S. 950–969 (Komm.). – Vorreformatorische Meisterlieder in Tönen des M.: Wachinger 1989, S. 159–197
278 (Ausg. bzw. Drucknachweis). – Melodien: Geistl. Gesänge des dt. MA. Hg. Max Lütolf u. a. Bd. 1–4. 6–7, Kassel u. a. 2003 ff. – Der M. v. S.: Die Melodien zu sämtl. geistl. u. weltl. Liedern. Hg. Hans Waechter u. F. V. Spechtler. Göpp. 2004. – Spruchsang. Die Melodien der Sangspruchdichter des 12. bis 15. Jh. Hg. Horst Brunner u. Karl-Günther Hartmann. Kassel u. a. (im Druck). Literatur: Friedrich Arnold Mayer u. Heinrich Rietsch: Die Mondsee-Wiener Liederhs. u. der M. v. S. 2 Tle., Bln. 1894/96. – Romuald Bauerreiß: Wer ist der ›M. v. S.‹? In: Studien u. Mitt.en zur Gesch. des Benediktinerordens 52 (1934), S. 204–220. – Norbert Richard Wolf: Über den ›M. v. S.‹. In: Germanist. Studien. Hg. Johannes Erben u. a. Innsbr. 1969, S. 41–73 (mit Reimregister). – George Fenwick Jones, Franz Viktor Spechtler u. Ulrich Müller (Hg.): Verskonkordanz zu den geistl. Liedern des M. v. S. Göpp. 1975. – Walter Röll: Redaktionelle Notizen in der [...] Überlieferung der Lieder des M. v. S. In: PBB 102 (1980), S. 215–231. – Manfred Zimmermann: Die Sterzinger Miszellaneen-Hs. Innsbr. 1980. – Christoph März: Ein dreistimmiger Satz des M. v. S. In: JOWG 1 (1980/ 81), S. 161–173. – Günther Bärnthaler: Übersetzen im dt. SpätMA. Göpp. 1983. – Horst Brunner: Tradition u. Innovation im Bereich der Liedtypen um 1400. In: Textsorten u. literar. Gattungen. Bln. 1983, S. 392–413. Wieder in: Ders.: Annäherungen. Bln. 2008, S. 246–263. – Ingo Reiffenstein: Übersetzungstypen im SpätMA. In: Lyrik des ausgehenden 14. u. des 15. Jh. Hg. F. V. Spechtler. Amsterd. 1984, S. 173–205. – Karin Schneider: Die dt. Hss. der Bayer. Staatsbibl. München. Cgm 691–867. Wiesb. 1984. – Renate Hausner: Thesen zur Funktion frühester weltl. Polyphonie im deutschsprachigen Raum. In: JOWG 3 (1984/85), S. 47–78. – Lorenz Welker: Das Taghorn des M. v. S. In: Schweizer Jb. für Musikwiss. N. F. 4/5 (1984/ 85), S. 41–61. – Burghart Wachinger: Martinslieder. In: VL. – Ders.: M. v. S. In: VL (grundlegend; mit Lit.). – Ders.: Mondsee-Wiener Liederhs. In: VL. – RSM 4. Bearb. v. Frieder Schanze u. B. Wachinger. Tüb. 1988, S. 353–371; ergänze: RSM 1, Tüb. 1994, S. 26. – Gisela Kornrumpf: Peter v. Sachsen. In: VL. – B. Wachinger: Der M. v. S. Tüb. 1989 (Lit.). – Frank Willaert: ›Dw welt dw ist an allen orten reinisch‹. Über die Verbreitung zweier rhein. Liedgattungen im SpätMA. In: ZfdPh 108 (1989), Sonderh. S. 156–171. – Norbert Haas: Trinklieder des dt. SpätMA. Göpp. 1991, S. 24–93 (zu W 47). – F. Willaert: Laatmiddeleeuwse danslyriek in een land zonder grens [...]. In: Niederlandistik u. Germanistik. FS Gerhard Worgt. Hg. Helga Hipp. Ffm. 1992, S. 157–168, bes. S. 160. – Johannes Rettel-
279 bach: Variation – Derivation – Imitation. Untersuchungen zu den Tönen der Sangspruchdichter u. Meistersinger. Tüb. 1993. – Martin Huber: Fingierte Performanz. Überlegungen zur Codifizierung spätmittelalterl. Liedkunst. In: ›Aufführung‹ u. ›Schrift‹ in MA u. Früher Neuzeit. Hg. Jan-Dirk Müller. Stgt./Weimar 1994, S. 93–106, 135 f. (zu W 1–5). – Max Schiendorfer: Drei Ostergesänge des M. v. S. (G 29, 30 u. 31) [...]. In: PBB 116 (1994), S. 37–65. – Dagmar Hirschberg: ›dy trumpet‹. In: Lied im dt. MA. Hg. Cyril Edwards u. a. Tüb. 1996, S. 203–216 (zu W 5). – Henriette Straub: ›Mundi renovatio‹ and ›Mittit ad virginem‹ translated by the ›Monk of S.‹ and Oswald v. Wolkenstein. In: JOWG 9 (1996/97), S. 509–522 (zu G 28 u. 13). – Andreas Kraß: Stabat mater dolorosa. Lat. Überlieferung u. volkssprachl. Übertragungen im dt. MA. Mchn. 1998, S. 234–244 (zu G 16). – Ders.: Eine unheilige Liturgie. Zur karnevalesken Poetik des Martinsliedes des ›M. v. S.‹. In: PBB 121 (1999), S. 75–102 (zu W 54*). – Ch. März 1999 (s. Ausgaben; mit Lit.). – B. Wachinger: Liebeslieder vom späten 12. bis zum frühen 16. Jh. In: MA u. frühe Neuzeit. Hg. Walter Haug. Tüb. 1999, S. 1–29. – Margarete Payer: Das religiöse Weltbild des M. v. S. in den geistl. Liedern G 33, 34, 37 u. 46. Göpp. 2000. – Michael Baldzuhn: Vom Sangspruch zum Meisterlied. Mchn. 2002, S. 370–376. – B. Wachinger: Gattungsprobleme beim geistl. Lied des 14. u. 15. Jh. In: Forsch.en zur dt. Lit. des SpätMA. FS Johannes Janota. Hg. H. Brunner u. a. Tüb. 2003, S. 93–107. – Heike Wennemuth: Vom lat. Hymnus zum dt. Kirchenlied. Zur Übersetzungs- u. Rezeptionsgesch. v. ›Christe qui lux es et dies‹. Tüb./Basel 2003 (zu G 43). – M. Baldzuhn: Teichnerreden u. Meisterlieder. In: ZfdA 133 (2004), S. 151–176, hier S. 152, 165 (zu G 10 u. 23). – Fritz Peter Knapp: Die Lit. des SpätMA in den Ländern Österr. [...]. II. Halbbd., Graz 2004, S. 448–478, 670 f. – Ch. März: M. v. S. In: 2MGG, Personenteil. – Ders.: ›Pange lingua per omnia verbo et melodia‹. Zu den Anfängen poet. Hymnennachbildung in dt. Sprache. In: Der lat. Hymnus im MA. Hg. Andreas Haug u. a. Kassel u. a. 2004, S. 279–299 (zu G 47 u. 40). – André Schnyder: Das geistl. Tagelied des späten MA u. der frühen Neuzeit. Tüb./Basel 2004, S. 278–281, 296–302 (zu G 46 u. 23). – Gert Hübner: Zur Rhetorik der Liebesklage im 15. Jh. In: Dt. Liebeslyrik im 15. u. 16. Jh. Hg. ders. Amsterd./ New York 2005, S. 83–117. – Bruno Quast: Vom Kult zur Kunst. Tüb. 2005, S. 141–166 (zu G 47 u. 5). – Hans Waechter: Die geistl. Lieder des M. v. S. Untersuchungen unter bes. Berücksichtigung der Melodien. Göpp. 2005. – F. V. Spechtler: Ges. Abh.en zur dt. Lit. des MA. Hg. Michaela Auer-Müller u. a. Göpp. 2006. – Wachinger 2006 (s. Ausgaben). –
Mönnich Franz-Josef Holznagel: ›Der Martin verkert, geistlich‹. Zum Trinklied W 54* des M. v. S. u. seinen geistl. Kontrafakturen [...]. In: ›Mit clebeworten underweben‹. FS Peter Kern. Hg. Thomas Bein u. a. Ffm. 2007, S. 193–212. – Nikolaus Henkel: Neues zum M. v. S. In: ZfdA 137 (2008), S. 377–386 (zu G 47). – Ludger Lieb: Innenräume der Dame. Imaginationen v. Präsenz in den Tageliedern des M. v. S. In: Innenräume in der Lit. des dt. MA. Hg. Burkhard Hasebrink u. a. Tüb. 2008, S. 267–293. – Christian Schneider: ›Hovezuht‹. Literar. Hofkultur u. höf. Lebensideal um [...] Erzbischof Pilgrim II. v. Salzburg. Heidelb. 2008 (Register). – RSM 2, 1 u. 2. Bearb. v. J. Rettelbach. Tüb. 2009. Gisela Kornrumpf
Mönnich, Horst, * 8.11.1918 Senftenberg/ Niederlausitz. – Erzähler, Reise- u. Sachbuch-, Hörspiel- u. Fernsehautor. Nach dem Abitur studierte M. Germanistik u. Zeitungswissenschaften in Berlin. Während des Krieges wurde er zunächst zum Arbeitsdienst, dann zur Luftwaffe herangezogen. Ab 1948 war er Redakteur beim Hamburger Sonntagsblatt. Seit Anfang der 1950er Jahre lebt M. als freier Schriftsteller in Breitenbrunn/Chiemsee. M. war Mitgl. der Gruppe 47. 1967 erhielt er den Hörspielpreis des NWDR, 1967/70 den Ernst-Reuter-Preis. Nach einer ersten Publikation noch während des Krieges (Russischer Sommer. Tagebuch eines jungen Soldaten. Riga 1944) wurde M. in der Nachkriegszeit v. a. durch seinen »Industrieroman« Die Autostadt (Mchn. 1951) über das Volkswagenwerk in Wolfsburg bekannt, dem ersten Versuch von »fact-fiction« in der Bundesrepublik. Das Buch, das bis 1969 in über 100.000 Exemplaren verlegt wurde, gilt als literar. Ausdruck des bundesdt. Wirtschaftswunders in den 1950er Jahren; »der Anreiz zum Erwerb eines Volkswagens [werde] das Ergebnis der Lektüre sein«, mutmaßte die »Zeit«. Bereits vor seinem Roman Erst die Toten haben ausgelernt (Braunschw. 1956) wandte sich M. in einem Reisebericht der Erkundung des geteilten Deutschland der Adenauer-Ära zu (Das Land ohne Träume. Reise durch die deutsche Wirklichkeit. Braunschw. 1954). Weitere Reiseberichte folgten in den 1960er Jahren (Reise durch Rußland. Ohne Plan im Land der Pläne. Mchn. 1961. Wiederbegeg-
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nung. Landschaften und Menschen jenseits der Zonengrenze. Mchn. 1964. Einreisegenehmigung. Ein Deutscher fährt nach Deutschland. Hbg. 1967). In den 1970er u. 1980er Jahren widmete sich M. erneut der Geschichte großer Industrieunternehmen, die er im Rahmen gesamteurop. Entwicklungen kritisch betrachtete; zu nennen ist hier v. a. die zweibändige Geschichte der Bayerischen Motorenwerke (BMW, eine Jahrhundertgeschichte; Bd. 1: Vor der Schallmauer, 1916–1945, Düsseld. 1983; Bd. 2: Der Turm, 1945–1972, Düsseld. 1986) von ihren Anfängen 1916 bis in die 1970er Jahre, von ihrer Entwicklung vom Flugzeugmotorenhersteller über die Verstrickungen in die NS-Kriegsindustrie hin zu einem internat. Konzern. Weitere Werke: Der Kuckucksruf. Wolfenb. 1951 (E.). – Von Menschen u. Städten. Mchn. 1955 (Reiseber.). – Der vierte Platz. Chronik einer westpreuß. Familie. Stgt. 1962. Mchn. 1982. – Wiederbegegnung. Deutschlands Mitte, Deutschlands Osten. Mchn. 1965 (Reiseber.). – Aufbruch ins Revier, Aufbruch nach Europa. Hoesch 1871–1971. Mchn. 1971. – Labyrinthe der Macht. Drei Gesch.n vom Kapital. Stinnes, Thyssen, Flick. Ffm. 1975. – Am Ende des Regenbogens. Mchn. 1980 (Hörspielslg.). – BMW. Eine dt. Gesch. Wien 1989. Mchn. 1991/ 2004. – Geboren Neunzehnhundertachtzehn. Von einem Ende zum anderen. Mchn. 1993. Christian Schwarz / Kai Sina
Mörike, Eduard (Friederich), * 8.9.1804 Ludwigsburg, † 4.6.1875 Stuttgart; Grabstätte: ebd., Pragfriedhof. – Lyriker u. Erzähler, Übersetzer. M. entstammte einer Familie, die zur Honoratiorenschicht des Landes Württemberg gehörte, 1817 durch den frühen Tod des Vaters, der in Ludwigsburg als Amtsarzt tätig gewesen war, jedoch in eine bedrängte Lage geriet. Trotz mäßiger schulischer Leistungen – ab 1811 auf der Ludwigsburger Lateinschule, 1817/18 auf dem Gymnasium illustre in Stuttgart – wurde M. für die geistl. Laufbahn bestimmt, die materielle Sicherheit versprach, u. absolvierte den dafür vorgeschriebenen Bildungsweg: Von 1818 bis 1822 besuchte er das Niedere theologische Seminar in Urach auf der Schwäbischen Alb, anschließend die Tübinger Universität. Schwer-
punkte der Studien waren neben der Theologie die alten Sprachen. In diesen Jahren gewann M. viele Freunde, von denen er manchen sein ganzes Leben hindurch verbunden blieb. Zu nennen sind insbes. Wilhelm Hartlaub, Johannes Mährlen, Ludwig Bauer – mit ihm erfand M. die von Märchengestalten bevölkerte Insel Orplid –, David Friedrich Strauß, der 1835/36 durch seine krit. Untersuchung Das Leben Jesu berühmt wurde, u. Friedrich Theodor Vischer, später Verfasser bedeutender philosophisch-ästhet. u. literaturwiss. Schriften. Von dem impulsiven Wilhelm Waiblinger sagte sich M. dagegen schweren Herzens los. 1823/24 stürzte ihn die Liebe zu der schwärmerischen Maria Meyer in eine tiefe Krise, die auch sein literar. Schaffen beeinflusste (in dieser Zeit entstanden die ersten Gedichte des Peregrina-Zyklus); die endgültige Trennung erfolgte nicht zuletzt unter dem Druck von M.s Familie. Nach dem Abschluss des Studiums im Herbst 1826 war M. jahrelang als Vikar u. Pfarramtsverweser an wechselnden Orten, darunter Köngen, Plattenhardt, Owen u. Ochsenwang, tätig. Wirklichen Enthusiasmus für das geistl. Amt entwickelte er nie, doch fehlte es an Alternativen – einen 1827/ 28 unternommenen Versuch, sich als freier Schriftsteller zu etablieren, gab er bald auf, weil er sich den Anforderungen einer solchen Existenz nicht gewachsen fühlte. 1829 ging M. eine Verlobung mit der Pfarrerstochter Luise Rau ein, die aber 1833 wieder gelöst wurde. 1834 erhielt er endlich eine feste Pfarrstelle in Cleversulzbach (nahe Heilbronn), wo er seine Mutter († 1841) u. seine jüngere Schwester Klara zu sich nahm. Dem idyllischen Bild, das er später in dem Gedicht Der alte Thurmhahn vom Leben in einem württembergischen Pfarrhaus entwarf, entsprach M.s Zeit in Cleversulzbach freilich nur sehr bedingt: Der Dichter war hypochondrisch veranlagt, kränkelte häufig u. empfand die Amtsgeschäfte, zumal das Predigen, als schwere Last. Schon 1843 ließ er sich pensionieren u. zog nach einigen Zwischenstationen mit Klara nach Bad Mergentheim, wo er in bescheidenen Verhältnissen sieben Jahre verlebte. 1851 heiratete er die Katholikin Margarethe Speeth u. siedelte mit ihr
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nach Stuttgart über, wo 1855 bzw. 1857 die Töchter Fanny u. Marie zur Welt kamen; nach wie vor blieb auch Klara ein festes Mitglied des Haushalts. Die Stuttgarter Jahre waren für M. zunächst eine glückl. Zeit. Bis 1866 erteilte er nebenher Literaturunterricht am Katharinenstift, u. als Poet erfuhr er wachsende Anerkennung: Er erhielt die Ehrendoktorwürde der Universität Tübingen (1852), den Professorentitel (1856) u. weitere Ehrungen, während sich sein Ruf allmählich über die Grenzen seiner schwäb. Heimat hinaus ausbreitete. Zudem kam er mit prominenten Dichterkollegen wie Theodor Storm, Paul Heyse u. Emanuel Geibel in Kontakt, u. auch zu dem Maler Moritz von Schwind ergab sich eine freundschaftl. Beziehung. M.s letzter Lebensabschnitt war allerdings wieder von gesundheitl. Problemen u. überdies von familiären Konflikten überschattet. Zunehmende Spannungen in seinem Dreiecksverhältnis mit Frau u. Schwester führten 1873 zur Trennung der Eheleute. Häufige Wohnungswechsel lassen die Unruhe des Dichters ahnen, der zeitweise in Lorch, dann in Nürtingen wohnte. 1875 starb M., kurz nach einer versöhnl. Wiederbegegnung mit seiner Frau, in Stuttgart. Die äußere Beschränkung dieses Lebens, das sich fast ausschließlich auf dem Boden Württembergs abspielte u. insg. sehr unauffällig verlief, entsprach durchaus den Bedürfnissen u. psych. Dispositionen M.s, der in seiner ausgeprägten Sensibilität jedes Übermaß an Eindrücken u. emotionaler Bewegung fürchtete u. eine starke Neigung zum Rückzug, zur Abschließung an den Tag legte. Einen gewissen Ausgleich schufen die engen familiären u. freundschaftl. Bindungen, die für ihn außerordentlich bedeutsam waren. Er pflegte sie u. a. in zahlreichen Briefen, die wichtige biogr. Dokumente darstellen, häufig aber auch kunstvoll stilisiert sind; das gilt gerade für die berühmten Liebesbriefe an Luise Rau. Öffentliche Auftritte u. polit. Engagement lagen M. nicht, doch darf seine Zurückhaltung nicht mit Weltfremdheit verwechselt werden; so verfolgte er die revolutionären Ereignisse von 1830 u. 1848 aufmerksam u. mit freudiger Erregung. Ganz bewusst verordnete er sich eine »diätetische«
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Lebensweise, die auch seine poet. Produktivität einschränkte. Bes. in den späten Jahren widmete er sich gerne Liebhabereien wie dem Töpfern oder dem Sammeln von Versteinerungen, die weniger Energie u. Konzentration erforderten. Sein literar. Werk ist daher vergleichsweise schmal: Es umfasst rd. 700 Gedichte, einen Roman, ein halbes Dutzend kürzerer Prosaerzählungen, das kleine Versepos Idylle vom Bodensee (1846), einige dramat. Fragmente – darunter das Libretto zu der märchenhaften Oper Die Regenbrüder, das M.s Freund Hermann Kurz in den 1830er Jahren auf Bitten des Dichters für ihn fertig stellte – sowie Übersetzungen von Gedichten aus der griech. u. röm. Antike (1840 erschien die Classische Blumenlese, 1855 die Sammlung Theokritos, Bion und Moschos, 1864 der Band Anakreon und die sogenannten anakreontischen Lieder). M. behandelte im Gegensatz zu den Autoren des Vormärz keine polit. oder sozialkrit. Themen u. mied auch histor. Stoffe. Er interessierte sich vorrangig für die psycholog. Durchdringung seiner Figuren u. die subtile Beobachtung u. Gestaltung von Gefühlsregungen, etwa im Zusammenhang mit Naturerlebnissen, wobei ihn Sensibilität u. Präzision der poet. Sprache in besonderem Maße auszeichnen. Begriffe wie Naivität oder Epigonentum, denen man in der älteren M.Forschung häufig begegnet, sind gänzlich ungeeignet, die Eigenart dieses Dichters zu erfassen. M.s Schaffen ist von einem hohen Grad an Bewusstheit geprägt, seine Texte erweisen sich fast durchweg als komplex angelegte u. sorgfältig geformte Gebilde – auch der scheinbar schlichte Volkston, der in manchen Gedichten u. im Stuttgarter Hutzelmännlein herrscht, ist das Produkt eines souveränen Kunstverstandes. Im Bereich der Erzählprosa zeigen Werke wie Der Schatz u. Das Stuttgarter Hutzelmännlein, die mit Fiktionsbrechungen u. unterschiedl. Erzählebenen arbeiten, wie weit der Verfasser von naivem Fabulieren entfernt ist. In seiner Lyrik schließt M. zwar vielfach an ältere literar. Traditionen an – von Bedeutung sind hier hauptsächlich die Dichtung der Antike u. die klassisch-romant. Epoche, daneben auch die Poesie des Rokoko –, entwickelt sie aber eigenständig weiter. Der reflektierte Traditi-
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onsbezug kann gelegentlich die Form der Parodie annehmen, wie es z.B. im Märchen vom sichern Mann geschieht, in dem u. a. das mythologisch-heroische Epos persifliert wird. Oft lässt sich in den Texten auch eine Ebene der – impliziten – poetolog. Reflexion ausmachen, so in dem »Inspirationsgedicht« An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang, das der Autor programmatisch an den Anfang seiner Lyriksammlung stellte. Die Bedingungen von Dichtung u. die Grundlagen der Kreativität werden von M. also im Medium der Poesie selbst thematisiert, während er sich sonst allenfalls sporadisch u. unsystematisch zu solchen Fragen äußerte. Seit jeher ist M. in erster Linie als Lyriker bekannt, u. auch die wiss. Forschung konzentrierte sich lange auf seine Gedichte. In den letzten 20 Jahren kam es jedoch zu einer Verschiebung der Schwerpunkte. Bes. Maler Nolten, M.s einziger Roman, wurde in diesem Zeitraum zum Gegenstand zahlreicher Studien, die auf Modelle der Psychoanalyse, der Diskursgeschichte u. der Zivilisationstheorie zurückgreifen u. das zuvor meist als düsteren Schicksalsroman in romantischer Tradition beurteilte Werk in ein ganz neues Licht gerückt haben. Maler Nolten entstand um 1830 u. erschien 1832, ohne bei den Zeitgenossen nennenswerte Resonanz zu finden. Der Protagonist Theobald Nolten, ein begabter junger Maler, steht zwischen drei Frauen, der geheimnisvollen Zigeunerin Elisabeth, der Förstertochter Agnes u. der Gräfin Constanze. Die fatalen Verwicklungen, die sich aus dieser Konstellation u. aus dem Eingreifen von Noltens wohlmeinendem Freund Larkens ergeben, führen am Ende zum Tod sämtlicher Hauptfiguren. Dargeboten wird das Geschehen in einer verschlungenen, aber sorgsam kalkulierten Form mit vielen Rückblenden u. Einschüben, zu denen zahlreiche Gedichte u. das kleine dramat. »Schattenspiel« Der lezte König von Orplid gehören. Die Protagonisten des Romans scheitern an psych. Konflikten, an dem Widerstreit zwischen leidenschaftl. Affekten u. verinnerlichter Selbstkontrolle. Die Kunst erscheint als Produkt einer Sublimierung verbotener Leidenschaften u. zgl. als Medium einer verhüllten Auseinandersetzung mit ihnen. In
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diesem Sinne lassen sich sowohl Noltens Gemälde, deren Schilderung den Roman eröffnet, als auch Larkens’ poet. Werke interpretieren; neben dem erwähnten Schattenspiel hat M. u. a. den Peregrina-Zyklus als Schöpfung von Larkens in den Text eingefügt. Maler Nolten führt das künstlerische Schaffen somit auf einen spezifisch bürgerl. seel. Habitus zurück – Psychologie u. Poetologie sind hier aufs Engste miteinander verflochten. Da letztlich keiner der Protagonisten eine stabile Identität auszubilden vermag, die die Ansprüche der Triebwelt mit den Geboten des Über-Ich u. den Normen der Gesellschaft vermitteln könnte, lässt sich M.s Werk auch als skeptischer Gegenentwurf zum Typus des Bildungsromans verstehen. Seine Radikalität scheint den Autor später selbst beunruhigt zu haben, denn seit den 1850er Jahren plagte er sich mit einer rigorosen Umarbeitung des Textes, mit der er die Thematik von Identitätskrisen u. seel. Konflikten tilgen wollte. Sie abzuschließen, war M. jedoch nicht mehr imstande; erst 1876 wurde die neue Fassung in einer von Julius Klaiber ergänzten Form veröffentlicht. Nach der Publikation des Maler Nolten u. dem frühen Abbruch eines weiteren Romanprojekts nahm M. nur noch kleinere Erzählwerke in Angriff. Lucie Gelmeroth (zuerst 1833 u. d. T. Miß Jenny Harrower) lehnt sich an das Schema der Kriminalnovelle an, zeigt sich aber vorrangig an der problematischen, überspannten Psyche der Titelheldin interessiert. In Der Schatz (1836) macht M., ausgehend von einer Märchenhandlung, in spielerischer Weise die Reflexion des Erzählvorgangs zum eigentl. Thema. Der Bauer und sein Sohn (1839), ursprünglich als Kalendergeschichte entworfen, kombiniert auf engstem Raum moralische Belehrung mit religiösen, fantast. u. kom. Elementen, während Die Hand der Jezerte (1853) in stilisierter Sprache u. vor einem exot. Hintergrund Fragen von Reinheit, Schuld u. Sühne behandelt. Sehr viel umfangreicher ist Das Stuttgarter Hutzelmännlein (1853), eine in kunstvoll archaisierender Diktion gehaltene märchenhafte Geschichte, die im Bild der Reise von der seel. Entwicklung u. der Selbstfindung des Schustergesellen Seppe erzählt; bes. bekannt
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wurde die eingefügte Historie von der schönen Lau, die um die Gestalt einer Wasserfrau im Blautopf bei Blaubeuren kreist. Den Gipfel von M.s Erzählkunst markiert jedoch die Novelle Mozart auf der Reise nach Prag (1855), eine kongeniale literar. Auseinandersetzung mit der Person des von M. zeitlebens verehrten Komponisten. Dank seiner episod. Struktur u. einer Vielstimmigkeit, die durch den mehrfachen Wechsel der Erzählinstanzen erzeugt wird, gelingt dem Text ein facettenreiches Bild von Mozart als Mensch u. Künstler. In einer Ausnahmesituation, während des kurzen Aufenthalts auf dem Schloss einer kunstsinnigen gräfl. Familie, erfährt das Genie jene Anerkennung u. gesellschaftl. Integration, die ihm sonst verwehrt bleiben. Mozarts Schöpfertum gründet in einer rückhaltlosen Verausgabung seiner Kräfte, die jeder vernünftigen Ökonomie widerspricht u. sein frühes Ende unausweichlich macht, weshalb die unbändige Lebenslust ebenso zu der Existenz des Komponisten gehört wie die melanchol. Todesahnung. Auch die Novelle selbst ist trotz der im Ganzen heiteren u. gelösten Atmosphäre mit dunklen Vorausdeutungen durchsetzt; ihren Höhepunkt bildet die improvisierte Darbietung des erschütternden Don Giovanni-Finales. Gedichte schrieb M. schon in seiner Uracher Zeit, erste Publikationen erfolgten 1828 im »Morgenblatt für gebildete Stände«. 1838 brachte der Stuttgarter Cotta-Verlag einen Band Gedichte heraus, der 1848, 1856 u. 1867 weitere, jeweils gründlich bearbeitete u. erweiterte Auflagen erfuhr. Viele von M.s lyr. Werken wurden jedoch zu seinen Lebzeiten nicht gedruckt, teils weil sie seinen ästhet. Maßstäben nicht genügten, teils weil sie nicht für das breite Publikum bestimmt waren, sondern als Gelegenheitsgedichte verschiedenster Art in den Rahmen der privaten, freundschaftlich-geselligen Kommunikation gehörten. M.s Lyrik weist eine erstaunl. Vielfalt an Themen, Formen u. Tonlagen auf. In formaler Hinsicht dominieren einerseits liedhafte Reimstrophen, andererseits – seit Mitte der 1830er Jahre – antike Metren wie Hexameter, Distichon u. Senar, doch hat M. beispielsweise auch das Sonett erprobt, vornehmlich in seinen 1830 entstandenen Ge-
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dichten für Luise Rau. Thematisch herrschen Liebes- u. Naturgedichte vor. Die Werke der 1820er Jahre gestalten zwiespältige Liebeserfahrungen, oft verbunden mit dem Motiv der Untreue u. der Trennung (Nächtliche Fahrt, Peregrina-Zyklus), sowie schwärmerische Naturerlebnisse, zgl. aber die Unmöglichkeit einer Verschmelzung mit der Natur (Besuch in Urach, Mein Fluß); es zeigt sich eine auffallende Vorliebe für Erinnerungen, Träume u. ambivalente Grenz- u. Übergangssituationen (Erinnerung. An C.N., An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang, Um Mitternacht, Septembermorgen, Im Frühling). Später trachtete M. nach einer distanzierteren Bewältigung seiner Hauptthemen, wobei er sich vorzugsweise antikisierender Formen bediente: Spielerisch u. souverän werden erot. Genüsse verherrlicht (Leichte Beute, Götterwink), die Natur präsentiert sich deutlicher als stilisiertes Artefakt (Auf eine Christblume, Die schöne Buche). Auch Rollengedichte nutzte M., um Phänomene, die ihn persönlich stark berührten, gleichsam auf Abstand zu bringen (Der Gärtner, Das verlassene Mägdlein). Prägende Charakterzüge des Verfassers spiegeln sich in Gedichten, die von Rückzug u. Bescheidung sprechen (Verborgenheit, Gebet) oder wehmütige Erinnerungen gestalten (An eine Äolsharfe, Ach nur einmal noch im Leben!); das Memento mori kommt, kunstvoll durchgeformt, ebenfalls zu seinem Recht (Denk’ es, o Seele!, Erinna an Sappho). M. schrieb Gedichte auf Poeten, die er schätzte (Theokrit, Tibullus, Brockes, An eine Lieblingsbuche meines Gartens, in deren Stamm ich Hölty’s Namen schnitt), u. auf – fiktive – Kunstwerke, die einer subtilen u. vielschichtigen Deutung unterzogen werden (Göttliche Reminiscenz, Auf eine Lampe). Nur selten begab sich der Dichter auf das Gebiet der Ballade, wo er zumeist fantastische u. märchenhafte Stoffe wählte (Der Feuerreiter, Die traurige Krönung, Die Geister am Mummelsee). Beträchtlich ist dagegen die Zahl seiner humorist. Texte, die sehr unterschiedl. Nuancen des Komischen entfalten, bisweilen menschl. Fehlverhalten satirisch angreifen (An Longus), überwiegend aber von versöhnl. Heiterkeit geprägt sind (Waldplage, Der Petrefaktensammler, Häusliche Scene). Groteske, handfeste Komik bestimmt das Märchen vom sichern Mann,
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u. die Unsinnspoesie der »Wispeliaden« verdankt sich der Freude an Sprachspiel u. Parodie. Die häufig vertretene Einschätzung, M.s schöpferische Kraft habe nach der Jahrhundertmitte nachgelassen, wird relativiert, wenn man die Gelegenheitslyrik, von der ein großer Teil in seine späteren Jahre gehört, als vollwertigen Bestandteil des Werkes anerkennt. M. schrieb Gedichte zu besonderen Anlässen, lyr. Danksagungen u. Widmungen, aber auch Verse über Begebenheiten in der Familie oder im Freundeskreis, mit denen er nach einer verklärenden Poetisierung des alltägl. Lebens strebte. Die meisten dieser Texte existierten nur handschriftlich, einige fanden Eingang in die Gedichtausgabe (z.B. An Gretchen). Aber auch mit seinen gedruckten Gedichten erzielte M. keine sonderl. Publikumserfolge. Erst nach u. nach sorgten insbes. die zahlreichen Vertonungen – u. a. durch Robert Schumann, Johannes Brahms u. Hugo Wolf – für eine größere Popularität seiner Lyrik. Weitere Werke: Jb. schwäb. Dichter u. Novellisten. Stgt. 1836 (hg. zus. mit Wilhelm Zimmermann). – Iris. Eine Slg. erzählender u. dramat. Dichtungen. Stgt. 1839. – Vier Erzählungen. Stgt. 1856. Ausgaben: Werke. Hg. Harry Maync. 3 Bde., Lpz. 21914. – Sämtl. Werke. Hg. Herbert G. Göpfert. Mchn. 1954. – Sämtl. Werke, Briefe. Ausg. in 3 Bdn. Hg. Gerhart Baumann. Stgt. 1959–61. – Werke u. Briefe. Hist.-krit. Gesamtausg. Hg. HansHenrik Krummacher u. a. 20 Bde. geplant, Stgt. 1967 ff. – Sämtl. Werke. Hg. Jost Perfahl. 2 Bde., Mchn. 1970. Literatur: Gesamtdarstellungen und Sammelbände: Harry Maync: E. M. Sein Leben u. Dichten. Stgt. 5 1944. – Benno v. Wiese: E. M. Tüb./Stgt. 1950. – Gerhard Storz: E. M. Stgt. 1967. – Hans Egon Holthusen: E. M. Reinb. 1971. – Victor G. Doerksen (Hg.): E. M. Darmst. 1975. – Reiner Wild (Hg.): ›Der Sonnenblume gleich steht mein Gemüthe offen‹. Neue Studien zum Werk E. M.s. St. Ingbert 1997. – Mathias Mayer: E. M. Stgt. 1998. – Ders. (Hg.): Gedichte v. E. M. Stgt. 1999. – Wolfgang Braungart u. Ralf Simon (Hg.): E. M. Ästhetik u. Geselligkeit. Tüb. 2004. – Inge u. R. Wild (Hg.): M.-Hdb. Leben – Werk – Wirkung. Stgt./Weimar 2004. – Zur Biografie: Hans-Ulrich Simon: M.-Chronik. Stgt. 1981. – Peter Lahnstein: E. M. Leben u. Milieu eines Dichters. Mchn. 1986. – Veronika Beci: E. M. Die gestörte Idylle. Biogr. Düsseld./Zürich 2004. – Eh-
284 renfried Kluckert: E. M. Sein Leben u. Werk. Köln 2004. – M. Mayer: M. u. Peregrina. Geheimnis einer Liebe. Mchn. 2004. – Udo Quak: E. M. Reines Gold der Phantasie. Eine Biogr. Bln. 2004. – Gattungen und einzelne Werke: Horst Steinmetz: E. M.s Erzählungen. Stgt. 1969. – Dagmar Barnouw: Entzückte Anschauung. Sprache u. Realität in der Lyrik E. M.s. Mchn. 1971. – Renate v. Heydebrand: E. M.s Gedichtwerk. Beschreibung u. Deutung der Formenvielfalt u. ihrer Entwicklung. Stgt. 1972. – Herbert Bruch: Faszination u. Abwehr. Historischpsycholog. Studien zu E. M.s Roman ›Maler Nolten‹. Stgt. 1992. – Ulrich Hötzer: M.s heiml. Modernität. Tüb. 1998. – Ulrich Kittstein: Zivilisation u. Kunst. Eine Untersuchung zu E. M.s ›Maler Nolten‹. St. Ingbert 2001. – Frank Vögele: Leben als Hochseilakt. Studien zu E. M.s Erzählung ›Das Stuttgarter Hutzelmännlein‹. St. Ingbert 2005. – Hans Richard Brittnacher: Zigeunerinnen, Eros u. Schicksal in M.s ›Maler Nolten‹. In: JbDSG 50 (2006), S. 263–285. – W. Braungart: Tod u. Kunst, Geist u. Bewusstsein: zu E. M.s ›Erinna an Sappho‹. In: OGS 36 (2007), S. 76–96. – Rolf Eichhorn: M.s Dinggedichte. Das schöne Sein der Dinge; Interpr. u. Deutung. Marburg 2007. – Peter v. Matt: Dichten in der Niemandszeit: die Aufhebung der bürgerl. Ordnung in M.s Gedicht. In: Ders.: Das Wilde u. die Ordnung: zur dt. Lit. Mchn. 2007, S. 162–179. – Burkhard Moennighoff: E. M., Wispel: Sonderling u. Sprachspieler. In: Literar. Figuren: Spiegelungen des Lebens. Hg. Hans-Herbert Wintgens. Hildesh. 2007, S. 73–87. – Günter Karrasch: M. auf der Reise zu sich selbst: Halbheit, Übermaß u. Vollendung als kunstpsycholog. Motive in der Erzählung ›Mozart auf der Reise nach Prag‹. In: Von Goethe zu Krolow. Analysen u. Interpr.en zu dt. Lit. Hg. Heinz-Peter Niewerth. Ffm. u. a. 2008, S. 57–72. – Einzelaspekte: S. S. Prawer: M. u. seine Leser. Versuch einer Wirkungsgesch. Stgt. 1960. – Hans-Joachim Erwe: Musik nach E. M. 2 Bde., Hbg. 1987. – Susanne Fliegner: Der Dichter u. die Dilettanten. E. M. u. die bürgerl. Geselligkeitskultur des 19. Jh. Stgt. 1991. – Thomas Wolf: Brüder, Geister u. Fossilien. E. M.s Erfahrungen der Umwelt. Tüb. 2001. – Bernhard Böschenstein: E. M., ein Dichter zwischen den Zeiten. In: OGS 36 (2007), S. 9–20. – Hermann Bausinger: Gespräch u. Selbstgespräch. E. M. als Briefschreiber. In: JbDSG 52 (2008), S. 673–686. Ulrich Kittstein
Moers, Hermann, * 31.1.1930 Köln. – Dramatiker, Hörspielautor, Erzähler. M. absolvierte bei den Kölner Ford-Werken eine kaufmänn. Ausbildung; daraufhin war
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Weitere Werke: Mein Freund Daniel. Güterser als Angestellter dort tätig. Gleichzeitig machte er das Dolmetscher-Examen (Eng- loh 1955 (R.). – Meine Einstellung zum Theater. In: lisch) u. auf dem zweiten Bildungsweg das [Programmheft des Staatstheaters Braunschweig] Abitur. Mitte der 1950er Jahre trat M. mit Zur Zeit der Distelblüte. Braunschw. [1958]. – Ausgangspunkte. Ebd. literar. Werken an die Öffentlichkeit, seit Literatur: Andreas Meyer: Kriminalhörspiele 1984 lebt er nach Aufenthalten in der Eifel u. 1924–94. Eine Dokumentation. Potsdam 1998. – Berlin als freier Schriftsteller im bayerischen Wolf Gerhard Schmidt: Zwischen Antimoderne u. Geiselhöring. Postmoderne. Das dt. Drama u. Theater der NachSchwerpunkte seines Œuvres waren zu- kriegszeit im internat. Kontext. Stgt./Weimar nächst – abgesehen von dem Roman Liebes- 2009. Wolf Gerhard Schmidt läufe (Köln/Bln. 1963) – das poet. Drama (Beginn der Badesaison. Köln-Marienburg [1961]. Im Haus des Riesen. Köln-Marienburg [ca. Moers, Walter, * 24.5.1957 Mönchenglad1961]. Der Fremdenführer. Köln [ca. 1975]) so- bach. – Comiczeichner, Romanautor. wie das sozialkrit. Hörspiel (Der Sprachkurs. SDR 1963. Unblutige Beute. SWF 1979). Später Geboren in Mönchengladbach, begann M. widmete er sich v. a. dem Kinderbuch (Kat- nach humanist. Gymnasialausbildung u. rinchen in der Kiste. Reinb. 1988. Timo reist nach kaufmänn. Lehre als Autodidakt zu zeichnen Ganzwoanders. Gossau/Zürich 2002). M. er- u. zu schreiben. Seit Mitte der 1980er Jahre hielt 1958 den Förderpreis für Literatur des veröffentlicht er subversive Bildergeschichten, seit der Jahrtausendwende auch fantast. Landes Nordrhein-Westfalen u. 1960 den Romane für Kinder u. Erwachsene. Infolge Gerhart-Hauptmann-Preis. seiner bewusst respektlosen u. politisch inSein bedeutendstes Werk ist das Schauspiel korrekten Comics wird M. einerseits in Zur Zeit der Distelblüte (Urauff. Bochum 1958, rechtsradikalen Kreisen, andererseits in KirDruck: Köln 1962). M. zeigt hier »die Ähnchenkreisen angefeindet. Als Reaktion auf lichkeit der menschlichen Situation« mit der anonyme Drohungen lebt er vollständig zu»von Gefangenen« (Anmerkungen [1958]) – rückgezogen teils in Deutschland, teils in den jedoch als existentielles Faktum (Vorbilder USA. Neuere Fotografien existieren nicht; die sind Sartres Huis clos u. Genets Haute surveil(seltenen) Interviews führt M. per E-Mail. lance). Das eine Anstalt umgebende MauerUnter den Comics am bekanntesten sind werk ist für fünf Sträflinge, die Nummern die Bände um das Kleine Arschloch, die Serie statt Namen tragen, unüberwindbar. Zum um Adolf u. die Figur des Alten Sacks; ebenso Hoffnungsschimmer avanciert eine blühende die Bildergeschichte Fönig: Subversion u. Distel, die aus einer Mauerritze wächst. Im Provokation herrschen in ihnen ebenso vor Vertrauen auf das Zukunftszeichen revoltie- wie politische, sexuelle u. altersbedingte Taren die Insassen, die Blume wird jedoch zer- bus. stört. Als man den Schlüsselbund des AufseDurch die Romane hingegen ziehen sich hers erhält, muss man feststellen, dass damit intertextuelle u. intermediale Bezüge zum nur die eigenen Zellen zu öffnen sind. Ein literarischen u. filmischen Kanon, außerdem Ausgang existiert nicht. Zwar emanzipiert intratextuelle Verweise auf Figuren u. Resich M. in seinen Nachkriegsdramen von quisiten des fiktiven Kontinents Zamonien, realist. Dramaturgie, um zur Beschwörung auf dem die Geschichten mehrheitlich angedessen zu gelangen, »was seiner Natur nach siedelt sind: so Die 13 1/2 Leben des Käpt’n unsichtbar ist«. Der Nonsens der modernen Blaubär (Ffm. 1999 u. ö., zuletzt 2006. HörWelt wird aber nicht wie im absurden Theater buch Ffm. 2002 u. 2006), Ensel und Krete (Ffm. alogisch gestaltet, sondern der Autor versucht 2000 u. ö. Hörbuch Ffm. 2001 u. ö.), Rumo & performativ gegen die Sinnlosigkeit anzu- Die Wunder im Dunkeln (Mchn. 2003 u. ö. kämpfen – »unter Bewahrung des ›Spiels‹« u. Hörbuch Hbg. 2004 u. 2008), Die Stadt der »mit aller mimischen Kraft« (Meine Einstellung träumenden Bücher (Mchn./Zürich 2004 u. ö. zum Theater [1958], s. u.). Hörbuch Hbg. 2005 u. 2008) u. Der Schreck-
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senmeister (Mchn. 2007 u. ö. Hörbuch Hbg. 2008). Hier hat sich M. ein fantasievoll u. detailreich ausgestaltetes, von Chimären bevölkertes Reich mit eigener Sprache geschaffen: dem Zamonischen, als dessen Übersetzer er im Spiel mit verschiedenen Erzählinstanzen gern in Erscheinung tritt. Außerhalb der Zamonien-Reihe steht die Künstlergeschichte Wilde Reise durch die Nacht (Ffm. 2001 u. ö., zuletzt Mchn. 2003. Hörbuch Ffm. 2002. 2006), ein »romantisches Kunstmärchen« (»FAZ«) u. zgl. eine Hommage an Gustave Doré. M.’ Helden, allen voran der 1988 für die Sendung mit der Maus erdachte Publikumsliebling Käpt’n Blaubär, stehen inzwischen im Zentrum eines schwer überschaubaren multimedialen Verbundsystems, das neben Comic u. Roman auch Kino, DVD, Fernsehen, Musical, Hörspiel, Musik-CD, Musikvideo u. Podcast u. sogar pädagog. Literatur für Kinder umfasst. Zudem mehren unzählige, mit den beliebten Figuren versehene Merchandising-Artikel den kommerziellen Erfolg u. werden innerhalb der Fangemeinde, meist online, als Sammlerstücke gehandelt. Auch Um- u. Fortschreibungen der Geschichten sowie parodistische, pseudophilologische Abhandlungen über M.’ Romane finden regen Anklang im Internet. Literatur: Das ist wahre Liebe. W. M. im Interview mit Claus Philipp. In: 1000 u. 1 Buch 4 (2004), S. 20–24. – Jan-Martin Altgeld: Intertextualität u. Intermedialität in W. M.’ ›Wilde Reise durch die Nacht‹ u. ›Die Stadt der träumenden Bücher‹. Bln. 2008. Kathrin Klohs
Moeschlin, Felix, * 31.7.1882 Basel, † 4.10.1969 Basel. – Erzähler, Dramatiker, Essayist. Der Sohn eines protestant. Lehrers u. einer tief religiösen kath. Bauerntochter hatte von Anfang an große innere Spannungen zu überwinden. Er wollte Mönch werden, studierte dann aber 1901–1904 in Basel Botanik u. Geologie, ging kurz vor der Promotion zur Nationalökonomie über, brach auch dieses Studium vorzeitig ab u. arbeitete als freier Journalist in Berlin u. in Schweden, ehe er sich 1908, nach der Veröffentlichung seines
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Schwedischen Notizbuches durch die »Neue Zürcher Zeitung« u. auf Anregung von deren Redakteur Fritz Marti, ganz der erzählenden Literatur zuwandte. Der Roman Die Königschmieds (Bln. 1909. Horw 1933), angesiedelt im Herkunftsland von M.s mütterl. Vorfahren, im Leimental bei Basel, verfolgt den unaufhaltsamen Niedergang der im Titel genannten Bauernfamilie von 1855 bis 1900 u. dokumentiert die Loslösung des Autors vom als lebensfeindlich empfundenen Katholizismus. Diesem pessimist. Bauernroman ließ M. den autobiografischen u. von der zeitgenöss. Kritik als unausgegoren abgelehnten, sozialpolitisch brisanten Künstlerroman Hermann Hitz (Bln. 1910. Zürich/Lpz. 1920) folgen, ehe er sich mit dem Amerika-Johann (Lpz. 1912. Neuausg. Horw 1933. Zürich 1939. 1981) erneut dem Bauernroman zuwandte. Das Werk entstand 1910/11 in Stenbacken am schwed. Siljansee, wo M. zu jener Zeit mit seiner Frau, der schwed. Malerin Elsa Hammar, lebte. Es beschreibt die Rückkehr eines Amerika-Auswanderers in sein schwedisches Heimatdorf u. die Verwicklungen u. Probleme, die entstehen, als dieser der archaischen Dorfgemeinschaft zunächst die industrielle Produktionsmethode u. später den Tourismus als zeitgemäße Verdienstquellen schmackhaft machen will. Schließlich erschlagen die um ihren Besitz betrogenen Bauern den Mann, der den Zeitgeist in ihr Dorf brachte, u. wenden sich in gemeinsamer Anstrengung einer modernen landwirtschaftl. Methode zu, die sie wirtschaftlich unabhängig machen wird. Obwohl M. mit dem in fünf Sprachen übersetzten histor. Roman Der schöne Fersen (Zürich u. a. 1937), der Lebensgeschichte des schwedischen Marschalls Hans Axel von Fersen, sowie mit der episch-histor. Recherche über den Bau des Gotthard-Tunnels, Wir durchbohren den Gotthard (2 Bde., Zürich 1947–49. In einem Bd., Zürich 1957. Zuletzt 1965), nochmals großes Aufsehen erregte, blieb er im Verständnis der Zeitgenossen als Schriftsteller dennoch in erster Linie der Verfasser des Amerika-Johann. Wie diesem Werk haftet auch seinem übrigen Schaffen, v. a. aber seinen essayist. Publikationen, häufig etwas Missionarisches, Weltverbesserli-
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ches an, das sich niemals exakt auf eine zeit- Möser, Albert (Georg Friedrich), * 7.5.1835 genössische polit. Richtung festschreiben ließ Göttingen, † 27.2.1900 Striesen bei Dresu., ohne je wirklich zur Synthese zu ver- den. – Lyriker, Übersetzer. schmelzen, bürgerlich-traditionelle, sozialist. Der Sohn eines Jägerbataillonskorporals stuu. faschist. Ideen in eine Art »dritten Weg« dierte Jura u. Philologie in Göttingen u. war einbringen wollte. Wie gefährdet diese Posidann im (ungeliebten) Schuldienst tätig (1883 tion war, zeigt u. a. M.s künstlerisch fragOberlehrer, 1895 Professor, 1897 Ruhestand). würdiger Roman Barbar und Römer (Bern Schopenhauers Philosophie bestimmte das 1931), der die Begeisterung für Mussolini, für klassizistisch ausgerichtete Werk des weltabdessen Heroenkult u. Landwirtschaftspolitik gewandt lebenden M. inhaltlich. Seinen Pesnur mühsam zu kaschieren vermag. Während simismus teilte er mit Hamerling, mit dem er seine Versuche, die Arbeitslosigkeit durch im Briefwechsel stand u. der sein dichterieine organisierte Auswanderung nach Brasisches Vorbild war neben Platen, dem er in lien zu bekämpfen (Weltkolonisation! Auswanseiner eleganten Handhabung sapphischer derung! Basel 1934), letztlich ebenso wirStrophen, der Kanzonen- u. Sonettform kungslos blieben wie sein direktes polit. Ennacheiferte (Gedichte. Lpz. 1865. Hbg. 31890. gagement als Nationalrat des »Landesrings Nacht und Sterne. Halle 1872. Schauen und der Unabhängigen« (1940–1947), hatte seine Schaffen. Stgt. 1881). M.s Lyrik weist einen nebenamtl. Tätigkeit als Präsident des eleg. Grundton auf. Er trat auch als feinfühSchweizerischen Schriftstellervereins (SSV) liger Übersetzer aus dem Italienischen u. 1924–1942 fatale Folgen für das SelbstverFlämischen hervor. ständnis u. das Ansehen der zeitgenöss. Weitere Werke: Neue Sonette. Lpz. 1866. – Das Schweizer Literatur. Schon im Herbst 1933 Dresdener Hoftheater 1862–69. Dresden 1869. – erreichte er in Berlin die Gleichstellung von Idyllen. Halle 1875. – Singen u. Sagen. Hbg. 1889. – SSV u. Reichsschrifttumskammer, u. in den Aus der Mansarde. Bremen 1893 (L.). folgenden Jahren war er hauptverantwortlich Literatur: Thomas A. Keck: A. M.s Baudelairefür jene mit der Fremdenpolizei koordinierte Nachdichtung im ›Bildersaal der Weltliteratur‹. In: Politik seines Vereins, die die schweizerische Weltlit. in dt. Versanthologien des 19. Jh. Bln. Literaturproduktion mithilfe von Internie- 1996, S. 521–536. Christian Schwarz / Red. rungen, Schreibverboten u. Ausweisungen vor der Konkurrenz der ungleich potenteren dt. Exilliteratur schützen wollte. Möser, Justus, * 14.12.1720 Osnabrück, M. war Ehrendoktor der Universität Zürich † 8.1.1794 Osnabrück; Grabstätte: ebd., (1933) u. Träger des großen Literaturpreises St. Marienkirche. – Jurist, Historiker, der Stadt Zürich (1936). Weitere Werke: Schalkhafte Gesch.n. Frauenfeld 1916. – Die Revolution des Herzens. Zürich 1918 (D.). – Der glückl. Sommer. Lpz. 1920 (R.). – Wachtmeister Vögeli. Lpz. 1922 (R.). – Die Vision auf dem Lofot. Zürich 1926 (R.). – Eidgenöss. Glossen. Erlenbach/Zürich 1929. – Ich bin dein u. du bist mein. Briefw. mit Elsa Hammar. Zürich 1955. – Nachlass: Univ.-Bibl. Basel. Literatur: Louis Wiesmann: F. M. In: 17 Basler Autoren. Basel 1963. – Egon Wilhelm: F. M. Nachw. zu F. M.: ›Der Amerika-Johann‹. In: Frühling der Gegenwart. Hg. Charles Linsmayer. Bd. 16, Zürich 1981, S. 299–323. – Christof Wamister: F. M. Diss. Basel/Bern 1982. Charles Linsmayer / Red.
Schriftsteller.
M.s Vater Johann Zacharias Möser war Kanzleidirektor u. Konsistorialpräsident in Osnabrück; die Mutter war die Tochter eines Ratsmitglieds u. zeitweiligen Bürgermeisters. Nach dem Besuch des Ratsgymnasiums in Osnabrück studierte M. von 1740 bis 1743 in Jena u. Göttingen die Rechte. Schon 1741 zum Sekretär der Osnabrücker Ritterschaft bestimmt, trat er sein Amt 1744 an. Der freiberufl. Advokat wurde 1747 Advocatus patriae, d.h. Vertreter des Staats in Rechtsangelegenheiten, u. 1756 auch Syndikus der Ritterschaft. Während des Siebenjährigen Kriegs führte er die Kontributionsverhandlungen mit den jeweils das Fürstbistum Os-
Möser
nabrück besetzenden Armeen. Lange Reisen in die wechselnden Hauptquartiere wurden nötig, zuletzt nach London 1763/64. Aufgrund der verfassungsrechtl. Konstruktion des Fürstbistums, der sog. Alternativsukzession, nach der abwechselnd ein katholischer u. ein evangelischer – aus dem Hause Braunschweig-Lüneburg stammender – Fürstbischof das Hochstift regierten, bestimmte Georg III. von England 1763 seinen halbjährigen Sohn Friedrich von York zum Nachfolger des 1761 verstorbenen kath. Fürstbischofs u. Kurerzbischofs von Köln Clemens August von Bayern. Während Friedrichs Minderjährigkeit nahm M. eine herausragende Stellung in der Osnabrücker Politik ein. Bereits 1764 zum Konsulenten der Regierung ernannt, lag die Regierung des Hochstifts de facto in seinen Händen, zumal die ihm vorgesetzten Geheimen Räte als Landfremde mit den einheimischen Rechten nicht vertraut waren. Als Schriftsteller begann M. mit Gelegenheitsdichtungen. Ernsthaftere Formen nahm sein Bemühen um sprachl. Ausdruck an, als er im Jan. 1743 Mitgl. der Deutschen Gesellschaft in Göttingen wurde. 1746 gab er in Hannover u. Göttingen die Moralische Wochenschrift »Ein Wochenblatt« heraus, die 1747 u. d. T. Versuch einiger Gemählde von den Sitten unsrer Zeit (Hann.) als Buch erschien. Mit 15 Stücken beteiligt war M. an der Fortsetzung des Wochenblatts »Die Deutsche Zuschauerin« (Buchausgabe mit einer Vorrede 1748). Sowohl die Casualgedichte M.s als auch seine Wochenschriftenbeiträge zeigen wenig eigenes Profil. Originell dagegen ist M.s Schrift Harlekin, oder Vertheidigung des Groteske-Komischen (o. O. 1761. Neue, verb. Aufl. Bremen 1777), in der die komische Figur auf der Bühne gegen die Angriffe Gottscheds witzig gerechtfertigt wird: Besonders ihn, Harlekin, liebe das Volk. Lessing beruft sich in der Hamburgischen Dramaturgie auf diesen Monolog des Harlekin, der auch von Herder u. Goethe zitiert wird. Als Nachspiel schrieb M. 1763 die Komödie Die Tugend auf der Schaubühne, oder: Harlekins Heirath (Bln. 1798. Mikrofiche-Ausg. Mchn. 1994). M. hat sich zeitlebens für die Geschichte u. Bräuche seiner westfäl. Heimat interessiert,
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die er bis in die Zeit des Tacitus meinte zurückverfolgen zu können. 1749 erschien das Trauerspiel Arminius (Hann./Gött.) u. die Schrift De veterum Germanorum et Gallorum theologia mystica et populari (Osnabr.). Die bedeutende Vorrede seiner Osnabrückischen Geschichte (Osnabr. 1768), die sich an der organisch aufgefassten politisch-wirtschaftl. Entwicklung des Territoriums orientiert, wurde u. d. T. Deutsche Geschichte von Herder in die Programmschrift der Sturm-und-Drang-Bewegung (Von deutscher Art und Kunst, 1773) aufgenommen. Der Aufsatz Von dem Faustrechte (in: Intelligenzblatt, Osnabr., April 1770) beeinflusste Goethe bei der Abfassung des Götz von Berlichingen. Das literarische Hauptwerk M.s ist die von seiner Tochter Jenny von Voigts herausgegebene Sammlung Patriotische Phantasien (4 Bde., Bln. 1774–86), die 287 Aufsätze aus den Beilagen der von M. redigierten »Wöchentlichen Osnabrückischen Anzeigen« enthält. M.s unverwechselbare Manier der unterhaltend dargebotenen Belehrung u. Erklärung ökonomischer u. polit. Zusammenhänge, der psycholog. Einsicht in privates u. gesellschaftl. Verhalten beeindruckte die Zeitgenossen stark, zumal die Darlegungen realitätsbezogen u. in Stil u. literarischer Form variantenreich waren. Goethe würdigte sie eingehend in Dichtung und Wahrheit. Eine Reihe dieser oft humorvollen u. klugen Beiträge diente dazu, notwendige Maßnahmen der Regierung den Lesern vorzustellen. In letzter Zeit hat sich die Forschung auch M.s – bisher weitgehend ungedruckten – amtl. Schriften u. seinem polit. Wirken verstärkt zugewandt. Seit 1768 veröffentlichte M. seine Osnabrückische Geschichte (2. Aufl. u. 2. Bd. 1780, 3. Bd. postum 1824). Anstelle einer bis dahin üblichen Orientierung an Haupt- u. Staatsaktionen verfolgte er darin die mittelalterl. Rechtsentwicklung. Bis weit ins 19. Jh. hinein galt die Osnabrückische Geschichte nicht allein als exemplarische regionale Sozialgeschichte, sondern auch als Vorstufe nationaler Historiografie. M. gab 1781 auf die Schrift Friedrichs II. zur dt. Literatur von 1780, die einseitig das Vorbild der frz. Sprache empfahl, die souve-
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räne Antwort Über die deutsche Sprache und Lit- Mentalität u. soziale Frage im Fürstbistum Osnateratur (Osnabr.): Kultur beruhe nicht auf der brück zwischen Aufklärung u. Säkularisation. Nachahmung fremder Regeln, sondern auf Münster 1995. – Karl H. L. Welker: Rechtsgesch. als der Entfaltung der eigenen Art. Mit der Rechtspolitik. J. M. als Jurist u. Staatsmann. Osnabr. 1996. – Stefan Efler: Der Einfluß J. M.s auf das Französischen Revolution setzte sich M. kripoet. Werk Goethes. Hann. 1999. – Ottilie J. J. tisch auseinander: Es gebe zwar eine Gleich- Domack: Vorarbeit für eine hist.-krit. Ausg. der heit von Natur aus u. vor Gott, der Staat je- ›Patriotischen Phantasien‹ v. J. M. Editionsmodell doch bedürfe einer ständischen Differenzie- demonstriert an zehn ›Phantasien‹. Ffm. u. a. 2004. rung. – Karl H. L. Welker: Vom Ursprung der anwaltl. Als Jurist u. Landespolitiker blieb M. auf- Selbstverwaltung. J. M. u. die Advokatur. Gött. geklärter, wirklichkeitsorientierter Patriot, 2007. – Periodikum: M.-Forum. Bd. 1 (1989); Bd. 2 der sich in Respekt vor den geschichtlich ge- (1994); Bd. 3 (2002); Bd. 4 (in Vorb.). Winfried Woesler wachsenen Verhältnissen u. Institutionen für das Wohl der Menschen des Fürstbistums einsetzte. Er gilt aufgrund seiner Ge- Mohn, Friedrich F., * 25.1.1762 Velbert im schichtsauffassung als Wegbereiter des His- Bergischen, † um 1830 Duisburg. – torismus. Theologe u. Lyriker. M.s intensive u. verständnisvolle Auseinandersetzung mit den polit. Institutionen des Über M.s Lebensumstände ist wenig bekannt: Alten Reichs ließ ihn seit dem Vormärz als Um 1796 war er Prediger in Ratingen; der Vordenker des Konservatismus erscheinen. Gemeinde von Maastricht/Niederlande stand Zgl. öffnete sein Konzept eines Patriotismus, er seit 1803 vor. Einige Jahre später avancierte der auf das Engagement des Einzelnen setzte, er zum Superintendenten von Duisburg. M.s Schriften dienen hauptsächlich der dem bürgerl. Zeitalter den Weg. moralischen u. religiösen Erneuerung, ohne Ausgaben: Sämtl. Werke. Hist.-krit. Ausg. in 14 jedoch pietistisch-erbaulich zu wirken. NeBdn. Hg. v. der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Oldenb. u. a. 1943–90. – Briefw. Neu ben Gedichten mit pädagog. Impetus (Goldebearb. v. William F. Sheldon in Zusammenarbeit nes A.B.C. der Ehe. Düsseld. o. J.) veröffentlichte mit Horst-Rüdiger Jarck, Theodor Penners u. Gisela er auch das Niederrheinische Taschenbuch für Liebhaber des Schönen und Guten (6 Bde., DüsWagner. Hann. 1992. Literatur: Bibliografie: M.-Bibliogr. 1730–1990. seld. 1799–1803 u. 1805). Er verfasste Lieder Hg. Winfried Woesler. Tüb. 1997. – Forschungsbe- für den Gemeindegottesdienst, die überrerichte: Gisela Wagner: Zum Stand der Möserfor- gional allerdings kaum rezipiert wurden schung (Juli 1981). In: Osnabrücker Mitteilungen (Chorgesangbüchlein zur Verschönerung der evan87 (1981) S. 114–136. – Monografien: Joachim Run- gelischen Gottesverehrung. Hamm 1824). Der ge: J. M.s Gewerbetheorie u. Gewerbepolitik im konservative Grundtenor seiner Lyrik findet Fürstbistum Osnabrück in der zweiten Hälfte des sich ebenso in den seelsorglich orientierten 18. Jh. Bln. 1966. – Reinhard Renger: Landesherr u. Werken (Denkmahl, aufgerichtet über den Gräbern Landstände im Hochstift Osnabrück in der Mitte meiner Frühverklärten. Düsseld. 1796. Die Götter des 18. Jh. Gött. 1968. – William F. Sheldon: The der Erde sind Menschen. eine Gedächtnißrede auf Intellectual Development of J. M. The Growth of a German Patriot. Osnabr. 1970. – Peter Schmidt: Se. Durchl. Karl Theodor. Düsseld. 1799) u. Studien zu J. M. als Historiker. Göpp. 1975. – Jean Predigten (Ueber den Einfluß des evangelischen Moes: J. M. et la France. Habil. Metz 1981. Osnabr. Lehramts auf das Wohl des Staats. Düsseld. 2 1990. – Jan Schröder: J. M. als Jurist. Köln u. a. 1805). Gerda Riedl / Red. 1986. – Jonathan B. Knudsen: J. M. and the German Enlightenment. Cambridge u. a. 1986. – Renate Stauf: J. M.s Konzept einer dt. Nationalidentität. Mit einem Ausblick auf Goethe. Tüb. 1991. – ›Patriotische Phantasien‹. J. M. 1720–1794. Aufklärer in der Ständegesellschaft (Kat. bearb. v. Henning Buck). Bramsche 1994. – Manfred Rudersdorf: ›Das Glück der Bettler‹. J. M. u. die Welt der Armen.
Mohr, Joseph (Franz), * 11.12.1792 Salzburg, † 5.12.1848 Wagrain/Pongau; Grabstätte: ebd. – Gelegenheitsdichter. Der Sohn eines Musketiers wurde nach dem Theologiestudium an der Universität Salz-
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burg 1815 zum Priester geweiht u. war anschließend Hilfsprediger, v. a. im Erzbistum Salzburg. 1837 wurde er als Vikar nach Wagrain berufen. Während seiner Tätigkeit in Oberndorf bei Salzburg dichtete M. am 24.12.1818 sein dreistrophiges Weihnachtslied Stille Nacht! Heilige Nacht!, das bekannteste in dt. Sprache. Das Lied wurde noch am gleichen Tag von M.s Freund, dem Volksschullehrer u. Kirchenmusiker Franz Xaver Gruber, in Musik gesetzt u. bei der Christmette durch den dortigen Kirchenchor dargeboten. Von hier aus trat es seinen Siegeszug um die Welt an; es zählt zu den beliebtesten Kirchenliedern nicht nur der kath. Gemeinde. M. hat weitere Dichtungen nicht veröffentlicht. Literatur: Wolfgang Herbst: Stille Nacht! Heilige Nacht! Die Erfolgsgesch. eines Weihnachtsliedes. Zürich/Mainz 2002. – Rebecca Schmidt: Gegen den Reiz der Neuheit. Kath. Restauration im 19. Jh. Tüb. 2005. Christian Schwarz / Red.
Mohr, Max (Ludwig), * 17.10.1891 Würzburg, † 13.11.1937 Schanghai. – Dramatiker u. Erzähler, Vertreter des Expressionismus u. der Neuen Sachlichkeit. M. entstammte einer jüd. Malzfabrikantenfamilie aus Würzburg. Er bezeichnete sich selbst als »konfessionslos«, doch 1934 musste er wegen seines jüd. Glaubens emigrieren. M. studierte Medizin u. zog, nachdem er aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, mit seiner Familie nach Rottach am Tegernsee. Immer wieder zog es ihn in die Großstadt Berlin, wo er den Großteil seiner Theaterstücke u. Romane schrieb. 1927 lernte M. den engl. Schriftsteller D. H. Lawrence kennen, zu dem sich eine tiefe Freundschaft entwickelte. M. sah sich als Schüler von Lawrence, u. als dieser 1930 in Vence starb, ließ sich M. bei der Uraufführung seines Stücks Die Welt der Enkel am Würzburger Stadttheater entschuldigen. Ein Jahr später erschien M.s Roman Die Freundschaft von Ladiz (Mchn.), den er seinem verstorbenen Freund widmete. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten sah sich M. zunehmend seiner Lebensgrundlage beraubt, denn Schmähschriften richteten sich gegen »nichtarische« Ärzte, seine Texte
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wurden verbrannt u. sein Roman Die Heidin (Mchn. 1929) auf die »Liste des unerwünschten und schädlichen Schrifttums« gesetzt. Am 8.11.1934 ging er in Hamburg an Bord der »Saarbrücken«, die ihn nach Schanghai brachte. Seine Familie blieb in Rottach zurück. Die Arbeit als Allgemeinmediziner u. »ausgewiesener Spezialist für psychologische und neurologische Krankheiten« in Schanghai ließ ihm nur wenig Zeit zum Schreiben. So blieb Das Einhorn Fragment u. wurde erst 60 Jahre nach seinem Tod von seinem Enkel veröffentlicht (Bonn). Die Mehrzahl der Texte von M. erschien zwischen 1921 u. 1932. In seinen Werken finden sich Elemente des Expressionismus, wie in den frühen Gedichten Sonette eines Infanteristen/Sonette nach durchlesenen Nächten im Unterstand (1914/17, Privatdruck), in denen er Zeugnis von seinen Kriegserlebnissen ablegt. Ebenso nimmt er in seinen frühen Dramen Themen des Expressionismus auf, wie den Vater-Kind-Konflikt, etwa in Improvisationen im Juni (1922) oder Der Arbeiter Esau (1923). Der Drang nach Freiheit u. die Flucht aus gesellschaftl. u. persönl. Fesseln spielt in den Dramen Improvisationen im Juni u. Das gelbe Zelt (1923) eine wesentl. Rolle. Der junge Dramatiker M. sieht in der jungen Generation die Leitfiguren für Aufbruch u. Zukunft. Erst das Stück Die Welt der Enkel vermittelt eine andere Sicht. Hier verkörpern die Enkel Eigenschaften der neuen großstädt. Welt, die M. stets kritisch hinterfragt. Oberflächlich, hohl u. ohne jegl. Spur von Selbstkritik streben sie Zielen u. vermeintl. Idealen nach, die M. ironisch in ihrer Fragwürdigkeit entblößt. In diesem Stück verleiht M. seiner Zivilisationskritik Ausdruck, die sein Werk wie ein roter Faden durchzieht. Eindrucksvoll schildert er den Kontrast zwischen Natur u. Zivilisation in seinem Schauspiel Ramper, das 1930 gleichzeitig in Hamburg am ThaliaTheater, an den Stadttheatern Mainz u. Bochum u. am Badischen Landestheater in Karlsruhe uraufgeführt wurde. Die Kritik an der Zivilisation u. am Leben in der Großstadt ist ein wiederkehrendes Motiv in M.s Texten u. wird in unterschiedl. Weise thematisiert. Hatte in dem Roman Die Heidin das Element der Vereinsamung eine bes. Beachtung ge-
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funden, so wird in den Romanen Die Freund- Molitor, Molitoris, Ulrich, * um 1442 schaft von Ladiz u. Frau ohne Reue (Bln. 1933) die Konstanz, † 1507. – Juristischer SchriftVermassung der Menschen stärker hervorge- steller. hoben. Nahezu alle Figuren in seinen Texten befinden sich auf der Suche. Sie ist die An- M. studierte die Rechte in Basel u. Pavia (dort triebskraft in ihrem Leben, mögen sich die 1470 Doctor decretorum) u. betätigte sich in Rom u. bei der Konstanzer Kurie als Anwalt Ziele auch voneinander unterscheiden. M.s Dramen u. Romane waren zu seinen u. Prokurator; später war er am Hof zu Lebzeiten einem breiten Publikum bekannt, Innsbruck u. auf Betreiben Kaiser Maximilidoch nach seinem Tod verschwand sein Werk ans am Reichskammergericht tätig. Literarisch ist M. mit dem Traktat De lamiis aus dem literar. Bewusstsein der Öffentlichkeit. 1992 erschien sein Roman Venus in den [laniis] et phitonicis mulieribus (Reutl. 1489 Fischen (Mönchengladbach) u. zwei Jahre gedr. v. Johann Otmar. Zahlreiche weitere lat. später Frau ohne Reue (Aachen) in einer Neu- u. dt. Ausg.n u. d. T. Von den Unholden und auflage. Zu seinem 100. Geburtstag erinnerte Hexen) hervorgetreten. Die Schrift, ein ErzCarl-Ludwig Reichert mit einer Hörspielfas- herzog Sigismund von Tirol in der geläufigen sung von Ramper an M., u. das Münchener Form eines fiktiven Disputs erstattetes Literaturarchiv »Monacensia« präsentierte Rechtsgutachten, weist M. als einen zwar 1998 eine Ausstellung zum Leben u. Werk des wenig eigenständigen, aber doch wirkungsvergessenen Schriftstellers. 1992 brachte die kräftigen Streiter gegen den Hexenwahn aus, Berliner Freie Volksbühne das einstige Er- der v. a. unter protestant. Theologen Gehör folgsstück um den Flieger Ramper auf die finden sollte. Detailreich u. mit Beispielen Bühne, weitere Inszenierungen folgten in aus der Gerichtspraxis unterlegt, behandelt München u. Linz. 2002 inszenierte Reinhard der Hexentraktat die Befähigung von Teufel Mahlberg Ramper am Theater Chambinzky in u. Hexe zur Missetat, den Hexenflug, die Tierverwandlung sowie den Hexensabbat u. Würzburg. Weitere Werke: Frau Marie’s Gast. Mchn. 1920 die Wahrsagerei. Eine Vielzahl der den Hexen (R.). – Die Dadakratie. Bln. 1920 (Kom.). – Gregor angelasteten Vergehen erkennt M. als von Rosso. Bln. 1921 (D.). – Sirill am Wrack. Mchn. teufl. List u. Verblendung hervorgerufene 1923 (Kom.). – Die Karawane. Mchn. 1924 (Kom.). – Fantasiegebilde – ohne Gottes Zustimmung Pimpus u. Caxa. Dt. Urauff. Dresden 1924 (Kom.). – können Teufel u. Hexe kein Übel herbeifühPlatingruben in Tulpin. Mchn. 1926 (Kom.). – Der ren. Rechtsgrund für die nach weltl. Recht Kalteisergeist. Mchn. 1931 (Volksstück). – Hansen verwirkte Todesstrafe bleibt der von den u. Jansen. Mchn. 1931. 21935 (Kom.). – Die Sonette Hexen verübte Abfall von Gott u. der Pakt mit vom neuen Noah. Chemnitz 1932. – Der Engel mit dem roten Bart. In: Bibl. der Unterhaltung u. des dem Teufel, doch zweifelt M. am Beweiswert erfolterter Geständnisse. In Form einer geWissens, 59. Jg., Bd. 5 (1935), S. 5–15 (N.). Literatur: Lieber keinen Kompass als einen träumten lat. Gerichtskomödie warnt M. vor falschen. Würzburg – Wolfsgrub – Shanghai. Der schismat. Zuständen in Konstanz mit dem Schriftsteller M. M. (1891–1937). Hg. Carl-Ludwig nach 1474 entstandenen Text Somnium coReichert. Mchn. 1997. – Barbara Pittner: M. M. u. moediae electionis Constantiensis reverendissimi die literar. Moderne. Aachen 1998. – Jana Schind- patris et domini. Die Schrift Lantfrids auch ettliler: Der Theaterdichter M. M. – gefeiert u. verges- cher camergerichtlicher artikel und zu dyser zeit sen. Ein Beitr. zur Theatergesch. der Weimarer lantleuffiger hendel disputirung (Nürnb. 1501) Republik. Mchn. LMU, Magister-Arbeit 2001. beruht auf dem Wormser Landfrieden von Barbara Pittner 1495 u. behandelt in Gestalt eines Dialogs zwischen dem Autor u. seinem Sohn Fragen des Kriegs u. des Regierungsstils. Ausgaben: U. M. Schr.en. Hg. Jörg Mauz SJ. Konstanz 1997. – U. M.: Von Unholden u. Hexen. Neuübertragung aus dem Frühneuhochdeutschen. Diedorf 2008.
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Literatur: Wolfgang Ziegeler: Möglichkeiten der Kritik am Hexen- u. Zauberwesen im ausgehenden MA. Zeitgenöss. Stimmen u. ihre soziale Zugehörigkeit. Köln u. a. 1973. – Jörg Mauz SJ: U. M. aus Konstanz (ca. 1442–1507) Diss. Konstanz 1983. – Gerd Schwerhoff: Rationalität u. Wahn. Zum gelehrten Diskurs über die Hexen in der frühen Neuzeit. In: Saeculum 37 (1986), S. 45–82. – Peter Assion: U. M. In: VL. – Martina Deter: U. Molitoris u. Johannes Geiler v. Kaisersberg u. die Anfänge des Hexenwahns in Dtschld. 1988 (Magister-Schr., Univ. Hamburg). – J. Mauz SJ: U. M. Ein süddt. Humanist u. Rechtsgelehrter. Wien 1992. – Jürgen Beyer: U. M. In: EM. – Edward Beyer: U. M. (1442–1508). In: Encyclopedia of Witchcraft. The Western Tradition. Hg. Richard M. Golden. Bd. 3, Santa Barbara u. a. 2006, S. 776 f.
vacaneum est iudicare« (darüber ein Urteil zu fällen, ist überflüssig). Weitere Werke: Procerum mundi index insignium. Das ist: Ein Anzeige u. Auflösung aller [...] Wapen [...]. Magdeb. 1655. – Viridarium epistolicum [...]. Magdeb. u. a. 1655. – Praxis epistolica [...]. Wolfenb. 1663 u. ö. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Bruno Markwardt: Gesch. der dt. Poetik. Bd. 1: Barock u. Frühaufklärung. Bln. 31964, S. 98 ff., 376 f. – Reinhard M. G. Nickisch: Die Stilprinzipien in den dt. Briefstellern des 17. u. 18. Jh. Gött. 1969, S. 70–72. – Heiduk/Neumeister, S. 69 f., 207 f., 414 f. – HKJL, Bd. 2, Sp. 1603–1605. Volker Meid / Red.
Moller, Möller, Gertraud, Gertrud, * 14.10. 1637 (1641?) Königsberg, † 16.2.1705 Moller, Alhard(us), * um 1630 Bremen. – Königsberg; Grabstätte: ebd., Dom. – Jurist; Verfasser von Ratgebern u. Gele- Lyrikerin. genheitsgedichten. Stefan Christoph Saar
Über M.s Leben ist wenig bekannt. Von 1653 an studierte er Jura in Helmstedt; 1663 wird er als »Käyserl. Immatriculirter Notarius«, 1668 noch dazu als »Advocatus« bezeichnet. Konstant blieb seine Verbindung mit den Buchhändlern u. Verlegern Christian Gerlach u. Simon Beckenstein, die u. a. in Magdeburg u. Frankfurt zusammenarbeiteten. M. verfasste eine Reihe zum Teil mehrfach aufgelegter Ratgeber (Wappenbuch, Briefsteller, christl. Verhaltenslehre), zu denen auch das Tyrocinium poeseos teutonicae, das ist: Eine [...] Einleitung zur deutschen Verß- und Reim-kunst (Braunschw. 1656) gehört, eine am Vorbild Zesens (»als welches Schüler ich mich erkenne«) ausgerichtete Metrik. Auch seine dichterischen Versuche sind zweckbezogen. So bringt sein Christ-adelicher Tugend-Wandel (Ffm. 1668) kurioserweise einen Anhang mit 200 Leberreimen – zur situationsgerechten Anwendung »in Anwesenheit vornehmer Gesellschafft«. Ein kleiner Gedichtband, der einen Topos der Gelegenheitsdichtung durchspielt, enthält Gedichte auf »alle [...] gemein-gebräuch- und im Jahr-Buuch befindliche Tauf- und Vornahmen« (Binde-Lust und Namen-Freüde [...]. Braunschw. 1656). Neumeister urteilte 1695: »De hoc super-
Die Tochter des Königsberger Logik- u. Metaphysikprofessors Michael Eifler erhielt eine vielseitige Ausbildung im Elternhaus. 1656 heiratete sie den Arzt Peter Moller; aus der Ehe gingen fünfzehn Kinder hervor. M. war eine der wenigen gefeierten Dichterinnen ihrer Zeit. 1671 erhielt sie in Nürnberg durch Sigmund von Birken die Würde einer kaiserlich gekrönten Poetin; als »Mornille« wurde sie in den Pegnesischen Blumenorden aufgenommen u. hatte Kontakt zu Dach, Donat, Kempe, Kongehl, Röhring u. Zamehl. Ihre Beisetzung fand auf kgl. Kosten statt. M.s dichterisches Werk besteht aus religiösen Liedern u. weltl. Gelegenheitsgedichten in schlichter, aber formbewusster Sprache. Ein Teil ihrer nur spärlich überlieferten Gedichte ist zusammengestellt in den (z.T. nicht mehr auffindbaren) Sammlungen: Parnaß-Blumen, oder geist- und weltliche Lieder (mit Melodien von Johann Sebastiani. 2 Tle. mit 127 Liedern, 22 Schäfergedichten. Hbg. 1672), Gedichte (Königsb. 1692), Geistliche Oden (Königsb. 1696) u. Kräuter- und Blumengarten aus den Sonn- und Festtäglichen Evangelien (Königsb. 1704). Gesondert hat M. in mehreren kleinen Bänden über 300 geistl. Sonette zusammengestellt (z.B. Das Wort des Vaters in der Krippe. Königsb. 1692. Geistliche Sonette. Königsb. 1693. Der aufferstandene und gen Himmel gefahrene Jesus. Königsb. 1694. Jesus meine Liebe.
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Königsb. o. J. Die wunder-vollen Liebes-Werke des DreyEinigen großen Gottes [...]. Königsb. o. J.). Ein Drama, Die Geburt des Heilandes (Königsb. o. J.), ist ebenfalls nicht mehr aufzufinden. In einem Sammelband der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin (Yi 7100.48) sind 99 Gelegenheitsgedichte M.s auf Mitglieder des brandenburgischen Hauses vereinigt (etliche ediert in: VD 17). Literatur: Bibliografien: VD 17. – Jürgensen, S. 397–399. – Weitere Titel: Michael Schreiber: Unverwelcklicher Lorbeer-Krantz [...]. Königsb. 1705 (Trauerschr.). – L. H. Fischer: Ein Königsberger Gedicht in niederdt. Mundart [...]. In: Jb. des Vereins für niederdt. Sprachforsch. 12 (1886), S. 141 f. – Ernst Kaminski: G. M., die Pregelhirtin. In: Altpreuß. Monatsschr. 57 (1920), S. 171–209, 217–234. – Hw. Heincke: G. M. In: Altpr. Biogr., Bd. 2, S. 444. – Heiduk/Neumeister, S. 69, 207, 414. – Jean M. Woods u. Maria Fürstenwald: Schriftstellerinnen, Künstlerinnen [...]. Stgt. 1984, S. 70 f. – DBA. – Beatrix Adolphi-Gralke: G. Möller, ›des Ordens Ehren=Preis›‹. In: Pegnes. Blumenorden in Nürnberg. Nürnb. 1994, S. 35–40. – Die Dt. Akademie des 17. Jh. Fruchtbringende Gesellsch. Krit. Ausg. [...]. R. II, Abt. C, Bd.1. Hg. Martin Bircher u. a. Tüb. 1997, Register. – Werner Braun: Thöne u. Melodeyen, Arien u. Canzonetten [...]. Tüb. 2004, Register. – Linda Maria Koldau: Frauen, Musik, Kultur. Ein Hdb. zum dt. Sprachgebiet der Frühen Neuzeit. Köln u. a. 2005, Register. – Jürgensen, S. 395–399 u. Register (G. Eifler). – Flood, Poets laureate, Bd. 3, S. 1367–1369 u. Register. – Die Pegnitz-Schäferinnen. Eine Anth. Zusammengestellt u. mit einer Einl. vers. v. Ralf Schuster. Vorw. v. Hartmut Laufhütte. Passau 2009. Renate Jürgensen / Red.
Moller, Möller, Heinrich, * 1528 Witzenhausen/Werra, † 1567 Danzig. – Neulateinischer Dichter. Der Hesse M. (daher stets: Hessus) studierte seit April 1546 an den Universitäten Rostock (erhalten ist eine Elegie auf die Stadt) u. Wittenberg u. wurde Lehrer an westpreuß. Gymnasien in Culm u. Danzig, wo er 1567 als Rektor des Instituts gestorben ist; nach 1554 wurde er, bald als Erzieher der Söhne König Gustavs I. Vasa, schwedischer Hofdichter. Das poet. Repertoire ist nicht ungewöhnlich (Elegiae panegyricae; Gedicht auf den Tod Melanchthons. Internet-Ed.: CAMENA),
in einigen Teilen von Rang: Carminum sacrorum libri tres (Danzig 1564), mit Versifizierungen alttestamentl. Cantica u. neutestamentl. Glaubensstücke in der Tradition Adam Sibers, u. das allegorisierende (Ursus Finlandicus, Aquila Polonica) Aulaeum Gratiarum (»Musen-Teppich«. Königsb. 1562) anlässlich der Hochzeit des luth. finnländ. Herzogs Johann (des späteren Königs Johann III. von Schweden) u. der kath. poln. Prinzessin Catharina Jagellonica: »the real inaugurator of neolatin poetry in Sweden« (Öberg, S. 454). Literatur: Ellinger 2, S. 285–289. – Jan Öberg: Neolatin Poetry in 16th- and 17th-Century Sweden. In: Acta conventus neo-latini Lovaniensis. Löwen/ Mchn. 1973, S. 453–466. – VD 16 (unter ›Möller‹). – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1370. Reinhard Düchting / Red.
Moller, Mollerus, Möller, Martin, * 9. oder 10.(?)11.1547 Kropstädt (damals Leisnitz) bei Wittenberg, † 2.3.1606 Görlitz. – Einflussreicher spätreformatorischer Erbauungsschriftsteller. Aus ärml. Verhältnissen stammend, erhielt M. doch eine gediegene Schulbildung zunächst an der Wittenberger Lateinschule, von 1566–1568 an dem Gymnasium Augustum Gorlicensis, das als Gelehrtenschule erst im Jahr zuvor von dem bedeutenden Schulreformer Petrus Vincentius neu gegründet worden war. Diese Schule ist für M. von größter Bedeutung gewesen, musste sie ihm doch die akadem. Ausbildung ersetzen. Tatsächlich bot sie zumindest in den letzten Klassen, die M. durchlaufen haben muss, den Kanon einer vollwertigen Artistenfakultät. Die von Vincentius entworfene Schulordnung atmete reinsten melanchthonischen Geist: Doctrina (Lehre, Wissen) u. disciplina oder virtus (Tugend) gehören zusammen, nur gemeinsam könnten sie den Menschen zur Vereinigung mit Gott, seinem höchsten Ziel, führen. Dazu dient auch das Studium, das deshalb als Gottesdienst zu verstehen ist. Bedeutenden Einfluss auf M. während seiner Görlitzer Schulzeit u. darüber hinaus hatte der (Kon-)Rektor Laurentius Ludovicus. Er erteilte den Religionsunterricht (auf der Grundlage von Melanchthons Examen ordi-
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nandorum, einer kurzen Dogmatik, deren Benutzung durch M. in seinen Predigten nachweisbar ist), u. er hat mit seinen tatsächlich »kryptocalvinistischen« theolog. Auffassungen, die er in mehreren Werken ausführlich dargelegt hat, auf M.s frühe Schriften eingewirkt. 1568 empfahl er seinen begabten Schüler für das Kantorat, also die unterste Stufe in der damaligen Schulhierarchie, in seiner Heimatstadt Löwenberg (Lemberg), wo M. 1572, inzwischen in Wittenberg ordiniert, ein Pfarramt erhielt. Das 1575 übernommene Amt in Sprottau bekleidete er bis zur Berufung als Pastor Primarius nach Görlitz 1600. In dieser Zeit entstanden die meisten seiner Werke, die ihn weit über Schlesien hinaus bekannt machten. Bemerkungen über private Verhältnisse finden sich gelegentlich in Widmungsvorreden seiner Schriften, ergeben aber keine zusammenhängende Biografie. M. hatte aus zwei Ehen zwölf Kinder, von denen aber nur ein Sohn, Martin, später ein öffentl. Amt bekleidete: als Rektor des Gymnasium Augustum. In der Görlitzer Vokationsurkunde kommt noch einmal die hohe Bedeutung des Görlitzer Gymnasiums für M. zum Ausdruck: Der Rat habe ihn berufen – so heißt es darin –, weil er »den Grund der Lehre und Studien allhier in Görlitz geleget«. Das gute Einvernehmen zwischen Schule, Kirche u. Rathaus auf der Grundlage des verbreiteten Philippismus bewährte sich in den konfessionspolit. Auseinandersetzungen um den Kryptocalvinismus, bes. für M., der trotz der heftigen Angriffe auf seine Rechtgläubigkeit seitens des Wittenberger Theologieprofessors Salomo Gesner, die sogar zu einem Religionsverhör in Bautzen führten, in Görlitz unbehelligt blieb. Die auch schriftlich verbreitete »Warnung« Gesners vor (auch) M.s Kryptocalvinismus nötigte M. die einzige konfessionelle Gegenwehr in seiner Apologia ab. Bis zu seinem Tod 1606, dem eine längere Zeit der Erblindung vorausging, sind nur noch wenige Schriften entstanden, aber die bis dahin erschienenen erlebten inzwischen schon mehrere Auflagen. Sie wirkten – unter anderen Umständen u. den theolog. Streitigkeiten entzogen – wesentlich mit an der
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Entstehung einer reichen, auf Verinnerlichung wie auch auf tätige Liebe drängenden Frömmigkeitsbewegung, die von ganz anderen Voraussetzungen her von Johann Arndt u. Philipp Nicolai angestoßen wurde. Das erklärt, wieso M. in die Frömmigkeitsgeschichte des Protestantismus als luth. Erbauungsschriftsteller eingegangen ist, während sein geistiges Umfeld von der »schlesischen Irenik« geprägt war, zu der sich Philippismus, Kryptocalvinismus, religionspolit. Klugheit, konfessionelle Vorsicht, verschiedene Stränge mystisch-spiritualistischer Anschauungen in dem konfessionspolitisch komplizierten Land zusammengefunden hatten. Obgleich sich daher die spezif. Rolle, die M. in dem vielstimmigen Chor der protestant. Erbauungsliteratur spielt, am besten im Kontext seiner Zeit u. der bes. Situation in Schlesien erschließt, ist es von der Wirkungsgeschichte her vertretbar, seine Werke ohne ausdrückl. Bezug darauf zu behandeln. Die literar. Früchte der neuen Frömmigkeitsbewegung – Gebet- u. Erbauungsbücher, Predigtbände u. Kirchenlieder – sind theologisch noch keineswegs zureichend erforscht u. erst recht nicht ihrer Bedeutung gemäß ins Blickfeld der Literaturwissenschaft gelangt. M.s Werk umfasst elf Titel, die sich zwei Phasen zuordnen lasen: einer ersten, theologischem Interesse verpflichteten, zu der drei Übersetzungen kontroverstheologisch relevanter Texte altkirchlicher Theologen gehören, von deren Autorität alle Seiten die Stärkung der eigenen Position in den innerprotestant. Auseinandersetzungen erwarteten. Sie müssen hier weitgehend außer Betracht bleiben. Die 1582 erschienenen Dialogi Theodoreti. Drey Schöne Gesprech / Von vereinigung vnd vnterscheid beyder Naturn in der einigen Person Jhesu Christi (Görlitz) seien nur genannt als Beleg dafür, dass M. sich an die Seite seines ehemaligen Lehrers Ludovicus stellt, der in seiner Analysis trium dialogorum Theodoreti diesen Kirchenvater für die reformierte Auslegung der Zweinaturenlehre in Anspruch genommen hatte. Seine eigentl. Aufgabe aber fand M. erst in der zweiten Phase seit 1584, als er sich einer anderen Textart u. einem anderen Redezweck zuwandte: den einfältigen, ungelehrten
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Christen Anleitung zu geben, wie sie sich zu Gott verhalten sollen – Anleitung nicht in Form von Belehrung, sondern von E in ü bu n g. Dazu bedarf er jetzt der Texte aus der Mystik, die den Menschen in die Intensität ihrer Gotteserfahrung hineinziehen. Die von M. übersetzten Texte, an denen er seine Sprache schult u. seinen eigenen Stil ausbildet, gehören überwiegend der mittelalterl. Mystik an; M. hält sie jedoch mit seiner Zeit für augustinisch. Das Resultat dieser Bemühungen sind die zwei Bände der Meditationes sanctorum Patrum. Schöne / andechtige / Gebete [...] / Auß den heiligen Altvetern: Augustino, Bernhardo, Taulero, vnd andern / fleissig vnd ordentlich zusamen getragen vnd verdeudtschet (Bd. 1, Görlitz 1584; Bd. 2, ebd., mit ganz ähnl. Titelblatt, 1591. Anzumerken ist, dass alle Schriften M.s deutsch geschrieben sind, aber lat. Haupttitel tragen). Mit diesem Gebetbuch, in dem er Abschnitte aus der reichhaltigen lat. Meditationsliteratur, bes. aus den pseudoaugustin. Meditationes, Soliloquia u. Manuale übersetzt, teilweise auch erweitert oder kürzt u. in die Rubriken eines Gebetbuchs einfügt, die er von dem Betbüchlein (1569) des Andreas Musculus übernimmt, gelingt ihm der Durchbruch zu seinem eigenen Stil: einer oft hymnisch-feierlichen, aber auch – v. a. durch Anpassung an die vertraute Sprache der Lutherbibel – liebevoll-vertraul. Redeweise, eine Sprachschule des Glaubens u. Einübung in die Frömmigkeit. M. überträgt die Texte nicht nur in eine andere Sprache, sondern in ein anderes religiöses Denken u. Empfinden. Seine große sprachl. Leistung wird erkennbar, wenn man seine Übersetzung der pseudoaugustin. Schriften mit anderen zeitgenöss. Übersetzungen vergleicht. Mystische Erfahrungen in diesen Texten werden oft sprachlich dem »normalen« religiösen Erleben angeglichen, dessen Gleichmaß damit gewahrt. Die beiden Bände der Meditationes haben unübersehbare Wirkung als Vorlage für zahlreiche Kirchenlieder erzielt (Althaus, Forschungen), auch durch M. selbst, der nur wenige Kirchenlieder gedichtet hat, eins davon (Ach, Gott, wie manches Herzeleid, veröffentlicht in Bd. 2) nach Abschnitten aus den Meditationes (Bd. 1).
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Weitere Themen von M.s Erbauungsschriften sind die Passion Jesu (Soliloquia de passione. Görlitz 1587), die Menschwerdung (Natalitia Jesu Christi. Görlitz 1590), die ars moriendi, d.h. Sterbelehre (Manuale de praeparatione ad mortem. Görlitz 1593) u. die myst. Vereinigung mit Gott, die unio mystica (Mysterium magnum. Görlitz 1595). Sein Hauptwerk aber ist die vierteilige Evangelienpostille Praxis Evangeliorum (Lüneb. 1601). In diesen Predigten über die herkömml. Sonntagsevangelien hat M. die endgültige Form seiner Schriftstellerei gefunden: Der Predigttext wird in kleinen Abschnitten verlesen u. kurz erklärt. Eine Betrachtung – meist durch die »liebe Seele« – nimmt die Erklärung auf u. setzt sie zum eigenen Leben in Beziehung. Schließlich hebt das Ich die gewonnenen Einsichten ins Gebet, um so die eigene »Praxis« nach ihnen umzubilden. So wird erreicht, dass die »Lehre« nicht isoliert vorgetragen, sondern sofort angeeignet wird. Das Gebet ist dann die Einstimmung des Betenden mit der angeeigneten Lehre, ihre Übernahme in die eigene Frömmigkeit. Bei dieser Bestimmung des Verhältnisses von Theologie u. Frömmigkeit kann von einer Frömmigkeitskrise, wie sie beispielsweise Arndt voraussetzt, nicht die Rede sein. M.s Sprache ist warm u. geschmeidig, verinnerlicht u. rhetorisch gestaltet, wie es dem wachsenden Bedürfnis individueller Glaubenserfahrung entsprach. Protestantische Mystik wird hier eingeübt als intensiv erlebbare Frömmigkeit, die ihre Sprache gefunden hat. Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Hermann Beck: Die Erbauungslit. der evang. Kirche Dtschld.s v. Dr. M. Luther bis M. M. Erlangen 1883, S. 258–268. – Friedrich Spitta: Der Dichter des Liedes ›Ach Gott, wie manches Herzeleid‹. In: Monatsschr. für Gottesdienst u. kirchl. Kunst 7 (1902), S. 12–18, 57–62, 82–91. – Paul Althaus: Forsch.en zur Evang. Gebetslit. Gütersloh 1927, S. 134–142, 251 f. – Elke Axmacher: Praxis Evangeliorum. Theologie u. Frömmigkeit bei M. M. (1547–1606). Gött. 1989. – Martin Brecht: Neue Frömmigkeit u. Gemeindebewußtsein bei M. M. In: Krisenbewußtsein u. Krisenbewältigung in der Frühen Neuzeit. FS Hans-Christoph Rublack. Hg. Monika Hagemaier u. Sabine Holtz. Ffm. 1992, S. 217–229. – Theodor Mahlmann: M. M. In:
Moller Bautz. – Robert Stupperich: M. M. In: NDB. – E. Axmacher: Meditation u. Mystik bei M. M. In: Zur Rezeption myst. Traditionen im Protestantismus des 16. bis 19. Jh. Köln 2002, S. 41–58. – RGG. – Traugott Koch: Die Entstehung der luth. Frömmigkeit. Die Rezeption pseud-augustin. Gebetstexte in der Revision früher luth. Autoren (Andreas Musculus, M. M., Philipp Kegel, Philipp Nicolai). Waltrop 2004. Elke Axmacher
Moller, Meta (eigentl.: Margareta), verh. Klopstock, * 16.3.1728 Hamburg, † 28.11. 1758 Hamburg; Grabstätte: HamburgOttensen. M., jüngste Tochter eines wohlhabenden Hamburger Kaufmanns, der früh verstarb, genoss eine sorgfältige Erziehung. Sie lernte Englisch, Französisch, Italienisch, Latein u. besaß Kenntnisse des Griechischen. Nach der zweiten Heirat ihrer Mutter zog sie, mit 19 Jahren bereits für mündig erklärt u. im Besitz eines eigenen Vermögens, zu ihrer Schwester Elisabeth Schmidt. 1751 lernte sie Klopstock, der auf seiner Fahrt nach Kopenhagen in Hamburg Station machte, durch Vermittlung ihres Freundes Nikolaus Dietrich Giseke kennen. Nach Klopstocks Abreise traten die beiden in einen zunächst freundschaftlich bestimmten Briefwechsel. M. wurde zur Vertrauten u. schließlich zur geliebten »Cläry«, die er dann in den Cidli-Oden besang. 1754 wurde die Ehe zwischen Klopstock u. M. geschlossen; M.s Mutter hatte nach anfängl. Bedenken – der Bräutigam konnte keinen bürgerl. Brotberuf vorweisen – letztlich doch ihre Einwilligung gegeben. M. unterstützte Klopstock bei seiner Tätigkeit durch Anregungen u. Kritik, nahm ihm Schreibarbeiten ab u. erschloss ihm die engl. Literatur. Klopstock wiederum, der ihre Briefschreibekunst über die der Sévigné stellte u. sie mit der einer Babet verglich, ermunterte M. zu eigenständiger literar. Arbeit. Überliefert sind in den Hinterlaßnen Schriften (Hbg. 1759), die Klopstock herausgab, religiöse Gedichte, das epigonale Trauerspiel Der Tod Abels (anknüpfend an Klopstocks Tod Adams) sowie das Prosawerk Briefe von Verstorbnen an Lebendige, moralisch-erbaul.
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Episteln im Stil von Elizabeth Rowes Friendship in death (1728) u. Wielands Briefen von Verstorbenen (1753). Ferner lieferte sie einen Beitrag für den »Nordischen Aufseher«. Der Brief aber war u. blieb ihr eigenes u. wichtiges Ausdrucksmittel. Der Briefwechsel zwischen Klopstock, M. u. den Freunden gibt ein Bild der Braut- u. Ehejahre, des häusl. u. geselligen Lebens sowie der dichterischen Arbeitsweise Klopstocks. Fragen der Kindererziehung u. Haushaltsführung wurden ebenso erörtert wie Gedanken über Freundschaft, Liebe u. die menschl. Existenz. – Für viele Anhänger Klopstocks (wie Johann Heinrich Voß u. Ernestine Boie, Heinrich Christian Boie u. Luise Mejer, Herder u. Caroline Flachsland) war seine Ehe mit M. beispielhaft. M. starb, nachdem sie bereits zwei Fehlgeburten erlitten hatte, 30-jährig bei der Totgeburt eines Sohns. Ausgaben: Briefw. mit Klopstock, ihren Verwandten u. Freunden. Hg. Hermann Tiemann. 3 Bde., Hbg. 1956. – Es sind wunderl. Dinger, meine Briefe. Briefw. mit Friedrich Gottlieb Klopstock u. mit ihren Freunden 1751–58. Hg. F. u. H. Tiemann. Mchn. 1988. – Hinterlaßne Schr.en (1759). Nachdr. Karben 1996. Literatur: Erich Trunz: M. M. u. das 18. Jh. In: Briefw. Bd. 3, S. 965–974. – H. Tiemann: M. M.s Gestalt u. Kunst. In: Gesch. der M. Klopstock in Briefen. Hg. ders. u. Franziska Tiemann. Bremen 1962, S. IX-XXVII. – Eva Horvath: Die Frau im gesellschaftl. Leben Hamburgs. M. Klopstock, Eva König, Elise Reimarus. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 3 (1976), S. 175–194. – Reinhard M. G. Nickisch: Die Frau als Briefschreiberin im Zeitalter der dt. Aufklärung. Ebd., S. 29–66. – Kevin Hilliard: Klopstocks Tempel des Ruhms. In: Klopstock an der Grenze der Epochen. Hg. ders. u. Katrin Kohl. Bln./New York 1995, S. 221–239. – Tanja Reinlein: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten u. Inszenierungspotentiale. Würzb. 2003. – Petra Dollinger: M. M. u. der Klopstock-Kult im 18. Jh. In: Lit. in Wiss. u. Unterricht 37 (2004), S. 3–25. – Martina Schönenborn: Tugend u. Autonomie. Die literar. Modellierung der Tochterfigur im Trauerspiel des 18. Jh. Gött. 2004. – Joachim Jacob: ›Wäre ich Ihr Klopstock für seine Meta‹. M. M. u. Friedrich Gottlieb Klopstock, Hamburg, 4. April 1751. In: Bespiegelungskunst. Zwanzig Begegnungen auf den Seitenwegen der Literaturgesch. Hg. Georg
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297 Braungart u. a. Tüb. 2004, S. 29–41. – Heidi Ritter: Rhetorik des Glücklichseins. M. M. in ihren Briefen. In: Anakreont. Aufklärung. Hg. Manfred Beetz. Tüb. 2005, S. 287–295. – Peter Damrau: Elizabeth Singer Rowe u. ihre Bedeutung für die dt. Frauenlit. des 18. Jh. In: GLL 60 (2007) S. 4–17.
Literatur: Gerald Jatzek u. Philipp Maurer (Hg.): Widerrede. Die Kabarettung Österr.s. Wien 1990. – Cornelia Böhnstedt: Unter der Lupe. Aus E. M.s Nachl. In: LuK 253/254 (1991), S. 89–90.
Katharina Festner / Red.
Hilde Schmölzer / Red.
Lese aus ihrer Arbeit. Hg. u. komm. v. Werner Schneyder. Wien 1993.
Molny-Pluch, Erika, geb. Smolnig, * 28.6. Molo, Walter, Reichsritter von, * 14.6.1880 1932 Klagenfurt, † 26.8.1990 Wien. – Er- Sternberg/Mähren, † 27.10.1958 Murnau. – Erzähler, Essayist, Biograf, Dramatiker, zählerin, Lyrikerin, Dramatikerin. Lyriker. M. lebte seit 1950 in Wien. Sie studierte Wirtschaftswissenschaft an der Universität Wien (Diplomkauffrau) u. trat bereits in den frühen 1960er Jahren mit schriftstellerischen Arbeiten an die Öffentlichkeit – zuerst mit Drehbüchern für das Fernsehen (u. a. Dramatisierung des Jahrhunderts der Chirurgen von Jürgen Oswald sowie Schnitzlers Novelle Der Mörder u. Doderers Strudlhofstiege). Seit Mitte der 1970er Jahre war sie Texterin für Kabarettgruppen u. -solisten, u. a. für die Münchner »Lach- und Schießgesellschaft« u. die Fernsehkabarettgruppe »Der Würfel«. In den 1980er Jahren arbeitete sie außerdem als ständige Kolumnistin u. Essayistin, u. a. für »profil«, »Diners Club-Magazin« u. »Ikarus«. Ihr erster Roman, Bruchstücke (Wien 1984), behandelt das Schicksal einer alten, in Isolation u. beginnender Schizophrenie lebenden Frau, die sich an ihr durch Unterdrückungsmechanismen, Krieg, Armut u. eine gescheiterte Ehe geprägtes Leben erinnert. Im zweiten Roman, Die Frau des Malers (Wien 1988), beschreibt M. den Emanzipationsversuch einer Frau, deren eigene schöpferische Kraft durch den Künstlergatten aufgesogen wird. Den Erzählband Der liebe Gott des Waldviertels (Wien 1986) schrieb sie zus. mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Thomas Pluch. Ihr Theaterstück Der Turm wurde 1986 im Wiener Ateliertheater, Perpetuum mobile 1989 in Klosterneuburg aufgeführt. 1987 gründete M. die Frauenkabarettgruppe »Die Menubeln«, deren Programme sie mitgestaltete.
Weitere Werke: Was soll schon sein? Urauff. Wien 1984 (kabarettist. Revue). – Schau Frau. Lieder/Gedichte. Baden bei Wien 1991. – Das Fest des Hahns. Wien 1991 (E.en). – Thomas Pluch. E. M.
Der aus altem dt. Reichsadel stammende Autor wuchs in Wien auf. Nach dem Besuch der TH arbeitete u. publizierte er als Ingenieur (u. a. zum österr. Patentrecht). Ab 1913 lebte M. als freier Schriftsteller zunächst in Wien, ab 1915 in Berlin. M. war Gründungsmitglied des Deutschen PEN-Clubs (1919), 1928 bis zu seinem freiwilligen Rücktritt 1930 Präsident der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste. Erfolg hatte M. mit seiner nationalanthropolog. Neufassung des historisch-biogr. Romans: Er zeigt den nationalpolitisch aktualisierten Helden in seiner Zugehörigkeit zu Volk, Region u. Nation. Eine Bewusstwerdung in diesem Sinn zeigt M. mit dem erfolgreichen vierbändigen Schiller-Roman: Ums Menschentum (1912), Im Titanenkampf (1913), Die Freiheit (1914) u. Den Sternen zu (1916. Alle Bln. Volksausg. u. d. T. Der SchillerRoman. 2 Bde., Mchn. 1918; zahlreiche weitere Ausg.n). Schiller überwindet die intellektualist. Hybris durch die Besinnung auf seine Familie, die schwäb. Herkunft u. die Aufgaben eines dt. Dichters. Das literar. Werk Schillers erscheint gegenüber diesen Aufgaben als unvollkommen u. teils undeutsch. Der im Kriegsjahr 1916 erschienene vierte Teil des Romans ist durch beständige antifrz. Ausfälle u. eine affirmative Haltung zum Krieg geprägt. In seiner Schiller-Rede vor dem Freien Deutschen Hochstift forderte M. 1929 dazu auf, nicht den Klassiker, sondern den »ewigen Gegenwartsmenschen« Schiller zu feiern (Zwischen Tag und Traum. Gesammelte Reden. Bln. 1950). Autoreflexive Züge des Schiller-Bildes zeigen sich im Vergleich mit
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Weitere Werke: Als ich die bunte Mütze trug. dem aphorist. Credo Sprüche der Seele (Bln. Studentenerinnerungen. Lpz. 1904. – Wie sie das 1916). Nationalpolitische u. nationalanthropolog. Leben zwangen. Bln. 1906 (R.). – Die unerbittl. Anliegen verfolgte M. auch mit den biogr. Liebe. Bln. 1907 (R.). – Die törichte Welt. Bln. 1908 (R.). – Klaus Tiedemann, der Kaufmann. Bln. 1909 Romanen über Luther (Mensch Luther. Zürich (R.). – Der gezähmte Eros. Bln. 1910 (R.). – Totes 1928), Prinz Eugen (Eugenio von Savoy. Bln. Sein. Stgt. 1912 (R.). – Die Mutter. Mchn. 1914 (D.). 1936), Heinrich von Kleist (Geschichte einer – Dtschld. u. Österr.: Kriegsaufsätze. Konstanz Seele. Bln. 1938) oder Friedrich List (Ein 1915. – Im Schritt der Jahrhunderte: Geschichtl. Deutscher ohne Deutschland. Wien 1931). Als Bilder. Bln. 1917 (auch u. d. T. Der endlose Zug). – überzeugter Verfechter des Kriegs der Mit- Der Hauch im All. Mchn. 1918 (D.). – Friedrich telmächte beschwor er im ersten Band der Staps. Ein dt. Volksstück. Mchn. 1918 (D.). – Die erfolgreichen Trilogie Ein Volk wacht auf die helle Nacht. Mchn. 1919 (D.). – Auf der rollenden myth. Kontinuität der Nation (Bd. 1: Frideri- Erde. Mchn. 1923 (R.). – Fugen des Seins. Bln. 1924 cus. Mchn. 1918, bis 1940 485.000 Exempla- (Denksprüche). – Lebensballade. Mchn. 1924 (D.). – Bobenmatz. Mchn. 1925 (R.). – Im ewigen Licht. re; Bd. 2: Luise. Mchn. 1919; Bd. 3: Das Volk. Mchn. 1926 (R.). – Legende vom Herrn. Mchn. 1927 Mchn. 1921; in einem Bd. u. d. T. Der Roman (R.). – Ordnung im Chaos. Mchn. 1928 (D.). – Die meines Volkes. Mchn. 1924). M. wirkte auch am Scheidung. Wien 1929 (R.). – Holunder in Polen. Drehbuch für den UFA-Spielfilm Fridericus – Wien 1932 (R.). –Der kleine Held. Gesch. meiner Der alte Fritz mit (Regie: Johannes Meyer, Jugend. Bln. 1934. – Das kluge Mädchen. Hbg. 1937). 1940. – Lyr. Tgb. Hbg. 1943. – Lob des Leides. M. war in den 1920er u. 1930er Jahren auch Meditationen. Baden-Baden 1947. – Aus dem als Publizist tätig u. gab zahlreiche Leseaus- Murnauer Tgb. Bln. 1948. – Zu neuem Tag. Ein gaben heraus (u. a. Carlyle, Dauthendey, Go- Lebensber. Bln. 1950. – Die Affen Gottes. Bln. 1950 gol, Hamsun, Lagerlöf, Poe, Sealsfield, Tols- (R.). – So wunderbar ist das Leben. Erinnerungen u. Begegnungen. Bln. 1957. – Wo ich Frieden fand. toi). Tgb. 1933–45. Mchn. 1959. Obwohl der nationalkonservative M. völk. Ausgaben: Der Mensch u. das Werk. Ein FrüchIdeen nicht gänzlich fernstand, reagierte die tekranz aus M.s Werken. Lpz. 1923. – Ges. Werke in völk. Literaturkritik zurückhaltend bis ab- drei Bdn. Mchn. 1924. lehnend auf seine Arbeiten; in den Versuchen Literatur: Hanns Martin Elster: W. v. M. u. sein der Germanisten Hellmuth Langenbacher u. Schaffen. Mchn. 1920. – Franz Camillo Munck: W. Heinz Kindermann, einen neuen völk. Kanon v. M. Lpz. 1924. – Karl Otto Vitense: W. v. M. Das zu etablieren, wird M. ebenfalls übergangen. Wesen des Schriftstellers. Lpz. 1938. – W. v. M. M. teilte die nationalpädagog. Ansichten Erinnerungen, Würdigungen, Wünsche zum siebEduard Sprangers, mit dem er befreundet zigsten Geburtstag. Bln. 1950. – Christian v. Zimmermann: Biogr. Anthropologie. Bln. 2006. war. Im Frühjahr 1933 übersiedelte M. nach Johannes Sachslehner / Christian von Zimmermann Murnau. Sein Leben abseits der tagespolit. Ereignisse im Dritten Reich stilisierte er späMolsner, Michael, * 23.4.1939 Stuttgart. – ter als »innere Emigration«: eine Haltung, Autor von Kriminalromanen, Romancier. die er in seinem Briefwechsel mit Thomas Mann (Die grosse Kontroverse: Ein Briefwechsel Nach dem Abitur in München u. einem abum Deutschland. Genf 1963) nachdrücklich gebrochenen Studium in Heidelberg wurde verteidigte. Gleichzeitig wurde bekannt, dass M. Journalist. Er arbeitete für verschiedene M. seine Werke mit untertänigen Widmun- große Zeitungen, häufig als Gerichtsreporter, gen dem NS-Ideologen Alfred Rosenberg woraus er Anregungen für seine Kriminalroüberreicht hatte. Wohl auch aufgrund dieser mane bezog. Als freier Autor lebte er lange in Debatten erreichte M. trotz fortwährender Fischen/Allgäu; seit einiger Zeit ist er in literar. Produktivität nach dem Krieg nur Duisburg ansässig. Neben vielen hochgelobnoch einen eingeschworenen Leserkreis, den ten, literarisch anspruchsvollen Kriminalerer mit autobiogr. u. autoreflexiven Werken zählungen u. -romanen verfasste M. auch bediente. (überwiegend Kriminal-)Hörspiele, Fernseh-
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filme, histor. Romane u. einige Jugendbücher. 1987, 1988 u. 1989 wurde er mit dem »Deutschen Krimi-Preis des Bochumer Krimi-Archivs« ausgezeichnet; 1998 erhielt er den »Ehrenglauser« für sein Lebenswerk. M. versteht sich als Populärautor, der seine Werke bewusst in Krimireihen publiziert. Seit seinem ersten Roman Und dann hab ich geschossen (Reinb. 1968. Mchn. 1988), der laut M. nicht zufällig zur Zeit der Studentenbewegung erschien, stehen Gesellschafts- u. Sozialkritik im Mittelpunkt. M.s Kriminalfälle reichen vom Sexualmord über Rauschgift- bis hin zu Wirtschaftskriminalität, Spionage u. schließlich Verbrechen im polit. Milieu der Bundesrepublik. 1997 veröffentlichte er mit Spot auf den Tod oder Wie man sich bettet, so lügt man. Ein Schlüsselroman um Walter Sedlmayr (Köln) einen Kriminalroman über die Ermordung des bekannten Fernsehdarstellers. M.s Kriminalroman von 2008, Die Untergrundfrau, ist wieder im Milieu der Studentenrevolte von 1968 angesiedelt. Weitere Werke: Kriminalromane: Harakiri einer Führungskraft. Reinb. 1969. – Rote Messe. Ffm. 1973. – Das zweite Geständnis des Leo Koczyk. Mchn. 1979. – Tote brauchen keine Wohnung. Mchn. 1980. – Die Schattenrose. Mchn. 1982. – Ausstieg eines Dealers. Mchn. 1983. – Der CastilloCoup. Mchn. 1985. – Gefährl. Texte. Mchn. 1985. – Der ermordete Engel. Mchn. 1986. – Unternehmen Counter Force. Mchn. 1987. – Urians Spur. Mchn. 1988. – Dame ohne Durchblick. Mchn. 1990. – Die verbrannte Quelle. Mchn. 1990. – Die Strategie des Beraters. Mchn. 1992. – Ermittlungen gegen Zeus. Mchn. 1992. – Starker Zauber. Leer 2004. – JugendKriminalromane: Der entgleiste Zug. Mchn. 1991. – Das Gesetz der Rache. Mchn. 1991. – Der Sohn der Zeugin. Mchn. 1995. – Terror in Maghreb. Mchn. 1996. – Menschenhandel in Prag. Mchn. 1997. – Hetzjagd nach Eilat. Mchn. 1997. – Romane: Wege der Vorsehung. Aus der Zeit des dt. Widerstands gegen Hitler. Linz 1996. – Um alles in der Welt. Münster 2001. Walter Olma
Molter, Friedrich Valentin, * 1.7.1722 Karlsruhe, † 6.2.1808 Berlin. – Lyriker, Übersetzer, Geheimrat, Direktor der Karlsruher Hofbibliothek. M. war das dritte Kind (von acht Kindern) u. zweiter Sohn des Karlsruher Hofkapellmeis-
Molter
ters Johann Melchior Molter (1696–1765). Über die Kindheit u. Jugend sind keine Quellen nachweisbar. Wahrscheinlich ist M. mit den Eltern von Karlsruhe nach Eisenach umgesiedelt. Ob er den komponierenden Vater auf seiner Italienreise 1737/38 begleitet hat, wie Fürst annimmt, ist nicht nachzuweisen. M.s Name erscheint dann in den Matrikeln der Universität Jena im Wintersemester unter dem Datum 18.10.1738: »Frider. Valent. Molter, natus in Caroli Secessu, Dulacensis.« Nach Übersetzungen aus dem Italienischen (Congreß zu Cythera oder Landtag der Liebe, 1747) erschien 1750 mit der Toscanischen Sprachlehre (Lpz.) M.s erste eigenständige Publikation; darauf folgte im Jahr 1752 die anonym erschienene Gedichtsammlung Scherze (Lpz.). Diese enthält Anspielungen des jungen Autors auf seine Herkunft, sein Elternhaus u. sein Verhältnis zum Vater. Nach dem jurist. Studium in Jena war M. an der dortigen Universität immatrikuliert. Die Widmung der Toscanischen Sprachlehre an Heinrich Christian Freiherr von Senckenberg (1704–1768), den kaiserl. Reichshofrat, lässt hingegen M.s Verbindungen nach Wien – vermittelt durch Senckenberg, der seit 1745 in Wien wohnte – plausibel erscheinen. Immerhin war M., als er Merope, ein Trauerspiel (nach Scipione Maffei) 1751 für Wien übersetzte, Mitgl. zweier gelehrter Gesellschaften mit nicht nachweisbaren Verbindungen nach Leipzig. Erst 1754, als Student der Jurisprudenz an der Universität Basel, dürfte M. dem bad. Markgrafen Carl Friedrich begegnet sein. Allerdings erhielt er erst 1756 eine Stelle am Karlsruher Hof »bey Fürstl. Gehaim Raths Canzley, mit dem Secretarien praedidat.« Er konnte sich als »Herr Secretarius«, als erster hauptamtl. Bibliothekar der Hofbibliothek zunehmend profilieren. M. war tätig als Dichter, Wissenschaftler, Übersetzer u. Herausgeber; sein Wirken kann als exemplarisch für ein privilegiertes Beamtenleben am Karlsruher Hof gelten. Nach den scherzhaft-frivolen Gedichten der frühen Zeit im Stil der Anakreontik zeigen die späteren Gelegenheitsgedichte Huldigungs- u. Ergebenheitskonventionen an die jeweils herrschenden Markgrafen. M. übersetzte in den Diensten der markgräflich Badischen
Moltke
Bibliothek 1762–1770 Jean François Marmontels Moralische Erzählungen in fünf Bänden (Karlsr.). Seine Kurze Encyklopädie, oder allgemeiner Begriff der Wissenschaften erschien anonym 1762 (Karlsr.); dieses breit angelegte Wissenskompendium zeigt M. als Polyhistor u. einen der ersten Geisteswissenschaftler, der die Bestände einer Fürstenbibliothek systematisch zu erfassen u. enzyklopädisch aufzubereiten vermochte. Aus den lat. Beständen übertrug M. Prinz Walther von Aquitanien, ein Heldengedicht aus dem 6. Jahrhundert als Lobpreisgedicht auf den regierenden Markgrafen metrisch übersetzt in die dt. Sprachgebung seiner Zeit (Karlsr. 1782). Die 1798 erschienenen Beiträge zur Geschichte und Literatur, aus einigen Handschriften der Markgräflich-Baadischen Bibliothek (Ffm.) setzten den Grundstein für die heutige Landesbibliothek Baden u. das im Carl-Palais angesiedelte Archiv u. Museum zur Erforschung der Literatur am Oberrhein. M.s Nachlass befindet sich in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe (Danecke-Brandis 252). Ausgabe: De Germania Literata Commentatur, Simul De Bibliotheca Carolo-Fridericiana Pauca Monet. Karlsr. 1770. Literatur: Goedeke 3, 370; 4/1,107. – Hamberger/Meusel 5, 281; 320, 11, 546; 18, 726. – FS Johann Melchior Molter, 2002, S. 78–62. – Rainer Fürst: F. V. M. u. seine Söhne. In: Der bad. Hofkapellmeister Johann Melchior M. (1696–1765) in seiner Zeit: Dokumente u. Bilder zu Leben u. Werk; eine Ausstellung der Bad. Landesbibl. Karlsruhe zum 300. Geburtstag des Komponisten. Hg. v. der Bad. Landesbibl. Karlsruhe. Karlsr. 1996, S. 263–301. Rudolf Denk
Moltke, Adam Gottlob Detlef, Graf von, später nur: Adam, Graf von M., * 15.1. 1765 Odense/Fünen, † 17.6.1843 Lübeck. – Lyriker, Verfasser politischer Schriften. Der Abkömmling des dän. Zweigs der uradeligen Familie Moltke konnte das unabhängige Leben eines wohlhabenden Landedelmannes führen u. seinen wissenschaftlichen, literar. sowie polit. Interessen ohne Einschränkungen nachgehen. Im Anschluss an die für seinen Stand übliche militär. Aus-
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bildung studierte er 1783–1786 an den Universitäten Kiel u. Göttingen, wo er neben seinem eigentl. Fach, der Juristerei, philosophische wie literar. Studien betrieb. Nach Ausbruch der Französischen Revolution, zu deren begeisterten Anhängern er gehörte, ging M. auf Reisen durch Deutschland u. Frankreich. Das Eintreten für die auch in seiner Heimat aufkommenden Freiheitsideen führte zum Bruch mit seiner Familie u. zum Ausschluss von der Erbfolge der Grafschaft Bregentved (bei Haslev/Seeland). Ohne nach den seinem Stande angemessenen hohen Staatsämtern zu streben, lebte M. als Privatmann zurückgezogen auf seinem Gut Noer im Herzogtum Schleswig u. ab 1801 auf Nütschau bei Oldesloe. M.s literar. Schaffen ist geprägt von lebendiger Fantasie u. der Neigung zu den neuen freiheitl. Entwürfen seiner Zeit. Sein Bericht über die Reise nach Mainz (2 Bde., Altona 1794/ 95) zeugt ebenso davon wie seine Oden u. Gedichte (beide Zürich 1805). Später widmete sich M. in seinen Schriften ganz der Politik, wobei er regen Anteil an der Auseinandersetzung um die Verfassung Schleswig-Holsteins nahm. Weitere Werke: Buitenspoorigheden. In: ›Reise nach Mainz‹. – Gedichte. In: Vaterländ. Museum. Hbg. 1810. – Die Erinnerung. Kiel 1816. – Ansichten bei den Ansichten. Kiel 1816. – Was schwere Auflagen schwerer macht. Kiel 1818. – Einiges über die Verfassung Schleswig-Holsteins u. die Ritterschaft [...]. Lübeck 1833. – Das Wahlgesetz u. die Cammer, mit Rücksicht auf das Hzgt. Schleswig u. Holstein. Hbg. 1834. – Radirte Bl. Hbg. 1838. Literatur: Carstens: M. In: ADB. – NND 21 (1843). – Dansk Biografisk Lexikon. – Axel Pontoppidan: A. G. D. v. M. Kopenhagen 1939. – Angelika Halama: Im Dienste Dänemarks: A. G. v. M. – ein unbekannter Mecklenburger. In: Mecklenburg-Magazin 27 (2005), S. 23. Hans Peter Ehmke / Red.
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Moltke, Helmuth (Carl Bernhard), Graf (seit 1870) von, auch: Helmuth, * 26.10. 1800 Parchim/Mecklenburg, † 24.4.1891 Berlin; Grabstätte: Kreisau/Niederschlesien (Krzyzowa/Polen). – Generalfeldmarschall; Schriftsteller.
Moltke
Oberläufe von Euphrat u. Tigris. Ein Vorwort seines Lehrers Carl Ritter empfahl diese »anspruchslose, aber gehaltvolle Schrift«. Die unter M.s Leitung entstandenen kriegsgeschicht. Werke des Großen Generalstabs wie seine eigene kurze, für weite Kreise bestimmte Geschichte des Deutsch-Französischen Krieges von 1870–71 (Bln. 1891) zeichnen sich durch Präzision u. bis zur Trockenheit gehende Knappheit aus, gemäß seiner Redaktionsmaxime: »Die richtige historische Darstellung giebt die schärfste Kritik.«
Aus mecklenburgischer Familie stammend, wuchs M. im dän. Holstein auf u. verbrachte 1811–1817 »eine recht freudlose Kindheit« in der kgl. dän. Land-Kadettenakademie in Kopenhagen. 1818 Page am Königshof, war er 1819–1822 Leutnant in dän. Diensten u. Ausgaben: Ges. Schr.en u. Denkwürdigkeiten. 8 trat 1823 in die preuß. Armee ein. 1832 er- Bde., Bln. 1891–93. – Vom Kabinettskrieg zum folgte die Versetzung in den Großen Gene- Volkskrieg. Eine Werkausw. Hg. Stig Förster. Bonn ralstab, in dem sich mit einzelnen Unterbre- u. a. 1992. chungen M.s Aufstieg vollzog. Eine 1835 erLiteratur: Franz Herre: M. Der Mann u. sein Jh. folgte Beurlaubung zu einer Bildungsreise in Stgt. 1984. – Generalfeldmarschall v. M. Bedeutung den Südosten Europas bis Konstantinopel u. Wirkung. Hg. Roland G. Foerste. Mchn. 1991. führte auf Wunsch des Sultans zu einer AbVolker Neuhaus / Red. kommandierung 1836 bis 1839 als Instrukteur der türk. Truppen. 1842 heiratete er Marie Burt († 1868). 1845/46 war er als Ad- Moltke, Max(imilian) Leopold, * 18.9. jutant des Prinzen Heinrich von Preußen in 1819 Küstrin, † 19.1.1894 Leipzig. – LyRom, 1855–1857 Adjutant des Prinzen riker, Herausgeber. Friedrich Wilhelm von Preußen, des späteren M. absolvierte eine Buchhändlerlehre in Friedrich III. 1858 wurde er Chef des Gene- Küstrin u. war anschließend als Gehilfe in ralstabs (bis 1888), ein Amt, das er in den Berlin, Frankfurt, Pest u. seit 1841 in KronKriegen 1866 u. 1870/71 zur entscheidenden stadt/Siebenbürgen tätig. Dort übernahm er strateg. Instanz ausbaute. 1867 erwarb er von die redaktionelle Leitung der »Deutschen seiner Dotation Gut Kreisau. Dichterhalle«, einer Zeitschrift für Lyrik, u. M., das Ideal des vielseitig gebildeten 1849 die der »Kronstädter Zeitung«, nachpreuß. Offiziers, war auf unterschiedlichsten dem er schon vorher an den »Kronstädter Gebieten schriftstellerisch tätig, wobei außer Blättern« mitgearbeitet hatte. Er nahm als Autorenehrgeiz v. a. die Aufbesserung der bis Leutnant am Aufstand Ungarns gegen 1842 kaum zum Leben reichenden Bezüge Österreich teil u. geriet bei der Niederlage ein wichtiges Motiv war. Neben aus eigenen von Velagos erst in russ., dann in österr. GeMessungen gewonnenen topograf. Werken fangenschaft. Nach der Freilassung 1851 be(u. a. zur röm. Umgebung) veröffentlichte er stritt er seinen Lebensunterhalt in Triest pseudonym 1827 in einer Berliner Zeitschrift durch Unterrichtsstunden, ging dann nach die aktionsreiche u. humorvolle Novelle Zwei Küstrin zurück, darauf für einige Jahre nach Freunde aus den letzten Tagen des Siebenjäh- Berlin u. zog 1864 nach Leipzig, wo er 20 rigen Kriegs. 1831–1844 publizierte er Bro- Jahre ein Verlagsgeschäft betrieb, bis er 1884 schüren, die zur damals beliebten Gattung Bibliothekar der Handelskammer wurde. der Denkschriften zu aktuellen polit. Fragen Neben seiner berufl. Tätigkeit zeigte M. gehören, u. Zeitschriftenaufsätze. 1841 er- bes. Interesse für die Lyrik. Er ist der Verfasschienen seine Briefe über Zustände und Bege- ser des in Siebenbürgen zum Volkslied gebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis wordenen Siebenbürgen, Land des Segens. Auch 1839 (Bln. Neuausg. Nördlingen 1987) mit andere Lieder M.s haben volksliedhaften wichtigen landeskundl. u. geograf. Informa- Charakter. Neben eigenen Lyriksammlungen tionen, u. a. zur ersten wiss. Erkundung der – Heideblümchen gepflückt am Eingang des Dich-
Mombert
terhaines (Küstrin 1840), Neuere Gedichte (2 Bde., 1843) – stellte er auch Sammlungen anderer Autoren zusammen: Blüthenstrauß deutscher Dialekt-Dichtung (Lpz. 1878), Neuer deutscher Parnaß. Silberblicke aus der Lyrik unserer Tage (Lpz. 1882) sowie Schutz- und Trutzlieder für die Siebenbürgener Sachsen und das Deutschtum in Österreich (Lpz. 1882). Literatur: Siegfried Moltke: M. M. In: ADB. – Harald Krasser: Die Zeitideen v. 1848/49 im Werke M. M.s. In: Forsch.en zur Volks- u. Landeskunde 34 (1991), S. 109–118. – Uwe Lemm: ›...ich begreife nicht wie Sie dazu kommen...‹. Bettina v. Arnims Umgang mit einem ihrer Helfer. In: Internat. Jb. der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft 19 (2007), S. 11–23. Günter Häntzschel / Red.
Mombert, Alfred, * 6.2.1872 Karlsruhe, † 8.4.1942 Winterthur; Grabstätte: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek (Urne in Büste). – Lyriker, Dramatiker. M., Sohn eines gebildeten u. begüterten Kaufmanns, ließ sich nach Jurastudium u. Referendariat (Promotion 1897) 1901 in Heidelberg als Rechtsanwalt nieder, wo er auch nach Aufgabe des bürgerl. Berufs (1906) lebte, mit kurzen Unterbrechungen durch Reisen (bis nach Ägypten u. Palästina) vor dem Ersten Weltkrieg, wo er in Polen Soldat war. 1928 in die Preußische Akademie der Künste gewählt u. 1933 ausgeschlossen (Bücherverbot 1934), wurde M. im Okt. 1940 mit 6500 badischen Juden von der SS verhaftet u. ins Internierungslager Gurs (Südfrankreich) deportiert. Durch Fürsprache von Carossa u. Hans Reinhart im April 1941 in ein Interniertensanatorium nach Idron-par-Pau verlegt, erhielt M., schon todkrank, im Okt. 1941 eine Ausreisegenehmigung in die Schweiz. Während M.s Werk heute kaum noch u. wenn, dann in Vertonungen Alban Bergs weiterlebt, erlangte es in Hans Benzmanns Anthologie Moderne deutsche Lyrik (1903) u. der Lyriktheorie Margarete Susmans 1910 einen Bedeutungsgrad, ebenbürtig dem Nietzsches, Georges, Hofmannsthals u. Rilkes. Seine Dichtung – von Tag und Nacht (Heidelb. 1894. 2., veränderte Aufl. Minden 1902. Lpz. 31922) bis zum im Internierungslager vollendeten
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»Mythos« Sfaira der Alte (2 Tle., Bln. 1936 u. Winterthur 1942. Heidelb./Darmst. 1958) in formaler u. inhaltl. Einheit gestaltet – wird häufig mit der von Arno Holz, George, Dehmel u. Pannwitz verglichen. Eine Nähe eher zu Buber, Lasker-Schüler u. Loerke liegt darin, dass Natur bei M. weder Objekt sentimental-schwärmerischer noch vitalistischekstat. Zuwendung ist, sondern dialogisch strukturierte Verräumlichung u. Verzeitlichung des Ichs. M. sah sich als »Sinfoniker«, der sämtl. Klänge des Kosmos in »Gefühlsbildern menschlicher Höhen- und TiefenZustände« zusammenführt. Die Wahl der großen Dimension in der Perspektive des Einzelnen wie in den dichterisch geschauten Bildern im Schöpfungsraum u. in der Vorzeit liegt in der Energie aus einer Nietzsche- u. Hölderlin-Nachfolge begründet u. in der Verehrung des Natur-Propheten »Zarathustra«, obwohl sich M. der »Unzeitgemäßheit« solcher esoter. Kunst bewusst war. Sein Landschaftserleben verband den Mythos des Ostens, die Kulturen Asiens, v. a. Indiens, mit denen des AT u. der Antike u. fand in den Urformen der Natur wie Gebirge, Ozean u. astraler Kosmos eine Möglichkeit der Sinnsuche, eine »Heimat der Erschütterungen«. M.s von Pathos getragener Nihilismus angesichts des kosm. Chaos zielt nicht auf einen »subjektiven Mythos« oder Rauschzustand, sondern auf eine phänomenologische, strömende u. in syntaktisch schlichten Aussagesätzen strukturierte Welt, die den »Kunststoff« liefert, eine Dichtung, der auch das Attribut »frühexpressionistisch« zugesprochen werden kann. Die dialekt. Spannung zwischen dunklen u. hellen Bereichen zeigt schon die Einleitung von Tag und Nacht. Der Dichter führt ein »Zwiegespräch« mit dem »Leben« u. definiert sich als »Traum« am Du in einer »Vision«, die »Tagwerk, Nachtwerk« umfasst. In M.s drittem Gedichtband Die Schöpfung (Lpz. 1897. 2., veränderte Aufl. Minden 1902. Lpz. 3 1921) ist der Erlebensraum eine »InnenNacht«, in der die Grenzerfahrung eine »irrational-unberechenbare« Erkenntnis vermittelt: »Sonne, Feuer, Weib, und Meer: / Das sind die heiligen vier Schöpfungswunden, / die bluten in den glänzenden Traum-
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stunden / und singen ein Lied von ewiger Wiederkehr.« Die Gedichte führen dem Leser, »dem Fremden« mit der »Nachtlampe«, aphorist. Sequenzen in einer szen. Erlebnisskizze vor u. schließen mit der Groteske, dass der Tod des Propheten-Dichters auf einer Anschlagsäule angekündigt wird. Johannes Schlaf urteilte 1898 über M.s Frühwerk, seine »so outrierte, so völlig bodenlose Mystik« stelle kein Kunstwerk, sondern eine »Rätselaufgabe« dar. M.s »Bildkennworte« Geist u. Materie, Kosmos u. Chaos, Lichtaeon (Lichtzeit) u. Sphaira (Himmelsraum) weisen auf ein Studium altorientalischer, gnost. Quellen. Angesichts der damit verbundenen naturwiss. Studien konstatierte Moeller van den Bruck 1906 die Verwandtschaft M.s mit Paracelsus, Böhme, Novalis u. Fechner, weil er »es wagt von Gott rein natürlich zu sprechen«. Die Gedichtbände Der Denker (Minden 1901) u. Die Blüte des Chaos (Minden 1905. Beide auch Lpz. 1920) sind inhaltlich strenger komponiert; entsprechend werden Neuauflagen des Frühwerks »flächenförmig ausstrahlend« von M. bearbeitet. Die Form des dramat. Mythos erscheint erstmals in Der Sonne-Geist (Bln. 1905. Lpz. 1923), vollendet dann in der Trilogie Aeon (Bln. 1907–11. Lpz. 21921), einer themat. Zuspitzung der geschichtsphilosoph. Dimensionierung des schöpferischen Ichs im Menschengeist. Der dialekt. Grundzug der Dichtung, inhaltlich in Polarisierungen zwischen Entfremdung u. Verschmelzung sowie formal in Dialog-Gedichten, wird weitergeführt in der Ausgestaltung einer Selbstbespiegelung »du mein Ich«. Die dadurch erreichte Objektivierung des Ichs v. a. durch Einbezug apokalypt. Geschichtssituationen ermöglichte es M., die visionär projektierte »Katastrophe des Menschen-Geschlechts« zu gestalten, ein »opus ultimum«, in »Baracken-Winter-Finsternis« mit »NachtAsche auf den Lippen« u. im »Chaos-Kot« vollendet. In einem Brief aus dem Lager unter dem Motto »fiat poesia! pereat mundus!« heißt es: »Es ist mein Schicksal, daß Alles, was ich prophetisch klangvoll gedichtet habe (zum ›ästhetischen‹ Genuß der Deutschen), ich später in grausamer Realität erleben muß.« M.s durchlebter u. beschriebener
Mombert
Kampf zwischen Kunst u. Leben, Celans Kunstkritik im Medium der Dichtung vorwegnehmend, macht ihn zum »Visionär auf eigene Rechnung« (Werner Helwig), in widersprüchl. Spannung zwischen Idealität u. Realität. M.s Wirkungsgeschichte mögen drei Stellungnahmen illustrieren: Der expressionist. Maler Franz Marc bezeichnet ihn 1915 als Transzendentalisten u. zitiert »Ich singe mit Mombert: ›Nur einen Flügelschlag möchte ich thun,/ Einen einzigen!‹«, ordnet M. wie auch Rilke u. George einer »vergangenen Gefühlswelt« zu, erhofft aber eine Weiterentwicklung des Werkes. Gottfried Benn nennt M. neben Otto Weininger u. Else Lasker-Schüler »genial« (Doppelleben. Schatten der Vergangenheit, 1949). Jean Améry drückt Verlusterfahrungen in seiner Schrift Jenseits von Schuld und Sühne (1966) mit einem M.-Zitat aus: »Alles fließt von mir ab, wie ein großer Regen«, kritisiert aber M.s Verhalten, da dieser seine Gefährdung als von den Nationalsozialisten verfolgter Jude nicht erkannt habe. M. schrieb in seinem Abschiedsbrief an Ida Dehmel am 15.2.1942: »Mein eigenes Werk ist im vollsten Sinne in den Abgrund der Zeit gestürzt; ich selber bin ins GeisterReich gerettet.« M.s Frage in einem Brief an Reinhart, ob irgend etwas Vergleichbares je einem dt. Dichter geschehen sei, sieht Améry als M.s kaum bewusste Erfahrung des Heimatverlustes u. der Vergangenheitsdemontage, als räumlich-zeitl. Expropriation aus der eigenen, der dt. Kultur, die M. aber als Wirklichkeit nicht realisiert habe: »M. war kein deutscher Dichter in der Baracke von Gurs«; er war nur noch »Alfred Israel Mombert, Deportierter aus Karlsruhe«. Weitere Werke: Der Glühende. Lpz. 1896. – Der himml. Zecher. Bln. 1909. Erw. 1951. – Musik der Welt. Lpz. 1915. – Der Held der Erde. Lpz. 1919. – Der Thron der Zeit. Stgt. 1925. – Atair. Lpz. 1925. – Aiglas Herabkunft. Lpz. 1929 (D.). – Aiglas Tempel. Lpz. 1931 (D.). Ausgaben: Dichtungen. Gesamtausg. [mit den Gattungen ›Gedicht-Werke‹, ›Dramen‹, ›Mythen‹]. Hg. Elisabeth Herberg. 3 Bde., Mchn. 1963. – Gedichte. Ausw. u. Nachw. dies. Stgt. 1967. – Briefwechsel: Briefe an Richard u. Ida Dehmel. Hg. Hans Wolffheim. Mainz 1956. – Briefe. 1893–1942. Hg.
Mommsen Benjamin J. Morse. Heidelb./Darmst. 1961. – Briefe an Vasanta. 1922–37. Hg. ders. Heidelb. 1965. – Briefe an Friedrich Kurt Benndorf aus den Jahren 1900–40. Hg. Paul Kersten. Heidelb. 1975. Literatur: Friedrich Kurt Benndorf: A. M. Der Dichter u. Mystiker. Lpz. 1910. – Ders.: Der AeonMythos v. M. Dresden 1917. – Martin Buber: A. M. In: Der Neue Merkur 5 (1921/22). – Oskar Loerke: A. M. In: Ders.: Zeitgenossen aus vielen Zeiten. Bln. 1925. – F. K. Benndorf: M. Dresden 1932. – Richard Benz: Der Dichter A. M. Heidelb. 1947. – Ingeborg Bachmann: Rez. zu ›Der himmlische Zecher‹ (1951). In: Ges. Werke. Bd. 4, Mchn./Zürich 1978, S. 313–315. – Hans Hennecke: A. M. Wiesb. 1952. – Elisabeth Herberg: Die Sprache A. M.s. Diss. Hbg. 1959. – Franz-Josef Petermann: Symbolik u. Problem der ›Gestalt‹ bei A. M. Diss. Köln 1960. – Jost Hermand: Die Ur-Frühe. Zum Prozeß des myth. ›Bilderns‹ bei M. (1961). In: Ders.: Der Schein des schönen Lebens. Ffm. 1972, S. 238–252. – Peter Michelsen: Das Ich u. der Mythos. Zum Werk A. M.s (1966). In: Ders.: Zeit u. Bindung. Gött. 1976, S. 62–74. – Franz Anselm Schmitt (Hg.): A. M. Karlsr. 1967 (Kat.). – Walter Gebhard: Der Zusammenhang der Dinge. Tüb. 1984, S. 513–533. – Elisabeth Veit: Fiktion u. Realität in der Lyrik [...]. Diss. Mchn. 1987. – Ulrich J. Beil: A. M. Die Wiederkehr des Absoluten. Bern 1988. – Susanne Himmelheber (Hg.): A. M. Eine Ausstellung des Deutsch-Amerikanischen Instituts in Zus. mit der Stadt Heidelberg. Heidelb. 1993. – Raymond Furness: Zarathustra’s Children. A Study of a Lost Generation of German Writers. Columbia/South Carolina 2000, S. 49–73. – Joachim W. Storck: ›Reine Gestalt – unnahbare Sage‹ [Lebensbild]. In: Alemann. Judentum. Spuren einer verlorenen Kultur. Hg. Manfred Bosch. Eggingen 2001, S. 362 ff. Maria Behre
Mommsen, Theodor, * 30.11.1817 Garding/Schleswig, † 1.11.1903 Berlin; Grabstätte: ebd., Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde. – Historiker. Wie kaum ein anderer Historiker hat M. – in der Nachfolge Niebuhrs u. Boeckhs – der modernen Altertumskunde das Gepräge gegeben u. mit seiner bis heute grundlegenden Römischen Geschichte ein historiografisches Meisterwerk geschaffen, für das er 1902 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Nach häusl. Erziehung durch seinen humanistisch hochgebildeten Vater u. Schulzeit auf dem Christianeum in Altona studierte der
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Pfarrerssohn in Kiel Jurisprudenz, insbes. Römisches Recht; zgl. wurde er von der klass. Philologie u. ihren Interpretationsmöglichkeiten angezogen. Der Promotion (1843) folgte eine kurze Tätigkeit an einer Privatschule; danach konnte M., als dän. Untertan mit einem staatl. Reisestipendium versehen, sich in Italien aufhalten, wo er epigrafische Studien betrieb. Damit betrat er ein Arbeitsfeld, das sich später unter seiner Leitung zum »Corpus Inscriptionum Latinarum« (CIL) erweitert hat. Nach seiner Rückkehr engagierte er sich im Revolutionsjahr 1848 als nationalliberaler Journalist in der »Schleswig-holsteinischen Zeitung«, erhielt einen Ruf als a. o. Prof. für Römisches Recht an der Universität Leipzig, wurde aber hier, als Mitgl. des »Deutschen Vereins«, wegen seiner polit. Tätigkeit 1851 amtsenthoben. Im folgenden Jahr nach Zürich berufen, begann er mit der Veröffentlichung der erstaunl. Reihe von großen u. kleinen Werken (sein Schriftenverzeichnis umfasst 1500 Titel), die ihn schnell international berühmt machten. 1854 nahm M. einen Ruf nach Breslau an, 1858 erhielt er als Beamter der Preußischen Akademie der Wissenschaften die Leitung des CIL u. 1861 das Ordinariat für Römische Geschichte an der Berliner Universität. Zgl. blieb er, der 1858 die »Preußischen Jahrbücher«, 1861 die Deutsche Fortschrittspartei mitgründete u. 1863–1866, 1873–1879 dem Preußischen Abgeordnetenhaus, 1881–1884 dem Deutschen Reichstag angehörte, leidenschaftlich der Politik verbunden; hielt er es doch für »den schlimmsten aller Fehler [...], wenn man den Rock des Bürgers auszieht, um den Gelehrtenschlafrock nicht zu kompromittieren« (1893). Unter dem Eindruck der nat. Einigung u. der Reichsgründung gab er die Opposition gegen Bismarcks Politik auf, wurde jedoch im Laufe der 1870er Jahre ein kompromissloser Kritiker der inneren Verhältnisse des Reiches, des »Ministerabsolutismus« u. der polit. Unterentwicklung einer Nation, in welcher es nicht möglich sei, ein freier, selbständiger »Bürger« zu sein. In der Testamentsklausel von 1899 fasste er seine polit. Erfahrungen bitter zusammen: »In meinem innersten Wesen, und ich meine, mit dem Besten was in mir ist, bin ich stets ein
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animal politicum gewesen und wünschte, ein Bürger zu sein. Das ist nicht möglich in unserer Nation, bei der der Einzelne, auch der Beste, über den Dienst im Gliede und den politischen Fetischismus nicht hinauskommt.« An gleicher Stelle erklärte M., »äußerliche Zufälligkeiten« hätten ihn zum Historiker u. Philologen gemacht, obwohl Vorbildung u. »wohl auch« Begabung für beide nicht ausgereicht hätten. Diese umstrittene u. bestreitbare Selbstaussage hat Alfred Heuß (1957 in: Antike und Abendland, 6) überzeugend abgewogen: Gewiss war M. kein Philologe im übl. Sinn dieser Disziplin; für ihn, den ausgebildeten Juristen, war die Philologie eine – von ihm meisterhaft gehandhabte – formale Wissenschaft, die er für sein Thema, die röm. Geschichte u. das röm. Staatsrecht, einsetzte. Und gewiss war er kein Historiker nach seiner Ausbildung, die zu einer Zeit erfolgte, als es die Geschichte als institutionalisierte Disziplin in Kiel noch gar nicht gab; auch später blieb er überzeugt, die Ausbildung des Historikers sei am besten durch die klass. Philologie u. die Jurisprudenz grundgelegt. Dennoch war M. einer der großen Historiker des 19. Jh.: nicht nur wegen seiner Römischen Geschichte, sondern auch wegen der wiss. Redlichkeit, mit der er sich der Differenz zwischen geschichtl. Erkenntnis u. Forschung bewusst blieb. »Geschichtliche Erkenntnis und wahre geschichtliche Aussage sind für Mommsen eine schöpferische synthetische Tätigkeit, welche aus verschiedenen Quellen des menschlich-geistigen Vermögens gespeist wird [...]« (Heuß). In der langen Zeit seiner wiss. Arbeit nehmen sich die Jahre der Ausarbeitung der Römischen Geschichte, die M.s internat. Ruhm begründete u. bis heute ausmacht, fast wie eine Ausnahme aus (Bde. 1–3, Bln. 1854–1956. Bd. 5, 1885. Bd. 4 wurde nie geschrieben. Neuausg. in 8 Bdn., Mchn. 1976). Viel dauerhafter haben ihn (ab 1863) die Herausgabe des CIL u. die Ingangsetzungen anderer großer Editionsunternehmungen beschäftigt, wobei immer wieder eigene Werke entstanden, u. a. eine Geschichte des römischen Münzwesens (Bln. 1860. Neudr. Graz 1956), Die italische Bodenteilung (1884), Das rö-
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mische Militärwesen seit Diocletian (1889); zwei Bände Römische Forschungen erschienen 1863/ 79 in Berlin. Anhaltender hat ihn auch sein originellstes Werk, das Römische Staatsrecht (5 in 3 Bdn., Lpz. 1871–78. Neudr.e u. a. Darmst. 1971), beschäftigt. Die ersten drei Bände der Römischen Geschichte wurden in den Jahren der Reaktion nach der gescheiterten Revolution 1848/49 geschrieben; sie sind, bei aller wiss. Solidität, das Werk eines engagierten polit. Menschen: eine grandiose Vorstellung der röm. »res publica«, in der einmal in beispielhafter Weise der Ausgleich zwischen Macht u. Recht, Einheit u. Freiheit gelang u. jener Bürgersinn existierte, den der Liberale M. in Deutschland so vermisste. Selbst die Idealisierung Cäsars gehört in dieses Bild, verstand M. ihn doch als Gegenbild zum monarch. Absolutismus, weil er stets am Leitbild des freien Gemeinwesens festgehalten habe. Vorbildlichkeit hatte die röm. Republik für M. auch deshalb, weil sie die naturgebotene ital. Einheit hergestellt habe. Der Aufstieg Roms zur Weltmacht musste in dieser Sicht von außen aufgezwungen u. verderblich erscheinen; die Kaiserzeit beurteilte M. nur negativ, weil das expandierende Reich in seinem inneren Zusammenhalt abgestorben sei. So war es konsequent, dass der vierte Band, der diese Zeit behandeln sollte, ungeschrieben blieb; der fünfte behandelt die röm. Provinzen bis zur Zeit Diocletians u. umfasst eine Reihe von glänzenden Skizzen v. a. zur Wirtschafts- u. Kulturgeschichte. Obwohl in mancher Hinsicht moderner, stärker problematisierend, hat dieser schon wegen seines Gegenstands weniger geschlossene Band nicht den starken Eindruck auf die Leser gemacht wie die gleichsam in einem Zuge geschriebenen, stärker durch das polit. Engagement des Autors bestimmten ersten Bände. Sie waren nicht »politische« Geschichtsschreibung; sie wollten auf die Gegenwart wirken u. für selbständiges gegenwärtiges Handeln Orientierung bieten; u. das mit einer außerordentl. Sprach- u. Gestaltungskraft, die alle Schriften M.s, auch seine nicht selten scharfen u. äußerst krit. polit. Reden u. Artikel, kennzeichnet u. die Römische Geschichte zu einem klass. Werk der His-
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toriografie, aber auch zu einem der großen Werke der dt. wiss. Literatur machte, die das Geschichtsbild nicht allein der dt. Gebildeten nachhaltig geprägt hat. Ausgaben: Reden u. Aufsätze. Hg. Otto Hirschfeld. Bln. 1905. 31912. Neudr. Hildesh. 1976. – Ges. Schr.en. 8 Bde., Bln. 1905–13. – M. u. Wilamowitz. Briefw. 1872–1903. Hg. Friedrich u. Dorothea Hiller v. Gaertringen. Bln. 1935. – T. M. – Otto Jahn. Briefw. Hg. Lothar Wickelt. Ffm. 1962. – Theodor Storms Briefw. mit T. M. Hg. Hans-Erich Teitge. Weimar 1966. Literatur: Karl Zangemeister: T. M. als Schriftsteller. Ein Verz. seiner Schr.en. Bln. 1905. Fortgesetzt v. Emil Jacobs, neu bearb. v. Stefan Rebenich. Hildesh. 2000. – Ludo Moritz Hartmann: T. M. Gotha 1908. – Carl Gehrcke: T. M. als schleswig-holstein. Publizist. Breslau 1927. – Alfred Heuß: T. M. u. das 19. Jh. Kiel 1956. – Albert Wucher: T. M. – Geschichtsschreibung u. Politik. Gött. 1956. 21968. – Lothar Wickert: T. M. 4 Bde., Ffm. 1959–80. – A. Wucher: T. M. In: Dt. Historiker 4. Hg. Hans-Ulrich Wehler. Gött. 1972, S. 7–24. – Karl Christ: T. M. In: Ders.: Von Gibbon bis Rostovtzeff. Darmst. 1973, S. 84–118. – Stefan Rebenich: T. M. u. Adolf Harnack. Bln. 1997. – Ders.: T. M. Eine Biogr. Mchn. 2002. – Wilfried Nippel (Hg.): T. M.s langer Schatten. Hildesh. u. a. 2005. – Okko Behrend: M.s Glaube. Zur Genealogie v. Recht u. Staat in der Histor. Rechtsschule. Gött. 2005. Rudolf Vierhaus / Red.
Mon, Franz, eigentl.: F. Löffelholz, * 6.5. 1926 Frankfurt/M. – Experimenteller Schriftsteller u. Hörspielautor. M. studierte Germanistik, Geschichte u. Philosophie, promovierte über Brockes’ Irdisches Vergnügen in Gott (Ffm. 1955) u. wurde dann Lektor, später Leiter eines Frankfurter Schulbuchverlags. 1962 gründete er mit Ernst Jandl den Typos-Verlag, Frankfurt/M. Von 1990 bis 2000 war er zudem als Lehrbeauftragter für Grafik/Design in Offenbach, Kassel u. Karlsruhe tätig. Seit 1978 ist er Mitgl. des Bielefelder Colloquiums Neue Poesie. Daneben ist er Mitgl. u. a. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt, der Akademie der Darstellenden Künste in Frankfurt am Main u. der freien Akademie der Künste Mannheim. 1971, 1982 u. 1996 erhielt M. den Karl-Sczuka-Preis des
Südwestfunks, 1977 den Prix Futura, Sonderpreis. Die in den 1950er Jahren sich international herausbildende Strömung der Konkreten Poesie hatte mit M., Eugen Gomringer u. Helmut Heißenbüttel ihre wichtigsten Vertreter in Deutschland. Sie knüpften mit ihren Texten an die literar. Moderne, v. a. an den Dadaismus u. Surrealismus, an, zeigten sich jedoch auch beeindruckt von der Sprachverwendung der Barockautoren wie Schottelius. Ab Anfang der 1950er Jahre publizierte M. in studentischen Zeitschriften. Bereits in artikulationen (Pfullingen 1959), seiner ersten Buchveröffentlichung, findet man einen Großteil der Techniken, mit denen er bis zu seinen jüngsten Veröffentlichungen arbeitet: Zeichen, Buchstaben, Wörter werden grafisch isoliert oder rein assoziativ kombiniert, sprachl. Gebilde – Zitate, Redewendungen, Sprichwörter – schließen sich aufgrund serieller u. permutativer Verfahren nicht länger zu bestimmten Sinnverknüpfungen zusammen. M. publizierte im Lesebuch (Neuwied 1967) ein Kompendium experimenteller Schreibweisen von Konkreter Poesie über Kurzgeschichten bis zum Drama. Mit herzzero (Bln./Neuwied 1968) legte er einen der ersten längeren experimentellen Texte vor; Sprachmaterial wird in einer offenen Form dargeboten, die den Leser dazu auffordert, erzählerische oder dramat. Zusammenhänge selbst herzustellen. Es ist kein Zufall, dass M. bei steigender Komplexität des Textmaterials sich die Möglichkeit des Hörspiels zunutze machte, mehrere Stimmen zgl. zu Gehör zu bringen. Ab 1969 arbeitete er v. a. mit dem WDR zusammen, als Koproduktion entstand hier das mittlerweile als Klassiker geltende Hörspiel das gras wies wächst (Studiowelle Saar 1969), das »produktiven Gebrauch [...] von der Vielfalt – auch bisher tabuisierter sprachlicher Artikulationen und avancierter technischer Apparatur« macht (Klaus Schöning in: Text + Kritik 60). Für die innere Dynamik dieser Arbeiten spielen Erinnerung, Vergessen u. Erwartung – für M. Faktoren, die die Bedeutung jedes Wortes mitbestimmen – eine entscheidende Rolle; zitierte Formeln u. Floskeln verweisen auf die hinter dem Rücken der Sprechenden anwesende
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Geschichte, vor allem die des 20. Jh. Die u. Bibliogr. der Sekundärlit.). – Martin Maurach: Sprache muss erst zertrümmert werden, da- Das Experimentelle Hörspiel. Wiesb. 1995. – Mimit im alltägl. Gebrauch verschüttete semant. chael Lentz: Lautpoesie / -musik nach 1945. 2 Bde., Plastizitäten von Worten aufgedeckt werden Wien 2000. – Gustav Mechlenburg u. Dieter Wenk: F. M. In: LGL. Heinz Wittenbrink / Dieter Wenk können. Die Rückeroberung des Bedeutungshofs der Wörter: So könnte man M.s an Karl Kraus gemahnenden Versuch einer Moníková, Libusˇ e, * 30.8.1945 Prag, Sprachethik benennen, die er an verschiede† 12.1.1998 Berlin. – Prosa- u. Hörspielnen Stellen seines Werks, gebündelt in den autorin, Essayistin. 1970 erschienenen theoret. Texten über Texte (Neuwied u. a.), vorstellt. M.s Poetik der Of- Aufgewachsen in der kommunist. Tschechofenheit (dokumentiert in der Anthologie mo- slowakei wurde M. v. a. durch die Niedervens. Wiesb. 1960), die Fixierung u. Ordnung schlagung des Prager Frühlings geprägt: Ihr auf allen Ebenen von Sprache problematisiert Werk ist als Polemik gegen die Rückversetu. für die die Grenzen zwischen den tradi- zung ihrer Heimat in die kulturell-polit. Betionellen literar. Gattungen wie zwischen Li- deutungslosigkeit nach 1968 konzipiert. Ab teratur, Musik u. bildender Kunst ihren 1971 lebte die promovierte Germanistin der zwingenden Charakter verlieren, ist eine ri- Karlsuniversität Prag mit ihrem dt. Ehemann gorose Antwort auf die nicht nur von M. ge- in der Bundesrepublik. Nachträglich hat M. stellte Diagnose, dass der dt. Sprache durch ihren Ortswechsel auf die »allumfassende die Erfahrungen des Nationalsozialismus ein Diskriminierung von Frauen« bezogen. Ihre unermessl. Schaden entstanden war. Seine offene Kritik der patriarchal. Verhältnisse in Texte, zu deren Vorläufern u. a. Autoren wie der (post-)kommunist. Gesellschaft sowie die Stéphane Mallarmé, Kurt Schwitters u. Raoul feminist. Prägung ihres Frühwerks hat ihre Hausmann gehören, verzichten auf jede In- Rezeption in Tschechien zu Lebzeiten verhaltlichkeit im normalsprachl. Verständnis u. hindert. Bevor M. 1981 freie Schriftstellerin sind »Prosa mit surrealen Elementen und wurde (seit 1988 in Berlin), unterrichtete sie quasi parabolischen Verläufen«, «visuell- als Literaturdozentin in Kassel u. Bremen. scripturale Textblätter« u. »phonetisch-arti- Ihre Kenntnis des Universitätsbetriebs schlug kulatorische Versuche« (aus: Einige Bemerkun- sich in den satir. Passagen in Verklärte Nacht gen zu mir selbst. In: Jahrbuch der Deutschen (Mchn. 1996) u. in Treibeis (Mchn. 1992) nieder. M. hat die Literatur als »bessere GeAkademie für Sprache und Dichtung 1986). Im Gegensatz zu anderen Autoren seiner schichtsschreibung« aufgefasst. Ihre tschech. Generation gab M. das experimentelle Figuren haben durch die bewegte Geschichte Schreiben auch nach der Mitte der 1970er des 20. Jh. ihr Zuhause verlassen (Pavane für Jahre nicht auf. Auch seine jüngsten Texte eine verstorbene Infantin. Bln. 1983; Die Fassade. aus den 1990er Jahren (Nach Omega undsowei- Mchn. 1987; Treibeis; Verklärte Nacht) oder ter. Spenge 1992) sind, paradox formuliert, fühlen sich in ihrer Stadt (Eine Schädigung. Bln. gewohnt experimentell geschrieben. Die 1981; Der Taumel. Mchn. 2000) nicht mehr Frage ist berechtigt, u. auch M. stellt sie, ob heimisch. Diese Heimatlosigkeit ermöglicht das krit. Potenzial der experimentellen eine krit. Überprüfung dieses Zustandes u. Dichtung heute noch ausreicht. Auch wenn zgl. die literar. Erschließung weiter Räume man diese Frage verneint, bleibt festzuhalten, (Die Fassade; Treibeis). Obwohl M. im Unterschied zu anderen Lidass von der Konkreten Poesie sowie M.s Texten u. Hörspielen innovative Impulse teraten der tschech. 68er-Generation wie Miausgegangen sind. Die Tradition des Experi- lan Kundera, Jirˇ í Grusˇ a oder Pavel Kohout ments wach zu halten ist nicht das Schlech- wegen ihres polit. Status Vertreterin der Miteste, was man von einem Werk sagen kann. grationsliteratur ist, gehört sie ihrer ThemaLiteratur: Hans Christian Kosler: M. In: KLG tik nach zur Exilliteratur. Ihren Sprach(Lit.). – Text + Kritik 60 (1978). – F. M. Ausstel- wechsel stellte M. als Verteidigungsmechalungskat. Kunsthalle Bielefeld 1988 (mit Werkverz. nismus dar. Während der Arbeit an Eine
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Schädigung habe sie realisiert, dass sie das raturkritik lobte M.s raffinierte Schreibweise traumat. Thema (Vergewaltigung einer Frau u. ihre Bereicherung der dt. Literatur um durch einen Polizisten als Allegorie der Ok- europ. Stoffe. In der Forschung wird Die Faskupation der Truppen des Warschauer Paktes sade u. a. als origineller Beitrag zur literar. von 1968) in ihrer Muttersprache nicht be- Historiografie geschätzt. wältigen könne. In ihren Texten wollte sie Weitere Werke: Essays: Schloß, Aleph, durch bewusst gewählte lexikal. sowie syn- Wunschtorte. Mchn. 1990. – Prager Fenster. Mchn. takt. Verfremdungen die dt. Sprache aus ihrer 1994. – Hörspiel: Unter Menschenfressern. Mchn. normierten Bahn werfen u. um tschech. 1990. – TV-Film: Grönland-Tagebuch. ZDF 1994. Literatur: Bibliografie: Brigid Haines u. Lyn »Realien« bereichern. Bei diesem Schreibverfahren hat sich M. auf Franz Kafka beru- Marven (Hg.): L. M. Amsterd. 2005, S. 281–309. – fen, dessen Schloss-Roman in die verwobene Weitere Literatur: Delf Schmidt u. Michael SchwidTextstruktur in Pavane für eine verstorbene In- tal: Prag-Berlin: L. M. In: Literaturmagazin 44 (1999). – Antje Mansbrügge: Autorkategorie u. fantin einging. Diese Integrationsgeschichte Gedächtnis. Würzb. 2002. – Alfrun Kliems: Im einer tschech. Intellektuellen in der dt. Ge- Stummland. Ffm. 2002. – Eberhard Falcke: L. M. sellschaft enthält viele autobiogr. Züge (Hei- In: LGL. – Ulrike Vedder: L. M. In: KLG. – Patricia matverlust, Universitätslehre, identitätsstif- Broser u. Dana Pfeiferová (Hg.): Hinter der Fassade. tende Rolle der Literatur), das Motiv der Wien 2005. – Haines / Marven 2005 (s. o.). – L. Identitätssuche wirkt sich strukturell auf den Marven: Body and Narrative in Contemporary LiText aus. Das Thema einer tschech. Künstle- teratures in German. Oxford 2005. – Karin Windt: rin, die sich zwischen beiden Kulturen be- Beschädigung, Entschädigung – Überlieferung, wegt, wird in Verklärte Nacht um die poetolog. Auslieferung. Bielef. 2007. Dana Pfeiferová Frage »Kunst oder Leben?« u. um das Motiv der problemat. Aufnahme einer renommierMonioudis, Perikles, * 8.9.1966 Glarus. – ten Persönlichkeit in der posttotalitären GeProsaautor. sellschaft erweitert. Zum europ. Ruf M.s trug Die Fassade bei (13 M., Sohn griechischer Eltern aus dem kosÜbersetzungen, ausgezeichnet u. a. mit dem mopolit. Alexandria, die 1964 in die Schweiz Döblin-Preis, 1987). Die Qualität dieses viel- kamen, wuchs in Glarus auf. 1987–1993 stuschichtigen Werkes, das als historischer, dierte er in Zürich Soziologie, Politologie u. polit., utop. Roman sowie als Gelehrten-, Allgemeines Staatsrecht. 1992 war M. MitKünstler-, Reise- oder Schelmenroman gele- begründer des Autorennetzwerks NETZ. Ein sen werden kann, macht v. a. M.s »humoris- mehrmonatiges Stipendium im Literarischen tisch gewendete Ästhetik des Widerstands« Colloquium Berlin bewog ihn 1995, als freier (Sibylle Cramer) aus. Auf dem düsteren Hin- Autor nach Berlin umzuziehen. Seit 2007 tergrund der Geschichte wird eine Komödie wohnt M. wieder in Zürich. gespielt, wobei die Clowns (vier Akademiker, Die Bewegung aus dem heimatl. Tal hinaus die für ihre Regimekritik aus Prag in die in die fremde Großstadt prägt das Werk von Provinz verbannt wurden) schließlich die M. seit den Anfängen. Dessen erste Phase bis Regie übernehmen. Nutzten sie zunächst die 1997 steht im Bann der Sprachfindung u. Restaurierung der Schlossfassade zum Aus- -erprobung. Der Roman Die Verwechslung leben ihrer künstler. Freiheit, ritzen sie nach (Zürich 1993) erzählt in monologisierender ihrer Rückkehr aus dem Osten (ihre Reise Form von einer zufälligen Begegnung zweier nach Japan hat sich in der Breschnew-Ära Männer mit Folgen. Die Handlung tritt dabei beinahe in einen Daueraufenthalt in Sibirien in den Hintergrund gegenüber einem expeverwandelt) Motive aus ihrer Odyssee ein u. rimentellen, streng rhythmisierten Sprachteilen der Außenwelt mit, dass sich die Kunst gestus, der beschreiben u. zgl. die Beschreidurch polit. Blockdenken nicht einschränken bungsqualität der Sprache reflektieren will. lässt. Vom tschech. Kontext aus setzt der Stilistische Anleihen bei Hermann Burger u. Roman die soziale Utopie vom »Sozialismus Thomas Bernhard sind unverkennbar. Nur so mit menschlichem Antlitz« um. Die dt. Lite- glaubt der Autor seiner engen Heimat bei-
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Weitere Werke: Der Günstling der Gegenstänkommen zu können. Im Erzählband Die Forstarbeiter, die Lichtung (Zürich/Frauenfeld de. Glarus 1991. Überarb. in: Soweit das Auge 1996) zügelt M. den paratakt. Sprachfluss reicht. Eine Erzählung aus den Bergen. 1996 (E.). – zugunsten präziser, kunstvoll komponierter Das Passagierschiff. Zürich/Frauenfeld 1995 (R.). – Die Trüffelsucherin. Stgt. 1999 (E.en). – InkubatiProsaminiaturen, die einen verblüffend veron. For Rainald Goetz / Kontrolliert. Für Thomas trauten Blick auf das Leben im Tal richten. Hettche. In: Null. Lit. im Netz. Köln 2000 (P.). – Eine Zäsur zieht der Roman Eis (Bln. 1997), (Hg.) Schraffur der Welt. Junge Schriftsteller über mit ihm beginnt sich M.s Werk zu weiten u. das Schreiben. Mchn. 2000. – Die Engel im Himvon der Sprachthematik zu emanzipieren, mel. Vom Boxen. Bln. 2003 (E.en). – In New York. indem darin erstmals eine geschlossene Ge- Bln. 2003 (P.). – Die Stadt an den Golfen. Thessaschichte erzählt wird. Der Erzähler, der im loniki, Berlin, Zürich, Alexandria. Aachen 2004 (P.). väterl. Betrieb beim Eisabbau mithilft, erhält – Freulers Rückkehr. Mchn. 2005 (Kriminalr.). – Einblick in ein vielfach kaltes Geschäft, mit Das blaue Telegramm. Bln. 2005 (Kinderbuch). – dem er nicht länger zu tun haben möchte. Für Durch die Nacht. In: Wiener Walzer. Eine literar. Reise mit dem Nachtzug v. Zürich nach Wien. Hg. Irritationen sorgt nicht mehr die nüchterne Hansjörg Schertenleib. Mchn. 2008, S. 111–119. Sprache, sondern die Simultaneität von HisLiteratur: Plinio Bachmann: Die Sprache der torie u. Gegenwart, die sich im Nebeneinanverlorenen Heimat. Vier Autoren der jüngeren Geder von Pferdeschlitten u. Klimaanlagen neration. In: Deutschsprachige Gegenwartslit. wiausdrückt. M. deutet hier seine Faszination der ihre Verächter. Hg. Christian Döring. Ffm. für techn. Belange an, die sich in der Erzäh- 1995, S. 246–270. – Heinz Hug: P. M. In: KLG. – lung Deutschlandflug (Bln. 1998) fortsetzt. Der Thomas Kraft: P. M. In: LGL. Beat Mazenauer Flug aus dem Zürich der 1920er Jahre ins moderne Berlin vollzieht sich aber nicht nur Montanus, Johannes Fabricius, eigentl.: auf der techn. Ebene, unterwegs landen die Hans Schmid, * Herbst 1527 Bergheim/ vier Flugpioniere mit ihren hochfliegenden Elsass, † 5.9.1566 Chur. – Theologe u. erot. Fantasien beim weibl. Geschlecht, was Reformator; neulateinischer Dichter. nicht ohne Komplikationen bleibt. Nach diesem Überbrückungsflug gewissermaßen M., Sohn eines Metzgers u. Spitalmeisters, findet M. mit dem nächsten Roman Palladium Neffe Leo Juds, erhielt seine Elementarbil(Bln. 2000) in Berlin Zuflucht. Zwischen dung in Zürich, später in Basel u. Straßburg Charlottenburg u. Prenzlauerberg entwickelt (bei Bucer). 1545 bezog er die Universität sich eine urbane Dreiecksgeschichte, aus der Marburg u. wechselte 1546 mit seinem alles Schweizerische sorgsam getilgt ist. Freund Petrus Lotichius Secundus nach WitDie verstreuten Texte der folgenden Jahre tenberg, um Melanchthon zu hören. Infolge zeugen allerdings weniger von Sesshaftigkeit des Schmalkaldischen Kriegs kehrte er nach als von vielen Reisen, die M. mehrfach in die Marburg zurück. Nach einem kurzen Besuch USA u. in den Mittelmeerraum führten. 2005 bei Joachim Camerarius in Leipzig wurde er hielt er am Massachusetts Institute of Tech- 1547 Provisor an der Gelehrtenschule in Zünology (MIT) eine Poetikvorlesung, Im Äther rich. 1551 zum Leiter des Collegium Abba(Aachen 2005), die nicht nur Poesie u. Wis- tissanum bestellt, hatte er ab 1557 die für die senschaft einander gegenüberstellt, sondern Reformation in Graubünden wichtige Stelauch daran erinnert, dass M. ein passionierter lung des Pfarrers von Chur inne. ausgewiesener »HochgeschwindigkeitsteleNeben reformatorisch-theolog. Schriften grafist« ist. Der Roman Land (Zürich 2007) (u. a. Erläuterungen zu den Apostelbriefen, spannt sich zwischen den Erzählmotiven einer Rede zur Begründung der protestant. Reisen u. Heimat auf. Ein Reisender befährt Ablehnung der Teilnahme am Trienter Konden Mittelmeerraum auf der Suche nach sei- zil, einer erst postum erschienenen Biografie nen biogr. Wurzeln u. erlebt in lose verbun- seines Lehrers Konrad Pellikan) u. einer Abdenen Kapiteln eine moderne Odyssee, wäh- handlung über die Differentiae animalium rend der ihm der Zweck seiner Reise all- quadrupedum (Zürich 1555), einer Frucht der mählich abhanden kommt. Zusammenarbeit mit Konrad Gessner, hin-
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terließ M. zwei aufschlussreiche Autobiogra- Montanus, Martin, * nach 1530 Straßfien in Prosa u. Distichen, deren poetische burg, † nach 1566. – Verfasser von sich an der Autobiografie Ovids in Tristien Schwänken, Novellen u. Spielen. IV,10 orientiert. Für die Literaturgeschichte ist M. als nlat. Am Martinstag 1557 beendete M., über desDichter bedeutsam, den Lotichius entschei- sen Leben nicht mehr bekannt ist, als er in dend beeinflusst hat. Neben einer frühen den Schriften mitteilt, in Dillingen an der Bearbeitung des Orion-Mythos von 1548 (in Donau seinen Wegkürtzer, eine Sammlung von Gruters Delitiae poetarum Germanorum. Bd. 3, 42 Schwänken in der Tradition von Wickrams Ffm. 1612, S. 101–104) hat sich die Gedicht- Rollwagenbüchlein u. verwandt mit den zeitsammlung Poemata [...] (Zürich 1556) erhal- nahen erfolgreichen Kompilationen Freys, ten, in der sich ein unvollendet gebliebenes Lindeners u. Schumanns. Als zweites Epos auf die Zürcher Bürgermeister, Ge- Schwankbuch entstand der im Titel an Jakob dichte auf Freunde u. Gönner (u. a. Wigand Freys gleichnamige Sammlung anschließenHappel, Josias Simler, Johannes Frisius) u. de Ander theyl der Garten geselschafft (Straßb.: sehr persönlich gehaltene (Beim Begräbnis der Paul Messerschmidt [um 1560]; 113 kleinen Tochter Katharina) ebenso finden wie Schwänke). M. stützt sich auf verschiedene zwei Elegien, die gewisse Nachwirkung ge- Quellen, die bedenkenlos ausgeschrieben zeitigt haben: eine Grabschrift auf Ulrich von werden. Bes. wichtig ist dabei das Decameron, Hutten u. ein Gedicht auf Wilhelm Tell. Die aus dessen Übersetzung durch Arigo M. v. a. beigegebene Ekloge De itinere ad montem Ut- Erzählungen mit sexuell anzügl. Sujet ausliacum von M.’ Neffen Theodor Collinus wählt. Gegen den Wegkürtzer u. den (stets in (1535–1604) ist eines der frühesten Zeugnisse seinem Anhang gedruckten) Andreützo, eine auf dem Decameron (II 5) basierende Novelle der schweizerischen Bergdichtung. von den Gefahren, die junge Männer in der Weitere Werke: Sobrietatis oratio invectiva in Ebrietatem [...]. o. O. u. J. – De providentia Dei. Fremde erwarten, wurde 1558 in Augsburg Basel 1563. – Methodus studiorum. Zürich 1617. ein handschriftlich überlieferter Prosadialog Ausgaben: Festgruß der Universitätsbibl. Basel. (gelertter leütt urtell) verfasst, in dem mit »solch Basel 1886 (frühere Fassung der ›De Wilhelmo hailloß ellend fantasten« u. ihrem sittenlosen Thellio Elegia‹). – Theodor Vulpinus: Der lat. Geschreibe abgerechnet wird. Diese Replik ist Dichter J. F. M. Straßb. 1894 (Übers. u. Komm. der wichtiges Dokument für die Rezeption der beiden Autobiogr.n; S. 3 f. Werkverz.). – Harry C. Schwankliteratur im 16. Jh. Schnur: Lat. Gedichte dt. Humanisten. Stgt. 21978, Novellen Boccaccios dienten M. auch als S. 128–139 (›De Vuilhelmo Thellio Elegia‹ mit (verschwiegene) Vorlage für drei weitere ProÜbers.). – Heinz Schmitz (Hg.): Arkad. Uetliberg, saerzählungen u. drei Dramen, die alle in Theodori Collini De itinere ad Montem Utliacum. Einzeldrucken überliefert sind: Als Hystoria Zürich 1978 (mit Übers.). erschienen (jeweils in Straßb.: Joh. Knobloch Literatur: Traugott Schieß: J. F. M. In: Zürcher Tb. auf das Jahr 1904. Zürich 1904, S. 253–310. – [um 1557]) Thedaldus und Ermilina (Decameron Ellinger 2, S. 408–411. – Conradin Bonorand: F. M. III 7), Guiscardus und Sigismunda (Dec. IV 1), In: NDB (Lit.). – Hermann Wiegand: Hodoeporica. Cymon und Iphigenia (Dec. V 1); als Spiel wurBaden-Baden 1984, bes. S. 191–194 (zu Collinus). – den (jeweils in Straßb. [um 1560]) gedruckt Wilhelm Kreutz: Die Deutschen u. Ulrich v. Hut- Der vntreue Knecht (Dec. VII 7), Vom vertriebenen ten, Rezeption v. Autor u. Werk seit dem 16. Jh. Grafen (Dec. II 8) sowie Titus und Gisippus (Dec. Mchn. 1984, S. 36 f. u. ö. – Bautz (Lit.). – Siegmar X 8). Mit der Thematik des Andreützo verDöpp: Ioannes F. M. Die beiden lat. Autobiogr.n. wandt ist eine polem. Klage über Betrug u. Stgt. 1998 (Lit.). – Karl A. Enenkel: Die Erfindung Geldschneiderei in Gasthäusern u. Herberdes Menschen: Die Autobiographik des frühneuzeitl. Humanismus v. Petrarca bis Lipsius. Bln./ gen, Von vntrewen Würten (Straßb. [um 1560]). Der Wegkürtzer mit mindestens zehn DruNew York 2008, S. 575–615 (Lit.). cken u. Thedaldus und Ermilina (vier Aufl.n, Hermann Wiegand Übers.en ins Niederdeutsche u. Niederländische) waren beachtl. Bucherfolge; auch wur-
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den M.’ Schwänke häufig bearbeitet. Der Forschung gilt er gleichwohl als Beispiel für eine dekontextualisierende u. nivellierende Rezeption Boccaccios in Deutschland. Bedeutung haben M.’ Erzählsammlungen auch als Erstbeleg zahlreicher Märchen wie Das tapfere Schneiderlein oder Von dem Schwaben, der das Leberlein gefressen. Ausgabe: M. M.: Schwankbücher (1557–66). Hg. Johannes Bolte. Tüb. 1899. Neudr. Hildesh. 1972 (enth. ›Wegkürtzer‹, ›Andreützo‹, ›Gartengesellschaft‹, ›Von untreuen Wirten‹ sowie die drei ›Hystorien‹ nach Boccaccio). Literatur: Johannes Bolte, Ausg., S. VII-XL. – Denes Monostory: Der Decamerone u. die dt. Prosa des XVI. Jh. Den Haag/Paris 1972. – Claudia Bolsinger: Das Decameron in Dtschld. Wege der Literaturrezeption im 15. u. 16. Jh. Ffm. 1998, S. 31–35 u. ö. – Thomas Diecks: M. In: NDB. – Ursula Kocher: Boccaccio u. die dt. Novellistik. Formen der Transposition ital. ›novelle‹ im 15. u. 16. Jh. Amsterd./New York 2005, S. 416–423. – Hans-Jörg Uther: M. In: EM. Hans-Jürgen Bachorski † / J. Klaus Kipf
Montez, Lola, eigentl.: Elizabeth Rosanna Gilbert, * 17.2.1821 Grange, County Sligo/Irland, † 17.1.1861 New York. – Tänzerin u. Hochstaplerin. Mit dem Namen Lola Montez rückt das Schaffen von Ghostwritern, Lohnschreibern u. Übersetzern ins Blickfeld, ist es doch vielfach deren Leistung, auf der die Popularität insbes. der Memoirenliteratur beruht. Bei den Memoiren der Lola Montez, Gräfin von Landsfeld entspricht die geborgte Autorenschaft in bes. Weise einer in ihrer Identität ohnehin konstruierten Person. Als Verfasser gelten ein gewisser Hughes de Cortal oder auch Hughes de Coital sowie Charles Joseph Brifaut (1781–1857), der als Librettist für die Oper in Paris greifbar ist. Im Verständnis einer Enthüllungsgeschichte setzte das Unternehmen auf ein publizist. Interesse an der Affäre der Tänzerin mit dem König von Bayern, die in ihren polit. Folgen schwer zu bereinigen war u. als Skandalon über das Revolutionsjahr 1848 hinaus im Gedächtnis blieb. Die Memoiren erschienen ab Jan. 1851 als Fortsetzung in der Pariser Tageszeitung »Le Pays«, doch wurde die Serie rasch wieder
eingestellt, ohne je zu einer eigenständigen Drucklegung gekommen zu sein. Der Misserfolg hielt dt. Verleger nicht ab, gleich zwei Übersetzungen herauszugeben, zunächst Memoiren von Lola Montez, Gräfin von Landsfeld, aus dem Französischen übertragen von Ludwig Fort (Grimma/Lpz. [1851]) u. kurz darauf Memoiren der Lola Montez (Gräfin von Landsfeld) (Bln. 1851). Die auf neun Bände u. 179 Kapitel angewachsene Berliner Ausgabe erweist sich allein schon im Umfang als gänzlich losgelöst von der Zeitungsvorlage, erlangte durch einen modernen Nachdruck aber eine gewisse Verbindlichkeit (Memoiren der Lola Montez, Gräfin von Landsfeld. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Kerstin Wilhelms. 2 Bde., Ffm. 1986). Der Gattungsbegriff »Memoiren« weckt freilich falsche Erwartungen. Es handelt sich vielmehr um einen überlangen Roman, der in der Form einer autobiogr. Erzählung abgefasst ist u. den abenteuerl. Lebensweg einer Frau im Zeitalter der Restauration beschreibt. Mitunter scheinen alte Traditionen der »novela picaresca« auf, etwa schon in der genealog. Eröffnung, in der die Protagonistin ihre Herkunft aus span. Adelsgeschlecht konstatiert. Die tatsächlich außergewöhnl. Umstände, in denen Elizabeth Gilbert in Indien aufgewachsen war u. es als Tänzerin »Señora Maria de los Dolores Porris y Montez« verstand, sich vor den Kulissen von Paris, London u. Warschau zu behaupten, erscheinen durchaus bemerkenswert. Die Romanstationen erweisen sich auf weiten Strecken jedoch als erzählerische Fiktion, die aus der damals aktuellen Reiseliteratur gespeist wird, um die Authentizität eines persönl. Erlebens vorzutäuschen; zum Beispiel ist der gesamte Italienabschnitt (Kap. 127–133) als eine leidlich paraphrasierte Übersetzung von James Fenimore Coopers Excursions in Italy (1838) zu identifizieren. Es braucht über weit 1000 Druckseiten, bis die Heldin in die Hauptstadt des bayer. Königreichs gelangt, in der es im Jahr 1847 tatsächlich zu der im Titel annoncierten Adelserhebung gekommen war. Dieser politisch kuriose Lebensabschnitt ist in den Memoiren weitgehend aus damals längst bekannten Publikationen abgeschrieben, insbes. aus dem Buch Lola Montez und die Jesuiten. Eine Darstellung der jüngsten Ereignisse in
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Literatur: Bruce Seymour: L. M. A Life. New München (1847), das unter dem Pseud. »Dr. Paul Erdmann« erschienen war. Als histor. York 1996. Thomas Weidner Quelle unergiebig u. als belletrist. Lektüre wenig unterhaltsam, konnten die Memoiren Moosdorf, Johanna, * 12.7.1911 Leipzig, aus eigener Perspektive gewissermaßen als † 21.6.2000 Berlin. – Romanschriftstelledas europ. Testament gelten, das M. vor ih- rin, Lyrikerin, Hörspielautorin. rem Neuanfang in den Vereinigten Staaten hinterließ. Dort erschienen unter ihrem Na- M. heiratete 1932 den Politologen Paul men weitere Schriften, die im deutschspra- Bernstein. Da ihr Mann Jude war, wurde M.s chigen Raum weitgehend unbekannt geblie- erster Gedichtband, der 1933 erscheinen ben sind: The Arts of Beauty; or Secrets of a Lady’s sollte, nicht gedruckt. Paul Bernstein wurde Toilet. With Hints to Gentlemen on the Art of 1943 verhaftet u. 1944 in Auschwitz ermorFascinating (New York 1858); Lectures of Lola det. M. floh mit ihren beiden Kindern in die Montez (Countess of Landsfeld) including her Au- Tschechoslowakei u. kehrte kurz vor Kriegstobiography (New York 1858); Anecdotes of Love. ende nach Leipzig zurück, wo sie als ChefreBeing a true Account of the Most Remarkable Events dakteurin der literar. Zeitschrift »März« tätig Connected with the History of Love, in All Ages and war, bis das Blatt nach kurzer Zeit von den Among all Nations (New York 1859). Authen- sowjet. Militärbehörden verboten wurde. 1950 übersiedelte M. nach Westberlin. tische Proben der eigenen Sprachkraft gab M. in zahlreichen Briefen, insbes. an ihren Lieb- Nach mehreren Förderpreisen erhielt sie haber Ludwig I. König von Bayern. Mit den 1963, insbes. für den Roman Nebenan (Ffm. nicht zur Veröffentlichung vorgesehenen Be- 1961), den Nelly-Sachs-Preis. In diesem Rokenntnissen des Monarchen bedient der man wie in allen Werken steht die AuseinBriefwechsel in seinen intimen Passagen ein andersetzung mit dem Faschismus u. dessen weniger literar. als voyeurist. Interesse. Weil Kontinuität in der Bundesrepublik Deutschdie Briefe im Sinne einer Geheimsprache in land im Mittelpunkt. Dieses Thema behaneinem Pseudospanisch verfasst sind, folgt der delt M. aus der Perspektive der Frau. Die Leser aber auch hier der interpretierenden Kritik an einer »Männlichkeit«, wie sie z.B. Auslegung der Übersetzer (Reinhold Rauh u. im Nationalsozialismus in Erscheinung geBruce Seymour, Hg.: Ludwig I. und Lola Montez. treten war, gewinnt in M.s jüngerem Werk zunehmend an Bedeutung, so in dem Roman Der Briefwechsel. Mchn./New York 1995). Rezeptionsgeschichtlich lieferten die Me- Die Freundinnen (Mchn. 1977), in dem die moiren nicht nur den Stoff, sondern selbst Geschichte einer lesb. Liebe in histor. Zubereits das erste Beispiel einer bis heute nicht sammenhang gestellt u. zu einer Zivilisaabreißenden Reihe von Lola-Montez-Roma- tions- u. Patriarchatskritik erweitert wird. An nen: [Friedrich] Poths-Wegner: Lola Montez. diesem Roman hatte M. von 1963 bis 1970 Historischer Roman (Lpz. [1902]); Joseph Au- geschrieben, doch erst sieben Jahre später eigust Lux: Lola Montez. Historischer Roman (Bln. nen Verlag gefunden, der ihn publizierte. 1912); Oskar Gluth: Der Löwe und die Tänzerin. Erst die Neuauflage von Die Freundinnen im Ein Münchner Roman um Lola Montez (Mchn. Jahr 1988 (Ffm.) wurde ein Verkaufs-Erfolg, 1950); Erich Pottendorf: Lola Montez. Ein auf dessen Basis der autobiogr. Roman JahrTraum von Schönheit und Liebe (Wien 1955); hundertträume direkt nach Vollendung im Jahr Marianne Wintersteiner: Lola Montez. Roman- 1989 (Ffm.) veröffentlicht wurde. Hier wird biographie (Mchn. 1990). Beachtung verdienen aus der Perspektive einer älteren Erzählerin die dramat. Bearbeitung von Joseph Ruede- sowohl die Liebe zu ihrem jüd. Mann in der rer, Die Morgenröte. Eine Komödie aus dem Jahr Zeit der Nazi-Herrschaft als auch die Liebe zu 1848. In 5 Akten (Bln. 1905), u. die filmische ihrer Freundin erinnert: Beide Geliebten hat Adaption von Max Ophüls, Lola Montez sie verloren, doch sie sind in ihrem Leben gegenwärtig geblieben. (Frankreich/Dtschld. 1955).
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M. hat bis zu ihrem Tod weiter geschrieben. Ihr Nachlass befindet sich im Literaturarchiv Marbach. Weitere Werke: Flucht nach Afrika. Freib. i. Br. 1952 (R.). – Nachtigallen schlagen im Schnee. Ffm. 1953 (R.). – Der blinde Spiegel. Köln 1963 (Hörsp.). – Die Andermanns. Stgt. 1969 (R.). – Sieben Jahr’ Sieben Tag’. Gedichte 1950–79. Wiesb./Mchn. 1979. – Fahr hinaus ins Nachtmeer. Ffm. 1990 (G.e). – Die Tochter. Ffm. 1991 (E.). – Franziska an Sophie. Ffm. 1993 (E.). – Flucht aus der Zeit. Bremen 1997 (E.). Literatur: J. M. Nelly-Sachs-Preisträgerin Dortm. 1963. Hg. Stadtbücherei Dortmund 1965 (mit ausführl. Bibliogr., bearb. v. Hedwig Bieber). – Regula Venske: Schriftstellerin gegen das Vergessen: J. M. In: Dies., Inge Stephan, Sigrid Weigel u. a.: Frauenlit. ohne Tradition? Ffm. 1987, S. 191–219. – Madeleine Marti: Hinterlegte Botschaften. Die Darstellung lesb. Frauen in der deutschsprachigen Lit. seit 1945. Stgt. 1991, S. 145–176. Ilse Auer / Madeleine Marti
Mora, Terézia, * 5.2.1971 Sopron/Ungarn. – Verfasserin von Romanen, Erzählungen, Theaterstücken u. Drehbüchern, Übersetzerin aus dem Ungarischen. 1997 wurde M., die in den 1990er Jahren in Berlin Theaterwissenschaft u. Hungarologie studiert u. das Drehbuch-Diplom der Deutschen Film- und Fernsehakademie erworben hatte, für Durst der »Open Mike«-Literaturpreis zugesprochen. 1999 gewann sie mit der Erzählung Der Fall Ophelia, die danach zus. mit Durst u. neun weiteren Prosatexten in ihren ersten Erzählungsband Seltsame Materie (Reinb. 1999) aufgenommen wurde, den Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, u. im Jahr darauf erhielt sie den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis. Alle elf »Geschichten über das Osteuropäisch-Absurde« (Mora) spielen in einem kleinen, namenlosen ungar. Dorf an der Grenze zum gelobten »Westen« u. sind aus der Perspektive von Kindern oder Jugendlichen erzählt, meist aus der von Mädchen, die an der Grenze zur Erwachsenenwelt leben. Im Mittelpunkt der märchenhaften Prosatexte, deren Ton an Herta Müllers Niederungen oder Agota Kristofs Großes Heft erinnert, stehen meist Zurückgebliebene – Verlassene ebenso wie Spätent-
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wickler. Die in sorgsam montierten Momentaufnahmen geschilderte Dorfwelt erweist sich bald als pures Gegenteil eines ländl. Idylls. Die Erzählerin umkreist immer wieder »Stillstand, Beklommenheit und Beklemmung, Situationen des Eingeschlossenseins, in denen Auswege erwähnt und angestrebt, aber nie erreicht werden« (Löhndorf). In ungewöhnlich poet. Sprachbildern schildert M. ein von Stumpfsinn, Melancholie u. Aggression, aber auch von skurril-liebenswertem Humor u. kraftvoller Lebendigkeit geprägtes Ungarn abseits aller Klischees, bevölkert von archaischen Figuren mit seltsamen Lebensweisen – tagträumerischen Sturu. Querköpfen, denen die oft als magisch gezeichnete Grenzregion lebenslang in Fleisch u. Blut eingeschrieben scheint. Die Stärke dieser Geschichten vom geglückten oder geträumten Aufbrechen in eine angeblich bessere Welt oder auch nur ins Erwachsenenleben liegt in der Knappheit, der Präzision u. der Metaphorik von M.s Sprache u. in den schnellen, exakt gesetzten Szenenwechseln. Schon 1998 u. 1999 waren zwei Drehbücher zu Filmen geworden; im Jahr 2000 wurde der Fernsehfilm Das Alibi gesendet, zu dem M. das Drehbuch verfasst hatte (Regie: Christine Wiegand). Ihre literar. Übersetzungen wurden vielfach anerkannt (u. a. Werke von István Örkény, Péter Zilahy, Lajos Parti Nagy); für die Übertragung des Romans Harmonia caelestis von Péter Esterházy wurde sie 2002 mit dem Jayne-Scatcherd-Übersetzerpreis ausgezeichnet. 2003 wurde das Theaterstück Sowas in der Art in Mühlheim/ Ruhr uraufgeführt. Europaweite Beachtung fand dann Ms. erster Roman Alle Tage (Mchn. 2004), für den sie mehrere Preise bekam, u. a. 2005 den Preis der Leipziger Buchmesse. Der Romantitel spielt auf ein 1953 publiziertes Gedicht von Ingeborg Bachmann an, u. die Kritik hat noch weitere Bezüge zum Werk der Klagenfurter Dichterin entdeckt – M. geht in einem Aufsatz zum 80. Geburtstag Bachmanns genauer darauf ein (Die Masken der Autorin). Der geheimnisumwitterte Protagonist dieses vielstimmigen Großstadtromans ist ein Mann mit dem beziehungsreichen Namen Abel Nema, der als eine Art Reprä-
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sentant des aus (Süd-)Osteuropa in den »Westen« gelangten Flüchtlings angesehen werden kann. Zu Beginn des Romans finden ihn drei Arbeiterinnen auf einem verwahrlosten Spielplatz, offensichtlich zusammengeschlagen u. kopfüber an ein Klettergerüst gehängt – ein auf den Kopf gestellter Christus. Seine von Fremdsein u. Entfremdung geprägte Passionsgeschichte der letzten 13 Jahre entfaltet sich im Lauf des Romans in Rückblenden u. Wiederaufnahmen von Motiven u. Personen kaleidoskopartig zu einem stimmigen Ganzen. Der hochbegabte, aber an fast allem desinteressierte Held verlässt seine balkanische Heimat kurz nach dem Abitur, um der drohenden Einberufung u. dem sich abzeichnenden Krieg zu entgehen. Er lässt sich in einer westl. Großstadt nieder u. widmet sich exzessiv dem Erlernen von Sprachen – schließlich beherrscht er, der sich aller Kommunikation weitgehend verweigert, zehn von ihnen perfekt. Zur neuen Heimat wird dem offenbar schwer traumatisierten Helden das Sprachlabor der Universität. Für eine gewisse Zeit findet der seltsam teilnahmslose, der Welt völlig entrückte u. offenbar von namenloser Panik getriebene Abel Unterschlupf bei der Künstlerin Kinga u. ihren Freunden. Später heiratet er, der sich immer wieder an den Schulkameraden Ilia Bor erinnert, der seine heiml. Jugendliebe war, die ehemalige Assistentin u. Lebensgefährtin seines verstorbenen Professors. Doch das Unvermögen des heimat- u. haltlosen Abel, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, bleibt bestehen. Er bleibt der ewige Flüchtling, »eine moderne Odysseus-Figur« (Schlicht) u. eine vielschichtige Schattengestalt, ohne Bewusstsein der eigenen Lebensgeschichte u. wie abgeschnitten von der sinnl. Wahrnehmung seiner persönl. Erfahrungen. Bewusst entwirft M. ihren von einem grundstürzenden Identitätsbruch gezeichneten Helden als eine Art Heiligen, sodass der Roman als »Schöpfungsgeschichte und Erschöpfungsgeschichte« zgl. gelesen werden kann (Jandl). Die Autorin, die sich als poet. Sammlerin merkwürdig-grotesker Ereignisse gibt, lässt ihre Figuren direkt sprechen, beschreibt u. kommentiert sie aber auch von außen. Der poet. u. bilderreiche, oft lakonisch
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erzählte Text wirkt dadurch quasi labyrinthisch strukturiert. Vor allem der »man«, »er« oder »sie« zu einem stets neuen u. anderen »ich« umgestaltende Perspektivenwechsel u. die »episodische Spiegel-Struktur« des Textes (Siblewski) machen Alle Tage zu einem postmodernen, der gesellschaftl. Gegenwart verpflichteten sprachl. Kunstwerk. Der zwischen hartem Realismus, modernem Märchen u. surrealer Legende changierende Text offeriert ein vielschichtiges Panorama von Befindlichkeiten u. Abgründen in einer Zeit, in der Heimatverlust, Ortlosigkeit, Migration, Aggression u. Resignation alltäglich geworden sind. Alle Tage ist ein zuweilen auch komischer Gesellschafts- u. Zeitroman, ein Roman über die Absurdität des Daseins, v. a. aber auch ein Buch über Sprache u. Sprachverlust, ein Buch der philosophisch-literar. Reflexion über Sprache u. Sprechen. 2006 hatte M. gemeinsam mit Péter Esterházy die Tübinger Poetikdozentur inne. Im selben Jahr wurde ihr Hörspiel Miss June Ruby erstgesendet. M.s zweiter Roman mit dem Titel Der einzige Mann auf dem Kontinent erschien 2009 (Mchn.). Literatur: Marion Löhndorf: Am Nullpunkt. T. M.s Erzählungen ›Seltsame Materie‹. In: NZZ, 9.9.1999 (Rez.). – Thomas Kraft: T. M. In: LGL. – Frauke Meyer-Gosau: Böse Erlösung. Ein Nachmittag u. Abend mit T. M. in Barcelona – anlässlich des Erscheinens ihres ersten Romans ›Alle Tage‹. In: Literaturen 9 (2004), S. 44–48. – Paul Jandl: Wunder zwischen Abel u- Babel. ›Alle Tage‹ – T. M.s unheiliger Roman über das Fremde. In: NZZ, 5.10.2004 (Rez.). – Klaus Siblewski: T. M.s Winterreise. Über den Roman ›Alle Tage‹ u. die Poetik der Fremde. In: Lit. u. Migration. Text + Kritik Sonderbd. 2006, S. 211–221. – Corinna Schlicht: Fremd in der Welt: Über Heimat, Sprache u. Identität bei T. M. In: Momente des Fremdseins. Kulturwiss. Beiträge zu Entfremdung, Identitätsverlust u. Auflösungserscheinungen in Lit., Film u. Gesellsch. Hg. dies. Oberhausen 2006, S. 53–61. – Eszter Propszt: Grenzgänge(r). Erprobung v. drei Lesehypothesen für die Interpr. der Raumgestaltung in T. M.s ›Seltsame Materie‹. In: Transitraum Deutsch. Lit. u. Kultur im transnat. Zeitalter. Hg. 2007, Jens Adam u. a. Wroclaw/Dresden S. 189–210. – Tobias Kraft: Lit. in Zeiten transnat. Lebensläufe. Identitätsentwürfe u. Großstadtbe/
315 wegungen bei T. M. u. Fabio Morábito. Univ. Potsdam 2007 (Magisterarbeit). Klaus Hübner
Morant und Galie ! Karlmeinet Morata, Olympia Fulvia, * 1526 Ferrara, † 26.10.1555 Heidelberg; Epitaph: ebd., Peterskirche. – Gelehrte, Lyrikerin. Die Tochter eines Prinzenerziehers am Hof der Este in Ferrara wurde von Herzogin Renata zur Gesellschafterin ihrer Tochter bestellt u. machte früh als »femina docta« von sich reden. Wie die Herzogin u. ihr Vater dem Protestantismus zugeneigt, verließ sie 1550 mit ihrem Gatten, dem Schweinfurter Arzt Andreas Grundler, Ferrara u. übersiedelte in die Heimatstadt Grundlers, der dort als Stadtphysikus wirkte. Als Schweinfurt im Krieg gegen Albrecht Alkibiades von Brandenburg-Kulmbach völlig zerstört wurde, suchte die Familie nach kurzem Aufenthalt in Hammelburg bei den Grafen von Erbach im Odenwald Zuflucht, bis Grundler 1554 auf einen medizinischen Lehrstuhl nach Heidelberg berufen wurde. Einer nicht unglaubwürdigen Überlieferung zufolge soll Kurfürst Friedrich II. von der Pfalz M. zgl. als Lehrerin des Griechischen an die Heidelberger Hochschule berufen haben. Zahlreiche Briefe von u. an M. zeigen wie viele andere zeitgenöss. Zeugnisse, dass sie als Ideal einer humanistisch gelehrten Frau angesehen wurde. Freilich dominiert nach ihrer Heirat der religiöse Aspekt in ihrem Selbstverständnis. M. war oft Gegenstand belletristischer Werke, zuletzt in Ulrike Bauer-Halbes Roman Olympia Morata. Das Mädchen aus Ferrara (Gießen 2004). Ihre Briefe (in Übers. hg. v. Rainer Kößling. Lpz. 1991 mit Bibliogr.) u. humanist. Arbeiten gab der ital. Protestant Celio Secundo Curione in Basel heraus (1558. Erw. 1562, 1570 u. 1580): lat. Übertragungen aus Boccaccios Decamerone, Vorlesungen zu Ciceros Paradoxa Stoicorum, Dialoge, eine Lobrede auf Mucius Scaevola, poetische griech. Psalmparaphrasen u. griech u. lat. Epigramme (meist von bibl. Kernstellen wie Joh. 3,16 u. Phil. 1,23 inspiriert). Sie dokumentieren die Verbindung von Glaubensgewissheit u. Gelehr-
Morata
samkeit im Schaffen M.s, deren Briefe noch Goethe bewunderte. Ausgaben: Opere 1: Epistolae. Hg. Lanfranco Caretti. Ferrara 1940/54. – Opere 2: Orationes, dialogi et carmina. Hg. ders. Ferrara 1954. Literatur: Jules Bonnet: O. M. Paris 1850. Dt. Hbg. 1860 (mit Übersetzungsproben). – Benrath: M. In: RE (Lit.). – Gertrud Weiss-Stählin: M. In: RGG 3. Aufl. – Dies.: Die Briefe der O. M. Goethes letzte Auseinandersetzung mit der Reformation. In: Jb. der Goethe-Gesellsch. N. F. 25 (1963), S. 220–249. – Niklas Holzberg: O. M. In: Fränk. Lebensbilder 10 (1982), S. 141–156 (Lit.). – M. Cignoni: Il pensiero di O. M. nell’ambito della Riforma protestante. In: Atti dell’Accademia delle scienze di Ferrara 60/61 (1982–84), S. 191–204. – Jakob Lehmann: O. F. M. (1526–55) – Humanistin, Dichterin, Protestantin, Frau. Bamberg 1984. – O. F. M. Das O.-M.-Gymnasium u. seine Schulpatronin. Schweinfurt 1986 (Lit.). – N. Holzberg: O. M. u. die Anfänge des Griechischen an der Univ. Heidelberg. In: Heidelberger Jbb. 31 (1987), S. 77–93 (Lit.). – Ursula Hess: Lat. Dialog u. gelehrte Partnerschaft. Frauen als humanist. Leitbilder in Dtschld. (1500–50). In: Dt. Lit. v. Frauen. Hg. Gisela Brinker-Gabler. Bd. 1, Mchn. 1988, S. 113–148, bes. S. 138 ff., S. 481–483 u. 521–523. – Sigrid Grabner: Hochzeit in der Engelsburg. Frauen aus der ital. Gesch. Bln. 21988, S. 239–269. – Parn. Pal. S. 38 f., 280–282. – Uwe Müller: O. F. M. (1526–55). In: Schweinfurter Frauen. Hg. Barbara Vogel-Fuchs. Schweinfurt 1991, S. 158–168. – John L. Flood u. David J. Shaw: Johannes Sinapius (1505–60). Hellenist and Physician in Germany and Italy. Genf 1997 (mit den Briefen an Sinapius). – Reinhard Düchting u. a.: O. F. M. Stationen ihres Lebens. Ubstadt-Weiher 1998. – Dorothea Vorländer: M. In: NDB. – Emidio Campi: O. F. Morato. In: RGG 4. Aufl., Bd. 5 (2002), Sp. 1498 f. – Holt N. Parker (Übers.): O. M. The complete writings of an Italian Heretic. Chicago 2003. – Anna Katharina Pfeiffer: Olimpia F. M. Le diverse identità di una donna tra Umanesimo e Reforma. Florenz 2002. – Dies.: Olimpia F. M. – supra communem modum existimata. In: Blickpunkt Frauen- u. Geschlechterstudien. Hg. Bärbel Miermitz u. Anne Altmayer. St. Ingbert 2004, S. 151–160. – Jane Stevenson: Women Latin Poets. Gender and authority from Antiquity to the Eighteenth Century. Oxford 2005, passim. Hermann Wiegand
Morawietz
Morawietz, Kurt, auch: Peter Burger, * 11.5.1930 Hannover, † 16.7.1994 Hannover. – Lyriker, Erzähler, Essayist, Herausgeber. M., Sohn eines Buchbinders, war Schüler einer Nationalpolitischen Erziehungsanstalt (Napola) u. Anwärter für die NS-Ordensburg Sonthofen. 1944 begann er eine Lehre bei der Stadtverwaltung Hannover, wo er nach Kriegsende an verschiedenen Stellen tätig war. Seit 1962 arbeitete er drei Jahrzehnte lang im Kulturamt der Stadt; er war für Heimat- u. Denkmalpflege zuständig, betreute literar. Veranstaltungen, organisierte 1978 mit Harald Böhlmann unter dem Namen »literanover« die erste hannoversche Literaturwoche u. richtete ein Lyriktelefon ein. Die 1955 mit Freunden (»Junger Literaturkreis«) gegründete Zeitschrift »die horen«, deren Herausgeber M. bis zu seinem Tod war, wurde 1980 u. 1988 mit dem AlfredKerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Karl-May-Gesellschaft (1969), war 1975–1981 Zweiter Vorsitzender des Verbandes deutscher Schriftsteller/Niedersachsen u. wurde 1981 Mitgl. des P.E.N.-Zentrums. Neben Sachbüchern wie der Biografie des Dichters Gerrit Engelke (›Mich aber schone, Tod‹. Gerrit Engelke. 1890–1918. Hann. 1979) u. kulturgeschichtl. Bänden über die Herrenhäuser Barockgärten veröffentlichte M. Gedichte (u. a. Die ihr noch atmet. Gedichte aus dreizehn Jahren. Hg. Roderich Otte u. Hans Uhle. Hann. 1958. Jahrgang 30. Gesang vom Anderssein und andere Gedichte. Hann. 1975. Erw. Neuaufl. Neustadt 1978. Bittere Erde. Terra Amara. Zus. mit Giuseppe Scigliano. Hg. Peter Herwig. Hildesh. 1988; dt. u. ital.), Essays (Gottfried Wilhelm Leibniz. Herrenhausen – Weimar. Hann. 1962. Aufsätze aus zehn Jahrgängen der Horen. Brelingen/Hann. 1967), Erzählungen, Hörspiele u. Reisenotate. Ohne Scheu vor Pathos u. mit einer Vorliebe für Ironie u. Satire, galt dem politisch engagierten M. das Schiller-Zitat »Man muß die Leute inkommodieren, ihnen ihre Behaglichkeit verderben ...« als Leitmotiv für die eigene Arbeit. Breites, wenn auch widersprüchl. Echo fand das 1966 von ihm herausgegebene
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»Lyrik-Lesebuch« Deutsche Teilung (Wiesb.), das die Auswirkungen der dt. Teilung dokumentieren sollte u. in dem M. als Autor (ProbeHymne für ein einig Vaterland) unter dem Pseud. Peter Burger vertreten ist, unter dem er bereits ab 1948 seine Groschenromanserie Robert Perkins und seine Abenteuer veröffentlicht hatte. M. erhielt 1971 den Lyrikpreis Junge Dichtung in Niedersachsen, 1986 den Literaturmarktpreis der literanover sowie 1991 den Niedersachsenpreis für Publizistik. 1995–2007 verlieh die Stadt Hannover mit Unterstützung der Sparkasse Hannover den Kurt Morawietz-Literaturpreis zur Förderung hannoverscher Autoren. Der 2005 erschienene Auswahlband Leg auf die andere Seite deinen Scheitel (Hg. Volkhard App. Gött.) enthält auch Gedichte u. Prosa aus M.’ Nachlass, der im Stadtarchiv Hannover aufbewahrt wird. Weitere Werke: Westwärts Ostwärts. Gedichte u. Impressionen. Bebildert v. Eric van der Wal. Bergen (Niederlande) 1972. – Judas Dupont oder ein Nachmittag auf dem Boulevard Saint Michél. Mit Illustrationen v. Micha Kloth. Lamspringe 1990 (E.). – Besuch im Colosseum. Die Sonntagsmaschine. Mit Zeichnungen v. Kay Bölke. Neustadt-Dudensen 1994 (E.en). – Herausgeber: Die kgl. Gärten. Ruhm u. Glanz einer Residenz. Hann. 1963. – Festl. Herrenhausen. Musik u. Theater im kgl. Garten. Hann. 1977. – niedersachsen literarisch. Bremerhaven 1978. 1981. 1983. 1987 (zus. mit Dieter P. Meier-Lenz). – Glanzvolles Herrenhausen. Gesch. einer Welfenresidenz u. ihrer Gärten. Hann. 1981. – Zwischen Wolken u. Großstadtrauch. Warum Engelke lesen? Dokumentation zum 100. Geburtstag des hannoverschen Dichters Gerrit Engelke. Hann. 1992 (zus. mit Karl Riha u. Florian Vaßen). – Eines weißen Tages weiß ich warum. Zum 60. Geburtstag v. Detlev Block. Mchn. 1994. Literatur: Johann P. Tammen: Von nobler Querköpfigkeit u. dem Gehen durch eine große Stadt. Grabrede für K. M. In: die horen 39 (1994), H. 175, S. 11–14. – Walter Hinck: Tribüne der Lit. ›die horen‹ im Spektrum der Nachkriegs-Ztschr.en. In: die horen 40 (1995), H. 180, S. 245–152. – Dieter P. Meier-Lenz: K. M. In: NDB. – J. P. Tammen: Vom Credo eines Unangepaßten. Erinnerung an K. M. In: die horen 51 (2006), H. 222, S. 163–166. Bruno Jahn
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Moreno, Jakob L(evy), auch: Moreno Levy, Levy, * 18.5.1889 Bukarest, † 14.5.1974 Beacon/New York. – Psychotherapeut, Dramatiker u. Lyriker.
Morgenstern Weitere Werke: Einladung zu einer Begegnung. 2 H.e, Wien 1915 (L.). – Der Königsroman. Potsdam 1923. – Gruppenpsychotherapie u. Psychodrama. Stgt. 1959. 62008. – Psychodrama u. Soziometrie. Essentielle Schr.en. Hg. Jonathan Fox. Köln 1989. – Auszüge aus der Autobiogr. Hg. Jonathan D. Moreno. Mit einem Nachw. v. René Marineau. Übers. aus dem Engl. v. Michael Schacht. Köln 1995.
Noch vor der Jahrhundertwende übersiedelte die jüd. Familie nach Wien, wo M. Medizin studierte. Nach der Approbation praktizierte er 1918–1925 in einem Flüchtlingslager, eiLiteratur: Bibliografie in: Horst Reindell: J. L. ner Fabrik u. als Gemeindearzt in Bad Vöslau. M. Diss. Mainz 1975. – Weitere Titel: Veronika Arbeitserfahrungen im Stegreiftheater mit Burkhardt: Befreiung durch Aktion. Köln 1972. – Kindern u. sozialen Randgruppen waren für Hilarion Petzold: Angewandtes Psychodrama in M. der Ausgangspunkt der von ihm so ge- Therapie, Pädagogik u. Wirtschaft. Paderb. 1972. – nannten Gruppenpsychotherapie u. des Rainer Dollase: Soziometrie. In: Die Psychologie »Psychodramas« (Das Stegreiftheater. Potsdam des 20. Jh. Bd. 8, Mchn. 1979, S. 436–442. – Grete 1923. New York 21970). Von M. zunächst als Anne Leutz: Das triad. System v. J. L. M. Ebd., therapeutischer u. gleichzeitig sozialrevolu- S. 830–839. – Brigitte Marschall: ›Ich bin der Mytionärer Ansatz gedacht, sollte das Psycho- the‹. Von der Stegreifbühne zum Psychodrama J. L. drama sowohl die aristotel. Katharsis durch M.s. Wien 1988. – Sylke-Kristin Deimig: Das StegBeobachtung als auch die psychoanalyt. Ge- reiftheater v. J. M. L. Eine myth.-utop. Theatertheorie. Diss. Bln. 1991. – Friedel Geisler: M.s sprächskatharsis durch eine Katharsis der Wurzeln in der jüd. Tradition. Hg. Moreno-Institut Aktion überwinden. Gruppen- u. Beschäfti- für Psychotherapie u. Sozialpädagogik. Stgt. 1994. gungstherapie sowie Gruppentheater (Living – Lisa Tomaschek-Habrina: ›Die Begegnung mit Theater, Open Theater) gehen gleichermaßen dem Augenblick‹. J. L. M.s Theater- u. Therapieauf M. zurück. konzept im Lichte der jüd. Tradition. Marburg In Wien ein Außenseiter, zog M. 1925 in 2004. – Sven Papcke: Sich in Gesellsch. v. der Gedie USA, wo er seine Gruppenpsychotherapie sellsch. befreien. J. L. M. (1889–1974) oder: die in Schulen u. Gefängnissen erprobte. Dabei Sozialwiss. als therapeut. Entwurf. In: Gesellschaftstheorie u. die Heterogenität empir. Sozialentwickelte er die von ihm als Methode u. forsch. Hg. Andrea Bührmann u. a. Münster 2006, Wortschöpfung in die Psychologie u. Sozio- S. 141–153. Walter Ruprechter / Red. logie eingeführte Soziometrie (Who Shall Survive? Washington 1934. Erw. um Preludes to my Autobiography. Beacon 31955. Dt. Ausg. der 1. Aufl. u. d. T. Grundlagen der Soziometrie. Köln Morgenstern, Christian (Otto Josef Wolf1954. Opladen 31996). Diese Methode zur gang), * 6.5.1871 München, † 31.3.1914 Messung u. Darstellung zwischenmenschl. Meran; Grabstätte: Dornach bei Basel, Gruppenbeziehungen auf der Grundlage Goetheanum. – Lyriker, Aphoristiker, subjektiver Einschätzung war von M. zur Dramatiker, Erzähler, Übersetzer, JourDemokratisierung gesellschaftlicher, nicht nalist. auf subjektiven Präferenzen beruhender Zeit seines Lebens dichtete M. in dem BeHierarchien gedacht. Sie ist – wie das Psy- wusstsein, Sohn des Landschaftsmalers Carl chodrama – rasch zur etablierten Methode Ernst Morgenstern u. Enkel der Landder Sozialtechnologie geworden. schaftsmaler Ernst Bernhard Morgenstern u. M.s meist anonym erschienenes poet. Werk Josef Schertel zu sein. Seine »eigentliche war einem sozial-religiösen Expressionismus Seele« sei die des Malers gewesen, seine eiverpflichtet. Einige seiner Dichtungen er- gentl. »Domäne« die der »Linien und Farschienen in den von ihm mitherausgegebe- ben«, u. doch entschloss er sich schon als nen Wiener Zeitschriften »Daimon« (1918) u. Schüler in Breslau, ein Schriftsteller zu sein, »Der neue Daimon« (1919), in denen auch verfasste humorist. Verse u. histor. TrauerKafka, Franz Werfel u. Karl Kraus publizier- spiele. Das Studium der Nationalökonomie in Breslau u. München (1892/93) u. das der ten.
Morgenstern
Kunstgeschichte u. Archäologie in Berlin (1894) war darum nur ein Provisorium, das ohne Abschluss blieb. Im Umkreis der Zeitschrift »Tägliche Rundschau«, zu deren Mitarbeitern Heinrich u. Julius Hart, Mackay, Gumppenberg, Scheerbart u. Hartleben zählten, begann M. in Berlin, »Sünde wider den heiligen Geist« zu üben, indem er seine ersten Feuilletons schrieb. Fortan bildete der Journalismus eine der Einnahmequellen des freien Schriftstellers M. Für den »Zuschauer« schrieb er ebenso wie für den »Kunstwart«, die »Neue Deutsche Rundschau« u. »Die Schaubühne«, »Jugend« u. »Vossische Zeitung«. Mit der Übersetzung von Strindbergs Inferno aus dem Französischen eröffnete er sich 1897 ein zweites Feld, reiste noch im selben Jahr für den Berliner S. Fischer Verlag nach Oslo, um dort Henrik Ibsen zu treffen u. vor Ort dessen Versdramen sowie einen Teil seiner Gedichte ins Deutsche zu übertragen. Als »höchst begabter, wirklicher Dichter« wurde er dafür von dem 70-jährigen Ibsen geschätzt u. in den Folgejahren als Übersetzer vom Münchener A. Langen Verlag auch mit Knut Hamsuns Dramen Abendröte (1904) u. Lebensspiel (1908) u. mit Gedichten Bjørnstjerne Bjørnsons (1908) betraut. Nachdem sein Versuch, sich 1902 als Journalist u. Dichter in Italien einzurichten, gescheitert war – »vier Aufsätze monatlich = 100 M., wer bringt das fertig?« –, fand M. 1903 in Berlin als Verlagslektor bei Bruno Cassirer schließlich eine Tätigkeit, der er auch aus der Ferne nachgehen konnte u. von nun an ein regelmäßiges, wenn auch bescheidenes Einkommen verdankte. Auf der Ausschau nach anderen »Erwerbseventualitäten« versuchte sich M. auch als Erfinder, ersann »elektromagnetische Staubreiniger« u. »elektrische Streichhölzer«, »Wecker mit Vormelder« oder »Kaffeekännchen mit Milch im Deckel« u. ging mit einem »Zollstockspiel« auf Reisen, um dafür einen Fabrikanten zu finden. Seine finanziell schwierige Lage war nicht zuletzt durch die Tuberkulose bedingt, die ihn 1893 im schles. Bad Reinerz zum ersten der zahlreichen Kuru. Klinikaufenthalte zwang u. ihn in der Folge nach Bad Grund u. Bad Fusch, auf die Inseln der Nordsee u. v.a. immer wieder in die Alpen führte, nach Arosa, Davos u. Meran.
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M.s unstetes »Wanderleben« im Zeichen der Krankheit sowie sein »Widerwille« gegen »richtiges, zusammenhängendes ›Schreiben‹« prägten sein literar. Schaffen. Der jahrelang verfolgte Plan zu einem großen Roman blieb ebenso in Titeln, Skizzen u. Notizen stecken – Menschen (1895), Halb draußen (1904), Nach dem Krieg (1905–1908), Notizen eines Menschen (1910–1912) – wie die große Dramentrilogie über die ital. Renaissance, Savonarola, Cesare Borgia u. Julius II. (1902–1906). M. blieb ein Dichter der kleinen Form, der kurzen Erzählungen u. dramat. Szenen, Aphorismen u. Epigramme, v. a. aber der etwa 900 Gedichte, die er zu Lebzeiten in 15 oder – zählt man die Sammlung Wir fanden einen Pfad hinzu, die er kurz vor dem Tod korrigierte (Mchn. 1914) – 16 Lyrikbänden veröffentlichte. Den ersten, In Phanta’s Schloss (Bln. 1895), widmete M. »dem Geiste Friedrich Nietzsches« u. schickte dessen Mutter ein Exemplar davon. Auch die Folgesammlungen Auf vielen Wegen (Bln. 1897) u. Ich und die Welt (Bln. 1898) sind durch das Pathos des Zarathustra geprägt u. verweisen in ihren Titeln im Übrigen auf jene themat. Vielfalt des Lyrikers M., die diesen selbst dazu veranlasste, sich als »Gelegenheitsdichter und nichts weiter« zu bezeichnen. Ein Sommer (Bln. 1900) u. Und aber ründet sich ein Kranz (Bln. 1902) spiegeln seine Naturerlebnisse in Norwegen u. die Liebe zu Dagny Fett wider, die er dort kennen lernte. In Melancholie (Bln. 1906) klingen neben Motiven aus Arosa u. Berlin, Wyk oder Wolffenschießen der missglückte Aufenthalt in Italien nach sowie die Lektüre der Deutschen Schriften des völk. Kulturkritikers Paul de Lagarde. Einkehr (Mchn. 1910) u. Ich und Du (Mchn. 1911) halten M.s myst. Phase fest u. greifen in feierl. Sonetten u. Ritornellen seine Liebe zu Margareta Gosebruch von Liechtenstern auf, die er 1908 im Tiroler Bad Dreikirchen kennenlernte u. 1910 in Meran heiratete. Wir fanden einen Pfad schließlich steht ganz im Geist der Anthroposophie Rudolf Steiners, dessen Vorträgen M. trotz fortgeschrittener Krankheit bis nach Budapest folgte u. den er für den Friedensnobelpreis vorzuschlagen plante. In dem weltanschaul. Bogen, der sich von Nietzsche über Lagarde u. Meister Eckhart zu Steiner
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spannt, fand M. sich durchaus wieder: »Niemand«, schreibt er 1912, »hat vielleicht so oft die Ansichten auf die Dinge gewechselt als ich, und niemand ist vielleicht trotz alledem selber so gleich geblieben.« Die daraus hervorgegangenen Gedichte betrachtete er als seine eigentl. Hinterlassenschaft, seinen literar. Ruhm aber begründeten gerade jene »zwei, drei Büchlein«, die diese als »Beiwerkchen, Nebensachen« begleiteten. Sie allein fanden als Gallow Songs (1963), Chansons du gibet (1982), Canciones de la horca (1976) oder Sange fra Galgebakken (1976) Eingang in den Kanon der europ. Literatur. Ihren Namen verdanken die Galgenlieder (Bln. 1905) dem Ausflugslokal »Galgenberg« in Werder bei Potsdam, wo sie von M. u. einigen Freunden, die sich »Galgenbrüder« nannten, 1895 zum ersten Mal vorgetragen wurden. Die ersten acht Gedichte, eines für jeden der Galgenbrüder, darunter der Dramatiker u. Erzähler Georg Hirschfeld u. M.s lebenslanger Freund, der Schauspieler Friedrich Kayssler, waren in ein Hufeisen eingebunden, das dem zeremoniellen Charakter der Treffen entsprach. Die schauerlich-gruselig inszenierte Atmosphäre der Lieder, die sich aus dem Motiv des Galgenbergs ergibt u. in jener studentischen Tradition humoristisch-ironisch gebrochen wird, in der auch M.s Horatius Travestitus (Bln. 1896) steht, löst sich im Fortgang der Sammlung auf u. tritt in der stark veränderten dritten Auflage von 1908 (Bln.) endgültig in den Hintergrund. Im Vordergrund steht nun ganz das variantenreiche Spiel mit Wörtern u. Klängen, in dem fantast. Wesen wie der »Gingganz«, das »Nasobe¯m« oder der »Ant« entstehen, der Werwolf zum »Wemwolf« gebeugt u. der Purzelbaum in seinen »Purzelwald« geschickt wird. Noch bevor sie bei Cassirer in Berlin als Buch erschienen, konnten einige der Galgenlieder 1898 schon im Kabarett »Die Brille« erste Erfolge feiern, 1901 dann auch in Max Reinhardts u. Friedrich Kaysslers »Schall und Rauch« u. in Ernst von Wolzogens »Überbrettl«. Sprach- u. Gedankenspiele prägen auch die Sammlung Palmström (Bln. 1910), in welcher der kauzige Titelheld u. sein Wegbegleiter Korf böhm. Dörfer bereisen, Flinten im Korn entdecken, musikal. Personenwaagen erfinden oder Uh-
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ren, deren Zeiger die Zeit aufheben. Selbstironisch spiegelt sich M. in diesen Gedichten wider, Ästhet, Dilettant, Philanthrop, dessen Schaffenszeit durch seine Krankheit kurz bemessen war. Die Komik der Galgenlieder u. des Palmström entzieht sich einer klaren Klassifizierung. Über den Grundton der Ironie hinaus, der die Gedichte mehr oder weniger stark bestimmt, trägt sie Züge des Grotesken u. des Nonsense, zeichnet sich aber v. a. wohl durch jenes gewisse »Unwägbare« aus, das M. selbst 1906 als Wesen des Humors entdeckt: die Fähigkeit, »das Leben zugleich mit einem unbeirrbaren Ernst, wie mit einer herzlichen, ja kindlichen Liebe zu betrachten«. Weitere Werke und Ausgaben: Palma Kunkel. Bln. 1916. – Stufen. Eine Entwickelung in Aphorismen u. Tgb.-Notizen. Hg. Margareta Morgenstern. Mchn. 1918. – Epigramme u. Sprüche. Hg. dies. Mchn. 1919. – Der Ginganz. Hg. dies. Bln. 1919. – Die Schallmühle. Grotesken u. Parodien. Hg. dies. Mchn. 1928. Veränderte Neuausg. als: Böhm. Jahrmarkt. 1938; Egon u. Emilie. 1950. – Ein Leben in Briefen. Hg. dies. Wiesb. 1952. – Alles um des Menschen willen. Ges. Briefe. Hg. dies. Mchn. 1962. – Ges. Werke in einem Bd. Hg. dies. Mchn. 1965. – Werke u. Briefe. Hg. Reinhardt Habel. 9 Bde., Stgt. 1987 ff. Literatur: Michael Bauer: C. M.s Leben u. Werk. Mchn. 1933. Neuausg. Stgt. 1985. – Alfred Liede: Dichtung als Spiel. Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache. Bln. 1963. – Martin Beheim-Schwarzbach: C. M. Reinb. 1964. – Jürgen Walter: Sprache u. Spiel in C. M.s ›Galgenliedern‹. Freib. i. Br./Mchn. 1966. – Helmut Gumtau: C. M. Bln. 1971. – Erich P. Hofacker: C. M. Boston 1978. – Ernst Kretschmer: Die Welt der Galgenlieder C. M.s u. der viktorian. Nonsense. Bln./New York 1983. – Christine Palm: Greule Golch u. Geigerich. Die Nabelschnur zur SprachWirklichkeit in der grotesken Lyrik v. C. M. Uppsala 1983. – E. Kretschmer: C. M. Stgt. 1985. – Maurice Cureau: C. M. humoriste. La création poétique dans ›In Phanta’s Schloss‹ et les ›Galgenlieder‹. Bern/Ffm./New York 1986. – E. Kretschmer: C. M. Ein Wanderleben in Text u. Bild. Weinheim/Bln. 1989. – Christos Platritis: Dichtung u. Weltanschauung. Ffm. u. a. 1992. – Peter Selg: C. M. Sein Weg mit Rudolf Steiner. Stgt. 2008. Ernst Kretschmer
Morgenstern
Morgenstern, (Johann) Karl (Simon) von, * 28.8.1770 Magdeburg, † 3.9.1852 Dorpat. – Philologe, Literaturkritiker, Autor von Reisebeschreibungen u. Gelegenheitsgedichten, Herausgeber. M.s Vater war Arzt, die Mutter Johanne Katherina (geb. Brömmen, 1748–1796) verfasste haushaltsökonomische u. pädagog. Schriften. An der Magdeburger Domschule (1783–1788) geriet M. unter den väterl. Einfluss Benedikt Funcks. Aus dieser Lebensphase stammt der philosophische Aufsatz Über die Menge des Lebens im Weltall. Eine Rhapsodie (in: Eberhards »Philosophisches Magazin« III. 4, 1791, S. 491–498). 1788 begann M. sein Studium der Philosophie u. Philologie in Halle. 1794 promovierte er u. ließ sich sogleich habilitieren mit Arbeiten über Platon, die er (um eine dritte Studie vermehrt) u. d. T. De Platonis Republica Commentationes tres (Halle 1794/95) in Druck gab (von Heyne in den »Göttingischen Gelehrten Anzeigen« günstig rezensiert); seinen Hallenser Lehrern Johann August Eberhard u. Friedrich August Wolf sowie Funck zollte er in der Widmung seinen Tribut. 1797 zum a. o. Prof. in Halle ernannt, wurde M. 1798 als o. Prof. der Beredsamkeit an das Athenäum Danzig berufen, 1802 an die neu gegründete Universität Dorpat. Um deren Aufbau machte er sich als Mitgl. der Universitätskommission, Oberbibliothekar, Direktor des allg. Lehrinstituts u. Betreuer des Kunstmuseums verdient; von den ihm zuteilgewordenen Ehrungen ist v. a. die Ehrenmitgliedschaft (1826) der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg erwähnenswert. M. hielt Vorlesungen über Philologie, Ästhetik, Literatur u. Kunst; seine Emeritierung erfolgte 1833. Aus der Reihe kleinerer philolog. Abhandlungen in lat. Sprache ragen die Plato-Kommentare heraus. Als Mitarbeiter mehrerer Zeitschriften (z.B. »Neuer Teutscher Merkur«, »Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften«, »Deutsches Magazin«) sowie als Herausgeber der »Dorpatischen Beyträge für Freunde der Philosophie, Literatur und Kunst« (1813–1816, 1821) stand M. in Verbindung mit führenden Literaten u. Gelehrten der Zeit (z.B. Böttiger, Falk, Goethe, Jo-
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hannes von Müller, Schiller, Wieland) u. nahm Stellung zu den literarhistor. Entwicklungen zwischen 1794 u. 1832. Bes. Erwähnung verdienen seine Publikationen zu Wilhelm Meisters Lehrjahre (1796), Winckelmann (1805), Klopstock (1807, 1814), literar. Kanon (1808), Klinger (1814), Wesen u. Geschichte des Bildungsromans (1820, 1824) u. Goethe (1833). Dazu kommen zahlreiche Rezensionen zu Werken von Garve, Hippel, Geßner, Lichtenberg, Schiller, Friedrich Leopold zu Stolberg, Voß etc. Diese kleineren Beiträge sind eine wichtige (noch nicht erschöpfte) Quelle für literar. Rezeption u. Kanonbildung im balt. Raum. M. ist v. a. wegen seines energischen Einsatzes für die Verbreitung humanistischer Lebenswerte von Interesse. Weitere Werke: Oratio de literis humanioribus, sensum veri, honesti et pulchri excitantibus atque acuentibus. Lpz./Danzig 1798. – Adumbratio quaestionis de satirae atque epistolae Horatianae discrimine. Danzig 1799. – Johannes Müller, oder Plan im Leben, nebst Plan im Lesen u. v. den Gränzen weibl. Bildung. Drei Reden. Lpz. 1808. – Auszüge aus den Tagebüchern u. Papieren eines Reisenden. Dorpat/Lpz. 1811–13. – Grundriß einer Einl. zur Ästhetik. Dorpat 1815. – Töne vom Lebenspfade. Dorpat 1818 (L.). – Über Raphael Sanzio’s Verklärung. Dorpat 1822. Literatur: E. Thraemer: M. In: ADB. – Goedeke 7 u. 15. – Hamberger-Meusel 5. – Recke-Napiersky 3 (u. Nachtragsbd. 2). – Stephan Füssel: ›Ich versage mir jetzt das Vergnügen, Ihr Verleger zu sein‹. Der Briefw. zwischen Georg Joachim Göschen u. K. S. M. In: FS Heinz Sarkowski. Hg. Monika Estermann. Wiesb. 1990, S. 1–32. – Mare Rand: Tartuer/ Dorpater Herderiana in den Slg.en K. M.s. In: Johann Gottfried Herder u. die deutschsprachige Lit. seiner Zeit in der balt. Region. Hg. Claus Altmayer u. a. Riga 1997, S. 150–165. – James Trainer: The Knorrings in Estonia. With Six Unpublished Letters to K. M. In: GLL 51 (1998), S. 443–454. – Dorothee v. Hellerman: Weimar u. Erfurt im Okt. 1808. Beschrieben v. K. M. aus Dorpat. In: GoetheJb 121 (2004), S. 283–303; 122 (2005), S. 302–315. – Dirk Sangmeister: Ausflucht in den Norden. Über Johann Gottfried Seumes Reise im Sommer 1805. Eutin 2004. John A. McCarthy / Red.
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Morgenstern, Soma, eigentl.: Salomo M., * 3.5.1890 Budzanów, † 17.4.1976 New York. – Ostjüdischer Erzähler. M., der sich als Journalist u. Schriftsteller den Namen Soma gab, wurde als jüngstes von fünf Kindern in Budzanów bei Tarnopol geboren. Die Kindheit im ländl. Ostgalizien als Angehöriger der jüd. Minderheit prägte ihn u. sein Werk wesentlich. Sein Vater, ein strenggläubiger Chassid, legte Wert auf eine traditionelle religiöse Erziehung u. sorgte darüber hinaus dafür, dass seine Kinder Deutsch lernten. M. sprach daher, als er auf das Gymnasium kam, bereits jiddisch, hebräisch, deutsch, polnisch u. ukrainisch, dort wurde er außerdem in Griechisch, Lateinisch, Englisch u. Französisch unterrichtet. Während seiner Schulzeit trat er vorübergehend einer zionist. Gruppe bei u. entwickelte ein starkes Interesse an jidd. Literatur, die dann auch sein eigenes Schaffen inspirierte. Den Besuch der höheren Schule hatte er gegen den Willen des Vaters durchgesetzt, der befürchtete, säkulare Bildung könne zum Abfall vom Glauben führen. Eine durch die intensive Beschäftigung mit der abendländ. Philosophie tatsächlich ausgelöste Glaubenskrise wurde durch den frühen u. trag. Unfalltod des Vaters beendet: M. blieb, wenn er auch nach Verlassen des Elternhauses nicht mehr nach den jüd. Gesetzen lebte, sein Leben lang »ein Gläubiger durch und durch« u. nahm als solcher unter seinen Freunden u. Schriftstellerkollegen eine gewisse Sonderstellung ein. Ab 1912 studierte M. an den Universitäten zu Wien u. Lemberg Jura, um ein dem Vater gegebenes Versprechen einzulösen. Er besuchte zusätzlich Vorlesungen in Literaturwissenschaft u. Philosophie, bei denen er den Germanistikstudenten Joseph Roth kennenlernte. Während des Studiums wurde er erstmals mit antisemit. Vorurteilen konfrontiert. Im Ersten Weltkrieg diente M. vier Jahre als Soldat, anschließend nahm er sein Studium wieder auf u. promovierte 1921. Danach widmete er sich seinen schriftstellerischen Neigungen. Er übersetzte zunächst ein Versdrama des poln. Dramatikers Stanislaw Wyspianski ins Deutsche, es wurde allerdings, wie auch seine beiden eigenen Theaterstücke, die
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kurz darauf entstanden, weder aufgeführt noch gedruckt. Um Geld zu verdienen, schrieb er feuilletonist. Beiträge für die »Vossische« u. die »Frankfurter Zeitung«. M. heiratete 1928 Ingeborg von Klenau, die Tochter des dän. Komponisten Paul von Klenau, u. wurde Vater eines Sohnes. 1930 begann er mit der Arbeit an einem Roman, der der erste Teil einer Trilogie (Funken im Abgrund) werden sollte. Wegen seines »jüdischen« Themas gestaltete sich die Verlegersuche schwierig, doch schließlich erschien Der Sohn des verlorenen Sohnes 1935 im Berliner Erich Reiss Verlag, der zu dieser Zeit allerdings nur noch an Juden verkaufen durfte. M., als vehementer Gegner der Assimilation, bezog in seinem Erstlingswerk eindeutig Stellung zur Frage der christlich-jüd. Gemeinschaft: Der Roman handelt von der Rückkehr des Sohnes eines Getauften aus Wien in die alte Heimat des Vaters, ins orthodoxe Milieu Galiziens. Dieser Weg kommt dabei nicht einem Rückzug ins Judentum gleich, sondern ist eine bewusste Besinnung auf die eigenen Wurzeln in der Hoffnung auf ein friedl. Miteinander der Kulturen. Dieses Erstlingswerk wurde, gemessen an den Umständen, ein großer Erfolg u. als »wahrhaft jüdisches« Buch gefeiert. Im gleichen Jahr wurde M. wegen des neuen »Schriftleitergesetzes« als Kulturkorrespondent der »Frankfurter Zeitung« entlassen. Er stand zu diesem Zeitpunkt bereits seit Jahren auf der »Schwarzen Liste« der Nationalsozialisten, weil er sich schon vor der Machtübernahme in seinen Artikeln kritisch zu Hitler u. seinen Anhängern geäußert hatte. M. verließ Wien erst kurz vor dem Einmarsch der dt. Truppen nach dem »Anschluss« 1938. Da sein Sohn krank war, floh er ohne Familie nach Paris u. sah Frau u. Kind erst neun Jahre später in den USA wieder. Im frz. Exil lebte er zunächst mit Joseph Roth in einem Hotel u. arbeitete an der Fortsetzung der Trilogie. Er bemühte sich vergeblich um eine Ausreise nach Palästina u. wurde zweimal als »feindlicher Ausländer« interniert. Anfang 1941 gelang ihm die Flucht aus dem Lager Audierne in der Bretagne. Über Marseille, Casablanca u. Lissabon rettete er sich im Frühsommer 1941 nach New York. Seine
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Manuskripte hatte er auf dieser Odyssee immer wieder zurücklassen u. rekonstruieren müssen, erst 1943 konnte er Funken im Abgrund beenden. Er schrieb darin gegen die weltpolit. Ereignisse an: Im zweiten Teil, Idyll im Exil, lernt Alfred, sein Protagonist, in einem ostgaliz. Dorf, was es heißt, ein Jude zu sein u. mit sich, Gott u. der Natur im Einklang zu leben. Er erlebt seine erste Liebe mit der ukrain. Zigeunerin Donja. Auch wenn beide in gewissem Sinne außerhalb der Dorfgemeinschaft stehen, erscheint diese Beziehung als Vorbild einer friedl. Koexistenz zwischen Juden u. Christen. Doch das Idyll ist in Gefahr: Der Nationalitätenkonflikt zwischen Polen u. Ukrainern entlädt sich in einem Pogrom, bei dem ein Kind, Alfreds kleiner Freund Lipale, zu Tode kommt. Im letzten Teil, Das Vermächtnis des verlorenen Sohnes, wird die Geschichte von Alfreds abtrünnigem Vater erzählt, der – ähnlich wie M. selbst – aus der Enge der Orthodoxie in die vermeintl. Freiheit des Westens floh, dort aber einsehen musste, dass man ohne Verbindung zu seinen Wurzeln verloren ist. Das Ende der Geschichte verweist in eine neue Zukunft: Alfred beschließt nach dem antisemit. Gewaltausbruch, aus dem ererbten Hof eine Landwirtschaftsschule für PalästinaAuswanderer zu machen. Nachdem mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Ausmaße des nationalsozialist. Massenmords bekannt wurden, fiel M. in schwere Depressionen. Von seiner Familie hatte außer ihm nur eine Schwester die Shoah überlebt, u. die Welt, die er in der Trilogie beschrieben hatte, war unwiederbringlich verloren. M. wollte u. musste ein »Totenbuch« über die erlittenen Verluste schreiben, doch Deutsch, die zuvor für den künstlerischen Ausdruck bewusst gewählte Sprache, war ihm nun verhasst. Er quälte sich über Jahre mit seiner Sprach- u. Schreiblähmung u. vollendete schließlich Die Blutsäule. Zeichen und Wunder am Sereth 1953 nach einem IsraelAufenthalt. Entstanden ist ein in Inhalt u. Erzählstruktur zutiefst in der jüd. Kultur verwurzeltes religiöses Bekenntnis in dt. Sprache, die er, wie er im vorangestellten »Motivenbericht« betont, durch Anlehnung an die Sprache der Bibel »gesäubert« habe: In
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einer zerstörten Synagoge einer kleinen galiz. Stadt wird über einige SS-Männer, die auf dem Rückzug den Anschluss an ihre Truppe verloren haben, u. über Gott, der sein auserwähltes Volk mit den Deutschen geschlagen hat, Gericht gehalten. Die Shoah wird zum finalen Martyrium, die Millionen Toten werden zum Opfer für den Beginn der Erlösung – eine verzweifelte messian. Interpretation der Vernichtung der europ. Juden. In den USA, wo sowohl die Trilogie als auch das »Totenbuch« in Übersetzung erschienen, hatte M. einigen Erfolg, er wurde mit dem Samuel H. Daroff Ficton Award des Jewish Book Council of America ausgezeichnet, u. Passagen aus der Blutsäule wurden in ein jüd. Gebetbuch zum Jom Kippur aufgenommen. Im eigenen Sprachraum wurden seine Schriften dagegen kaum gewürdigt. Zu M.s Lebzeiten erreichte nur eine stark bearbeitete u. gekürzte Version des letzten Teils der Trilogie 1963 die Öffentlichkeit, die Publikation der Blutsäule im Jahr darauf blieb ohne größeren Nachhall. M. schrieb in den kommenden 30 Jahren seines Lebens dennoch kontinuierlich weiter, v. a. an autobiogr. Szenen, die Ingolf Schulte, der Herausgeber der 11-bändigen Werkausgabe, thematisch geordnet hat: Neben den Erinnerungen an seine Kindheit in Galizien (In einer anderen Zeit) finden sich Konvolute über seine Freunde Joseph Roth u. Alban Berg, der Romanbericht Flucht in Frankreich sowie der Fragment gebliebene letzte Roman Der Tod ist ein Flop. Dank der Wiederentdeckung des Werks M.s ist das Interesse an diesem Autor nicht nur in Deutschland u. Österreich deutlich gewachsen – auch eine ital. u. eine frz. Ausgabe seiner Werke sind erschienen. In der Forschung findet M. v. a. als »deutsch-jüdischer« Autor Beachtung. Nachdem 2001 an der Universität Auburn (Alabama) anlässlich seines 25. Todestages eine Konferenz stattfand, die sich ausschließlich mit M. beschäftigte, sind in den letzten Jahren mehrere Dissertationen zu einzelnen Werken M.s veröffentlicht worden. 25 Jahre lebte M. im Hotel Plaza am Central Park, ab 1946 als amerikan. Staatsbürger. Nach einer Herzattacke zog er wieder zu sei-
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ner Ehefrau, mit der er die letzten Jahre bis zu seinem Tod verbrachte. Ausgabe: 1994–2000.
Werkausg.
in
11
Bdn.
Lüneb.
Literatur: Saskia Schreuder: M. In: MLdjL. – Cornelia Weidner: Ein Leben mit Freunden: über M.s autobiogr. Werk. Springe 2004 (zgl. Diss. Hamburg 2002). – Robert G. Weigel (Hg.): M.s verlorene Welt. Krit. Beiträge zu seinem Werk. Ffm. u. a. 2002. – Raphaela Kitzmantel: Eine Überfülle an Gegenwart. M. Biogr. Wien 2005. – Renate Beyer: ›Verlorene Briefe, verlorene Freunde, verlorene Welt‹: M.s faktuales u. fiktionales Erzählwerk im Schatten des Holocaust. Diss. Jena 2006. – Ruth Oelze: Funkensuche. M.s Midrasch ›Die Blutsäule‹ u. der jüdisch-theolog. Diskurs über die Shoah. Tüb. 2006 (zgl. Diss. Aachen 2004). – Gabriela Wittwer: Zwischen Orthodoxie u. Assimilation: jüd. Identitätsdiskurs in M.s Romantrilogie ›Funken im Abgrund‹. Marburg 2008 (zgl. Diss. Aachen 2007). Ruth Oelze
Morgenthaler, Hans, auch: Hamo, * 4.6. 1890 Burgdorf/Kt. Bern, † 16.3.1928 Bern. – Geologe; Erzähler, Lyriker. Aus einer gutbürgerl. Familie stammend, früh mutterlos, wuchs M. in Burgdorf auf, studierte nach der Matura Zoologie u. Botanik an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich (1914 Promotion mit einer Dissertation über die Birke), begann jedoch 1916 in Bern ein Zweitstudium als Geologe u. arbeitete von 1917 bis 1920 als solcher für eine mit der Gewinnung von Gold u. Zinn befasste Firma in Siam. Von diesem Aufenthalt, den er als die schönste Zeit seines Lebens empfand, kam er körperlich krank – eine schwere Malaria, die bald von unheilbarer Tuberkulose abgelöst wurde – u. seelisch zutiefst verunsichert bzw. der europ. Zivilisation entfremdet zurück. Da sich Pläne für erneute Expeditionsreisen nicht realisieren ließen, lebte M., wenn er sich nicht in einem Tuberkulosesanatorium oder in einer Nervenklinik aufhielt, ab 1921 als freier Schriftsteller u. Ostasien-Vortragsreisender in Zürich, Ascona u. Bern. Zu seinen Freunden gehörten u. a. Hermann Hesse, Jakob Bührer, die Künstler Fritz Pauli, Mischa u. Ignaz Epper; kürzere Begegnungen hatte er auch mit Robert Walser u. – während eines Auf-
enthalts in der Irrenanstalt Waldau – mit Adolf Wölfli. Bereits für seinen Erstling Ihr Berge (Zürich 1916. 1996), die euphor. Liebeserklärung des passionierten Bergsteigers an die alpine Erlebniswelt, hatte M. die literar. Form der »Stimmungsbilder« entwickelt, die es ihm erlaubte, Naturbeobachtungen, geolog. Exkurse, persönl. Erfahrungen u. Erlebnisse ohne formalen Zwang aneinanderzureihen. Die erste unmittelbare Frucht des AsienAufenthalts war Matahari. Stimmungsbilder aus dem malayisch-siamesischen Dschungel (Zürich 1921. Neudr. 1987), ein Buch, das Hesse sehr schätzte u. das nicht nur die Tropenerfahrungen eines zivilisationsmüden Europäers spiegelt, sondern durch die kolonialen Vorurteile hindurch auch zur spezif. Identität u. Mentalität der eingeborenen Bevölkerung vorzustoßen sucht. Der zweite Band der Siam-Erinnerungen, Gadscha puti. Ein Minenabenteuer, wurde 1926 vom Verlag Orell Füssli abgelehnt u. erschien postum 1929 bei Francke in Bern mit einem Nachwort von Fritz Hegg. Das gleiche Schicksal erlitt auch der autobiogr. Roman In der Stadt. Die Beichte des Karl von Allmen, der 1921 bis 1926 entstand, in die tiefsten Abgründe von M.s »Dichtermisere« hineinleuchtete u. erst lange nach seinem Tod in philologisch allerdings nicht unproblemat. Bearbeitungen durch Otto Zinniker (Grenchen 1950) bzw. Roger Perret (Biel 1981) zugänglich wurde. Zu M.s Lebzeiten erschienen einzig noch Ich selbst. Gefühle (Zürich 1922), eine weitere Folge sehr persönl. »Stimmungsbilder«, die als pessimist. Gegenstück zum gleichzeitig entstandenen, eher optimistisch gestimmten Band Matahari verstanden werden können, sowie der Liebesroman Woly. Sommer im Süden (Zürich 1924. 1931. Überarb. Neuausg. 1982. Ffm. 1990), M.s literarisch gelungenstes Prosawerk. Der Roman spielt in Ascona, basiert auf einer wahren Begebenheit u. handelt von der unmögl. Liebe des grüblerischen, sensiblen Dichters Hamo zur selbstbewusstemanzipierten jungen Dänin Woly. »Noch nie las ich die Liebesgeschichte eines Mannes, so keusch, so glühend«, schrieb Emmy BallHennings an M. nach der Lektüre des Buchs. Obwohl Marguerite Schmid schon 1930 in
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Bern das »Lyrische Testament eines Schwindsüchtigen«, Das Ende vom Lied, veröffentlicht hatte, wurde erst 1970, als Kurt Marti im Berner Kandelaber Verlag die Gedichtauswahl Totenjodel herausgab, einem größeren Kreis bekannt, wie ungewöhnlich M. auch als eigenwilliger, sich selbst restlos bloßstellender Lyriker begabt war. Ausgaben: Dichtermisere. Ein H.-M.-Brevier. Hg. Georges Ammann. Zürich 1977. – Hamo, der letzte fromme Europäer. Ein H.-M.-Lesebuch. Hg. Roger Perret. Basel 1982. – Der kuriose Dichter H. M. Briefw. mit Ernst Morgenthaler u. Hermann Hesse. Hg. ders. Basel 1983. Literatur: Dieter Fringeli: H. M. In: Ders.: Dichter im Abseits. Zürich 1974, S. 79–88. – Roger Perret: H. M. In: Helvet. Steckbriefe. Hg. Werner Weber. Zürich 1981, S. 138–143 (Biobibliogr.). – Kurt Marti: H. M. In: H. M. ›Woly. Sommer im Süden‹. Hg. Charles Linsmayer. Zürich 1982. Ffm. 1990, S. 198–220. – Marius Düggeli: ›Ich grabe mich empor ans Licht und stoße mich zu Tode!‹. Zur psycholog. Struktur im Werk v. H. M. Zürich 1996. – Hans Baumann (Hg.): Hamo, der letzte fromme Europäer: Ausstellung zum 100. Geburtstag des Dichters H. M. Basel 1990. – Beat Gugger (Hg.): Fast nur Briefe u. doch eine richtige Liebesgesch.: H. M. in Wien. Bern/Wien 1999. – Christa Bamberger: Repräsentationsweisen der Südschweiz u. Mehrsprachigkeit in Texten v. Friedrich Glauser, Hermann Hesse u. H. M. In: Literar. Polyphonien in der Schweiz. Hg. dies. u. a. Bern u. a. 2004, S. 123–143. Charles Linsmayer / Red.
Morgner, Irmtraud, * 22.8.1933 Chemnitz, † 6.5.1990 Berlin/DDR. – Erzählerin. Nach dem Studium der Germanistik u. Literaturwissenschaft war M., Tochter eines Lokomotivführers, zwei Jahre Redaktionsassistentin bei der Zeitschrift »Neue deutsche Literatur«. Ab 1958 lebte sie als freie Schriftstellerin in Ostberlin. 1975 erhielt sie zus. mit Eberhard Panitz den Heinrich-Mann-Preis, 1977 den Nationalpreis der DDR, 1985 die Roswitha-von-Gandersheim-Medaille sowie 1989 den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor. Schreiben ist in M.s Verständnis ein Akt des gesellschaftl. Engagements. Ihre ersten Erzählungen Das Signal steht auf Fahrt (Bln./DDR 1959) u. Notturno (Bln./Weimar 1964) sowie der Roman Ein Haus am Rand der Stadt (Bln./
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Weimar 1962) gingen aus der kulturpolit. Ära des »Bitterfelder Weges« hervor. In späteren Jahren distanzierte sie sich von den Texten, die ihr Rohmaterial auf ideologisch gefällige Weise zurichten. Ihre widerständig simplizistische, auf eine nicht entzauberte, gegenfakt. Welt verweisende Schreibweise entwickelt sie in dem Roman Rumba auf einen Herbst (Hbg./Zürich 1992), der wiederholt verboten wurde, 1964, als das Manuskript dem Aufbau Verlag vorlag, u. 1966, als der Mitteldeutsche Verlag es drucken wollte. In vier Erzählsträngen, die jeweils einer Figur u. einem Tanz, musikal. Satz oder einer Stimme zugeordnet sind, setzt sich das Buch mit der ernüchternden Realität einer Staat gewordenen Utopie auseinander, deren Alltag zerbrechende Ehen, Generationenkonflikte, Enge u. Ödnis u. eine erstarrte Funktionärsbürokratie bestimmen, v. a. aber die ungelöste Gleichberechtigungsfrage u. atomare Bedrohung. Die Darstellung des verkehrten Realen, die M. mit sozialist. Treueschwüren unterfüttert, wird der griech. Götterwelt des Helios u. Pluto, der Demeter u. Persephone gegenübergestellt, deren derbes erot. Treiben ird. Verhältnisse spiegelt. Der Abschied von dem verengten Wirklichkeitsbegriff der Widerspiegelungstheorie geht einher mit der Entwicklung einer von Widersprüchen nicht freien weibl. Ästhetik des Widerstands. Danach regt sich nach Jahrhunderten der »Frauenhalterordnung« eine »persephonische Opposition« des Weiblichen, die unterhalb u. hinter dem Rücken des Patriarchats die Verbesserung der Welt plant. Gemeint ist ein mit dem Wunderbaren verbündetes Erzählen, das in Märchen, Legenden, »lügenhaften Romanen«, »wundersamen Reisen« u. »Hexenromanen« die Alltagswirklichkeit dem fremden Blick des Fantastischen aussetzt u. die Grenzen von Vernunft- u. Wissenswelt schleift. Mit der kämpferischen Bestimmung ihres Schreibens als Aufbruch einer spezifisch weibl. Gegenkultur begründet M. die experimentelle Form ihrer Romane. Allerdings setzen ihre Montagen Formtraditionen der Moderne u. ihrer romant. Vorläufer nahtlos fort. Mit dem Roman Hochzeit in Konstantinopel (Bln./Weimar 1968) beginnt ihre Entdeckung
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im Westen u. ihr Erfolg innerhalb der in den 1970er Jahren prosperierenden, von der feminist. Bewegung getragenen Frauenliteratur. Das Buch sprengt den Rahmen einer zweckdienlich eingeschränkten, dem Bedarf an Lebenshilfe willfährigen feminist. Literatur. Doch beschädigt M.s schlicht dichotom. Verständnis des Geschlechterverhältnisses zusehends ihr Erzählen. Die Geschichte des jungen Ostberliner Liebespaars, das dem werktätigen Leben den Rücken gekehrt hat u. in ein jugoslaw. Touristenzentrum gereist ist, folgt dem Erzählmodell von Tausendundeinernacht. Die Romanheldin Bele versucht, den nüchternen Naturwissenschaftler in das Garn ihrer Geschichten einzuspinnen, um den Vernunftmenschen für ein reicheres Leben mit der Fantasie zu gewinnen. Doch lösen ihre Geschichten den artikulierten Anspruch nicht ein. Der Traum von einer Hochzeit in Konstantinopel bleibt offenbar ein Traum. Die Dichotomie von männl. Vernunft- u. Wissenswelt u. weibl. Magie wiederholt sich in Gauklerlegende. Eine Spielfraungeschichte (Bln./ DDR 1970). Die Geschichte von der Spielfrau Wanda, die mit den Figuren des Arnstädter Puppenmuseums die kybernet. Spieltheorie ihres Gefährten in die Praxis übersetzt, trocknet zur Allegorie aus. Bele überlebt als Herausgeberin des Romans Die wundersamen Reisen Gustav des Weltfahrers. Lügenhafter Roman mit Kommentaren (Bln./Weimar 1972). Die Lügengeschichte parodiert das Genre der fantast. Reise. Im Falle Gustavs des Weltfahrers, der seine Abenteuer seinem Alter Ego Gustav dem Schrofelfahrer (Müllfahrer) erzählt, führt die Reise mit der Lokomotive Hulda in fernöstl. Reisanbaugebiete, zu kegelköpfigen Menschen, in eine blaue Wüstenstadt, zu einsamen Inseln u. quer durch den Weltraum zu fremden Sternen. Eigentlich aber wird eine innere Unermesslichkeit vermessen, deren krit. Potential die Autorin opfert. Nicht psychoanalytisch als Seelenreise in das Fremde des eigenen Selbst sollen Gustavs Weltabenteuer verstanden werden, sondern als unterhaltsame Fernträume ohne tiefere Bedeutung. Komplexer u. schlüssiger erscheinen M.s letzte Romane, Leben und Abenteuer der Trob-
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adora Beatriz, nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura in dreizehn Büchern und sieben Intermezzi (Bln./Weimar 1974), in den M. Materialien des Romans Rumba auf einen Herbst einarbeitet, u. der Hexenroman Amanda (Bln./Weimar 1983). Gegenwart u. Vergangenheit, Geschichte u. Mythos, das Faktische u. das Märchenhafte, Ostberlins städtischer Alltag u. die griech. Mythologie, Artusepik, Troubadourlyrik u. Blocksbergsage werden in spannungsreiche Beziehung zueinander gesetzt. Die Romanheldin Comtesse de Die, als bedeutendste Troubadourin des 12. Jh. verbürgt, erwacht im Mai 1968 aus ihrem demonstrativ gehaltenen Dornröschenschlaf u. begibt sich nach deprimierenden Erfahrungen mit der Männerwelt der Pariser Maiunruhen auf die Suche nach kühnen unabhängigen Frauen. In Ostberlin findet sie die Diplomgermanistin, Bauarbeiterin u. Triebwagenführerin Laura, mit der sie sich verbündet, um mit vereinten poetisch-magischen u. Verstandeskräften die Gesellschaft von ihren Fesseln zu befreien. Die moderne Gesellschaft bedarf, um ihre Fehlentwicklungen korrigieren zu können, ihrer Anamnese aus der Kinderzeit des Bewusstseins, wo Gesetz, Moral, Sitten u. das Reglement des Zusammenlebens der Generationen u. Geschlechter noch nicht zweckrational-patriarchalisch entgleist waren. Zwitterwesen wie Sirenen, Einhörner, Melusinen, Hexen sind Repräsentantinnen eines älteren, vom Fortschritt der Herrschaft über die Naturprozesse noch nicht berührten Zustands der Menschheit; sie werden zu Nothelferinnen einer v. a. für Frauen zu eng u. ungerecht gewordenen Welt. Im Hexenroman taucht die Trobadora, deren zweites Leben mit einem Fenstersturz endete, in Sirenengestalt wieder auf. Aus dem Archiv des Blocksbergs schreibt sie die Hexenlaufbahn ihrer Spielfrau Laura ab, die sich in zwei Hälften geteilt hat, in eine sozialistisch funktionierende u. eine kulturrevolutionäre. Zus. sorgen die beiden, nicht ohne funktionslose Materialhäufungen u. Verselbständigungstendenzen des Fantastischen, für Grenzüberschreitungen des Wunderbaren u. die poet. Durchdringung der kritisch unter die Lupe genommenen Lebensverhältnisse in
Morhof
Ost u. West. Jenseits der feminist. Fronten erkennt der Roman die Möglichkeit zu einem weltweit solidarischen Handeln der Menschheit im Kampf gegen die atomare Rüstung. Der Dokumentationsband Die Hexe im Landhaus (Zürich 1984) überliefert noch einmal M.s zivilisationskritische, auf die Rehabilitation von naturnahen Erfahrungsformen dringende Botschaft. Das heroische Testament. Ein Roman in Fragmenten (Mchn. 1998) enthält letzte Arbeiten wie die Geschlechtertauschgeschichte Der Schöne und das Tier. Eine Liebesgeschichte (Ffm. 1991) u. Erzählfragmente, deren Fertigstellung der Tod der Autorin verhindert hat. Weitere Werke: Sündhafte Behauptungen, Vexierbild, Bootskauf. Porträts. In: Liebes- u. a. Erklärungen. Schriftsteller über Schriftsteller. Hg. Annie Voigtländer. Bln./Weimar 1972. – Das Seil. In: Die Anti-Geisterbahn. Hg. Joachim Walther. Bln./DDR 1973. – Spielzeit. Erzählung. In: Der Weltkutscher u. a. Gesch.n für Kinder u. große Leute. Hg. Frank Beer. Rostock 1973. Literatur: Patricia A. Herminghouse: Die Frau u. das Phantastische (...). In: Die Frau als Heldin u. Autorin. Hg. Wolfgang Paulsen. Bern/Mchn. 1979, S. 248–266. – Ingeborg Nordmann: Die halbierte Geschichtsfähigkeit der Frau. In: DDR-Roman u. Literaturgesellsch. Hg. Gerd Labroisse u. Jos Hoogeveen. Amsterd. 1981, S. 419–462. – Marlis Gerhardt (Hg.): I. M. Texte, Daten, Bilder. Ffm. 1990. – Kristine v. Soden: I. M.s Hexische Weltfahrt. Eine Zeitmontage. Bln. 1991. – Manfred Behn u. HansMichael Bock: M. In: KLG. – Elisabeth Endres u. Frauke Meyer-Gosau: M. In: LGL. Sibylle Cramer
Morhof, Daniel Georg, auch: D. George (Georgius) Morhoff, Morhofius, Morhovius; benutzte Initialen: D. G. M., Kryptonym: Didacus Gelasius Modestinus, * 6.2.1639 Wismar, † 30.7.1691 Lübeck. – Jurist, Polyhistor, Rhetoriker, Gelegenheitsdichter, Literaturhistoriker, Poet. M. erhielt zunächst von seinem Vater, dem Juristen Joachim Morhof, drei Jahre Lateinunterricht, bevor er als Neunjähriger die Gelehrtenschule in Wismar u. seit 1655 das Gymnasium in Stettin besuchte. 1657 immatrikulierte er sich in Rostock für das Jurastudium, besuchte jedoch gleichzeitig Lehrveranstaltungen in seinen Lieblingsfächern
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Rhetorik u. Poesie bei Johann Lauremberg u. später bei Tscherning, mit dem er befreundet war. Nach Tschernings Tod wurde er als 22Jähriger dessen Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Poesie. Vor Aufnahme der Lehrtätigkeit absolvierte M. eine Bildungsreise in die Niederlande u. nach England u. promovierte 1661 zum Doktor der Rechte. 1665 wurde er auf den Lehrstuhl für Eloquenz u. Poesie an der neu gegründeten Kieler Universität berufen; viermal wurde er Rektor dieser Hochschule. 1670 trat er eine zweite Reise in die Niederlande u. nach England an, nach deren Beendigung er 1671 die Tochter des Lübecker Senators von Degingk, Margaretha, heiratete. Ab 1673 hatte er zusätzlich die Professur für Geschichte inne, ab 1680 leitete er die Universitätsbibliothek. Nach dem frühen Tod seiner Frau 1687 verschlechterte sich sein Gesundheitszustand. Auf der Rückreise von einem Kuraufenthalt starb er – als Gelehrter hochgeachtet – am 30.7.1691 im Haus seiner Schwiegereltern in Lübeck. In seiner Studienzeit bis zur zweiten Bildungsreise verfasste M. vorwiegend lat. Gelegenheitsgedichte u. Epigramme, die z.T. später in den Miscellanea Poetica (Kiel 1666) u. in den Opera Poetica (Lübeck 1697. InternetEd. in: CAMENA) wieder abgedruckt wurden. Daneben entstanden – sein polyhistor. Wissen dokumentierend – medizinische, jurist., theolog. u. naturwiss. Disputationen, die später größtenteils in den Dissertationes Academicae et Epistolicae (Hbg. 1699) gesammelt u. erneut veröffentlicht wurden. Zu diesen Schriften zählt auch die Dissertatio de Enthusiasmo seu Furore Poetico (Rostock 1661). In diesem frühen dichtungstheoret. Werk nimmt M. zu einem zentralen Problem der Renaissance- u. Barockpoetik Stellung. In Anlehnung an Platon unterscheidet er die mimet. von der eikonopoet. Poesie u. verurteilt die ungezügelte Fantasie, wie sie etwa bei Pindar anzutreffen sei. Dies hinderte ihn jedoch nicht, selbst pindarische Oden zu verfassen, da er dabei lediglich ein lyrisches Argumentationsschema wählte. Einem Großteil der hier geäußerten Gedanken blieb M. auch später treu.
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Auch in der Zeit seiner akadem. Lehrtätigkeit verfasste M. vorwiegend gelehrte Gelegenheitsgedichte – hauptsächlich Lobgedichte auf befreundete u. hochstehende Persönlichkeiten, auf Institutionen (z.B. die Universität Kiel), Hochzeitsgedichte u. Trauergedichte. Daneben beschäftigte er sich mit z.T. obskuren »Naturwissenschaftlichen« Fragestellungen: etwa mit der physikal. Untersuchung über das Zerspringen von Gläsern beim Singen bestimmter Noten in der Epistola De scypho vitreo per certum humanae Vocis sonum rupto (Kiel 1672. 2., erw. Aufl. 1682. 31683), mit alchemist. Aussagen zur Verwandlung von Metallen (De Metallorum Transmutatione [...] Epistola. Hbg./Amsterd. 1671. Genf 31702) oder mit einer Abhandlung über die menschl. Sinne in der Dissertatio de Paradoxis Sensuum (Kiel 1676. 21685). Von den beiden Werken, die M.s Bedeutung für die Wissenschaftsgeschichte markieren, trägt das eine den Titel Unterricht Von Der Teutschen Sprache und Poesie / deren Uhrsprung / Fortgang und Lehrsätzen [...] (Kiel 1682. Lübeck/Lpz. 41718). Im Unterschied zu anderen poetolog. Werken des 17. Jh. versuchte M. hier, eine krit. Literaturgeschichte zu schreiben. Der erste Teil bietet nach Art einer histor. Grammatik eine Geschichte der dt. Sprache; im zweiten Teil wird ein histor. Überblick über die dt. Poesie im Vergleich mit anderen europ. Dichtungen – einschließlich der der nord. Länder – skizziert; der dritte Teil entwirft ein System der Poetik. Die Dichtung wird immer im Zusammenhang mit der Sprache gesehen – auch bei fremden Völkern, wobei der jeweilige Nationalcharakter Berücksichtigung findet. Neuartig ist die breite Behandlung des Romans. Das Werk ist v. a. als Apologie der dt. Literatur angelegt. Das zweite wissenschaftlich bedeutende Werk ist der Polyhistor sive De notitia auctorum et rerum commentarii (Lübeck 1688. Bis 1747 in weiteren fünf Aufl.n auch u. d. T. Polyhistor Literarius Philosophicus Et Practicus. Neudr. der 4. Aufl. Aalen 1970), der nur noch teilweise von M. ausgearbeitet werden konnte. Hervorgegangen aus akadem. Vorlesungen, wollte M. hier ein Kompendium der gesamten Wissenschaften vorlegen. Es sollte der
Morhof
Vernachlässigung der allg. Studien zugunsten der Fachstudien entgegenwirken u. den Zusammenhang der einzelnen Studienfächer demonstrieren, da alle Einzelwissenschaften nur unselbständige Zweige des Wissens überhaupt seien (arbor scientiae). M.s umfangreiches Wissen lässt sich vergleichen mit dem der bedeutendsten Polyhistoriker der Zeit (z.B. Alsted u. Kircher). Der erste Teil behandelt die »Geisteswissenschaften«, die Methodik des wiss. Arbeitens u. die »Hilfswissenschaften«. Der zweite u. der dritte Teil, von Johann Moller herausgegeben u. teilweise eigenständig ergänzt, befassen sich mit der Philosophie, der Naturgeschichte, der Physik, der Magie, der Logik u. der Mathematik (Tl. 2) sowie mit den Disziplinen des prakt. Lebens: Ethik, Politik, Ökonomie, Theologie, Jurisprudenz u. Medizin (Tl. 3). Noch im 18. Jh. wurde dieses Werk, das das gesamte Wissen der Zeit enthält, zu Lehrzwecken genutzt. Weitere Werke: D. G. Morhofii Vita. Hbg. 1699 [bis 1671]. – Vom Goldmachen oder [...] Verwandlung der Metalle. Bayreuth 1704. 21764 (an. dt. Übers.). – Ausw. seiner Gedichte in: Blumenlese dt. Sinngedichte. Hg. Karl Heinrich Jördens. Bd. 2, Bln. 1791, S. 386 ff. – Auserlesene Gedichte v. Johann Rist u. D. G. M. Hg. Wilhelm Müller. Lpz. 1826, S. 177–196. – Unterricht v. der Teutschen Sprache u. Poesie. Hg. Henning Boëtius. Bad Homburg 1969 (Neudr. ohne ›Teutsche Gedichte‹). Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl., Bd. 4, S. 2807–2848. – Weitere Titel: Johann Moller: De Vita, meritis, scriptis D. G. M. Lübeck 1710. – Richard Treitschke: Über D. M. In: Literar. poet. Tb. 6 (1848), S. 439–462. – H. Ratjen: D. G. M. In: Jb. für Landeskunde des Hzgt. Schleswig 1 (1858), S. 18–32. – Rochus v. Liliencron: M. In: ADB. – Wenzel Eymer: M. u. sein Polyhistor. Programm. Budweis 1893. – A. Fécamp: De D. G. M. [...]. Paris 1894. – Theodor Becker: Das Volkslied ›Kein schönrer Tod ist in der Welt‹ u. D. G. M. Programm Neustrelitz 1909. – Marie Kern: D. G. M. Diss. Freib. i. Br. 1928. – Gerhard Fricke: D. G. M. In: FS Univ. Kiel. Lpz. 1940. – Friedrich Blume: A. Pflegers Kieler Universitätsreden. In: Archiv für Musikforsch. 8 (1943), S. 5–26. – Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit u. ihre Kritiker. Stgt. 1966, S. 400–437. – Conrad Wiedemann: Polyhistors Glück u. Ende. In: FS Gottfried Weber. Bad Homburg 1967, S. 215–235 (ferner in: Ders.: Grenzgänge. Heidelb. 2005, S. 107–132). – Sigmund v.
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Lempicki: Gesch. der dt. Literaturwiss. Gött. 21968, S. 150–173. – Dieter Lohmeier: Das got. Evangelium u. die cimbr. Heiden. D. G. M., Johann Daniel Major u. der Gotizismus. In: Lynchos (1977/78), S. 54–70. – Italo Michele Battafarano: Vico e M.: considerazioni e congetture. In: Bolletino C. St. Vichiani 9 (1979), S. 89–110. – Wilhelm SchmidtBiggemann: Topica Universalis. Hbg. 1983, S. 265–272. – Gunter E. Grimm: Kausalpoesie zwischen Polyhistorie u. ›Politik‹: Das Exempel D. G. M.s. In: G. E. Grimm: Lit. u. Gelehrtentum in Dtschld. Tüb. 1983, S. 303–313. – Knut Kiesant: Zur Rezeption der spätmittelalterl. Lit. im 17. Jh. D. G. M. In: Dt. Lit. des SpätMA. Ergebnisse, Probleme u. Perspektiven. Greifsw. 1986, S. 376–385. – Henry F. Fullenwider: Die Rezeption der jesuit. ›argutia‹-Bewegung bei Weise u. M. Wiesb. 1991. – Siegfried Seifert: ›Historia litteraria‹ an der Wende zur Aufklärung. Barocktradition u. Neuansatz in M.s ›Polyhistor‹. Wiesb. 1991. – Guillaume van Gemert: Der ›Polyhistor‹ u. Christian Knorr v. Rosenroth: ein Beitr. zum frühen dt. Knorr-Bild. In: Morgen-Glantz 2 (1992), S. 97–100. – Thomas Neukirchen: Inscriptio. Rhetorik u. Poetik der Scharfsinnigen im Zeitalter des Barock. Tüb. 1999. – Adalbert Elschenbroich: M. In: NDB. – William A. Kelly: Neugefundene Gedichte J. M. Moscheroschs, D. G. M.s u. C. F. Honolds. In: Daphnis 34 (2005), S. 373–376. – D. G. M. u. die Gattung des Propemptikon. In: Frühneuzeitl. Bildungsreisen im Spiegel lat. Texte. Hg. Gerlinde Huber-Rebenich u. Walther Ludwig. Weimar 2007, S. 113–136.
Burg wieder. Seine Erkennung verbindet sich mit zwei Motiven: dem Vortrag eines seine Lage bezeichnenden Liedes (das aus dem sumerlaten-Lied Walthers von der Vogelweide zitiert) u. der Übergabe seines Eherings an seine Frau in einem Becher Wein. Der junge Bräutigam Neifen erhält die Tochter, der alte Moringer wird seine Frau strafen. Um die Konstellation des alten u. des jungen Mannes einer alternden Frau gegenüber baut die Ballade die epische Situation des Dreiecksverhältnisses, die ähnlich Caesarius von Heisterbach lat. erzählt u. Der Heiligen Leben volkssprachlich übernahm. Zu den minnesängerischen Handlungsträgern tritt als Charakteristikum der M. ihre untyp. Strophe, eine Kanzonenform, die auf der des Walther-Liedes beruhen dürfte. Wortlaut u. Strophenzahl der Ballade variieren in der handschriftlichen u. gedruckten Überlieferung, die mit einer Abschrift von 1459 einsetzt u. bis in den Anfang des 17. Jh. reicht. Daneben erweisen auch Anspielungen u. Zitate vom 14. bis ins 16. Jh. die Beliebtheit einer Ballade, die offensichtlich unter schriftliterar. Bedingungen entstand u. gesungen werden konnte, aber vielleicht nicht volksläufig wie andere Texte dieser Gattung wurde.
Franz Günter Sieveke
Ausgaben: Dt. Volkslieder mit ihren Melodien. Hg. Dt. Volksliedarchiv. Bd. 1, 1. Tl., Bln./Lpz. 1935, Nr. 12, S. 106–121. – Mertens 1989 (s. u.), S. 208–215.
Moringer-Ballade, anonym, 14. Jh. – Mittelhochdeutsches Erzähllied.
Literatur: Frieder Schanze: M. In: VL. – Volker
Die M. wurde nach 1310/20 verfasst u. ist Mertens: Alte Damen u. junge Männer – Spiegezuerst in einer Zechparodie auf Psalm 94 (95) lungen v. Walthers ›sumerlaten-Lied‹. In: Walther vom Ende des 14. Jh. bezeugt; ihre Entste- v. der Vogelweide. Hg. Jan-Dirk Müller u. Franz Josef Worstbrock. Stgt. 1989, S. 197–215. – Hanno hung kann im Umkreis der Beschäftigung Rüther: Der Mythos v. den Minnesängern. Die mit dem Minnesang in Konstanz in der ersten Entstehung der Moringer-, Tannhäuser- u. BremHälfte des Jahrhunderts gedacht werden. berger-Ballade. Köln u. a. 2007. Erzählt wird der Sagenstoff vom HeimSabine Schmolinsky / Red. kehrer, der gerade noch eine erneute Heirat seiner Frau verhindern kann; der Held wird Moritz Landgraf von Hessen, Beiname: mit dem Dichter Heinrich von Morungen Der Gelehrte, * 25.5.1572 Kassel, † 15.3. identifiziert. Der »edle Moringer« bricht zu 1632 Eschwege; Grabstätte: Kassel, St. einer siebenjährigen Wallfahrt in das Land Martin-Kirche. – Polyhistor, Pädagoge, des hl. Thomas (Indien) auf u. empfiehlt seine Komponist; Lyriker, Dramatiker. Frau dem Schutz des jungen Herrn von Neifen. Am Ende der Frist durch Träume ge- Der erstgeborene Sohn Wilhelms IV. erhielt warnt, findet sich der Moringer am Hoch- eine umfassende humanist. Ausbildung. Seizeitstag seiner Frau als armer Pilger in seiner ne Erzieher waren Tobias Homberg (Rechts-
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u. Staatswissenschaften), Georg Otto (Musik) u. Caspar Cruciger d.J. (Theologie). Bereits in jungen Jahren beeindruckte er die Zeitgenossen durch seine umfassende Bildung: So legte er 1587 vor der philosophischen u. theolog. Fakultät der Universität Marburg eine glänzende Prüfung ab, verfasste Gelegenheitsgedichte, vertonte die Psalmen u. übersetzte sie in lat. Verse (Davidis regii prophetae psalterium. Schmalkalden 1590). Landgraf seit 1592, frönte M. seinem Repräsentationsdrang in aufwendigen Festen u. Ritterspielen in ital. Manier, für die er nach dem Muster italienischer Ritterepen (Ariost u. Tasso) die Szenare ersann. Unter seiner zentralist. Regierung wurde die Residenz Kassel zum politisch-kulturellen Mittelpunkt des fürstl. Calvinismus in Deutschland. Polyglotte Bildung u. Gelehrsamkeit (bes. chemiatr. Kenntnisse) verschafften M. internat. Ansehen u. den Beinamen »eruditus«. M.’ Hof war auch ein Zentrum der hermetischspekulativen Chemiatrie. In M.’ Diensten standen Hermann Wolf, Jacob Mosanus, Michael Maier, Johann Daniel Mylius, Johannes Rhenanus u. Johannes Hartmann, mit ihm korrespondierten bedeutende europ. Naturphilosophen wie Tycho Brahe in Kopenhagen, Willibrord Snellius in Leiden u. John Dee in London. 1623 wurde M. in die Fruchtbringende Gesellschaft (mit dem Namen »Der Wohlgenannte«) aufgenommen. Auf Druck der Landstände, die sich dem Zentralismus u. der antiligist. Politik widersetzten u. die Militärreform zur Bildung eines Volksheers ablehnten, musste M. im Jahr 1627 abdanken. Er zog sich 1630 nach Eschwege zurück u. widmete seine letzten Jahre dem Studium u. der Religion. Auf dem Sterbebett versöhnte er sich mit seiner Familie. Das Monumentum Sepulcrale (Kassel 1638. 2 1640), mit dem M. postum gehuldigt wurde, ist das aufwendigste höf. Funeralwerk aus der ersten Hälfte des 17. Jh. in Deutschland. M.’ Schriften dienten vorwiegend der systemat. Reorganisation u. Modernisierung des nat. Bildungswesens. Seine Schulverfassung (Kassel 1618; auch dt.) vereinheitlichte die »Unterrichtung der Jugend in den Unterschuelen«. Für den hess. Adel hatte M. schon 1599 ein propädeut. Bildungsinstitut in Kas-
Moritz
sel begründet; in seinem Außschreiben [...] zu beforderung der Studierenden Rittermäßigen Jugend (Kassel 1618) öffnete er das Collegium Adelphicum Mauritianum auch dem auswärtigen Adel. Für die Studia literaria verfasste M. kompendiöse Lehrbücher (Poetices methodice conformatae libri duo. Kassel 1598. Encyclopaedia. Kassel 1597. Lexique François-Allemant. Ffm. 1631); die Philosophia practica Mauritiana (Kassel 1604) blieb unvollständig, ein Thesaurus linguae latinae (1603) ungedruckt. M., der Musik u. Schauspiel pädagog. Wert beimaß, gründete das Ottoneum, das erste stehende Hoftheater in Deutschland. Von zahlreichen Spieltexten, die M. dichtete, ist nur eine Schulkomödie vollständig überliefert: Satyra Tragicomica [...] genandt Die Belohnung der gottesfurcht. Neben den eigenen Schriften macht die mäzenat. Förderung von Begabungen wie Heinrich Schütz oder Diederich von dem Werder M.’ kulturgeschichtl. Bedeutung aus. Die jüngere Forschung hebt M.’ wichtige Rolle für den internat. Calvinismus hervor u. betont den europ. Rang des Kasseler Renaissance-Hofes, den eine viel beachtete Ausstellung 1997/98 augenfällig präsentierte (Moritz der Gelehrte. Ein Renaissancefürst in Europa). Weitere Werke: Rosarium mathematicum. Kassel 1600. – Synopsis religionis christianae. Kassel o. J. – Musikalische Werke: Christlich Gesangbuch. Kassel 1612. – Ausgew. Werke. Hg. Werner Dane. Kassel 1936. – Briefe: Correspondence inédite de Henri IV, roi de France et Navarre, avec Maurice-leSavant, landgrave de Hesse. Hg. Christoph v. Rommel. Paris 1840. Literatur: Monumentum sepulcrale. Kassel 1638. – Friedrich Wilhelm Strieder: Grundlage zu einer hess. Gelehrten- u. Schriftsteller-Gesch. Bd. 9, Kassel 1794, S. 176–200 (Werkverz.). – Christoph v. Rommel: Gesch. v. Hessen. Bd. 6, Kassel 1837, S. 295–797; Bd. 7, ebd. 1839. – Theodor Hartwig: Die Hofschule zu Cassel unter Landgraf M. dem Gelehrten. Diss. Marburg 1864. – Johannes Bolte: Schausp.e am Hofe des Landgrafen M. v. Hessen. In: Sitzungsber. der preuß. Akademie der Wiss.en. Philosoph.-histor. Klasse (1931), S. 5–28. – Hans Hartleb: Dtschld.s erster Theaterbau: Eine Gesch. des Theaterlebens u. der engl. Komödianten unter Landgraf M. dem Gelehrten v. Hessen-Kassel. Bln. 1936. – Christiane Engelbrecht: Rittersp.e am Hofe des Landgrafen M. v. Hessen. In: Hess. Jb. für
Moritz Landesgesch. 9 (1959), S. 76–85. – Gunter Thies: Territorialstaat u. Landesverteidigung. Das Landesdefensionswerk in Hessen-Kassel unter Landgraf M. Darmst. 1973. – Bruce T. Morgan: Privilege, Communication, and Chemiatry: The Hermetic-Alchemical Circle of M. of Hessen-Kassel. In: Ambix 32 (1985), S. 110–126. – Barbara v. Gemmingen: Das ›Lexique François-Allemant‹ (1631) des M. v. Hessen. In: Das Galloromanische in Dtschld. Hg. Johannes Kramer u. Otto Winkelmann. Wilhelmsfeld 1990, S. 59–76. – Holger Th. Gräf: Konfession u. internat. System. Die Außenpol. Hessen-Kassels im konfessionellen Zeitalter. Darmst./Marburg 1993. – Achim Aurnhammer: Torquato Tasso im dt. Barock. Tüb. 1994. – Horst Nieder: Die Kasseler Tauffeierlichkeiten v. 1596. Fest u. Politik am Hofe des Landgrafen M. v. Hessen-Kassel. Diss. Marburg 1994. – Timothy Raylor: English Responses to the Death of M. the Learned: John Dury, Sir Thomas Roe, and an Unnoticed Epicede by William Cartwright. In: English Literary Renaissance 25 (1995), S. 235–247. – Barbara Kaltz: Le Gentilhomme lexicographique: Le ›Lexique françois-allemant tresample de M. landgrave de Hesse‹ (1631). In: Historiographia Linguistica 23 (1996), S. 287–300. – Birgit Kümmel: Der Ikonoklast als Kunstliebhaber. Studien zu Landgraf M. v. Hessen-Kassel 1592–1627. Marburg 1996. – M. der Gelehrte. Ein Renaissancefürst in Europa. Hg. Heiner Borggrefe, Thomas Fusenig, Anne Schunicht-Rawe (Ausstellungs-Kat. Brake/Kassel 1997/ 98). Mchn. 1997. – Fritz Wolff: M. der Gelehrte. In: NDB. – June Schlueter: English Actors in Kassel, Germany, during Shakespeare’s Time. In: Medieval and Renaissance Drama in England 10 (1998), S. 238–261. – Dies.: Celebrating Queen Elizabeth’s German Godchild: The Documentary Record. In: Medieval and Renaissance Drama in England 13 (2000), S. 57–81. – Landgraf M. der Gelehrte. Ein Kalvinist zwischen Politik u. Wiss. Hg. Gerhard Menk. Marburg/L. 2000. – John L. Flood: Parallel Lives: Heinrich Steinhöwel, Albrecht v. Eyb, and N. v. Wyle. In: Early Modern German Literature 1350–1700. Hg. Max Reinhart. Rochester 2007, S. 779–796. Achim Aurnhammer
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Moritz, Karl Philipp, * 15.9.1756 Hameln, † 26.6.1793 Berlin. – Verfasser von Romanen, kunsttheoretischen Abhandlungen u. Schriften über Grammatik u. Sprachphilosophie, Mythologie u. Altertumskunde, Psychologie u. Pädagogik, Poetik u. Stilistik. M.’ prägende Kindheitserfahrung ist ein ärmliches u. zerstrittenes Elternhaus. Die wirtschaftlich u. seelisch bedrückenden Umstände entstanden hauptsächlich durch den religiösen Fanatismus seines Vaters Johann Gottlieb Moritz (1724–1788), eines in hannoverschen Diensten stehenden Militärmusikers, der in zweiter Ehe Dorothea Henriette König (1721–1788) geheiratet hatte. M. als erster Sohn dieser Verbindung eiferte zum Leidwesen der Mutter dem Vater nach, der eifriger Anhänger des Quietisten Johann Friedrich von Fleischbein (1700–1774) war. Nach dem Ende des Siebenjährigen Kriegs 1763 lebte die Familie in Hannover. Der Vater erzog zunächst den Sohn selbst u. förderte dessen Einführung in den myst. Separatismus. 1768 wurde M. zur Entlastung der kinderreichen Familie als Gehilfe nach Braunschweig zu einem quietist. Hutmacher gegeben, der den Jungen körperlich u. seelisch unterdrückte. Als M. sich nach anderthalb Jahren gegen seinen Patron auflehnte (möglicherweise auch durch einen Selbstmordversuch), musste der Vater seinen Sohn 1770 nach Hannover zurückholen, wo der hochbegabte u. ehrgeizige M. Förderer auf sich aufmerksam machte. Der Garnisonspfarrer verschaffte ihm Freitische u. ein Stipendium für das Gymnasium in Hannover, das der Junge ab dem Frühjahr 1771 besuchte. Als seine Familie wegen des Berufswechsels des Vaters im selben Jahr wegzog, schlug sich M. allein in der Stadt durch u. brachte es nach einigen von Depression u. Leid umdüsterten Episoden bis zur Auszeichnung als öffentl. Schulredner. 1776 wanderte M., gepackt vom zeitgenöss. Drang nach Selbstdarstellung im Theater, aus Hannover nach Thüringen, um am Herzoglich Gothaischen Hoftheater unter der Leitung Ekhofs Schauspieler zu werden, wurde aber abgelehnt. Darauf folgte ein un-
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stetes Wanderleben in der mitteldt. Provinz, mit zwei Anläufen zum Studium der Theologie in Erfurt u. Wittenberg, dem weiteren erfolglosen Versuch einer Schauspielkarriere u. einem Aufenthalt im Dessauer Philanthropin Basedows. Nach einer kurzen Anstellung als Informator am Potsdamer Militärwaisenhaus wandte sich M. daraufhin nach der erfolgversprechenden Großstadt Berlin, wo ihm 1778 der Aufstieg zum Lehrer am berühmten Gymnasium zum Grauen Kloster glückte; 1784 wurde er dort Gymnasialprofessor. In Berlin war M. durch Kontakte zu den Freimaurerzirkeln (seit 1779 war er Mitgl. einer Loge), aufgeklärten Schulmännern (Büsching, Gedike), Philosophen (Moses Mendelssohn), Publizisten (Biester) u. Medizinern (Marcus Herz) in das agile intellektuelle Leben voll eingebunden u. entfaltete trotz tuberkulöser Krankheitsschübe eine große Produktivität als Verfasser von Gedichten, sprachwiss. Untersuchungen u. volksaufklärer. Schriften. 1782 reiste er nach England, das er wie viele gebildete Zeitgenossen wegen seines regen öffentl. Lebens u. der parlamentarischen Verfasstheit bewunderte. Die daraufhin publizierten Reisen eines Deutschen in England im Jahre 1782 (Bln. 1783. Neudr. 1903 u. ö. Mchn. 2007. Übers. ins Engl. 1795) bildeten M.’ ersten großen literar. Erfolg; Aufsehen erregte er aber auch als Herausgeber der ersten dt. psycholog. Zeitschrift »Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde« (10 Bände, Bln. 1783–93. Neudr. Lindau 1978/79 u. Nördlingen 1986. Online-Ed. 2009: http://telota.bbaw.de/mze/), die eine Fülle von Fallberichten abweichenden Verhaltens bot u. Träume, Vorhersagungen u. Phänomene des Unbewussten zur Sprache brachte. 1784/85 übernahm M. neben der Arbeit als Lehrer die Redaktion der »Vossischen Zeitung« u. versuchte das Blatt im Sinne einer »vollkommnen Zeitung« zu reformieren (vgl. seine Programmschrift Ideal einer vollkommnen Zeitung von 1784); dabei unterzog er die zeitgenöss. Literatur u. die Aufführungen der Döbbelinschen Theatertruppe einer vernichtenden Kritik (darunter der berühmte Verriss von Schillers bürgerl. Trauerspiel Kabale und Liebe). Nach dem Scheitern des Projekts u. voller
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Abneigung gegen den »Schulkerker« verließ er 1786 abrupt den Schuldienst u. ging nach Italien, um sich dort für eine in Aussicht gestellte Professur an der preuß. Akademie der Künste fortzubilden. Während seines Aufenthalts in Rom u. Neapel 1786–1788 verkehrte M. intensiv mit der dt. Künstlerkolonie u. mit dem glühend verehrten Goethe, dessen Italienreise etwa in denselben Zeitraum fiel. Dem wichtigsten dt. Schriftsteller seiner Zeit erschien M. »wie ein jüngerer Bruder«, »von derselben Art, nur da vom Schicksal verwahrlost und beschädigt, wo ich begünstigt und vorgezogen bin« (an Charlotte von Stein, 14.12.1786). Die Freundschaft u. der Gedankenaustausch mit Goethe bedeuteten einen menschl. u. intellektuellen Höhepunkt in M.’ Leben; umgekehrt schätzte Goethe M. als einen gleichrangigen Gesprächspartner. Im Dez. 1788 wanderte M. von Italien nach Weimar, wo er zwei Monate in Goethes Haus verbrachte u. regen Kontakt mit der Weimarer Gesellschaft pflog. Auch durch Protektion des Herzogs Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach wurde M. kurz danach zum Prof. der Theorie der schönen Künste u. zum Mitgl. des Senats an der Akademie der Künste in Berlin ernannt. In der Akademie prägte er die kultur- u. geschmackspolit. Arbeit der Institution, hielt Vorlesungen, arbeitete mit am neuen Reglement, protokollierte die Senatsverhandlungen, verwaltete die Bibliothek u. gab Zeitschriften heraus. Unter den Zuhörern seiner öffentl. Vorlesungen waren die haute volée von Berlin u. die jungen Intellektuellen Alexander von Humboldt, Wackenroder u. Tieck. 1791 wurde M. Mitgl. der Preußischen Akademie der Wissenschaften u. Hofrat u. beteiligte sich an der Konzeption eines dt. Wörterbuchs. Nebenbei nahm er eine Professur an der neu errichteten Militärakademie wahr, wo er Vorlesungen über den Styl (veröffentlicht 1793/94) erteilte. Beruflich war M. damit am Gipfel des für ihn Erreichbaren angelangt; sein Privatleben sorgte für eine Groteske, als er 1792 die 16-jährige Friederike Matzdorff heiratete. Der Hochzeit folgten fast auf den Fuß die Entführung der 20 Jahre jüngeren Frau durch einen Rivalen, die Scheidung u. Wiederverheiratung der Ge-
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trennten. Wenige Monate später starb M. an seinem langjährigen Lungenleiden. M. ist nicht einmal 37 Jahre alt geworden. In dieser kurzen Lebenszeit hat er eine Fülle unterschiedlichster Werke veröffentlicht, die durch Originalität u. ungewöhnl. Vielseitigkeit auffallen. Sie behandeln Sprachwissenschaft, Psychologie, Pädagogik, Ästhetik, Mythologie u. Altertumskunde. Die enorme Produktivität war oft verbunden mit der pragmat. Wiederverwertung eigener Schriften in anderen Kontexten. Ebenso auffallend war M. als eine Persönlichkeit, die einerseits durch den Radikalpietismus, andererseits durch den Rationalismus geprägt war, dabei geleitet vom Willen zum Aufstieg aus den beschränkten sozialen Verhältnissen seiner Zeit. M.’ Denken ist durch die Anthropologie der Aufklärung bestimmt. Als Theoretiker der Individualität war M. manchmal widersprüchlich, als Lehrer zuweilen unzuverlässig, als Denker oft genialisch u. schillernd u. immer fern der »professionellen« Gelehrsamkeit – sein Werk enthält deshalb nicht die üblichen pedant. Fußnoten der Spätaufklärung. Weit entfernt davon, nur ein Opfer nach dem Vorbild seines Romangeschöpfs Anton Reiser zu sein, entbehrte M. auch nicht der polemischen u. dunklen Seiten: Wo er sich angegriffen fühlte, wie im Fall des Braunschweiger Verlegers Campe (vgl. M.’ Anklageschrift Ueber eine Schrift des Herrn Schulrath Campe, und über die Rechte des Schriftstellers und Buchhändlers, 1789), oder wo er die Verfügungsgewalt über eines seiner Produkte (»Magazin zur Erfahrungsseelenkunde«; s. die Verdrängung des zeitweiligen Mitherausgebers Karl Friedrich Pockels) wieder gewinnen wollte, zögerte er nicht, die Gegner öffentlich anzuprangern. M.’ Bedeutung wurde früh erkannt, wenn auch schon den Zeitgenossen die exzentrischen, oft kauzigen Züge seiner Persönlichkeit auffielen. Goethe schätzte ihn als Ratgeber in metrischen u. kunstwiss. Fragen. Herder, Schiller, Mendelssohn, Karl Friedrich Zelter, Johann Gottfried Schadow u. zahlreiche weitere Persönlichkeiten des geistigen Lebens in Weimar u. Berlin suchten sein Gespräch. Jean Paul hatte noch eine umfassende Würdigung in Gestalt einer Biografie des
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verehrten Freundes geplant; danach mussten mehr als anderthalb Jahrhunderte bis zur Wiederentdeckung durch Arno Schmidt vergehen. M.’ Schriftstellerkarriere begann 1776 mit Gedichten. Die lyr. Produktion, die er mit Veröffentlichungen in Berliner Zeitungen fortsetzte, blieb aber nur wenig bedeutende Episode. M.’ einziger Beitrag zur Dramatik, das Theaterstück Blunt oder der Gast (Bln. 1780 u. 1781), gilt als erstes Schicksalsdrama der dt. Bühne; das innovative Stück bietet eine zweifache Auflösung des Plots an u. wurde erst 1986 uraufgeführt. In Berlin trat der Lehrer mit einer ersten größeren pädagog. Schrift, Unterhaltungen mit meinen Schülern (Bln. 1780. 21783), hervor, die konventionelle Frömmigkeit mit den Mitteln von Basedows Reformpädagogik vermittelt, indem den Schülern durch Spaziergänge in das Berliner Umland das Walten Gottes in der Natur verdeutlicht werden soll. In gewisser Weise typisch für M., schiebt er dieser Zweckveröffentlichung im selben Jahr ein Buch nach, das meilenweit von dem frommen Optimismus der Unterhaltungen entfernt ist: Die Beiträge zur Philosophie des Lebens (Bln.) stellen eine Art montiertes, aber offenbar auf authent. Notaten beruhendes Tagebuch dar, in dem ein zweifelndes Ich seine skept. Lebensphilosophie zum Ausdruck bringt. In der Abfolge von Gläubigkeit u. Zweifelsucht zeigt sich ein Grundmuster des Autors M., der zwischen den Rollen des fest gegründeten Pädagogen u. düsteren Selbstbeobachters schwankt. Das originellste Werk seiner pädagogischen – voritalienischen – Zeit ist der Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik welche auch zum Theil für Lehrer und Denker geschrieben ist (Bln. 1786. Neudr. Ffm. 1980). Dieses für Kinder geschriebene Buch mündet nach einer kindgerechten Exempelerzählung in aufklärerische Sprachphilosophie u. Religionskritik u. endet mit einer Moralphilosophie für Erwachsene. Seit 1780 trat M. als Sprachwissenschaftler hervor, als der er schon zu seiner Zeit ernsthaft wahrgenommen wurde; heute ist seine Bedeutung als Linguist wenig bekannt, u. kaum eine Analyse seines Werks geht auf die Sprachtheorie als seine Basis ein. In einer
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Reihe kleiner Schriften vermittelte M. dem ungebildeten Publikum den richtigen Gebrauch der Hochsprache, der Kasus (Akkusativ/Dativ) sowie der Rechtschreibung. Eine frühe Anleitung zum Briefschreiben (Bln. 1783. Krit. Ausg. 2008) zeigt M. als Stürmer u. Dränger, der gegen die obrigkeitshörige Titelsucht u. die konventionellen Musterbriefe der Deutschen zu Felde zieht. Das sprachwiss. Hauptwerk stellt aber die Deutsche Sprachlehre für die Damen (Bln. 1782) dar, die in der Folge ohne den Zusatz »für die Damen« mehrfach aufgelegt wurde. In dieser Schrift entwickelt M. ein Bild der Sprache, das weit über die aufklärerische These von der Sprache als Werkzeug hinausgeht u. auf Wilhelm von Humboldts spätere »Weltbild«-Hypothese vorausweist. Die Sprachlehre soll nach M. »die geheimen Fugen auseinander legen, wodurch das Gebäude unsrer Sprache sich ineinander schließt«. Mit dieser Aufmerksamkeit auf die Bedeutung des Systems Sprache für den »Gang unsrer Gedanken« u. seinen subtilen Analysen der Syntax deutet M. schon auf Grundgedanken seiner späteren »immanenten« Ästhetik hin. Von dem Gedankeninventar der Sprachlehre zehrten alle weiteren linguist. Veröffentlichungen des Autors, die ganze Teile des Werks auskoppelten (Vom richtigen deutschen Ausdruck. Bln. 1792. Grammatisches Wörterbuch. Bln. 1793/94). Mit einer Englischen (Bln. 1784 u. ö.) u. einer Italiänischen Sprachlehre (Bln. 1791) hat M. auch das System anderer Sprachen didaktisch erfolgreich erschlossen. M.’ Hauptwerk ist zweifellos der »psychologische Roman« Anton Reiser (4 Tle., Bln. 1785–90. Neudr. Heilbr. 1886 u. ö. Krit. Ausg.: Sämtliche Werke. Bd. 1 in 2 Tln. Hg. Christof Wingertszahn. Tüb. 2006). Dieses schon zu Lebzeiten des Autors berühmte Buch fasziniert u. erschüttert noch heute durch seine hellsichtige Darstellung einer unglückl. Entwicklungsgeschichte. Die Entstehung ist eng verknüpft mit dem gleichzeitig von M. begonnenen »Magazin zur Erfahrungsseelenkunde«, worin als Vorabdruck des ersten Romanteils ein »Fragment aus Anton Reisers Lebensgeschichte« erschien. So kann diese Darstellung als Pathografie gelesen werden, die nach M.’ eigenen Worten »die
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stärkste Sammlung von Beobachtungen der menschlichen Seele enthält, die [er] zu machen Gelegenheit gehabt habe« (1786). Das großenteils im distanzierten Ton analysierte Leben des negativen Helden Reiser überrascht noch heute durch die Vorwegnahme späterer Erkenntnisse der modernen Psychologie. Narzisstische Störungen u. Phänomene des Unbewussten wie Verdrängung, Ersatzbefriedigung u. Kompensation sind hier der Sache nach präzise dargestellt. Der psycholog. Tiefblick geht dabei von der eigenen Lebensgeschichte aus, denn das Buch ist nicht nur ein Roman, der in den seel. Regungen des aufwachsenden Anton Reiser die Identitätskrise einer ganzen Generation junger Intellektueller zwischen Pietismus, aufklärerischem Rationalismus u. Geniewesen darstellt, sondern auch eine Autobiografie u. ein historisch aufschlussreiches Dokument für das Leben der kleinen Leute im 18. Jh. Wie M. sein »Magazin zur Erfahrungsseelenkunde« als Familienarchiv benutzt hat, in dem Erinnerungen seiner selbst, seiner Brüder u. seines Vaters (Bd. 7 u. 8) gespeichert wurden, ist auch der Anton Reiser sehr nah an M.’ eigene Kindheit u. Schulzeit angelehnt. Das Buch ist Fragment geblieben; im vierten Teil, der erst zwei Jahre nach der Italienreise erschien, hat M. die Selbsttäuschungen des jungen Reiser u. seinen unechten Trieb zur Kunst vor dem Hintergrund seiner neu gewonnenen klass. Kunstkonzeption noch schonungsloser entblößt. In der dt. Literatur ist dieser »psychologische Roman« in seiner Verbindung von psychologisch tiefschürfender Analyse u. erzählerischer Konstruktion ohne Nachfolge geblieben. Parallel zu dem sachlich analysierenden Anton Reiser verfasste M. ein ebenso faszinierendes, aber völlig anders geartetes Prosaexperiment. Im Roman Andreas Hartknopf. Eine Allegorie (Bln. 1786), dem die Fortsetzung Andreas Hartknopfs Predigerjahre (Bln. 1790) folgte, ist die Titelfigur, von Beruf Schmied u. Prediger, ein positiver Held, ein »Weiser« u. ein parodistisch gebrochener weltl. Nachfolger Christi. Hartknopfs »krumme« Wege durch unterschiedlichste ländl. u. sektiererische Milieus stellt M. nicht psychologischrealistisch, sondern mittels Chiffren u. frei-
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maurerischer Symbolik dar. Das Buch huldigt einer Ästhetik des Fragmentarischen u. einer Vielfalt von Schreibweisen zwischen Rhapsodie, Groteske u. Satire. Noch vor Kant hat M. in einer Reihe von Aufsätzen die theoret. Grundlagen der sog. Autonomieästhetik, der Lehre von der Selbstzweckhaftigkeit des Schönen, formuliert, die für Kunst u. Literatur der dt. Klassik maßgebend wurde. Seine zentrale These lautet, dass das Wesen des schönen Kunstwerks darin bestehe, »in sich vollendet« zu sein; sie veröffentlichte M. schon vor der Begegnung mit Goethe in Italien. In Abkehr von der Wirkungsästhetik der Aufklärung lehnte er Nutzen u. Vergnügen als Hauptzweck der Kunst ab u. formulierte stattdessen die Vorstellung von der Eigengesetzlichkeit u. Autonomie der Kunst. Diese Ästhetik hat Parallelen in M.’ vorital. Moralphilosophie, die er in einigen Beiträgen seiner Zeitschrift »Denkwürdigkeiten, aufgezeichnet zur Beförderung des Edlen und Schönen« (1786) vertrat. Weder der einzelne Mensch noch ein Werk der Kunst dürften als »ein bloß nützliches Wesen betrachtet werden«; beide hätten vielmehr ihren »eigentümlichen Wert in sich selber«, wie es in dem Aufsatz Das Edelste in der Natur (1786) heißt. Sein Konzept des Schönen entwickelte M. während seines Italienaufenthalts in der Hauptschrift Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788. Neudr. Stgt. 1888 u. ö.) weiter. Der Text wurde v. a. bekannt durch Goethe, der ihn in der Italienischen Reise auszugsweise mit dem Kommentar veröffentlichte, er sei »aus unseren Unterhaltungen hervorgegangen«. M.’ Programmschrift ersetzt den gängigen Begriff der Naturnachahmung durch die »bildende Nachahmung der Natur« u. versteht das Kunstwerk als schöpferische Hervorbringung des Künstlers, dessen »Tatkraft« mit der Kraft der Natur identisch ist. Das vollendete Kunstwerk drängt durch die Bildungskraft des Künstlers die Natur in ein überschaubares Ganze zusammen u. spiegelt damit in seiner Struktur die Ordnung der Natur; es ist nach M. nicht rational zu erfassen, sondern sinnlich-anschaulich. In einigen Aufsätzen hat M. die Konsequenzen für die Kunstbetrachtung ausgeführt; in dem
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Schlüsseltext In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können? (auch: Die Signatur des Schönen) wendet er sich von einer Dechiffrierung des Kunstwerks ab; in dem Aufsatz Über die Allegorie kritisiert er das herkömml. Darstellungsu. Deutungsverfahren der Allegorie u. setzt dagegen eine Symboltheorie, die derjenigen Goethes ähnlich ist. Den Ertrag seiner in Italien entwickelten neuen Kunstbetrachtung hat M. in den Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788 (3 Bde., Bln. 1792/93) festgehalten; sie bilden schon vor Goethes Italienischer Reise einen Höhepunkt des beliebten Genres der dt. Italienreise. Mit seinem Verfahren einer strukturellen Analyse des Kunstwerks näherte M. sich auch der Altertumskunde u. Mythologie. In der Götterlehre (Bln. 1791), seiner bis heute in etl. Auflagen verbreiteten Darstellung der griech. Mythologie, bestimmt M. die Mythologie als eine »Sprache der Phantasie«, die weder allegorisch noch historisch, sondern autonom u. »symbolisch« aufzufassen sei. Eine sehr modern anmutende Beschreibung der »heiligen Gebräuche der Römer« legte M. 1791 mit seinem Buch ANTHUSA oder Roms Alterthümer. Ein Buch für die Menschheit vor (Bln. Krit. Ausg.: Sämtliche Werke. Bd. 4, Tl. 1. Hg. Yvonne Pauly. Tüb. 2005). Darin untersucht er die Religionsgebräuche der Römer in einem fast strukturalist. Sinne u. verzeichnet, wie jahreszeitl. Feste u. Rhythmen den Lebenszyklus organisieren. In den Jahren nach der Italienreise hat M. v. a. als Mitgl. der beiden Akademien Berlins in öffentl. Vorlesungen über Altertumskunde, Klassische Mythologie, Geschichte u. Literatur jenem »Spree-Athen« den Boden bereitet, welches das Bild u. intellektuelle Profil der Stadt bis heute prägt. Er versuchte seine Auffassung der Autonomieästhetik mit der Politik der preuß. Akademie der Künste zu verbinden, die mit der Förderung einheimischer Kunst auf eine Förderung der preuß. Industrie u. Gewerbe zielte. Seine Tätigkeit für die Institution ist in etlichen überlieferten Akten festgehalten, deren Edition in der begonnenen hist.-krit. Ausgabe vorgesehen ist. Daneben blieb M. seiner Vorliebe für England auch mit der Übersetzung bzw. Herausgabe
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einiger dt. Übersetzungen von engl. Romanen u. Reisebeschreibungen treu, die bis heute kaum bekannt sind. Auch die pragmat. Textsorten bedachte er weiter. 1793 veröffentlichte M. seinen Allgemeinen deutschen Briefsteller, ein Musterbuch für Briefe, wobei er aber die alte rhetorische Tradition der Regelpoetik ersetzte durch seine klass. Stillehre u. die hauptsächl. Orientierung an authent. Briefdokumenten (Bln. Krit. Ausg.: Sämtliche Werke. Bd. 9. Hg. Albert Meier u. C. Wingertszahn. Tüb. 2008). M.’ Renaissance begann in den 1960er Jahren, als er dem vermeintlich konservativen Weimarer Goethe als Genie »von unten« entgegengehalten wurde. Heute ist M., den man oft mit seinem unglückseligen Romangeschöpf Anton Reiser gleichgesetzt hat, zum neuen Klassiker geworden, der erhebl. Interesse auch in der internat. Forschung findet. Er gilt als Kronzeuge der als histor. Schlüsselepoche erkannten »Zeit um 1800«. Sein vielschichtiges Œuvre fällt zwischen Aufklärung, Klassik u. Romantik. Aufklärerischer Moralphilosophie u. pädagogischem Optimismus folgt die Mitarbeit an dem klass. Projekt einer ästhet. Erziehung des Menschen; gleichzeitig ist M., Erbe u. Opponent des Pietismus, Ahnherr romantischer Besinnung auf den der Reflexion nicht zugängl. Ursprung des Selbst. Die hist.-krit. Ausgabe von M.’ Werken erscheint seit 2005. Ausgaben: Werkausgaben: Sämtl. Werke. Krit. u. komm. Ausg. Hg. Anneliese Klingenberg, Albert Meier, Conrad Wiedemann u. Christof Wingertszahn. Tüb. 2005 ff. (bisher ersch.: Bd. 1: Anton Reiser; Bd. 4/1: Schr.en zur Mythologie u. Altertumskunde, Tl. 1: Anthusa oder Roms Alterthümer; Bd. 9: Briefsteller). – Teilausgaben: Schr.en zur Ästhetik u. Poetik. Krit. Ausg. Hg. Hans J. Schrimpf. Tüb. 1962. – Werke. Hg. Horst Günther. 3 Bde., Ffm. 1981. Neuaufl. 1993. – Die Schr.en in 30 Bdn. Hg. Petra u. Uwe Nettelbeck. Nördlingen 1986–88 (ersch. sind Bde. 1–10: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde; Bd. 13: Dt. Sprachlehre für die Damen; Bde. 15 u. 16: Anton Reiser). – Anton Reiser. Andreas Hartknopf: Eine Allegorie. Andreas Hartknopfs Predigerjahre. Karl Friedrich Klischnig: Anton Reiser. Fünfter u. letzter Tl. Hg. Kirsten Erwentraut u. Benedikt Erenz. Düsseld. 1996. 2 2006. – Werke in 2 Bdn. Hg. Heide Hollmer u. A. Meier. Ffm. 1997–99. – Gedichte. Hg. C. Win-
Moritz gertszahn. St. Ingbert 1999. – Die Signatur des Schönen u. andere Schr.en zur Begründung der Autonomieästhetik. Hg. Stefan Ripplinger. Hbg. 2000. – Einzelwerke: Versuch einer dt. Prosodie. Bln. 1786. Neudr. Darmst. 1973. – Neues ABC-Buch. Illustrationen v. Wolf Erlbruch. Mchn. 2003. – Die neue Cecilia. Bln. 1794. Neudr. Stgt. 1962. Literatur: Karl F. Klischnig: Erinnerungen aus den zehn letzten Lebensjahren meines Freundes Anton Reiser. Bln. 1794. – Max Dessoir: M. als Aesthetiker. Bln. 1889. – Hugo Eybisch: Anton Reiser. Untersuchungen zur Lebensgesch. v. M. u. zur Kritik seiner Autobiogr. Lpz. 1909. – Friedrich Müffelmann: K. P. M. u. die dt. Sprache. Ein Beitr. zur Gesch. der dt. Sprachwiss. im Zeitalter der Aufklärung. Greifsw. 1930. – Robert Minder: Die religiöse Entwicklung v. K. P. M. [...]. Bln. 1936. Neudr. u. d. T. Glaube, Skepsis u. Rationalismus. Ffm. 1974. – Bengt A. Sørensen: Symbol u. Symbolismus in den ästhet. Theorien des 18. Jh. u. der dt. Romantik. Kopenhagen 1963. – Thomas P. Saine: Die ästhet. Theodizee. K. P. M. u. die Philosophie des 18. Jh. Mchn. 1971. – Tzvetan Todorov: Théories du symbole. Paris 1977. – Mark Boulby: K. P. M. Toronto 1979. – Hans J. Schrimpf: M. Stgt. 1980. – Raimund Bezold: Popularphilosophie u. Erfahrungsseelenkunde im Werk v. K. P. M. Würzb. 1984. – Claudia Kestenholz: Die Sicht der Dinge. Metaphor. Visualität u. Subjektivitätsideal im Werk v. K. P. M. Mchn. 1987. – Lothar Müller: Die kranke Seele u. das Licht der Erkenntnis. K. P. M.’ ›Anton Reiser‹. Ffm. 1987. – Alo Allkemper: Ästhet. Lösungen. Mchn. 1990. – Sybille Kershner: K. P. M. u. die ›Erfahrungsseelenkunde‹. Lit. u. Psychologie im 18. Jh. Herne 1991 (textgleich mit Sybille Frickmann: Erfahrungsseelenkunde. K. P. M.’ Beitr. zur Entwicklung der empir. Psychologie im Kontext zeitgenöss. psycholog. u. literar. Texte. Diss. Berkeley 1989). – Martin Fontius u. Anneliese Klingenberg (Hg.): K. P. M. u. das 18. Jh. Bestandsaufnahmen – Korrekturen – Neuansätze. Tüb. 1995. – Alessandro Costazza: Schönheit u. Nützlichkeit. K. P. M. u. die Ästhetik des 18. Jh. Bern u. a. 1996. – Frank Schüre: Ästhet. Wegweiser durch eine ›Hölle von Elend‹. Der ›Anton Reiser‹ v. K. P. M. Mchn. 1997. – A. Costazza: Genie u. trag. Kunst. K. P. M. u. die Ästhetik des 18. Jh. Bern u. a. 1999. – Susanne Knoche: Der Publizist K. P. M. Eine intertextuelle Studie. Ffm. u. a. 1999. – Albert Meier: K. P. M. Stgt. 2000. – Ulrike Morgner: ›Das Wort aber ist Fleisch geworden‹. Allegorie u. Allegoriekritik im 18. Jh. am Beispiel v. K. P. M.’ ›Andreas Hartknopf. Eine Allegorie‹. Würzb. 2002. – Christof Wingertszahn: Anton Reiser u. die ›Michelein‹. Neue Funde zum Quietismus im 18.
Moriz von Craûn
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Jh. Hann. 2002. – Ute Tintemann u. ders. (Hg.): K. P. M. in Berlin 1789–93. Hann.-Laatzen 2005. – Iwan-Michelangelo D’Aprile: Die schöne Republik. Ästhet. Moderne in Berlin im ausgehenden 18. Jh. Tüb. 2006. – Alexander Kosˇ enina: K. P. M. Literar. Experimente auf dem Weg zum psycholog. Roman. Wolfenb. u. a. 2006. – U. Tintemann: Grammatikvermittlung u. Sprachreflexion. K. P. M.’ ›Italiänische Sprachlehre für die Deutschen‹. Hann.-Laatzen 2006. – C. Wingertszahn: Anton Reisers Welt. Eine Jugend in Niedersachsen 1756–76. Ausstellungskat. Hann.-Laatzen 2006. – Claudia Sedlarz: Rom sehen u. darüber reden. K. P. M.’ Italienreise 1786–88 u. die literar. Darstellung eines neuen Kunstdiskurses. Hann.-Laatzen 2010. – C. Wingertszahn (Hg.): ›Das Dort ist nun Hier geworden‹. K. P. M. heute. Hann.-Laatzen 2010. Christof Wingertszahn
Moriz von Craûn. – Mittelhochdeutsche Verserzählung eines unbekannten, vermutlich rheinfränkischen Verfassers, entstanden wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 13. Jh. Deutung u. literaturgeschichtl. Einordnung der novellenartigen Erzählung (1784 Verse), die nur im Ambraser Heldenbuch überliefert ist, erweisen sich – nicht zuletzt wegen Besonderheiten der Werkstruktur u. des Stoffs – als schwierig. Bemerkenswert ist bereits der umfangreiche, traktatartige Eingangsteil (262 Verse), der eine Geschichte des abendländ. Rittertums bietet. Diese Einleitung gilt als aufschlussreiches volkssprachl. Zeugnis mittelalterlichen Geschichtsdenkens. Die darin entwickelte kulturhistor. Perspektive ist als Deutungsrahmen für das sich anschließende Minneabenteuer zu verstehen. Herr Mauricius von Craûn bittet nach langem vorbildl. Minnedienst seine Minnedame, die verheiratete Gräfin von Beamunt, um den Liebeslohn. Auf ihre Lohnzusage hin lässt er ein landgängiges Schiff bauen u. fährt darin bis vor ihre Burg, wo er sich im Turnier bewährt. Nachdem er sein ungewöhnl. Gefährt an die Armen verschenkt hat, begibt er sich zum verabredeten Stelldichein. Die Dame lässt zunächst auf sich warten, was Mauricius zu einem kurzen Schlummer nutzt. Dies ist für die plötzlich erscheinende Gräfin ein Anlass, den versprochenen Minnelohn zu
verweigern. Mauricius aber gelangt dennoch ans Ziel, indem er kurzerhand ins gräfl. Schlafzimmer eindringt u. sich, während der Hausherr ohnmächtig zu Boden sinkt, ins Ehebett zur Dame legt. Das Schlussbild der Dichtung zeigt eine von Selbstvorwürfen gequälte Gräfin, die dem in hohen Ehren lebenden Mauricius schuldbewusst nachtrauert. Die Frage, warum sich die Dame nach der Begebenheit im Schlafzimmer der Schande bezichtigt, während Mauricius, der zuletzt gegen alle Etikette verstößt, in der Darstellung des Erzählers (vv. 1638 ff.) ebenso wie in der Sicht der Frau (vv. 1656 ff.) ohne Ehrverlust aus dem Minneabenteuer hervorgeht, ist für das Werkverständnis wesentlich. Die Dichtung soll offenbar an ihrer Schlusspointe gemessen werden. Dem Rezipienten stellt sich die Aufgabe, Motive u. Handlungen der Akteure, die Kommentare des Erzählers, die Epitheta, Vergleiche usw. vom Ende her erneut zu beleuchten u. ein abgewogenes Urteil zu fällen: So verfehlt es wäre, in Mauricius eine rein negative Figur zu sehen, so fragwürdig wäre es, alle seine Handlungen pauschal zu rechtfertigen. Der M. v. C. bietet somit einem minnekasuistisch interessierten mittelalterl. Publikum reichhaltigen Gesprächsstoff. Probleme bes. Art werfen Stoffgeschichte u. histor. Hintergrund des Werks auf. Morisses II. de Craon († 1196) u. die Gattin des Vizegrafen Richard von Beaumont sind Persönlichkeiten des nordfrz. Adels aus der zweiten Hälfte des 12. Jh. Dies spricht neben anderen Indizien dafür, dass der rheinfränk. Verfasser des M. v. C. von einer (heute verschollenen) altfrz. Vorlage ausging. Für das Verhältnis des mhd. Textes zu dieser Quelle u. damit für eine Beurteilung der Leistung des mhd. Dichters sind verschiedene Modelle denkbar. Unterstellt man, dass der Rheinfranke, obwohl er auch Eigenes hinzusetzte (vv. 641, 1156 ff.), ein unselbständiger Übersetzer war, so wäre die altfrz. Vorlage eine im nordfrz. Hochadel spielende Skandalgeschichte mit minnekasuist. Pointe gewesen. Zu erklären bliebe, warum die Positionen des Mauricius u. der Gräfin derart gegeneinander ausgespielt werden, denn die Fürstengeschlechter
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Morold
Ausgaben: M. v. C. Mhd. / Nhd. Nach dem Text Craon u. Beaumont waren als Parteigänger des engl. Königshauses in Freundschaft ver- v. Edward Schröder hg., übers. u. komm. v. Dorobunden. Es ist deshalb vermutet worden, dass thea Klein. Stgt. 1999. – M. v. C. Hg. Heimo Reidie altfrz. Vorlage ein beide Häuser diffa- nitzer. Tüb. 2000. Literatur: Karl Stackmann: Die mhd. Versnomierendes Spottgedicht gewesen sei u. dass velle M. v. C. Diss. Hbg. 1947. – Karl Heinz Borck: erst der mhd. Dichter versucht habe, die FiZur Deutung u. Vorgesch. des M. v. C. In: DVjs 35 gur des Mauricius zu Lasten der Dame zu (1961), S. 494–520. – Ruth Harvey: M. v. C. and the exkulpieren. Chivalric World. Oxford 1961. – Kurt Ruh: M. v. C. Für die Rekonstruktion der stoffgeschichtl. Eine höf. Thesenerzählung aus Frankreich. In: FS Zusammenhänge ist ein altfrz. Fablel des 13. Siegfried Beyschlag. Göpp. 1970, S. 77–90. – Jh. von Bedeutung, das (mit einigen Unter- Christa Ortmann: Die Bedeutung der Minne im M. schieden u. ohne Namen zu nennen) die v. C. In: PBB 108 (1986), S. 385–407. – Tomas Togleiche Geschichte erzählt. Da die Schlaf- masek: Die mhd. Verserzählung M. v. C. In: ZfdA 115 (1986), S. 254–284. – Hans-Joachim Ziegeler: zimmerszene im Fablel ohne Eklat endet, M. v. C. In: VL. – Hartmut Kokott: ›Mit grossem sodass alle Akteure ihr Ansehen bewahren, ist schaden an eere‹. Zur Minne-Lehre des M. v. C. In: es auch denkbar, dass die M. v. C.-Vorlage das ZfdPh 107 (1988), S. 362–385. – Dorothea Klein: M. höfisch versöhnl. Ende zeigte. Unter dieser v. C. oder die Destruktion der hohen Minne. Ebd. Voraussetzung kann die M. v. C.-Quelle eine 127 (1998), S. 271–294. – Heimo Reinitzer: M. v. C. im craones. Hausinteresse liegende Dichtung Komm. Stgt. 1999. – Susanne Plaumann: Theatrale gewesen sein, die von einem galanten Lie- Züge in der höf. Repräsentation. Die Inszenierung besabenteuer des Morisses berichtete, wel- des Turniers im M. v. C. In: ZfG, N. F. 13 (2003), ches das Haus Beaumont nicht beleidigte. Die S. 26–40. – Hubertus Fischer: Ritter, Schiff u. Dame. M. v. C.: Text u. Kontext. Heidelb. 2006. Leistung des mhd. Verfassers wäre dann als Tomas Tomasek beachtlich einzustufen, da er die Handlung mit kasuist. Schärfe gewürzt hätte. Sicherlich dürfte auch die Tatsache, dass Morisses II. de Morold, Max, eigentl.: M. von MillenCraon Minnelyrik verfasst hat, zur Entste- kovich, auch: M. von Millenkovich-Mohung der M. v. C.-Dichtung beigetragen ha- rold, * 2.3.1866 Wien, † 5.2.1945 Baden/ ben, da aus dem 13. Jh. mehrere frz. u. dt. Niederösterreich; Grabstätte: Wien, ZenErzählungen erhalten sind, die von (Liebes-) tralfriedhof. – Dramatiker, Musik- u. Abenteuern zeitgenössischer Dichter berich- Theaterkritiker, Biograf. ten (vgl. den Frauendienst Ulrichs von Liech- Der Nestor der deutschnationalen Literatur in tenstein, die Tannhäuser-, Moringer-Ballade u. Österreich, ein »Heerrufer der Nation« u. v. a. m.). Künder »wahren Volksempfindens«, wie M. Im M. v. C. lassen sich Nachwirkungen der nach dem März 1938 zufrieden bilanzieren Eneit Heinrichs von Veldeke (abgeschlossen konnte (Die Dichter und der Anschluß. In: Neues um 1185), aber kaum eindeutige Anspielun- Wiener Tagblatt, 10.4.1938, S. 35 f.), war der gen auf höf. Romane des 13. Jh. nachweisen. Sohn des Lyrikers Stephan von Millenkovich Daraus resultiert indes keine Notwendigkeit (Pseud. Stephan Milow) u. wuchs in einer zu einer Frühdatierung des M. v. C. ins 12. Atmosphäre glühender Bismarck- u. WagJh., denn weder Stoff noch Konzeption der nerverehrung auf. Nach der Matura am WieDichtung machen direkte Verweise auf ar- ner Theresianum u. dem Jurastudium wurde thurische Romane, an deren Geisteswelt der M. 1888 Beamter der polit. Verwaltung in M. v. C. gleichwohl teilhat, erforderlich. Nach Kärnten, später im Unterrichtsministerium. derzeitigem Forschungsstand sprechen meh- Seit 1915 Mitglied der Kunstkommission, rere Gründe (z.B. die Beschreibung des land- wurde er 1917 Direktor des Wiener Burggängigen Schiffs, die spezif. Ausgestaltung theaters, das er als »Volks- und Reichstheader Turnierszene, der Trouvère-Status des ter« auf den Boden eines »christlich-germaTitelhelden) für eine Datierung des M. v. C. nischen Schönheitsideals« führen wollte – ein ins zweite Viertel des 13. Jh. Konzept, das ihn bereits im Sommer 1918
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zum Rücktritt zwang. Verbittert wandte sich M. nun der Musik- u. Theaterkritik zu, v. a. aber der Propagierung seines »großdeutschen Bekenntnisses« als Redner bei völk. Veranstaltungen. Als Vorsitzender der deutschnationalen »Morold-Runde« versammelte er eine Reihe gleichgesinnter Literaten um sich. Bekannt wurde er durch seine Opernbücher, die er zus. mit dem Komponisten Josef Reiter verfasste u. die meist kulturhistor. Stoffe abhandelten (Klopstock in Zürich. Wien 1893. Der Bundschuh. Wien 1895. Der Tell. Wien 1917), u. durch zahlreiche biogr. Arbeiten, insbes. zu seinem großen Idol Richard Wagner (Wagners Kampf und Sieg. Dargestellt an seinen Beziehungen zu Wien. 2 Bde., Lpz. 1930. Cosima Wagner. Lpz. 1937). Einen Markstein sog. deutschnationaler Kulturarbeit bildete die Herausgabe der Anthologie Dichterbuch. Deutscher Glaube, deutsches Sehen und deutsches Fühlen in Österreich (Lpz. 1933), die erstmals das Lager der rechten Autoren der ersten Republik – von konservativ-gemäßigten bis bereits dezidiert nationalsozialistischen – konzentriert zusammenfasste. In seinen Erinnerungen Vom Abend zum Morgen. Aus dem alten Österreich ins neue Deutschland (Lpz. 1940) gab M. einen instruktiven Einblick in die Ideologie des »rechten Deutschtums« altösterr. Prägung. Weitere Werke: Das Kärntner Volkslied u. Thomas Koschat. Lpz. 1895. – Stephan Milow. Wien 1897. – Der Totentanz. Ein Tanz- u. Singsp. Wien 1903. 21938 (zus. mit Josef Reiter). – Josef Reiter. Eine Studie. Wien 1904. – Ferdinand v. Saar. Lpz. 1909. – Hugo Wolf. Lpz. 1912. – Anton Bruckner. Lpz. 1912. – Über Franz Liszt. Wien 1913. – Mozart. Lpz. 1931. – Dreigestirn. Wagner, Liszt, Bülow. Lpz. 1940. Johannes Sachslehner / Red.
Morre, Morré, Karl, * 8.11.1832 Klagenfurt, † 21.2.1897 Graz. – Dramenautor, Volksschriftsteller u. Politiker. Der älteste Sohn eines Kaufmanns schlug nach Absolvierung des Gymnasiums in Klagenfurt die Beamtenlaufbahn in der Steiermark ein, zunächst als Kanzleiassistent in Bruck/Mur (1857), dann als Finanzbeamter in Graz, zwischenzeitlich als Verwalter eines
Hammerwerks bei Turnau (1872). Aus Krankheitsgründen trat M. 1883 in den Ruhestand u. widmete sich verstärkt der Schriftstellerei u. der Politik. 1886 wurde er als Abgeordneter in den steir. Landtag gewählt, 1891–1893 war er nationalliberaler Abgeordneter im Reichstag u. nahm sich v. a. der sozialen Probleme der Landbevölkerung an. Mit der Schrift Die Arbeiter-Partei und der Bauernstand. Ein ernstes Wort in ernster Zeit (Graz 1891), in der er für die Altersversorgung der Landarbeiter, Dienstboten u. Kleinbauern eintrat, stellte er die Verbindung zwischen Politiker u. Schriftsteller her u. appellierte mit seinen Volksstücken an das soziale Gewissen. Er starb nach schwerer Krankheit, ohne seine Pläne verwirklicht zu sehen. Die schriftstellerische Laufbahn begann M. mit etwa 40 Jahren; er schrieb zunächst Singspiele, Schwänke, Possen, dann soziales Mitgefühl weckende Charakter- u. Sittenbilder u. Volksstücke. Als Lyriker u. Dialektautor vermittelte er zwischen Kärnten u. der Steiermark, als Dramatiker folgt er den Spuren Nestroys, Friedrich Kaisers u. Anzengrubers. M.s sozialpolit. Engagement schlägt sich im erfolgreichen Volksstück ’s Nullerl (Graz 1885) nieder, zu dem Rosegger die »Vorrede« schrieb, in der er die »ungesuchte Tendenz«, Wahrheit u. Wirkung der Gestalten hervorhebt; es wehe der Geist Raimunds durch das Stück, das das Problem der Altersversorgung eindringlich bis sentimental thematisiert. ’s Nullerl, bis heute gespielt, ist für viele zum Inbegriff der Gattung »Volksstück« geworden u. hat die Volksdramatik im österreichisch-süddt. Raum maßgeblich beeinflusst. Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils Graz): Die Familie Schneck. Volksstück. 1881. – Die Frau Rätin. Charakterbild. 1884. – Der Glückselige. Posse. 1886. – Gedichte u. humorist. Vorträge. Hg. Leo Harand. 1899. – Ein Regimentsarzt. Volksstück. 1910. Literatur: Karl Hubatschek: K. M. Bruck/Mur 1932. – Leo Klingenböck: Das Schaffen K. M.s [...]. Diss. Wien 1948. – Jürgen Hein (Hg.): Volksstück. Mchn. 1989, S. 188–191. Jürgen Hein / Red.
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Morsbach, Petra, * 1.6.1956 Zürich. – Romanautorin, Essayistin u. Dramaturgin.
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der Konrad-Adenauer-Stiftung, dies auch mit Blick auf ihren poetolog. Essay Warum Fräulein Laura freundlich war. Über die Wahrheit des Erzählens (Mchn./Zürich 2006), in dem sie anhand mehrerer prominenter Beispiele die unhintergehbare Erkenntnisfunktion von Literatur bzw. Sprache aufzeigt.
M. wuchs in der Nähe von München auf, wo sie zwischen 1975 u. 1981 Theaterwissenschaft, Slawische Philologie u. Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität stuWeitere Werke: Fernseh- u. Bühnenstücke: Aldierte. 1981/82 war sie Gaststudentin im Fach bumblätter. Ein kleines Fernsehspiel. ZDF 1992 Regie an der Theaterakademie Leningrad. (Erstausstrahlung 1993). – Das Bildnis des Dorian Nach München zurückgekehrt, schloss sie G. (Theaterstück nach Oscar Wilde). Pullach 1996 1983 ihre Promotion über Isaak Babel ab (Uraufführung Cottbus, 2006). – Roman: Der Cem(Isaak Babel auf der sowjetischen Bühne. Mchn. balospieler. Mchn./Zürich 2008. 1983) u. arbeitete dann zehn Jahre lang am Literatur: Julia Vorrath: P. M. In: KLG. – Theater, zunächst als Regieassistentin, später Berndt Herrmann: P. M. In: LGL. Eva Stollreiter als Dramaturgin in Freiburg im Breisgau, Ulm u. Bonn, zwischenzeitlich auch als freie Regisseurin in Eisenach, Leipzig u. Schwerin. Morshäuser, Bodo, * 28.2.1953 Berlin. – Seit 1993 ist M. als freie Schriftstellerin tätig. Verfasser von Gedichten, erzählender u. 1999 wurde sie Mitgl. der Schriftstellerverei- essayistischer Prosa. nigung P.E.N., 2004 Ordentliches Mitglied Seit Mitte der 1970er Jahre publizierte M. der Bayerischen Akademie der Schönen zunächst Artikel in Berliner Stadtmagazinen Künste. u. Gedichte in Anthologien. Zudem arbeitete In den unterschiedlichsten Milieus veror- er als Autor, Regisseur u. Moderator für den tet, nehmen sich M.s Romane mit psycholog. Rundfunk. Einen zentralen Stellenwert nehPräzision u. ohne jedes Pathos ihrer Charak- men techn. Medien, ihr kulturökonom. Betere u. deren Lebenswelten an. So zeichnet ihr trieb u. die mit ihnen verbundene Wahrnehopulenter Debütroman Plötzlich ist es Abend mungsproblematik auch in M.s literar. Wer(Ffm. 1995) anhand der Lebensgeschichte der ken ein. Sein bis heute viel beachtetes ProsaLeningrader Arbeiterin u. Popentochter debüt Die Berliner Simulation (Ffm. 1983) trägt Ljusja Semjonowna Gwozdikowa ebenso bereits im Titel ein Stichwort, welches v. a. nüchtern wie eindringlich die verstörenden durch den Philosophen u. Soziologen Jean Verhältnisse in der Sowjetunion nach. Ihre Baudrillard zu hoher Signalwirkung gelangGröße beziehen M.s Figuren hier wie an- te, da mit ihm die Opposition von »real« u. dernorts nicht zuletzt aus dem empfundenen »imaginär« bzw. »fiktiv« programmatisch Fehlschlagen ihres eigenen Daseins, das im infrage gestellt wurde. Der erste Teil, Input, Erzählen als Divergenz zwischen den jewei- erweist sich als Liebes- u. Sehnsuchtsgeligen Glücks- bzw. Sinnerwartungen u. dem schichte, im zweiten Teil, Output, rückt zutatsächl. Verlauf des Lebens vermittelt wird. nehmend die Stadt ins Zentrum eines ErOb im Fall der Regieasstentin Babs u. des zählens, das diese nicht als Kulisse behandelt, Korrepetitors Jan (Opernroman. Ffm. 1998), sondern als Gegenstand urbaner Erfahrung. der kurz vor der Pension stehenden Köchin M.s Text trägt dabei einer zunehmend überNele Hassel (Geschichte mit Pferden. Ffm. 2001) codierten u. medialisierten Stadt Rechnung, oder des Dorfpriesters Isidor Rattenhuber die in eigenen Produktionsstätten nach vor(Gottesdiener. Ffm. 2004) – M.s Prosa doku- gegebenen Modellen die Bilder ihrer selbst mentiert immer auch die Profanität dieses generiert. Gerade die narrative Darstellung Scheiterns u. weist es so als ein wesentl. der Stadt – in der Berliner Simulation realisiert Merkmal u. damit eine zentrale Herausfor- durch eine Montage aus literar. Anspielunderung der menschl. Existenz aus. gen, Pop-Songs, Filmgeschichten, Auszügen Neben verschiedenen anderen Preisen u. aus Fernsehprogrammen, Zeitungsberichten Stipendien erhielt M. 2007 den Literaturpreis u. Briefen – ist paradigmatisch für die Prosa
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M.s, die sich in weiten Teilen als fortlaufen- nen Armen das Kind (Ffm. 2002) formuliert ebenfalls als Roman einen zeitgeschichtlich der Berlin-Text lesen lässt. Dies gilt ebenso für die zweite größere Er- motivierten Konflikt aus der Berliner Alterzählung, Blende (Ffm. 1985), die ein in der nativszene der 1970er Jahre zwischen einem nächsten Zukunft angesiedeltes Stadtszena- kurzzeitig erfolgreichen Filmstar u. seiner rio entwirft, in dem die Meinungs- u. Stra- Ex-Frau, die sich mit dem gemeinsamen Kind ßenschlachten direkt vom Fernsehen über- auf eine sektenähnl. Landkommune zurücktragen werden. Erzählt wird die Geschichte gezogen hat. Der Roman Beute machen (Ffm. um einen Koffer voll Haschisch eines ehe- 2006) schließlich wendet sich einmal mehr maligen Radio-DJs, wobei der Sprachduktus der Unterhaltungsindustrie zu, in diesem inklusive des dominierenden Präsens eine Fall der Daily-Soap-Produktion, in deren vermeintlich spontan formulierte Live-Re- Umfeld eine kurze Liebes- u. lange Trenportage nachahmt. Erneut korrespondiert nungsgeschichte situiert ist. Bisher wird M.s M.s Prosa mit zeitgenöss. Medientheorien, in Prosa v. a. im Kontext medientechnischer u. diesem Fall mit W. J. Ongs Befund einer -ökonom. Einflüsse auf Wahrnehmung u. »sekundären Oralität«. Und auch in Nervöse Verhalten zeitgenössischer Subjekte rezipiert Leser (Ffm. 1987), M.s formal hermetischster sowie als aktuelle Variante von GroßstadtliErzählung, übernehmen Telefon, Diktierge- teratur, welche die Innenseiten der Stadt rät u. Audiokassetten entscheidende Rollen, auslotet. werden heimlich Tagebuchaufzeichnungen Weitere Werke: Alle Tage. Bln. 1979 (L.). – kopiert, Telefongespräche u. zufällige Äuße- Revolver. Ffm. 1988 (E.en). – Der weiße Wannsee. rungen gespeichert: Die Überwachung Ein Rausch. Ffm. 1993 (E.). – Gezielte Blicke. Bln. scheint allgegenwärtig. Die Figuren fungie- 1995 (E.). – Liebeserklärung an eine häßl. Stadt. ren dabei als Schnittstellen zwischen ver- Berliner Gefühle. Mit fünf Fotos v. Unda Hörner. schiedenen Datenströmen, was von Teilen der Ffm. 1998 (Feuilletons). Literatur: Michael Braun: M. In: KLG. – ThoKritik als Vernachlässigung personaler Inmas Kraft: M. In: LGL. – Steffen Richter: Trauernenwelten moniert wurde. arbeit der Moderne. Autorenpoetiken in der GeDie beiden Essaybände Hauptsache Deutsch genwartslit. Wiesb. 2003. Thomas Wegmann (Ffm. 1992) u. Warten auf den Führer (Ffm. 1993) enthalten kontrovers diskutierte Beiträge zur Soziologie von Jugendgewalt u. Morsheim, Johann von ! Johann von Rechtsextremismus, verknüpft mit der Morsheim Schilderung eigener Erfahrungen u. Beobachtungen. Dem linskintellektuellen ZeitMorsius, Joachim, auch: Anastasius Phigeist wird dabei vorgeworfen, Werte wie Nalaretus Cosmopolita, * 3.1.1593 Hamtionalismus vernachlässigt u. leichtfertig der burg, † wohl Ende 1643 Schleswig. – rechtsextremen Szene überlassen zu haben; Philologisch u. religionspolitisch tätiger gleichzeitig stößt man auf das Plädoyer, Publizist; Humanist u. Theosoph. Neonazis nicht länger auszugrenzen, sondern in gesellschaftliche Kommunikationszusam- M. gehörte zur begüterten Goldschmiedfamenhänge zu reintegrieren, was M. den Vor- milie Mors/Moers/Mohres in Hamburg. Nach wurf unterkomplexer »Sozialkundelehrer- Studien in Rostock (1610), Leipzig u. Jena, die weisheiten« (M. Brumlik) einbrachte. der Theologie, aber auch philolog. u. mediMit Tod in New York City (Ffm. 1995), seinem zinisch-naturkundl. Wissensgebieten galten, ersten explizit als Roman deklarierten Text, folgten Reisen nach Stettin (1616), Hamburg verlässt M. eine medientheoretisch u. pop- u. Leiden, dann nach Dänemark (Treffen mit kulturell inspirierte Poetik u. erzählt die Be- Conradus Aslacus, Kopenhagen 1617), Pomgegnung eines Berliner Hate-Crime-Spezia- mern u. England (Freundschaft mit Jakob listen mit einer geheimnisvollen Inderin als Fetzer; Treffen mit Cornelis Drebbel, John realist. Aufeinandertreffen konträrer Identi- Owen, Matthias Leius, Ben Jonson, London tätskonstruktionen mit tödl. Ausgang. In sei- 1619; Robert Fludd). Weitere Stationen sei-
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nes von erhebl. Unstete geprägten Lebens bildeten nach 1620 wieder Hamburg, Lübeck (1624) u. andere norddt. Orte; dann hielt sich M. in Stockholm auf (Treffen mit Johannes Bureus, 1624), in Amsterdam (1625), Kopenhagen (1627) u. Leiden (1628), allerorten in stetem Gespräch mit hervorragenden Angehörigen der Bildungselite seiner Zeit. Seine Wege führten ihn schließlich in den dt. Südwesten zu Johann Valentin Andreae in Calw (1629) u. in Straßburg zum Dichterarzt Johann Nikolaus Furich (1630) u. Matthias Bernegger, dann zurück in den Norden (Lübeck 1633, Kopenhagen 1634). Im Zuge seiner gerichtl. Erbschaftskonflikte nahm man M. in Hamburg wegen angebl. Geisteskrankheit in Gewahrsam (1636–1640); schließlich lebte M. wieder in Holstein u. – wohl angezogen vom Alchemikerkreis am Gottorfer Hof Herzog Friedrichs III. – in Schleswig. M. schloss mit führenden Humanisten (Hugo Grotius, Janus Gruterus, Melchior Goldast) persönl. Bekanntschaft u. führte eine umfängliche, heute freilich nur bruchstückhaft bekannte Korrespondenz. Sein hohes Ansehen in der zeitgenöss. Respublica litteraria dokumentiert eine Vielzahl von Preisgedichten auf M. (teilweise gedr. bei Moller 1744), u. a. verfasst von Henrich Hudemann, Andreas Tscherning, Johann Arndt (»testimonium amoris«), August Buchner, Michael Maier, Gruterus, Caspar Barläus, Daniel Heinsius u. Owen. Kultur- u. literargeschichtlich markante Züge verdankt M. seiner »theoalchemischen Wende«: Unter Impulsen der rosenkreuzerischen Reformbewegung, dokumentiert in M.’ autobiografisch getönter Epistola sapientissimae FRC remissa (o. O. u. J. [ca. 1618]), wandelte sich der christlich-reformator. Humanist seit dem zweiten Jahrzehnt des 17. Jh. in einen theosoph. »Enthusiasten«, stieß nun zum protestant. Dissidentenlager u. öffnete sich zunehmend der alchemoparacelsist. Naturkunde. M. näherte sich Arndt (1620) u. Melchior Breler (1621), schloss mit namhaften Anhängern Böhmes Bekanntschaft (Johannes Staricius, Balthasar Walther, Johann Angelius Werdenhagen) u. wechselte mit ihnen Briefe (Abraham von Franckenberg, 1636), traf
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Zentralgestalten des frühneuzeitl. Paracelsismus (Karl Widemann, Augsburg), Hermetiker bzw. Alchemiker (Henricus Nollius, Maier, Johann Grasse, Adrian von Mynsicht, Wendelin Sybelist, Thomas von Rappolt), Theoalchemiker (Johann Rist, 1636) u. scharfe Kirchenkritiker (Christoph Andreas Rasel). 1624 u. 1632/33 führten seine vermeintlich »fanatischen Irrtümer« u. »schwärmerischen Händel« zu offenen Konflikten mit Rat u. Geistlichkeit in Lübeck. M. verfasste nach schulhumanist. Manier seit 1610 gedruckte Casualdichtungen; vorab aber nahm er sich der Herausgabe ausgewählter Schriften eines Joseph u. Julius Caesar Scaliger, Peter u. Wilhelm Lauremberg, Paulus Merula, Grotius, Isaac Casaubon, Johann Heinrich Alstedt, Johann Brenz, Carolus Clusius, Janus Dousa, Duncan Liddel u. anderer Autoren an u. besorgte den Druck eines gegen die span. Politik in den Niederlanden gerichteten Speculum consiliorum Hispanicorum (Leiden 1617). Spuren hinterließ M.’ »theoalchemische Wende« vornehmlich in Textausgaben (Henricus Nollius: Via sapientiae triuna. o. O. [1620]. Cornelis Drebbel: Tractatus duo. Hbg. 1621. Alexander v. Suchten: De vera medicina. Hbg. 1621. [Pseudo-]Paracelsus: Magische Propheceyung [...] Von Entdeckung seiner 3. Schätzen. Philadelphia [Amsterd.?] 1625), aber auch in der Überlieferungsgeschichte frühneuzeitl. Hermetica: M. unterstützte Widemann bei Verkäufen sowohl der literar. Hinterlassenschaft des paracelsist. Theosophen Adam Haslmayr (Nuncius Olympicus Von etzlichen geheimen Bücheren vnd Schrifften/ so ein fürnehmer [...] Theosophus vnd Medicus [...] zusammen gebracht. Philadelphia [Amsterd.?] 1626) als auch paracelsischer u. alchemoparacelsist. Schriften u. stand bei dieser Gelegenheit mit Landgraf Moritz von Hessen-Kassel (1627) u. Herzog August d.J. von Braunschweig-Lüneburg in Verbindung. Ferner beteiligte sich M. an reformerischen Sozietätsprojekten, machte sich z.B. 1629 zum Herold einschlägiger Pläne Andreaes u. regte Furichius zur Überarbeitung seiner mythoalchem. Lehrdichtung an (Chryseis. Straßb. 1631). M. figuriert in Erzählwerken von Franz Spunda (Das mystische Leben Jakob Böhmes,
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1961) u. Walter Umminger (Das Winterkönigreich, 1994). Man erblickt in ihm eine führende Gestalt des nordwestdt. Späthumanismus u. protestant. Dissidententums, doch stehen eine Bibliographie raisonnée u. eindringendere Studien zu seinen literar. Leistungen aus. Weitere Werke: Album Morsianum/Album Academicum et Apodemicum. Bde. 1–4. In: Lübeck, Stadtbibl., Ms. Hist. 48 25 (Stammbuch; 1610 begonnen; mit Notizen M.’ zu Einträgen, Briefen, Gedichten v. über 700 Personen). – Briefe an Henrich Hudemann. In: Johannes Caselius: Carmina Gnomica. Hg. H. Hudemann. Hbg. 1624, S. 50–52. – H. Hudemann: Divitiae Poeticae. Hbg. 1625, S. 150–152. – Brief an Moritz v. Hessen-Kassel. Nürnb., 27.11.1629. In: Kassel, LB, 28 Ms. chem. 19, V. – Brief an dens. Augsburg, 27.12.1629. In: Marburg/L., Hauptstaatsarchiv, 4a 39N. – Copia Einer [...] Ablehnung vnd Protestation [...] in justissimâ causâ Morsiana. Philadelphia 1634. – Von der Freyheit des Gewissens vnd des Glaubens. o. O. 1636. – Brief an J. Jungius, Schleswig, 26. Aug. 1643. In: Hamburg, SUB, Supellex epistolica 98, Nr. 14, Bl. 19r-22v. – Brief an Johann Oldeweldt, o. O., 28.8. o. J. In: Wolfenbüttel, HAB, Ms. 13. Gud. Lat. 28. – Über J. Böhme. In: Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 64.24 Extrav., Bl. 178r-181v. – Einträge. In: Wolfenbüttel, HAB, Ms. 51.1. Aug. 48; Ms. Blank. 231 (Album amicorum Jakob Fetzer), Bl. 96v-97r, 308v-309r. – Vgl. Schneider 1929 (s. u.), S. 73–78. Ausgaben: Nuncius Olympicus, 1626. In: Gilly 1994 (s. u.), S. 239–290 (reprograf. Wiedergabe). – Brief an Jungius, 26.8./5.9.1643. In: Guhrauer 1850 (s. u.), S. 232–235. – Avé-Lallemant 1863 (s. u.), S. 342–347. – Schneider 1929 (s. u.), S. 57–62. – Schick 1942 (s. u.), S. 146–149. – Peuckert 1973 (s. u.), S. 209–211. – Der Briefw. des Joachim Jungius, bearb. u. hg. v. Martin Rothkegel. Gött. 2005, S. 484–488. Literatur: Johannes Moller: Cimbria literata. Bd. 1, Kopenhagen 1744, S. 440–446. – Gottschalk Eduard Guhrauer: Joachim Jungius u. sein Zeitalter. Stgt. 1850, S. 230–235. – Robert Christian Berthold Avé-Lallemant: Des Dr. Joachim Jungius aus Lübeck Briefw. mit seinen Schülern u. Freunden. Lübeck 1863, S. 340–348. – Ders.: Das Leben des Dr. med. Joachim Jungius aus Lübeck (1587–1657). Breslau 1882, S. 134–137. – R. Hoche: M. In: ADB. – Rudolf Kayser: J. M. (geb. 1593, gest. um 1644). In: Monatsh.e der Comenius-Gesellsch. 6 (1897), S. 307–319. – Heinrich Schneider: J. M. u. sein Kreis. Zur Geistesgesch. des 17. Jh. Lübeck
342 1929 (mit Verz. v. M. verfasster Schr.en u. Liste der über 700 Eintragsurheber im ›Album Morsianum‹). – Erich Trunz: Rez. zu Schneider 1929. In: Euph. 31 (1930), S. 631–634. – Ders.: Henrich Hudemann u. Martin Ruarus, zwei holstein. Dichter der OpitzZeit. In: Ztschr. der Gesellsch. für Schleswig-Holsteinische Gesch. 63 (1935), S. 162–213. – Hans Schick: Das ältere Rosenkreuzertum. Ein Beitr. zur Entstehungsgesch. der Freimaurerei. Bln. 1942, S. 144–149, 189–193. – Sten Lindroth: Paracelsismen i Sverige till 1600-talets mitt. Uppsala 1943, S. 171–179 u. ö. – Will-Erich Peuckert: Das Rosenkreutz. Mit einer Einl. hg. v. Rolf Christian Zimmermann. 2., neu gefaßte Aufl. Bln. 1973 [Jena 1 1928], s. v. – E. Opitz: M. In: BLSHL. – A. Lumpe: M. In: Bautz. – Carlos Gilly: Adam Haslmayr. Der erste Verkünder der Manifeste der Rosenkreuzer. Amsterd. 1994, s. v. Joachim Telle
Morweiser, Fanny, * 11.3.1940 Ludwigshafen. – Erzählerin. Zwischen Rhein u. Neckar zu Hause u. mit dem (Familien-)Leben in Kleinstädten bestens vertraut, studierte M. bildende Kunst, bevor sie Diogenes-Autorin wurde. Schon der Titel ihres Erstlings Lalu lalula arme kleine Ophelia (Zürich 1971) verrät eine gewisse Exzentrik, eine Sympathie für Randerscheinungen u. einen eigenwilligen Umgang mit der Tradition. In diesem gemütlich-schauderhaft verschachtelten Liebesu. Mordroman geht es um Erinnerung u. Identität, Eigensinn u. Wahnsinn, Freiheit u. Geborgenheit. La vie ein rose (Zürich 1973) wird durchgängig von einer halb-schielenden Perspektive her erzählt, die das im Titel angetippte Glück durch die Schilderung von einem lange geplanten Mord oder dem tödl. Zusammensturz eines ehebrecherischen Liebesnests ironisiert. Das Buch ist auf der Grenze zwischen dem Gewöhnlichen u. dem Unheimlichen, dem Normalen u. dem Verrückten angesiedelt. Indianer-Leo (Zürich 1977) enthält 14 »Geschichten aus dem wilden West-Deutschland«, darunter die 1981 verfilmte Erzählung über die fatale Neigung einer altjüngferl. Frau zu einem Mädchen, das als »Frettchen« bezeichnet wird, u. die 2004 als Hörbuch erschienene Fabel, in der die befreiende Fantasie (oder der Tod) für bedrückte Kinder ein »Haus mit hundert
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Türen« hinstellt. Das Titel gebende Gebäude angehender Rechtsanwalt, verliebt sich in ein in Ein Sommer in Davids Haus (Zürich 1978) ist Haus u. seine schräge Gemeinschaft, sammelt realistischerer Art u. wird von einer Kunst- Lebensgeschichten u. tätowierte Schmetterstudentin bewohnt, die mit einigen Elemen- linge u. verlässt, nachdem der Schutzgeist des ten aus M.s Biografie ausgestattet ist u. der Hauses zum Gespenst geworden ist, als Falter einiges widerfährt, was erhebliches sozialkrit. seine gutbürgerl. Umgebung. Mit der DeidesPotenzial birgt. Sowohl hier als auch in der heimer Elegie (Landau 2004) schließlich, die M. Titelgeschichte der »Kleinstadttrilogie« Die als Deidesheimer Turmschreiberin 2003 Kürbisdame (Zürich 1980) ist der Einfluss von schrieb, legt sie eine Art Poetik vor. Eine geFriedrich Dürrenmatts Mordgeschichten zu naue Untersuchung der Beschaffenheit der – spüren. Der groteske zweite Teil der Trilogie, mitunter feministischen, mitunter postmoin dem zur Faschingszeit Arme aus einem dern anmutenden – Texte M.s steht noch aus. Altenheim ausbrechen, wurde 1986 als Das Weiteres Werk: Spaziergänge um Mosbach. Königsstechen verfilmt. Im dritten Teil geht es Bildband. Farbfotos v. Dietmar Riemann. Text v. F. um politische u. familiäre Rache sowie um M. Heidelb. 1996. das Lebendigbegrabensein. In O Rosa (Zürich Literatur: M. Lauffs: F. M. In: KLG. 1983) wird Familie gegen HausgemeinschafRobert Gillett ten u. Aussteigervereinigungen ausgespielt u. Absonderliches explizit als Toleranzindiz Moscherosch, Johann Michael, auch: eingeführt. Ein Winter ohne Schnee (Zürich Philander von Sittewalt, Der Träumende 1985) spielt jenseits jenes Flusses, der die (Fruchtbringende Gesellschaft), * 7.3. kindl. Fantasie von der erwachsenen Wirk1601 Willstätt, † 4.4.1669 Worms. – Satilichkeit trennt, u. gestaltet sich dementspreriker, Epigrammatiker. chend als Abenteuerroman um eine begrabene Reliquie. Der Titel des Bandes Voodoo-Emmi M. entstammt einem Geschlecht von Hand(Zürich 1987) ist Programm, handelt es sich werkern, das urspr. in Hagenau u. im nördl. doch in diesen elf Kurzgeschichten um Magie Elsass zu Hause war. Daran ist gegenüber u. Geschlechterverhältnisse. Dass die Titel- allen Legenden, die von einer adligen span. heldin von Das Medium (Zürich 1991) den Abkunft (siehe z.B. Grass’ Treffen in Telgte, emanzipatorischen Vornamen Nora trägt, 1979) sprechen, festzuhalten. Der älteste deutet in eine ähnl. Richtung. Letztlich dreht Sohn des Landwirts u. gräflich-hanauischen sich dieser wiederum verschachtelte, leicht Kirchenschaffners Michael Moscherosch u. humoristische u. streng satir. Roman um seiner Frau Veronika (geb. Beck) besuchte mit Ausbeutung u. Konkurrenz. In Nordengland elf Jahren das Gymnasium in Straßburg, wo trifft die Heldin auf eine Hexe, die ihr hilft, er jene philosophisch-rhetorische Schulung sich von ihrem eigensüchtigen Mann zu be- erfuhr, die den Ruf der von Johannes Sturm freien; in der dt. Provinz stehen sich zwei gegründeten Institution ausmachte. Das Warenhäuser gegenüber u. provozieren einen Studium in der Straßburger HumanistenfaMord. Zudem wird eine Dialektik inszeniert kultät, von 1621 bis zur Magisterprüfung zwischen Wirklichkeit u. Fantasie, Mechani- (1624), war durch die Professoren der Poesie schem u. Magischem, Zurschaustellung u. Caspar Brülow u. Johann Paul Crusius geGeheimhaltung. Auch die 10 kurzen Erzäh- prägt. Geistige Impulse erfuhr M. aber stärlungen von Der Taxitänzer (Zürich 1996) han- ker durch die moderne, am Politikverständdeln von Freiheit bzw. Befreiung. In Schwarze nis des Justus Lipsius ausgerichtete GeTulpe (Zürich 1999) liefert M. das, was ihr von schichtsauffassung u. Staatstheorie Matthias jeher unterstellt wurde: ein »gothic novel«. Berneggers u. durch die Predigten u. SchrifNur wird die Form ausgehöhlt u. gerät ten des Kirchenpräses Johannes Schmid, der stattdessen zu einem Roman über »Goths«, in diesen Jahren eine Kirchenreform im Sinne über schwarz gekleidete Halbstarke, u. die frühpietistischer Religiosität einleitete. Die anschließende zweijährige StudienreiZwänge, denen sie ausgesetzt sind. Der Titelheld von Un joli garçon (Zürich 2003), ein se führte ihn nach Genf, Lyon, Bourges, Or-
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léans, Angers u. Paris, wo ihn das literar. Leben ebenso anzog wie die Maßnahmen Ludwigs XIII. zur Grundlegung absolutistischer Zentralgewalt. Im Sommer 1626 nahm M. das Jurastudium in Straßburg auf, das er, wohl durch die Folgen von Kriegsereignissen bedingt, nicht abschließen konnte. Das Amt des Hofmeisters der beiden Söhne von Johann Philipp II. von Leiningen-Dagsburg auf der Hartenburg bei Dürkheim, das M. am 1.8.1626 antrat, brachte ihn zum ersten Mal mit den eng verschwägerten Adelsfamilien im elsässisch-lothring. Grenzraum in Berührung, an deren Höfen er den längsten Teil seines Lebens verbrachte, immer nach der freieren Luft der Stadtrepublik Straßburg u. dem Bürgersinn ihrer Einwohner verlangend. In diese Zeit fallen die ersten literar. Arbeiten, polit. u. satir. Epigramme sowie moralisch-philosoph. Meditationen unter dem Leitwert der »Patientia«. Die Heirat mit einer Juwelierstochter aus Frankenthal, Esther Ackermann, 1628, u. die ungnädige Entlassung vom Hofmeisteramt als Folge eines Affektausbruchs zwangen ihn, sich nach einer materiell gesicherten Position umzusehen. 1630 trat er das Amt eines Hof- u. Rentmeisters bei Graf Peter Ernst von Kriechingen (Créhange) an. In die unruhige fünfjährige Tätigkeit dort fallen die Geburt zweier Söhne, der Tod seiner ersten Frau u. eines der beiden Söhne, dann die Heirat mit der 18jährigen Barbara Paniel – der »Phillis« seiner Gedichte –, auch die wiederholte Flucht nach Metz u. anderen Orten. Zuletzt, bei der Rückkehr nach Straßburg im Winter 1635, starb ihm die zweite Gemahlin an der Pest. Nach kurzem Aufenthalt in Straßburg trat M. Anfang Mai 1636 als Amtmann in Finstingen (Fénétrange) in den Dienst des 16jährigen Herzogs Ernst Bogislav von CroyArschot. Kriegsereignisse, Plünderungen, Hungersnöte u. Epidemien, von denen seine Familie heimgesucht wurde, hielt M. in seinen Epigrammen u. Gesichten fest. Aufgehellt wurden die düsteren Jahre bis 1642 durch die dritte Eheschließung, 1636, u. die literar. Pläne, die er inmitten aller Widrigkeiten, von dem Straßburger Buchhändler Mülbe u. dem dortigen Gymnasiallehrer u. Poeta laureatus
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Samuel Gloner unterstützt, vorwärts zu treiben verstand. In der ruhigeren Phase gegen Ende seiner Amtszeit, als frz. Truppen 1639/ 40 Finstingen besetzt hielten, entstanden weitere Epigramme u. die ersten Übersetzungen der Sueños des Francisco Gomez de Quevedo, die ihm in einer frz. Version (1633) des »Sieur de la Geneste« (ein bislang nicht zuverlässig aufgelöstes Pseud.) vorlagen. Sie führten zur Publikation der ersten sieben (von später insg. 14) Gesichte, die sich in Themen u. Figuren noch eng an das Vorbild hielten, sie jedoch dem dt., oft speziell dem städt. Straßburger Umfeld anverwandelten. Aus den Sueños übernahm M. typische Erzählstrukturen allegor. Visionsliteratur, sodass die einzelnen Gesichte übergreifende Modelle der peregrinatio eines naiven, dem Oberflächenreiz der Dinge anheimfallenden jungen Mannes, Philander, sind, der von einem weltkundigen, gesetzten Führer, Expertus Robertus, gewarnt u. zur ernüchternden Wahrheit geführt wird (»desengaño« bei Quevedo). Die späteren Gesichte lösten sich von diesem Grundmuster bis hin zum Soldaten-Leben, das, ohne die allegorisch-religiöse Weltdeutung völlig aufzugeben, Realitätsgehalt u. Atmosphäre eines Sittenbildes entwickelt. In den Kleinstrukturen des Erzählens hielt sich M. an die von den oberrheinischen Satirikern vorgegebene lockere Reihung von Standes- u. Lastertypen, übertraf sie jedoch im raschen Wechsel von Vers u. Prosa, Formen u. Genres, Stillagen u. Idiomen. Die satir. Aggression M.s richtete sich erbitterter auf die von der absolutist. Hofkultur bestimmten, z.T. vom Bürgertum übernommenen Repräsentationsformen in Kleidung, Konversation, Umgangsstil u. »politisch«pragmat. Gesinnung als auf Laster im Sinn religiöser Ethik. Er maß sie an luth.-bürgerl. Normen u. freier altständ. Bürgergesinnung. Ein gleichzeitig mit den frühen Gesichten entstandenes moraldidakt. Werk, die Insomnis Cura Parentum (Straßb. 1643), entwirft eine Ehe- u. Erziehungslehre u. steht im Zusammenhang luth. Katechismuspredigten u. Hausväterbücher. Beide Gattungen, die Satiren u. diese Schrift, bilden eine Einheit: Nach der Theorie der Zeit war es Aufgabe des Satirikers, in Lobpreis (laudatio) u. Tadel (vi-
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tuperatio) Leitbilder u. Zerrbilder eth. Haltungen vorzubilden. Die Zeit in Finstingen endete im Herbst 1641 mit einer Katastrophe. M. konnte einem Raubüberfall unter Lebensgefahr entgehen, verlor aber sein Vieh u. einen Teil seines Besitzes u. flüchtete im Winter 1641/42 nach Straßburg. Doch erst nach einer anderthalbjährigen Tätigkeit in der Festung Benfeld als Sekretär des schwed. Residenten konnte M. in Straßburg Fuß fassen. Der Magistrat berief ihn im März 1645 zum »Frevelvogt« (Fiskal) der Freien Reichsstadt u. übertrug ihm die Verantwortung für die »Policey-Ordnung« u. das »Policey-Gericht« – in einer Stadt, in die sich Hunderte von Adelsfamilien u. Tausende von Bauern geflüchtet hatten, ein schwieriges, undankbares Amt. M. verstand es, in engem Zusammenwirken mit den Kirchenbehörden u. einer Mehrheit des Magistrats, den Übermut von Studenten u. den Hochmut einzelner Herren von Stand zu zügeln. Dabei kam ihm das schon erworbene Prestige als Verfasser eth. Schriften u. seine Aufnahme in die Fruchtbringende Gesellschaft (auf Initiative Harsdörffers, 1645), vielleicht auch die Protektion durch Herzog August von BraunschweigWolfenbüttel, in dessen Straßburger Palais M. zeitweilig wohnte, zugute. Erst nach Kriegsende 1648 fand M. Muße zu histor. Arbeiten im Interesse – vielleicht im Auftrag – der reichstreuen u. über die frz. Expansion beunruhigten Mehrheit des Magistrats. Nach einem Manuskript in seinem Besitz gab er Wimpfelings Germania u. dessen Geschichte der Straßburger Bischöfe (Catalogus Episcoporum Argentinensium) neu heraus. Eine auf die Verfassung Straßburgs bezügl. histor. Schrift des Erasmus (Epistola: Imago Reipublicae Argentinensis) kam hinzu, als Argumentationshilfe für die laufenden diplomat. Verhandlungen des Magistrats beim Friedensschluss. Das Aufgreifen solcher Zeugnisse humanistisch-kulturpatriotischer Gesinnung wie auch einzelne Teile der Gesichte (z.B. A-la-Mode-Kehrauß) gaben der nationalist. Geschichtsschreibung des 19. u. 20. Jh. Anlass, M. in oft unzulässiger Weise als Grenzlandkämpfer für dt. Kultur zu stilisieren.
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Die letzten Jahre seiner Tätigkeit in Straßburg waren durch wachsende Opposition starker Teile der Stadtbevölkerung gegen die von Klerus u. Frevelvogt geforderte strengere Sittenzucht getrübt. Es bedurfte im Dez. 1655 nur eines Anlasses, um M. zu Fall zu bringen. Er geriet in den – unbewiesenen – Verdacht unerlaubter Beziehungen zu seiner Haushälterin u. musste Anfang 1656 Straßburg verlassen. Dennoch erreichte er im gleichen Jahr eine höhere, besser bezahlte Stellung. Graf Friedrich Casimir von HanauMünzenberg berief ihn als Rat, später als Präsidenten der Kanzlei in sein Regierungskollegium nach Hanau. Hier war M. für Justiz- u. Kirchenangelegenheiten zuständig. Er übernahm aber auch diplomat. Missionen, so bei der Wahl Leopolds I. zum Kaiser, wo M. an der Seite der Delegation des Mainzer Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn im Auftrag Friedrich Casimirs die Bestrebungen des Rheinbunds unterstützte, das Reich aus den habsburgisch-bourbon. Konflikten herauszuhalten. 1660 wurde er zum »Rat von Haus«, d.h. zum gelegentlich herangezogenen Berater des Mainzer Kurfürsten ernannt. Seine Aufgaben brachten häufige Reisen mit sich, sodass außer repräsentativen Gelegenheitsgedichten keine literar. Arbeiten gediehen. Das Regierungskollegium war angesichts einer unordentl. Haushaltsführung zerstritten; M. geriet in den Verdacht fragwürdiger Praktiken der Bereicherung. Die wachsenden Spannungen – oder, wie M. behauptete, seine Vorstellungen bei Friedrich Casimir wegen dessen Maitressenwirtschaft – führten im Herbst 1660 zu seinem plötzl. Sturz. Bemühungen, nach Straßburg zurückzukehren, blieben ergebnislos. Nach mühsamen Versuchen, in Frankfurt durch Übersetzungsarbeiten den Unterhalt für seine vielköpfige Familie zu sichern, fand M. wohl erst 1663 u. nur vorübergehend ein Unterkommen als Amtmann des Grafen Johann Anton Cratz von Scharffenstein im Hunsrück. Längere Aufenthalte in Frankfurt gaben ihm Gelegenheit, die Gesamtausgabe seiner Epigramme vorzubereiten (Centuria Prima [-Sexta] Epigrammatum. Ffm. 1665. Internet-Ed. in: CAMENA), durch die es möglich ist, indivi-
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duelle Züge seiner Person differenzierter zu In: EG 16 (1991), S. 79–94. – W. E. Schäfer: Moral erfassen. Die gedrängte pointierte Form des u. Satire. Tüb. 1992. – W. Harms: M. In: NDB. – Epigramms entsprach nach dem Selbstver- Kenneth Graham Knight: J. M. M. Stgt. 2000. – ständnis der an Tacitus geschulten »Politici« Dieter Martin: Barock um 1800. Ffm. 2000 (zum Nachleben). – Kühlmann/Schäfer (2001), hier mehr dem Stilideal der Umgangsformen absoluals zehn Beiträge zu M. – Claudia Bubenik: ›Ich tistischer Kabinettspolitik. bin, was man will‹. Werte u. Normen in J. M. M.s Die letzten beiden Jahre seines Lebens ›Gesichten Philanders von Sittewalt‹. Ffm. u. a. stand M. im Dienst des Grafen Johann Lud- 2001. – Jürgen Donien: ›Wie jener Weise sagt...‹. wig von Salm-Dhaun. Während der Abwe- Zitatfunktionen in J. M. M.s ›Gesichten Philanders senheit seines Dienstherrn auf Kriegszügen von Sittewalt‹. Ffm. 2003. – W. E. Schäfer: J. M. M. trug er in unruhiger Zeit (Wildfangkrieg, in der Diskussion. Ein Forschungsber. In: MorgenDevolutionskrieg) die Verantwortung für die Glantz 14 (2004), S. 355–374. Walter E. Schäfer Herrschaft. Keine andere Prosasatire des 17. Jh. war ebenso verbreitet u. wirkte so vielfältig nach Moscherosch, Quirin, auch: Germanus wie M.s Gesichte. Die Themen der A-la-mode- Reiner von Sittewald, getauft 14.12.1623 Kritik wurden von Grimmelshausen, Johan- Willstätt, † 19.4.1675 Straßburg. – Gelenes Grob, Logau u. anderen aufgenommen u. genheitsdichter, Erbauungsschriftsteller. variiert. Die Traumvision in der Art M.s gab den formalen Rahmen für satirische, »curiö- Der Bruder Johann Michael Moscheroschs se« oder gelehrte Stoffe bis weit ins 18. Jh. studierte seit dem 8.4.1645 in Straßburg (u. (z.B. bei Balthasar Kindermann, Christian Altdorf ?) Theologie. Schon 1648 erhielt er Weise, Johann Gottlob Krüger). Die Roman- seine erste Pfarrstelle in Offendorf u. heiratiker griffen altdt., in ihrem Charakter Sagen tete 1649 die Tochter eines Nürnberger verwandte Erzählungen M.s auf (u. a. Arnim: Schneidermeisters. 1655 wurde er zum PfarDer Wintergarten, Tieck: Phantasus). Der Ein- rer in Bodersweier ernannt. Er unterhielt fluss von M.s Satiren auf fremde Literaturen, lebhafte Beziehungen, reiste nach Nördlinz.B. auf den Slawonier Matija Antun Relj- gen (J. K. Gundelfinger) u. Nürnberg (Saukovicˇ, der als preuß. Gefangener im Sieben- bert, Dilherr, von Birken, Harsdörffer) u. jährigen Kriegs die Schriften M.s kennen- wurde 1673 als »Filander« (zur Erinnerung an seinen berühmteren Bruder Johann Milernte, ist noch unerforscht. chael M.) in den Pegnesischen Blumenorden Ausgaben: Visiones De Don Quevedo. Wunderl. aufgenommen. 1675 flüchtete er vor den u. Warhafftige Gesichte Philanders von Sittewalt. Straßb. 1642. Neudr. Hildesh./New York 1974. – Kriegswirren nach Straßburg. M. begann früh mit dt. u. lat. GelegenHg. Wolfgang Harms. Stgt. 1986 (Ausw.). – Unter Räubern (›Soldatenleben‹). Hg. Walter E. Schäfer. heitsgedichten, die von der Frömmigkeit des Karlsr. 1996. – Insomnis Cura Parentum v. Hans Straßburger Frühpietismus geprägt u. im Stil Michel M. Hg. Ludwig Pariser. Halle 1893. – Die der Nürnberger (anagrammat. u. FigurengePatientia v. Hans M. M. Hg. ders. Mchn. 1897. dichte, Varianz der Versmaße) gehalten waNeudr. Hildesh. 1976. ren. In Bodersweier entstanden zahlreiche Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt Tl. 4, repräsentative Gedichte zu Ehren des gräfl. S. 2849–2886. – Arthur Bechtold: Krit. Verz. der Hauses Hanau-Lichtenberg, seiner Beamten Schr.en J. M. M.s. Mchn. 1922. – Weitere Titel: J. M. u. Pfarrer, Festgedichte u. ein szen. Spiel für M. [...]. Eine Ausstellung [...]. Hg. Badische Lan- die Hofgesellschaft, die 1668 in einem desbibl. Karlsr. 1981. – Walter E. Schäfer: J. M. M. Prachtband zusammengefasst wurden. In Mchn. 1982. – Wilhelm Kühlmann u. ders.: Frühseinen letzten Lebensjahren beschäftigte sich barocke Stadtkultur am Oberrhein. Bln. 1983. – Klaus Haberkamm: M. In: Dt. Dichter des 17. Jh. M. mit Liedern zur Geistlichen Goldkammer des Hg. Harald Steinhagen u. Benno v. Wiese. Bln. Erasmus Francisci u. einer Bearbeitung der 1984, S. 303–324. – Wolfgang Harms: Hoc et nunc. Pia Desideria Hermann Hugos (1624), die, mit Satir. Funktionen lokalisierter Handlung in M.s einem Geleitgedicht Grimmelshausens, 1673 ›Philander‹ u. Grimmelshausens ›Simplicissimus‹. bei Felßecker in Nürnberg erschien.
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347 Weitere Werke: Erstes Drey Geistl. Buß- Freudu. Friedens Lieder. Straßb. o. J. [1650]. – KriegesSturm u. Sieges-Thurm. Straßb. 1657. – Hanauische Lob- Lied- Lust- Lehr- u. Leidgedichte. Straßb. 1668. – Poet. Blumen-Paradiß. Nürnb. 1673. Literatur: Ernst Batzer: Zur Lebensgesch. Q. M.s. In: Die Ortenau 4 (1913), S. 145–149. – HansRüdiger Fluck: Ein Hochzeitsgedicht Q. M.s an Sigmund v. Birken. Ebd. 53 (1973), S. 170–175. – Ders.: ›Ergezligkeit in der Kunst‹. In: Daphnis 4 (1975), S. 13–42. – Ders.: Q. M. – ein Nachbar Grimmelshausens. Ebd. 5 (1976), S. 549–566. – Walter E. Schäfer: Q. M. am Hof zu Rheinbischofsheim. Ebd. 15 (1986), S. 73–94. – Ders.: Q. M. Ein Poet der Grafschaft Hanau-Lichtenberg (1623–75). Kehl 2005. – H.-R. Fluck: Neue u. wiederaufgefundene Gedichte u. Schr.en v. Q. M. In: Die Ortenau 84 (2005), S. 313–344. – Ders. u. W. E. Schäfer: Unbekannte Gedichte Q. M.s. In: Die Ortenau 87 (2007), S. 398–438. – H. R. Fluck: Q. M. In: Bautz. – Jürgensen, S. 433–436. Walter E. Schäfer
Mosebach, Martin, * 31.7.1951 Frankfurt/ Main. – Prosa-Autor. M., Sohn einer kath. Mutter u. eines protestant. Vaters, schloss ein Studium der Rechtswissenschaft in Frankfurt/M. u. Bonn 1979 mit dem Zweiten Staatsexamen ab. Seitdem lebt er als freier Schriftsteller in seiner Heimatstadt. In einer Hommage auf den seiner Ansicht nach »größte[n] epische[n] Erzähler deutscher Sprache« im 20. Jh., bezeichnete M. es als das wesentl. Anliegen Heimito von Doderers, »Spuren des Geschichtlichen im Chaotisch-Vielgestaltigen der Gegenwart« sichtbar zu machen. »Der Roman«, so M. weiter, »beschäftigt sich weniger mit der Geschichte in ihrem chronologischen Ablauf als mit dem Stoff, aus dem die Geschichte sich bildet: den Menschen und ihrer Art zu sein, der Luft, die ein Zeitalter atmet, den Geräuschen und Echos, die es verursacht« (Stumme Musik der Geometrie – Zur Epik Heimito von Doderers. In: SuF 48, 1991, H. 6, S. 789–801). Alles dies auf Doderer Gemünzte kann man ohne Abstriche auch auf seinen Laudator selbst übertragen. Allerdings umfasst M.s Œuvre nicht nur Romane, sondern auch Essays, Libretti, Filmdrehbücher, Hörspiele, Theaterstücke u. Gedichte; der Schwerpunkt
seiner Arbeit liegt jedoch eindeutig auf dem Gebiet der erzählenden Prosa. Als Protagonisten wählt M. zumeist Menschen, die von Rezensenten gern als »Antihelden« tituliert werden. So handelt M.s Debütroman Das Bett (Hbg. 1983. Überarb. Neufassung Mchn. 2002) von der Rückkehr eines deutsch-jüd. Emigrantensohns in seine Heimatstadt Frankfurt, wo er sich bei seiner einstigen Kindsfrau vor den Zumutungen des Lebens verschanzt; in Die Türkin (Bln. 1999) beschließt ein junger Kunsthistoriker, nicht Karriere in New York zu machen, sondern lieber der bezaubernden Wäscherei-Angestellten Pupuseh in die Türkei nachzureisen; in Eine lange Nacht (Bln. 2000) fällt ein junger Mann erst durchs Jura-Examen, scheitert dann als Kunsthändler, um sich schließlich dem unspektakulären Import von billigen Textilwaren zu widmen; u. in Der Nebelfürst (Ffm. 2001) erliegt ein antriebsloser Journalist im wilhelmin. Deutschland den Einflüsterungen einer bejahrten Muse u. will mit skurrilen Projekten ein Eiland im Nordmeer zu einer Quelle kommerziellen Reichtums machen. Für seine stets mit milder Ironie gewürzten Romane u. Erzählungen, mit denen er an die Erzählkonventionen des 19. Jh. anknüpft, erhielt M. u. a. 1980 den Förderpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung, 1999 den Heimitovon-Doderer-Literaturpreis, 2002 den KleistPreis, 2005 den Kranichsteiner Literaturpreis u. 2006 den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. 2007 wurde die Entscheidung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, M. den Georg-Büchner-Preis zu verleihen, von vielen Kritikern mit Beifall aufgenommen, ihm »Modernität« u. »stilistische Eleganz« attestiert. Einige Feuilletonisten quittierten diese Auszeichnung allerdings auch mit heftiger Polemik. So warf die Literaturkritikerin Sigrid Löffler dem bekennenden Katholiken M. vor, die erste Fassung seiner Streitschrift Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind (Wien 2002. Erw. Neuaufl. Mchn. 2007), die sich gegen die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils richtet, in einem Verlag mit »anit-auflärerischem« Programm veröffentlicht zu haben. Sie charak-
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terisierte ihn, der sich selbst lieber als »Reaktionär« u. nicht als »Konservativen« bezeichnet sieht, überdies als einen »Bildungsposeur«, der »seinen Stil mit ornamentalen Sprach-Antiquitäten« garniere. M.s BüchnerPreisrede gab dann erneut Anlass zu einer Feuilletondebatte, weil er in ihr eine Rede des frz. Revolutionärs Saint-Just mit einer Rede parallelisierte, in der Heinrich Himmler im Okt. 1944 in Posen den Genozid an den europ. Juden gerechtfertigt hatte. Auffällig bleibt, dass die Kritik an M. in hohem Maße politisch motiviert war, seine literar. Werke aber politisch weitgehend untendenziös sind. Weitere Werke: Blaubart. Drama giocoso. Bad Homburg vor der Höhe 1985. – Ruppertshain. Hbg. 1985. – Rotkäppchen u. der Wolf. Ein Versdrama. Hbg. 1988. – Westend. Hbg. 1992. – Stilleben mit wildem Tier. Bln. 1995 (E.en). – Das Kissenbuch. G.e u. Zeichnungen. Ffm. 1995. – Das Grab der Pulcinellen. E.en, Pasticci, Phantasien. Bln. 1996. – Die schöne Gewohnheit zu leben. Eine ital. Reise. Bln. 1997. – Schermuly – Gegenstände u. Phantasien. Mchn. 2000. – Mein Frankfurt. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Rainer Weiss. Ffm. 2002. – Das Beben. Mchn./Wien 2005 (R.). – Du sollst dir ein Bild machen. Über alte u. neue Meister. Springe 2005 (Ess.s). – Die Kunst des Bogenschießens u. der Roman. Zu den ›Commentarii‹ des Heimito v. Doderer. Mchn. 2006. – Schöne Lit. Mchn. 2006 (Ess.s). – Der Mond u. das Mädchen. Mchn. 2007 (R.). – Stadt der wilden Hunde. Nachrichten aus dem alltägl. Indien. Mchn. 2008. Literatur: Franz Josef Czernin: Zu M. M.s Erzählung ›Stilleben mit wildem Tier‹. Laudatio anläßlich der Verleihung des Heimito v. Doderer-Literaturpreises. In: ›Schüsse ins Finstere‹. Zu Heimito v. Doderers Kurzprosa. Hg. Gerald Sommer u. Kai Luehrs-Kaiser. Würzb. 2001, S. 241–250. – Oliver G. Riedel: M. In: LGL. – Susanne Kaul, Friedmar Apel u. Oliver Ruf: M. In: KLG. – Jens Jessen: Der sanfte Reaktionär. In: Die Zeit, Nr. 44, 25.10.2007, S. 61 f. Gunther Nickel
Mosellanus, Petrus, eigentl.: Peter Schade, * um 1493/94 Bruttig/Mosel, † 19.4. 1524 Leipzig. – Humanist; Universitätslehrer u. Philologe. M., Sohn eines armen Winzers, wurde nach Schuljahren u. a. in Trier am 2.1.1512 an der Universität Köln immatrikuliert. Den großen Einfluss des Gräzisten Johannes Caesarius
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bezeugt M. durch die Widmung seiner 1517 gedruckten griech. Edition des aristophan. Plutos, durch die er zum Begründer des Aristophanes-Studiums in Deutschland wurde. Diese Edition wie auch die in rascher Folge publizierten Übersetzungen u. Kommentare zu griech. u. lat. Schriftstellern (Lukian, Dionysios Periegetes, Isokrates, Basilius, Gregor von Nazianz, Agapetus, Prudentius, Gellius, Quintilian) waren Ergebnisse einer erfolgreichen Lehrtätigkeit an der Universität Leipzig, wo er, nachdem er kurz an der Lateinschule in Freiberg/Sachsen unterrichtet hatte (1514; Schulleiter war Rhagius Aesticampianus), am 23.4.1515 immatrikuliert wurde. M. lehrte v. a. Griechisch, nach dem Weggang des Engländers Richard Crocus (Croke) 1517 als dessen Nachfolger mit Professorenrang. Aus seiner großen Schülerzahl ragen Georg Agricola, Joachim Camerarius, Christoph von Carlowitz, Caspar Cruciger, Johann Forster, Julius von Pflug u. Valentin Trotzendorf hervor. Neben der Magisterwürde (3.1.1520) erwarb M. auch das theolog. Baccalaureat (20.8.1520); als Themen theologischer Vorlesungen sind Augustin u. die Paulus-Briefe überliefert. Bei der Leipziger Disputation hielt M. die Eröffnungsrede mit dem Appell zu modestia u. moderatio (De ratione disputandi praesertim in re theologica. Lpz. 1519) u. gab in Briefen an Pflug u. Pirckheimer eine ausführliche, mit Luther sympathisierende Darstellung des Verlaufs. Der Reformation hat er sich indessen nicht ausdrücklich angeschlossen, sondern blieb Erasmus persönlich u. einer Reformtheologie erasmianischer Prägung treu. M.’ einflussreichstes Werk ist die erstmals 1518 in Leipzig erschienene Paedologia (791706. Neuausg. v. Hermann Michel. Bln. 1906), ein Schulbuch in der Form von Schülergesprächen mit dem Ziel, eine stilisierte lat. Umgangssprache mit Cicero u. Terenz als Vorbildern zu vermitteln. Eine philolog. Pionierleistung war die krit. Editio princeps des Claudianus Mamertus, De statu animae libri tres (Basel 1520) auf der Basis eines Kodex des Klosters Alt-Zelle. M.’ Tod betrauerten u. a. Melanchthon, Camerarius, Euricius Cordus, Micyllus (Epitaphien), Pflug (Ge-
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dächtnisrede) u. Herzog Georg von Sachsen (Brief an Erasmus). Literatur: Werkbibliografien: Klaiber, S. 198 ff. – Catalogus Translationum et Commentariorum. Medieval and Renaissance Latin Translations and Commentaries. Bd. 2 [1971], S. 146 f. (Greg. Naz.). Bd. 3 [1976], S. 55 f. (Dion. Perieg.). – Helmut Claus: Das Leipziger Druckschaffen der Jahre 1518–39. Gotha 1987. – Weitere Titel: Oswald G. Schmidt: P. M. Lpz. 1867. – Wilhelm Süß: Aristophanes u. die Nachwelt. Lpz. 1911, S. 23 f. – Georgius Agricola. Ausgew. Werke. Hg. Helmut Wilsdorf u. a. Bd. 2, Bln. 1955, S. 303 f. – Julius Pflug. Correspondance. Hg. J. V. Pollet. Bd. 1, Leiden 1969. – Gerhard Streckenbach: Stiltheorie u. Rhetorik der Römer im Spiegel der humanist. Schülergespräche. Gött. 1979. – Ulrich Michael Kremer: M.: Humanist zwischen Kirche u. Reformation. In: ARG 73 (1982), S. 20–34. – Lothar Rathmann (Hg.): Alma Mater Lipsiensis. Lpz. 1984, S. 51 ff. – Lucia Gualdo Rosa: La Fede nella ›Paideia‹. Aspetti della fortuna europea di Isocrate nei secoli XV e XVl. Rom 1984, S. 97 ff., 198 ff. – Michael Erbe: M. In: Contemporaries. – HKJL, Bd. 1, Sp. 414–429. – Conradin Bonorand: Vadians Humanistenkorrespondenz mit Schülern u. Freunden aus seiner Wiener Zeit (Personenkomm. IV). St. Gallen 1988, S. 132 ff. – Ulrich Michael Kremer: P. M. u. Julius Pflug. Ein Beitr. zur Gesch. des Einflusses v. Erasmus in Sachsen. In: Pflugiana. Hg. Elmar Neuss u. J. V. Pollet. Münster 1990, S. 4–22. – Heinrich Grimm: M. In: NDB. – Jaumann Hdb. – John L. Flood: M. In: VL Dt. Hum. Stefan Rhein / Red.
Mosen, Julius, * 8.7.1803 Marieney/Vogtland, † 10.10.1867 Oldenburg; Grabstätte: ebd., Gertrudenfriedhof. – Dramatiker, Lyriker, Erzähler, Herausgeber u. Dramaturg. M., Sohn eines Lehrers, besuchte das Gymnasium in Plauen u. belegte ab 1822 Philosophie u. Jurisprudenz an der Universität Jena; hier trat er der Burschenschaft bei. Zum 50. Regierungsjubiläum des Herzogs Karl August von Weimar (Rektor der Jenaer Universität) verfasste M. 1825 ein Feiergedicht, das ihm neben der Anerkennung Goethes eine Geldprämie eintrug, Grundstock zur Finanzierung einer dreijährigen Italienreise. Weiteres Geld floss ihm 1824 als Herausgeber von Kosegartens Dichtungen (Greifsw.) zu. Nach dem jurist. Examen 1828 in Leipzig war
Mosen
M. Advokat, 1831 wurde er Gerichtsaktuar in Kohren bei Leipzig, 1834 eröffnete er eine Anwaltskanzlei in Dresden. Hier knüpfte M. Verbindungen zu Künstler- u. Literatenkreisen, namentlich zu Tieck, Echtermeyer, Ruge, Semper u. dem Bildhauer Ernst Rietschel. Als Gäste kamen Dichter wie Uhland, Hoffmann von Fallersleben, Gutzkow, Meißner oder Herwegh: Vertreter einer engagierten Poesie aus dem linken u. liberalen Lager. Fruchtbar für M.s literar. Schaffen waren bes. die 1830er u. frühen 1840er Jahre. 1836 gab er seine gesammelten Gedichte heraus (Lpz. 21843), worunter populäre Stücke zu finden sind, wie Andreas Hofer (»Zu Mantua in Banden«) oder die polenfreundl. Ballade Die letzten Zehn vom vierten Regiment. 1831 erschien die umfangreiche Novelle Georg Venlot (Lpz.), 1835 das Oratorium Hiob (Lpz.). Dem philosoph. Epos Das Lied vom Ritter Wahn (Lpz. 1831), Verserzählung von einem, der immer leben will, antwortet das epische Gedicht Ahasver (Dresden 1838), Geschichte eines Menschen, der nicht sterben kann. Der Congress von Verona (Bln. 1842) ist ein zweibändiger Roman über die griech. Erhebung u. über die internat. Konferenz, zu der sich die Großmächte 1822 angesichts der europ. Freiheitsbewegungen versammelten. Ehrgeiz setzte M. in seine Schauspiele, meist Tragödien aus der dt. oder europ., vornehmlich ital. u. spanisch-habsburgischen, Geschichte (u. a. Heinrich der Finkler. Lpz. 1836. Kaiser Otto III. Lpz. 1839. Cola Rienzi u. Don Juan von Oesterreich. Beide Oldenb. 1845). Auch theoretisch äußerte sich M. über das Drama. Eine Tragödie über Katte, den Jugendfreund des Kronprinzen Friedrich von Preußen (Der Sohn des Fürsten. In: Theater. Stgt. 1842), veranlasste den Großherzog von Oldenburg, M. als Dramaturg an das Hoftheater seiner Residenz zu ziehen (1844). Hier wurden M.s Inszenierungen von der Kritik gelobt; bes. die Nathan- u. die Faust-Einrichtung (1845/46) fanden laute Zustimmung in der »Theaterschau« des befreundeten Adolf Stahr. Behindert wurde M.s Theaterarbeit ab 1846 durch ein Lähmungsleiden, das sich allmählich bis zur Unbeweglichkeit u. Sprachunfähigkeit verschlimmerte.
Mosengeil
Die meist konventionellen Gedichte M.s lohnen kaum eine erneute Lektüre, ebenso wenig seine Versepen u. die Schiller nachempfundenen jamb. Historienstücke, denen dramat. Spannung u. genaue Charakterzeichnung mangeln. Hingegen ist der politisch scharfsichtige Verona-Roman lesenswert geblieben, ebenso die atmosphärisch dichten Erinnerungen an die Kinderzeit (entstanden 1848. Plauen 1893). Weitere Werke: Die Dresdner Gemälde-Galerie. Dresden/Lpz. 1844. – Ueber Goethe’s Faust. Oldenb. 1845. – Bilder im Moose. Lpz. 1846 (N.). – Bernhard v. Weimar. Weimar 1854 (Trag.). Ausgabe: Sämmtl. Werke. 8 Bde., Oldenb. 1863/ 64. Verm. Aufl. 6 Bde., Lpz. 1880. Literatur: Philipp Henß: Beiträge zur Kenntnis v. M.s Jugendentwicklung. Diss. Mchn. 1903. – Otto Bethke: M.s ›Ritter Wahn‹. Diss. Greifsw. 1912. – Werner Mahrholz: M.s Prosa. Weimar 1912. Neudr. Hildesh. 1979. – Karl Besse: M.s Theorie der Tragödie. Diss. Münster 1915. – Andreas Fehn: Die Geschichtsphilosophie in den histor. Dramen M.s. Diss. Erlangen 1915. – Joseph Schmidt: M.s ›Ahasver‹. Diss. Wien 1923. – Felix Wittmer: Studien zu M.s Lyrik. Diss. Mchn. 1924. – Fritz Alfred Zimmer: J. M. Dresden 1938. – Fritz Welsch: J. M. Plauen 1953. – Dieter Seidel: J. M., Leben u. Werk. Lappersdorf 2003. Hans-Wolf Jäger / Red.
Mosengeil, Friedrich, * 26.3.1773 Schönau/Hörsel, † 2.6.1839 Meiningen; ebd. Wohnhaus mit Gedenktafel u. Grab; weitere Gedenktafeln am Geburtshaus in Schönau u. am Haus Johannisplatz 23, Jena. – Wegbereiter der deutschen Stenografie; Theologe; Schriftsteller. M. wuchs in einem evang. Pfarrhaus unweit von Eisenach auf. 1782 wurde sein Vater als Geistlicher nach Breitungen/Werra im Herzogtum Sachsen-Meiningen berufen. Dort lernte M. den späteren Prosaschriftsteller Ernst Wagner (1769–1812) kennen, der sein Interesse für die dt. Literatur weckte. Die Freundschaft mit Wagner, die bis zu dessen Tod anhielt, wurde neben der christl. Prägung im Elternhaus für M. bestimmend. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Meiningen studierte M. in Jena Theologie. Anschließend war er als Lehrer an der Forst-
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schule von Heinrich Cotta in Zillbach bei Breitungen tätig. Ab 1800 unterstützte M. als Geistlicher seinen Vater in Breitungen. 1805 berief ihn die Meininger Herzogin Luise Eleonore zum Prinzenerzieher, u. M. übersiedelte mit inzwischen gegründeter Familie in die Residenzstadt. 1816–1821 begleitete er den Erbprinzen Bernhard auf verschiedenen Reisen (Schweiz, Italien, Frankreich, Niederlande) u. an die Universitäten Heidelberg u. Jena. Nach der Volljährigkeit des Prinzen war M. bis 1830 in der Meininger Kirchen- u. Schulbehörde tätig. M.s literar. Bedeutung liegt v. a. in seinem Beitrag zur Entwicklung einer dt. Kurzschrift. 1796 veröffentlichte er sein Stenografielehrbuch (Eisenach), welches 1799 (ebd.) u. 1819 (Jena) in verbesserten Nachauflagen erschien. Literaturgeschichtlichen Verdienst erwarb sich M. durch die Herausgabe von biogr. Briefmaterial (Briefe über den Dichter. 2 Bde., Schmalkalden 1826. Mikrofiche-Ausg. Mchn. u. a. [1994]) sowie der gesammelten Werke Ernst Wagners (Ernst Wagner’s sämmtliche Schriften. 12 Bde., Lpz. 1827/ 28. Mikrofiche-Ausg. Mchn. u. a. 1992). Wenig bedeutsam u. heute nahezu vergessen ist dagegen M.s belletristisches Schaffen. Hier dominieren religiöse Erbauungsschriften u. idyllische Naturschilderungen, zumeist in Prosa. Über Jahrzehnte wurden M.s Zwischentexte zu Beethovens Musik nach Goethes Egmont bei Aufführungen genutzt. Im Herzogtum Sachsen-Meiningen machte sich M. durch Verfassen u. Herausgabe von Schulbüchern verdient. Weitere Werke: Bad Liebenstein u. seine Umgebungen. Reiseführer. Meiningen 1815. – Beethovens Zwischenacte zu Göthes Egmont. Zwischentexte. In: Allg. musikal. Ztg. Lpz. 1821. – Gottgeweihte Morgen- u. Abendstunden. Andachten. Hildburghausen 1821. – Liebenstein u. die neuen Arkadier. Reiseführer, Novelle. Ffm. 1826. – Reisegefährten. 3 Bde., Ffm. 1825–28 (E.en). Literatur: Schaubach: F. M. In: ADB. – W. Greiner: F. M. u. Ernst Wagner. In: Luginsland. Wochenbeilage der Eisenacher Ztg. 1926, Nr. 31–34. Andreas Seifert
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Mosenthal, Salomon Hermann Ritter von (seit 1872), auch: Friedrich Lehner, * 14.1. 1821 Kassel, † 17.2.1877 Wien; Grabstätte: ebd., Währinger Friedhof. – Dramatiker, Lyriker u. Erzähler.
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Bühne zurück u. verfasste mehrere erfolgreiche Ghetto-Novellen, in denen er ein verklärendes u. optimistisches, aber auch differenziertes Bild des jüd. Lebens entwarf. Ausgaben: Ges. Werke. 6 Bde., Stgt. 1878. – Erzählungen aus dem jüd. Familienleben. Mit einem Nachw. hg. v. Ruth Klüger. Gött. 2001. Literatur: Wurzbach 19. – Anton Schönbach: M. In: ADB. – Karl Schug: S. H. M. Leben u. Werk in der Zeit. Ein Beitr. zur Problematik der literar. Geschmacksbildung. Diss. Wien 1966. – Karlheinz Rossbacher: Lit. u. Liberalismus. Zur Kultur der Ringstraßenzeit in Wien. Wien 1992.
M. entstammte einer jüd. Kaufmannsfamilie, die kurz nach seiner Geburt ihr gesamtes Vermögen verlor. Als Schüler des Kasseler Lyceum Fridericianum beeinflusste ihn sein Lehrer Franz Dingelstedt. Von Kerner u. Schwab gefördert, ging M. 1842 nach Wien, wo er bald eine beachtl. literar. Karriere Wynfrid Kriegleder machte. 1850 wurde der apolitisch-konservative M. – trotz seiner Religion – Beamter im Unterrichtsministerium. In der Folge war er eine zentrale Figur des Wiener Kulturlebens Moser, Annemarie E., * 17.8.1941 Wiener u. trat zu vielen Feiern mit Gelegenheitsge- Neustadt. – Lyrikerin, Erzählerin. dichten hervor. M. stammt aus einfachen Verhältnissen; ihre 1845 erreichte M. mit dem Volksstück Der Kindheit war von Armut geprägt. Der Vater, Holländer Michel (Wien 1846) nach einer in- ein Kanzleigehilfe, starb an Tuberkulose, als tensiven Werbekampagne einen beachtl. Er- sie zwei Jahre alt war. Ihre Mutter, die bald folg am Josephstädter Theater. Der große danach einen Beamten heiratete, war ebenDurchbruch kam 1848 mit dem Volksstück falls lungenkrank. M., die wiederholt an Deborah (Lpz./Pest 1850), das nach seiner Ur- psychosomat. Störungen litt, konnte ihren aufführung in Hamburg einen beispiellosen eigentl. Berufswunsch, nämlich Lehrerin zu Siegeszug um die Welt antrat (1862: 400 werden, aufgrund dieser schwierigen KindAufführungen en suite in New York; 1863/ heit nicht verwirklichen. Aber sie hat sich seit 64: mehr als 500 Aufführungen in London). ihrer Jugend autodidaktisch gebildet, mit Das sentimentale, im ländl. Milieu des 18. Jh. Sprachwissenschaften, Philosophie, Religiospielende Drama traf exakt den Geschmack nen, Psychologie u. den verschiedensten des liberalen Bürgertums, indem es die Dis- Kunsttheorien beschäftigt. Nach dem Abkriminierung der Juden als ein bereits unter schluss der Hauptschule u. der HandelsakaJoseph II. gelöstes Problem darstellte; ent- demie arbeitete sie nach einer einjährigen sprechend ablehnend war die Reaktion kriti- Bürolehre bis 1979 als Buchhalterin. Seither scher jüd. Kreise. Mit dem 1854 am Burg- lebt sie als freie Schriftstellerin in Wiener theater aufgeführten, von Gottfried Keller Neustadt. verächtlich als »melodramatisches EffektZu schreiben begann M. bereits mit elf sammelsurium« bezeichneten Volksstück Der Jahren: Gedichte vor allem u. Erzählungen, Sonnwendhof (Lpz. 1857) konnte M. an diesen in denen sie versuchte, ihre Kindheit u. JuErfolg anschließen, während seine vielen pa- gend aufzuarbeiten. 1976 kam es zu ersten thet. Verstragödien, die er für die berühmte Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, Charlotte Wolter verfasste, nicht reüssierten. 1980 folgte der erste Gedichtband, Anreden M. schrieb auch eine große Anzahl Libretti; (Baden bei Wien), u. 1981 der erste Roman, noch heute bekannt ist das Textbuch zu Otto Türme (Graz). Wie in den weiteren Romanen Nicolais Die lustigen Weiber von Windsor (Wien (Vergitterte Zuflucht. Graz 1982. Das eingeholte 1871). Leben. Graz 1986) beschreibt M. in einer senM. erfuhr während seiner letzten Lebens- siblen, einfühlsamen Sprache das Schicksal jahre viele öffentl. Ehrungen (Ehrendoktorat, psychisch labiler u. gefährdeter Menschen. In Nobilitierung), wurde aber als Dramatiker ihrem Roman Andeutungen eines lebendigen zunehmend angegriffen, zog sich von der Menschen (Graz 1991) geht es um ein Flücht-
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lingsschicksal, in dem Erzählband Spurenlegen (St. Pölten 2000) um menschl. Ausnahmesituationen, u. der Gedichtband Credo mit Zubehör (Wiener Neustadt 1998) besticht durch ironische u. poet. Beschreibungen der Auswirkungen moderner Entwicklungen wie etwa des Internets. M. ist Mitgl. des P. E. N., des Österreichischen Schriftstellerverbandes sowie der Literaturvereinigung »Podium«. Für ihr literar. Schaffen erhielt sie zahlreiche Preise u. Auszeichnungen, u. a. 1982 den Otto-StoesslPreis, 1986 den Förderpreis für Lyrik des BMUK u. 1996 den Würdigungspreis des Landes Niederösterreich. Weitere Werke: Umbruch des Herzens. Gedichte u. lyr. Prosa. Wiener Neustadt 1984. – Wie weiß die Gipfel der See. St. Pölten 2005 (P.). – Reise über den Rosenbogen. Klosterneuburg 2005 (lyr. Trialog). – Podium Porträt Bd. 25 (2006). Literatur: Hilde Schmölzer: Frau sein & schreiben. Wien 1982. – Birgit Langer: Auswege. Diplomarbeit Univ. Wien 1996 (mit ausführl. Interviewteil). – Barbara Neuwirth: Umwege durch das Leben. In: Podium Porträt Bd. 25 (2006). Hilde Schmölzer
Moser, Friedrich Carl von, * 18.12.1723 Stuttgart, † 10.11.1798 Ludwigsburg. – Jurist, Kameralist; politischer Schriftsteller, Lyriker, Herausgeber. M. war der Sohn des Staats- u. Völkerrechtslehrers Johann Jacob Moser u. der Friederika Rosina, geb. Vischer. 1725–1736 lebte er, bedingt durch wechselnde Dienstorte des Vaters, in Wien, Stuttgart, Tübingen, Frankfurt/ O. u. Ebersdorf/Vogtland. Er besuchte die von Johann Adam Steinmetz geleitete, pietistisch geprägte Schule des Klosters Bergen bei Magdeburg. Ab 1739 (1740?) studierte M. Jura, nebenher Anatomie, in Jena; zu seinen akadem. Lehrern gehörte der Jurist Christian Gottlieb Buder. M. begleitete seinen Vater auf dessen Reisen, war Sekretär in adligen Häusern, ging mit seinem Vater 1747 als Kanzleisekretär nach Homburg in hess. Dienste u. arbeitete in der Staats- u. Kanzleiakademie des Vaters in Hanau mit. 1749 heiratete er Ernestine von Herd, verwitwete von Rotenhof, u. ging 1751
nach Frankfurt/M., wo er 1753 zum hess. Rat ernannt wurde. 1754 wurde er Legationsrat, 1763 Hessen-Kasselscher Geheimrat u. Gesandter, 1767 kaiserl. Reichshofrat in Wien, 1770 Verwalter der kaiserl. Grafschaft Falkenstein, 1772 Erster Minister u. Kanzler in Darmstadt. M., dem bedeutende Rechtsfälle übertragen wurden u. der das Angebot, in preuß. Dienste zu treten, ablehnte, machte sich v. a. um die Sanierung der hess. Finanzen verdient. Sein zähes u. intensives Arbeiten für das Wohl des Landes – ein Nebenprodukt war die Schaffung der Feuerversicherung – führte jedoch zu seinem Sturz: Ihm wurden Selbstherrlichkeit u. Überschreitung der Amtsbefugnisse vorgeworfen, Landgraf Ludwig IX. zerstritt sich mit ihm. M., der bereits 1780 um seine Entlassung gebeten hatte, wurde 1782 abgesetzt; er führte mehrere Prozesse, die ihm aber nur eine teilweise Rehabilitation einbrachten. Er lebte zuletzt als Privatmann in Mannheim u. Ludwigsburg. M. erlangte als Autor internat. Ruhm u. stand in Verbindung mit bedeutenden Zeitgenossen, u. a. mit Goethe, Hamann u. Merck. Er gehörte dem Frankfurter Pietistenkreis um Susanna Katharina von Klettenberg an u. ist wohl das Urbild des Philo in Goethes Bekenntnissen einer schönen Seele (in: Wilhelm Meisters Lehrjahre, Buch 6). M.s Werk besteht zum größten Teil aus juristisch-kameralist. Texten, die sich mehrfach mit histor. u. religiösen Problemkreisen berühren; hinzu kommen religiöse Schriften, politisch-didakt. Prosa u. Lyrik. Während in Versuch einer Staats-Grammatic (Ffm. 1749), Abhandlung von den Europäischen Hof- und StaatsSprachen (Ffm. 1750) u. Abhandlung von Ahndung fehlerhaffter und unanständiger Schreiben nach dem Gebrauch der Höfe und Canzleyen (Ffm. 1750) noch pragmatisch u. ästhetisch orientierte Handreichungen für Kanzleibeamte zu sehen sind, ist in Der Herr und der Diener geschildert mit Patriotischer Freyheit (Ffm. 1759. 1761. 21763. Bln. 1763. Ffm. 1766. Übers. ins Französische, Italienische, Russische), fortgesetzt als Beherzigungen (Ffm. 1761. 31763. 4 1767), eine der wichtigsten polit. Positionen M.s artikuliert: die Aufwertung der Funktion der Mitarbeiter des Herrschers, die, v. a. an
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Literatur: Hans-Heinrich Kaufmann: F. C. v. den kleineren Höfen, durch Besonnenheit u. Sachverstand dem Dünkel u. der Verschwen- M. als Politiker u. Publizist. Darmst. 1931. – Walter dungssucht der Fürsten entgegenwirken. In Gunzert: F. C. v. M. In: Lebensbilder aus Schwaben u. Franken 11 (1969), S. 82–117. – Notker HamVon dem Deutschen national-Geist (o. O. [Ffm.] merstein: Das polit. Denken F. C. v. M.s. In: HZ 212 1765. 1766. Neudr. Selb 1976) beschwört M. (1971), S. 316–338. – Helmut Rehder: Fromme den Gedanken der Nation u. die nat. Re- Politik: Zu den Ess.s v. F. C. v. M. In: Monatshefte spektierung der Reichsverfassung als wirk- 67 (1975), S. 347 f., 425–431. – Ruth Angela Stirsamste Mittel gegen die durch die Partiku- ken: Der Herr u. der Diener. F. C. M. u. das Belarinteressen der Fürsten hervorgerufenen amtentum seiner Zeit. Bonn 1984. – Nicholas Vagesellschaftl. Missstände. M. dachte »gut zsonyi: Montesquieu, F. C. v. M., and the ›National kaiserlich«, er hat sich zur Problematik dieser Spirit Debate‹ in Germany, 1765–67. In: German Studies Review 22 (1999), S. 225–246. – Florian Haltung in Was ist gut Kayserlich und: nicht gut Gelzer: Inkle u. Yarico in Dtschld.: Postkoloniale 2 Kayserlich? (o. O. [Ffm.] 1766. 1766 u. ö.) ge- Theorie u. Gattungsgesch. im Konflikt. In: GQ 77 äußert. (2004), S. 125–144. Wolfgang Biesterfeld / Red. Wichtige literar. Texte M.s sind Der Hof in Fabeln (Lpz. 1761. 1762. 1763) u. Daniel in der Moser, Gustav von, * 11.5.1825 Spandau, Löwen-Grube. In sechs Gesängen (Ffm. 1763. † 23.10.1903 Görlitz. – Lustspiel- u. 3 Ffm., Lpz. 1763. Ffm. 1767. 1783). Die FaSchwankautor. beln erheben die der Gattung fast stets immanente polit. Tendenz zum Prinzip u. ent- Der Sohn eines Majors wurde im Berliner hüllen die Funktionen der handelnden Tiere Kadettencorps für die Militärlaufbahn erzohäufig durch Amtsbezeichnungen aus der gen u. erhielt 1843 das Offizierspatent. In feudalen Hierarchie; sie realisieren in kraft- Görlitz nahm M. 1856 als Leutnant seinen voller Prosa u. a. die Themen der Fürsten- Abschied. Er ging nach Lauban/Schlesien auf willkür u. des Höflingsunwesens. Im Daniel das Landgut seines verstorbenen Schwiegerwerden Leben u. Lehren des Propheten Da- vaters, das er sechs Jahre bewirtschaftete, beniel als Berater des Königs Darius in hym- vor er ausschließlich Bühnenschriftsteller nisch-gehobener Prosa dargestellt. Daniel rät wurde. 1881 wurde M. zum herzogl. sächs.im Gegensatz zu einem konkurrierenden coburg. Hofrat ernannt. 1889 zog er wieder Schmeichler, der die unumschränkte Macht nach Görlitz. Dort schrieb M. auch seine Ledes Königs postuliert, zu Weisheit u. Maß; benserinnerungen (Vom Leutnant zum Lustspieldichter. Wismar 1908) nieder. sein Anspruch an den Herrscher lautet: Mit Das Stiftungsfest (Bln. 1872; nach einer »Niemahls Ruhe zu haben, sey der Könige Vorlage v. Roderich Benedix) führte M. den Beruf.« Schwank als Gattung in das UnterhaltungsWeitere Werke: Der Character eines Christen u. lustspiel ein. Durch Straffen der Handlung – ehrl. Mannes bey Hofe. Ffm. 1751. – Kleine Schr.en eine tyrannische Gattin verbietet ihrem Mann zur Erläuterung des Staats- u. Völkerrechts wie die Teilnahme am Stiftungsfest seines Vereins auch des Hof- u. Canzley-Ceremoniels. 12 Bde., Ffm. 1751–65. – Lieder u. Gedichte. Tüb. 1752. – – u. systemat. Entfalten der kom. Situationen Teutsches Hof-Recht. 2 Bde., Ffm./Lpz. 1761. – löst sich M. von Benedix’ Linie. Auch die bis Geistl. Gedichte, Psalmen u. Lieder. Ffm. 1763. dahin nur vereinzelt belegte Bezeichnung Neuaufl. Bd. 1, Neudietendorf 1816. – Patriot. »Schwank« für ein situationskom. Lustspiel Briefe. o. O. [Ffm.] 1766. 1767. – Reliquien. Ffm. kann um 1880 als durchgesetzt gelten. Zgl. begründete M. die Sonderform des 1766. 21766. 31766. 41767. – Catharina II., Kaiserin v. Rußland, ein Gemälde ohne Schatten. Lpz. 1776. Militärschwanks. Das Lustspiel Krieg im Frie– Doktor Leidemit; Fragmente v. seiner Reise durch den (Bln. 1881; mit Franz v. Schönthan) u. der die Welt. Ffm. 1783. – Patriot. Archiv für Dtschld. Schwank Reif-Reiflingen (Bln. 1882) basieren Ffm./Lpz. (Bde. 1–5), Mannh. (Bde. 6–12) 1784–90. auf M.s Kenntnis des Milieus, sparen aber den – Neue Fabeln. Mannh. 1790. – Polit. Wahrheiten. militär. Alltag aus zugunsten von Liebes2 Tle., Zürich 1796. – F. C. v. M. (Hg.): D. Martin Luthers Fürstenspiegel. Ffm. 1783. 21834.
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werbung beim Manöver bzw. situationskom. Urlaubsabenteuern. Fast alle der rd. 80 Lustspiele M.s waren Bühnenerfolge. Insbes. die »Militärstückchen« entsprachen nach der Reichsgründung einer weit verbreiteten patriot. Stimmung. Mit Schönthan, Kadelburg u. Wilhelm Jacoby, die neben bürgerl. auch Militärschwänke schrieben, reichte M.s Einfluss bis in die nächste Generation. Ausgaben: Lustsp.e. 22 Bde., Bln. 1872–97. – Lustsp.e u. Schwänke. 4 Bde., Mühlhausen 1902–06. Literatur: Karl Holl: Gesch. des dt. Lustspiels. Lpz. 1923. – Roswitha Flatz: Krieg im Frieden. Das aktuelle Militärstück auf dem Theater des Kaiserreichs. Ffm. 1976. – Alain Michel: Der Militärschwank des kaiserl. Dtschld. Stgt. 1982. Alain Michel / Red.
Moser, Hans Albrecht, * 7.9.1882 Görz (Gorizia)/Italien, † 27.11.1978 Bern. – Aphoristiker, Erzähler; Musiker. Der Sohn eines Schweizer Industriellen kam 1897 aus dem damals österr. Teil Italiens nach Bern ans Gymnasium u. studierte nach der Matura in Basel, Köln u. Berlin Musik. Ab 1911 lebte er, abgesehen von Aufenthalten in Worpswede, Lausanne u. Rom, zeitlebens als Klavierlehrer in Bern. Literarisch debütierte er als 44-Jähriger mit dem umfangreichen Erzähl- u. Aphorismenbuch Die Komödie des Lebens (Zürich/Lpz./Wien 1926), das bereits sehr charakteristisch war für seine bis zuletzt beibehaltene Schreibweise, in welcher sich eine ausgeprägte Vorliebe für spielerische, fiktionale, oft auch konstruiert wirkende kompositor. Elemente (Einführung von fiktiven Erzählern, Herausgebern; Wiedergabe von Fundstücken; Aufteilung des Textes auf mehrere aus einem bestimmten Anlass zusammengekommene Erzähler usw.) mit dem Anspruch verbindet, abseits von allem Elitären, Dekadenten die Lebenswirklichkeit von »gewöhnlichen« u. daher unverbildeten Menschen zu spiegeln. »Indem ich aus dem Bewußtsein, ein gewöhnlicher Mensch zu sein, ein Buch schreibe, bin ich befähigt, das Buch des gewöhnlichen Menschen zu schreiben«, behauptet der als fiktiver Aphoristiker
in die Komödie des Lebens eingeführte Heinrich Volkers. M.s bedeutendste Leistung ist zweifellos Vineta, ein 1057-seitiger Gegenwartsroman aus künftiger Sicht (Zürich 1955. 21968. Neuausg. 1982). Die Konstruktion geht davon aus, dass die Menschen einer zukünftigen Welt die Trümmer der nach einer globalen Katastrophe untergegangenen europ. Zivilisation entdecken u. deuten. Die Stärke des Buchs liegt denn auch in der kritischen, wenn auch etwas langfädigen Darstellung des gesellschaftlichen, polit. u. kulturellen Zustands jener Welt, in welcher der Leser das Europa der ersten Hälfte des 20. Jh. wiedererkennt, das jedoch von den nachgeborenen Forschern Vineta genannt wird. Sieht man von einem lexikal. Anmerkungsteil ab, der, nach Stichworten geordnet, Auskunft über die europ. (u. schweizerischen) Zustände um 1950 erteilt, so zerfällt der Hauptteil des Buchs in zwei große Blöcke: Auf über 500 Seiten erzählt der Journalist Saremo (Anagramm zu A. M.) dem Dichter Prätorius sein »Leben eines Ungläubigen«, unterbricht die Darstellung jedoch 21-mal, um einen »Papierkorb« voll Prätorius-Aphorismen einzufügen. Der zweite Erzählblock ist dem eigentl. Roman Vineta vorbehalten, der Prätorius zugeschrieben ist, sich jedoch nur als »Entwurf zu einem Roman« erhalten hat u. ebenso unverkennbar auf M.s eigenen, nicht sonderlich spektakulären Lebenserinnerungen fußt wie der erste Teil des Werks. Gegenüber der zuweilen harschen, von eher konservativer Warte aus erteilten Kritik am Erscheinungsbild der Gegenwart tritt das eigentlich utop. Element fast vollständig in den Hintergrund, ja die Zeichnung jener besseren nachgeborenen Welt, die mit Entsetzen auf unsere untergegangene blickt, beschränkt sich auf wenige skizzenhafte Andeutungen u. lässt es daher nur mit Einschränkungen zu, dass Vineta als utop. Roman bezeichnet wird. Weitere Werke: Das Gästebuch. Frauenfeld 1935 (P., Aphorismen). – Gesch.n einer eingeschneiten Tafelrunde. Frauenfeld 1935. – Der Kleiderhändler. Bern 1937 (E.). – Alleingänger. Frauenfeld 1943 (E.en). – Über die Kunst des Klavierspiels. Bern 1947. – Aus dem Tgb. eines Weltungläubigen. St. Gallen 1954. – Regenbogen der Liebe. Zürich 1959 (E.). – Ich u. der andere. Ein
Moser
355 Tgb. Zürich 1962. – Erinnerungen eines Reaktionärs. Zürich 1965. – Thomas Zweifel. Zürich 1968 (E.). – Dem Ende zu. Bern 1969 (E.). – Aus meinem Nachl. u. anderes. Zürich 1971. – Der Fremde. Tgb. eines aphorist. Lebens. Zürich 1973. – Auf der Suche. Betrachtungen u. Erinnerungen. Zürich 1975. Literatur: Jürg Steiner: H. A. M. Zur Struktur seines dichter. Werks. Diss. Zürich 1966. – Erich Zeiter: Ziel u. Methode im utop. Werke H. A. M.s. Diss. Zürich 1975. – Ruth Strassmann-Stöckli: Das Bild des Menschen im Schaffen H. A. M.s. Diss. Zürich 1977. – Marie-Antoinette Manz-Kunz: Gedanken zur Aphoristik v. H. A. M. (1882–1978). Aachen 1992. – Friedemann Spicker: Der Schweizer Aphoristiker H. A. M. In: Das Groteske. Hg. Martin Hedinger u. a. Fribourg 2005, S. 305–339. Charles Linsmayer / Red.
Moser, Johann Jacob, * 18.1.1701 Stuttgart, † 30.9.1785 Stuttgart. – Rechtsgelehrter u. Staatsmann. M. ist der geistige Vater des dt. Staatsrechts u. auf diesem wie auf anderen Gebieten der fruchtbarste Autor des 18. Jh.; Goedeke (4, I, S. 235) nennt 500 bis 600 Bände. Das wichtigste Werk in literar. Hinsicht ist die Lebensgeschichte J. J. Mosers, von ihme selbst beschriben (1 Bd., o. O. [Offenbach] 1768. 4 Bde., Ffm./Lpz. 3 1777–83. Schriften-Verzeichnis in Bd. 3, S. 120–188). Außerdem verfasste M. zwölf Bände mit religiösen Gedichten, u. a. Gesammelte Lieder [...] (2 Bde., Stgt. 1766 f.). M.s Biografie ist eine Art Lebensroman des 18. Jh. Die Vorväter standen in württembergischen Staats- u. Kirchendiensten. M. wuchs in kärgl. Verhältnissen auf, besuchte in Stuttgart das Gymnasium, studierte in Tübingen, allerdings unregelmäßig, u. las Unmengen von Büchern. Schon mit 19 Jahren war er a. o. Prof. der Rechte in Tübingen im Rang eines Regierungsrats, jedoch ohne Gehalt. Er ging 1721 nach Wien, erhielt jedoch keine Stelle, da er nicht konvertieren wollte, kehrte nach Stuttgart zurück u. heiratete; 1723 wurde sein ältester Sohn Friedrich Carl geboren. 1727–1732 war M. Professor der Rechte in Tübingen, bis er, von der Zensur aus dem Amt gedrängt, wieder ins Stuttgarter Regierungskollegium eintrat. 1736 wurde er zum Ordinarius der jurist. Fakultät in Frankfurt/O. berufen, gab jedoch nach einem
Streit mit Friedrich Wilhelm I. die Stelle wieder auf. Nun lebte er acht Jahre mit Familie u. Nahrungssorgen in der evang. Gemeinde von Ebersdorf/Vogtland. Hier entstand sein Hauptwerk, das 53 Quartbände umfassende Teutsche Staatsrecht (Nürnb. u. a. 1737–53). 1747 trat M. wieder in Staatsdienste als Geheimrat des Landgrafen von Hessen-Homburg. 1749 gründete er in Hanau eine private »Staats- und Kanzleiakademie«. 1751 wurde M. Landschaftskonsulent (Syndikus der Stände gegenüber dem Landesherrn), u. es begann die schwerste Zeit seines Lebens. Aufrichtig verteidigte er die Rechte der Landschaft gegen die Willkür Herzog Karl Eugens, bis dieser ihn am 12.7.1759 selbst verhaftete u. für fünf Jahre unter harten Bedingungen auf dem Hohentwiel einkerkern ließ. Auf Drängen Friedrichs II. wurde M. 1764 durch Beschluss des Reichshofrats befreit. Der Herzog setzte ihn in sein altes Amt ein, u. M. kämpfte wieder zäh für das Recht der Stände (Landschaft). Diese nötigten dem Herzog 1770 den Erbvergleich ab (Anerkennung der »alten« Verfassung), woraufhin sich M. fast nur noch seiner schriftstellerischen Tätigkeit widmete. Weitere Werke: Schriftenverz. in: Rürup 1965 (s. u.). Literatur: August Schmid: Das Leben J. J. M.s [...]. Stgt. 1868. – Albert Eugen Adam: M. als Württemberg. Landschaftskonsulent 1751–71. Stgt. 1887. – Gerhard Kaiser: Pietismus u. Patriotismus im literar. Dtschld. Wiesb. 1961. – Reinhard Rürup: M. Pietismus u. Reform. Wiesb. 1965 (mit vollst. Werk-, Quellen- u. Literaturverz.). – Erwin Schoembs: Das Staatsrecht M.s [...]. Bln. 1968. – Mack Walker: M. and the Holy Roman Empire of the German Nation. Chapel Hill 1981. – K. Eberhard Oehler: Lieder aus dem Kerker. J. J. M., der Liederdichter (1701–85). In: BWKG 91 (1991), S. 349–358. – Gesch. Piet. Bd. 2, S. 248–251 u. ö. – Sabrina-Simone Renz: J. J. M.s staatsrechtlich-polit. Vorstellungen. Würzb. 1998. – Andreas Gestrich (Hg.): J. J. M.: Politiker, Pietist, Publizist. Karlsr. 2002. – Hermann Uhrig: J. J. M. In: Bautz. Peter Fischer / Red.
Mosheim
Mosheim, Johann Lorenz von, * 9.10.1693 Lübeck, † 9.9.1755 Göttingen. – Theologe u. Kanzler der Universität Göttingen. Das Werk M.s entfaltete sich in der Neuausrichtung der alten Problemspannung von Glauben u. Wissen, wie sie von der beginnenden Neuzeit mit ihrer naturwiss. Konzentration u. weltanschaul. Standortsuche vorgezeichnet wurde. Zum Besuch des Katharineums in Lübeck erhielt der vierzehnjährige M. die Mittel von der Prinzessin Elisabeth Sophie Marie von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Norburg, die ihm auch später den Berufsweg ebnete. 1716 nahm er ein Theologiestudium in Kiel auf. Er hörte hauptsächlich bei Heinrich Muhlius u. Albert zum Felde. In rascher Folge veröffentlichte M. seine ersten eigenen Schriften. 1716 bereits erschienen ein Prodomus Bibliothecae Vulcani u., pseudonym, Zufällige Gedancken von einigen Vorurtheilen in der Poesie, besonders in der deutschen (Lübeck). Im Jahre 1717 veröffentlichte M. eine Dissertation, über deren These er beim Reformationsjubiläum 1717 disputiert hatte, sowie seine Cogitationes de studio litterario. In letzteren sprach er sich gegen die polyhistor. Ausbreitung u. die akkumulierende Darstellungsform des Faktenmaterials aus u. forderte Zusammenhänge zu erkennen u. größere Stoffkomplexe begrifflich zu binden. M.s originäres Arbeitsgebiet aber wurde die Kirchengeschichte, die er bereits kritisch aufzufassen begann. Im Jahre 1718 habilitierte sich M. in der Philosophischen Fakultät. 1720 erhielt er den Lehrauftrag für die »Litterae elegantiores«. Im gleichen Jahre erschien M.s erstes umfangreicheres Buch, die fast 600 Seiten umfassende Vindiciae antiquae Christianorum disciplinae, adversus celeberrimi viri Jo. Tolandi [...] Nazarenum (Kiel/Hbg. 2 1722), in der er die Schrift Nazarenus des engl. Freidenkers John Toland u. die darin entwickelte deist. Auffassung des Urchristentums als einer allg. Vernunftreligion als unhistorisch verwarf u. eine Verteidigung der Offenbarungsautorität der neutestamentl. Schriften gab. Im folgenden Jahr veröffentlichte M. in Amsterdam das Buch Observationum sacrarum et historico-criticarum liber primus
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(Amsterd. 1721), das theologische, kirchengeschichtl. u. philolog. Arbeiten vereinigte. Bereits 1718 hatte M. eine Berufung als Professor für Beredsamkeit u. Geschichte an die Reformierte Hohe Schule in Duisburg erhalten, u. 1719 berief ihn die Königin von Schweden als Professor für Griechisch nach Verden. Beide Berufungen lehnte M. ab in der Hoffnung, in Kiel Karriere machen zu können. Hier wurde er zwar 1721 zum Professor der Logik u. Metaphysik designiert, aber eine Ernennung blieb aus. M. knüpfte nun Kontakte zum Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel, wo seine frühere Gönnerin, die Prinzessin Elisabeth Sophie Marie, als dritte Gemahlin des Herzogs August Wilhelm Einfluss besaß. Im Febr. 1723 kam dann der ersehnte Ruf aus Helmstedt, dem M. folgte. M.s Anfänge in Helmstedt gestalteten sich schwierig. Zwar wurde er sogleich zu Hofe befohlen u. hatte als Hoftheologe bei den verschiedensten Anlässen zu predigen, aber von der mit mittelmäßigen Köpfen besetzten Theologischen Fakultät wurde er übelwollend aufgenommen. Ganz gegen seine Neigung geriet er 1724 in die Streitigkeiten zwischen Lutheranern u. Reformierten über eine Union der evang. Konfessionen, zu der der Tübinger Kanzler Christoph Matthäus Pfaff aufgerufen hatte. M. arbeitete damals an einer lat. Übersetzung von John Hales’ Geschichte der Dordrechter Synode, als er von Franz Buddeus in Jena aufgefordert wurde, sich dem Unions-Ansinnen zu widersetzen u. sich aktiv für die luth. Seite stark zu machen, wobei ihm bei Verweigerung mit Schmähungen gedroht wurde. Derart unter Druck geraten, verfasste er die Dissertation De concilio Dordraceno, magno concordiae sacrae impedimento (Helmstedt 1724), die rasch mehrere Auflagen u. Übersetzungen erlebte. Diese Schrift, die als Vermittlungsangebot gemeint war, löste bei den Reformierten eine Flut von Gegenschriften aus, die sich beleidigend u. drohend über M. ergoss. In der Absicht, in den konfessionellen Streitigkeiten durch Klärung zu vermitteln, brachte M. eine neue Ausgabe von Kaspar Brants Leben des Arminius heraus. Er hoffte, mittels histor. Schilderung die religiösen Anschauungen der Remons-
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tranten nahe zu bringen u. auf diesem Wege eine Verständigung anbahnen zu können. 1725 erhielt M. die Aufgabe, die kirchenhistor. Vorlesungen zu halten. Als Grundlage für diese Vorlesungen erarbeitete er ein kirchengeschichtl. Kompendium, das 1726 u. d. T. Institutiones historiae ecclesiasticae Novi Testamenti (Ffm.) erschien. Er brachte darin die in der Profangeschichte bereits übliche pragmat. Methode auch in der evang. Kirchengeschichtsschreibung zur Anwendung. Hier sprach er den Grundsatz aus, dass kirchengeschichtl. Vergangenheit aus ihren eigenen Voraussetzungen erklärt werden müsse u. dass weder dogmat. Parteilichkeit noch Gegenwartsinteressen bei der Erforschung der kirchl. Geschichte eine Rolle spielen dürften. Obwohl M. die Gedanken zu diesem Buch rasch niedergeschrieben hatte u. das Kompendium als verbesserungsbedürftig ansah, fand es in der Theologenschaft weitgehend Anerkennung als ein neuer Weg der Kirchengeschichtsschreibung. In Helmstedt reifte M. nicht nur zu einem der bedeutendsten Theologen seiner Zeit, er gehörte bald auch zu den berühmtesten Predigern. Seine Predigten umfassten sechs Bände, kamen in mehreren Auflagen heraus u. wurden in zahlreiche europ. Sprachen übersetzt. M. predigte v. a. bei Hofe u. auch in akadem. Gottesdiensten. Seine Predigten waren in der Tendenz apologetisch u. ruhten noch ganz in der Sicherheit der dogmat. Denkgewohnheit des Luthertums. Gleichwohl ging es ihm aber bereits um »Aufklärung« des Intellekts im Sinne einer klaren Erkenntnis der evang. Lehre u. um »Erweckung«, die den Willen zu gottwohlgefälligem, sittl. Verhalten motiviert. Dieses Übergewicht des Intellektualismus in der Predigt zeigte sich in M.s Neigung, »beweisen« zu wollen, sowie in der bewussten Anwendung rhetorischer Mittel. M.s Predigten sind der Ausdruck einer vermittelnden Einstellung gegenüber den Predigtrichtungen seiner Zeit. Sie folgen formal der Philosophie Christian Wolffs insofern, als sie lehrhaft u. in der ethischen Ausrichtung eudämonistisch sind. Indem die Predigten zu Buße u. Bekehrung aufriefen, entsprachen sie pietist. Anliegen. Mit diesem Paradigma galt M. bereits seinen
Mosheim
Zeitgenossen als der Schöpfer einer neuen Form der Predigt. In den folgenden Jahren stieg M. in eine vom Wolfenbütteler Hof begünstigte u. daher hervorragend dotierte Stellung auf. Er wurde Abt der Klöster Mariental u. Michaelstein (Fürstentum Blankenburg) u. erhielt die Generalschulinspektion im Herzogtum Wolfenbüttel. Neben den mit diesen Ämtern verbundenen zeitaufwendigen Tätigkeiten fand M. noch Gelegenheit, das philosoph. Hauptwerk The True Intellectual System of the Universe (1678) des engl. Philosophen Ralph Cudworth – seinerzeit führender Kopf der Schule von Cambridge – ins Lateinische zu übersetzen. Diese Leistung ist bemerkenswert, da frühere Übersetzungsvorhaben gescheitert waren. Das Fragment gebliebene philosoph. Werk von Cudworth war für die damalige evang. Theologie von bes. Interesse, weil in ihm mittels theistisch umgeformter platonisch-stoischer Gedankengänge der naturalist. Atheismus Hobbes’ widerlegt wurde. Im Jahre 1747 wurde M. als Kanzler an die 1737 gegründete Universität in Göttingen berufen. Hier entstand das knapp 1000 Seiten umfassende Werk De rebus Christianorum ante Constantinum Magnum Commentarii (Helmstedt 1753), das erstmals eine durchweg auf Quellen gestützte u. Anregungen des »Ketzers« Gottfried Arnold aufnehmende Darstellung der ersten drei Jahrhunderte der Christentumsgeschichte enthielt. Das zweite Hauptwerk, die über tausend Seiten starken Institutiones historiae ecclesiasticae antiquae et recentioris (Helmstedt 1755), war eine völlige Umgestaltung des Helmstedter Kompendiums. Sein Konzept blieb zwar noch dem aus der Reformationszeit stammenden geschichtsfremden Darstellungsschema nach »Zenturien« verhaftet, war aber in der damaligen evang. Kirchenhistoriografie ein Novum u. gewann in der Folgezeit paradigmat. Rang. M., der auch Präsident der Deutschen Gesellschaft in Leipzig war, die sich die Pflege der dt. Sprache zum Ziel gesetzt hatte, zählte zus. mit Albrecht von Haller u. Johann Matthias Gesner zu den berühmtesten Gestalten der frühen Geschichte der Göttinger Universität. Mit M. begann in der evang. Theologie
Mossmann
eine neue Epoche der Kirchengeschichtsschreibung. Er erhielt zu Recht den Titel »Vater der Kirchengeschichte«. Theologiegeschichtlich gehört M. als hervorragendster Vertreter zur Gruppe der »Übergangstheologen«, die frühaufklärerische Bestrebungen mit konfessioneller Orientierung zu verbinden suchten. In diesen Zusammenhang gehören auch M.s kirchenrechtliche, teils in Helmstedt, teils postum erschienene Beiträge zum »Kollegialismus«, in denen er, wie damals auch Pfaff, Ansprüche des fürstl. Absolutismus an die Kirche durch die Aufnahme des Sozialvertragsgedankens zu ersetzen suchte u. die Gesamtheit der kirchlich mündigen Gemeindeglieder zur eigentl. Trägerin der Kirchengewalt erklärte. Literatur: Julius August Wagenmann: J. L. v. M. In: ADB. – Johannes Moller: Cimbria literata. Bd. 1, Kopenhagen 1744, S. 447 f. – Johann Stephan Pütter: Versuch einer akadem. GelehrtenGesch. v. der Georg-August-Univ. zu Göttingen. Bd. 1, Gött. 1765, S. 20–24. – Ferdinand Christian Baur: Die Epochen der kirchl. Geschichtsschreibung. Tüb. 1851, S. 128–144. Nachdr. Bad Cannstatt 1962. – Karl Heussi: J. L. M. Ein Beitr. zur Kirchengesch. des achtzehnten Jh. Tüb. 1906. – Martin Peters: Der Bahnbrecher der modernen Predigt. J. L. v. M., in seinen homilet. Anschauungen dargestellt u. gewürdigt. Lpz. 1910. – Klaus Schlaich: Kollegialismus. Die Kirche u. ihr Recht in der Zeit der Aufklärung, Bamberg 1967, S. 216 f. – Klaus-Gunther Wesseling: J. L. M. In: Bautz (Werkverz. u. Lit.). – Gernot Wießner: M. In: NDB. – J. L. M. (1693–1755). Theologie im Spannungsfeld v. Philosophie, Philologie u. Gesch. Hg. Martin Mulsow u. a. Wiesb. 1997. – Jendris Alwast: Gesch. der Theolog. Fakultät an der Christian-AlbrechtsUniv. Kiel 1665–1865. Norderstedt (Books on Demand) 2008. Angelika Alwast / Jendris Alwast
Mossmann, Moßmann, Walter, * 31.8.1941 Karlsruhe. – Liedermacher u. Autor. M. studierte in Freiburg/Br., Tübingen u. Hamburg Germanistik, Politikwissenschaft u. Soziologie. Bereits in den 1960er Jahren machte er sich zur Zeit der Burg-WaldeckFestivals (erste Teilnahme 1965) als Liedermacher einen Namen. 1974–1978 wurde er zum literar. Exponenten des Widerstands der badisch-elsäss. Bürgerinitiativen gegen den Bau des Atomkraftwerks Wyhl, 1980 betei-
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ligte er sich an einer Bohrloch-Besetzung bei Gorleben. M. arbeitet als freier Autor u. Herausgeber; neben Liedern verfasst er v. a. Radio-Features u. Artikel. Von einer Episode in Bremen abgesehen, sind Freiburg/Br. u. der badisch-alemann. Raum das Zentrum seines Lebenszusammenhangs. M. hat für seine Lieder den Begriff »Flugblattlieder« (eine frühe LP von 1975 trägt diesen Titel) geprägt, der sein Selbstverständnis als Künstler widerspiegelt: Es geht M. nicht primär darum, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen u. hohe Verkaufserfolge zu erzielen; wichtig ist ihm, dass seine Lieder (u. seine anderen Arbeiten) möglichst viele Menschen erreichen, informieren u. zum Nachdenken bringen. Inhaltl. Schwerpunkte M.s sind die Gefahr ökolog. Verheerungen (z.B. Die Ballade von Seveso. In: Neue Flugblattlieder, 1978), die Unterdrückung der sog. Dritten Welt (z.B. Unruhiges Requiem für den von Contras in Nicaragua ermordeten Arzt Tonio Pflaum, 1983) u. die Parteinahme für plebej. Befreiungsbewegungen seit der Französischen Revolution. In den letzten Jahren setzt er sich verstärkt mit Osteuropa, bes. mit den Verhältnissen in der Ukraine, auseinander. Neben Liedern zu polit. Themen (wie Berufsverbot oder Emanzipation der Frauen, z.B. Ballade von der unverhofften Last) fallen Lieder auf, die polit. Vorgänge mit »privatem« Alltagsleben, mit Biografien in Verbindung bringen (Rote Fahne ›Solidarität‹; Anna Mack, Sophie Lapierre). Vorbild M.s ist das frz. Chanson (bes. Georges Brassens, Boris Vian), er ist aber auch von Pete Seeger u. Phil Ochs beeinflusst. Mit seinen leicht nachvollziehbaren, manchmal auch im Dialekt gehaltenen, sehr populären Texten zu konkreten polit. Anlässen stellt M. sich in die Tradition der Volkssänger. M. ist auch als Mitarbeiter an Theaterstücken (Hyänen, voilà!, 1989; Heimat. Oper in zwei Akten, 1999), Filmen (Dreyeckland. ARD 1980) u. Textsammlungen (z.B. Alte und neue politische Lieder. Zus. mit Peter Schleuning u. Barbara James. Reinb. 1978) hervorgetreten. Aufgrund einer schweren Krebserkrankung, die seine Singstimme zerstörte, tritt er seit Mitte der 1990er Jahre nicht mehr als Sänger auf.
359 Weitere Werke: Flugblattlieder. Streitschr.en. Bln. 1980 (zus. mit Barbara James u. Peter Schleuning). – Glasbruch 1848. Flugblattlieder u. Dokumente einer zerbrochenen Revolution. Darmst./ Neuwied 1983 (zus. mit B. James). – Der Nasentrompeter. Lieder, Poeme. Mit einem Vorw. v. Matthias Deutschmann. [Bln.] 2007. – Realistisch sein, das Unmögliche verlangen. Wahrheitsgetreu gefälschte Erinnerungen. Bln. 2008 (über die 1960er u. 1970er Jahre). – Tonträger: Frühlingsanfang. 1979. – Hast du noch Hunger. 1981. – Mossmann meets Sophie Lapierre. 1987. – Walter Mossmann. 4 Audio-CDs (2004, mit den wichtigsten Liedern der 1960er, 1970er u. 1980er Jahre). Literatur: Thomas Rothschild: W. M. In: Ders.: Liedermacher. Ffm. 1980, S. 124 f. – Florian Steinbiß: Dt.-Folk. Auf der Suche nach der verlorenen Tradition. Ffm. 1984 (mit ausführl. Diskographie). – Matthias Henke: W. M. In: Ders.: Die großen Chansonniers u. Liedermacher. Düsseld. 1987, S. 148 f. Rolf Schwendter / Red.
Mostar
wortete. Auch im amerikan. Exil, wo seine radikalsten Schriften (u. a. Die Eigentumsbestie. New York 1883. Revolutionäre Kriegswissenschaft. New York [1885]) entstanden, von der Staatsgewalt verfolgt (1887 im Anarchistenprozess von Chicago verurteilt), starb M. vereinsamt; seine Memoiren (4 Bde., New York 1903–07) blieben unvollendet. Ausgaben: Schr.en. 4 Bde., Grafenau 1988–92. – Die Gottespest u. andere religionskrit. Schr.en. Hg. Benno Maidhof-Christig. Bln. 1991. Literatur: Rudolf Rocker: J. M. Das Leben eines Rebellen. Bln. 1924. Neudr. Glashütten/Taunus 1973. – Walter Fähnders: Anarchismus u. Lit. Stgt. 1987. – Heiner M. Becker (Hg.): J. M. Ein unterschätzter Sozialdemokrat. Münster 2006. – Tom Goyens: Beer and Revolution. The German Anarchist Movement in New York City 1880–1914. Urbana 2007. Arno Matschiner / Red.
Mostar, Gerhart Herrmann, eigentl.: Gerhart Herrmann, * 8.9.1901 Gerbitz/AnMost, Johann (Joseph), * 5.2.1846 Augs- halt, † 8.9.1973 München. – Journalist, burg, † 17.3.1906 Cincinnati, Ohio/USA. Erzähler, Satiriker. – Publizist, Lyriker; Sozialist, Anarchist. M., dessen Eltern erst nach der 48er-Revolution die Heiratslizenz erhielten, war gelernter Buchbinder. Insg. zehn Jahre in Haft aufgrund seiner polit. Überzeugungen, dichtete er 1870 im Gefängnis Die Arbeitsmänner (»Wer schafft das Gold zutage / Wer hämmert Erz und Stein?«), an Herwegh angelehnt u. bald ebenso populär wie Audorfs Arbeiter-Marseillaise. 1871 amnestiert, redigierte M. Parteiorgane (u. a. die »Chemnitzer« u. die »Berliner Freie Presse«), war 1874–1878 auch Reichstagsabgeordneter der SPD, gab ein Neuestes Proletarier-Liederbuch (Chemnitz 1871. 5 1875) heraus, popularisierte Marx (Kapital und Arbeit. Chemnitz 1873. Von Marx überarb. 1876. Neudr. Ffm. 1985) u. polemisierte gegen Mommsens bürgerl. Wissenschaft (Die socialen Bewegungen im alten Rom und der Cäsarismus. Bln. 1878). Der mit Sprachwitz u. polem. Ungestüm begnadete Agitator musste unter dem Sozialistengesetz emigrieren. In London, seit 1882 in New York, erschien sein Kampforgan »Die Freiheit« (1879–1906). Der Parteiausschluss 1880 war die Antwort auf die zunehmende Militanz M.s, der eine anarchistisch-kommunist. Einheitsfront befür-
Nach einer Lehrerausbildung u. anschließendem Universitätsstudium wurde der Sohn eines Lehrers 1921 Journalist, u. a. am sozialdemokrat. »Vorwärts«. Nach der Bücherverbrennung, der auch seine eigenen Werke zum Opfer fielen, emigrierte M. nach Österreich, in die Schweiz u. schließlich auf den Balkan. 1945 nach Deutschland zurückgekehrt, wirkte er als Kabarettist, Journalist am SDR u. freier Schriftsteller. Größere Bekanntheit erlangte der bereits vor dem Krieg als Romancier u. Dramatiker hervorgetretene M. durch seine Gerichtsreportagen, aus denen u. a. die Bücher Im Namen des Gesetzes (Hbg. 1950), Prozesse von heute (Stgt. 1950) u. Das Recht auf Güte (Stgt. 1951) hervorgingen. Der Band Unschuldig verurteilt (Stgt. 1956. Ffm. 1990) enthält packend erzählte, dabei kritisch analysierende Reportagen »aus der Chronik der Justizmorde«, die sich leidenschaftlich gegen die Todesstrafe wenden. Psychologisch einfühlsame Darstellungen von »Menschen vor dem Richter« sind gesammelt in Nehmen sie das Urteil an...? (Stgt. 1957) u. Liebe vor Gericht (Stgt. 1961).
Moszkowski
In den 1950er u. 1960er Jahren machte M. sich als Satiriker einen Namen. Seine an das iron. Parlando Kästners erinnernden freundlich-frivolen Vers-Episteln In diesem Sinn [...] wandten sich witzig, doch nicht anzüglich gegen die sexual-feindl. Atmosphäre der Adenauer-Zeit (In diesem Sinne dein Onkel Franz. Stgt. 1956. Ffm. 1991. [...] die Großmama. Stgt. 1958. Ffm. 1991. [...] Ihr Knigge II. Stgt. 1960. Ffm. 1991. [...] wie Salomo. Mchn. 1965). Literarische Kabinettstücke sind seine freien Nachdichtungen von Epigrammen Martials (Frech und frivol nach Römersitte. Mchn. 1966. Ffm. 1992). Auch in seinen histor. Plaudereien (Weltgeschichte höchst privat. Stgt. 1954. Ffm. 1990) u. Unterhaltungsromanen zeigt M. Esprit u. Takt, Sprachwitz u. Eleganz u. erweist sich als Vertreter einer in Deutschland nicht eben häufigen geistreichen Unterhaltungsliteratur. Weitere Werke: Der arme Heinrich. Eine Singfabel. Bln. 1928. – Der Aufruhr der schiefen Calm. Bln. 1929 (R.). – Putsch in Paris. Ffm. 1947 (D.). – Einfache Lieder. Ffm. 1947 (L.). – Die Geburt. Ffm. 1947 (D.). – Meier Helmbrecht. Ffm. 1947 (D.). – Der schwarze Ritter. Bln. 1947 (R.). – Schicksal im Sand. Nürnb. 1949 (R.). – Und schenke uns allen ein fröhl. Herz. Hbg. 1954. Ffm. 1990 (R.). – Bis die Götter vergehen. Eine abendländ. Mythologie. Stgt. 1955. – Richter sind auch Menschen. Heidenheim 1955. – Aberglaube für Verliebte. Stgt. 1955. Ffm. 1991. – Die Arche Mostar. Stgt. 1959. – Herausgeber: Friederike Kempner. Heidenheim 1953. – Das Wein- u. Venusbuch vom Rhein. Bonn 1960. 21991. – Der neue Pitaval. Mchn. 1963 ff. (Ber.-Reihe, hg. mit R. A. Stemmle). – In diesem Sinn Ihr H. M. Bern/Mchn./Wien 1966. Literatur: William Samelson: G. H. M. A Critical Profile. Den Haag 1966. Heinrich Detering / Red.
Moszkowski, Alexander, * 15.1.1851 Pilica (Kongresspolen), † 26. (oder 22./28.?) 9.1934 Berlin. – Humorist, Lyriker, Essayist, Herausgeber. M. entstammte einem wohlhabenden u. gläubigen, aber nicht orthodoxen jüd. Elternhaus. Er wuchs in Breslau u. Dresden auf, legte bereits mit knapp 17 Jahren das Abitur ab, studierte in Berlin u. Heidelberg Mathematik u. verbrachte gemeinsam mit seinem
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drei Jahre jüngeren Bruder, dem Konzertpianisten u. Komponisten Moritz Moszkowski, längere Zeit in der Boheme des Pariser Montmartre. Da er noch während der Studentenzeit mit humorist. Auftritten Erfolg hatte, gab er seine akadem. Pläne auf. M. arbeitete als Musikredakteur u. -kritiker u. als Mitarbeiter der Satirezeitschrift »Berliner Wespen«, bis er 1886 Chefredakteur des neu gegründeten Berliner Humorblattes »Lustige Blätter« wurde. Diesen Posten behielt er bis 1928. 1875 erschien M.s erstes Buch, das humoristische, an Wilhelm Busch geschulte Langgedicht Anton Notenquetscher (Cassel). Die im Laufe des folgenden halben Jahrhunderts veröffentlichten knapp 50 Bücher umfassen ein breites Spektrum. Zum Teil handelt es sich um Sammelbände von zuvor in den »Lustigen Blättern« u. andernorts erschienenen Humoresken, Satiren u. Gedichten. M.s kom. Lyrik (z.B. Das Freibad der Musen. Bln. 1908. Meine verstimmte Flöte. Bln. 1912) ist technisch versiert, oftmals sprachspielerisch originell u. kann z.T. bis heute bestehen, während seine humorist. Prosastücke aus heutiger Sicht häufig langatmig u. antiquiert wirken. Zu Lebzeiten war M. allerdings recht populär, die von ihm herausgegebenen Witzu. Zitatesammlungen erreichten teilweise sechsstellige Verkaufszahlen (Die unsterbliche Kiste. Die 333 besten Witze der Weltliteratur. Bln. 1918). Ab 1910 wandte sich M. in zunehmendem Maße auch ernsthaften Themenbereichen zu wie Geistesgeschichte (Sokrates der Idiot. Eine respektlose Studie. Bln. 1917), Erkenntnistheorie (Der Sprung über den Schatten. Betrachtungen auf Grenzgebieten. Mchn. 1917) u. Sprachbetrachtungen (Das Geheimnis der Sprache. Aus Höhen und Tiefen der Ausdrucksformen. Hbg. u. a. 1920), die er in essayistischem, oft streitbarpolemischem Stil abhandelte. Seine persönl. Freundschaft zu Albert Einstein erlaubte ihm, sein erfolgreichstes Sachbuch zu verfassen (Einstein: Einblicke in seine Gedankenwelt. Gemeinverständliche Betrachtungen über die Relativitätstheorie und ein neues Weltsystem. Hbg. u. a. 1921). Aus der 1884 geschlossenen Ehe M.s mit Bertha Schlesinger ging ein Jahr später sein einziges Kind Richard, ein späte-
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rer Rechtsanwalt, hervor. Nach seinem Tod verblasste M.s literar. Ruhm schnell. Erst 2007 erschien erstmals wieder ein eigener Sammelband mit seinen Texten (Mensch reime dich!, komische Gedichte. Hg. Klaus C. Zehrer. Ffm.). Weitere Werke: Die Kunst in tausend Jahren. Betrachtungen u. Prognosen. Lpz. 1910. – Die Inseln der Weisheit. Gesch. einer abenteuerl. Entdeckungsfahrt. Bln. 1922. – Kinderbuch: Meister Robinson. Bln. 1918 (zus. mit Artur Fürst). – Autobiografie: Das Panorama meines Lebens. Bln. 1925. Klaus Cäsar Zehrer
Motz, Paul, * 29.9.1817 Ritschenhausen bei Meiningen, † 3.5.1904 Meiningen; Gedenktafeln am Geburtshaus in Ritschenhausen u. am Wohnhaus in Dreißigacker. – Mundartdichter.
u. Kultur u. damit verbundene Ernsthaftigkeit durchbrach M. den für andere Mundartdichter typ. Rahmen des Kuriosen u. Folkloristischen. 1877 zog sich M. bei einem Arbeitsunfall einen unheilbaren Körperschaden zu. 1882 beendete er sein Berufsleben u. übersiedelte als Ruheständler nach Dreißigacker. Ab 1887 lebte M. in Meiningen. Die »Motzebüchle« gewannen im ländl. Raum zwischen Rhön, Thüringer Wald u. Grabfeld schnell Popularität. Die Gedichte wurden nicht nur gedruckt, sondern auch handschriftlich vervielfältigt. Häufig kannte man nur die Werke, nicht aber den Verfasser. Noch in der ersten Hälfte des 20. Jh. gehörten sie zum Gemeingut der Bevölkerung in der Region. 1925 erschien in Meiningen eine Gesamtausgabe der drei o.g. Bände, ergänzt durch die Sammlung Gallnäpfel aus dem Nachlass von M. Eine Reprintausgabe davon besorgte 1995 ein Ritschenhäuser Verein.
M. wuchs in einer begüterten Bauernfamilie auf. Der Vater erkannte die geistige RegsamAndreas Seifert keit des Kindes u. schickte es auf das Gymnasium nach Meiningen. Nach dem SchulMoy, Johannes (Graf von), * 12.7.1902 abschluss besuchte M. die Forstakademie Reichenau-Payerbach/Niederösterreich, Dreißigacker bei Meiningen. Es folgten An† 10.5.1995 Anif bei Salzburg. – Kunststellungen als Revierjäger u. Forstgehilfe in historiker; Erzähler u. Essayist. benachbarten Dörfern. 1846 wurde M. nach Veilsdorf bei Hildburghausen versetzt, wo M. ist eine ungewöhnl. Erscheinung in der ihn ein geselliger Kreis Gleichgesinnter zum deutschsprachigen Literaturlandschaft des Verfassen volkstümlich-humoristischer Ge- 20. Jh. Für sein erstes literar. Werk wurde er dichte in Henneberger Mundart anregte. zweimal, im Abstand mehrerer Jahrzehnte 1848 erschien sein erster Gedichtband mit von der Kritik als »Entdeckung« gefeiert u. dem Titel Die Jokesäpfel. Weitere Stationen des erreichte innerhalb kurzer Zeit große Verberuflichen Werdegangs von M. waren die kaufserfolge. Anschließend trat er jedoch Forstämter in Heinersdorf bei Sonneberg, nicht mehr literarisch in Erscheinung u. geHeldburg/Grabfeld, Schmiedefeld/Thüringer riet allgemein in Vergessenheit. Schiefergebirge u. Reichenbach bei Saalfeld. M.s Erzählband Das Kugelspiel erschien 1858 gab M. einen zweiten Band der Jokesäpfel erstmals 1940 im Insel Verlag in Leipzig heraus (Hildburghausen), später (1875?) er- (mehrere Auflagen bis 1947). Auffallend erschien die Sammlung Uhsterglöcklich. Seine schienen an diesem Erstling die novellist. gereimten Gedichte zeichnen sich durch eine Meisterschaft, die Stilsicherheit sowie die schnörkellos-einfache u. mitunter derbe tiefe Menschlichkeit in der Behandlung seiSprache aus. Sie behandeln Ereignisse des ner Themen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, ländl. Alltagslebens, Höhepunkte des Jahres- an dem er aktiv teilnahm, studierte M. kreises, aber auch regionale Überlieferungen. Kunstgeschichte, Geschichte u. Philosophie Im Hinblick auf die Schwächen seiner Zeit- (Dr. phil.), verfasste für verschiedene Studiengenossen (z.B. Alkoholmissbrauch, Waldfre- u. Sammelbände kunstgeschichtliche u. litevel, Egoismus u. Geldheirat) tragen einige rar. Essays, so über Salzburger Barock in der davon auch didaktisch-moralisierende Züge. Festschrift für Hans Sedlmayr (Mchn. 1977) Durch Einbeziehung von Themen aus Politik oder über den von ihm hochverehrten Alex-
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ander Puschkin. 1971 erschienen im Münch- Mozart, Wolfgang Amadeus, Taufnamen: ner Prestel Verlag u. d. T. Als Diplomat am Za- Joannes Chrysostomos Wolfgangus renhof die von M. zu Ende geführten Lebens- Theophilus (Amadeus) M., * 27.1.1756 erinnerungen seines Vaters Carl Graf Moy. Salzburg, † 5.12.1791 Wien. – KompoNachdem sich M. zunächst selbst vergeb- nist. lich um eine Neuauflage des Kugelspiels bemüht hatte, gelang es 1988 auf Anregung von M.s Vater war Hofkapellgeiger, später VicePeter Handke, im Insel-Verlag eine Neuaus- kapellmeister, auch Komponist u. Verfasser gabe herauszubringen (Ffm. 41989). In dieser einer weitverbreiteten Violinschule u. überfehlen zwei Erzählungen aus der Erstausgabe nahm die Ausbildung des Sohnes, sowohl (hierzu Carsten 1998). Erneut wurde der musikalisch als auch in der AllgemeinbilBand begeistert aufgenommen u. erreichte dung, weitgehend selber. Er präsentierte ihn den Spitzenplatz der literar. Bestenliste des als Wunderkind u. unternahm, beginnend Südwestfunks. Im Nachwort spricht Handke 1762 mit Reisen nach München u. Wien, von der »rhythmischen Anmut und Fein- ausgedehnte Tourneen, die bis nach Paris u. gliedrigkeit des Stils«, der »Meisterschaft im London, 1769–1771 auch erstmals nach ItaEntwerfen der Handlungsorte« u. der Tiefe lien führten. 1772 wurde M., seit 1769 uneiner »poetischen Anthropologie«, Qualitä- besoldeter Konzertmeister, fest in die Salzten, die M.s scheinbare Gegenwartsferne wi- burger Hofkapelle aufgenommen, kündigte derlegten. M.s Figuren, meist Kinder, sind aber 1777 für eine Reise nach Paris, mit Staunscheinbar, seinen Szenerien geht alles tionen auch in München u. Mannheim. Die Grandiose ab; doch die Begebenheiten wir- Hoffnung, eine Position zu erlangen, erfüllte ken durch die Art ihrer Darstellung unerhört. sich nicht; M. musste sich mit Salzburg beM. beherrscht »die Form der reinen Erzäh- scheiden u. wurde 1779, zurückgekehrt, zum lung«, wie ein Kritiker schon 1940 schrieb, Hoforganisten ernannt. 1781 nach Wien be»die beinahe nichts bietet als den Vorgang ordert, legte er nach einer heftigen Auseinselbst«. Er zeichnet sich aus durch die Kunst andersetzung mit dem Salzburger Erzbischof der Einfühlung bei gleichzeitig scheuer Dis- sein Amt nieder, nahm fortan hier seinen tanz seinen Figuren gegenüber: Menschen, Wohnsitz u. lebte von Konzertveranstaltundie dem Untergang geweiht scheinen, weil gen, Opernaufträgen u. privater Lehrtätigsie, offen bis zur Selbstaufgabe u. unfähig zu keit. Am 4.8.1782 ehelichte er Constanze jegl. Lüge, für dieses Leben nicht gerüstet Weber. 1787 wurde er in die (nur bescheiden dotierte) Position eines k. u. k. Kammersind. 1995 erschien eine frz. Übersetzung des kompositeurs berufen. Die Symptome, die zu Kugelspiels (Le bilboquet. Übers. v. Pierre Des- seiner Erkrankung im Nov. 1791 führten, husses. Paris), seit 2004 sind M.s Erzählungen sind mehrdeutig. Dass er vergiftet worden auch als Hörbuch erhältlich (2 CDs, gelesen v. sein soll, ist eine Legende; offenbar verstarb er an den Folgen eines rheumat. Fiebers. Peter Simonischek). M.s nachgelassene Bibliothek – vorwieLiteratur: Catarina Carsten: J. Graf M.: Innere Emigration als Lebenshaltung. In: Lit. der ›Inneren gend Reisebeschreibungen, auch Schriften Emigration‹ aus Österr. Hg. Johann Holzer u. Karl für Kinder u. zeitgeschichtl. Literatur aufMüller. Wien 1998, S. 433–438. klärerischer Tendenz – spiegelt nur unvollKlara Obermüller / Christine Henschel kommen seine literar. Interessen wider. Der Überlieferung nach besaß er auch eine Molière-Ausgabe und die Werke von Salomon Geßner; seiner Witwe zufolge las er Shakespeares Dramen in dt. Übersetzungen. Persönlich bekannt war er mit Christoph Martin Wieland u. den Wiener Dichtern Aloys Blumauer, Johann Baptist von Alxinger u. Michael Denis. Die Arbeit an den Opernlibretti
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führte ihn u. a. mit Lorenzo da Ponte u. Emanuel Schikaneder zusammen. M.s Ausspruch, dass bei einer Oper »schlechterdings die Poesie der Musick gehorsame Tochter« sein müsse, muss im Zusammenhang mit der anschließenden Feststellung gesehen werden, wonach eine Oper um so mehr gefallen müsste, »wo der Plan des Stücks gut ausgearbeitet« sei, »die Wörter aber nur blos für die Musick geschrieben sind, und nicht hier und dort einem Elenden Reime zu gefallen« (Brief an den Vater vom 13.10.1781). Bereits bei der für München bestimmten Opera seria Idomeneo (1781) nach einem Libretto des Abbate Giambattista Varesco drängte er in der Korrespondenz mit dem Vater auf dramaturg. Verbesserungen. Auch bei dem Libretto zu Die Entführung aus dem Serail (1782) von Gottlieb Stephanie d.J. nach einer Vorlage von Christoph Friedrich Bretzner hatte er seine Hand im Spiel. Doch wies es Mozart von sich, ein »Dichter« zu sein: »Ich kann nicht Poetisch schreiben; [...] ich kann die redensarten nicht so künstlich eintheilen, daß sie schatten und licht geben; ich bin kein mahler« (Brief an den Vater vom 8.11.1777). Indes spricht er in einem Brief an die Schwester Nannerl von seinem »Poetischen Hirnkasten« (18.8.1784). Tatsächlich wusste er durchaus gewandt mit dem Wort umzugehen u. bewies es nicht nur in seinen zahlreichen Briefen, sondern auch in einigen überlieferten Gedichten, sogar zwei Entwürfen zu Bühnenstücken. Die Reimspiele sind oft in die Briefe eingeschoben oder als Glückwünsche zu Geburts- u. Namenstagen bestimmt. Einige hat M. auch als Kanons vertont. Das Gedicht über den Tod seines Vogels »Star« gibt der »Marterl«-Lyrik einen iron. Touch. Der Witz entzündet sich nicht nur an Personen u. Situationen, sondern auch am Spiel mit dem Wort. Stilbrüche zwischen Pathetik u. Trivialität bis hin zur Fäkalsprache (die »Bäsle«-Briefe!), zwischen Kanzleideutsch und der Mundart machen schmunzeln. Die Klangwerte der Worte werden abgeschmeckt u. fulminante rhythm. Steigerungen erzielt. Oft sind die Glieder einer Gedankenkette auseinandergerissen u. mit komischem Effekt neu geordnet. Die formalen poet. Prozeduren sind ein Spiegel
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von M.s kompositorischem Verfahren: Mit überlegener Dialektik wird das Varianzprinzip bis zu Permutationen hin getrieben, die neue, überraschende Zusammenhänge schaffen. Ein Terzett, in dem Mozart die Suche nach einem »Bandel«, das er seiner Frau geschenkt hatte, thematisiert, zeigt Ansätze zu einer Dramatisierung. Weitergetrieben ist sie in zwei für die Bühne bestimmten, nur als Fragment überlieferten Hanswurstiaden: Der Salzburger Lump in Wien u. Die Liebes-Probe. Möglich, dass M., wohlvertraut mit dem volkstüml. Theater, damit in den Streit um den von den rationalist. Theaterreformern von der Bühne vertriebenen »Hanswurst« eingreifen wollte. Der Salzburger Lump gibt eher nur Anweisungen zum Improvisieren u. ist auf M.s Schüler Franz Jakob Freystädtler gemünzt, den er auch den übermütigen Kanon vom Gaulimauli gewidmet hat. In Die Liebes-Probe treten in einer quasi doppelten Rehabilitierung sowohl der salzburgische Hanswurst als auch der Wiener Kasperl auf. Ausgaben: Neue Ausg. sämtl. Werke. Kassel 1955 ff. – Briefe u. Aufzeichnungen. Gesamtausg. Hg. Wilhelm A. Bauer, Otto Erich Deutsch u. Joseph Heinz Eibl. 7 Bde., Kassel 1962–75. Erw. Ausg. mit Ergänzungen u. einer Einf. v. Ulrich Konrad. Kassel/Mchn. 2005. – Aus dem poet. Hirnkasten. Hg. Gernot Gruber. Wien 2003. – Sämtl. Opernlibretti. Hg. Rudolph Angermüller. Stgt. 22005. Literatur: Bibliografien: Mozart-Jb. 1975 (bis 1970), Suppl. 1978 (bis 1975), 1982 (bis 1980), 1987 (bis 1985), 1992 (bis 1991), 1998 (bis 1995). – Werkverzeichnisse: Ludwig Ritter v. Köchel: Chronologisch-themat. Verz. sämtl. Tonwerke W. Amadé M.s. Lpz. 1862. Neubearbeitung Kassel 61964. 8 1984. – Ulrich Konrad: M.-Werkverz. Kassel 2005. – Weitere Titel: Hermann Abert: W. A. M. 2 Bde., Lpz. 1920. 31955. – Irma Voser-Hoesli: W. A. M. Briefstil eines Musikgenies. Zürich 1948. – Arnold Kühn: M.s humorist. Briefe. Literarhistor. Beiträge zum Verständnis der Briefe u. dichter. Versuche. Saarbr. 1960. – Otto Erich Deutsch: M. Die Dokumente seines Lebens. Kassel 1961. – Wolfgang Hildesheimer: M. Ffm. 1977. – Joseph Heinz Eibl: W. A. M. Chronik seines Lebens. Kassel/Mchn. 2 1977. – Stefan Kunze: M.s Opern. Stgt. 1984. – Rudolph Angermüller: M. Die Opern v. der Uraufführung bis heute. Ffm. 1988. – H. C. Robbins Landon (Hg.): Das M.-Kompendium. Mchn. 1991. –
Much R. Angermüller: M. 1485/86 bis 2003. Daten zu Leben, Werk u. Rezeptionsgesch. der Mozarts. 2 Bde., Tutzing 2004. – U. Konrad: W. Amadé M. Leben, Musik, Werkbestand. Kassel 2005. – Silke Leopold (Hg.): M.-Hdb. Kassel/Stgt. 2005. – Gernot Gruber (Hg.): Das M.-Hdb. 6 Bde., Laaber 2005–07. – Herbert Lachmeyer (Hg.): M. Experiment Aufklärung im Wien des 18. Jh. Essaybd. zur M.-Ausstellung Wien 2006. Ostfildern 2006. – R. Angermüller: W. A. M. Leben u. Werk. Biogr.n, Briefe u. Zeitdokumente, mit aktuellem Köchelverz. DVDROM. Bln. 2007. Fritz Hennenberg
Much, Hans, * 24.3.1880 Zechin/Mark Brandenburg, † 28.11.1932 Hamburg. – Lyriker, Erzähler, Dramatiker, Sachbuchu. Reisebuchautor. Der Mediziner M. war Leiter des Forschungsinstituts für Bakteriologie in Hamburg. Neben medizinischen Schriften widmete er sich in literar. Arbeiten mystischoriental. Themen u. verfasste niederdt. Dramen u. Gedichte. Hauptthema M.s sind Religionsfragen. Als Mitgl. einer wiss. Delegation kam er in den Orient (v. a. Indien) u. begann sich mit östl. Religionen u. ihrer meditativen Praxis auseinanderzusetzen (Buddha. Der Schritt aus der Heimat in die Heimatlosigkeit. Zürich 1914). Er befasste sich auch mit der dt. Mystik (Meister Ekkehart. Ein Roman der deutschen Seele. Dresden 1927) u. entwickelte eine Philosophie der Körperlichkeit (Körper, Seele, Geist. Beitrag zum Hohenlied des Körpers. Lpz. 1931). Auch M.s Mundartdichtung ist geprägt von einer religiös-philosoph. Grundstimmung (To Hus. Hbg. 1917. In’t Kinnerland. Hbg. 1920). Weitere Werke: Boro Budur. Ein Buch der Offenbarung. Hagen 1920. – Niederdt. got. Kunsthandwerk. Braunschw. 1923. – Vom Wesen des Lebens [...]. Lpz. 1924. – Hippokrates der Große. Stgt. 1926. – Das ewige Ägypten. Dresden 1927. 2., erw. u. umgearb. Ausg. u. d. T. Ägypt. Nächte. 1931. – Arzt u. Mensch. Lebensbuch eines Forschers u. Helfers. Dresden 1932. – Vermächtnis. Bekenntnisse v. einem Arzt u. Menschen. Dresden 1933 (postum). Literatur: Gabriele Winkler: H. M. (1880–1932) als schöngeistiger Schriftsteller, dargestellt am Beispiel seines ›Meister Ekkehart‹. Diss. Mchn. 1989. – Rainer Wirtz: Leben u. Werk des
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Müchler, Johann Georg, * 23.9.1724 Drechow/Schwedisch-Pommern, † 9.8.1819 Berlin. – Übersetzer, Publizist; Pädagoge. Nach einem Studium an der Universität Greifswald (1743–1746ca.) verdiente M. seinen Lebensunterhalt als Hauslehrer u. Erzieher, bis er 1750 in Berlin eine Anstellung am Gymnasium zum Grauen Kloster erhielt. 1759 folgte er einem Ruf an das Collegium Groeningianum in Stargard; dort unterrichtete er Latein u. Französisch. Schließlich zog er sich zu Privatstudien zurück (1773). Wohl auf Vermittlung seines lebenslangen Gönners Johann Joachim Spalding wurde ihm dann die Leitung des Schindlerischen Waisenhauses in Berlin übergeben (1784–1800). Daneben war er seit 1785 Professor der lat. Sprache an der Militärakademie. Auf eigenen Wunsch wurde er 1801 pensioniert. M. ist der Vater Karl Friedrich Müchlers. Neben auflagenstarken Schullesebüchern für Englisch, Französisch u. Italienisch verfertigte M. zahlreiche Übersetzungen, u. a. Die Geschichte und Briefe Abelards und der Eloise (Bln./Potsdam 1755) von Pope u. La Henriade (Bln. o. J. [1799]. Bln. 1825) von Voltaire. Vornehmlich seine Übertragung einiger Aufsätze des engl. Philologen James Harris beeinflusste ex negativo M.s Freunde Lessing u. Mendelssohn (Drey Abhandlungen, die erste ueber die Kunst, die andere ueber die Musik, Malerey und Poesie, die dritte ueber die Glueckseligkeit. Bln. 1756). Auch edierte M. Mendelssohns kleine philosophische Schriften, mit einer Skizze seines Lebens und Characters (Bln. 1789) u. ein fast vergessenes Gedicht von Tommaso Ceva (Jesus puer poema Th. Cevae. Bln. 1797. Jesus in seiner Jugend. Bln. 1791). Seine eigene Produktion galt eher Tagesthemen (Merkwürdigkeiten August Wilhelms, Prinzens von Preussen. Ffm./Lpz. 1758. Geschichte des Elephanten. Bln. 1777. Neudr. 1978) oder pädagog. Zwecken (Unterricht für die Ju-
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gend beiderlei Geschlechts von 3–14 Jahren. Lpz. 1767). Darüber hinaus verfasste M. fiktive Briefsammlungen (Ermahnung der Todten, in Briefen an die Lebendigen. Bln. 1756. Briefe von Sir Georg R. – an seinen Freund Sir Carl B. – über die Bayerschen Angelegenheiten. Bln. 1778) u. gab diverse Zeitschriften heraus (»Die Musterung. Eine Pommersche Wochenschrift«. Stargard o. J. »Chamäleon. Eine Wochenschrift«. Bln. 1756). Literatur: Daniel Jacoby: M. In: ADB. Gerda Riedl / Red.
Müchler, Karl Friedrich, * 2.9.1764 Stargard/Pommern, † 12.1.1857 Berlin. – Unterhaltungsschriftsteller. Das gelehrte Berlin von 1825 bzw. 1845 nennt M. als Autor oder Herausgeber von über 100 Titeln. Was anfangs mehr eine Nebenbeschäftigung war, sollte in der zweiten Lebenshälfte zum Beruf werden. M. musste nach der Niederlage Preußens 1806 sein Brot durch Schriftstellerei verdienen. Nach dem Jurastudium in Berlin hatte er ab 1785 verschiedene Verwaltungsposten inne (1794 zum Kriegsrat ernannt). Neben seiner jurist. Kompetenz dürfte auch seine entschieden preuß. Gesinnung (Ein Wort im Vertrauen an Peter Hammer in Cölln. Bln. 1807. Beiträge im 4. u. 5. H. von »Rußlands Triumph«, Bln. 1813) u. seine patriot. Lyrik (Kriegslieder. Dem Preußischen Heer gewidmet. Bln. 1806. Gedichte, niedergelegt auf dem Altar des Vaterlandes. Bln. 1813, darin das verbreitete Gedicht von 1806, Der Eroberer: »Mag die Welt in thörichtem Erstaunen [...]«) dazu beigetragen haben, dass er 1814 zum Leiter der »Kriegs- und hohen Sicherheitspolizei« beim Generalgouvernement in Dresden berufen wurde (1815 Merseburg). Dass sein Patriotismus wenig mit den Bestrebungen der jungen Nationalbewegung gemeinsam hatte, belegt u. a. die von ihm redigierte Zeitschrift »Das erwachte Europa« (Bln. 1814), in der er geschickt die Wende in Preußens Frankreichpolitik mitvollzog. Sein anonym erschienenes Pamphlet Rechtfertigung des aus Königl. Sächs. in Preuss. Dienste übergetretenen ** Rathes N. (1815. Neudr. Czygan, Bd. 2,2, 1910, S. 286–292) führte Ende 1815 zur Amtsenthebung. Der preuß.
Beamte M. verdächtigt in dieser prosächs. Schrift die in den preuß. Staatsdienst (Hzgt. Sachsen) übergetretenen sächs. Beamten, politisch unzuverlässig zu sein. Damit unterlief er Hardenbergs Bemühungen, die neu gewonnenen Untertanen zu integrieren. Vom Zaren erhielt M. von Nov. 1814 bis zu seinem Tod eine jährl. Pension von 100 Dukaten. Zwischen M.s staatsfrommer Haltung (vgl. Ueber Volks-Despotismus. Bln., Lpz. 1793) u. seinem literar. Schaffen besteht ein enger Zusammenhang. Dichtung ist für ihn Bestandteil einer bürgerl. Feierabendkultur, poetischer Zierat geselligen Lebens (Polterabende. Ein Taschenbuch für Freunde des geselligen Vergnügens. Bln. 1798. Quodlibet für Freunde einer unterhaltenden Lektüre. Bln. 1811. Momus. Taschenbuch zur Aufheiterung. Bln. [1818 oder 1819]). Sein Anspruch, den Menschen aus Tatsachen studieren zu wollen, lieferte die Legitimation im Sinne der Aufklärung. Daher dominieren Anekdote, verstanden als Menschenkunde durch wahre Begebenheiten (Anekdotenlexikon. Bln. 1783/84. Suppl. 1785. Vermehrt 1817. Anekdotenalmanach. 35 Bde., Bln. 1808–13, 1815, 1817–45. Anekdoten zur Charakteristik des Zeitgeistes. Bln. 1818/19), Denkspruch u. Scherz sowie andere Formen witzig-belehrender Unterhaltung (Rätsel, Charaden und epigrammatische Scherze. Bln. 1811. Scherzhafte Denksprüche. Zum Gebrauch für Stammbücher. Bln. 1817). Auch die Anthologien mit Auszügen aus den Werken älterer u. jüngerer Autoren belegen, dass sich Literatur für M. auf eine einsinnig verstandene Lebensverschönerung bzw. auf prakt. Lebenshilfe reduzierte (Vergißmeinnicht. Bln. 1808/ 09. Das Stammbuch. Bln. 1814. Schatzkästlein für deutsche Jünglinge. Lehren der Tugend [...] von den vorzüglichsten deutschen Schriftstellern. Bln. 1818. Gedenke mein! Bln. 1828). Sein Literaturverständnis machte es ihm leicht, sich den Bemühungen der spätaufklärer. Bildungsbewegung um die Frauen anzuschließen (Taschenbuch für Frauenzimmer. Bln. 1779–84. Taschenbuch für edle deutsche Frauen. Lpz. 1801). Nur wo M. eigene Lebenserfahrungen verarbeitet, wie in seiner Lyrik (Gedichte. Bln. 1782. 1786. 1802) oder in den dokumentar. Verbrecherporträts (Criminal-Geschichten aus gerichtlichen Akten gezogen. Bln. 1792. Kriminal-
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geschichten. Ein Beitrag zur Erfahrungsseelenkunde. Bln. 1828–32), wenn er den sozialgeschichtl. Ursachen der Verbrechen nachspürt, kommt er aufklärerischen Intentionen nahe, wie sie von Karl Philipp Moritz u. Christian Heinrich Spieß verfolgt worden waren. M.s Werk ist repräsentativ für die Kontinuität der Aufklärung im 19. Jh. bzw. für die aufklärerischen Wurzeln biedermeierl. Literatur. Doch was einst als Organ der Selbstverständigung bürgerl. Privatleute diente, wird nun – wie M.s Erzählprosa belegt – durch Pädagogisierung staatstragend. M.s Rückgriff auf die Fabel sowie die Neigung, sein Publikum bei der Jugend zu suchen, sind Bestandteil eines Prozesses, bei dem der moralische Endzweck aufklärerischer Literatur in Familie u. Staat zusammenzwingende Erziehungsmaximen umgedeutet wird (Sittenbilder in Fabeln und Erzählungen für die Jugend. Bln. 1829. Otto und Sophie. 12 [...] Erzählungen zur sittlichen und geistigen Bildung der Kinder [...]. Bln. 1834). Weitere Werke: K. F. M. In: Kosch (umfangreiches, aber nicht vollst. Werkverz.). Literatur: Paul Czygan: Zur Gesch. der Tageslit. während der Freiheitskriege. Lpz. 1909–11. – Ernst Weber: Die Lyrik der Befreiungskriege (1812–15). Stgt. 1991. Ernst Weber
Mügeln, Heinrich von ! Heinrich von Mügeln Mügge, Theodor, * 8.11.1806 Berlin, † 18.2.1861 Berlin; Grabstätte: ebd., Friedhof der Jerusalems- u. Neuen Kirche. – Romancier, Reiseschriftsteller, Journalist.
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seine Einstellung in den Staatsdienst; Verfolgungen trug ihm auch die Broschüre Die Censurverhältnisse in Preußen (Lpz. 1845) ein. M. war 1848 an der Gründung der Berliner »Nationalzeitung« beteiligt, deren Feuilleton er bis in die frühen 1850er Jahre redigierte. Seine zahlreichen Erzählungen u. Novellen wurden zunächst in Zeitschriften u. Almanachen, dann in Sammlungen veröffentlicht; mit ihnen u. vielen mehrbändigen Romanen gehörte er zu den beliebten Leihbibliotheksautoren der Zeit. Die Anregungen zahlreicher Reisen gingen in Erzählungen ein (z.B. Ein Spanier in London. In: Novellen und Skizzen. Bln. 1838), wurden aber auch zu umfängl. Reisebüchern (v. a. über Skandinavien) ausgearbeitet. M.s belletrist. Texte verarbeiten histor. u. exotische Gegenstände (z.B. Toussaint. Stgt. 1840; über den Aufstand der Schwarzen in Haiti), v. a. aber auch Konflikte u. Kriminalität in der »guten Gesellschaft« (z.B. Der Majoratsherr. Bln. 1853). Die im allgemeinen freundl. zeitgenöss. Kritik nahm erst in den 1850er Jahren Anstoß an M.s fantasievoller Handlungskonstruktion u. liberaler Einstellung. Weitere Werke: Frankreich u. die letzten Bourbonen. [...]. Bln. 1831. – Der Chevalier [...]. Lpz. 1835 (R.). – Die Vendéerin. Bln. 1836 (R.). – Skizzen aus dem Norden. 2 Bde., Hann. 1844. – Streifzüge in Schleswig-Holstein. 2 Bde., Ffm. 1846. – Die Schweiz u. ihre Zustände. 3 Bde., Hann. 1847 (Reiseber.). – Der Vogt v. Sylt. Bln. 1851 (R.). – Afraja. Ffm. 1854 (R.). – Erich Randal. Ffm. 1856 (R.). – Bilder aus Norwegen. Bln. 1858. Literatur: Julian Schmidt: Neue Dt. Romane. In: Grenzboten 12,2 (1853), S. 121–128. – Friedrich Winterscheidt: Dt. Unterhaltungslit. [...]. Bonn 1970. – Erich Kunze: T. M.s Roman ›Erich Randal‹ u. die finn. Volksdichtung. In: Ders.: Deutsch-finn. Literaturbeziehungen. Helsinki 1986, S. 47–55. – Wolfgang Griep: Die Revolution v. Saint Domingue als ethnograph. Erzählstoff: T. M.s ›Toussaint‹. Galerie der Welt. Hg. Anselm Maler. Stgt. 1988, S. 33–47. Joachim Linder / Red.
M. absolvierte nach dem frühen Tod des Vaters zunächst eine Kaufmannsausbildung, besuchte dann die Artillerieschule in Erfurt, brach die Offizierslaufbahn ab u. wollte sich 1825 den peruan. Freiheitskämpfern unter Bolívar anschließen. Er kam bis London, musste seinen Plan aufgeben u. kehrte über Mühl, Karl Otto, * 16.2.1923 Nürnberg. – Paris nach Berlin zurück, wo er Geschichte, Dramatiker, Hörspiel- u. FernsehfilmauPhilosophie u. Naturwissenschaften studiertor, Novellist. te. Frühe Veröffentlichungen über polit. Reformen in England u. Frankreich brachten M., Sohn eines Werkmeisters, wuchs in Konflikte mit der Zensur u. verhinderten Nürnberg u. ab 1929 in Wuppertal auf, wo er
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Mühlbach
im Anschluss an die Realschule 1939–1941 strophen im Berufs- u. Privatleben von Areine kaufmänn. Lehre absolvierte. Nach beitern u. Angestellten zu schildern. Die Kriegsdienst (1941–1943 als Fallschirmjäger Sprache der Figuren ist reduziert, diese selbst in Afrika) u. Kriegsgefangenschaft (in Ägyp- unterliegen Selbsttäuschungen u. der Beten, Südafrika, USA u. England) kehrte er schränktheit ihres kleinbürgerl. Milieus. M. 1947 nach Wuppertal zurück, holte das Ab- gehörte mit Franz Xaver Kroetz u. Martin itur nach u. arbeitete dort seitdem als Werbe- Sperr zu den wichtigsten Autoren des neuen u. Verkaufsleiter u. als Exportkaufmann bei Alltagsrealismus im Theater der 1970er Jahverschiedenen Maschinenherstellern u. Me- re. tallwarenfabriken. Weitere Werke: Wanderlust. Urauff. Bochum Obwohl M. bereits in den 1940er Jahren 1977 (D.). – Hoffmanns Geschenke. Urauff. Boeinige Gedichte, Szenen u. Erzählungen ver- chum 1978 (D.). SDR/SFB 1978 (Hörsp.). – Geh aus, öffentlicht hatte (seit dieser Zeit ist er mit mein Herz... WDR/SFB 1978 (Hörsp.). – Grabrede Tankred Dorst befreundet), wurde er erst 50- auf Siephacke. NDR 1978 (Hörsp.). – Kur in Trajährig durch sein Theaterstück Rheinpromena- vemünde. ARD 1979 (Fernsehfilm). – Tanzstunde. SR 1979 (Hörsp.). – Morgenluft. RB/NDR 1980 de (Urauff. Wuppertal 1973. Gedr. Bln. 1974) (Hörsp.). – Kellermanns Prozeß. Urauff. Nürnb. bekannt; es wurde mehr als 60-mal inszeniert 1982 (D.). WDR u.a. 1980 (Hörsp.). – Zu kurz die u. in einige Sprachen u. Dialekte übersetzt. Es Zeit auf Kreta. WDR 1983 (Hörsp.). – Fernlicht. folgten weitere, ebenfalls erfolgreiche Stücke, Wuppertal 1997 (R.). – Inmitten der Rätsel. Wupdarunter Rosenmontag (Urauff. Essen 1975. pertal 2002 (G.e). – Hungrige Könige. Wuppertal Gedr. Bln. 1974. Fernsehfassung 1974), Kur in 2005 (R.). Matías Martínez / Michael Töteberg Bad Wiessee (Urauff. Wuppertal 1976. Unvollst. gedr. Wuppertal 1977) u. die Komödie Mühlbach, Louise, eigentl.: Clara Mundt, Die Reise der alten Männer (Urauff. Wuppertal geb. Müller, * 2.1.1814 Neubrandenburg/ 1980. Gedr. Ffm. 1980). Als sich das Theater Mecklenburg, † 26.9.1873 Berlin. – Vervom krit. Volksstück wieder abwandte, wurfasserin sozialkritischer u. historischer den die Inszenierungen seltener – Am Abend Romane u. Novellen, Autorin von Reisekommt Crispin (Urauff. Münster 1988), Verbriefen. bindlichen Dank (Urauff. Ingolstadt 1994) –, schließlich schrieb M. Auftragswerke für das Durch das großbürgerl. Elternhaus gefördert, Theater seiner Heimatstadt: Ein Neger zum Tee schloss sich M. in den 1830er Jahren den (Urauff. Wuppertal 1995), Das Privileg (Urauff. jungdt. Schriftstellern an. Ihr Frühwerk proWuppertal 2001). pagiert die Emanzipation der ProtagonistinDie meisten seiner Stücke arbeitete M. auch nen, wobei frühfeminist. Forderungen in zu Hörspielen um; das Hörspiel Fremder Gast Konflikt treten mit traditionellen Weiblich(WDR 1988) erweiterte er zum Theaterstück keitsvorstellungen. Die Romantetralogie (Urauff. Göttingen 1995). Zahlreiche seiner Frauenschicksal (Altona 1839) handelt vom Theatertexte dienten als Vorlage zu Fernseh- Aufstieg eines einfachen Mädchens vom filmen. Außerdem schrieb er mehrere Ro- Lande u. enthält außerdem die Biografien mane: Siebenschläfer (Darmst./Neuwied 1975), einer bürgerl. Gattin, einer Künstlerin u. eidie autobiogr. Geschichte einer Angestell- ner adligen Frau. Wiederholt behandelt M. tenkarriere in den Jahren zwischen 1947 u. Urbanisierungsprobleme, so in Bunte Welt 1957, deren Vorgeschichte (Kindheit u. Ju- (Stgt. 1841) oder in Glück und Geld (Altona gend, Kriegdienst u. Heimkehr) er in Nackte 1842), ein Roman, der Ausbeutung u. Armut, Hunde (Wuppertal 2005) erzählt. Trumpeners Kinderarbeit, Alkoholismus u. andere ForIrrtum (Darmst./Neuwied 1981. Fernsehfilm men frühkapitalist. Elends beschreibt. An1988) schildert die Geschichte eines EDV- ders als die Autoren des Poetischen Realismus Abteilungsleiters, der aus seinem Betrieb verschließt M. nicht die Augen vor dem Leben »wegrationalisiert« wird. der Deklassierten, ihre Stadtromane sind M. verwendet die offene Form locker an- differenziert u. genau. In Gisela (Altona 1845) einandergereihter Szenen, um Nöte u. Kata- entwirft sie »ein Exempel des freien Weibes«
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u. illustriert, wie diese entschiedene Vertre- fast vergessen; eine Bibliografie gibt es nicht. terin der Aufklärung mit der Gesellschaft in Lediglich im Kontext der Reiseliteratur u. Konflikt gerät. M.s eigene Ehe – sie war seit neuerlich auch aus postkolonialer Sicht fan1839 mit Theodor Mundt verheiratet – galt den einzelne Werke Beachtung. als harmonisch, denn der liberal-demokrat. Weitere Werke: Erste u. letzte Liebe. Altona Ehemann unterstützte die literar. Ambitio- 1838. – Eva. Ein Roman aus Berlins Gegenwart. nen seiner Frau. Ihr Salon in Berlin war Bln. 1844. – Friedrich der Große u. sein Hof. Bln. Treffpunkt vieler Künstler u. Intellektueller. 1853. – Kaiser Joseph II u. sein Hof. Bln. 1857. – M.s bekanntester Roman, Aphra Behn (Bln. Kaiserin Josephine. Ein Napoleonisches Lebens1849), ist eine fiktionalisierte Lebensbe- bild. Bln. 1861. – Marie Antoinette u. ihr Sohn. Jena 1867. – Mohammed Ali u. sein Haus. Jena 1871. schreibung der ersten professionellen Literatur: Renate Möhrmann: Die andere Frau. Schriftstellerin Englands. Vor der Folie hisEmanzipationsansätze dt. Schriftstellerinnen im tor. Realität kritisiert M. den Absolutismus u. Vorfeld der Achtundvierziger-Revolution. Stgt. versucht eine libertäre Umwertung ihrer 1977. – Lieselotte E. Kurth-Voigt u. William H. Hauptfiguren, indem sie Behns kurzen Ro- McClain: L. M.’s Historical Novels: The American man Oroonoko, or the Royal Slave (1688) zu einer Reception. In: IASL 6 (1981), S. 52–77. – Cornelia Liebesgeschichte zwischen Aphra u. dem Tönnesen: Die Vormärz-Autorin L. M.: vom soziSklaven umarbeitet. Diese Sentimentalisie- alkrit. Frühwerk zum histor. Roman. Neuss 1997. – rung relativiert M.s Kritik als idealistisch. Sie Judith E. Martin: ›Oroonoko‹ in Nineteenth-Censpricht hier aus der überlegenen Position der tury Germany: Race and Gender in L. M.’s ›Aphra Europäerin, die sie auch in ihren späteren Behn‹. In: GLL 56, H. 4 (2003), S. 313–326. Carola Hilmes Reisebriefen aus Ägypten (Jena 1871) beibehält. Die Mehrzahl der histor. Romane von M. beschäftigt sich mit der deutschen u. österr. Mühlberger, Josef, * 3.4.1903 Trautenau Geschichte des 18. u. 19. Jh., wobei oft be(Trutnov)/Böhmen, † 2.7.1985 Eislingen/ rühmte Frauen u. ihre unterschiedl. Rollen Fils; Grabstätte: ebd. – Epiker, Dramatiakzentuiert werden. Um »die Geschichte zu ker, Lyriker, Kritiker, Literaturhistoriker, illustrieren, sie populär zu machen«, wie M. Übersetzer. im Vorwort zu Deutschland in Sturm und Drang (Jena 1867) schreibt, arbeitete sie sich in die Aufgewachsen in der Spätzeit der habsburg. histor. Materie ein. Neben dem Informations- Monarchie, wurde der Sohn eines dt. Vaters u. u. Unterhaltungswert war M. bes. die einer tschech. Mutter in der Zwischenkriegsmenschlich emotionale Seite der Geschichte zeit zu einer Persönlichkeit im kulturellen wichtig. Diesem Ziel dienten Dramatisierung Leben der Tschechoslowakischen Republik. u. Psychologisierung in ihren Romanen. Nach dem Studium der LiteraturwissenM. war mit ihrem umfangreichen Werk schaften in Prag u. ersten Gedichtsammluneine der großen Erfolgsautorinnen des 19. gen (Das schwarze Buch. Balladen um den ReiterJh., ihre histor. Romane erreichten mehrere general Spork. Kukus 1925. Gedichte. TeplitzAuflagen u. wurden auch ins Englische Schönau 1926) gab M. 1928–1931 zus. mit übersetzt. Während die Literaturkritik des Johannes Stauda die Zeitschrift »Witiko« jungen Deutschland das sozialkrit. Frühwerk heraus, in der Franz Werfel, Ernst Weiß u. M.s noch recht günstig beurteilte, wurde es Max Brod ebenso publizierten wie nationaansonsten als unsittlich u. unweiblich abge- listische sudetendt. Autoren. Der Insel Verlag lehnt. Ab 1850 wurde M. dann als Viel- veröffentlichte 1934 M.s Novelle Die Knaben schreiberin abgewertet; der histor. Roman als und der Fluß u. das Schauspiel Wallenstein beliebtes u. finanziell einträgl. Genre wurde (Urauff. Prag 1936). Durch sein politisch der Unterhaltungsliteratur zugerechnet u. so taktierendes Verhalten nach der Machtüberdeklassiert. Erst in den 1970er Jahren wurde nahme Hitlers in Deutschland hat M. dann M. von der feminist. Literaturwissenschaft »sein Selbstverständnis nahezu vollständig wieder entdeckt u. als eine wichtige Autorin aufs Spiel gesetzt und verloren« (Peter Bedes Vormärz gewürdigt. Ihr Werk ist heute cher). Nach dem Zweiten Weltkrieg, an dem
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Mühlenlied
er als Freiwilliger teilgenommen hatte, ließ (Geistliches) Mühlenlied, zweite Hälfte sich M. in Baden-Württemberg nieder u. ar- des 15. Jh. – Spätmittelalterliches allegobeitete für die »Schwäbische Donau Zei- risches Weihnachtslied. tung«, die »Neue Württembergische Zeitung« u. für den Rundfunk. M.s Hinterlas- In Anknüpfung an Mt 24, 41 (Lk 17, 35) senschaft zählt über 100 Bücher, darunter existieren seit dem 12. Jh. bildl. Darstelluneine Tschechische Literaturgeschichte. Von den gen zweier mahlender Frauen, deren eine in Anfängen bis zur Gegenwart (Mchn. 1970) u. eine den Himmel aufgenommen, die andere abGeschichte der deutschen Literatur in Böhmen gewiesen wird. Seit dem 15. Jh. wurde die Mühle ikonografisch, bes. in Deutschland, 1900–1939 (Mchn. 1981). zunehmend auf die Menschwerdung Christi Weitere Werke: Hus im Konzil. Bln. 1931 (R.). u. die Eucharistie (s. Joh 6, 51) bezogen – so – Pastorale. Gesch. u. Gesch.n eines Sommers. Esslingen 1950. – Das Paradies des Herzens. Eine auch in den von der zweiten JahrhundertKindheit in Böhmen. Mchn. 1959. 1982. – Adalbert hälfte an bezeugten Versionen eines niederStifter. Bad Wörishofen 1949 (Biogr.). – Bogumil. deutsch abgefassten myst. Liedes, das fast Das schuldlose Leben u. schlimme Ende des Edvard ohne zeitl. Verzögerung auch hochdeutsch Klima. Mchn. 1980 (R.). – E.en aus dem Nachl. Hg. verbreitet wurde. Die Fassungen – erhalten Kunstverein Eislingen. Eislingen 1995. – Gedichte sind je fünf niederdeutsche u. hochdeutsche aus dem Nachl. Hg. Kunstverein Eislingen. Eislin- sowie eine niederländische – variieren in gen 1995. – Ausgew. Werke I u. II. Hg. Frank LoStrophenbestand (zwischen 22 u. 26 à fünf thar Kroll. Bonn 2004. – Besuch bei Kafka: Schr.en Verse) u. -anordnung, zeigen aber insg. relativ v. J. M. zu Franz Kafka, 1928–78. Ausgew. u. eingel. v. Susanne Lange-Greve. Schwäbisch Gmünd hohe Übereinstimmung. Das Lied setzt ein mit der Absicht des 2005. Literatur: Dominique Pierron: M.-Bibliogr. u. sprechenden Ich, eine Mühle zu bauen aus La domination nazie dans l’œuvre de J. M. Diss. Zedern, Zypressen, Palmen u. Oliven, den Nancy 1979. – Peter Becher (Hg.): J. M. Beiträge des vier Hölzern des Hl. Kreuzes – eine Absicht, Münchner Kolloquiums. Mchn. 1989. – Michael die dann wie in der zeitgenöss. Ikonografie Berger: J. M., 1903–85. Sein Leben u. Prosaschaffen »Helfern« übertragen wird: Moses als Verbis 1939. Bln. 1990. – Rudolf Ohlbaum: Der Dich- treter des AT u. der Hl. Geist im Zeichen des ter u. Schriftsteller J. M. In: Flucht u. Vertreibung NT sollen sich um die Mühlsteine kümmern, in der Lit. nach 1945. Hg. Frank-Lothar Kroll. Bln. Hieronymus, Gregorius, Ambrosius u. Au1997, S. 33–54. – Tina Stroheker: Mein Kapitel M. gustinus als Mahlknechte dienen, die vier Erinnerungen an einen Autor. Mit einem Werkverz. Eislingen 1999. – Ludvík Václavek: Das Werk J. Paradiesesströme das Rad antreiben. Die vier M.s aus den Jahren 1925–36. In: Beiträge zur Evangelisten vollziehen den Mahlvorgang als deutschsprachigen Lit. in Tschechien. Hg. Lucy Allegorie auf Geburt, Tod u. Auferstehung Topolská. Olomouc 2000, S. 317–346. – F. L. Kroll: Christi; die Wartung der Mühle wird Papst, Ein dt. Dichter aus Böhmen: J. M. In: Gute Nach- Kaiser u. Predigern ans Herz gelegt; die Bitte barn – schlechte Nachbarn. Hg. Elke Mehnert. um das Seelenheil des Verfassers führt wieder Chemnitz 2001, S. 108–123. – Susanne Lange- auf die Sprecherposition des Anfangs zurück. Greve: Leben an Grenzen: J. M. 1903–85. SchwäDer Text zeigt zwar Anklänge an Erkläbisch Gmünd 2003. – Jozo Dzambo: M.s Süden. rungen des Messopfers, kann aber den ChaZum ›Tagebuch der Fahrt nach Südslavien (Sommer 1930)‹ v. J. M. In: Stifter-Jb. 18 (2004), rakter eines Weihnachtsliedes, der durch S. 163–195. – E. Mehnert: ›Der Galgen im Wein- Überschriften in zwei Versionen bestätigt berg‹. Flucht u. Vertreibung bei J. M. In: Dies.: Ost- wird, nicht verleugnen. Die Überlieferung in westl. Spiegelungen: Beiträge zur dt. Lit. des 20. Jh. Liederbüchern (z.B. Wienhäuser Liederbuch), die Bln. 2005, S. 105–113. – S. Lange-Greve: Winter- aus Männer- u. Frauenklöstern stammen, ersaat: J. M. als Übersetzer. Schwäbisch Gmünd 2006. weist das M., dem andere Ausformungen des Herbert Ohrlinger / Red. Mühlenmotivs (etwa bei Muskatblut u. Laufenberg) zur Seite zu stellen sind, als »Konventikellied« von offensichtlich großer Beliebtheit.
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Ausgaben: Ulrich Steinmann: Das mittelniederdt. M. In: Nd. Jb. 56/57 (1930/31), S. 60–110. – Eva Kiepe-Willms: Zum g. M. In: ZfdA 105 (1976), S. 204–209. Literatur: Steinmann 1930/31 (s. o.). – Johannes Janota: Studien zu Funktion u. Typus des dt. geistl. Liedes im MA. Mchn. 1967. – A. Thomas: (Myst.) Mühle. In: Lexikon der christl. Ikonographie 3 (1971), Sp. 297–299. – Eva Kiepe-Willms: G. M. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). Christian Kiening / Red.
Mühlestein, Hans, * 15.3.1887 Biel, † 25.5.1969 Zürich. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker, Essayist; Etruskologe.
M.s erfolgreichstes literar. Werk war der Roman Aurora. Das Antlitz der kommenden Dinge (Zürich 1935), eine Art polit. Kriminalroman, der einen spektakulären Madrider Justizfall mit dem gegen die republikan. Regierung gerichteten Aufstand der astur. Bergarbeiter vom Okt. 1934 verbindet. Bedeutender als dieser heterogene Text waren M.s zweite, zus. mit Georg Schmidt erarbeitete HodlerBiografie (Ferdinand Hodler. 1853–1918. Sein Leben und sein Werk. Erlenbach 1942. Zürich 1983), die einer modernen, unchauvinist. Hodler-Interpretation wertvolle Impulse vermittelte, u. sein unorthodoxer, »Geschichte von unten« betreibender histor. Roman Der grosse schweizerische Bauernkrieg 1653 (Celerina 1942. Zürich 1977). Der Nachlass befindet sich in der Zentralbibliothek Zürich.
Nach dem Gymnasium in Biel u. der Lehrerausbildung in Hofwil u. Bern arbeitete der Uhrmachersohn als Journalist u. wurde in einer Rezension seines Erstlings Ein Buch Gedichte (Bern 1906) begeistert als literar. HoffWeitere Werke: Kosm. Liebe. Mchn. 1914 (L.). nung begrüßt u. mit dem Preis der Schwei- – Europ. Reformation. Lpz. 1919 (Ess.). – Die Gezerischen Schillerstiftung gewürdigt. Ab burt des Abendlandes. Potsdam/Zürich 1928 (Ess.). 1907 studierte M. in Zürich, Jena, Berlin, – Die Kunst der Etrusker. Bln. 1929 (Ess.). – Der Göttingen u. Frankfurt/M. Geschichte u. Diktator u. der Tod. Celerina 1933 (D.). – Menschen Philosophie, promovierte aber erst 1928 in ohne Gott. Zürich 1934 (Urauff. Basel 1932). Neudr. in: Kein einig Volk. Fünf schweizer. ZeitZürich mit einer Dissertation über etrusk. stücke, 1933–45. Hg. Ursula Käser-Leisibach u. Kunst. Hatte er noch in Deutschlands Sendung Martin Stern. Bern/Stgt./Wien 1993, S. 331–456. – (Weimar 1914) bzw. Ferdinand Hodler. Ein Spanien u. wir. Die Schweiz u. Europa. Basel 1937 Deutungsversuch (Weimar 1915) für einen ras- (Rede). – Stella oder Zehn Minuten vor Zwölf. Züsistischen dt. Imperialismus plädiert, so rich 1937 (D.). – Courbet oder Die Säule schwankt. wandte er sich während des Kriegs unter dem Celerina 1945 (D.). – Geist u. Politik. Romain RolEinfluss des Philosophen Leonard Nelson lands polit. Sendung. Zürich 1945 (Rede). – Die zunehmend einem aktivistischen linken Pa- Goldbarren. Celerina 1946 (D.). – Die verhüllten zifismus zu. Während der NS-Zeit war M., Götter. Mchn. 1957. Neuausg. Biel 1981 (Ess.). – der 1929–1932 einen Lehrauftrag für Kul- Die Etrusker im Spiegel ihrer Kunst. Bln. 1969 (Ess.). – Herausgeber: J. W. Stalin. Reden, Anspraturgeschichte an der Universität Frankfurt/ chen, Tagesbefehle aus den Jahren 1939–43. CeleM. innegehabt hatte, ein vielseitig engagier- rina 1943. ter Faschismusgegner. M. gründete das Literatur: Erwin Marti: H. M. In: Aufbruch. Schweizerische Hilfswerk für deutsche Ge- Sozialistische u. Arbeiterlit. in der Schweiz. Zürich lehrte, das exilierten Wissenschaftlern eine 1977, S. 149–158. – Robert Kuster: H. M. Beiträge materielle Starthilfe gab, u. nahm 1935 u. zu seiner Biografie u. zum Roman ›Aurora‹. Zürich 1936 als Schweizer Vertreter an den Schrift- 1984. – Logos Yayınları: Proleter Ütopya ve Markstellerkongressen zur »Verteidigung der sist Hümanizm H. M. Mayıs (Türkei) 1990. Kultur« in Paris u. London teil. In der Charles Linsmayer / Red. Schweiz geriet er wegen seiner kommunist. Orientierung in eine marginalisierte Position, Mühlethaler, Hans, * 9.7.1930 Zollbrück. die auch nach 1945 fortbestand. Der Antritt – Erzähler. eines Ordinariats für Kulturgeschichte 1948 in Leipzig scheiterte an der Verweigerung M. war Primarlehrer, dann freier Schriftsteleines Einreisevisums seitens der sowjet. Be- ler u. 1971–1987 Sekretär der »Gruppe Olsatzungsmacht. ten«. In dieser Funktion wirkte er als Mitbe-
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Mühlhäuser Katharinenspiel
gründer der Urheberrechtsverwertungsge- ein Beitrag zur Dokumentation u. Erkenntnis sellschaft »Pro Litteris«. Ab 1985 hielt sich M. der Schweizer Literaturgeschichte u. des häufig in Paris auf u. seit 1999 ist diese Stadt Schweizer Literaturbetriebs. M. beschreibt sein ständiger Wohnsitz. 1968 wurde M., der den politisch begründeten Austritt namhafauch für Radio u. Fernsehen schreibt, mit ter Autoren aus dem Schweizerischen dem Literaturpreis des Kantons Bern ausge- Schriftsteller-Verein 1970 u. die anschließende Konstitution der »Gruppe Olten« aus zeichnet. Die Anfänge seines Schaffens liegen in den der Sicht eines engagierten Beteiligten, er 1960er Jahren, einer Zeit, in welcher der Li- gibt Einblick in Organisationsstruktur, Profil teratur eine polit. Begründung gegeben u. Tätigkeitsbereiche dieser Autorenvereiniwurde. Auch seine damaligen Texte (die Ge- gung. dichtsammlung zutreffendes ankreuzen. Bern Weitere Werke: An der Grenze. Theaterstück. 1967), in aktuelle Geschehnisse eingreifend, Urauff. Zürich 1963. Druck in »hortulus«. Nr. 67. lassen auf den Willen zu rascher gesell- St. Gallen 1964. Neufassung Norderstedt 2006. – schaftlicher Veränderung schließen u. weisen Das Schreinerdiplom. Zürich 1970 (Kurzgesch.). – leicht erkennbare Zeitbezüge auf: Abwurf der Abschied v. Burgund. Gümligen 1991. – Das BeBombe über Hiroshima, Strahlengeschädigte, wusstsein. Ursache u. Überwindung der Todesangst. Norderstedt 2006 (Sachbuch). – Frühe GeSchweizer Nationalfeiertag, »us army«. Der dichte u. Prosatexte. Norderstedt 2008. gesellschaftl. Relevanz der Literatur gibt M. Literatur: Dieter Fringeli (Hg.): Gut zum auch Ausdruck in seinen Spiegelungen einDruck. Lit. der dt. Schweiz seit 1964. Zürich/Mchn. förmiger Realitäten im Kurzprosaband Außer 1972. Rudolf Käser / Zygmunt Mielczarek Amseln gibt es noch andere Vögel (Steinbach/ Gießen 1969). Mit dieser Tonart u. Thematik steht M. Kurt Marti u. Peter Bichsel nahe. In Mühlhäuser Katharinenspiel, in der seinen weiteren Werken spürt er Motive auf, zweiten Hälfte des 14. Jh. aufgezeichnet. die der Dichtung wesenseigen vorgeschrieben – Spätmittelalterliches geistliches Spiel. sind, u. findet sie in unterschwelligen Träumen u. Ängsten aller Art, in der Freiheit des In einer vorwiegend lat. Texte (u. a. SündenIchs zu beschaulichem Denken. Die Selbstre- traktat, Seneca) enthaltenden Sammelhandflexion eines endzeitlich gesinnten Subjekts schrift aus der zweiten Hälfte des 14. Jh. ist Gegenstand des Gedichtbandes Sternzeichen finden sich auch zwei geistl. Spiele in dt. Krebs. Späte Gedichte I (Norderstedt 2009). Sprache: das M. K. u. das Thüringische ZehnEine beachtenswerte Leistung sind auch jungfrauenspiel (Redaktion A). Lokale AnspieM.s Romane. Die Fowlersche Lösung (Bern 1978) lungen am Ende des M. K. weisen auf Erfurt erzählt die Geschichte eines Arztes zwischen als urspr. Entstehungsort des Spiels; die zwei Frauen. Eine an Trivialliteratur sich Handschrift selbst jedoch scheint nach anlehnende Story von Eifersucht, Selbstmord Mühlhausen/Thüringen zu gehören. u. Justizirrtum wird von M. aus der wechDas M. K. ist der einzige erhaltene Text selnden Perspektive der Betroffenen darge- eines mittelalterl. Katharinenspiels im dt. stellt. Dadurch wird die Oberfläche bürgerl. Sprachgebiet, doch belegen darüber hinaus Lebensformen durchbrochen. Hell u. Dunkel, Archivalien die Aufführung solcher Spiele in Gut u. Böse erscheinen als unentwirrbar ver- geografisch so weit auseinanderliegenden mischt. Der leere Sockel (Norderstedt 2000) Orten wie Königsberg/Preußen (1323), Solohingegen erzählt in epischer Breite die Le- thurn (1453), Göttingen (1480) u. – vielleicht bensgeschichte eines Historikers, in der sich – Bocholt (1501). In 702 Versen behandelt das die Identität der »sterbenden Schweiz« mit am Schluss unvollständige, offensichtlich zu der des sterbenden Protagonisten leitmoti- Lesezwecken aufgezeichnete M. K. das Gebot visch überschneidet. M. ist auch Monograf des Kaisers Maxentius, den heidn. Göttern zu der Schriftstellervereinigung Gruppe Olten: opfern, die Weigerung Katharinas, ihre GeDie Gruppe Olten. Das Erbe einer rebellierenden fangennahme, die Bekehrung verschiedener Schriftstellergeneration (Aarau/Ffm. 1988) ist Heiden durch die Heilige, ihr Martyrium u.
Mühlpfort
ihre Aufnahme in den Himmel, während Maxentius u. seine Helfer unter lautem Geschrei von den Teufeln in die Hölle geschleppt werden. Zur Abfassung seines Textes hat sich der unbekannte Verfasser neben der Legenda Aurea, dem Passional u. dem Buch der Märtyrer v. a. der lat. Gesänge des Katharinenfestes u. anderer Kirchenfeste bedient, die er in der Hauptsache dem Brevier entnahm. Auf diese Weise gelang ihm in vier Fällen die Schaffung neuer Handlungsteile, die der Legenda Aurea fehlen. Das stark heilspädagogisch geprägte Spiel gipfelt in der Betonung der Fürbittefunktion der Heiligen u. in der Aufforderung, sie in allen Notlagen des Lebens um Hilfe anzurufen. Ausgabe: Otto Beckers: Das Spiel v. den zehn Jungfrauen u. das Katharinensp. Breslau 1905. Literatur: Elke Ukena: Die dt. Mirakelspiele des SpätMA. Bern/Ffm. 1975, S. 14 f., 42–96. – Heinrich Biermann: Die deutschsprachigen Legendenspiele des späten MA u. der frühen Neuzeit. Diss. Köln. 1977, S. 14–44. – Hansjürgen Linke: Drama u. Theater. In: Die dt. Lit. im späten MA. Hg. Ingeborg Glier. Tl. 2, Mchn. 1987, S. 221 f. – Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986. – H. Biermann: M. K. In: VL. Bernd Neumann / Red.
Mühlpfort, Heinrich, * 10.7.1639 Breslau, † 1.7.1681 Breslau. – Jurist; Lyriker.
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Feindschaft um, sodass dieser in einer »Grabinschrift« spöttisch von M. als »Gicht« u. »Durst« sprach. Dennoch waren M.s Gedichte unverkennbar vom Manierismus Hoffmannswaldau’scher Prägung bestimmt (vgl. z.B. Sechstinne). M. übte auch polit. Kritik, u. a. in dem antipäpstl. Gedicht Auff den neuerwehlten Pabst, das später in der Neukirch’schen Sammlung (1697) durch einen Text Johann von Bessers ersetzt werden musste. Seine Versdichtung Hiob, eine Bearbeitung des bibl. Stoffs, ist verlorengegangen. M.s erot. u. satir. Gedichte wurden größtenteils nur im Freundeskreis herumgereicht u. gingen verloren. Außer in – allerdings zahlreichen – Einzeldrucken (z.T. ed. in: VD 17) gelangten seine Gedichte erst postum u. z.T. anonym zum Druck, z.B. auch in den Teilen I-III u. V der Neukirch’schen Sammlung (1695–1705). Weitere Werke: Teutsche Gedichte. Breslau 1686. – Poemata. Breslau 1686. – Poetischer Gedichte ander Theil. Ffm./Breslau 1687. – Teutsche Gedichte. Breslau 1698. Ausgaben: Poemata (1686). Nachdr. hg. u. eingel. v. Lutz Claren u. a. Ffm. 1991. – Teutsche Gedichte. Poetischer Gedichte ander Theil (1686/87). Nachdr. hg. u. eingel. v. Heinz Entner. Ffm. 1991. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 4, S. 2887–2932. – VD 17. – Weitere Titel: Erich Schmidt: H. M. In: ADB. – Franz Heiduk: Die Dichter der galanten Lyrik. Bern/Mchn. 1971. – Heiduk/Neumeister, S. 420 u. Register. – Thomas Diecks: H. M. In: NDB. – Wolfgang Adam: Urbanität u. poet. Form [...]. In: Stadt u. Lit. im dt. Sprachraum der Frühen Neuzeit. Hg. Klaus Garber. 2 Bde., Tüb. 1998, Bd. 1, S. 90–111. – Lothar Noack: Christian Hoffmann v. Hoffmannswaldau (1616–79). Leben u. Werk. Tüb. 1999, Register. – Hans-Joachim Koppitz: Der Verlag Fellgiebel. In: Kulturgesch. Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Hg. K. Garber. Bd. 1, Tüb. 2005, S. 445–512. – Cordula Reichart: H. M.s lyr. Körperwahrnehmung. Petrarkist. Tradition u. neue Perspektivierung. In: Euph. 101 (2007), S. 337–367.
Der Kaufmannssohn M. besuchte in seiner Heimatstadt das Elisabeth-Gymnasium, wo Gelehrte wie Christoph Köler, Elias Major u. Caspar von Barth starken Einfluss auf ihn ausübten. Danach hielt er sich 1657–1660 als Student der Philosophie u. Medizin in Leipzig auf u. studierte ab 1660 Jura in Wittenberg. Verschiedentlich war M. Hauslehrer bei schles. Adelsfamilien. Schon in Leipzig – hier entstanden die meisten seiner Liebesgedichte – heiratete er (1659), lebte aber in unglückl. Ehe. 1662 zum Dr. jur. promoviert, verdiente Erika A. Metzger / Red. sich M. seinen Lebensunterhalt als breslauischer Registrator u. Stadtsekretär. Mühringer, Doris, * 18.9.1920 Graz, Gottfried Georg Graß, Diakon u. Lehrer, † 26.5.2009 Wien. – Verfasserin von Lyrik später Hofprediger in Liegnitz, u. Joachim u. Kurzprosa. Feller, Lehrer Erdmann Neumeisters, waren seine besten Freunde. Die anfängliche Ihre Kindheit verbrachte M. in Graz, ihre Freundschaft zu Hoffmannswaldau schlug in Jugend in Wien. Nach abgebrochenem Stu-
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dium der Germanistik u. Kunstgeschichte ging sie 1945 nach Salzburg, wo sie sich ihren Lebensunterhalt zunächst als Büroangestellte verdiente, ehe sie die Laufbahn einer freien Schriftstellerin einschlug. Ab 1954 wieder in Wien, arbeitete sie dort zeitweise auch als Verlagslektorin u. Übersetzerin aus dem Englischen, mit Schwerpunkt auf Kinder- u. Jugendliteratur. Anfang der 1970er Jahre war sie Mitbegründerin des Wiener Literaturkreises »Podium« u. der gleichnamigen Zeitschrift, deren Redaktion sie einige Jahre lang angehörte. Wiewohl M.s literar. Anfänge in ihre Studienzeit zurückreichen, legte sie erst verhältnismäßig spät ihr Debüt vor (Gedichte. Linz 1957). Weit davon entfernt, eine Vielschreiberin zu sein, blieb sie zeit ihres Lebens der kleinen Form – dem Gedicht u. der Prosaminiatur – verpflichtet. M.s lyr. Werk ist schmal u. von großer innerer Konsequenz und Geschlossenheit. Ausgehend von einer lied- u. bildhaften Diktion im Fahrwasser des magischen Realismus, entwickelte sie auf der Basis größtmöglicher sprachl. Reduktion einen lyr. Personalstil, der eine eigentüml. Verschränkung von Archaik u. Gegenwartsnähe, märchenhafter Bildlichkeit u. nüchterner Zeitgenossenschaft darstellt. Bestimmend in M.s Lyrik sind v. a. ein Gefühl existenzieller Verlassenheit u. die damit einhergehende Sehnsucht, die große Distanz zwischen dem Ich u. der Welt zu überwinden. Nicht wenige ihrer Gedichte thematisieren allerdings auch die Unerfüllbarkeit dieser Sehnsucht, die Vergeblichkeit aller Bemühungen, die Isolation, in die man hineingeboren ist, zu durchbrechen u. die Sprache, die einem mit- u. aufgegeben ist, zu einer Zwiesprache umzugestalten. Ein ausgleichendes Gegengewicht zu ihrem düsteren, pessimist. Welt- u. Menschenbild hat sich M. mit ihren Limericks u. humorist. Chansons geschaffen, wie sie in Das hatten die Ratten vom Schatten (Graz/Wien/Köln 1989) gesammelt sind, aber auch mit ihren Arbeiten für Kinder, von dem Bilderbuch Das Märchen von den Sandmännlein (Esslingen 1961) bis hin zu der Sammlung von Kindergedichten Auf der Wiese liegend (Weitra 2000).
Mühringer
Alles in allem gehört M. innerhalb der enorm polarisierten literar. Landschaft Nachkriegsösterreichs zu den wenigen Autorinnen u. Autoren, die sich weder eindeutig dem Pol der »Tradition« noch jenem der »Avantgarde« zuordnen lassen. Der Rezeption ihrer Texte war dies allerdings keineswegs förderlich. So kamen bereits im Jahr 1979 Jürgen Koppensteiner u. Beth Bjorklund zu dem Befund, M. stehe im Schatten des »Fünfgestirns der österreichischen Lyrikerinnen« ihrer Generation (Christine Busta, Christine Lavant, Ingeborg Bachmann, Jeannie Ebner u. Friederike Mayröcker), u. daran hat sich im Wesentlichen bis heute auch nichts geändert. Trotz mancher Anerkennung, die ihrem literar. Schaffen von Seiten der Kritik u. in Gestalt mehrerer Preise (z.B. 1985 Literaturpreis des Landes Steiermark) zuteil wurde, u. trotz etlicher Übertragungen ihrer Gedichte in andere Sprachen, geriet M. in den letzten 15 Jahren ihres Lebens zunehmend in Vergessenheit. Auch die verdienstvolle Ausgabe ihrer gesammelten Werke in einem Band, Es verirrt sich die Zeit (hg. v. Helmuth A. Niederle. Strasshof/Wien 2005), blieb ohne nennenswertes Echo. Weitere Werke: Gedichte II. Wien 1969. – Staub öffnet das Auge. Gedichte III. Graz/Wien/ Köln 1976. – Ein Schwan auf dem See. Spielbilderbuch. Mchn. 1980. – Mein Tag, mein Jahr. Fotogedichtband. Wien/Hbg. 1983 (zus. mit Hannelore Valencak). – Vögel, die ohne Schlaf sind. Gedichte IV. Graz/Wien/Köln 1984. – Tanzen unter dem Netz. Kurzprosa. Graz/Wien/Köln 1985. – Reisen wir. Ausgew. Gedichte. Graz/Wien/Köln 1995. – Aber jetzt zögerst du. Späte Gedichte. Weitra 1999. – Angesiedelt im Zwischenreich. [Gedichtausw. zu M.s 80. Geburtstag]. Weitra 2000. – D. M. Mit einem Vorw. v. Christian Loidl. St. Pölten 2000. Literatur: Jürgen Koppensteiner u. Beth Bjorklund: ›Dunkel ist Licht genug‹: Zur Lyrik v. D. M. In: MAL 12 (1979), H. 3/4, S. 193–207. – Christian Loidl: Wege im Dunkel. Möglichkeiten zur Analyse v. D. M.s poet. Werk. Diss. Wien 1984. – Jorun B. Johns: D. M.: Eine Bibliogr. In: MAL 25 (1992), H. 1, S. 109–122. – Maria Luisa CaputoMayr: D. M. At Seventy-Five: ›Reisen wir‹. In: Out from the Shadows. Essays on Contemporary Aus-
Mühsam
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trian Women Writers and Filmmakers. Hg. M. Lamb-Faffelberger. Riverside 1997, S. 66–76. Christian Teissl
Mühsam, Erich, * 6.4.1878 Berlin, † 10.7. 1934 Oranienburg, Konzentrationslager; Grabstätte: Berlin, Waldfriedhof Dahlem. – Lyriker, Dramatiker, Essayist; Revolutionär. M.s Vater, Siegfried Seligmann Mühsam, führte in Lübeck eine Apotheke, die ihm wirtschaftl. Erfolg brachte. Seine Weltanschauung war stark autoritär-nationalistisch geprägt u. er war Jude; er war aber anerkannt in der Gesellschaft u. viele Jahre Mitgl. der Lübecker Bürgerschaft. Die schriftstellerischen Neigungen seines Sohnes riefen einen tiefgreifenden Vater-Sohn-Konflikt hervor, der M.s ganzes Leben prägte. Schon als Schüler rebellierte er gegen Zwänge in Familie, Gesellschaft u. Staat. Schließlich musste er die Schule verlassen, weil er in sozialdemokrat. Zeitungen kritisch über die an den preuß. Sieg bei Sedan (1870) erinnernden Feiern berichtete – für die Schule waren das »sozialistische Umtriebe«. M. besuchte dann die Schule in Parchim/Mecklenburg (bis zur Obersekundarreife), absolvierte auf Verlangen des Vaters eine Apothekerlehre u. wurde Apothekergehilfe. Schon in dieser Zeit engagierte er sich politisch u. gründete in Lübeck eine frühe Bürgerinitiative, die erfolgreich ein altes Haus vor dem Abriss rettete (die Löwen-Apotheke). Außerdem veröffentlichte er erste Gedichte u. publizist. Beiträge in renommierten Zeitschriften. M. zog nach Berlin u. wurde nach kurzer Fortsetzung seiner Berufstätigkeit Ende 1900 freier Schriftsteller. Er tauchte in die blühende kulturelle Szene der Hauptstadt ein u. hatte intensiven Kontakt mit den Brüdern Hart (Friedrichshagener Dichterkreis), dem Kabarettisten Peter Hille u. v. a. mit Gustav Landauer, der seine Entwicklung zum freiheitl. Sozialismus maßgeblich beeinflusste. M. arbeitete als Redakteur für verschiedene Zeitschriften, u. a. den »Armen Teufel«. 1903 erschien seine erste eigenständige Publikation (Die Homosexualität. Ein Beitrag zur Sittengeschichte unserer Zeit. Bln.). Darin geißelte er staatl. Bevor-
mundung u. Schnüffelei. 1904 erschien sein erster Gedichtband (Die Wüste. Bln.). Die Broschüre Die Jagd auf Harden aus dem Jahr 1908 machte sein zeitgeschichtl. Engagement deutlich. M. unternahm dann ausgedehnte Reisen, u. a. nach Zürich, Ascona (Ascona. Eine Broschüre. Locarno 1905), Wien u. Paris. Schließlich ließ er sich in München nieder. Dort faszinierte ihn das freie Leben der Schwabinger Boheme, er war u. a. befreundet mit Frank Wedekind u. Franziska zu Reventlow. Über diese Zeit berichtete er später ausführlich in seinen Memoiren (Unpolitische Erinnerungen. Lpz. 1931). M. arbeitete im Kabarett »Elf Scharfrichter« mit, verfasste Beiträge für verschiedene Zeitschriften, u. a. den »Simplicissimus«, u. gab ab 1911 den »Kain« heraus, dessen Untertitel »Zeitschrift für Menschlichkeit« lautete. Die dort erschienenen Artikel stammten alle von ihm selbst. Er nahm Partei für die Ausgestoßenen u. Entrechteten. Er gründete die Gruppe »Tat« u. propagierte die Ideen des von Landauer geführten »Sozialistischen Bundes«. In einem Theaterstück (Die Freivermählten. Polemisches Schauspiel in drei Aufzügen. Mchn. 1914) setzte er sich mit dem Thema »freie Liebe« auseinander. Schon frühzeitig warnte er vor einem neuen Krieg. Der Kriegsausbruch verunsicherte ihn kurzzeitig. Er sprach von den »fremden Horden«, die von »unseren Kindern und Frauen« ferngehalten werden müssten. Dann kämpfte er aber, wohl wissend, dass alle Soldaten, auch die deutschen, »Horden« sind, engagiert für eine antimilitarist. Einheitsfront der dt. Linken, die allerdings nicht zustande kam. Für M. war der Tod des Vaters (1915) ein tiefer Einschnitt in seinem Leben. Er heiratete die aus Bayern stammende Kreszentia Elfinger. Damit verwirkte er allerdings sein Erbe, denn der Vater hatte verfügt, dass er nur dann erbberechtigt sei, wenn er Apotheker würde oder eine Jüdin ehelichte, was beides nicht geschah. Publizieren konnte er kaum. Seine krit. Gedichte konnten erst nach dem Krieg erscheinen (Brennende Erde. Verse eines Kämpfers. Mchn. 1920). Es entstand auch ein umfangreiches Manuskript, das den Ursachen u. Folgen des Krie-
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ges nachgeht, das zu seinen Lebzeiten nicht publiziert wurde (Abrechnung. In: Streitschriften/Literarischer Nachlaß. Bln. 1984). Sein Ton wurde radikaler. Wegen seiner Antikriegsagitationen verbüßte er 1918 eine sechsmonatige Internierungs-Haft in Traunstein. Nach seiner Freilassung war er an der Ausrufung der bayerischen Republik (Nov. 1918) u. der Räterepublik (April 1919) beteiligt. Die Revolution wurde indes mit Gewalt niedergeschlagen u. M. verhaftet u. zu 15 Jahren Festungshaft in Niederschönenfeld verurteilt (Von Eisner bis Leviné. Die Entstehung der bayerischen Räterepublik. Persönlicher Rechenschaftsbericht über die Revolutionsereignisse in München vom 7. November 1918 bis zum 13. April 1919. Bln. 1929). Außerdem entstand Judas. Arbeiter-Drama in fünf Akten (Bln. 1921). Um Hitler, der wegen seines Putsches in Haft saß, frühzeitig amnestieren zu können, wurden auch einige Linke freigelassen, M. Ende 1924. 1926 trat M. der »Anarchistischen Vereinigung« bei u. gründete eine neue Zeitschrift (»Fanal«; 1931 verboten). 1932/33 fasste er seine anarchist. Grundsätze zusammen (Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Was ist kommunistischer Anarchismus? Bln.). Im Rahmen der Roten Hilfe setzte er sich v. a. für polit. Häftlinge ein. Sein Stück Staatsräson. Ein Denkmal für Sacco und Vanzetti (Bln. 1928) wurde 1928 mehrfach aufgeführt. M. wurde auch Mitgl. im künstlerischen Beirat der Piscator-Bühne. M. war kein Theoretiker. Seine Dramen wirken teilweise etwas künstlich u. bemüht u. bisweilen zu sehr an tagespolit. Ereignissen orientiert. Formale Experimente fehlen weitgehend in seiner Dichtung. Das Erstarken der nationalsozialist. Bewegung bekämpfte M. engagiert. Am 28.2.1933, in der Nacht nach dem Reichstagsbrand, wurde M. verhaftet u. nach Folterungen u. Misshandlungen 16 Monate später im KZ Oranienburg von SS-Leuten ermordet, die einen Selbstmord M.s vortäuschten. Seiner Frau gelang die Ausreise aus Deutschland nach Prag u. die Rettung des Nachlasses. Auf Einladung der Internationalen Roten Hilfe reiste sie trotz Warnungen von Freunden nach Moskau. Sie verkaufte dem MaximGorki-Institut für Weltliteratur den Nachlass u. wurde kurze Zeit später für viele Jahre in-
Mühsam
haftiert. Erst 1955 gelang ihr die Rückreise nach Deutschland (Ostberlin), wo sie 1962 starb. Die DDR vereinnahmte M. als aufrechten Antifaschisten; in Rostock trug sogar eine Kaserne seinen Namen. Es erschien eine Reihe von Werkausgaben, wenn auch teilweise mit krit. Kommentierung. In der Bundesrepublik führte M. viele Jahre nur ein Schattendasein. Erst die 68er-Bewegung ließ M. wieder ins Licht treten. In den 1970er u. 1980er Jahren erschienen wichtige Textausgaben u. Gesamtdarstellungen. Immer wieder wurden u. werden auch Gedichte M.s – in der Tradition Ernst Buschs u. Dieter Süverkrups – vertont. 1989 wurde in Lübeck eine Erich-Mühsam-Gesellschaft gegründet, die ein »Mühsam-Magazin« u. die »Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft« herausgibt. Außerdem vergibt sie alle zwei Jahre den ErichMühsam-Preis. M.s Nachlass, soweit er erhalten ist, liegt in Moskau, eine Kopie befindet sich in der Akademie der Künste in Berlin. Unveröffentlicht sind große Teile der Tagebücher, die M. in den Jahren 1910 bis 1924 geschrieben hat. 1994 erschien eine kleine, aber gehaltvolle Auswahl (Erich Mühsam: Tagebücher 1910–1924. Mchn.). Weitere Werke: Die Hochstapler. Lustsp. in vier Aufzügen. Mchn. 1906. – Der Krater. Bln. 1909. Nachdr. 1977 (G.e). – Wüste – Krater – Wolken. Bln. 1914 (G.e). – Revolution. Kampf-, Marschu. Spottlieder. Bln. 1925. – Slg. 1898–1928. Ausw. aus dem dichter. Werk. Bln. 1928. – Fanal. Vaduz 1973 (unveränderter Nachdr. der Ztschr. von 1926–31). – Kain. Vaduz 1978 (unveränderter Nachdr. der Ztschr. von 1911–14 u. 1918/19). – In meiner Posaune muß ein Sandkorn sein. Briefe 1900–34. Vaduz 1984. – Berliner Feuilleton. Mchn. 1992. Ausgaben: Ges. Schr.en. Hg. Chris Hirte. 2 Bde., Bln./DDR 1978. – Streitschr.en/Literar. Nachl. Hg. ders. Bln./DDR 1984. – Gesamtausg. Hg. Günther Emig. 4 Bde., Bln. 1977, 1978, 1983. Literatur: Bibliografien: Heinz Hug u. Gerhard W. Jungblut: E. M. (1878–1934). Bibliogr. Vaduz 1991. – Hubert van den Berg: E. M. (1878–1934). Bibliogr. der Lit. zu seinem Leben u. Werk. Leiden 1992. – Weitere Titel: H. Hug: E. M. Untersuchungen zu Leben u. Werk. Glashütten/Ts. 1974. – Wolfgang Haug: E. M. Schriftsteller der Revoluti-
Mühsam on. Reutl. 1979. – Rolf Kauffeldt: E. M. Lit. u. Anarchie. Mchn. 1983. – Chris Hirte: E. M. ›Ihr seht mich nicht feige.‹ Biogr. Bln./DDR 1985. Durchges. Neuaufl. u. d. T.: E. M. Eine Biogr. Hg. Stephan Kindynos. Freib. i. Br. 2009. – Diana Köhnen: Das literar. Werk E. M.s. Würzb. 1988. – Christoph Hamann: Die Mühsams. Gesch. einer Familie. Bln. 2005. Jürgen-Wolfgang Goette
Mühsam, Paul, * 17.7.1876 Brandenburg/ Havel, † 11.3.1960 Jerusalem; Grabstätte: Khayat Beach bei Haifa/Israel. – Essayist, Lyriker, Autobiograf, Übersetzer.
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Gottgläubigkeit, trat M. für eine universale, alle Konfessionen verbindende Religion reiner Menschlichkeit ein. Weitere Werke: Die Verteidigungsrede des Sokrates. Gotha 1931 (Übers.). – Stufen zum Licht. Lpz. 1933 (L.). – Mein Weg zu mir. Aus Tagebüchern. Konstanz 1978. – Der Hügel. Ein Mysterium in 16 Bildern. Konstanz 1986. Ausgaben: Ges. Werke in Einzelausg.n. Hg. Else Levi-Mühsam. Konstanz 1970–86. – Arthur Silbergleit u. P. M. Zeugnisse einer Dichterfreundschaft. Hg. u. komm. v. ders. Würzb. 1994. Literatur: Else Levi-Mühsam: Als dt. Jude in Erez Israel. In: Emuna-Israel-Forum. Rothenburg/ Tauber 1976. – Dies.: Viel Wege bin ich, Gott, nach dir gegangen. Mein Vater P. M. Esslingen 1987. 2 1999. – Gernot Wolfram: P. M.: der Widerstand der Wörter. Ein Leben zwischen Dtschld. u. Palästina. Bln. 2006. Alfred Dreyer / Red.
M., Sohn jüd. Eltern, Vetter von Erich Mühsam, wuchs in Chemnitz u. Zittau auf, wurde Jurist, promovierte 1900 in Freiburg/Br. zum Dr. jur. u. praktizierte ab 1905 in Görlitz als Rechtsanwalt, ab 1920 auch als Notar. Seine geistige Entwicklung vollzog sich im Müller, Adam (Heinrich), Ritter von NitSpannungsfeld von Humanismus, jüd. Existersdorff (ab 1826), * 30.6.1779 Berlin, tenz u. christl. Glaubenstradition. Wesentli† 17.1.1829 Wien; Grabstätte: Friedhof che Anregungen empfing er von der Gedander Wallfahrtskirche Maria Enzersdorf. – kenwelt der Mystiker u. fernöstl. WeisheitsStaats- u. Wirtschaftstheoretiker, Ästhetilehren. Die Schrecken des Ersten Weltkriegs ker, Diplomat, Publizist. erschütterten ihn tief. Er schloss sich der dt. Friedensbewegung an u. wurde zum bedin- Der Sohn eines Kalkulators beim kurmärk. gungslosen Pazifisten. Oberkonsistorium u. späteren HofrentmeisAls Schriftsteller wurde M. erst in den ters studierte, nach Ausbildung durch den 1920er Jahren mit zahlreichen Büchern Großvater u. der Gymnasialzeit am Berliner ethisch-religiösen Inhalts u. ausdrucksstarker Grauen Kloster, an der Universität Göttingen Lyrik bekannt (Gespräche mit Gott. Lpz. 1919. 1798–1801 Rechts- u. Staatswissenschaften u. Sonette aus der Einsamkeit. Schweidnitz 1926 u. Geschichte, dann auch Naturwissenschaften. v. a.). Die dramat. Dichtung Der ewige Jude Seine Lehrer waren u. a. die Historiker Heeren (Lpz. 1924. Konstanz 1975) u. die philosoph. u. von Schlözer, der Anti-Naturrechtler Hugo Betrachtungen Tao. Der Sinn des Lebens (Pful- u. Gatterer in Diplomatik. 1801/02 reiste M. lingen 1931. Mchn. 1970) wurden zu Höhe- in Dänemark u. Schweden u. schrieb über punkten dieser schöpferischen Jahre. 1933 Fichtes Der geschloßne Handelstaat (1800). Die verlor M. seine bürgerl. Existenz u. wanderte seit 1797 währende lebenslange Freundschaft noch im gleichen Jahr mit seiner Familie nach u. Förderung durch den 15 Jahre älteren Palästina aus. Diese erzwungene Emigration Friedrich Gentz wurde entscheidend für M.s lähmte seine Schaffenskraft für viele Jahre. Entwicklung; Gentz’ Übersetzung u. KomErst ab 1949 konnte er mit Gedichten u. au- mentierung von Burkes Revolutionsschrift u. tobiogr. Schriften wieder hervortreten (Sonette die Auseinandersetzung mit der Ökonomik an den Tod. Jerusalem 1949. Stgt. 1980. Mein Adam Smiths bereiteten den Boden für M.s Weltbild. Jerusalem 1951). konservative Haltung. Burke blieb stets VorMit seinen postum veröffentlichten Le- bild u. Maßstab, dagegen bildete Smiths benserinnerungen wurde M. zu einem be- ökonom. Liberalismus wegen seines »Matedeutenden Zeugen einer Epoche, die er als rialismus« u. der fehlenden Staatsidee den Jude durchlitten hatte (Ich bin ein Mensch ge- ständigen Widerpart für die organische u. wesen. Bln./Stgt. 1989). Erfüllt von tiefer idealist. Staats- u. Weltauffassung M.s.
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Nach dem Referendariat bei der kurmärk. Kriegs- u. Domänenkammer in Berlin 1802/ 03 ließ M. sich vom Staatsdienst beurlauben u. lebte im poln. Südpreußen, wo die Staatskunst entstand, wurde 1804 Hauslehrer bei dem Landrat Peter Boguslaus von Haza-Radlitz, dessen Familie er im Herbst 1805 nach Dresden folgte. Die Konversion zum Katholizismus erfolgte im Frühjahr 1805 während eines Besuchs bei dem Protestanten Gentz in Wien. In Dresden, wo er für längere Zeit erneut mit Gentz zusammentraf, fand M. den ersehnten gesellschaftl. Wirkungskreis durch seine zunehmend bewunderten Wintervorlesungen 1806–1809. Er wurde, durch Vermittlung Rühles von Lilienstern, Lehrer der Staatswissenschaften für Prinz Bernhard von Weimar, u. Hofrat, hielt die in der Buchausgabe (Elemente der Staatskunst. 3 Bde., Bln. 1809) Hofrat Heeren gewidmeten staatswiss. Vorlesungen vor dem Prinzen u. »einer Versammlung von Staatsmännern und Diplomaten«. Ende Juni 1809 wurde M. wegen seiner Zusammenarbeit mit der österr. Stadtbesatzung aus Dresden ausgewiesen u. ging nach Berlin. Er erkannte das Genie Kleists, gab dessen Amphitryon (Dresden 1807) heraus, plante mit ihm eine »Phönix«-Buchhandlung, besorgte den Jahrgang der gemeinsamen Zeitschrift »Phöbus. Ein Journal für die Kunst« (Dresden 1808. Neudr. Darmst. 1961) u. arbeitete an dessen »Berliner Abendblättern« (1810/11, Nachdr. Wiesb. 1980) mit. Entwicklungen seit Herbst 1807 führten zur Scheidung Sophie von HazaRadlitz’ u. zur Eheschließung mit M. Die Paten seiner Tochter Cäcilie waren Arnim u. Kleist, es bestanden engere Beziehungen zur Familie Savigny u. Henriette Vogel. Eine dauernde Anstellung in Berlin, wo M. Vorlesungen Ueber König Friedrich II. und die Natur, Würde und Bestimmung der Preussischen Monarchie (Bln. 1810) hielt u. zus. mit Arnim die »deutsche Tischgesellschaft« begründete, wurde, scheiterte an seiner Gegnerschaft zu Hardenbergs Reformen. Vom Staatskanzler schließlich in geheimen diplomat. Diensten nach Wien gesandt, lebte M. dort seit Mai 1811 zunächst im Haus des Erzherzogs Maximilian d’Este u. im Kreis der kath. Spätromantiker, hielt 1812 die berühmten Reden
Müller
über die Beredsamkeit. Ab 1813 stand M. in wechselnden österreichischen staatl. u. diplomat. Diensten, gemessen an der geistigen Bedeutung M.s eher untergeordneter Art. Zeitungsgründungen an den Orten seiner Wirksamkeit, besonders die Herausgabe der »Deutsche[n] Staatsanzeigen« (Lpz. 1816–18), kennzeichnen sein publizist. Engagement. Zu dieser Zeit erschienen die entschiedenen Stellungnahmen: das enthusiast. »Sendschreiben an [...] Carl Ludwig von Haller« u. die Polemik gegen das Reformations-Jubiläum 1817, Etwas, das Göthe gesagt hat [...], die durch die Gegenschrift des Kantianers Krug zum Skandalon geriet. Sept. 1819 war er an den Karlsbader Beschlüssen des Deutschen Bundes beteiligt; ebenso 1820 an den Verfassungskonferenzen, die zur »Wiener Schlussakte« führten. 1826 geadelt, wurde er 1827 zum k. u. k. Hofrat ernannt und in a. o. Stellung der Staatskanzlei in Wien zugeteilt. Die in seiner Frühschrift Die Lehre vom Gegensatze entwickelte Denkfigur einer polaren Entgegensetzung, um der lebendigen Kraft der Wechselspannung, des kräftigen Ausgleichs in einer Mitte oder der Transzendierung in ein Höheres u. Geistiges willen, bleibt Denkform u. Methode bis in die späten Schriften. Der Emanzipation des Individuums u. jedes Einzelinteresses setzte M. die »vereinigenden Bande« in Religion, Wissenschaft, Kirche u. Staat entgegen. Im Zirkelverhältnis erscheinen das Ganze u. die Lebens-Einheit nur an der Mannigfaltigkeit der antagonist. Elemente, in ihrer Wechselwirkung. Indem alles Bestehende u. Geltende in den universalen Prozess dialog. Vermittlung u. Bewahrung einbezogen wird, ergibt sich ein prinzipielles Geltenlassen u. politisch ein fundamentaler, doch der Progression u. dem Ausgleich offener Konservatismus. Die prätentiösen Dresdner Vorlesungen über deutsche Wissenschaft und Literatur (Dresden [1806]. 21807), die M.s Ruhm begründeten, haben ihr Pendant in Fichtes Reden an die deutsche Nation (1808). Sie umfassen Gattungspoetik u. mit Shakespeare, griech. Bühne, Aristophanes, span. Drama, »Apologie der französischen dramatischen Literatur« u. ital. Theater eine europ. Dramen- u.
Müller
Theatergeschichte, daneben Tragödien- u. Komödientheorie, abgefasst in einem geistreich knappen Stil. Von der Idee der Schönheit (Bln. 1809. Teilvorabdr. »Phöbus« 1808) handeln die Vorlesungen des Winters 1807–1808. Die von M. postulierte Nähe von Staatswissenschaft u. Ästhetik bezeugen der Gemeingeist u. Idee u. Schönheit des Ganzen, die beide beleben. In einer frühen Theorie der Intertextualität werden das individuelle Werk u. die universelle Kunstwelt in eine unaufhebbare Wechselbeziehung gestellt. Kulturellen Zusammenhängen gewidmet sind auch die Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland (Lpz. 1816), ein klass. Text zur Rhetorik, der am Leitfaden des Gegensatzes frz. u. dt. Geistigkeit sowie der Vorbildlichkeit polit. Rede in England u. des Enthusiasmus für Burke, von Hören u. Reden handelt, von Dialogizität als Wesen des Menschlichen, von Geselligkeit u. Gesellschaft als Voraussetzung der Rede u. von dem Überschuss der im Gespräch »als Seele waltenden Wahrheit« über den Streit u. Widerspruch der Stimmen. Die Kapitel Vom Gespräch u. Von der Kunst des Hörens gehören zu den großen Texten der dt. Literatur. Die Dresdner Vorlesungen Über das Ganze der Staatswissenschaft (1808/09) entwickeln M.s Staats- u. Gesellschaftslehre: Die Elemente der Staatskunst (3 Bde., Bln. 1809). »Staatskunst« begreift das Staatswesen als Konstitutionsbewegung, deren Dirigent, der Staatsmann, den vorhandenen produktiven Kräften bestmögl. Entfaltungsfreiheit sichert. M.s systemtheoret. Ansatz setzt gegen ungeschichtl. Vertragstheorien (contrat social) die je schon gegebene »schöne Gegenseitigkeit des Lebens«. Freiheit, Vertrag u. Gesetz werden aus dem Motiv des »Streits« abgeleitet, dem konkurrierenden Neben- u. Gegeneinander der eigentümlich-einzigartigen Individualitäten. Bei M. ist »Freiheit« im Rahmen der historist. Allentfaltung des Lebens, »die Freiheit, seine Kraft und sein eigenthümliches Wesen geltend zu machen, zu wachsen, sich zu regen, zu streiten«, das »Streben der verschiedenartigsten Naturen nach Wachsthum und Leben«. Dabei steht die Freiheit des Einzelnen »in Wechselfreiheit« mit der
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»Nebenfreiheit der Andern«. Das Konkurrenzprinzip gilt umfassend: »Aus dem unendlichen Streite der Freiheit mit der Gegenfreiheit erzeugen sich die besten Fabrikate, die besten Gesetze, und die muthigsten, gewandtesten, zur Vertheidigung des Ganzen geschicktesten Bürger«. Auch die drei gesellschaftl. Stände wetteifern nach M. im Streit der Freiheiten. Mit Fragen der Nationalökonomie befassten sich das 4. u. 5. Buch der Staatskunst. Daran schlossen sich die seit 1816 (neben theolog. Fundierung der Staatstheorie) dominierenden Publikationen zu Wirtschaftsthemen (Ausgewählte Abhandlungen. Jena 21931. Nationalökonomische Schriften. Lörrach 1983). Sie nehmen in der Geschichte der Wirtschaftswissenschaften einen bedeutenden Platz ein. Die Lebensbereiche sind bei M. zu einer Totalität zusammengebunden, deren Mittelpunkt die Idee der »Produktivität« bildet. »Staat« ist Produkt der gesamten, im Staatswesen wirksamen »Productions-Kräfte«. Indem M. die Differenz von Staat u. Gesellschaft u. die Separation von Wirtschaft, Arbeitswelt, Kommunikation, Kultur u. Wissenschaft aufhebt, rekurriert er auf einen umfassenden Lebensbegriff, eine natura naturans, deren geistig-phys. Gesamtproduktion »produktive Staatsarbeit« heißt, ihr Ergebnis »Staat«, die Summe aller Vermittlungen. Trotz der Gleichsetzung von Staat u. Gesellschaft, der Einbeziehung historisch überlebter Modelle u. trotz religiöser Fundamentierung zeigt M.s Staatslehre in der Idee unablässigen Widerstreits u. steter Erneuerung u. im Antagonismus konkreter Freiheiten eher ästhet. denn totalitäre Züge. Gegenüber entmenschlichenden Mechanismen exzessiver Arbeitsteilung, dem Diktat der Gewinnmaximierung, den Einseitigkeiten eines unbeschränkten Kapitalismus erkannte M. die Notwendigkeit eines materiell-spirituellen Dualismus, forderte ein »Gleichgewicht der bezahlbaren und [der] unbezahlbaren, unveräußerlichen, unteilbaren Güter der Menschen« als die »wahre Nationalökonomie«. Der bes. Status des Grundeigentums führt wie das menschlich »innige« Miteinander im erweiterten Familienmodell des Staates (Adam als erster »Hausvater«, patriarchal.
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Herrschaftsauffassung auf mehreren Ebenen) zu Mythisierungen. Die »wunderbare«, ja »göttliche« Eigenschaft des Bodens komme »erst durch langen Umgang desselben Besitzers, derselben Familie, desselben Landesherrn mit demselben Boden zum Vorschein«. M.s Verbindung zum kurmärk. Adel u. der wechselseitige Einfluss zwischen M. u. von der Marwitz, in Marwitz’ Antwort auf M.s Schrift Feudalismus u. Antifeudalismus (1810), verstärkten das altständ. Credo. Politisch diente die Staatstheorie M.s nach Absicht u. Wirkung, programmatisch weniger eindeutig als die von Hallers, dem Status quo oder der Restauration. Im Blick auf das aufkommende Industriezeitalter u. die Lage der Industriearbeiter angesichts forcierter Arbeitsteilung vertrat M. frühe sozialeth. Positionen, artikulierte die Kritik jedoch im Rahmen seines Patriarchismus: Ein (ewiger) Vertrag bestehe an allen Stellen »zwischen dem Hausvater und seiner Familie, dem Bischof und seiner Gemeinde, dem Feldherrn und seinem Heer, [...] zwischen dem Souverän und jedem Glied seines Staates«. Im Staatsorganismus besitzt jedes Teil »sein eignes, persönliches, geheimnißvolles Leben und seine eigenthümliche Bewegung«. Wichtige Impulse konservativer Politik u. Soziallehre (unmittelbarer Anschluss bei Othmar Spann) erwuchsen aus M.s Kapitalismuskritik, aus der Ablehnung der individualist. u. materialist. Implikationen liberaler Wirtschafts- u. Staatstheorie u. aus der Zurückweisung (in der Nachfolge Burkes) rationalistisch-naturrechtl. Staatstheorien. In seinem eigenen System sah M. zweifellos einen Fluchtpunkt der Bewegungen, die in Gesellschaft, Staat u. Wirtschaft ebenso wie in »Religion, Philosophie, Poesie, Natur und Kunst« mit Tendenz auf Veränderung u. Erneuerung im Gang waren. Auch Liberalismus u. Konservatismus waren dem Gegensatz- u. Vermittlungsdenken nicht enthoben. M.s frühe Lehre vom Gegensatz sollte durch die Folgebände Die Wissenschaft und der Staat u. Die Religion und die Kirche komplettiert werden. Weitere Werke: Vermischte Schr.en über Staat, Philosophie u. Kunst. 2 Tle., Wien 1812. – Agronom. Briefe. In: Dt. Museum. Hg. Friedrich Schlegel. Bd. I, 1–2 u. Bd. II, 9, Wien 1812. – Von der
Müller Nothwendigkeit einer theolog. Grundlage der gesammten Staatswiss.en u. der Staatswirtschaft insbes. Lpz. 1819. – Die innere Staatshaushaltung; systematisch dargestellt auf theolog. Grundlage. In: Concordia. Hg. Friedrich Schlegel. 2. u. 3. H., Wien 1820. Ausgaben: Ges. Schr.en. Hg. Sophie v. Müller. Bd. 1, Wien 1839. – Briefw. zwischen Friedrich Gentz u. A. H. M. 1800–29. Stgt. 1857. – Elemente der Staatskunst. Mit Einl., Anm. u. ungedr. Originaldokumenten. Hg. Jakob Baxa. 2 Bde., Jena 1922. – Schr.en zur Staatsphilosophie. Hg. Rudolf Kohler. Mchn. 1923. – A. M.s Lebenszeugnisse. Hg. J. Baxa. 2 Bde., Mchn. 1966 (mit Bibliogr. unveröffentlichter Hss.). – Krit., ästhet. u. philosoph. Schr.en. Hg. Walter Schroeder u. Werner Siebert. 2 Bde., Neuwied/Bln. 1967 (Bd. 2, S. 300–600: Dokumentation – Biogr., zeitgenöss. Urteile, Wirkung, Forschungsber.). Literatur: Wurzbach. – ADB. – Goedeke. – Biogr. Wörterbuch dt. Gesch. – Kosch. – Staatslexikon (71987). – NDB. – NBE (22007). – Reinhold Aris: Die Staatslehre A. M.s in ihrem Verhältnis zur dt. Romantik. Tüb. 1919. – Carl Schmitt: Polit. Romantik. Mchn. 1919. 21925. – Ferdinand Reinkemeyer: A. M.s eth. u. philosoph. Anschauungen im Lichte der Romantik. Osterwieck 1926 (Diss. Köln). – Gisela v. Busse: Die Lehre vom Staat als Organismus. Krit. Untersuchungen zur Staatsphilosophie A. M.s. Bln. 1928. – Jakob Baxa: A. M.s Philosophie, Ästhetik u. Staatswiss. In: Ztschr. für die gesamte Staatswiss. 86 (1929), S. 1–34. – Ders.: A. M. Ein Lebensbild [...]. Jena 1930. – Ders.: Einf. in die romant. Staatswiss. Jena 21931. – Oskar Walzel: Romantisches. [...] II.: M.s Ästhetik. Bonn 1934. – Louis Sauzin: A. H. M. Sa vie et son œuvre. Paris 1937. – Adolph Matz: Herkunft u. Gestalt der A. M.schen Lehre v. Staat u. Kunst. Diss. Philadelphia 1937. – Benedikt Koehler: Ästhetik der Politik. A. M. u. die polit. Romantik. Stgt. 1980. – Tetsushi Harada: Polit. Ökonomie des Idealismus u. der Romantik. Korporatismus v. Fichte, M. u. Hegel. Bln. 1989. – Peter Foley: Heinrich v. Kleist u. A. M. Untersuchung zur Aufnahme idealist. Ideenguts durch Heinrich v. Kleist. Ffm. u. a. 1990. – Michael Emmrich: Heinrich v. Kleist u. A. M. Mytholog. Denken. Ffm. u. a. 1990. – Jochen Marquardt: ›Vermittelnde Geschichte‹. Zum Verhältnis v. ästhet. Theorie u. histor. Denken bei A. H. M. Stgt. 1993 (Lit.: S. 243–260). – Winfried Kreis: Die wirtschaftseth. Anschauungen in der dt. Ökonomie des 19. Jh. [...]. Eine dogmengeschichtl. Untersuchung am Beispiel v. A. M. u. Gustav Schmoller. Bln. 1996. – Dierk Spreen: Tausch, Technik, Krieg. Die Geburt der Gesellsch. im techn.-medialen
Müller Apriori. Bln./Hbg. 1998. – Gerhard Göhler u. Ansgar Klein: A. M. In: Hans J. Lieber: Polit. Theorien v. der Antike bis zur Gegenwart. Wiesb. 2000, S. 325–340. – Harm-Peer Zimmermann: Ästhet. Aufklärung. Zur Revision der Romantik in volkskundl. Absicht. Würzb. 2001 (Bibliogr.). – Alois Hartmann: Sinn u. Wert des Geldes in der Philosophie v. Georg Simmel u. A. (v.) M. Bln. 2002. – Peter Paul Müller-Schmid: A. M. (1779–1829). In: Polit. Theorien des 19. Jh. Hg. Bernd Heidenreich. Bln. 2002, S. 109–138. – T. Harada: A. M.s Staatsu. Wirtschaftslehre. Marburg 2004 (Bibliogr. v. M.s Publikationen). Ulfert Ricklefs
Müller, Armin, * 25.10.1928 Schweidnitz (heute: S´widnica/Polen), † 6.2.2005 Jena; Grabstätte: Weimar. – Lyriker, Dramatiker, Romancier, Übersetzer, Maler. Für M., der aus einer Arbeiterfamilie stammte, wurde nach dem frühen Tod des Vaters der Großvater, aus dem Eulengebirge stammend, zur wichtigsten Bezugsperson. 1944 wurden der »Volkssturm« u. 1945 die Umsiedlung zum prägenden Erlebnis. Nach 1945 engagierte sich M. pazifistisch, gründete die ersten Antifaschistischen Jugendausschüsse Thüringens mit u. wirkte als Redakteur u. Journalist. Seit 1946 lebte er in Weimar u. gehörte 1947 dem Arbeitskreis junger Autoren Thüringens an. Er war 1953 bis 1957 Mitgl. des Rates des WBDJ (Weltbund der Demokratischen Jugend) u. besuchte auf Reisen u. a. China u. Nordkorea. Von M.s an die Jugend gerichteter, vom Glauben an eine sozialist. Zukunft geprägter Lyrik der Anfangsphase wurden Liedtexte wie Im August blühn die Rosen (1951, vertont v. G. Fredrich), Heimat, dich werden wir hüten (1952) weithin bekannt. Im Gedichtband Reise nach S. (Bln./DDR 1965) suchte M. als erster Dichter der DDR die Begegnung mit seiner schles. Heimat, dem heutigen Polen. In Erzählungen (Der Maler und das Mädchen. Bln./ DDR 1966), Fernseherzählungen (Junger Mann. DFF, 9.11.1971, Regie: Ralf Kirsten), Hörspielen (Schwalben. 1970) u. Schauspielen (Der goldene Vogel. Bln./DDR 1975, Urauff.: Leipzig. Franziska Lesser. Bln./DDR 1971. Sieben Wünsche. Bln./DDR 1974), die sich v. a. mit dem Schicksal junger Menschen beschäftigen, versuchte M., die eigenen, teils wider-
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sprüchl. Erfahrungen der Kriegs- u. Nachkriegszeit mit der gesellschaftl. Entwicklung in der DDR in Übereinstimmung zu bringen. 1956 durchlebte er eine erste, auch politisch verursachte Krise, die durch den XX. Parteitag der KPdSU ausgelöst wurde u. M. gegenüber der sozialist. Entwicklung skeptisch werden ließ. Statt hymnischer Zustimmung erfolgte zunehmend die Beschäftigung mit der eigenen Person. 1976 änderte sich M.s Schaffen erneut u. erreichte mit den seither entstandenen Prosatexten eine beachtl. Qualität. Die zunehmend autobiogr. Texte Meine verschiedenen Leben (Rudolstadt 1978), Der Magdalenenbaum (Rudolstadt 1979, verfilmt 1989, Regie: Rainer Behrend) u. Taube aus Papier (Rudolfstadt 1981) – zusammengefasst auch als Prosa 1978–1981 (Rudolstadt 1985) – sind Ausdruck tief empfundener existentieller Nöte, die sich auf Grundfragen des Menschen, v. a. auf die Erfahrung des Todes, konzentrieren. In dem in den letzten Kriegswochen in Schlesien spielenden Roman Der Puppenkönig und ich (Rudolstadt 1986) gehen Erlebtes u. Erlesenes eine an Storm erinnernde Verbindung ein, die der polit. Alltäglichkeit eine durch Kunst erwirkte Verinnerlichung entgegenstellt. Er führte damit – parallel zu Ursula Höntsch-Harendt – die u. a. von Johannes Bobrowski, Christa Wolf u. Elisabeth Schulz-Semrau begonnene Beschäftigung mit den Themen Umsiedlung/ Vertreibung weiter. Mit dem Band Auf weißen Pferden (Rudolstadt 1983), dem 1993 der Band Vorbeiflug des goldenen Fisches (Rudolstadt) folgte, wies sich M. auch als Maler aus. Er stellte dieses Werk in mehr als 40 Ausstellungen seit 1979 vor, u. a. 1983 in Ahrenshoop. M. wurde u. a. 1961 mit dem HeinrichHeine-Preis, 1968 mit dem Kunstpreis der DDR, 1969 mit dem Nationalpreis, 1987 mit dem Johannes-R.-Becher-Preis u. 1997 mit dem Eichendorff-Literaturpreis ausgezeichnet. 2004 wurde er Ehrenbürger der Stadt S´widnica (Polen). M.s Werk wurde in 17 Sprachen übersetzt. Weitere Werke: Hallo, Bruder aus Krakau! Weimar 1949 (L.). – Kirmes. Erfurt 1952. – Seit jenem Mai. Erfurt 1953. – Poem Neunundfünfzig. Weimar 1959. – Der Pirol u. das Mädchen. Weimar
381 1962. – Jede Stunde deines Lebens. Bln./DDR 1968 (3-teiliger Fernsehroman). – Die blaue Muschel. Bln./DDR 1969 (Hörsp.). – Ich sag’ dir den Sommer ins Ohr. Rudolstadt 1989 (Tgb.). – Zwiefalt sieben. Rudolstadt 1997 (L.). – Klangholz. Rudolstadt 1998 (Kalendergesch.). – Meine schles. Gedichte. Würzb. 2003. Literatur: Peter Reichel: Dauer im Wechsel. Ess. über A. M. Gespräch mit dem Autor. In: WB, H. 6 (1975). – Hans Richter: Ein ep. Frauenlob. In: WB, H. 12 (1980), S. 114–123. – Klaus Hammer: Gespräch mit A. M. In: SuF (1985), S. 1063–1074. – Karola Isecke: Die Gestaltung des Verhältnisses v. Individuum u. Gesellsch. im lyr. u. ep. Schaffen A. M.s. Diss. Erfurt-Mühlhausen 1985. – Günther Deicke: Die jungen Autoren der vierziger Jahre. In: SuF, H. 3 (1987), S. 640–646. – Annette Meusinger: Zum Welt- u. Selbstverständnis A. M.s in seinen Werken 1949–86. Diss. Jena 1987. – Heike Schlatter: Untersuchungen zur individuellen Art u. Weise epischen Darstellens bei A. M. Diss. Potsdam 1987. – Wulf Kirsten: Balance zwischen Realität u. Phantasie. Laudatio für A. M. In: NDL, H. 11 (1987), S. 166–173. – Renate Feigl: 60. Geburtstag des DDR-Schriftstellers A. M. In: Bibliogr. Kalenderblätter 30 (1988), 10, S. 26–39. – Claudia Crodel: Analysen zu A. M.s Prosa bis 1989. Diss. Halle 1990. – Günter Gerstmann (Hg.): A. M. Abschied u. Ankunft. Jena/Quedlinburg 1999. Rüdiger Bernhardt
Müller, Artur, auch: Arnold Brecht, * 26.10.1909 München, † 11.7.1987 Gröbenzell. – Prosaautor, Verfasser von Kriegstagebüchern, Hör- u. Fernsehspielen. M. wuchs im Handwerkermilieu auf. Er absolvierte eine Buchhändlerlehre, wurde Mitgl. der KPD, dann Agit-Prop-Leiter. 1933 wurde er für einige Monate von den Nationalsozialisten inhaftiert. Im Zweiten Weltkrieg war er Soldat. Nach ersten Prosawerken (z.B. die Romane Das östliche Fenster. Mchn. 1936. Traumherz. Dresden. Feldpostausgabe 1944) verfasste M. Kriegsliteratur (Der Stoß in Frankreichs Herz. Mchn.: Zentralverlag der NSDAP, 1941. Ich begleite einen General. Dresden 1942). Nach dem Zweiten Weltkrieg war M. Dramaturg am Bayerischen Staatsschauspiel, ab 1953 Chefdramaturg des HR, 1953–1958 Programmdirektor beim Fernsehen des HR, später freier Mitarbeiter beim Fernsehen des
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SDR. Er veröffentlichte den satir. Roman über den Wiederaufbau Bayerns, Das vielbegehrte Sesselchen (Pseud. Arnold Brecht. Mannh. 1951), u. das Antikriegsstück Die letzte Patrouille? (Emsdetten 1958). In den 1950er Jahren wandte sich M. dem Hörspiel zu, dann dem Fernsehspiel, der Fernsehdokumentation u. dem Sachbuch. Bes. in der Fernsehdokumentation war M. erfolgreich, u. a. mit 14 Folgen über Das Dritte Reich (zus. mit Heinz Huber. 2 Bde., Mchn. 1964), u. acht Folgen über Die sieben Weltwunder (zus. mit R. Ammon. Mchn. 1966. Klagenf. 1985). Mit polit. Fragen befasste er sich in der umfangreichen Biografie Die Sonne die nicht aufging. Schuld und Schicksal Leo Trotzkis (Stgt. 1959) u. dem Sachbuch Die Deutschen. Ihre Klassenkämpfe, Aufstände, Staatsstreiche und Revolutionen (Mchn. 1972). Peter Fischer / Red.
Müller, Bastian, eigentl.: Robert Friedrich Wilhelm M., * 22.8.1912 Leverkusen. – Erzähler, Filmdramaturg, Funkautor. M., Sohn eines Stellmachers u. Kleinbauern, wurde Maurer u. ging 17-jährig als Gelegenheitsarbeiter nach Frankreich u. Italien. Zeitweilig lebte er in Worpswede. Nach ersten Bucherfolgen wandte er sich mehr der Filmarbeit zu. M.s erzählendes Werk (teilweise von Hemingway beeinflusst) thematisiert die unerbittl. Härte des Lebens u. stellt junge Menschen der unteren Mittelschicht auf der Suche nach persönl. Identität dar. Das oft verwendete Motiv des Auslandsaufenthalts, der neue Orientierung gibt, verweist auf den autobiogr. Hintergrund. Die Erzählung Die Eulen (Bln. 1939) u. der Roman Leben ohne Traum (Bln. 1940) behandeln die schwierige Entwicklung von jungen Männern. Der Roman Hinter Gottes Rücken (Diez 1947) spiegelt die Zeitgeschichte 1938 bis 1946 v. a. im von Deutschen besetzten Ausland am Beispiel der Erlebnisse eines jungen Soldaten, der das Militär hasst. M. verfasste auch Hörspiele u. Funkessays. Weitere Werke: Christine. Hbg. 1944 (R.). – Ach, ist’s möglich dann. Hbg. 1944 (E.en). – Ulen-
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spiegel. Vierteilige Hörspielserie nach Charles de Coster. 1958. – Liebesgesch.n. Hbg. 1965. Christian Schwarz / Red.
Müller, Carl Wilhelm, * 15.9.1728 Knauthain/Sachsen, † 28.2.1801 Leipzig. – Herausgeber, Lyriker.
ne. Goslar 1904). 1902 erfolgte die Heirat mit dem Orientmaler Oskar Jahnke. Ihre zunächst in der Parteipresse, dann in Buchform (Mit roten Kressen. Großenhain 1900, G.; Sturmlieder vom Meer. Stgt. 1901) erschienene agitatorische Lyrik mochte in ihrer Bildlichkeit »das alte rote Pathos der Aufstiegsperiode« (Münchow) weitertradiert haben, doch ihrer Zeit galt sie als führende sozialist. Dichterin. Ein eigener, zgl. zukunftsfreudiger Ton prägt die nachgelassenen, von ihrem Mann herausgegebenen Gesammelten Gedichte (2 Bde., Goslar 1907).
M., Sohn eines Juristen, besuchte 1741–1746 die Landesschule Pforta, studierte 1746–1752 in Leipzig (Dr. jur.), trat als Beamter in städt. Dienste, wurde 1759 Ratsmitgl., 1771 Stadtrichter, 1776 »Baumeister« u. »Proconsul« u. 1778 Bürgermeister. Kurz danach erhielt er Literatur: Ursula Münchow: Arbeiterbeweden Titel eines kursächs. Geheimen Kriegsgung u. Lit. 1860–1914. Bln./DDR 1981, S. 403 ff. – rats. Dies.: Neue Wirklichkeitssicht u. polit. Praxis. SoM., der insg. zwölfmal zum Bürgermeister zialist. Lit. u. Arbeiterinnenbewegung. In: Dt. Lit. bestimmt wurde, machte sich um die Stadt von Frauen. Hg. Gisela Brinker-Gabler. Bd. 2, durch die Herstellung der Grünanlagen, den Mchn. 1988, S. 258 ff. Eda Sagarra / Red. Bau des Konzertsaals im Gewandhaus, den Umbau der Nicolaikirche (1785–1797), die Errichtung der Freischule u. die Planung der Müller, (Johann) Daniel, auch: Daniel, Bürgerschule verdient. Er förderte auch lite- Elias (Artista), Messias, * 10.2.1716 Wisrar. Projekte wie überhaupt das öffentliche senbach/Nassau, † nicht vor 1786 Riga (?). Leben der Stadt. – Radikalpietistischer Autor u. »Prophet« M. gab die »Brittische Bibliothek« (6 Bde., der Vereinigungskirche »Offenbarung Lpz. 1756–67) heraus, an der u. a. Kästner u. Christi«. Weiße mitarbeiteten; Lessing, mit dem er Ein armer Bauernjunge wird Autor von einen Briefwechsel unterhielt, beriet er im mindestens 27 Büchern: Musikalische VirProzess gegen Christian Gottfried Winkler. tuosität brachte dem Autodidakten M. solch M.s Gedichte, die er stets anonym veröffentungewöhnl. Aufstieg. Früh kam er an Fürslichte (Versuch in Gedichten. Lpz. 1755), sind tenhöfe, 1733 nach Berleburg, wo er das kirder Anakreontik zuzurechnen. chenkrit. radikalpietistische Schrifttum kenLiteratur: Gustav Wustmann: Aus Leipzigs nenlernte, um 1735 auf Empfehlung Johann Vergangenheit. Lpz. 1885, S. 348–383. – Franz Sebastian Bachs nach Merseburg. 1737–1739 Schnorr v. Carolsfeld: M. In: ADB. war er Violinist in Darmstadt, seit 1744 HofChristian Schwarz / Red. musikus in Hachenburg. Nach seiner Heirat mit einer Verwandten Goethes zog er 1746 Müller, Christoph Heinrich ! Myller, nach Frankfurt/M., wo er als Konzertdirektor Christoph Heinrich auftrat u. das Vollständige Hessen-Hanauische Choral-Buch (2 Tle., Ffm. 1754) veröffentlichMüller, Clara, auch: C. Müller-Jahnke, te. Als Mitgl. der Kapelle musizierte er in der * 5.2.1860 Lenzen bei Belgard/HinterSt.-Katharinen-Kirche, dem Gotteshaus der pommern, † 4.11.1905 Wilhelmshagen Familie Goethe. Nach dem Tod seiner Frau bei Berlin. – Lyrikerin, Erzählerin. (1759) verließ M., von prophetischem SenDie proletarisierte Pastorentocher mit Han- dungsbewusstsein durchdrungen, Frankfurt. delsschulabschluss beschrieb in ihren Werken Unruhige Wanderjahre führten ihn nach ihre Erfahrungen als Volksschullehrerin, so- Skandinavien u. Russland, gelegentlich wiezialdemokrat. Journalistin, als Fabrikarbei- der in die Heimat, häufig nach Hamburg. Seit terin wie auch als ledige Mutter (bes. in der einem für 1786 bezeugten Besuch in Dillenautobiogr. »Geschichte einer Frau« Ich beken- burg verliert sich seine Spur.
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M.s Lehre ist durch einen dogmenkrit. sie den Weg zurück zum toten Buchstaben Universalismus gekennzeichnet: Heidentum, der Schrift versperrten; sie seien aber insoJudentum, Christentum u. Islam haben alle weit teuflisch, als sie sich von der Schriftbasis Anteil an der göttl. Wahrheit. Bibel (v. a. das ganz lossagten. Lessing sei deshalb der AT), Talmud u. Koran behalten (gegen die »Verräther Christi, der Antichrist«. Im Stile M.s ist die Schrift Anti-Götzische und »Freygeister«) ihren Wert als Offenbarungsgrundlage, müssen aber im Sinne M.s (gegen Anti-Leßingische schreckenvolle Biblisch-Prophetidie luth. Buchstäbler) allegorisch, ihrem sche Blicke in die letzten fürchterlichsten Revoluwahren inneren Sinn nach, gedeutet werden. tionen aller äußeren Kirchen und Religionen (o. O. M. würdigte u. popularisierte bes. die Kab- 1782) verfasst, angeblich von einem in Hamburg lebenden Anhänger M.s. bala, teilweise auch Swedenborgs Visionen. Durch das alchemist. Werk Elias Artista Mit Literatur: Ernst Friedrich Keller: D. M., ein dem Stein der Weisen (o. O. 1770) wurde M. als merkwürdiger religiöser Schwärmer des achtzehn»Élie Artiste« zum Idol der Illuminaten in ten Jh. In: Ztschr. für die histor. Theologie 4 (1834), Avignon, einer Swedenborg-Loge um Abbé de Stück 2, S. 219–303. Auch sep. Lpz. 1834. – ReinBrumore u. Dom Antoine de Pernety mit hard Breymayer: Ein unbekannter Gegner GottAusstrahlung auf die russ. Spätrosenkreuzer. hold Ephraim Lessings: [...] J. D. M. In: Pietismus – Herrnhutertum – Erweckungsbewegung. FS Erich M.s synkretist. Allegorese Elias mit dem Alcoran Beyreuther. Hg. Dietrich Meyer. Köln/Bonn 1982, Mahomeds in der Offenbarung Jesu Christi (o. O. S. 109–145. – Ders.: Ein radikaler Pietist im Um1772) befand sich im Besitz von Goethes Vater kreis des jungen Goethe. In: PuN 9 (1983), u. des Dichters orientalist. Berater Heinrich S. 180–237. – Ders.: Elias Artista. In: Le livre reliFriedrich von Diez u. dürfte Goethes Bemü- gieux et ses pratiques. Hg. Hans Erich Bödeker u. a. hungen um »Mahomet« beeinflusst haben. Gött. 1991, S. 45–72. – Ders.: M., (J.) D. In: Bautz Elias mit der Lehre des Talmuds und der Rabbinen (mit Werkverz. u. Lit.). – Ders.: ›Elias Artista‹. In: in ihrem wahren Sinn und Verstand (o. O. 1772) Lit. u. Kultur im dt. Südwesten zwischen Renaiswendet sich gegen den luth. »Satans-Pfaffen« sance u. Aufklärung. FS Walter E. Schäfer. Hg. Oetinger. In der Schrift Der gekrönte Philosoph Wilhelm Kühlmann. Amsterd./Atlanta 1995, S. 329–371. – Ders.: M., J. D. In: NDB. – Ders.: Eine in Occident, oder Anmerkungen eines Anonimi über unbekannte Koranerklärung in der Bibl. v. Goethes den Phädon des Mosis Mendelson (o. O. 1771) Vater: ›Elias mit dem Alcoran Mahomeds‹. Tüb. wird Mendelssohn wegen seiner Verwestli- 2004. Reinhard Breymayer chung als »ein Entlaufener aus der Synagoge seiner Väter« abgekanzelt. M. ist von Gottfried Arnolds Auffassung Müller, Dominik, eigentl.: Paul Schmitz, der Kirchengeschichte als Verfallsgeschichte * 16.1.1871 Basel, † 7.4.1953 Uerikon/Kt. beeinflusst. Im Abschnitt Vom Bauernkrieg Zürich. – Lyriker, Erzähler u. Dramatiker. seines kirchengeschichtl. Buches Der entdeckte Antichrist als der II. Tom. I. Theils des Buchs der Nach der Promotion zum Dr. phil. an der Welt (o. O. 1778) erweist M. sich als Anhänger Universität Basel lebte M. 1894–1902 als Thomas Müntzers u. verdammt Luther: »Das Hauslehrer in Russland u. Spanien. Von 1905 ist der Bauernkrieg, der mit der Reformation bis 1913 sowie 1932/33 war er Redakteur der zugleich ging und ein rechtes Zeugnis ist, daß Basler satirisch-polit. Wochenschrift »Der diese Reformation aus dem Teufel war, da die Samstag«, dazwischen u. danach freier JourRegenten zwar lutherisch wurden, doch aber nalist u. Schriftsteller in Riehen bei Basel. M. Menschen-Schinder waren und immerfort war mit seinen Versen (Basel 1903) u. mit blieben [...].« Der Sieg der Wahrheit des Worts Sammlungen wie Im Winggel (Basel 1917) oder Gottes über die Lügen des Wolfenbüttelschen Bi- Mein Basel (Basel 1920) jahrzehntelang der bliothecarii, Ephraim Lessing, und seines Frag- populärste Basler Dialektlyriker, ehe er ab menten-Schreibers [Reimarus] in ihren Lästerungen 1933 seiner profaschistischen polit. Haltung gegen Jesum Christum, seine Jünger, Apostel, und wegen ins Abseits geriet u. schließlich an den die ganze Bibel (o. O. 1780) lobt an den von Zürichsee übersiedelte, wo er als Dichter Lessing herausgegebenen Fragmenten, dass völlig verstummte. M.s episches Gesellen-
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stück ist der umfängl. Liebes- u. Entwicklungsroman Felix Grollimunds russisches Abenteuer (Zürich/Lpz. 1930), der seine eigenen russ. Erlebnisse widerspiegelt. Weitere Werke: Bloggti Lyt. Basel 1913 (Dialektstück). – Die kalte Pastete etcetera. Basel 1915. 2 1923 (E.en). – Liebesleier. Basel 1917 (L.). – Span. Gesch.n. Frauenfeld 1918. – Basler Historien u. Histörchen. Basel 1927 (Dialekt-L.). – Jakob Sonderlins Überraschungen u. a. Gesch.n. Zürich 1936. – Ich weiß eine Stadt. Hg. Dieter Fringeli. Basel 1985 (L.). Literatur: Fridolin Leuzinger: D. M. Das Basler Ärgernis. In: D. M.: Ich weiß eine Stadt (s. o.), S. 85–174. Charles Linsmayer / Red.
Müller, Elisabeth, * 21.9.1885 Langnau/ Kt. Bern, † 22.6.1977 Hünibach bei Thun. – Jugendbuchautorin.
384 1948. – Die Quelle. Erinnerungen. Bern 1950. 1963. – Heimatbode. Bärndütschi Gschichte. Bern 1955. – Der Wachsengel. St. Gallen 1955 (E.; mit Bibliogr.). – Eveli u. das Wickelkind. Zürich 1965 (E.). Literatur: Walter Laedrach: E. M. Bern 1957. – Fritz Wartenweiler: E. M. u. ihre Welt. Zürich 1967. – Samuel Geiser: E. M. Leben u. Werk. Zürich/Stgt. 1978. – Heidy Margrit Müller: Mädchenerziehung in jugendliterar. Werken v. Olga Meyer u. E. M. In: Inszenierungen v. Weiblichkeit. Hg. Gertrud Lehnert. Opladen 1996, S. 175–192. – Mirjam Thrier: ›Als ob es traulich dem Heiland auf den Knien säße ...‹: Konfessionelle Spuren in Werken v. E. M. u. Josef Hauser. In: Dichterische Freiheit u. pädagog. Utopie. Studien zur schweizer. Jugendlit. Hg. Heidy Margrit Müller. Bern 1998, S. 65–88. – Renata Egli-Gerber: E. M.: Leben u. Werk: eine Annäherung. Bern 2005. Charles Linsmayer / Red.
Die Pfarrerstochter M. wurde in Bern zur Volksschullehrerin ausgebildet u. war nach Müller, Ernst, * 1.1.1627 Marburg, † 3.11. einem Frankreich-Aufenthalt in Lützelflüh u. 1681 Gießen. – Evangelischer Pfarrer u. Bern in dieser Funktion tätig, ehe sie sich ab geistlicher Dichter. 1913 einer tuberkulösen Krankheit wegen fünf Jahre in Leysin aufhalten musste, wo sie Der Sohn eines Medizin- u. Mathematikproihre beiden bekanntesten Jugendbücher fessors besuchte Schule u. Universität in schrieb: Vreneli. Eine Geschichte für Kinder und Marburg. Wegen der Kriegsunruhen unteralle, welche sich mit ihnen freuen können (Bern brach er sein Theologiestudium, das er 1646 1916) u. Theresli (Bern 1918; ident. Unterti- unter Meno Hannecken in Lübeck fortsetzte. tel). Später, als sie mit ihrer Schwester in Im folgenden Jahr ging M. als Hauslehrer Thun eine Privatschule führte, folgte u. a. nach Riga, im Sept. 1650 nahm er erneut sein Christeli (Bern 1920; ident. Untertitel). Studium in Gießen auf. Seit 1652 Prinzenin1924–1935 war M. Methodiklehrerin am Se- formator in Darmstadt, erteilte er auch der minar Thun, danach lebte sie als freie Landgräfin Lateinunterricht. 1656 zum HofSchriftstellerin in Hünibach. Neben zahlrei- staats- u. Regimentsprediger im poln. u. dän. chen, ihrer sprachlichen u. perspektiv. Ver- Feldzug ernannt, wurde M. 1658 Garnisonsniedlichungen wegen nur schwer tradierba- u. Burgprediger in Gießen u. 1664 zgl. Asren hochdt. Jugendbüchern, unter denen Die sessor des dortigen Konsistoriums. M. schrieb poet. Andachten (CCXXXVIII. sechs Kummerbuben (Bern 1942. Muri/Bern 1985) noch am frischesten wirken, schrieb M. Biblische Uber-Schrifften [...] uber die drey erste [...] auch eine Reihe patriotischer, das Berner Capitel, des ersten Buchs Mose [...]. Gießen 1680) Bauernland verherrlichender Dialektge- u. »Aufzüge« (z.B. Busz-Spigel, von Gott, an einer wunder-seltzamen Misz-Geburt, der, bey jetzischichten. 1954 wurde M. die Ehrendoktorwürde der ger Türcken-Gefahr, in Forcht und Hoffnung lebenden Christinne [...]. Gießen 1664; im selben Universität Bern verliehen. Jahr auch unter anderen Titeln). In erster LiWeitere Werke: Die beiden B. Ein Freundnie war er jedoch als Gelegenheitsdichter beschaftsbuch für unsere Kinder. Bern 1931. Muri/ Bern 1985. – Prinzessin Sonnenstrahl. Zürich 1932. kannt. Er konzipierte auch eine Reihe von Neuausg. 1962 (E.). – Das Schweizerfähnchen. Bern Figurengedichten, die sich als lose eingelegte 1937 (E.). – Wackere Leute. Zollikon 1941 (E.). – Faltblätter in Leichenpredigten finden, so Martinssümmerli u anderi Liebesgschichte. Bern etwa die Christliche Leich-Bestattung (Gießen
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1654. Abb. in: Adler u. Ernst, S. 118) anlässlich des Todes von Johanna Tack, bei dem es sich um eine mehrteilige Blattkomposition aus figurierten u. unfigurierten Versen handelt. Die prozesshafte Abbildung der Stationen des Leichenzugs u. der Abläufe des Begräbniszeremoniells nimmt Techniken der visuellen Poesie des 20. Jh. vorweg. Weitere Werke: WeyNachts-Gedancken, unserm Herrn u. Heiland zu Ehren, auf-gesetzet u. in reicher Versamlung der Giessischen Hohen-Schul [...] außgesprochen [...]. Gießen 1651. – LebensReys- u. Sterbens-Andachten [...]. 2 Tle., Gießen 1655. – Das Hohe Lied des Königes Salomons [...]. Ffm. 1656. Gießen 1662. – Kriegs- u. Friedens-Posaune [...]. Gießen 1662. – Das, vom Moskowitischen Zaar Alexei Michaelewiz, am nähern, mit mehr als 100000. Mann hart-belägert gewesen- u. durch Gottes sonderbaren Beystand erhaltene Riga [...]. Gießen 1662. – Die singende Hydorillis [...]. Gießen 1664. – Der kgl. Welt-Printz, Tryphilos [...]. Gießen 1663. – Der, auch auß der Erfahrung, weiß gewordene David [...]. Darmst. 1664. – Geistl. Seelen-Cur, in heilsamen Wasser-Andachten [...]. Ffm. 1666. – Schau-Platz der Eitelkeit [...]. Gießen 1668 (D.). – Die bey duncklem Traur-Wetter, v. Gott erleuchtete Johannetta: Oder: Eine, durch jetziges atheist-syncretist-enthusiastisch u. d. g. auch sonsten seltzam aus-sehendes Welt-Wesen, irr u. betrübt gemacht-, aber vermittelst H. Einfalt [...] starck-gläubige Seele [...]. Gießen 1673. – Der, durch die erleuchtete Johannetta [...] bekehrte Pyrando [...]. Ffm. 1674. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Friedrich Wilhelm Strieder: Grundlage zu einer hess. Gelehrten u. Schriftsteller Gesch. 9. Bd., Kassel 1794, S. 243–246. – Johann F. v. Recke u. Karl E. Napiersky: Allg. Schriftsteller- u. Gelehrtenlexikon 3. Mitau 1831, S. 276 f. – Heiduk/Neumeister, S. 72, 210, 421. – Jeremy Adler u. Ulrich Ernst: Text als Figur [...]. Weinheim 1987 (Ausstellungskat.), S. 118–121. – HKJL, Bd. 2, Sp. 1612 f. Astrid Kube / Red.
Müller, Friedrich, gen. Maler Müller, * 13.1.1749 Bad Kreuznach, † 23.4.1825 Rom; Grabstätte: ebd., Kirche S. Andrea delle Fratte. – Lyriker, Dramatiker, Idyllendichter, Maler, Kunstkritiker. Der Zwölfjährige verließ nach dem Tod des Vaters, eines Bäckers u. Gastwirts, die Schule, hütete Vieh im Nahetal u. half im Gasthaus
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aus. Die Mutter gab ihren talentierten Ältesten 1765 zu Daniel Hien nach Zweibrücken in die Malerlehre. Sein literar. Debüt, das Lied eines bluttrunknen Wodanadlers, erschien durch Johann Friedrich Hahns Vermittlung u. nach einigen Änderungen durch Klopstock im »Göttinger Musenalmanach« 1774, in dem sich sämtliche bedeutenden Sturm und Drang-Autoren versammelt fanden. Über Nacht gehörte M. zur literar. Avantgarde. Im enthusiast. Freundschaftsstil der Zeit würdigten Friedrich Heinrich Jacobi, Wagner, Lenz, Klinger, Schubart u. Claudius M.s Gedichte, Idyllen u. Dramenfragmente, die er, sich absetzend von den bürgerl. Studenten, mit »Maler Müller« unterzeichnete. In M.s Kindheitserfahrungen gründen seine realist. Weltsicht u. seine starke Anteilnahme an Natur u. Kreatur, die seine frühen Zeichnungen u. Radierungen von Tieren, Hirten u. Landschaften ebenso prägen wie seine seit 1775 in rascher Folge erscheinenden Texte. Die Themen schöpfte er aus der Sagenwelt, den ländl. Szenen, Charakteren u. Stimmungen seiner Heimat u. verband sie mit autodidaktisch erworbenen mytholog. Versatzstücken. Die Überschneidungen mit dem ästhetischen u. ideolog. Programm des Sturm und Drang verschafften seinem Werk zeitweilig ein lebhaftes Interesse. Die meisten seiner Briefpartner u. Rezensenten, unter ihnen auch Wieland, Merck u. Lessing, lernte M. persönlich kennen, lebte er doch, nach früheren dortigen Studienaufenthalten bei Peter Anton Verschaffelt, seit 1775 in Mannheim, das als kulturell ambitionierte Residenzstadt des Wittelsbacher Kurfürsten Carl Theodor zahlreiche Besucher anlockte. Mit der Zeitschrift »Die Schreibtafel« (Mannh.) hatte der Verleger Christian Friedrich Schwan dem »pfälzischen Genie« ein Forum eröffnet, das der junge Dichtermaler fleißig nutzte. »Schwestern« nannte er seine beiden Begabungen in dem Dialoggedicht Poesie und Mahlerey (Erstdr., hg. v. Rolf Paulus. Saarbr. 1988), nachdem er, ganz Kraftgenie, in dem übermütigen Schreiben An Herrn K... in Mannheim (in: »Schreibtafel«, 2. Lfg., 1775) dem Malerfreund Ferdinand Kobell öffentlich mitgeteilt hatte: »Bey Tage mahle ich; und des Nachts mach’ ich mich auf einem
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Bogen Papier lustig.« Durch experimentelle Sprachformen strebte er – so in den Hymnen Creutznach (in: »Schreibtafel«, 6. Lfg., 1778) u. Das Heidelberger Schloß (in: »Schreibtafel«, 5. Lfg., 1776) oder in der bibl. Idylle Adams erstes Erwachen und erste seelige Nächte, die 1778 in Mannheim erschien – nach malerischer Dichte u. bildl. Eindringlichkeit; durch realist. Details u. poet. Situationen verlieh er seinen Bildern u. Zeichnungen narrativen Charakter. Anakreontik im Stile Gleims, empfindsame Oden in der Nachfolge Klopstocks, Balladen, Volkslieder, Bardenlyrik: M. spielte mit vorgefundenen Formen unterschiedlichster Provenienz, die er jedoch mit der ihm eigenen genauen Beobachtung der Gefühle u. Verhältnisse erfüllte. So erzählt die Ballade Das braune Fräulein (in: Balladen. Mannh. 1776) vom Liebesverrat im Ständestaat; das Lied Soldatenabschied, 14-mal vertont, traf vor dem Hintergrund der Aushebungspraxis in den Duodezfürstentümern den Nerv der Zeit; Anakreontischem gab M. durch schwungvollen Rhythmus (Lied. In: Schreibtafel, 5. Lfg.) oder gesteigertes Pathos (Dithyrambe. In: Göttinger Musenalmanach 1775) neue Kraft; in der Ode Nach Hahns Abschied (in: Göttinger Musenalmanach 1776) erkundet M. differenziert die sich steigernden Affekte der Seele. Bis ins röm. Spätwerk der satir. Epigramme u. kunsttheoret. Erörterungsgedichte hinein bietet sein Werk, zu großen Teilen noch unediert, Beispiele hervorragender Lyrik. Mit Faust u. Genovefa gestaltete M. in seinen ersten dramat. Arbeiten zwei Sagenstoffe seiner Heimat. Golo, der glücklose Verführer Genovefas, wird bei ihm zum Sturm und Drang-Helden par excellence (Genovefa im Thurme. In: Balladen). Nach fragmentar. Vorarbeiten begann M. in Fausts Leben. Erster Theil (Mannh. 1778) mit der systemat. Ausarbeitung des Stoffs; eingebettet in realist. Milieuschilderungen aus dem dt. Kleinstadtleben erscheint bei ihm Fausts Teufelspakt als zwangsläufiges Verhalten eines »großen Kerls« (Vorrede) in der Enge der Umstände. Erst kurz vor seinem Lebensende sollte M. das Werk, nun mit universalem Anspruch, in metr. Form abschließen.
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Mit seinen Prosaidyllen erwarb sich M. die Bewunderung der Zeitgenossen. Die realitätsferne Gattung revolutionierte er durch die Verlagerung des Geschehens in den bäuerl. Alltag u. durch deftige Prosa, durchsetzt mit parodist. Elementen: M.s Satyrn u. Faune gebärden sich ungestüm wie pfälz. Bauern (Der Satyr Mopsus. Ffm., Lpz. 1775 u. ö.), seine Bauern führen bei ihren ländl. Geschäften gelehrte ästhet. Dispute (Die Schaaf-Schur. Mannh. 1775). Doch verdeckt die poet. Innovation, dass M. hier das Bild einer patriarchalisch strukturierten Agrargesellschaft konservierte (bes. Der Christabend. In: Idyllen. Hg. Otto Heuer. Lpz. 1914), das im Zeitalter des Merkantilismus auch für die Pfalz schon anachronistisch war. Fast 30-jährig, brach M. 1778 nach Rom auf, wo er bis an sein Lebensende bleiben sollte. Durch die wechselhaften polit. Verhältnisse am kurpfälzisch-bayerischen Hof – 1779 hatte Carl Theodor in München die Erbfolge angetreten – u. die polit. Unruhen in Europa erhielt M. seine Pension als Hofmaler nur sehr unregelmäßig u. lebte in ständiger finanzieller Not, die viele künstlerische Pläne zunichte machte. Während einer lebensbedrohl. Krankheit konvertierte er 1780 zum Katholizismus. In den ersten Jahren nahmen den Maler die gewaltigen Kunsteindrücke – bes. Raffael u. Michelangelo – gefangen. Auf die Kabalen der untereinander missgünstigen röm. Künstlerkreise reagierte M. mit zwei bissigen satir. Schlüsseldramen (Das römische Kunstantiquariat. Um 1788. Die Winde. Um 1806. Beide unveröffentlicht). Wie in seiner zunehmend klassizist. Malerei wandte sich M. auch in der Dichtung antiken Themen zu; doch bestimmt seine vor 1804 in Italien entstandene Iphigenia (Erstdr., hg. v. Roland Folter. Diss. Brown University 1969) nicht weimarische Moderatheit, sondern im Sinne Lessings die Emphase des Affekts. Das dreiteilige lyr. Drama Adonis, 1809 abgeschlossen, erschien erst in M.s Todesjahr in Leipzig. Ludwig Tieck, 1805 in Rom, leitete eine Werkausgabe in die Wege, von der 1811 drei Bände erschienen (Hg. Georg Anton Batt u. a. Heidelb.). Dass die Auswahl nur Texte aus M.s erster Schaffensperiode berücksichtigte,
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wirkt sich in der Literaturgeschichtsschrei- u. Fatime. Karlsr. 1825 (N.). – Maler M.s Werke. bung bis heute nachteilig auf die Beurteilung Hg. Max Oeser. 2 Bde., Neustadt/Haardt 1918. – seiner späteren Werke aus. Der dritte Band Fausts Leben. Hg. Johannes Mahr. Stgt. 1979. – enthält das 1781 beendete Drama Golo und Kleine Gedichte zugeeignet dem Herrn Canonicus Gleim. Hg. Rolf Paulus u. Christoph Weiß. St. Genovefa, das Tieck zuvor für eigene Zwecke Ingbert 1990. – Giulio Varrini, Maler M.: Sprichbenutzt hatte. In romant. Kreisen löste die wörter. Hg. Ulrike Leuschner u. Ingrid Sattel BerWerkausgabe eine kleine M.-Renaissance aus. nardini. Heidelb. 2000. – Arkadien oder Dolly zuInzwischen hatte sich M. als Antiquar u. liebe. 18 Bilder v. Mathias Weis u. 16 kleine GeCicerone unter den dt. Romreisenden einen dichte v. F. (Maler) M. Kassel 2006. Namen gemacht. Dem bayerischen KronLiteratur: Bibliografie: Friedrich Meyer: Malerprinzen Ludwig, den er 1805 durch Rom ge- M.-Bibliogr. Lpz. 1912. Neudr. Hildesh./New York führt hatte, vermittelte er erste Bilder u. 1974. – Weitere Titel: Bernhard Seuffert: Maler M. Skulpturen für die geplanten Münchner Bln. 1877 (Monogr. mit Texten aus dem Nachl.). – Sammlungen, ehe er, den Intrigen in der Friedrich-Adolf Schmidt: Maler M.s dramat. bayerischen Gesandtschaft nicht gewachsen, Schaffen unter bes. Berücksichtigung seiner FaustDichtungen. Gött. 1936. – Christoph Perels: Maler hinter Martin von Wagner zurückstehen M.s ›Iphigenia‹. In: JbFDH (1983), S. 157–197. – musste. Ingrid Sattel Bernardini u. Wolfgang Schlegel: F. Seine letzten Lebensjahre seit 1814 wid- M. 1749–1825. Der Maler. Landau/Pfalz 1986 mete M. v. a. der Fertigstellung des umfang- (Œuvrekat. mit umfangreichem biogr. Material). – reichen metr. Faust-Dramas. Anknüpfend an Maler-M.-Almanach 1980, 1983: Landau; 1987, alte, von Lessing gebilligte Pläne, entwarf er 1988: Bad Kreuznach; 1995: Pfaffen-Schwabenein großes Welttheater, in dem er den träu- heim; 1999, 2005: Bad Kreuznach. – Ulrike Leumenden Faust den Teufelspakt als grausam schner: Maler M. u. der Sturm u. Drang in Mannscheiternde Illusion gesteigerten Mensch- heim. In: Sturm u. Drang. Kat. der Ausstellung im FDH. Hg. Christoph Perels. Ffm. 1988, S. 202–222. seins erleben lässt, um dann den erwachen– Gerhard Sauder, Rolf Paulus u. Christoph Weiß den im Namen Lessings auf das aufgeklärte, (Hg.): Maler M. in neuer Sicht [...]. St. Ingbert 1990. freimaurerische Humanitätsideal zu ver- – Siegmund Thös-Kössel: Ansichten des Malers F. pflichten. Nachdem sich M.s Lebensumstän- M. St. Ingbert 1993. – U. Leuschner u. R. Paulus de endlich gebessert hatten u. Publikationen (Hg.): Hirschstraße. Sonderh. Maler M. zum 250. im »Athenäum«, im »Janus« u. im »Mor- Geburtstag. Reilingen 1998. genblatt« ihm späte Anerkennung zu verUlrike Leuschner / Eckhard Faul heißen schienen, traf ihn die Ablehnung des Faust durch Cotta empfindlich. Er starb nach Müller, Friedrich von, * 13.4.1779 Kundem zweiten Schlaganfall. reuth/Franken, † 21.10.1849 Weimar; Die krit. Gesamtausgabe von M.s Werken Grabstätte: ebd., Alter Friedhof. – Weibegann 1996 mit der Edition seines Dramati- marischer Kanzler; Verfasser von Erinnesirten Faust (2 Bde., hg. v. Ulrike Leuschner. rungsschriften. Heidelb.), es folgte die vierbändige Ausgabe seines Briefwechsels (Hg. Rolf Paulus u. Ger- Als Sohn eines Verwaltungsbeamten in der hard Sauder. Heidelb. 1998), der ein leben- Stammherrschaft der fränk. Adelsfamilie von diges Bild der Sturm und Drang-Epoche u. Egloffstein besuchte M. die Schule in Baydes röm. Kulturlebens über mehr als vier reuth u. studierte dann die Rechte an den Jahrzehnte vermittelt, sowie eine Maler- Universitäten Erlangen u. Göttingen. Eine Müller-Bibliografie(v. R. Paulus u. Eckhard von ihm zu bearbeitende jurist. Angelegenheit lenkte die Aufmerksamkeit Herzog Karl Faul. Heidelb. 2000). Augusts auf ihn, der ihn als Assessor nach Weitere Werke: Niobe. Mannh. 1778 (D.). – Schreiben v. F. M. über eine Reise aus Liefland nach Weimar berief. Während der kriegerischen Neapel u. Rom v. August v. Kotzebue. Dtschld., Ereignisse war M. bis 1813 an verschiedenen recte Mannh. 1807. – Kritik der Schrift des Ritters diplomat. Missionen beteiligt u. trat 1815 als v. Bossi über das Abendmahl des Leonardo da Vinci. Kanzler an die Spitze der Justiz; 1835 wurde Heidelb. 1817. – Der hohe Ausspruch oder Chares er Landtagsmitglied. Bedeutend waren seine
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Bemühungen um eine verbesserte Kriminalordnung u. um die Trennung von Verwaltung u. Rechtspflege. M. spielte durch seine vielfältigen Interessen u. Verbindungen eine wichtige Rolle im literar. Leben Weimars. So hatte er am Zirkel der Herzogin Amalie teil u. pflegte Beziehungen zu Alexander von Humboldt, Friedrich August Wolf, Johannes von Müller u. zahlreichen Dichtern. Dem engen Kontakt mit Goethe sind die erst postum edierten Gesprächsaufzeichnungen Unterhaltungen mit Goethe zu verdanken, die wertvolle Informationen über das Denken des Dichters geben, sowie weitere Aufsätze über Goethes Tätigkeit. Von M. stammt der Vorschlag, der Deutsche Bund möge Goethes Haus mit sämtl. Sammlungen zu einem Nationaldenkmal gestalten. Weiter trat M. als Autor einiger Gelegenheitsgedichte u. -lieder hervor. Zur Erarbeitung einer geplanten Denkschrift über Goethe kam es nicht mehr. Weitere Werke: Goethe in seiner pract. Wirksamkeit. Weimar 1832. – Goethe in seiner eth. Eigenthümlichkeit. Weimar 1832. – Erinnerungen aus den Kriegszeiten v. 1806 bis 1813. Braunschw. 1851. – Unterhaltungen mit Goethe. Krit. Ausg. v. Ernst Grumach. Weimar 1956 (mit weiteren Reden, Schr.en u. Briefen M.s). Literatur: Wilhelm Bode (Hg.): Goethe’s Persönlichkeit. Drei Reden des F. v. M. [...]. Bln. 1901. – Ulrich Crämer: Der polit. Charakter des weimar. Kanzlers F. v. M. o. O. 1901. – Marcel Reich-Ranicki: Betrifft Goethe. Mchn. 1982. – Ernst Kähler: Das ›Argument a posteriori‹: Aufklärung einer Anekdote Goethes. In: GoetheJb 101 (1984), S. 356–359. – Silke Henke: Kanzler F. v. M. – zur Erinnerung an seinen 225. Geburtstag. In: GoetheJb 120 (2003), S. 340–344. Holger Böning / Red.
Müller, Friedrich August, * 16.9.1767 Wien, † 31.1.1807 Wien. – Verfasser von Versepen, Übersetzer. Nach seiner Erziehung im Dessauer Philanthropin studierte M. verschiedene Fächer in Halle u. Göttingen. Trotz Habilitation (Erlangen 1797) verzichtete er auf eine akadem. Laufbahn. Er starb, knapp 40-jährig, nach seiner aus privaten Gründen erfolgten Rückkehr nach Wien.
Aus seiner Universitätszeit noch stammen erste poet. Versuche, denen später indes ein nur schmales literar. Œuvre folgte: neben einigen anonymen Zeitschriftenbeiträgen v. a. Versepen, mit denen er seiner WielandBegeisterung Ausdruck verleihen wollte. Enge Anlehnung an sein Vorbild verrät insbes. M.s Erstling (Alfonso. Ein Gedicht in acht Gesängen. Gött. 1790) durch formale u. sprachl. Anleihen (Stanzen) sowie motivische Entsprechungen der frei erfundenen Handlung. Affinität zum »Wunderbaren« zeigte M. indes auch, wenn er einen vorgeprägten Stoff gestaltete, indem er das histor. Geschehen idyllisch verzeichnete u. es durch märchenhafte Züge dem gewählten Genre anzunähern suchte (Richard Löwenherz. Ein Gedicht in sieben Büchern. Bln./Stettin 1790). Das Publikum fand an M.s Texten wenig Gefallen, überwiegend negativ war auch der Grundtenor der zeitgenöss. Kritik, die ihm sein Epigonentum vorhielt. August Wilhelm Schlegel immerhin würdigte M.s bilderreiche Sprache, deren eindringl. Naturschilderungen auf die Romantik vorauswiesen, u. lobte seine geschmeidige Versifikation (in: Göttingische gelehrte Anzeigen, 1790, S. 937 f.). Weitere Werke: Adelbert der Wilde, ein Gedicht in zwölf Gesängen. 2 Bde., Lpz. 1793. – Oden, oder die Auswanderung der Asen. Aus dem Schwedischen des Karl Gustav Leopold. Lpz. 1805 (Trauersp.). Literatur: Wurzbach. – Franz Brümmer: M. In: ADB. – Oskar Katann: F. A. M. als Epiker. Diss. Wien 1909. Wolfgang Schimpf
Müller, Georg, * 29.12.1877 Mainz, † 29.12.1917 München; Grabstätte: ebd., Westfriedhof. – Verleger. Der Sohn eines wohlhabenden Lederhändlers wechselte wegen pädagog. Missgriffe der Lehrerschaft vom humanistischen zum Realgymnasium u. schloss mit der Reife zum »Einjährigen« ab. In München im Hause des (bibliophilen) Radierers Peter Halm untergebracht, begann er eine Lehre als Sortimentsbuchhändler. Danach arbeitete er beim Verlag Bruckmann in München u. verbrachte auch einige Zeit in Paris, bis er mit den Berliner Beständen bzw. Titelrechten des Verlags Ge-
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org Heinrich Meyer als Grundstock 1903 seinen eigenen Verlag in München (bis 1910: München u. Leipzig) gründete. 1904. beteiligte er sich an der von Wilhelm Weigand herausgegebenen Zeitschrift »Süddeutsche Monatshefte«, ein Verlustgeschäft. M.s Verlagsproduktion zeichnet sich durch gediegene Einbandkultur u. Typografie (Paul Renner, Emil Rudolf Weiß u. a.) aus; neben bibliophilen Ausgaben etwa der Renaissancenovellistik u. der Memoirenliteratur stehen vorbildl. Werkeditionen von Brentano, Goethe (die chronolog. »Propyläen-Ausgabe«), Hebbel, Lenz, Schiller (»Horen«-Ausgabe) sowie fremdsprachige Klassiker. Die Moderne mit Autoren wie Bierbaum, Ewers, Feuchtwanger, Wedekind, v. a. aber Strindberg, den M. durch die große »gelbe« Reihe seiner Werke in Deutschland bekannt machte, wurde gebührend berücksichtigt. 1920 in eine AG umgewandelt, fusionierte der Verlag 1932 mit dem Albert-Langen-Verlag (heute Teil der Fleissner-Gruppe). Literatur: Fünfundzwanzig Jahre G. M. Verlag. Mchn. 1928. Darin: Alfred Neumann: Erinnerungen an G. M. – Andreas Meyer: Die Verlagsfusion Langen-Müller. Ffm. 1989. – Eva v. Freeden u. Rainer Schmitz (Hg.): Sein Dämon war das Buch: der Münchner Verleger G. M. Mchn. 2003. Oliver Riedel / Red.
Müller, Gerhard Friedrich, * 18.10.1705 Herford, † 11.10.1783 (alten Stils) Moskau. – Historiker, Geograf, Ethnograf u. Archivar. Der Sohn eines Gymnasialrektors studierte in Rinteln u. Leipzig. 1725 wurde er als Adjunkt an die neu gegründete Petersburger Akademie berufen, 1731 zum Professor für Geschichte ernannt. 1728–1730 redigierte er die in dt. u. russ. Sprache erscheinende »S. Petersburgische Zeitung« sowie die »Anmerkungen über die Zeitungen«. 1733–1743 nahm er an der Großen Nordischen Expedition teil. Seine Sammlungen sind für die Erforschung von Geschichte u. Ethnografie Sibiriens bis heute nicht ausgeschöpft. 1748 zum Rektor der akadem. Universität u. Reichshistoriograf ernannt, geriet er in Intrigen u. wurde 1750 zeitweilig in den Ad-
junktenstand zurückversetzt. 1754–1765 war er ständiger Sekretär der Petersburger Akademie; in dieser Zeit gab er zehn Jahrgänge der ersten russ. populärwiss. Zeitschrift »Ezˇemesjacˇnye socˇinenija« (Monatliche Beiträge) heraus. 1765 wurde er zum Leiter des Moskauer Findelhauses ernannt, wechselte 1766 an das Moskauer Archiv des Kollegiums der Auswärtigen Angelegenheiten, dessen Leitung er 1775 übernahm. Dieses Archiv entwickelte er zum ersten nach modernen Grundsätzen geordneten histor. Archiv in Russland; die unter seiner Anleitung erarbeiteten Registranden werden teilweise noch heute benutzt. Kontakte nach Deutschland hielt M. über Anton Friedrich Büsching, in dessen »Wöchentlichen Nachrichten« u. im »Magazin für die neue Historie und Geographie«, aber auch in Gottscheds Journal »Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit« er Beiträge (vielfach anonym) veröffentlichte. Als Historiker wurde er v. a. durch die Herausgabe der Sammlung russischer Geschichte (9 Bde., Petersburg 1732–64; illegaler Nachdr. Offenbach 1777–79) bekannt, darin seine Geschichte Sibiriens (russ. Ausg. Moskau/Leningrad 1937/41. Neudr. Moskau 1998/2001; 3. Bd. 2005). Weitere Werke: Die Berliner u. die Petersburger Akademie der Wiss.en im Briefw. Leonhard Eulers. Tl. 1: Briefw. mit G. F. M. 1735–67. Bln. 1959. – Peter Hoffmann u. Ossipov Valerij Ivanovicˇ (Hg.): Geographie, Gesch. u. Bildungswesen in Russland u. in Dtschld. im 18. Jh. Briefw. Anton Friedrich Büsching – G. F. M. 1751–83. Bln. 1995. – Eugen Helimski u. Hartmut Katz (Hg.): G. F. M.: Nachrichten über Völker Sibiriens (1736–42). Hbg. 2003. – G. F. M.: Izbrannye trudy. Moskau 2007. Literatur: Anton Friedrich Büsching: Beiträge zur Lebensgesch. denkwürdiger Personen. 3. Tl., Halle 1785, S. 1–140. – Joseph L. Black: G. F. M. and the Imperial Russian Academy. Kingston/ Montreal 1986. – Larisa Prokop’evna Belkovec: Rossija v nemeckoj istoricˇeskoj zˇurnalistike XVIII v. G. F. Miller i A. F. Bjusˇ ing. Tomsk 1988. – Aleksandr Christianovicˇ Elert: Narody Sibiri v trudach G. F. Millera. Nowosibirsk 1999. – Gudrun Bucher: ›Von Beschreibung der Sitten und Gebräuche der Völker‹. Die Instruktionen G. F. M.s u. ihre Bedeutung für die Gesch. der Ethnologie u. der Geschichtswiss. Wiesb. 2002. – Peter Hoffmann: G. F. M. (1705–83). Historiker, Geograph, Archivar im
Mueller Dienste Russlands. Ffm. u. a. 2005 (Bibliogr. S. 349–372). – G. F. M. i russkaja kul’tura. Hg. Dittmar Dahlmann. St. Petersburg 2007. – P. Hoffmann: G. F. M. Ein historiografiegeschichtl. Literaturber. In: Ztschr. für Geschichtswiss. 56 (2008/2), S. 154–160. Peter Hoffmann
Mueller, Harald, * 18.5.1934 Memel. – Dramatiker u. Übersetzer. Von Anfang an – er floh 1945 mit Mutter u. Brüdern aus Ostpreußen nach Ostholstein – zeigt sich die Irrfahrt (Henrichs) als M.s durchgehendes Lebensmotiv: Sie charakterisiert nicht nur das durch ein ständiges Auf u. Ab gekennzeichnete Leben M.s (er spricht von sich selbst als von einem »Neger mit drei Lebensläufen«), sondern v. a. die Aufnahme seines Werkes in Fachkreisen der Germanistik u. des Theaters, wo sich kommerzielle u. künstlerische Erfolge u. eklatante Misserfolge abwechseln. Der »dritte« Lebenslauf, der des Dramatikers, der jahrelangem Jobben als Bergmann, Bauhilfsarbeiter, Möbelpacker, Telefonist, Dolmetscher u. Hotelangestellter folgte, begann Mitte der 1960er Jahre u. zeitigte 1968 einen relativ raschen Erfolg mit dem Stück Großer Wolf, in dem M., angeregt durch einen ZEIT-Artikel über herumvagabundierende Waisenkinder in Vietnam, eine Gruppe von kleinen Jungen in einer Kriegssituation vorführt. Es folgten das SuhrkampDramatiker-Stipendium sowie der GerhartHauptmann-Preis für sein zweites Stück Halbdeutsch, das den Überlebenskampf in einem Obdachlosenheim zeigt. 1970 wurden beide Stücke an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt, unter der Regie von Claus Peymann bzw. Karl Paryla. Doch gerade anhand dieses spektakulären Startes zeigt sich schon, was M. lange bleiben sollte: ein »Opfer seiner Uraufführungen« (Henrichs). Die Lesart der Theatertexte durch die Regisseure kehrte kaum einmal die Eigenart von M.s – im positiven Sinne – sprachlastigen Stücken hervor, sondern bebilderte oft nur die Texte, die bis auf Großer Wolf, Halbdeutsch, Strandgut (Urauff. Berlin, 1974), Winterreise (vergriffen) u. Totenfloß (Theater heute 7, 1986; Spectaculum, Bd. 43, Ffm. 1986) nur als Bühnenmanuskripte zugänglich sind,
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oder benutzte sie als Spielvorlage. M. macht es seinen Interpreten nicht immer leicht, zumal die Metapher der Irrfahrt auch auf M.s Bemühungen, die eigene dramat. Form zu finden, angewendet werden kann: In den Außenseiterstücken (Großer Wolf, Halbdeutsch, Strandgut, Totenfloß), zu denen aus heutiger Sicht auch Bolero (Urauff. Bonn, 1987) gezählt werden kann, sind Grundstimmung, (Aus)Gang der Handlung u. der ins Chiffrenhafte übersteigerte Sprachrealismus mit den von Kafitz für Totenfloß genannten Merkmalen einer postmodernen Dramatik vereinbar, während sich das Scheitern der Utopien in Totenfloß (gleichzeitige Urauff. in Düsseldorf, Stuttgart u. Basel, 1986), M.s erfolgreichstem, in 14 Sprachen übersetztem postatomarem Stück, wie das klass. Ende einer Menschheitstragödie ausnimmt. M.s histor. Dramen Toller Bomberg (Urauff. Dortmund, 1982), Kohlhaas (Urauff. Bad Hersfeld, 1990), Magdeburger Hochzeit (Urauff. Wallonerberg, 1996), LUTHER RUFEN (Urauff. Wittenberg, 1996), LUTHER RUFEN – Freund Melanchton (Urauff. Wittenberg, 1997) erweisen sich nicht als bloße Dramatisierungen von literarischen bzw. histor. Vorlagen, sondern als geschichtsdeutende Dramen, die M. zur Erprobung unterschiedlicher dramat. Formen dienen: Es finden sich dort Elemente des epischen, didakt., auktorialen, naturalist. u. expressionist. Theaters bis hin zu Elementen des Theaters der Grausamkeit. Dass dergleichen Formspiele zgl. eine semiot. Funktion erfüllen, zeigt sich auch in den gesellschaftskrit. (Konversations-)Stücken Stille Nacht (Urauff. Berlin, 1974), Rosel (Urauff. London, 1976), Winterreise (Urauff. Braunschweig, 1977), Frankfurter Kreuz (Urauff. Esslingen, 1979) u. Die Trasse (Urauff. Dortmund, 1980). Zwar verfolgt M. hier einen prinzipiell realistischen dramaturg. Ansatz (was v. a. mit dem Entstehungszeitraum zu tun hat), aber im Grunde ist dieser nur eine Ersatzform für Inhalte, die M. einem tiefenrealist. Theater zuschreibt, dessen formale Umsetzung ihm jedoch bislang nicht gelungen ist. Mit dem Stück Gaunerroullett (Urauff. u. d. T. Henkersmahlzeit, Bielefeld, 1979) schrieb M. seine einzige Komödie u. mit Der seltsame Kampf um die Stadt Samarkand, seinem
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frühsten Stück, eine Parabel mit komplexem terfragt, indem er die Diskrepanz zwischen Reimschema. In Doppeldeutsch (Urauff. Ro- sprachl. Ausdruck u. Situation vorführt sowie stock, 1992), einem Stück zur Wiederverei- Sprache nicht nur zum Objekt der szen. Unnigung, versucht er sich, gleichsam als Fort- tersuchung, sondern zum Subjekt u. eigentl. führung von in Die Trasse Ausprobiertem, als Protagonisten seiner Dramatik macht, darf man ungeachtet der Problematik dieser Gestalter des Grotesken. Bei M.s dramaturg. Ansatz handelt es sich Sprachgestaltung von einer Dramaturgie der also um eine Art Bruchstück-Dramaturgie, Sprache sprechen. Die Alltagsimitation wird deren heterogene Muster hauptsächlich dabei aufgrund des Zitatcharakters zu einem durch die Prinzipien seiner Sprachgestaltung Stilisierungsprinzip, in dem Rekonstruktion zu einem ganzen Stück geformt werden. M. u. Dekonstruktion zusammenfallen. M. fingreift in allen Stücken gesellschaftspolit. det aber in den Dramen durchaus auch zu Themen auf, u. fast jedem Stück liegt ein seinem eigenen Idiom mit unverwechselbaaktueller Anlass zugrunde. Nicht jedoch die ren Stilmerkmalen, wenn er wie in Totenfloß journalist. Bebilderung dieser Themen, son- Kunstsprachen entwickelt oder auch dort, wo dern ihre Bearbeitung für einen Kunstraum ihn die »Sprengkraft der Zote« (Heiner Mülu. ihre Betrachtung aus einem ideologiekrit. ler) zu einem Poeten des Asozialen werden Blickwinkel ist M.s Anliegen. So zeigt sich, lässt. Lange Zeit erfolgte die literar. Einordnung dass in M.s Dramen, trotz z.T. sehr konkret formulierter Kritik an diversen Aspekten des M.s im Zusammenhang mit Franz Xaver gesellschaftl. Lebens (Deutschlandbild, Sozi- Kroetz u. der Horváth-Nachfolge. Wiewohl alkritik) eine Fundamentalkritik am polit. ihn mit den Vertretern dieser Gruppe EinSystem nicht zum Ausdruck kommt. M.s zelaspekte u. mit Horváth die Arbeitstechnik pluralist. Weltbild ist geprägt von einer tief- der Recherche u. des Zitats verbinden, entgreifenden Modernekritik, die er in einem wickelte sich M., der sich auch als Übersetzer Programmheftbeitrag mit dem bezeichnen- von engl. Dramatik (Shaw, Bond, Burgess) den Titel Das Prinzip Hoffnung besteht darin, das einen Namen machte, in eine andere RichPrinzip Hoffnung aufzugeben deutlich aus- tung weiter u. verdient es, als Einzelphänospricht. Dieses schwarze Weltbild ist die Basis men betrachtet zu werden. für die Entwicklung von großen Dystopien u. Literatur: Dieter Kafitz: Bilder der Trostlosigkleinen Gegenutopien in M.s Stücken, von keit u. Zeichen des Mangels. Zum dt. Drama der denen nur zwei (Ein seltsamer Kampf um die Postmoderne. In: Tendenzen des GegenwartstheaStadt Samarkand u. Totenfloß) eine wahre Uto- ters. Hg. Wilfried Floeck. Tüb. 1987, S. 157–176. – pie, ein konkretes Prinzip Hoffnung u. damit Ders.: Sprachrealismus u. Zeichenspiel in den die Utopiefähigkeit des Autors erkennen las- Dramen H. M.s. In: Zeitgenöss. Theater in Dtschld. u. Frankreich. Hg. W. Floeck. Tüb. 1989, sen. In beiden Fällen ist die Sprache der S. 135–149. – Michael Töteberg: H. M. In: KLG. – Schlüssel für die positiven Ereignisse u. damit Peter Michalzik: H. M. In: LGL. – Michaela BürgerTrägerin des vom Autor vorsichtig entfalteten Koftis: Das Drama als Zitierimperium. Zur DraUtopiepotentials. Die zentrale Bedeutung, maturgie der Sprache bei H. M. St. Ingbert 2005. die M. der Sprache beimisst, zeigt sich schon Michaela Bürger-Koftis in seiner Arbeitsweise. Nicht nur, dass er ausgiebig recherchiert, sich in AlltagssituaMüller, (Reimund) Heiner, * 9.1.1929 Eptionen Zitate notiert, sprachl. Vorlagen, wie pendorf/Sachsen, † 30.12.1995 Berlin. – Protokolle, Zeitungen, Interviews, bei histoDramatiker, Lyriker u. Prosaautor. rischen oder regionalen Stoffen auch Archivmaterial studiert, sich also als wahrer M.s Vater, Kurt Müller, wurde 1933 als AnSprachforscher betätigt, er konzipiert sogar gehöriger der sozialdemokrat. Splitterpartei seine Figuren u. z.T. auch die Handlung aus SAP von den Nationalsozialisten deportiert. dem gesammelten Material. Da diesem Ver- Der Sohn verfolgte die Szene versteckt unter fahren aber auch ein sprachkrit. Impetus zu- dem Bett u. deutete diese Erfahrung später als grunde liegt u. der Autor z.B. Sprache hin- Urerlebnis eines von Diktaturen, Gewalt u.
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Katastrophen geprägten Jahrhunderts. Nach mehreren Monaten wurde der Vater wieder freigelassen, doch die Familie musste später umziehen, 1938 nach Waren/Müritz, nach dem Krieg 1947 ins sächs. Frankenberg. Kurt Müller stieg in der DDR zum Bürgermeister auf, u. M. gelangte nach dem Abitur in diverse staatl. Hilfskraftstellen, die er aber neben der beginnenden literar. Arbeit nur en passant betrieb u. schnell wieder aufgab. 1951 siedelte die Familie in den Westen über, weil der Vater in Konflikt mit der Staatspartei SED geraten war u. die Verhaftung fürchtete; M. blieb in der DDR, zog nach Berlin u. wurde freier Schriftsteller. Dort begann eine bis in die 1970er Jahre reichende plebejische Existenz, mit ersten Erfolgen u. Anerkennung des dramat. Talents, aber ebenso geprägt von staatl. Kritik, Aufführungsverboten, Geldnot u. Arbeitslosigkeit. Mit seinen ersten beiden Stücken Der Lohndrücker u. Die Korrektur begab sich M. getreu der staatssozialist. Doktrin des Bitterfelder Weges in die Fabriken u. literarisierte die Re-Industrialisierung des vom Krieg zerstörten Landes. Doch sofort folgten Probleme. M. verzichtete in seiner Dramatik auf positive sozialist. Aufbauhelden, stringente Fabelführung u. Harmonisierung der sozialen Konflikte. Die Arbeiter sind hier noch vom dt. Faschismus gezeichnet, der Aktivist in Der Lohndrücker war unter den Nazis ein Denunziant, Neid, Angst u. Sabotage beherrschen das Arbeitsleben. Anders als in der literar. Massenproduktion des sozialist. Staates insistierte M. auf der Last der Geschichte u. den nur schwer überwindbaren Hindernissen auf dem Weg zu einem neuen, sozialist. Staat. M.s Dramatik zeigte bereits hier ihre offene Struktur. Die Interessen der Figuren divergieren, eine übergeordnete Wahrheit oder Doktrin, die soziale Konfliktstoffe strukturiert u. ordnet, ist nicht verfügbar, u. die szenische Struktur eröffnet Freiräume für Diskussion u. Fantasie. Offenkundig hielt der Autor am Ziel des sozialist. Aufbaus fest, doch sein Realismus u. die Lust an der sprachlichen u. polit. Zuspitzung führten 1961 zum Bruch mit der offiziellen Kulturpolitik. Sein Theaterstück Die Umsiedlerin oder das Leben auf dem Lande über
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die Bodenreform in der DDR erlebte 1961 eine Aufführung auf einer kleinen Studentenbühne, danach erfolgte umgehend das Verbot. Die Schauspieler wurden zur Selbstkritik genötigt, M. aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, u. für mehr als ein Jahrzehnt war er ein »Dramatiker ohne Bühne« (Emmerich, S. 158). Erste Versuche, noch zu Lebzeiten Brechts am Berliner Ensemble angenommen zu werden, waren gescheitert. Mitte der 1960er Jahre wandte sich M. den frühen Stücken, v. a. den Lehrstücken des großen Vorbildes zu u. entdeckte in der gesellschaftl. Isolation die produktiven Möglichkeiten dieser offenen Theaterform, die die Grenze zwischen Bühne u. Publikum verringern u. tendenziell aufheben will. Philoktet, Der Horatier u. Mauser führten die Theaterexperimente Brechts weiter. M.s Lehrstücke verweigern Antworten –, »was wir hier zeigen hat keine Moral« (Philoktet). Stattdessen dominiert die konflikthafte Zuspitzung in extremen Situationen; statt der Dialektik, wie sie offiziell in den Lehrbüchern der DDR kodifiziert wurde, mit der Synthese als Ziel einer jeden Entwicklung, liegt M.s Stücken eine antinomische oder aporet. Struktur zugrunde. Die sozialist. Revolution fordert in Mauser von ihren Anhängern nicht nur die Bereitschaft, die Feinde der Revolution zu exekutieren; sie erwartet ebenso von den Aktivisten, dass sie dem eigenen Tod zustimmen, sollten eine höhere Räson u. Instanz dies von ihnen verlangen. Der utop. Impuls des Dramatikers M. wirkte weiter, nur wanderte er verstärkt in die literar. Form. Innerhalb der Dramenhandlung existieren keine Lösungen der Konflikte. Die modellhafte Situation u. die Drastik der Schilderungen provozieren jedoch die radikale Frage, wie Unglück u. Tod hätten vermieden werden können, wo der Ausweg, die Lücke im Handlungsgeflecht sein könnte, welche Voraussetzungen geändert werden müssten, damit das Geschehen nicht tödlich oder katastrophal endet. Mit den Lehrstücken verzweigte sich die weitere literar. Entwicklung M.s. Mit Philoktet begann eine intensive Beschäftigung mit der griech. Antike, die für M. ein »Esperanto (ist), eine internationale Sprache, die nicht nur in
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Europa verstanden wird« (Krieg ohne Schlacht, S. 321). In den griech. Mythen fand er kollektive histor. Erfahrungen gespeichert, die Distanzierungen von der eigenen Geschichte erlaubten u. vermittelt über das Erkennen der Differenz im Ähnlichen Erkenntnis produzierten. Die Tragödie der Revolution aus Mauser wurde in Stücken wie Die Schlacht oder Der Auftrag fortgeführt. Letzteres trägt den Untertitel Erinnerung an eine Revolution. M. teilte immer weniger die Hoffnung auf eine demokrat. Entwicklung u. innere Reformierbarkeit der DDR. Politisch desillusioniert, galt er seit den 1970er Jahren als einer der bekanntesten Dramatiker Deutschlands. Nachdem er lange Jahre für die Schublade schreiben musste, kamen seinen Stücke sukzessive in der Bundesrepublik in Buchform heraus; in der DDR fanden seit Anfang der 1970er Jahre wieder Inszenierungen statt, 1975 erhielt M. den Lessingpreis der DDR. Internationale Aufführungen verstärkten sein Renommee, er genoss Privilegien u. konnte unbeschränkt aus der DDR ausreisen. Die Rezeption seiner Stücke war zwiespältig. Einerseits wurde die Qualität anerkannt, wurden Bildgewalt, Eindrücklichkeit u. Kraft der Sprache, Lakonismus u. Prägnanz des Stils geschätzt. In zunehmend verknappter Erzählweise kombiniert M. eine stilisierte Umgangssprache u. bodenständigen Sprachwitz mit dem hohen Ton u. dem Pathos des großen Geschichtsdramas. Der Literaturbetrieb in West u. Ost verlieh ihm bedeutende Preise, 1985 den Georg-Büchner-Preis, 1986 den Nationalpreis erster Klasse (für Kunst und Kultur), 1990 den Kleist-Preis, 1991 den Europäischen Theaterpreis. Aber die Kritiker gingen mit seinen Stücken hart ins Gericht. Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei. Ein Greuelmärchen (1976), ein Drama über dt. Misere u. preuß. Tradition, nannte Radio DDR eine monströse Geschmacklosigkeit (Hauschild, S. 359); auch im Westen wurde die Konzentration auf die »terroristische Gewaltund Unterdrückungsmaschine« (Schneider in: Heiner-Müller-Handbuch, s. u., S. 242) moniert sowie die Ausklammerung von durchaus positiven Entwicklungen selbst in der
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Geschichte Preußens. Auch Die Schlacht, eine Szenenfolge, deren extreme u. teils grausige Episoden um den Zweiten Weltkrieg u. den dt. Faschismus kreisen, wird als unnötig blutiges Spektakel kritisiert. Durchgängig werden M. Geschichtspessimismus u. Düsternis angelastet, seine Geschichtsdramen stehen quer zu den offiziellen Versionen des Geschichtsverlaufs in den beiden dt. Staaten. Am konsequentesten realisierte M. sein Theaterprogramm in Germania Tod in Berlin u. in Hamletmaschine. In Germania löst er die traditionelle Dramenform vollends auf zugunsten einer Abfolge clownesker, grotesker, surrealer wie realist. Szenen. Hamletmaschine ist ein einziger Textblock von wenigen Seiten, der in extrem komprimierter Form einen Abgesang auf die europ. Kultur enthält, die sich seit der Antike nur als Abfolge von Gewalt, Krieg u. Katastrophe präsentiert hatte. Die Sätze können nicht mehr einzelnen Schauspielern zugeordnet werden, die Bauform des Dramas, die zwar seit Brechts Zeiten nicht mehr die klassischen fünf Akte, aber doch eine stringente narrative Struktur, einen durchgehenden »Plot« vorsah, hat sich nahezu aufgelöst. M.s Stücke gelten als postmodern oder »postdramatisch« (Lehmann); narrative Fragmente, Gesten, Affekte u. menschl. Körper, die mit abstrakten Ideen kollidieren, dominieren hier die Bühnenhandlung. Ein trockener, bisweilen schwarzer Humor, der jedoch selten rezipiert wird, konterkariert häufig das Geschehen auf der großen histor. Bühne. Unter dem Eindruck des letztl. Scheiterns des sowjet. Experiments, dessen Erstarrung er in vielen Texten beschrieben u. verfolgt hatte, versiegte bis auf Mommsens Block u. Germania 3 Gespenster am Toten Mann die Dramenproduktion, u. M. konzentrierte sich auf die Inszenierungen seiner Stücke sowie, kurz vor seinem Lebensende, auf die Intendanz des Berliner Ensembles. Nach 1989 musste er sich zudem der Anwürfe erwehren, er sei Mitarbeiter der Stasi gewesen. Allerdings konnte außer Gesprächen mit Staatsfunktionären, die er suchte, um befreundeten Autoren Unterstützung zu leisten, kein Material gegen ihn gefunden werden. 1998 begann die Veröffentlichung einer Werkausgabe im Suhr-
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kamp Verlag, in der neben dem Dramatiker Müller, Heinrich, * 18.10.1631 Lübeck, auch der Prosaautor u. der Lyriker, der in den † 23.9.1675 Rostock. – Evangelischer letzten Monaten vor dem Tod poetisch seine Theologe; Erbauungsschriftsteller. Krebserkrankung verarbeitete, sichtbar wurM., Sohn des angesehenen Kaufmanns Peter den. Müller, besuchte nach erstem Unterricht im Weitere Werke: Theaterstücke: Das Laken. 1951. Elternhaus die Große Stadtschule u. gleich– Die Reise. 1951/52. – Szenen aus einem Stück über Werner Seelenbinder. 1951. – Zehn Tage, die zeitig (als 13-Jähriger) philosoph. Vorlesundie Welt erschütterten. Szenen aus der Oktoberre- gen an der Universität Rostock, nachdem er volution nach Aufzeichnungen v. John Reed. 1956/ schon im Juni 1640 in die Matrikel aufge57. – Klettwitzer Bericht. 1958. – Glücksgott. 1958. nommen worden war. Am 25.4.1648 nahm er – Der Bau. 1963/64. – Herakles 5. 1964/66. – Ho- in Greifswald das Studium der Theologie auf rizonte. 1969. – Weiberkomödie. 1971. – Macbeth. (aufgrund seines Alters ohne Eidesleistung). Nach Shakespeare. 1972. – Zement. 1973. – Trak- Sein Studium setzte er 1650 in Rostock fort, tor. 1974. – Bertolt Brecht: Der Untergang des wo er am 13.5.1651 den Magistergrad erwarb Egoisten Johann Fatzer, Bühnenfassung v. H. M. u. in die philosoph. Fakultät rezipiert wurde. 1978. – Quartett. 1980/81. – Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten. 1982. – Akademische Reisen führten ihn anschlieAnatomie Titus Fall of Rome. Ein Shakespeare- ßend nach Danzig, Königsberg, Leipzig u. komm. 1984. – Wolokolamsker Chaussee. 1984/87. Wittenberg u. über Jena zurück nach Rostock, – Übersetzungen: Sophokles. Ödipus Tyrann. Nach wo M. von 1652 an als Magister legens PhiHölderlin. In: Neue Texte 6 (1967). – Moliere: Don losophie lehrte. Aus dieser Lehrtätigkeit ging Juan oder der Steinerne Gast. Bln./DDR 1968 (zus. 1653 seine Methodus politica hervor. Im selben mit Benno Besson). – Anton Tschechow: Die Möwe. Jahr wurde er zum Archidiakon an St. Marien Bln. 1974 (zus. mit G. Tscholakowa). – Wladimir in Rostock berufen. Am 2.10.1655 disputierte Majakowski: Wladimir Majakowski. In: Theater M. unter dem Vorsitz von Caspar Mauritius heute 24 (1983) (zus. mit G. Tscholakowa). – Äschylos: Die Perser. Bln. 1991. – Autobiografie: Krieg pro licentia De aphorismo apostolico I. Cor. XII,13 ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Köln (Rostock 1655). Im Jahr 1659 erfolgte seine Berufung zum o. Prof. für Griechisch u. Pas1992. Werkausgabe: Werke. Hg. Frank Hörnigk. 12 tor an der Marienkirche. Im Dez. 1662 übernahm er die Professur für Theologie, nachBde., Ffm. 1998–2008. Literatur: Genia Schulz: H. M. Stgt. 1980. – dem er zwei Jahre zuvor an der Academia Joachim Fiebach: Inseln der Unordnung. Fünf Iulia in Helmstedt den theolog. Doktorgrad Versuche zu H. M.s Theatertexten. Bln. 1990. – erworben hatte. Neun Jahre später trat der Jutta Schlich: A propos Weltuntergang. Zu H. M. körperlich schwächliche u. zeitlebens kränu. a. Heidelb. 1996. – Klaus Theweleit: H. M. kelnde M. das Amt des Superintendent an, Traumtext. Basel/Ffm. 1996. – Heinz Ludwig Ar- das er bis zu seinem Tod innehatte. nold (Hg.): Text & Kritik 73: H. M. Neufassung Seine ersten Schriften sind Früchte seiner 1997. – Horst Domdey: Produktivkraft Tod. Das philosoph. Studien, bes. der Beschäftigung Drama H. M.s. Köln u. a. 1998. – Hans-Thies Lehmann: Postdramat. Theater. Ffm. 1999. – Norbert mit Hobbes. M.s Interesse am Predigtamt Otto Eke: H. M. Stgt. 1999. – Jan-Christoph Hau- entsprang der Orator ecclesiasticus (Rostock schild: H. M. oder das Prinzip Zweifel. Eine Biogr. 1659). Im selben Jahr erschien die Geistliche Bln. 2001. – Hans-Thies Lehmann u. Patrick Pri- Seelen Musik (Rostock), eine Sammlung von mavesi (Hg.): H.-M.-Hdb. Leben – Werk – Wirkung. über 400 Liedern, der er zehn Betrachtungen Stgt. 2003. – J.-C. Hauschild: H. M. In: LGL. – über die Rolle u. Aufgabe der Musik im Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgesch. der Gottesdienst voranstellte. Sie sind im ZuDDR. Erw. Neuausg. Bln. 22005. – Janine Ludwig: sammenhang mit dem gegen Ende des JahrH. M. Ikone West. Das dramat. Werk H. M.s in der hunderts geführten Streit um die KirchenBundesrepublik – Rezeption u. Wirkung. Ffm. u. a. musik von Interesse. Von weitreichender Be2009. Mario Scalla deutung sind M.s Erbauungsbücher u. Predigtsammlungen, die ihn zu einem der meistgelesenen Autoren seiner Zeit machten.
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Die bekannteren darunter sind Himmlischer Liebes-Kuß, oder Ubung deß wahren Christenthumbs (Ffm./Rostock 1659), Creutz- Buß- und Beet-Schule (Ffm./Rostock 1661), u. bes. Geistliche Erquickstunden (3 Tle., Rostock 1664–66). Wie ein halbes Jahrhundert vor ihm Valerius Herberger, war M. v. a. ein fest in der luth. Lehre verwurzelter, wortgewandter Prediger. Er gehörte zu den Reformtheologen, die eine innere Erneuerung der in der Orthodoxie erstarrten Kirche anstrebten, u. seine Klage über ein veräußerlichtes Scheinchristentum, das sein Vertrauen auf die »vier stummen Kirchengötzen, den Taufstein, Predigtstuhl, Beichtstuhl und Altar« setze, brachte ihm Anfeindungen sowie Zweifel an seiner Rechtgläubigkeit ein. Seine gründl. Gelehrsamkeit u. seine oft überwältigende Beredsamkeit kamen bes. in den Predigten zum Tragen, in denen M. v. a. den inneren Menschen ansprechen wollte. »Der Prediger soll vom Herz ins Herz predigen«, schreibt er in den Erquickstunden. Von seinen Predigtsammlungen wurden bes. die Apostolische Schluß-Kette (Lübeck/Ffm. 1663) u. die Evangelische Schluß-Kette (Ffm. 1672) bis ins 19. Jh. immer wieder aufgelegt. Sein Predigtstil zeichnet sich durch eine verinnerlichte, an Bildern u. Gleichnissen reiche, aber zgl. frische u. volkstüml. Darstellungsweise aus. Von seinen wenigen geistl. Liedern, von denen zehn in der Seelen Musik u. d. T. Himmlische Liebesflamme erschienen u. deren zentrales Thema das der Weltverachtung u. der Himmelssehnsucht ist, hat sich keines einen bleibenden Platz in den kirchl. Gesangbüchern gesichert. Umso erfolgreicher waren seine Predigten u. Erbauungsschriften; in ihnen hatte er den Ton gefunden, der die Menschen seiner Zeit ansprach. Die Bücher M.s gehörten noch im 18. Jh. zum Grundbestand zahlreicher Hausbibliotheken im protestant. Deutschland. Für die Verbreitung u. Beliebtheit seiner Schriften spricht auch die von den Pegnitzschäfern herausgebrachte Ariensammlung Der geistlichen Erquickstunden [...] poetischer Andacht-Klang (Nürnb. 1673. 1691). Doch auch viele andere geistl. Dichter der Zeit, darunter auch Verfasser von Bachs Kantatentexten, wurden von M.s Schriften inspiriert.
Müller Weitere Werke: Analysis logica capitis decimi epistolae Pauli ad Romanos. Präses: Abraham Battus; Respondent: H. M. Greifsw. 1649. – Psalmus primus, integre resolutus [...]. Präses: August Varenius; Autor u. Resp.: H. M. Rostock 1650. – Methodus politica. Exhibens et praecepta politica, ex divino, naturali, gentium, et civili jure probata [...]. X. dispp. in illustri Academia Rostochiensi proposita, anno 1653 [...]. Rostock o. J. – Theologia scholastica [...]. Rostock 1656 u. ö. – Quaestionum selectarum theologicarum semi-centuria prima [-secunda]. Rostock 1664. – Ungerathene Ehe [...]. Ffm. 1668. – Geistl. Danck-Altar [...]. Ffm. 1670. – Thränen- u. Trost-Quelle [...]. Ffm. 1675. – Göttl. Liebes-Flamme [...]. Mit vielen schönen Sinnebildern gezieret [...]. Ffm. 1676. – Evang. HertzensSpiegel [...]. Ffm. 1679. – Evang. Praeservativ wider den Schaden Josephs [...]. Ffm./Rostock 1681. – Gräber der Heiligen [...]. Hg. Johann Caspar Heinisius. Ffm. 1685 (Leichenpredigten). Ausgabe: Fischer-Tümpel, Bd. 5, S. 480–493. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Johannes Moller: Cimbria literata. Kopenhagen 1744, Bd. 1, S. 449 f.; Bd. 3, S. 488–496 (mit ausführl. Schriftenverz.). – Caspar Otto Friedrich Aichel: Dr. H. M. [...], eine Lebensbeschreibung. Hbg. 1854. – Friedrich Karl Wild: Leben u. Ausw. v. M.s Schr.en. Stgt. 1864. – Otto C. Krabbe: H. M. u. seine Zeit. Rostock 1866. – Koch 3, S. 67–75. – Hans Leube: Die Reformideen in der dt. luth. Kirche zur Zeit der Orthodoxie. Lpz. 1924, S. 67 ff. – Dietrich Winkler: Grundzüge der Frömmigkeit H. M.s. Diss. Rostock 1954. – Walter Dietze: Quirinus Kuhlmann, Ketzer u. Poet [...]. Bln. 1963, Register. – Heiduk/Neumeister, S. 72 f., 211, 422. – Helge Bei der Wieden: H. M. In: BLSHL, Bd. 9 (1991), S. 240–243 (Lit.). – Ingeborg Dorchenas: H. M. In: Bautz. – Gottfried Simpfendörfer: Wo lernte Johann Sebastian Bach die Schr.en H. M.s kennen? In: Bach-Jb. 79 (1993), S. 205–212. – Gesch. Piet., Bd. 1 u. 4, Register. – H. Bei der Wieden. H. M. In: Biogr. Lexikon für Mecklenburg, Bd. 1 (1995), S. 170–174. – Thomas Kaufmann: Univ. u. luth. Konfessionalisierung [...]. Gütersloh 1997, passim. – Die Rektoren der Univ. Rostock 1419–2000. Hg. Angela Hartwig u. a. Rostock 2000, S. 109. – Estermann/ Bürger, Bd. 2, S. 1027. – Pietismus u. Liedkultur. Hg. Wolfgang Miersemann u. a. Tüb. 2002, Register. – Christian Bunners: Mystik bei H. M. [...]. In: Zur Rezeption myst. Traditionen im Protestantismus des 16. bis 19. Jh. Hg. Dietrich Meyer u. a. Köln 2002, S. 91–111. – Ders.: H. M. In: MGG, 2. Aufl. (Pers.), Bd. 12 (2004), Sp. 793 f. – Elke Axmacher: ›Aus Liebe will mein Heyland sterben‹. Untersuchungen zum Wandel des Passionsverständnisses
Müller im frühen 18. Jh. Stgt. 22005. – Interdisziplinäre Pietismusforsch.en [...]. Hg. Udo Sträter. 2 Bde., Tüb. 2005, Register. – Jürgensen, Register. Helmut K. Krausse / Red.
396 Literatur: Goedeke 6, S. 400 ff. – Hubert Göbels: M. In: LKJL 2. – Norbert Eke u. Dagmar OlaszEke: Bibliogr.: der dt. Roman 1815–30. Mchn. 1994, S. 223–232 (Nr. 836–887). Wolfgang Weismantel / Red.
Müller, Heinrich August, * 1766 Greußen bei Erfurt, † 2.8.1833 Wolmirsleben bei Magdeburg. – Erzähler u. Jugendbuch- Müller, Herta, * 17.8.1953 Nitzkydorf/ Bezirk Timis¸ (Rumänien). – Autorin von autor. Kurzprosa, Erzählungen u. Lyrik. Nach dem Theologiestudium wurde M. 1797 Prediger in Menz bei Magdeburg, beteiligte sich als preuß. Feldprediger 1813/14 an den Befreiungskriegen u. wirkte ab 1815 als Prediger in Wolmirsleben. Seit 1798 veröffentlichte er eine große Zahl erzählender Texte u. pädagog. Abhandlungen, vorwiegend für Kinder u. Jugendliche. Als Unterhaltungsautor bediente er dabei ein breites Publikum mit populärem Lesestoff: romantisierende »Schauergemälden«, Ritter- u. Räubergeschichten, Erzählungen aus Übersee u. »düsterer Vorzeit«. Christlich aufklärerische Haltung bestimmt M.s mit programmat. Titeln versehene Schriften, die dem jugendl. Leser Mahnung u. Warnung, prakt. Unterweisung, aber auch erbaul. Unterhaltung boten (Die Freuden des Frühlings, zur Erheiterung, Belehrung und Veredelung für gute, liebe Kinder. Ffm. 1830). Mit einer Reihe in naiver Bildungsabsicht verfasster Lehr- u. Lesebücher (Bitte! Bitte! Liebe Mutter! Bester Vater! Lieber Onkel! Liebe Tante! schenke mir das allerliebste Buch mit den schönen Kupfern. Ein neues ABC- und Lesebuch nach Pestalozzi. Hbg. 1811) erzielte M. breite Wirkung u. auch über seinen Tod hinaus zahlreiche Neuauflagen. Weitere Werke: Selbstmord u. Raserei, die Folgen zärtl. Liebe. Magdeb. 1789. – Neue moral. Kinderbibl. Magdeb. 1810. – Der neueste dt. Jugendfreund [...]. Quedlinb. 1816. – Schauergesch.n aus Spaniens furchtbarem Inquisitionsgericht. Quedlinb. 1819. – Albert Graf v. Reinstein [...]. Quedlinb. 1819 (Rittergesch.n). – Jesus, wie er lebte u. lehrte. Quedlinb. 1819. – Teufeleien in u. außer dem Ehestande. Quedlinb. 1822. – Boja, das schöne Räubermädchen, oder der große Teufel. Quedlinb. 1825. – Neue moral. Erzählungen für die Jugend. Quedlinb. 1826. – Das neue Bildungsbuch [...] für die lieben Kinder. Ffm. 1829.
M. wuchs in einer deutschstämmigen Familie im rumän. Banat auf. Ihr Großvater, ein wohlhabender Bauer u. Kaufmann, wurde nach der kommunist. Machtübernahme enteignet. M.s Mutter verbrachte mehrere Jahre als Zwangsarbeiterin in der Sowjetunion, ihr Vater war LKW-Fahrer. 1973–1976 studierte sie Germanistik u. rumän. Sprache u. Literatur in Timis¸ oara (Temeschwar). Dort war sie als Übersetzerin u. Deutschlehrerin tätig, wurde aber entlassen, weil sie sich weigerte, mit dem Geheimdienst Securitate zu kooperieren. Danach konnte sie nur sporadisch als Lehrerin arbeiten. Im Febr. 1987 übersiedelte M. mit ihrem damaligen Ehemann, dem Schriftsteller Richard Wagner, nach Westberlin. Beide waren zu dieser Zeit bereits mit Arbeits- u. Publikationsverbot belegt. In den folgenden Jahren übernahm M. eine Reihe von Lehraufträgen an verschiedenen Universitäten. Zu ihren Stationen gehörten die University of Warwick, University of Wales (Großbritannien), University of Florida in Gainesville (USA), Bochum, Essen, Kassel u. Zürich. Ihr Lebensmittelpunkt blieb jedoch stets Berlin, wo sie bis heute lebt. Von der – laut M. bis heute nicht aufgelösten – Securitate wurde sie noch über das Ende des Ceaus¸ escu-Regimes 1989 hinaus terrorisiert. Seit 1995 gehört sie der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an. 2005 war sie Heiner Müller-Gastprofessorin an der Freien Universität Berlin. Neben Wagner, Paul Celan, Franz Hodjak u. Oskar Pastior gilt M. bis heute als eine der wichtigsten Stimmen der rumäniendt. Lit. nach 1945. M.s literar. Anfänge liegen noch in Rumänien. Zwischen 1969 u. 1972 veröffentlichte sie Gedichte in der »Neuen Banater Zeitung« u. in einer Anthologie. Nach mehrjähriger Schreibpause wandte sie sich der poet. Kurz-
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prosa zu. Ihr erstes Buch, der Prosaband Niederungen (Bukarest 1982. Bln. 1984) schlug einen neuen, eigenständigen Ton an u. wurde daher als große Entdeckung gefeiert. Der Band, der in Rumänien nur in stark modifizierter Form erschienen war, enthält aus der Kinderperspektive erzählte Erinnerungen an das Landleben im Banat. Die in knapper, aber lyr. Sprache gehaltenen Texte konzentrieren sich v. a. auf die ersten Begegnungen mit Gewalt, Sexualität u. Tod. In einer naiv wirkenden, kunstvoll distanzierenden Erzählweise gelingt es M., die Brutalität u. Gefühlsarmut sichtbar zu machen, die das scheinbare Idyll des Banat beherrschen. Mit nüchternen Andeutungen weist sie zudem auf die nationalsozialist. Vergangenheit in diesem Landstrich hin. Während die westdt. Literaturkritik den Band enthusiastisch pries, wurde er von kommunist. Seite in Rumänien ebenso vehement kritisiert wie von Vertriebenenverbänden. In dem Prosaband Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt (Bln. 1986) erzählt M. in zahlreichen kurzen Szenen von einer deutschsprachigen Bauernfamilie, die ihre Ausreise aus Rumänien beantragt hat. Sie hebt einerseits den Gegensatz zwischen dem sozialist. Bekenntnis der rumän. Amtsträger u. ihren abergläubischen oder korrupten Handlungen hervor; zum anderen betont sie den aus der ethn. Isolation entspringenden nat. Dünkel der deutschstämmigen Minderheit. In diesem Band treten M.s wesentl. Stilmittel – der betont einfache, paratakt. Satzbau u. das schmale, verfremdend eingesetzte Vokabular – deutlich hervor. Thema des Prosabands Reisende auf einem Bein (Bln. 1989) ist, wiederum in lose verknüpften, knappen Szenen, die Einsamkeit u. Orientierungslosigkeit der rumäniendt. Übersiedlerin Irene in Westberlin. Nachdem ihr die alte Heimat aus polit. Gründen fremd wurde, fühlt sie sich nun ebenso fremd in der modernen westl. Gesellschaft. Nach der Ankunft in Berlin u. dem Umbruch von 1989 erweiterte M. ihr Werk in verschiedene Richtungen. Zum einen begann sie, etwa im Essayband Eine warme Kartoffel ist ein warmes Bett (Hbg. 1992), sich direkt zu polit. Ereignissen zu äußern. Die 17 kurzen
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Stücke, zuerst in der Schweizer Zeitschrift »Du« erschienen, beziehen sich meist auf Zeitthemen wie den Golfkrieg von 1991 oder den erstarkenden Rechtsradikalismus in Deutschland, teilweise auch auf die Entwicklungen im postkommunist. Osteuropa. Zweitens reflektierte M. in den 1990er Jahren verstärkt über die poetolog. Aspekte des Schreibens. Dies dokumentieren ihre Vorträge an den Universitäten von Paderborn (1990/ 91), Bonn (1996) u. Tübingen (2000/01), wo sie jeweils Poetik-Vorlesungen abhielt. Das Ergebnis sind die Bände Der Teufel sitzt im Spiegel (Bln. 1991) u. In der Falle, die Bonner Poetik-Vorlesungen (Gött. 1996. 22009). Ein zentrales Moment dabei ist die Absage an die Ganzheit der Welt zugunsten einer »erfundenen Wahrnehmung«, in der das jeweils Betrachtete durch das Subjekt eingefärbt wird, das so auf die Außenwelt zurückwirkt. Der einheitl. Erzählfluss löst sich auf in eine Vielzahl einander überlagernder Fragmente, einen prinzipiell unabschließbaren Erinnerungsprozess. Einen dritten, bes. reizvollen Weg beschritt M. erstmals mit dem Band Der Wächter nimmt seinen Kamm. Vom Weggehen und Ausscheren (Reinb. 1993). Das Buch besteht vollständig aus lyr. Text-Bild-Collagen, die im ungewöhnl. Format von 94 nummerierten Postkarten geliefert wurden. Diese Technik wird in den in traditioneller Buchform gelieferten Nachfolgebänden Im Haarknoten wohnt eine Dame (Reinb. 2000) u. Die blassen Herren mit den Mokkatassen (Mchn./Wien 2005) weiter verfeinert. Dreh- u. Angelpunkt von M.s Prosa bleibt jedoch das Leben unter der kommunist. Diktatur in Rumänien, dem »Land am Nebentisch«. Romane wie Der Fuchs war damals schon der Jäger (Reinb. 1992) u. Herztier (Reinb. 1994) entwerfen eine Atmosphäre der Angst u. des wechselseitigen Misstrauens am Beispiel ausgewählter Figuren in einer kleinen, wohl am Vorbild von Timis¸ oara orientierten Stadt. Bes. intensiv gelingt dies im Roman Heute wär ich mir lieber nicht begegnet (Reinb. 1997), das die Straßenbahnfahrt der Ich-Erzählerin zu einem Verhör bei der Securitate erzählt. Die Fahrt wird zum Ausgangspunkt weit ausholender Reflexionen über die eigene Biografie. Diese sind durch eine virtuose u.
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klare Sprache, durch Momente des Grotesken u. Absurden, schließlich durch eine intensive, beklemmende Atmosphäre gekennzeichnet. Auch die nichtfiktionalen Texte, wie etwa in der Essaysammlung Der König verneigt sich und tötet (Mchn./Wien 2003), kreisen weiterhin virtuos um die Jahre der Ceaus¸escu-Diktatur. Als deren Überlebende steht M. in einer ähnl. Schreibtradition wie die Holocaust-Überlebenden Paul Celan, Ruth Klüger, Imre Kertész oder Jorge Semprun (Marja Ursin). Vor diesem Hintergrund der autobiogr. Erfahrung ist auch M.s Engagement gegen jede Form des Kommunismus zu sehen. So trat sie 1997 aus dem dt. PEN-Zentrum aus, um gegen den 1995 erfolgten Zusammenschluss des westdt. Verbandes mit dem der ehemaligen DDR zu protestieren. Im Jahr 2008 kam es zu einer weiteren Kontroverse, als M. in einem offenen Brief die Einladung zweier rumän. Wissenschaftler, beides ehemalige Securitate-Informanten, zu einer Tagung des Berliner Rumänischen Kulturinstituts kritisierte. Im Gegenzug warf ihr der ebenfalls aus dem Banat stammende Autor Carl Gibson allerdings eine zeitweise opportunist. Haltung gegenüber dem Ceaus¸escuRegime vor. Besonderes Aufsehen erregte der Roman Atemschaukel (Mchn./Wien 2009), der sowohl bei der Kritik als auch beim Publikum zu einem großen Erfolg wurde u. für den Deutschen Buchpreis 2009 nominiert war. In eindringlicher, konzentrierter Sprache berichtet der junge Ich-Erzähler Leopold Auberg von der Verschleppung u. fünf Jahren Zwangsarbeit in einem sowjet. Arbeitslager – ein Schicksal, das Zehntausende Angehörigen der dt. Minderheit in Rumänien ereilte, nachdem das Land 1944 von der Sowjetunion besiegt worden war. Zunächst empfindet der anfangs erst 17-jährige Auberg die Zwangsabordnung sogar als Befreiung, weil er in der heimatl. Kleinstadt seine Homosexualität verbergen musste. Doch schon bald erlebt er den Lageralltag als äußerst beklemmend u. kann nur mit viel Kraft seine Hoffnung auf die Heimkehr aufrecht erhalten. M. hebt einzelne Figuren aus der Masse der Lagerbewohner heraus: den Kapo Tur u. seine Geliebte Bea, die geisteskranke Planton-Kati
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oder den Zitherspieler David Lommer, der als Jude irrtümlich mit auf den Transport geschickt wurde. Im Laufe der 64 kurzen, nicht strikt chronologisch erzählten Kapitel verlieren die Lagerinsassen zunehmend ihre Identität, während Unbelebtes personifiziert wird, wie die »Herzschaufel«, Aubergs Arbeitsgerät beim Kohleschippen, oder der allgegenwärtige »Hungerengel«, unter dessen Vorzeichen der gesamte Alltag steht. Mit der »Atemschaukel« des Titels ist das Ticken der Uhr im heimatl. Wohnzimmer der Eltern gemeint. Nach fünf Jahren darf der Protagonist zwar heimkehren, bleibt aber für den Rest seines Lebens von den Jahren in der heutigen Ukraine geprägt. Atemschaukel ist kein dokumentarischer Text, sondern betreibt die literar. Verdichtung persönl. Erlebnisse. Der Roman basiert auf den Lagererfahrungen von M.s Mutter u. einiger Bewohner ihres Heimatdorfes, v. a. auf denen des rumäniendt. Lyrikers Oskar Pastior (1927–2006), die dem Stoff für M. erst den notwendigen erzählerischen Fokus verliehen. M. reiste 2004 mit Pastior an den Ort seiner Inhaftierung. Zeitweilig war sogar ein gemeinsamer Roman geplant, was aber der Tod Pastiors verhinderte. Von diesem Verlust tief erschüttert, nahm M. die Arbeit am Roman erst nach beinahe einem Jahr wieder auf. Für ihr literar. Schaffen wurde M. vielfach ausgezeichnet. Schon 1981 erhielt sie den Förderpreis des Literaturkreises »AdamMüller-Guttenbrunn«. Dem folgten u. a. der Literaturpreis des Verbandes der Kommunistischen Jugend Rumäniens (1982), der aspekte-Literaturpreis (1984), die RoswithaGedenkmedaille der Stadt Bad Gandersheim (1990), der Kleist-Preis (1994), der FranzKafka-Literaturpreis (1999), der Berliner Literaturpreis (2005), die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft (2009), der FranzWerfel-Menschenrechtspreis (2009) sowie der Hoffmann-von-Fallersleben-Preis für zeitkritische Literatur (2010). Gekrönt wird diese eindrucksvolle Bilanz durch den Nobelpreis für Literatur (2009). Im Jahr 2010 erhielt sie das Große Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.
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Die überwiegend sehr positiven Reaktionen der Literaturkritik werden bis heute »von zwei miteinander korrespondierenden Impulsen getragen [...]: dem Reiz des Exotischen in der Beschreibung einer fremden, aus dem (literarischen) Wahrnehmungshorizont entschwundenen Welt der deutschsprachigen Minderheit Rumäniens und der Faszination einer poetischen Sprachgebung, die sich bei aller Sprödigkeit als Kunst der Auslassung bei gleichzeitig großer bildhafter Klarheit erwies« (Norbert Otto Eke). Die germanist. Forschung beschäftigt sich mit M. so intensiv wie mit kaum einer anderen Autorin ihrer Generation. Zu den Schwerpunkten gehören M.s Poetik, ihre Auseinandersetzung mit der kommunist. Diktatur sowie interkulturelle Aspekte, die sich aus M.s hybrider Herkunft u. ihrer Rolle als Autorin einer minoritären Literatur ergeben. Dabei standen bisher die frühen Texte der 1980er Jahre im Vordergrund. Eine erste Reaktion auf die Verleihung des Nobelpreises ist die Gründung eines Herta Müller-Forschungsnetzwerkes durch die brit. Germanistinnen Brigid Haines u. Lyn Maven im Nov. 2009. Weitere Werke: Drückender Tango. Bukarest 1984 (P.). – Barfüßiger Februar. Bln. 1987 (P.). – Wie Wahrnehmung sich erfindet. Paderb. 1990. – Angekommen wie nicht da. Lichtenfels 1994. – Hunger u. Seide. Essays. Reinb. 1995. – Der Fremde Blick oder Das Leben ist ein Furz in der Laterne. Gött. 1999. – Heimat ist das, was gesprochen wird. Abiturrede. Blieskastel 2001. – Este sau nu este Ion. Ias¸i 2005. – Cristina u. ihre Attrappe: oder Was (nicht) in den Akten der Securitate steht. Gött. 2009. – In der Falle. Drei Essays. Gött. 2009. – Die Nacht ist aus Tinte gemacht. H. M. erzählt ihre Kindheit im Banat. 2 CDs. Bln. 2009. Literatur: Norbert Otto Eke (Hg.): Die erfundene Wahrnehmung. Annäherung an H. M. Paderb. 1991. – Walter Hildebrandt: Leiden u. Widerhall – die sarmat. Herausforderung Johannes Bobrowskis u. H. M.s. In: Dt. Studien 30 (1993), S. 119–207. – Herta Haupt-Cucuiu: Eine Poesie der Sinne. H. M.s ›Diskurs des Alleinseins‹ u. seine Wurzeln. Paderb. 1996. – Ralph Köhnen (Hg.): Der Druck der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung. Bildlichkeit in Texten H. M.s. Ffm. u. a. 1997. – Beverley Driver Eddy: ›Die Schule der Angst‹: Gespräch mit H. M. In: GQ 72 (1999), S. 329–339. – Brigid Haines (Hg.): H. M. Cardiff 1998. – Wolfgang Schürle (Hg.): H. M. Beobach-
Müller tungen. Ulm 2000. – Grazziella Prediou: Faszination u. Provokation bei H. M. Ffm. u. a. 2001. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): H. M. Mchn. 2002. – Ute Speck: H. M.: Tabubruch als Schreibprinzip. In: Tabu u. Tabubruch. Literar. u. sprachl. Strategien im 20. Jh. Hg. Hartmut Eggert u. Janusz Golec. Stgt./Weimar 2002, S. 227–240. – René Kegelmann: ›Der deutsche Frosch war der erste Diktator, den ich kannte.‹. Vergangenheitsbewältigung, NS u. Totalitarismus im Werk H. M.s. In: Dt. Lit. in Rumänien u. das ›Dritte Reich‹. Hg. Michael Markel u. Peter Motzan. Mchn. 2003, S. 299–310. – Astrid Schau: Leben ohne Grund. Konstruktion kultureller Identität bei Werner Söllner, Rolf Bossert u. H. M. Bielef. 2003. – Thomas Kraft: H. M. In: LGL. – Valentina Glajar: The German Legacy in East Central Europe as Recorded in Recent GermanLanguage Literature. Rochester 2004. – B. Haines u. Margaret Littler: Contemporary Women’s Writing in German. Changing the Subject. New York/Oxford 2004, S. 99–117. – Paola Bozzi. Der fremde Blick. Zum Werk H. M.s. Würzb. 2005. – Lyn Marven: Body and Narrative in Contemporary Literatures in German. H. M., Libusˇe Moníková, and Kerstin Hensel. Oxford 2005. – Morwenna Symons: Room for Manoeuvre. The Role of Intertext in Elfriede Jelinek’s ›Die Klavierspielerin‹, Günter Grass’s ›Ein weites Feld‹, and H. M.’s ›Niederungen‹ and ›Reisende auf einem Bein‹. London 2005. – Iulia-Karin Patrut: Schwarze Schwester – Teufelsjunge. Ethnizität u. Geschlecht bei Paul Celan u. H. M. Köln u. a. 2006. – Marja Ursin: Autofiktion bei H. M. In: Autobiogr. Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartslit. Hg. Ulrich Breuer u. Beatrice Sandberg. Mchn. 2006, S. 344–352. – Anja K. Johannsen: Kisten, Krypten, Labyrinthe. Raumfigurationen in der Gegenwartslit. W. G. Sebald, Anne Duden, H. M. Bielef. 2008. – Petra Renneke: Poesie u. Wissen. Poetologie des Wissens in der Moderne. Heidelb. 2008. – Ilka Scheidgen: Fünfuhrgespräche. Lahr 2008, S. 57–74. – Michael Krüger (Hg.): Akzente 5 (2008), Themenh. H. M. / Oskar Pastior. – Moonika Küla: ›Wenn Heimat Heimatlosigkeit wird‹. Einblicke in den Heimatbegriff der rumäniendt. Schriftstellerin H. M. In: Germanistik als Kulturvermittler. Vorträge der III. Germanistenkonferenz an der Univ. Tartu. Hg. Terje Loogus. Tartu 2008, S. 99–106. – Josef Zierden: H. M. In: KLG. Uwe Wittstock / Stefan Höppner
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Müller, Inge, geb. Meyer, auch: Ingeborg Schwenkner, * 13.3.1925 Berlin, † 1.6. 1966 Berlin/DDR; Grabstätte: BerlinPankow, Städtischer Friedhof (Gedenkstele). – Lyrikerin, Hörspielautorin. Als Lebensgefährtin u. spätere Ehefrau Heiner Müllers fand M. Anfang der 1950er Jahre zur Schriftstellerei. Es entstanden ein Kinderbuch (Wölfchen Ungestüm. Bln./DDR 1955), das Hörspiel Die Weiberbrigade (1960. In: Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte? Mchn. 1982) sowie in Zusammenarbeit mit Heiner Müller Stücke wie Die Korrektur (Lpz. 1959), Der Lohndrücker (Bln./DDR 1959) u. Klettwitzer Bericht (1959). Trotz Auszeichnungen (Heinrich-Mann-Preis 1959 zus. mit Heiner Müller; Erich-Weinert-Medaille 1965) wird sie als Lyrikerin kaum zur Kenntnis genommen. Ihre von Brecht u. Majakowski beeinflussten Gedichte (erstmals in: Neue Texte 65. Bln./Weimar 1965) werden vielfach als subjektivistisch abqualifiziert. M., der es weniger um Formschönheit als um die Möglichkeit von Dichtung angesichts der Schrecken der Wirklichkeit geht, betont in ihren Texten die gesellschaftl. Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen u. plädiert gleichzeitig für das individuelle menschl. Anrecht auf ein freies, lustbetontes Dasein. Die traumat. Erfahrungen des Kriegs spielen eine entscheidende Rolle: »Ich sah die Welt in Trümmern / Noch hatte ich nichts von der Welt gesehn / Ich sah den Tod und die Gewalt / Noch eh ich jung war, war ich alt / Und wußte, ohne zu verstehn« (aus: 1945. In: Wenn ich schon sterben muß. Bln./Weimar 1985. Darmst. 1986. Nachbemerkung v. Richard Pietraß. Bln. 1997). Der dichterischen Abrechnung mit einem System, das sein urspr. idealistisches Menschenbild an einen gesichtslosen Bürokratismus verraten hat, stehen in M.s Liebeslyrik Demut u. der Wunsch nach Ich-Auflösung gegenüber. 41-jährig starb M., die sich stets als eine »zufällig Übriggebliebene« bezeichnet hat, an einer Überdosis Schlaftabletten. Seit den 1990er Jahren zeigt die germanist. Forschung ein reges Interesse an M.; zahlreiche Beiträge u. Untersuchungen zu ihrem Werk sind seitdem erschienen.
400 Weitere Werke: Zehn Jungen u. ein Fischerdorf. Weimar 1958 (Jugendbuch). – Poesiealbum 105. Bln./Weimar 1976. – Irgendwo; noch einmal möcht ich sehn: L., P., Tagebücher. Mit Beiträgen zu ihrem Werk. Hg. Ines Geipel. Bln. 1996. – Daß ich nicht ersticke am Leisesein. Ges. Texte. Hg. Sonja Hilzinger. Bln. 2002. Literatur: Adolf Endler: Fragt mich nicht wie. In: SuF, H. 1 (1979), S. 152–161. – Silvia Schlenstedt: Zerschunden heb ich mein Gesicht. In: Siegfried Rönisch: DDR-Lit. ’85. Bln./Weimar 1986, S. 179–189. – Harald Heydrich: I. M. In: WB, H. 5 (1987), S. 815–825. – Gerrit-Jan Berendse: Über die Schwierigkeiten beim Gehen. Dialogizität in L. u. Theater v. I. M. In: Jb. zur Lit. in der DDR 7 (1990), S. 83–92. – Sonja Hilzinger: ›Wann wird was wir wolln gewollt?‹ Zur Lyrik I. M.s. In: DVjs 67 (1993), S. 173–188. – Anthonya Visser: ›Keine Worte mehr‹. Der Zweite Weltkrieg in Gedichten v. Frauen aus der DDR am Beispiel I. M. In: Fünfzig Jahre deutschsprachige Lit. in Aspekten: 1945–95. Hg. Gerhard P. Knapp u. a. Amsterd. u. a. 1995, S. 65–88. – Reinhard Jirgl: Das verlängerte Echo. Der Horizont des Todes in Gedichten v. I. M. In: NDL 44 (1996), S. 47–58. – Jürgen Serke: I. M., ›Die Wahrheit leise und unerträglich‹. In: Ders.: Zu Hause im Exil. Mchn./Zürich 1998, S. 15–45. – Birgit Vanderbeke: Über I. M. In: NDL 46 (1998), S. 58–77. – Wolfgang Storch: I. u. Heiner M. 1953–66. Ffm. 1999. – Ursula Keller (Hg.): ›Nun breche ich in Stücke...‹. Leben, Schreiben, Suizid. Über Sylvia Plath, Virginia Woolf, Marina Zwetajewa, Anne Sexton, Unica Zürn, I. M. Bln. 2000. – Ines Geipel: Dann fiel auf einmal der Himmel um. I. M. Bln. 2002 (Biogr.). – Anne-Rose Meyer: Die alte Scham ist falsche Scham. Zu I. M.s ›Liebe 45‹, ›Liebe nach Auschwitz‹ u. ›Rendezvous 44‹. In: Liebesgedichte der Gegenwart. Hg. Hiltrud Gnüg. Stgt. 2003, S. 119–126. – Karen Remmler: ›Beneath the Rubble‹: Correspondences in the Writing of Ingeborg Bachmann and I. M. In: ›If We Had the Word‹. Ingeborg Bachmann. Views and Reviews. Hg. Markus Zisselsberger. Riverside 2004, S. 241–261. – S. Hilzinger: Das Leben fängt heute an: I. M. Bln. 2005 (Biogr.). – Rena Lehmann: Verschüttete Erinnerung. I. M. als erinnernde u. nicht-erinnerte Autorin. In: Ztschr. des Forschungsverbundes SED-Staat 17 (2005), S. 20–41. – Christa Wolf: ›Der ganze menschl. Entwurf‹: I. M., Maxie Wander, Brigitte Reimann u. Irmtraud Morgner. In: Dies.: Der Worte Adernetz. Ffm. 2006, S. 129–141. – Anke Gilleir: ›Ophelia, die der Fluss nicht behalten hat‹. I. M. im Gedächtnis. In: Lit. im Krebsgang. Hg. dies. u. Arne de Winde. Amsterd. 2008, S. 109–124. Elisabeth Grotz / Red.
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Müller, Johann Gottwerth, gen. M. von Itzehoe, * 17.5.1743 Hamburg, † 23.6. 1828 Itzehoe; Grabstätte: Münsterdorf. – Verfasser von Romanen u. Erzählungen; Übersetzer. M. ist nicht der erste Autor des 18. Jh., der sich »ganz aus dem Dintenfasse« (Novantiken. Bd. 1, Braunschw. 1799, S. 372) zu ernähren versuchte, doch dürfte er die Chancen des Buchmarkts am konsequentesten genutzt haben. Daher hat ihn auch die Forschung zur exemplarischen Darstellung der Schwierigkeiten u. Konflikte freien Schriftstellertums herangezogen. Das neue Autorenbewusstsein, den »Ersten der Nation an Rang und Macht« ebenbürtig zu sein (Bodmer in: Literarische Denkmale von verschiedenen Verfassern. 1779), verlangte nach Unabhängigkeit von den politisch-ökonom. Fesseln mäzenatischer Gunst. Doch stieß dieser Wunsch auf die Zwänge des entfalteten Marktes. Ökonomischen Erfolg versprach der Roman, welcher mit dem Anspruch, wertsetzend soziale Realität zu beschreiben, im Prozess der bürgerl. Emanzipation eine entscheidende Rolle spielte. Und doch musste M., der eine große Familie zu ernähren hatte, trotz unermüdl. Produktion, hoher Auflagen u. Förderung durch die Kritik 1795 seinen Landesherrn, den dän. König, um eine Pension ersuchen. Sie wurde ihm ab 1796 gewährt u. 1803, nach Klopstocks Tod, verdoppelt. Der Sohn eines Arztes, in dessen Haus Gelehrte u. Dichter (Hagedorn) verkehrten, nahm im Okt. 1762 das Medizinstudium in Helmstedt auf, das er 1770 abbrach. Nach seinem Eingeständnis erlaubte ihm erst der Tod des Vaters Ende der 1760er Jahre, sich der Schriftstellerei zuzuwenden. In dem Magdeburger Buchhändler Daniel Christian Hechtel, den er in Helmstedt kennengelernt hatte, fand er den Verleger seiner ersten Bücher. Hechtel, dessen Tochter M. 1771 heiratete, brachte die im »persönlichen« Ton der Anakreontik geschriebenen Gedichte der Freundschaft, der Liebe und dem Scherze gesungen (Magdeb. 1770/71) sowie die ersten vier Teile der Wochenschrift »Der Deutsche« (Magdeb. 1771; Tle. 5 u. 6, Hbg. 1773; Tle. 7 u. 8, Itzehoe 1774 u. 1776) heraus. Auseinanderset-
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zungen wegen dieses Blattes bewogen M., sich im Herbst 1771 in Hamburg als Verleger u. Buchhändler zu etablieren. Doch zwangen ihn wirtschaftl. Schwierigkeiten schon 1773 zum Umzug nach Itzehoe. Hier gründete er eine Verlagsbuchhandlung, in der u. a. sein erster, nach einer span. Vorlage geschriebener Roman Der Ring, eine komische Geschichte (1777. Gött. 21788 u. ö.) sowie eine Übersetzung der als polit. Handlungsanleitung verstandenen utop. Erzählung des Denis Veiras, L’Histoire des Sévarambes (1677–79. Geschichte der Sevaramben. 1783), erschienen. Verlag u. Buchhandel wie auch die später hinzugekommene Leihbibliothek musste M. 1783 aus Krankheits- u. wirtschaftl. Gründen aufgeben. In der Abgeschiedenheit der Provinz, die ihm den Stoff für seine Romane liefern musste, umgeben von einer als Arbeits- u. Gelehrtenbibliothek genutzten, allmählich auf 12.000 Bände anwachsenden Büchersammlung, entstanden jene Romane, die ihn in den Augen der Zeitgenossen zu einem »Deutschen Fielding« (Brief Lichtenbergs, 16.7.1794) machten. Mit dem literar. Leben blieb der selbstbewusste u. stets streitbare Autor durch Besucher u. Briefe verbunden. M. korrespondierte mit seinem Freund u. Förderer Lichtenberg – 1783 besuchte er ihn in Göttingen, wo er auch den Kontakt mit dem Verleger Johann Christian Dieterich knüpfte –, mit Nicolai, dem Verleger seiner Romane in den 1790er Jahren, mit Knigge, mit dem er eine Kontroverse um den Nachdruck austrug (Über den Verlagsraub. Lpz. 1792), mit Eschenburg, August Gottlieb Meißner, Johann Heinrich Voß u. anderen. Grundzüge der Schreibweise M.s lassen sich schon in »Der Deutsche« erkennen: das hierarchisch strukturierte Autor/ErzählerLeser-Gespräch als rezeptionssteuerndes Instrument; die Gesellschaftskritik, die bei aller verbalen Schärfe doch nirgendwo Grundsätzlichem gilt; M.s Bemühen, den ungebildeten wie den gebildeten Leser zufriedenzustellen. Erfolg hatte er jedoch erst mit Siegfried von Lindenberg (Hbg. 1779. Erw. Itzehoe 1781/ 82. 5 Aufl.n mit Kupfern von Chodowiecki u. zahlreiche Nachdr.e bis 1791. 6 Aufl.n im 19. Jh. Zuletzt Mchn. 1984. Übers.en ins Dänische, Holländische, Schwedische, Französi-
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sche). Mit diesem (vermeintlich) ersten »originalen Deutschen komischen Roman« (Bd. 1, 21781, S. 50) wollte M. durch »weglachen« statt »wegmoralisieren« (S. 20) aufklären. Analog dem pragmat. Romanmodell bot er fiktive, dem Alltag entnommene Lernu. Erfahrungssituationen, die dem Leser aufgrund der kausalgenet. Darstellungsweise Wirklichkeit durchschaubar machen u. seinen Erfahrungshorizont erweitern sollten. Aber schon die überarbeitete Fassung von 1781/82 zeigt die Folgen von M.s wechselnder Anpassung an »Kenner« u. »großen Haufen« (Bd. 3, S. 8). Die Möglichkeiten satir. Aufklärung in der Geschichte von der Großmannssucht eines kleinen Landadligen u. deren Folgen werden verschenkt. Der Held gelangt zur Einsicht, sein Tun erscheint als ungefährl. Schrulle. M. entwirft in einem satirisch sehr direkten, auf Verfügungsgewalt über den Leser zielenden Erzählen eine lustspielhafte Welt, die sich selbst in Ordnung bringt. Die späteren, wiederholt nachgedruckten u. mehrfach übersetzten Romane Die Herren von Waldheim (Gött. 1784/85. 2 1786), Emmerich (Gött. 1786–89), Herr Thomas (Gött. 1790/91) oder Friedrich Brack (Bln., Stettin 1793/95) halten sich an das einmal entwickelte Erfolgsrezept. Angesiedelt in dem für den Roman um 1780 typischen Milieu von niederem Landadel u. gehobenem Bürgertum, suggerieren sie mit der Utopie einer standesnivellierten Gesellschaft, in der sich der Adel zu bürgerl. Normen bekennt, eine erfolgreiche Aufklärung. Die Herren von Waldheim z.B. entwerfen das Modell einer aufgeklärten Gutsverfassung. Doch statt kritisch die tatsächl. Rolle des Adels zu analysieren, schildert M. eine patriarchal. Idylle, die auch die polit. Mitarbeit des Bürgers im Staat gewährleistet. Die späteren Romane sind gekennzeichnet durch eine Zunahme der erzählerisch nicht integrierten Sachinformation, durch Satire u. Komik, die im Dienst der Erheiterung bzw. der Selbstbestätigung eines nicht weiter begründeten bürgerl. Selbstbewusstseins stehen, u. durch Beschränkung der »Alltäglichkeit« auf eine detailfreudige Schilderung des »Privaten«, das problemlos wiedererkannt werden konnte.
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Das Publikumsinteresse nahm in den 1790er Jahren – wie bei Hermes u. Nicolai – ab. M. versuchte noch mit Übersetzungen von Romanen der Holländerinnen Bethje Wolff u. Aagje Deken (Sara Reinert. Bln. 1796. 21806. Wilhelm Leevend. Bln. 1798/1800. Klärchen Wildschütt. Bln. 1800) seinem Romankonzept den Anschein von Internationalität zu geben. Doch schon Jean Paul spricht 1825 von »derben Lehrromanen« (in: Kleine Nachschule. 12. Programm), u. mit der Abwertung der pragmat. Literatur gerät M. in »die Klasse der gewöhnlichen Unterhaltungsschriftsteller« (August Vilmar: Geschichte der deutschen National-Literatur. 41851). Erst die sowjet. Germanistik u. die der DDR versuchten unter Berufung auf M.s vermeintlich gesellschaftskrit. Realismus das negative Urteil zu korrigieren. Die jüngste Forschung hat, z.T. im Vergleich mit dem satirisch-kom. Erzählen von Musäus, Wieland, Thümmel oder Schöpfel, das unkrit. Moment dieses Realismus herausgearbeitet. M. trivialisierte den pragmat. Roman als Folge des gesuchten – weil erfolgsnotwendigen – Konsenses mit dem Leser. Weitere Werke: Antoinette, oder die uneigennützige Liebe. Ffm. 1802. – Ferdinand. Ein Originalroman. Altona 1802. 21809. – Die Familie Benning. Bd. 1, Altona 1808. – Herausgeber: Straußfedern. Bde. 2 u. 3, Bln./Stettin 1790/91 (begonnen v. Musäus). – Bibliogr. u. Regesten zur MikroficheEd. [...]. Mchn. 1995. Ausgabe: Ges. Werke: J. G. M. In: Bibl. der dt. Lit. Mchn. 1990 ff. Literatur: Hans Schröder: J. G. M. Itzehoe 1843. – Albert Brand: M. v. Itzehoe. Bln. 1901. – Eva D. Becker: Der dt. Roman um 1780. Stgt. 1964. – Norbert Miller: Der empfindsame Erzähler. Mchn. 1968. – Maria Tronskaja: Die dt. Prosasatire der Aufklärung. Bln./DDR 1969. – Ernst Weber: Die poetolog. Selbstreflexion im dt. Roman des 18. Jh. Stgt. 1974. – Alexander Ritter (Hg.): J. G. M. v. Itzehoe. Heide 1978 (darin: Jörg Schönert: Zur Trivialisierung des Erzählens in der Spätaufklärung, S. 99–118; Helmuth Kiesel: Gesellschaftskritik u. gesellschaftspolit. Vorstellungen in J. G. M.s ›Komischen Romanen‹, S. 167–183; E. Weber: J. G. M.s Wochenschr. ›Der Deutsche‹. Ein Modell aufklärer. Publizistik, S. 205–247; Dieter Lohmeier: Bibliogr. J. G. M., S. 280–299, erg. v. Kay Dohnke in: Steinburger H.e 1 (1981), S. 309–336). – E. Weber u. Christine Mithal: Dt. Originalromane
403 zwischen 1680 u. 1780. Bln. 1983. – A. Ritter (Hg.): Freier Schriftsteller in der europ. Aufklärung. J. G. M. v. Itzehoe. Heide 1986 (darin: ders.: Bücher zum Bürger. Die Itzehoer Lesegesellsch., S. 9–31; Manfred Koch: Schöngeistige Lit. u. Mäzenatentum, S. 33–61; Franklin Kopitzsch: Von einem ›nimmersatten Büchervielfraß‹ u. seiner Bibl., S. 159–168; Peter-Eckart Knabe: Die Welt im Bücherschrank. Frz. u. engl. Lit. in J. G. M.s Bibl., S. 169–181). – A. Ritter: J. G. M. Aufklärung in der Kleinstadt. In: Literaten in der Provinz – Provinzielle Lit.? Hg. ders. Heide 1991, S. 67–90 (erneut in: Steinburger Jb. 44, 1999, S. 97–128). – Ders.: J. G. M. u. Christian Heinrich Boie. Ihre Lesegesellsch.en. In: Steinburger Jb. 38, 1993, S. 293–323. – Anette Antoine: Literar. Unternehmungen der Spätaufklärung. Bd. 2: Ed. u. Komm.: Korrespondenz v. J. G. M. u. Friedrich Nicolai. Würzb. 2001. – A. Ritter: J. G. M. Bibliogr. der Werke, Korrespondenz u. Forschungslit. In: Lichtenberg-Jb. 2004, S. 221–237. – Ders.: ›ich bin ein freygebohrener Hamburger [...]‹. Geschäftsbriefe der freien Schriftstellers J. G. M. an seinen Verleger Johann Christian Dieterich zwischen 1788 u. 1791. In: Lichtenberg-Jb. 2005, S. 168–208. Nachtr. in: Lichtenberg-Jb. 2006, S. 214–220. Ernst Weber
Müller, Johann Heinrich Friedrich, eigentl.: J. H. F. Schröter, * 20.2.1738 Aderstedt bei Halberstadt, † 8.8.1815 Wien. – Dramatiker. M. studierte in Halle, kam als Hauslehrer zu Schuch, trat aber schon ab 1755 in dessen Truppe auf. Nach Engagements in Hamburg, Roswalde u. Linz gelangte M. 1763 nach Wien ans Hoftheater, wo er bis 1801 als Schauspieler wirkte, seit 1779 auch als Direktor des Deutschen Singspiels u. der Theaterpflanzschule für den Schauspielernachwuchs. Auf einer Reise zu den wichtigsten dt. Bühnen – um im Auftrag Josephs II. Schauspieler für das neue Nationaltheater zu werben – kam er 1776/77 u. a. mit Johann Jakob Engel, Gleim, Gotter, Klinger, Lessing, Wieland u. Ramler in Kontakt. M.s dramat. Werke, überwiegend regelmäßige (d.h. klassizistische) Lustspiele, orientieren sich an der zeitgenöss. frz. Aufklärungskomödie u. stehen z.T. in der Nachfolge Molières (Der Heuchler. Wien 1788). Seine Memoiren Abschied von der k. k. Hof- und Na-
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tional-Schaubühne (Wien 1802) sind von bes. theatergeschichtl. Wert. Weitere Werke: Der Ball. Wien 1770 (Lustsp.). – Genaue Nachrichten v. beyden k. k. Schaubühnen u. a. öffentl. Ergötzlichkeiten in Wien. Wien 1772. – Die Neugierige. Wien 1783 (Lustsp.). Literatur: Anton Nigg: J. H. F. M. Diss. Wien 1964. Wolfgang Neuber
Müller, Johann Samuel, * 24.2.1701 Braunschweig, † 7.5.1773 Hamburg. – Lyriker, Dramatiker, Übersetzer. M. besuchte das Katharineum in Braunschweig bis 1719 u. studierte Mathematik, Physik, Philosophie, Geschichte, Staatsrecht, Orientalische Sprachen, Theologie u. Kirchengeschichte ab 1719 in Helmstedt, ab 1722 in Leipzig. Er war Hofmeister in Dresden bis 1725, kehrte nach Braunschweig zurück u. wurde dann Hofmeister in Hamburg. Kurz darauf übernahm er das Lektorat der Lateinschule in Uelzen, 1730 das Konrektorat der Altstädter Schule in Hannover. 1732 wurde er Rektor der Hamburger Gelehrtenschule Johanneum, dessen damaliger Verwahrlosung er ein Ende bereitete u. das unter ihm eine seiner großen Zeiten u. den Einzug der Frühaufklärung erlebte. – M. hat zweimal geheiratet: 1716 Catharina Louise Hartmann, die 1742 starb, u. 1745 Dorothea Rachel. M.s wiss. u. literar. Werk umfasst altphilolog., histor. u. theolog. Arbeiten. Für die Gänsemarkt-Oper schrieb er zehn Libretti, deren vier von Francesco Bartolomeo Conti, Reinhard Keiser, Antonio Caldara u. Telemann vertont wurden. Seit Beginn seines Studiums schrieb er Gelegenheitsgedichte im Geiste der Lohenstein’schen Schule u. brachte sie in verschiedenen Anthologien unter. M. übersetzte Des C. Cornelius Tacitus sämmtliche Werke (Hbg. 1765) u. trat als Verfasser zahlreicher dramatisierter, in Musik gesetzter Redeübungen seiner Schüler hervor, die er im Johanneum unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit im Sinne der Frühaufklärung v. a. in dt. Sprache aufführen ließ, wie etwa die Gespräche der alten Weltweisen (Hbg. 1733) u. seine acht Übersetzungen platonischer Dialoge (Hbg. 1736–40). M. war mit Brockes, Hagedorn, Matthäus Arnold Wilckens, Mi-
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chael Richey, Telemann, Joachim Johann Daniel Zimmermann befreundet, bekannt mit Lessing u. Klopstock. Zu seinen Schülern gehörten Basedow u. Johann Georg Busch, während seines Rektorats besuchten Curio, Johann Arnold Ebert, Eschenburg u. Johann Albert Heinrich Reimarus das Johanneum. Mit ihrer Generation wurde die den Wissenschaften u. Künsten verpflichtete Gelehrtenrepublik der Frühaufklärung, deren letzter Hamburger Vertreter M. war, zur allg. aufklärerischen Reformbewegung. Ausgaben: 24 Gedichte in: Christian Friedrich Weichmann: Poesie der Nieder-Sachsen. Hbg. 1721–38. Neudr. hg. v. Jürgen Stenzel. Mchn. 1980. – Neukirch, Tl. 7, S. 312–316. Literatur: Bibliografien: Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller. Bd. 5, Hbg. 1870, S. 441–447 (Werkverz.). – Goedeke 3, S. 337 f. – Frank-Rutger Hausmann: Bibliogr. der dt. Übersetzungen aus dem Italienischen v. den Anfängen bis 1730. Bd. 1, Tüb. 1992, Nr. 0315, 0865. – Alberto Martino: Die ital. Lit. im dt. Sprachraum [...]. Amsterd. u. a. 1994, Register. – Weitere Titel: Johann Georg Büsch: Memoria Joannis Samuelis Mülleri [...]. Hbg. 1774. – Emil Riedel: Schuldrama u. Theater [...]. In: Aus Hamburgs Vergangenheit [...]. Hg. Karl Koppmann. Hbg./Lpz. 1885, S. 181–261, bes. S. 230 ff. – Richard Hoche: J. S. M. In: ADB. – Franklin Kopitzsch: J. S. M. [...]. In: 450 Jahre Gelehrtenschule des Johanneums zu Hamburg. Hbg. 1979, S. 30–34, 215. – C. F. Weichmanns Poesie der Nieder-Sachsen (1721–38). Nachweise u. Register. Hg. Christoph Perels, Jürgen Rathje u. Jürgen Stenzel. Wolfenb. 1983, S. 126–130. – Hans Joachim Marx u. Dorothea Schröder: Die Hamburger Gänsemarkt-Oper. Kat. der Textbücher (1678–1748). Laaber 1995, Register. – D. Schröder: Zeitgesch. auf der Opernbühne [...]. Gött. 1998, Register. Jürgen Rathje / Red.
Müller, Johannes von (geadelt 1791), * 3.1. 1752 Schaffhausen, † 29.5.1809 Kassel. – Geschichtsschreiber u. Staatsmann. Der Sohn u. Enkel von Theologen kam 1769 als Theologiestudent nach Göttingen. Unter dem Einfluss seiner Lehrer Schlözer u. Heyne wandte er sich dem Geschichtsstudium u. der Antike zu. Seit 1771 wieder in Schaffhausen, musste er sich vorerst als Prediger u. Griechisch-Lehrer bewähren, blieb aber bald – u. für sein ganzes Leben – auf drei Hauptfeldern
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tätig: der Geschichtsschreibung, die er wie die »Alten« aus der Erfahrung im polit. Leben betrieb; der Rezensionen u. anonymen polit. Schriften (»Würken will ich«); der privaten sowie amtl. Korrespondenz. Beinahe lückenlos blieben die von M. selbst empfangenen über 20.000 Briefe erhalten u. gelangten nebst eigenen Briefen, seiner Bibliothek u. dem Nachlass seines Bruders Johann Georg Müller (1759–1819), eines Herder-Anhängers u. Staatsmannes, in die Stadtbibliothek Schaffhausen. M. knüpfte Kontakte mit den bedeutendsten Gelehrten u. Sammlern der Schweiz an u. gelangte dank Vermittlung seines Freundes Bonstetten als Hauslehrer nach Genf. 1774–1779 u. 1783–1785 hielt er dort mit großem Erfolg weltgeschichtl. Vorlesungen in frz. Sprache vor Studenten u. auf deutsch vor Aristokraten in Bern. 1775 besuchte M. noch Voltaire in Ferney, der in ihm den »Tacitus der Schweiz« begrüßte. Um 1780 erschien der erste Band der unvollendeten Schweizer Geschichte (mit fingiertem Druckort Boston), die ihn als Hauptwerk ein Leben lang beschäftigte. Um 1780 reiste M. nach Berlin, erhielt Audienz beim König, fand aber erst auf der Rückreise in Kassel dank General Martin Wilhelm Ernst von Schlieffen eine Anstellung als Geschichtsprofessor an der Militärakademie. Hier pflegte er Umgang mit Wilhelm Johann Christian Casparson, Georg Forster, Christian Wilhelm von Dohm, Friedrich Heinrich Jacobi, v. a. aber mit Schlieffen. Von hier aus gab M. in eigener Übersetzung die Briefe über ein schweizerisches Hirtenland von Bonstetten u. ihm selbst im »Teutschen Merkur« (Frühsommer 1781) heraus. Nach einem weiteren Aufenthalt in Genf bei Rousseaus größtem Gegner, Robert Tronchin, u. bei Charles Bonnet sowie einem Winter in Bern folgte M. der Einladung des Kurfürsten Erzbischof von Erthal nach Mainz, wo er zunächst als Bibliothekar, später im engeren Regierungskabinett wirkte. Seine Schriften Darstellung des Fürstenbunds (Lpz. 1787) u. Deutschlands Erwartungen vom Fürstenbund (Lpz. 1788) fanden weithin Beachtung.
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Nach dem Fall der Stadt Mainz ließ M. sich Europ. Menschheit. Hg. Johann Georg Müller. 3 bewegen, in die diplomat. Dienste des Kai- Tle., Tüb. 1810 (als Anfang der Sämtl. Werke). Ausgaben: Sämtl. Werke. Hg. J. G. Müller. 27 serhauses zu treten u. nach Wien überzusie2 deln. Sein Festhalten am reformierten Glau- Bde., Tüb./Stgt. 1810–19. 40 Bde., Stgt. 1831–35. ben verhinderte den Fortgang seiner Karriere, – Briefe an seinen ältesten Freund in der Schweiz sodass er schließlich zum Kustos in der Hof- [Johann Heinrich Füssli]. Zürich 1812. – Der Briefw. der Brüder J. G. Müller u. J. v. M. bibliothek ernannt wurde u. der Diplomatie 1789–1809. Hg. Eduard Haug. 2 Bde., Frauenfeld nach mehreren Dienstreisen in den Osten u. 1891–93. – Schr.en in Ausw. Hg. Edgar Bonjour. in die Schweiz (1797) zugunsten der Wissen- Basel 1953. 21955. – J. v. M. / Johann Georg Müller: schaft entsagte. In Wien pflegte M. einen Briefw. u. Familienbriefe 1766–89. Hg. André äußerst lebhaften Umgang in verschiedenen Weibel. Gött. 2009. Gesellschaftskreisen (Kaiserhaus, EmigranLiteratur: J. C. Mörikofer: Die Schweizer. Lit. ten, Diplomatie), v. a. aber mit Gelehrten wie des 18. Jh. Lpz. 1861, S. 459–525. – Karl Henking: Joseph von Hammer-Purgstall u. Joseph von J. v. M. 2 Bde., Stgt./Bln. 1909–28 (unvollendet). – Hormayr, die von ihm auch publizistisch ge- Paul Requadt: J. v. M. u. der Frühhistorismus. fördert wurden (M. gab Hammer-Purgstalls Mchn. 1929. – Edgar Bonjour: Studien zu J. v. M. Posaune des Heiligen Krieges, Bln. 1806, heraus). Basel/Stgt. 1957. – Karl Schib: J. v. M. Thayngen/ 1804 wechselte M. höchst ehrenvoll über Konstanz 1967. – Christoph Jamme u. Otto Pöggeler (Hg.): J. v. M. Schaffh. 1986. – Michael Gottzu Preußen, wo er 1804–1807 als Geheimer lob: Geschichtsschreibung zwischen Aufklärung u. Kriegsrat, als Mitgl. der Akademie u. kgl. Historismus, J. v. M. u. Friedrich Christoph Hofhistoriograf seine glanzvollste Lebenspe- Schlosser. Ffm. 1989. – Matthias Pape: J. v. M., riode in Berlin verbrachte. Goethe persönlich seine geistige u. polit. Umwelt in Wien u. Berlin, übersetzte M.s Akademierede De la gloire de 1793–1806. Bern/Stgt. 1989 (umfassende Bibliogr. Frédéric 1807 ins Deutsche (in: »Morgenblatt u. Quellenverz.). – Michael Gottlob: Geschichtsschreibung zwischen Aufklärung u. Historismus. J. für gebildete Stände«. Tüb.). Seit der Audienz bei Napoleon in Berlin v. M. u. Friedrich Christoph Schlosser. Ffm. u. a. 1807 galt M. in Deutschland u. Österreich als 1989. – Peter Walser-Wilhelm u. Marianne Berlinpolitisch kompromittiert. Der Kaiser er- ger (Hg.): Geschichtsschreibung zu Beginn des 19. Jh. im Umkreis J. v. M.s u. des Groupe de Coppet. nannte ihn 1807 zum Außenminister des Paris 2004. – Jörg Westerburg: ›Währen soll, was Königreichs Westfalen. Unter Jérôme wurde geschah‹. Das Grabmal des Historikers J. v. M. u. M. jedoch schon bald zur Übernahme des sein Stifter Ludwig I. v. Bayern. Schaffhauser BeiAmts als Direktor des öffentl. Unterrichts in träge zur Gesch. 80 (2006), S. 359–386. Kassel gezwungen. Als Schirmherr der BilBarbara Schnetzler / Red. dungsanstalten, namentlich der Universität Göttingen, leistete M. bekanntermaßen in Müller, Karl Otfried, eigentl.: K. Müller, selbstloser Weise zus. mit Heyne u. dem * 28.8.1797 Brieg/Schlesien, † 1.8.1840 Kanzler Eichhorn das Menschenmögliche Athen; Grabstätte: ebd., Kolonos-Hügel. zwischen aufkommendem dt. Nationalismus – Philologe u. Altertumswissenschaftler. u. Fremdherrschaft. Weitere Werke: Bellum Cimbricum. Zürich Der Sohn eines protestant. Predigers stu1772. – Essais historiques. Bln. 1781. – Reisen der dierte Mathematik, Botanik, Sprachen, ReliPäpste. o. O. 1782. – Der Gesch.n Schweizerischer gion u. Philosophie in Breslau u. Berlin, wo er Eidgenossenschaft erstes Buch. Lpz. 1786. bereits nach einem Jahr 1817 von Böckh Bde. 2–5, Lpz. 1786–1808. Verb. u. verm. Aufl. 3 promoviert wurde. 1818 unterrichtete M. am Bde., Lpz. 1806. – Briefe eines jungen Gelehrten an Breslauer Magdalenen-Gymnasium, 1819 seinen Freund [Bonstetten]. Hg. Friederike Brun folgte er einem Ruf nach Göttingen auf Hey[...]. Tüb. 1802. Erw. Ausg. 2 Bde., 1812. Neuausg. nes Lehrstuhl. Auf einer Forschungsreise in 1828. – Selbstbiogr. In: S. M. Lowe: Bildnisse Berliner Gelehrter mit ihren Selbstbiogr.n. Bln. 1806. die »klassischen Länder« 1839/40 verstarb er – Vier u. zwanzig Bücher Allg. Gesch.n bes. der infolge Überanstrengung. M. gilt als Begründer der systemat. Altertumswissenschaft. Seit dem Aegineticorum liber
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(Diss. Bln. 1817) verfolgte er konsequent sein Programm der Einbeziehung aller erreichbaren geograf., sozialen, kulturellen u. religiösen Daten in die Erforschung der einzelnen griech. Völker, was zu einer neuartigen differenzierten Beschreibung führte (u. a. Die Dorier. 2 Bde., Breslau 1824. 21844. Über die Makedonier. Bln. 1825. Daneben auch: Die Etrusker. 2 Bde., Breslau 1828. 21877). Hauptansatzpunkt waren dabei die lokalen Mythen, da M. der Auffassung war, jeder Mythos berge einen histor. Kern. Damit rückte er, die Grimm’sche Volksmärchenforschung aufnehmend, die bislang vernachlässigte Mythenforschung in den Mittelpunkt der Altphilologie (Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie. Gött. 1825). Als Philologe trat M. u. a. mit einer kommentierten Übertragung von Aischylos’ Eumeniden (Gött. 1833) hervor. Zuerst auf englisch erschien 1840 seine unvollendete Geschichte der griechischen Literatur bis auf das Zeitalter Alexanders (London. 2 Bde., Stgt. 41882/83). M.s Handbuch der Archäologie der Kunst (Breslau 1830. 31848 mit Zusätzen v. Welcker) war lange richtungweisend. Als Ziele klass. Philologie galten ihm: Hilfestellung für die Philosophie u. universelle Gültigkeit method. u. charakterl. Erziehung (vgl. Kleine deutsche Schriften. Hg. Ernst Müller. Breslau 1847/48). Literatur: Ferdinand Ranke: Carl O. M. Bln. 1870. – A. Baumeister: M. In: ADB. – Siegfried Reiter (Hg.): Carl O. M. 2 Bde., Bln. 1950. – Wolfhart Unte u. Helmut Rohlfing: Quellen für eine Biogr. K. O. M.s. Bibliogr. u. Nachl. Hildesh. u. a. 1997. – K. O. M. u. die antike Kultur. Hg. William M. Calder III u. Renate Schlesier. Hildesh. 1998. Christian Schwarz / Red.
Müller, Nikolaus oder Niklas, * 14.5.1770 Mainz, † 14.6.1851 Mainz; Grabstätte: ebd., Hauptfriedhof. – Maler, Theaterautor, Lyriker, Verfasser historischer u. kunstkritischer Werke. Der Sohn eines Kaufmanns war – nach seiner Autobiografie (in: Heinrich Eduard Scriba: Biographisch-literarisches Lexikon der Schriftsteller des Großherzogtums Hessen. Bd. 1, Darmst. 1831, S. 262–275) – schon früh künstlerisch tätig. Noch während seiner Gymnasialzeit
erschien sein erster Gedichtband (Poetische Versuche. Mainz 1786); er malte u. wurde Mitgl. der Großmann’schen Theatergesellschaft. Auch während des Philosophiestudiums (später Anatomie) u. nach seinem Entschluss, Maler zu werden, blieb er dem Theater als Dekorationsmaler u. Bühnenautor verbunden. Nach dem Einmarsch der frz. Armee in Mainz 1792 wurde M. Mitgl. des Jakobinerklubs u. übernahm polit. Funktionen. Sein Theatertalent entfaltete M. nun in mehreren revolutionär gesinnten Schauspielen, die zu den gelungensten ihrer Art zählen. Einer frz. Vorlage folgt Der Aristokrat in der Klemme (Mainz 1792), ganz eigenständig ist nach Steiner Der Freiheitsbaum (Lpz., Frankf./O. o. J. [1796]. Wiederabdr. in: Gerhard Steiner: Jakobinerschauspiel und Jakobinertheater. Stgt. 1973, S. 197–221). Als die Koalitionstruppen Mainz zurückeroberten, flüchtete M. 1793 nach Paris u. widmete sich wieder stärker der Malerei. Bald darauf wandte er sich nach Straßburg u. arbeitete bis zu seiner Rückkehr nach Mainz 1798 für die frz. Administration. Er beteiligte sich wieder als Autor u. Redner an den revolutionären Festen. Ab 1802 lehrte M. als Professor für Zeichenkunst am Mainzer Lyceum (später am neuen Gymnasium) u. wurde 1805 Konservator der städt. Gemäldegalerie. M. blieb bis ins hohe Alter vielseitig schriftstellerisch aktiv: Theater- u. kunstkritische Schriften bilden neben Schriften zum ind. Altertum das Hauptwerk dieser zweiten Lebensphase. Weitere Werke: Republikan. Gedichte. Mainz o. J. [1799] (zus. mit Friedrich Lehne). – Gedichte. Bd. 1, Mainz 1810 (mehr nicht ersch.). – Glauben, Wissen u. Kunst der alten Hindus. Bd. 1, Mainz 1822 (mehr nicht ersch.). Neudr. mit einem Nachw. v. Heinz Kucharski. Lpz. 1968. – Mithras. Eine vergleichende Übersicht [...]. Wiesb. 1831. – Das Mainzer Theater [...]. Mainz 1831. Literatur: Christoph Jamme u. Otto Pöggeler (Hg.): Mainz – ›Centralort des Reiches‹. Politik, Lit. u. Philosophie im Umbruch der Revolutionszeit. Stgt. 1986. – Jörg Schweigard: Aufklärung u. Revolutionsbegeisterung: Die kath. Univ.en in Mainz, Heidelberg u. Würzburg im Zeitalter der frz. Revolution. Ffm. 2000. Christoph Weiß / Red.
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Müller, Otto, * 1.6.1816 Schotten am Vogelsberg, † 6.8.1894 Stuttgart. – Erzähler, Journalist, Herausgeber.
Müller 3 Bde., Bln. 1865. – Ausgew. Schr.en. 12 Bde., Stgt. 1873/74. Literatur: Franz Brümmer: M. In: ADB. – Otto Müller: Joseph Viktor v. Scheffel u. O. M. 1854–1861. In: PMLA 53, No. 2 (1938), S. 519–544.
M. brach 1836 sein Kameralistikstudium ab, um eine Stelle an der Darmstädter HofbiKarin Vorderstemann bliothek anzutreten. 1843 übernahm er die Redaktion des belletrist. »Frankfurter Konversationsblattes«, für das er junge Schrift- Müller, Robert, * 29.10.1887 Wien, † 27.8. steller gewann u. selbst Beiträge lieferte 1924 Wien (Freitod). – Erzähler, Essayist, (Novelle Petrus von Vineta, 1846). 1848 wech- Verleger, Literatur- u. Kulturmanager. selte M. zum liberalen »Mannheimer JourDas Leben M.s, an dessen frühem Ende allein nal«. 13 eigenständige Veröffentlichungen u. weit M.s literar. Laufbahn begann mit dem ermehr als 500 Publikationen in etwa 40 Zeifolgreichen Roman Bürger, ein deutsches Dichtungen u. Zeitschriften stehen, war von un2 terleben (Ffm. 1845. 1870). Nach dem Tod gemeiner Vielfalt, Produktivität u. Rastlosigseiner Ehefrau, einer Bremer Patrizierstochkeit geprägt. ter, im Jahr 1852, einem zweijährigen AufM. wuchs in einer Zeit auf, in der sich Wien enthalt im Haus seiner Schwiegereltern u. zu einer technisch modernen Stadt wandelte. einem gleichfalls zweijährigen Aufenthalt in Auch wenn M. diesen Prozess sehr begrüßte, Frankfurt/M., wo er erst die »Deutsche Biso prägte ihn Wien mit seiner vielstimmigen bliothek« u. dann die ästhet. Wochenschrift Kaffeehauskultur doch v. a. als »geistige In»Frankfurter Museum« herausgab, heiratete tensivstadt«. Seine zweite intellektuelle PräM. 1856 seine Schwägerin u. zog mit ihr nach gung erfuhr M. durch das »materielle Ultra« Stuttgart, wo er bis zu seinem Tod als freier New York u. dessen hybride, auf »pace« geSchriftsteller lebte. Seit 1854 war M. mit Jotrimmte Bewohner, sodass er 1923 als proseph Viktor von Scheffel befreundet, dessen grammat. Vermächtnis für den aktivistischEkkehard er 1855 in der »Deutschen Biblioexpressionist. Intellektuellen festhalten thek« publizierte. konnte: »Halb sind wir Wiener und halb New Im Mittelpunkt von M.s Werk stehen hisYorker«. Nach dem Abbruch des Studiums tor. Persönlichkeiten, die er in gründlich reder Klassischen u. Modernen Philologie hielt cherchierten u. kleinteilig erzählten realist. sich M. zwischen Ende 1909 u. Herbst 1911 – Romanen lebendig werden lässt, darunter die vermutlich durchgängig – in New York auf, großen Schauspieler des 18. Jh. (Charlotte anfangs als Reporter für den »New York Ackermann. Ffm. 1845. Eckhof und seine Schüler. German Herold«. Nicht auszuschließen ist Lpz. 1863), Schriftsteller (Aus Petrarcas alten unter Bezug auf die Hauptfigur seines einziTagen. 2 Bde., Bln. 1862. Der Professor von gen dramat. Textes, Die Politiker des Geistes Heidelberg [Lotichius Secundus]. 3 Bde., Stgt. (1917), dass sich M. in dieser Zeit auch einer 2 1870. 1881) u. Revolutionäre (Altar und Kerlängeren psychiatr. Behandlung unterzogen ker. 3 Bde., Stgt. 1884, über Friedrich Ludwig hat. Zurück in Wien, entwickelte sich M. zu Weidig). Als Dramatiker hat sich M. 1839 mit einer der umtriebigsten u. faszinierendsten einem als Manuskript gedruckten RienziFiguren der dortigen Literatur- u. KulturDrama versucht (gelobt in Gutzkows »Teleszene. In dem Bestreben, die Avantgarde in graph«). 1854 dramatisierte er seinen Roman Literatur u. Kunst zu fördern u. breite BeCharlotte Ackermann, die Bühnenfassung war völkerungsschichten an diese Avantgarde jedoch kein Erfolg. heranzuführen, vermittelte er beispielsweise Weitere Werke: Georg Volker. Ein Roman aus Trakl an den »Brenner« (April 1912) u. war dem Jahre 1848. 3 Bde., Bremen 1851. – Roderich. bis 1914 literar. Leiter der studentischen Eine Hof- u. Räubergesch. aus dem Jahre 1812. 2 Vereinigung »Akademischer Verband für LiBde., Stgt. 1861. – Erzählungen u. Charakterbilder. teratur und Musik in Wien«. Er scheute aber auch vor populist. Veranstaltungen nicht zu-
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rück u. organisierte u. a. den letzten, triumphal endenden öffentl. Auftritt Karl Mays im Wiener Sophiensaal (22.3.1912). Erste Veröffentlichungen im »Brenner« u. in »Der Ruf« (Prosa, Lyrik, Essays), die neuromantische, bereits um eines von M.s Hauptthemen, »Urbanität«, kreisende Erzählung Irmelin Rose. Die Mythe der großen Stadt (Heidelb. 1914; vgl. auch Der Barbar. Bln. 1920, u. Flibustier. Wien 1922), eine radikal antiparlamentarische, nationalistisch-utopist. Sammlung von Essays u. d. T. Was erwartet Österreich von seinem jungen Thronfolger? (Mchn. 1914) u. das aus der durchschnittl. Anti-Kraus-Literatur herausragende Pamphlet Karl Kraus oder Dalai Lama. Der dunkle Priester. Eine Nervenabtötung (Wien 1914) machten M. schnell über die Grenzen Österreichs hinaus bekannt. Mit nietzscheanisch grundiertem, das existentielle Erleben hoch gewichtendem Kriegsenthusiasmus (Apologie des Krieges, 1913; Auf Vorposten, 1915) meldete sich M. einer körperlich bedingten Untauglichkeit zum Trotz als Kriegsfreiwilliger, schlug sich im Verlauf des Krieges aber zusehends auf die Seite des Pazifismus (Isonzobibel, 1916; Der Friede als Leistung und Genie, 1919). Bei einer Granatexplosion am Isonzo erlitt er einen traumat. Nervenschock, der ihn im Herbst 1915 endgültig untauglich werden ließ, gleichzeitig wuchs die Einsicht in die Unterschiedlichkeit der eigenen u. der staatl. Kampf- u. Kriegsvorstellungen, -erfahrungen u. -ziele. M. wurde als Pressedienstgehilfe auf dem südwestl. Kriegsschauplatz, als Referent im Kriegspressequartier u. als Leiter der »Belgrader Nachrichten« (1916/17) eingesetzt, schließlich aber wegen auffälliger Serbenfreundlichkeit entlassen. Nach Kriegsende nahm er unterschiedl. Funktionen ein: Er war Gründer der aktivist. Geheimgesellschaft »Katakombe« u. des »Bundes der geistig Tätigen«, Leiter verschiedener Zeitschriften (u. a. »Neue Wirtschaft«, »Muskete«) sowie (Mit-)Gründer u. Direktor einer sich zum Konzern auswachsenden Buchhändler- u. Sortimenterfirma (»Literaria«, 1919) u. eines Buchverlags (»Atlantischer Verlags«, 1923). Für den völlig unerwarteten Freitod M.s, auf den prominente Zeitgenossen u. Freunde wie Musil u. Flake entsetzt u. mit ebenso ein-
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fühlsamen wie engagierten Nekrologen reagierten, dürfte neben seiner desolaten wirtschaftl. Situation als Verleger v. a. das Gefühl einer gesellschaftl. Handlungsohnmacht u. damit eines grundsätzlichen intellektuellexistentiellen Scheiterns verantwortlich sein. Die Nekrologe konnten allerdings nicht verhindern, dass M. bis in die 1970er Jahre hinein nahezu gänzlich vergessen war. Seit den 1980er Jahren, befördert durch eine Werkausgabe in den 1990er Jahren, hat sich eine intensive M.-Forschung herausgebildet. Der 1915 bei Hugo Schmidt erschienene Roman Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs (Mchn. Neu hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Günter Helmes. Paderb. 1990), das erzählerische Hauptwerk M.s, hat schon bei den Zeitgenossen hohe Beachtung gefunden u. wurde u. a. von Döblin, Hesse, Kurt Hiller u. Thomas Mann geschätzt. Tropen nimmt fulminant auf den weitgefächerten kolonialen Diskurs der Zeit Bezug u. entwickelt, eine literar. Anthropologie, die Vorstellung einer »neuen Rasse« als Ergebnis einer umfassenden, sog. Wilde u. Kulturmenschen gleich gewichtenden Hybridisierung. Für diesen Hybridisierungsprozess steht die Figur des Jack Slim (vgl. auch Im Kampf um den Typus, 1925, u. Das Chaos des Jack Slim, 1927). Mit diesem virtuos komponierten, essayistisch geprägten Spiegel-Roman, der auch forschungsseitig im Zentrum steht, gehört M. nach heutigem Urteil zur Avantgarde der europ. Moderne. Dem ästhet. Avantgardismus M.s entspricht allerdings ein polit. Konservativismus, der zuweilen auch faschistoide Züge trägt. Deutlicher noch als im erzählerischen Werk kommt diese Ambivalenz in seiner polit. u. kulturkrit. Essayistik, in Publikationen wie Macht. Psychopolitische Grundlagen des gegenwärtigen Atlantischen Krieges (Mchn. 1915), Bolschewik und Gentleman (Bln. 1920) u. Rassen, Städte, Physiognomien (Bln. 1923) zum Ausdruck. Hier zeigt sich M. sowohl als bedeutender Ideologe des (Kultur-)Imperialismus der Zeit u. herausragender Vertreter (neben Hiller) des blut- oder geistesaristokratisch argumentierenden sog. literar. Aktivismus wie auch als Essayist von beträchtlicher ästhet. Innovationskraft.
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Müller, (Johann Ludwig) Wilhelm, auch: Griechen-Müller, * 7.10.1794 Dessau, † 30.9.1827 Dessau; Grabstätte: ebd., Historischer Friedhof. – Lyriker, ÜberAusgabe: Werkausg. in Einzelbdn. Hg. v. Günter setzer.
Weitere Werke: Österr. u. der Mensch. Bln. 1916. – Europ. Wege. Im Kampf um den Typus. Bln. 1917. – Das Inselmädchen. Mchn. 1919. – Camera obscura. Bln. 1921 (R.). Helmes. 13 Bde., Paderb. 1990–97.
Literatur: Helmut Kreuzer u. Günter Helmes (Hg.): Expressionismus, Aktivismus, Exotismus. Studien zum literar. Werk R. M.s. Gött. 1981. Paderb. 1989. – Roger Willemsen: Die sentimentale Gesellsch. Zur Begründung einer aktivist. Literaturtheorie im Werk Robert Musils u. R. M.s. In: DVjs 38 (1984), H. 2, S. 289–316. – G. Helmes: R. M. [...]. Ffm. 1986. – Daniela Magill: Literar. Reisen in die exot. Fremde. Ffm. 1989. – Stephanie Heckner: Die Tropen als Tropus. Zur Dichtungstheorie R. M.s. Wien u. a. 1991. – Thomas Köster: Bilderschrift der Großstadt. Studien zum Werk R. M.s. Paderb. 1995. – Eva Reichmann: Konzeption v. Heimat im Werk v. R. M. In: MAL 29 (1996), S. 203–222. – Reto Sorg: ›Und geheimnisvoll ist es, dieses Buch‹ [zu ›Tropen‹]. In: Fremdverstehen in Sprache, Lit. u. Medien. Hg. Ernest W. B. HessLüttich. Ffm. 1996, S. 141–176. – Stephan Dietrich: Poetik der Paradoxie. Zu R. M.s fiktionaler Prosa. Siegen 1997. – Werner Kummer: R. M.s ›Tropen‹: Ein fünfdimensionaler kubist. Mythos. In: Mythos im Text. Hg. Rolf Grimminger u. Iris Hermann. Bielef. 1998, S. 149–159. – Wolfgang Riedel: ›What’s the Difference?‹ R. M.s ›Tropen‹ (1915). In: Schwellen. Hg. Nicholas Saul. Würzb. 1999, S. 62–76. – Robert Matthias Erdbeer: Der Einkaufsbummel als Horrortrip [zu ›Irmelin Rose‹]. In: Hofmannsthal-Jb. 8 (2000), S. 311–355. – T. Köster: Berlin liegt in den Tropen. In: Wien – Berlin. Hg. Bernhard Fetz u. Hermann Schlösser. Wien 2001, S. 58–78. – R. M. Erdbeer: Spaßige Rassen [zu: ›Manhattan‹]. In: Die ›Großstadt‹ u. das ›Primitive‹. Hg. Kristin Kopp u. Klaus MüllerRichter. Stgt. 2004, S. 221–257. – Michael C. Frank: Die Exotik v. R. M.s ›Tropen‹ (1915). In: Vergessene Texte. Hg. Aleida Assmann u. M. C. Frank. Konstanz 2004, S. 186–206. – Angelika Jacobs: ›Wildnis‹ als Wunschtraum westl. ›Zivilisation‹ [zu: ›Tropen‹]. In: Mythos u. Krise in der deutschsprachigen Lit. des 19. u. 20. Jh. Hg. Bogdan Mirtchev u. a. Dresden 2004, S. 89–115. – Christian Liederer: Der Mensch u. seine Realität. Anthropologie u. Wirklichkeit im poet. Werk des Expressionisten R. M. Würzb. 2004. – Thomas Schwarz: R. M.s ›Tropen‹. Ein Reiseführer in den imperialen Exotismus. Heidelb. 2006. – Bettina Pflaum: Polit. Expressionismus. Aktivismus im fiktionalen Werk R. M.s. Hbg. 2008. Günter Helmes
M. war der Sohn eines Dessauer Schneidermeisters u. verlor 13-jährig seine Mutter. Durch eine zweite Heirat des Vaters wurde ihm eine gute Ausbildung ermöglicht. Nach dem Schulbesuch in Dessau studierte M. ab 1812 in Berlin klass. Philologie (u. a. bei den Gräzisten Böckh u. Wolf). Im Febr. 1813 trat er als Freiwilliger in das preuß. Heer ein u. nahm an den Schlachten gegen Napoleon bei Groß-Görschen, Hainau, Bautzen u. Kulm teil. Danach beschäftigte man ihn im Depot in Prag u. im Kommandantenbüro in Brüssel, wo er Ende 1814, vermutlich wegen einer Liebesaffäre, entlassen wurde. Nach einem Aufenthalt im Vaterhaus setzte er 1815 in Berlin sein Studium fort u. widmete sich fortan intensiv der engl. Sprache u. dem jungen Fach der Germanistik. Er lernte Büsching, von der Hagen u. Zeune kennen u. wurde Mitgl. der Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache. Aufmerksamkeit erweckte er durch eine Blumenlese aus den Minnesingern (Bln. 1816) u. die Übersetzung von Marlowes Doktor Faustus (Bln. 1818). Gemeinsam mit vier Freunden gab er die poet. Anthologie Bundesblüthen (Bln. 1816) heraus, deren Ankündigungsverse bei der Zensur Anstoß erregten. Die Freundschaft mit dem Maler Hensel brachte M. in Kontakt zu dessen Schwester Luise u. zum Kreis um Hedwig Stägemann. Für das Liederspiel Die schöne Müllerin schrieb er seine ersten Gedichte, die den Kernbestand seines gleichnamigen Zyklus bilden. Vor Abschluss des Studiums wurde M. 1817 von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften beauftragt, als Reisebegleiter des Kammerherrn Baron von Sack in Kleinasien griech. Inschriften zu sammeln. Beim Aufenthalt in Wien im Herbst 1817 lernte M. Neugriechisch. Wegen einer Pestepidemie in Konstantinopel wurde die Reiseroute geändert u. entschieden, dass man sich zunächst nach Italien wende. Spannungen zwischen M. u. Baron Sack führten Os-
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tern 1818 in Rom zur Trennung. M. fand schnell neue Freunde, v. a. den Schweden Per Daniel Amadeus Atterbom. Gemeinsam verbrachte man mehrere Wochen in Albano, allein reiste M. bis Neapel. Intensive Studien der Sprache u. kulturellen Traditionen, Beobachtungen des Volkslebens u. politisch-sozialer Gegebenheiten bildeten die Grundlage für publizist. Arbeiten über Italien u. für das Reisebuch Rom, Römer und Römerinnen (2 Bde., Bln. 1820). Die fiktiven Briefe u. Tagebuchnotizen nehmen einen bes. Platz in der Italien-Literatur der Zeit ein; sie zeichnen sich durch lebendige Darstellung des Alltagslebens, Beschreibung von Sitten u. Gebräuchen unter Einbeziehung von Liedern u. Sprüchen sowie durch einen zeit- u. kulturkrit. Blick aus. Nach der Rückkehr aus Italien wurde M. 1819 Lehrer für Griechisch, Latein u. Geschichte an der Herzoglichen Gelehrtenschule in Dessau, 1820 wurde er zgl. zum Bibliothekar der neu gegründeten Herzoglichen Bibliothek ernannt. Für die vom Komponisten Friedrich Schneider gegründete Dessauer Liedertafel schrieb M. Tafellieder für Liedertafeln. 1821 heiratete er Adelheid Basedow, 1822 u. 1823 wurden die Kinder Auguste u. Friedrich Maximilian geboren (Sir Max Müller war später ein bedeutender Orientalist u. Sanskritforscher). 1824 erfolgte die Ernennung zum Hofrat. Auf Reisen – jährlich nach Dresden u. Leipzig, 1825 nach Berlin u. Rügen, 1826 nach Franzensbad, Bayreuth u. Weimar, 1827 zus. mit seiner Frau an den Rhein u. nach Südwestdeutschland – pflegte M. seine vielfältigen Kontakte zu Verlegern, Redakteuren u. Dichterkollegen. Zwei Wochen nach Rückkehr von der letzten Reise starb er an Herzschlag. M. veröffentlichte drei Bände mit Gedichten: zwei Bände Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten (Dessau 1821 u. 1824) sowie Lyrische Reisen und epigrammatische Spaziergänge (Lpz. 1827). In der romant. Lyriktradition stehen v. a. seine Reise- u. Wanderlieder, in denen er – häufig in der Form des Rollenliedes – einen eingängigen Volkston getroffen hat. Heine schrieb ihm 1826 dazu: »Wie rein, wie klar sind Ihre Lieder und sämmtlich sind es Volkslieder. In
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meinen Gedichten hingegen ist nur die Form einigermaßen volksthümlich, der Inhalt gehört der conventionellen Gesellschaft. [...] durch die Lecture Ihrer 77 Gedichte [ist mir] zuerst klar geworden, wie man aus den alten, vorhandenen Volksliedformen neue Formen bilden kann, die ebenfalls volksthümlich sind [...].« Mehrfach fügte M. die Gedichte zu Zyklen, am bekanntesten wurden Die schöne Müllerin u. Die Winterreise (beide vertont von Franz Schubert u. von Reiner Bredemeyer). Die Sangbarkeit seiner Lyrik ließ bis in die Gegenwart rd. 250 Komponisten auf sie zurückgreifen, viele Lieder nahmen Volksliedcharakter an (z.B. Der Lindenbaum, Das Wandern ist des Müllers Lust, Im Krug zum grünen Kranze). Seine größte zeitgenöss. Wirkung erzielte M. mit 50 Gedichten zum griech. Befreiungskampf (Lieder der Griechen. 2 H.e, Dessau 1821/22. Neue Lieder der Griechen. 2 H.e, Lpz. 1823. Neueste Lieder der Griechen. Lpz. 1824. Missolunghi. Dessau 1826 u. Dresden 1826). Einige der Gedichte konnten aus Zensurgründen erst verspätet gedruckt werden. Bleibenden Wert hat seine Übertragung von Claude Fauriels Anthologie Neugriechische Volkslieder (2 Bde., Lpz. 1825). Seine wiss. Beschäftigung mit dem Griechentum ist in der Homerischen Vorschule (Lpz. 1824) dokumentiert. Versucht hat sich M. auch an Novellen (Der Dreizehnte, 1827, u. Debora, 1828) u. dramat. Entwürfen. M. hat zwischen 1815 u. 1827 poet. Texte, wiss. Beiträge u. Rezensionen in 32 Zeitungen, Zeitschriften u. Taschenbüchern veröffentlicht, v. a. im »Literarischen Conversationsblatt«, »Hermes«, »Morgenblatt für gebildete Stände«, in der »Allgemeinen Literatur-Zeitung«, in den »Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik« u. in der »Urania«. In seinen Literaturkritiken verfolgte er die zeitgenössische dt., engl. u. frz. Literatur. Ab 1822 gab er die Bibliothek deutscher Dichter des siebzehnten Jahrhunderts heraus (fortgeführt v. Karl Förster, 14 Bde., Lpz. 1822–38). Er arbeitete an Brockhaus’ Conversations-Lexikon mit u. war ab 1826 Redakteur bei der von Ersch u. Gruber herausgegebenen Allgemeinen Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste.
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Denkmäler von M. stehen in Dessau (1891) u. Franzensbad (1910). Die wiss. u. editor. Beschäftigung mit seinem Werk hatte um 1900 einen Höhepunkt u. wurde um 1985 wieder intensiviert. 1994 gründete sich die Internationale Wilhelm-Müller-Gesellschaft u. 1995 die Wilhelm-Müller-Stiftung, deren Anliegen es ist, die Beschäftigung mit Leben u. Werk M.s anzuregen u. zu fördern (http:// www.wilhelm-mueller-gesellschaft.de). Ausgaben: W. M.: Werke, Tagebücher, Briefe. 5 Bde. u. 1 Registerbd. Hg. Maria-Verena Leistner. Mit einer Einl. v. Bernd Leistner. Bln. 1994 (mit Bibliogr.). – W. M.: So zieh ich meine Straße. Ein W.-M.-Lesebuch. Hg. M.-V. Leistner. Halle/S. 2002. Literatur: Gernot Gad: W. M. Selbstbehauptung u. Selbstverleugnung. Diss. Bln. 1989. – W. M. Eine Lebensreise. Zum 200. Geburtstag des Dichters. Hg. Norbert Michels. Kat.e der Anhalt. Gemäldegalerie Dessau. Bd. 1, Weimar 1994. – Schr.en der Internat. W.-M.-Gesellsch. I: Kunst kann die Zeit nicht formen. Erste internat. W.-M.Konferenz, Berlin 1994. Bln. 1996; II: M. – Schubert – Heine / Marlowe – Byron – Scott: W. M. als Vermittler der engl. Lit. Zwei Symposien der Internat. W.-M.-Gesellsch. 1997 u. 2000. Bln. 2002; III: Von Reisen u. vom Trinken. Zwei Symposien der Internat. W.-M.-Gesellsch. 2003 u. 2006. Bln. 2007. – Erika v. Borries: W. M. Der Dichter der Winterreise. Eine Biogr. Mchn. 2007. Maria-Verena Leistner
Müller, Wilhelmine Augusta, geb. Maisch, * 28.8.1767 (Brackenheim-)Neipperg bei Heilbronn, † 12.12.1807 Karlsruhe. – Lyrikerin u. Herausgeberin von Almanachen. Die Pfarrerstochter aus dem Dörfchen Neipperg bei Heilbronn war schon unter ihrem Mädchennamen durch die Verbreitung ihrer Gedichte in Zeitschriften u. Almanachen bekannt geworden. Das früheste gedruckte Gedicht findet sich in Stäudlins Musenalmanach aufs Jahr 1792, in dem auch der ihr freundschaftlich verbundene Hölderlin seine ersten vier Gedichte veröffentlichte. Infolge ihres guten Rufs erhielt sie aus Wien den Antrag, als Gouvernante tätig zu werden. Hier lernte sie während eines zweijährigen Aufenthaltes die Dichter Alxinger, Blumauer u. von Retzer kennen u. schickte weitere, z.T. von ihnen
inspirierte Gedichte an Cottas Zeitschrift »Flora«. Ihr Porträt zierte als Titelkupfer die in Heilbronn herausgegebene Sammlung Almanach und Taschenbuch für häusliche und gesellschaftliche Freuden 1799 von Carl Lang. Einige ihrer Gedichte wurden von dem Gräflich Neippergischen Musikmeister u. Heilbronner Musikdirektor Johann Amon vertont. Am Neujahrstag 1799 verheiratete sich M. – gegen amtliche u. familiäre Widerstände – mit dem achteinhalb Jahre jüngeren Karlsruher Buchhändler Christian Friedrich Müller. Nachdem sich dieser im Dez. desselben Jahres eine Druckpresse beschaffen konnte, erschienen ihre weiteren Werke gedruckt u. verlegt in seinem 1797 gegründeten, noch heute existierenden Unternehmen. Wahrscheinlich ist auch M.s erstes selbständig erschienenes Werk Gedichte an Se. Königliche Hoheit den Erzherzog Carl von Oestreich, angeblich »Gedruckt im May 1799« ohne Orts- u. Verlagsangabe, hier Anfang des Jahres 1800 entstanden. Als ein Erfolg für den Verleger u. die Dichterin erwies sich die Herausgabe ihrer gesammelten Gedichte (Karlsr. 1800. 2., erw. Aufl. 1806). M. war ihrem Ehemann nach Karlsruhe gefolgt u. stand ihm auch während der Verlagerung des Geschäfts nach Pforzheim (1800–1803) zur Seite. In den Jahren bis zu ihrem frühen Tod war sie trotz widriger Lebensumstände mit der Herausgabe ihrer eigenen Almanache beschäftigt, wobei sie auf ein weit gespanntes Netz von Gleichgesinnten zurückgreifen konnte. M. sah ihr Talent zum Verfertigen formvollendeter u. meist wohlklingender Verse als von der Natur geschenkt an. Dennoch kann sie kaum als Naturdichter wie der ihr persönlich bekannte Hebel angesehen werden. Ihre Metaphern u. die Anleihen bei der antiken Mythologie, die sie den Lateinschülern ihres Vaters abgelauscht hatte, wirken oft gekünstelt u. aufgesetzt, wie schon zeitgenöss. Kritiker bemängelt haben. Manche ihrer Themen machen sie jedoch bis heute interessant, zeigen sie als zerrissene Persönlichkeit zwischen Liebeshoffnung u. Todessehnsucht, trotziger Rebellion gegen männl. Bevormundung u. williger Entsagung u. gewähren in seltener Offenheit einen Einblick in die Gefühlswelt einer bürgerl. Frau um
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1800. Auch ihre poet. Deutung der Dichotomie zwischen Stadt u. Land – wobei sie keineswegs, wie etwa Voß, das Landleben zur Idylle erhebt – bleibt beachtenswert. Weitere Werke: An Badens Fürsten am Carlstage 1799. [Karlsr. 1799]. – Gesang am NamensFeste Unsers allgeliebten Landesvaters [...] Carl Friedrich v. Baden [...]. Karlsr. 1800. – Gesang am Friedens- u. dem damit verbundenen Carl Friedrichs-Feste [...]. [Karlsr. 1801]. – Elegie an der Gruft des Hochseligen Herrn Erbprinzen, Carl Ludwig v. Baden [...]. Pforzheim 1802. – Schillers Andenken, eine Kantate. Karlsr. 1806. – Gedichte. Neue umgearbeitete Aufl. Karlsr. 1818 [Nachdr. der Ausg. 1806. Titelaufl. 1820 u. 1822]. – [Hg. u. Mitarb.:] Taschenbuch auf das Jahr [...] für Freunde der scherzhaften u. angenehmen Lectüre. 1801. Karlsr. [1800]. – Taschenbuch auf das Jahr [...] für edle Weiber u. Mädchen. 1802–06. Pforzheim [1801–02]. Karlsr. [1803–05]. – Taschenbuch für edle Frauen u. Mädchen. 1807. Karlsr. [1806]. Literatur: Adolf Beck: W. Maisch. Eine Dichterin im Freundeskreis des jungen Hölderlin. In: Schwäb. Heimat 1966. – Rainer Fürst: ›Für edle Weiber und Mädchen‹. W. M. geb. Maisch. Verfasserin u. Förderin der Almanachliteratur um 1800. Heidelb. 1995. Rainer Fürst
Müller-Gögler, Maria, * 28.5.1900 Leutkirch/Allgäu, † 23.9.1987 Weingarten. – Lyrikerin, Prosaautorin.
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Heimat zu, so in Der heimliche Friede (Tüb. 1955), einer Liebesgeschichte zwischen einem frz. Kriegsgefangenen u. einer jungen dt. Lehrerin, u. in dem Roman Täubchen, ihr Täubchen (Karlsr. 1963), der von der verzweifelten Liebe eines jungen Lehrers zu einer Schülerin handelt. Eine iron. Sichtweise, mit der M. Distanz zum Erzählten schafft, prägt ihr Alterswerk, v. a. den Roman Der Pavillon (Sigmaringen 1980), in dem sieben Frauen des Jahrgangs 1900 ihr Leben erzählen. In ihren Gedichten verwandte M. meist Naturmetaphern u. -symbole, um existentielle Themen darzustellen. Die strengen Formen der Kriegs- u. Nachkriegszeit wichen freieren Versfügungen. Weitere Werke: Athalie. Sigmaringen 1983 (R.). – Sieben Schwerter. Sigmaringen 1987 (R.). – Ritt in den Tag: eine Blutfreitags-E. Hg. Gisela Linder. Sigmaringen 1994. – Weihnachtszeit damals in Oberschwaben. G.e u. Gesch.n. Hg. dies. Friedrichshafen 2000. Ausgaben: Werkausg. in 9 Bdn. Sigmaringen 1980. – Kriegsende ’45. Aus dem Tgb. v. M. M. Ravensburg 1995. Literatur: M. M. Die Autorin u. ihr Werk. Stimmen der Freunde. Sigmaringen 1980 (= Beih. der Werkausg.). – Gisela Linder u. Winfried Wild (Hg.): Gegen die Zeit zu singen. Ein Lesebuch. Sigmaringen 1990. – Manfred Bosch: ›Äbtissin Voltaire‹ in Oberschwaben. M. M. u. ihr Programm der Menschwerdung. In: Bohème am Bodensee. Literar. Leben am See v. 1900 bis 1950. Hg. ders. Lengwil 1997, S. 264–267. Bettina Mähler / Red.
M. begann als 14-jährige Klosterschülerin heimlich Gedichte u. Dramen zu schreiben. Nach dem Lehrerinnenexamen war sie einige Jahre im Schuldienst tätig. 1924–1929 stuMüller-Guttenbrunn, Adam, eigentl.: A. dierte sie in München u. Tübingen GermaMüller, auch: Ignotus, Franz Josef Gernistik, Philosophie sowie Pädagogik u. prohold, Vetter Michel, Figaro, * 22.10.1852 movierte über Marie von Ebner-Eschenbach. Guttenbrunn (Zy´brani/Banat, Rumänien), Danach arbeitete sie wieder als Lehrerin. † 5.1.1923 Wien; (Ehren-)Grabstätte: M.s frühe, während der NS-Zeit erschieneebd., Zentralfriedhof. – Erzähler, Drane Romane behandeln histor. Stoffe. Die Magd matiker, Essayist, Feuilletonist, TheaterJuditha (Friedrichshafen 1935) schildert den u. Literaturkritiker. Münsterbau von Weingarten; Beatrix von Schwaben (Köln 1942) zeichnet ein Porträt der Als unehel. Kind einer Handwerkerstochter Tochter Philipps von Schwaben. Die einfache, verbrachte M. eine schwere Kindheit u. Juknappe, gelegentlich aber auch lyr. Sprache gend: Nach dem Abbruch des Gymnasiumdieser Werke behielt M. in ihrer späteren besuchs in Temesvár arbeitete er zunächst als Prosa (Erzählungen, Lebenserinnerungen) Friseurgehilfe u. Bader in seinem Heimatort bei. u. ging 1870 als Friseurgehilfe nach Wien, wo Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wandte er sich mit autodidakt. Studien weiterbildete. sich M. der Gegenwart ihrer oberschwäb. Ab 1873 war er k. k. Telegrapheneleve in
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Linz, 1879 bis 1886 in Wien. M.s erste literar. Versuche, u. a. der Ehe- u. Gesellschaftsroman Frau Dornröschen (Bln. 1884. Dresden 21884) fanden das Wohlwollen der Kritik. Ab März 1886 übernahm er die Feuilletonredaktion der »Deutschen Zeitung« Heinrich Friedjungs. Der literar. Durchbruch gelang ihm schließlich aufgrund seiner Mitgliedschaft bei der »Wiener literarisch-künstlerischen Gesellschaft«, für deren Schriftenreihe »Gegen den Strom« (Wien) er die Bände Wien war eine Theaterstadt (1885), Die Lektüre des Volkes (1886) u. Pikante Lektüre (1888) verfasste. M. attackiert darin in pointierter u. aggressiver Weise die Schwächen des k. k. Kulturbetriebs u. wurde damit zu dem populären Volksbildungsmann des dt.-konservativen Lagers. Er plädierte nachdrücklich für die Schaffung einer Volksbühne u. eines deutschnational orientierten Volksbildungsvereins. 1893 übernahm M. die Leitung des von ihm mit gegründeten Raimund-Theaters, wurde jedoch bereits 1896 abgesetzt. Als er 1898 die Pacht des neuen Kaiser-Jubiläums-Stadttheaters (heute Volksoper) erwarb, glaubte er, selbständig für »deutschgesinnte« Spielpläne sorgen zu können (Eröffnung mit Kleists Hermannsschlacht). Billige Volksvorstellungen trieben ihn aber bereits 1903 in den finanziellen Ruin; M. wandte sich daraufhin intensiv seiner schriftstellerischen Arbeit zu. Den Versuch einer Abrechnung mit dem Wiener Journalismus unternimmt der Roman Gärung und Klärung (Wien 1903), hinter dessen Protagonisten unschwer bekannte Zeitgenossen zu erkennen sind. Seiner Banater Heimat widmete M. eine Reihe von Arbeiten, die sich vehement gegen die »Entnationalisierung« bzw. »Madjarisierung« seiner Landsleute aussprechen: Den Auftakt bildet der Roman Götzendämmerung (Wien 1910), eine Art Standortbestimmung nationaler u. sozialer Probleme im Banat mit deutl. Spitzen gegen die ungarische Regierung. In Die Glocken der Heimat (Lpz. 1910), dem Roman eines idyll. »Schwabendorfes«, steht bereits der Appell zum Durchhalten im Vordergrund: »Kopf auf, mag auch die Sintflut kommen!« Unermüdlich wirbt er selbst für die Sache der Deutschen im Banat: mit der Anthologie Schwaben im Osten. Ein deutsches
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Dichterbuch aus Ungarn (Heilbr. 1911) u. dem histor. Roman Der große Schwabenzug (Lpz. 1913), zgl. erster Band der Trilogie Von Eugenius bis Josephus; zus. mit Barmherziger Kaiser (Lpz. 1916) u. Joseph der Deutsche (Lpz. 1917) fasst er hier noch einmal jene Traditionslinien zusammen, die seiner Generation den Weg in den Deutschnationalismus zeigten. Weitere Werke: Gräfin Judith. Linz 1877 (D.). – Des Hauses Fourchambault Ende. Breslau 1881 (D.). – Gescheiterte Liebe. Ein Novellenbuch. Lpz. 1889. – Das Wiener Theaterleben. Lpz. 1890. – Dramaturg. Gänge. Dresden 1892 (Ess.). – Im Jh. Grillparzers. Lit. – u. Lebensbilder aus Österr. Wien 1893. – Dt. Kulturbilder aus Ungarn. Lpz. 1896. – Die Madjarin. Lpz. 1896 (N.). – Franz Grillparzer. Wien 1898. – Zwischen zwei Theaterfeldzügen. Wien 1902 (Ess.). – Rund um den häusl. Herd. Wien 1909 (R.). – Der kleine Schwab. Abenteuer eines Knaben. Lpz. 1910 (R.). – Es war einmal ein Bischof... Lpz. 1912. – Dt. Kampf. Hbg. 1913 (E.en). – Erinnerungen eines Theaterdirektors. Lpz. 1914. – Franz Ferdinands Lebensroman. Stgt. 1915. – AltWiener Wanderungen u. Schilderungen. Wien 1916. – Kriegstgb. eines Daheimgebliebenen. Graz 1916. – Dt. Leben in Ungarn. Lpz. 1917 (Ess.). – Dt. Sorgen in Ungarn. Wien 1918 (Ess.). – Meister Jakob u. seine Kinder. Lpz. [1918] (R.). – Aus herbstl. Garten. Wien 1919 (N.n). – Sein Vaterhaus. Lpz. 1919. – Dämonische Jahre. Lpz. 1920. – Auf der Höhe. Lpz. 1921. Zus. mit ›Sein Vaterhaus‹ u. ›Dämonische Jahre‹ u. d. T. Lenau, das Dichterherz der Zeit. Lpz. 1921. – Der Roman meines Lebens. Hg. Roderich Müller-Guttenbrunn. Lpz. 1927. Literatur: Nikolaus Britz (Hg.): A. M. Ein Lebensbild aus fremden u. des Dichters eigenen Schr.en. Mchn. 1966. – Richard S. Geehr: A. M. and the Aryan Theater of Vienna. 1898–1903. The Approach of Cultural Fascism. Göpp. 1973. – Hans Weresch: A. M. Sein Leben, Denken u. Schaffen. 2 Bde., Freib. i. Br. 1975. – N. Britz (Hg.): A. M.Symposion in Klosterneuburg 1975. Wien 1976. – Antal Mádl (Hg.): Vergleichende Literaturforsch. Wien 1984. – Franz Quitter: Vergleichende quantitative Stilanalyse des Romans ›Meister Jakob und seine Kinder‹ v. A. M. Freib. i. Br. 1997 (Selbstverlag). – Ingomar Senz: Mustergültige Arbeit aus ganzheitl. Verantwortung. Zum Leben u. Werk A. M.s. In: Durch aubenteuer muess man wagen vil. Hg. Wernfried Hofmeister. Innsbr. 1997, S. 423–432. – Renate Gyárfás-Mach: Die donauschwäb. Heimatkunst. A. M. G. als bedeutendster Vertreter der Banater Heimatdichtung. In: Germanist. Studien 4 (2000), S. 61–73. – Guillaume van
Müller-Partenkirchen Gemert: Der Dichter als Identifikationsfigur national-kultureller Eigenständigkeit. Zu A. M.s Lenau-Trilogie (1919–21). In: Im Schatten der Literaturgesch. Hg. Jattie Enklaar u. a. Amsterd. 2005, S. 91–106. – Richard Wagner: Das Gedicht. Der Jargon. Die Legitimation. Nikolaus Berwanger, die Aktionsgruppe u. der A.-M.-Kreis. In: Spiegelungen 2 (2007), S. 170–178. Johannes Sachslehner / Red.
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gegenkommend, wandte er sich der Heimatliteratur zu u. schrieb Berg- u. Bauerngeschichten. Weitere Werke: München. Lpz. 1925 (E.). – Kaum genügend. Lpz. 1927 (E.). – Die Firma. Gütersloh 1935 (R.). – Begegnungen mit dir u. mir. Stgt. 1937 (Autobiogr.). Peter König / Red.
Müller-Partenkirchen, Fritz, eigentl.: F. Müller, auch: F. Zürcher, * 24.2.1875 München, † 4.2.1942 Hundham/Obb. – Humorist, Erzähler.
Müller-Schlösser, Hans, eigentl.: Johann Peter Paul Hubert Michael Müller, * 14.6. 1884 Düsseldorf, † 21.3.1956 Düsseldorf; Grabstätte: ebd., Nordfriedhof. – Dramatiker, Erzähler, Lyriker.
Nach einer kaufmänn. Ausbildung arbeitete M. als Buchhalter, Auslandskorrespondent u. Sekretär bei einer Münchner Handelsfirma. Er war dann Geschäftsführer einer Terraingesellschaft in Partenkirchen, später Leiter der Höheren Handelsschule in Dortmund. Zahlreiche Reisen führten ihn zwischen 1908 u. 1912 u. a. nach Nordamerika. Nachträglich studierte er an der Universität Zürich Volkswirtschaft u. Jura. 1911 ließ sich M. als freier Schriftsteller in Zürich nieder. Seine in vielen Zeitungen u. Zeitschriften erschienenen, auf überraschende Pointen zugeschnittenen Geschichten verschafften ihm bei den Kritikern bald den Ruf eines »Meisters der Kurzgeschichte und Humoristen von Gottes Gnaden«. Seinen größten Erfolg erzielte er mit dem Roman Kramer & Friemann – Eine Lehrzeit (Hbg. 1920. Tüb. 21958), in den die Erlebnisse aus der eigenen Handelslehre einflossen u. dessen Gesamtauflage 400.000 erreichte. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs kehrte M. nach Partenkirchen zurück, um an der dortigen Realschule zu unterrichten. Er veröffentlichte mehr als 20 belletrist. Bücher. Bes. verbreitet waren seine Sammlungen von Kaufmanns- u. Schulbubengeschichten, in denen sich seine Berufserfahrungen niederschlugen. Dass M. auch ernste Themen behandeln konnte, bewies er mit der Biografie Friedrich Hessings (Der Dreizehnte. Mchn. 1926), der als 13. Kind eines armen Handwerkers geboren u. zum Wegbereiter der Orthopädie wurde. Die Kehrseite von M.s Volkstümlichkeit war seine Abhängigkeit vom Zeitgeschmack. Der NS-Ideologie ent-
M. war Sohn des Seemanns Johann Müller u. der Bauerstochter Gertrud Schlösser, deren beider Namen er später vereinigte. Er besuchte das Königliche Gymnasium in Düsseldorf bis zum »Einjährigen« – u. a. zus. mit Heinrich Spoerl. M.s Berufsausbildung bestand aus einer dreitägigen Drogistenlehre u. einer neunmonatigen Kanzleitätigkeit im Düsseldorfer Rathaus. Er wurde Lokalreporter u. Gelegenheitsschauspieler. Seine eigentl. Ausbildung verschaffte er sich bei den Proben des Schauspielhauses, die er jahrelang heimlich besuchte; in eigenen Stücken trat er später immer wieder selbst auf. 1945–1948 leitete M. das »Kleine« Theater, das nach der Währungsreform schließen musste. M. blieb während seines ganzen Lebens in seiner Heimatstadt – sogar im Ersten Weltkrieg konnte er als Freiwilliger am Ort bleiben. Er war zweimal verheiratet u. hatte fünf Kinder. M.s literar. Werk lebt ganz aus der Liebe zu seiner Vaterstadt u. deren Tradition. In Zeitungsbericht, Prosa, Gedicht u. Schauspiel porträtiert er »die kleinen Leute, ihre Lebenslust und ihre Kümmernisse« (Hans Daiber) – in Hochdeutsch u. Mundart. Mit der nach einer Berliner Anekdote geschriebenen Komödie vom Schneider Wibbel (Düsseld. 1914. Stgt. 1985), der wegen Majestätsbeleidigung ins Gefängnis muss, statt seiner einen Gesellen schickt u. amtlich für tot erklärt wird, weil eben jener Geselle in der Haft stirbt, gelang ihm die am meisten gespielte dt. Komödie. Sein Ruf als Volksschriftsteller war damit begründet u. besteht trotz Kerrs Verdikt (»bleiche Versuche eines lokalen Frohsinns«) weiter. Bei der Uraufführung 1913
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spielten neben M. auch sein Freund Paul Henckels in der Titelrolle u. Ret Marut alias B. Traven mit. Alle weiteren Werke blieben im Schatten des Wibbel, der nachgerade zum Synonym für den Autor wurde.
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von Heinrich Heine (Hann. 1856; anonym) dokumentiert seine Abkehr von früherer polit. Dichtung. Mit Unterbrechungen war M., der auch als Kunstkritiker wirkte, 1851 bis 1866 Herausgeber u. Mitarbeiter des »Düsseldorfer Künstleralbums«. 1862 wurde das Lustspiel Über den Parteien vom Wiener Burgtheater mit einem zweiten Preis ausgezeichnet. Den Deutsch-Französischen Krieg begrüßte M. emphatisch mit patriot. Gedichten (Durch Kampf zum Sieg. Bln. 1870). 1871 kandidierte er für den Reichstag, scheiterte aber als Altkatholik im Rheinland. Gegen Ende seines Lebens stand M. auf dem Gipfel seines Ruhms als – häufig vertonter – »Sänger des Rheines«.
Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils Düsseld.): Das schöne alte Düsseld. 2 Bde., 1911/12 (Aufsätze). – Mäuzkes. 3 Bde., 1916 (Anekdoten). – Jan Krebsereuter. 1919 (R.). – Schneider Wibbels Tod u. Auferstehung. 1938 (R.). – Gerhard Janssen fährt nach Köln. 1954 (R.). – Der Glückskandidat. 1958 (Kom.). – Schneider Wibbel. Eine volkstüml. E. aus dem alten Düsseld. 2007 (R.). Literatur: Alfred Kerr: Die Welt im Drama IV. Bln. 1917, S. 160–162. – Hans Franck: Ein Dichterleben in 111 Anekdoten. Stgt. 1961, S. 229–233. – Winrich Meiszies: H. M. (1884–1956). In: Lit. v. nebenan. Hg. Bernd Kortländer. Bielef. 1995, S. 250–256. Winfried Hönes † / Red.
Weitere Werke: Rheinfahrt. Ffm. 1846. – Loreley. Rheinsagenbuch. Köln. 1851. – Dichtungen eines rhein. Poeten. 6 Bde., Lpz. 1871–76. – Dramat. Werke. 6 Bde., Wien 1872.
Müller von Königswinter, Wolfgang, eigentl.: Peter Wilhelm Karl M., * 15.3. 1816 Königswinter, † 29.6.1873 Neuenahr; Grabstätte: Köln, Friedhof Melaten. – Lyriker, Erzähler, Dramatiker, Kunstkritiker.
Literatur: Paul Lothar Jäger: W. M. v. K. u. die dt. Romantik. Diss. Köln. 1923. – Hilde Becher: W. M. v. K., ein rhein. Dichter. Diss. Münster 1924. – Paul Luchtenberg: W. M. v. K. 2 Bde., Köln 1959. – Heribert Rissel: Ein Rhein-Enthusiast an der Ahr. W. M. v. M. In: Jb. für westdt. Landesgesch. 28 (2002), S. 533–545. Martin Unkel / Red.
Während der Gymnasialzeit in Düsseldorf befreundete sich der Arztsohn mit den im Müllner, (Amadeus Gottfried) Adolph, Elternhaus verkehrenden Künstlern der Adolf, auch: Modestin, * 18.10.1774 LanAkademie. 1835 erschienen durch Vermittgendorf bei Weißenfels (heutiges Sachsenlung Reinicks zwei Gedichte M.s in ChamisAnhalt), † 11.6.1829 Weißenfels; Grabsos »Musenalmanach«. Während des Medistätte: ebd., ehemaliger Alter Friedhof 1 zinstudiums 1835 bis 1840 stand er in Bonn (jetzt Thälmannpark). – Dramatiker u. in Verbindung mit Simrock, Kinkel, FreiligErzähler, Journalist u. Kritiker. rath – wie M. spätere Mitglieder des »Maikäferbunds« – u. mit Schumann, in Berlin Der Sohn eines Amtsprokurators u. Neffe von begegnete er Bettine von Arnim, Eichendorff, Gottfried August Bürger besuchte SchulpGutzkow u. hörte Alexander von Humboldt. forta u. studierte auf Wunsch des Vaters 1793 Eine erste Lyriksammlung erschien 1841 bis 1797 Jura in Leipzig. 1798 ließ er sich als u. d. T. Junge Lieder (Düsseld.). 1842 arbeitete Advokat (1805 Dr. jur.) in Weißenfels nieder. M. in Paris in verschiedenen Spitälern u. traf M. heiratete 1802 Amalie von Lochau; sie mit Heine u. Herwegh zusammen; in Düs- hatten sieben Kinder. 1810 gründete er in seldorf ließ er sich als Arzt nieder. Weißenfels ein Laientheater, für das er bis M.s Popularität gründete sich auf seine 1814 sechs Intrigenlustspiele nach frz. Vorvolksliedhafte Lyrik u. die Sammlung u. lagen schrieb. Nach dem überraschenden ErNacherzählung von Sagen aus dem Rhein- folg zweier dieser Stücke – Die Vertrauten, land, Rheinbuch (Gent 1854). Im Vormärz 1812 am Wiener Burgtheater uraufgeführt, u. schrieb M. Oden der Gegenwart (Düsseld. 1848), Die großen Kinder, das 1813 im Weimarer 1848/49 war er Abgeordneter im Frankfurter Hoftheater unter Goethes Leitung herauskam Parlament. Seit 1853 lebte er als freier – legte M. 1815 seine Advokatur nieder u. Schriftsteller in Köln. Die Satire Höllenfahrt wurde freier Schriftsteller.
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Für die Berufsbühnen entstanden die Versiertheit der Schuld an; Goethe setzte sie Schicksalstragödien Der neun und zwanzigste 1814 in Weimar auf den Spielplan. Bis 1830 Februar (Lpz. 1812) u. Die Schuld (Urauff. 1813. beherrschten M.s Tragödien die Bühnen in Lpz. 1816). Das dritte Stück dieser Serie, König Deutschland u. Österreich; die Hauptrollen Yngurd (Lpz. 1817), inszenierte M. selbst in gehörten zum Repertoire reisender VirtuoBerlin. Der Anklang war so groß, dass Fried- sen. Nach seinem Tod wurde M. rasch verrich Wilhelm III. ihn zum kgl. preuß. Hofrat gessen. Platen parodierte das Genre in Die ernannte. Danach arbeitete M. als Journalist verhängnisvolle Gabel (1826). u. Theaterkritiker. 1820–1825 redigierte er Ausgaben: Schauspiele. 4 Bde., Wien 1816/17. – das »Literatur-Blatt« (Beilage zu Cottas Almanach für Privatbühnen. 3 Bde., Lpz. 1817–19. »Morgenblatt«), worin er u. a. die Tragödien – Spiele für die Bühne. 2 Bde., Lpz. 1818–20. – Grillparzers besprach. 1826–1829 gab er das Vermischte Schr.en. 2 Bde., Stgt. 1824–26. – Dra»Mitternachtsblatt für gebildete Stände« mat. Werke. 8 Bde. u. 4 Erg.-Bde., Braunschw. heraus. Eine eigene Literaturzeitschrift, 1828–30. Literatur: Gustav Koch: M. als Theaterkritiker, »Hekate« (1823), hatte keinen Erfolg. Der neun und zwanzigste Februar ist eine Journalist u. literar. Organisator. Diss. Köln 1939. – Rudolf Werner: Die Schicksalstragödie u. das Nachahmung von Zacharias Werners Der 24. Theater der Romantik. Diss. Mchn. 1963. – Horst Februar (1810). Wie bei seinem Vorbild wird Denkler: Restauration u. Revolution. Mchn. 1973. bei M. im Rückblick die Schicksalsqualität – Herbert Kraft: Das Schicksalsdrama. Tüb. 1974. – eines Datums in Verbindung mit einer ver- Andreas Hillger u. Axel Nixdorf (Hg.): Stimmen borgenen Identität aufgedeckt. Ein Erbförs- aus Sachsen-Anhalt. Halle 2000, S. 191–196. – ter hat an diesem Tag seinen Vater verloren u. Heinz Bretschneider: Auch Carl Maria v. Weber verliert nun seine Tochter. Beider Tod muss besuchte A. M. in Weißenfels. In: Weißenfelser er als Folge der schuldhaften Ehe mit seiner Heimatbote 13 (2004), S. 9–12. Alain Michel / Red. Schwester erkennen. Die Schuld, M.s bekanntestes Stück, entstand auf Anregung August Wilhelm Ifflands. Auch hier enthüllt sich Müllner, Joachim, * um 1647 Nürnberg, schrittweise die Identität eines Grafen, der † nach 1695 Nürnberg. – Lyriker, Verfasaus Eifersucht zum Brudermörder geworden ser von Predigten u. Gelegenheitsgedichist. ten. M., der das dramaturg. Schema Forschen nach Schuld – Forschen nach Identität der M. studierte seit 1663 in Altdorf. 1671–1677 griech. Tragödie entlehnte, wollte als Dra- findet er sich im Zirkel der Kandidaten der matiker »[...] die Verknüpfung des Erdenle- Theologie zu Nürnberg – ein Pfarramt überbens mit einer höheren Weltordnung an- nahm er jedoch nie. Seit Mitte der 1670er schaulich [...] machen«. Sein Anspruch wird Jahre arbeitete M. als Korrektor im Verlag jedoch von der platten Schicksalsmechanik Wolf Eberhard Felseckers. 1663–1695 versah der Stücke widerlegt. Die Familienkatastro- er das offizielle Amt des Lob- u. Spruchsprephen vollziehen sich als Erfüllung einer Vor- chers der Stadt Nürnberg u. verfasste in dieser aussage, bleiben jedem Individualwillen un- Funktion zahlreiche Gelegenheitsgedichte. zugänglich u. sind an bestimmte Tage, Orte M.s Werke, die oft nur in einem Exemplar u. Gegenstände gebunden. Dieser Determi- erhalten sind, entsprechen nicht dem literar. nismus entlarvt M.s Tragödie als scheintra- Kanon der Nürnberger Dichter in der zweiten gisch, die Verdinglichung des Schicksals in Hälfte des 17. Jh. Obwohl nicht Mitgl. des »fatalen Sachen« das Geschehen als Bühnen- Pegnesischen Blumenordens, schrieb M. unkalkül mit Schauereffekten. ter verschiedenen Pseudonymen – als Schäfer Obwohl M. den epigonalen Charakter sei- »Sylenus« oder als »Fluckander« – eine Reihe ner Stücke betonte – er sei kein Dichter u. origineller, zumeist stark verschlüsselter verdanke alles seinem Vorbild –, wurde die Hochzeitsglückwünsche, teils kleine Prosatriviale Schicksalstragödie durch ihn zur li- erzählungen, teils in Versen (z.B. Hymenäterar. Mode. Grillparzer erkannte die techn. isches Ernst- und Schertz-Gedicht. Nürnb. 1675.
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Die sauer-süsse Liebs-Tinctur. Nürnb. 1678), gelegentlich mit derben Einlagen in fränk. Dialekt (u. a. Hochzeit-Feyerliche Hymen-Fackel Philiandus und Florimena. Nürnb. 1675). Als Mitgl. eines Nürnberger Musikkränzleins verfasste er kürzere Lieder u. scherzhafte Gedichte. Daneben widmete M. sich einer Gattung, die im Kreis der Pegnitzschäfer nicht gepflegt wurde, dem Lobgedicht auf verschiedene Zünfte u. Berufsstände. So verfasste er u. a. Würden-würdiger poetischer Ehren-Ruhm-Schall, von der preiß-löblichen ur-alt-edlen [...] Trechsler Kunst (Nürnb. 1683), mit einer Geschichte des Handwerks u. einer Hommage an die adligen Förderer dieser Zunft in Nürnberg. 1685 schrieb M. in Zusammenarbeit mit dem Ansbachischen Hofmusiker Johann Fischer ein Josephs-Drama, die Tragico-Comoedia oder: das beneidete, doch unverhinderte Ehren-Glück [...] Josephs (Nürnb.). Merkwürdig sind – neben einigen ernsthaften geistl. Betrachtungen (z.B. Geistliche Gedanken über den Namen Jesu. Nürnb. 1676) – seine Predigten mit Auslassung bestimmter Buchstaben, mit denen er den exaltierten Predigtstil persiflierte: Das liebliche und heilsame Labsälblein des Bethlehemittischen Stall-Kindleins Jesu [ohne R] (Nürnb. 1676) oder Der in Lieb flammende und entzündende [...] hertz-trauteste Pelican und Schlangentretter Jesus! [ohne O] (Nürnb. 1680). Ausgaben: Internet-Ed. mehrerer Texte in: VD 17. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Georg Andreas Will: Nürnbergisches GelehrtenLexicon [...]. Tl. 2, Nürnb./Altdorf 1756, S. 678 f. – Johann Christian Siebenkees: Materialien zur Nürnbergischen Gesch. Bd. 2, Nürnb. 1794/95, S. 703. – DBA. – Markus Paul: Reichsstadt u. Schauspiel. Theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jh. Tüb. 2002, Register. – Jürgensen, Register. Renate Jürgensen / Red.
Münch, Ernst Joseph Hermann, * 25.10. 1798 Rheinfelden, † 9.7.1841 Rheinfelden. – Historiker; Herausgeber u. Lyriker. Der Sohn eines Oberamtskanzlisten u. einer Arzttochter besuchte ab 1813 das Gymnasium in Solothurn, folgte 1815 bis 1818 beim Studium in Freiburg/Br. neben der jurist.
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Pflicht v. a. seinen histor. Neigungen u. fand im liberalen Karl von Rotteck seinen prägenden Lehrer. Unter dem Eindruck des Wartburgfestes gründete M. eine wiss. Gesellschaft, aus der die Freiburger Burschenschaft hervorging. Nach Hilfsdiensten in der väterl. Kanzlei war M. an der Kantonsschule zu Aarau tätig, wo er an der Seite emigrierter »Demagogen« wie Karl Follen, Wolfgang Menzel u. Joseph Görres lebte. Ende 1821 quittierte M. das Aarauer Lehramt, weil er sich Hoffnung auf eine Freiburger Professur machte. 1822 bis 1828 verbrachte er in Freiburg, zuerst als freier Schriftsteller, seit 1824 als a. o. Prof. der histor. Hilfswissenschaften. In vielfältigen histor., kirchengeschichtl. u. polit. Schriften u. Editionen dieser Jahre hat M. engagiert Stellung bezogen zum 1827 dann pathetisch gefeierten Freiheitskampf der Griechen (Die Heerzüge des christlichen Europas wider die Osmanen und die Versuche der Griechen zur Freiheit. 5 Tle., Basel 1822–26; Rede zur Feier der Vernichtungsschlacht bei Navarino. Philhellenopel [recte Freib. i. Br.?] 1828); er veröffentlichte Lebensbilder u. Schriften bedeutender Reformatoren, bes. die Werke Ulrich von Huttens (6 Bde., Bln. 1821–27), würdigte Franz von Sickingens Thaten (2 Bde., Stgt. u. Tüb. 1827/28), ergriff das Wort für Wessenbergs Reformkatholizismus, gab Quellen Über die Schenkung Konstantin’s (Freib. i. Br. 1825) u. eine Geschichte des Mönchthums (2 Bde., Stgt. 1828) heraus, redigierte 1824/25 die histor. Zeitschrift »Teutsches Museum« u. gründete 1826 die Freiburger »Gesellschaft zur Beförderung der Geschichtskunde«. Als seine Festanstellung am konservativen Widerstand scheiterte, nahm M. 1828 den Ruf auf eine kirchengeschichtl. Professur an der Universität Lüttich an, geriet aber dort sogleich zwischen die polit. Fronten. Da M.s Lehrstuhl dem Ausgleich mit der Kurie geopfert wurde, ließ er sich im Herbst 1829 zum kgl. Hofbibliothekar nach Den Haag berufen. Zwei Jahre später wechselte M., weiterhin als Bibliothekar, an den Stuttgarter Hof. Ein Jahrzehnt rastloser publizist. Tätigkeit folgte. Neben zahlreichen historiograf. Arbeiten (Hauptwerke: Allgemeine Geschichte der neuesten Zeit. 7 Bde., Lpz. u. Stgt.
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1833–35; Biographisch-historische Studien. 2 Bde., Stgt. 1836; Allgemeine Geschichte der katholischen Kirche. Abt. 1 u. 6, Karlsr. 1838–40) veröffentlichte M. zeitgeschichtlich aufschlussreiche Würdigungen über Karl von Rotteck (Haag 1831) u. Heinrich Zschokke (Haag 1831) sowie autobiogr. Erinnerungen, Lebensbilder und Studien [...] eines teutschen Gelehrten (3 Bde., Karlsr. 1836–38). Wie bereits seine Denkwürdigkeiten [...] wider Anschuldigungen des Partheigeistes (Stgt. 1832) dienten auch M.s etwas verfrühte Memoiren – auf einer Reise starb er 1841 in seiner Heimatstadt Rheinfelden – der Rechtfertigung seiner Haltung, die einstigen liberalen Weggefährten als wechselmütig galt. Tatsächlich suchte M. aber schon frühzeitig den Ausgleich, setzte als Kind der napoleonischen Zeit die nat. Einheit über individuelle Freiheitsrechte u. musste um 1830 keinen tief greifenden Gesinnungswandel vollziehen, um sich zur Politik des Bürgerkönigs Louis Philippe zu bekennen, dessen Maxime des »Juste milieu« er als stabilitätspolit. Leitbild einer Position verstand, die »nicht zwischen, sondern über den Parteien steht«. Vor u. neben seinem immens breiten histor. Œuvre schuf M. ein kleineres dichterisches Werk. Die frühesten Einzelveröffentlichungen – so ein Dem starkmüthigen Verfechter der Freyheit teutscher Kirche, dem teutschen Manne, Freyherrn von Wessenberg [...] von einem AlpenSohne gewiedmet[es] Gedicht (Freib. i. Br. 1818) – verkünden dabei ungebrochen das Engagement von M.s Studienjahren. Doch in den ersten Sammlungen der Gedichte (Basel 1819) u. der Helvetischen Eichenblätter (Schaffhausen 1820), die mit Eponina M.s einziges ausgearbeitetes Trauerspiel enthalten, das im german. Kampf gegen Rom dem nat. Befreiungsstreben ein Denkmal setzt, mischen sich unter die patriotischen, Schiller u. Körner nachempfundenen Klänge auch biedermeierlich-eleg. Töne vom Freundes- u. Liebesabschied. Zeugen die Eidgenössischen Lieder (Basel 1822) u. die Sammlung Aletheia (Zürich 1822), die neben Gedichten u. Übersetzungen aus M.s Freundeskreis auch eine Abteilung durch M. edierter u. kommentierter Ungedruckter Altschweizerlieder enthalten, noch von der jugendl. Aufbruchsstimmung, so stehen die das
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Frühwerk u. diverse Almanachbeiträge bündelnden Jugendbilder und Jugendtræume (Lüttich 1829) bereits im Zeichen des Rückblicks u. des Abschieds »von seiner ersten Liebe, der lyrischen Poesie«, an die der aktuelle »Partheigeist [...] kein Recht« habe. Ähnlich retrospektiv ausgerichtet sind M.s dichterische Schwarzwaldrosen (Aachen u. Lpz. 1831), die als poetisches »Tagebuch« einer Fahrt in die eigene Vergangenheit inszeniert sind u. neben neu gedichteten Hommagen an erinnerungsträchtige Orte auch zeitgemäße Aktualisierungen eigener Dichtungen früherer Jahre enthalten. Im letzten Lebensjahrzehnt verstummte M. als Dichter u. widmete sich »ausschliesslich dem Ritterdienste der gestrengen Klio«. Weitere Werke: Pantheon der Gesch. des teutschen Volkes. 2 Bde., Freib. i. Br. 1825–33. – Gesch. des Hauses u. Landes Fürstenberg. 3 Bde., Aachen u. Lpz. 1829–32. – Vollst. Slg. aller ältern u. neuern Konkordate. 2 Tle., Lpz. 1830. – Erinnerungen an ausgezeichnete Frauen Italiens, ihr Leben u. Wirken. 2 Bde., Aachen u. Lpz. 1831–33. – Lukrezia u. Gasparo. Nach Aeneas Sylvio Piccolomini bearb. Ludwigsburg 1833. – Röm. Zustände u. kath. Kirchenfragen der neuesten Zeit. Stgt. 1838. – Denkwürdigkeiten zur polit., Reformations- u. Sittengesch. der drei letzten Jahrhunderte. Stgt. 1839. – Denkwürdigkeiten zur Gesch. der Häuser Este u. Lothringen. Bd. 1 [MNE], Stgt. 1840. Ausgaben: Sämmtl. Dichtungen. Ausg. letzter Hand mit Ausw. Stgt. 1841. – Erinnerungen, Reisebilder, Phantasiegemälde u. Fastenpredigten aus den Jahren 1828 bis 1840. 2 Tle., Stgt. 1841/42. Literatur: Nikolaus Müller: E. M. u. Karl v. Rotteck. Eine Vergleichung ihres polit. Glaubensbekenntnisses. In: Ztschr. der Gesellsch. für Beförderung der Geschichts-, Altertums- u. Volkskunde v. Freiburg, dem Breisgau u. den angrenzenden Landschaften 39/40 (1927), S. 117–152. – Anton Senti: E. M. v. Rheinfelden (1798–1841). In: Alemann. Jb. 1954, S. 385–404. – Paulhelmut Saxler: E. M. Historiker u. Publizist. Diss. (masch.) Mainz 1956 (mit Bibliogr. u. Nachlassverz.). – Goedeke 17/2, S. 958–976. – Wilhelm Kreutz: Die Deutschen u. Ulrich v. Hutten. Rezeption v. Autor u. Werk seit dem 16. Jh. Mchn. 1984, S. 93–95. – Dieter Martin: Vorderösterr. Nachklänge im ›Juste milieu‹. Der Freiburger Historiker u. Literat E. M. In: Zwischen Josephinismus u. Frühliberalismus. Literar. Leben in Südbaden um 1800. Hg. Achim
419 Aurnhammer u. Wilhelm Kühlmann. Freib. i. Br. 2002, S. 331–346. Dieter Martin
Münchhausen Literatur: Georg Wolfgang Augustin Fikenscher: Gelehrtes Fürstenthum Baireut. Bd. 6, Nürnb. 1803, S. 113–116. Bd. 11, 1805, S. 91 f. (Schriftenverz.). Hans Leuschner / Red.
Münch, Johann Gottlieb, * 9.12.1774 Bayreuth, † 30.7.1837 Tübingen. – Verfasser theologischer Schriften, Satiriker, Münchhausen, Börries Frhr. von, auch: H. Albrecht, * 20.3.1874 Hildesheim, Erzähler. † 16.3.1945 Windischleuba bei AltenDer Sohn eines Bayreuther Justizrats schloss burg; Grabstätte: ebd. – Balladen- u. Liedas Studium der Philosophie u. evang. derdichter. Theologie in Jena u. Erlangen 1794 als Doktor der Philosophie ab. 1796 erhielt er eine a. o. Professur in Altdorf, wo er über Metaphysik u. Moral nach kantischen Grundsätzen las. Ende 1803 ging er nach Württemberg u. machte Karriere als Theologe: Zunächst Hofprediger u. Konsistorialrat in Ellwangen, wurde er 1808 Stadtpfarrer in Stuttgart u. wechselte 1812 in gleicher Funktion u. als a. o. Prof. für Kirchenrecht nach Tübingen. Er gehörte seit 1792 der Lateinischen Gesellschaft in Jena u. seit 1796 dem Pegnesischen Blumenorden an. M. verfasste mehrere psycholog. Werke, meist lehrbuchhaft, zu Fragen aus der Pfarrpraxis (Praktische Seelenlehre für Prediger. 3 Bde., Regensb. 1800/1801). Daneben veröffentlichte er anonym zahlreiche satir. Betrachtungen u. Erzählungen (Schwarze Rettiche, gebaut von meinem Haus-Satyr. Lpz. 1798), die er als »ernste« Satiren unter dem Einfluss von Eschenburgs Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften (1783) konstruiert hatte, wobei ihn insbes. auch die Zulässigkeit der ernsten Satyre und deren Anwendung auf der Kanzel [...] (Lpz. 1798) interessierten. – Mit seiner Märchensammlung Mährleinbuch für meine lieben Nachbarsleute (2 Bde., Lpz. 1799) folgte M. einer literar. Mode seiner Zeit. Seine »Volksmärchen« waren nicht »rein«, wie die Grimms es für ihre Sammlung in Anspruch nahmen, sondern vielfach logisch durchkonstruiert. Den Grimms schien in der Sammlung »vieles gemacht zu seyn« (Kinder- und Haus-Märchen. Hg. Friedrich Panzer. Tl. 1, Mchn. 1913, S. 449), »wiewohl sie nicht ganz schlecht zu nennen« (S. 12). Seit 1810 veröffentlichte M. v. a. Erbauungsschriften.
Weitere Werke: Kleine satir. Schr.en. Nürnb. 1803.
Der aus einem alten niedersächs. Adelsgeschlecht stammende Sohn eines Kammerherrn, zu dessen Vorfahren u. a. der »Lügenbaron« zählt, studierte in Heidelberg, München, Göttingen sowie Berlin Rechts- u. Staatswissenschaft, später auch Philosophie, Literaturgeschichte u. Naturwissenschaften. Er promovierte 1899 in Leipzig. Am Ersten Weltkrieg nahm M. zunächst als Offizier im sächsischen Garde-Reiter-Regiment teil, 1916 wurde er zum Auswärtigen Amt abkommandiert. Seit 1920 lebte er als Kammer- u. später auch Domherr (von Wurzen) auf seinem Gut Windischleuba. M.s Balladen u. Lieder, die nationalist. Untertöne nicht scheuen, sind von der adligen Herkunft des Autors geprägt. Sie glorifizieren das ritterl. »Heldentum« u. andere lange überlebte Ideale. M. bot damit der wilhelmin. Führungsschicht eine scheinbare histor. Legitimation, die die tatsächlichen gesellschaftl. Konflikte verdeckte. Zu Unrecht wurde er von seinen Zeitgenossen in eine Reihe mit Liliencron u. Fontane gestellt. Denn seine erklärte Absicht, die Form der Ballade weiterzuentwickeln, konnte er nicht verwirklichen. M. blieb Epigone u. verharrte im Artifiziellen. Bereits mit seinem ersten Band Gedichte (Gött. 1897) war M. der Durchbruch gelungen. Im selben Jahr begann M. mit seinen immer wiederkehrenden Attacken auf Schriftstellerkollegen. In der Zeitschrift »Die Kritik« griff er Richard Dehmel heftig an u. bezeichnete dessen Gedicht Venus Consolatrix als unzüchtig u. gotteslästerlich. Ein Berliner Gericht ordnete daraufhin die Entfernung des Gedichts aus Dehmels Lyrikband Welt und Weib an.
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Um der Balladendichtung ein eigenes Forum zu verschaffen, gründete M. 1898 den »Göttinger Musenalmanach« (1898–1922), in dem u. a. Agnes Miegel u. Lulu von Strauß und Torney ihre ersten Arbeiten veröffentlichten. Als Plädoyer für die zionist. Bewegung wurden seine Gesänge Juda (Goslar 1900) verstanden, in denen M. Motive aus dem AT aufgriff. Das Buch blieb umstritten, obwohl Felix Dahn es vehement verteidigte (in: »Das litterarische Echo«, Nr. 10, 1901, S. 618 f.). Mit Die Hesped-Klage (in: Balladen. Bln. 1906) griff M. dann auch ein aktuelles Ereignis aus der jüd. Leidensgeschichte auf: den Pogrom vom 6.4.1903 im russ. Kischinew. Trotz dieser eindeutigen Parteinahme hielt er an seinen abstrusen antisemit. Verschwörungstheorien fest. Im Briefwechsel mit dem Anglisten u. bekennenden Pazifisten Levin Ludwig Schücking polemisierte er immer wieder gegen die »fürchterliche Rasse« (Brief vom 6.10.1909) mit »ihren jahrzehntelangen wahrhaft giftige(n) Angriffen gegen alles Deutsche« (Brief vom 16.9.1936). Seine Beliebtheit verdankte M. aber seinen z.T. derben Ritterballaden u. Liedern, die vielfach vertont wurden u. dadurch auch in der Jugendbewegung ihre Anhänger fanden. Während der Weimarer Republik, in der das Interesse an seinen Balladen nachließ, stand er den konservativen Neuromantikern nahe. Literarische Aufbruchsbewegungen wie den Expressionismus lehnte er vehement ab. In den Nationalsozialisten glaubte M. Bundesgenossen gefunden zu haben u. biederte sich den neuen Machthabern an. Er unterzeichnete das »Treuegelöbnis« für Adolf Hitler u. ließ sich zum Senator der Deutschen Akademie der Dichtung ernennen. Im »Deutschen Almanach auf das Jahr 1934« (Lpz. 1933) polemisierte er gegen die Literatur der »Systemzeit«. Obwohl er immer wieder betonte, nur »in einigen Fragen« Antisemit zu sein, beklagte er in diesem von polit. Opportunismus geprägten Schmähartikel, der von 34 Zeitungen nachgedruckt wurde, den »zu hohen Anteil der Juden« an der modernen Literatur u. veröffentlichte eine Namensliste – mit Gottfried Benn an der Spitze, der sich vehement dagegen wehrte. M. entfernte jüd. Balladen aus seinen Gedichtsammlungen u.
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schrieb autobiogr. Texte um. Andererseits beließ er Die Hesped-Klage noch 1942 in der Neuauflage seines Balladenbuches u. setzte sich für verfemte Autoren ein. Obwohl er von der NS-Literaturkritik gefeiert wurde u. zahlreiche Auszeichnungen erhielt, geriet er als Mentor der »Wartburgdichtertage« mehr als einmal in Konflikt mit der Kulturbürokratie. Nach 1933 veröffentlichte er fast nur noch Neuausgaben u. Bearbeitungen seiner früheren Bücher. Als sich die alliierten Truppen seinem Gutshof näherten, gab er sich selbst den Tod. Bis in die Mitte der 1960er Jahre waren M.s Balladen fast in allen bundesdt. Lesebüchern vertreten. Heute sind der Autor u. sein Werk fast vergessen, mit Ausnahme seiner Lederhosen-Saga, die weiterhin zu den beliebtesten dt. Balladen zählt. In Liederbüchern (z.B. der Mundorgel) überlebte sein melancholisches, homosexuell getöntes Lied Jenseits des Tales standen ihre Zelte. Weitere Werke: Herausgeber: Flemmings Bücher für jung u. alt. 33 Bde., Bln. 1922–24. – Lebensbilder aus dt. Vergangenheit. 10 Bde., Bln. 1922–24. Ausgaben: Das dichter. Werk. 2 Bde., Stgt. 1950–53. – Dass. Ausg. letzter Hand. 2 Bde., Stgt. 1959/60. – Einzeltitel: Balladen. Bln. 1901. – Ritterl. Liederbuch. Goslar 1903. – Das Herz im Harnisch. Neue Balladen u. Lieder. Bln. 1911. – Das Balladenbuch. Stgt. 1924. – Beate E. Schücking (Hg.): ›Deine Augen über jedem Verse, den ich schrieb.‹ B. v. M. – Levin Ludwig Schücking. Briefw. 1897–1945. Oldenb. 2001. – Lyrik u. Prosa. Hg. Liselotte Greife. Goldebek 2001. Literatur: Bibliografie: Ernst Metelmann: B. v. M. In: Die schöne Lit. 31 (1930), S. 12–17. – Weitere Titel: Martin Ritscher: B. Frhr. v. M. Ebd., S. 6–11. – Reinhard Alter: Gottfried Benn u. B. v. M. Ein Briefw. aus den Jahren 1933/34. In: JbDSG 25 (1981), S. 139–170. – Iring Fetscher: Die Ahnungslosigkeit des Ritters ohne Furcht u. Tadel. In: Frankfurter Anth. Hg. Marcel Reich-Ranicki. Bd. 13, Ffm. 1990, S. 157–161. – Werner Mittenzwei: B. v. M., der heiml. Gegenspieler. Der Wartburgkrieg gegen die Preuß. Akademie der Künste. In: SuF 44 (1992), S. 566–589. – Ders.: Der Untergang der Akademie oder Die Mentalität des ewigen Deutschen. Bln./Weimar 1992. – Lars Kaschke: Aus dem Alltag des wilhelmin. Kulturbetriebs: B. v. M. Angriffe auf Richard Dehmel. In: Text u. Kontext 20 (1997), S. 35–57. – Karl Konrad Polheim: B. v.
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421 M.s Ballade ›Jenseits‹ u. das Lied ›Jenseits des Tales‹. In: Durch aubenteuer muess man wagen vil. FS Anton Schwob. Hg. Wernfried Hofmeister u. Bernd Steinbauer. Innsbr. 1997, S. 351–361. – Thomas F. Schneider: ›Heldisches Geschehen‹ u. ›reiner blaublonder Stamm‹. Die ›Erneuerung‹ der Ballade u. ihre Instrumentalisierung durch B. v. M. (1874–1945) seit 1898. In: Lit. im Zeugenstand Hg. Edward Bialek. Ffm. 2002, S. 541–561. /
Hans Sarkowicz
Münchhausen, Carl Ludwig (oder Chlodwig) August Heino von, * 17.2.1759 Hessisch-Oldendorf, † 16.12.1836 Lauenau/Deister. – Verfasser von Gedichten u. Gelegenheitsschriften.
findsamen Drama (Die Sympathie der Seelen. Kassel 1791) u. kleineren Erzählungen verfasste M. hauptsächlich Gedichte (Versuche, prosaischen und poetischen Inhalts. Neustrelitz 1801 u. ö.): Liebes-, Trink- u. Jagdgedichte stehen hier neben Fabeln u. Balladen oder polit. Lyrik. Seine entschiedene u. oft bespöttelte Vorliebe galt freilich der german. Götterwelt: Zur Verherrlichung der german. Vorzeit formulierte er nicht nur Gedichte oder Beiträge für die Zeitschrift »Bragur. Ein Litterarisches Magazin der Deutschen und Nordischen Vorzeit« (Bde. 5 u. 7, Lpz. 1798, 1800) seines Freundes Friedrich David Gräter; gemeinsam mit diesem gab er noch 1802 einen »Bardenalmanach der Teutschen für 1802« (Neustrelitz 1802) heraus.
M. entstammte der »weißen« Linie des gleichnamigen Adelsgeschlechts u. war von Literatur: Kurt Lindner: Jagd u. Vogelfang in Jugend an für die militär. Laufbahn be- den Liedern des Dichters M. In: Spectrum Medii stimmt. Seit 1781 im hess. Militärdienst, Aevi. Hg. William C. McDonald. Gött. 1983, folgte er als Freiwilliger den hess. Truppen S. 257–282 (Werke u. Lit.). – Walter Hettche: ›Ist nach Amerika (1782), wo er in Halifax eine das Dichterrede?‹ Karl L. v. M. als Kritiker Goethes lebenslange u. literarisch fruchtbare Freund- u. Schillers; mit bisher unbekannten Texten. In: JbFDH 1993, S. 60–92. Adrian Hummel / Red. schaft mit Seume schloss (Rückerinnerungen von 2 Seume und Münchhausen. Ffm. 1797. 1823). Zurückgekehrt, avancierte M. 1793 nach Münchhausen, Hieronymus Karl Friedmehreren militär. Auszeichnungen im ersten rich Frhr. von, * 11.5.1720 Bodenwerder, Koalitionskrieg gegen Frankreich zum † 22.2.1797 Bodenwerder; Grabstätte: Oberstleutnant. Loyalität zu seinem LandesKemnade, Klosterkirche. – Erzähler u. herrn Wilhelm I. von Hessen-Kassel kostete Titelfigur der bekannten Lügengeschichihn unter der frz. Herrschaft sogar Vermögen ten. u. militärisches Amt. Antifranzösischer Konspiration beschuldigt, verlor er schließlich Der aus dem Hause Rinteln-Bodenwerder selbst eine Oberförster-Stelle in der Nähe von stammende M. kam mit 13 Jahren als Page an Treysa (1809), verbrachte vier Jahre im Ge- den Hof Karls I. von Braunschweig fängnis u. zog sich nach seinem Freispruch (1713–1780) u. begleitete 1737 dessen Bru(1813) verbittert auf das Gut Swedestorp bei der, Prinz Anton Ulrich, als Fähnrich, später Lauenau/Weser zurück. Erst ein Erbfall ver- als Leutnant nach Russland, wo er möglibesserte 1827 M.s drückende materielle Si- cherweise am russisch-türkischen Krieg tuation: Auf dem ihm zugesprochenen Rit- (1735–1739) teilnahm. Er beteiligte sich am tergut Lauenau lebte der melancholisch-ro- Krieg gegen Schweden, heiratete 1744 Jacomantisierende Gelegenheitsschriftsteller bis bine von Dunten zu Perniel in Livland, wurde zu seinem Tod. 1750 Rittmeister Peters III., wurde im selben M.s literar. Versuche wissen sich seinem Jahr beurlaubt u. hielt sich seitdem – von eiFreund Seume ebenso verpflichtet wie der nigen Aufenthalten in Russland abgesehen – Bardenpoesie Klopstocks. Trotz mangelnder auf seinem Stammgut in Bodenwerder auf. Originalität überrascht dabei die themat. u. Als leidenschaftl. Jäger u. begabter Erzähformale Vielfalt seiner Gelegenheitsschriften. ler abenteuerl. Geschichten erwarb sich der Außer programmat. Abhandlungen (Die Landadelige Ruhm als »Lügenbaron« weit Stimme Europa’s im letzten Jahre des 18. Jahr- über seine nähere Umgebung hinaus. In dem hunderts. Marburg 1800 u. ö.), einem emp- von August Mylius in Berlin verlegten Vade
Münchner Eigengerichtsspiel
Mecum für lustige Leute (Bd. 8, 1781. Bd. 9, 1783) erschien anonym eine Reihe von 16 Anekdoten u. d. T. M-h-s-nsche Geschichten, die teilweise auf ältere Schwanksammlungen zurückgehen. Größere Verbreitung fanden diese Erzählungen in engl. Version, die Rudolf Erich Raspe überarbeitet u. erweitert 1785 – wiederum anonym – mit der Jahreszahl 1786 als Baron Munchhausen’s Narrative of his Marvellous Travels and Campaigns in Russia in Oxford erscheinen ließ. Nach der dritten engl. Ausgabe (1786) übersetzte Bürger die Geschichten ins Deutsche zurück, vermehrte sie um eigene Stücke u. gab ihnen in seinen Wunderbaren Reisen zu Wasser und Lande, Feldzüge und lustige Abentheuer des Freiherrn von Münchhausen (London, recte Gött. 1786. 2 1788. Komm. hg. in Bürgers Sämtlichen Werken v. Günter u. Hiltrud Häntzschel. Mchn. 1987) die gültige literar. Gestalt. Sie waren ihrerseits Auslöser für Nachahmungen, Erweiterungen u. Bearbeitungen, die sog. Münchhausiaden. Literatur: A. F. v. Münchhausen: Geschlechtshistorie des Hauses derer v. Münchhausen [...]. Hann. 1872. – Carl Müller-Frauenreuth: Die dt. Lügendichtungen bis auf M. dargestellt. Halle 1881. – Werner R. Schweizer: M. u. Münchhausiaden [...]. Bern/Mchn. 1969. – Erwin Wackermann: Münchhausiana. Bibliogr. der M.-Ausg.n u. Münchhausiaden. Stgt. 1969. Günter Häntzschel / Red.
Münchner Eigengerichtsspiel. – Spätmittelalterliches geistliches Spiel, 1510. Das M. E., auch Spiel vom sterbenden Menschen genannt, ist eine Inszenierung der eschatolog. Themen Tod, Gericht u. Jenseits mit dem Ziel, dem allg. Laienpublikum christl. Normen für bußfertiges Leben u. heilsames Sterben zu vermitteln. Wenn ein Eintrag in den Münchner Stadtrechnungen tatsächlich auf das Eigengerichtsspiel zu beziehen ist, wurde das Drama in Verbindung mit einem zweiten Spiel, vielleicht dem in der Handschrift Cgm 4433 der Bayerischen Staatsbibliothek überlieferten Münchner Weltgerichtsspiel, »aufm marckt [...] in der wochen nach Corporis Christi [12. Juni 1510]«, öffentlich aufgeführt (Bernd Neumann: Geistliches
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Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Mchn. 1987, Nr. 2316). In thematischer wie auch funktionaler Hinsicht ist das Eigengerichtsspiel mit den zeitgenössischen mittelniederländ. u. mittelengl. Jedermann-Moralitäten verwandt (Elckerlijc, ältester Druck um 1495; Everyman, ältester Druck um 1510–25). Den theolog. Hintergrund aller drei Dramen bildet die seit dem 13. Jh. immer deutlichere dogmat. Konturen gewinnende Lehre des »iudicium particulare«, des Partikulargerichts, das gleich nach dem Tod über jede Seele von Gott verhängt wird u. der endgültigen Verurteilung der gesamten Menschheit im Jüngsten Gericht vorausgeht. Anders jedoch als die Jedermann-Dramen, die den Aufruf zu rechtzeitiger Umkehr aus der linearen Geschichte eines einzigen Protagonisten ableiten, besteht die Handlung des Eigengerichtsspiels aus einer Reihe exemplarischer Szenen, die sich aus der Vielfalt des spätmittelalterl. Memento mori- u. Ars moriendi-Schrifttums speisen. Auf ein Vorspiel, in dem Reue, Beichte u. Buße des Menschen sowie Fürbitte der Heiligen als wirksame Mittel zur Erreichung des Seelenheils herausgestellt werden, folgen die fatale Begegnung eines unbelehrbaren Jünglings mit dem personifizierten Tod, drei kontrastierende Sterbeszenen mit anschließendem Partikulargericht, in dem die Seele des Verstorbenen je nach Verdienst oder Verfehlung Himmel, Hölle oder Fegefeuer zugeordnet wird, u. zum Schluss eine ausgedehnte Fegefeuerhandlung, in der die Armen Seelen gruppenweise nach Art eines Reihenspiels die Lebenden um Hilfe anflehen. Mit Ausnahme des Vorspiels sind sämtl. Exempel in ein Lehrgespräch zwischen einem Kaufmann u. einem Doktor der Theologie eingebettet, der sie zur Veranschaulichung seiner Argumente gleichsam als Spiel im Spiel vorstellt. Als oberste Vermittlungsinstanz des Bühnengeschehens treten außerdem insg. vier Precursore auf, die den lehrhaften Inhalt des Stücks für das Publikum auf den Punkt bringen. Der einzige Überlieferungsträger des M. E., der am 12.7.1510 beim Münchner Buchdrucker Hans Schobser erschienene Druck (VD 16 Nr. G 2679), präsentiert das Spiel in
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Form eines illustrierten Erbauungsbuches für die private Lektüre. Die zwölf Holzschnitte, die dem Text beigegeben sind, markieren zwar durch ihre Platzierung u. Wiederholung auch für den Leser Szenenwechsel u. Wiederkehr der Hauptthemen der Handlung; sie sind wohl trotzdem nicht nach dem Bühnenbild entworfen, sondern von anderen zeitgenöss. bebilderten Sterbebüchlein u. Jenseitsdarstellungen übernommen worden. Für eine Wirkung des Eigengerichtsspiels auch im weiteren deutschsprachigen Raum spricht zum einen die Aufführung einer »figur [=exemplarisches Spiel] des sterbenden Menschen« am 21. Sept. 1549 in Bruneck/ Südtirol (Neumann, Nr. 1016), der wohl das Münchner Spiel zugrunde liegt; außerdem ist ein literar. Einfluss auf die protestant. Dramatiker Johannes Kolross (Spiel von Fünferlei Betrachtnissen, 1532) u. Johannes Stricker (De Düdesche Schlömer, 1584) zu erwägen. Ausgaben: Drei Schauspiele vom sterbenden Menschen. Hg. Johannes Bolte. Lpz. 1927, S. 1–62. – Digitalisat des Schobser’schen Druckes: http:// mdz10.bib-bvb.de/db/bsb00007944/images/index.html. Literatur: Hellmut Rosenfeld: M. E. In: VL. – Christian Kiening: Schwierige Modernität. Der ›Ackermann‹ des Johannes v. Tepl u. die Ambiguität histor. Wandels. Tüb. 1998, S. 250–259. – Ders.: Das andere Selbst. Figuren des Todes an der Schwelle zur Neuzeit. Mchn. 2003, S. 42–45. – Mark Chinca: Norm u. Durchschnitt. Zum M. E. v. 1510. In: Text u. Normativität im dt. MA. Hg. Elke Brüggen u. Franz-Josef Holznagel. Bln./New York (in Vorb.). Mark Chinca
Münchner Osterspiel. – Deutsches Osterspiel des 16. Jh. Das bislang wenig beachtete Spiel (1230 V.) ist nur in einer Lese-Handschrift überliefert, die sich seit 1582 in der Münchner Hofbibliothek nachweisen lässt. Die kalligrafische Aufzeichnung auf feinem Pergament u. der verzierte Renaissance-Einband weisen auf den Hof als Adressaten des Exemplars. Da in der Vorrede der fürstl. Hofstaat u. eigens die »hochgebornne fürstin rain« angesprochen werden, lassen sich Herzog Wilhelm V. (1579–1597) u. seine Gattin Renata als Zuschauer des Spiels vermuten, doch fehlt ein
Münchner Osterspiel
Aufführungsbeleg, den vielleicht das verlorene Titelblatt der Handschrift enthielt. Konzeptionell ist der gelehrte Autor mit der mittelalterl. Tradition der Osterspiele vertraut, die er jedoch sprachlich selbständig u. pastoraltheologisch versiert umgestaltet. Theologisch korrekt stellt er die Höllenfahrt des Erlösers (»descensus«) vor die Auferstehung. In diesem breit ausgebauten Teil, der etwa ein Drittel des Spiels einnimmt, wird mit Sündenbekenntnis u. Reue als Voraussetzungen der Erlösung ein zentrales Thema entwickelt, das sich durch das gesamte Spiel zieht. Außerdem führt der Anonymus mit Rückgriff auf das – neben der Bibel auch sonst verwendete – apokryphe NikodemusEvangelium zwei verstorbene Juden als Augenzeugen ein, die Kaiphas, Annas u. anderen Juden die Erlösungstat Christi bestätigen. Abweichend von der Spieltradition erfolgt anschließend die Tröstung Mariens durch den Erzengel Gabriel u. dann durch ihren Sohn selbst, der ihr nach seiner Auferstehung noch vor Maria Magdalena erscheint u. sie als Himmelskönigin wie als Fürsprecherin der Christenheit einsetzt. Erst danach greift das vertraute Schema einer Osterfeier vom Typ III: Aufsuchen des leeren Grabes Jesu durch Maria Magdalena u. die beiden anderen Marien samt ihrem Dialog mit den Engeln (»visitatio sepulchri«), Erscheinung Christi vor Maria Magdalena (Hortulanus-Szene), dann aber auch vor den beiden anderen Marien, Lauf von Petrus u. Johannes zum leeren Grab (Jüngerlauf). Dabei hebt sich die »visitatio sepulchri« durch ihre Gesänge (mit Melodieaufzeichnungen), deren lat. Texte durchweg verdeutscht wurden, bes. heraus; nur beim »descensus« u. beim Jüngerlauf blieben zwei der traditionellen lat. Gesänge erhalten. Diesen Teil schließt die Erscheinung Christi vor Petrus in Galiläa u. dessen Einsetzung in sein hervorgehobenes Apostelamt ab. Im Schlussteil steht dem nachgezogenen Streit der Grabwächter, den der Autor kritisch mit »nit allso erganngen, allein erdicht« kommentiert, die Begegnung Christi mit zwei Jüngern beim Gang nach Emmaus (Peregrinusspiel) gegenüber. Die Erscheinung des Auferstandenen vor dem zunächst
Münchner Weltgerichtsspiel
zweifelnden, dann aber gläubigen Thomas beschließt das Spiel, zu dessen Aufführung etwas mehr als 40 Darsteller notwendig wären. Die hervorgehobenen Rollen von Maria u. Petrus weisen auf die Zeit der Gegenreformation, die pastoraltheologischen Intentionen zielen auf Sündenbekenntnis u. Reue (für die Gläubigen also auf die Beichte), die Augenzeugenschaft des »descensus« u. die vielfachen, über die Bibel hinausgehenden Erscheinungen Christi auf die Bestätigung der Auferstehung als Glaubenswahrheit. Ausgaben: A.[nton] Birlinger: Ein Spil v. der Urstend Christi. In: Archiv 39 (1866), S. 367–400. – Das M. O. (Cgm 147 der Bayer. Staatsbibl. Mchn.). Mit einer Einf. in Abb. Hg. Barbara Thoran. Göpp. 1977. Literatur: Hansjürgen Linke: M. O. In VL (weitere Lit.). – Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986, S. 258 f. – Bruno Quast: Endzeit des geistl. Spiels. Das M. O. cgm 147. In: Ritual u. Inszenierung. Geistl. u. weltl. Drama des MA u. der frühen Neuzeit. Hg. Hans-Joachim Ziegeler. Tüb. 2004, S. 313–324. – Christoph Petersen: Ritual u. Theater. Meßallegorese, Osterfeier u. Osterspiel im MA. Tüb. 2004, S. 154–156. Johannes Janota
Münchner Weltgerichtsspiel. – Geistliches Schauspiel vom Anfang des 16. Jh. Der in einer Papierhandschrift (cgm 4433 der Bayerischen Staatsbibliothek München) überlieferte Text (1992 Verse) konserviert laut Überschrift ein 1510 auf dem Münchener Marktplatz aufgeführtes Spiel. Dieses erweitert einen in verschiedenen eigenständigen Fassungen tradierten alemann. Spieltyp, der auf der Grundlage des neutestamentl. Berichts von Mt 25, 31–46 das Weltgericht vergegenwärtigt. Durch achtmaliges Auftreten eines Precursors oder Proklamators ergeben sich sieben aktartige Spielabschnitte jeweils mit mehreren Szenen u. z.T. mit themat. Wiederholungen. 1. Ankündigung des Jüngsten Gerichts u. der vorangehenden 15 Zeichen durch Propheten u. Kirchenväter. 2. Auferweckung der Toten u. Beginn des Gerichts: Christus, Engel u. Seelen kommen zu Wort; Gute u. Böse werden geschieden; der Richter
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verkündet u. begründet das Urteil über die Guten. Für den weiteren Gerichtsakt werden Maria, die Apostel u. alle, die Gottes Willen getan haben, zu Beisitzern berufen. 3. Anklage der Sünder: Luzifer sowie Engel der vier Elemente, der Sonne u. des Mondes erheben Klage. 4. Verschiedene Gruppen von Sündern vor dem Richterthron: Von Christus angeklagt bekennen Juden, Heiden, christl. Geistliche, Fürsten u. einfache Seelen ihre Schuld u. flehen um Gnade. 5. Verurteilung der Sünder: Die allegor. Figuren Barmherzigkeit u. Gerechtigkeit streiten um den Vorrang. Christus entscheidet zugunsten der Gerechtigkeit. Nach der Urteilsverkündigung werden die Verdammten Sathanas überantwortet. 6. Vergebliche Gnadengesuche: Von den Verdammten angerufen, bittet Maria erfolglos um Barmherzigkeit für die Sünder. Sie werden endgültig dem Teufel übergeben. 7. Lobpreis der Geretteten u. deren Überführung in den Himmel: Repräsentanten verschiedener Gruppen (Petrus für die Apostel, Stephanus für die Märtyrer usw., Elisabeth für die mildtätigen Witwen u. einfache Seelen) treten mit Lobreden hervor. Ein bisher entkommener Reicher wird nachträglich verurteilt. Christus u. Maria gehen den Geretteten voran. Wichtigstes Kriterium für die Beurteilung der Seelen bildet – gemäß dem Matthäusevangelium – das Erfüllen oder Versäumen der Werke der Barmherzigkeit: die Verantwortung des Menschen gegenüber Gott, den Mitmenschen u. der Schöpfung. Darüber hinaus werden »gutes« u. »böses« Verhalten weiter spezifiziert, aber auch abstrahiert, auf die sieben Todsünden u. die zehn Gebote bezogen. Das Spiel ist auf intensive Heilsdidaxe ausgerichtet. Von Anfang an wird – der theolog. Lehrmeinung entsprechend gegen die Hoffnung der Gläubigen – betont, dass im Jüngsten Gericht keine Urteilsrevision aufgrund von Gottes Barmherzigkeit erfolgt. Gnade für begangene Sünden kann nur in der Lebenszeit des einzelnen Menschen erbeten oder durch Fürbitte vermittelt werden. Die eindringl. Mahnung zu rechtzeitiger Beichte u. Buße durchzieht das Spiel. Der letzte Teil mit dem Zug der Geretteten in das »hymlisch
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vaterland« gibt einerseits tröstl. Hoffnung, schließt aber andererseits nochmals ein negatives Beispiel ein. Insg. dominiert die abschreckende Perspektive auf die Sünder. Die Figur des Precursors besitzt eine das Spiel kommentierende Funktion. An das Publikum gewandt, gibt er Vorausblicke auf die vorgeführte Handlung, resümiert u. erläutert sie. Dabei wird der »Spiel«-Charakter betont. Die Vergegenwärtigung der Zukunft wird als schwaches Abbild der zu erwartenden Realität erklärt. Ulrich Tengler hat in die Neuausgabe seines Rechtshandbuchs Der neu Layenspiegel (1511) eine Bearbeitung des M. eingefügt, die aus Prosapassagen u. Versen besteht. Der Text weist alle an ird. Gerichtsverfahren Beteiligten auf ihre zukünftige Verantwortung vor dem himml. Richter hin. Ausgabe: Die dt. Weltgerichtspiele des späten MA. Synopt. Gesamtausg. Hg. Hansjürgen Linke. 3 Bde., Tüb./Basel 2002. Literatur: Karl Reuschel: Die dt. Weltgerichtsspiele des MA u. der Reformationszeit. Lpz. 1906, S. 120–134. – Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Unter Mitarb. v. Eva P. Diedrichs u. Christoph Treutwein. Mchn. 1986, Nr. 117. – Hellmut Rosenfeld: M. In: VL. – Ursula Schulze: Erlösungshoffnung der Verdammten. Zum ›Salve regina‹ im ›Luzerner Weltgerichtsspiel‹ u. Marias Rolle im Jüngsten Gericht. In: ZfdPh 113 (1994), S. 345–369. – Dies.: ›Das des jungsten gerichts einbildungen nutzlich sein‹. Zur Adaptation eines Weltgerichtsspiels in Ulrich Tenglers Laienspiegel. In: Daphnis 23 (1994), S. 237–286. – Dieter Trauden: Gnade vor Recht? Untersuchungen zu den deutschsprachigen Weltgerichtsspielen des MA. Amsterd./Atlanta 2000, S. 52–56; 321–334. – U. Schulze: Zur Typologie der Weltgerichtsspiele im 16. Jh. In: Textsorten u. Textallianzen im 16. bis 18. Jh. Unter Mitarb. v. Claudia Wich-Reif hg. v. Peter Wiesinger. Bln. 2007, S. 237–258. – Hansjürgen Linke: Das Theater der Weltgerichtsspiele. Tatsachen u. Mutmaßungen. In: ZfdPh 126 (2007), S. 354–389. Ursula Schulze
Münster, Sebastian, * 20.1.1488 NiederIngelheim/Rhein, † 26.5.1552 Basel. – Humanist, Hebraist u. Kosmograf. Der Sohn des Ingelheimer Spitalmeisters Andreas Münster besuchte ab 1505 die Schule
Münster
der Franziskaner zu Heidelberg, in deren Kloster er ein Jahr später eintrat (Profess 1507, Primiz 1512). Studien führten ihn von 1507 bis 1509 möglicherweise zunächst nach Löwen, dann nach Freiburg/Br., ab 1509 in das Minoritenkloster Ruffach, wo er unter Konrad Pellikan Kenntnisse erwarb, die sein weiteres Leben prägten: Hebräisch u. Griechisch sowie Mathematik u. Weltbeschreibung. Weitere Studien folgten 1514 in Tübingen u. a. unter Johann Stöffler, der mathematisch-astronom. Wissen vermittelte. 1518/19 wirkte M. als Lektor für Theologie an der Franziskanerschule zu Basel, wo er durch Pellikan mit reformatorischem Gedankengut in Kontakt kam. Ab 1521 ist M. als Lektor seines Klosters in Heidelberg belegt. 1524 folgte er einem Ruf als Professor für Hebräisch, Mathematik u. Geografie an die dortige Universität. Häufigere Differenzen führten zu wiederholten Aufenthalten in Basel, wo er schließlich Ende Mai 1529 die Nachfolge seines Lehrers Pellikan als Professor für Hebraistik antrat u. zu einem der bedeutendsten Gelehrten avancierte. Übereinstimmungen mit Luther betreffs der Unzulänglichkeit der Vulgata führten noch 1529 zus. mit dem Bestreben, seine Stellung an der Universität zu behalten, zu einem Austritt aus dem Franziskanerorden u. zu einem Bekenntnis zu der neuen Lehre. Seit ca. 1530 war M. mit Anna Selber, der Witwe des Basler Druckers Adam Petri, verheiratet. Die ab 1542 zusätzlich ausgeübte Professur für Theologie legte M. zwei Jahre später wieder nieder. 1547/48 hatte er das Rektorat inne. M. starb an der Pest. Eine Leichenrede in hebr. Sprache hielt Erasmus Oswald Schreckenfuchs (dt. Übers.: Ernst Emmerling. In: Beitr. zur Ingelheimer Gesch. 12, 1960; elektronisch unter http:// www.uni-giessen.de/gloning/at-dak.htm). M.s Hauptwerk ist die 1524 von Beatus Rhenanus angeregte u. zuerst 1544 in Basel gedruckte Cosmographia in sechs Büchern. Geboten wird – erstmals in dt. Idiom – eine wiss. Weltbeschreibung mit historischen, geograf., astronom. u. naturwiss. sowie landes- u. volkskundl. Darlegungen. Das Werk erschien in über 40 Drucken (zuletzt Nachdr. der Ausg. Basel 1550: o. O. 1990), ab 1550 auf über 1200 Seiten erweitert u. durch zahlrei-
Münsterer
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che Karten u. Ansichten von Städten ver- chim Knape: Geohistoriographie u. Geoskopie bei mehrt. Der Haupttitel wechselte im Laufe der Sebastian Franck u. S. M. In: Sebastian Franck Zeit: In den Ausgaben bis 1548 sowie von (1499–1542). Hg. Jan-Dirk Müller. Wiesb. 1993, 1615 bis 1628 lautet er lat. Cosmographia, von S. 239–292. – Werner Raupp: M. In: Bautz. – Karsten Uhde: Ladislaus Sunthayms geograph. 1550 bis 1614 volkssprachig Cosmographei Werk u. seine Rezeption durch S. M. Köln 1993 oder Cosmographey. Die starke Wirkung be- (Diss.). – Peter H. Meurer: Der neue Kartensatz v. zeugt eine Übertragung in verschiedene 1588 in der Kosmographie S. M.s. In: CartoSprachen (lateinisch, französisch, tsche- graphica Helvetica 7 (1993), S. 11–20. – K. H. chisch, italienisch). M. selbst gab 1552 eine Burmeister. M. In: TRE. – Claus Priesner: M. In: frz. Version in Druck (Basel). NDB. – S. M. (1488–1552). Universalgelehrter u. M.s reiche, über 70 Titel zählende literar. Weinfachmann aus Ingelheim. Kat. zur AusstelHinterlassenschaft bietet schwerpunktmäßig lung im Alten Rathaus Nieder-Ingelheim. 12.10.Arbeiten zu Hebraistik u. Theologie sowie 10.11.2002. Katalogredaktion: Gabriele MendelsGeografisch-Mathematisches. Hervorgeho- sohn. Ingelheim 2002. – Dagmar Drüll: Heidelberger Gelehrtenlexikon 1386–1651. Bln. u. a. ben seien seine kommentierte hebr.-lat. Aus2002, S. 397–399. – Kaspar v. Greyerz: M. In: HLS. gabe des AT (2 Bde., Basel 1534/35), eine – Günther Wessel: Von einem, der daheim blieb, hebr. Grammatik (Basel 1520) sowie ein Dic- die Welt zu entdecken – Die Cosmographia des S. tionarium hebraicum (Basel 1523. 61564) u. Ru- M. oder Wie man sich vor 500 Jahren die Welt dimenta mathematica (Basel 1551). Genannt vorstellte. Ffm. u. a. 2004. – Matthew McLean: The seien ferner eine lat. Version der Geographia Cosmographia of S. M. Describing the World in the des Ptolemäus (Basel 1540. 41548. Nachdr. Reformation. Aldershot u. a. 2007. der Erstausg. Amsterd. 1966), die auch ins Susann El Kholi Italienische übertragen wurde (Venedig 1548), zudem die Germaniae descriptio (Basel Münsterer, Hanns Otto, * 28.7.1900 1530) u. die Mappa Europae (Ffm. 1536. Dieuze/Lothringen, † 30.10.1974 MünNachdr. Wiesb. 1965, hg. Klaus Stopp). Ausgaben: Briefe S. M.s. Lat. u. dt. Hg. Karl Heinz Burmeister. Ffm. 1964. – Abraham bar Chija: Sphaera mundi. Hg. S. M. Basel 1546. Nachdr. Amsterd. 1968. – Die Planetentafeln des S. M. Codex Palatinus Latinus 1368. 2 Bde. 1: Faks. 2: Einf. v. Sybille Schadl. Zürich 1989. Ital.: Le tavole dei planeti di S. M. Cod. pal. lat. 1368. Mailand 1990. – Spiegel der wyßheit. 2 Bde. Hg. Romy Günthart. Bd. 1: Einf. u. Ed.; Bd. 2: Komm. Mchn. 1996. – Die Löbl. u. wyt berümpt Stat Basel mit umbligender Landtschafft [...]. Basel 1538 [Karte]. Nachdr. Basel 1984. – Elektronische Ressourcen: s. http://www.philological.bham.ac.uk/bibliography/mi.html u. Slg. Hardenberg. Literatur: Bibliografie: Karl Heinz Burmeister: S. M. Eine Bibliogr. Wiesb. 1964. – Weitere Titel: Ludwig Geiger: M. In: ADB. – Viktor Hantzsch: S. M. Leben, Werk, wiss. Bedeutung. Lpz. 1898. – K. H. Burmeister: S. M. Versuch eines biogr. Gesamtbildes. Basel/Stgt. 1963. Lpz. 21969. – Hans Jürgen Horch: Bibliogr. Notizen zu einigen Ausgaben der ›Kosmographie‹ v. S. M. u. ihren Varianten. In: Gutenberg-Jb. (1974), S. 139–151. – S. M. (1488–1552). Kat. zur Ausstellung aus Anlaß des 500. Geburtstages am 20. Jan. 1966 im Museum – Altes Rathaus, Ingelheim am Rhein. Hg. v. der Stadt Ingelheim am Rhein. Fernwald 1988. – Joa-
chen. – Lyriker, Verfasser medizinischer u. volkskundlicher Schriften.
Der Offizierssohn verbrachte seine Jugend in Pasing u. Augsburg. Er studierte Medizin u. war als Arzt tätig, seit 1945 als Facharzt für Dermatologie in München. In Augsburg gehörte er zum Kreis um Brecht, über den er später ein Buch schrieb (Bert Brecht. Erinnerungen aus den Jahren 1917–22. Zürich 1963). Seine Gedichte veröffentlichte M. nur in Zeitungen u. Privatdrucken (Fünf Balladen. Augsb. 1925. Das Passional. Augsb. 1926); einige Gedichtzyklen (u. a. Von den Helden der Gegenwart, 1932) u. Hörspiele (u. a. Spiel vom Krumbacher verlorenen Sohn, 1934) wurden im Bayerischen Rundfunk gesendet. Erst eine Nachlassedition (Mancher Mann. Gedichte. Ausgew. u. mit einem Nachw. v. Manfred Brauneck. Ffm. 1980) machte M.s lyr. Schaffen bekannt. Bedeutend ist v. a. die kraftvollfarbige Balladendichtung der Frühzeit, in der sich das anarchist. Lebensgefühl des Außenseiters in pathet. Träumen von Abenteurerleben u. existentieller Bewährung artikuliert. Seefahrer, Pioniere oder Waldgänger, die aus
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der bürgerl. Zivilisation ausbrechen, werden zum Idol. M.s literar. Vorbilder sind Villon, Francis Brett Harte u. Wedekind. Der romant. Heroismus wird früh gebrochen durch Reflexionen der Verunsicherung; später treten die Leiden u. Freuden der Schwachen in den Vordergrund, die letzten Gedichte thematisieren Alter u. Tod. Nach dem Krieg widmete sich M. volkskundl. Studien u. veröffentlichte Arbeiten zur Amulettforschung u. Volksmedizin; postum erschien Amulettkreuze und Kreuzamulette. Studien zur religiösen Volkskunst (Hg. M. Brauneck. Regensb. 1983). Literatur: Hans J. Schütz: ›Ein dt. Dichter bin ich einst gewesen‹. Vergessene u. verkannte Autoren des 20. Jh. Mchn. 1988, S. 218–222. – Tom Kuhn: ›Ja, damals waren wir Dichter‹: H. O. M., Bertolt Brecht u. die Dynamik literar. Freundschaft. In: Der junge Brecht. Hg. Helmut Gier u. Jürgen Hillesheim. Würzb. 1996, S. 44–64. Dieter Sudhoff † / Red.
Münter, Friedrich (Christian Karl Heinrich), * 14.10.1761 Gotha, † 9.4.1830 Kopenhagen; Grabstätte: ebd., Kirchhof der deutschen Petrikirche. – Theologe, Altertumsforscher; Dramatiker. M.s Vater Balthasar übersiedelte 1765, nach seiner Berufung zum Hauptprediger an der dt. Petrikirche, mit seiner Familie nach Kopenhagen. Von seinem als Dichter geistl. Lieder bekannten Vater verfasste M. später einen Lebensabriss (Kopenhagen 1793). Der Bruder der Dichterin Friederike Brun genoss eine sorgfältige private Erziehung u. den Umgang mit den in seinem Elternhaus verkehrenden Gelehrten u. Dichtern, u. a. Niebuhr, Gerstenberg u. Klopstock. Dieser ermutigte ihn zu eigenen Dichtungen. 1778 bezog M. die Universität Kopenhagen zum Theologiestudium. Er war befreundet mit dem dän. Dichter Ewald u. mit Friedrich Leopold Stolberg, der mit Klopstock für die Veröffentlichung einiger Dramen M.s sorgte, so z.B. Richard und Blondel (in: »Teutscher Merkur«, Bd. 34, April 1781, S. 3–18), Der Götterkampf (in: »Deutsches Museum« I, S. 289–315) u. Die Erscheinung: Ansichten über die Bestimmung der Poesie (in: »Deutsches Mu-
Münter
seum« II, S. 197–219). Ganz im Sinne seiner Dichterfreunde waren diese Produkte von den drei Hauptideen des Sturm und Drang – Vaterland, Freiheit u. Poesie – beseelt. M. unternahm 1781/83 Reisen durch Deutschland u. setzte sein Studium in Göttingen fort. Hier wurde er in den Illuminatenorden aufgenommen, für den er eine Selbstbiographie verfasste, die im Band 3 seiner Tagebücher enthalten ist. 1784–1787 führte ihn eine lange Reise bis nach Sizilien, die ihm die Bekanntschaft u. Freundschaft vieler europ. Künstler, Dichter u. Gelehrter eintrug. Die Reise diente ihm auch zur Verbreitung der Gleichheitsideen des Illuminatenordens. In Neapel schloss er enge Freundschaft mit dem Staatstheoretiker Gaetano Filangieri. Die Aufzeichnungen in seinem Reisetagebuch dienten M. zu den Nachrichten von Neapel und Sizilien (Kopenhagen 1790), in denen er die Wünsche der ital. Intellektuellen nach Reformen in der Verfassung der kath. Kirche u. der Länder Unteritaliens vertrat. Die Reise nutzte M. auch zu Altertumsforschungen u. zum Sammeln alter Münzen u. Medaillen, wobei er bei Goethe in Rom ähnl. Interessen weckte. Der 1784 in Fulda zum Dr. phil. promovierte M. wurde 1788 in Kopenhagen zum a. o., 1790 zum o. Prof. der Theologie u. 1796 zum Rektor der Universität ernannt. 1791 heiratete er in Lübeck Maria Elisabeth (Elisa) Krohn. 1808 wurde er Bischof des Stiftes Seeland, setzte aber auch seine literar. Arbeit fort. Die meisten seiner Schriften zur Kirchen- u. Religionsgeschichte sind in dt. oder lat. Sprache abgefasst. Eine reiche Quelle kulturhistor. Notizen sind sein von Ojvind Andrasen herausgegebener Briefwechsel (3 Bde., Kopenhagen/Lpz. 1934) u. seine Tagebücher (3 Bde., Kopenhagen/Lpz. 1937). Weitere Werke: Om Hierarchiets Fremgang under Pave Innocenz. Kopenhagen 1784. – Die Offenbarung Johannis (metrisch ins Dt. übers.). Kopenhangen 1784. 21806. – Kardinal Stefano Borgia. Kopenhagen 1805. Literatur: Carstens: M. In: ADB. – Edith Rosenstrauch-Königsberg: Freimaurer, Illuminat, Weltbürger. F. M.s Reisen u. Briefe in ihren europ. Bezügen. Essen 1984. – Viktoria Strohbach-Hanko: M. In: Bautz. Ingrid Sattel Bernardini / Red.
Müntzer
Müntzer, Münzer, Thomas, * um 1489 (?) Stolberg/Harz, † 27.5.1525 Mühlhausen/ Thüringen. – Theologe, Prediger, Bauernkriegsführer. M. studierte in Leipzig ab 1506/07 u. in Frankfurt/O. ab 1512/13 (Magister artium, Baccalaureus biblicus). Am 6.5.1514 erhielt er eine Messpriesterpfründe in Braunschweig; 1515/16 war er Propst am Kanonissenstift in Frose bei Aschersleben. Von Winter 1517/18 bis 1519 führte er in Wittenberg seine humanist. u. theolog. Studien fort, unterbrochen von einer Reise nach Franken u., Anfang 1519, von einem Aufenthalt in Orlamünde. Hier las er die Predigten Johannes Taulers, dessen Mystik ihn stark beeinflusste. Ostern 1519 attackierte M. in Jüterbog in drei Predigten die kirchliche Hierarchie. Nach Tätigkeit als Nonnenbeichtvater in Beuditz bei Weißenfels/Thüringen im Winter 1519/20 wirkte er (Mai 1520 bis 16.4.1521) als Prediger in Zwickau. Anschließend unternahm er zwei erfolglose Missionsreisen nach Böhmen u. Prag, die in der Prager Protestation (Nov. 1521) gipfelten. Neben der Absage an die röm. Kirche markierte M. bereits hier von Martin Luther abweichende Positionen durch seine Betonung der lebendigen Offenbarung neben der Hl. Schrift u. sein apokalypt. Bewusstsein, das bevorstehende Gericht als Gottes Knecht mit zu vollziehen. Aus der Prager Zeit stammen auch die Randbemerkungen zu Cyprian und Tertullian (Landesbibl. Dresden, Mscr. Dresd. App. 747). Von März 1523 bis Aug. 1524 schuf M. in Allstedt dt. Gottesdienstagenden (Deutsches Kirchenamt u. Deutsch-evangelische Messe. Beide gedruckt 1524. Zur Messe ferner Ordnung und Berechnung des Deutschen Amts zu Allstedt. Eilenburg 1524). Unter weitgehender Beibehaltung des alten Ritus hat M. die hergebrachten liturg. Texte durch freie Übersetzungen u. eigene Liedschöpfungen seinen theolog. Anliegen angenähert. Hier wie in Ein ernster Sendbrief an seine lieben Brüder zu Stolberg, unfüglichen Aufruhr zu meiden ([Eilenburg] 1523) schlägt sich das anfängl. Bemühen M.s um eine Verständigung mit Luther nieder. Um die Jahreswende 1523/24 stellte M. in der Protestation oder Entbietung u. in der Schrift Von
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dem gedichteten Glauben (beide [Eilenburg] 1524) dem allein auf die göttl. Gnade bauenden Glauben Luthers seine Predigt von einem in Verfolgung bewährten Glauben gegenüber. Die Reaktion M.s auf Repressionen Graf Ernsts von Mansfeld beschwor die Gefahr gewaltsamer Auseinandersetzung zwischen dem Allstedter Bund M.s u. dem Grafen herauf. In der u. d. T. Auslegung des anderen Unterschieds Danielis des Propheten (Allstedt 1524) gedruckten Fürstenpredigt vom 13.7.1524 rief M. die sächs. Fürsten zum Einschreiten gegen die das Evangelium bedrückenden Obrigkeiten auf. M.s Flucht aus Allstedt am 7./8. Aug. ist auch eine Reaktion auf Luthers Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührerischen Geist. Luthers Anklage vor den Fürsten setzte M. in der Hochverursachten Schutzrede und Antwort wider das geistlose sanftlebende Fleisch zu Wittenberg eine Verteidigungsrede u. Gegenklage vor dem Tribunal Christi gegenüber. Gleichzeitig erfolgte die Abrechnung mit Luthers Theologie der »großen Hansen« in der Ausgedrückten Entblößung des falschen Glaubens der ungetreuen Welt (beide gedruckt [Nürnb.] 1524). Seit sich die Fürsten einem Bündnis versagt hatten, war M. überzeugt, dass zur Durchsetzung des göttl. Willens die Gewalt von den feudalen Obrigkeiten an das gemeine Volk übergehen müsse. Damit kam das revolutionäre Element in M.s Wirken. In Mühlhausen/ Thüringen endete eine erste Phase von M.s Agitation im Sept. 1524 mit der Ausweisung. Nach einer Reise durch Süddeutschland (Nürnberg, Basel) u. Predigt in Grießen im Klettgau bei den aufständ. Bauern kehrte M. im Febr. 1525 nach Mühlhausen zurück. Den thüring. Aufstand (ab April 1525) versuchte er im Sinne seiner religiösen Zielsetzung zu lenken, scheiterte jedoch in der Schlacht von Frankenhausen am 15.5.1525. Durch die luth. Polemik als Schwärmer u. Aufrührer gebrandmarkt, blieb M. eine offene Nachwirkung zunächst versagt. Jedoch wurde sein theolog. Gedankengut im Dissidentismus u. Kryptodissidentismus des 16. u. 17. Jh., teilweise aber auch in der liturg. Tradition, anonym weitergegeben. Die Her-
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meneutik M.s wirkte über die Schriften Johannes Bünderlins (1529/30) im Weigelianismus. Nach einer teilweise positiven Würdigung durch den Pietisten Gottfried Arnold (1699/1700) wurde M., vermittelt durch Wilhelm Zimmermann u. Friedrich Engels, in der dt. Arbeiterbewegung u. in der Erbepflege der DDR rezipiert, hier interpretiert als Protagonist der revolutionären Klassenlinie in der dt. frühbürgerl. Revolution. Die Feier von M.s 500. Geburtstag im Jahr 1989 bedeutete einen Höhepunkt u. das Ende der durch die SED propagierten sozialist. Verehrung M.s. Diese Entwicklung hatte einerseits einen Rückgang des histor. Forschungsinteresses an M. zur Folge, andererseits entfaltete sich mit der sprachwiss. M.-Forschung ein Sondergebiet der Forschung stärker als zuvor. Neue Forschungsimpulse werden von dem angekündigten Erscheinen einer krit. Gesamtausgabe von M.s Schriften u. Briefwechsel erwartet. Ausgaben: Schr.en u. Briefe. Hg. Günther Franz. Gütersloh 1968. – Dt. Evang. Messe. Hg. Siegfried Bräuer. Bln./DDR 1988. – The Collected Works of T. M. Hg. u. übers. v. Peter Matheson. Edinburgh 1988. – Bubenheimer 1989 (s. u., S. 237–310). – Schr.en, liturg. Texte, Briefe. Ausgew. u. in nhd. Übertragung hg. v. Rudolf Bentzinger u. Siegfried Hoyer. Bln./DDR 1990. – Krit. Gesamtausg. Im Auftrag der Sächs. Akademie der Wiss.en hg. v. Helmar Junghans. Lpz. 2004 ff. Bd. 3: Quellen zu T. M. Bearb. v. Wieland Held u. S. Hoyer. 2004. Literatur: Bibliografie: Günther Franz: Bibliogr. der Schr.en T. M.s. In: Ztschr. des Vereins für Thüring. Gesch. u. Altertumskunde N. F. 34 (1940), S. 161–173. – Weitere Titel: Ernst Bloch: T. M. als Theologe der Revolution. Mchn. 1921. Lpz. 1989. – Hans O. Spillmann: Untersuchungen zum Wortschatz in T. M.s dt. Schr.en. Bln./New York 1971. – Max Steinmetz: Das M.-Bild v. Martin Luther bis Friedrich Engels. Bln./DDR 1971. – Walter Elliger: T. M. Leben u. Werk. Gött. 1975. 31976. – Steven D. Martinson: Between Luther and M. The Peasant Revolution in German Drama and Thought. Heidelb. 1988. – M. Steinmetz: T. M.s Weg nach Allstedt. Bln./DDR 1988. – Siegfried Bräuer u. Helmar Junghans (Hg.): Der Theologe T. M. Bln./DDR 1989. – Ulrich Bubenheimer: T. M. Herkunft u. Bildung. Leiden 1989. – Gerhard Brendler: T. M. Geist u. Faust. Bln./DDR 1989. – Hans-Jürgen Goertz: T. M. Mystiker, Apokalyptiker, Revolutionär. Mchn. 1989. – Eric W. Gritsch: T. M. A Tra-
Münzberg gedy of Errors. Minneapolis 1989. – Ich T. M. eyn knecht gottes. Histor.-biogr. Ausstellung des Museums für Dt. Gesch. Berlin, 8.12.1989–28.2.1990. Bln./DDR 1989. – Tom Scott: T. M. Theology and Revolution in the German Reformation. Houndmills/London 1989. – Günter Vogler: T. M. Bln./ DDR 1989. – Abraham Friesen: T. M., a Destroyer of the Godless. The Making of a Sixteenth-Century Religious Revolutionary. Berkeley 1990. – Roswitha Peilicke u. Joachim Schildt (Hg.): T. M.s dt. Sprachschaffen. Referate der internat. sprachwiss. Konferenz Berlin, 23.-24.10.1990. Bln. [1990]. – Bernhard Lohse: T. M. in neuer Sicht. M. im Licht der neueren Forsch. u. die Frage nach dem Ansatz seiner Theologie. Hbg./Gött. 1991. – Hans Otto Spillmann (Hg.): Linguist. Beiträge zur M.-Forsch. Studien zum Wortschatz in T. M.s dt. Schr.en u. Briefen. Hildesh./Zürich/New York 1991. – Dieter Fauth: T. M. in bildungsgeschichtl. Sicht. Köln/ Weimar/Wien 1993. – Ingo Warnke: Wörterbuch zu T. M.s dt. Schr.en u. Briefen. Tüb. 1993. – G. Vogler: M. In: NDB. – H.-J. Goertz: Radikalität der Reformation. Aufsätze u. Abhandlungen. Gött. 2007. Ulrich Bubenheimer
Münzberg, Olav, auch: Detlev Punt, * 25.10.1938 Gleiwitz. – Kunst- u. Religionswissenschaftler, Lyriker, Erzähler, Essayist. In den Wirren des Zweiten Weltkriegs übersiedelte M.s Familie 1944 zunächst nach Sulzfeld, dann nach Kitzingen/Unterfranken. M. studierte Rechtswissenschaften u. Philosophie in München. 1962 zog er als Rechtsreferendar nach Berlin u. studierte Philosophie, Kunstgeschichte u. Religionswissenschaften, 1972 erfolgte die Promotion bei Klaus Heinrich. 1973 war er Mitbegründer der »Neuen Gesellschaft für Literatur«, deren ehrenamtl. Vorsitzender er 1985–1990 war. Im Zuge des vielfältigen kulturpolit. Engagements wurde er 1989 Vorsitzender des Landesschriftstellerverbandes Berlin u. von 1990–1992 Vorsitzender des vereinigten VS Berlin, später auch Mitgründer des Literaturhauses u. Honorarprofessor an der Universität der Künste. Seit 1972 ist M. Mitarbeiter der »Frankfurter Hefte«, seit 1986 der »Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte«, von 1974 bis 1990 bei der Zeitschrift »Ästhetik und Kommunikation«. In weiteren Zeitschriften veröffentlichte M. zahlreiche Re-
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zensionen zur Literatur u. Kunst der Gegenwart mit zunehmendem Interesse am internat. Literatur- u. Theateraustausch. In den ersten wiss. Arbeiten wandte sich M. kunstsoziologischen Fragestellungen zu. Die Schwierigkeit Kunst zu machen (Ffm. 1973; zus. mit weiteren Verfassern) ist eine empir. Arbeit über die Lage der Kunstproduzenten in Deutschland. Ein späterer Arbeitsschwerpunkt wurde die mexikan. u. europ. Wandmalerei des 20. Jh. In literar. Arbeiten verwendet M. kontrastive Bilder, weniger Metaphern. Er betont die Ruhe der Wahrnehmung, sucht in behutsamen Reflexionen Bewältigungsmöglichkeiten der Gegenwart, illusionslos zwar, aber mit entschiedenem Blick für soziale Differenzen. Weitere Werke: Rezeptivität u. Spontaneität. Diss. Bln. 1972. Ffm. 1974. – Eingänge u. Ausgänge. Bln. 1975 (L.). – Ich schließe die Tür u. fange zu leben an. Bln. 1983 (L. u. P.). – Geburt der mexikan. Wandmalereibewegung (zus. mit Michael Nungesser). Bln. 1984. – Step Human Into this World. London 1991 (L.). – BücherStädte. Bln. 1998 (L.). – Moreny Moränen. Krakau 2000 (L.). – Herausgeber: Aufmerksamkeit. Ffm. 1979 (zus. mit Lorenz Wilkens). – Diego Rivera. Bln. 1987 (zus. mit M. Nungesser). – Vom alten Westen zum Kulturforum. Bln. 1988 (zus. mit Claudio Lange). – Die Biermannausbürgerung u. die Schriftsteller. Ein dt.-dt. Fall. Köln 1994 (zus. mit R. ChotjewitzHäfner, C. Gansel, A. Kalckhoff u. T. Sailer). – Lit. vor Ort. Bln. 1995 (zus. mit Bernd Erich Wöhrle). – Brüche u. Übergänge. Gedichte u. Prosa aus 23 Ländern. Bln. 1999 (zus. mit E. de Roos u. D. Straub). – Im Zwiespalt. Bln. 1999 (zus. mit E. de Roos u. A. Gustas). Waldemar Fromm
Münzenberg, Willi, Wilhelm, * 14.8.1889 Erfurt, † Juni 1940, ermordet (?) bei SaintMarcellin/Département Isère, tot aufgefunden 21.10.1940; Grabstätte: Montagne/Dauphiné. – Verleger. Der Sohn eines Försters u. Gastwirts arbeitete in einer Schuhfabrik, war seit seinem 17. Lebensjahr in der sozialist. Bewegung aktiv, ließ sich 1910 in Zürich nieder, wo er 1915 zum ersten Mal Lenin traf u. Sekretär der internationalen sozialdemokrat. Jugendorganisationen wurde. Nach der Beteiligung am Zürcher Hungerstreik 1918 nach
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Deutschland ausgewiesen, wurde M. 1921 Erster Sekretär der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH). Zunächst als Organisation für die Hungerhilfe in der Sowjetunion gedacht, wurde die IAH zur Keimzelle u. Mutterfirma des späteren Münzenberg-Konzerns. M. war der geborene Propagandist u. Organisator. Er gründete u. leitete in den 1920er Jahren bis zu seiner Emigration 1933 zahlreiche Zeitungen u. Wochenschriften, unter denen die »Arbeiter Illustrierte Zeitung« (»A-I-Z«. Bln. 1925–33. U. d. T. »Sichel und Hammer«. Bln. 1922–24) herausragt – sie wurde mit dem ersten professionellen Einsatz der Fotoreportage im internat. Pressewesen Vorbild für die späteren Bildreportagen in den USA (»Life«), u. publizierte seit 1930 die Fotomontagen John Heartfields. Ferner gründete M. die Filmproduktions- u. Verleihfirmen Meschrabpom u. Prometheus, mit denen er sowjetische (Sergej M. Eisenstein, Wsewolod I. Pudowkin) u. dt. Regisseure (Piel Jutzi) förderte, u. Verlage wie den Neuen Deutschen Verlag u. den Buchclub Universum-Bücherei für Alle, für dessen Buchprogramm M.s Lebensgefährtin Babette Gross verantwortlich war. Der Münzenberg-Konzern galt in der Weimarer Republik als rotes Pendant zum Hugenberg-Konzern, ohne jedoch dessen Umsatzzahlen zu erreichen. So erlangte die ausschließlich durch Kolporteure vertriebene »A-I-Z« eine Auflage von nie mehr als 300.000, »Die Welt am Abend« von nur 170.000 Exemplaren. Im Pariser Exil setzte M., dessen Vermögen in Deutschland beschlagnahmt worden war, seine antinationalsozialist. Agitation fort; so zunächst mit der Organisation des Londoner Gegenprozesses zum Reichstagsbrand-Prozess, mit dem Ziel nachzuweisen, dass die Nationalsozialisten, nicht Kommunisten die Brandstifter waren (Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror. Basel 1933). Noch einmal versuchte er durch Verlagsgründungen (Editions du Carrefour, wo Otto Strassers Weißbuch über die Erschießungen des 30. Juni erschien), durch die Herausgabe von Periodika (»Der Gegenangriff«. Paris 1933–36. »Die Zukunft«. Paris 1938–40) u. die Gründung eines Volksfrontausschusses sowie der
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Deutsch-Französischen Gesellschaft – mit W. M. Bln. 2007. – Alain Dugrand u. Frédéric dem radikalsozialist. Präsidenten der frz. Laurent: W. M.: Artiste en révolution (1889–1940). Deputiertenkammer Édouard Herriot an der Paris 2008. Michael Behnen Spitze – sein beispielloses Organisationstalent dem Kampf gegen den NationalsozialisMünzer, Hieronymus, * 1437 Feldkirch, mus zur Verfügung zu stellen. 1939 wurde † 27.8.1508 Nürnberg. – Arzt, Geograf, M., der in der Weimarer Republik ideoloKartograf, Astronom, Büchersammler, gisch dem äußersten linken Flügel der KPD Humanist. angehört hatte u. sich spätestens seit 1936 der Politik der Komintern entfremdet hatte, aus M. entstammte einer urspr. in Nürnberg beder KPD ausgeschlossen. Er konnte der Säu- heimateten Familie. Der Beruf des Vaters ist berungswelle Stalins jedoch entgehen. Auf unbekannt, ebenso die Anfänge M.s, der erst der Flucht vor den vorrückenden dt. Truppen 1464 mithilfe einiger Gönner sein Studium wurde der seit Mai 1940 von den Franzosen an der Universität Leipzig aufnahm (Baccainternierte M. wahrscheinlich das Opfer eines laureus 1467; Magister 1470). 1470–1475 lehrte M. an der Leipziger Artistenfakultät u. stalinist. Fememordes. Weitere Werke: Erobert den Film. Winke aus studierte dann Medizin in Pavia (Dr. med. der Praxis für die Praxis proletar. Filmpropaganda. 1477). Seit Mai 1478 wirkte er als Arzt in Bln. 1925. – M.-Konzern. Sonderdr. des Roten Nürnberg (1480 Bürger, 1493 Genannter des Aufbau. Bln. 1927. – Die dritte Front. Aufzeich- größeren Rats). 1480 heiratete er die reiche nungen aus 15 Jahren proletar. Jugendbewegung. Kaufmannstochter Dorothea Kiefhaber; seine Bln. 1930. 21978. – Solidarität. Zehn Jahre Internat. einzige Tochter vermählte sich 1498 mit Arbeiterhilfe. Bln. 1931. – Aufgaben einer dt. Hieronymus Holzschuher. M. war am HanVolksfront. Paris/New York 1937. – Propaganda als delsgeschäft seines Bruders Ludwig beteiligt, Waffe. Paris 1937. von dem er sich 1507 seinen Anteil in Höhe Literatur: Helmut Gruber: W. M. In: Internavon 14.000 Gulden auszahlen ließ. tional Review of Social History 10,2 (1965), Der weit gereiste M. galt als eine geograf. S. 188–210. – Babette Gross: W. M. Eine polit. Biogr. Mit einem Vorw. v. Arthur Koestler. Stgt. Autorität u. wurde in Humanistenkreisen 1967. Lpz. 1991. – Rolf Surmann: Die M.-Legende. wegen seiner auserlesenen Büchersammlung Köln 1983 (mit themat. Bibliogr., S. 292–300). – geschätzt. Seine handschriftlich überlieferten Walter Uka: W. M. Probleme einer linken Publi- Werke (Staatsbibliothek München) sind, von zistik im Exil. In: Exilforsch. 7 (1989), S. 40–50. – einigen medizin. Konsilien u. dem Libellus de Bärbel Schrader: W. M.s Verlags- u. Pressearbeit für natura vini (1479) abgesehen, geograf. Thedie internat. Arbeiterbewegung. In: WB 35 (1989), men gewidmet. In seinem Itinerarium (BeS. 1261–1276. – Peter Vonderhagen (Hg.): W. M. schreibung einer Reise durch Spanien, PorEine Dokumentation zur Münzenberg-Tagung im tugal, Frankreich usw., 1494) zeigt sich M. als Sept. 1989 in Zürich. Zürich 1990. – Harald Wessel: M.s Ende. Ein dt. Kommunist im Widerstand ge- ausgezeichneter Beobachter. Ein eingeschogen Hitler u. Stalin. Die Jahre 1933–40. Bln. 1991. – bener Bericht, De inventione Africae maritimae, W. M. Un homme contre. Colloque international, ist erhalten, nicht aber ein Bericht über die 26–29 mars 1992, Aix-en-Provence. Aix-en-Pro- Entdeckung Amerikas, De inventione insularum vence 1993. – Stephen Koch: Double Lives: Stalin, Indicarum. In portugies. Sprache überliefert W. M. and the seduction of the intellectuals. Lon- ist der entdeckungsgeschichtlich wichtige don 1995. – Tania Schlie u. Simone Roche (Hg.): W. Brief A carta que enviou H. Montario (1493) im M. (1889–1940). Ffm. u. a. 1995. – Sean McMeekin: Anhang zu Alvaro da Torres Tractado da spera The Red Millionaire: A Political Biography of W. do mundo (Lissabon o. J.). M., Moscow’s Secret Propaganda Tsar in the West. M. trug bei zum Globus des Martin Behaim New Haven/London 2003. – Jörg Thunecke: W. M. (1492) u. zur Weltchronik des Hartmann u. die Editions du Carrefour (1933–37). In: Lion Feuchtwanger u. die deutschsprachigen Emigran- Schedel (1493), für die er eine Deutschlandten in Frankreich v. 1933 bis 1941. Hg. Daniel karte lieferte. Verschollen ist seine Karte AleAzuélos. Bern u. a. 2006, S. 377–398. – Dieter mannia inferior, ebenso wohl auch seine Schiller: ›Propaganda als Waffe‹: Kurt Kersten u. astronom. Werke.
Muhr Literatur: Richard Stauber: Die Schedelsche Bibl. Freib. i. Br. 1908. – Joseph Fischer: Der Nürnberger Arzt Dr. H. M. († 1508) aus Feldkirch als Mensch u. Gelehrter. In: Stimmen der Zeit 96 (1919), S. 148–168. – Ernst Philipp Goldschmidt: H. M. u. seine Bibl. London 1938. – Gundolf Keil u. Marianne Wlodarczyk: M. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Karl Heinz Burmeister: Die Brüder H. u. Ludwig M. In: Montfort. Vjs. für Gesch. u. Gegenwart Vorarlbergs 53 (2001), S. 11–29. – Albrecht Classen: Die iber. Halbinsel aus der Sicht eines humanist. Nürnberger Gelehrten. H. M.: ›Itinerarium hispanicum‹ (1494–95). In: MIÖG 111 (2003), S. 317–341. – Klaus Herbers: Die ›ganze› Hispania: der Nürnberger H. M. unterwegs – seine Ziele u. Wahrnehmung auf der Iber. Halbinsel (1494–95). In: Grand Tour. Adeliges Reisen u. europ. Kultur vom 14. bis zum 18. Jh. Hg. Rainer Babel u. Werner Paravicini. Ostfildern 2005, S. 293–308. Karl Heinz Burmeister / Red.
Muhr, Adelbert, * 9.11.1896 Wien, † 10.3. 1977 Wien. – Erzähler.
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2 Bde., Wien 1960). Eine schmale, aber unterhaltsame Sammlung autobiogr. Impressionen erschien 1962: Vom alten Jelinek-PollakStreinz zu mir selbst (Wien). M., der in Wien u. am oberösterr. Irsee lebte, litt im Alter unter einer Vereinsamung, die selbst aufzubrechen er nicht mehr die Kraft hatte; die z.T. unvollendeten Arbeiten bitterer Altersweisheit u. der gesamte schriftl. Nachlass gingen verloren. Weitere Werke: Der geheimnisvolle Ostrong. St. Pölten 1942 (E.). – Die Reise zum Nibelungenlied. Wien 1944 (N.). – Die Frau des Kapitäns. Urauff. Radio Wien 1948 (Hörsp.). – Die Botschaft am Ohio. Wien 1952 (Jugendbuch). – Die Botschaft des Apfels. Wien 1955 (E.). – Der feurige Elias. Europas kleine Bahnen. Wien 1976. Literatur: Norbert Langer: Dichter aus Österr. 3. F., Wien 1958, S. 51–56. – Gerhard Fritsch: A. M. In: Wort in der Zeit (1962). – Hermann Schreiber: Über A. M. (1896–1977). In: LuK 329/330 (1998), S. 105–110. Hermann Schreiber / Red.
M., 1916–1930 Angestellter der BinnenMuhr, Caroline, eigentl.: Charlotte Puhl, schifffahrt der Donau, machte diesen * 20.5.1925 Essen, † 13.1.1978 Bonn »Schicksalsstrom« der k. k. Monarchie zu (Freitod). – Verfasserin von Romanen, feseinem Hauptthema u. war mit dem Roman ministischer Lyrik u. Liedertexten, HörDer Sohn des Stromes (Bln. 1945) im Nachspielen u. eines Tagebuchs. kriegsösterreich erfolgreich. Dieser bedeutendste seiner Romane vereint menschl. M. studierte Philosophie, Soziologie u. PsySchicksale mit Sprache u. Mythen der Land- chologie in Marburg u. Köln u. promovierte schaft sowie der eleg. Magie des großen 1954 über Nietzsche und die Transzendenz Flusses. Allen Cliquen abhold, liebenswürdi- (Köln). Nach Tätigkeit in der polit. Meiger Einzelgänger im Dauerdialog mit Wien nungsforschung u. bei der US-Botschaft in (das er als Landschaft begriff) u. Nieder- Bonn lebte sie als freie Autorin in Bonn-Bad österreich, nahm M. an literar. Betriebsam- Godesberg. Sie war aktiv in der Frauenbewekeit nie teil. An Substanz u. Erfolg des Do- gung. 1978 schied M. durch Freitod aus dem nauromans versuchte M. anzuknüpfen, in- Leben. dem er ihn zur Trilogie ausbaute (Sie haben uns 1970 erschien Depressionen. Tagebuch einer alle verlassen. Hbg. 1956. Die letzte Fahrt. Wien Krankheit (Köln; auch verfilmt). Der Bericht 1963. U. d. T. Das Lied der Donau. Romantrilogie. der Tagebuchschreiberin stellt nicht zuletzt Wien 1976). die Frage nach den gesellschaftl. Normen für Der Roman Theiß-Rhapsodie (Wien 1949. Gesundheit u. Normalität, als deren VorausHbg. 1960) verbindet eine romant. Liebesge- setzung eine rigorose Beschränkung des schichte mit folklorist. Elementen des österr.- Blicks u. seel. Empfindungslosigkeit erscheiungar. Raums. Neben Reisebüchern wie In der nen. M.s erster Roman, Freundinnen (Mchn. Zaubersonne der Rhône (Wien 1959) oder Und ruhig fliesset der Rhein (Hbg. 1953) beschäftigte 1974), erzählt anhand des Lebens zweier sich M. in kleineren Arbeiten mit seiner Schul- u. Studienfreundinnen, die sich als Heimat (Alt-Wien, heute. Wien 1946. Zwischen etwa 40-Jährige wiederbegegnen, von den Moldau und Donau. Wien 1948. Donau-Ausflüge. einander ausschließenden, aber gleicherma-
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ßen schlechten Lebensmöglichkeiten der Frauen in der männlich dominierten Gesellschaft. Ich-Erzählerin ist die Hausfrau Ruth, die am Ende des Romans vom Freitod der Freundin Edda zu berichten hat. Der Roman artikuliert Ideen der Neuen Frauenbewegung. Auch Huberts Reise (Köln 1978), die Geschichte eines Amtmanns in einem Bonner Ministerium, der fälschlich glaubt, an Krebs erkrankt zu sein u. einen misslingenden Selbstmordversuch unternimmt, handelt von Todeswunsch u. Todesfurcht, freilich am Ende auch von dem Entschluss, mit der Erfahrung von Tod u. Vergänglichkeit weiterzuleben. Lieselotte Voss / Red.
Muling, Mülich, Mulichius, Johann Adelphus, * um 1482 oder wenig später, wahrscheinlich in Straßburg, † nach dem 6.8.1523. – Arzt; humanistischer Schriftsteller. M. erhielt seine Schulbildung in Schlettstadt. Vermutlich nahm er gegen 1498 in Heidelberg das Studium der Artes auf. Allerdings fehlt der Nachweis der Immatrikulation; den Grad des Magisters hat er nie geführt u. wohl nicht erworben. Medizinische u. zgl. humanist. Interessen belegt schon seine erste Veröffentlichung, die 1505 in dem Sammeldruck Medicinarius Das Buch der Gesuntheit (Straßb.) erschienene dt. Übersetzung der beiden ersten Bücher von Marsilio Ficinos De vita. Wo u. wann er mit dem Medizinstudium begonnen u. es abgeschlossen hat, ist unbekannt. Als Studienort kommt u. a. Trier in Frage, wo M. sich zuerst 1507/08 aufhielt. 1512 versuchte er, nun »medicinarum licentiatus«, als Arzt in Straßburg Fuß zu fassen, ging aber 1513 nach Überlingen, 1514 nach Schaffhausen u. ließ sich dort auf Dauer als Stadtarzt nieder. In der Ärzteschaft der Region fand er neue Freunde, u. er stieß zum Gelehrtenkreis um Michael Eggenstorfer, den Abt von Kloster Allerheiligen. Erasmianischer Kritik an Kirche u. Geistlichkeit zugeneigt, hing er seit 1520, wie seine Briefe an Joachim Vadian zeigen, der reformatorischen Bewegung an. Sein letztes Lebenszeugnis ist ein Brief an Vadian vom 6.8.1523.
Muling
M. war von früh an Literat u. Übersetzer (meist unter dem Namen Johannes Adelphus), daneben von 1505 bis 1516 mit längeren Unterbrechungen Herausgeber (20 Werke antiker u. christlich-spätantiker, v. a. aber zeitgenöss. humanist. Autoren) u. Korrektor bei Straßburger Druckern. Maßgebliche Prägung erhielt er durch den oberrheinischen Humanismus. In den Straßburger Jahren gehörte er zu Jakob Wimpfelings nächster Gefolgschaft, genoss den Umgang mit Johann Geiler von Kaysersberg u. Sebastian Brant, der ihn als »gelehrt in allen Fakultäten« rühmte. Der Schriftsteller M. schrieb lateinisch u. deutsch, ist damit als Autortyp Brant u. Murner verwandt, doch überwiegt bei ihm der dt. Anteil bei Weitem. Dieser umfasst vornehmlich Übersetzungen oder dt. Bearbeitungen eigener Kompilate lat. Quellen. Die Erschließung von Wissen gerade für die des Lateins Unkundigen hat M., wie seine große Vorrede zu Doctor Keiserpergs Passion (Straßb. 1513) dokumentiert, als Lebensaufgabe betrachtet. Er fasst dort von seinen bisherigen Arbeiten zehn Stücke zu einer ersten Dekade zusammen, unterbreitet den Plan einer zweiten u. hofft mit einer dritten, »einem dritten zehenden [...] grosser werck der heiligen lerer«, einmal abschließen zu können. Von diesem schriftstellerischen Lebensprogramm hat er indes nur gut ein Drittel verwirklicht, u. noch weniger ist erhalten. Desungeachtet präsentiert sich das gedruckte Œuvre, das M. hinterließ, in einem beträchtl. Umfang u. einer ungewöhnlich reichen Vielfalt seiner Gegenstände. Schwerpunkt war zunächst die Übersetzung medizinischer Werke, nach Ficinos De vita (Das buch des lebens) die des Liber aggregationis des Ps.Albertus, des damals verbreitetsten Buches über die Kräfte von Kräutern, Steinen u. Tieren (Albertus Magnus. das Buch der versamlung [...]. Straßb. 1508), u. die Neuredaktion des Gart der gesuntheit (Straßb. 1509), beide anonym erschienen, aber durch M.s Werkliste der ersten Dekade für ihn bezeugt. 1508/09 kamen ebenfalls M.s Antikenübersetzungen zum Druck, die instruktiv gearbeiteten u. knapp kommentierten P. Virgilij Bucolica zü tütsch (Straßb.) u. die Übersetzung von Suetons Caesar-Vita, die er seiner Überarbeitung
Mulot
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von Matthias Ringmanns Caesar-Überset- Dt. Hum. – Weitere Titel: Charles Schmidt: Histoire zung beigegeben hatte, dazu die Übersetzung littéraire de l’Alsace. Bd. 2, Paris 1879. Neudr. von Brants Additiones zum Äsop u. die an Hildesh. 1966, S. 133–149 u. 401–406. – Joseph Heinrich Bebel anknüpfenden lat. Facetiae Knepper: Beiträge zur Würdigung des elsäss. Humanisten Adelphus M. mit bes. Berücksichtigung Adelphinae. Nach der Pause der Jahre 1510/11, seiner dt. Übersetzungen u. Gedichte. In: Alemandie sich durch Konzentration auf das Medi- nia 30 (1903), S. 143–192. – Franz Josef Worstzinstudium erklären mag, verfasste M. drei brock: Adelphus M.s Vergilübers. In: ZfdA 102 dt. Schriften zu der 1512 auf dem Reichstag (1973), S. 203–210. – Bernward Plate: Orendel – zu Trier von Kaiser Maximilian veranlassten König v. Jerusalem. Kreuzfahrerbewußtsein (Epos Erhebung des Hl. Rocks u. zur Geschichte des 12. Jh.) u. Leidenstheologie (Prosa v. 1512). In: seiner Translation. Ins histor. Fach, in das er Euph. 82 (1988), S. 168–210, bes. S. 195–201. – damit erstmals gegriffen hatte, fallen die Gerd Dicke: Heinrich Steinhöwels ›Esopus‹ u. seine 1513 folgende Übersetzung von Guillaume Fortsetzer. Mchn. 1994, S. 193–216. – F. Wittchow: Eine Frage der Ehre. Das Problem des aggressiven Caoursins Belagerungs- u. BefreiungsgeSprechakts in den Facetien Bebels, M.s, Frischlins schichte von Rhodos (Historia von Rhodis) u. u. Melanders. In: ZfG N. F. 2 (2001), S. 336–360. – 1514 die sie ergänzende, aus vielerlei Quellen F. J. Worstbrock: M. In: VL Dt. Hum. gesammelte Türckisch Chronica. Ein weiteres Franz Josef Worstbrock Arbeitsfeld wurde gleichzeitig die von Straßburger Druckern betriebene Überset- Mulot, Sibylle, früherer Name: S. M.-Déri, zung der großen Predigtzyklen Geilers von * 3.5.1950 Reutlingen. – Journalistin, Kaysersberg, an der sich M. mit Doctor Kei- Theaterautorin, Erzählerin, Übersetzerin. serspegrs [!] Passion (Straßb. 1514) u. Doctor keiserspergs pater noster (Straßb. 1515) beteilig- M. studierte Germanistik u. Romanistik u. te. Von 1516 bis 1519 schwiegen der Über- promovierte im Jahr 1977 in Tübingen mit setzer wie auch der Herausgeber M. fast ganz. einer Arbeit über Robert Musil. Die Einheit des vielfältigen Werkes der Seine beiden letzten Arbeiten, beide 1520 erschienen, die Übersetzung von Erasmus’ zumeist in Frankreich lebenden Autorin liegt Enchiridion militis Christiani nach dessen in der Wiederbelebung des kultivierten Erzweiter Auflage (1518) u. die aus zeitgenöss. zählens aus einer reserviert wohlwollenden u. mittelalterl. Quellen kompilierte Biografie Perspektive. Die moralische Empörung (etwa Kaiser Friedrich Barbarossas, hat er unge- über die frz. Kollaboration: Nachbarn. Zürich achtet der Verschiedenheit ihrer Gattungen 1995) wird durch narrative Affirmation geals Zwillingswerk betrachtet, den idealisie- bremst, wie umgekehrt die Lust am Erzählen renden Barbarossa weltlicher, das Enchiridion des Alltäglichen (Baby Eurydike. Innsbr. 1997) geistlicher Lebenslehre zugedacht. Die Zu- die Frage nach Moral, mehr noch nach Leeignung seines dt. Enchiridion an den Junker benssinn erst aufspürt: »Es gibt nur eines, das Hans von Schönau plädiert ob der Pflicht- den Traurigen fröhlich stimmt – erzähltes vergessenheit des Klerus, die er scharf kriti- Unglück.« (Liebeserklärungen. Zürich 1993, siert, für eine selbständige religiöse Laien- S. 7). Dabei scheut die Autorin auch oft behandelte Themen u. Motive nicht, etwa die bildung. Zölibatsproblematik (Einen Mann für sich alWeitere Werke: Sequentiarum luculenta interpretatio. Straßb. 1513. 1519. Hagenau 1519. – lein. Mchn./Zürich 1991) oder die mystifizierten Probleme einer Liebesbegegnung vor Ludus novus. [Basel] 1516. dem Hintergrund unterschiedlicher Kulturen Ausgabe: Johannes Adelphus: Ausgew. Schr.en. Hg. Bodo Gotzkowsky. Bln./New York 1974–80. (Das ganze Glück. Zürich 2001). Bes. aber geBd. 1: Barbarossa. Bd. 2: Historia v. Rhodis u. Die lingen ihr subtile Studien über familiale Verletzungen, etwa in der Mutter-Sohn-BeTürckisch Chronica. Bd. 3: Das Buch des Lebens. Literatur: Bibliografie: Bodo Gotzkowsky in: ziehung (Das Horoskop. Zürich 1997) oder in DDL, Reihe II, Abt. A: Autorenlexikon. Bd. 1, Geschwisterbeziehungen (Die unschuldigen S. 188–245; Abt. B: Forschungslit. Bd. 1, S. 47–53 Jahre. Zürich 1999). Umfassend sind ihre er(bis 1981). Neuere Bibliografie s. Worstbrock in VL zählten Studien über kleinstädt. Gemein-
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schaften (Nachbarn. Zürich 1995), über den aus der unverarbeiteten Vergangenheit mitbestimmten Zustand einer Familie (Die unschuldigen Jahre. Zürich 1999) oder über die Geschichte des Aufstiegs u. Niedergangs der vier Generationen einer Unternehmerfamilie (Die Fabrikanten. Zürich 2005). In Die Unwiderstehlichen (Zürich 2007) weitet die promovierte Journalistin ihre Untersuchungen auf Maniker u. Exzentriker aus, in denen sie dann aber doch etwas von »uns allen« entdeckt. M. ist auch als Übersetzerin der Romane von Mensje van Keulen, Hans Dorrestijn, Leon de Winter, Peter van Straaten, Rascha Peper u. Frits B. Hotz hervorgetreten (alle aus dem Niederländischen). Die journalist. Rezeption betont zumeist die amüsanten u. feinnervigen Schilderungen zwischenmenschlicher, zumeist partnerschaftl. oder familialer Verhältnisse u. die kultivierte Sprache, bemängelt aber den traditionellen Erzählstil. Weitere Werke: Der junge Musil. Seine Beziehung zu Lit. u. Kunst der Jahrhundertwende. Diss. Tüb. 1977. Stgt. 1977. – Richelieu oder Die Frauen. Mchn. 1982 (D., Verfassername: S. M.-Déri). – Sir Galahad. Porträt einer Verschollenen. Ffm. 1987 (E., Verfassername: S. M.-Déri). Literatur: Volker Ladenthin: Die wiederholte Vergangenheit. In: NDL 43 (1995), H. 5, S. 160–164. – Helmuth Kiesel: Beichtende bahnfahrende Damen. In: FAZ, 15.3.1997. – Volker Hage: Schwäb. Dreimädlhaus. In: Der Spiegel, 8.2.1999. – H. Kiesel: Du kommst auch darin vor. In: FAZ, 3.7.2001. – Julia Schröder: S. M. In: LGL. – Sabine Brandt: Das Holz der Historie. In: FAZ, 27.5.2005. Volker Ladenthin
Mundstock
wirklichung einer selbständigen Alpenrepublik nach Schweizer Muster, bestehend aus Nord- u. Südtirol (vgl. die Erzählung Dolomiten-Legende. Klagenf. 1948. Bozen 1981). Er verstand sich selbst als Südtiroler europ. Gesinnung u. alpenländ. Prägung. Diese Überzeugung machte ihn zum Gegner der NSSüdtirolpolitik, brachte ihn nach 1945 auch in Widerspruch zur offiziellen Politik Österreichs. Im Roman Zwei ohne Gnade (Lpz. 1931) ist der Wunsch nach einem unabhängigen Tirol in der Figur Oswald von Wolkensteins gespiegelt. Der Roman Maderneid (Klagenf. 1948), noch während des Kriegs konzipiert, stellt in der Liebesgeschichte eines Südtiroler Landedelfräuleins zur napoleonischen Zeit die polit. Verhältnisse seiner Heimat im Krieg verschlüsselt dar. Großen Erfolg hatte M. mit seinen Ski- u. Bergbüchern, v. a. mit der satir. Skifibel (Bln. 1933). In den 1950er Jahren wandte sich M. mehr u. mehr dem Malen von Landschaftsaquarellen zu. Das literar. Werk wurde 1964 mit dem Walther-von-der-Vogelweide-Preis ausgezeichnet. Weitere Werke: Gedichte. Bozen 1933. – Gedichte 1940–50. Bozen 1952 – Dolomiten-Trilogie: Tl. 1: Die falsche Straße. Wien 1934. Regensb. 1981. Tl. 2: Schatten im Schnee. Wien 1940. Regensb. 1981. Tl. 3: Und leise fällt der Schnee. Teilabdr. in: Südtiroler Monatsh.e für Leben, Kunst u. Kultur Jg. 1, Nr. 1–3 (1948); Jg. 2, Nr. 1–2 (1949). Regensb. 1982. – Meines Lebens Spur... H.-M.-Lesebuch. Hg. Günther Regensburger. Bozen 2000. Literatur: Paul Wimmer: Wegweiser durch die Lit. Tirols seit 1945. Darmst. 1978, S. 162–165. – Norbert C. Kaser: Südtirols Lit. der Zukunft u. der letzten 20 Jahre. Bd. 2: Prosa, Innsbr. 1988, S. 111–118. – Mathias Frei: H. M. Dichter u. Maler (1896–1981). Bozen 1996. Bernhard Fetz / Red.
Mumelter, Hubert, * 26.8.1896 Bozen, † 24.9.1981 Bozen; Grabstätte: Völs am Mundstock, Karl, * 26.3.1915 Berlin, Schlern/Südtirol. – Erzähler, Lyriker, † 31.8.2008. – Erzähler. Verfasser von Ski- u. Bergfibeln; Maler. Nach der Kriegsmatura u. freiwilligem Kriegsdienst studierte M. in Innsbruck (Dr. jur. 1921). Den Posten in einer Anwaltskanzlei gab er bald auf, um als Hüttenwart, Skilehrer u. freier Schriftsteller zu leben. Die Berglandschaft seiner Heimat Südtirol, insbes. der Schlern, ist prägendes Motiv seiner Texte. M.s polit. Traum war die Ver-
Durch Fürsprache kam der begabte Sohn eines Tapezierers 1929 auf ein Internat, wo er sich politisch betätigte u. für Schüleraufführungen Dramen schrieb. 1933 dem Kommunistischen Jugendverband beigetreten, wurde M. kurz vor dem Abitur wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« zu zwei Jahren Jugendgefängnis verurteilt. Danach war er als Packer u. Fräser tätig u. im antifaschist. Wi-
Mundt
derstand aktiv. Nach vier Semestern Maschinenbaustudium wurde er 1939 exmatrikuliert, 1942 zur Wehrmacht eingezogen u. 1944 wegen »Wehrkraftzersetzung« verhaftet. Im Dez. 1945 (KPD-Beitritt) kehrte M. aus der brit. Kriegsgefangenschaft in die SBZ nach Berlin zurück, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 2008 lebte. Als Berichterstatter für »Vorwärts« u. »Neues Deutschland« unterwegs, entstanden in den Nachkriegsjahren Feuilletons, Kurzgeschichten u. Skizzen zu Bodenreform u. industriellem Aufbau. Im Eisenhüttenkombinat Ost fand er den Stoff für den Aufbauroman Helle Nächte (Halle 1952. Weitere Fassungen 1952. 1958. Neuaufl. Rostock 2004). Fortan kam M. immer wieder mit der Kulturpolitik in Konflikt. Die Erzählung Die Stunde des Dietrich Conradi (Halle 1958) fiel der Kampagne gegen die »harte Schreibweise« zum Opfer, der Reportageband Wo der Regenbogen steigt (Halle 1970. Neuaufl. Rostock 2006) wurde beschlagnahmt. Viel diskutiert wurden auch die Antikriegsgeschichten des Bandes Bis zum letzten Mann (Halle 1957). In den 1980er Jahren legte M. seine Autobiografie vor (Meine tausend Jahre Jugend. Halle 1981. Neuaufl. Rostock 2005. Zeit der Zauberin. Halle 1985. Neuaufl. Rostock 2006). Weitere Werke: Der Messerkopf. Bln./DDR 1950 (E.). – Ali u. seine Abenteuer. Halle 1955. – Ali u. die Bande vom Lauseplatz. Bln./DDR 1958. – Die alten Karten stimmen nicht mehr. Reportagen. Halle 1960. – Gespenster-Edes Tod u. Auferstehung. Halle 1962. – Poesiealbum 29. Halle 1970. – Frech & frei. Halle 1970. – Die unsterbl. Macke. Verse aus dem Stiefel. Egelsbach u. a. 2001. Literatur: Gustav Schröder: K. M. ›Bis zum letzten Mann‹. In: Werkinterpr.en zur dt. Lit. 1986, S. 199–209. Gesine von Prittwitz / Red.
Mundt, Clara, Klara ! Mühlbach, Louise Mundt, Theodor, * 19.9.1808 Potsdam, † 30.11.1861 Berlin; Grabstätte: ebd., Friedhof der St. Matthäi-Gemeinde. – Redakteur, Erzähler, Herausgeber. M.s Vater, bei der Geburt des Sohnes bereits verstorben, war Rechnungsbeamter. Nach
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dem Besuch des Joachimsthalschen Gymnasiums (gemeinsam mit Kühne) studierte M. Jura, dann Philologie u. Philosophie in Berlin u. a. bei Boeckh, Lachmann u. Hegel. Zwar wurde er 1830 in Erlangen promoviert, gehörte jedoch zu den fortschrittl. Intellektuellen, denen der preuß. Staat die erstrebte akadem. Karriere versagte. M. wurde zum Berufsschriftsteller u. Journalisten, u. a. als Mitredakteur der renommierten »Blätter für literarische Unterhaltung« in Leipzig (1832/ 33). 1835 fiel er unter den von Menzel insinuierten Bundestagsbeschluss gegen das Junge Deutschland, nach eigener Einschätzung »aus einer ganz anderen Sphäre der geistigen Zeitentwicklung einfach ins Junge Deutschland hinübergenommen« (Geschichte der Literatur der Gegenwart vom Jahre 1789 bis zur neuesten Zeit. Bln. 1842. 21853, S. 631). Gleichwohl zeigt sich eine große Nähe in der Tendenz u. in den gewählten Formen. »Traditionell jungdeutsche und genuin Mundtsche Ideen und Metaphern wie die Beschwörung einer Zeitbewegung; die Emanzipations- und Bildungsbestrebungen ziehen sich wie ein roter Faden« (Hartmann 2003, s. u., S. 18) durch sein Werk. Kennzeichnend war auch die Vorliebe für Frankreich u. bes. »Paris, Hauptstadt der neuen Weltgeschichte« (Madelon, oder: Die Romantiker in Paris. Lpz. 1832, S. 3). Trotz der Behinderungen blieb sein Arbeitseifer ungebrochen. M. knüpfte zahlreiche Kontakte, z.B. zu Rahel Varnhagen in Berlin u. in Leipzig zu Charlotte Stieglitz (Charlotte Stieglitz. Ein Denkmal. Bln. 1835). Neben journalist. Arbeiten, so als Herausgeber des »Literarischen Zodiacus. Journal für Zeit, Leben, Wissenschaft und Kunst« (Lpz. 1835/36. Nachdr. Ffm. 1917) u. der »Dioskuren« (Bln. 1836/37), begann M. Erzählprosa zu veröffentlichen. 1839, nachdem er zeitweise aus Berlin nach Hamburg ausweichen musste (Kleines Skizzenbuch. Bln. 1844), heiratete er die Schriftstellerin Klara Müller. 1842 erhielt M. durch Vermittlung Schellings eine Privatdozentur in Berlin, nachdem er der Auswahlkommission seine staatstragenden Absichten versichert hatte. Engels kritisierte seine »Apostasie« u. befand die »in Herrn Mundt gefahrene Untertänigkeit« für »ekelerregend« (MEW 1, S. 441). M.
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schrieb weiterhin Romane, Novellen, Zeitkommentare in Briefen, Reisebeschreibungen u. Rezensionen. Eine Stelle, an der er die Cholera »als welthistorische Krankheit [...] einer Zeit bezeichnet, der von ihren eigenen Ausdünstungen übel wird« (Skizzenbuch, S. 25), führte zur zeitweiligen Versetzung nach Breslau (1848), bevor er 1850 nach Berlin zurückkehren konnte, wo er als Professor u. Bibliothekar tätig war. Schon 1853 wurde er aufgrund eines Streits mit dem Historiker Georg Heinrich Pertz pensioniert. M. war, möglicherweise genötigt durch die polit. Verhältnisse, eine Doppelnatur, in der sich gediegene Wissenschaftlichkeit u. literar. Begabung paarten. Durch den Zwang, sich in Journalismus, Publizistik u. Prosaliteratur zu bewegen, trug er dazu bei, eine die Gattungsgrenzen auflösende Literaturproduktion durchzusetzen (s. Vaßen, Hg., 2005, s. u., S. 30). Eigentümlich ist, dass sich seine Romane u. Novellen als Vorläufer (Das Duett. Bln. 1831. Thomas Müntzer. 3 Bde., Altona 1841. Die Geschichte der Gesellschaft in ihren neueren Entwickelungen und Problemen. Bln. 1844) oder Illustration seiner literartheoretischen u. -histor. bzw. philosophisch-polit. Arbeiten erweisen. Die von ihm bevorzugte literar. Form legitimiert er in Die Kunst der deutschen Prosa (Bln. 1837. Nachdr. Gött. 1969, S. 49–67) als ideal für die Äußerung der Individualität wie der Gesellschaft (Nation). Seine an Hegel anschließenden Ausführungen zum Roman, der »ein Totalbild der menschlichen Richtungen in jeder Ausdehnung erstrebt« (Kunst der deutschen Prosa, S. 99), u. zur Novelle, die er als »Brennspiegel einer charakteristischen Absicht, einer Zeittendenz, einer auf die Tagesbewegung berechneten Reflexion« (ebd., S. 361) charakterisiert, lassen sich durchaus als theoret. Fundament für Zeitgenossen wie Laube, Wienbarg, ja selbst für die literar. Arbeit Ruges bezeichnen. Eine Ausnahme unter seinen belletrist. Texten, die ihre Stoffe fast durchgehend historisch situieren, dabei oft die Polarität von Altem u. Neuem variieren u. in denen die Physiognomik, »ein vielversprechendes Buch menschlicher Gedanken« (Der Basilisk. Lpz. 1833, S. 35), Grundlage seiner Charakter-
Mundt
zeichnungen ist, bildet Madonna, oder: Unterhaltungen mit einer Heiligen (Lpz. 1835). In diesem »Stück Leben«, einem »Buch der Bewegung« (Nachwort, Madonna, 1840, Nachdr. Ffm. 1973. Bln. 2007, S. 434), zeichnet er, ganz Saint-Simonist, das Bild einer zu seiner Zeit ungewöhnlich freien Beziehung zwischen Mann u. Frau (Charlotte Stieglitz). Häufig scheinen M.s Metaphern »vom Zeitgeist getrieben« (Das Duett. Bln. 1831, S. 29), der in ihm »hambachert« (Moderne Lebenswirren. Briefe und Abenteuer eines Salzschreibers. Lpz. 1834. Nachdr. Ffm. 1973, S. 11 f.). Über Oberflächenreize geht dies kaum hinaus. Politisch war M. gewiß erst »Republikaner«, der sich aber bald darauf zurückzog, dass »die Deutschen [...] durch den Sturz und die Zerrissenheit ihres äußern politischen Lebens nur umso mächtiger auf ein inneres geistiges Schaffen gewiesen scheinen« (Madelon, S. 75). Nach z.T. heftigen zeitgenöss. Kontroversen wird M. heute philosophiehistorisch oder unter der Flagge des Jungen Deutschland rezipiert. M. reflektierte stets die geistige Signatur seiner Zeit u. suchte ihr ein eigenes Gepräge zu geben. Bleibendes Verdienst ist v. a. der Versuch, mit Hegel’schen Kategorien dessen Ästhetik (nach dem Ende der Kunst) weiterzuführen: die Malerei, Musik u. Literatur als spezifische symbolische Ausdrucksformen für den Gedanken aufzuzeigen; M. zeigt zudem, wie sich aus dem Zusammenspiel von Individuum u. Gesellschaft eine Geisteshaltung entwickeln kann, die sich durch beständige Bildung, durch ein neues Verhältnis von »Literatur, Kunst, Wissenschaft und Leben« (Zeitperspektiven, 1834, S. 192) auszeichnet. »Es gibt keine Helden mehr und mit dem Kultus des Heldentums begraben wir den letzten Rest des Despotismus und der Autorität« (Die Matadore. Bd. 1, Lpz. 1850, S. 247), denn einem Volk auf dem Weg zur Freiheit ist dauernd zu helfen »nur durch Gott und durch sich selbst« (Niccoló Macchiavelli und das System der modernen Politik. Bln. 1851. 21861, S. 318). Weitere Werke: Die Einheit Dtschld.s. Lpz. 1832. Nachdr. Ffm. 1973. – Krit. Wälder. Bln. 1833. Nachdr. Lpz. 1991. – Charaktere u. Situationen. 4 Bde., Lpz./Wismar 1837. – Spaziergänge u. Welt-
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fahrten. 3 Bde., Altona 1838/39. – Carmela oder die Wiedertaufe. Hann. 1844 (R.). – Berlin u. seine Künste. Bln. 1844. – Der Hl. Geist u. der Zeitgeist. Bln. 1845. – Aesthetik. Bln. 1845. Nachdr. Gött. 1966. – Die Götterwelt der alten Völker. Bln. 1846. 2 1866. Nachdr. Eschborn 1992. – Allg. Literaturgesch. 3 Bde., Bln. 1846. 21848. – Mendoza, der Vater der Schelme. 2 Bde., Bln. 1846/47 (R.). – Ständ. Blätter. 2 H.e, Lpz. 1847. – Dramaturgie oder Theorie u. Gesch. der dramat. Kunst. 2 Bde., Lpz. 1847/48. Nachdr. Eschborn 1966. – Katechismus der Politik. Bln. 1848. Nachdr. Mikrofiche Mchn. 1991. – Graf Mirabeau. 4 Bde., Bln. 1858 (R.). – Robespierre. 3 Bde., Bln. 1859 (R.). – Ital. Zustände. 4 Bde., Lpz. 1858–60. – Czar Paul. 6 Bde., Bln. 1861 (R.). – Herausgeber: Schr.en in bunter Reihe. Lpz. 1834. – Literar. Zodiakus, Lpz. 1835/36. – Knebel’s literar. Nachl. Lpz. 1835/36 (mit K. A. Varnhagen van Ense). – Dioskuren. Bln. 1836/37. – Der Delphin. Hbg. 1838/39. – Der Freihafen. 16 Bde., Hbg. 1838–41. – Der Pilot. Hbg. 1840–43. – Martin Luther: Polit. Schr.en. 4 Bde., Bln. 1844, S. 271–278. Literatur: Johannes Proelß: Das Junge Dtschld. Stgt. 1892. – Otto Draeger: T. M. u. seine Beziehungen zum Jungen Dtschld. Marburg 1909. Neudr. New York/London 1968. – Walter Grupe: M.s u. Kühnes Verhältnis zu Hegel u. seinen Gegnern. Halle 1928. – Willy Moog: Hegel u. die Hegelsche Schule. Mchn. 1930. – Walter Dietze: Junges Dtschld. u. Dt. Klassik. Bln./DDR 1957. 21981. – Annemarie Gethmann-Siefert: Hegelsches gegen Hegel. Zu M.s Anti-Hegelschen Entwurf einer Ästhetik. In: Hegel-Studien 15 (1980), S. 271–278. – Petra Hartmann: Geschichtsschreibung für die Gegenwart. T. M. u. Ludolf Wienbarg. In: Forum Vormärz Forsch., Jb. 1997, Bielef. 1998, S. 43–54. – Dies.: Faust u. Don Juan. Stgt. 1998. – Norbert Otto Eke u. Renate Werner (Hg.): Vormärz – Nachmärz. Bruch oder Kontinuität? Bielef. 2000. – Hubertus Fischer: T. M. 1848. In: Jb. für die Gesch. Mittel- u. Osteuropas 47 (2001), S. 137–192. – P. Hartmann: ›Von Zukunft trunken und keiner Gegenwart voll‹. Bielef. 2003. – Die dt. Lit. in Text u. Darstellung. Bd. 10: Vormärz. Hg. Florian Vaßen. Stgt. 22005. – N. O. Eke: ›Man muß die Deutschen mit der Novelle fangen‹. T. M., die Poesie des Lebens u. die Emancipation der Prosa im Vormärz. In: Der nahe Spiegel. Vormärz u. Aufklärung. Hg. Wolfgang Bunzel. Bielef. 2008, S. 295–312. Reinhold Hülsewiesche
Mungenast, Ernst Moritz, * 29.11.1898 Metz, † 3.9.1964 Stuttgart; Grabstätte: ebd., Pragfriedhof. – Romanschriftsteller. Seine Geburtsstadt Metz u. das Lothringen der Reichslandzeit stehen im Mittelpunkt des literar. Schaffens von M. Die urspr. Absicht, eine Medizinerlaufbahn einzuschlagen, hatte das elfte von 15 Kindern eines eingewanderten reichsdt. Architekten u. einer aus dem Bitscher Land stammenden Mutter wegen einer bei den Kämpfen in Flandern erlittenen schweren Kriegsverletzung aufgeben müssen. Nachdem Elsass-Lothringen wieder Frankreich angegliedert worden war, übersiedelte die Familie 1919 nach Berlin, wo M. zunächst als Redakteur beim »Berliner Tageblatt« tätig war. Als Erzähler u. Chronist Lothringens machte der inzwischen in Stuttgart lebende M. erstmals mit seinem Roman Christoph Gardar (Dresden 1935) auf sich aufmerksam. Mit den Romanen Die Halbschwester (Dresden 1937) u. Der Kavalier (Dresden 1938) leitet er zu seinem Hauptwerk, dem großen Lothringen-Epos Der Zauberer Muzot (Dresden 1939) über. In der Form einer breit angelegten Familiensaga entwirft M. ein anschaul. Bild des Lebens im Metz der preußisch-wilhelmin. Zeit. Der chronikhaft gefasste Roman zeugt vom Wunsch M.s nach einer Verständigung zwischen Deutschland u. Frankreich, vermittelt jedoch gleichzeitig eine apologet. Sicht der polit. Ereignisse im Deutschland nach 1933. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg waren es die Landschaften zwischen Mosel u. Saar, deren Schicksale u. Gestalten M. in seinen Romanen Cölestin (Saarbr. 1949) u. Tanzplatz der Winde (Stgt. 1957) literarisch gestaltete. Weitere Werke: Asta Nielsen. Stgt. 1928 (Monogr.). – Der Mörder u. der Staat. Die Todesstrafe im Urteil hervorragender Zeitgenossen. Stgt. 1928. – Der Pedant oder Die Mädchen in der Au. Stgt. 1939 (R.). – Hoch über den Herren der Erde. Saarbr. 1950 (R.). – Die ganze Stadt sucht Günter Holk. Gütersloh 1954 (R.). Literatur: E. M. M. – Heimat u. Herkunft. In: Die neue Lit., Jg. 41 (1940), S. 257–260. – Max Hildebert Boehm: E. M. M. – der Künder Lothringens. In: Sudentendt. Monatsh.e (1941), S. 99–103. – Marie-Josèphe Lhote: La double culture de E. M.
Munk
439 M. dans Christophe Gardar et Le magicien Muzot. Metz 1998. – Dies.: L’interculturalité de E. M. M. dans ses romans ›lorrains‹. In: Frontières, transferts, échanges transfrontaliers et interculturels. Hg. Pierre Béhar u. Michel Grunewald. Bern 2005, S. 195–205. Frank Steinmeyer / Red.
Munier-Wroblewska, Mia, * 20.2.1882 Schlek/Kurland, † 19.10.1965 Itzehoe. – Erzählerin. M. lebte nach ihrer im Baltikum verbrachten Jugend in Mecklenburg u. Holstein. Ihre erzählenden Werke haben die Lebenswelt u. das histor. Schicksal der Deutschen im Baltikum zum Thema. Ihr Hauptwerk ist die sechsbändige Familiensaga Unter dem wechselnden Mond (Heilbr. 1927–31. Neuausg. in 3 Bdn., 1966/67). Die ersten Bände, Märzhoffen (1927), Sommersegen (1928), Sonnenwende (1928) u. Herbststerne (1929), verfolgen die Lebensgeschichte der Nachkommen des 1710 nach Kurland gezogenen Pastors Stahl bis ins 20. Jh. Winternot (1930) beschreibt die Kriegswende 1918/19, Osterwinde (1931) berichtet von balt. Emigranten nach 1919. Das Werk vom Werden, Wachsen und Welken eines kurländischen Geschlechts (Untertitel) stellt ein wichtiges Dokument lettischer Geschichte dar. Die weiteren histor. Romane M.s spielen in der Zeit Napoleons (Das Tor zur Freiheit. Heilbr. 1936) u. des Deutschritterordens (Zeitenwende. Heilbr. 1940). In ihrem Spätwerk befasste sich M. mit den Biografien bedeutender Komponisten. Weitere Werke (Erscheinungsort, wenn nicht anders vermerkt, Heilbr.): Die Domina. Eine Klostergesch. 1929. 1972. – Zlata. Dalmatin. 1930 (N.n). – Das Haus am Zigeunerstrudel. 1932 (E.en). – Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. 1933 (E.). – Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit. Zwei Gesch.n um J. Seb. Bach. 1935. 1970. – Immortella. Stunden aus dem Leben v. Mozart u. Chopin. 1959. – Ehrenwache für Joseph Haydn. 1963. – Feste u. Feiern. Jugenderinnerungen. Hann. 1964. – Romanze auf Mallorca. Erzählung um Frederic Chopin. 1978. – Pferde, Schlitten, Winterwälder. Weihnachtsgesch.n. Kiel 1989. – Die Goldmacher. Die Erfinder des Meissener Porzellans. 1998 (R.). Christian Schwarz / Red.
Munk, Georg, eigentl.: Paula Judith Buber, geb. Winkler, * 14.6.1877 München, † 11.8.1958 Venedig. – Erzählerin. Paula Winkler alias G. M. wuchs in einer wenig begüterten Familie auf. Trotzdem bestand ihr Vater darauf, dass sie ein gehobenes Klosterpensionat besuche. Nach der Ausbildung u. Diplomierung zur Lehrerin arbeitete M. als Sekretärin u. verbrachte einige Zeit in einer Künstlerkolonie in Südtirol, bevor sie ein Germanistikstudium in Zürich begann. Dort begegnete sie 1899 Martin Buber u. verliebte sich in ihn. Ein Jahr später kam Sohn Rafael zur Welt, wieder ein Jahr darauf Tochter Eva. 1906 konvertierte M., die bereits fünf Jahre zuvor aus der kath. Kirche ausgetreten war, zum Judentum u. heiratete Buber. Dies führte zum Bruch mit ihrer Familie u. zur Enterbung. Es folgten einige v. a. finanziell entbehrungsreiche Jahre, in denen das Paar meistenteils getrennt voneinander lebte u. M. sich um die beiden Kinder kümmerte. Trotzdem fand sie in dieser schwierigen Zeit Gelegenheit, zionist. Artikel für jüd. Zeitschriften u. daneben einige kleinere Erzählungen zu schreiben. Als Buber eine Stelle als Lektor in Berlin antrat, begann ein intensiver literar. Austausch zwischen den beiden. Bubers Chassidische Novellen, die ihm als Schriftsteller großen Erfolg bescherten, waren das erste Ergebnis dieser Zusammenarbeit. Bald war die Familie auch finanziell wieder besser gestellt. Ende 1906 zog M. mit den Kindern nach Berlin. Es begannen einige ihrer literarisch produktivsten Jahre: 1912 erscheint im renommierten Insel-Verlag in Leipzig ihr erster u. viel gelobter Prosaband Die unechten Kinder Adams, eine Sammlung von in der kabbalist. Erzähltradition wurzelnden, sog. myth. Novellen, vier Jahre darauf, nach einer schweren Typhus-Infektion, das Romandebüt Irregang (Lpz. 1916). Beide Bücher wurden unter dem Pseud. Georg Munk publiziert, welches M. vermutlich wählte, um als Schriftstellerin nicht von dem mittlerweile berühmten Namen ihres Gatten abhängig zu sein u. als dessen Epigone zu gelten. Im Jahr 1916 – unterstützt auch durch die nicht unbeträchtl. Einnahmen M.s aus dem Verkauf ihrer Bücher – zog die Familie in die Nähe
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Frankfurts, ins hess. Heppenheim. Der Ort nicht, dass das Publikum 1953 so etwas nicht wird später zum Vorbild des fiktiven Städt- lesen wollte. chens Muckensturm in M.s gleichnamigem Weitere Werke: St. Gertrauden Minne. Eine Roman, der als ihr erzählerisches Hauptwerk Heiligenlegende. Lpz. 1921. – Die Gäste. Sieben gilt. Geschrieben hat sie das Buch unmittel- Gesch.n. Lpz. 1927. – Geister u. Menschen. Ein bar im Anschluss an die Emigration nach Sagenbuch. Mchn. 1961. – Der Bischof u. der wilde Palästina, wo Buber 1936 einen Lehrstuhl an Mann. Mchn. 1961. Literatur: Barbara Hahn: Unter falschem Nader Hebräischen Universität von Jerusalem men. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen. erhalten hatte, also etwa vom Sommer 1938 Ffm. 1991 (zu G. M. S. 92–102). – Ludwig Strauß: bis 1940. M. war zu dieser Zeit bereits als G. M. [1928/29]. In: Ders.: Ges. Werke in vier Bdn. »jüdisch Versippte« aus dem Schriftsteller- Bd. 2: Schr.en zur Dichtung. Hg. Tuvia Rübner. verband ausgeschlossen. Bubers Bemühun- Gött. 1998, S. 318–328. – Sieglinde Denzel u. Sugen um einen Verleger für den Roman blie- sanne Naumann: ›Am lebendigen Wasser‹. Paula ben deshalb über Jahre hin u. trotz der Ver- Buber. In: Ich bin, was ich bin. Frauen neben gromittlungsversuche Thomas Manns erfolglos. ßen Theologen u. Religionsphilosophen des 20. Jh. 2 Nach Kriegsende unternahm M. mit Buber Hg. Esther Röhr. Gütersloh 1998, S. 82–104. – Uta Werner: Leben im Namen des Fremden – Paula ausgedehnte Reisen nach Europa u. in die Bubers jüd. Identität im Zeichen der Konversion. USA. In Jerusalem, dem neuen Wohnsitz der In: Fremdes Begehren. Transkulturelle BeziehunFamilie, wurde sie nie heimisch, das Hebräi- gen in Lit., Kunst u. Medien. Hg. Eva Lezzi u. sche blieb eine Fremdsprache für sie. 1952 Monika Ehlers. Köln 2003, S. 269–280. veröffentlichte sie den Familienroman Am leMarco Schüller bendigen Wasser im Insel-Verlag in Wiesbaden. Ein Jahr später wurde auch ihr Muckensturm Muralt, Beat Ludwig von, getauft 9.1.1665 endlich gedruckt (Heidelb. 1953; faksimi- Bern, bestattet 20.11.1749 Colombier. – lierte Neuaufl. Münster 2008), allerdings zu- Reiseschriftsteller u. Kulturkritiker. nächst nur in kleiner Auflage u. unbeachtet von der zeitgenöss. Literaturkritik. Der Ro- M. gehörte dem Berner Zweig einer Patrizierfamilie an, die 1555 wegen ihres reforman, auf M.s Tagebuchnotizen aus dem mierten Glaubens aus Locarno vertrieben letzten Jahr in Heppenheim beruhend, erwurde u. in Zürich u. Bern schon bald zum zählt von der allmähl. Nazifizierung einer Kreis der Ratsfamilien gehörte. Er verbrachte Kleinstadt, beginnend mit dem Reichstagsseine Jugend in Bern, bildete sich 1681 in brand am 27.2.1933. Ein Ort, »in dem alles Genf weiter u. trat dann als Offizier in frz. mäßig war«, wird durch die anbrechende Dienste. Nach seiner Entlassung unternahm Naziherrschaft in die äußersten Extreme geer vermutlich 1694/95 eine Reise nach Engtrieben. Es kommt zu Übergriffen auf Juden land, wo er sich vornehmlich in London aufu. Kommunisten, zur Diskriminierung u. hielt. Nach einem weiteren Aufenthalt in Erniedrigung Andersdenkender; ehemals Frankreich kehrte er, spätestens 1698, in seiunbescholtene Bürger machen auf Kosten der ne Heimatstadt zurück. Hier näherte er sich Menschlichkeit großartige Karrieren im dem aufkommenden Pietismus, dessen AnMachtapparat der NSDAP. Einige aber wi- hänger seit 1698 in Bern verfolgt wurden. Da derstehen der Versuchung, sie wandern aus er trotz obrigkeitl. Ermahnung dem öffentl. oder flüchten sich – wie der Landgerichtsrat Gottesdienst fernblieb, wurde er 1701 verAmthor – in den Selbstmord. All dies schil- bannt. Dieses Schicksal wiederholte sich 1702 dert M. anhand vieler Einzelschicksale u. in Genf, wo er Zuflucht gesucht hatte. M. zog Begebenheiten u. in einer außerordentlich sich nun auf ein Landgut in Colombier farbigen Sprache. Ihr Roman wird so einer- (Fürstentum Neuenburg) zurück, wo er bis zu seits zu einem Panorama der historischen dt. seinem Tod lebte. Im Alter neigte er verstärkt Schuld, andererseits zu einer Reflexion über einem myst. u. schwärmerischen Pietismus die Zeitlosigkeit der menschl. Anlagen, die zu dieser Schuld geführt haben. Es verwundert
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zu u. zog sich aus dem gesellschaftl. Leben zurück. Das weitaus wichtigste u. einflussreichste Werk M.s waren die teilweise noch in den 1690er Jahren entstandenen Lettres sur les Anglois et les François (Genf 1725. Neuausg. v. Otto v. Greyerz. Bern 1897. Korr. u. erw. Fassung. 4 Bde., Zürich 1728. Neuausg. v. Charles Gould u. Charles Oldham. Paris 1933. Nachdr. Genf 1974. Dt. Übers. u. d. T. Des Herrn v. M. Briefe über die Engelländer und Französen. Weimar 1761). Sie wurden zunächst handschriftlich verbreitet. Das Echo, das sie fanden, u. die Missverständnisse, die sie auslösten, veranlassten M., die Briefe zu veröffentlichen. Der Kampf gegen die polit. u. kulturelle Hegemonie Frankreichs um 1700 war der Hintergrund von M.s Kulturkritik. Die Auflehnung gegen den verderblichen frz. Einfluss erlebte gerade in der Zeit, als die ersten Briefe entstanden, in Bern seinen Höhepunkt. Das Werk ist jedoch weit mehr als ein zeitgebundenes Pamphlet gegen Auswüchse der frz. Politik. Es wirft grundsätzl. Fragen des polit. u. kulturellen Lebens sowie der Moralphilosophie auf. Es warnt vor der Nachahmung der Franzosen u. fordert die anderen Völker auf, die frz. Nation nur darin zu kopieren, dass sie keine andere Nation nachahmt. Noch folgenreicher als die Kritik an frz. Politik u. Kultur war die Entdeckung der Kulturnation England. Wie kein anderer bereitete M. dem nachhaltigen Einfluss engl. Politik, Philosophie u. Literatur auf die Völker Europas den Weg. Wenn er auch sein Vorbild keineswegs verklärte u. die Schwächen Englands nicht übersah, so bewunderte er doch die polit. Freiheit u. den »bon sens«, die er in der höf. Gesellschaft Frankreichs vermisste. Dagegen bekämpfte er den »bel esprit« der Franzosen als Zeichen einer zur Äußerlichkeit, zum Luxus u. zum unverbindlichen, mod. Spiel neigenden Kultur, wie sie nur in einer politisch u. moralisch korrupten Welt gedeihen könne. Dass er den moral. Werten den Vorrang vor den ästhetischen gab, führte M. auch zur Kritik an der frz. Literatur u. zum Verdikt gegen das Theater.
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Realistische Beobachtung u. moral. Kritik an der Sittenverderbnis der Zeit zeichnen die Lettres in gleichem Maß aus. Darüber hinaus bereitete sich bei M. bereits jenes Bild der Menschheit u. ihrer Völker vor, das später in Herders universaler Kulturanthropologie gipfelte. Zu den Schönheiten des Universums zählte M. die Mannigfaltigkeit, die sich ebenso in den Ländern der Erde wie in den Völkern, ihren Sitten u. Bräuchen zeige u. der Ordnung der Natur entspreche. Die Menschen waren für ihn im Unrecht, wenn sie diese Vielfalt auszulöschen u. damit den eigentüml. Charakter der individuellen Erscheinungen zu verderben suchten. In der Verschiedenheit u. Originalität sah er die Schönheit der Menschheit (»la beauté de l’humanité«) begründet. Die Wirkung der Lettres war während des 18. Jh. sehr groß. Sie wurden zum unmittelbaren Vorbild für Voltaires Lettres philosophiques [...] sur les Anglais u. für die ganze anglophile Literatur der Zeit. Sie regten verschiedene Autoren an u. beeinflussten die Unterhaltungsliteratur, z.B. den anonymen Reiseu. Schelmenroman Voyages et aventures de Martin Nogué en Europe oder die Mémoires et aventures d’un homme de qualité des Abbé Prévost. Auch Hallers Kritik der verdorbenen Sitten u. seine neue Naturauffassung dürften von M. angeregt worden sein. Am bedeutsamsten war jedoch die Wirkung auf Rousseau: Er exzerpierte M. u. zitierte ihn immer wieder; er berief sich auf seine Kritik am Theater u. baute die Lettres sogar in die Handlung der Nouvelle Héloïse ein. Die weiteren Werke M.s sind von untergeordneter Bedeutung. Die Schriften L’instinct divin recommandé aux hommes (im 4. Bd. der zweiten Fassung der Lettres), Lettre sur l’esprit fort (im 3. Bd. der zweiten Fassung der Lettres) sowie die Lettres fanatiques (London, recte Genf 1739) verteidigen das Irrationale gegen die Vorherrschaft des Verstandes. M. beruft sich dabei u. a. auf Mystiker wie Jacob Böhme u. frz. u. westschweizerische Visionäre u. Schwärmerinnen. Erst postum erschienen die Fables nouvelles (Bln. 1753), in denen M. öfters Kinder auftreten lässt, die in urspr. Natürlichkeit leben u. zgl. wahre Kinder Gottes sind.
Muralt Literatur: Blösch: B. L. v. M. In: ADB. – Otto v. Greyerz: B. L. v. M. Frauenfeld 1888. – Arthur Ferrazzini: B. de M. et Jean-Jacques Rousseau. La Neuveville 1951. – Gian Carlo Roscioni: B. L. v. M. e la ricerca dell’umano. Rom 1961. – János Riesz: B. L. v. M.s ›Lettres [...]‹ u. ihre Rezeption. Mchn. 1979. – Ute Heidmann Vischer: Idéal, image mythifiée et tableau ›peint d’après la vie‹. M., Virgile, Scheuchzer et les trois temps de la représentation dans ›Les Alpes‹ d’Albert Haller. In: Colloquium Helveticum 14 (1991), S. 5–28. – Gesch. Piet., Bd. 2, Register. – Claude Reichler: Le rapatriement des différences: B.-L. de M. entre deux mondes. In: Rivista di Letterature Moderne e Comparate 48 (1995), S. 141–154. – J. Riesz: B. L. v. M. In: NDB. – Joy Charnley: B.-L. de M. Some Thoughts on the France of Louis XIV. In: Seventeenth-Century French Studies 19 (1997), S. 125–134. – Ruth Florack: Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nat. Stereotype in dt. u. frz. Lit. Stgt. u. a. 2001. – Rudolf Dellsperger: Bruch oder Kontinuität? Zeitgenöss. Stimmen u. neue Quellen zu B. L. v. M.s Entwicklung. In: Interdisziplinäre Pietismusforsch.en [...]. Hg. Udo Sträter. Tüb. 2005, S. 201–211. – Ders.: Pietismus als polit. Kritik? Ein Versuch zu B. L. v. M. u. zur Frühzeit der Berner Bewegung. In: Reformatio 55 (2006), S. 90–98. – Christian Müller: B. L. v. M. In: HLS. Hellmut Thomke / Red.
Muralt, Johannes von, * 16.2.1645 Zürich, † 12.1.1733 Zürich. – Medizinischer Sachbuchautor. Nach Besuch des Collegium Carolinum führten M. seine akadem. Lehr- u. Wanderjahre von Zürich über die medizin. Fakultäten der Hohen Schulen in Basel (1665), Leiden (1667), London (1668) u. Oxford (1669) nach Paris (1669), Montpellier (1670), Lyon (1671) u. Basel (hier am 12.4.1671 Promotion zum Dr. med.) u. machten ihn mit bedeutenden Medizinern (François Mauriceau, Franciscus Sylvius) näher bekannt. Nach Rückkehr in seine Heimatstadt (1671) nahm M. unter den Zürcher Ärzten bald eine führende Stellung ein; er stieg zum Stadtarzt (1688) u. Archiater (ersten Stadtarzt) auf (1721) u. etablierte eine chirurg. Lehranstalt; außerdem betätigte er sich als Chorherr u. Lehrer für Naturkunde u. Mathematik am Collegium Carolinum. Seit 1681 war er unter dem Beinamen »Aretaeus« Mitgl. der »Academia naturae curiosorum« (Leopoldina).
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M. schuf seit 1665 zahlreiche lat. Schriften, darunter viele in den Ephemeriden der Leopoldina seit 1682 veröffentlichte Anatomica. Trotz seiner engen Bindungen an literar. Normen der lateingeprägten Medizinerelite förderte er den Aufstieg der dt. Landessprache als Medium der Naturkunde u. Medizin u. mehrte mit Blick auf Informationsbedürfnisse deutschsprachig gebundener Heilpersonen minderen Ranges u. medizinisch tätiger Laien die Vielzahl kompilatorisch verfahrender Fachschriftsteller: M. bereicherte zunächst das wundärztl. Schrifttum (Anatomisches Collegium. Nürnb. 1687) u. setzte dann seinen Kampf gegen fachlich unzureichend gerüstete »Quacksalber«, »Bullen-Doctoren« u. »Winkelärzte« mit Chirurgischen Schrifften fort (Basel 1691; darin auch Beigaben der Ärzte Lucas Schröck, Augsburg, u. Emanuel König, Basel. Erw. u. d. T. Schrifften von der Wund-Artzney. Basel 1711). Im Zuge seiner popularen Publizistik gab M. »Wehemüttern« ein Unterrichtswerk zur Hand (KinderBüchlein. Zürich 1689. Basel 1697), belehrte über die Bekämpfung der »Ruhr« (Zürich 1690. 1709), des »Rothen Schaden« (Zürich 1712), der »Seuche der Pest« (Zürich 1721) u. weiterer »Seuchen« (Gesundheit-Schatz, wider die Ansteckende Seuche an Menschen und Viehe. Zürich 1714), beriet Badbesucher (Neues Bethesda. Zürich 1702) u. verlieh mit dem Hippocrates Helveticus, Daß ist / Eydgnossischer Stadt- Land- und Hauß-Artzt, In welchem Alle innerlichen Kranckheiten [ ...] sambt dero Heilung [ ...] beschrieben werden (2., verm. Ausg. Basel 1716; erstmals: Basel 1692) der medizinischen Frühaufklärung manche Impulse. M.s sprachlich-stilist. Leistungen einschließlich seines »ungewöhnlich« reichen Wortschatzes (Peyer 1946, S. 55) harren einlässlicher Untersuchungen. Weitere Werke: Exercitatio anatomica de experimentis novissime factis. Montpellier 1670. – Disputatio [...] de morbis parturientium. Basel 1571. – Exercitationes Medicae Seu Experimenta Anatomica de Humoribus. Zürich 1675. U. d. T. Vade Mecum Anatomicum, Sive Clavis Medicinae. Zürich 1677. – Scientiae naturalis seu physicae compendium. Zürich 1694. – Systema Physicae experimentalis integram naturam illustrans. Zürich 1705–14. – Praeservativ wider den [...] Vich-
443 prästen. 1714. – Geburts-Tafel (Schwangerschaftskalender, konstruiert mit drehbaren Scheiben; 1711 v. M. dem Zürcher Ehegericht geschenkt). – Eydgnöss. Lust-Garte. Zürich 1715 (dt. Fassung des botan. ›Systema‹-Teils). – Handschriftl. Hinterlassenschaften M.s, darunter Sachschr.en (Pharmacopoea Domestica, 1681; Cista Medico-Chirurgica, 1685) u. eine Briefslg. aus den Jahren 1665–1706, bewahrt die Zentralbibliothek Zürich. Ausgaben: Conrad Brunner u. Wilhelm v. Muralt: Aus den Briefen hervorragender Schweizer Ärzte des 17. Jh. Basel 1919, S. 227–273 (die lat. Briefe in nhd. Übers.; hier auch Briefe an M.). – Bernhard Peyer: Ein Briefentwurf v. J. v. M. aus dem Jahre 1696. In: Gesnerus 10 (1953), S. 4–18. Literatur: A. Hirsch: M. In: ADB. – Bernhard Peyer: Die biolog. Arbeiten des Arztes J. v. M. 1645–1733. Hg. v. der Stiftung v. Schnyder v. Wartensee in Zürich. Thayngen 1946 (S. 73–82: Werkverz.). – J. H. Wolf: M. In: DSB. – J. v. M. 1645–1733. Arzt, Chirurg, Anatom, Naturforscher, Philosoph. Beiträge v. Urs Boschung, André de Muralt u. Gian Töndury. Hg. U. Boschung. Zürich 1983. – Jakob Büchi: Die Entwicklung der Rezeptu. Arzneibuchlit. 3. Tl.: Die Arzneibücher u. schweizer. Pharmakopöen vom 17.-20. Jh. Zürich 1986, S. 66–76. – Eberhard J. Wormer: M. In: NDB. Joachim Telle
Murbacher Hymnen. – Frühalthochdeutsche Interlinearversion eines benediktinischen Hymnars aus dem frühen 9. Jh. Der Grundbestand der M. H. umfasst 21 auf der Reichenau im ersten Viertel des 9. Jh. aufgezeichnete Interlinearversionen ambrosianischer u. pseudoambrosian. lat. Hymnen in altalemann. Althochdeutsch (I-XXI); die Sammlung wurde in Murbach wenig später um sechs Hymnen in alemann. Althochdeutsch mit rheinfränk. Elementen erweitert (XXII-XXVI, darunter der einstrophige Hymnus XXVa). Die liturg. Bestimmung der Gesänge als Stundengebete ist nur bei I angegeben (Mediae noctis tempore – Mittera nahti zite), sonst jedoch den M. H. nahestehenden Hymnaren zu entnehmen (vgl. Bulst). Die interlinear angeordnete Hymnenversion der M. H. unter der Überschrift »incipiunt hymni canendae [!] per circulum anni« folgt dem lat. Grundtext in getreuer Form-für-Form-Übersetzung.
Murbacher Hymnen
Man hat einen dichterischen Gestaltungswillen des ahd. Übersetzers zu erkennen geglaubt, so in der Wortwahl, in den Stabreimen u. in der Tendenz zur rhythm. Vierhebigkeit (Sonderegger, anders Kraß); in neueren Forschungen (Henkel, Kraß) wird hingegen die Meinung vertreten, die volkssprachigen Interpretamente dienten allein dem genauen Verständnis der lat. Hymnen. Die Überlieferung in einer Sammelhandschrift zus. mit Glossen u. Glossaren spricht nicht dafür, dass die M. H. die Anfänge einer christl. Hymnendichtung in dt. Sprache dokumentieren; die durchgehende Interlinearversion steht eher für ein nachhaltiges Bemühen, lat. Texte formal u. semantisch möglichst genau aufzuschlüsseln. Ausgaben: Die M. H. nach der Hs. hg. v. Eduard Sievers. Halle 1874. Neudr. mit einer Einf., Bibliogr. sowie Nachträgen u. Berichtigungen zum Text v. Evelyn Scherabon Firchow. New York 1972. – Drei Reichenauer Denkmäler der altalemann. Frühzeit. Hg. Ursula Daab. Tüb. 1963, S. 29–76 (zit.). Literatur: Ursula Daab: Studien zur ahd. Benediktinerregel. Halle 1929. – Walther Bulst: Zu den M. H. In: ZfdA 80 (1944), S. 157–162. – Stefan Sonderegger: Frühe Übersetzungsschichten im Ahd. In: FS Walter Henzen. Bern 1965, S. 101–114. – Giancarlo Bolognesi: Note critico-linguistiche sui ›M. H.‹. In: FS Vittore Pisani. Bd. 1, Brescia 1969, S. 129–160. – Gerhard Köhler: Verz. der Übersetzungsgleichungen der M. H. Gött./Zürich/Ffm. 1970. – S. Sonderegger: Ahd. auf der Reichenau. In: Die Abtei Reichenau. Hg. Helmut Maurer. Konstanz 1974, S. 69–82. – Ders.: Eine ahd. Paternoster-Übers. der Reichenau. In: FS Karl Bischoff. Köln/Wien 1975, S. 299–307. – Ders.: M. H. In: VL (mit Lit.) (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Nikolaus Henkel: Dt. Übers.en lat. Schultexte. Mchn. 1988, S. 67–73. – Ders: Die ahd. Interlinearversionen. Zum sprach- u. literaturhistor. Zeugniswert einer Quellengruppe. In: Wolfram-Studien 14 (1996), S. 46–77, passim. – Andreas Kraß: Spielräume mittelalterl. Übersetzens. Zu Bearbeitungen der Mariensequenz ›Stabat mater dolorosa‹. Ebd., S. 87–108 u. Abb. 4, v. a. S. 89–91. Claudia Händl
Murer
Murer, Maurer, Christoph, * Febr. 1558 Zürich, † 27.3.1614 Winterthur. – Glasmaler, Grafiker, Dramatiker.
444 ›Trionfi‹ in dt. u. niederländ. Bildzeugnissen des 16. Jh. In: Francesco Petrarca in Deutschland. Seine Wirkung in Lit., Kunst u. Musik. Hg. Achim Aurnhammer. Tüb. 2006, S. 131–158. – Matthias Oberli: C. M. In: HLS. Wolfgang Harms / Red.
Nach Wanderjahren v. a. in Basel u. Straßburg, wo er mehrere Jahre in der Offizin von Tobias Stimmer arbeitete, ließ sich der Sohn des Malers Jos Murers 1586 in Zürich nieder; Murer, Jos, * 5.9.1530 Zürich, † 14.10. dort wurde er der gefragteste Schweizer 1580 Winterthur. – Dramatiker u. GeGlasmaler. Emblematische Grafiken von ihm brauchslyriker. erschienen mit den Texten von Hans Hein- Der Sohn des Gürtlers Johannes Murer übte rich Rordorf postum 1622 in Zürich (XL. Em- das Handwerk des Glasmalers aus u. war dablemata miscella nova. Das ist: XL. Newradierte neben auch als Kartograf, Zeichner u. HolzKunststuck) sowie auf Flugblättern, hier mit schnittillustrator erfolgreich. Aus der 1556 Texten, die in der Regel wohl ebenfalls nicht mit der Bildschnitzertochter Barbara Schön von M. selbst stammen. Dem Thema der geschlossenen Ehe gingen acht Kinder herEidgenossenschaft widmete der junge M. vor. 1571 wurde M. Mitgl. des Zürcher Rats. neben Grafiken auch zugehörige Texte. Nach seiner Wahl zum Amtmann von Win1596 publizierte M. in Zürich das Drama terthur 1578 übersiedelte er in die dortige Scipio Affricanus. Ein histori aus dem Tito Livio aus Amtswohnung. Anlass der Hochzeit eines Freundes. An dem Auf literarischem Gebiet dokumentieren Drama Ecclesia Edessanea, das mit Hilfe eines M.s sieben zwischen 1556 u. 1575 gedruckte Stoffs aus der frühen Christenverfolgung die protestant. Tendenzdramen, die er mit BürVerfolgungen von Protestanten in der Ge- gern von Zürich u. Winterthur aufführte, genwart angreift, arbeitete M. schon vor seine reformatorische Gesinnung u. sein re1600, doch wurde eine Aufführung in Zürich ligiöses Belehrungsanliegen. Entsprechend nicht genehmigt, auch unterblieb ein Druck. dem Quellenverständnis des ReformationsWeiteres Werk: Wahrhafftiger u. grundtl. Be- dramas werden biblische, meist alttestaricht v. der hochlobl. Eydtgnoschafft, wie die an- mentl. Stoffe im direkten Rückgriff auf den fenglich entsprungen, u. v. einwonenden Vögten Wortlaut der Heiligen Schrift verarbeitet. Die schwärlich u. übel gehalten worden. Basel 1581. Verbindlichkeit der Vorlage bleibt auch bei Ausgabe: Künstl. wolgerissene Figuren u. Ab- ausgeweiteter Darstellung gewahrt. Die bildunge etl. jagdbahren Thieren [...]. Weiland v. Handlung der in vierhebigen Reimpaaren den beyden [...] Malern, Tobia Stimmern u. C. verfassten Texte im Umfang von 1278 Versen Maurern zu Zürich, gerissen [...]. Straßb. 1605. (Hester) bis 5495 Versen (Babylon) ist durch Internet-Ed.: HAB Wolfenbüttel. Akteinteilung u. Musikeinlagen gegliedert. Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – WeiAlttestamentliche Stücke sind der 1556 in tere Titel: Jakob Franck: C. Maurer. In: ADB. – JoWinterthur aufgeführte, dem Ersten Buch hann Rudolf Rahn: C. Murer. In: ADB. – Thea Vignau-Wilberg: C. M. u. die ›XL. emblemata Könige, Kap. 21, entnommene Naboth, die aus miscella nova‹. Bern 1982. – Spätrenaissance am Kapiteln der Bücher Jesaja, Jeremia u. Daniel Oberrhein. Tobias Stimmer 1539–84. Basel 1984 kompilierte Belägerung der Statt Babylon (Auf(Ausstellungskat.), Register. – Paul Tanner: Daniel führung für 1559 geplant, wegen mehrerer Lindtmayer u. C. M., zwei Künstler im Einflußbe- Feuersbrünste jedoch abgesetzt) u. der nach reich v. Tobias Stimmer. In: Ztschr. für schweizer. dem Zweiten Buch Samuel gestaltete, 1565 in Archäologie u. Kunstgesch. 42 (1985), S. 124–128. – Zürich gespielte Absolom. Für Hester (AuffühRobert Landolt: Die Auferweckung der schlafenden rung Zürich 1567) benutzte M. neben dem Künste: Ein Scheibenriss C. M.s v. 1583. Ebd., S. 129–131. – Ins Licht gerückt: Die Luzerner Buch Esther, Kap. 3–8, die Esther des Andreas Standesscheiben v. 1606 v. C. M. Bearb. Josef Pfeilschmidt; in seinen auf dem Dritten Buch Brülisauer. Luzern 1994. – Liliane Châtelet-Lange: Esra, Kap. 3 u. 4, basierenden Zorobabel (AufC. M. In: NDBA, Lfg. 27 (1996), S. 2780 f. – P. führung Zürich 1575) bezog er den Zorobabel Tanner: C. M. In: NDB. – Doris Strack: Petrarcas des Sixt Birck ein.
Murmellius
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Die neutestamentl. Berichte der synopt. Evangelien u. die Apostelgeschichte sowie der Descensus ad inferos aus dem apokryphen Evangelium Nicodemi sind Grundlage des 1566 in Winterthur aufgeführten Spiels von der Ufferstäntnus Unsers Herren. Die Thematik von Lukas 15 behandelt Der jungen Mannen Spiegel (Aufführung Zürich 1560), geht textlich aber auf Hans Salats Verlorenen Sohn u. Georg Binders Acolastus zurück. M.s Gebrauchslyrik ist mit den gereimten Inschriften auf seinen Glasmalereien belegt. Ausgaben: Sämtl. Dramen. Hg. Hans-Joachim Adomatis u. a. 2 Bde., Bln./New York 1974. Literatur: Phyllis J. Manning: J. M. and the Protestant Easter Drama. Diss. phil. University of Texas at Austin 1971. – André J. Racine: J. M. Ein Zürcher Dramatiker aus der zweiten Hälfte des 16. Jh. Zürich 1973. – Arthur Dürst: Die Planvedute der Stadt Zürich v. J. M., 1576. In: Cartographica Helvetica 15 (1997), S. 23–37. – Martina Stercken: Inszenierung bürgerl. Selbstverständnisses u. städt. Herrschaft. J. M.s Darstellung der Stadt Zürich aus dem Jahre 1576. In: Stadtbilder der Neuzeit. Hg. Bernd Roeck. Ostfildern 2006, S. 107–124. Elke Ukena-Best
Muri, Osterspiel von ! Osterspiel von Muri Murmellius, Johannes, * 1480 Roermond/ Niederlande, † 2.10.1517 Deventer. – Humanistischer Pädagoge u. Dichter. Was Wimpfeling für den Südwesten, war M. für den Nordwesten des alten Reichs: Leitgestalt eines letzthin noch in der Kirche geborgenen frühen Humanismus, in dem sich die Freude an der literar. Eleganz der antiken Texte mit einer Reform der veräußerlichten Frömmigkeitsformen verband. Bereits in Deventer, wo M. die Schule des Alexander Hegius besuchte, müssen ihn die Anstöße der Devotio moderna erreicht haben. Nach dem Studium in Köln (1496–1500) vermittelte ihm Rudolf von Langen die Stelle eines Konrektors an der Domschule zu Münster/Westfalen. Das dieser Stadt gewidmete Lobgedicht (Carmen in urbem Monasteriensem. Deventer 1503 u. ö. Hg. Bücker 1961, s. Literaturverz.) gehört zu den frühen Beispielen eines auch späterhin sehr beliebten lyr. Genres. M.’
Wirken in Münster, unterbrochen durch einen Studienaufenthalt in Köln (Magister 26.4.1504), stand im Zeichen der humanist. Reorganisation des akadem. Unterrichts. 1513 wechselte er auf eine Rektorenstelle nach Alkmaar, lehrte später in Zwolle (1517) u. kurz vor seinem Tod noch in Deventer. Beste Einblicke in die Aufgaben u. Probleme der elementaren Schulpraxis bietet die vierteilige, oft nachgedruckte Pappa Puerorum (Köln 1513. Teil-Faks. bei Honemann 2006); sie enthält ein mittlerweile von der Geschichte der Lexikografik u. der histor. Dialektologie (de Smet 1986 u. 1993; Müller 2001) stark beachtetes, ja geradezu schulbildendes lat.-niederdt. Glossar, dessen Abschnitte systematisch vom Allgemeinen zum Besonderen, d.h. von Gott u. der Schöpfungsordnung zum Menschen u. seiner Lebenswelt, voranschreiten. Kulturelle Einrichtungen bzw. Begriffe (Kirchen u. Sakramente; Tugenden u. Laster am Schluss) werden dabei ebenso beachtet wie Alltagsbelange (Haus u. Hausrat, Kleider, Essen u. Trinken). Dem folgen eine Phraseologie im Frage-Antwort-Modell als Muster für die schulische Alltagskonversation in der Art eines rudimentären »Gesprächbuchs« (Kap. 2), in Kap. 3 eine teilweise an die Zehn Gebote angelehnte Reihe von 91 Sentenzen (»praecepta moralia«), schließlich im letzten Kapitel eine Serie lat.-dt. Sprichwörter nach Maßgabe verschiedener Quellen (dazu Simon 2000/01). Die Leistungen des ital. Humanismus, die M. auch in Textausgaben des Politian u. Baptista Mantuanus bekannt machte, sollten auch dem norddt. Bildungswesen Maßstäbe setzen (Enchiridion scholasticorum. Köln 1505). Kurz vor seinem Tode hat M. mit seinem Scoparius (Köln 1518. Ed. Bömer, H. 5, dazu Mehl 1991) eine systemat. Quellenkompilation vorgelegt, die – in der Grundposition u. den zitierten Autoritäten oft zurückweisend auf M.’ Didascalici Libri (Köln 1510, dazu Mehl 1994) – als eines der großen Manifeste des dt. Frühhumanismus zu lesen ist: der Tendenz nach vergleichbar mit Buschius’ Vallum Humanitatis, in der Sammlung namhafter Autorenstimmen vielleicht von Wimpfeling angeregt, dessen Isidoneus Germanicus zitiert wird. Mit der Stoßrichtung gegen ungebildete Kleriker
Murmellius
wendet sich M. hier gegen die mittelalterl. Grammatik (stellvertretend: Alexander de Villa Dei), gegen bildungsfeindl. Juristen, spitzfindige Dialektiker u. gegen Theologen, die sich einem bibl. Humanismus versperren. Berufen werden dabei nicht nur cisalpine Autoritäten wie Erasmus von Rotterdam u. Rodolphus Agricola, sondern auch zahlreiche bekannte Italiener (darunter Pico della Mirandola, Lorenzo Valla, Petrus Vergerius, Mapheus Vegius, Aldus Manutius, Baptista Mantuanus). Besondere literaturgeschichtl. Bedeutung besitzt diese Schrift auch insofern, als M. in Kap. LXII eine komplette Liste der ihm bekannten bzw. zur Verfügung stehenden Kommentare der antiken Autoren vorlegt. Bis ins 18. Jh. wurde M.’ Auswahl der antiken Elegiker gelesen, zu denen sich Kommentare u. Editionen anderer antiker Autoren gesellten (u. a. Boëthius, Cicero, Persius, Hieronymus). Über die Kunst des Dichtens publizierte M. eine eigene Anleitung (Tabulae in artis componendorum versuum rudimenta. Deventer um 1515. Zahlreiche Neudr.e bis 1658). Ein umfangreiches lyr. Œuvre zeigte den Autor bewandert in Epigrammen, Eklogen, Oden u. Elegien (Elegiarum moralium libri quatuor. Köln 1508. Ed. Bömer, H. 3). Sie bieten Einblicke in religiöse, anthropolog., wissenschaftssystemat., pädagog. u. moral. Überzeugungen des Verfassers. Die Kollektion von 27 »Epigrammen« (1510. Ed. Bömer, H. 1, dazu Fetkenheuer 2004) enthält biogr. Reflexe u. entwirft appellativ, aber auch mit satir. Spitzen wider Geldgier, Heuchelei u. Hochmut moral. Normen des Lehrer-SchülerVerhältnisses. Demgegenüber schreiten die vorher publizierten »Vier Bücher der Moralischen Elegien« einen weit größeren Themenradius ab. Zwar arbeitet hier M. oft mit etablierten Antithesen (Geist-Körper, Providenz u. Kontingenz, Würde u. Hinfälligkeit des Menschen) sowie mit eingängigen moral. Typen u. Merkmalsmustern (wider die Trunkenheit, Schwerfälligkeit oder die Spielsucht, daneben Poeme über die Kardinaltugenden), doch manche dieser fast durchweg an die Freunde gerichteten Gedichte lassen spezif. Ereignisse, Einstellungen u. kulturelle Konstellationen transparent
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werden: so die Polemik gegen ungelehrte Priester (IV, 5), Elegien über den Krieg (I, 8–9) oder über die humanistisch reformierten Disziplinen (II, 6: De tribus rationalis philosophiae partibus; hier auch über die Erfindung des Buchdrucks), über die Mathematik (II, 8) u. die Medizin (II, 18). Lobgedichte auf Albertus Magnus (II, 14) u. Thomas von Aquin (III, 14) atmen den Geist der Kölner Universität, suggerieren M.’ Unbefangenheit gegenüber den Größen der Scholastik u. verbinden sich durchaus mit Kreuzesfrömmigkeit (III, 12), der Verehrung der Heiligen u. Märtyrer (III, 13) oder dem Ruhm des Kartäuser-Ordens u. seines Stifters Bruno (IV, 11). Für die Frühzeit des christl. Humanismus in Deutschland stellt diese formal fortgeschrittene Elegiendichtung gerade in ihrem mentalen Übergangscharakter eines der herausragenden Textdokumente dar. M. genoss in dieser vermittelnden Position hohe Anerkennung unter den Zeitgenossen, u. es verwundert nicht, dass er durch seine mehr als 50 Werke sowie durch seine Schüler (u. a. Hermann von dem Busche) weit in die Zukunft wirkte. Ausgaben: Ausgew. Gedichte (lat. u. dt.). Hg. Dietrich Reichling. Freib. i. Br. 1881. – Ausgew. Werke. Hg. Aloys Bömer. H.e 1–5, Münster 1892–95. Literatur: A. Horawitz: M. In: ADB. – Dietrich Reichling: J. M. Sein Leben u. seine Werke. Freib. i. Br. 1880. Neudr. 1963 (mit ausführl. bibliogr. Verz. sämtl. Schriften u. einer Ausw. v. Gedichten). – H. E. van Gelder: Geschiedenis der Latijnsche School te Alkmaar. Alkmaar 1905. – Ellinger 1, S. 392–396. – Aloys Bömer: J. M. In: Westfäl. Lebensbilder. Bd. 2, Münster 1931, S. 396–410. – M. A. Nauwelaerts: Historische opstellen over Roermond en omgeving. Roermond 1951, S. 201–234 (Bibliogr.). – A. Visser (Hg.): Latijnse School en Gymnasium te Alkmaar. Murmellius-Gymnasium. Gedenkboek 1381–1954. Alkmaar 1954. – Hermann Bücker: Das Lobgedicht des J. M. auf die Stadt Münster u. ihren Gelehrtenkreis. In: Westfäl. Ztschr. 111 (1961), S. 51–74. – Gilbert A. R. de Smet: Die frühnhd. Lexikographie. Möglichkeiten u. Grenzen ihrer Interpr. In: Brüder-Grimm-Symposion zur histor. Wortforsch. Hg. Reiner Hildebrandt u. Ulrich Knoop. Bln./New York 1986, S. 59–80. – C. G. van Leijenhorst u. I. Guenther in: Contemporaries 2 (1986), S. 470 f. – Jürgen Leonhardt: Dimensio Syllabarum. Studien zur lat. Pro-
447 sodie- u. Verslehre v. der Spätanike bis zur Frührenaissance. Gött. 1989, S. 266 f. – James V. Mehl: J. M.’ ›Scoparius‹ (1517/18). Another German Defense of Humanistic Study. In: Acta Conventus Neolatini Torontonensis. Hg. Alexander Dalzell u. a. Binghamton 1991, S. 471–480. – G. A. R. de Smet: Zur Gesch. der ›Pappa puerorum‹ in Köln. In: Vielfalt des Deutschen. FS Werner Besch. Hg. Klaus J. Mattheier u. a. Ffm. u. a. 1993, S. 193–208. – GötzRüdiger Tewes: Die Bursen der Kölner ArtistenFakultät bis zur Mitte des 16. Jh. Köln u. a. 1993. – J. V. Mehl: J. M.’ Approach to the artes liberales and Advice to Students in his ›Didascalici libri duo‹ (1510). In: Acta Conventus Neo-Latini Hafniensis. Hg. Rhoda Schnur u. a. Binghamton 1994, S. 641–650. – Joachim Knape u. Ursula Kocher in: NDB. – M. Goris u. L. W. Nauta: The Study of Boethius’ ›Consolatio‹ in the Low Countries Around 1500: The Ghent Boethius (1485) and the Commentary by Agricola/M. (1514). In: Northern Humanism in European Context, 1469–1625. Hg. Fokke Akkermann u. a. Leiden u. a. 1999, S. 109–130. – Irmgard Simon: Zum Humanismus in Münster u. zu den Sprichwortslg.en v. J. M. (1513) u. Antonius Tunnicius (1514). In: Niederdt. Wort 40 (2000), S. 47–75; 41 (2001), S. 57–89. – Peter O. Müller: Dt. Lexikographie des 16. Jh. Konzeptionen u. Funktionen frühneuzeitl. Wörterbücher. Tüb. 2001, S. 313–317. – Volker Honemann: J. M. über Buchwesen, Bücher u. Literaturtheorie. In: westfeles vnde sassesch. FS Robert Peters. Hg. Robert Damme u. Norbert Nagel. Bielef. 2004, S. 253–262. – Klaus Fetkenheuer: Zitathäufungen im ›Epigrammatum liber‹ des J. M. (1510). Vier Gedichte u. ihre röm. Musterautoren. In: Nlat. Jb. 6 (2004), S. 5–16. – V. Honemann: Lat.-dt. Konversationstraining im Jahre 1513: Die ›Pappa puerorum‹ des J. M. Mit einem Faks. des Erstdrucks. In: Erziehung, Bildung u. Bildungsinstitutionen. Hg. Rudolf Suntrup u. a. Ffm. u. a. 2006, S. 55–129. – Ralf Georg Czapla: Macario Mucio u. die Anfänge der Rezeption ital. Bibelepik in Dtschld. [...]. In: Mittelalterl. Hss. der Kölner Dombibl. Zweites Symposion. Hg. Heinz Finger u. Harald Horst. Köln 2008, S. 103–141. – Wilhelm Kühlmann: M. In: VL Dt. Hum. Wilhelm Kühlmann
Murnau
Murnau, Friedrich Wilhelm, eigentl.: F. W. Plumpe, * 28.12.1888 Bielefeld, † 11.3. 1931 Santa Monica (Autounfall); Grabstätte: Stahnsdorf, Waldfriedhof. – Regisseur u. Drehbuchautor. Der Sohn eines reichen Tuchfabrikanten studierte zunächst in Heidelberg u. Berlin Philologie u. Kunstgeschichte, bevor er die Reinhardtschule besuchte. 1909 stand er erstmals auf der Bühne. 1914–1917 war er Offizier. 1919 inszenierte M. seinen ersten Film, Der Knabe in Blau. Schon der nächste, Satanas (1920), zeigte seine Vorliebe für alles Übernatürliche, die auch in Der Januskopf (1920), Schloß Vogelöd (1921) u. Nosferatu (1922) deutlich wurde. Niemals zuvor war die Atmosphäre des Grauens, die Grenze zwischen Realität u. Irrealität verwischend, so eindringlich u. poetisch zgl. zu sehen. Balàzs entdeckte in M.s Naturbildern einen »frostigen Luftzug aus dem Jenseits«, Kracauer einen »Lichthof aus Traum und Ahnung«. Von 1924 an drehte M. seine drei Meisterwerke für die Ufa: zunächst Der letzte Mann (1924), die Tragödie um einen stolzen Hotelportier, der, als er zum Klowärter degradiert wird, jeden Lebenshalt verliert; dann Tartüff (1925) u. Faust (1926), Höhepunkte des dt. Kinos der 1920er Jahre. Charakteristisch sind dabei M.s präziser Blick, orientiert an der »Freiheit, Genauigkeit und Phantasie« der Malerei (Rohmer); das subtile Gespür für Komposition u. Rhythmus; die innovativ bewegte, »entfesselte« Kamera; die fantasiereiche Organisation des filmischen Raumes; die visuelle Harmonie, mit der er den Konflikt zwischen Licht u. Schatten zuspitzte; expressive, stimmungsvolle Landschaften u. Interieurs. M. strebte nach Werken, die nicht berühren durch Ereignisse, sondern durch die Atmosphäre, die in u. zwischen den Bildern entsteht. 1926 folgte M. einer Einladung von William Fox nach Hollywood u. inszenierte den Film Sunrise, nach einer Erzählung von Hermann Sudermann. Obwohl der Film ein künstlerischer Erfolg wurde, fand er kein großes Publikum, was M. zu Kompromissen zwang. Mit dem Südseefilm Tabu (1931), einem an Originalschauplätzen gedrehten
Murner
Drama um eine verbotene Liebe, knüpfte er noch einmal an die visuelle Raffinesse seiner großen Meisterwerke an. Für Eisner ist es »Murnaus reifstes Werk«, für Kracauer ein »mythischer Ablauf [...], in dem sich Weihe, Frevel und Sühne einander bedingen«. Weitere Werke: ›Wenn ihr Affen nur öfter schreiben wolltet!‹: Briefw. zwischen F. W. M. u. Lothar Müthel (1915–17). Hg. Eberhard Spiess. Bielef. 1991. – Südseebilder: Texte, Fotos u. der Film Tabu. Hg. Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung. Ausgew., bearb. u. komm. v. Enno Patalas. Bln. 2005. Literatur: Charles Jameux: F. W. M. Paris 1965. – Lotte H. Eisner: M. Ffm. 1979. – Eric Rohmer: M.s Faustfilm. Mchn. 1980. – Fred Gehler u. Ulrich Kasten: F. W. M. Bln./DDR 1990 (mit Texten v. M.). – Fritz Göttler, Frieda Grafe u. a.: M. Mchn. 1990 (mit umfassender Filmografie u. Bibliogr.). – Julian Hanich: Jenseits der Stille: F. W. M.s TABU zwischen Hollywood u. Südsee, Moderne u. Primitivismus u. dem Ende des Stummfilm-Kinos. In: Amerikastudien 47 (2002), S. 503–524. – Hans Helmut Prinzler (Hg.): F. W. M.: ein Melancholiker des Films. Bln. 2003 (mit Filmografie u. Bibliografie ). – Gianluca Miglino: Una sinfonia dello sguardo: F. W. M., ›Faust‹ (1926). In: Da Caligari a Good bye, Lenin! Storia e cinema in Germania. Hg. Matteo Galli. Florenz 2004, S. 65–90. – Claudia Heydolph: Der Blick auf das lebende Bild: F. W. M.s ›Der letzte Mann‹ u. die Herkunft der Bilderzählung. Kiel 2004. – Ute Holl: Strahlen u. Überstrahlen: Risse ins Bild der Gesch. Zur filmischen Historiographie v. F. W. M.s ›Faust‹. In: Die Szene der Gewalt. Hg. Daniel Tyradellis u. Burkhardt Wolf. Ffm./Bern 2007, S. 157–174. Norbert Grob / Red.
Murner, Thomas, * 1469/75 (?) Oberehnheim (Obernai)/Elsass, † vor dem 23.8. 1537 Oberehnheim (Obernai)/Elsass. – Franziskanerkonventuale, kath. Kontroverstheologe, Humanist, Jurist u. Satiriker. Als ältester Sohn eines ratsfähigen Geschlechts besuchte M. die Straßburger Klosterschule der Franziskaner, trat anscheinend 1490 in den Orden ein u. wurde 1494 zum Priester geweiht. Sein Studium in den Jahren 1495–1501 führte ihn nach eigenen Angaben an die Universitäten von Freiburg/Br., Paris, Köln, Rostock, Krakau, Prag u. Wien sowie
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1518/19 nach Basel. In Freiburg/Br. wurde er 1506 zum Dr. theol., in Basel 1519 zum Dr. iur. utr. promoviert. Wesentlich beeinflusst wurde M. theologisch von der Devotio moderna u. Johann Geiler von Kaysersberg, literarisch von Sebastian Brant u. Jakob Locher Philomusus. Bereits M.s frühe Schriften waren dem Zeitgeist geschuldet, wenn er sich mit Astrologie u. Hexenzauber, aber auch mit dem Schweizer-/Schwabenkrieg 1499 oder der Streitfrage der unbefleckten Empfängnis Mariä beschäftigte. Gegen Jakob Wimpfelings Forderung nach Errichtung einer städt. höheren Schule u. dessen Betonung einer dt. Identität des Elsass führte M. als Lehrer der Klosterschule eine Fehde, in der er die ursprüngl. Zugehörigkeit des linken Rheinufers zu Frankreich behauptete (Germania nova. Straßb. 1502). Vermutlich durch Vermittlung des habsburg. Reichslandvogts Caspar von Mörsperg kam M. in Kontakt zu Maximilian I., der ihn 1505 zum poeta laureatus krönte. Ort u. Anlass dieser Ehrung sind unbekannt. Als Lektor in Freiburg/Br. (1508), Bern (1509) u. Frankfurt/M. (von 1511 bis 1513) sowie als Guardian in Speyer (1510) u. Straßburg (1513/14) vertiefte M. seine Beschäftigung mit den studia humanitatis. Er widmete sich didaktischen (Chartiludium logicae. Krakau 1507), philologischen (De reformatione poetarum. Straßb. 1509) u. theologischen Studien (Ritus et celebratio phase iudeorum. Ffm. 1512), die einiges Aufsehen erregten. Als Beobachter des Berner Jetzerhandels, der mit der öffentl. Verbrennung von vier der Inszenierung falscher Wunder beschuldigten Dominikanern endete, verfasste M. 1509 mehrere Schriften gegen den gegnerischen Bettelorden, darunter auch sein erstes deutschsprachiges Werk Von den fier ketzeren Prediger ordens (Straßb.?). In die Zeit seines Frankfurt-Aufenthaltes, in der M. Zeuge des Reuchlin-Pfefferkorn-Streits um die Bücher der Juden wurde, fällt die Vollendung u. Publikation seiner erfolgreichen Reimpaardichtungen Narrenbeschwörung u. Schelmenzunfft (beide Straßb. 1512). In Anlehnung an Brants Narrenschiff u. Geilers Predigten, aber auch vor dem Hintergrund volkstümlicher franzi-
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skan. Kanzelberedsamkeit, gelang es M. hier, seine christlich-reformerischen Ansichten in popularisierend satirischem Gewande zu vermitteln. Das Narrenmotiv Brants findet sich bei ihm in weniger artifizieller Form u. gilt einer deutlich verschärften Moralkritik an allen Ständen, die M. sprachlich meisterhaft (u. darin Brant übertreffend) zu formulieren wusste. Beide Schriften erwiesen sich als ausgesprochen erfolgreich u. begründeten M.s Ruf als vielleicht bedeutendster deutschsprachiger Satiriker des 16. Jh. Die Narrenbeschwörung wurde in den 1550/60er Jahren mehrmals von Georg Wickram herausgegeben, die Schelmenzunfft erschien bis 1665 in rd. 20 Auflagen. M.s weiteren Dichtungen ist dieser Erfolg verwehrt geblieben. Die erbaul. Allegorie Ein andechtig geistliche Badenfahrt (Straßb. 1514) versinnbildlicht anhand einer Badeprozedur die seelische Reinigung des bußfertigen Menschen durch Gott, während sich die Satiren Mühle von Schwindelsheim (Straßb. 1515) u. Geuchmatt (1514/15, gedr. Basel 1519) in bewährter Manier gegen die Narrheit verliebter Frauen u. Männer richtet. Ferner entfaltete M. eine Tätigkeit als Übersetzer u. a. von Vergils Aeneis (Straßb. 1515), Justinians Institutiones (Basel 1519) u. Ulrich von Huttens SyphilisTraktat (Straßb. 1519). Trotz seiner scharfen Kritik an den – nicht nur kirchl. – Missständen seiner Zeit, die sich freilich nicht auf Institutionen wie Kaiser- u. Papsttum erstreckte u. stets moralisch blieb, begann M. im Herbst 1520 seinen zunächst anonymen Kampf gegen die Reformation. Anfangs durchaus versöhnlich argumentierend (Ein christliche und briederliche ermanung. Straßb. 1520), ging er rasch in die Offensive, um den Opfercharakter der Messe u. die Autorität des Papsttums zu verteidigen u. Luther als Aufrührer zu brandmarken. Zu diesem Zweck gab er u. a. eine dt. Übersetzung von Luthers De Captivitate Babylonica heraus u. prangerte dessen Verbrennung der päpstl. Bannandrohungsbulle an. Rasch zur Zielscheibe reformatorischer Propaganda werdend, verfasste M. mehrere Schriften zu seiner Verteidigung u. versuchte sich mit altbewährten Mitteln zu revanchieren: Seine Satire Von dem Großen Lutherischen Narren (Straßb.
Murner
1522), die den Reformator als Vorkämpfer eines Libertinismus gegen die bestehende Weltordnung verspottet, gilt als literar. Hauptwerk gegen die Reformation. Städtische Zensurmaßnahmen verhinderten indes eine Verbreitung dieser Schrift u. erschwerten M.s Tätigkeit zusehends. Als Gast Heinrichs VIII. verbrachte er den Sommer 1523 in London u. scheint dort auch Thomas Morus begegnet zu sein. Als Vertreter des Straßburger Bischofs u. des Herzogs v. Lothringen nahm er 1523/24 am Nürnberger Reichstag teil u. stritt 1524 in Straßburg mit Martin Bucer u. Wolfgang Capito über das Abendmahl. Nach Aufhebung seines Klosters wechselte M. nach Oberehnheim, von wo aus er kurze Zeit später vor dem Bauernkrieg in die Schweiz floh. Zwischen 1525 u. 1529 lebte M. in Luzern, wo er seit 1527 als Stadtpfarrer wirkte u. mittels einer eigenen Druckerei wesentl. Anteil am Kampf gegen die Schweizer Reformation hatte. Er nahm 1526 an der Badener Disputation teil u. veröffentlichte deren Akten in einer seinerzeit politisch umstrittenen Ausgabe (Die disputation vor den xij orten. Luzern 1527). Unter seinen weiteren Luzerner Publikationen, die sich nun v. a. gegen Zwingli u. den Übertritt Berns zum reformierten Lager richteten, ist insbes. der Evangelische Kirchendieb und Ketzer Kalender (Luzern 1527) als M.s wohl maßlosestes Pamphlet zu nennen; alle anderen Schriften lassen die sprachgewaltige Rhetorik früherer Tage dagegen zunehmend vermissen. Da Zürich u. Bern 1529 im Rahmen von Friedensverhandlungen seine Auslieferung forderten, kehrte M. in seine Heimat zurück, nachdem er sich noch für kurze Zeit am kurpfälz. Hof in Heidelberg aufgehalten hatte. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er als Pfarrer in Oberehnheim mit der handschriftl. Übertragung der Enneades des venezian. Humanisten Marcus Antonius Sabellicus (d.i. Marcantonio Coccio). Mit einer charismat. Persönlichkeit u. vielfältigen Neigungen begnadet, zählt M. mit seinem virtuosen Sinn für öffentlichkeitswirksame Medien- u. Kommunikationsformen, aber auch mit seinem innerl. Festhalten an einer scheinbar unveränderl. Weltordnung zu den interessantesten Persönlich-
Murr
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keiten der Übergangsepoche vom MA zur Murr, Christoph Gottlieb von, * 6.8.1733 Neuzeit mit all ihren Gegensätzen. Die For- Nürnberg, † 8.4.1811 Nürnberg. – Polyschung ist diesem uneinheitl. Leben u. Werk histor. M.s bislang nur leidlich gerecht geworden: Trotz mehr als 180 Monografien u. Aufsätzen Nach dem Besuch des Nürnberger Gymnasiseit dem 18. Jh. stehen beispielsweise eine ums u. breit gefächerten Studien an der Beschäftigung mit seinem lat. Œuvre u. sei- Universität Altdorf knüpfte M. – 1757–1761 ner Übersetzertätigkeit sowie das Schließen auf Reisen – in den Niederlanden, England, zahlreicher biogr. Lücken auch weiterhin aus. Österreich u. Italien Kontakte zu zahlreichen Gelehrten u. erweiterte seine bedeutende Ausgaben: Adolf Laube (Hg.): Flugschr.en gegen Kunst- u. Autografensammlung, die Goethe die Reformation. 2 Bde., Bln. 2000. – Hedwig Heger (Hg.): M. A. Sabellici Hystory von anbeschaffe- 1788 u. 1790 besichtigte. Ab 1770 bekleidete ner welt. 3 Faks.-Bde., Karlsr. 1987. – Logica me- M. in Nürnberg die Position eines reichsstädt. morativa. Chartiludium logicae, sive totem diale- Zoll- u. Waagamtmanns. ctice memoria. Straßb. 1509. Faks.-Ausg. NieuwSein Journal zur Kunstgeschichte und zur allgekoop 1967. – Wolfgang Pfeiffer-Belli (Hg.): T. M. meinen Litteratur (17 Bde., Nürnb. 1775–89) im Schweizer Glaubenskampf. Münster 1939. – zeugt von einem breiten Gelehrteninteresse Ders. (Hg.): T. M., Die Gottesheilige Messe v. Gott an der gesamten europ., aber auch arab., allein erstiftet. Halle 1928. – Franz Schulz u. a. chines., ind. u. südamerikan. Literatur. So (Hg.): Dt. Schr.en. 9 Bde., Straßb./Bln./Lpz. lässt er seinem Haoh Kjöh Tschwen (Lpz. 1766), 1918–31. – Internet-Ed. mehrerer Schr.en in: The Digital Library of the Catholic Reformation (http:// der Übersetzung eines chines. Romans, im Anhang den Versuch einer chinesischen Sprachsolomon.dlcr.alexanderstreet.com). Literatur: Bibliografien: Klaiber. – VD 16. – lehre für die Deutschen folgen. Die Bibliothèque de Weitere Titel: Theodor v. Liebenau: Der Franziska- peinture, de sculpture, et de gravure (2 Bde., Ffm./ ner T. M. Freib. i. Br. 1913. – Paul Scherrer: T. M.s Lpz. 1770. Neudr. Genf 1973) mit ihrem Verhältnis zum Humanismus. Diss. Mchn. 1929. – Überblick über die ältere u. zeitgenöss. Adalbert Erler: T. M. als Jurist. Ffm. 1956. – Frauke Kunstliteratur fand ebenso starke Beachtung Büchner: T. M. Sein Kampf um die Kontinuität der wie die Abbildungen der Gemälde und Alterthükirchl. Lehre. Diss. Bln. 1974. – Friedrich Eckel: mer, in dem Königlich Neapolitanischen Museo zu Der Fremdwortschatz T. M.s. Göpp. 1978. – ContPortici (8 Bde., Augsb. 1777–99), in denen M. emporaries. – Erwin Iserloh: T. M. OFM. In: Kath. die ital. Kupferstich-Dokumentation der Theologen der Reformationszeit. Bd. 3, Münster 1986, S. 19–32. – T. M. Elsäss. Theologe u. Huma- Ausgrabungen in Herculaneum u. Pompeji nist 1475–1537. Ausstellungskat. Bad. Landesbibl. mit eigenen Kommentaren herausgab. GeKarlsruhe u. Bibliothèque nationale et universitaire genüber seinem literatur- u. kunsthistor. de Strasbourg. Karlsr. 1987. – Barbara Könneker: T. Werk erscheinen die wenigen literar. VersuM. In: Dt. Dichter 2. Stgt. 1988, S. 21–32. – Jason che, wie z.B. seine satir. Sinngedichte (Magdeb. M. Miskuly: T. M. and the Eucharist. New York 1773), belanglos. 1990. – Susanne M. Raabe: Der Wortschatz in den Schiller benutzte M.s Beyträge zur Geschichte dt. Schriften T. M.s. 2 Bde., Bln. 1990. – Sabine des dreyßigjährigen Krieges (Nürnb. 1790) für Heimann: Begriff u. Wertschätzung der menschl. sein Geschichtswerk wie für den Wallenstein. Arbeit bei Sebastian Brant u. T. M. Stgt. 1990. – B. Könneker: Satire im 16. Jh. Epoche – Werke – Mit Lessing, zu dem er noch vor der DruckWirkung. Mchn. 1991. – Hedwig Heger: T. M. In: legung seiner Anmerkungen über Herrn Leßings Füssel, Dt. Dichter, S. 296–310. – Heribert Smo- Laokoon (Erlangen 1769) Kontakt aufgenomlinsky: M. In: Bautz. – Marc Lienhard: M. In: TRE. men hatte, überwarf er sich, indem er den – NDBA. – Peter Ukena: T. M. In: NDB. – LThK 3. ihm befreundeten Rezensenten des Laokoon, Aufl. Bd. 7 (1998), S. 540 f. – RGG 4. Aufl. Bd. 5 Christian Adolph Klotz, mit dem Denkmaal (2002), S. 1589 f. – Dirk Jarosch: T. M.s satir. zur Ehre des sel. Herrn Klotz (Ffm./Lpz. 1772) Schreibart. Hbg. 2006. – Flood, Poets Laureate, polemisch gegen Lessings Kritik verteidigte. Bd. 3, S. 1390–1396. Marc Kalwellis M.s Arbeiten über Dürer u. die Kunstgeschichte Nürnbergs wirkten auf die Berliner Frühromantik.
451 Weitere Werke: Betrachtungen bey dem Absterben [...] Gellerts. Nürnb. 1770. – Briefe eines Protestanten über die Aufhebung des Jesuiterordens. 3 Bde., o. O. [Stgt.] 1773/74. – Beschreibung der vornehmsten Merkwürdigkeiten in [...] Nürnberg u. [...] Altdorf. Nürnb. 1778. Literatur: Clemens Alois Baader: Lexikon verstorbener Baierischer Schriftsteller. Bd. 1,2, Augsb./Lpz. 1824, S. 51–59. – Mummenhoff: M. In: ADB. – Gilbert Van de Louw: Lit. et Kunstgesch. dans le ›Journal zur allg. Litteratur‹ de v. Murr. In: De Lessing à Heine. Hg. Jean Moes u. Jean-Marie Valentin. Paris 1985, S. 161–175. – Peter Wolf: Protestant. ›Jesuitismus‹ im Zeitalter der Aufklärung. C. G. M. u. die Jesuiten. In: Ztschr. für bayer. Landesgesch. 62 (1999), S. 99–137. – Renate Jürgensen: Ein Leben: C. G. M. In. Bibliotheca norica 2 (2002), S. 1310–1324. Dirk Kemper / Red.
Murschel, Israel, * 2.3.1596 Balingen, † 1657 Bischheim (bei Straßburg). – Theologe, Predigtautor, Verfasser einer Straßburg-Allegorie. M. stammte aus einer angesehenen Bürgerfamilie im württemberg. Balingen, sein Großvater war dort Bürgermeister. Im Jahre 1622 studierte M. evang. Theologie an der lutherisch geprägten Landesuniversität Tübingen. Die Vorrede zu seinem anticalvinistischen Vortrag Abstrusa abstrusorum abstrusissima (Straßb. 1622 [recte 1623]), der den Vorrang des Glaubens (»credere«) vor dem Wissen (»scire«) betont u. Herzog Johann Friedrich von Württemberg gewidmet ist, verfasste M. bereits in Straßburg, seiner neuen u. langjährigen Wirkungsstätte. Im Jahre 1626 wurde er zum Pfarrer in Bischheim u. Hönheim, zwei reichsritterschaftl. Dörfern vor den Toren Straßburgs, ordiniert. Im selben Jahr heiratete er Anna Maria Brand, eine Nachfahrin des Humanisten Sebastian Brant. Sie muss bald gestorben sein, da M. im Jahre 1636 mit Dorothea Beinheim getraut wurde. Über dreißig Jahre lang, bis zu seinem Tod, wirkte M. als Pfarrer in Bischheim u. Hönheim, ein gleichnamiger Sohn folgte im Amt nach. Als Geistlicher genoss M. hohes Ansehen in der Straßburger Bürgerschaft, er knüpfte enge Verbindungen zur Universität u. zur luth. Kirchenführung. Diese unterstützte den
Murschel
Druck einer antipapist. Tendenzschrift, Fatorum Romae Papalis Apocalypsis (Straßb. 1634), in der M. aus gewissen Prodigien u. dem sittl. Verfall des Papsttums auf dessen baldiges Ende schließt. Während der schwedisch-frz. Krieg das Elsass vom Deutschen Reich zunehmend isolierte, wurde M. Mitgl. des Kirchenkonvents. Auf Einladung Johann Conrad Dannhauers hielt er im Friedensjahr 1648 im Münster eine große Elsässische Trawr-Predig (Straßb. 1648) sowie eine Elsässische Trost-Predig (Straßb. 1648). In einer eigenen Friedenspredigt (Theatrum Fortunae Pacis. Straßb. 1651) appellierte M. an die evang. Reichsritterschaft im Unterelsass, trotz der politisch prekären Lage auf kaiserl. Beistand zu vertrauen. M.s schriftstellerisches Werk, das in Gattungsprofil u. Stil der luth. Reformorthodoxie verpflichtet ist, umfasst drei charakterist. Formen: polemische Streitschrift, Buß- u. Klageschrift u. meditative Erbauungsliteratur. Eine eigenartige Mischung pietistischer u. patriot. Argumente charakterisiert den Flos Reipublicae Argentinensis. Das ist: RegimentsBlume/ Oder: Abtruckh der hochlöblichen und weitberühmten Reipublic [...] Strasburg [...] in gestalt einer blüenden Lilien (Straßb. 1653): M.s Allegorie auf die Verfassung der Stadt Straßburg beglaubigt umständlich die Eigenständigkeit der Straßburger Lilie, des Stadtwappens, u. wehrt frz. Herrschaftsansprüche ab. Zur Stärkung der elsäss. Identität treten in M.s Argumentation, die ein Kupferstich bildlich konkretisiert, konfessionelle u. interne Gegensätze zurück. Doch vermochte der pietist. Patriotismus von M.s RegimentsBlume den Machtverlust Straßburgs nicht aufzuhalten. Weitere Werke: Aurora sive praegustus vitae aeternae. Das ist: Morgenröthe oder Vorschmack deß ewigen Lebens. Ffm. 1650. Vespera occidentis gratia Dei. Das ist: Untergang der Gnade Gottes. Oder Vorschmack deß ewigen Todes. Ffm. 1650. Literatur: Achim Aurnhammer: I. M.s pietist. Patriotismus. Zur Krise der luth. Orthodoxie in Straßburg am Ende des Dreißigjährigen Krieges. In: Lit. u. Kultur im dt. Südwesten zwischen Renaissance u. Aufklärung. Hg. Wilhelm Kühlmann. Amsterd./Atlanta 1995, S. 219–243. Christian Wolff: I. M. In: NDBA, Lfg. 27 (1996), S. 2787. Achim Aurnhammer
Mursinna
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Mursinna, Friedrich Samuel, * 17.6.1754 Musäus, Johann Karl August, * 29.3.1735 Berlin, † Juni 1805 Berlin. – Verfasser Jena, † 28.10.1787 Weimar; Grabstätte: populärer historischer Schriften, Unter- ebd., St. Jakobs-Friedhof. – Verfasser von haltungsschriftsteller. satirischen Romanen u. Märchenbearbeitungen; Literaturkritiker. M.s Vater, Samuel Mursinna, war seit 1759 Theologieprofessor in Halle, wo sein Sohn 1772 ein Studium begann. 1777 wurde M. Inspektor u. Lehrer an der Friedrichschule zu Breslau, 1778 wechselte er in gleicher Funktion ans Joachimsthalsche Gymnasium nach Berlin. Seit 1783 privatisierte er in Halle, später in Berlin. M.s histor. Schriften, bes. seine Biografien (z.B. Leben der unglücklichen Maria Stuart. Meißen 1791), tragen ihre Stoffe mit diskreter Parteilichkeit leicht verständlich vor. Mit seinen »Beispielsammlungen« Leben und Charaktere berühmter und edler im Jahr 1790 [bzw. 1791] verstorbener Männer (Halle 1792 u. 1793) suchte M. bes. die »empfindungsvolle« männl. Jugend zu erreichen u. »zur rühmlichsten Nachahmung« anzuregen. Früh entdeckte er den Markt fürs Friderizianische. Die Substanz seines »Lesebuchs für Jedermann« Die Regierung Friedrichs des Großen (8 Bde., Halle 1787–90) verwertete er in weiteren Werken; seine Übersetzung Friedrichs des Großen Gedanken über Religion (Halle 1789) wurde mehrmals (zuletzt Mchn. 1940) aufgelegt. Erfolgreich war er auch mit seinen Boccaccio u. La Fontaine gekonnt nachempfundenen galant-erot. Erzählungen. M. ließ fast alle seine Werke anonym erscheinen.
Weitere Werke: Ueber die Vertreibung der Pfälzer aus ihrem Vaterlande u. ihrer Aufnahme in die Preuß. Staaten. Halle 1788. – Kom. Erzählungen im Geschmak des Boccaz. 6 Tle. in 3 Bdn., Halle 1788–91. – Das neugierige Mädchen [...]. Halle 1789 (E.en). – Fünfzehn Freuden der Ehe [...]. Gotha 1794. – Leben Friedrich des Zweyten, Königs v. Preussen, für den Bürger- u. Bauernstand bearb. Halle 1794. Literatur: Hamberger/Meusel 5. – Jöcher/Adelung 5. Hans Leuschner / Red.
Nach einem Theologiestudium in Jena (1754–1758) wandte sich M., Sohn eines Landrichters, der klass. Philologie zu. 1763 wurde er Pagenhofmeister, 1769 Gymnasialprofessor in Weimar. Ab 1766 war er literaturkrit. Mitarbeiter der von Nicolai herausgegebenen »Allgemeinen deutschen Bibliothek«. M. lebte zurückgezogen seinen Ämtern, seinem 1768 gegründeten Hausstand mit zwei Kindern, seinem Garten bei Weimar – zu dem er im Alter ein Gartentagebuch verfasste – u. der Literatur. Anonym erschien 1760–1762 in drei Bänden Grandison der Zweite, oder Geschichte des Herrn von N. ***, in Briefen entworfen (Eisenach; später selbstkritisch umgearbeitet: Der deutsche Grandison, auch eine Familiengeschichte. Eisenach 1781/82), eine Parodie nach Art des Don Quijote des Cervantes auf den schwärmerisch-sentimentalen Enthusiasmus, wie er sich am Tugendroman des engl. Buchhändlers Samuel Richardson, Sir Charles Grandison (1753), entzündet hatte. Es folgte der gegen Lavaters Physiognomische Fragmente (1775–78) u. die durch sie ausgelöste Mode der philanthrop. Erziehung u. der wilden Charakterdeutungen aus Gesichtsbildung u. Knochenbau sowie gegen den exzentr. Geniekult des Sturm u. Drang gerichtete satir. Roman Physiognomische Reisen (4 Bde., Altenburg 1778/ 79), der breiten Erfolg hatte u. als einer der wenigen dt. realistischen Romane der Zeit von Rang gelten kann. Der Hauptheld ist ein wohlhabender Gutsherr, der über dem Studium von Lavaters Werk beinahe den Verstand verloren hat u. seine neu erworbene, vermeintlich wiss. Menschenkenntnis zunächst im eigenen Haus, dann auf einer abenteuerl. Reise anzuwenden sucht. Er fällt von einem Irrtum in den anderen u. wird beinahe zum Menschenfeind, bis die Einsicht in die falschen Grundsätze des Lavater’schen Systems ihn schließlich von seinem Wahn befreit. Für die Zeitgenossen waren die Physiognomischen Reisen ein großes Buch der Auf-
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klärung gegen den Aberglauben u. Obskurantismus der Zeit. Als Literaturkritiker rezensierte M. in Nicolais »Allgemeiner deutschen Bibliothek« mit Witz u. Eleganz etwa 350 zeitgenöss. Romane nach den Maßstäben einer an der antiken Rhetorik orientierten aufklärerischen Kunsttheorie. 1785 schrieb M. einen modernen Totentanz in Versen zu Radierungen von Johann Rudolf Schellenberg: Freund Hein’s Erzählungen in Holbein’s Manier (Winterthur). Er bereitete eine mehrbändige Novellensammlung vor, deren erster Band mit dem Titel Straußfedern 1787 in Berlin herauskam u. vier kürzere Erzählungen enthielt. (Nach M.’ Tod haben u. a. die Geschwister Sophie u. Ludwig Tieck an dieser weit verbreiteten Sammlung weitergearbeitet.) Berühmt wurde M. durch seine Volksmärchen der Deutschen, die in fünf Teilen 1782–1786 in Gotha erschienen (Neudr. der Erstausg. mit den Illustrationen v. Ludwig Richter u. anderer zur Ausg. v. 1842. Nachw. u. Anmerkungen v. Norbert Miller. Mchn. 1976. Düsseld. 2003). Es handelt sich um eine Bearbeitung von Legenden-, Sagen- u. eigentl. Märchenstoffen, in die M. ironisch u. satirisch Zeitbezüge einwebt, mit der er v. a. aber heiter fabulierend zu unterhalten sucht. Volks- u. Aberglauben werden spielerisch verwendet. In einer Vorrede rechtfertigt M. die Herausgabe von Märchen mit dem Hinweis auf die Bedeutung der »Phantasie«, des »Wunderbaren« u. des »Außerordentlichen« neben dem Verstande. Manche Stoffe sind dieselben, die später auch die Brüder Grimm in ihren Kinder- und Hausmärchen aufgegriffen haben (Schneewittchen etwa entspricht bei M. Richilde), doch sucht M. nicht den naiven Märchenton zu treffen, sondern bemüht sich um einen Stil, der für Kinder u. Erwachsene gleichermaßen geeignet ist. Witzige Anspielungen u. Anmerkungen, Spracharchaismen, Fremdworteffekte u. der häufige Wechsel der Stillagen konstituieren eine humorist. Erzählweise, die den Geist der Aufklärung nicht verleugnet, sondern als Erheiterung ins Werk setzt. Am bekanntesten wurden die Legenden von Rübezahl nach den Schriften des Leipziger Magisters Johann Praetorius; auf der Höhe
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seiner stilist. Meisterschaft zeigt M. sich in der Erzählung Melechsala, die aus thüring. Sagen schöpft u. die weit verbreitete Legende vom doppelt beweibten Grafen von Gleichen zum Inhalt hat. Weitere Erzählungen gehen auf ritterl. Volksbücher des MA zurück (Rolands Knappen), auf Chroniken (Der geraubte Schleier, nach einer Zwickauer Lokalchronik; Libussa, nach einer Geschichte Böhmens) oder frz. Feenmärchen; doch werden alle literar., histor. oder mündl. Quellen von M. frei nach seiner Manier behandelt, z.T. auch fast vollständig erfunden (Die Nymphe des Brunnens; Liebestreue). Zu M.’ größten Bewunderern gehörte Christoph Martin Wieland, der in der Vorrede zu seiner 1804/05 in Gotha erschienenen Ausgabe der Volksmärchen der Deutschen »die ganz eigentümliche und unnachahmliche, naiv-witzige und gutmütig-schalkhafte Laune des Verfassers« zum »vorzüglichsten Reiz dieser Erzählungen« erklärte. Weitere Werke: Das Gärtnermädchen. Weimar 1771 (Libr.). – Nachgelassene Schr.en. Hg. August v. Kotzebue. Lpz. 1791. – Moralische Kinderklapper. Frei nach Monget. Gotha 1794. Neudr. Lpz. 1968. Literatur: Moritz Müller: J. K. A. M. Jena 1867. – Adolf Stern: M. In: Ders.: Beiträge zur Literaturgesch. des 17. u. 18. Jh. Lpz. 1893. – Richard Andrae: Studien zu den Volksmärchen der Deutschen v. M. Diss. Marburg 1897. – Emil Geschke: Untersuchungen über die beiden Fassungen v. M.’ Grandisonroman. Diss. Königsb. 1910. – August Ohlmer: M. als satir. Romanschriftsteller. Diss. Mchn. 1912. – Erwin Jahn: Die ›Volksmärchen der Deutschen‹ v. M. Diss. Lpz. 1914. – Franz Götting: M. u. sein Weimarer Gartentgb. In: Goethe-Kalender 29 (1936). – Walter Gresky: M.-Forsch.en. Cottbus 1939. – Dorothea Berger: Die ›Volksmärchen der Deutschen‹ v. M. Ein Meisterwerk der dt. Rokokodichtung. In: PMLA 69 (1954). – Alfred Richli: Die Volksmärchen der Deutschen. Zürich 1957. – Evelyn Mayr: M. u. die engl. Lit. des 18. Jh. Diss. Innsbr. 1958. – Karl S. Guthke: M. u. das Übernatürliche im Sensationsroman. In: Archiv 195 (1958/59). – Guy Stern: A German Imitation of Fielding. M.’ ›Grandison der Zweite‹. In: Comparative Literature 10 (1958). – Elizabeth Teichmann: M. et ›Le barbier de Goettingue‹. In: Revue de littérature comparée 33 (1959). – Fritz Kühnlenz: Weimarer Porträts. M. Rudolstadt 1961. – Josefine Nettesheim: M.’ ›Legenden v. Rübezahl‹ In: Jb. des Wiener Goethe-Vereins 68 (1964). – Friedrich Mi-
Muschg
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chael: Zur Unterhaltung des Geistes. M., ›Die Volksmärchen der Deutschen‹. In: Ders.: Der Leser als Entdecker. Sigmaringen 1983. – Barbara Carvill: Der verführte Leser. J. K. A. M.’ Romane u. Romankritiken. New York/Bern u. a. 1985 (mit ausführl. Bibliogr.). – Volker Klotz: M. In: Ders.: Das europ. Kunstmärchen. Stgt. 1985. – Elisabeth Frenzel: Mißverstandene Lektüre. M.’ ›Grandison der Zweite‹ u. Wielands ›Die Abenteuer des Don Silvio zu Rosalva‹, zwei dt. Donquichottiaden des 18. Jh. In: Gelebte Lit. in der Lit. Hg. Theodor Wolpers. Gött. 1986. – Dieter Arendt: M.’ MärchenErzählung ›Der geraubte Schleier‹ oder der ›verständige Leser‹ als Voyeur. In: Das Erotische in der Lit. Hg. Thomas Schneider. Ffm. u. a. 1993, S. 29–54. – Christoph Siegrist: Satir. Physiognomiekritik bei M., Pezzl u. Klinger. In: Physiognomie u. Pathognomie. FS für Karl Pestalozzi. Hg. Wolfram Grodeck u. Ulrich Stadler. Bln. 1994, S. 95–112. – David Blamires: The Reception of M.’ Fairytales in English up to 1900. In: Writings and Rewritings [...] for Peter France. London 2001, S. 171–183. – Malgoruzata Kibisiak: Märchen u. Meta-Märchen. Zur Poetik der ›Volksmärchen der Deutschen‹ v. J. K. A. M. Fernwald 2002. – Rita Seifert: J. K. A. M. Schriftsteller u. Pädagoge der Aufklärung. Weimar 2008. Harry Timmermann / Red.
Muschg, Adolf, * 13.5.1934 Zollikon/Kt. Zürich. – Erzähler, Dramatiker, Hörspielautor, Essayist. M., Sohn eines Volksschullehrers u. einer Krankenschwester sowie Halbbruder des Basler Literaturwissenschaftlers Walter Muschg, studierte ab 1953 in Zürich u. zwei Semester in Cambridge Germanistik, Anglistik u. Philosophie. 1959 promovierte er bei Emil Staiger über Ernst Barlach, unterrichtete dann an einem Gymnasium, später an der International Christian University in Tokio (1962–1964). 1964 kam M. als wiss. Assistent von Walther Killy ans Deutsche Seminar in Göttingen, ab 1967 lehrte er an der Cornell University in Ithaca (New York), anschließend ein Jahr in Genf. Von 1970 bis 1999 war M. Professor für dt. Sprache u. Literatur an der ETH Zürich. M. gehörte zu den Initiatoren der politisch engagierten Autorenvereinigung »Gruppe Olten«, arbeitete von 1974 bis 1977 mit an der Vorbereitung einer Totalrevision der
Schweizerischen Bundesverfassung u. kandidierte, jedoch vergeblich, 1975 als Mitgl. der Zürcher Sozialdemokratischen Partei für den Ständerat. Bis heute stößt M. v. a. als Kritiker der Schweiz polit. Diskussionen an (Die Schweiz am Ende. Am Ende die Schweiz. Ffm. 1990. Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt. Ffm. 1997. Selbstachtung, in: »Die Zeit«, 17.9.2009) u. engagiert sich auch außerhalb seiner vielfach ausgezeichneten Literatur für die Idee u. Weiterentwicklung Europas als kulturelles Projekt, in dem Werte des Maßes, der Toleranz u. des Zweifels die Gegengewichte zu einseitigem wirtschaftl. Wachstum u. techn. Fortschritt bilden (Was ist europäisch? Reden für einen gastlichen Erdteil. Mchn. 2005). M., von 2003 bis 2005 Präsident der Berliner Akademie der Künste, lebt heute in Männedorf bei Zürich u. in Berlin. Sein erster Roman, Im Sommer des Hasen (Zürich 1965), führte schlagartig zum schriftstellerischen Durchbruch: Während die Schweizer Literatur der 1960er Jahre von regionaler Thematik u. einer einfachen bis kargen Sprache geprägt war, überrascht M. hier mit der Wahl eines fernöstlich-exot. Schauplatzes u. mit seiner ausschweifendspielerischen Art zu erzählen. Die Erfahrungsberichte junger Autoren, Stipendiaten eines Werbeunternehmens, über einen JapanAufenthalt bilden den Handlungsrahmen. Dieser gibt M. einerseits die Möglichkeit, seine eigene Begegnung mit Japan in vielen Masken zu gestalten, andererseits wird in iron. Distanz gerade die sprachl. Virtuosität, die den Roman selbst auszeichnet, auf ihre Marktgerechtigkeit hin geprüft u. im Umgang mit dem Fremden als zu leichtfertig befunden: Werbechef wird derjenige, der nicht schreiben konnte. Bis heute ist M.s Faszination für Land u. Kultur Japans, die schon in der Kindheit begann, ungebrochen. Dies manifestiert sich u. a. in Zeichenverschiebung. Über japanische Lebens- und Denkart (Eggingen 1991) u. in Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat. Sieben Gesichter Japans (Ffm. 1995). Entstanden vor dem Hintergrund beginnender Studentenproteste, ist M.s zweiter Roman Gegenzauber (Zürich 1967) zeitbezogener als sein Vorgänger: Er erzählt von einer
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Wohngemeinschaft revoltierender Intellektueller u. Künstler, die listig die Erhaltung ihres alten Hauses gegen Pläne der Behörden durchsetzt, bis eines der Mitglieder die Geschichte journalistisch ausschlachtet u. damit den Lebensraum der Gruppe zerstört. Während sich bei anderen Resignation einstellt, schreibt der Ich-Erzähler des Romans, das jüngste Mitgl. der Gruppe, gegen den professionellen Journalisten an, indem er eine Sprache zu finden versucht, die ihren Gegenstand nicht um der schnellen Aufmerksamkeit willen verkauft. Teile der Kritik beklagten ein Missverhältnis zwischen dieser naiven Erzählerrolle u. einer passagenweise abschweifend-artifiziellen Sprache. An M.s kurzen Erzählungen lässt sich verfolgen, was der Kritiker Heinz F. Schafroth als »Zunehmen von Aufmerksamkeit in der Sprache« gerühmt hat. In konstruierter Rollenprosa werden Einzelpersonen dargestellt, deren intimste Not gerade in vermeintlich nebensächl. Details zum Ausdruck kommt. Ist einigen Figuren der Sinn für das Subtile abhanden gekommen, ist er bei anderen übermäßig ausgeprägt. Beide Zustände entstehen durch einen Mangel, den der Leser mit Teilnahme bedenken soll. Bes. beachtenswert ist die Erzählung Besuch in der Schweiz (in: Fremdkörper. Zürich 1968), in der kleinste Gesten zu einem beklemmend-intensiven Lektüreerlebnis beitragen. Der Leser muss sich aus den Lücken in der Kommunikation erschließen, dass die Verlobung des Protagonisten Heinz wegen seiner starken Mutterbindung nicht zustande kommen kann. Die Erzählung, die das Schweizer Bürgertum in ihren Grundwerten angreift, liest sich wie die Vorwegnahme einer Szene aus dem Leben Fritz Zorns, zu dessen Krebs-Autopathografie Mars M. 1977 das Vorwort schrieb. Wie für die Schweizer Literatur der 1970er u. frühen 1980er Jahre charakteristisch, machen M.s Texte das persönl. Leiden als Leiden an einer defizitären Gesellschaft transparent. Den Themenkomplexen Schuld u. Erlösung nähert sich M. von immer neuen Seiten: In Brämis Aussicht (in: Entfernte Bekannte. Ffm. 1976) erkennt der Ich-Erzähler, während er dem Freitod des von der Mutter wertgeschätzten Onkels nachspürt, dass er selbst mit
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seiner Existenz einen »Schuldschein« gezogen hat. Seine Mutter nämlich hätte ohne den Sohn ihrerseits radikalere Entscheidungen für ein glücklicheres Leben treffen können: »Wenn es wahr ist, daß sie sich Streit erspart hat um meinetwillen, dann will ich wenigstens den Preis beim Namen nennen; dann bin ich der Preis. Ich kann ihn nicht bezahlen.« An der Anforderung, in einer Verschuldung »sich selbst und andern gnädig zu sein«, scheitert nicht nur der an Wahnvorstellungen leidende, genial. Dichter Ferdinand Raimund in der Erzählung Ihr Herr Bruder (in: Leib und Leben. Ffm. 1981), sondern auch sein Arzt, der den verzweifelten Patienten – die Szene ist eine der artifiziellsten u. zgl. unmittelbarsten in M.s Werk – vor dem Spiegel mit sich selbst alleine lässt. Im Roman Albissers Grund (Ffm. 1974) findet der Autor im Schema des Kriminalromans eine überzeugende Darstellungsform für seine Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse. Über die individuelle Leidensgeschichte hinaus enthält der Roman eine sozial-polit. Dimension u. deutet hellsichtig Selbstverstrickungen des bürgerl. Schweizer Intellektuellen an. Die Aufgabe des Untersuchungsrichters ist es herauszufinden, warum der Gymnasiallehrer, Offizier, spätere Dienstverweigerer u. Hypochonder Albisser auf seinen Psychotherapeuten Zerutt (unbekannter Herkunft u. zweifelhaften Rufes) acht Schüsse abgegeben hat. Die medizin. Untersuchungen u. die gerichtl. Motivsuche laufen ins Leere. Zwischen den Zeilen erfährt der Leser, dass Albisser in Zerutt eine unanfechtbare Autorität zu finden hoffte, die imstande sein sollte, ihm zu innerer Legitimität zu verhelfen. Dass Zerutt ihn letztlich aus der Passivität holt u. zu unbequemer Selbsteinsicht zwingt, bringt Albisser gegen diesen auf: »Du warst es, der alle Hindernisse für mich verkörperte, auf dem Weg zu mir selbst, also mußte ich dich beseitigen.« Den Nachweis, dass die in der Privatsphäre erworbene Schuld polit. Gründe u. polit. Folgen hat, führt M. im Essay Gottfried Keller (Mchn. 1977). Die literar. Produktivität u. die legendäre Diensttreue des Zürcher Stadtschreibers sind als lebenslange Abbuße der Schuld zu verstehen, die aus dem Verlust des
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Vaters u. der traumat. Bindung an die Mutter erwuchs – eine Lesart, die einen wichtigen Beitrag zur Keller-Forschung u. zur Psychohistorie des 19. Jh. darstellt. Neben Keller setzte M. sich in essayist. Form mit Goethe auseinander (Goethe als Emigrant. Ffm. 1986. Von einem, der auszog, leben zu lernen: Goethes Reisen in die Schweiz. Ffm. 2004. Der Schein trügt nicht. Ffm./Lpz. 2004); u. a. finden Goethes Versuche einer ganzheitl. Weltsicht, der faust. Pakt u. das Motiv des »offenbaren Geheimnisses« Widerhall auch in M.s Dichtung. Der aus den Frankfurter Poetikvorlesungen hervorgegangene Band Literatur als Therapie? (Ffm. 1981) knüpft über Themen wie Krankheit u. Todesnähe an das erwähnte MarsVorwort an u. liefert erste Wegmarken für die Beschreibung politischer u. literar. Strömungen der späten 1960er u. 1970er Jahre. Indem die Titelfrage auf die Produktion u. Rezeption von Literatur, auf persönl. Erfahrungen u. psycholog. Erkenntnisse bezogen diskutiert wird, lotet M. Möglichkeiten u. Grenzen des heilsamen Potentials der Kunst aus. Literatur u. Therapie dürfen nicht gleichgesetzt werden, aber beide haben ihren Fluchtpunkt in der Lebens-Kunst. Die Reflexion der Widersprüche zwischen Schreiben u. Leben mündet in dem drei Jahre später erscheinenden Roman Das Licht und der Schlüssel (Ffm. 1984), ein Gattungsamalgam aus Vampir-, Kriminal- u. Kunstroman, in dem ein Vampir eine todkranke Frau mittels Geschichten über seine weibl. Biss-Opfer zu heilen versucht. Der parallel erteilte Auftrag an den Vampir, ein vollkommenes Stillleben zu finden, kann nicht erfüllt werden; die Suche danach jedoch eröffnet beiläufig neue Sichtweisen auf das Erzählen, auf Mystifikationen, Grenzen des Heilsamen der Kunst u. Wendepunkte des Lebens: Am Ende gesundet Mona mit einem neuen Mann an ihrer Seite. Ein hohes Maß an Selbstreflexivität bergen insbes. die 13 angehängten Briefe, die um die Beschreibung von niederländ. Stillleben des 17. Jh.s kreisen u. Rückbezüge zu den vorangegangenen Romankapiteln erlauben. Ein Jahr später setzt sich in der Rede Psychoanalyse und Manipulation (Gött. 1985) durch, was Das Licht und der Schlüssel rückblickend bereits ankündigte: Die kopflastigen u.
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körperfeindl. Ödipus- u. Narziss-Mythen hält M. nicht länger für tragfähig. Er plädiert stattdessen als neuen Leitmythos für den des Orpheus, da dieser die Kunst ins Recht ihrer eigenen Regeln setze u. eine ganzheitl. Sicht auf den Menschen erlaube. In dem gemeinhin als Opus Magnum angesehenen Roman Der Rote Ritter (Ffm. 1993), für den M. 1994 den Georg-Büchner-Preis erhielt, wird Wolframs von Eschenbach Parzival, der den Autor seit seiner späten Jugend fesselt, mit psychologischem u. polit. Blick bearbeitet. Der Anspruch auf epische Totalität spiegelt sich in einem welthaltigen Erzählen ebenso wie in der Fülle der Figuren wider. Gleichzeitig ist der Roman inhaltlich u. formal offen angelegt: Das letzte Kapitel im Roten Ritter, in dem laut Inhaltsverzeichnis das Geheimnis des Grals preisgegeben werden soll, fehlt, das vorletzte schließt mit »Pst!«. Der im Folgejahr erschienene Band Herr, was fehlt Euch. Zusprüche und Nachreden aus dem Sprechzimmer des heiligen Grals (Ffm.), der sich als Begleitband, nicht als Schlüssel zum Roten Ritter versteht, vertieft die augenscheinl. Torheit des Helden, seine schuldlose Schuld u. die Frage nach dem rechten Leben u. setzt die eigene implizite Poetologie zu dunkler Sprache, Ironie u. der Gleichzeitigkeit von Gegensätzen, wie sie bereits im mhd. Parzival angelegt sind, in Beziehung. Die Suche nach Glück u. das Aufleben von vergangen Geglaubtem sind bestimmende Themen sowohl im Roman Sutters Glück (Ffm. 2001), in dem ein gerade verwitweter Gerichtsreporter von einem vermeintlich abgeschlossenen Kriminalfall eingeholt wird, der nun sein eigenes Leben zu betreffen beginnt, als auch in der Erzählung Das gefangene Lächeln (Ffm. 2002), in der die Figur Josef Kaspar Kummer – lange Zeit im Glauben, ein Mörder zu sein – ihre Geschichte niederschreibt, um den »Familienfluch« des unglückl. Lebens zu durchbrechen. In den beichtähnl. Aufzeichnungen, die zwei Jahrzehnte später erst in die Hände des Enkels gelangen sollen, wird die Darstellung unbefriedigten Begehrens mit bibl. Bezügen auf die unbefleckte Empfängnis u. Erbschuld unterlegt. Während Das Licht und der Schlüssel die eigene Dichtung im Medium der Malerei re-
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flektierte, setzt der Roman Eikan, du bist spät (Ffm. 2005) Leben u. Musik in eins. Einem berühmten Schweizer Cellisten u. Lebenskünstler wird von einem todkranken Kindheitsfreund eine Komposition zugeschickt, die er zur Aufführung bringen soll. Deren verschlüsselte Botschaft aufzudecken, hilft seine japan. Freundin, selbst eine Cellistin. Nach der Aufführung kommt es im Spiel zu einem Missverständnis, infolgedessen sie ihn ohne Erklärung verlässt. In einem von ihr arrangierten zweiten Anlauf, der Protagonist ist mittlerweile 60 Jahre alt, durchläuft er, indem er erneut an die gemeinsam besuchten Plätze geführt wird, einen Prozess der Bewusstwerdung. Aufgrund der Doppelstruktur, die einen Erkenntnisprozess ermöglicht, wurde der Roman als fernöstl. Variante der Parzival-Geschichte gedeutet. In dem umfangreichen politisch-histor. Kriminalroman Kinderhochzeit (Ffm. 2008) kommt der Historiker Klaus Marbach, Mitarbeiter der Bergier-Kommission u. gleichzeitig Namensvetter des Ich-Erzählers aus dem Roman Gegenzauber, in die fiktive Grenzstadt Nieburg, um der Verwicklung eines dt.-schweizer. Unternehmens im Nationalsozialismus nachzugehen. Seine Untersuchungen driften von den Makrozusammenhängen jedoch bald schon zu den Beziehungsgeflechten um die trag. Liebesgeschichte zwischen der Konzern-Erbin Imogen Selber-Weiland u. dem Schriftsteller Iring Selber. Über das Verwischen von Figurenumrissen sowie der Grenzen von vergangenem u. gegenwärtigem, innerem u. äußerem Geschehen geraten Marbachs Nachforschungen schließlich zur Autopsie des eigenen Ichs. Die Vielseitigkeit des Autors M. schlägt sich in einer großen künstler. Spannungskurve nieder, die gattungstheoretisch von (zumeist scheiternden) Liebesgeschichten, kriminalist. Handlungselementen, Adaptionen mittelalterl. Stoffe, polit. Romanen bis hin zum Künstler- bzw. Kunstroman reicht. Die Vielschichtigkeit der Texte resultiert ihrerseits aus einer psychologischen, polit., poetolog. u religiösen Aufladung. Komische Facetten stehen eng bei elementaren Problemen wie Identität, Sexualität/Erotik, Fremde, Krankheit u. Tod. In immer neuen Modellanord-
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nungen erproben M.s Figuren, mit Grenzen umzugehen. Charakteristisch ist das Spiel mit Elementen aus Vorgängertexten, das variierend, relativierend oder ironisierend im Einen immer auch das Andere spiegelt. Während über die analyt. Klarheit u. stilist. Brillanz der M.’schen Erzählungen Konsens herrscht, ruft die Komplexität seiner Romane durch Motivverschränkungen, Zeitsprünge, wendungsreiche Handlungen u. die andeutende, schwer fassbare Sprache von Seiten der Literaturkritik Zuspruch hervor, aber auch den Vorwurf, zu viel gleichzeitig zu versuchen. In der Rede Etwas, das noch keiner gesehen hat (Merzig 2008), gehalten anlässlich der Eröffnung des Europäischen Schriftstellerkongresses 2007, aktualisiert M. eine schriftsteller. Maxime: Nicht etwas gänzlich Neues zu sehen, sondern im Alltäglichen etwas ganz neu zu sehen u. als solches sichtbar zu machen. Über die Beschreibung von Schreibprozessen u. Lesevorgängen ruft M. zudem das latente Spannungsverhältnis von Suchen u. Finden in seiner Dichtung in Erinnerung, die – wie der Gral des Parzival-Stoffs – gerade von einem Geheimnis bewahrenden Charakter lebt. Weitere Werke: Rumpelstilz. Ein kleinbürgerl. Trauersp. Zürich 1968. – Mitgespielt. Zürich 1969 (R.). – Die Aufgeregten v. Goethe. Polit. Drama. Urauff. Zürich 1970. – Papierwände. Bern 1970. – Liebesgesch.n. Ffm. 1972. – Kellers Abend. Urauff. Basel 1975. In: Theater heute, H. 6 (1975). – Besuch in der Schweiz. Stgt. 1978 (E.en). – Noch ein Wunsch. Ffm. 1979 (E.). – ›Besprechungen 1961–79‹. Basel 1980. – Baiyun oder die Freundschaftsgesellsch. Ffm. 1980 (R.). – Übersee. Drei Hörsp.e. Stgt. 1982. – Ausgew. Erzählungen. Ffm. 1983. – Unterlassene Anwesenheit. Lpz. 1984 (E.en). – Empörung durch Landschaften. Vernünftige Drohreden. Zürich 1985. – Der Turmhahn u. a. Liebesgesch.n. Ffm. 1987. – Liebe, Lit. & Leidenschaft. A. M. im Gespräch mit Meinhard SchmidtDegenhard. Zürich 1995. – Nur ausziehen wollte sie sich nicht. Ein erster Satz u. seine Forts. Ffm. 1995. – O mein Heimatland! Ffm. 1998. – Gehen kann ich allein u. andere Liebesgesch.n. Ffm. 2003. – Wenn es ein Glück ist. Liebesgesch.n aus vier Jahrzehnten. Ffm. 2008. Literatur: Judith Ricker-Abderhalden (Hg.): Über A. M. Ffm. 1979. – Renate Voris: A. M. Mchn. 1984. – Manfred Dierks (Hg.): A. M. Materialien.
Muschg Ffm. 1989. – Irene Jung: Schreiben u. Selbstreflexion. Eine literaturpsycholog. Untersuchung literar. Produktivität. Opladen 1989. – Oliver Claes: Fremde, Vampire: Sexualität, Tod u. Kunst bei Elfriede Jelinek u. A. M. Paderb. 1994. – Peter Gölz: Von Ödipus zu Parzival: Inter- u. Intratextualität bei A. M. In: Neue Perspektiven zur deutschsprachigen Lit. der Schweiz. Hg. Romey Sabalius. Amsterd./Atlanta 1997, S. 215–225. – Heinz F. Schafroth: A. M. In: KLG. – Samuel Moser: A. M. In: LGL. – Alexandra Millner: Spiegelwelten / Weltenspiegel. Zum Spiegelmotiv bei Elfriede Jelinek, A. M., Thomas Bernhard u. Albert Drach. Wien 2004. – Anne Meinberg: Von der Liebe will ich erzählen. Liebe u. Sexualität im Erzählwerk v. A. M. Bonn 2007. – Thomas Feitknecht (Hg.): A. M. Bern 2008. – Klaus Isele u. Adrian Naef (Hg.): Dasein als Da Sein. A. M. zum 75. Geburtstag. Eggingen 2009. Rudolf Käser / Raffaele Louis
Muschg, Walter, * 21.5.1898 Witikon bei Zürich, † 6.12.1965 Basel. – Literarhistoriker u. Essayist. Der Lehrerssohn u. Halbbruder von Adolf Muschg machte erstmals mit seiner Zürcher Dissertation Kleist (Zürich/Lpz. 1923) von sich reden, begegnete in den 1920er Jahren in Berlin den Exponenten der expressionist. Literatur u. habilitierte sich 1929 in Zürich mit der viel beachteten Antrittsvorlesung Psychoanalyse und Literaturwissenschaft (Bln. 1931). Als Privatdozent befreite er mit Gotthelf. Die Geheimnisse des Erzählers (Mchn. 1931) den »schweizerischen Homer« von den Verharmlosungen als patriot. Heimatdichter u. stellte ihn erstmals neben die großen Autoren der Weltliteratur. In Mystik in der Schweiz (Frauenfeld 1936) beleuchtete er die Kernfrage des Mystischen anhand eines regional u. zeitlich begrenzten, genau erforschten Phänomens u. gewann daraus z.T. auch jene Urformen des Dichterischen, die den Aufbau seiner Tragischen Literaturgeschichte (Bern 1948. Rev. 31957. Zürich 2006) bestimmten. Wie kein anderes seiner Werke zeigt dieses Buch M.s ethischmoralisches, auf den Dichter als trag. Gestalt ausgerichtetes Literaturverständnis. Im Erscheinungsjahr seiner Literaturgeschichte war M., ein hervorragender akadem. Lehrer, bereits seit zwölf Jahren Ordinarius in Basel u. hatte während des Kriegs seiner Auffassung
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von der Literaturwissenschaft als moralischer Disziplin auch außerhalb seines Fachgebiets, als Nationalrat u. Politiker, auf vielfache Weise Beachtung verschafft. Der Gelehrte, der 1933–1945 immer wieder gegen die restriktive Schweizer Asylpolitik aufgetreten war, setzte sich nach 1945 mit allem Nachdruck für die Rehabilitierung von »verbrannten Dichtern« wie Loerke, Barlach, Döblin oder Jahnn ein, vermochte allerdings, obwohl sein Buch Die Zerstörung der deutschen Literatur (Bern 1956. Erw. 31958) großes Aufsehen erregte, mit seiner am Expressionismus orientierten Theorie nicht gegen die restaurativen Tendenzen der damaligen Germanistik durchzudringen. Als große Enttäuschung empfand er 1954 auch die Reaktion der Öffentlichkeit auf seine Kritik an der GotthelfVermarktung durch das Schweizer Radio u. Ernst Balzli, die den großen Epiker einmal mehr zum biederen Dialekt-Heimatdichter verharmlost hatten. Erst heute wird sichtbar, wie modern M.s maßvoll psychologische, der Kunst eine existenzielle Dimension zuerkennende u. von Liebe u. Engagement getragene Forschungsmethode gewesen ist. Weitere Werke: Jeremias Gotthelf. Eine Einf. in seine Werke. Bern 1954. – Dichtertypen. Basel 1954. – Goethes Glaube an das Dämonische. Stgt. 1958. – Schiller. Die Tragödie der Freiheit. Bern 1959. – Von Trakl zu Brecht. Dichter des Expressionismus. Mchn. 1961. – Studien zur trag. Literaturgesch. Bern 1965. – Gespräche mit Hans Henny Jahnn. Ffm. 1967. Hg., komm. u. mit einem Ess. v. Jürgen Egyptien. Aachen 1994. – Gestalten u. Figuren. Hg. Elli Muschg-Zollikofer. Bern 1968. – Pamphlet u. Bekenntnis. Aufsätze u. Reden. Hg. Peter André Bloch. Olten 1968. – Die dichter. Phantasie. Hg. E. Muschg-Zollikofer. Bern 1969 (mit Bibliogr.). Literatur: Louis Wiesmann: Ein Literaturwissenschaftler als Gewissen seiner Zeit. Zum Tode v. W. M. In: Basler Stadtbuch (1967), S. 140–147. – Karl Pestalozzi: W. M. u. die schweizer. Germanistik in Kriegs- u. Nachkriegszeit. In: Zeitenwechsel. Germanist. Literaturwiss. vor u. nach 1945. Hg. Wilfried Barner u. a. Ffm. 1996, S. 282–300. – Martin Stingelin: Nicht Herr im Haus der Sprache. W. M. u. Sigmund Freud. In: NR 109 (1998), S. 166–171. – Karl Pestalozzi u. M. Stingelin (Hg.): W. M. (1898–1965). Gedenkreden zum 100. Geburtstag gehalten an der Feier in der Alten Aula am 20. Mai 1998. Basel 1999. – K. Pes-
459 talozzi: W. M. (1898–1965). In: Wissenschaftsgesch. der Germanistik in Porträts. Hg. Christoph König u. a. Bln. 2000, S. 199–210. – Ralph Kray: Die Verzauberung der Form. Literaturgeschichtsschreibung bei W. M. In: Geschlossene Formen. Hg. ders. Würzb. 2005, S. 124–137. – Rudolph W. Michaeli: Continuities and Transformations in Scholarly Writing 1919 to 1963. Landschaft, Stamm and Wesen in Selected Works by Josef Nadler, W. M., and Benno v. Wiese. Diss. Waterloo 2005. Charles Linsmayer / Red.
Muschler, Reinhold Conrad, * 9.8.1882 Berlin, † 10.12.1957 Berlin. – Erzähler.
Musculus Weitere Werke: Friedrich der Große. Lpz. 1925. – Basil Brunin. Lpz. 1928–30 (Biogr.). – Philipp zu Eulenburg. Lpz. 1930 (Biogr.). – Das Dt. Führerbuch. Bln. 1934. – Der Geiger. Bln. 1935 (R.). – Flucht in die Heimat. Mchn. 1936 (R.). – Geburt der Venus. Wien/Bln./Stgt. 1937 (N.). – Diana Beata. Bln. 1939 (R.). – Fahrt in den Frühling. Wien/Bln. 1950 (R.). – Die am Rande leben. Wien/Bln./Stgt. 1954 (R.). Literatur: Hans-Martin Plesske: Der die Menschen liebt. Leben u. Werk des Dichters R. C. M. Wien/Bln./Stgt. 1957. – Heinz Thien: Spurensuche: Dr. R. C. M. In: Schücking-Jb. 2 (1999/2000), S. 33–42. Helmut Blazek / Red.
M., Sohn des Kammersängers Conrad Musculus, Andreas, eigentl.: A. Meusel, Muschler, studierte Botanik in Berlin (1907 * 1514 Schneeberg/Sachsen, † 29.9.1581 Promotion). Danach arbeitete er als Assistent Frankfurt/O. – Protestantischer Theologe; am Botanischen Museum in Berlin-Dahlem. Erbauungsschriftsteller. M. unternahm zahlreiche Studienreisen, u. a. nach England, Frankreich, Italien u. Ägypten. M. studierte 1531–1535 in Leipzig Theologie Er war als Theater- u. Musikkritiker tätig; u. klass. Philologie. Nach seinem Übertritt später arbeitete er als Verlagslektor in Berlin. zum Protestantismus setzte er ab 1538 sein Ab 1920 widmete er sich ausschließlich der Theologiestudium in Wittenberg fort. 1542 literar. Arbeit u. schrieb v. a. Unterhaltungs- kam er als Prediger nach Frankfurt/O., wo er romane. vier Jahre später zum Professor der Theologie 1932–1937 war M. Mitgl. der NSDAP, ernannt wurde. Als geistl. Ratgeber der Musikobmann u. aktiver Mitarbeiter des brandenburgischen Kurfürsten Joachim II. u. »Kampfbundes für deutsche Kultur«. Er ver- Johann Georg besaß er weitreichenden polit. fasste nationalsozialist. Propagandaschriften. Einfluss. Ab 1556 wirkte er als Generalsu1933 ließ M. sich von seiner jüd. Frau schei- perintendent der Mark Brandenburg u. war den. Die Berliner Entnazifizierungskommis- 1576 an der Ausarbeitung der Konkordiension für Künstler lehnte M.s Antrag auf Re- formel beteiligt. habilitierung ab. M. zeichnet sich durch sein streitbares M., der auch botan. Studien u. Biografien Eintreten für ein orthodoxes Luthertum aus. veröffentlichte, beschreibt in seinem literar. Viele seiner insg. etwa 70 Werke sind konWerk eine idealisierte Welt von Künstlern, troverstheolog. Schriften gegen die kath. Wissenschaftlern u. schwärmerischen, hüb- Kirche, Calvinismus u. philippistische Tenschen Damen, wobei der Ort der Handlung denzen im Luthertum (Abdias Prätorius u. meist exotischer oder mondäner Natur ist andere). (z.B. Ägypten, Riviera). Er bedient sich einer M. verfasste mehrere Erbauungsbücher bildhaften, oft auch sentimentalen Sprache. (z.B. Christliche Betrachtung der Passion Christi. Ein Grund für M.s Erfolg (sein 17-mal um- Frankf./O. 1560. Hausbibel vor die Jugend. gearbeiteter Roman Bianca Maria, Lpz. 1924/ Nürnb. 1571. Bedenke das Ende. Frankf./O. 25, Bayreuth 1989, erreichte eine Auflage von 1572). Bes. bekannt wurden seine Teufelbü200.000) ist, dass seine Texte dem Leser die cher; zumal der Hosenteufel (Frankf./O. 1555; Fiktion ermöglichen, teilzuhaben am Leben insg. mindestens 10 Ausg.n) wurde zum einer reichen, gebildeten Gesellschaft. In sei- Muster der sog. Teufelliteratur des 16. Jh. In nem wenig erfolgreichen, in Wien 1956 er- diesem Werk, das aus einer Predigt hervorschienenen Roman Im Netz der Zeit versucht ging, geißelt M. die von den Landsknechten M. die vorangegangenen 40 Jahre dt. Ge- hervorgebrachte Mode der Pluderhosen u. schichte darzustellen. stützt damit die Kleiderordnungen, mit de-
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nen die Obrigkeiten die Bevölkerung diszi- Musculus, Müsli[n], Meuslin, Mäuslein, plinieren u. von Verschwendung abzuhalten Meusslein, Meüßlein, Meißli, Mäusli, Meuversuchten. Im Fluchteufel (Frankf./O. 1556) seln, Wolfgang, * 8.9.1497 Dieuze/Lothverurteilt M. die »erschrecklich unnd grew- ringen, † 30.8.1563 Bern. – Benediktiner, liche Gottslesterung«, während der Eheteufel Pfarrer, Professor. (Frankf./O. 1556) nach Auskunft der Vorrede die 14-jährigen Erfahrungen des Autors als M. besuchte die Humanistenschulen von seelsorgl. Eheberater verarbeitet. In Des Teu- Rappoltsweiler, Colmar u. Schlettstadt. 1512 fels Tyrannei (Frankf./O. 1561) schließlich baut trat er ins Kloster Lixheim ein, wo er TheoM. den Teufelsglauben seiner Zeit zu einer logie studierte. Seit 1518 las er Lutherumfassenden Dämonologie aus. M.’ Teufel- Schriften. 1527 verließ er das Kloster, zog bücher zeichnen sich durch einen plastischen, nach Straßburg u. heiratete. Er wurde von bisweilen derben Stil aus, für den Luthers Martin Bucer, Wolfgang Capito u. BürgerSprache das Vorbild abgab; sie werden durch meister Sturm gefördert, war Diakon am zahlreiche eingelegte Geschichten u. Anek- Münster u. folgte 1531 einem Ruf nach Augsburg, wo er zum ersten Prediger avandoten aufgelockert. cierte. M. half die Reformation einführen u. Ausgaben: M. Osborn (Hg.): Vom Hosenteufel (1555). Halle. 1894. – R. Stambaugh (Hg.): Teufel- ein evang. Kirchenwesen aufbauen, unterzeichnete die Wittenberger Konkordie u. bücher. Bd. 4, Bln./New York 1978. Literatur: Christian W. Spieker: Lebensgesch. nahm 1540/41 an den Religionsgesprächen des A. M. Frankf./O. 1858. – Punjer: M. In: ADB. – von Worms u. Regensburg teil. 1548 verließ Max Osborn: Die Teufellit. des 16. Jh. Bln. 1893. – er Augsburg aus Protest gegen das Interim. Richard Grümmer: A. M., sein Leben u. seine Bis zu seinem Tod wirkte er – Berufungen aus Werke. Eisenach 1912. – Heinrich Grimm: Die dt. Straßburg, Augsburg, Heidelberg, Marburg ›Teufelbücher‹ des. 16. Jh. In: AGB 2 (1960), u. England ablehnend – als Professor in Bern. S. 513–570. – Keith L. Roos: The Devil in 16thM. war Reformator u. wiss. Theologe. In Century German Literature: The Teufelsbücher. Augsburg unterstützte er mit Bucer den Rat Bern 1972. – Ernst Koch: ›Das Geheimnis unserer in der Frage, ob diesem das ius reformationis Erlösung‹. Die Christologie des A. M. als Beitr. zur Formulierung verbindl. christl. Lehre im späten 16. zustehe. 1537 trug er dazu bei, in der KirJh. In: Veritas et communicatio. Ökumen. Theolo- chenordnung den zwinglianisch-oberdt. u. gie auf der Suche nach einem verbindl. Zeugnis. FS den luth. Kräften Rechnung zu tragen. Im Ulrich Kühn. Hg. Heiko Franke u. Thomas Krob- Umgang mit Vertretern des Linken Flügels ath. Gött. 1992, S. 143–156. – Heinrich Grimm: M. der Reformation plädierte er, ohne die DifIn: NDB. – Robert Kolb: A. M. Katechismus aus den ferenzen zu verwischen, für Milde. Vätern. Patristik im Dienst der Polemik u. der ErAuf wiss. Gebiet trat M. als Patristiker, bauung in der Spätreformation. In: Luth. TheoloExeget u. Systematiker in Erscheinung. Er gie u. Kirche 24 (2000), S. 114–134. – Angela Bauübersetzte Schriften von griech. Kirchenvämann-Koch: Frühe luth. Gebetslit. bei A. M. u. Daniel Cramer. Ffm. u. a. 2001. – Traugott Koch: tern ins Lateinische u. schuf ein umfangreiDie Entstehung der luth. Frömmigkeit. Die Re- ches bibl. Kommentarwerk mit reichen Bezeption pseud-augustinischer Gebetstexte in der zügen zur altkirchlichen, mittelalterl., jüd. u. Revision früher luth. Autoren (A. M., Martin Mol- zeitgenöss. Exegese u. zu aktuellen Fragen. ler, Philipp Kegel, Philipp Nicolai). Waltrop 2004. – In den Loci communes Theologiae sacrae von 1560 Anthony N. S. Lane: Justification by Faith in Six- (Basel) vertrat M. einen doppelten Bundesteenth-Century Patristic Anthologies: The Claims begriff: Er unterschied zwischen dem zeitl. that Were Made. In: Die Patristik in der frühen Noahbund Gottes mit der ganzen Schöpfung Neuzeit. Die Relektüre der Kirchenväter in den u. Gottes ewigem Abrahamsbund mit den Wiss.en des 15. bis 18. Jh. Hg. Günter Frank. Stgt./ Bad Cannstatt 2006, S. 169–189. – Noack/Splett Erwählten u. Gläubigen, zudem dachte er seinen von Bucer beeinflussten Ansatz in der 2009, S. 391–423. Michael Schilling Lehre vom staatl. Kirchenregiment zu Ende: Geht man von einem Gemeinwesen aus, das sich als christlich versteht, dann wird man in
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der Frage der Beziehung zwischen Staat u. Kirche nicht am NT, dessen Kontext nicht christlich war, sondern am alttestamentl. Königtum Maß nehmen. Einen Rechtsdualismus gibt es nicht. M. Kommentare erlebten wie die Loci zahlreiche Auflagen. Seine Schriften wurden ins Englische, Französische, Deutsche u. Holländische übersetzt u. haben Generationen von reformierten Theologen geprägt. In Ungarn wurden die Loci zum Vorbild für Stephan Szegedins Dogmatik. In der Pfalz berief sich Thomas Erastus auf M. Staatskirchentheorie, u. als »Erastianismus« half diese Konzeption das anglikan. Staatskirchentum konsolidieren. Ausgaben: Internet-Ed. etlicher Schr.en in: The Digital Library of Classic Protestant Texts (http:// solomon.tcpt.alexanderstreet.com) u. in: Slg. Hardenberg. Literatur: Rudolf Dellsperger u. a. (Hg.): W. M. (1497–1563) u. die oberdt. Reformation. Bln. 1997 (enth. das Druckwerkeverz. des W. M. v. Marc van Wijnkoop Lüthi, S. 351–414). – Reinhard Bodenmann: W. M. (1497–1563). Destin d’un autodidacte lorrain au siècle des Réformes. Etude basée sur la biographie établie par son fils, la correspondance personnelle et de nombreux autres documents d’époque. Genf 2000. – Henning Reinhardt: Das Itinerar des W. M. (1536). In: ARG 97 (2006) S. 28–82. – M. van Wijnkoop Lüthi: W. M. u. das Mönchtum. In: Reformation u. Mönchtum. Hg. Athina Lexutt u. a. Tüb. 2008, S. 145–171. Rudolf Dellsperger
Musil, Robert, * 6.11.1880 Klagenfurt, † 15.4.1942 Genf. – Romancier, Dramatiker, Essayist. M., einer der bedeutendsten Schriftsteller der literar. Moderne, wuchs als Einzelkind (eine Schwester starb bald nach der Geburt) in einem Elternhaus auf, das der Literatur fern stand. Der Vater, Alfred Musil, stammte aus einer altösterr. Beamten-, Ingenieurs- u. Offiziersfamilie, studierte Maschinenbau u. lehrte seit 1890 an der TH in Brünn. 1874 heiratete er Hermine Bergauer, die Tochter eines Technikers. Ein Jahr nach M.s Geburt in Klagenfurt zog die Familie nach Komotau in Böhmen, im darauffolgenden Jahr nach Steyr. Seit der
dritten Volksschulklasse litt der vorzügl. Schüler mehrfach an einer »Nerven- und Gehirnkrankheit«. Im Jan. 1891 siedelte die Familie nach Brünn über, wo M. die Landesoberrealschule besuchte. Die Spannungen zwischen dem elfjährigen Sohn u. der Mutter, die im Kontrast zum rationalen u. ruhigen Vater, ähnlich wie der junge M. selbst, zu nervöser u. affektiver Heftigkeit neigte, veranlassten einen Schulwechsel: Ab Aug. 1892 besuchte M. die Militärunterrealschule in Eisenstadt, ab Sept. 1894 (bis 1897) die Militäroberrealschule in Mährisch-Weißkirchen. 1897 gab M. die Ausbildung an der Technischen Militär-Akademie in Wien zugunsten eines Maschinenbaustudiums auf, das er im Juli 1901 abschloss. Er meldete sich für ein Freiwilligenjahr zum k.k. Infanterieregiment in Brünn, arbeitete danach als Volontärassistent an der TH Stuttgart u. begann im Herbst 1903 in Berlin das Studium der Philosophie u. Psychologie, nachdem er mit 23 Jahren die Reifeprüfung nachgeholt hatte. Der Hinwendung des Ingenieurs zu den Geisteswissenschaften waren zögernde Annäherungen an die Literatur vorangegangen. Am literar. Leben der Zeit nahm der junge M. zwar lange kaum Anteil, doch mit 18 Jahren hatte er immerhin Nietzsche für sich entdeckt. Seit der Veröffentlichung der umfangreichen Tagebücher (Hbg. 1955), die zum größten Teil aus Lektüre-Exzerpten u. Notizen zu eigenen Werken bestehen, lässt sich belegen, dass Nietzsche für M. zeitlebens wichtig blieb – als vorbildl. Essayist, der Philosophie u. Dichtung miteinander vereinte, als Wissenschafts- u. Décadencekritiker u. v.a. als Moralphilosoph, der der naturwidrigen Zwanghaftigkeit geltender Werte eine Ethik der schöpferischen Produktivität entgegenstellte. »Entscheidende geistige Einflüsse« schrieb M. im Rückblick auf diese Zeit auch Dostojewskij, Emerson, Novalis u. Maeterlinck zu. Während des Maschinenbaustudiums in Brünn suchte er literar. Kontakte, trug erstmals eigene Arbeiten vor u. bemühte sich um ihren Druck. Doch erst das Jahr 1902, in dem er eine fünf Jahre andauernde Beziehung zu einem einfachen Mädchen einging (Herma Dietz, spä-
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ter unter dem Namen Tonka in M.s gleichnamiger Novelle nachgebildet), brachte ihn der Literatur deutlich näher. Ende des Jahres begann er, im Beruf unzufrieden u. gelangweilt, in Stuttgart Die Verwirrungen des Zöglings Törleß zu schreiben. Der im Frühjahr 1905 abgeschlossene u. Ende 1906 im Wiener Verlag erschienene Roman begründete M.s Ruhm. Weiteren literar. Arbeiten stand zunächst das ambitionierte Studium bei seinem akadem. Lehrer Carl Stumpf entgegen. M. schloss es 1908 mit der Promotion ab. Die erkenntniskrit. Dissertation erschien u. d. T. Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs (Bln. 1908). M. kritisiert an Ernst Mach einen Dogmatismus, der den Dualismus von Naturwissenschaft u. Philosophie nicht aufzuheben vermag. Doch schon der Titel von Machs populärem Werk Die Analyse der Empfindungen (1886) bezeichnet ein Projekt, das, kombiniert mit der zeitgenöss. Gestaltpsychologie, M.s literar. Empfindungsanalysen entscheidend geprägt hat. Sie folgen Machs Verabschiedung kausaler Erklärungen zugunsten einer Beschreibung funktionaler Beziehungen zwischen den beobachteten Phänomenen sowie seiner Auflösung alles Wirklichen in Empfindungselemente. Möglichkeiten zu einer akadem. Laufbahn nahm M. zugunsten einer freien Schriftstellerexistenz nicht wahr, doch der erworbene Anspruch auf wiss. Präzision prägte (u. hemmte) hinfort seine literar. Arbeit. Zweieinhalb Jahre experimentierte er in Berlin, auch in Auseinandersetzung mit Sigmund Freuds novellenähnl. Fallgeschichten, an zwei Erzählungen. Sie erschienen 1911 im Verlag Georg Müller (Mchn.) u. d. T. Vereinigungen u. fanden allein bei expressionist. Lesern wie Ernst Blass u. Alfred Wolfenstein Zustimmung. In Berlin fand M. zwischen 1908 u. 1910 Anschluss an das literar. Leben seiner Zeit, schrieb Artikel für die Zeitschrift »Pan«, war befreundet mit Alfred Kerr, Franz Blei u. Emil Schaeffer. Hier intensivierte sich auch die Beziehung zu der Malerin Martha Heimann, der Tochter eines jüd. Bankiers u. Frau eines röm. Kaufmanns. In seiner produktiven Eifersucht auf ihre (früheren) Liebhaber ar-
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beitete er ihr ungewöhnl. Leben von 1908 an wiederholt in seine literar. Texte ein. Am 15.4.1911 heiratete er sie in Wien, nachdem er von der katholischen zur evang. Konfession konvertiert war. In Wien war M., da er vom Schreiben nicht leben konnte, von 1911 bis 1914 als Bibliothekar an der TH tätig, daneben schrieb er an seinem Drama Die Anarchisten (späterer Titel: Die Schwärmer. Dresden 1921) u. publizierte Artikel für expressionist. Zeitschriften (u. a. »Die Aktion« u. »Die weißen Blätter«) sowie für die »Neue Rundschau«, deren Redakteur er Anfang 1914 wurde mit dem Auftrag, die in die Jahre gekommene Literaturzeitschrift für die »jüngste Dichtung« der Frühexpressionisten zu öffnen. Wie u. a. der im Aug. 1914, nach Beginn des Ersten Weltkriegs, geschriebene Aufsatz Europäertum, Krieg, Deutschtum (in: Neue Rundschau, Sept. 1914) zeigt, konnte sich M. bei aller Skepsis gegenüber dem Zusammenbruch zivilisatorischer Ordnung wie die meisten Schriftsteller in diesen Monaten von nationalen Phrasen, aktivistischem Rausch, Gemeinschaftspathos u. der Feier alter heroischer Tugenden nicht freihalten. Die in späteren Werken immer wieder aufgenommenen Auseinandersetzungen mit dem Krieg u. seinen Voraussetzungen sind auch als selbstkrit. Versuche zu verstehen, die eigene Vergangenheit zu bewältigen. Die ersten drei Kriegsjahre verbrachte M. als Kompanieführer in Südtirol. 1916 wurde er nach einer schweren Erkrankung in die Redaktion der »Soldaten-Zeitung« abkommandiert, für die er selbst eine Anzahl von Artikeln schrieb. Nach Einstellung der Zeitung wurde M. im April 1917 zum Kommando der Isonzo-Armee nach Slowenien, im März 1918 zur Arbeit im Kriegspressequartier nach Wien versetzt. Zu dieser Zeit war er indes schon Sympathisant eines pazifistisch-revolutionären »Aktivismus«, den Kurt Hiller in Berlin u. Robert Müller in Wien organisierten. Nach Kriegsende bestritt M. seinen Lebensunterhalt im Pressearchiv des österr. Außenministeriums, im Sept. 1920 übernahm er (bis Dez. 1922) im Heeresministerium Bildungsaufgaben für die Armee, lehnte jedoch eine Verbeamtung ab u. schlug damit
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die für ihn letzte Möglichkeit zu wirtschaftl. Sicherheit aus. Bis 1924 entfaltete M. rege Aktivitäten im Kulturbetrieb: als Theater- u. Kunstkritiker der »Prager Presse« sowie der Prager Zeitung »Bohemia«. Gleichzeitig arbeitete er an seinem opus magnum, dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Als 1924, im Todesjahr seiner Eltern, der Novellenband Drei Frauen bei seinem neuen Verleger Rowohlt erschien, wurde ihm der Kunstpreis der Stadt Wien verliehen. Schon 1923 hatte er für Die Schwärmer auf Vorschlag Alfred Döblins den angesehenen Kleist-Preis erhalten. Seit 1925, als ihm der Rowohlt Verlag regelmäßige Vorschüsse bezahlte, konzentrierte sich M.s Arbeit fast ganz auf den großen Roman. Sein Leben in Wien verlief nun äußerlich ereignislos. Die Verbitterung über den Skandal der Uraufführung einer verstümmelten Fassung der Schwärmer 1929 in Berlin trug mit dazu bei, dass M. die literar. Öffentlichkeit zunehmend mied. Die letzten 13 Jahre seines Lebens standen im Zeichen psychisch u. sachlich begründeter Arbeitsschwierigkeiten, eines allmählichen körperl. Verfalls, finanzieller Not u. des Leidens an den polit. Verhältnissen in Europa. Bei Beginn der Reinschrift des Romans im Jan. 1929 eskalierten M.s Arbeitshemmungen. Ihretwegen hatte er sich schon im Winter 1927/28 bei dem Alfred Adler-Schüler Hugo Lukács psychoanalytisch behandeln lassen. Jetzt griff er bei der Selbstbehandlung auf seine durch die Therapie erworbenen Erfahrungen zurück. Im Aug. 1930 schloss er den ersten Band des Mann ohne Eigenschaften ab, der im Okt. bei Rowohlt erschien. Der Erfolg war beträchtlich, das öffentl. Ansehen des knapp 50-jährigen Autors, der schon Ende 1929 mit dem Gerhart-Hauptmann-Preis geehrt worden war, groß. An der finanziellen Misere M.s änderte dies jedoch nichts. Im Nov. 1931 siedelte M. nach Berlin über, wo der Kunsthistoriker Kurt Glaser eine Musil-Gesellschaft zur Unterstützung des Schriftstellers gründete. Nachdem Rowohlt Anfang 1933 seine Zahlungen eingestellt hatte, blieb M. ganz auf derartige Stützungsaktionen angewiesen. In Berlin gelang es M. jedoch noch, den ersten Teil des zweiten Romanbandes abzu-
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schließen, der im März 1933 (Bln.) erschien. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten kehrte er ohne äußeren Zwang von Berlin nach Wien zurück. Dort bereitete er den Druck einer Sammlung von Essays u. Erzählungen vor, die er früher in Zeitschriften u. Zeitungen publiziert hatte (erschienen unter dem bitter-iron. Titel Nachlaß zu Lebzeiten 1936 im Zürcher Humanitas Verlag). Im selben Jahr erlitt M. einen schweren Schlaganfall. 1938 wurden seine Bücher in Deutschland u. Österreich verboten, der Autor emigrierte mit seiner Frau nach Zürich, bemühte sich mehrfach vergeblich um Einreise in die USA u. kämpfte mit zahlreichen Briefen gegen die drohende Ausweisung durch die Schweizer Fremdenpolizei. M. starb im Alter von 61 Jahren in Genf an einem Gehirnschlag. Ein Grab M.s existiert nicht. Martha Musil verstreute seine Asche nach Familiensitte in einem Wald nahe Genf. In der Einsamkeit der letzten Lebensjahre, in der Fremde des Exils, kulminierte eine Erfahrung, die als Thema u. Antrieb für M.s Schreiben eine dominante Bedeutung hatte. Im Nachtbuch des Monsieur le vivisecteur, mit dem M.s Tagebuch 1899 (Heft 4) einsetzt, heißt es: »Ich trete ans Fenster um meinen Nerven die schaurige Lust der Isolation wieder einzuflößen.« Die Einsamkeit des distanzierten Beobachters, den die Glasscheibe des Fensters von einem anderen Leben trennt, ist wiederkehrendes Motiv in M.s Werk. Sie ist Bedingung seines Schreibens u. zgl. Beispiel einer umfassenden Entfremdung seiner literar. Figuren von einer ihnen verborgenen Wirklichkeit. Um die Erkenntnis dieser anderen Wirklichkeit v. a. geht es in M.s Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Die Geschichte eines 16-jährigen Internatsschülers, der auf die »unwirtliche Fremde« der Anstalt zunächst mit »Heimweh« nach dem Elternhaus reagiert, sich dann den ungebärdigen Schülern des »Instituts« anschließt u. in sadist. Grausamkeit gegenüber einem Mitschüler u. in homosexuelle Beziehungen verstrickt wird, entsetzte u. a. jene, die in dem Roman wenig verschlüsselte Bezüge zu jener Militärschule erkannten, die M. selbst besucht hatte. Beifall fand sie dagegen bei denen, die
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in dieser Zeit der Jugendbewegungen, der Reformpädagogen, der Sexualtheoretiker, der literar. Schülergeschichten u. erzählten wie dramatisierten Pubertätskrisen (Wedekind: Frühlings Erwachen; Döblin: Der schwarze Vorhang) in der Kadettenanstalt das Modell einer totalitären u. pathogenen Gesellschaft erkennen wollten. Solche Lesarten trafen indes nicht die dominanten Intentionen des Romans. Diese decken sich mit dem Interesse des jungen Törleß, in der Konfrontation auch mit dem Grausamen Einsichten zu gewinnen in eine ihm fremde, moralitätswidrige, unbewusste u. verwirrende Schicht des Gefühlslebens. Diesem literar. Projekt, das dem der Freud’schen Psychoanalyse, die M. seit 1908 mit krit. Interesse verfolgte, durchaus ähnelt, dient die Pubertätskrise nur als einfaches Modell »für die Gestaltung von seelischen Zusammenhängen, die im Erwachsenen durch zuviel anderes kompliziert sind«. Törleß vermag das Fremde in seinem Inneren begrifflich nicht zu erfassen u. mitzuteilen. Der Roman hat damit auch Anteil an der Sprachkrise u. -skepsis, die sich in Philosophie wie Literatur um u. nach 1900 vielstimmig artikulierten (u. a. bei Mauthner, Hofmannsthal, Döblin, Kafka). Die andere Wirklichkeit liegt jenseits der Grenze konventioneller u. bewusster Wahrnehmung, jenseits von Rationalität, Kausalität u. gesellschaftl. Moral; sie zeigt sich in M.s gesamtem Werk andeutungsweise in Begegnungen mit der Sexualität, der Gewalt, dem Wahnsinn u. dem Verbrechen. Sie zieht das Begehren des Subjekts auf sich, aber auch Angst u. Abscheu. Damit verknüpfte Erfahrungen der Spaltung oder Entfremdung u. komplementär dazu die Sehnsucht nach ihrer Überwindung artikulieren M.s Werke seit dem Törleß in vielfachen Variationen. Der Titel Vereinigungen, unter dem 1911, zu Beginn des expressionist. Jahrzehnts, die Erzählungen Die Vollendung der Liebe u. Die Versuchung der stillen Veronika erschienen (Mchn.), hat in diesem Sinne programmat. Charakter. »Es ist sonderbar, daß es nur eine Linie ist, die man zu überschreiten braucht«, überlegt Claudine am Ende der ersten Erzählung. Das »Überschreiten dieser Grenze« ist Bedingung jener
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»Vereinigungen«, um die es als utop. Ziel in beiden Texten geht. Fenster u. Türen bilden hier Schranken, die es zu öffnen gilt, Claudines Bereitschaft zur Hingabe an den fremden »Ministerialrat« findet am Ende in dieser Raummetaphorik ihre Veranschaulichung. »Vereinigungen« betrifft hier jedoch nicht nur die Beziehungen zwischen Mann u. Frau, sondern auch die der Figuren zu sich selbst. Ihnen erscheint, wie im Törleß, v. a. die eigene Geschlechtlichkeit als fremde, unheimliche Macht, die ihr Handeln u. Fühlen bestimmt u. über die der bewusste Wille keine Kontrolle hat. Aber ein Symptom ihrer Ich-Spaltung ist schon der ihnen eigene Hang zu selbstreflexiver Erinnerung u. potenzierter Selbstbeobachtung. Wie auch M.s umfangreiches, gegen das zeitgenöss. Theater der Sensationen u. gegen bloße Rollenvorlagen für Schauspieler konzipiertes Ideendrama Die Schwärmer handeln beide Erzählungen von Ehebrüchen; doch von »Handlung«, »Erzählen« oder »Dramatik« kann in diesen Texten eigentlich keine Rede sein. Die Figuren u. mit ihnen der Autor betreiben angestrengt, mit gleichsam wiss. Exaktheitsansprüchen, die permanente Analyse von Empfindungen u. Gedanken. Das dient auch dazu, die Grenzen konventioneller Moralvorstellungen u. Normalitätsbegriffe zu erweitern. Im Interesse an Phänomenen der Abweichung von der Norm, so konstatiert M. 1911 in seiner Schrift über Das Unanständige und Kranke in der Kunst (in: Pan, März 1911), suche die Kunst wie die Wissenschaft nach mehr Wissen: »Sie stellt das Unanständige und Kranke durch seine Beziehung zum Anständigen und Gesunden dar, das heißt nichts anderes als: sie erweitert ihr Wissen vom Anständigen und Gesunden.« Die Begegnungen mit dem Fremden haben in vielen Werken M.s den Charakter einer Initiation, die zu einem höheren Bewusstseinsniveau u. potentiell zu einer dialekt. Vereinigung vormalig getrennter Bereiche führt. Dies gilt auch für den Novellenzyklus Drei Frauen (Bln. 1924). Die sein Werk bisher strukturierenden Gegensätze hat M. inzwischen, zuerst in der Skizze zur Erkenntnis des Dichters (in: Summa, 4. Quartal 1918), mit dem Begriff des »Ratioïden« u. des »Nicht-
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Ratioïden« neu zu umschreiben versucht. In dem Novellenzyklus wie auch in verstreuten theoret. Äußerungen deckt sich diese Gegenüberstellung mit der von Männlichkeit u. Weiblichkeit. Die Frauenfiguren, die den drei Novellen den Titel geben, repräsentieren das »Nicht-Ratioïde« in unterschiedl. Varianten. In der Figur der »Grigia« ist dabei der Bereich des Naturhaften u. Erotischen akzentuiert, in der Figur der »Portugiesin« die Nähe zum Meer u. zum Süden; in »Tonka« die unbürgerl. Einfachheit u. Sprachlosigkeit. Alle drei Frauen verkörpern eine in den männl. Protagonisten unterentwickelte, »andere« Seite; in ihrer faktischen oder potentiellen Untreue entziehen sie sich männl. Besitzansprüchen u. stellen diese in Frage. Sie sprechen eine »fremde«, prälogische, der Musik oder auch dem Verstummen nahe Sprache. Dem entspricht eine Erzählform, die im Verzicht auf Prinzipien der Kausalität u. chronolog. Sukzession zugunsten von Strukturen der Analogie u. Parataxe Merkmale des »Weiblichen« in M.s Sinn hat. In M.s Hauptwerk Der Mann ohne Eigenschaften sind die ästhetischen u. themat. Problembereiche seiner anderen Werke erneut präsent. Seit den 1920er Jahren stehen alle literarischen, journalist. u. autobiogr. Arbeiten M.s auch im Dienste dieses Lebenswerks. Schon vor dem Ersten Weltkrieg plante M. eine stark stilisierte Autobiografie, doch erst nach dem Krieg gehen diese Pläne in ein Romankonzept über, das auf die lineare Entwicklung einer autobiogr. Geschichte verzichtet zugunsten eines weit verzweigten, epochenkrit. Netzes von Beziehungen zwischen einander spiegelnden Handlungs-, Motiv- u. Personenkomplexen. Der Roman gilt, nicht zuletzt aufgrund seines fragmentar. Charakters, als Musterbeispiel der modernen Krise des Erzählens. Die Fragmentarisierung des Textes, des einzelnen Ichs u. der wahrgenommenen Welt entsprechen einander. Die krisenhaften Erfahrungen einer Halt u. Sicherheit raubenden Zusammenhanglosigkeit haben indes auch ihre positive Kehrseite in der Erweiterung von Denk-, Erlebnisu. Handlungsmöglichkeiten. Mit diesem anomischen Zustand der »modernen Welt« ist Ulrich, der Protagonist, in
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Wien u. der österreichisch-ungarischen Monarchie konfrontiert. Er war Offizier, Ingenieur u. zuletzt ein erfolgreicher Mathematiker. Im Aug. 1913 beschließt er, »sich ein Jahr Urlaub von seinem Leben zu nehmen, um eine angemessene Anwendung seiner Fähigkeiten zu suchen«. Er führt nun eine vollkommen passive, nur reflektierende Existenz u. kommt »sich eines Tages als ein Mann ohne Eigenschaften« vor. Eigenschaftslos ist Ulrich, weil er seine vielfältigen Fähigkeiten nicht aktiv in die Wirklichkeit einbringt. Die Befreiung dieses Intellektuellen von sozialen Rollenzwängen geht einher mit einer Identitätslosigkeit, die für verschiedenste Positionen im geistigen Kräftefeld der Zeit offen ist. Der Roman reflektiert, konfrontiert u. kombiniert auf diese Weise Anschauungen u. a. von Nietzsche, Mach, Klages, Freud oder Spengler, setzt sich mit Mathematik u. Mystik, Nationalismus u. Pazifismus, Psychologie u. Physiologie, Fortschrittsgläubigkeit u. Kulturpessimismus auseinander. Ulrichs Mangel an »Wirklichkeitssinn« entspricht der Vorzug eines »Möglichkeitssinns«. Wer ihn hat, dem gelten alle realen Gegebenheiten als beengende Verfestigungen, »und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein«. Der »Möglichkeitssinn« ist offen für die Erfahrungen eines »anderen Zustands«, den Ulrich, im zweiten Band, in der inzestuösen Gemeinschaft mit der Zwillingsschwester Agathe (vergeblich) zu leben versucht. Auch in myst. Entrückungszuständen, im Wahnsinn des Prostituiertenmörders Moosbrugger oder im dionys. Taumel der Nietzsche-Verehrerin Clarisse ist etwas von diesem »anderen Zustand« verwirklicht, doch konzipiert M.s krit. Skepsis ihn nicht als Negation der Rationalität, sondern als utopische, immer nur momenthaft erfahrbare Aufhebung all der Gegensätze u. Zersplitterungen, die das unglückl. Bewusstsein in der Moderne ausmachen u. die polit. Katastrophen des Jahrhunderts herbeiführen. Unmittelbar politisch ist der Roman im dominierenden Handlungskomplex des ersten Bands, der satir. Darstellung der sog.
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»Parallelaktion«: Das sind die aus vielfältigem Gerede bestehenden Aktivitäten eines Festkomitees zur Vorbereitung des österr. Kaiserjubiläums, das 1918, parallel zum Herrschaftsjubiläum des dt. Kaisers, veranstaltet werden u. dieses übertreffen soll. Das Komitee wird zum Abbild einer in sich gespaltenen, die Einheit von Geist u. Tat verfehlenden Gesellschaft, aus der Gewalt hervorgeht, v. a. die des Kriegs. Auch wenn der Roman im Jahr vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs spielt, reflektiert er zgl. die Zeit seiner Entstehung u. damit auch die Vorgeschichte der nationalsozialist. Machtergreifung. Eine nachhaltige Wiederentdeckung des zu Lebzeiten renommierten, doch nie populären u. nach seinem Tod weitgehend vergessenen Autors leitete erst die von Adolf Frisé ab 1952 veröffentlichte Gesamtausgabe ein. Sie wurde mit einer so verdienstvollen wie umstrittenen Leseausgabe des umfangreichen Romantorsos eröffnet. Symptomatisch für das anhaltende Interesse an M. im 21. Jh. sind ambitonierte Editionen in neuen Medien: die Komplettlesung des Romans durch Wolfram Berger (Produktion des HR 2004, Ffm. 2005 u. 2006), die »Remix«-Version des Romans durch Katharina Agathos u. Herbert Kapfer (Produktion des BR 2005, kombinierte Buch-/ Hörbuch-Edition, 20 CDs, Mchn. 2004) sowie das Projekt der »Klagenfurter Ausgabe« auf DVD. Heute gilt M. neben Kafka, Döblin u. Thomas Mann als Repräsentant moderner Romankunst in Deutschland, der mit dem Mann ohne Eigenschaften auf höchstem Reflexionsniveau eine enzyklopäd. Summe der intellektuellen Positionen des 20. Jh. erarbeitete. Im deutschsprachigen Raum bleibt M. trotz hoher Auflagenzahlen, gerade auch mit seinem Hauptwerk, ein Autor, der sich gegen eine breite Resonanz beim Publikum sperrt. Weitere Werke: Das verzauberte Haus. In: Hyperion. Bd. 3, Mchn. 1908 (E.). – Vinzenz u. die Freundin bedeutender Männer. Bln. 1924 (Posse). – Rede zur Rilke-Feier in Berlin am 16. Jan. 1927. Bln. 1927. – Die Amsel. In: NR 39, Bln. 1928 (E.). – Über die Dummheit. Wien 1937 (Ess.). – Der Mann ohne Eigenschaften. Bd. 3 (aus dem Nachl. hg. v. Martha Musil). Lausanne 1943 (Romanfragment).
466 Werkausgaben: Tagebücher. Hg. Adolf Frisé. 2 Bde., Reinb. 1976. – Ges. Werke. Hg. ders. Bd. 1: Der Mann ohne Eigenschaften; Bd. 2: Prosa u. Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches. Ess.s u. Reden. Kritik. Reinb. 1978. – Beitr. zur Beurteilung der Lehren Machs u. Studien zur Technik u. Psychotechnik. Reinb. 1980. – Briefe 1901–42. Hg. A. Frisé. 2 Bde., Reinb. 1981. – Klagenfurter Ausg. Komm. digitale Ed. sämtl. Werke, Briefe u. nachgelassener Schr.en. Hg. Walter Fanta, Klaus Amann u. Karl Corino [DVD]. Klagenf. 2009. Literatur: Karl Dinklage (Hg.): R. M. Leben, Werk, Wirkung. Reinb. 1960. – Wilfried Berghahn: R. M. Reinb. 1963 u. ö. – Wolfdietrich Rasch: Über R. M.s Roman ›Der Mann ohne Eigenschaften‹. Gött. 1967. – Jürgen C. Thöming: R.-M.-Bibliogr. Bad Homburg v. d. Höhe u. a. 1968. – Robert L. Roseberry: R. M. Ein Forschungsber. Ffm. 1974. – Hartmut Böhme: Anomie u. Entfremdung. Literatursoziolog. Untersuchungen zu den Ess.s R. M.s u. seinem Roman ›Der Mann ohne Eigenschaften‹. Kronberg 1974. – Jochen Schmidt: Ohne Eigenschaften. Eine Erläuterung zu M.s Grundbegriff. Tüb. 1975. – Rolf Schneider: Die problematisierte Wirklichkeit. Leben u. Werk R. M.s. Bln. 1975. – M.-Forum. Wien 1975–2000, Bln. 2001 ff. – Helmut Arntzen: M.-Komm. 2 Bde., Mchn. 1980. 2 1982. – Adolf Frisé: Plädoyer für R. M. Hinweise u. Ess.s 1931–80. Reinb. 1980. – Renate v. Heydebrand (Hg.): R. M. Darmst. 1982. – Michiko Mae u. J. C. Thöming: Auswahlbibliogr. zu R. M. In: Text + Kritik 21/22 (31983). – Hans-Georg Pott: R. M. Mchn. 1984. – Roger Willemsen: Das Existenzrecht der Dichtung. Zur Rekonstruktion einer systemat. Literaturtheorie im Werk R. M.s. Mchn. 1984. – Ders.: R. M. Vom intellektuellen Eros. Mchn./Zürich 1985. – Karl Corino: R. M. Leben u. Werk in Bildern u. Texten. Reinb. 1988. – Christoph Hoffmann: ›Der Dichter am Apparat‹. Medientechnik, Experimentalpsychologie u. Texte R. M.s 1899–1942. Mchn. 1997. – Silvia Bonacchi: Die Gestalt der Dichtung. Der Einfluß der Gestalttheorie auf das Werk R. M.s. Bern u. a. 1998. – Walter Fanta: Die Entstehungsgesch. des ›Mann ohne Eigenschaften‹. Wien 2000. – Fred Lönker: Poet. Anthropologie. R. M.s Erzählungen ›Vereinigungen‹. Mchn. 2002. – Oliver Pfohlmann: Eine finster drohende u. lockende Nachbarmacht? Untersuchungen zu psychoanalyt. Literaturdeutungen am Beispiel R. M. Mchn. 2003. – K. Corino: R. M. Eine Biogr. Reinb. 2003. – Nicole K. Streitler: M. als Kritiker. Ffm. 2006. – Birgit Nübel: R. M. Essayismus als Selbstreflexion der Moderne. Bln. 2006. – Klaus Amann: R. M. Lit. u. Politik. Reinb. 2007. – Andrea Pelmter: ›Experimentierfeld des Seinkön-
467 nens‹ – Dichtung als ›Versuchsstätte‹. Zur Rolle des Experiments im Werk R. M.s. Würzb. 2008. – Constanze Breuer: Werk neben dem Werk. Tgb. u. Autobiogr. bei R. M. Hildesh. 2009. Thomas Anz
Muskatblut. – Berufsdichter und -sänger, Verfasser von Meisterliedern; erste Hälfte 15. Jh. Anhaltspunkte für die Biografie M.s ergeben sich zunächst aus seinen Liedern, von denen einige auf bekannte geschichtl. Ereignisse anspielen: so etwa das früheste datierte (Nr. 70: 1415) auf das Konstanzer Konzil, das späteste datierte (Nr. 81: 1427) auf einen Aufruf zum Kriegszug gegen die Hussiten. Daneben finden sich aus der Zeit von 1424 bis 1458 archival. Aufzeichnungen aus Nördlingen, Regensburg, Nürnberg u. Mainz über einen M. Er erscheint dort als Fahrender in den Diensten der Erzbischöfe von Mainz (Konrad III. von Daum 1419–1434; Dietrich von Erlbach 1434–1459). In der Forschung ist umstritten, ob sich diese archival. Daten auf eine einzige Person dieses Namens oder auf mehrere beziehen. Gegen Letzteres spricht die »Koinzidenz von Name, Beruf, Stellung und Wirkungskreis« (Schanze 1983, S. 150). Durch die Identität ließen sich auch Besonderheiten der Überlieferung in der Handschrift a (fertiggestellt 1434 durch Hermann von Ludesdorf, Kaplan der Grafen von Manderscheid u. Mönch im Zisterzienserkloster Himmerod) erklären: Eine Sammlung von Liedern eines einzigen Autors ist nur bei einer bekannten Persönlichkeit wie einem Hofdichter denkbar; außerdem könnten bei den Verbindungen, die die Grafen von Manderscheid nach Mainz hatten, persönl. Beziehungen als Anlass für die Entstehung der Handschrift angenommen werden. Man könnte also davon ausgehen, dass M. etwa 1390 geboren ist, um 1410 zu dichten begann, eine Stellung am Hof der Kurfürsten von Mainz hatte u. frühestens 1458 starb. Inwieweit andere Hinweise in den Liedern, z.B. auf Frau und Kinder (Nr. 32), auf M.s Biografie zu beziehen sind, ist unklar. Auch über den Umfang von M.s Œuvre herrscht Uneinigkeit: Insg. sind 109 Lieder mit der Autorsignatur M. überliefert, ohne
Muskatblut
dass diese aber als striktes Echtheitskriterium gelten dürfte. Man kann wohl davon ausgehen, dass zumindest die in der vermutlich zu Lebzeiten M.s entstandenen Handschrift a überlieferten 95 Lieder echt sind (anders nur Kiepe-Willms, die die Lieder Nr. 1 u. 52 aus stilist. Gründen ausscheidet). Aus inhaltlichen u. überlieferungstypolog. Gesichtspunkten sind auch einige nur außerhalb von a überlieferte Lieder als echt anzusehen. Von M. sind vier Töne bekannt: Hofton, Langer Ton, Fröhlicher Ton, Unbenannter Ton (ohne Namen überliefert); zu Hofton u. Fröhlichem Ton ist auch die Melodie bekannt. M. deckt mit seinen Liedern, von denen ungefähr zwei Drittel weltl. Inhalte behandeln, ein breites Themenspektrum ab. Den Hauptteil bilden solche mit moraldidakt. Inhalt. Es finden sich hier allg. Klagen über den Zustand der Welt, Tadel einzelner Laster, insbes. Anprangerung von Hoffart, Wucher u. Ungerechtigkeit (z.B. Nr. 90). Adressaten sind entweder die Allgemeinheit oder bestimmte Stände oder Personen. Meist sind, wohl durch M.s Tätigkeit als Dichter u. Sänger am Hof der Kurfürsten von Mainz bedingt, der Adel oder, spezieller, die Fürsten angesprochen. Einige dieser Lieder sind als Fürstenspiegel anzusehen (Nr. 70–72, 81, 92, 100). Die Lieder mit Minne- u. Frauenthematik, bei denen das Vorbild Suchensinns deutlich hervortritt, bedienen sich meist szen. Darstellungen (Dialogform, z.B. Nr. 33 f.). Bei den geistl. Liedern überwiegt bei Weitem die Marienthematik, wobei oft die Beziehung zu kirchl. Festen erkennbar ist. M.s Sprache weist fränk. Merkmale auf, sein Stil ist schlicht u. verständlich: Einfache metr. Formen, gängiger Wortschatz, durchsichtiger Satzbau u. bekannte Bilder werden bevorzugt. Auch dies war wohl ein Grund für seine große Beliebtheit bei Zeitgenossen u. Nachfahren: Die für Meisterlieder relativ breite Überlieferung bis in die zweite Hälfte des 16. Jh. zeugt davon. Michel Beheim, Konrad Nachtigall u. andere singen sein Lob. Cyriacus Spangenberg (1528–1604) erwähnt ihn in seinem Katalog der dt. Meistersänger, Wolfhart Spangenberg (um 1570–1636) in seinem Schauspiel Singschul. Sein Hofton wurde von späteren Meistersängern gerne
Muspilli
verwendet. Teile seiner Lieder tauchen in anderen Zusammenhängen auf, so z.B. als Federprobe in einer Heidelberger Handschrift (Cpg 5). Ausgaben: Lieder M.s. Hg. Eberhard v. Groote. Cöln 1852. – M. Die Kölner Hs. Hg. Eva KiepeWillms. Mit einem Melodie-Teil, bearb. v. Horst Brunner. Göpp. 1986 (Faks.) Literatur: Siegfried Junge: Studien zu Leben u. Mundart des Meistersingers M. Diss. Greifsw. 1932. – Eva Kiepe-Willms: Die Spruchdichtungen M.s. Mchn. 1976. – Christoph Petzsch: Muskatblüt Nr. 62 u. Michel Beheim Nr. 250. Zum uneigentl. Sprechen im SpätMA. In: Euph. 76 (1982), S. 275–294. – Frieder Schanze: Meisterl. Liedkunst zwischen Heinrich v. Mügeln u. Hans Sachs. Bd. 1, Mchn. 1983, S. 145–182. Bd. 2, ebd. 1984, S. 14–20. – E. Kiepe-Willms: M. In: VL. – RSM 4, S. 378–436. – Joachim Knape: M.-Sprüche bei Sebastian Brant. In: Artibus. FS Dieter Wuttke. Hg. Stephan Füssel. Wiesb. 1994, S. 95–101. – Karina Kellermann: ›ach Musgapluot / wie seer hastu gelogen!‹ Lügendichtung als Zeitkritik. In: Mitt.en des Dt. Germanistenverbandes 52 (2005), H. 3, S. 334–346. Elisabeth Wunderle / Red.
Muspilli. – Althochdeutsches Stabreimgedicht des 9. Jh. Das M. ist in einer zwischen 821 u. 827 datierbaren Handschrift des pseudoaugustin. Sermo De Symbolo contra Iudaeos überliefert, die Bischof Adalram von Salzburg dem späteren König Ludwig dem Deutschen dedizierte. Das anonyme Gedicht wurde – wohl im späteren 9. Jh. – von ungeübter Hand auf leeren Flächen des lat. Codex eingetragen. Anfang u. Schluss fehlen. Eine genau Datierung der Niederschrift ist nicht möglich. Das je nach Textherstellung 103 bis 105 Langzeilen umfassende Gedicht vom Schicksal der Seele nach dem Tod u. dem Jüngsten Gericht ist nach einem rätselhaften Wort in Vers 57 benannt (»dar nimac denne mak andremo helfan uora demo muspelle«), dessen Herkunft u. genaue Bedeutung bis heute umstritten sind (vgl. zuletzt Jeske 2006). Ungeklärt ist, ob das auch im Altsächsischen (Heliand) u. mehrfach im Altnordischen (Ältere Edda, Snorra Edda) belegte Wort germanischheidn. oder christl. Ursprungs ist. Auf eine urspr. Bedeutung »Weltende durch Feuer«
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deuten die altnord. Bezeichnungen für die den Göttern feindlich gesinnten Feuerdämone hin (»Muspellz synir«, »Muspellz lyir«), doch ist das Wort nicht mehr eindeutig etymologisierbar. Der Kontext legt nahe, dass es sich im M. um einen Ausdruck für das Weltgericht bzw. Weltende (vgl. Heliand vv. 2591 u. 4358), möglicherweise auch den Weltenrichter handelt. Inhaltlich gliedert sich das Gedicht in drei Abschnitte: Kampf der Engel u. Teufel um die Seele, Beschreibung der Freuden des Paradieses u. der Höllenqualen (vv. 1–30); Ankunft des Jüngsten Gerichts, Kampf des Elias mit dem Antichrist u. feuriger Weltuntergang (vv. 31–61) mit anschließender geistl. Ermahnung (vv. 63 bis 72); Jüngstes Gericht (vv. 73 ff.). Mit der Anschauung des Erlösers (vv. 100 ff.) bricht das M. ab. Gegen die oft wiederholte Feststellung einer Disparität des M. haben sich v. a. Schneider u. Minis gestellt. Minis’ Versuch, unter Ausscheidung mutmaßl. Interpolationen die originäre Fassung des Gedichts mithilfe einer auf Zahlensymbolik gegründeten Strophengliederung wiederherzustellen, ist problematisch. Die in Aufbau, Sprache, Stil u. Metrik zu beobachtende Uneinheitlichkeit ist wohl weniger Ergebnis einer Kompilation verschiedener Gedichte (Baesecke) als vielmehr Ausdruck zeittypischer Diskontinuität (Haug 1977). Das M. steht in einem weitverzweigten Traditionszusammenhang apokalyptischeschatolog. Literatur. Man hat für bestimmte Passagen u. Motive einzelne Quellen benannt, wie ein Akrostichon der erithräischen Sybille, die Predigten Ephraems des Syrers u. die Vita Fursei, doch lassen sich direkte Übernahmen nicht zwingend nachweisen. Selbst die z.T. wörtl. Übereinstimmungen zwischen dem M. u. dem angelsächs. Gedicht Crist III belegen keine unmittelbare Abhängigkeit der Dichtungen voneinander (anders Finger). In der Vorstellung, dass das niedertropfende Blut des Elias die Welt in Brand setzt, wollte v. a. die ältere Forschung Heidnisch-Germanisches sehen. Das Motiv, lange nur aus östl. Überlieferung bekannt, ist inzwischen jedoch auch im Westen nachgewiesen (Groos/Hill).
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Ein zentrales Forschungsproblem ist die sprachliche – lautliche, flexivische u. lexikal. – Uneinheitlichkeit des M. Der Schriftdialekt ist bairisch mit südrheinfränk. Elementen. Die Behauptung, das Gedicht enthalte altsächsische (Krogmann) bzw. altniederfränk. Elemente (Minis), wurde widerlegt (Bergmann). Noch ist nicht zu entscheiden, ob das M. urspr. bairisch oder (südrhein)fränkisch war. Ob eine Mischsprache der adligen Oberschicht des Karolingerreichs vorliegt, wie Bergmann zu erwägen gibt, bedarf ausführlicherer Untersuchungen insbes. im Bereich des Wortschatzes. Das M., eines der wenigen in ahd. Sprache überlieferten Stabreimgedichte, dokumentiert bereits eine starke Auflösung der Stabreimversform (unregelmäßige Akzentabstufung u. Stabverteilung) sowie das Bemühen um regelmäßigen Versbau, Verstärkung des Versschlusses u. die Tendenz zum Endreim. Im Stil ist das Gedicht durch die Mischung von german. Form u. christl. Ermahnungsrhetorik geprägt. Die predigthafte Haltung unterstreicht die trotz einzelner Anklänge an Stellen aus der altgerman. Literatur durchgehend christl. Ausrichtung des M. Neben der theolog. Problematik stehen jurist. Fragestellungen im Zentrum, insbes. bei der Schilderung des Elias-AntichristKampfes u. des Jüngsten Gerichts. Auch wenn die Behandlung von Rechtsfragen im Kontext der Gerichtsbarkeit von der apokalyptischeschatolog. Ausprägung des geistl. Mahngedichts abhängt, geht man wohl nicht zu weit, wenn man im M. auch Reflexe auf Zeitgeschichtliches sieht. Der Dichter des M. scheint sich an ein Publikum zu wenden, das an theologischen u. rechtl. Fragen interessiert war. Dieses Publikum dürfte nicht nur mit Endzeitvorstellungen, sondern auch mit Rechtspraktiken der Zeit vertraut gewesen sein. Ausgaben: Elias v. Steinmeyer (Hg.): Die kleineren ahd. Sprachdenkmäler. Bln./Zürich 31971, S. 66–81 (zit.). – Walter Haug u. Benedikt Konrad Vollmann (Hg.): Frühe dt. Lit. u. lat. Lit. in Dtschld. 800–1150. Ffm. 1991, S. 50–57 (mit nhd. Übers.). – Ahd. Lit. Hg. Horst Dieter Schlosser. Bln. 22004 (mit nhd. Übers.).
Muspilli Literatur: Georg Baesecke: M. In: Sitzungsber. der kgl.-preuß. Akademie der Wiss.en. Philosophisch-histor. Klasse XXI. Bln. 1918, S. 414–429. – Hermann Schneider: M. In: ZfdA 73 (1936), S. 1–32. – Willy Krogmann: Ein altsächs. Lied vom Ende der Welt in hochdt. Übers. Bln. 1937. – Rudolf van Delden: Die sprachl. Gestalt des M. u. ihre Vorgesch. In: PBB 65 (1942), S. 303–329. – G. Baesecke: M. II. In: ZfdA 82 (1948/50), S. 199–239. – Gemma Manganella: M. Problemi e interpretazioni. In: Annali dell’Istituto Orientale di Napoli. Sezione germanica 3 (1960), S. 17–49. – Herbert Kolb: ›dia werolt-rehtwîson‹. In: Ztschr. für dt. Wortforsch. 18 (1962), S. 88–95. – Ders.: ›vora demo muspelle‹. In: ZfdPh 83 (1964), S. 2–33. – Giulia Mazzuoli Porru: Considerazioni sul ›M.‹. In: Rivista di letterature moderne e comparate 17 (1964), S. 197–214. – Cola Minis: Hs., Form u. Sprache des M. Bln. 1966. – Rolf Bergmann: Zum Problem der Sprache des M. In: FMSt 5 (1971), S. 304–316. – H. Kolb: Himmel u. ird. Gericht in karoling. Theologie u. ahd. Dichtung. Ebd., S. 284–303. – Dieter Kartschoke: Altdt. Bibeldichtung. Stgt. 1975, S. 24–32. – Heinz Finger: Untersuchungen zum M. Göpp. 1977. – Wolfgang Mohr u. Walter Haug: Zweimal M. Tüb. 1977. – Jürgen Kühnel: Untersuchungen zum german. Stabreimvers. Göpp. 1978, S. 63–65, 69–71, 302 f. – Arthur Groos u. Thomas D. Hill: The Blood of Elias and the Fire of Doom. In: Neuphilolog. Mitt. 81 (1980), S. 439–442. – Hans-Hugo Steinhoff: M. In: VL (Lit.). – Maria Magdalena Witte: Elias u. Enoch als Exempel, typolog. Figuren u. apokalypt. Zeugen. Ffm./Bern/New York 1987. – Wolfgang Brandt: Zukunftserzählen im M. In: Althochdeutsch. Hg. R. Bergmann u. a. Bd. 1, Heidelb. 1987, S. 720–736. – Wolfgang Laur: M., ein Wort christl. oder vorchristl. german. Eschatologie. Ebd., Bd. 2, S. 1180–1194. – Achim Masser: Ahd. ›peh‹. Ebd., S. 1195–1209. – R. Schmidt-Wiegand: ›Reht‹ u. ›ewa‹. Ebd., S. 937–958. – W. Haug: Nußknackersuite. In: FS Ingo Reiffenstein. Göpp. 1988, S. 287–308, zum M. S. 287–290. – Rudolf Schützeichel: Zum M. Ebd., S. 15–29. – Richard L. Morris: Word Order and Discourse Salience in the Old High German M. In: Leuvense Bijdragen 78 (1989), S. 129–144. – James R. Peirce: A Modern Review of Muspille’s Verses. In: Proceedings of the First Annual Languages and Literature Conference. Hg. Duleep C. Deosthale. Los Angeles 1990, S. 95–110. – Haug/Vollmann 1991 (s. o.), S. 1068–1080 (Komm., Lit.). – Laura Papo: Il Muspilli e le sue probabili fonti. In: Prospero 3 (1996), S. 172–180. – Hans Jeske: Zur Etymologie des Wortes ›muspilli‹. In: ZfdA 153 (2006), S. 425–434. – Verio Santoro: Un dimenticato problema ecdotico del M.: le tras-
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crizioni di Docen, Maßmann e Schmeller. In: Linguistica e Filologia 25 (2007), S. 207–235. Claudia Händl
Muster, Wilhelm, auch: Ulrich Hassler, * 12.10.1916 Graz, † 26.1.1994 Graz. – Übersetzer u. Romancier. M., dessen Vater Zollwachebeamter war, übersiedelte mit seinen Eltern bereits mit drei Jahren an die jugoslaw. Grenze u. wurde vom deutsch-slowen. Milieu der gemischtsprachigen Region nachhaltig geprägt. Die Möglichkeit einer Gymnasialausbildung erhielt er an der Bundeserziehungsanstalt Wiener Neustadt, einer Internatsschule für begabte Schüler ohne Zugang zu höheren Schulen. Seine Lehrer förderten das Interesse an Literatur u. Musik; bereits früh begann er mit eigenen literar. Texten u. Kompositionen. In seinem Studium in Graz ab 1935, das M. 1947 mit einer Dissertation über den Schamanismus in der deutschsprachigen Tradition abschloss, »vagabundierte« er durch die Germanistik, Romanistik, Medizin, Zoologie, Physik u. bestand auch eine Prüfung als »Bühnenkünstler«. Nach dem Anschluss Österreichs 1938 war M. an einer Wanderbühne tätig, legte an der Lehrerbildungsanstalt Graz sein Examen ab u. unterrichtete u. a. in Marburg (Maribor) im besetzten Slowenien. Nach einer kurzen militär. Ausbildung in einem Gebirgsjägerregiment wurde er wieder entlassen. Ab 1940 war er mit Josef Weinheber in briefl. Kontakt, der ihn bei ersten literar. Versuchen ermutigte. 1952 übersiedelte M. nach Spanien, wo er zunächst als Lektor in Madrid arbeitete. Er interessierte sich für die spanischsprachige Literatur u. legte 1958 mit Ramón Pérez de Ayalas Roman Belarminio und Apolonio bei Suhrkamp seine erste Übersetzung vor. Das Erscheinen von M.s erstem Roman Aller Nächte Tag unter dem Pseud. Ulrich Hassler (Stgt. 1960. Neuausg. Ffm. 1983 u. d. T. Silbermeister) fiel mit seiner Übersiedlung nach Ibiza im Jahr 1960 zusammen. 1962 kehrte er aus Spanien, das ihm zur »zweiten Heimat« geworden war, nach Graz zurück u. lehrte von 1965 bis 1978 am Dolmetschinstitut der Grazer Universität Spa-
nisch. 1967 heiratete er die kongeniale Buchhändlerin Anneliese Göttl (geb. Petz). Obwohl M.s erste Werke bereits in der Nachkriegszeit erschienen waren (ein von ihm selbst später als »unglaublich schlecht« kritisierter Romanerstling ist nicht erhalten), wurde er erst ab den 1980er Jahren signifikant als neue Stimme der österr. Gegenwartsliteratur rezipiert. Dabei wurde seine vielschichtige u. in ihrer Erzählstruktur komplizierte Literatur zwar als in der Tradition der österr. Moderne gelesen, ihre Affinität zur – insbes. lateinamerikanischen – Postmoderne jedoch kaum erkannt. Romane wie Der Tod kommt ohne Trommel (Stgt. 1980), in dem eine historisch nicht belegbare afrikan. Kolonie der Habsburgermonarchie lange nach Ende des Ersten Weltkriegs auf skurrile Art weiter existiert, demonstrieren einen permanenten Prozess literarischer De- u. Rekonstruktion einer nicht länger fassbaren »Realität«, aber auch von Erzählmustern, die Claudio Magris als »habsburgischen Mythos« charakterisiert hat. Der Roman Pulverland (Stgt. 1986), der durch seinen rätselhaften Protagonisten, den Grafen Hoyos, die habsburg. »Narrative« Österreichs u. Spaniens synthetisiert, endet schließlich in einer apokalypt. Schlacht mythischer Figuren. Am Schluss findet sich die Welt im Zustand des Hitzetods: »Pulverland raucht immer, wir merken es nicht.« Auch zwei Bände mit Kurzprosa, Sieger und Besiegte (Graz 1989) sowie Mars im zwölften Haus (Graz 1991), spielen mit postmodernen Techniken wie dem Verschwinden des Erzählers oder dem Erscheinen der »Geschichte« als Protagonistin der Erzählung. Das stark M.s Kenntnis internationaler Mythen u. Literatur geschuldete Œuvre schließt mit dem Roman Auf den Spuren der Kuskusesser (Graz 1993), der in verschiedenen Erzählsträngen frühere Protagonisten u. fiktionale Kontexte wieder aufnimmt. M., der 1985 den Übersetzerpreis des spanischen Kultusministeriums u. 1987 den Österreichischen Staatspreis für Übersetzung erhalten hat, ist einer der bedeutendsten deutschsprachigen Übersetzer aus dem Spanischen. Neben Pérez de Ayala hat er Benito Pérez Galdós, Ramón José Sender, Alfonso Martínez Garrido, Pedro Salinas, Juan Carlos
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Onetti, Miguel de Unanumo, Pío Barroja u. v.a. Francisco de Quevedo ins Deutsche übertragen. Sein Nachlass befindet sich im Franz-NablInstitut für Literaturforschung, Graz. Weitere Werke: Vom Nutzen der Flaschenpost oder Der Umweg über Westindien. Zürich 1953. – Die Reise nach Cerveteri. Wien 1956 (E.). – Die Hochzeit der Einhörner. Variationen eines Themas. Stgt. 1981 (E.en). – Gehen Reisen Flüchten. Graz 1983 (P.). – Monsieur Musters Wachsfigurenkabinett. Graz 1984. – Partezettel u. Mangrovenbäume. Graz 1986. – Übersetzungen: Francisco de Quevedo: Die Träume. Die Fortuna mit Hirn oder die Stunde aller. Ffm. 1966. – Ders.: Leben des Don Pablos, Landzerstörers, Erzschelmen u. Hauptvagabunden. Stgt. 1982. – Ders.: Gedichte. Stgt. 1982. – Miguel de Unamuno: Ein ganzer Mann. Ravensburg 1989. Literatur: Rüdiger Wischenbart: Dämon als Lebensspender. Der Erzähler W. M. In: Die Presse, 28./29.3.1981. – Gerhard Melzer: Die Krankheit ›Schreiben‹. In: NZZ, 8.1.1987. – Walter Grünzweig: Gesch. u. Gesch.n. Zur Dekonstruktion österr. Mythen im Werk W. M.s. In: MAL 23/3–4 (1990), S. 187–197. – Jerzy Staus: Was ist das, so gewesen ist. Studien zum Romanwerk W. M.s. Wien 1996. – Carlos Fortea Gil: W. M. y el problema de la interculturalidad. Diss. Univ. Complutense 2003 (online). – Ulrike Steinhäusl: W. M.s Spanienbild. In: Transkulturelle Beziehungen: Spanien u. Österr. im 19. u. 20. Jh. Hg. Marisa Siguán u. Karl Wagner. Amsterd. 2004, S. 267–280. – Dies.: Reflejos quijotescos en la novela ›La muerte viene sin tambor‹ de W. M. In: El Quijote hoy: La riqueza de su recepcíon. Hg. Klaus-Dieter Ertler u. Alejandro Rodríguez Díaz. Madrid, 2007, S. 275–283. – W. Grünzweig: W. M. In: KLG. Walter Grünzweig
Muth, Karl, Carl, Borromäus Johann Baptist, auch: Veremundus, * 31.1.1867 Worms, † 15.11.1944 Bad ReichenhallAxelmannstein. – Publizist; Professor (seit 1914). Aus einem kath. Elternhaus stammend, kam M. 14-jährig ins Steyler Missionshaus in Holland, ging 1884/85 in die Mission der »Weißen Väter« nach Algier, wo er deren Gründer Kardinal Charles Martial Lavigerie kennenlernte, u. erwarb dort das Baccalaureat, wandte sich aber von dieser geistl. Lebensform ab. Während des Studiums der Theologie, Germanistik, Staats- u. Volks-
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wirtschaft sowie Geschichte (Gießen; Berlin, bei Erich Schmidt; Paris 1892/93; Rom März/ April 1893) wurde er Korrespondent des kath. »Mainzer Journal«. 1894/95 Redakteur bei der Zeitung »Der Elsässer« (Straßburg) u. 1895–1902 Chefredakteur der kath. Familienzeitung »Alte und Neue Welt« (Einsiedeln), gründete M. – im Kontrast zur einseitigen Konfessionalität, »Engherzigkeit und Prüderie« der letztgenannten – 1903 »Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst« (Mchn.: KöselVerlag), deren Herausgeber er war. Als eines der wenigen nicht gleichgeschalteten Presseorgane konnte die Zeitschrift seit 1933 ihre Auflage fast verdoppeln; auf versteckte Weise wurde durch geschichtl. Themen Kritik an der Gegenwart geübt, bis zum Verbot 1941 unter dem Vorwand des Papiermangels. Nach dem frz. Vorbild »Correspondant« u. der literar. Bewegung »Renouveau catholique« sollte die Zeitschrift ein Versuch der »Wiederbegegnung von Kirche und Kultur in Deutschland« (so auch der Titel einer FS für M. Mchn. 1927) sein, um die Inferiorisierung u. Ghettoisierung des dt. Katholizismus nach dem Kulturkampf aufzubrechen, die »litterarische Gewissensfrage« zu stellen: Steht die katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit? (Mainz 1898) u. Die literarischen Aufgaben der deutschen Katholiken (Mainz 1899) zu entwickeln. M., der zeitweilig unter ModernismusVerdacht stand, zielte mit seiner Kultur- u. Literaturkritik, analog zu der des protestant. »Türmers« u. sich herleitend vom Naturalismus-kritischen »Idealrealismus« Lienhards, Bleibtreus u. Langbehns, auf literar. Erziehung u. Interkonfessionalität. 1898/99 initiierte er den sog. »Literaturstreit«, in dem er sich gegen die Tendenz zu neuromant. Religiosität im George-Kreis wandte u. einen Kontrahenten in Richard Kralik (mit seiner dem österreichisch-barocken Katholizismus verpflichteten Zeitschrift »Der Gral«) fand. In Die Wiedergeburt der Dichtung aus dem religiösen Erlebnis (Köln 1909) – statt kath. Stoffe zielt die Schrift auf eine auf »integralen Realismus« bauende Kunst aus christl. Geist (inspiriert durch Friedrich Schlegel u. Martin Deutinger) – u. in Schöpfer und Magier (Lpz. 1935. Mchn. 21953) – eine vergleichende Be-
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trachtung Klopstocks, Goethes u. Georges – in der Nähe M.s wohnte, M.s Erinnerungen weist M. programmatisch auf das schwierige dokumentiert. Verhältnis von Religion u. Poesie u. fordert Literatur: Franz Rappmannsberger: K. M. u. die Überwindung der »ästhetischen und re- seine Ztschr. ›Hochland‹ als Vorkämpfer für die ligiösen Verschwommenheit der Romantik« innere Erneuerung Dtschld.s. Mchn. 1952. – Werunter Wiederaufnahme des Shake- ner Bergengruen: Erinnerungen an C. M. In: speare’schen u. Goethe’schen Idealrealismus. Hochland 46, 1953/54, S. 75–80. – Clemens Heselhaus: C. M. oder über Dichtung u. Religion. In: C. M. machte früh auf die Gefahren einer SynM.: Schöpfer u. Magier. Mchn. 21953, S. 255–269 these von Kunst u. polit. Kultur aufmerksam, (Nachw.). – Anton Wilhelm Hüffer: K. M. als Litebetonte die Unterscheidung von Nationalge- raturkritiker. Münster 1959. – Konrad Ackermann: fühl u. Nationalismus, die Voraussetzung für Der Widerstand der Monatsschr. ›Hochland‹ gegen eine realist. »Heimatkunst« in der Tradition den NS. Mchn. 1965. – Clemens Bauer: C. M.s u. Herders. M. ermutigte, als Vertreter eines des ›Hochlands‹ Weg aus dem Kaiserreich in die kath. Existentialismus (in der Linie Theodor Weimarer Republik. In: Hochland 59 (1966/67), Haeckers) u. Kulturkatholizismus (mit »Of- S. 234–247. – Wulfried C. Muth: C. M. u. das Mittelalterbild des ›Hochland‹. Mchn. 1974. – Franz fenheit für alles Neue, alles die Zeit BeweCornaro: K. M., Karl May u. dessen Schlüsselpolegende«, Werner Bergengruen) zur Mitver- mik. In: Jb. der Karl May-Gesell. 5 (1975), antwortung des Christen für die Weimarer S. 200–219. – Friedrich Vollhardt: Hochland-Kon»Res publica« (1926), für den »christlichen stellationen. Programme, Konturen u. Aporien des Sozialismus« u. die Bodenreform, die eine Kulturkatholizismus am Beginn des 20. Jh. In: »himmelschreiende Sünde« (1931/32) an den Moderne u. Antimoderne. Renouveau Catholique Bauern tilgen sollte. Unter M. bildete die in- u. die dt. Lit. des 20. Jh. Hg. Wilhelm Kühlmann u. ternational renommierte Zeitschrift ein Dia- Roman Luckscheiter. Freib. i. Br. 2008, S. 67–100. Maria Behre logforum zwischen kath. Akademikern u. kirchenkrit. Intellektuellen sowie ein Zentrum geistigen Widerstands (den »neuen Mutianus Rufus, Conradus, eigentl.: Barbaren« war er schon 1918/19 entgegen- Konrad Muth, * 15.10.1471 (oder 1470) getreten). M. bildete an seinem Wohnort in Homberg/Hessen, † 30.3.1526 Gotha. – München das Zentrum eines regimekrit. Humanist. Kreises, zu dem auch die Mitglieder der stu- M. stammte aus patriz. Familie. Er latinidentischen Widerstandsgruppe »Die Weiße sierte seinen Namen nach Humanistenart Rose« gehörten. Hans Scholl lernte M. durch (»Rufus« wegen seines rötl. Haars). Im Alter Vermittlung von dessen Freund Otl Aicher, von acht bis zehn Jahren schickten ihn seine der M. eine modernere Titel-Illustration des Eltern auf die von Hegius geleitete Latein»Hochland« vorgeschlagen hatte, im Aug. schule in Deventer, eine Hochburg der »De1941 kennen; seine Bibliothek, die Scholl votio moderna«, wo Erasmus vorübergehend nutzte u. ordnete, sodass sie sich fast täglich sein Mitschüler war. 1486 bezog M. zus. mit sahen, wurde zum Ort philosophisch-theo- seinem jüngeren Bruder Johann die Univerlog. Gespräche; in einem Weihnachtsbrief sität Erfurt, die in diesen Jahren von der »via vom 22.12.1941 an M. benennt Hans seine moderna« geprägt war, an der aber vereinzelt durch M. geförderte, wenn nicht initiierte auch schon humanist. Lehrer wie Celtis aufreligiös-christl. Motivation zum Widerstand; traten, den M. selbst erlebte (1488 Baccalauseit Mai 1942 gehörte auch Sophie Scholl, der reus, 1492 Magister artium). Nach zwei JahM. zu Beginn ihres Studiums in München ren als Dozent an der philosoph. Fakultät Unterkunft gab, zum Widerstandskreis. Die ging er über Mainz, wo er sich mit Dietrich Gestapo führte nach der Verhaftung der Ge- Gresemund d.J. befreundete, 1494/95 zum schwister Scholl am 18.2.1943 auch bei M. Rechtsstudium nach Italien. Belegt sind läneine Hausdurchsuchung durch, übersah aber gere Aufenthalte in Bologna, Rom u. Ferrara, belastendes Material, die Tag- und Nachtbücher wo er 1501 in kanonischem Recht promoviert Haeckers, wie Bergengruen, der 1936–1942 wurde. Wahrscheinlich hielt M. sich auch in
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Mailand, Mantua u. Venedig auf. Während der etwa sieben Jahre in Italien legte er nicht nur den Grundstock außerordentl. Kenntnisse der röm. Lit., sondern lernte auch ital. Humanisten wie Filippo Beroaldo d.Ä. u. den christlich-humanistischen Dichter Baptista Mantuanus kennen. Einfluss auf sein Streben nach einer Synthese antiker Philosophie u. christl. Theologie hatte v. a. die Begegnung mit den Ideen der platonischen Akademie des Marsilio Ficino in Florenz. 1502/03 kehrte M. nach Deutschland zurück. Eine Anstellung als Rat am Hof des hess. Landgrafen Wilhelm II., die er durch Vermittlung seines Bruders bekommen hatte, gab er bald wieder auf u. zog sich nach Gotha zurück, wo er ein Haus erwarb, von den bescheidenen Einkünften eines Kanonikats an der dortigen Marienkirche u. einigen anderen Pfründen lebte u. sich ganz seinen Studien widmete. Von wenigen Ausflügen abgesehen, blieb er bis zu seinem Tod hier wohnen. Nicht einmal eine Berufung nach Wittenberg durch Friedrich den Weisen konnte ihn fortlocken. Sein Haus in Gotha, über dessen Tür das Motto »Beata Tranquillitas« stand, wurde bald Zentrum eines kleinen Wissenschaftleru. Freundeskreises, dem neben Spalatin u. Heinrich Urban bald schon Heinrich u. Peter Eberbach, Herbord von der Marthen, Euricius Cordus, Hessus, Crotus Rubeanus, vorübergehend Hutten u. a. – v. a. Erfurter – Gelehrte humanistischer wie klosterhumanist. Prägung angehörten. Gemeinsam war diesen Freunden die Liebe zur Literatur u. Sprache der griech.-lat. Antike (inkl. der großen Autoren der christl. Spätantike) u. die Verachtung der spätmittelalterl. Scholastik. M. förderte die sprachl. Bildung der Jüngeren, indem er Stilübungen korrigierte u. geeignete Lektüre empfahl. Der M.-Kreis ergriff Partei in zeitgenöss. Gelehrtenstreitigkeiten (Locher vs. Wimpfeling; Erasmus vs. Lee). Im Kontext des Reuchlin-Streits entstanden die Epistolae obscurorum virorum, an denen M. aber wahrscheinlich nicht selbst mitgearbeitet hat. Auf Luther wurde M. zuerst 1515 aufmerksam, als dieser im Gothaer Augustinerkloster predigte. Zwar polemisierte M. wie Luther immer wieder gegen die entleerten Rituale der Kirche, kritisierte Pfründenjäge-
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rei, Ablasshandel u. Reliquienkult, entlarvte Fasten u. Ohrenbeichte als Ausbeutungs- u. Einschüchterungsinstrumente der Geistlichkeit, doch hütete er sich, diese Kritik öffentlich zu äußern, da er an eine doppelte Wahrheit, eine für die Gelehrten, eine andere für das Volk, glaubte. Deshalb begrüßte M. zwar Luthers reformatorische Bemühungen, distanzierte sich aber später von ihm, bes. als die Unruhen in Wittenberg (1522) u. anderen dt. Städten u. dann die Bauernkriege (1524/25) die sozialen u. polit. Folgen der Reformation zu demonstrieren schienen. Verantwortlich für den endgültigen Bruch waren aber nicht nur M.’ Abneigung gegen Aufruhr u. die »fanatischen lutherischen Steinwerfer«, sondern auch tiefgreifende Unterschiede zu Luthers Theologie. In Armut u. von den meisten seiner jungen Freunde, die sich der Reformation zugewandt hatten, verlassen, starb er 1526 in Gotha. M. gehörte zu den größten u. vielseitigsten Gelehrten des dt. Renaissancehumanismus. Von Universitäten u. Fürsten wurde er umworben, mit Reuchlin, Erasmus, Pirckheimer, Zasius, Beatus Rhenanus korrespondierte er. In Mitteldeutschland genoss er das Ansehen eines inoffiziellen literar. Zensors. Zeitgenossen verglichen ihn mit Erasmus u. Reuchlin. Diese Einschätzung ist um so erstaunlicher, als er nie eine Zeile veröffentlicht hat. Begründet hat M. diese Abneigung gegenüber dem gedruckten Wort scherzhaft damit, dass Sokrates u. Christus auch nichts veröffentlicht hätten u. dass er sich lieber an den Narrheiten anderer erfreuen wolle als solche selbst zu produzieren. In Wirklichkeit mögen Scheu, seine oft unorthodoxen Ideen der Öffentlichkeit mitzuteilen, sowie seine bildungselitäre Grundhaltung die wahren Motive seiner schriftstellerischen Abstinenz gewesen sein. Erhalten blieben wenige verstreute Gedichte sowie über 600 in glänzendem Latein geschriebene Briefe, die seine Freunde u. Schüler, allen voran Urban, gegen seinen Willen aufgehoben haben u. durch die wir ein lebendiges Bild des literarischen, sozialen u. religiösen Lebens dieser Epoche erhalten.
Mylaeus Briefausgaben: Der Briefw. des M. R. Hg. Carl Krause. Kassel 1885. – Der Briefw. des C. M. Hg. Karl Gillert. Halle 1890. Literatur: Ludwig Geiger: Mutian. In: ADB. – Fritz Halbauer: M. R. u. seine geistesgeschichtl. Stellung. Lpz./Bln. 1929. – Lewis W. Spitz: The Conflict of Ideals in M. R. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 16 (1953), S. 121–143. – Ders.: Mutian. In: The Religious Renaissance of the German Humanists. Cambridge/ Mass. 1963. – Robert W. Scribner: The Erasmians and the Beginning of the Reformation in Erfurt. In: Journal of Religious History 9 (1976/77), S. 3–31. – Jean-Claude Margolin: M. R. et son modèle erasmien. In: L’humanisme allemand (1480–1540). Paris/Mchn. 1979, S. 169–202. – Eckhard Bernstein: German Humanism. Boston 1983, S. 87–95. – Erich Kleineidam: M. In: Contemporaries. – Ders.: Universitas Studii Erffordensis. Bd. 2, Lpz. 2 1992. – Heinrich Grimm: M. In: NDB. – E. Bernstein: Der Erfurter Humanismus am Schnittpunkt v. Humanismus u. Reformation. Das Rektoratsblatt des Crotus Rubianus. In: Pirckheimer Jb. 12 (1997), S. 137–165. – Heinrich Grimm: M. R. In: NDB. – Fidel Rädle: Mutians Briefw. u. der Erfurter Humanismus. In: Humanismus in Erfurt. Hg. Gerlinde Huber-Rebenich u. Walther Ludwig. Rudolstadt/Jena 2002, S. 111–129. – Harald Müller: Habit u. Habitus. Mönche u. Humanisten im Dialog. Tüb. 2006, bes. S. 337–355. – F. Rädle: Reuchlin u. M. R. In: Reuchlins Freunde u. Gegner. Hg. Wilhelm Kühlmann. Ostfildern 2010, S. 193–212. Eckhard Bernstein / Gerlinde Huber-Rebenich
Mylaeus, Christophorus, eigentl.: Christophe Milieu, * um 1500, † 1570 (?), vom Genfer See (?). – Humanist u. Universalhistoriker. Das Leben von M. ist nur aus seinen Werken zu erschließen. In den »Erläuterungen zu den Anfängen der berühmten Stadt Lyon« zeigt sich M. seinem Aufenthaltsort – er war 1544/ 45 Humaniora-Professor am Kolleg von Lyon – sehr verbunden (De primordiis clarissimae urbis Lugduni commentarius. Lyon 1545, digitalisiert unter http://books.google.de). Quellentexte sind die im Humanismus wiederentdeckten schriftl. Zeugnisse aus der griech. u. röm. Antike, deren Bedeutung für die kulturelle Identität des Menschen M. – wie anderen Humanisten – grundlegend erscheint. Nahe dem Genfer See schloss M. im Dez. 1547 seinen »Plan zur Abfassung einer Universal-
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geschichte« (Consilium historiae universitatis scribendae) ab, der 1548 in Florenz erschien. In Italien hielt sich M. einige Jahre zum Studium der Rechte auf. Dort habe er die Fürsten Philipp [II.] von Spanien u. Maximilian [II.] von Böhmen getroffen; sie rieten ihm zur Veröffentlichung der (während einer Reise nach Konstantinopel erheblich erweiterten) »Universalgeschichte«, wie er in der Widmungsvorrede seines Hauptwerks »Über das Verfassen einer Geschichte der gesamten Welt« andeutet (De scribenda universitatis rerum historia libri quinque. Basel 1551). Wichtigstes Ziel ist die Darstellung sämtlicher Wissenschaften u. Künste in ihrer geschichtl. Abfolge, von den ersten Anfängen (mit der Benennung der Schöpfung durch Adam) über ihre Ausbildung in Orient u. Antike bis zur Wiederentdeckung in der Gegenwart. Dementsprechend folgt auf die »Geschichte der Weltreiche« (Bd. 3) die der »Weisheit« (Bd. 4) sowie die der »schriftlichen Zeugnisse« (Bd. 5), in denen die Suche nach Erkenntnissen zugänglich geworden ist. Dass M. die »Natur« als Ausgangspunkt (Bd. 1) miteinbezieht, ist dem Einfluss der (neu)platonischen Auffassung der sichtbaren Welt zu verdanken: Wie in der Schöpfung die »Samen« der göttl. Weisheit enthalten sind, hat Gott den Menschen zur Erkenntnis dieser Strukturen u. zu ihrem Gebrauch befähigt. Handwerkliche Künste u. Erfindungen sind folgerichtig Gegenstand der »Geschichte der Klugheit« (Bd. 2). U. d. T. »Theater der gesamten Welt« präsentiert M. die Einzelteile der Schöpfung u. die Leistungen der Menschen in Form von Stammbäumen (Theatrum universitatis rerum. Basel 1557. Internet-Ed.: BSB München). M.’ Werk, das bis heute wenig erforscht ist, galt für Peter Lambeck 1659 als eines der ersten Zeugnisse der Historia literaria; ein Zitat daraus ist – neben solchen von Francis Bacon u. Gerhard Johannes Vossius – seinem Prodromus Historiae literariae unkommentiert vorangestellt. Auch im 18. Jh. wird M. als einer der Begründer einer enzyklopädisch angelegten Gelehrsamkeitsgeschichte genannt, etwa in Daniel Georg Morhofs Polyhistor (Teil I, I. 2, § 10 bzw. II. 4, § 25f.).
475 Weitere Ausgaben: De scribenda universitatis rerum historia [...]. Basel 1551. Mikrofiche-Ausg. Mchn. 1993. – Dass. Florenz 1557. Internet-Ed.: HAAB Weimar. – Dass. In: Artis historicae penus octodecim scriptorum [...]. Bd. 2. Hg. Johann Wolf. Basel 1579. – Hermes academicus sive tractatus eruditissimus olim sub titulo Consilii historiae universitatis scribendae [...]. Hg. Johann Georg Müller. Jena 1624 (mit Randbemerkungen, Überblicken u. Tafeln). Literatur: Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica universalis [...]. Hbg. 1983, Register. – Helmut Zedelmaier: Bibliotheca universalis u. Bibliotheca selecta [...]. Köln 1992, S. 282–286 u. Register (Milieu). – Donald R. Kelley: Writing Cultural History in Early Modern Europe. Christophe Milieu and his Project. In: Renaissance Quarterly 52 (1999), S. 342–365. – Martin Schierbaum: Synthetisierung des Heterogenen u. geschlossene Konzeptionen v. Wissensspeichern. Conrad Gessner, C. M. u. die Anfänge v. Universalbibliogr. u. Enzyklopädie in der Frühen Neuzeit. In: Allgemeinwissen u. Gesellsch. [...]. Hg. Paul Michel. Aachen 2007, S. 359–378. – Ders.: Nachahmung. Ansichten ihrer enzyklopädist. Provinz am Beispiel v. C. M.’ ›De Scribenda Universitatis [...]‹ 1551. In: Maske u. Mosaik. Poetik, Sprache, Wissen im 16. Jh. Hg. JanDirk Müller u. Jörg Robert. Bln. u. a. 2007, S. 323–360. Anette Syndikus
Mylius, Christlob, * 11.11.1722 Reichenbach/Schlesien, † 6. oder 7.3.1754 London. – Journalist, Naturforscher, Übersetzer, Dichter. M.’ Vater, ein mittelloser evang. Pfarrer, u. der Reichenbacher Kantor kümmerten sich um die Erziehung des Knaben, bevor dieser mit 17 Jahren in die Oberklasse der Kamenzer Stadtschule aufgenommen wurde u. nach Abschluss dort zwei Jahre lang unterrichtete. 1742 immatrikulierte sich M. in Leipzig. Seinen frühen naturkundl. Neigungen entsprechend, belegte er außer medizinischen Vorlesungen auch Philosophie, Mathematik, Astronomie u. andere naturwiss. Fächer. Seine bevorzugten Lehrer waren Kästner, der mit ihm später journalistisch zusammenarbeitete, u. Gottsched, der ihn in seine »Vertraute Rednergesellschaft« aufnahm u. den jugendl. Bewunderer seiner Poetikreform durch journalist. Gelegenheitsarbeiten zu-
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mindest bis 1743 an sich zu ziehen vermochte. M.’ eigener journalist. Unternehmungsgeist entsprang 1744 materieller Not sowie dem Bedürfnis, sich von Gottscheds Einfluss unabhängig zu machen. Seinen Stiefvetter Lessing, der 1746 zum Studium nach Leipzig kam, führte M. in das dortige Theaterleben ein u. gab ihm Gelegenheit zur Mitarbeit an seinen diversen literar. Zeitschriften. Seit der Gründung des »Naturforschers« 1747 konzentrierte sich M. auf naturkundl. Themen. Er strebte mit seiner Beteiligung an der Preisaufgabe der Berliner Académie des Sciences 1746 u. einigen Abhandlungen biologischen u. astronom. Inhalts nach fachwiss. Anerkennung. Auch seine Übersetzung von Maupertuis’ »Cosmologie« zeugt vom Bemühen, dessen Aufmerksamkeit zu erregen. Tatsächlich wurde er zur Beobachtung einer ringförmigen Sonnenfinsternis im Juli 1748 nach Berlin eingeladen. Euler machte M. mit der Berliner Gelehrtenwelt bekannt. Von Nov. 1748 bis Okt. 1750 u. noch einmal 1752 war M. Redakteur der Berliner »Vossischen Zeitung«. Sein Werk war v. a. die neue Rubrik »Von gelehrten Sachen«, in die er eigene naturkundl. Beobachtungen, Rezensionen u. Theaterkritiken einrückte. 1751 übernahm er die Redaktion der »Critischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit«. Mehrere andere Zeitschriftenprojekte überlebten (u. a. wegen der preuß. Zensur) die ersten Monate nicht. Lessing war in den Berliner Jahren M.’ ständiger Mitarbeiter. Mit der Herausgabe der »Physicalischen Belustigungen«, die sich Kästners »Hamburgisches Magazin« zum Vorbild nahmen, erwarb sich M. 1751 die Anerkennung Hallers. Vom wiss. Renommee dieser Zeitschrift zeugen die Beiträge namhafter Gelehrter (z.B. Eulers), positive Rezensionen in den Gelehrtenzeitungen sowie Kästners Bereitschaft, sie nach M.’ Tod weiterzuführen. Von M.’ wiss. Qualitäten überzeugt, setzte sich Haller für die Realisierung von dessen Plan ein, eine Forschungsreise nach Nordamerika u. Ostindien zu unternehmen, nachdem M. ihn mit Euler u. Sulzer besprochen hatte. Die Finanzierung des Projekts lag in den Händen zahlreicher Gelehrter, die an M. bestimmte
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Forschungsaufträge erteilten u. sich von seinen Beobachtungsergebnissen einen Nutzen erhofften. M.’ Abreise verzögerte sich jedoch, weil der Journalist im berüchtigten Streit zwischen Samuel König u. dem AcadémiePräsidenten Maupertuis Stellung bezog, Voltaires Satire auf Maupertuis, Diatribe du docteur Akakia, im Dez. 1752 ins Deutsche übersetzte u. dazu noch in einem Bänkelsängerlied die von Friedrich II. veranlasste öffentl. Verbrennung des frz. Originals verspottete. Bei dieser Gelegenheit rückte Lessing wahrscheinlich von seinem älteren Freund ab, da der Verdacht des Königs vornehmlich auf ihn, M.’ Nachfolger bei der »Vossischen Zeitung«, fallen musste. Das Reiseprojekt scheiterte an M.’ plötzl. Tod in London. M. war neben Kästner u. Gottsched einer der bedeutendsten Wissenschaftsjournalisten der Aufklärung. Er stellte in seinen Zeitschriftenbeiträgen, von denen nur ein Bruchteil in Lessings M.-Ausgabe gelangte, die Hauptprobleme der modernen Naturwissenschaften (z.B. Raumbegriff, Natur des Feuers, Materialität der Seele, Kometentheorie, außerird. Welten) auf leicht verständliche, unterhaltsame Art dar u. trug zur Popularisierung der Physik Newtons bei. Als gründl. Naturbeobachter, Anhänger des engl. Sensualismus u. Gegner rein theoret. Schulgelehrsamkeit ermunterte M. die Leser zu eigenen Naturstudien, indem er an Witz u. Fantasie, natürl. Urteilskraft u. Kombinationsgabe appellierte. Seine Übersetzungen u. Rezensionen mathematisch-naturwiss. Werke wurden von Zeitgenossen gerühmt; die Exaktheit seiner Beobachtungen verschaffte ihm den Respekt der Fachgelehrten. M.’ Kritik am traditionellen Wissenschaftsbetrieb u. seine durch finanzielle Not bedingte unkonventionelle journalist. Laufbahn ohne akadem. Abschluss sind schuld daran, dass seine fach- u. populärwiss. Schriften, die mehr als seine poet. Werke (darunter mehrere, z.T. aus dem Französischen übersetzte Lustspiele) sein zeitgenöss. Ansehen begründeten, fast ganz in Vergessenheit gerieten. M.’ bekanntestes Gedicht ist sein in Lessings M.-Ausgabe wieder abgedrucktes Lehrgedicht von den Bewohnern des Kometen (zuerst 1744 in: »Belustigungen des Verstandes und des Witzes«),
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das mit seinem Plädoyer für kühne, spekulative Hypothesen das Gegenstück zu Kästners Philosophischem Gedicht von den Kometen bildet. Weitere Werke: Die Ärzte. Ein Lustsp. in fünf Aufzügen. o. O. 1745. Nachdr. Mchn. 1981. – Der Unerträgliche. Ein Lustsp. in fünf Aufzügen Lpz. 1746. Nachdr. Mchn. 1981. – Versuch einer Bestimmung der Gesetze der Winde. Bln. 1745/46. – Beschreibung einer neuen grönländ. Thierpflanze. London 1753. – Tgb. seiner Reise v. Berlin nach England 1753. In: Archiv zur neuern Gesch., Geographie, Natur- u. Menschenkenntnis Tl. 5 (1786), S. 85–176; Tl. 6 (1787), S. 39–140; Tl. 7 (1787), S. 35–150. – Untersuchung ob man die Thiere um physiolog. Versuche willen lebendig eröffnen dürfe. Rothenburg/Lpz. 1880. Ausgabe: Vermischte Schr.en. Hg. Gotthold Ephraim Lessing. Bln. 1754. Nachdr. Ffm. 1971. Literatur: Ernst Consentius: M. In: ADB. – Ders.: Briefe eines Berliner Journalisten aus dem 18. Jh. In: Euph. 10 (1903), S. 518–549; 11 (1904), S. 65–81. – Erwin Thyssen: C. M. Diss. Marburg 1912 (Teildr.). – Rudolf Trillmich: C. M. Diss. Halle 1914 (Bibliogr. S. 125–127). – Dieter Hildebrandt: C. M. Ein Genie des Ärgernisses. Bln. 1981. – Reimer Eck: C. M. u. Carsten Niebuhr: Aus den Anfängen der wiss. Forschungsreise an der Univ. Göttingen. In: Göttinger Jb. 1986, S. 11–43. – Andreas-Holger Maehle: Der Literat C. M. u. seine Verteidigung des medizin. Tierversuchs im 18. u. 19. Jh. In: Medizinhistor. Journal 21 (1986), S. 269–287. – Martin Stern u. Thomas Wilhelmi: Samuel Werenfels (1675–1740): Rede v. den Schauspielen. Der lat. Urtext (1687/1716), die Übers.en v. M. (1742) u. Gregorius (1750) sowie deren Rezeption [...]. In: Daphnis 22 (1993), S. 73–171. – Jürgen Krätzer: Vermischte Schr.en des Hrn. C. M., ges. v. G. E. Lessing. Nachbemerkungen zu einer Vorrede. In: ZfdPh 114 (1995), S. 499–521. – Barbara Bauer: Der Anfänge der Berliner Académie Royale des sciences im Urteil der gelehrten Öffentlichkeit. In: Europ. Sozietätsbewegung u. demokrat. Tradition. Hg. Klaus Garber u. a. Bd. 2. Tüb. 1996, S. 1413–1453, bes. 1445 ff. – Hans-Wolf Jäger: M. In: NDB. – Ursula Goldenbaum: Im Schatten der Tafelrunde. Beziehungen der jungen Berliner Zeitungsschreiber M. u. Lessing zu frz. Aufklärern. In: Berliner Aufklärung 1 (1999), S. 69–100. – Monika Fick: Lessing-Hdb. Stgt./Weimar 2000, passim (Register!). – U. Goldenbaum (Hg.): Appell an das Publikum. Die öffentl. Debatte in der dt. Aufklärung 1687–1796.
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Mylius, Georg, * 1.3.1613 Königsberg, † 18.10.1640 Brandenburg/Ostpreußen. – Evangelischer Theologe u. Lyriker.
Literatur: Bibliografien: Goedeke 3, S. 133. – VD 17. – http://www.forschungen-engi.ch/projekte/ koenigsberg.htm. – Weitere Titel: Georg Christoph Pisanski: Entwurf einer preuß. Literärgesch. Hg. Rudolf Philippi. Königsb. 1886. Nachdr. Hbg. 1994, S. 413. – Friedrich Beissner: Dt. Barocklyrik. In: Formkräfte der dt. Dichtung. Hg. Hans Steffen. Gött. 1963, S. 52–54. – Friedwald Moeller: Altpreuß. evang. Pfarrerbuch v. der Reformation bis zur Vertreibung im Jahre 1945. Bd. 1, Hbg. 1968, S. 25. – Heiduk/Neumeister, S. 73, 211, 422. – Simon Dach u. der Königsberger Dichterkreis. Hg. Alfred Kelletat. Stgt. 1986, S. 263–267, 300. – Simon Dach (1605–59). Werk u. Nachwirken. Hg. Axel E. Walter. Tüb. 2008, Register. Ulrich Maché / Reimund B. Sdzuj
Der Sohn des gleichnamigen Königsberger Hebraisten u. Theologen (1567–1626) wurde am 15.6.1622 in die Matrikel der Universität Königsberg eingetragen, wo er 1634 pro loco disputierte. Am 28.3.1637 erwarb M. in Wittenberg den Magistergrad, am 3. Aug. desselben Jahres taucht er abermals in der Königsberger Matrikel auf (»redux ex Germania, repetivit ius scholasticum«) u. disputierte Mylius, Johannes Daniel, * 1585 (getauft am 30. Okt. unter dem Vorsitz von Abraham am 24.5.1585) Gemünden/Wohra (HesCalovius. Zwischen März 1638 u. März 1639 sen), † nach 1630. – Publizist theologipräsidierte M. selbst bei fünf ›Disputationes scher, alchemomedizinischer u. musikacriticae‹. Danach erhielt er eine Stelle als lischer Sachschriften. Pfarrer in Brandenburg am Frischen Haff. Mit Christoph Kaldenbach u. Jonas Daniel Geboren wurde der »Wetteranus Hassus« Koschwitz gehörte M. zu den jüngsten Mit- wohl nicht in Wetter (Oberhessen), sondern gliedern des Königsberger Dichterkreises. an der Wirkungsstätte seines Vaters Johannes, Seine Lieder, die ihn als begabten, formbe- seit 1576 Pfarrer in Gemünden/Wohra. Nach wussten Opitzianer ausweisen, lassen in ihrer Besuch des Marburger Pädagogium (immaThematik M.’ Zugehörigkeit zum geselligen trikuliert 1595) u. Präzeptoren- sowie KorKreis der »Sterblichkeitsbeflissenen« um Si- rektorentätigkeiten in Frankfurt/M. (Bürgermon Dach u. den Dichter-Komponisten recht: 1606) oblag M. medizinischen u. Heinrich Albert erkennen. Seine Gedichte theolog. Studien, die ihn an die Universitäten erschienen meist in Einzeldrucken, teils mit Gießen (1612) u. Marburg/Lahn (1613) führVertonungen von Albert u. Johann Stobaeus. ten, dann folgten alchem. Arbeiten am Hof M.’ Nachwirkung ist gering. Erdmann Neu- des Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel meister erwähnt ihn als Beiträger »anmuti- (1622/23). Hauptsächlich aber lebte M. wähger« Oden (»Odae suaves«) zu Alberts Lust- rend der 1610/20er Jahre in Frankfurt, wo er Wäldlein. seit 1618 von der Stadt für sein Lautenspiel Weitere Werke: Disputatio rhetoricae univer- beim sonntägl. Gottesdienst entlohnt wurde. sae generalem delineationem continens pro obti- Seit Ende der 1620er Jahre stand M. in ärtzl. nenda oratoriae professione juxta statua academica Diensten des Trierer Kurfürst-Erzbischofs instituenda. Präses: Valentin Thilo; Respondent: G. Philipp Christoph von Sötern. Zu M.’ Lehrern M. Königsb. 1634. – Decima septima in primam zählten Gregor Horst (Gießen) u. Henricus Anatomiae Massonij partem disputatio, de veritate Petraeus (Marburg), zu seinen persönl. Bedei a Calvinianis impugnata. Präses: Jacob Weller; kannten der Verleger Lukas Jennis u. Daniel Defendent: G. M. Wittenb. 1636. – Conclusiones Stoltz von Stoltzenberg; der namhafte theologicae communicationem hypostaticam ex unione personali deductam succincte exhibentes. Chemiater Johann Hartmann (Marburg) war sein Schwager. M. reihte sich unter die AnPräses: A. Calov; Resp.: G. M. Königsb. 1637. Ausgaben: Gedichte. In: Gedichte des Königs- hänger der rosenkreuzerischen Reformbeweberger Dichterkreises [...] (1638–1650). Hg. Leo- gung u. beteiligte sich an den Richtungspold Hermann Fischer. Halle 1883. – Fischer- kämpfen im protestant. Lager (Christliche Reformirte Theologia, welche beschreibet die [...] VerTümpel 3, S. 21–23.
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einigung der Euangelischen/ Lutherischen und Re- 6 (1980), S. 63–77, hier S. 73. – Bruce T. Moran: The formirten Kirchen. Ffm. 1621). Außerdem Alchemical World of the German Court. Occult kompilierte er eine Lautentabulatursamm- Philosophy and Chemical Medicine in the Circle of lung (Thesaurus gratiarum in quibus continentur Moritz of Hessen (1572–1632). Stgt. 1991, S. 111–114. – Heike Hild: Das Stammbuch des diversorum authorum cantiones selectissimae. Medicus, Alchemisten u. Poeten Daniel Stolcius als Ffm. 1622 u. ö.). Schwerpunkt seiner Publi- Ms. des Emblembuches ›Viridarium Chymicum‹ zistik bildete die Herausgabe alchemomedi- (1624) u. als Zeugnis seiner Peregrinatio Acadezinischer Schriften (Duncanus Bornettus mica. Diss. rer. nat. Mchn. 1991, S. 186 f., 262. – U. [Burnet]: Iatrochymicus. Ffm. 1616. Opus me- Neumann: M. In: NDB. – G. J. Buelow: M. In: New dico-chymicum: Continens tres Tractatus siue Ba- Grove. – Oliver Humberg: Krit. Quellenstudien zur silicas. Ffm. 1618. Antidotarium medico-chymi- Biogr. des Arztes, Musikers u. Alchemisten Johann cum Reformatum. Ffm. 1620. Philosophia refor- D. M. Univ. Wuppertal, Magisterarbeit 2009 (unmata. Ffm. 1622. Anatomia auri, siue Tyrocinium gedr.). Joachim Telle medico-chymicum. Ffm. 1628. Pharmacopoeae spagyricae, siue, Practicae vniuersalis GalenoMylius, Wilhelm Christhelf Siegmund, Chymicae libri duo. Ffm. 1628). Der literar- u. auch: Görg Bider, * 2.5.1754 (1753?) Berwissenschaftsgeschichtl. Rang dieser teilweilin, † 31.3.1827 Berlin. – Übersetzer, se recht umfänglichen u. inhaltlich zwischen Herausgeber. Paracelsus u. Galen lavierenden Textsammlungen liegt weitgehend im Dunkel; in der M. begann in Berlin ein Jurastudium u. Historiografie halten vorab in einigen Alche- wechselte Anfang 1774 nach Halle, wo er Jomica befindl. Illustrationen von Frankfurter hann Friedrich Schink kennen lernte. Nach Künstlern (Matthaeus Merian, Balthasar ersten Erfolgen als Übersetzer u. Einrichter Schwan) die Erinnerung an M. wach. Molière’scher Lustspiele (Hans Wurst Doctor Weitere Werke: Akadem. Gebrauchsschr.en, nolens volens. Ffm./Lpz. 1777. So prellt man alte darunter: De Diarrhoeâ, cum Prostemate Hermeti- Füchse, oder Wurst wider Wurst. Halle 1777. Der co syncritico (Disputatio; Praes.: Henricus Petra- junkerirende Philister, oder: Alter hilft vor Thorheit eus). In: Agonismata medica Marpurgensia. Mar- nicht! Lpz. 1778) brach er sein Studium ab u. burg 1618, Nr. X (erstmals in: H. Petraeus: Noso- widmete sich der Übertragung vornehmlich logia harmonica. 1615). – Mag. Abcontrafeytung frz. Werke (Drei hübsche kurzweilige Märlein Der [...] Immanuelis/ Christi [...] anderer Zukunfft. durch’n Grafen Anton Hamilton gestellt und beo. O. 1618/20 (Einblattdr.: Propaganda für den schrieben [...]. Halle 1777), die er z.T. mit pfälz. Kurfürsten Friedrich V.). – Kassel, LB, 28 Ms. chem. 19 (Briefe an Landgraf Moritz). – Uppsala, Schink librettistisch einrichtete. Als Vertreter einer französisch beeinflussUB, Album Amicorum des D. Stolcius, Bl. 134 (Eintrag vom 17.1.1623). – Secreta Myliana. In: ten Literarästhetik machte sich M. verdient Abraham Georg Mercklin: Sylloge Physico-Medi- durch Übersetzungen, Bearbeitungen u. cinalium Casuum Incantationi. Nürnb. 1698, sectio Editionen der Werke Le Sages (Gil Blas von I. Santillana. 6 Bde., Bln. 1774 u. ö.), Rétif de la Ausgaben: The Alchemical Engravings of M. Bretonnes (Leben meines Vaters. 2 Bde., Bln. With the Text of Part Four of the First Book of the 1780. Die Zeitgenossinnen. 4 Bde., Bln. ›Philosophia Reformata‹ of J. D. M. Aus dem La- 1781–83) u. Voltaires (Kandide oder die beste teinischen übers. v. Patricia Tahil. Mit einem Welt. Bln. 1778. Puf van Vlieten. Lpz. 1780; Komm. v. Adam McLean. Edinburgh 1984. – PhiKomödie nach Voltaires L’Écossaise. Werke des losophia reformata. Sherbrooke/Québec 2003. Philosophen von Sanssouci. 7 Bde., Bln. Literatur: Friedrich Wilhelm Strieder: Grund- 1782–90). 1785 bearbeitete M. die Übersetlagen zu einer Hess. Gelehrten- u. Schriftstellergezung von Candide nochmals; sie wurde zu sch. Bd. 9, Kassel 1794, S. 335–338. – F. J. Giesbert seinen Lebzeiten in mehreren Ausgaben verin: MGG 1. Aufl., Bd. 9 (1961), Sp. 1236 f.; nahezu unverändert auch in: MGG 2. Aufl., Personentl., öffentlicht u. liegt auch in modernen VersioBd. 12 (2004), S. 883. – Manfred Lischka: Kompo- nen vor (Ffm. 2008). Auch mit Eindeutsitionen Barocker Schriftsteller des dt. Sprachge- schungen Smolletts (Peregrine Pickel. Rev. Aufl. bietes. Ein Verz. lieferbarer Schallplatten. In: WBN 4 Bde., Bln. 1789. Roderich Random. Ein Sei-
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tenstük zum Gil Blas. 2 Bde., Bln. 1790) be- Myller, Müller, Christoph Heinrich, * 10.2. kannt u. vermögend geworden, veröffent- 1740 Zürich, † 22.2.1807 Zürich. – Philichte er diverse Sammlungen u. Anthologien lologe; Herausgeber, Verfasser politischer (Komisches Theater der Deutschen, älterer und Schriften. mittlerer Zeit. Bln. 1783. Gallerie von romantischen Gemälden, Arabesken, Grotesken und Calots. M. wuchs als Sohn des Stadttrompeters von Bln. 1792) u. übersetzte zus. mit Lessing Zürich in bescheidenen Verhältnissen auf, Lustspiele von Plautus aus dem Lateinischen studierte Theologie u. wurde Schüler u. Mit(Bln. 1784). 1806 verlor M. durch die Koali- arbeiter Bodmers. Im Zusammenhang mit tionskriege seinen Besitz u. sein Publikum. der Genfer Revolution von 1766 hatte er als Er starb vollkommen verarmt in seiner Hei- Anhänger Rousseaus ein republikanisches Pamphlet (Bauren-Gespräch) verfasst, das ohne matstadt Berlin. sein Wissen in Zürich u., durch Bodmer verWeitere Werke: Übersetzungen: Doctor Faust. anlasst, in frz. Übersetzung in Genf verbreitet Erzählung v. Anton Hamilton. Bln. 1778. – Bernhard v. Fontenelle: Dialogen über die Mehrheit der wurde. Nach M.s Flucht wurde die Schrift Welten. Bln. 1780. – Molière für Deutsche. Bln. beim Fraumünster in Zürich öffentlich ver1780 (Lustsp.). – Jacques Necker. Rechnung v. sei- brannt. ner Finanzverwaltung [...]. Bln. 1781. – Doctor Durch Bodmers Freund Sulzer in Berlin Fausts Leibgürtel. Posse nach Rousseaus ›La cein- erhielt M. eine Stelle als Professor für Geture magique‹. Gotha 1781. – Amadis aus Gallien. schichte u. Geografie am Joachimsthalschen Neu übers. vom Grafen Tressan, aus dem Franzö- Gymnasium. Anonym wirkte er mit, den sischen. 2 Bde., Lpz. 1782. – Der Mann v. Gefühl. Zürcher Justizskandal um den Gelehrten JoAus dem Englischen v. Henry Mackenzie. Bln. hann Heinrich Waser in Deutschland be1783. – Crébillons vorzüglichste Werke. Bd. 3, Bln. 2 1785. – Galathee. Schäferroman nach Cervantes. kanntzumachen (Waser. Bln. 1780. 1781). Berühmtheit erlangte er durch seine PioAus dem Französischen des Florian. Bln. 1787. – Der emporgekommene Landmann. Aus dem Fran- nierarbeit als erster Herausgeber vollständizösischen des Marivaux. Bln. 1787. – Niel Klimm’s ger Texte der ältesten dt. Dichtungen (Der unterird. Reise, neu verdeutscht aus dem Lateini- Niebelungen Liet. Ein Rittergedicht aus dem 13ten schen des Herrn v. Holberg. Bln. 1788. – Jakob u. oder 14ten Jahrhundert. Zum erstenmal aus der sein Herr / aus Diderots ungedrucktem Nachl. 2 Handschrift ganz abgedruckt. Bln. 1782). So geTle., Bln. 1792. Neudr. mit Nachw. v. Hans Mayer. langten Bodmers literar. Entdeckungen aus Bln. 1953 u. Ffm. 1999. – Teufel Asmodi Hinkebein mittelalterl. Handschriften vor das Publiu. seine Befreier in England. Eine Forts. des lahmen Teufels v. Le Sage. Nach dem Englischen. 2 Bde., kum. Rezensionen mit Kritik folgten, z.B. Bln. 1793. – Euridane. Ein Schäferroman aus dem von Johannes von Müller an M.s EditionsFranzösischen. Der Bürgerin Beaufort. Bln. 1798. – technik. Ferdinando Texado u. seine Freunde. Aus dem Als M. 1788 wieder in seine Heimatstadt Französischen des Bürgers F. L. C. Montjoye. 4 zurückkehrte, war er auf die kgl.-preuß. Bde., Bln. 1803. Pension angewiesen, was ihm als überzeugLiteratur: Albert Maier: Das Glossar zu den tem Republikaner zu schaffen machte. Er Märlein des M. Bonn 1909. – Richard Bitterling: führte nun ein zurückgezogenes u. ärml. LeJohann Friedrich Schink. Lpz./Hbg. 1911, S. 11 ff. – ben u. widmete sich aufklärerischen u. Gonthier-Louis Fink: Naissance et apogée du conte staatsreformerischen Studien (Kalliste, die Gemerveilleux en Allemagne. Paris 1966, v. a. setzgeberin. o. O. 1798. Zürich 1803). Im S. 302–304. – Sigmund J. Barber: The ›Amadis de Gaule‹ of the Comte de Tressan and M.: An Ana- drittletzten Lebensjahr richtete der schon lytical Comparison of the 16th and 18th Century immer körperlich leidende, nun aber zuneh›Amadis‹ Editions. Diss. New York 1981. – Ders.: mend kränkl. M. ein Hilfegesuch an den Goethe and the ›Amadis v. Gallien‹. In: Daphnis 13 Bürgermeister von Zürich um 100 Dukaten u. (1984), S. 465–476. – Ingrid Bigler: W. C. M. In: eine heizbare Wohnung »in diesem rauhen, Kosch. Andreas Meier / Lea Marquart harten, geldsüchtigen Lande«. Weitere Werke: Der Dorfpfarrer oder der glückl. Sterbliche. Eine philosoph. Abh. Bln. 1785.
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– Abriss der drey Schles. Kriege, zur Erläuterung einer Kupfertafel, auf welcher 26 Schlachten u. Hauptgefechte abgebildet sind. Bln. 41786. – Reise durch etl. Kantone der Schweiz. Von einem Schweizer. Im Jahre 1789. Zürich 1790. – Dialogen u. kleine Aufsätze. 2 Tle., Zürich 1792. – Ankündigung eines polit. Wörterbuchs. Zürich 1800. – Herausgeber: Die Eneidt. Ein Helden-Gedicht aus dem 12. Iahrhundert [sic]. Bln. 1783. – Samlung [sic] dt. Gedichte aus dem 12., 13. u. 14. Iahrhundert [sic]. Tle. 1, 2, 4. 2 Bde., Bln. 1783/84. Literatur: Kosch 10. – HLS 5. – Heinrich Morf: Vor 100 Jahren. Neujahrsbl. der Hülfsgesellsch. Winterthur. Winterthur 1867 (mit Abdr. des ›Bauerngesprächs‹). – Jakob Bächtold: Die Verdienste der Zürcher um die dt. Philologie u. Litteraturgesch. In: Ders.: Kleine Schr.en. Frauenfeld 1899, S. 61–78. – Hermann Walser: Heimat u. Fremde im Leben des Bodmer-Schülers C. H. M. In: Zürcher Tb. auf das Jahr 1952 N. F., 72. Jg. (1951), S. 62–95. – Werner G. Zimmermann: Verfassung u. polit. Bewegungen. In: Zürich im 18. Jh. Hg. Hans Wysling. Zürich 1983, S. 9–34. Barbara Schnetzler / Red.
Mynona ! Friedlaender, Salomo Mynsinger, Minsinger, Münsinger von Frundeck, Joachim, * 13.8.1514 Stuttgart, † 3.5.1588 Schloss Groß-Alsleben; Grabstätte: Helmstedt, Stephanikirche. – Jurist, neulateinischer Dichter. Der Sohn des habsburgischen Kanzlers Joseph Mynsinger studierte die Rechte bei bedeutenden humanist. Gelehrten (Viglius van Zuichem in Padua u. Ulrich Zasius in Freiburg/Br.; dort Prof. für Zivil- u. Kirchenrecht 1543 bzw. 1544). Seit 1548 Beisitzer des oberrheinischen Kreises am Reichskammergericht, folgte er 1556 dem Ruf des altgläubigen Herzogs Heinrich d.J. als Kanzler nach Wolfenbüttel. Als solcher unterstützte er dessen Nachfolger Herzog Julius bei der Reformation des Landes u. der Gründung der Universität Helmstedt 1576. Bedeutung erlangten die aus seiner Tätigkeit am Reichskammergericht resultierenden, oft aufgelegten Publikationen von Rechtssprüchen (Singularium Oberservationum Iudicii Imperialis Ca-
merae [...] Centuriae quatuor. Basel 1563. Responsorum Iuris, sive consiliorum decades sex. Basel 1573), die Grundlagen für die Vereinheitlichung der Rechtsprechung nach dem Vorbild des röm. Rechts schaffen sollten. M. verfasste in zeitübl. Weise nlat. Gelegenheitsgedichte u. bedichtete biblisch-religiöse Themen. Ereignisse der Zeitgeschichte behandelt er dagegen u. a. in Neccharides (Tüb. 1533), einem Panegyricus auf Pfalzgraf Philipp, den habsburgischen Statthalter in Württemberg, u. in Austriados libri duo (Basel 1540), einem Heldenepos über die Geschichte des Hauses Habsburg, das er als Garant für die religiös-polit. Einheit u. Größe des Reichs feiert u. von dem er den Sieg über die Türken u. die Eroberung Jerusalems erhofft. Einen bedeutenden Beitrag zur Geschichte der evang. Gebetsliteratur bildet M.s Bethbüchlein (Wolfenb. 1566 u. ö. Lat. u. d. T. Enchiridion religiosum. Magdeb. 1595. 1596), das Andachtstexte aus evang. u. kath. Quellen schöpft u. so die am humanist. Ideal einer überkonfessionellen christl. Frömmigkeit orientierte Haltung seines Kompilators dokumentiert. Ausgaben: Exhortatio ad bellum contra Turcas suscipiendum. Hymni in aliquot festa. Murium et ranarum pugna ex Homero translata. Naufragium Venetum. Elegiarum liber unus. Epigammatum liber unus. Basel 1540. Internet-Ed. in: VD 16 digital. – Poemata [...]. Hg. Heinrich Meibom. Helmstedt 1585. – Internet-Teilausg. in: CAMENA. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Paul Zimmermann: M. In: ADB. – Paul Althaus: Forsch.en zur evang. Gebetslit. Gütersloh 1927. Neudr. Hildesh. 1966. – Sabine Schumann: J. M. v. F. Wiesb. 1983 (mit Bibliogr.). – Dies.: J. M. v. F. In: AKG 62/63 (1980/81), S. 159–193. – Wolfgang Sellert: M. In: NDB. – Walther Ludwig: J. M. v. F. im Album amicorum des David Ulrich. In: Ders.: Miscella Neolatina. Bd. 2, Hildesh. u. a. 2004, S. 337–348. – Ders.: J. M. u. der Humanismus in Stuttgart. Ebd., Bd. 3, 2005, S. 41–91. – Ders.: Vom Jordan zur Donau – die Rezeption Sannazaros durch J. Münsinger v. F. Ebd., S. 92–97. – Hans Dieter Lange: M. v. F. In: Braunschweigisches Biogr. Lexikon. 8.-18. Jh. Braunschw. 2006, S. 516 f. Ute Mennecke-Haustein / Red.
N Nabl, Franz, * 16.7.1883 Lautschin/Böhmen, † 19.1.1974 Graz; Grabstätte: GrazWetzelsdorf, Neuer Evangelischer Friedhof. – Erzähler. N., der mit seiner Familie 1886 nach Wien übersiedelte, arbeitete nach dem Studium der Rechtswissenschaften u. der Philosophie in Wien 1924–1927 als Redakteur in Graz, dann als freier Schriftsteller. Noch während der Monarchie entstanden seine bedeutendsten Romane. In Ödhof. Bilder aus den Kreisen der Familie Arlet (2 Bde., Bln. 1911. Graz/Wien/ Köln 81999) steht Johannes im Mittelpunkt: eine titanische, sich an darwinistischen u. vitalist. Prinzipien orientierende Gegenfigur zum städtisch-dekadenten Leben. N.s zweiter, 1979 von Luc Bondy verfilmter Roman Das Grab des Lebendigen. Studie aus dem kleinbürgerlichen Leben (Bln. 1917. Graz 1976) wurde 1936 in Die Ortliebschen Frauen umbenannt, um ihn vom Verdacht der im Dritten Reich diskreditierten literar. »Dekadenz« zu befreien. Das starre Festhalten u. die Fetischisierung einer unmenschlichen, kleinbürgerl. Ordnung vereiteln jegliche, ein erfülltes Leben ermöglichende Veränderung. Die Diskriminierung der Sozialdemokratie in Der Fund (Bremen 1937) – durch den Fund der Brieftasche eines sozialdemokrat. Bürgermeisters wird dessen Korruption aufgedeckt – u. N.s antizivilisator. Affekt begünstigten die Rezeption seines Werks im Dritten Reich. N., der 1933 den Österreichischen PEN-Club verlassen hatte, leistete gegen die ideolog. Vereinnahmung durch die nationalsozialist. Propaganda, die in der Verleihung des Mozart-Preises 1938 gipfelte, keinen Widerstand, wiewohl er sich weigerte, der Partei beizutreten. Die Rezeption seiner manchmal spröden, eigenwilligen Prosa erlebte durch
das Interesse von Autoren der Grazer Gruppe eine Renaissance. Seit 1975 vergibt die Stadt Graz alle zwei Jahre den Franz-Nabl-Preis für Literatur; der erste in der Liste der renommierten Preisträger war Elias Canetti. Weitere Werke: Hans Jäckels erstes Liebesjahr. Bln. 1908. – Narrentanz. Bln. 1911. – Der Tag der Erkenntnis. Zwei niederösterr. E.en. Bln. 1919. – Die Galgenfrist. Bln. 1921 (E.). – Die Augen u. a. Novellen. Wien 1924. – Der Schwur des Martin Krist. Bln. 1931 (E.). – Kindernovelle. Tüb. 1932. – Ein Mann v. gestern. Wien 1935 (R.). – Das Meteor. Bremen 1935 (E.en). – Griff ins Dunkel. Lpz. 1936 (E.). – Steir. Lebenswanderung. Graz 1938. – Die Weihnachten des Dominik Brackel. Pilatus im Gerede. Wien 1938 (E.en). – Mein Onkel Barnabas. Graz 1946. – Johannes Krantz. Wien 1948 (E.en). – Das Rasenstück. Graz 1953. – Der Tag der Erkenntnis. Eingel. u. ausgew. v. Alfred Holzinger. Graz 1961. – Der erloschene Stern. Eine Kindheit u. Jugend um die Jahrhundertwende. Salzb. 1962. – Die zweite Heimat. Graz 1963. – Ausgew. Werke. 4 Bde., Wien 1965. – Spiel mit Blättern. Autobiogr. Skizzen. Graz 1973. – Charakter. Der Schwur des Martin Christ. Dokument. Frühe Erzählungen. Einl. v. Peter Handke. Salzb. 1975. Literatur: Gottfried Hofmann-Wellenhof: F. N.s R. ›Die Galgenfrist‹. Diss. Graz 1979. – Kurt Bartsch, Gerhard Melzer u. Johann Strutz (Hg.): Über F. N. Graz 1980. – Karlheinz Rossbacher: N.s Roman ›Ödhof‹ in den ersten Rezensionen. In: Studien zur Lit. des 19. u. 20. Jh. in Österr. Innsbr. 1981, S. 107–119. – Johann Fadinger: Untersuchungen zur Gestalt des jungen Menschen in erzählenden Texten F. N.s. Diss. Graz 1984. – Herbert Herzmann: F. N.s ›Die Ortliebschen Frauen‹ u. das österr. ›Urerlebnis‹. In: MAL 21 (1988), S. 83–104. – Herbert Arlt: F. N.: Sprache, Titel, Figuren, Motive. In: ›Sein u. Schein – Traum u. Wirklichkeit‹. Zur Poetik österr. Schriftsteller/innen im 20. Jh. Hg. ders. u. Manfred Diersch. Ffm. u. a. 1994, S. 103–120. – Brigitte Noelle: F. N. Diss. Wien 1995. – H. Herzmann: F. N. In: Major Figures
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of Austrian Literature. Hg. Donald G. Daviau. Riverside 1995, S. 297–326. – Norbert Gstrein: Das Grab des Lebendigen. Zu F. N. u. Miroslav Krleza. In: manuskripte 44 (2004), H. 163, S. 101–105. Johann Sonnleitner / Red.
Nachbar, Herbert, * 12.2.1930 Greifswald, † 25.5.1980 Berlin/DDR. – Romancier, Erzähler.
Meisterjungfer. Norweg. Volksmärchen. Rostock 1971. Literatur: Egon Richter: Über H. N. Aussagen über einen Nachbar. In: Liebes- u. a. Erklärungen. Hg. Annie Voigtländer. Bln./Weimar 1972. – Sigrid Töpelmann: H. N. In: WB, H. 3 (1974), S. 106–135. – Horst Kieser: H. N. In: Lit. der DDR. Einzeldarstellungen. Hg. Hans Jürgen Geerdts u. a. Bd. 2, Bln./DDR 1979. – Werner Jung: N. In: KLG. Christian Schwarz / Red.
N., Sohn eines Fischers, war nach einem abgebrochenen Medizinstudium als Reporter u. Fotograf bei Tageszeitungen tätig, ab 1953 Nachtgall, Nachtigall, Othmar, Ottmar, als Lektor u. Redakteur im Aufbau-Verlag. auch: Ottomarus Luscinus, * um 1480 Seit 1956 freier Schriftsteller, war er ab 1969 Straßburg, † 5.9.1537 Freiburg i. Br. – Chefdramaturg beim Fernsehen in Ostberlin. Humanistischer Schriftsteller, Philologe, Er erhielt u. a. 1957 den Heinrich-Mann-Preis Musiktheoretiker, Komponist, Organist u. 1976 einen Nationalpreis der DDR. u. Schwankdichter. N.s erzählerisches Werk ist mit der LandIn seiner Heimatstadt hielt sich N. an die schaft seiner Ostseeheimat eng verknüpft. Die namhaften Repräsentanten der kath. ReRomantrilogie Der Mond hat einen Hof (Bln./ formbewegung, an Geiler von Kaysersberg u. DDR 1956, viele Aufl.n), Die Hochzeit von Jacob Wimpfeling. Das Studium führte ihn Länneken (Bln./DDR 1960, viele Aufl.n) u. Ein nach Heidelberg (1494–1496; hier Baccalaudunkler Stern (Bln./DDR 1973; viele Aufl.n) reat), später nach Wien (1505). Hier ließ er schildert die Entwicklung der Fischerei eines sich durch den Domorganisten Wolfgang Ostseedorfs zur volkseigenen Produktion u. Grefinger zum Organisten u. Komponisten zum Sozialismus als nahezu naturnotwendig. ausbilden u. hielt an der Universität auch Der Roman Die gestohlene Insel (Bln./DDR selbst musikwiss. Vorlesungen. Von 1510 bis 1958) wurde in der DDR wegen angebl. 1511 weilte er in Augsburg (enge Kontakte Wirklichkeitsflucht kritisiert. Die Geschichte mit Konrad Peutinger), trat wohl schon hier des Einsamkeit u. Kindheit suchenden Autors in Verbindung mit Sebastian Virdung, dessen Robert C., der jungen Frau Penelope u. des Musica getutscht (1511; engl. Übers. hg. v. Beth Knaben Ganymed nahm die WiederentdeBullard. Cambridge 1993, hier auch zu N. ckung der Romantik in der DDR-Literatur passim) er später frei ins Lateinische über(etwa durch Fühmann u. Morgner) vorweg. setzte. Auf weiten Reisen ereichte er u. a. LöWährend die Erzählungen der 1960er Jahre wen u. Paris (1511–1514), wo er sich bei Faschismus, Krieg, das Ost-West-Verhältnis Hieronymus Aleander umfassende Grieu. den Mauerbau behandeln, verwebt der chischkenntnisse aneignete, später auch PaRoman Pumpedings seltsame Reise (Bln./DDR dua (1518, hier Promotion zum Dr. jur. 1975) Odyssee, nordische u. Ostsee-Sagen. In pontificii). der heiter-gelösten, dem Thema »Altern« Von Ausburg aus kehrte er zunächst nach gewidmeten Erzählung Der Weg nach Samoa Straßburg zurück (1514), gehörte als Vikar u. (Bln./DDR 1976) setzt N. das Unwirkliche als Organist von St. Thomas zu dem um SebasVorgriff auf neue Möglichkeiten von Existenz tian Brant gescharten Zirkel humanistischer ein. Gelehrter (Kontakte u. a. zu Beatus RhenaWeitere Werke: Oben fährt der große Wagen. nus). Hier vollendete er seinen Traktat MusiRostock. 1963 (E.). – Haus unter dem Regen. Bln./ cae Institutiones (Straßb. 1515) u. die Virdungs DDR 1965. – Die Millionen des Knut Brümmer. Rostock 1970 (E.en). – Das fliegende Paddelboot. deusches Werk verarbeitende Musurgia seu Bln./DDR 1979 (E.en für Kinder). – Keller der alten praxis musicae (Straßb. 1536. 1542). Auch unSchmiede. Bln./DDR 1979 (R.). – Helena u. die terstützte er das Studium griechischer AutoHeimsuchung. Bln./DDR 1981. – Herausgeber: Die ren durch Lehrbücher u. Textausgaben.
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Ausgabe: Kompositionen: Karin Berg-Kotterba Ebenfalls aus dieser Zeit sind drei Orgel(Hg.): Die Orgeltabulatur des Leonhard Kleber. Das kompositionen überliefert. Im Zuge der reformator. Auseinanderset- Erbe dt. Musik. Bd. 91 u. 92, Ffm. 1987, Nr. 20, 78, zungen zog N. es vor, nach Augsburg über- 89. Literatur: Ludwig Geiger: L. In: ADB. – Charles zusiedeln (1523), wo er namentlich die ProSchmidt: Histoire Littéraire de l’Alsace. Bd. 2, Paris tektion Jacob Fuggers fand u. sich gegen 1879. Neudr. Hildesh. 1966, S. 174–208, 412–418 Widerstände des Rates als kath. Prediger an (Werkverz.). – Hermann Arthur Lier: O. N.s ›Ioci ac St. Moritz profilierte. Der Kämpfe müde, zog sales mire festivi‹. In: AfLg 11 (1882), S. 1–50. – A. er sich endlich 1528 auf die Position eines Schröder: Beiträge zum Lebensbild Dr. O. N.s. In: Münsterpredigers nach Freiburg/Br. zurück Histor. Jb. 14 (1893), S. 83–106. – Friedrich Roth: u. lebte hier zeitweise in engster, nicht Augsburgs Reformationsgesch. Mchn. 1901/11, spannungsfreier Nachbarschaft mit Erasmus passim. – Josef Rest: Neues über O. N. In: Ztschr. von Rotterdam. Abwechslung brachte neben für die Gesch. des Oberrheins N. F. 38 (1923), S. 45–59 (Briefe). – Yvonne Rokseth: O. N., dit einer Wallfahrt nach Marseille (1531) ein BeLuscinius. In: L’Humanisme en Alsace. Paris 1939, such bei dem Mainzer Domprediger Fried- S. 192–204. – Klaus Wolfgang Niemöller: O. Lurich Nausea (1532). Einige Bücher seiner scinius, Musiker u. Humanist. In: AfMW 15 (1958), großen Bibliothek haben sich in der UB S. 41–59. – Vera Sack: Die Inkunabeln der UB u. Freiburg erhalten. Als Mitgl. einer dem Kar- anderer öffentl. Slg.en in Freib. i. Br. u. Umgebung. täuserorden verbundenen Bruderschaft ließ Bd. 1–3, Wiesb. 1985, Nr. 448 u. ö. (Register!). – Siegfried Risse: Der dt. Psalmenkomm. des O. N. v. er sich begraben. Sein vielgestaltiges Werk bezeugt in meh- 1524. Eine v. der Rechtfertigungslehre geprägte Psalmenauslegung. In: Münchener theolog. Ztschr. reren Ausgaben u. lat. Übersetzungen (He51 (2001), S. 128–143. – Miriam U. Chrisman: N. siod, Lukian, Isokrates, Plutarch), auch in In: Contemporaries. – Mechthild Albus u. ChrisLehrbüchern (u. a. Progymnasmata Graecae Li- toph Schwingenstein: L. In: NDB. – Jean Happel: L. teraturae. Straßb. 1517, unter Benutzung der In: NDBA. – Siegfried Risse: N. In: Bautz. – Klaus Grammatik des Manuel Chrysolaras), N.s Wolfgang Niemöller: L. In: MGG (Personenteil). – Kenntnisse des Griechischen, dazu kamen lat. J. Klaus Kipf: Otmar Luscinius. In: VL Dt. Hum. Editionen (Gellius, Martial). Den Psalter puWilhelm Kühlmann blizierte er in einer lat. u. dt. Version (Augsb. 1524), der er sofort eine moral. Auslegung folgen ließ (Allegoriae Psalmorum Davidis. Nachtigal, Gustav, * 23.2.1834 Eichstedt/ Augsb. 1524). Dem geistl. Sektor gehört auch Kreis Stendal, † 20.4.1885 bei Kap Paleine Sammlung biblischer Geschichten in Art mas, an Bord eines Schiffes. – Arzt u. einer Evangelienharmonie an (Evangelicae his- Afrikaforscher. toriae ex quattuor Evangelistis. Augsb. 1523), die Der Sohn eines Pfarrers war nach dem Mediauch in dt. Sprache publiziert wurde (Die zinstudium als Militärarzt in Köln tätig. gantz Euangelisch hystori. Augsb. 1524. 1525. Wegen eines Lungenleidens zog er 1861 nach Neudr. hg. v. Petra Hörner. Bln. 2008). Aus Algerien, 1863 nach Tunis. Dort wurde er mit antiken Autoren (u. a. der Anthologia Graeca) u. der islamischen Kultur vertraut, lernte AraErfahrungen seiner Reisen schöpfte N. in ei- bisch u. gewann als praktizierender Arzt das ner von späteren Autoren (darunter Johannes Vertrauen einheim. Autoritäten. 1868 überGast) benutzten lat. Schwanksammlung (Ioci nahm N. die Mission, Geschenke des Königs ac sales mire festivi. Augsb. 1523. Neubearb. von Preußen an Sultan Omar von Bornu zu u. d. T. Mensa philosophica. Ffm. 1602. 1608. überbringen. 1869 brach er zu einer Reise in Lpz. 1603. Faks. u. Komm. hg. v. Erwin den Sudan auf, die sechs Jahre dauern sollte. Raumer u. Burghart Wachinger. Tüb. 1995). Während dieser Reise, die ihn zunächst Auch seine 1529 in Augsburg erschienenen durch die Sahara führte, erkundete N. als Seria jocique [...] congesta gehören in den Tra- erster Europäer das Gebiet der Tubu im Tiditionszusammenhang unterhaltsamer Kon- besti-Gebirge. 1870 erreichte er die Hauptversationsliteratur. stadt von Bornu u. bereiste von dort aus das
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Tschadseegebiet. Seine Reiseroute führte ihn Nachtigal, Johann Carl Christoph, auch: weiter nach Wadai, Darfur u. Kordofan, bis er Otmar, * 25.2.1753 Halberstadt, † 21.6. schließlich 1874 Kairo erreichte. 1819 Halberstadt. – Theologe, Pädagoge; 1875 kehrte N. nach Deutschland zurück, Übersetzer. wurde als bedeutender Afrikaforscher gefeiert u. mit zahlreichen Ehrungen bedacht. Von seinem Lehrer Christian Gottfried StruNachdem er zwei Jahre als Generalkonsul in ensee bereits im Voraus zum Lehrer an der Tunis tätig gewesen war, stellte er sich 1884 Halberstädter Domschule bestimmt, verbliein den Dienst der kolonialen Bestrebungen. ben N. nur wenige Jahre für ein Studium in Als Vertreter des Deutschen Reichs reiste er Halle (1771–1773). Nach Halberstadt zunach Westafrika, um »Schutzverträge« abzu- rückgekehrt, wurde er Lehrer u. avancierte schließen; 1884 hisste er als kaiserl. Kom- bald zum Prorektor (1778) u. designierten Nachfolger Struensees. Den Ruf zum Direkmissar die dt. Flagge in Togo. Neben seinen zahlreichen Veröffentli- tor lehnte er zunächst jedoch ab (1782), blieb chungen in geograf. Zeitschriften (u. a. in weiterhin Lehrer u. Prediger (seit 1789). 1800 »Petermann’s Mitteilungen«) ist N.s wurde er Direktor der Domschule, wirklicher 1879–1889 in drei Bänden erschienener Rei- kgl. Konsistorialrat, Schulrat u. Oberinspeksebericht Sahara und Sudan. Ergebnisse sechsjäh- tor der domkapitularischen Kirchen u. Schuriger Reisen in Afrika (Bln./Lpz. Neudr. Graz len. 1808 erhielt er die theolog. Ehrendok1967) von bes. Bedeutung. Das hier nieder- torwürde der Universität Halle. Seit 1812 gelegte Material über Gebiete, die N. als ers- zudem Generalsuperintendent des Fürstenter Europäer bereist hatte, ließ ihn zu einem tums Halberstadt u. der Grafschaften Hoder größten Forschungs- u. Entdeckungsrei- henstein u. Mansfeld, zog N. sich 1816 zu senden des 19. Jh. werden. Der historisch Privatstudien zurück. ausgerichteten Geografie Carl Ritters weniger N. trat v. a. mit Übersetzungen alttestaeng verhaftet als Heinrich Barth, schlug N. mentl. Psalmen u. Prophetentexte (Psalmen, auch methodisch neue Wege ein. Im Beson- gesungen vor Davids Thronbesteigung, oder in Bederen leistete er mit den von ihm aufge- ziehung auf seine frühere Lebensperiode. Halle zeichneten mündl. Überlieferungen einen 1797) wie auch mit exeget. Aufsätzen hervor. bedeutenden Beitrag zur Erforschung der Arbeiten zur dt. Sprache (Sprachbemerkungen. afrikan. Ethnografie u. Geschichte. In: Deutsche Monatsschrift, April 1797, Literatur: Friedrich Ratzel: N. In: ADB. – Do- S. 269–279) wie auch seine Lesebücher für rothea Berlin: Erinnerungen an G. N. Bln. 1887. – den Schulgebrauch dokumentieren sein Friedrich Ruhle: G. N. In: Dt. Afrikareisende in der Gegenwart. Bd. 1, Münster 1892. – J. Wiese: G. N.: breites philolog. Interesse. Deutlicher vom Ein dt. Forscherleben im dunklen Erdteil. Bln. Gedankengut der Aufklärung beeinflusst 1914. – Hans Heuer: G. N. Bln. 1937. – Herbert sind seine kulturgeschichtlichen (Hat FrankGanslmayr u. Herrmann Jungraithmayr (Hg.): Ge- reichs Clima und physische Lage Einfluß auf die denkschrift G. N. 1874–1974. Veröffentlichungen jetzige Revolution? In: Deutsche Monatsschrift, aus dem Übersee-Museum Bremen. Bremen 1977, März 1795, S. 196–219) u. naturkundl. BeiReihe C, Bd. 1 (= Dt. Geograph. Blätter N. F. 1). – träge in der »Deutschen Monatsschrift«, dem Angelika Tunis: G. N. Ein Philanthrop im StaatsPublikationsorgan des von N. mitbegründedienst. In: Baessler-Archiv 44 (1996), S. 407–424. – Hermann Reuter: Dr. med. G. N. Afrikaforscher u. ten Halberstädter Literaturvereins (1785 bis Diplomat in Bismarcks Diensten. In: Otto v. Bis- 1800), u. in den »Halberstädter gemeinnütmarck. Hg. Heide Reuter. Stendal 1999, zigen Blättern«. Die Bekanntschaft mit Gleim S. 119–131. – Le Togo 1884–2004. 120 ans après G. zeitigte offensichtlich keine Auswirkungen N. Hg. Oloukpona-Yinnon u. Adjaï Paulin. Lomé auf N.s literar. Produktion. Gemeinsam mit 2007. Annemarie Fiedermutz-Laun / Red. Johann Gottfried Hoche edierte er das Magazin »Ruhestunden für Frohsinn und häusliches Glück« (6 Bde., Bremen 1798–1804). Eher der Romantik verpflichtet scheint hin-
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gegen sein Interesse an Volkssagen (Volkssagen, nacherzaehlt von Otmar. Bremen 1800). Literatur: Biogr. des Generalsuperintendenten J. C. C. N. Hg. Johann Gottfried Hoche. Halberst. 1820. Gerda Riedl / Red.
Nachtigall, Konrad (Kunz), bezeugt seit 1426, † um 1484/85. – Nürnberger Meistersinger.
Nadel
umfangreichen Namenkatalog von Sangspruch- u. Meisterlieddichtern des 12. u. 15. Jh., die z.T. sonst nirgends bezeugt sind (beide Texte bei Brunner 1989). Zwei weitere Lieder im »Schönen Ton« u. in Nestlers von Speyer »Unbekanntem Ton« sind durch Überschriften in der jeweils einzigen Überlieferung, einer eigenhändigen Meisterliedersammlung des Hans Sachs von 1517/18, als Werke N.s ausgewiesen; beide dienen dem Lob Marias (Cramer 2, S. 376, 390). Außerdem sind in der genannten Sachs-Handschrift u. in der Kolmarer Liederhandschrift rd. 20 Lieder in Tönen N.s anonym überliefert (Texte bei Cramer 4, S. 182–231), in der Mehrzahl Marienlieder, von denen einige durchaus N.s Eigentum sein könnten. Man darf annehmen, dass die Marienthematik in seinem Werk eine bes. Rolle gespielt hat. Das bezeugt ein an Maria gerichtetes Gebetslied in einem N.Ton, dessen Namen die Überlieferung verschweigt. Fürbittend wird darin für N.s Seele die Hilfe Marias erfleht, deren Lob sein Gesang gewidmet gewesen sei (Cramer 4, S. 231).
Der Sohn des vor 1433 verstorbenen Nürnberger Bäckermeisters Michel Nachtigall übte im ererbten Haus das Handwerk seines Vaters aus (seit 1436 gleichfalls als Meister) u. betätigte sich wie dieser nebenher in der Kunst des Meistergesangs – mit so großem Erfolg, dass er noch 1527 von Hans Sachs v. a. seiner liebl. Melodien wegen unter den zwölf berühmtesten Mitgliedern der Nürnberger Meistersingergesellschaft genannt wurde. Heute gilt er als der wichtigste Vertreter des Nürnberger Meistergesangs vor dem in der zweiten Hälfte des 15. Jh. dominierenden Hans Folz. Diese Einschätzung beruht freilich nahezu ausschließlich auf N.s Ruf als Erfinder von Melodien. Mit insg. 13 Tönen ist Literatur: Horst Brunner: N. In: VL. – RSM 4, er neben Folz der fruchtbarste Komponist S. 437–448. – H. Brunner: Dichter ohne Werk. In: unter den Meistersingern des 15. Jh. Die FS Kurt Ruh. Tüb. 1989, S. 1–31. – Johannes Retmeisten seiner Töne genossen im Meistersang telbach: Variation – Derivation – Imitation. Undes 16./17. Jh. seit Hans Sachs beträchtl. Be- tersuchungen zu den Tönen der Sangspruchdichter liebtheit u. wurden immer wieder für neue u. Meistersinger. Tüb. 1993. – H. Brunner: Meistergesang. In: MGG. Frieder Schanze / Red. Texte verwendet; in Handschriften aus dieser Zeit sind auch die Melodien erhalten (nur der »Sanfte Ton« ist in der Kolmarer LiederhandNadel, Arno, * 5.10.1878 Wilna, am 12.3. schrift bereits zu Lebzeiten N.s überliefert, 1943 nach Auschwitz verschleppt u. seithier jedoch einem älteren Meister, Liebe von dem verschollen. – Musikwissenschaftler, Giengen, zugeschrieben). Maler u. Lyriker. Das Schaffen des Textautors N. entzieht sich weitgehend unserer Kenntnis. Sicher ist, N., Sohn eines Feinmechanikers, ging in Ködass er die Texte zu seinen Tönen selbst ver- nigsberg zur Schule. 1895 kam er nach Berlin fasste; u. da er, wie im Meistergesang üblich, u. besuchte bis 1900 die Jüdische Lehrerbilzumindest einige seiner Töne für mehrere dungsanstalt, wo er Musik, Kunstgeschichte Lieder verwendet haben dürfte u. überdies u. Literatur studierte. Ab 1916 war er Choroffenbar auch zu Tönen anderer Meister dirigent an der Synagoge Kottbuser Ufer der Texte schuf, kann der Umfang seines dichte- jüd. Gemeinde zu Berlin. Diese betraute ihn rischen Œuvres nicht gering gewesen sein. 1923 mit der Neubearbeitung der jüd. LiturDurch Autorsignatur zweifelsfrei für ihn ge- gie. sichert ist allerdings nur ein einziges Lied, N. ist als Musiker u. Maler bekannt gegedichtet in seinem »Leidton«. Der literar- worden, weniger durch seine Dichtungen. Als historisch aufschlussreiche Text enthält, Hauptwerke gelten die Gedichtsammlung ähnlich wie ein Lied des Hans Folz, einen Der Ton, die Lehre von Gott und Leben (Lpz.
Nadler
1921), die die Ideenwelt einer esoter. Gottesvorstellung überliefert, u. die postum erschienene Sammlung seiner späten Dichtungen, Der weissagende Dionysos (Heidelb. 1959), in denen N. Motive der griech. Antike mit den myst. Erfahrungen des Ostjudentums verbindet. Weitere Werke: Um dies alles. Bln. 1914 (L.). – Das Jahr des Juden. Bln. 1920 (L.). – Das got. Alphabet. Bln. 1923 (L.). – Der Sündenfall. Bln. 1926 (D.). Literatur: Sofie Król: Das Thema v. Paradies u. Sündenfall aus entgegengesetzter Sicht bei zwei dramat. Autoren: Peter Hacks u. A. N. Diss. o. O. 1982. Gerhard Bolaender / Red.
Nadler, Josef, * 23.5.1884 Neudörfl/Böhmen, † 14.1.1963 Wien. – Literaturhistoriker. Der Sohn eines Maschinisten wuchs nahe der sächs. Grenze in dörfl. Umgebung auf, besuchte das Jesuitengymnasium Mariaschrein/ Erzgebirge u. das Staatsgymnasium Böhmisch-Leipa. Seit 1904 studierte N. in Prag u. wurde bereits 1908 mit einer Arbeit über Eichendorffs Lyrik. Ihre Technik und ihre Geschichte (Prag 1908) promoviert. 1912 wurde er Dozent, 1914 als Nachfolger von Wilhelm Kosch Ordinarius in Fribourg/Schweiz, wo er, mit Unterbrechungen durch den Kriegsdienst, bis 1924 lehrte. 1925 übernahm er eine Professur in Königsberg, ab 1931 war er Ordinarius in Wien. Seit 1926 war N. Mitherausgeber des Literaturwissenschaftlichen Jahrbuchs der Görresgesellschaft; 1929 wurde er mit dem Gottfried-Keller-Preis ausgezeichnet. Nach 1945 mit Verweis auf seine »stammeskundlichen« Forschungen u. antisemit. Teile seiner Literaturgeschichte des deutschen Volkes (Bln. 1938–41) als Nationalsozialist eingestuft, wurde N. 1945 seines Amtes enthoben, arbeitete jedoch weiter als Literaturwissenschaftler, z.B. an Editionen der Sämtlichen Werke J. G. Hamanns (6 Bde., Wien 1949–57) u. Josef Weinhebers (zus. mit Hedwig Weinheber. 5 Bde., Salzb. 1953–56). In einbändigen Kurzfassungen seiner großen Literaturgeschichte (Geschichte der deutschen Literatur. Regensb. 1951. 21961) sowie weiteren, weniger bekannten Publikationen (Johann Georg Ha-
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mann. Der Zeuge des Corpus mysticum. Salzb. 1949. Josef Weinheber. Salzb. 1952. Goethe und Österreich. Wien 1965) hat N. Grundannahmen seiner früheren Arbeiten terminologisch verändert beibehalten u. auch in seiner Autobiografie Kleines Nachspiel (Wien 1954) verteidigt. Die »causa Nadler« ist komplizierter, als sie in den ersten Jahrzehnten nach 1945 dargestellt wurde, u. auch als Kapitel stellvertretender Vergangenheitsbewältigung der dt. Nachkriegsgermanistik interessant. Wissenschaftsgeschichtlich ist N.s Forschungsinteresse weniger im Kontext völkischer Germanistik zu sehen denn in Nachfolge von positivist. Ansätzen bzw. von Anregungen seines Prager Lehrers August Sauer zu verstehen, dem N.s große Literaturgeschichte gewidmet ist. Als möglicherweise auch biografisch wichtiger Referenzpunkt kann Sauers Prager Rektoratsrede (Literaturgeschichte und Volkskunde. Prag 1907) gelten. Die Verdienste von N.s Hamann-Ausgabe sind heute anerkannt. Als sein Lebenswerk hat jedoch seine monumentale Literaturgeschichte zu gelten, mit der seine Bewertung unauflöslich verbunden ist. N. selbst sah sich als »der Gefangene dieses Buches«, (Kleines Nachspiel, S. 88). Sie erschien als Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften in sich zunächst überschneidenden Auflagen (Regensb. 1+21912–28), in zunächst drei, dann vier Bänden (31929–32) sowie unter neuem Titel als Literaturgeschichte des deutschen Volkes in einer vierten, prächtig ausgestatteten Auflage mit Einlassungen zugunsten der neuen Machthaber (Bln. 1938–41). Weitere Literaturgeschichten (Literaturgeschichte der deutschen Schweiz. Zürich 1932. Literaturgeschichte Österreichs. Linz 1948) oder kleinere Schriften wie Buchhandel, Literatur und Nation (Bln. 1932) sind als Ableger v. a. deswegen interessant, da auf gedrängtem Raum N.s Ansatz wie auch die Grenzen seiner Arbeitsweise deutlicher werden als in der überwältigenden Materialfülle seines Hauptwerkes. Zwei Grundannahmen prägen N.s Verständnis der deutschsprachigen Literaturgeschichte: ein dialekt. Zusammenspiel von Stamm u. Landschaft in der Ausprägung literar. Formen u. Werke sowie eine Schlüs-
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selstellung der Epoche der Romantik beim Zusammenfluss verschiedener literar. Traditionen. Dabei teilt N. die in seiner Generation verbreitete Vorstellung einer nat. Einswerdung u. Selbstfindung dt. Kultur im 19. Jh. Wesentliche Grundannahmen u. Begriffe seiner oft populär angelegten Arbeiten sind zeitgebunden u. nicht ihm alleine eigentümlich. Im Vordergrund seines Literaturverständnisses, das auch Gebrauchstexte, Predigten u. Traktate, ja selbst medizin. Schriften umfasst, stehen daher nicht individuelle, künstlerische Leistungen, sondern überpersönl. Einflüsse von »Stamm« u. »Landschaft«, die N. rückblickend u. mit weniger verfängl. Vokabular als »Herkunft und Umwelt« umschrieben hat (Kleines Nachspiel, S. 40). Wo in N.s Literaturgeschichte solche Herleitungen plausibel scheinen, handelt es sich oft um komplexe geistesgeschichtl. Faktoren. Auch in seinem prekärsten Aufsatz (Rassenkunde, Volkskunde, Stammeskunde. In: Dichtung und Volkstum [Euph.] 35, 1934, S. 1–18) bezieht N. »Stammeskunde« auf dynamische soziolog. Gebilde u. ist seine vorsichtige Abgrenzung gegenüber den Ansprüchen nationalsozialist. »Rassenkunde« vernehmlich. Katholisch geprägt, politisch konservativ u. »staatserzieherischen« Ansprüchen nicht abgeneigt, strengte N., als ihm nationalsozialist. Tendenzen vorgeworfen wurden, noch 1935 einen Strafprozess an, trat jedoch 1938 nach dem Anschluss Österreichs als Wiener Universitätsprofessor in die NSDAP ein. Dass N.s Ansatz, der im Gegensatz zu nationalsozialist. Doktrinen regionale Vielfalt u. eine Mischung kultureller Traditionen nachzuzeichnen suchte, im Dritten Reich eine gewisse Prominenz erreichen konnte, war nicht selbstverständlich. Auch als populärer Hochschullehrer blieben seine Position in Fachwelt u. Partei durchaus umstritten, was N. zu einigen Kompromissen wie auch zu angestrengten Bekräftigungen der eigenen Zuverlässigkeit veranlasste. Verbreitung fand im Dritten Reich v. a. sein schwer zu kategorisierendes Buch Das stammhafte Gefüge des Deutschen Volkes (Mchn. 1934), dessen Klappentext ihm die Leistung der ersten »Literaturgeschichte aus Blut und Boden« attestierte. Als N.s Literaturge-
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schichte erstmals erschien mit der Begleitschrift Entwicklungsgeschichte des deutschen Schriftttums (Jena 1914), imponierten manchen Intellektuellen v. a. sein weit gefasster Literaturbegriff, sein soziologischer bzw. kulturgeschichtl. Ansatz u. seine Beachtung weithin vergessener (gerade auch kath.) Traditionen. Zu seinen frühen Bewunderern zählten Benjamin, Hofmannsthal u. Bahr. Bleibende Schwierigkeiten bei der wiss. Beurteilung N.s sind, dass wesentl. Begriffe, zumal »Stamm« u. »Landschaft«, stets verwandt, jedoch nie erläutert werden u. dass N. trotz früher systemat. Ansätze (Die Wissenschaftslehre der Literaturgeschichte. Versuche und Anfänge. In: Euph. 21 1914, S. 1–63) methodische Überlegungen weder konsequent durchdacht noch stringent durchgeführt hat. Sein schwungvoller, bildreicher Stil bleibt bei Einfällen, die anregend sein können, jedoch kaum als Ergebnisse zu werten sind. Literatur: H.[ermann] A.[ugust] Korff: Literaturgesch. der dt. Stämme u. Landschaften. [Rez.]. In: Ztschr. für Deutschkunde 34 (1920), S. 401–408. – Otto Nickel: Literaturgesch. hintenherum oder Dichter, Menschen u. Nadler. In: Die Wandlung 1 (1945/46) S. 383–397. – Universitätsprof. Dr. J. N. zum 75. Geburtstag. Gewidmet v. seinen Freunden u. Schülern. Wien 1959. – Viktor Suchy: J. N. u. die österr. Literaturwiss. In: Wort in der Zeit 9 (1963), S. 19–30. – Werner Volke: Hugo v. Hofmannsthal u. J. N. in Briefen. In: JbDSG 18 (1974), S. 37–88. – Karl Hopf: Hermann Bahr u. J. N. Dokumentation einer Brieffreundschaft. In: Vjs. des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterr. 33 (1984), S. 19–51. – Sebastian Meissl: Zur Wiener Neugermanistik der 30er Jahre: Stamm, Volk, Rasse, Reich. Über J. N.s literaturwiss. Position. In: Österr. Lit. der 30er Jahre. Hg. Klaus Amann u. a. Wien 1985, S. 130–146. – Dieter Kelling: J. N. u. der dt. Faschismus. In: Brücken. Germanist. Jb. (1986/87), S. 132–147. – Markus Knecht: J. N.s ›Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften‹. Ein Beitr. zur Wissenschaftsgesch. der Germanistik. Diplom-Arbeit Mchn. 1988. – Ulrich Wyss: Literaturlandschaft u. Literaturgesch. Am Beispiel Rudolf Borchardts u. J. N.s. In: Interregionalität der dt. Lit. im europ. MA. Hg. Hartmut Kugler. Bln./New York 1995, S. 45–63. – Wolfgang Müller-Funk: J. N.: Kulturwiss. in nationalsozialist. Zeiten? In: Die ›österreichische‹ nationalsozialist. Ästhetik. Hg. Ilija Dürhammer. Wien u. a. 2003. – Armin v. Ungern-
Nadler Sternberg: Erzählregionen. Überlegungen zu literar. Räumen. Bielef. 2003, S. 29–121. – Elias H. Füllenbach: Ein Außenseiter als Sündenbock? Der Fall J. N. In: Krit. Ausg. Ztschr. für Germanistik & Lit. Nr. 2 (2004): Lit. u. Drittes Reich, S. 25–30. – Irene Ranzmaier: Dt. Nationallit.(en) als Kultur-, Sozial- u. Naturgesch. J. N.s stammkundl. Literaturgeschichtsschreibung 1909–31. Diss. Univ. Wien 2005. Armin von Ungern-Sternberg
Nadler, Karl (Christian) Gottfried, * 19.8. 1809 Heidelberg, † 26.8.1849 Heidelberg; Grabstätte: ebd., Bergfriedhof. – Pfälzischer Mundartdichter.
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In hochdt. Sprache veröffentlichte N. in der Maske eines »Spielmanns bei den Hessen« als Spottlieder auf die Führer der badischen Revolution Das Guckkastenlied vom großen Hecker u. Ein schönes neues Lied von dem weltberühmten Struwwlputsch, die – zunächst in zahlreichen illustrierten Einblattdrucken verbreitet – 1849 in die Sammlung Musenklänge aus Deutschlands Leierkasten übernommen wurden. Mit ihrem Wortwitz gehören sie zu den bedeutendsten Zeugnissen der antirevolutionären Lyrik der Zeit. Ausgabe: Hermann Wiegand u. Walter Sauer (Hg.): K. G. N.: Fröhlich Palz, Gott erhalts! Und andere Gedichte. Landau 1994 (krit. Ausg. mit Komm., S. 284–291 Bibliogr.).
Der Sohn eines luth. Lehrers u. Organisten studierte seit 1826 in Heidelberg Jura bei Literatur: Ernst Traumann: Von großen u. Thibaut, dessen »Singverein« N. – auch als Komponist – ebenso angehörte wie dem um kleinen Männern in Heidelberg. Heidelb. 1926, ihn gescharten Freundschaftsbund »Fausti- S. 97–158. – Wilhelm E. Oeftering: K. G. N. u. die na« (Mitgl. u. a. Franz Kugler), der in der ›Fliegenden Blätter‹. In: Mannheimer Geschichtsbl. 38 (1937), S. 52–55. – Ders.: K. G. N. In: Mein Nachfolge der Heidelberger Romantik auf Heimatland 25 (1938), S. 365–376 (Lit.). – Ders.: Zu Wanderungen in den Odenwald zahlreiche K. G. N.s Gedächtnis. In: Bad. Heimat. Jahresbd. Volkslieder sammelte. N., der Heidelberg nur (1939), S. 263–280. – Helmut Bender: K. C. G. N. zu einem Gastsemester in Berlin 1830 verließ, In: Ders.: Zur bad. Lit. Weil 1989, S. 130–138. – praktizierte seit 1833 als Advokat. Jürgen Beckmann u. Heinz-Jürgen Kliewer: ›Ich N.s Schaffen ist geprägt von der polit. Be- redd mein Muddersproch‹. Anth. Pfälzer Mundwegung im dt. Vormärz. Der radikalen Op- artdichter. Landau 1997, S. 52–59. – Hermann position stand er äußerst kritisch gegenüber. Wiegand: N. In: Der Rhein-Neckar-Raum u. die Seit 1845 Mitarbeiter der »Fliegenden Blät- Revolution v. 1848/49. Hg. vom Arbeitskreis der ter«, wurde er mit Fröhlich Palz, Gott erhalt’s Archive im Rhein-Neckar-Dreieck. Ubstadt-Weiher 1998, S. 247 f. – Klaus-Peter Schroeder: K. G. N. – (Ffm. 1847) zum eigentl. Begründer der ein Poet u. Advokat aus Kurpfalz. In: Juristen als (kur)pfälz. Mundartdichtung. Seine satiri- Dichter. Hg. Hermann Weber. Baden-Baden 2002, sche, gleichwohl liebevolle Präsentation der S. 21–30. – H. Wiegand: Zur Mundartdichtung in Pfälzer als renommiersüchtige u. weinfrohe Baden in der ersten Hälfte des 19. Jh. (in Vorb.). Schreihälse hat für mehr als ein Jahrhundert Hermann Wiegand Bild, Selbstauffassung u. Darstellung des Pfälzer Volkslebens in der Dichtung mitgeNadolny, Burkhard, * 15.10.1905 St. Peprägt. Das politisierende Kleinbürgertum tersburg, † 2.7.1968 Chieming. – Rowird porträtiert, als Höhepunkt der Sammmancier. lung, in der »politischen (Anti-)Idylle in dreizehn Bildern« Herr Christoph Hackstrumpf Nach dem Jurastudium in Genf, Marburg u. [...], der als »Volksredner, Partikulier und Jena war N. Angestellter in der LuftfahrtinBürgergrenadierhauptmann, Ratsherr und dustrie. Nach dem Krieg lebte er in ChieInhaber einer goldenen Schnupftabaksdose« ming. Sowohl seine Frau Isabella als auch sein auftritt u. als Pantoffelheld figuriert. Dane- Vater Rudolf Nadolny u. sein Sohn Sten sind ben finden sich auch Stücke, die wie Der Ne- als Schriftsteller bekannt geworden. N. verfasste v. a. polit. u. utop. Novellen u. ckar in der Ghannsdagsnacht den Naturmythos der Spätromantik in die pfälz. Mundartdich- Romane, in denen er, wie in Der Fall Cauvenburg (Düsseld. 1962), anhand eines Kriminaltung einführen. falls im beginnenden 19. Jh. die Probleme um persönl. Verantwortung u. innere Rechtferti-
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gung u. die Aufklärung eines Ereignisses aus verschiedenen Perspektiven schildert. Er schrieb außerdem fundierte u. lebendig gestaltete Biografien (u. a. des preuß. Prinzen Louis Ferdinand. Düsseld. 1967. Mchn. 2006) u. Reiseromane. Weitere Werke: Felix Heinrich Schöller u. die Papiermacherkunst in Düren. Mchn. 1947. – Das Gesicht im Spiegel. Hbg. 1948 (N.n). – Thrake. Mchn. 1948 (Reiseroman). – Im Spiegel. Selbstportrait. In: Welt u. Wort 4 (1949), S. 411 ff. – Bleibende Freunde. Mchn. 1957 (R.). – Prinzessin Anthaja. Tüb. 1958 (R.). Georg Patzer / Red.
Nadolny
vergebl. Versuch, sich während einer Amerika-Reise vom Schmerz über den Tod des geliebten Mannes abzulenken. Das Buch blieb N.s letzte eigenständige literar. Arbeit. Bis zu ihrem Tod im Jahr 2004 widmete sie sich, mit bemerkenswerter Produktivität, ihrer Tätigkeit als Übersetzerin. Weitere Werke: Allerlei Leute – auch Königinnen. Mchn. 1967 (Porträts). – Soviel über ihn. Immer noch Liebenswertes an den Männern. Mchn. 1979 (Feuilletons). – Der schönste Tag. Mchn. 1980 (E.). – Durch fremde Fenster. Bilder u. Begegnungen. Mchn. 1987 (Ess.). Stephan Speicher / Marco Schüller
Nadolny, Isabella, auch: I. Burkhard, I. Ma Jolny, * 26.5.1917 München, † 31.7.2004 Nadolny, Sten, * 29.7.1942 Zehdenick/ Traunstein. – Schriftstellerin, Übersetze- Havel. – Romanautor, Verfasser von hisrin. toriografisch u. autobiografisch geprägter Prosa. Die Tochter des Malers Alexander Peltzer stammt aus einer großbürgerl. Familie, die in den 1930er Jahren ihr Vermögen weitgehend einbüßte. Nach dem Schulbesuch arbeitete N. als Sekretärin in einem Berliner Ministerium, bis sie 1941 den Schriftsteller Burkhard Nadolny († 1968) heiratete u. die Berufstätigkeit aufgab. Seit 1951 schrieb N., Mutter von Sten Nadolny, v. a. für den Rundfunk. Ihre Feuilletons sind gesammelt u. d. T. Liebenswertes an den Männern (Wien/Stgt. 1958) erschienen. N.s erfolgreichstes Buch, der autobiogr. Roman Ein Baum wächst übers Dach (Mchn. 1959), erzählt die Geschichte ihres Lebens u. ihrer Familie, zgl. auch die des Sommerhauses am Chiemsee, wo die Familie seit 1932 wohnte. Nach Stoff u. Thema ein typischer Familienroman, ragt das Buch durch Witz u. Selbstironie weit über das in diesem Genre Übliche hinaus. Autobiografisch fundiert sind auch N.s folgende Bücher. Das Seehamer Tagebuch (Mchn. 1962) schließt stofflich wie chronologisch an den ersten Roman an u. reiht in lockerer Folge Beobachtungen u. Reflexionen aneinander. Die Familienchronik Vergangen wie Rauch. Geschichte einer Familie (Mchn. 1964) schildert die Kindheit der Erzählerin, das Leben der Eltern u. Vorfahren u. deren großzügige Existenz in Russland, im Baltikum u. in Böhmen. Mit 20 Jahren Abstand erzählt der 1988 in München erschienene Roman Providence und zurück von dem
N. wuchs im bildungsbürgerl. Schriftstellermilieu der Eltern Burkhard u. Isabella Nadolny auf. Nach einer kurzen Zeit im Schuldienst u. in der Filmproduktion fand er nach Abschluss seiner Dissertation (1978) zum Schreiben. 1980 erhielt N. den IngeborgBachmann-Preis für den Text Kopenhagen 1801, einem späteren Kapitel seines 1983 in München publizierten Romans Die Entdeckung der Langsamkeit (412006. Neuausg. Mchn. u. a. 2007), der in alle Weltsprachen übersetzt worden ist. Mit seinem bisherigen Romanwerk hat N. das Feld der historisch ambitionierten deutschsprachigen Gegenwartsliteratur besetzt u. einen eigenen Stil entwickelt, der unbeirrbar von Optimismus u. Heiterkeit getragen ist. Er lebt als freier Schriftsteller in Oberbayern u. Berlin. N.s Romandebüt Netzkarte (Mchn. 1981) literarisiert im Medium einer Reise des Protagonisten Ole Reuter Kulminationspunkte dt. Geschichtstradition wie die Bauernkriege, die 48er-Revolution, die Gründung des Kaiserreichs, die Hitler-Zeit u. die Studentenbewegung von 1968. Das Einflechten literar. Traditionsgutes in Form von Heine-Zitaten wirft dabei mit iron. Distanz ein Licht auf das Scheitern der demokrat. Traditionslinien dt. Geschichte. N.s Roman folgt in seiner Machart dem postmodernen Schreibverfahren, welches sich in einem verwirrenden Spiel mit
Nadolny
der Erzählinstanz äußert. Die Dekonstruktion des Textes legt nahe, dass eine verdeckte Textschicht auf die Schmerzhaftigkeit der dt. Frage referiert, die Ole Reuter beim Pendeln zwischen West-Deutschland u. Berlin als dt.dt. Grenzerlebnis widerfährt. Das in N.s erstem Roman eingearbeitete Sujet der dt. Teilung findet sich weiter ausgebaut in seinem vierten Roman Ein Gott der Frechheit (Mchn. 1994). Doch zunächst überwiegt N.s Interesse an traditionellen Gattungsmustern. Es ist das Genre des histor. Romans, welches N. in seinem Welterfolg Die Entdeckung der Langsamkeit auf seine Tauglichkeit überprüft. Das autobiografisch gefärbte Interesse (vgl. N.s Nachwort zur Neuausgabe) an der Geschichte des brit. Polarforschers John Franklin mündet in die krit. Auseinandersetzung mit dem Gattungsmuster histor. Roman, das im 19. Jh. in der Epoche der Nationalstaatswerdung sehr oft zur Glorifizierung histor. Persönlichkeiten diente. Mit N.s Fokussierung auf die bewegte Innenwelt seiner wundersam u. befremdlich wirkenden Franklin-Figur, die in einem Koordinatensystem von historisch verbürgtem Kriegsgeschehen im Zeitalter Napoleons u. einem künstlich geschaffenen Raum visionärer Völkerverständigung in der arkt. Entdeckerwelt agiert, gewinnt das Grundbedürfnis des Menschen nach Frieden eine neue poet. Gestalt. N. nobilitiert die Literatur damit zu einer moral. Instanz. Mit seinem dritten Roman Selim oder Die Gabe der Rede (Mchn. 1990) forciert N. die Darstellung des ästhet. Problems von Autorschaft. Die Romankonstruktion offeriert zunächst Einblicke in zwei Welten, in die eines angehenden Studenten namens Alexander u. in die Welt der Türken um den Ringer Selim. Dabei vermischt der Text die im außerliterar. Diskurs bis heute kontrovers gehandelten Partikel bundesrepublikan. Nachkriegsgeschichte wie die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, die Rolle der Bundeswehr in einer Demokratie, APO-Zeit u. Terrorismus sowie die Integration von Ausländern mit dem erfundenen Handeln u. Reden der Figuren. Als Leitthema kristallisiert sich die Kunst des Redens u. Erzählens heraus, die sich im Text als Selbstinszenierung von Literatur äußert. Denn N. lässt den Er-Erzähler
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zu einem Ich-Verfasser von Tagebuchnotizen mutieren, der sich schließlich selbst als die erzählte Hauptfigur erweist u. das Rätsel um seinen Freund Selim als eine Chiffre für die Kunst des Erzählens auflöst. Ein weiteres Schreibexperiment stellt N.s mythopoet. Roman Ein Gott der Frechheit dar, der der sog. dt. »Teilungsliteratur« zuzuordnen ist. Dieser Text steht ganz im Zeichen von N.s Ironie u. Optimismus u. zeigt in Gestalt einer heiteren Göttergeschichte, wie die Welt der Menschen auch in heutiger Zeit mit einem Mythos erklärt werden kann. Es ist zum einen die Verflechtung der vergangenen totalitären DDRRealität mit der über den Namen Winckelmann vermittelten Welt der dt. Klassik u. griech. Antike bei gleichzeitigem Hereinholen des Mottos »All you need is love«, Credo der Beat-Generation der 1960er Jahre, sowie zum anderen die Einbettung in eine absurde Liebes- u. Sexbeziehung zwischen einem Gott u. einer ostdt. Frau, die N.s vierten Roman zu einem postmodernen Text macht, welcher die beiden Kriterien Popularität u. Pluralität erfüllt. N.s fünfter Roman Er oder Ich (Mchn. 1999) kann aufgrund der Vernetzung mit N.s früheren Romanen als Ausdruck willentl. Eigenidentifikation von Autorschaft betrachtet werden. Entsprechend lenkt die Wiederaufnahme der Geschichte von Ole Reuter (Netzkarte) auf das Problem literar. Abbildbarkeit von Subjektivität überhaupt. Das Hadern mit dem eigenen Ich u. einem Leben in Deutschland ohne Heimatgefühl bildet das Koordinatensystem, in dem die Authentizität des Erzählers durch eine Doppelung in Er- u. IchErzähler ausgehebelt wird. Subversive Destabilisierungsstrategien u. intertextuelle Verschachtelung von Träumen u. Schreckensvisionen des Protagonisten mit Fragmenten aus Goethes Faust u. Thomas Manns Doktor Faustus lassen Ole Reuter zu einer postmodernen Faust-Figur u. Teufelsgestalt in einer Person werden. Die Referenz auf das Traditionspotential dt. Kulturguts gepaart mit dem Aufrufen von mit schwerer Hypothek belasteten histor. Namen wie z.B. »Adolf« u. »Bismarck« geschieht auf irritierend kom. Weise. Der Text kann als humorvolle Verballhornung eines allzu sentimentalen Musters im Umgang mit der Geschichte
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Schlacht bei Näfels
Die bisherige Aufnahme von N.s Romander Deutschen gelesen werden. Gleich einem Nonsens-Text endet Reuter in der Psychiatrie werk in der dt. Literaturwissenschaft u. Liteu. findet den Tod eines zuvor Tagebuch- raturgeschichtsschreibung hat sich vorwieSchreibenden. Die komplette Verrätselung gend auf die Texte Die Entdeckung der Langdes Textes erweist sich als ein Konzept, mit samkeit u. Selim oder Die Gabe der Rede bedem N. der Illusion entgegentritt, Literatur schränkt. Neue Forschungsergebnisse haben könne die polit. u. geschichtl. Wirklichkeit gezeigt, dass die Zurückhaltung, mit der N.s spätere Werke aufgenommen worden sind, in verändern. Dass die Literatur allerdings eine befreien- einer Unsicherheit gegenüber dem Phänode Sichtweise auf die eigene Geschichte aus- men der Postmoderne in der dt. Literatur lösen kann, legt N.s bislang letzter Roman gründen. Wenn die Kategorie der Postmomit dem Titel Ullsteinroman (Mchn. 2003) dernität in der Literatur nach 1945 als Disnahe. Dieser Roman reizt die Grenze zwi- tinktionsmerkmal fungiert, scheint es beschen Geschichtsschreibung u. Fiktion aus. rechtigt, in N. einen Protagonisten eines Aus der Perspektive der jüd. Verlegerfamilie neuen Schreibverfahrens zu sehen, der Böll, Ullstein gelangen die Bismarck-Zeit, die Zeit Grass u. Walser als Repräsentanten der des Übergangs zur Weimarer Demokratie Nachkriegsliteratur abgelöst hat. Weitere Werke: Abrüstungsdiplomatie 1932/ sowie die Epoche ihrer Zerstörung ins literar. 33. Dtschld. auf der Genfer Konferenz im Übergang Visier. Mit dem Ullsteinroman eröffnet sich ein v. Weimar zu Hitler. Diss. Mchn. 1978. – Das Erfür das dt. Interesse pikantes Thema, nämlich zählen u. die guten Ideen. Die Göttinger u. Münder Topos des dt. Judentums. N. literarisiert chener Poetik-Vorlesungen. Mchn. 2001. das Verhalten beider Kollektive, der DeutLiteratur: Thomas Kraft: N. In: LGL. – Birgit schen u. der Juden, im Konflikt mit dem Brix: S. N. u. die Postmoderne. Ffm. u. a. 2008 Nationalsozialismus. Die Verarbeitungsstra- (darin: Bibliogr. S. 320–323, Verz. weiterer Lit. zu tegie ist durchweg ironisch-witzig u. ver- N., S. 325 f.). Birgit Brix söhnlich-fantasievoll; N. durchbricht bisherige Bewertungstraditionen u. trägt zur Entkrampfung des kulturellen Gedächtnisses der Schlacht bei Näfels, 9.4.1388. – Konflikt Deutschen bei, indem er mit einem weit ver- zwischen Habsburg u. Glarus, Gegenzweigten Textgeflecht neue befreiende Sinn- stand verschiedener mittelalterlicher u. komplexionen evoziert u. Tabuisiertes u. frühneuzeitlicher Chroniken u. Lieder. Verdrängtes aufbricht. Das wechselvolle Le- Nach der Schlacht bei Sempach 1386 nutzten ben von N.s Großvater Rudolf Nadolny die Eidgenossen die Schwächung der habs(1873–1953) mag dabei einen autobiogr. burg. Macht in den Vorlanden, um das für Subtext bilden, der unter N.s poet. Kreisen den Zugang zum Tal Glarus strategisch um die Zulässigkeit dt. Heimatzugehörigkeit wichtige Städtchen Weesen am Walensee zu trotz der zeitgeschichtl. Zäsur von Auschwitz besetzen. Durch Verrat gelang Habsburg am ruht. Rudolf Nadolny hat als Diplomat im 22.2.1388 die Rückeroberung. Nach diesem Auswärtigen Amt sowohl unter Friedrich Erfolg wollten die Habsburger auch das abEbert als auch unter Hitler gewirkt, Letzte- trünnige Glarnerland wieder unter ihre rem jedoch als Botschafter in Moskau 1934 Herrschaft bringen. Am 9.4.1388 marschierte den Dienst aufgekündigt. Nach der Grün- ihr Heer gegen Glarus, wurde jedoch an der dung beider dt. Staaten trat er für eine Ver- »Letzi« (Talsperre) von einem Glarner ständigung zwischen der Bundesrepublik ei- Kriegshaufen, unterstützt von eidgenöss. nerseits u. der DDR u. Sowjetunion anderer- Verbündeten, vernichtend geschlagen. seits ein. Eine andere Quelle für die unbeBis heute gedenken die Glarner des Ereigfangene Gabe, dem Leser unbelastete u. po- nisses alljährlich mit einer Wallfahrt (»Näsitiv besetzte Traditionslinien zugänglich zu felserfahrt«). Die Gedenkfeier hat eine eigene machen, ergibt sich aus N.s wiss. Beschäfti- literar. Form hervorgebracht, den sog. gung mit der Geschichte der Deutschen. »Fahrtsbrief«, einen chronikal. Bericht, der
Schlacht bei Näfels
im Rahmen der liturg. Feier verlesen wird. Der Text kann vorsichtig auf Mitte 15. Jh. datiert werden; er ist überliefert im Glarner Landsbuch u. im Jahrzeitbuch von Linthal. In wesentl. Partien stimmt er überein mit dem Bericht in einer Bearbeitung der sog. Zürcher Chronik aus der Mitte des 15. Jh. (Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. Sang. 643). Seit dem 16. Jh. wird das Ereignis in der eidgenöss. Chronistik als Parallele zu den Kämpfen der Innerschweizer Befreiungstradition behandelt. Bes. der Glarner Aegidius Tschudi (1505–1572) wertete die Schlacht als Glarner Beitrag zum eidgenöss. Freiheitskampf u. unterstrich die gegenseitige Hilfeleistung sowie das gemeinsame Brauchtum im Schlachtengedenken. Eine ähnl. Tendenz verfolgen die Lieder, welche von der Schlacht handeln. Aus dem 16. u. 17. Jh. sind drei teils voneinander abhängige Lieder überliefert, von denen das älteste noch dem 15. Jh. angehören könnte. Dieses »alte Lied« ist überliefert in der 1536 vollendeten Liederchronik von Werner Steiner (1492–1542) (Zentralbibl. Luzern, Abt. Bürgerbibl., Ms. 382.4, S. 14–16). Es besteht aus 15 zweiversigen Langzeilern mit Paarreim, der »eigentlichen Form der episch-heroischen, sanglichen Reimdichtung« (Wehrli). Auch bei Wortwahl u. Motiven knüpft das Lied an Vorbilder der ahd. Heldendichtung an (Nibelungenlied, Hildebrandslied). Inhaltlich weist das Lied wie der Fahrtsbrief Ähnlichkeiten mit der genannten Zürcher Chronik auf u. dürfte somit frühestens Mitte 15. Jh. entstanden sein. Das »jüngere Lied« ist überliefert in der Chronik von Tschudi, der es als »ein alt Lied« bezeichnet (Zentralbibl. Zürich, Ms. A 59, S. 197–199). Vermutlich hat jedoch Tschudi selber das »alte Lied« unter Beizug seiner histor. Kenntnisse u. nach dem Vorbild des Halbsuter’schen Lieds von der Schlacht bei Sempach erweitert. Auf Tschudis Autorschaft deutet sowohl die Form wie auch die Tendenz (Korrekturen nach chronikal. Vorlagen, Anpassung an eidgenöss. Tradition, Betonung der freundeidgenöss. Hilfestellung). Das Lied umfasst 46 langzeilige Strophen, im Gegensatz zum »alten Lied« nun mit konsequentem Binnenreim.
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Inhaltlich zwischen »altem Lied« u. Tschudi steht eine Fassung mit 43 Strophen, die im 17. Jh. in Form von Flugschriften größere Verbreitung fand (zehn Drucke), zuerst gedruckt 1606 bei Johannes Schröter in Basel (Staatsbibl. Berlin, Ye 2131). Als unabhängig von der gesamten sonstigen Überlieferung erweist sich der älteste erhaltene Druck, der 1601 bei Rudolf Wyssenbach in Zürich erschienen ist (Staatsbibl. Berlin, Ye 2011). Die in der älteren Forschung übl. Bezeichnung als »Volkslieder« ist in verschiedener Hinsicht problematisch: Einerseits gehören sämtl. bekannten Autoren zur Bildungselite (auch die künstlerische Ausgestaltung des »alten Lieds« lässt einen gelehrten Dichter vermuten); andererseits ist unbekannt, wie verbreitet diese Dichtungen in der Bevölkerung tatsächlich waren. Daneben existiert ein eigenständiges lat. Versepos des Glarner Gelehrten Heinrich Loriti, gen. Glarean (1488–1563) (Staatsbibl. München, Cod. Monacensis lat. 28325). Das Gedicht besteht aus 910 Hexametern u. weist diverse inhaltl. Bezüge zum antiken Heldengeschehen auf: Die Eroberung von Weesen wird mit der Belagerung von Troja verglichen, die österr. Übermacht mit den Heeren von Xerxes u. Hannibal, der glarnerische Landammann mit dem triumphierenden Caesar. Als Kriegsursache führt Glarean an, dass die alten heidn. Götter aus Neid die »Schwaben« (Österreicher) gegen die frommen Schweizer aufgehetzt hätten. Die für Tschudi so wichtige Anknüpfung an die eidgenöss. Befreiungstradition fehlt bei Glarean hingegen gänzlich. Ausgaben: Die Rechtsquellen des Kantons Glarus. Hg. Fritz Stucki. Aarau 1983, Bd. 1, S. 97–100, Nr. 48 (›Fahrtsbrief‹). – Aegidius Tschudi: Chronicon Helveticum, Hg. Bernhard Stettler. Bd. 6, 1986, S. 233–258 (Schlachtbericht), S. 258–262 (›jüngeres Lied‹). – Die histor. Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jh. Hg. Rochus v. Liliencron. Bd. 1, Lpz. 1865, S. 146 (Nr. 35, ›altes Lied‹); S. 148–151 (Nr. 36, ›jüngeres Lied‹). – Hans Trümpy: Die alten Lieder auf die Schlacht bei N. In: Jb. des Histor. Vereins des Kantons Glarus 60 (1963), S. 25–51 (Paralleldruck v. ›altem‹ u. ›jüngerem Lied‹). – Schweizerische Volkslieder. Hg. Ludwig Tobler. Bd. 1, Frauenfeld 1882, S. XXIV f., S. 8 f. (›altes Lied‹). – Heinrich Glarean: Das Epos vom Helden-
493 kampf bei N. Hg. Konrad Müller u. Hans Keller. In: Jb. des Histor. Vereins des Kantons Glarus 53 (1949), S. 58–117 (lat. Versep. mit dt. Nachdichtung). – Max Wehrli: Das Lied v. der Schlacht bei N. In: Schweizerische Ztschr. für Gesch. 1959/2, S. 206–214 (›altes Lied‹ erstmals nach Steiners Autograf). – Rainer Hugener: Das älteste gedruckte Lied zur Schlacht bei Näfels. Komm. u. Ed. In: Schweizerische Ztschr. für Gesch. (SZG) 59/3 (2009), S. 261–278. Literatur: Beate Rattay-Förstl: Entstehung u. Rezeption polit. Lyrik im 15. u. 16. Jh. Die Lieder im Chronicon Helveticum v. Aegidius Tschudi. Göpp. 1986. – Friedrich Schanze: Schlacht bei N. (Lieder). In: VL. Rainer Hugener
Nagel, Anton, * 6.5.1742 Moosburg, † 20.7.1812 Moosburg. – Verfasser von Dramen, Erzählungen u. Gedichten; Historiker.
Nagel
(Mchn. 1820), sowie als Lyriker u. a. Lobgedichte auf den bayer. Herrscher (in: Churpfalzbaierisches Intelligenzblatt, 1804–07, z.T. anonym). N.s Schriften, seinerzeit sehr geschätzt, gerieten bald in Vergessenheit. Weitere Werke: Die Schule der Handwerker. Teilabdr. in: Churpfalzbaier. Intelligenzblatt 3 (1804), S. 42–44 (D.). – Eine Revolutions-Scene. In: Aurora 64 (1804), S. 254 f. (E.; anonym). – Grundriß des Schelmenländels der Roßdiebe in der Hallertau. In: Unsere Heimat. Wolnzacher Anzeiger, Jg. 94, N. F. 9 (1953), S. 35 (E.). Literatur: Münchener Allg. Lit. Ztg. 1 (1820), S. 4–6. – Andreas Kraus: Die histor. Forsch. an der Churbaier. Akademie der Wiss.en 1759–1806. Mchn. 1959. – Heinrich Egner: Nachw. In: A. N.: Bürgeraufruhr [...]. Neudr. Landshut 1989, S. 1–23. – Werner Konrad: Patriotendrama – Fürstendrama. Über A. N.s ›Bürgeraufruhr in Landshut‹ u. die bayer. Patriotendramen der frühen KarlTheodor-Zeit. Ffm. 1995. Silvia Wimmer / Red.
N. besuchte das Gymnasium in Landshut u. das Lyzeum in Freising. Nach einer Tätigkeit Nagel, Paul, * in Leipzig, † Ende Novemals Erzieher in München wurde er 1775 Kaber 1624 Torgau. – Publizist astrologischplan in Marching/Donau u. 1790 Pfarrer in chiliastischer Schriften. Rohr/Ilm, wo er als Schulinspektor auf den jungen Johann Andreas Schmeller stieß, den Nach Universitätsstudien in Leipzig (immaer von da an förderte. 1803 vernichtete ein trikuliert 1593) u. Wittenberg (1605: MagisBrand des Pfarrhauses den Großteil seiner ter artium) hielt sich N. in Dalbitz auf (1605); Werke. N. gab nach diesem Schlag sein Amt spätestens wohl seit 1609 lebte er in Torgau. 1804 auf u. fand bei dem befreundeten Anton N. stieß zum protestant. Dissidentenlager, von Bucher Unterkunft, bis er 1807 ein Be- pflegte mystisch-spiritualistische u. alchem. nefizium in Moosburg erhielt. Neigungen, zählte zu den heterodoxen BeN., Illuminat, zudem als Historiker ab suchern des Fürsten August von Anhalt in 1803 Mitgl. der Bayerischen Akademie der Plötzkau u. trat während der ersten JahrWissenschaften, gilt als Vertreter der kath. zehnte des 17. Jh. mit zahlreichen astrotheoAufklärung, v. a. der prakt. Volksaufklärung, log. Schriften hervor. Teilweise durchaus in wie sie sein Freund Lorenz von Westenrieder Auseinandersetzung mit namhaften Fachpropagierte. Im Vordergrund stand die Er- leuten seiner Zeit (Isaak Habrecht, Johann ziehung zu Tugend u. Vaterlandsliebe. Baptist Hebenstreit u. a.) u. gelegentlich geBevorzugte Gattung war anfangs das Dra- stützt auf Paracelsus, mehrte N. vorab das ma, bes. das historische. In dem einzig kom- deutschsprachige Schrifttum prophetischen plett erhaltenen, Der Bürgeraufruhr in Landshut Inhalts einschließlich der Kometenliteratur (Mchn. 1782), zeigte sich N. – im Schutz der (Himmels Zeichen. Halle 1605. Catoptromantia histor. Ummantelung – als Anwalt eines ge- physica Divinatio ex speculo Astrologico. Lpz. gen herzogl. Rechtsbrüche kämpfenden Bür- 1610. Chiromantica Meganthropi Sive Signatura gertums. Formal an den Sturm u. Drang an- Macrocosmi. Lpz. 1610. Stellae prodigiosae seu gelehnt, verfolgte er die aufklärerische In- cometae [...] observatio & explicatio. o. O. [Artern] tention mit starken Überzeichnungen. 1619. Ander Theil Des in 1618. Jahre erschienen N. verfasste zudem kleinere Prosatexte, so [...] Cometen. o. O. [Artern] 1619. Prognosticon die postum gedruckte Idylle Abschnitzeln aus Astrologo-Cabalisticum. o. O. 1619). Einen wirdem häuslichen Leben eines Schneidermeisters kungsgeschichtl. Erfolg erzielte v. a. N.s Rap-
Nagel
tum Astronomicum, Das ist [...] Entdeckung [...] eines [...] vber Königlichen Instruments [...] oder Meßstabes (o. O. 1625. Vollfassung: 1627), mit dem man alle Geheimnisse der Hl. Schrift lüften, etwa auch das Himmlische Jerusalem u. alle Religionen messen oder das Jahr des Weltendes berechnen könne; seit ihrem anonymen Abdruck im ps.-paracels. Geheimnüß aller seiner Geheimnüsse (o. O. 1686) bereicherte diese religiös-heilsgeschichtlich fundierte Utopie die (ps.-)paracels. Literatur des 18. Jh. N.s Astrologica wurden von Astronomen beachtet (Johannes Kepler, Peter Crüger). Zeitgenössischer Widerhall war vorab den religiös-chiliast. Lehren N.s beschieden: Seine von Lehren Valentin Weigels, Jakob Böhmes u. Esajas Stiefels befeuerte Opposition wider Schulwissenschaft u. Kirchentum, seine auf umfassende Reformen drängende Apokalyptik (»Nagelianismus«) verschafften N. unter orthodoxen Lutheranern den Ruch eines ketzerischen »Weigelianers«, »neuen Schwenckfelds« »widertäuferischen Irrgeistes« u. »Rosenkreuzers«; sie veranlassten die Wittenberger Universität zu einem Schriftverbot (1618) u. wurden u. a. von Philipp Müller (1619), Crüger (Rescriptum Auff [...] Nagelii Buch [Fundamentum, 1622]. Danzig 1622), Philipp Arnoldi (Antinagelius. Königsb. 1621), Georg Rost (Prognosticon Theologicon. Rostock 1620. Heldenbuch vom Rosengarten. Rostock 1622), Philipp Ziegler (Antiarnoldus et Antinagelius. o. O. 1622), Justus Groscurdt (Angelus Apocalypticus. Braunschw. 1622) u. Johann Wolther (1623), später dann von Hieronymus Kromayer (Polymathia Theologica. Lpz. 1669) bekämpft. N. gehört zum Figurenarsenal in Walter Ummingers Roman Das Winterkönigreich (1994). Weitere Werke: Briefe an den Leipziger Arzt Arnold Kerner. In: Leipzig, UB, Ms. O 356 (Autografen). – Briefe an Nicolaus van Vicken. In: Stralsund, Kulturhistor. Museum (Vicken, Liber amicorum). – Karlsruhe, LB, Cod. Allerheiligen 3; Halle, UB, Ms. 14 B 31; London, Wellcome Institute for Medical History, Ms. 150, Bl. 129r-139r (autografe Schr.en; Fremdtextkopien). – SchreibCalender. u. a. Lpz. 1609, 1612; Nürnb. 1625. – Explicatio [...] der himml. Kräffte. Lpz. 1613. – Triumphus et Victoria Georgii Herois Fortissimi Equitis aurati & cat-
494 aphracti [...] Heroico Carmine conscripta. Lpz. 1615 (Preisgedicht auf Kurfürst Johann Georg I.). – Prognosticum astrologo-harmonicum [...] Prognosticon [...] v. 1620 an zu rechen. Halle o. J. [1619]. – Complementum Astronomiae [...] Erklerung deß fünffjährigen Prognostici. Halle o. J. [1620]. Tschech.: Prag 1620. – Prodromus Astronomiae Apocalypticae. Danzig 1620. – Cursus Quinquenalis Mundi. Halle 1620. – Philosophia nova astronomiae nostrae particula insignis. o. O. 1621. 1624. – Tabula aurea. o. O. 1621. 1624. – Nagelius Orthodoxus. o. O. 1621 (Erfurt, BEvM, Ms. 21; gegen Philipp Arnoldi). – Wechterbüchlein. o. O. 1622. – Astronomiae Nagelianae Fundamentum. o. O. 1622. – P. Sonnenschein (Ps., wohl N.): Trigonus igneus. o. O. 1623. – Zahlreiche Jahrespraktiken (Vorhersagen), ersch. unter den Titeln Prognosticon astrologicum (z.B. Lpz. 1613, o. O. 1619, Halle o. J. [1620], Goslar o. J. [1620], Halle o. J. [1624]) u. Deutzsche Astrolog. Practica (Danzig u. Lpz. 1621). Ausgabe: Entdeckung [...] eines [...] Kgl. Instruments, Eines Wunder-Stabs. In: (Ps.-)Paracelsus: Geheimnüß, aller seiner Geheimnüsse, Ffm./ Lpz. 1746. Reprograf. Nachdr. Karlsr. 1976, S. 19–39. Literatur: Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen- u. Ketzer-Historie. Ffm. 1729, Bd. II, Tl. 3, Kap. 5, S. 53–56 (mit Textproben). – G. Frank: N. In: ADB. – Ernst Zinner: Gesch. u. Bibliogr. der astronom. Lit. in Dtschld. zur Zeit der Renaissance. Stgt. 21964, s. v. – Detlef Döring: Die Beziehungen zwischen Johannes Kepler u. dem Leipziger Mathematikprofessor Philipp Müller. Eine Darstellung auf der Grundlage neuentdeckter Quellen u. unter bes. Berücksichtigung der Astronomiegesch. an der Univ. Leipzig. In: Sitzungsber.e der Sächs. Akademie der Wiss.en zu Leipzig, philologischhistor. Klasse. Bd. 126, H. 6, Bln. 1986, S. 35 f. – Robin Bruce Barnes: Prophecy and Gnosis. Apocalypticism in the Wake of the Lutheran Reformation. Stanford 1988, S. 177–180 u. ö. – Reinhard Breymayer: Das ›Königliche Instrument‹. Eine religiös motivierte meßtechn. Utopie bei Andreas Luppius (1686), ihre Wurzeln beim Frührosenkreuzer Simon Studion (1596) u. ihre Nachwirkung beim Theosophen Friedrich Christoph Oetinger (1776). Mit einem unbeachteten Fragment eines Briefs v. Johannes Kepler. In: Das Andere Wahrnehmen. Beiträge zur europ. Gesch. August Nitschke zum 65. Geburtstag gewidmet. Hg. Martin Kintzinger u. a. Köln 1991, S. 509–532. – Kathrin Pfister: Paracelsus in frühneuzeitl. Astrologica. In: Analecta Paracelsica. Studien zum Nachleben Theophrast v. Hohenheims im dt. Kulturgebiet der frühen Neuzeit. Hg. Joachim Telle. Stgt.
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1994, S. 531–540, hier S. 533 f. – R. Breymayer: Instrumentum Regium. In: Friedrich Christoph Oetinger: Bibl. u. emblemat. Wörterbuch. Hg. Gerhard Schäfer. Tl. 2: Anmerkungen, Bln. 1999, S. 325–330. – Marion Gindhart: Das Kometenjahr 1618. Antikes u. zeitgenöss. Wissen in der frühneuzeitl. Kometenlit. des deutschsprachigen Raumes. Wiesb. 2006, S. 102–112. – Studie in Vorb. (durch Leigh T. I. Penman). Joachim Telle
sichten hinsichtlich der Übereinstimmung von Wort- u. Versakzent. Er gilt als zu seiner Zeit bekannter Kirchenlied- u. Erbauungsschriftsteller. Erbaulichen Inhalts sind auch Des Heil. Augustini Himmlische Betrachtungen oder Geheime Gespräch mit Gott, und Andächtiges Handbüchlein [...] (Köln 1666; weitere Ausg.n Köln 1681 u. ö., Augsb. 1755) – eine Übers. der pseudo-augustinischen Meditationes, Soliloquia et Manuale.
Nakatenus, Wilhelm, * 18.10.1617 Gladbach (heute: Mönchengladbach), † 23.6. 1682 Aachen. – Jesuit, Prediger, Poet.
Literatur: Bibliografie: Backer/Sommervogel, Bd. 5, Sp. 1544–1554. Bd. 9, Sp. 712. – Weitere Titel: Wilhelm Bremme: Geistl. Lieder des W. N. Köln 1903 (mit komm. Schriftenverz.). – A. Schrott: Das Gebetbuch in der Zeit der kath. Restauration. In: ZKTh. 61 (1937), S. 234–236. – Karl Kammer: Biogr. Nachrichten [...] 3. Pater W. N. SJ (1617–82). In: Neues Trierer Jb. 1 (1961), S. 63–68. – Kurt Küppers: W. N. SJ 1617–82. Biogr. Daten eines geistl. Schriftstellers. In: Archivum Historicum SJ 48 (1979), S. 203–247. – Ders.: Das ›Himmlische Palm-Gärtlein‹ des W. N. SJ (1617–82). Regensb. 1981. – Ders.: Das Volks-Stundengebet im ›Himmlischen Palm-Gärtlein‹ des Jesuiten W. N. (1617–82). In: Trierer Theolog. Ztschr. 90 (1981), S. 305–316. – Ders.: W. N. (1617–82). In: Die Gesellsch. Jesu u. ihr Wirken im Erzbistum Trier. Mainz 1991, S. 183–186. – Ders.: N. In: NDB. – Ders.: Friedrich Spee u. W. N. In: Friedrich Spee zum 400. Geburtstag. Hg. Gunther Franz. Paderb. 1995, S. 181–196. – Guillaume van Gemert: Zur kath. Gebetslit. der Barockzeit: Stellenwert u. Funktion der Verseinlagen in N.’ ›Himmlisch Palm-Gärtlein‹. In: Gebetslit. der frühen Neuzeit als Hausfrömmigkeit. Hg. Ferdinand van Ingen. Wiesb. 2001, S. 77–92. – Jürgen Bräsch: Allerseelen. Studien zu Liturgie u. Brauchtum eines Totengedenktages in der abendländ. Kirche. Münster 2004. Franz Günter Sieveke
Als Sohn des späteren Bürgermeisters Everhard Nakaten entstammte N. einer der angesehensten Familien seiner Vaterstadt, in der er auch die Lateinschule besuchte. Nach Absolvierung der Jesuitengymnasien in Neuss u. Köln trat er am 12.11.1636 in Trier in den Jesuitenorden ein u. lehrte dort Philosophie, Grammatik u. Rhetorik. Während des Noviziats erschien sein erstes Gebetbuch, der Thesaurus Sacrae Supellectilis [...] (Trier 1642). Nach dem Theologiestudium in Münster wurde er 1647 ordiniert. 1649–1652 war N. Studienpräfekt in Coesfeld u. anschließend bis 1655 Professor der Philosophie in Münster. Zwischen 1657 u. 1673 war er hauptsächlich als Prediger im Kölner u. Aachener Umland tätig – u. a. auch von 1660 bis 1663 als Hofprediger des Kurfürsten Maximilian Heinrich von Bayern in Bonn, als dessen Bibliothekar er auch tätig war. Das Hauptwerk N.’ ist das Gebetbuch Himmlisch Palm-Gärtlein (Köln 1662. Lat. u. d. T. Coeleste Palmentum. Köln 1667), das drei Jahrhunderte hindurch immer wieder aufgelegt wurde (über 150 Auflagen) – auch Naogeorg, Thomas, eigentl.: T. Kirchmain niederländ. Übersetzung – u. als »Bestselier, Kirchmeyer, Neumaier, auch: T. ler« unter den Jesuitengebetbüchern angeseNeubauer, * ca. 1508 Straubing, † 29.12. hen werden kann. Alle Bereiche des religiösen 1563 Wiesloch bei Heidelberg. – ProtesLebens finden in diesem Werk Berücksichtitantischer Theologe, nlat. Dichter u. Dragung. Stofflich schöpft N. aus der Bibel, den matiker. Schriften der Kirchenväter, aus profanen Schriften der Antike u. des MA, aus dem N. entstammt dem Straubinger Bürgertum. Missale Romanum sowie aus den Schriften be- Sein Vater Ulrich Kirchmaier war Gastwirt in kannter Ordensmitbrüder. In den lokalen Straubing, sein Bruder Stephan Kirchmaier Anhängen des heutigen Einheitsgesangbuchs wirkte als Karmeliten-Pater. Nach dem früder kath. Kirche finden sich noch einige sei- hen Tod der Eltern trat N. in das Regensner Lieder. N. befolgte Spees prosod. An- burger Dominikanerkloster ein, das er 1526
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verließ, um sich der luth. Reformationsbewegung anzuschließen. Seine Erfahrungen im Kloster müssen so gravierend gewesen sein, dass er sich zeit seines Lebens zu einem der vehementesten Kritiker der röm. Kirche berufen fühlte. Wo er seine vorzügl. Ausbildung in den alten Sprachen u. seine Kenntnisse im Kirchen- u. Rechtswesen erworben u. welche Universitäten (Nürnberg? Tübingen? Ingolstadt?) er besucht hat, ist nicht eindeutig feststellbar. 1535 begegnet er als protestant. Pfarrer in Mühltroff/Vogtland, dann in Sulza/Ilm, zunächst von Melanchthon gefördert u. empfohlen; ab 1542 versah er das Pfarramt in Kahla/Saale. Aufbegehren gegen die Zensurgelüste der Wittenberger, Streit mit dem Stadtrat von Kahla u. dem Superintendenten, Neigung zu den Schweizern in der Abendmahlsfrage u. der Prädestinationslehre ließen N. trotz großer Wertschätzung am kurfürstl. Hof 1546 nach Augsburg flüchten, wo er einen großen Freundeskreis meist kryptocalvinistischer Theologen u. Schulmeister besaß. Da der kursächs. Hof N. nicht freigab, konnte er in Augsburg nicht angestellt werden; man vermittelte ihn nach Kaufbeuren (Okt. 1546), das er aber infolge der Annahme des Interims 1548 wieder verlassen musste. Er siedelte nach Kempten über u. versah die Pfarrstelle bei St. Mang, musste aber auch hier 1550 der alten Kirche weichen. Ein Stipendium Johann Jakob Fuggers ermöglichte ihm ein Studium der Rechtswissenschaften in Basel (ab März 1551), u. a. bei Bonifatius Amerbach u. Ulrich Iselius, aber bereits zum 1.11.1551 berief ihn Herzog Christoph von Württemberg nach Stuttgart. N.s Neigungen zum Calvinismus u. sein aufbegehrendes Wesen trugen ihm Maßregelungen des Hofes u. des Kirchenrates ein. 1561 berief ihn die Reichsstadt Esslingen zu ihrem Oberpfarrer, doch wurde er, weiterhin zum Calvinismus neigend u. überdies in einen schaurigen Hexenprozess verwickelt, im Jan. 1563 entlassen u. zgl. vom calvinistisch gesonnenen Kurfürsten Friedrich III. von der Pfalz nach Wiesloch berufen, wo er bald einer Pestepidemie zum Opfer fiel. N.s Wesen war vom Drang nach geistiger Freiheit, sozialer Unabhängigkeit u. uneingeschränkter Gültigkeit des Wortes Christi
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geprägt. Seine Auffassung von der Freiheit eines Christenmenschen ging weit über die pragmatisch gezogenen Grenzen Luthers hinaus. So kämpfte N. seit 1546 nicht nur gegen die röm. Kirche, sondern auch gegen die Wittenberger u. alle anderen sich verengenden orthodoxen Kreise der postluth. Phase; er fand seinen individuellen Freiheitsbegriff am ehesten im pfälz. Calvinismus bestätigt: »addictus nulli, nullique innixus ubique« (niemandem ergeben, auf keinen gestützt). Seinem Jahrhundert galt dieser unbequeme Intellektuelle als Poeta doctus in jeder Hinsicht. N. schrieb nur Latein, das er virtuos beherrschte – ein bewusst gesetztes Kennzeichen der Intellektualität. N.s humandidakt. Ziel war es, den von Christus gewiesenen Erlösungsweg als Aufgabe für den Menschen durchzusetzen. Dieses christolog. Engagement durchzieht sein ganzes Werk. Bei den griech. Autoren, die er ins Lateinische übersetzte, fand N. Modelle eth. Argumentierens. Auch in – bildungsgeschichtlich aufschlussreichen – Unterweisungs- u. Hilfsbüchern versuchte er, seinen Zeitgenossen Lebens- u. Berufsmaximen an die Hand zu geben. In den Agriculturae sacrae libri quinque (Basel 1550; elektronisch lesbar in: CAMENA) gibt er einen Aufriss des wahren christl. Lebens u. entwickelt das Musterbild eines Seelsorgers, der eine auf fester Kenntnis der drei hl. Sprachen basierende Synthese weltlichen u. geistl. Wissens verkörpert. Die moraldidakt. Zielsetzung ließ ihn an die röm. Satire, an Horaz, Persius, Juvenal u. den Italiener Philelphus anknüpfen: In den Satyrarum libri quinque (Basel 1555; elektronisch lesbar in: CAMENA) führt er in »schöner Unordnung« drei Themenkreise in breiter Varianz vor: Heilsgeschichte, Tugend, Lasterkritik. Die Heilsgeschichte wird dabei auf die Vorgänge der Weltgeschichte projiziert; die Hauptthemen der Lasterkritik entstammen dem theolog. Bereich; so begegnen Invektiven gegen die Wittenberger. Die erfolgreichsten Werke N.s waren seine sechs Dramen, sämtlich z.T. mehrfach ins Deutsche übersetzt u. bis ins 17. Jh. in beiden Sprachen gelesen u. gespielt. Auch sie dienten der didakt. Intention, die Übel der Welt auszurotten u. Frömmigkeit u. echten Glauben
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zu lehren. Das Theater war ihm moralische Anstalt u. Instrument, seine Glaubenswahrheit zu propagieren. Er steht damit im Trend seiner Zeit u. geht dem Ordenstheater der Jesuiten des ausgehenden 16. u. 17. Jh. voraus. Nüchtern bekannte er: »Non inutile fore ratus sum, papatum a contionibus in theatrum produci« (ich meinte, dass es nicht ohne Nutzen wäre, das Papsttum von den Kanzeln auf das Theater zu überführen). Gleich mit dem ersten Drama, der Tragoedia Nova Pammachius (Wittenb. 1538), gelang N. ein Stück, das bis heute seine erregende u. beeindruckende Wirkung nicht verloren hat. Heilsgeschichte, Weltgeschichte u. aktuelle antikuriale Polemik sind hier zu einer grandiosen Aktionseinheit verschmolzen. Das Stück endet in der Gegenwart mit dem Beginn der Wittenberger Reformation, deren Träger als das Werkzeug Gottes zum Zweck der Weltveränderung definiert wird. Das Stück hatte im protestant. Europa einen sensationellen Erfolg u. brachte N. auf den Index. Im Mercator seu Iudicium (1539) bedient sich N. der Grundstruktur der Jedermann-Moralität zur Darstellung der reformatorischen Rechtfertigungslehre. Die Gegensätzlichkeit der Heilsdoktrinen wird dramaturgisch treffsicher u. mit vielen satir. Elementen vorgeführt. In den folgenden Stücken hat N. abermals politisch brisante Themen aufgegriffen, so in dem Schlüsseldrama Incendia seu Pyrgopolinices Tragoedia (Wittenb. 1541) die Brandstiftungen in Kursachsen u. Hessen, mit denen Herzog Heinrich von Wolfenbüttel versucht hatte, sich Rom geneigt zu machen. Hamanus (1543) u. Hieremias (Basel 1551), dem Stoff nach Bibeldramen, dienen v. a. der Anprangerung von Gewalt. Im Hamanus greift N. den Minister u. Rat bei Hof an u. führt vor, wohin Ehrgeiz u. Gesinnungslosigkeit, Verschlagenheit u. Rohheit führen; im Hieremias fungiert die bibl. Geschichte als Analogie zur Zeitgeschichte: Man will auf den Propheten u. Prediger nicht achten, bis es zu spät ist. Auch in der Iudas Iscariotes Tragoedia (Basel 1552) holt N. weit aus: Judas meint hier die Verräter an der evang. Sache schlechthin, deren Schändlichkeit u. Hoffnungslosigkeit sein Ende symbolisiert. Wenigstens drei angeprangerte Zeitgenossen lassen sich nam-
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haft machen: Melanchthon wegen der Annahme des Leipziger Interim, Johann Agricola wegen seiner Mitarbeit am Augsburger Interim u. Moritz von Sachsen wegen seines Doppelspiels zwischen Protestanten u. Kaiser. N. war eine bedeutende, eigenständige Persönlichkeit, ein Nonkonformist, ein unbequemer Individualist mit einem hochgesteigerten Anspruch auf Gelehrtenachtung, zwar unabhängig im Geistigen, aber gebunden durch die Probleme materieller Existenz; seine Kritik entsprang nicht einer Ideologie, sondern der eigenen Anschauung – er schrieb aus sich selbst, nicht in jemandes Auftrag. Er huldigte dem pädagog. Optimismus seiner Zeit, man könne durch Bildung, Kunst, Literatur u. Wissenschaft den Menschen u. die Weltverhältnisse zum Besseren verändern, denn er war von der Freiheit des Willens des Menschen überzeugt u. – darin anders als Luther – auch ein Erasmianer. Weitere Werke: In primam D. Iohannis epistolam annotationes. Ffm. 1544. – De bello germanico. o. O. 1548. – Epitome ecclesiasticorum dogmatum [...]. Bern 1548. – Agriculturae sacrae libri quinque. Basel 1550. – Rubricae sive Summae capitulorum iuris canonici. Basel 1551. – Regnum Papisticum. Basel 1553. – Sylvae carminum. 1553. – Moralis philosophiae medulla [...], nempe, Epicteti enchiridion graece et latine cum explanatione. Straßb. 1554. – Satyrarum libri quinque. Basel 1955. – Dionis Chrysostomi Orationes octoginta, in latinum conversae. Basel 1555. – De infantium salute. Basel 1556. – Plutarchi libelli septem in latinum conversi. Basel 1556. – Phalaridis epistolae. Basel 1558. – Sophocles Tragoediae septem latino carmine redditae et annotationibus illustratae. Basel 1558. – Synesii Epistolae. Basel 1558. – In catalogum Haereticorum nuper Romae editum [...] satyra. Basel 1559. – De dissidiis componendis. Basel 1559. – Psalmi XXVI.: Judica me Deus. Basel 1561. Ausgaben: Sämtl. Werke. Hg. Hans-Gert Roloff. Bln. 1975 ff. (Bde. 1–4, weitere Bde. in Vorb.). – Satiren in Ausw. (lat./dt.). In: HL, S. 679–691; 1351–1355. – Internet-Ed. zahlreicher Texte in: VD 16 digital u. CAMENA (Abt. POEMATA). – Werkauswahl in: CAMENA. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Leonhard Theobald: T. N. der Tendenzdramatiker der Reformationszeit. In: Neue kirchl. Ztschr. 17 (1906), S. 764–794; 18 (1908), S. 65–90, 327–350,
Naoum 409–425. – Ders.: Das Leben u. Wirken N.s. Lpz. 1908. – Arthur Hübner: Studien zu N. In: ZfdA N. F. 42 (1913), S. 297–338; 45 (1920), S. 193–222. – Paul Vetter: N.s Flucht aus Kursachsen. In: ARG 16 (1919), S. 1–53, 144–189. – Beat Rudolph Jenny: Basler Quellen zur Lebensgesch. des T. N. In: Basler Ztschr. für Gesch. u. Altertumskunde 60 (1969), S. 205–222. – Hans-Gert Roloff: N.s Judas. In: Archiv 208 (1971/72), S. 81–107. – Ders.: N. u. das Problem v. Humanismus u. Reformation. In: L’Humanisme Allemand. Mchn./Paris 1979, S. 455–475. – Ders.: Heilsgesch., Weltgesch. u. aktuelle Polemik. In: Daphnis 9 (1980), S. 743–762. Auch in: Ders.: Kleine Schr.en zur Lit. des 16. Jh. Amsterd./New York 2003. – Wolfgang F. Michael: Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern 1984. – Ulrike Michalowsky: Übers. als Mittel politischreligiöser Propaganda. Zwei dt. Fassungen der ›Tragoedia nova Pammachius‹ (1538). In: Daphnis 16 (1987), S. 615–653. – Barbara Könneker: Zu Intention u. Struktur v. T. N.s ›Tragoedia nova Hamanus‹. In: Word and Deed. New York/Ffm. 1992, S. 135–144. – Franz Günter Sieveke: T. N. In: Füssel, Dt. Dichter. – Volker Janning: Der Chor im nlat. Drama. Münster 2005. – Wolfram Washof: Die Bibel auf der Bühne. Münster 2007, S. 131–135 u. ö. Hans-Gert Roloff
Naoum, Jusuf, * 25.2.1941 El Mina (Tripoli)/Libanon. – Erzähler, Lyriker. N. kam 1964 in die Bundesrepublik, wo er nach dem Besuch einer Hotelfachschule in Berlin u. München als Kellner u. nach einer Umschulung als Masseur u. Bademeister arbeitete. Er lebt seit 1983 als freier Schriftsteller bei Frankfurt/M. Anfang der 1970er Jahre begann N., bestärkt durch den Werkkreis Literatur der Arbeitswelt, dem er 1971–1975 angehörte, in Erzählungen u. Gedichten über seine Berufserfahrungen zu schreiben. Verschiedene dt. Rundfunkanstalten sendeten Märchen u. Hörspiele. Einzelbeiträge erschienen in Anthologien der »Gastarbeiterliteratur«. N. war selbst Mitherausgeber der 1979 von ausländ. Autoren gegründeten Reihe Südwind – gastarbeiterdeutsch u. Mitgl. im Polynationalen Literaturu. Kunstverein »PoLiKunst« (1980–1987). N. erhielt den Kulturpreis des Rheingau-Taunus-Kreises 1992. Die frühe Lyrik in Sand, Steine und Blumen: Gedichte aus drei Jahrzehnten (Ffm. 1991) über-
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zeugt am meisten, wo die Botschaften in einfacher Sprache u. knappen Formen gehalten sind. Die im Folgenden veröffentlichten Erzählungen u. Märchen sind v. a. seiner libanes. Heimat verpflichtet. Der rote Hahn (Neuwied 1974) entwickelt aus kurzen Episoden im Tonfall spontanen mündl. Erzählens die abenteuerl. Lebensgeschichte des alten Fischers Sadoui aus El Mina, der mit List u. Gewalt unermüdlich gegen die türk. u. frz. Fremdherrschaft wie gegen die sozialen Missstände in dem politisch gespaltenen Land kämpft u. dabei zuletzt auf seinen Sohn als Abgeordneten der kommunist. Partei setzt. Der Scharfschütze (entstanden schon 1975/ 76, ersch. Fischerhude 1983) beschreibt in einer Mischung aus Reportage u. Dorfgeschichte die dramat. Schicksale einfacher Leute zu Beginn des libanes. Bürgerkriegs (1975–1990), von dem N. so betroffen war, dass er Solidaritätsveranstaltungen u. humanitäre Hilfe organisierte u. in Gesprächen vor Ort ein objektiveres Bild des Geschehens zu gewinnen versuchte, um die einseitige Berichterstattung von einem Religionskrieg zu korrigieren. Erzählt wird von einem Gastarbeiter aus Deutschland, der gezwungen wird, als Scharfschütze der Phalange an brutalsten Kriegshandlungen teilzunehmen, von einem palästinens. Offizier, der als Überläufer kämpft, von einem jungen Offizier, der von Milizen entehrt nach Hause zurückkehrt, von der verlorenen Ehre einer Frau, die in ihrem Restaurant Milizen erschießt, die sie vergewaltigen, von einem syrischen muslim. Gastarbeiter, der in Beirut zufällig bei Schießereien stirbt, oder von einem christl. Bauern, der sich mutig – wie der Autor – für Versöhnung u. einen friedl. Ausgleich zwischen den Ethnien u. Religionen einsetzt. In der Erzählung Kaktusfeigen (Ffm. 1989) versucht der nach 22 Jahren in Deutschland arbeitslos gewordene u. von Abschiebung bedrohte Masseur Murad, sich wieder seiner arab. Herkunft zu vergewissern. Ein Kindheitsfoto erinnert ihn an die Jugendzeit in El Mina, v. a. aber an die darauf fehlende »Großmutter« (das Dienstmädchen Mariam der Großeltern), die ihm als Kind am nächsten stand. Um ihr Bild wiederzufinden, ver-
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Narhamer
tieft er sich in seine Jugenderinnerungen. Tag Alemania: Kaffeehausgeschichten von Jusuf Dabei machen ihm die alten Geschichten u. Naoum und Gertraud Funke (Mchn. 2007), in die neuesten Nachrichten aus der Heimat die dem Abu al Abed im Beiruter Theater nicht ohne Ironie von den ersten Erfahrungen u. ganze Veränderung seines Lebens deutlich. Der schwierige Ausgleich zwischen der Abenteuern seines Freundes Abu al Sus im arab. Herkunft u. dem Land der Immigration fremden Alemania erzählt. Mit diesen Geist auch das Thema von Nura. Eine Libanesin in schichten gehört N. nicht nur zur deutschDeutschland (Wuppertal 2001), in dem die sprachigen Migrationsliteratur, sondern junge libanes. Journalistin Semra in einer steht auch im Zusammenhang einer arab. psychiatr. Klinik die Geschichte ihrer plötz- Erzähltradition, wie sie die 2006 in Beirut u. lich gestorbenen Freundin Nura zu bewälti- New Jersey gegründete Organisation des »algen versucht, die im Konflikt mit der Familie hakawati Arab Cultural Trust« vertritt. u. dem arab. Frauenbild nach Deutschland Weiteres Werk: Das Ultimatum des Bey. kam, als Erzieherin arbeitete, jedoch die Ehe Wuppertal 1995. mit einem Deutschen wegen zunehmender Literatur: Iman Osman Khalil: Writing civil Differenzen wieder auflösen musste. Ähnlich war: the Lebanese experience in J. N.’s German zerstreitet sich die von widersprüchl. Ideen short stories. In: GQ 67 (1994), H. 4, S. 549–560. – bestimmte Erzählerin nach ihrer Entlassung Carmine Chiellino (Hg.): Interkulturelle Lit. in mit dem dt. Freund u. findet erst am Ende in Dtschld. Ein Hdb. Stgt./Weimar 2000, S. 239 f., einer ländl. Idylle in Kreta bei einer Freundin 514 f. (Bibliogr.). – Uta Aifan: Araberbilder. Zum Werk dt.-arab. Grenzgängerautoren der GegenNuras eine Ersatzheimat. wart. Aachen 2003, S. 137–151. Karl Esselborn Stärker in der Tradition oriental. Erzählens, die N. auch bei Vortragsreisen wiederzubeleben versucht, stehen N.s Märchen u. Narhamer, Johan, * um 1520 Hof, † nach Kaffeehausgeschichten. Der Sammelband 1571. – Reformationsdramatiker. Karakus und andere orientalische Märchen (Ffm. 1986) mischt bekannte Motive u. Figuren mit N.s Lebensweg lässt sich aufgrund eigener moderner Moral u. sozialen Ideen von Angaben u. weniger anderer Hinweise nur Gleichheit u. Solidarität. Die Kaffeehausge- ungefähr rekonstruieren. Danach besuchte er schichten des Abu al Abed (Ffm. 1987) nutzen die die Hofer Pfarrschule u. trat vor 1546 als inzwischen durch das Fernsehen verdrängte Schulmeister in den Dienst der Stadt u. der traditionelle Erzählerfigur u. ihr Erzählritual Herren von Pulsnitz bei Dresden. In den zu spannenden Fortsetzungsgeschichten mit 1550er Jahren wurde er Pfarrer im nahe geaktuellen Varianten der traditionellen Sujets legenen Seifersdorf, wo er noch 1571 bezeugt u. Personage wie einer grotesken Einladung ist, u. immatrikulierte sich 1555 mit seinem ins Weiße Haus oder den Erlebnissen als Sohn an der Universität Wittenberg, nachTierarzt am Ku’damm in Berlin. Der unver- dem er möglicherweise zuvor schon einen mittelt verschwundene Erzähler kehrt in akadem. Grad erworben hatte. Außer einem Sermon vom heiligen Predigampt, Nacht der Phantasie: der Kaffeehauserzähler Abual-Abed lädt ein (Ffm. 1994) aus der Wüste aus den Worten [...] Johannis am 20. Capit: wieder nach Hause zurück. Als Held des (Dresden 1571) ist von N. das Drama Historia Buchs seines jugendl. Freundes Abu al Sus Jobs (Zwickau 1546) überliefert. Das Balthasar (auch Joseph = Jusuf Naoum) aus Deutschland u. Hans von Schlieben, Herren zu Pulsnitz, lädt er die alte Freundesrunde zu einem Fest gewidmete Stück ist in fünf Akte mit Chornach Hause ein, um in weitgehend autobiogr. einlagen gegliedert u. unterscheidet sich von Form Geschichten, Streiche u. Schwänke aus den zeitgenöss. Dramatisierungen des Stoffs Kindheit u. Jugend von al Sus in Beirut zu durch eine enge Anlehnung an den Wortlaut erzählen. Die beim dt. Publikum beliebte der Lutherbibel u. einen für damalige Verexot. Erzählform, die bei N. allerdings nie zu hältnisse aufwendigen Inszenierungsstil. den Klischees eines Exotismus oder OrientaWeiteres Werk: Newes Jar: Allen Schwangeren lismus verkommt, wird fortgesetzt mit Guten u. geberenden Weiblein, zur lehre, trost, u. anlei-
Nas tung, warer anruffung zu Gott, jnn jhrer kindes noth. Dresden 1557. Ausgabe: Historia Jobs. Mit Komm. u. Nachw. hg. v. B. Könneker u. Wolfgang F. Michael. Bern u. a. 1983. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Johannes Bolte: J. N. In: ADB. – Wolfgang F. Michael: Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern 1984. – Ders.: Ein Forschungsber. [...]. Bern 1989. Barbara Könneker / Red.
Nas, Nass, Nasus, Johannes, * 19.3.1534 Eltman/Main, † 16.5.1590 Innsbruck; Grabstätte: ebd., Hofkirche. – Franziskaner; Prediger, Polemiker, Satiriker. Als wandernder Schneidergeselle wurde N. ohne formelle Konversion fanat. Lutheraner, trat jedoch 1552 nach Lektüre der Nachfolge Christi in München dem Franziskanerorden bei. Zuerst Klosterschneider in Ingolstadt, wurde er nach autodidakt. Lateinstudium ins Klerikat aufgenommen u. 1557 in Freising zum Priester geweiht. Während des folgenden Bienniums hörte er an der Universität Ingolstadt – u. a. bei Canisius u. Eisengrein – Theologie u. Rhetorik u. war dann als Wanderprediger im süddt. Raum so erfolgreich, dass ihn Pius V. 1566 zum »Apostolischen Prediger« ernannte. Seit 1569 Kustos der Straßburger Ordensprovinz, wurde er 1571 Domprediger in Brixen u. 1572 Kommissar der Straßburger, österr. u. böhm. Ordensprovinzen. 1573–1575 wirkte er als Hofprediger Erzherzog Ferdinands in Innsbruck u. seit 1578 als Kommissar der Franziskanerklöster auf dessen Gebiet. Als solcher wurde er 1580 von Gregor XIII. zum Titularbischof von Belli u. Weihbischof von Brixen ernannt. Bereits 1565 erschien in Ingolstadt neben Predigten u. einem lat. Catechismus catholicus (dt.: Handbüchlein des klein Christianismi [...]. Ingolst. 1570) der erste Band der »Centurien«, des polem. Hauptwerks: Das antipapistisch eins und hundert. Außerleßner, gewiser, evangelischer warhait. Dieser Replik auf Hieronymus Rauschers Hundert auserwelte [...] papistische Lügen (Eisleben 1562) folgten Secunda centuria (Eisleben 1567 u. ö.) gegen Luthers Tischreden, Tertia centuria (Eisleben 1568 u. ö.) gegen Luthers Bibelübersetzung, Quarta
500
centuria (Eisleben 1568 u. ö.), die mit dem Holzschnitt Anatomia Lutheri die konfessionelle Zersplitterung der Protestanten angreift, Quinta centuria (Eisleben 1570) gegen Cyriak Spangenbergs Lutherpredigten u. Sextae centuriae prodromus (Eisleben 1569) gegen Lucas Osianders Replik auf die zweite Centurie. Der an satir. u. zum Teil derb volkstüml. Einlagen reiche Zyklus provozierte protestant. Invektiven, so Fischarts Der Barfüsser Secten und Kuttenstreit (1570) u. »Nasenspiegel« (1571) bzw. Georg Nigrinus’ Von Bruder Johan Nasen Esel und seinem rechten Tittel (Oberursel 1570), dem N. mit Gasos Naxos Battologonos. GAsinus Nasi BattimonAnus (Ingolst. 1570. 1571) erwiderte. Eine Replik auf Fischarts antikath. Ausdeutung der Tierskulpturen des Straßburger Münsters (1576) lieferte N. im Reimgedicht Abcontrafeyhung und Außlegung etlicher seltzamer Figuren (Ingolst. 1588. Ed. in: Flugbl. Bd. 2, Nr. 45). Parodistische Kontrafakturen protestantischer Kirchenlieder bietet der Angelus paraeneticus contra solam fidem delegatus (Ingolst. 1588). In Predigt, Satire u. Polemik wandte N. eine leicht fassl. kontrapunktische Replikentechnik an, die in der Verbindung subtiler Bildung mit volkstümlichen Stilelementen seine Breitenwirkung begründete. So hat er, ähnlich Murner u. Fischart, maßgebl. Anteil an der Entwicklung des dt. Prosaschrifttums. Weitere Werke (sämtlich dt.): Siben Predig, v. dem hayligsten Sacrament des Altars [...]. Ingolst. 1565. – Antipraxeis to¯n astrologo¯n [griech.], das ist, die unfelig gewisest practica practicarum, auff das yetzig u. nachfolgende Jar [...]. Ingolst. 1566. – Ecclesia militans [...]. Ingolst. 1569 (Einblattdruck). Ed. in: Flugbl. Bd. 2, Nr. 19, S. 38 f. – Postilla Minorum das ist, die kleiner Postill u. kürtzeste Außlegung der Hl. Evangelien [...]. 2 Tle., Ingolst. 1571/72. – Examen chartaceae Lutheranorum Concordiae [...]. Ingolst. 1581. – Nova, supra nova novorum [...]. Das ist, allenthalb. Newezeittung, v. der Bergischen Vaetter Wundergeburt u. newangestellten Concordien [...]. Ingolst. 1581. – Praeludium in centurias hominum, sola fide perditorum [...]. Ingolst. 1588. – Ananeosis. Vieler wunderbarl. Religionshändel beschreibung [...]. Mchn. 1588. – Levita catholicus contra exodum pseudevangelicam [...]. Ingolst. 1589. Ausgaben: Textausw. in: Bayer. Bibl. Bd. 2, S. 2–5, 1276. – The Corpus Christi Sermons. An
Naso
501 Edition with Notes and Commentary by Richard Ernest Walker. Göpp. 1988. – Flugbl. Bd. 2, Nr. 16–17, 19, 20, 25, 45. – Wackernagel 5, S. 1023–1030. – Internet-Ed. mehrerer Werke in: VD 16 digital. Literatur: Bibliografien: Klaiber, S. 210–213. – Schöpf, S. 73–77. – Lins (s. u.). – VD 16. – Weitere Titel: Johann Baptist Schöpf: J. N. [...]. Bozen 1860 (Programm des K. K. Gymnasiums zu Bozen). – Ignaz Zingerle: Selbstbiogr. des J. N. In: ZfdPh 18 (1886), S. 488 f. – Heinrich v. Zeißberg: J. N. In: ADB. – Adolf Hauffen: Zu den Reimdichtungen des J. N. In: ZfdPh 36 (1904), S. 154–172, 445–472. – Bernardin Lins: Gesch. des früheren (oberen) Franziskaner Klosters in Ingolstadt. Ingolst. 1918, S. 27–40. – Adolf Hauffen: Johann Fischart. Bd. 1, Bln./Lpz. 1921, S. 107–121. – Arthur Venn: Die polem. Schr.en des Georg Nigrinus gegen J. N. [...]. Witten 1933. – Frederick Stopp: Der religiös-polem. Einblattdruck ›Ecclesia Militans‹ (1569) des J. N. u. seine Vorgänger. In: DVjs 39 (1965), S. 588–638. – Hans-Georg Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 2: Konfessionalismus. Tüb. 1987, Register. – HKJL, Bd. 2, Sp. 1622 f. – Timothy Nelson: Die verkehrte Welt. In: Europhras 90 [...]. Hg. Christine Palm. Stockholm 1991, S. 155–161. – Ders.: ›O du armer Luther ... ‹ Sprichwörtliches in der antiluth. Polemik des J. N. (1534–90). Bern u. a. 1992. – Harry Oelke: Die Konfessionsbildung des 16. Jh. im Spiegel illustrierter Flugblätter. Bln. u. a. 1992, Register. – Remigius Bäumer: J. N. In: NDB. – H. Oelke: Konfessionelle Bildpropaganda des späten 16. Jh. Die N.-Fischart-Kontroverse 1568/71. In: ARG 87 (1996), S. 149–200. – Ekkart Sauser: J. N. In: Bautz. – Stephan Diller: Das Leben u. Wirken des fränk. Kontroverstheologen J. N. [...] im Zeitalter der kath. Reform u. Gegenreformation. In: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 61 (1999), S. 67–79. – Richard Ernest Walker: The Uses of Polemic. The ›Centuriae‹ of J. N. Göpp. 2000. – Kai Bremer: Religionsstreitigkeiten [...]. Tüb. 2005. Robert Pichl / Red.
Naso, Eckart von, * 2.6.1888 Darmstadt, † 13.11.1976 Frankfurt/M. – Dramaturg, Erzähler u. Biograf. Der Sohn des späteren Generalleutnants Ludwig von Naso ging in Breslau auf das Gymnasium, studierte Jura in Göttingen, Berlin u. Halle (Die Unterscheidung von Mord und Totschlag mit Berücksichtigung der modernen Gesetzesentwürfe. Diss. Breslau 1916). Nach dem Referendariat in Nimptsch nahm er als
Offizier am Krieg teil, wurde schwer verwundet u. arbeitete ab 1916 als Sekretär, Dramaturg u. Regisseur am Staatlichen Schauspielhaus Berlin. 1945 wechselte er als Dramaturg nach Wiesbaden, 1950 nach Frankfurt/M. u. lebte seit 1953 als freier Schriftsteller in München. Nach einigen Dramen wandte sich N. der histor. Belletristik zu u. hatte ersten Erfolg mit der Novelle Die Chronik der Giftmischerin (Bln. 1926. Neuaufl. u. d. T. Pariser Nokturno. 1952). Es folgten der Roman Seydlitz (Bielef. 1932), eine Novelle über das Zusammentreffen Napoleons mit Königin Luise, Die Begegnung (Bielef. 1936), die Biografie Moltke (Bln. 1937), der Alkibiades-Roman Der Halbgott (Ffm. 1949) u. der Ovid-Roman Liebe war sein Schicksal (Hbg. 1958). N.s histor. Erzählungen, Romane u. Biografien, deren Auflage einige Hunderttausend Exemplare erreichte u. die der gehobenen Unterhaltungsliteratur zugerechnet werden, sollen die »überzeitliche Bedeutung« (Naso) zentraler Ereignisse im Leben wichtiger Persönlichkeiten der Geschichte, meist des alten Preußens, darstellen. Das Politisch-Allgemeine wird dabei auf private Konflikte reduziert. Gegenwartsthemen nahm N. in den Romanen Menschen unter Glas (Bln. 1930) u. Scharffenberg (Bln. 1935) auf. Für den Film schrieb er die Vorlagen zu Der Schritt vom Wege (1939. Zus. mit Gerg C. Klaren; nach Fontanes Effi Briest) u. zu Friedemann Bach (1940). Die Bände Ich liebe das Leben (Hbg. 1953) u. Glückes genug (Hbg. 1963) enthalten N.s Lebenserinnerungen. Weitere Werke: Preuß. Legende. Bln. 1939. Ffm. 1981. 1991 (N.). – Der Rittmeister. Bln. 1942 (N.). – Die große Liebende. Ffm. 1950 (R.). – Spannungen. Orléans, Worms, Jena. Hbg. 1952 (N.n). – Heinrich Schlusnus (zus. mit Annemay Schlusnus). Hbg. 1957 (Biogr.). – Flügel des Eros. Hbg. 1960 (R.). – Caroline v. Schlegel oder Dame Lucifer. Ffm. 1969 (Biogr.). Matías Martínez / Red.
Naters
Naters, Elke, * 5.1.1963 München. – Verfasserin kritischer sozialer Prosa, Protagonistin der »Pop-Literatur«.
502 Literatur: Thomas Tebbe: E. N. In: LGL. Friedbert Aspetsberger
N. bietet als Biografie bes. ihr Handwerk an: Nathusius, Marie (Karoline Elisabeth immer eine zweijährige Ausbildung als Da- Luise) von, geb. Scheele, * 10.3.1817 menschneiderin in München, meist: »stu- Magdeburg, † 22.12.1857 Neinstedt/ dierte Foto und Kunst in Berlin«, weiters Harz. – Erbauungsschriftstellerin, Lie»Kostümbildnerin«, »Designerin« oder ähn- derdichterin. lich. Dazu Internationalität u. lokale u. fa- Die Pfarrers- (u. spätere Superintendenten-) miliär-soziale Bindungen: »lebt in Berlin und tochter N., verheiratet (seit 1841) mit dem Bangkok«, »zwei Kinder und ein Mann« Fabrikanten u. geistl. Lyriker Philipp Na(bisher auch literar. Zusammenarbeit mit thusius, hat ihr kurzes Leben voll ausgenutzt. Sven Lager). Selbst Mutter von sieben Kindern, gründete N. schreibt handwerklich perfekt u. lau- u. leitete sie gemeinsam mit ihrem Mann eine fend. Sie ist in der späten »popkulturellen« ganze Anzahl von karitativen Anstalten für Literaturphase, also in deren dezidierter Kinder, Jugendliche, Kranke u. Frauen. Zeitgenossenschaft zu Konsum-Welt u. LifeN.’ pietistisch-christl. Erzählungen, die style-Kultur, die nicht-spektakuläre, konser- meist in dem von ihrem Mann herausgegevativ eindrucksvolle Erzählerin der mit benen »Volksblatt für Stadt und Land« erChristian Kracht, Benjamin von Stuckrad- schienen u. gute Menschenkenntnis zeigen, Barre u. a. bestimmten Kohorte von Autorin- hatten in christl. Lesekreisen immensen u. bis nen u. Autoren. Die ideologischen u. literar. in die 1920er Jahre anhaltenden Erfolg, so Wurzeln ihres kompakten Erzählens be- Das Tagebuch eines armen Fräuleins (Halle 1854, schränkter Verhältnisse reichen zu Douglas wie alle zu N.’ Lebzeiten erschienenen Werke Coupland (Generation X) u. B. E. Ellis (American zunächst anonym). Der im Zeitkontext der Psycho). Ihre Heldinnen u. Helden sind auf ein Rezeption in demokratischen u. pietist. Glamour- u. Wahrheitsangebot des Lebens Kreisen der 1848er-Revolution spielende Rofixiert, was N. in einem behavioristisch ge- man Rückerinnerungen aus einem Mädchenleben prägten Realismus fasst: Waren-Anblicke u. (Halle 1855) bedient sich einer Erzählstrateandere Glücksfixierungen sind immer auch gie, die auf Identifikation der Leserin mit der humane Mobilisierungen, Konkurrenzen u. gemütvollen, selbstbewussten Heldin KlärZiele. Die bedürfnisreichen, verhemmt-offe- chen ausgerichter ist, doch diese Geschichte nen Charaktere zeichnen sich durch Hinga- einer Bekehrung wird nicht, wie üblich in befähigkeit, Verletzlichkeit, gespielte Unver- solcher Literatur, durch frommen Kommenwüstlichkeit, nicht immer durch Überle- tar Dritter, sondern durch den reflektierten bensfähigkeit aus (vgl. den Alkoholkonsum, Umgang Klärchens mit ihren Erlebnissen u. den Lebensekel, den Todeskampf Franks in den Zeitdebatten flankiert, ein Prozess, den Mau Mau. Köln 2002, oder das Verschwinden sie hier in ihren Erinnerungen nachvollzieht. Justynas im Mahlstrom des Caps (der Guten In Elisabeth. Eine Geschichte, die nicht mit der 14 Hoffnung!), bei dem ihre (Ver-)Kleidung am Heirat endet (Halle 1858. 1886), »ein[em] Strand liegen bleibt, in Justyna. Köln 2006, Bildungsroman mit Abweichungen vom doR.). Literarische Orientierungen werden ge- minierenden, auf männliche Helden konkonnt verarbeitet (Justyna nach de Sades zentrierenden Gattungsmodell«, wird die erzielte Rezeptionsperspektive ebenfalls Justine). nicht »über eine auktoriale Erzählerfigur, Weitere Werke: Königinnen. Köln 1998 (R.). – Lügen. Köln 1999 (R.). – G.L.A.M. Köln 2001. – the sondern dialogisch und figurenperspektiBuch. leben am pool. Köln 2001 (hg. zus. mit Sven visch gesteuert« (Kormann). Das Ehepaar N. war mit Hoffmann von Lager). – Durst Hunger Müde. Köln 2004 (hg. zus. mit S. Lager). – Gebrauchsanweisung für Südafrika. Fallersleben eng befreundet, u. N. vertonte Mchn. 2010 (zus. mit S. Lager). seine Lieder: Vierzig Kinderlieder von Hoffmann
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von Fallersleben (Lpz. 1847), darunter Alle Vögel sind schon da. Postum erschienen ihre Hundert Lieder, geistlich und weltlich, ernsthaft und fröhlich [...] (Halle 1865). Ihre in z.T. führenden Verlagen erschienenen Werke in engl. Übersetzung machten N. in kirchl. Kreisen Großbritanniens u. der Vereinigten Staaten (auch in Frankreich u. Skandinavien) auf Generationen hin bekannt. Ausgabe: Ges. Schr.en. 15 Bde., Halle 1858–69 (mit einem Lebensbild v. Philipp Nathusius u. d. T. Lebensbild eines Heimgegangenen). Literatur: Hoffmann v. Fallersleben: Mein Leben. Halle 1886. – Margarete Dierks: N. In: LKJL. – Heike Steinhorst: M. N. In: Prolegomena zur Kultur- u. Literaturgesch. des Magdeburger Raumes. Hg. Gunter Schandera u. Michael Schilling. Magdeb. 1999, S. 233–251. – Eva Kormann: M. N.: Elisabeth. Eine Gesch., die nicht mit der Heirat endet (1858) u.: Rückerinnerungen aus einem Mädchenleben. In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen. Hg. Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb. u. a. 2006, S. 311–313. – Matthias Puhle (Hg.): Die Seele möchte fliegen. Ein Frauenleben zwischen Anpassung u. Aufbruch. M. N. 1817–57. Halle 2007. Eda Sagarra
Natonek, Hans, auch: N. O. Kent, * 28.10. 1892 Prag, † 23.10.1963 Tucson/Arizona. – Erzähler u. Journalist. N. studierte in Wien u. Berlin Philosophie u. begann seine Laufbahn als Journalist 1913 bei der Zeitschrift »Aktion«. Seit 1917 lebte er in Leipzig u. schrieb für die »Frankfurter Zeitung«, die »Vossische Zeitung«, das »Berliner Tageblatt«, die »Weltbühne« u. für zahlreiche kleine satir. Blätter, oft unter seinem Pseud. 1933 musste er als getaufter Jude Leipzig verlassen u. kehrte nach Prag zurück. Im Nov. 1938 floh er nach Paris. Einen Tag nach dem Einmarsch der dt. Wehrmacht in Frankreich floh er über Marseille nach Lissabon, Ende 1941 völlig mittellos nach New York. 1944 zog er nach Tucson. Als Journalist schrieb N. geistreiche Feuilletons, Kritiken, Essays u. Glossen, die 1927 u. d. T. Schminke und Alltag (Lpz.) gesammelt erschienen. Als Zeitkritiker, der dem polit. Klimawechsel u. geheimen Verunsicherungen nachspürte, schrieb er zwei Romane über
Natonek
die Welt des »großen Geldes«, der internat. Konzerne u. Industriebosse. In Der Mann, der nie genug hat (Wien 1929) unterschlägt der kleine Bankangestellte Adalbert Weichhardt eine größere Summe u. flieht nach Paris. Doch sein Traum, mit Hilfe des Geldes aus der »unentrinnbaren Klebrigkeit meiner Mittelklasse« zu entkommen, gelingt ihm erst durch einen spektakulären Ozeanflug nach Amerika. Er wird berühmt u. am Ende reich. Im Roman Geld regiert die Welt (Wien 1930) will Weichhardt, nun selbst einer der Mächtigen, sein Geld dem revolutionären Idealisten Kelsen übereignen, der in seinen Schulen »Kämpfer für eine klassenlose Gesellschaft« ausbildet. N.s kapitalismuskrit. Bücher sind keine sensationellen Enthüllungsgeschichten oder bitterbösen Abrechnungen, sondern eher brillante u. spannende Diskurse über die Macht des Geldes. 1931 erhielt N. für sein Gesamtschaffen den Goethe-Preis der Stadt Leipzig. 1932 erschien Kinder der Stadt (Wien Neuausg. 1987), ein Zeitroman aus der Presseszene u. zgl. die eindrucksvolle Studie einer Rache, die der kleinbürgerlich-jüd. Aufsteiger Dowidal an jenen nimmt, die ihn einst verspottet u. gedemütigt hatten. Ungeachtet stilistischer u. kompositor. Mängel sind N.s Romane als beachtl. Zeitromane lesenswert. Weitere Werke: Der Schlemihl. Ein Roman vom Leben Adelbert v. Chamissos. Amsterd. 1936. – In Search of Myself. New York 1944 (Autobiogr.). – Nachlass: Die Straße des Verrats. Publizistik, Briefe u. ein Roman. Mit Nachw. v. Wolfgang U. Schütte. Bln. 1982. – Blaubarts letzte Liebe. Wien/ Darmst. 1988 (R.). – Im Geräusch der Zeit: ges. Publizistik 1914–33. Hg. Steffi Böttger. Lpz. 2006. – Briefw. (1946–62). Hg. dies. Lpz. 2008. Literatur: Christel Foerster: Wer war H. N. In: NDL 31, H. 7 (1983), S. 154–158. – Jürgen Serke: Böhm. Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literar. Landschaft. Wien/Hbg. 1987, S. 87–129. – Klaus Ulrich Werner: Der Feuilletonist u. Romancier H. N. im Exil. In: Exilforsch. 7 (1989), S. 155–165. – Dagmar Malone: H. N. In: Dt. Exillit., Bd. 2, S. 704–24. – Ivana Galková u. Armin A. Wallas: Über H. N. In: LuK 299/300 (1995), S. 103–108. – Eckart Früh: H. N. Wien 2004 (S. 6–22 Bibliogr.). Hans J. Schütz † / Red.
Natorp
Natorp, Paul, * 24.1.1854 Düsseldorf, † 17.8.1924 Marburg. – Philosoph u. Pädagoge. Aus einer Pfarrersfamilie stammend, studierte N. in Berlin, Bonn u. Straßburg (Promotion 1875). Die Entscheidung für die Philosophie brachte die Bekanntschaft mit dem Kantianismus von Friedrich Albert Lange u. Hermann Cohen. Seit 1880 in Marburg, habilitierte er sich über Descartes’ Erkenntnistheorie (Marburg 1882). 1885 wurde er a. o., 1893 als Nachfolger von Julius Bergmann o. Prof. für Philosophie u. Pädagogik. Wichtigstes Resultat von N.s pädagog. Arbeit ist die Sozialpädagogik (Stgt. 1899. 71974), in der das Gemeinschaftsprinzip der Bildung philosophisch begründet wird. Kritisch gegenüber Herbart u. Dilthey, knüpfte N. in freier Weise an Platon u. Pestalozzi an. Wiederholt nahm er auch zu bildungspolit. Fragen Stellung, etwa zur Lehrerbildung, zur Erwachsenenfortbildung u. gegen den konfessionell-dogmat. Religionsunterricht. Er setzte große Hoffnungen auf die kulturelle u. soziale Erneuerung durch die dt. Jugendbewegung. Als spezifisch Deutscher Weltberuf (Jena 1918) galt ihm die Sorge für den einen menschheitl. Geist, in dem die nat. Selbstsucht überwunden u. ein freier, genossenschaftl. u. pazifist. Sozialismus verwirklicht werden könnte. Zus. mit seinem Kollegen u. Freund Hermann Cohen begründete N. die Marburger Schule des Neukantianismus. Schon die These seines einflussreichen Buches Platos Ideenlehre (Lpz. 1903. Erw. Aufl. 1921), in dem er zeigte, dass Ideen Gesetze, nicht Dinge bedeuteten, gab seiner funktionalen Erkenntnistheorie Profil. In Weiterführung der transzendentalen Logik Kants verstand er den Gedanken der synthet. Einheit als die Grundrelation des Einen u. Mannigfaltigen (»korrelativistischer Monismus«). In der Entfaltung dieser Grundrelation erblickte er das Gesetz des Erkenntnisprozesses: der unendl. Aufgabe der Bestimmung des Gegenstands verpflichtet zu sein. In den Logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften (Lpz. 1910) entwickelte er ein System der log. Grundfunktionen, um in diesem die proble-
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matisch gewordenen Grundbegriffe der Mathematik u. Physik philosophisch neu zu fundieren. Die Abgrenzung dieser objektiven Erkenntnisbegründung von einer subjektivpsychologischen führte bei N. schon früh zu einer neuartigen philosoph. Psychologie (Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode. Freib. i. Br. 1888. Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode. Tüb. 1912), die in Korrelation zur objektiven Beziehung der Erscheinung auf den Gegenstand die subjektive Beziehung auf das Bewusstsein zu rekonstruieren unternahm. N. blieb nicht beim Problem der Erkenntnisbegründung stehen. Seine Philosophie (Gött. 1911) skizzierte eine philosoph. Systematik, deren Basis im Sollen gefunden wird, das Logik u. Ethik verbindet. Der Anspruch der Religion (Religion innerhalb der Grenzen der Humanität. Tüb. 1894. Erw. 21908) wird unter Berufung auf Schleiermacher mit dem Ausdruck »Gefühl« aufgenommen, verstanden als Selbsterlebnis unmittelbarer Einheit. Nach 1912 beschäftigte N. das Projekt einer Allgemeinen Logik, worin der übergreifende Sinnzusammenhang des Logos konstruiert werden sollte. Sinnprobleme überlagerten nun das Konstitutions- u. Geltungsproblem der theoret. Erkenntnis. N.s philosoph. Systematik entwickelte sich damit zu einer Metaphysik mit Zügen der Mystik Meister Eckharts, ohne ihre kritisch-rationale Ausrichtung auf die Bewusstwerdung der Vernunft »bis zu ihrem eigenen letzten Grunde« preiszugeben. Weitere Werke: Sozialismus. Neue Richtlinien sozialer Erziehung. Bln. 1920. – Vorlesungen über prakt. Philosophie. Erlangen 1925. – Philosoph. Systematik. Aus dem Nachl. Hg. Hans Natorp. Hbg. 1958. Literatur: Eberhard Winterhager: Das Problem des Individuellen. Ein Beitr. zur Entwicklungsgesch. P. N.s. Meisenheim 1975. – Inge Krebs: P. N.s Ästhetik. Bln. 1976. – Judy Deane Saltzmann: P. N.’s Philosophy of Religion within the Marburg Neokantian Tradition. Hildesh. 1981. – Christoph v. Wolzogen: Die autonome Relation. Zum Problem der Beziehung im Spätwerk P. N.s. Würzb. 1984. – Gerhard Arlt: Subjektivität u. Wiss. Zur Psychologie des Subjekts bei N. u. Husserl. Würzb. 1985. – Gabriele Mückenhausen: Wissenschaftstheorie u. Kulturprogressismus. Studien zur Phi-
505 losophie P. N.s. Bonn 1986. – Helmut Holzhey: Cohen u. N. 2 Bde., Basel/Stgt. 1986. – Gianna Gigliotti: Avventure e disavventure del trascendentale. Studio su Cohen e N. Neapel 1989. – Norbert Jegelka: P. N. Würzb. 1992. – Karl-Heinz Lembeck: Platon in Marburg. Würzb. 1994. – Nils Bruhn: Vom Kulturkritiker zum ›Kulturkrieger‹. P. N.s Weg in den ›Krieg der Geister‹. Würzb. 2007. Helmut Holzhey / Red.
Naubert, (Christiane) Benedikte (Eugenie), geb. Hebenstreit, * 13.9.1756 Leipzig, † 12.1.1819 Leipzig. – Romanautorin, Erzählerin, Übersetzerin. Die Tochter des Leipziger Medizinprofessors Johann Ernst Hebenstreit erwarb im Privatu. Selbstunterricht gute Kenntnisse der Geschichte u. Philosophie sowie der klass. u. neueren Sprachen. Ihre erste Ehe (mit Lorenz Wilhelm Holderieder) führte sie nach Naumburg, wo sie später Johann Georg Naubert heiratete. Kurz vor ihrem Tod kehrte sie nach Leipzig zurück. Ihrem ersten Roman (Heerfort und Klärchen. 2 Bde., Lpz. 1779. Neudr. mit einem Nachw. v. Gerhard Sauder. Hildesh. 1982) folgten mehr als 50 Werke, die bis 1818 anonym erschienen. N. gilt als Hauptvertreterin des histor. Romans im Deutschland des ausgehenden 18. Jh. Diesem zum Abenteuer- u. Schauerroman tendierenden Romantypus lieferten Historiografie, Sagen, Chroniken u. Erfindung den Stoff. Bezeichnend sind die Titel Walter von Montbarry, Großmeister des Tempelordens (2 Bde., Lpz. 1786. Neudr. hg. v. Sylvia Kolbe. Lpz. 2007), Herrmann von Unna, eine Geschichte aus den Zeiten der Vehmgerichte (2 Bde., Lpz. 1788), Alf von Dülmen, oder Geschichte Kaiser Philipps und seiner Tochter (2 Bde., Lpz. 1791). N. verwendet in diesen Romanen ein zweischichtiges Erzählmodell, worin sie das Schicksal fiktiver oder halbfiktiver Figuren in einen histor. Rahmen einbettet u. eng miteinander verbindet. Die Romane beschreiben, wie ihre Erlebnisse mit denen von tatsächlich histor. Personen u. großen histor. Ereignissen zusammenhängen. Oft sind die Protagonisten Frauen oder Liebespaare. Die neuere Forschung schenkt der Schlüsselstellung von Frauen bes. Aufmerksamkeit: N. betone die
Naubert
vergessene Rolle von Frauen in vergangenen Zeiten. N. veröffentlichte drei Märchensammlungen: Neue Volksmährchen der Deutschen (5 Bde., Lpz. 1789–93. Neudr. hg. v. Marianne Henn, Paola Mayer u. Anita Runge. Gött. 2001), Alme, oder ägyptische Mährchen (5 Bde., Lpz. 1793–97), Velleda, ein Zauberroman (Lpz. 1795). Diese folgen einem ähnl. Schema wie die histor. Romane. N. kombiniert Geschichte u. Sagenstoffe aus einer Reihe verschiedener Quellen u. versieht die Handlung lose mit einem histor. Gerüst. Außerdem verfertigte sie Übersetzungen, hauptsächlich von empfindsamen Familienromanen frz. u. engl. Autorinnen (Mme de Malarme, Phebe Gibbes, Ann Howell, Elizabeth Sandham, Susannah Gunning, Sarah Sheriffe). Nach der Jahrhundertwende erschienen zahlreiche Erzählungen u. Gedichte N.s in namhaften Journalen, u. a. in »Journal für deutsche Frauen« (Hg. Wieland, Seume u. Rochlitz), »Selene« (Hg. Rochlitz), »Frauenzimmer-Almanach«, »Zeitung für die elegante Welt« u. »Minerva«. N.s Werke wurden ins Französische, Englische, Niederländische u. Dänische übersetzt. Von ihren Zeitgenossen geschätzt, lieferte sie späteren Autoren, wie M. G. Lewis, Oehlenschläger u. Grillparzer Anregungen u. Motive. Mit dem von ihr entwickelten »Zweischichtenroman« wurde ihr ein Einfluss auf Walter Scott nachgesagt, der inzwischen aber in Zweifel gezogen wird. Die feminist. Forschung schlägt vor, ihr Œuvre innerhalb einer weibl. Literaturtradition zu interpretieren, u. sieht Parallelen zwischen ihrem Werk u. dem von Autorinnen wie z.B. Sophia Lee u. Gisela von Arnim. Weitere Werke: Gesch. Emma’s Tochter Kayser Karls des Grossen u. seines Geheimschreibers Eginhard. 2 Bde., Lpz. 1785. – Gesch. der Gräfin Thekla v. Thurn. 2 Bde., Lpz. 1788. – Hatto, Bischoff v. Maynz. Lpz. 1789. – Elisabeth, Erbin v. Toggenburg. Lpz. 1789. – Barbara Blomberg, vorgebl. Maitresse Kaiser Karls des Fünften. Lpz. 1790. – Werner Graf v. Bernburg. 2 Bde., Lpz. 1790. – Edwy u. Elgiva oder die Wunder des hl. Dunstan. Lpz. 1791. – Ulrich Holzer, Bürgermeister in Wien. 2 Bde., Wien 1793. – Fontanges, oder das Schicksal der Mutter u. der Tochter. Lpz. 1805. – Eudocia, Gemahlin Theodosius des Zweyten. 2 Bde., Lpz. 1806/07. – Heitre Träume, in kleinen Erzählungen.
Nauclerus
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Lpz. 1806. – Wanderungen der Phantasie in die Gebiete der Wahrheit. Lpz. 1806. – Attilla’s Schwerdt, oder die Azimuntinerinnen. Naumb. 1808. – Briefe: ›Sich rettend aus der kalten Würklichkeit‹. Die Briefe B. N.s. Ed. – Kritik – Komm. Hg. Nikolaus Dorsch. Ffm. 1986. Literatur: Christine Touaillon: Der dt. Frauenroman des 18. Jh. Wien/Lpz. 1919. – Lieselotte E. Kurth: Historiographie u. histor. Roman: Kritik u. Theorie im 18. Jh. In: MLN 79 (1964), S. 337–362. – Kurt Schreinert: B. N.: Ein Beitr. zur Entstehungsgesch. des histor. Romans in Dtschld. Neudr. der Ausg. Bln. 1941. Nendeln 1969. – Jeannine Blackwell: Fractured Fairy Tales: German Women Authors and the Grimm Tradition. In: GR 62, Nr. 4 (1987), S. 162–174. – Dies.: Die verlorene Lehre der B. N.: die Verbindung zwischen Phantasie u. Geschichtsschreibung. In: Untersuchungen zum Roman v. Frauen um 1800. Hg. Helga Gallas u. Magdalene Heuser. Tüb. 1990, S. 148–159. – Shawn C. Jarvis: The Vanished Woman of Great Influence: B. N.’s Legacy and the German Women’s Fairy Tales. In: In the Shadow of Olympus: German Women Writers around 1800. Hg. Katherine R. Goodman u. a. Albany 1992, S. 189–209. – Anita Runge: Literar. Praxis v. Frauen um 1800. Briefroman, Autobiogr., Märchen. Hildesh. 1997. – Victoria Scheibler: Phantasie u. Wirklichkeit. B. N. im Spiegel ihrer späten Romane u. Erzählungen (1802–20). Ffm. 1997. – Hilary Brown: B. N. and her Relations to English Culture. Leeds 2005. – Catharina Oerke: Gattungsexperiment u. Ägyptenkonstruktion. B. N.s ›Alme oder Egyptische Mährchen‹ (1793–97). Gött. 2006. – Laura Martin: B. N.s ›Neue Volksmärchen der Deutschen‹. Strukturen des Wandels. Würzb. 2006. Manfred Heiderich / Hilary Brown
Nauclerus, Johannes, eigentl.: J. Verge, J. Vergenhans, * 1425, † 5.1.1510 Tübingen; Grabstätte: ebd., Stiftskirche. – Jurist u. Chronist. Der Sohn eines Ministerialen der württembergischen Grafen war seit 1450 Erzieher Eberhards von Württemberg, mit dem ihn zeitlebens freundschaftl. Beziehungen verbanden. Spätestens seit 1459 hielt N. die Propstei der Stuttgarter Stiftskirche, 1464 erscheint er in der Basler Universitätsmatrikel als »decretorum doctor«, im folgenden Jahr lehrte er an dieser Universität. In den 1460er u. 1470er Jahren hatte er u. a. Pfarr-
herrenstellen in Weil der Stadt u. Brackenheim inne. Einflussreich war N. zumal als erster Rektor der 1477 gegründeten Universität Tübingen: Er erwirkte die päpstl. Fundationserlaubnis, konzipierte nach Basler Muster die Universitätsverfassung u. beeinflusste die Berufung eines renommierten Professorenkollegiums, dem er als Kanonist selbst angehörte; u. a. bezeichneten sich Michael Köchlin (Coccinius) u. Jakob Mennel (Manlius), der Hofgeschichtsschreiber Kaiser Maximilians I., als seine Schüler. 1482 bis 1509 war N. Propst (d. i. Vertreter des Papstes als des obersten Aufsehers) u. Kanzler der Universität. Als Richter des Schwäbischen Bundes ist er 1500 bezeugt, als Gesandter der württembergischen Grafen (Herzöge seit 1495) u. des Hirsauer Abts war er u. a. in Rom, Mantua u. Maastricht. Neben jurist. Gelegenheitsarbeiten verfasste N. wohl um 1498–1504 eine lat. Weltchronik von der Schöpfung bis ins Jahr 1501. Sie wurde erst nach seinem Tod mit Vorreden Reuchlins u. des Erasmus in einer von dem Trithemius-Schüler Nicolaus Baselius redigierten u. bis 1515 fortgeschriebenen Fassung gedruckt (Tüb.: Thomas Anshelm 1516. 2 1544. 91675. VD 17). Die zwei Bände dieser Memorabilium omnis aetatis et omnium gentium chronici commentarii gliedern die Weltgeschichte in Folgen von 63 u. 50 Generationen, zwischen denen die Geburt Christi die Zäsur bildet. Die tradierten Schemata der sechs Weltalter u. vier Weltreiche treten demgegenüber, jedoch nicht zur Gänze, zurück. Der ungewöhnlich belesene Autor berücksichtigt (als Erster nördlich der Alpen) die zeitl. Schichtung primärer u. sekundärer Quellen. Die entsprechende methodolog. Reflexion am Beginn der Chronik geht indes auf die Methasthenes-Fälschung des Johannes Annius Viterbiensis (Giovanni Nanni) zurück u. hat die Rezeption des Annianischen Falsifikate-Corpus in Deutschland wesentlich befördert. Eine dt. Übersetzung der Chronik, die aber ungedruckt blieb, begann der Historiker Heinrich Pantaleon. Literatur: Erich Joachim: J. N. u. seine Chronik. Diss. Gött. 1874. – Karl Steiff: Der erste Buchdruck in Tübingen. Tüb. 1881. – Lier: N. In:
507 ADB. – Paul Joachimsen: Geschichtsauffassung u. Geschichtsschreibung in Dtschld. unter dem Einfluß des Humanismus. Lpz./Bln. 1910. – Johannes Haller: Die Anfänge der Univ. Tübingen. 1477–1537. 2 Bde., Stgt. 1927–29. – Hermann Haering: Johannes Vergenhans, gen. N. In: Ders. (Hg.): Schwäb. Lebensbilder 5. Stgt. 1950, S. 1–25. – Werner Goez: Die Anfänge der histor. MethodenReflexion in der ital. Renaissance u. ihre Aufnahme in der Geschichtsschreibung des dt. Humanismus. In: AKG 56 (1974), S. 25–48. – Gerhard Theuerkauf: Soziale Bedingungen humanist. Weltchronistik. Systemtheoret. Skizzen zur Chronik N.’. In: FS Otto Herding. Stgt. 1977, S. 317–340. – Walther Ludwig: Johannes Vergenhans über Eberhard im Bart u. Heinrich Bebel über Johannes Vergenhans. In: Ztschr. für württemberg. Landesgesch. 59 (2000), S. 29–41. Peter Strohschneider / Red.
Naumann, Christian Nikolaus, * 6.12. 1720 Bautzen, † 15.2.1797 Görlitz. – Lyriker, Verfasser philosophisch-moralischer Schriften. Im Anschluss an den Besuch des Gymnasiums in Bautzen studierte der Beamtensohn in Leipzig, Rostock u. Halle Rechtswissenschaft. Nach dem Tod des Vaters wandte sich N. ganz der Literatur zu. 1749 wurde er in Jena zum Magister der Philosophie promoviert. In der Folgezeit hielt er sich als Privatlehrer in verschiedenen Städten auf, bevor er um 1777 in Görlitz heimisch wurde. N.s Werk besteht vornehmlich aus philosophisch-moral. Gedichten u. Aufsätzen. Während die Scherzhaften Lieder (Hbg. 1743) im Zeichen der Anakreontik stehen, preisen Naturlyrik (Von der Majestät des Schöpfers in den Werken der Natur. Jena 1750) u. Oden in religiöser Grundstimmung Gottes Schöpfung. Die Verssatiren in den Sammlungen Satyrische Gedichte (Ffm. 1751), Empfindungen für die Tugend in satyrischen Gedichten (Ffm. 1752) u. Satyren (Magdeb., Ffm., Lpz. 1763) weisen N. als zeitkrit. Sittenlehrer aus. Auch die moralisch-ästhet. Abhandlungen sind von einem starken pädagog. Impetus geprägt (Von dem Erhabenen in den Sitten. Erfurt 1751. Sittliche Schilderungen. Erfurt 1752). N. beteiligte sich an zahlreichen moral. Zeitschriften, die seine Freunde Christlob Mylius, Abraham Gotthelf Kästner u. andere
Naumann
publizierten. Einige Periodika gab N. selbst heraus, doch waren diese journalist. Versuche nur kurzlebig. Er edierte Lyrik von Loen (Moralische Gedichte. Ffm. 1751). Weitere Werke: Erfahrungsurteile über den Unterschied des Guten u. des Bösen. Erfurt 1752. – Empfindungen für die Tugend in satyr. Gedichten. Ffm. 1752. – Satyr. u. moral. Versuche. Erfurt 1752. – Nimrod. Ein Heldengedicht. Ffm./Lpz. 1752. Literatur: Franz Muncker: N. In: ADB. Peter Heßelmann
Naumann, Friedrich, * 25.3.1860 Störmthal bei Leipzig, † 24.8.1919 Travemünde. – Publizist u. Politiker. Der Sohn eines evang. Pfarrers besuchte die Fürstenschule St. Afra in Meißen u. wirkte nach dem Studium der Theologie als Geistlicher der Inneren Mission in Frankfurt/M. Beeinflusst von dem Führer der ChristlichSozialen Bewegung Adolf Stoecker, forderte N. die Reformierung des dt. Protestantismus in sozialem Geist (Aufsatzsammlung Was heißt christlich-sozial? Lpz. 1894), stieß in der Kirchenleitung allerdings auf Unverständnis u. Widerstand. In der Folge entwickelte N. das Konzept eines nat. Sozialismus, gründete 1894 die Wochenschrift »Die Hilfe« u. 1896 den Nationalsozialen Verein, den er nach dem Misserfolg bei den Reichstagswahlen 1903 auflöste. Nachdem N. schon 1897 sein geistl. Amt aufgegeben hatte, widmete er sich nunmehr gänzlich der Politik, schloss sich der Freisinnigen Vereinigung an, war 1907–1918 Mitgl. des Reichstags u. wurde 1910 nach Gründung der Fortschrittlichen Volkspartei der anerkannte Führer des dt. Liberalismus. N.s Ziele waren die Verbindung von Arbeiterschaft u. Bürgertum als Trägerschichten der Monarchie (Demokratie und Kaisertum. Bln. 1900), die Schaffung freier Gewerkschaften (Neudeutsche Wirtschaftspolitik. Bln. 1902. 31917) u. ein nat. Imperialismus mit einem dt. Volkskaiser an der Spitze. Während des Ersten Weltkriegs propagierte er in dem weit verbreiteten Buch Mitteleuropa (Bln. 1915. Erw. 1916) eine wirtschaftl. Vorherrschaft Deutschlands auf föderalist. Basis. Als Mitbegründer der DDP u. deren Vorsitzender seit Juli 1918 setzte er sich im Verfassungs-
Neander
ausschuss energisch für die Grundrechte ein. Die von ihm 1917 initiierte Staatsbürgerschule war Vorstufe zur Gründung der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin 1920. Außerdem beteiligte er sich an der Schaffung des Werkbundes. N. wirkte auf seine Zeitgenossen, unter ihnen auch Theodor Heuss, durch seine eindrucksvolle Persönlichkeit u. sein rhetorisches Talent. Gemeinsam mit Theodor Barth bewirkte er die Erneuerung des Liberalismus in Deutschland. Ausgaben: Gotteshilfe. Ges. Andachten. 7 Bde., Gött. 1896–1902. – Gestalten u. Gestalter. Hg. Theodor Heuss. Bln. 1919. – Über Arbeiterschaft u. Staat. Lpz. 1929. – Ausgew. Schr.en. Ffm. 1949 (mit biogr. Einl. u. Bibliogr.). – Werke. 6 Bde., Köln 1964–69. Literatur: Bibliografie: Alfred Milatz (Hg.): F. N. Bibliogr. Düsseld. 1957. – Weitere Titel: Theodor Heuss: F. N. Der Mann, das Werk, die Zeit. Stgt. 1937. Neudr. Tüb. 1968. – Werner Conze: F. N. Grundlagen u. Ansatz seiner Politik in der nationalsozialen Zeit. In: FS Siegfried August Kaehler. Düsseld. 1950. – Dieter Düding: Der Nationalsoziale Verein 1896–1903. Mchn. 1972. – Ingrid Engel: Gottesverständnis u. sozialpolit. Handeln. Gött. 1972. – Peter Theiner: Sozialer Liberalismus u. dt. Weltpolitik. F. N. im Wilhelmin. Dtschld. Baden-Baden 1983. – Werner Jochmann: F. N. In: Gestalten der Kirchengesch. Bd. 10/1, Stgt. 1985. – Michael Panzer: Der Einfluß Max Webers auf F. N. Ein Bild der liberalen Gesellsch. in der wilhemin. u. nachwilhelmin. Ära. Würzb. 1986. – Walter Göggelmann: Christl. Weltverantwortung zwischen sozialer Frage u. Nationalstaat. Zur Entwicklung F. N.s 1860–1903. Baden-Baden 1987. – Hartmut Kramer-Mills: Wilhelmin. Moderne u. das fremde Christentum. Zur Wirkungsgesch. v. F. N.s ›Briefe über Religion‹. Neukirchen-Vluyn 1997. – Ralph Raico: Die Partei der Freiheit: Studien zur Gesch. des dt. Liberalismus. Stgt. 1999. Michael Behnen / Red.
Neander, Neumann, Neuander, Neiander, Joachim, * 1650 Bremen, † 31.5.1680 Bremen. – Reformierter Theologe u. Kirchenlieddichter. Der einer Familie reformierter Prediger entstammende N. studierte ab 1666 am Gymnasium illustre, der Bremer Hochschule, Theologie. Der pietist. Erweckungsprediger
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Theodor Undereyk (1635–1693) verhalf ihm 1670 zu einer Hauslehrerstelle in Frankfurt/ M., die es ihm ermöglichte, dort die Führer des luth. Pietismus kennenzulernen u. seine Studien in Heidelberg fortzusetzen. 1674 wurde er Rektor an der Lateinschule der reformierten Gemeinde in Düsseldorf, ein Amt, das auch Predigt u. Seelsorge einschloss. N. begann, nach dem Vorbild Speners u. Undereyks Privatversammlungen zu veranstalten, u. ging soweit, seine Anhänger vom Besuch des öffentl. Gottesdienstes abzuhalten. Vom Predigtamt u. später auch vom Schuldienst suspendiert, machte N. Wanderungen in die Umgebung, wobei ihm das Tal der Düssel zum bevorzugten Aufenthaltsort wurde (Zeitgenossen benannten das Tal nach N.). In dieser Zeit sind viele seiner Lieder entstanden. 1677 wurde N. rehabilitiert, nachdem er sich den Forderungen der Gemeinde u. der Presbyter unterworfen hatte; 1679 wurde er als Frühprediger nach St. Martin in Bremen berufen. Eine erstaunlich große Zahl seiner Lieder hat bald den Weg in die luth. u. reformierten Gesangbücher gefunden. Sie haben N. einen bleibenden Platz als Liederdichter der christl. Kirche gesichert. N. hat die Publikation seiner Dichtungen vielleicht gerade noch erlebt. Sie erschienen u. d. T. Glaub- und Liebes-Ubung: Auffgemuntert durch einfältige Bundes-Lieder und Danck-Psalmen (Bremen 1680; etwa 20 Aufl.n bis 1730). Die Sammlung enthält 57 Lieder, darunter 42 mit von N. selbst verfassten Melodien. Die Nähe zur Natur, die Bindung an die Bibel, bes. die Psalmen, bewahren die Lieder vor dem Abgleiten in Sentimentalität u. Klischee. Gemeinsam sind ihnen die kurzen u. einfachen Formen, ein kräftiger, doch inniger Ton sowie die eindrucksvollen Bilder. Dafür ist das schnell volkstümlich gewordene Danklied Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren, mit dem N. den verpönten Daktylen Eingang ins Kirchenlied sicherte, ein gutes Beispiel. Auch andere seiner Lieder wurden beliebt, darunter Sieh hier bin ich, Ehrenkönig, oder das Abendlied Der Tag ist hin, Herr Jesu bei mir bleibe. Ausgaben: Bundeslieder u. Dankpsalmen v. 1680. Hist.-prakt. Ausg. Hg. Oskar Gottlieb Blarr. Köln 1984. – Glaub- u. Liebes-Ubung [...]. Bremen
Neander
509 1680. Nachdr. Bremen 2009. Ffm. 41689. InternetEd.: HAB Wolfenbüttel. – Gott-geheiligtes HarfenSpiel der Kinder Zion [...]. Cleve 1768. Nachdr. Köln 1997. – Einfältige Bundeslieder u. Dankpsalmen. Hg. Rudolph Mohr. Lpz. 2002. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 4, S. 2933–2936. – VD 17. – Weitere Titel: Reinhold Vormbaum: J. N. Leben u. Lieder. Elberfeld 1860. – Emil Brenning: J. N. Bremen 1876. – Johann Friedrich Iken: J. N., sein Leben u. seine Lieder [...]. Bremen 1880. – Wilhelm Nelle: J. N. [...]. Hbg. o. J. [1904]. – Lore Esselbrügge: J. N. [...]. Diss. Marburg 1921. – Lebensbilder der Liederdichter u. Melodisten (Hdb. zum Evang. Kirchengesangsbuch, Bd. II, 1). Bearb. v. Wilhelm Lueken. Gött. (auch Bln.) 1957, S. 251–253. – Hanns J. Maßner: J. N. als Rektor der Lateinschule in Düsseldorf. In: Monatsh.e für evang. Kirchengesch. des Rheinlandes 29 (1980), S. 209–239. – Otto MüllerBenedict u. Hartwig Ammann: Bremer Pfarrerbuch. 2 Bde., Bremen 1990, Bd. 1, S. 49; Bd. 2, S. 127. – Martin Rößler: Liedermacher im Gesangbuch. Bd. 2, Stgt. 21993, S. 112–145. – Gesch. Piet., Bd. 1, 2 u. 4, Register. – Reinhard Buschbeck: ›Lobe mit Abrahams Samen‹. Beobachtungen im Gesangbuch. In: PuN 20 (1994), S. 212–217. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 23, S. 140–142. – Dietmar Pistorius: J. N. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 1999 (22001), S. 223–225. – Thomas Diecks: J. N. In: NDB. – Britta Martini: ›Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren‹. Einige sprachwiss. Aspekte der Textanalyse. In: Jb. für Liturgik u. Hymnologie 38 (1999), S. 242–252. – Pietismus u. Liedkultur. Hg. Wolfgang Miersemann u. a. Tüb. 2002, Register. – Michael Fischer: J. N. In: MGG, 2. Aufl. (Personentl.), Bd. 12 (2004), Sp. 948–950. – Helmut Ackermann: J. N. Sein Leben, seine Lieder, sein Tal. 3., veränderte u. erw. Aufl. Mit einem Beitr. v. Oskar Gottlieb Blarr. Düsseld. 2005. Helmut K. Krausse / Red.
Neander, Michael, eigentl.: M. Neumann, * 1525 Sorau (Zary), † 26.4.1595 Ilfeld/ Harz; Grabmal u. Gedenkstein: ebd., Krypta. – Pädagoge, Gräzist, Schulbuchautor. Für den väterl. Beruf des Kaufmanns vorgesehen, kam N. durch einen Reitunfall zum Studium, das er, nach Schulbesuch u. a. bei Trotzendorf in Goldberg (heute: Zlotoryja, Polen), 1543 in Wittenberg begann. 1547 wurde er Lehrer in Nordhausen. 1550 über/
nahm er im Prämonstratenserkloster Ilfeld die Schule, die der Abt Thomas Stange 1546 gegründet hatte. 1554 erwarb N. in Wittenberg den Magistergrad. Nach dem Tod des Abtes 1559 wehrte er die von den Harzgrafen versuchte Enteignung der Klostergüter ab. 1562 wurde sein Status als Rektor u. Verwalter vertraglich gesichert. N. gehört zu jenen nicht wenigen Schulmännern, die evang. Frömmigkeit mit klass. Bildung u. Realwissen zu einer Einheit verbanden u. durch ihre ungezählten Schüler die evangelisch-humanistische Kulturblüte in Deutschland bewirkten. Hervorragend ist er durch die anschauliche u. offenbar lebhafte Art seines Unterrichts u. durch die Zahl u. Auflagenstärke seiner Publikationen, die alle der Schularbeit dienten. Es sind griechische u. hebr. Grammatiken, Textsammlungen, lat. Lehrbücher für Dialektik, Rhetorik, Physik, Geografie, Geschichte, Ethik u. Religion, didaktisch geschickt durch den Wechsel von Fakten u. Zitaten. Da N. auch eigene Beobachtungen u. Erinnerungen einzustreuen pflegte, sind sie z.T. von bleibendem Quellenwert. Hervorzuheben sind die Graecae linguae erotemata (Basel 1553), deren Ausgabe Basel 1565 eine 300 Seiten lange »Praefatio« enthält, worin die gedruckte, handschriftliche u. verlorene Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart nach Sachgebieten geordnet aufgezählt wird. N.s pädagog. Grundsätze sind dargelegt in dem dt. Bedenken, wie ein Knabe zu leiten und zu unterweisen (1580. 51595). Die Theologia Christiana (1595) ist von Luther geprägt, lässt aber auch N.s Wertschätzung Taulers erkennen. N.s Ethice vetus, eine Anthologie, enthält auch mittelalterl. Verse u. etwa 500 von N. gesammelte dt. Sprichwörter. Seine Orbis terrae partium succincta explicatio (1583) ist kulturgeschichtlich orientiert. Ausgaben: Reinhold Vormbaum (Hg.): Die evang. Schulordnungen. Bd. 1, Gütersloh 1860, S. 746–765. – Friedrich Latendorf (Hg.): M. N.s dt. Sprichwörter. Schwerin 1864. – M. N.’s Ber. vom Kloster Ilfeld. Hg. [Rudolf] Bouterwek. Schulprogramm Ilfeld, Nordhausen 1873. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Georg Schmid: Gesch. der Erziehung. Bd. 2/2, Stgt. 1889, S. 388–430. – Ferdinand Cohrs: N. In: RE (Lit.). – Ernst Koch: M. N. (1525–95) als Theologe.
Nebel In: FS Ernst Sommerlath. Bln. 1960, S. 112–125. – Manfred Büttner: Die Geographia Generalis vor Varenius. Wiesb. 1973, S. 142–146 u. Tafel IV (Bildnis). – Gottfried Uhlig: M. N. u. die Klosterschule in Ilfeld. In: Der Harz 17/18 (1987), S. 69–76. – Uwe Eckard: N. In: Bautz. – Matthias Richter: Gesetz u. Heil. Eine Untersuchung zur Vorgesch. u. zum Verlauf des sog. Zweiten Antinomistischen Streits. Gött. 1996. – Hans-Peter Hasse: N. In: RGG, 4. Aufl. Heinz Scheible
Nebel, Gerhard, * 26.9.1903 Dessau, † 23.9.1974 Stuttgart; Grabstätte: Steinkirchen (bei Schwäbisch Hall). – Essayist, Reiseschriftsteller, Biograf. N., der schon früh seine Eltern verloren hatte, zog 1918 zu seinem älteren Bruder nach Koblenz; dort legte er 1922 das Abitur ab u. nahm erste redaktionelle u. journalist. Tätigkeiten für eine Lokalzeitung auf. Es folgte ein Studium der Philosophie u. Klassischen Philologie, das er in Freiburg begann, in Marburg fortsetzte u. in Heidelberg mit der Promotion abschloss (1927). Heidegger, dessen folgenreiche Schrift Sein und Zeit im selben Jahr erschien, u. Karl Jaspers gehörten neben einer Vielzahl von prominenten, teils jüd. Professoren zu seinen Universitätslehrern. Seine Dissertation Plotins Kategorien einer intellegiblen Welt wurde 1929 als Band 18 in die von Ernst Hoffmann u. Heinrich Rickert betreute Reihe »Heidelberger Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte« aufgenommen. Sie war N.s erste Buchveröffentlichung. Zu N.s Lebensphilosophie, mitgeprägt von Senecas Maximen, gehörte auch der Sport, den er ebenso eifrig betrieb wie nächtl. Lektüren der Klassiker. Der aus einer Lehrerfamilie stammende N. absolvierte von 1928 bis 1930 sein Referendariat in Köln u. Düsseldorf. Nach dem Zweiten Staatsexamen folgten verschiedene Anstellungen in Essen, Traben-Trarbach, Köln, Prüm (Eifel), Krefeld u. Neuwied. 1935 wurde er zum Studienrat ernannt, 1941 zur Luftwaffe einberufen, 1942 wegen eines wehrkraftzersetzenden Essays in der »Neuen Rundschau« auf die Kanal-Inseln strafversetzt u. 1943 als Dolmetscher nach Italien entsandt. Schon in den 1930er Jahren hatten ihn längere Reisen nach Ägypten u. Ostafrika
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geführt, wo er als Hauslehrer seinen Unterhalt bestritt. 1950 trat er wieder in den Schuldienst ein (Wuppertal), wurde jedoch 1955 aus gesundheitl. Gründen frühzeitig pensioniert u. lebte seitdem zurückgezogen als freier Schriftsteller, zuletzt in Steinkirchen bei Schwäbisch Hall. Er unternahm zahlreiche Reisen u. publizierte seine Impressionen in Zeitungen (u. a. »FAZ«) u. Zeitschriften (»Merian«). N.s rebellische Lehr- u. Wanderjahre, seine intellektuelle Sturm-u.-Drang-Periode zwischen Weimarer Republik u. aufflammendem Nationalsozialismus hatten Höhen u. Tiefen, waren von polit. Auseinandersetzungen, Denunziationen, auch Schlägereien begleitet, handfesten Trinkgelagen, Askese u. Selbstaufopferung, finanziellen Engpässen u. exot. Erlebnissen sowie von bemerkenswerten Freundschaften u. kuriosen Begegnungen mit seinen Hochschullehrern u. anderen Schriftstellern (u. a. Josef Weinheber). Diese spannenden Jahrzehnte hat N. allerdings nicht literarisch weiterverarbeitet; die Aufzeichnungen sind als fragmentarisches Typoskript überliefert, das erst postum u. d. T. Alles Gefühl ist leiblich. Ein Stück Autobiographie (hg. v. Nicolai Riedel. Marbach 2003) veröffentlicht wurde. Die Verbundenheit mit Ernst Jünger (1895–1998), dem er erstmals 1939 in Hamburg u. dann wieder 1941 in Paris begegnet war, fand ihren Niederschlag in der ersten umfangreichen Monografie über den umstrittenen Autor (Ernst Jünger. Abenteuer des Geistes. Wuppertal 1949) u. in einer intensiven Korrespondenz (Briefe 1938–1974. Hg. Ulrich Fröschle u. Michael Neumann. Stgt. 2003). Zu N.s Freunden gehörten aber Erhart Kästner u. Carl Schmitt, dessen Interpretationen von Macchiavellis Il principe u. Hegels Rechtsphilosophie N.s Denken nachhaltig beeindruckten. N. war ein außerordentlich ideenreicher u. produktiver Autor, der nach dem Zweiten Weltkrieg mit annähernd 30 Buchveröffentlichungen in renommierten Verlagen eine große Leserschaft erreichte. Ihm gelang es, durch eine klare Sprache, präzise Beschreibungen u. Einfühlungsvermögen seine Vorlieben für die Länder Südeuropas (Italien, Griechenland, Portugal) u. seine Passion für
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antike Philosophie (Sokrates) u. Dichtung Jugenderinnerungen. In: Ders.: Schöne Lit. Ess.s. (Homer, Pindar) zu vermitteln, nicht beleh- Mchn. 2006. Nicolai Riedel rend, aber sinngebend lehrhaft u. nacherlebbar. Sein letztes großes Werk (Hamann. Stgt. Nebel, Otto, auch: Martin Maurer, * 25.12. 1973) war dem Königsberger Johann Georg 1892 Berlin, † 12.9.1973 Bern. – Maler u. Hamann, dem »Magus des Nordens«, geDichter. widmet, dessen Geisteshaltung auch von Jünger bewundert wurde. Da N.s themen- u. Der Sohn eines Prokuristen wurde zunächst perspektivenreiches Œuvre jenseits der tra- Hochbaumeister u. absolvierte dann eine ditionellen literar. Gattungen angesiedelt ist, Schauspielausbildung. Als Soldat im Ersten avancierte es bislang noch nicht zum Sujet Weltkrieg lernte er 1916 Gemälde Franz der Fakultäten, wenngleich es von den Marcs u. Dichtungen August Stramms kenFeuilletons der überregionalen Zeitungen nen. Großen Einfluss übten später auch die stets positiv aufgenommen wurde. Der sen- theoret. Werke Kandinskys u. Klees sowie die sible Seismograf N. mit seiner rauen Kruste, »Sturm-Bewegung« um Herwarth Walden der oftmals emotionalen Regungen freien aus. Die Zivilisationskritik, das MenschLauf ließ, ist aus histor. Distanz wieder u. neu heitspathos u. die Vorstellungen des Expressionismus von der Kunst als einer geistigen zu lesen. Weitere Werke (Sachbücher, Essays, Reisepro- Macht waren Leitgedanken seines schriftsa, Biografien): Feuer u. Wasser. Hbg. 1939. – Vom stellerischen Werks. Geist der Savanne. Hbg. 1941. – Tyrannis u. Frei1919 entstand im engl. Kriegsgefangenenheit. Düsseld. 1947. – Von den Elementen. Wup- lager N.s erste Dichtung, Zuginsfeld (in: pertal 1947. – Griechischer Ursprung I. Wuppertal Sturm, 1919–21. Hg. u. mit einem Nachw. v. 1948. – Bei den nördl. Hesperiden. Wuppertal Angela Köhler. Darmst. 1974), die »als [...] 1948. – An der Mosel. Wuppertal 1948. – Auf ausdeutliche Zuraunung während eines Wahron. Erde. Latium u. Abruzzen. Wuppertal 1949. – traumes [...] als Ganzes in mir vollkommen Unter Partisanen u. Kreuzfahrern. Stgt. 1950. – Weltangst u. Götterzorn. Eine Deutung der griech. fertig war« (Vorbemerkungen zu Zuginsfeld. Trag. Stgt. 1951. – Die Reise nach Tuggurt. Stgt. In: Das dichterische Werk, s. u.). 1933 emigrierte 1952. – Das Ereignis des Schönen. Stgt. 1953. – N. in die Schweiz, hatte dort allerdings keine Phäak. Inseln. Stgt. 1954. 31987. – An den Säulen Arbeitserlaubnis u. lebte in Bern hauptsächdes Herakles. Andalus. u. marokkan. Begegnun- lich von Unterstützungen durch die Guggen. Hbg. 1957. – Die Not der Götter. Welt u. genheim Foundation (New York) für sein Mythos der Germanen. Hbg. 1957. – Homer. Stgt. malerisches Werk. 1959. – Pindar u. die Delphik. Stgt. 1961. – Orte u. N. ist in seiner Technik der Zitatmontage Feste. Zwischen Elm u. Esterel. Hbg. 1962. – Hinter u. des assoziativen Wortspiels ein Vorläufer dem Walde. 16 Lektionen für Zeitgenossen. Hbg. der späteren experimentellen Literatur. Sein 1964. – Zeit u. Zeichen. Stgt. 1965. – Portugies. Tage. Hbg. 1966. – Die Geburt der Philosophie. originaler Beitrag ist »Wortkunst«, die »RuStgt. 1967. – Flug über Rhein u. Reben. Braunschw. nen-Fuge«. In der 1500 Zeilen langen Fuge 1968. – Meergeborenes Land. Griech. Reisen. Hbg. Unfeig. Eine Neun-Runen-Fuge zur Unzeit gegeigt 1968. – Sokrates. Stgt. 1969. – Sprung v. des Tigers (entstanden 1923. Privatdr. Zürich 1960) Rücken. Stgt. 1970. – Schmerz des Vermissens. Hg. werden die neun Buchstaben U, E, I, F, G, N, Gerald Zschorsch. Stgt. 2000 (Ess.s). T, R, Z »durch schaubildliche [d.h. im Ausgabe: Friedrich Georg Jünger: Inmitten Drucksatz erkennbare] und hörbildliche Erdieser Welt der Zerstörung. Briefw. mit Rudolf fassungen [...] in einigen tausend unterSchlichter, Ernst Niekisch u. G. N. Mit Einl. u. schiedlichen Zusammensetzungen« verwenKomm.en hg. v. Ulrich Fröschle u. Volker Haase. det, »ohne auf sprachgebräuchliche und Stgt. 2001. sonstige verstandesmäßige Einwände und Literatur: Erik Lehnert: G. N. Wächter des Herkommen [...] Rücksicht zu nehmen« Normativen. Schnellroda 2004. – Martin Mose(Vorwort zu Unfeig. In: Das dichterische Werk, bach: Dt. Jüngling im Mondschein. Bilder zu G. N.s s. u.). So entstehen anagrammat. Wortschöpfungen, die teils geläufig sinnhaft sind, teils
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an dadaist. Nonsens erinnern, dem N. aber Nef, Heidi, geb. H. Braunschweig, * 15.7. persönlich ganz fern stand: »neun Runen 1936 Basel. – Erzählerin. feiern eine freie Fuge nun / Unfug erfriert / Nach dem Besuch der Handelsschule u. eiFeuer fing Engen / Unfug zerfriert / Enge fing nem Auslandsaufenthalt lebt N. heute als Feuer« (aus: Unfeig). N. sah seine Fugen als freie Schriftstellerin in Bern. In ihrem Er»höchstreine Spracheschöpfung« durch die zählband Zerspiegelungen (Aarau 1978) geht N. Sprache selbst, parallel zu ähnlich halbbevon der Erkenntnis aus, dass die Wirklichkeit wussten u. halbmechanischen, von der Binu. die Menschen, mit denen man in Beziedung an einen geläufigen gegenständl. Gehung tritt, stets Produkte der Spiegelung des halt oder eine Tonart freien Reihungen in der eigenen Ich im anderen sind. Deshalb ist zeitgenöss. Musik u. Malerei. N.s malerisches Wahrnehmung »verwischt« oder »überdeutWerk, das oberflächl. Ähnlichkeit mit dem lich«. Dies zeigt N. etwa am Beispiel eines Paul Klees aufweist, ist sehr viel umfangreipolit. Flüchtlings, der die Hoffnung verliert, cher u. bekannter als seine Dichtungen. oder eines Heimkehrers, der die Stadt seiner N.s Nachlass liegt in der Otto-Nebel-StifJugend wiederfinden will. Im Roman Aus tung in Bern. manchen Labyrinthen findet man nicht zurück Weitere Werke: Das Wesentliche. Eine Rein(Aarau 1983) thematisiert N. das Schicksal der schrift. Bln. 1924. – Die Rüste-Wüste. Eine KeilBewohner der Stadt Bern, deren vitales Leben schrift. Dessau 1926. – Worte zur rhythm. Malerei. Dessau 1931. – Geistige Kunst der Gegenwart u. der hinter denkmalgeschützten Fassaden allZukunft. Burgdorf 1948. – Worte zu Bildern. Bern mählich abstirbt u. die von ehrenwerten 1954. – Die Sinnwelt der Entsprechungen in den Spekulanten zu Grabe getragen wird. Das Künsten. Zürich 1955 (Vortrag). – Das Rad der Ti- Bild des Spinnennetzes, das für das Schicksal tanen. Zürich 1957. – Sieben Trübsinnscheuchen. des Einzelnen steht u. sein Leben zusamSeltsame Gesch.n. Mit einem Geleit v. Ekkehard menhält, bestimmt leitmotivisch den Roman Eickhoff. Mchn. 1965. – Zuraunungen. Merksätze Wenn Bilder Bild werden (Aarau 1984). u. Sinnsprüche. Zürich 1969. – Hall u. der Herbst. Eine Erzählung (mit 6 Zeichnungen). Bern 1971. – Zehn späte Sinngefüge. Zehn Linolschnitte mit Zuraunungen des Künstlers. Bern 1974.
Ausgaben: Das dichter. Werk. Hg. René Radrizzani. 3 Bde., Mchn. 1979. – Schr.en zur Kunst. Hg. ders. Bern 1987. Literatur: Kurt Liebmann: Der Malerdichter O. N. Zürich 1935. – Sturm u. Vollendung. Ein Lebensbild v. O. N. als Festgabe zu seinem 80. Geburtstag. Zürich 1972. – Therese BhattacharyaStettler: O. N. Bern 1982. – Martin Löschnigg: Intertextuality, Textuality, and the Experience of War: David Jones’ ›In Parenthesis‹ and O. N.’s ›Zuginsfeld‹. In: Intimate Enemies. English and German Literary Reactions to the Great War 1914–1918. Hg. ders. u. Franz Karl Stanzel. Heidelb. 1993, S. 99–119. – Anastasia Volkova: Kunst ist Gabe u. nicht Wiedergabe. Amimet. Gestaltungstendenzen in der expressionist. Lit. als Niederschlag europ. Kunstströmungen im frühen 20. Jh. Eine Studie an exemplar. Texten August Stramms u. O. N.s. Ffm. u. a. 2004. Walther Kummerow † / Red.
Weitere Werke: Spiele vor Hintergrund. Aarau 1976 (E.). – Zusammensetzspiele gehen nicht immer auf. Aarau 1979 (R.). – Straßen führen hin u. zurück. Aarau 1981 (R.). Pia Reinacher / Red.
Neidhart. – Lieddichter des 13. Jh. Der Name N.s ist umstritten. Manche Forscher halten es für möglich, dass »Neidhart«, der Name, unter dem die Lieder in den Handschriften überliefert sind, mit dem der Sänger in den sog. Trutzstrophen angeredet wird u. der bei Dichterkollegen wie Wolfram von Eschenbach, Marner u. Wernher der Gartenaere erscheint, nicht Taufname, sondern Dichtername war, da seine negative Bedeutung (»Neidling«, »Teufel«) in Beziehung zu den Liedinhalten steht. In einem Teil der Lieder nennt der Sänger sich nach einem Gütchen »der von Riuwental«, Reuental, oder er wird von anderen so genannt. Obwohl verschiedene Orte dieses Namens nachgewiesen sind, kann man nicht mit Sicherheit davon ausgehen, dass damit ein realer Ort gemeint ist, auch hier könnte es sich um ei-
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nen fiktiven Namen handeln (»Jammertal«). Die durch Moriz Haupts grundlegende Ausgabe (1858) verbreitete Namensform »Neidhart von Reuental«, die im 15. Jh. sporadisch belegt ist, gilt heute fast überall als suspekt. Strittig sind auch die Fragen nach N.s sozialer wie geograf. Herkunft. Ob der Berufsdichter »Herr Neidhart« ritterbürtig u. etwa der jüngere, lehenslose Sohn eines Ministerialen war oder ob er durch seine literar. Leistung zum Herrentitel kam, lässt sich nicht entscheiden. Herkunft aus Bayern wird vermutet, weil er hier offensichtlich zuerst gewirkt hat, doch zwingt dieser Umstand nicht unbedingt dazu, das Land als Geburtsheimat anzusehen. Aus Namensnennungen u. aus der Szenerie der Lieder, in denen Reuental erwähnt wird, kann man erschließen, dass er zunächst im Raum Salzburg, Berchtesgaden, Hallein, Reichenhall tätig war u. in näherer Beziehung zum erzbischöfl. Hof in Salzburg u. vermutlich auch zum Herzogshof des Wittelsbachers Ludwig I. der Kelheimer in Landshut stand (vgl. Winterlied [WL] 37 u. Sommerlied [SL] 12). Der Beginn von N.s Schaffenszeit wird auf etwa 1210 angesetzt. Um 1215, zur Zeit der Entstehung des VI. Buchs von Wolframs von Eschenbach Willehalm, in dem N. erwähnt wird (312, 12), muss er schon berühmt gewesen sein; nicht genauer datieren lässt sich ein Lied Walthers von der Vogelweide († um 1230), das N. ohne Namensnennung attackiert (64, 31). Am Kreuzzug von 1217/21 hat N. vermutlich persönlich teilgenommen (vgl. SL 11 u. 12). Wohl nach der 1231 erfolgten Ermordung Herzog Ludwigs I. verlegte N. seine Tätigkeit an den Hof Friedrichs II. des Streitbaren, seit 1230 Herzog von Österreich. In den österr. Liedern, in denen Reuental als »Kennmarke« ausdrücklich aufgegeben wird (vgl. WL 24), wird der Babenberger oftmals erwähnt, auch erscheint eine Fülle westlich von Wien gelegener niederösterr. Orte. Einigen Liedern liegen aktuelle zeitgeschichtl. Ereignisse der Jahre 1234/37 zugrunde, als der Herzog in Auseinandersetzungen mit Kaiser Friedrich II. verwickelt war (vgl. SL 27, 28, WL 28). Den Tod des Herzogs 1246 erwähnt N. nicht. In der Regel nimmt man an, dass sein Schaffen bis etwa 1240 dauerte.
Neidhart
In 27 Überlieferungsträgern des 13. bis 15. Jh. (26 Handschriften u. Handschriftenfragmente, dazu der dreimal, um 1495, 1537 u. 1566 aufgelegte Druck des Neithart Fuchs) sind rd. 150 N.-Lieder enthalten. Von bes. Bedeutung sind die Autorhandschriften R (Bln. Mgf 1062), die Riedegger Handschrift aus Niederösterreich vom Ende des 13. Jh., u. c (Bln. Mgf 779), entstanden in Nürnberg um 1460. R ist die früheste aus dem dt. MA erhaltene Handschrift, die das Werk eines einzelnen Liedautors überliefert – man darf dies als Symptom für die Beliebtheit N.s werten –, c die umfangreichste N.-Handschrift überhaupt. Die heutige Forschung unterscheidet drei Überlieferungs-»Blöcke« (Beyschlag): den österr. R-Block, den südwestdt. C-Block (mit der Manessischen Liederhandschrift C im Zentrum) u. den jüngeren c-Block. Allen drei Blöcken ist ein Grundbestand an Liedern gemeinsam, darüber hinaus gibt es weitere Lieder sowie Abweichungen in der Gestalt einzelner Texte (Zusatz, Wegfall, Umstellung von Strophen), die ein je unterschiedl. Bild von N. akzentuieren. Damit wird die bei N. sehr wichtige Echtheitsfrage berührt. Der bedeutendste Herausgeber N.s im 19. Jh., Moriz Haupt, verfuhr in diesem Bereich ziemlich rigide. Für unbezweifelbar echt hielt er nur 55 der 56 Lieder in R u. elf der 36 C-eigenen Texte. Alle übrigen Lieder, bes. auch die nur durch Handschriften des 15. Jh. bezeugten, galten fortan als unechte sog. Pseudo-Neidharte, als Dichtungen unbekannter Autoren, die N.s Manier nachahmen oder – so die Schwanklieder – N. als den ritterl. Bauernhasser schlechthin in den Mittelpunkt einer Erzählhandlung stellen. Dazu kommt noch, da die Quellen auch bei unbezweifelbar echten Liedern häufig Differenzen in der Strophenzahl u. in der Anordnung der Strophen aufweisen, die Frage nach der Echtheit einzelner Strophen bzw. nach der authent. Gestalt des jeweiligen Lieds. Die gegenwärtige Forschung bemüht sich um alle diese Probleme, ein Konsens ist aber noch nicht erreicht. Die neue Ausgabe von Müller, Bennewitz u. Spechtler bietet erstmals auf übersichtl. Weise das gesamte Text- u. Melodiematerial, getrennt nach dem Block der Pergament-
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handschriften R, B, C in Bd. 1 u. dem der jüngeren Papierhandschriften (c u. andere) in Bd. 2. Die Frage nach Echtheit u. Unechtheit wird dabei ausdrücklich nicht gestellt. Die Besonderheit der Lieddichtung N.s besteht in der Transposition der Grundsituation des höf. Minnesangs in ein ihr gänzlich unangemessenes Milieu. Im Minnesang der hohen Minne unterzieht der ritterl. Liebhaber sich bedingungslos u. ohne auf Erfüllung hoffen zu können dem Dienst für die unerreichbar hoch über ihm stehende Dame. N.s Lieder dagegen spielen nicht im höf. Rahmen, sondern in bäuerl. Umgebung: Der Liebhaber tritt als Ritter auf, seine Minnedamen sind Bauernmädchen u. -weiber, seine Konkurrenten Bauernburschen, der Schauplatz ist das Dorf. Der Dichter montiert eine bizarre poet. Welt, in der erhabene Gefühlsäußerungen u. dem Minnesang entlehnte Ausdrucksmittel schroff mit der derben, oft obszönen sachl. u. sprachl. Realität der bäuerl. Sphäre, die bis dahin nie in der dt. Literatur erschienen war, zusammenstoßen. Die Frage nach literar. Vorbildern ist angesichts der außerordentl. Originalität von N.s Dichtung beinahe müßig, man hat insbes. auf die Mädchenlieder Walthers von der Vogelweide u. auf altfrz. u. mlat. Pastourellen hingewiesen. Der Hintergrund des Minnesangs der hohen Minne u. seine Kenntnis beim Publikum sind für N.s Lieder Voraussetzung. Vermutlich handelt es sich um Tanzlieder, die Gebrauch im Zusammenhang höf. Feste fanden. N. muss man sich wohl nicht nur als Dichter u. Sänger, sondern auch als Festarrangeur vorstellen. Der Dichter hat sich selbst zwei unterschiedl. Liedtypen geschaffen: die Sommerlieder (SL) u. die Winterlieder (WL). Die in der schönen Jahreszeit spielenden SL zeigen in der Regel den Rittersänger als Sehnsuchtsziel der Bauernmädchen u. -weiber – sie wollen beim Tanz im Freien seine Gunst erringen; neben dem vom Minnesang übernommenen Natureingang (die frohe Jahreszeit fordert zu Tanz u. Spiel auf) bestehen die Lieder meist aus Streitgesprächen zwischen Mutter u. Tochter (die Tochter will zum Ritter, die Mutter sucht dies zu verhindern; gelegentlich tauschen beide die Rollen) oder aus Ge-
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sprächen zwischen Mädchen über den Tanz oder den Liebsten. Die für den Minnesang konstitutive Konstellation ist hier umgedreht: Die Frau wirbt um den ständisch hoch über ihr stehenden Mann. Sonderfälle sind die beiden Botenlieder (SL 11, 12), die der von der Kreuzfahrt desillusionierte Sänger in die Heimat schickt. Die Zeit der WL ist die des Tanzes in der Bauernstube. Außer dem Natureingang (Klage über den Verlust der Sommerfreude) finden sich Kataloge von Bauernnamen u. Schilderungen von Prügeleien u. sonstigen groben Zwischenfällen (mehrfach erscheint etwa das Motiv, dass der Bauer Engelmar den Spiegel Frideruns geraubt hat); der Ritter ist hier – minnesangsgemäß – der (meist) erfolglos Werbende, Gegenstand seiner Adoration sind freilich Bauernmädchen, die Rivalen sind Bauernburschen. Der stroph. Zusammenhang der WL ist vielfach verhältnismäßig locker, es gibt Sprünge im Ablauf, nicht selten fügt der Dichter persönl. Strophen, etwa auch Bitten an Gönner, hinzu; in einer Reihe von angehängten Strophen, den Trutzstrophen, polemisieren Bauernburschen gegen »Neidhart« (nach heutigem Verständnis wendet der Sänger sich in der Bauernrolle gegen sich selbst). In die späten WL mischen sich zeitaktuelldüstere Züge, Klagen über den Niedergang der höf. Welt. Sie lassen hinter der aus den Fugen geratenen höf. Welt einen Abgrund von Trauer sichtbar werden (vgl. bes. WL 28, 30, 34). Die beiden Liedtypen unterscheiden sich auch in der formalen Gestaltung. Die SL beruhen nicht auf dem damals für Minnelieder weitgehend konventionalisierten Bautyp der Kanzone (AA/B), sondern bestehen aus verhältnismäßig knappen zweiteiligen Strophenformen (A/B) mit relativ kurzen Zeilen. Hingegen sind die WL Kanzonen. Ihre Strophen sind in der Regel umfangreicher als die der SL, auch haben die WL meist mehr Strophen. Zu gut einem Drittel aller N.-Lieder sind Melodien überliefert (zu den von Haupt für echt gehaltenen 66 Liedern kennen wir 18 Weisen). Durch häufige Tonrepetition auf gleicher Stufe u. ausgeprägten Hang zum Dreierrhythmus erweisen sie deutlich den Tanzcharakter der Lieder.
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N. war, wohl noch vor Walther von der Vogelweide, der erfolgreichste Liedautor des dt. MA. Seine Manier wurde nicht nur von anonym bleibenden Dichtern nachgeahmt, sondern auch von namentlich bekannten wie Gottfried von Neifen, Stamheim, von Scharpfenberg, Göli, Steinmar, Johannes Hadloub u. Hans Heselloher. »Ain Neithart« wurde im SpätMA zur Gattungsbezeichnung. In den Schwänken wurde die Neidhartfigur zu der des Bauernfeindes schlechthin vergröbert. Sie lieferten die Grundlage für die Neidhartspiele, für Wandmalereien, für die Neidhartgestalt im Ring des Heinrich Wittenwiler. Aufgrund der fiktiven Biografie, die die Neithart Fuchs-Kompilation am Ende des 15. Jh. bot, blieb N. bis in das 16. Jh. hinein eine sprichwörtl. Figur. Ausgaben: N.s Lieder (Moriz Haupts Ausg. v. 1858, Edmund Wießners Ausg. v. 1923). Hg. Ulrich Müller u. a. 2 Bde., Stgt. 1986. – N.s Lieder. Hg. E. Wießner, Hanns Fischer u. Paul Sappler. Tüb. 5 1999. – Dietrich Boueke: Materialien zur N.Überlieferung. Mchn. 1967. – Die Lieder N.s. Hg. Siegfried Beyschlag. Darmst. 1975. – Herr N. diesen Reihen sang. Die Texte u. Melodien der N.-Lieder. Hg. S. Beyschlag u. Horst Brunner. Göpp. 1989. – N.-Lieder. Texte u. Melodien sämtl. Hss. u. Drucke. Hg. U. Müller, Ingrid Bennewitz, Franz Viktor Spechtler. 3 Bde., Bln./New York 2007. Literatur: Bibliografie und Diskografie: Ruth Weichselbaumer in: N.-Lieder 2007 (s. o.), Bd. 3, S. 564–613. – Weitere Titel: Eckehard Simon: N. v. Reuental. Gesch. der Forsch. u. Bibliogr. Den Haag 1968. – Helmut Birkhan (Hg.): N. v. Reuental. Aspekte einer Neubewertung. Wien 1983. – Horst Brunner (Hg.): N. Darmst. 1986. – Siegfried Beyschlag: N. u. Neidhartianer. In: VL. – Günther Schweikle: N. Stgt. 1990. – Ursula Schulze: N.Forsch. v. 1976–1987. Sammelrezension (1. Teil). In: PBB 113 (1991), S. 124–153. – Ulrich Müller: N.-Forsch. 1981–1988. Sammelrezension (2. Teil). In: PBB 113 (1991), S. 483–495. – Ders.: Zur Lachkultur in der dt. Lit. des MA. N. u. N. Fuchs. In: Laughter Down the Countries. Hg. Siegfried Jäkel. Turku 1994, S. 161–181. – Elisabeth Lienert: ›Hoera Walther, wie ez mir stât‹. Autorschaft u. Sängerrolle im Minnesang bis N. In: Autor u. Autorschaft im MA. Hg. Elizabeth Anderson u. a. Tüb. 1998, S. 114–128. – Ingrid Bennewitz: Von Nachtigallen, Krähen, Hühnern u. Sängern. Überlegungen zu Aufführung u. Sängerrollen im Minnesang, speziell bei N. In: Ed. u. Interpr. Neue For-
Neidhartspiele schungsparadigmen zur mhd. Lyrik. Hg. Johannes Spicker u. a. Stgt. 2000, S. 73–85. – Gertrud Blaschitz (Hg.): Neidhartrezeption in Wort u. Bild. Krems 2000. – Dorothea Klein: Der Sänger in der Fremde. Interpr., literarhistor. Stellenwert u. Textfassungen v. N.s SL 11. In: ZfdA 129 (2000), S. 1–30. – Jan-Dirk Müller: Auf dem Weg zum Schwank. Der Spiegelraub im Berliner N. In: Fragen der Liedinterpr. Hg. Hedda Ragotzky u. a. Stgt. 2001, S. 91–102. – Johannes Janota: Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit (= Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, hg. v. Joachim Heinzle, Bd. 3/1). Tüb. 2004. – Fritz Peter Knapp: Gesch. der Lit. in Österr. Bd. 2/2, Graz 2004, S. 337–351. – Jessika Warning: N.s Sommerlieder. Überlieferungsvarianz u. Autoridentität. Tüb. 2007. – H. Brunner: Tradition u. Innovation im Bereich der Liedtypen um 1400. Beschreibung u. Versuch der Erklärung. In: Ders.: Annäherungen. Studien zur dt. Lit. des MA u. der Frühen Neuzeit. Bln. 2008, S. 246–263. – Gert Hübner: Minnesang im 13. Jh. Eine Einf. Tüb. 2008, S. 45–61. Horst Brunner
Neidhartspiele. – Spätmittelalterliche u. frühneuzeitliche Fastnachtspiele, 14. bis 16. Jh. Zu den beliebtesten Stoffen, die vom 14. bis 16. Jh. in Fastnachtspielen Verwendung fanden, gehören, wie zahlreiche Aufführungsbelege beweisen, die Auseinandersetzungen des sprichwörtl. Bauernhassers Neidhart mit den Bauern. Die Figur des »Helden« ist aus dem Lieddichter Neidhart, der schon seit dem 13. Jh. in den Mittelpunkt verbreiteter liedhafter Schwänke trat, herausentwickelt; kodifiziert wurden die Schwänke Ende des 15. Jh. im Schwankbuch Neithart Fuchs. Wie die Schwänke sind auch die Spiele Dokumente der zur damaligen Zeit bei Adligen u. Stadtbürgern feststellbaren beklemmenden Bauernfeindlichkeit. Im Zentrum aller Spiele steht der Veilchenschwank, der Ausgangspunkt von Neidharts Feindschaft gegen die Bauern: Neidhart findet das erste Frühlingsveilchen u. stülpt seinen Hut darüber. Während er die Herzogin u. ihren Hofstaat herbeiholt, pflückt ein Bauer das Veilchen u. setzt ein merdum an seine Stelle. Nachdem die Herzogin unter den Hut gegriffen hat, verbannt sie den Ritter vom Hof. Dieser ge-
Neidhartspiele
lobt u. nimmt Rache an den Bauern. Weitere Szenen u. Schwänke können sich anschließen. Folgende Spieltexte, alle in Reimpaarversen abgefasst, haben sich erhalten: 1. Das St. Pauler Neidhartspiel (so genannt nach dem Aufbewahrungsort der einzigen Handschrift, Kloster St. Paul im Lavanttal/Kärnten). Das kurze Spiel (66 Zeilen), das nur drei Sprechrollen vorsieht, hat lediglich den Veilchenschwank zum Inhalt. Es handelt sich um das älteste erhaltene weltl. dt. Spiel des MA: Die Handschrift, die schwäb. Herkunft ist, wird auf um 1360/70 datiert. 2. Das Große (Tiroler) Neidhartspiel (2624 Zeilen). Das in einer Augsburger Handschrift von 1492/93 überlieferte Spiel entstand wohl kurz vorher in Tirol (Hall? Schwaz?). Das Stück sieht nicht weniger als 70 Sprechrollen vor. Es ist das umfangreichste weltl. Spiel des dt. SpätMA. Das Große Neidhartspiel wurde auf einer simultanen Raumbühne mit (wenigstens) vier Spielerständen aufgeführt u. enthielt zahlreiche musikal. Einlagen. Inhaltlich sind verschiedene Szenen und Neidhartschwänke kombiniert: der Veilchenschwank, der den Ausgangspunkt bildet, der Schwertfegerschwank (die Bauern übergeben Neidhart, der als Schwertfeger verkleidet ist, ihre Schwerter u. sind damit seinem Angriff wehrlos ausgesetzt), der Beichtschwank u. der Kuttenschwank (zwei Bauern beichten dem als Klosterbruder verkleideten Neidhart, der anschließend veranlasst, dass alle Bauern sich betrinken; dann schert er ihnen Glatzen, bekleidet sie mit Kutten u. führt sie ins Kloster), eine den Osterspielen entlehnte Teufelsszene (Luzifer predigt gegen die Bauern, die Teufel stiften Streit unter ihnen), der Fassschwank (in einem Fass versteckt, beobachtet Neidhart die prahlenden Bauern u. Engelmairs Spiegelraub an Fridrawna) u. der Säulenschwank (der Ritter gibt sich für einen seiner Feinde aus u. ermuntert die Bauern, ihren Hass gegen Neidhart an einer Holzsäule auszulassen). 3. Das Mittlere (Sterzinger, Tiroler) Neidhartspiel (1064 Zeilen), zu dem sich auch das Szenar, das einzige zu einem weltl. Spiel überlieferte Dirigierbuch, erhalten hat (Handschrift Sterzing, um 1511). Vorgesehen
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sind hier 40 Mitwirkende, aufgeführt wurde auch dieses Stück auf einer Raumbühne mit Spielerständen. Den Inhalt bilden der Veilchenschwank, der Faßschwank, Streitreden u. Kampf zwischen den Bauern u. den Rittern u. eine Quacksalberszene. 4. Das Kleine (Nürnberger) Neidhartspiel (236 Zeilen). Das Spiel wurde vor 1494 in Nürnberg aufgezeichnet, stammt aber vielleicht ebenfalls aus Tirol. Wie bei den Nürnberger Fastnachtspielen des 15. Jh. üblich, wurde das Stück durch eine von Haus zu Haus ziehende, aus jungen Männern bestehende Spielrotte aufgeführt. Vorgesehen sind 25 Rollen. Im Zentrum steht auch hier der Veilchenschwank. 5. Das dreiaktige Fastnachtspiel Neidhart mit dem Veilchen (508 Verse) von Hans Sachs, verfasst am 9.2.1557 (Werkverzeichnis von Keller u. Goetze, Nr. 5024). Hans Sachs hatte bereits 1538, 1539 u. 1556 nach dem Nürnberger Druck des Neithart Fuchs von 1537 drei Meisterlieder mit Neidhartstoffen verfasst (Werkverzeichnis Nr. 836, 868, 4860). In seinem Fastnachtspiel, das acht Personen erfordert, kombinierte er Stoffe des dritten u. des ersten Liedes, den Veilchenschwank u. den Schwank von Neidharts angeblich tauber Frau (Neidhart erzählt seiner schönen Frau, der Herzog, der es auf ihre Liebe abgesehen hat, sei schwerhörig, dem Herzog erzählt er dasselbe über seine Frau; beide schreien einander daraufhin fortwährend an, heiml. Liebesgeflüster ist unmöglich). Ausgaben: N. Hg. John Margetts. Graz 1982 (Bibliogr.). – Die mittelalterl. N. In Abb.en (Faks. der Hss.). Hg. ders. Göpp. 1986. Literatur: Max Siller: Anmerkungen zu den N. In: ZfdPh 104 (1985), S. 380–403. – Eckehard Simon: N. In: VL. – Ders.: Die Anfänge des weltl. dt. Schauspiels 1370–1530. Untersuchung u. Dokumentation. Tüb. 2003. – Cora Dietl: Tanz u. Teufel in der Neidharttradition: ›Neidhart Fuchs‹ u. ›Großes Neidhartspiel‹. In: ZfdPh 125 (2006), S. 390–414. Horst Brunner
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Neithart Fuchs. – Spätmittelalterliches Schwankbuch, letztes Jahrzehnt des 15. Jh.
Neithart N. F. Nach dem Frankfurter Druck v. 1566. Hg. Erhard Jöst. Göpp. 1980. – N.-Lieder. Texte u. Melodien sämtl. Hss. u. Drucke. Hg. Ulrich Müller, Ingrid Bennewitz, Franz Viktor Spechtler. 3 Bde., Bln./New York 2007. Literatur: Erhard Jöst: Bauernfeindlichkeit. Göpp. 1976. – Ders.: Die österr. Schwankbücher des späten MA. In: Zeman 1, S. 399–426. – Ders.: Bauernfeind u. Schelmenpfaff. In: Wiener Geschichtsbl. 41 (1986), S. 101–114. – Frieder Schanze: Der ›N. F.‹-Druck v. 1537 u. sein verschollener Vorgänger. In: Gutenberg-Jb. 1986, S. 208–210. – Werner Röcke: Die Freude am Bösen. Mchn. 1987, S. 189–191. – Peter Strohschneider: Schwank u. Schwankzyklus, Weltordnung u. Erzählordnung im ›Pfaffen v. Kalenberg‹ u. im ›N. F.‹. In: Kleinere Erzählformen im MA. Hg. Klaus Grubmüller u. a. Paderb. u. a. 1988, S. 151–171. – Gertrud Blaschitz (Hg.): Neidhartrezeption in Wort u. Bild. Krems 2004. – Ingrid Bennewitz, Ulrich Müller u. Margarete Springeth: N. F. u. der Lauf der Welt. Zum Abschluß-Lied der N.-F.-Drucke. In: Literar. Leben in Zwickau im MA u. in der Frühen Neuzeit. Hg. Margarete Hubrath u. Rüdiger Krohn. Göpp. 2001, S. 19–54. Horst Brunner
Der N. F. liegt in drei mit Holzschnitten versehenen Drucken vor: Augsburg: Johann Schaur um 1491/97 (z); Nürnberg: Jobst Gutknecht 1537 (z1); Frankfurt/M.: Sigmund Feyerabend u. Martin Lechler 1566 (z2); ob vor dem ersten Druck eine handschriftl. Fassung verbreitet war, ist zweifelhaft. Es handelt sich um eine Kompilation von fast durchweg schon in früheren Handschriften überlieferten Neidhartliedern des 13. bis 15. Jh., die an den lockeren Faden der Lebensgeschichte des sprichwörtl. Bauernhassers Neithart Fuchs gereiht sind. In Lied 1 (Hosenschwank) gelangt der aus Meißen stammende »Held« in die Hofgesellschaft Herzog Ottos von Österreich. In den folgenden Texten steht die Auseinandersetzung des Ritters mit den Bauern, die stets den Kürzeren ziehen, im Mittelpunkt. Geschlossen wird mit einem in Reimpaaren abgefassten Nachruf auf den Bauernfeind, in dem auch auf sein Grab am Wiener Stephansdom hingewiesen Neithart, Nithart, Nythart, Neythart, Hans, wird. Die Sammlung umfasst drei echte Lie- * um 1430, † nach 1502 Ulm. – Frühhuder Neidharts (XXIII = Winterlied [WL] 14, manist, Übersetzer. XXIV = WL 17, XXVIII = WL 1), zwölf Neid- N. war der Sohn eines Nürnberger Patriziers, hartschwänke, eine Reihe sonstiger Pseudo- der mit Erlaubnis des Ulmer Rats jahrelang Neidharte, zwei Lieder Oswalds von Wol- Stadtschreiber in Nürnberg war. Nach dessen kenstein (XXV = Klein 21, XXVI = Klein 76) u. Tod (1450) zog N. nach Ulm u. stieg bald als eines von Hans Heselloher (XX). Umstritten Patrizier in hohe städt. Ämter auf. 1478 ist, ob Neithart Fuchs als »lustiger Rat« wurde er einer der drei Ulmer Bürgermeister. Herzog Ottos des Fröhlichen von Österreich Obwohl N. keine akadem. Ausbildung ge(1301–1339) u. »Kollege« des allg. als histo- nossen hatte, rühmten Zeitgenossen seine risch geltenden Pfarrers von Kahlenberg eine vielseitigen literar. u. histor. Interessen. N.s histor. Figur war – ein »Neidhartianer«, der literar. Ruhm beruht auf einem einzigen in die Rolle des hochmittelalterl. Lieddichters Werk, seiner Prosa-Übersetzung des TeNeidhart schlüpfte, dessen Bauernfeindschaft renz’schen Eunuchus. Sie erschien mit der »kultivierte« u. womöglich selbst Autor von Übersetzung eines auf den Scholien des AeNeidhartliedern war. Literarhistorisch gehört lius Donatus beruhenden Kommentars, geder N. F. in die Reihe der Schwankbücher, die schmückt mit 28 ganzseitigen Holzschnitten mit Strickers Der Pfaffe Amis beginnt u. zu der (Ulm: Conrad Dinckmut 1486). N. rechtferu. a. auch Frankfurters Pfarrer von Kahlenberg tigte die Verdeutschung mit dem traditiou. Botes Till Eulenspiegel zählen. Kulturge- nellen Topos, dass die Komödie »menschlichs schichtlich handelt es sich um ein beklem- wesens ain spiegel seie«, »dar aus man lernet mendes Zeugnis adliger u. stadtbürgerl. was gut ist zugebrauchen und das böß zeBauernfeindlichkeit des SpätMA. meiden«. Gerade die Darstellung wenig Ausgaben: Felix Bobertag (Hg.): Narrenbuch. nachahmenswerter Menschen erschien ihm Stgt./Bln. 1884, S. 141–292. – Die Historien des lobenswert, »darumb ain yeder [...] sich des-
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terbas vor aller betrügnuß der bösen menschen mag hütten«. Wie das ganze MA stellte sich N. die Komödie nicht als Aufführungsdrama, sondern als von einer Person vorgetragen vor. Mit Niklas von Wyle u. Heinrich Steinhöwel gehört N. zweifellos zu den bedeutendsten frühhumanist. Übersetzern Schwabens. Während er sich bei der Übersetzung des Terenztextes relativ eng an die Vorlage hielt, gestattete er sich bei den Glossen große Freiheiten, indem er popularisierende Zusätze, Hinweise auf das Kulturleben seiner Zeit u. moralische Belehrungen einschaltete. Ausgaben: Der Eunuchus des Terenz. Übers. v. H. N. 1486. Hg. H. Fischer. Stgt. 1915. – Faks. des Erstdrucks. Hg. Peter Amelung. Dietikon-Zürich 1970. Literatur: Ernst Erich Bidlingmaier: Die Terenzübers. des N. Tüb. 1930. – Peter Amelung: Konrad Dinckmut, der Drucker des Ulmer Terenz. Dietikon-Zürich 1972 (Komm. zum Faksimiledr. 1970). – Franz Joseph Worstbrock: Dt. Antikerezeption 1450–1550. Tl. 1, Boppard/Rhein 1976, S. 149, 192 f. – Eckhard Bernstein: Die Lit. des dt. Frühhumanismus. Stgt. 1978, S. 96 f. – P. Amelung: N. In: VL. – Erich Kleinschmidt: Die Aneignung des Fremden. H. N.s Terenz-Übertragung v. 1486. In: Kontinuität u. Transformation der Antike im MA. Hg. Willi Erzgräber. Sigmaringen 1989, S. 345–353. Eckhard Bernstein / Red.
Nelissen-Haken, Bruno, * 5.11.1901 Hamburg, † 16.5.1975 Hamburg. – Erzähler, Hörspielautor. N. studierte Jura u. wurde kurz nach seiner Einstellung als Rechtsreferendar aufgrund seiner ersten Veröffentlichung (Der Fall Bundhund. Jena 1930) fristlos aus dem Staatsdienst entlassen. Der Roman beschreibt den vergebl. Kampf gegen das herrschende Rechtssystem u. ist der nationalsozialist. Kampfzeitliteratur zuzurechnen. Mitte der 1930er Jahre wurde N. Gutachter für die zahlreichen »Thingspiele« u. wandte sich der humorist. Gestaltung niedersächs. Landlebens zu (Heidehonig. Bln. 1936). Bes. populär wurde die Biografie des Dorfdackels Haidjer (Herrn Schmidt sein Dakkel Haidjer. Oldenb. 1935. Bremen 1952. Der freche Dackel Haidjer aus der Stierstraße. Oldenb. 1936. Bremen
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1952). Nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichte N. weitere Romane, war aber erfolgreicher mit der Neuauflage seines »Volksromans« Der Peerkathener Mädchenraub (Böhmisch-Leipa 1944; Wehrmachtausg. Gütersloh 1950) u. seinen Insel- u. Tiergeschichten in Die heidnische Insel (Darmst. 1956). Weitere Werke: Arbeitslosenlitanei. Totentanz der Lebendigen. Mchn. 1931 (Ber.). – Stempelchronik. Hbg. 1932 (dokumentar. Schilderungen). – Angeklagter Schleppegrell. Jena 1932 (R.). – Bauernballade. Bln. 1934. – Besuch aus den Wäldern. Oldenb. 1942 (Tierbuch). – Die Tümpelbrüder. Dresden 1942 (E.en). – Die köstl. Unruhe. Drei dt. Legenden. Dresden 1944. – Die höhere Instanz. Gütersloh 1951. – Madame Sorbon. Baden-Baden 1953 (R.). – Alle Häuser meines Lebens. Ein Grundstücksmakler erzählt. Darmst. 1958 (E.en). – Ein Dackel namens Fidibus – Bekenntnisse eines leidgeprüften Teckelvaters. Stgt. 1963 (E.). Literatur: Christa Hempel-Küter: Romaneschreiben als Entlassungsgrund: B. N. H., ›Der Fall Bundhund‹ u. der Eugen Diederichs Verlag. In: Buchhandelsgesch. Vierteljahresausg. 1993, H. 1, B18-B29. Christian Schwarz / Red.
Nelken, Dinah, eigentl.: Bernhardina N.Ohlenmacher, auch: Bernhardine Schneider, * 16.5.1900 Berlin, † 14.1.1989 Berlin. – Erzählerin. N. veröffentlichte mit 17 Jahren erste Kurzgeschichten u. Feuilletons in Berliner Zeitungen. Mit ihrem Bruder Rolf Gero gründete sie 1928 das Kabarett »Die Unmöglichen«, in dem auch Werner Finck mitwirkte. Aufgrund ihrer antifaschist. Haltung war N. gezwungen, 1936 nach Wien zu emigrieren. Hier verfasste sie gemeinsam mit ihrem Bruder den sehr erfolgreichen Liebesroman in Briefform, Ich an Dich (Wien 1938. Hbg. 1950. 1939 verfilmt u. d. T. Eine Frau wie Du). Nach der Annexion Österreichs flüchtete N. nach Jugoslawien, 1943 nach Italien. Die Erlebnisse während ihrer Emigration schilderte sie in dem Zeitroman Spring über deinen Schatten, spring! (Bln. 1956. Neuausg. u. d. T. Geständnis einer Leidenschaft. Bln. 1962. Ffm. 1983), die Geschichte der Liebe einer Partisanin zu einem Lebemann. 1950 kehrte N. nach Westberlin zurück. Sie machte nicht nur durch
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ihre unterhaltsamen Romane wie den autobiografisch gefärbten Familienroman Das angstvolle Heldenleben einer gewissen Fleur Lafontaine (Bln. 1971. Ffm. 1983) auf sich aufmerksam, sondern auch durch ihre gesellschaftskrit. Texte, die in einer Auswahl u. d. T. Die ganze Zeit meines Lebens (Bln. 1977. Ffm. 1983) erschienen. Bis zu ihrem Tod engagierte N. sich aktiv in der Friedensbewegung.
Reportagen u. Erzählungen, die den Aufbau der sozialist. Gesellschaftsordnung thematisieren. Für die Entwicklung der Reportageliteratur in der DDR von Bedeutung war der Sammelband Bauplatz DDR (Potsdam 1951). Den Fortsetzungsband des stark autobiografisch gefärbten Jugendromans Der Junge aus dem Hinterhaus (Weimar 1955), Heinrich Rothschuh erzählt (Weimar 1960), gab Walther Pollatschek aus dem Nachlass heraus.
Weitere Werke: Addio Amore. Bln. 1957. Ffm. 1985 (R.). – Von ganzem Herzen. Bln. 1964. Mchn. 1976 (R.).
Weitere Werke: Menschen in der großen Stadt. Ein Skizzenbuch. Potsdam 1948. – Weg nach vorn. Erfurt 1951 (E.). – Der Fischer v. Sylt. Gesch.n v. gestern u. heute. Weimar 1953. – Liebesbriefe aus Wiepersdorf. Mit einem Vorw. v. Anna Seghers. Weimar 1958. – Die Sonne den anderen. Eine Ausw. Hg. u. bearb. v. Edith Nell u. Reiner Kunze. Weimar 1959.
Literatur: Gerda Szepansky (Hg.): Frauen leisten Widerstand 1933–45. Ffm. 1983. – Barbara Drescher: The Vanishing Female Protagonists in the Weimar, Exile, and Postwar Fiction of Irmgard Keun, D. N., and Ruth Landshoff-Yorck. Diss. Minneapolis 2001. – Dies.: Wechsel in der Erzählperspektive als Ausdruck der kulturellen Entfremdung in der Nachkriegsprosa v. Irmgard Keun, D. N. u. Ruth Landshoff-Yorck. In: Erfahrung nach dem Krieg: Autorinnen im Literaturbetrieb 1945–50. Hg. Christiane Caemmerer u. a. Ffm. u. a. 2002, S. 127–138.
Literatur: Edelgard Schmidt: Entwicklungstendenzen der Reportage in der DDR-Lit. Bln./DDR 1973. Gesine von Prittwitz / Red.
Nemeitz, Nemeiz, Joachim Christoph, * 4.4.1679 Wismar, † 8.6.1753 Straßburg. Mechthild Hellmig-Widdig / Red. – Reiseschriftsteller.
Nell, Peter, eigentl.: Kurt Heinze, * 10.10. 1907 Berlin, † 27.11.1957 Berlin/DDR. – Erzähler, Publizist. N., Sohn eines Heizers u. einer Hutmacherin, absolvierte 1922 eine kaufmänn. Lehre u. war anschließend als Industriearbeiter u. Buchhalter tätig. Seit 1923 in der Sozialistischen Arbeiterjugend u. ab 1927 in der KPD organisiert, kam er durch die Arbeiterkorrespondentenbewegung zum Schreiben. Frühe Schriften druckte die »Rote Fahne«, die ersten größeren literar. Arbeiten erschienen in der Sowjetunion, wo N. ab 1931 als Korrespondent einer Moskauer Wirtschaftsvereinigung lebte. Nach der Rückkehr 1933 leistete er aktiv polit. Widerstand. Bei Kriegsausbruch wurde er zum Wehrdienst verpflichtet, von dem er 1943 schwer verwundet nach Berlin zurückkehrte. Trotz verantwortl. Funktionen in der SBZ/DDR (u. a. als Vorstandsmitgl. u. zeitweiliger Sekretär des Schriftstellerverbands, ab 1955 Leiter des Amts für Literatur im Ministerium für Kultur) entstanden zahlreiche Gedichte, Skizzen,
Der Nachkomme eines alten pommerschen Adelsgeschlechts besuchte das Gymnasium in Wismar u. das St. Michaelsgymnasium in Lüneburg. Nach einem Philosophie- u. Jurastudium in Rostock (1700–1703) übernahm N. 1707 die Hofmeisterstelle bei Graf Magnus von Stenbock u. begleitete dessen Söhne auf die Universität Lund, wo er selbst zwei Jahre lang Vorlesungen in Geschichte u. Staatskunst hielt. Am schwedisch-dän. Krieg nahm er als Feldsekretär teil. 1715 wurde er Prinzenerzieher am Hof des Fürsten Friedrich Anton Ulrich von Waldeck, der ihn 1720 zum Hofrat ernannte. Von 1730 bis 1737 weilte N. als Hofmeister am Hof des Pfalzgrafen Christian III. von ZweibrückenBirkenfeld. Nach seinem Abschied zog er nach Frankfurt/M., bevor er sich 1743 endgültig in Straßburg niederließ. N. verkörpert den Idealtypus eines spätbarocken Gelehrten, Staats- u. Hofmannes. Als Hofmeister u. Reisebegleiter lernte er die wichtigsten polit. u. kulturellen Zentren Mitteleuropas kennen. Seine in Latein abgefasste, handschriftlich überlieferte Autobio-
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grafie von 1741 enthält eine sozial-, kultur- u. historiques et critiques. Ffm. 1738. – Memoires du geistesgeschichtlich aufschlussreiche »Series comte de Stenbock. Ffm. 1745. Literatur: Johann Christoph Strodtmann: principum personarumque [...], quas in peregrinationibus meis videndi visendique Gesch. des Hrn. J. C. N. In: Das Neue Gelehrte mihi contigit« für die Jahre 1712 bis 1734. Europa. Bd. 4, Wolfenb. 1754, S. 942–969. Zusätze in: Bd. 11, 1757, S. 760–764. – Friedrich Wilhelm Zum Freundes- u. Bekanntenkreis von N. Marpurg: Legende einiger Musikheiligen. Cölln zählten Mitglieder der Theologen- u. Juris- 1786 (Vorrede). – Johann August v. Eisenhart: N. tenfamilie Schnaderbach u. Goethes Groß- In: ADB. – Ludwig Schudt: Italienreisen im 17. u. onkel Johann Michael von Loen, dem N. Teile 18. Jh. Wien/Mchn. 1959. – Friedhelm Brusniak: seiner Bibliothek u. seinen literar. Nachlass Wenig beachtete Quellen zum Musiklexikon v. Johann Gottfried Walther. In: Augsburger Jb. für vermachte. Bereits zu Lebzeiten wurde N. vor allem als Musikwiss. 3 (1986), S. 161–207. – Ders.: Musikal. Autor des in dt. Sprache geschriebenen Séjour Einflüsse aus Schweden auf J. C. N. (1679–1753). In: Hof- u. Kirchenmusik in der Barockzeit [...]. de Paris (Ffm. 1718 u. ö. Frz. Leiden 1727. Hg. ders. Sinzig 1999, S. 27–36. – Nicolai MachiaNeudr. Paris 1897) u. der Nachlese besonderer velli: Lebens- u. Regierungs-Maximen eines FürsNachrichten von Italien (Lpz. 1726) geschätzt. ten (1714). Die erste gedr. u. mit den Anmerkungen Den Reiseführer für Italien benutzte Caspar des Amelot de la Houssaye vers. dt. Übers. des Goethe 1740 neben Keyßlers Neuesten Reisen ›Principe‹. Kritisch hg. v. Roberto de Pol. Bln. 2006. für seine Viaggio in Italia. Ludwig Schudt hebt – R. de Pol: Zum anonymen Übersetzer v. Madie »ungemeine Gründlichkeit« von N. her- chiavellis ›Principe‹. Eine Ermittlung. In: Sprache vor u. charakterisiert ihn als »gewissenhafte u. Lit. durch das Prisma der Interkulturalität u. Diachronizität. FS Anton Janko. Hg. Marija Brisˇki, Persönlichkeit«, dessen Angaben sehr zuver- Mira Miladinovic´ Zalaznik u. Stojan Bracˇicˇ. Ljubllässig seien u. dessen krit. Bemerkungen über jana 2009, S. 247–271. – Ders.: J. C. N. u. sein Kunstdenkmäler eigenen Geschmack verrie- ›politisch‹ entworfenes Italienbild. In: Jb. Int. ten. Musikgeschichtlich bedeutsam sind N.’ Germ. 40 (2009), H. 2, S. 55–64. Augenzeugenberichte über das Musikleben Friedhelm Brusniak in Paris u. Venedig sowie die ästhet. Reflexionen des Lully-Verehrers u. späteren Freundes ital. Musik. N. suchte persönl. Nendorf, Johannes, * 24.1.1575 Verden, Kontakt zu namhaften dt., frz. u. ital. Sän- † 23.2.1647 Goslar. – Schuldramatiker. gern, Musikern u. Komponisten, darunter N. besuchte die Schule seiner Heimatstadt u. Telemann, Couperin u. Vivaldi. Seine Infor- studierte seit dem 14.6.1592 in Helmstedt, mationen übernahm Johann Gottfried Wal- wo er am 29.4.1600 die Magisterwürde erther in sein erstes dt. Musiklexikon (Lpz. langte. Kurz darauf folgte er einem Ruf nach 1732). Ein hoher Grad von Belesenheit u. ein Goslar; dort konnte er als hochgeachteter geradezu enzyklopäd. Wissen spiegeln sich Rektor viele adlige Zöglinge ans städt. Gymauch in der Aufsatzsammlung Vernünfftige nasium ziehen. Für den Schulunterricht verGedancken Uber allerhand Historische / Critische fasste N. ein bedeutendes Bibeldrama in dt. und Moralische Materien (Ffm. 1739–45), die Sprache, betitelt Asotus. Das ist: Comoedia vom noch bis zum Ende des 18. Jh. zitiert wurden. verlohrnen Sohn, auß dem 15. Capitel S. Lucae Ob der »homo politicus« N. während seines (Goslar 1608). Dieser allegor. Knabenspiegel, Studiums in Rostock auch die anonyme der Johannes Ackermanns Version (1536) Übersetzung von Machiavellis Principe (1714) zum Vorbild hat, richtet sich polemisch geangefertigt hat, ist noch nicht eindeutig ge- gen die Unsitten der Fastnacht u. gegen die kath. Kirche. Der erbaul. Stoff aus dem klärt. Weitere Werke: Theses physicae. Rostock 1701. Evangelium nach Lukas wird aufgelockert – Discursus politicus. Lund 1709. – Oratio pane- durch Bauernszenen, durch die Verwendung gyrica in memoriam victoriae. Lund 1711. – Fas- aus der lat. Komödie bekannter Typen u. ciculus inscriptionum singularium in itinere Italico durch die ergötzl. Witze der Clownfigur Jocollectarum. Lpz. 1726. – Remarques nouvelles hann Clant, der wie die Bauern Plattdeutsch
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spricht. Ebenfalls für den Schulgebrauch bestimmt waren zwei weitere Schriften N.s, das Drama Betseba, das einen Stoff aus dem AT bearbeitet, sowie eine griech. Grammatik, die N. 1640 veröffentlichte (Syntaxis graeca [...] ex optimis autoribus collecta [...]. Goslar. 21665). Weitere Werke: Meditatio amissae et restitutae hominum salutis ex sermone D. Bernardi ad festum annunciationis Mariae, carmine expressa. Goslar 1605. – Betseba. Das ist, Comoedia von Bekerung deß Königs David nach begangenem Ehebruch mit der Betseba, u. todschlag an jhrem Manne Uria, auß dem 11 u. 12 Cap. des 2 buchs Samuelis [...]. Goslar 1614. – Epinikia [griech.]. Sive carmen in solennem celebrationem XXIV. diei Martij, quo deus opt. max. civitatem Goslariensium ab invadente, et jam propugnacula quatiente inopinato hoste suo clementissime liberavit [...]. Goslar 1627. – Narratio [...] qua exponitur, quomodo civitatem imperialem Goslariam anno 1626, die 24. Martii [...] hostes inopinati desubito invaserint [...]. Goslar 1627. Ausgabe: Asotus. Ein Spiel vom Verlorenen Sohn. Neu hg. u. eingel. v. Hans Gidion. Goslar 1958. Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Thedel Georg Tappe: Biga parodiarum horatianarum, beatissimae memoriae [...] Joannis Nendorfij [...] amici sui desideratißimi [...]. Goslar 1647 (Einblattdr.). Internet-Ed.: VD 17. – Johann Trumph: Doctorum corona [...]. Goslar 1647 (Leichenpredigt). – Hugo Holstein: Das Drama vom Verlornen Sohn. Halle/S. 1880, S. 36 f. – F. Spengler: J. N. In: ADB. – Hans Gidion: Magister J. N. (1575–1647). In: FS Karl Frölich. Goslar 1952, S. 127–154. – HKJL, Bd. 1, Register; Bd. 2, Sp. 328, 1626 f. Robert J. Alexander / Reimund B. Sdzuj
Nendza, Jürgen, * 28.7.1957 Essen. – Lyriker. Nach dem Schulbesuch in Essen hat N. in Aachen Germanistik u. Philosophie studiert. Er wurde 1992 mit der sprachwiss. Dissertation Wort und Fiktion. Eine Untersuchung zum Problem der Fiktionalität in der Sprachzeichenkommunikation (Aachen 1992) promoviert. Aus demselben Jahr datiert sein erster Gedichtband Glaszeit (Andernach). Er zeigt N. als einen genauen Beobachter des Alltags u. der Natur. Die folgenden Gedichtbände Landschaft mit Freizeichen (Weilerswist 1996) u. und am Satzende das Weiß (Weilerswist 1999. Tb.Ausg. Aachen 2004) verfeinern die sprachl.
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Mittel seiner Wahrnehmung. Die Aufmerksamkeit richtet sich vornehmlich auf das Unscheinbare u. Periphere, sie deckt am vermeintlich Vertrauten das Übersehene auf. Die Aufrauung der Sprache wird dabei als rezeptionslenkendes Mittel bewusst eingesetzt. Metaphern u. Metonymien, Enjambements u. freie Rhythmen, eine verschachtelte oder verknappte Syntax stehen im Dienst gesteigerter Konzentration. Die Gedichte ergeben sich, N. zufolge, aus dem »Zusammenspiel von Konstruktion und Überraschung, Kalkül und Entdeckung, Handwerk und Rätsel« (Umkreisungen, s. u., S. 108). Es ist N.s Kunst, dass seine Dichtung trotzdem nicht angestrengt wirkt, sondern locker gefügt, fast schwebend zu sein scheint. In und am Satzende das Weiß ist die Beschäftigung mit den Gedichten von Tomas Tranströmer, Günter Eich oder Jürgen Becker spürbar. N. verwandelt sich deren Blick auf Realität auf eine eigenständige Weise an. Das Widmungsgedicht auf den 1995 hingerichteten nigerian. Bürgerrechtler Ken Saro-Wiwa zeugt von der Erweiterung des Horizonts von N.s Gedichten. In zunehmendem Maße öffnet sich sein Blick für die histor. Dimension von Landschaft. In Haut und Serpentine (Weilerswist 2004) sind es bes. die beiden Gedichtzyklen Hinterland u. Piegaresische Fenster, die die komplexe Verschmelzung von Geschichte, Landschaft u. subjektiver Wahrnehmung in sprachlich anspruchsvoller Weise durchführen. In der Formulierung, dass die Geschichte »mitläuft / durchs Vokabular«, wird die Anreicherung des Gedichts mit histor. Sinn explizit gemacht. Der Blick des Betrachters zieht der Landschaft gleichsam die Haut ab, um in ihren Narben, Falten u. Pigmenten nach den Spuren zu fahnden, die die menschl. Geschichte in ihr hinterlassen hat. In den Gedichtband Die Rotation des Kolibris (Weilerswist 2008) sind die Beobachtungen eingegangen, die N. auf einer Reise nach Trinidad-Tobago gemacht hat. N. überträgt darin das Prinzip seines Schreibens auf einen exot. Raum. Seine Gedichte öffnen sich der karib. Flora u. Fauna, der Kultur u. Geschichte des Inselstaats. N. integriert Redewendungen aus dem kreol. Englisch in seine Sprache u. lässt sich von ihrer Neigung zu Silbenverdopplungen in-
Neocorus
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spirieren. In der Flügelbewegung des Koli- Neocorus, Johannes, eigentl.: Johann bris, die einer liegenden Acht, dem Zeichen Adolph Köster, * um 1555/1560 Dithfür Unendliches, gleicht, entdeckt N. das marschen, † 1631 Büsum. – Chronist. Äquivalent seiner Poetologie des UnabN., als Sohn eines Pastors in Dithmarschen schließbaren. Für diese Dichtungstheorie aufgewachsen, studierte seit dem 27.10.1582 steht die Raummetapher der Serpentine. Ihin Helmstedt Theologie u. wurde 1587 in rer unabsehbaren Folge von Wendepunkten Büsum Schulrektor. 1590 ernannte man ihn ist die dialekt. Einheit von Begrenzung u. dort zum zweiten Prediger. Als 1614 die Öffnung eingeschrieben. N. hat für diese Pastorenstelle zu besetzen war, wurde ihm Struktur die treffende Formulierung von der ein anderer vorgezogen; später setzte man »Geborgenheit ins Offene« gefunden, die ihn aus unbekannten Gründen ab. Er lebte Hölderlins »Komm, ins Offene« mitschwindann bis zu seinem Tod als Bauer in Büsum. gen lässt. Sein einziges Werk ist eine 1598 begonnene Offenheit bezieht sich dabei ebenso auf den niederdt. Chronik des Landes Dithmarschen (Aus poet. Prozess wie auf das dichterische Subder Urschrift hg. v. Friedrich Christoph jekt. Wie N. sich zustimmend auf die proDahlmann. 2 Bde., Kiel 1827. Nachdr. Leer duktionsästhet. Auffassung von J. Becker be1978). Sie umfasst in ihrem Kern die Gezieht, dass jedes Gedicht als ein Individuum schichte der selbständigen Bauernrepublik zu betrachten ist, bei dessen Entstehung bis zu deren Ende 1559 u. geht danach zu der nicht auf Herstellungsverfahren anderer Gein Chroniken sonst üblichen annalist. Dardichte zurückgegriffen werden kann, gilt stellungsweise über. Der sie prägende Paauch für das dichterische Subjekt, dass es sich triotismus hat seine Wurzeln gleichermaßen mit jedem Akt des Sprechens neu konstituim Selbstbewusstsein der Dithmarscher wie iert. in der Germania des Tacitus. Auch der Stil ist 1998 wurde N. mit dem Lyrik-Preis Meran eine geglückte Verbindung volkstümlicher u. ausgezeichnet. Außer Lyrik hat N. eine Reihe klassisch-gelehrter Elemente. Das Buch ist die von Funkerzählungen für Kinder u. die Erbedeutendste Leistung der an der schleswigzählung Eine andere, eine Nacht (Weilerswist holsteinischen Westküste seit dem 15. Jh. 2002) verfasst, die, ausgehend von einem Zibezeugten Chronistik u. eines der letzten tat aus Becketts Roman Molloy um das großen Werke der mittelniederdt. Literatur. Wechselspiel von Intimität u. Fremdheit in Gelesen wurde es meist in einer in zahlreieiner Beziehung kreist. chen Abschriften überlieferten, kürzenden Weitere Werke: Finistère. Andernach 1993 Bearbeitung u. Fortführung des Bauern Hans (G.e). – Die Gelegenheit der Wiese. Ausgew. G.e. Detleff. Erst Dahlmann brachte die OriginalThe Chance of the Meadow. Selected Poems. Weilerswist 2007. Neuausg. 2009. – Flugtöne. handschrift 1827 zum Druck. Vlieggeluid. Dt. u. Niederländisch. Weilerswist 2008 (G.e). – Luftwurzeln. In: Umkreisungen. 25 Auskünfte zum Gedicht. Hg. Jürgen Brôcan u. Jan Kuhlbrodt. Lpz. 2010, S. 107–111. Literatur: Beatrice v. Matt: Verlautbarungen vor gefrässigen Horizonten. J. N.s Gedichtband ›und am Satzende das Weiß‹. In: NZZ, 12.8.2000. – Jürgen Egyptien: Schwellenkunst [Zu: Haut und Serpentine]. In: die horen 49 (2004), H. 216, S. 222–224. – Alexander v. Bormann: Luftwurzeln u. Wanderdüne. Zur Lyrik v. J. N. In: J. N. Flugtöne. Vlieggeluid. Weilerswist 2008, S. 94–100. Jürgen Egyptien
Literatur: Lionel v. Donop: J. A. Neokorus. In: ADB. – Reimer Hansen: Andreas Ludwig Jacob Michelsen über die niederdt. Schriftsprache des N. In: Jahresgabe der Klaus-Groth-Gesellsch. 18 (1975/76), S. 115–119. – D. Lohmeier: J. N. In: BLSHL, Bd. 5, S. 169–172 (Lit.). – Angela Lüdtke: Zur Chronik des Landes Dithmarschen v. J. A. Köster, gen. N. Eine historiograph. Analyse. Heide 1992. Dieter Lohmeier / Red.
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Nesen, Nes(s)enus, Nastadiensis, Nysenus, Konrad, * 1495 Nastätten, † 25.6.1560 Zittau; Nesen, Wilhelm, * 1493 Nastätten, † 6.7.1524 Wittenberg. – Humanisten. Die beiden aus bäuerl. Verhältnissen stammenden Brüder fanden früh Zugang zu den bedeutendsten humanist. Gelehrten ihrer Zeit. Wilhelm studierte ab 1511 klass. Philologie u. Philosophie zunächst in Basel (Bakkalaureat 1512, Magister artium 1515), wo er mit Zwingli u. Erasmus in Kontakt kam, dann in Paris u. Löwen. 1518 berief ihn Erasmus als Professor an das neu gegründete Collegium trilingue in Löwen, wo sich mit Jakob Masson (Latomus), Nikolaus von Egmont u. Jean Briard von Ath die scholast. Kritik an Erasmus’ textkrit. Verfahren bei seiner Neuedition des griech. NT (1516) formiert hatte u. von wo aus kurze Zeit später die Schriften Luthers scharf angegriffen wurden. Vor diesem Hintergrund ist der Ende 1519 gedruckte Dialogus (Eruditi adulescentis Chonradi Nastadiensis Germani Dialogus sane quam festivus bilinguium ac trilinguium, sive de funere Calliopes. Basel 1520) zu sehen, in deren Titel zwar Konrad als Verfasser genannt ist, die jedoch zumindest unter der Mitwirkung des Bruders entstanden sein dürfte. Nur so ist es zu erklären, dass Konrad, der zu dieser Zeit in Paris die Rechte studierte, detaillierte Kenntnisse von den Inhalten der Löwener Diskussionen hatte. Der Dialogus orientiert sich in der Form an Erasmus, im Stil an Lukian u. Hutten, die Pseudonyme der fünf Gesprächspartner sind auf die wichtigsten scholast. Theologen der Universität Löwen zu beziehen, die ähnlich wie in den Epistolae obscurorum virorum ihre wahren Motive selbst enthüllen. Die bissige Satire zielt jedoch nicht nur auf die Verspätung der Löwener, sondern ist zgl. der Versuch, die Sache Luthers zur Sache der humanist. Wissenschaft zu machen. So etwa wenn vom »chorus porcorum« (S. 82) den »Sophisten« vorgeworfen wird, sie würden mit ihrem Hass gegen die »magistri nostri« auch die Muse der epischen Dichtung u. der Wissenschaft (Kalliope) ins Grab bringen. In dieselbe Richtung argumentiert Wilhelm in einer
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weiteren Satire (Epistola de magistris nostris Lovaniensibus, [...] quibus debemus magistralem illam damnationem Lutherianam. Schlettstadt 1520. Straßb. 1521), die in die Form eines Briefs an Zwingli gekleidet ist u. Erasmus u. Luther gleichermaßen als die Opfer der Löwener vorführt. Wilhelms entschiedenes Eintreten für die Reformation brachte zwar in der Folgezeit eine Abkühlung seines Verhältnisses zu Erasmus mit sich, trug ihm aber hohes Ansehen seitens der Reformation ein. Nach einer dreijährigen Tätigkeit als Leiter der Frankfurter Lateinschule ging Wilhelm 1523 nach Wittenberg, wo er jedoch bereits ein Jahr später bei einer Kahnpartie in der Elbe ertrank. Sein Tod, dessen Augenzeuge Melanchthon war, löste bei den Reformatoren große Bestürzung aus, Luther äußerte sogar die Befürchtung, seine Gegner könnten daraus Kapital schlagen. Soweit sich anhand der wenigen erhaltenen Zeugnisse erkennen lässt, war Wilhelm v. a. darum bemüht, Humanisten u. Reformatoren für eine gemeinsame Front gegen die Vertreter der Scholastik u. der alten Kirche zu gewinnen. Dazu unterhielt er eine offenbar rege Korrespondenz mit Beatus Rhenanus, Melanchthon, Oekolampad, Hutten u. anderen. Für Luther war er ein wichtiger Informant über die Vorhaben von dessen Löwener Gegnern. Seine Wertschätzung gegenüber Wilhelm, den er gelegentlich als »feinen Menschen« charakterisierte, fand ihren Niederschlag auch darin, dass er ihm seine Entgegnung auf eine Streitschrift des Johannes Cochlaeus widmete. Konrad setzte nach dem Tod des Bruders seine Studien in Wittenberg fort (Immatrikulation am 14.6.1525) u. blieb wie dieser in engem Kontakt mit den Reformatoren, was zumindest aus einigen erhaltenen Briefen zu erschließen ist. Ab 1530 wirkte er als Praeceptor am Hof König Ferdinands I. u. wurde nach seiner jurist. (Lizentiats-)Promotion (1532) auf Empfehlung Melanchthons Stadtsyndikus von Zittau (1533), später Bürgermeister der Stadt. Dort hatte er maßgebl. Anteil an der Einführung der Reformation; literarisch trat er jedoch nicht mehr in Erscheinung.
Nespital Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Otto Kämmel: K. N. In: ADB. – Ders.: W. N. In: ADB. – Ernst Friedrich Haupt: W. u. K., Brüder N. [...]. Zittau 1843 (mit Ed. des ›Dialogus‹). – Georg Eduard Steitz: Der Humanist W. N. In: Archiv für Frankfurter Gesch. u. Kunst 4 (1877), S. 36–160. – Otto Clemen: Der Dialogus bilinguium ac trilinguium. In: ARG 1 (1903/04), S. 335–364. – Michael Erbe u. Peter G. Bietenholz: K. N. u. W. N. In: Contemporaries, Bd. 3, S. 12–14. – DBA. – Frank Hieronymus: W. N. In: HLS. Gerhard Wolf / Red.
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der Zeichnung der Charaktere (Typisierung) u. der Handlungsführung. Weitere Werke: Häusler Grothmann. Rostock 1914. – Wilhelm Marten. Rostock 1918. Literatur: Dietmar Trempenau: Frühe sozialdemokratische u. sozialistische Arbeiterdramatik (1890–1914). Stgt. 1979. – Thomas Wohlfahrt: R. N. In: Lexikon sozialist. Lit. Stgt. u. a. 1994, S. 344. Dietmar Trempenau / Red.
Nestroy, Johann (Nepomuk Eduard Ambrosius), * 7.12.1801 Wien, † 25.5.1862 Nespital, Robert, * 13.1.1881 Alt-Strelitz, Graz; Grabstätte: Wien, Zentralfriedhof (Ehrengrab). – Dramatiker. † 21.11.1961 Rostock. – Dramatiker. Über N.s Herkunft ist nichts Näheres bekannt. Er stammte aus einfachen Verhältnissen. Dennoch besuchte er die Universität Rostock u. begann sich nach beendetem Studium journalistisch zu betätigen. N. gründete 1903 die Zeitung »Morgenröte«, die nur bis zum Antritt seines Militärdienstes 1904 bestand. Ab 1905 schrieb er Theaterkritiken für die mecklenburgische »Volkszeitung« (Rostock). Nachdem er 1906 der SPD beigetreten war, wurde N. 1911 Landes- u. Feuilletonredakteur u. im Nov. 1918 Chefredakteur u. Herausgeber der Zeitung. 1919–1933 war er Mitgl. der Rostocker Stadtverordnetenversammlung. 1933 stellten ihn die Nationalsozialisten unter Polizeiaufsicht. Nach dem Krieg verfasste N. im Auftrag der SED die Beiträge zur Geschichte der mecklenburgischen Arbeiterbewegung vor dem ersten Weltkrieg (Bln. 1954). Er erhielt den Vaterländischen Verdienstorden der DDR in Silber. N. schrieb nicht für das sozialdemokrat. Laienspiel, seine Dramen waren für das Berufstheater, etwa die Freie Volksbühne, bestimmt. Die bekanntesten, das dreiaktige Schauspiel Tutenhusen (Hbg. 1912. Abdr. in: Aus den Anfängen der sozialistischen Dramatik II. Hg. Ursula Münchow. Bln. 1973) u. Verflucht sei der Acker... (Rostock 1913), schrieb N. zus. mit Franz Starosson. Beide Stücke, die die Auflehnung gegen die feudalen Verhältnisse auf dem Land bei beginnender Industrialisierung zum Inhalt haben, fanden in der SPDu. Gewerkschaftspresse außerordentl. Beachtung u. Zustimmung. Sie entstanden unter naturalist. Einfluss, überwinden ihn aber in
Sohn eines angesehenen Wiener Rechtsanwalts, zeichnete N., obwohl er in der Familie »Muki« genannt wurde, immer »J[ohann] Nestroy«. Nach einjährigem Studium der Rechtswissenschaften debütierte er 1822 als Sarastro im k. k. Hoftheater nächst dem Kärntnertore. 1823 heiratete er Wilhelmine Nespiesni, die ihm 1824 in Amsterdam einen Sohn gebar. Dort war er 1823–1825 als Bassist am Deutschen Theater engagiert; es folgten Engagements in der österr. Provinz, zunächst als Sänger, immer öfter aber als Schauspieler: in Brünn (wo ihm sein zensurwidriges Extemporieren bereits Schwierigkeiten mit der Polizei verschaffte), Graz u. Pressburg. Seine Frau verließ ihn 1827 (»Ist der Mann nicht vorlaut, wenn er das Weib seine Angehörige nennt?« heißt es noch in der späten Posse ›Nur keck!‹, 1943. Wien 1922). 1828 lernte N. in Graz die Sängerin Marie Weiler kennen, die seine Lebensgefährtin (zwei Kinder) wurde u. Gesangsrollen in vielen seiner Stücke aus den 1830er u. 1840er Jahren erhielt. Ihr Verhältnis war gespannt, nicht zuletzt infolge von N.s noch 1855/56 belegtem Hang zu kleinen Liebesaffären; die Auffassung der Ehe als »wechselseitige Lebensverbitterungsanstalt« – eine Formulierung seines Rivalen Friedrich Kaiser, die er 1840 in der Posse Der Färber und sein Zwillingsbruder übernahm – ist in N.s Werk ein wiederkehrendes Motiv. In Graz wurden N.s erste kom. Stücke aufgeführt: erhalten sind der Einakter Der Zettelträger Papp (1827. Wien 1910) u. ein abendfüllendes Zauberspiel, das 1829 den Titel 30 Jahre aus dem Leben eines Lumpen bekam
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(in: HKA), ein parodistisches Seitenstück zu einer populären Bearbeitung von Ducanges frz. Melodram Trente ans, ou La Vie d’un joueur. In diese Zeit gehört auch das längste seiner frühen Zauberspiele, Der Tod am Hochzeitstage (1829. In: SW). 1831 wurde er Mitgl. des von dem erfolgreichsten Theaterdirektor der Zeit, Carl Carl, geleiteten Ensembles im Theater an der Wien. Hier wurde N.s Partnerschaft mit dem Komiker Wenzel Scholz gegründet, die dem typischen Schema seiner Dramatik zugrunde liegt: die eher tölpelhaft-gemütl. Figuren, gespielt von Scholz, als Folie zum aggressiven Witz der von ihm selbst übernommenen Rollen. Bald beerbte N. Raimund in der dominierenden Stellung, die dieser seit den frühen 1820er Jahren auf den Wiener Vorstadtbühnen eingenommen hatte. Insbes. mit Der böse Geist Lumpacivagabundus, oder Das liederliche Kleeblatt (1833. Wien 1835), in dem N., Scholz u. Carl die Rollen des »liederlichen Kleeblatts« spielten, erzielte N. dauerhaften Erfolg. N. war in seinem tiefsten Wesen Skeptiker. Eines seiner bekanntesten Couplets endet mit dem charakterist. Refrain: »Und ’s is alles nit wahr, es is alles nit wahr« (Lorenz in: Die verhängnisvolle Faschings-Nacht). Diese angeborene Skepsis machte ihn zum natürl. Parodisten: Bes. geglückt ist unter den frühen Parodien Robert der Teuxel (1833. In: GW), eine Zauberposse, in der die herkömml. Technik der »Verwienerung« auf Meyerbeers romant. Oper Robert-le-diable angewendet wird. Mit der gleichen Skepsis begegnet N. dem alten Zauberspiel, wie sich etwa in der burlesk-satir. Handhabung der Konventionen des Besserungsstücks in Lumpacivagabundus u. dessen Fortsetzung Die Familien Zwirn, Knieriem und Leim (1834. In: GW) zeigt, aber auch schon in Der confuse Zauberer (1832. In: GW). Die günstige Aufnahme von Zu ebener Erde und erster Stock (1835. Wien 1838), einer Lokalposse, die auf einer zweigeteilten Bühne ein konventionelles Thema des Vorstadttheaters (den Kontrast zwischen Arm u. Reich) ohne Zauber behandelt, ließ ihn das Zauberstück aufgeben. Auch die Posse Die beiden Nachtwandler oder Das Notwendige und das Überflüssige (1836. In: GW) gefiel, u. folgerichtig suchte N. 1837 in Eine Wohnung ist zu vermieten (in:
Nestroy
GW) das zeitkrit. Moment mit der in Robert der Teuxel erprobten Lokalisierung zu verbinden. Gerade dieses Stück, dessen repräsentative satir. Bedeutung erst von Rio Preisner erkannt wurde, wurde aber (vermutlich in einer durch Zensureingriffe verstümmelten Fassung gespielt) ausgepfiffen u. erlebte nur drei Aufführungen. Nach Monaten des Experimentierens, die u. a. zur virtuosen Stilisierung der auf viergeteilter Bühne gespielten Posse Das Haus der Temperamente (1837. In: GW) führten, entstanden 1839–1844 in rascher Folge einige seiner gelungensten u. beliebtesten Stücke: Die verhängnisvolle Faschings-Nacht (1839. Wien 1841), Der Färber und sein Zwillingsbruder (1840. In: GW), Der Talisman (1840. Wien 1843), Das Mädl aus der Vorstadt (1841. Wien 1845), Einen Jux will er sich machen (1842. Wien 1844), Liebesgeschichten und Heiratssachen (1843. In: GW), Der Zerrissene (1844. Wien 1845). In allen diesen Werken spielte N. selbst die Zentralfigur, gefeiert in seinen Soloszenen (satir. Couplet u. Monolog). Bis 1847 wurde zu den meisten seiner Stücke die Musik – wichtiger Bestandteil des dramat. Schemas – von Adolf Müller (1801 bis 1886) beigesteuert. Die kom. Kraft von N.s Darstellung ist mehrfach bezeugt, u. als Schauspieler, der nahezu jeden Abend auftrat, beherrschte er mehr als ein Vierteljahrhundert das Wiener Vorstadttheater. Auch als Dramatiker dominierte er den Spielplan von Carls Bühnen, mit Possen, aber auch mit Melodramen wie Der Treulose (1836. In: GW). Die Zeitgenossen schätzten an N.s Werk v. a. den Witz; was den Kritikern entging, war das konsequente Verhältnis von Possenstruktur u. satirisch-weltanschaul. Moment. In der Spannung zwischen den Zentral- u. den Randfiguren der dramat. Fiktion spiegeln sich nicht nur gesellschaftl. Ungerechtigkeiten der Biedermeierzeit, sondern es wird wiederholt die von der Vorsehung (oder vom Schicksal) bestimmte Ordnung in Frage gestellt, welche in der Spielwelt der Posse, wo »das tyrannisch ernste Schicksal [...] in der Harlekins-Maske des Zufalls« erscheint (Mein Freund. 1851. Wien 1851), aufgehoben wird. Das Bild einer Weltordnung entsteht, in der Glück u. Verstand selten Hand in Hand gehen
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(Der Talisman), in der sich selbst die Freundschaft in der Praxis als hohle Fiktion erweist (Glück, Mißbrauch und Rückkehr [1838. Wien 1845], Der Zerrissene), in der der Fortschritt »viel größer ausschaut, als er wirklich ist« (Der Schützling) u. deren höchster Wert im »kategorischen Imperativ des Geldes« (›Nur keck!‹) besteht. Selbst die Geborgenheit des Alltags führt zu Fluchtträumen. Ausbruchsversuche bilden eines der Grundthemen des N.’schen Œuvres, sei es vor der Armut (Lumpacivagabundus, Der Talisman), der kleinbürgerl. Routine (Glück, Mißbrauch und Rückkehr, Einen Jux will er sich machen) oder vor dem Ennui (Der Zerrissene): Erst u. allein die Spielwelt eröffnet dem »Mann von Kopf« (Der Talisman) die Gelegenheit, sich durch Witz u. Geist zu bewähren. Die Unwahrscheinlichkeit des konventionellen Happy Ends wird oft ausdrücklich hervorgehoben (z.B. Einen Jux will er sich machen, Der Schützling, ›Nur keck!‹), was auf den Kontrast zwischen der utop. Ordnung der Spielwelt u. der vom Schicksal willkürlich bestimmten Wirklichkeit spielerisch hindeutet. Satire äußert sich in den krit. Reflexionen der räsonierenden Zentralfiguren wie auch in der Verkörperung der Ideale der Ehrlichkeit u. Integrität in weibl. Figuren: Babett (Glück, Mißbrauch und Rückkehr), Salome (Der Talisman), Kathi (Der Zerrissene). Seine eigene Theaterbesessenheit, aber auch die myth. Bedeutung, die der Spielwelt zukommt, liegt N.s wiederholter Thematisierung des Theaters, etwa in Theaterg’schichten durch Liebe, Intrige, Geld und Dummheit (1854. Wien 1854) u. Umsonst (1856. In: GW), zugrunde. Die Spielhandlung entlehnte N. meist frz., engl. u. dt. Komödien u. Romanen der Zeit (namentlich in den Jahren 1840–1845 diente eine Reihe von Pariser comédies-vaudevilles als Vorlage). Eine zentrale Rolle für Scholz wurde oft hinzugefügt (z.B. Melchior in Einen Jux will er sich machen). N.s Werk knüpft an die traditionelle Komödie der Wiener Vorstadttheater an; Bäuerle galt ihm als »Gründer und Vorbild in dem Genre dramatischer Dichtung«, in dem er sich selbst bewege. Gerade in der schöpferischen Bearbeitung seiner Vorlagen entfaltet sich N.s große sprachl. Selbständigkeit. In seiner Aufge-
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schlossenheit gegenüber fremden Stoffen zeigt sich aber zgl. die Verwandtschaft des Wiener Theaterbetriebs der späten Biedermeierzeit mit dem der anderen europ. Zentren des kommerziellen Unterhaltungstheaters. Bezeichnend für seinen Stil sind das virtuose Spiel mit verschiedenen Sprachregistern u. die vielen von ihm sorgfältig vorbereiteten aphorist. Wendungen. N.s fertige Stücke machen den Eindruck müheloser Leichtigkeit, aus dem erhaltenen Handschriftenmaterial lässt sich aber ersehen, dass er mit schier unerschöpfl. Geduld am Text feilte. Auch auf die Eingriffe der Zensur bereitete sich N. durch sorgsame, meist in eigene Reinschriften eingetragene provisor. Selbstzensur vor. Mitte der 1840er Jahre wandte sich N., der Mode des u. a. von Saphir verfochtenen sozialen »Volksstücks« folgend, zumal in den Possen Der Unbedeutende (1846. Wien 1849) u. Der Schützling (1847. In: GW) einer realistischeren Spielart der Komödie zu. Seit 1845 spielte Carls Ensemble ausschließlich im Leopoldstädter Theater, das Carl 1847 – den großen Erfolg von Der Schützling unterbrechend – niederreißen u. als »Carl-Theater« wiederaufbauen ließ. Die letzte N.-Premiere im Theater an der Wien war Unverhofft (1845. Wien 1848), die erste im Carl-Theater der heute noch viel gespielte Einakter Die schlimmen Buben in der Schule (1847. In: GW). Die Aufhebung der Zensur bei Revolutionsausbruch ermöglichte zum ersten Mal die unmittelbare Behandlung der Zeitgeschichte, u. in Freiheit in Krähwinkel (Wien 1849), zwischen Juli u. Okt. 1848 36-mal aufgeführt, wird u. a. mit der Zensur selbst abgerechnet: »Die Zensur is die jüngere von zwei schändlichen Schwestern, die ältere heißt Inquisition.« In dieser Posse verspottet N. den Geistesdruck des Metternich’schen Systems, sie ist aber zgl. eine Satire auf den v. a. in der N.-Rolle des Ultra verkörperten naiven Freiheitswahn der Revolutionäre, was N. scharfe Kritik einbrachte: Friedrich Kaiser etwa sah darin »eine Persiflage aller Freiheitsbestrebungen«. Die Ereignisse des Revolutionsjahrs finden auch in den Possen des nächsten Jahrs ihren Niederschlag, insbes. in Höllenangst (in: GW) u. in der klass. Parodie Judith und Holofernes (in:
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GW). Die Kritik am Hebbel’schen Original konzentriert sich auf die Gestalt des Holofernes, dessen hohler Größenwahn z.T. durch Verwienerung (die Rolle wurde von Scholz gespielt), z.T. durch parodist. Übertreibung entlarvt wird. 1849 entstand eine weitere Posse mit polit. Implikationen, Der alte Mann mit der jungen Frau (in: GW), die aber (wahrscheinlich mit Rücksicht auf die wieder eingeführte Zensur) unaufgeführt blieb (bis 1891). Über 70 Stücke N.s sind erhalten, in den 1850er Jahren ließen aber seine schöpferischen Kräfte spürbar nach. Nicht der Witz erlahmte, aber die dramat. Gestaltungskraft. Schon Mein Freund ist wesentlich länger als die Meisterpossen der Jahre 1838–1846, u. der letzte große Erfolg unter seinen abendfüllenden Possen, Kampl (1852. Wien 1852), ist das längste seiner Stücke. 1854 wurde N. nach Carls Tod Direktor des Carl-Theaters. Es dürfte z.T. auf diese neue Verantwortung zurückzuführen sein, dass nur noch eine weitere neue abendfüllende N.-Posse, Umsonst, bald aber auch als Einakter bearbeitet, aufgeführt wurde. Die Mode des Einakters entsprach v. a. dem Talent des 1852 von Carl engagierten Carl Treumann, der nach dem Tod Wenzel Scholz’ (1857) die führende Rolle im Ensemble neben N. übernahm. Im ambitioniertesten unter N.s späten Stücken, ›Nur keck!‹, war die Zentralfigur Stegreif ebenfalls für Treumann bestimmt; diese sehr freie Bearbeitung der berühmtesten engl. Komödie der Zeit, Boucicaults London Assurance, blieb unvollendet. 1860 zog sich N. in den Ruhestand nach Graz zurück, spielte aber 1861/62 wieder in Wien im neuen, von Treumann geleiteten Theater am Franz-Josefs-Quai. Hier kamen 1862 seine letzten Einakter, Frühere Verhältnisse (in: GW) u. die Offenbach-Bearbeitung Häuptling Abendwind (in: SW), beide von unverbraucht kom. Frische, zur Aufführung. Unter N.s Direktion waren mehrere Operetten von Offenbach im Carl-Theater gespielt worden, u. als Schauspieler hatte er 1860 die Rolle des Jupiter in Orpheus in der Unterwelt kreiert. So hat er wesentlich dazu beigetragen, der Wiener Operette der 1870er Jahre den Weg zu ebnen.
Nestroy
1843 hatte ihn Saphir den »Boz der Volksdichter« mit einer »Vorliebe zur Karikatur« genannt; was sich aber durch die Schärfe des Witzes ausdrückt, ist eine tiefe philosoph. Skepsis, die N. in erster Linie als ebenbürtigen Zeitgenossen Büchners u. Heines kennzeichnet. Vor allem die von Karl Kraus gefeierte satir. Sprachkunst N.s führte zu einer »Nestroy-Renaissance« im 20. Jh. Kraus, der auch zwei der von ihm in seinem »Theater der Dichtung« vorgetragenen N.-Bearbeitungen veröffentlichte (Das Notwendige und das Überflüssige. Wien 1920. Der konfuse Zauberer. Wien/Lpz. 1925), pries ihn 1912 als den »im Sprachwitz tiefsten, bis zur Lyrik unerbittlichsten satirischen Denker Deutschlands«. Auf die sozialkritische österr. Dramatik des 20. Jh. (Horváth, Soyfer, Jelinek) übte er einen nachhaltigen Einfluss aus. Ausgaben: Gesamtausgaben: Ges. Werke (= GW). Hg. Vinzenz Chiavacci u. Ludwig Ganghofer. 12 Bde., Stgt. 1890/91. – Sämtl. Werke. (= SW). Hg. Fritz Brukner u. Otto Rommel. 15 Bde., Wien 1924–30. – Sämtl. Werke. Hist.-krit. Ausg. (= HKA). Hg. Jürgen Hein, Johann Hüttner, Walter Obermaier u. W. Edgar Yates. 43 Bde. in 57, Wien/Mchn. 1977–2010. – Teilausgaben: Ges. Werke. Hg. O. Rommel. 6 Bde., Wien 1948/49. – Komödien. Hg. Franz H. Mautner. 3 Bde., Ffm. 1970, 1987. – Briefe: Stl. Briefe. Hg. W. Obermaier (HKA). Wien/Mchn. 2005. Literatur: Forschungsberichte: Jürgen Hein: J. N. Stgt. 1990. – Friedrich Walla: J. N. im Urteil u. Vorurteil der Kritik. In: ÖGL 35 (1991), S. 242–262. – Peter Branscombe: The N. Year. In: Austrian Studies 11 (2003), S. 185–195. – Zeitschrift: Nestroyana. Wien 1979 ff. – Gesamtdarstellungen: Otto Rommel: J. N. Wien 1930 (= SW, Bd. 15). – Rio Preisner: J. N. N. Der Schöpfer der trag. Posse. Mchn. 1968. – Franz H. Mautner: N. Heidelb. 1974. – Sengle 3, S. 191–264. – Wendelin SchmidtDengler: N. Die Launen des Glückes. Wien 2001. – Herbert Zeman: J. N. N. Wien 2001. – Biografie: Otto Basil: J. N. Reinb. 1967. – Hermann Böhm: Zwischen Brünn, Graz u. Preßburg: J. N.s Jahre in der österr. Theaterprovinz. Aspekte u. Probleme einer mögl. N.-Biogr. In: ›Bei die Zeitverhältnisse noch solche Privatverhältnisse‹: N.s Alltag u. dessen Dokumentation. Hg. W. Edgar Yates. Wien 2001, S. 46–81. – Walter Schübler: N. Eine Biogr. in 30 Szenen. Salzb./Wien 2001. – Lebensdokumente: Walter Obermaier u. H. Böhm (Hg.): Dokumente. Wien 2009 (HKA). – Aufsatzsammlungen, Tagungsbände:
Nettelbeck Gerald Stieg u. Jean-Marie Valentin (Hg.): J. N. 1801–62. Vision du monde et écriture dramatique. Paris 1991. – W. Obermaier (Hg.): Die Welt steht auf kein Fall mehr lang. J. N. zum 200. Geburtstag. Wien 2001. – Gabriella Rovagnati (Hg.): J. N. N. Tradizione e trasgressione. Mailand 2002. – Einzelne Aspekte: Beziehungen: W. Obermaier: N. u. Ernst Stainhauser: In: Viennese Popular Theatre – Das Wiener Volkstheater. Hg. W. E. Yates u. John R. P. McKenzie. Exeter 1985, S. 41–54 (Anmerkungen: S. 154–156). – Wirkung: W. E. Yates: N. and the Critics. Columbia/SC 1994. – Birgit Pargner u. ders.: N. in München. Wien 2001. – Marc Lacheny: Pour une autre vision de l’histoire littéraire et théâtrale: Karl Kraus lecteur de J. N. Paris 2008. – Dramatik: Ansgar Hillach: Die Dramatisierung des kom. Dialogs. Figur u. Rolle bei N. Mchn. 1967. – Siegfried Diehl: Zauberei u. Satire im Frühwerk N.s. Bad Homburg 1969. – J. Hein: Spiel u. Satire in der Komödie J. N.s. Bad Homburg 1970. – Bruno Hannemann: J. N. Nihilist. Welttheater u. verflixter Kerl. Bonn 1977. – Hauke Stroszeck: Heilsthematik in der Posse. Über J. N.s ›Der Talisman‹. Aachen 1990. – J. Hein u. Claudia Meyer: Theaterg’schichten. Ein Führer durch N.s Stücke. Wien 2001. – Bearbeitung: Susan Doering: Der wienerische Europäer. J. N. u. die Vorlagen seiner Stücke. Mchn. 1992. – Vergleiche: Manfred Draudt: ›Der unzusammenhängende Zusammenhang‹: J. N. u. William Shakespeare. In: Maske u. Kothurn 26 (1980), S. 16–58. – Erwin Koppen: Die Zeitgenossen N. u. Labiche. In: Zeman 3, S. 615–632. – Walter Pape: ›Der Schein der Wirklichkeit‹: Monetäre Metaphorik u. monetäre Realität auf dem Wiener Volkstheater u. am Burgtheater: N. u. Bauernfeld. In: Realismus-Studien. FS Hartmut Laufhütte. Hg. Hans-Peter Ecker u. Michael Titzmann. Würzb. 2003, S. 45–59. – Sprache: Karl Kraus: N. u. die Nachwelt. In: Die Fackel, Nr. 349/ 350 (1912), S. 1–23. – Siegfried Brill: Die Komödie der Sprache. Nürnb. 1967. – Sigurd Paul Scheichl: Hochdeutsch – Wienerisch – Nestroy. N. u. das sprachl. Potential seines Wien. In: Vom schaffenden zum edierten N. Hg. W. E. Yates. Wien 1994, S. 69–82. – Herbert Hunger: Das Denken am Leitseil der Sprache. J. N.s geniale wie auch banale Verfremdung durch Neologismen. Wien 1999. – S. P. Scheichl: Wie wir Noblen uns ausdrücken... Hochdeutsch-Sprechen bei N. In: Theater u. Gesellsch. im Wien des 19. Jh. Hg. W. E. Yates u. Ulrike Tanzer. Wien 2006, S. 136–152. – Parodie: Max Bührmann: J. N.s Parodien. Kiel 1933. – Zeitgeschichte: John R. P. McKenzie: N.’s Political Plays. In: Viennese Popular Theatre. Hg. W. E. Yates u. ders. Exeter 1985, S. 123–138 (Anmerkungen: S. 160–162). – F. Walla: J. N. u. der Antisemitis-
528 mus. In: ÖGL 29 (1985), S. 37–51. – Wolfgang Häusler: Freiheit in Krähwinkel? Biedermeier, Revolution u. Reaktion in satir. Beleuchtung. In: ÖGL 31 (1987), S. 69–111. – Ders.: ›Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.‹ Stichworte für den Historiker aus J. N. N.s vorrevolutionärer Posse ›Der Schützling‹ (1847). In: Röm. Histor. Mitt.en 31 (1989), S. 419–451. – Vorzensur: J. Hüttner: Vor- u. Selbstzensur bei J. N. In: Maske u. Kothurn 26 (1980), S. 234–248. – Theatergeschichtlicher Kontext: Franz Hadamowsky: Das Carltheater unter der Direktion J. N.s. In: Jb. der österr. Leo-Gesellsch. (1926), S. 193–241. – Erich Joachim May: Wiener Volkstheater u. Vormärz. Bln./DDR 1975. – J. Hüttner: J. N. im Theaterbetrieb seiner Zeit. In: Maske u. Kothurn 23 (1977), S. 233–243. – Ders.: Das theatrale Umfeld N.s. In: Nestroyana 3 (1981), S. 140–155. – Wolfgang Neuber: N.s Rhetorik. Bonn 1987, S. 113–174. – Rudolf Münz: N. u. die Tradition des Volkstheaters. In: Impulse 11 (1988), S. 192–254. – J. Hein: Das Wiener Volkstheater. Darmst. 31997. – J. Hüttner: Machte sich N. bezahlt? In: Theater u. Gesellsch. im Wien des 19. Jh. Hg. W. E. Yates u. U. Tanzer. Wien 2006, S. 19–41. – Schauspielkunst: Ein zeitgenöss. Kritiker N.s [Bernhard Gutt]. In: Die Fackel, Nr. 657–667 (1924), S. 100–120. – Heinrich Schwarz: J. N. im Bild. Wien/Mchn. 1977 (HKA). – Überlieferung: Karl Gladt: Die Hss. J. N.s. Graz u. a. 1967. – Ernst Hilmar: Die N.-Vertonungen in den Wiener Slg.en. In: Maske u. Kothurn 18 (1972), S. 38–98. – F. Walla: Von der Urfassung zur (Ur )Aufführung oder: Wie echt sind N.s Texte? 1. Tl. In: Nestroyana 22 (2002), S. 101–120. – Ders.: Von der Hs. zur neuen hist.-krit. Ausg. oder Wie echt sind N.s Texte? 2. Tl. In: Nestroyana 24 (2004), S. 13–32. W. Edgar Yates
Nettelbeck, Joachim (Christian), * 20.9. 1738 Kolberg, † 29.1.1824 Kolberg. – Seefahrer u. Autobiograf. Die dreiteilige, von Johann Christian Ludwig Haken herausgegebene Autobiografie N.s – Joachim Nettelbeck, Bürger zu Colberg. Eine Lebensbeschreibung, von ihm selbst aufgezeichnet (1. u. 2. Bändchen, Halle 1821. 3. Bändchen, Lpz. 1823) – erlebte bis in unsere Zeit eine Vielzahl von Neuauflagen (zuletzt Nördlingen 1987; ohne Tl. 3) u. diente als Vorlage mehrerer literar. Bearbeitungen. Das anhaltende Interesse erklärt sich zunächst aus N.s abenteuerl. Lebenslauf als Seefahrer. Seine erste Reise, die er mit zwölf
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Jahren ohne Erlaubnis seiner Eltern unternahm, führte ihn nach Guinea u. Surinam, wo er den Sklavenhandel kennenlernte, den er in späteren Jahren, auf holländ. Schiffen segelnd, auch selbst trieb. Zwischen diesen größeren Reisen lebte N. immer wieder in seiner pommerschen Heimat, von wo aus er als Handelsschiffer die Nord- u. Ostsee befuhr. 1783 beendete N. seine Seefahrerlaufbahn, deren Gefahren u. Unglücksfälle er später in einfacher u. lebendiger Sprache schilderte, u. ließ sich in Kolberg als Brauer u. Branntweinbrenner nieder. Mehr noch als durch seine Seemannsabenteuer wurde N. durch die im dritten Teil der Autobiografie beschriebene Rolle berühmt, die er 1806/07 bei der Belagerung Kolbergs durch die napoleon. Truppen spielte. Als Organisator der Bürgerverteidigung seiner Heimatstadt wurde N. vom preußischen König ausgezeichnet u. in der Folge in einer deutschnationalen Rezeptionslinie zum »Bürgerpatrioten« stilisiert. In dem von Joseph Goebbels in Auftrag gegebenen u. von Veit Harlan inszenierten nationalsozialist. Propagandafilm Kolberg wurde N., gespielt von Heinrich George, zum Inbegriff »deutschen Durchhaltewillens«. Die Uraufführung fand am 30.1.1945 in der »Atlantikfestung La Rochelle« u. am 31.1.1945 in Berlin statt. Literatur: Hermann Klaje: J. N. Kolberg 1927. Christoph Weiß / Red.
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wurde er erst 1871 Professor. 1872–1883 war er Direktor am Gymnasium in Radautz. Als Lehrer förderte N. Karl Emil Franzos u. Mihail Eminescu. Verdienstvoll war seine Tätigkeit als Herausgeber u. Redakteur der »Bukowina« (1862–1867), der ersten dt. Zeitung des Landes. Die Lyrik N.s, der auf Vortragsreisen sein außergewöhnl. Talent für Stegreifdichtung erwies, ist im Formalen vielfältig, in Thematik u. Sprache konventionell. Von den historisierenden Erzählungen aus der Bukowina (Czernowitz 1869) ist Roxolan und Carpa am besten geglückt. N.s Hauptwerke sind das Epos Nogaia oder die Steppenschlacht (Radautz 1875), in sprachlich lebendiger Darstellung, doch in vielem antiken Topoi verpflichtet, u. das mehrmals umgearbeitete Lehrgedicht in 50 Gesängen Die Ideonen (Hbg. 1882), in dem er Themen wie die Kosmogonie, Philosophie, Religion, Metaphysik, Ethik u. schließlich (in allegor. Form) sein eigenes Leben behandelte. Weitere Werke: Die vier Himmelsgegenden der Ehe. Gedichte an Amalie. Wien 1855. – Lieder aus der Bukowina. Wien 1855. – Der Handel um die Seele. Czernowitz 1886 (D.). Literatur: Karl Emil Franzos: Der Wahrheitssucher. 2 Bde., Jena 1893. – Nagl-Zeidler 3, bes. S. 533–537. – Alfred Klug: E. R. N. Tle. 1 u. 2, Czernowitz 1931–33. Tl. 3 in: Südostdt. Forsch.en 4 (1939), S. 601–642, 887–940. – Rudolf Wagner: Dt. Kulturleben in der Bukowina. Wien 1981, S. 20–23. – Ders.: Eminescus Schulzeit in Czernowitz u. sein Lehrer E. R. N. In: Südostdt. Vierteljahresblätter 38 (1989), S. 103 f.
Neubauer, Ernst Rudolf, eigentl.: Rudolf Hubert Reitterer / Red. Vinzenz N., * 14.4.1822 Jíhlava (Iglau), † 4. oder 5.5.1890 Ry´dy´ut¸ i (Radautz); Grabstätte: ebd. – Lyriker, Epiker, Er- Neubauer, Paul, * 28.9.1891 Neustadt/ zähler, Dramatiker, Journalist, Improvi- Waag (Noveˇ Meˇsto nad Váhom/Slowakei), sator. † 1945 Fonyód/Ungarn. – Lyriker, Erzähler u. Journalist. N., Sohn eines Bäckers u. Kassakontrollors, studierte Philosophie in Prag, dann in Wien, ab 1844 auch Jura. 1847 wurde er Sekretär bei der amtl. »Wiener Zeitung« (bis 1848) u. publizierte den Gedichtband Schilf und Weide (Wien). N. beteiligte sich aktiv u. journalistisch an der Wiener 48er-Revolution, in Österreichisch-patriotischen Liedern (Wien 1849) huldigte er jedoch Kaiser Franz Joseph in servilster Form. Ab 1850 am Gymnasium in Czernowitz Lehrer für Deutsch u. Geschichte,
Nach seiner Promotion zum Dr. jur. arbeitete N. als Journalist beim »Prager Tagblatt«, zu dessen führenden Kritikern er neben Max Brod u. Walter Seidl gehörte, sowie als Redakteur des in Prag erscheinenden Blatts »Prágai Magyar Hirlap« u. Mitarbeiter des »Pester Lloyd«. 1922 erschien sein Romain Rolland gewidmeter Gedichtband Wohin (Lpz./Wien/Zürich), in dem er es unternimmt, »Bilder des Absoluten« zu gestalten.
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N. weist der Dichtung unter dem Eindruck des neuzeitl. Transzendenzverlusts metaphys. Qualität zu (»Dichtung ist Glaube«) u. versucht, diesen Anspruch mit seiner am Pathos des messian. Expressionismus orientierten Lyrik zu erfüllen. Der unter Selbstzweifeln leidende Lyriker identifiziert sich mit den Ausgestoßenen der Gesellschaft (v. a. den Dirnen) u. erzählt von seiner Sehnsucht nach Liebe; im Mittelpunkt des Bandes stehen die Gottesballaden, in denen sich Bilder einer kosmisch-visionären Gottsuche mit der Beschreibung alltägl. Gotteserscheinungen (in Gestalt einer Bettlerin oder in Form der Liebe) abwechseln. Sein als Manuskript preisgekrönter Roman Das fehlende Kapitel (Amsterd. 1937) löste einen Plagiatsskandal aus. Nach der Besetzung der CˇSR durch die dt. Wehrmacht wurde N. wegen seiner jüd. Herkunft verfolgt u. 1945 bei Fonyód ermordet. Weitere Werke: Maria. Roman einer modernen Frau. Vorw. v. Max Brod. Bln. 1928. – Mi közöm hozza [Was geht’s mich an]? Budapest o. J. (R.). Literatur: Walther Victor: P. N.s Werk. In: Das Wort, H. 6 (1937), S. 106 f. – Jürgen Serke: Böhm. Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literar. Landschaft. Wien/Hbg. 1987.
direkt aus dem Bereich der Medizin. So behandelt sein bekanntestes Werk, Die Gesundbrunnen (Breslau 1795. Neuausg.n Lpz. 1798 u. 1809), eine Folge von vier »Gesängen« in Hexametern, Geschichte u. Nutzen von Heilu. Mineralquellen, eingebunden in Reminiszenzen an die antike Mythenwelt. August Wilhelm Schlegel feierte die nur z.T. fiktive Darstellung als neuartiges medizinisches Lehrgedicht, das sowohl künstlerisch als auch in der Wissensvermittlung auf höchstem Niveau stehe (in: Jenaer Allgemeine Litteraturzeitung, Bd. 3, Nr. 243, 1797, S. 289–296). In der Tradition des Lehrgedichts u. in der lyr. Form huldigt N. seinen Vorbildern Vergil u. Johann Heinrich Voß. Neben weiterer, oft an der Anakreontik orientierter Lyrik (Gedichte. Liegnitz 1792) trat N. v. a. mit medizinischen Aufsätzen hervor, etwa zur Pockenimpfung u. Geburtshilfe. Weiteres Werk: Dramat. Skizzen der alten nord. Mythologie v. F. Sayers. Lpz. 1793 (Übers.). Literatur: Jördens 4 (1809). Dominica Volkert / Red.
Neubeck, Valerius Wilhelm, * 21.1.1765 Arnstadt/Thüringen, † 20.9.1850 Altwasser/Schlesien. – Arzt; Verfasser medizinischer Schriften, Lyriker, Übersetzer.
Neuber, Friederike Caroline, geb. Weißenborn, Beiname: Die Neuberin, * 8.3. 1697 Reichenbach/Vogtland, † 30. oder 29.11.1760 Laubegast bei Dresden; Grabstätte: Leuben bei Dresden. – Schauspielerin, Prinzipalin, Theaterreformerin, Verfasserin von Lustspielen, Vorspielen, Prologen, Gelegenheitsgedichten, Briefen.
N., einziges Kind eines Hofapothekers, besuchte das Lyceum in Arnstadt, ab 1783 Gymnasium u. Ritterakademie in Liegnitz. 1785 ging er zum Medizinstudium nach Göttingen, 1787 nach Jena, wo er 1788 zum Doktor der Arzneikunde promovierte. Als prakt. Arzt war er zuerst in Arnstadt, ab 1789 in Liegnitz tätig, von 1793 an als Kreisphysikus in Steinau/Oder, wo er wegen eines Augenleidens 1823 in den Ruhestand trat. Die Steinauer Brandkatastrophe von 1834 raubte ihm Haus u. Besitz, woraufhin er zu seinem Schwiegersohn nach Waldenburg u. Altwasser zog. Die literar. Produktion N.s war vergleichsweise gering u. bezog ihren Stoff mitunter
Das einzige Kind des Advokaten Daniel Weißenborn wuchs in Zwickau auf, wohin die Familie 1702 übersiedelt war. Die Mutter Anna Rosine, geb. Wilhelm, starb schon 1705. Dem drakonischen Erziehungsstil des Vaters ausgesetzt, unternahm N. 1712 mit dessen Gehilfen, dem Studenten Gottfried Zorn, einen ersten, gescheiterten Fluchtversuch, der ihr sieben Monate Haft eintrug. In den Prozessakten enthüllen sich die Charakterzüge jäher Entschlossenheit u. Sturheit u. eine frühreife Bildung. Nach der Autobiografie in Zedlers Universal-Lexicon (1740) war die väterl. Studierstube als literar. Refugium auch die Keimzelle eigener poet. Anstrengungen. Die endgültige Flucht, gemeinsam mit den Zwi-
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ckauer Primanern Johann Neuber u. Johann Gottlieb Förster, wurde ausgelöst durch ein Gastspiel von Christian Spiegelbergs kurhannoverschen Hofkomödianten, die sich im Pestjahr 1715 zur Braunschweiger Messe durchschlugen. Dort begannen für das Anfang 1716 nachgereiste Trio die schauspielerischen Lehrjahre. Sie machten N. vertraut mit den politischen u. wirtschaftsgeograf. Grundlinien der Marktführerschaft im Norden, an denen sie dereinst ihr unternehmerisches Kalkül ausrichten sollte. Als weiterer Glücksfall erwies sich, dass der kunstsinnige Blankenburger Herzog Ludwig Rudolf, nachdem er in der 18-jährigen Debütantin sogleich das ausdrucksstarke, genialisch selbstgewisse Talent erkannt hatte, ihren Werdegang fortan richtungsweisend förderte. Unter seiner Schirmherrschaft ehelichte sie 1718 in Braunschweig Johann Neuber. Spätestens 1721 wechselte das Paar zu den in Kursachsen privilegierten Haackeschen Hofkomödianten. Seit jeher garantierte der Absatzverbund Dresden-Leipzig mit der einzigartigen Kombination von Residenz, Universität u. drei Messen die Spitzenposition im dt. Theatergewerbe. Ein Führungsvakuum nach dem Tod der Prinzipalin Sophie Elenson-Haacke-Hoffmann (1725) durch Zerwürfnisse zwischen dem Witwer u. den Kindern erster Ehe bahnte N.s Aufstieg den Weg. Was Letztere später als feindl. Übernahme denunzierten, gelang 1727 auf der Leipziger Neujahrsmesse mit Unterstützung der vom Weißenfelser Hof entliehenen Familie Spiegelberg: die Feuertaufe der Prinzipalschaft von Johann Neuber u. N. Im selben Jahr folgte der alles entscheidende Transfer des kgl. polnischen u. kursächs. Privilegs. Der neuen Ära war im Siegeszug der ital. Komödie französischer Spielart, der Comédie italienne, ein tiefgreifender Umbruch des ästhet. Vokabulars vorausgegangen. Neben der Galionsfigur des Harlekin-Darstellers Joseph Ferdinand Müller hatte N. in gefeierten Solonummern maßgebl. Anteil an der Demontage der Gattungshierarchie. Nun bildeten abendfüllende Komödien-Formate Pariser Zuschnitts das Unterfutter einer radikalen Wende: der Aufkündigung des gesamten außerhalb Frankreichs entlehnten Reper-
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toirebestands. Dazu angestiftet hatte Gottsched nach ersten Kontakten mit dem professionellen Theaterwesen in Leipzig. Der frz. Klassizismus diente ihm als Leitbild einer zukünftigen dt. Dramatik, die nach den Gesetzen der »theatralischen Poesie« mit den fundamentalen Wertkategorien Vernunft, Ordnung, Regel, Reinheit, Tugend einen versittlichenden Erziehungsauftrag übernahm, ihren Platz im aufgeklärten Staat aber nur finden konnte, wenn sie die in Deutschland histor. Kluft zwischen Bühne u. Literatur u. speziell die Aversion des Schauspielgewerbes gegen das Versmaß überwand. Zum Träger dieses Reformkonzepts sah N. ihre Korporation berufen. Beseitigung der unnatürl. Maskenfiguren hieß das erste Postulat, Etablierung einer Kunstsprache in gebundener Form das zweite. Die metr. Neuerung, schrittweise mit zwei Handvoll Versübersetzungen frz. Tragödien auf der Strecke Leipzig-Blankenburg-Hamburg propagiert, wurde 1731 gekrönt durch Gottscheds Sterbenden Cato als Muster eines regelmäßigen dt. Original-Trauerspiels. Auf die kurzfristig beispiellose Monopolstellung, zu der Herzog Ludwig Rudolf dem Unternehmen N.s nach dem Regierungsantritt in BraunschweigWolfenbüttel mit seinem Privileg verholfen hatte, folgte der katastrophale Verlust der Leipziger Bastion. In einem 1733/34 erbittert ausgefochtenen Rechtsstreit gelang es dem Harlekin u. bisherigen Wolfenbüttler Hofakteur Joseph Ferdinand Müller, das polnisch-sächs. Privileg für sich u. seine Frau als Haackesche Erben zurückzuerobern. N. erklärte den Konkurrenzkampf noch mit großer polem. Gebärde zum epochalen Systemkrieg (Ein Deutsches Vorspiel. Lpz. 1734), im Jahr darauf besiegelte der Tod Ludwig Rudolfs den unternehmerischen Höhenfall. Die Kooperation mit Hamburger Literaten, ferner das holsteinische Privileg (1736) von Herzog Karl Friedrich, N.s neuem Kieler Mentor, sowie eine Wallfahrt ins frz. Straßburg gaben der Reformbewegung als nationalem Projekt zwar Auftrieb – doch alle taktische Gewandtheit half N. ohne den wirtschaftl. Rückhalt Leipzigs nicht aus finanzieller Not. Harlekins [nicht Hanswursts!] symbolische Verbannung in einem Vorspiel war 1737 der
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skandalträchtige Eröffnungszug für ein zweites polnisch-sächs. Privileg neben dem Müllers, für eine zweite, private, Leipziger Spielstätte. Zugleich verstärkten das emphat. Kieler Hofklima u. der Einzug ins Hamburger Opernhaus (1738), ein Prestigegewinn ohnegleichen, den Dissens zwischen Gottscheds poetologisch verengter Dramaturgie u. der »schweren Kunst«, die kulturelle Überlegenheit der »wahrhaft reinen Bühne« unter erdrückender Mühsal vor wechselnden Auditorien zu beglaubigen. Rettung aus dem Teufelskreis der Schulden bot 1740, nach Herzog Karl Friedrichs Tod u. dem Wegfall verheißener Subventionen, der Ruf an den Petersburger Hof der Zarin Anna Iwanowna. Auch sie starb, das Trauerjahr zwang 1741 zur Rückkehr nach Sachsen. Den Zutritt in Hamburg hatte sich N. mit einem zur Publikumsbeschimpfung geratenen szen. Epilog für immer verbaut. Bis 1749 blieb – von einer kurzen Unterbrechung ihrer Prinzipalschaft (1743/44) u. seltenen Gastspielen in Dresden, an thüring. Höfen u. 1745 zur Frankfurter Kaiserkrönung abgesehen – ihr Leipziger Domizil bei zunehmend ganzjährigem Spielbetrieb der Trainingsplatz für das dt. Drama. Schwer wog der Verlust des Textmonopols durch Gottscheds Sammlung Deutsche Schaubühne. Die Verspottung des Literaturpapsts im Vorspiel Der Allerkostbarste Schatz (1741) als umnachteten Tadler mit Blendlaterne machte N. zur willkommenen Beute des Pasquillantentums, dazu breitete das Pamphlet Probe eines Heldengedichtes (1743) hämisches Insiderwissen des Johann Gottlieb Förster u. ehemaliger Mitstreiter aus. Doch der Jugend, die ihr zulief, gehörte die ästhet. Zukunft. In N.s frühe u. stete Rezeption von Marivaux u. der Comédie larmoyante fügte sich 1745 die Uraufführung von Gellerts Betschwestern sowie 1747 seiner Zärtlichen Schwestern. Lessing, der gemeinsam mit Christian Felix Weiße Übersetzungen lieferte, bezeugte 1748 mit dem erfolgreichen Erstling Der junge Gelehrte, dass er N. die Erweckung zum Dramatiker schuldete. 1751 musste sie, von Heinrich Gottfried Koch, dem einst wichtigsten Weggefährten, aus Privileg u. Bühnenhaus verdrängt, in Zerbst völlig ruiniert die verbliebene Truppe auflösen.
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Eine späte Genugtuung bedeuteten 1753 bis 1755, nach der Neuordnung des Wiener Bühnenwesens durch Kaiserin Maria Theresia, das Engagement – ohne ihren Mann – am Kärntnertortheater u. die dort mit dem Schäferspiel Die Herbstfreude erworbenen Meriten. Seit 1756 lebte das völlig mittellose Künstlerpaar von der Großherzigkeit einer Dresdner Arztfamilie. Mit dieser floh N., 1759 verwitwet, in der Drangsal des Siebenjährigen Krieges nach Laubegast, starb dort 1760 u. erhielt eines stilles Armenbegräbnis, 16 Jahre später ein Denkmal. Die literaturgeschichtl. Einschätzung dominierte lange der Gottsched u. N. gemeinsame Kampf gegen den Stegreif der Maskenkomödie. Das randständige Leipziger Spektakel der Harlekin-Verbannung verselbstständigte sich in der purgativen u. latent xenophoben Version der »Verbrennung« mit beispielloser Prägekraft (Georg Wilhelm Pabsts N.-Film Komödianten, 1941). Es vernebelte so auch das zentrale Motiv von Gottscheds produktionsnah entwickeltem Sprachregiment: das Schaffen einer im Kreis der europ. Nationalliteraturen satisfaktionsfähigen dt. Dramatik. Für die nach den Gesetzen der Sprachkunst u. im Vernunftsinn gebundene Rede das Instrumentarium einer verstandeshellen Darstellungsform gefunden u. mit unüberbietbarer Zähigkeit durchgesetzt zu haben, ist N.s bahnbrechende Leistung. Unbestritten bei allen Differenzen bleibt das im Begriff der »Gottsched-Neuberschen Reform« abgebildete große gemeinsame Verdienst der Literarisierung des dt. Theaters, womit die konzeptionellen Standards für ein nat. Kunstdrama geschaffen wurden. Als Genie der Öffentlichkeitsarbeit hat N. mit ubiquitärer Reimfertigkeit in szenischen Prologen u. gedruckten Publikumsadressen für das avantgardist. Projekt geworben, in zwei ihrer drei veröffentlichten Vorspiele sehr entschieden eigene berufsständische u. kunstpolit. Positionen herausgestrichen: Der um sich greifenden pietist. Theaterfeindlichkeit setzte Die von der Weisheit wider die Unwissenheit beschützte Schauspielkunst (Lübeck 1736) Schranken, die Umwidmung von Gottscheds Schlüsselbegriff der Regel für die ästhet. Praxis u. Gestaltungskompetenz
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des Theaters vollzog Die Verehrung der Vollkommenheit durch die gebesserten deutschen Schauspiele (Straßb. 1737). Das einzige gedruckte, Maria Theresia gewidmete Lustspiel Das Schäferfest oder Die Herbstfreude (1753. 1754. 1764, alle Wien) feiert die Überwindung der alten Richtungskämpfe (alle als Neudr. in: Friederike Caroline Neuber. Das Lebenswerk der Bühnenreformerin. Poetische Urkunden. Hg. Bärbel Rudin u. Marion Schulz. 1. u. 2. Tl., Reichenbach 1997, 2002). Züge N.s trägt Goethes Figur der Prinzipalin Madame de Retti, die in Wilhelm Meisters theatralischer Sendung phänotypisch u. als histor. Subjekt eine Entwicklungsstufe der darstellenden Kunst vertritt. Wichtige neuere belletrist. Deutungen stammen von Petra Oelker (Die Neuberin, 2004; Neufassung von Nichts als eine Komödiantin, 1993) u. Angelika Mechtel (Die Prinzipalin, 1994). Weitere Werke: Lustspiel: Die närrischen Grillen. 1746. – Vorspiele: Die v. der Tugend getröstete u. v. dem Heldenmuth beschützte Guelphis. 1735. – Die ruhige u. geseegnete Wohnung der Weisheit, der Wahrheit, des Apollo, u. des Mercurius. 1735. – Die dankbaren Schäfer. 1735. – Die Umstände der Schauspiel-Kunst in allen vier Jahres-Zeiten. 1735 (u. d. T. Die Verbindung der vier Jahrszeiten. 1738). – Die Herbst-Freude. 1736 (identisch mit: Der Ursprung der Schauspiele. 1738). – Der Friede im Dt. Reiche. 1737. – Die gröste Glückseeligkeit in der Welt. 1737. – Vorspiel, die Verbannung des Harlekin vom Theater behandelnd. 1737. – Der alte u. neue Geschmack. 1738 (Umarbeitung des Straßburger Vorspiels für Hamburg). – Die Zufriedenheit. 1741. – Der Tempel der Vorsehung. 1741. – Der Allerkostbarste Schatz. 1741 (Wiederholung mit einer Persiflage des 3. Akts v. Gottscheds Cato. 1743). – Die Liebe der Unterthanen. 1741. Weitere Ausgaben: Ein dt. Vorspiel (1734) u. Das Schäferfest (1754). Internet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. Literatur: Bibliografien: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wiss.en u. Künste. Bd. 24, Lpz. u. Halle 1740, S. 18–20. – F. C. N.: Ein Dt. Vorspiel [...]. Neudr. hg. v. Arthur Richter. Lpz. 1897. Neudr. Darmst. 1966, S. V-XIV. – Weitere Titel: Friedrich Johann Frhr. v. Reden-Esbeck: C. N. u. ihre Zeitgenossen. Ein Beitr. zur dt. Kultur- u. Theatergesch. Lpz. 1881. Neudr. mit Nachw. u. einer Ergänzungsbibliogr. v. Wolfram Günther. Lpz. 1985. – Gustav Waniek: Gottsched u. die dt. Lit. seiner Zeit. Lpz.
Neubur 1897, bes. S. 119–125, 335–345. – Hannah Sasse: F. C. N. Versuch einer Neuwertung. Diss. Freib. i. Br. 1937. – Lieselotte Scholz u. Richard Daunicht: Die Neuberin. Materialien zur Theatergesch. des 18. Jh. Bln. 1956. – Hilde Haider-Pregler: Des sittl. Bürgers Abendschule [...]. Wien/Mchn. 1980. – Hannelore Heckmann: Theaterkritik als Unterhaltung: Die Vorreden u. Vorspiele der Neuberin. In: Lessing Yearbook 18 (1986), S. 111–127. – Barbara BeckerCantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit. Frau u. Lit. (1500–1800). Stgt. 1987, S. 310–317. – Linda Schulte-Sasse: Entertaining the Third Reich. Illusions of Wholeness in Nazi Cinema. Durham/London 1996, S. 176–202. – Erika Fischer-Lichte: Vom zerstreuten zum umfassenden Blick: Das ästhet. u. zivilisator. Programm in den Vorspielen der Neuberin. In: Kurzformen des Dramas. Hg. Winfried Herget u. Brigitte Schultze. Tüb. 1996, S. 59–86. – Bärbel Rudin: F. C. N. In: Mitteldt. Jb. für Kultur u. Gesch. 4 (1997), S. 25–33. – Ruth B. Emde: Schauspielerinnen im Europa des 18. Jh. Ihr Leben, ihre Schr.en u. ihr Publikum. Amsterd./Atlanta 1997, S. 157–178. – Daniela Schletterer: Die Verbannung des Harlekin – programmatischer Akt oder komödiantische Invektive? In: Frühneuzeit-Info 8 (1997), S. 161–169. – Hedwig Meier: Ein Intermezzo für die reformierte Schaubühne: Die Predigtmusik. In: Kleine Schr.en der Gesellsch. für Theatergesch. 40/41 (1999), S. 23–30. – Vernunft u. Sinnlichkeit. Beiträge zur Theaterepoche der Neuberin. Ergebnisse der Fachtagung zum 300. Geburtstag der F. C. N., 8.-9. März 1997. Hg. B. Rudin u. Marion Schulz. Reichenbach 1999. – W. Günther: N. In: NDB. – B. Rudin: Venedig im Norden oder: Harlekin u. die Buffonisten. ›Die Hochfürstl. Braunschw. Lüneb. Wolffenbüttelschen Teutschen Hof-Acteurs‹ (1727–32). Reichenbach 2000. – D. Weiss-Schletterer: Das Laster des Lachens. Ein Beitr. zur Genese der Ernsthaftigkeit im dt. Bürgertum des 18. Jh. Wien u. a. 2005. – Alexander Nebrig: Rhetorizität des hohen Stils. Der dt. Racine in frz. Tradition u. romant. Modernisierung. Gött. 2007. – Anke Detken: Im Nebenraum des Textes. Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jh. Tüb. 2009, S. 74–106. Bärbel Rudin
Neubur, Friedrich Christian, * 30.3.1683 Parchim/Mecklenburg, † 4.8.1744 Göttingen. – Verfasser Moralischer Wochenschriften, Übersetzer, Historiker. N. besuchte ab 1698 die Domschule in Güstrow, studierte Theologie ab 1700 in Rostock, 1704 in Leipzig u. Jura ab 1706 in Halle, Wittenberg, Jena u. Rostock. Er beschäftigte
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sich ein Jahr in Lüneburg bei seinem Schwager, dem Superintendenten Georg Raphel, mit klass. Literatur, wurde 1708 in Hannover Hauslehrer, ging als solcher 1712 nach Helmstedt u. setzte dort sein Jurastudium fort. N. begann 1715 in Hannover seine richterl. Karriere, wurde 1716 Untersuchungsrichter am Oberappellationsgericht in Celle u. 1720 in Göttingen für etwa 20 Jahre kgl. Großbritannischer u. kurfürstlich BraunschweigischLüneburgischer Gerichtsschulze. 1737 wurde er dort zum Dr. jur. promoviert u. hielt in seinen letzten Jahren als (nichtbediensteter) Privatdozent jurist. Vorlesungen. N. war Mitgl. der Deutschen Gesellschaft in Leipzig u. seit 1740 Senior der Deutschen Gesellschaft in Göttingen, wurde aber Anfang 1744 abgesetzt. Er starb in dürftigen Verhältnissen. N., der bei Thomasius u. dessen Schülern Nicolaus Gundling u. Augustin von Leyser studiert hatte, steht mit seinem der Satire u. dem Gemeinwohl verpflichteten Werk der Frühaufklärung nahe. Kennzeichnend dafür sind seine Moralischen Wochenschriften »Der Bürger« (Gött. 1732/33) und »Der Sammler« (Gött. 1736) u. seine Teutsche Uebersetzung von Senecas Satyre auf den Tod und die Vergötterung des Kaisers Claudius (Lpz. 1729). Literatur: Georg Christian Gebauer: Ad panegyrin in qua sex merentissimis iuris utriusque candidatis solennium inauguralium Georgiae Augustae [...] honores et privilegia doctoralia ritu legitimo conferet [...]. Programm. Gött. 1737, S. 16–19. – Jöcher/Adelung 5, Sp. 536 (mit vollst. Werkverz.). – C. F. Weichmanns Poesie der NiederSachsen (1721–38). Nachweise u. Register. Hg. Christoph Perels, Jürgen Rathje u. Jürgen Stenzel. Wolfenb. 1983, S. 132. – DBA. – Detlef Döring: Die Gesch. der Dt. Gesellsch. in Leipzig [...]. Tüb. 2002, Register. – Die deutschsprachige Presse [...]. Bearb. Bruno Jahn. Bd. 2, Mchn. 2005, S. 756. Jürgen Rathje / Red.
Neuburger, Kurt, auch: Kew Rubugener, * 1.11.1902 Berlin, † 30.3.1996 Berlin. – Theaterschaffender, Verfasser von Lyrik, Prosa u. Drama. N. wuchs in Gehlsdorf bei Rostock auf u. begann nach dem Abitur eine Bühnenausbildung am Rostocker Stadttheater. Zunächst
wirkte er als Schauspieler, Dramaturg u. Regisseur in Rostock, Lübeck, Breslau u. Berlin, gab das Theater aber auf, bevor die Nationalsozialisten ein Berufsverbot verhängen konnten. Nach 1933 schlug sich N. als Musiker u. Schlagersänger in Berlin durch u. nutzte als Conférencier die »letztverbliebenen Möglichkeiten, bei der Kabarett-Ansage vom Podium aus, ohne Vorzensur öffentlich das NS-Regime anzuprangern« (Selbstvita in: Knaben nicht minder. Bln. 1988). Das lyr. Debüt des Abiturienten erschien als Privatdruck (Junge Lieder auf alten Saiten. Rostock 1920), weitere literar. Arbeiten, darunter das Drama Zwischen Traum und Tag (1926), blieben unpubliziert. Die Herausgabe der Berliner Schwulen-Zeitschrift »Die Fanfare« (1924/25) ist kaum bekannt. Ab 1945 engagierte sich N. als freier Schriftsteller im Berliner literar. Leben, zuerst ehrenamtlich im Kunstamt Kreuzberg u. im Schlosspark-Theater, dann durch Gründung der Literarischen Werkstatt Kreuzberg. N.s literar. Arbeiten erschienen in Kleinstverlagen, Zeitschriften u. Sammelwerken, fanden aber wenig Beachtung. Walter Höllerer nannte ihn »den Mann der Ritninge«, da diese bildhaften Dreizeiler seine Erfindung sind. Ritninge (schwed. Zeichnung, auch: Plan, Entwurf, Skizze) sind formal weniger streng als Haikus, ähneln den japan. Kurzgedichten aber durch Naturmetaphern u. den Ausschluss abstrakter Begriffe. Erläuterungen zur Form finden sich u. a. im Band Nachtigall im Aus (Gött. 1987), der eine umfassende Summe von N.s Ritningen enthält. Um Tod u. Vergänglichkeit geht es in der Gedichtsammlung Gespräche vorm Ertrinken (London 1983), um pädagog. Eros in Knaben nicht minder, etwa in der nächtl. Umarmung des bronzenen »Genius der Humanität« zu Füßen des Lessing-Denkmals im Berliner Tiergarten. Von Begegnungen eines Abendländers mit fremden ostasiat. Kulturen erzählen die »Tagebuchblätter« Der Wasserbüffel ließ sich nicht den Leitstrick durch die Nase ziehn (Bln. 1983). Neben nachdenkl. »Ausgrabungen von Seele« enthält das Werk auch Beispiele für N.s typisch bissige, satir., oft absurde u. abgründig komische Erzählungen. So erlebt in Ar-
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tisten oder der Wettlauf (Bln. 1985) ein ehemaliger Jongleur seine Wiederauferstehung während der Beerdigung, seine Flucht vom Friedhof u. sein Weiterleben als Zeltbahnflicker bei einem Wanderzirkus. Wie schon in einzelnen Gedichten wechselt N. hier gelegentlich ins Plattdeutsche. Ingeborg Drewitz attestierte dem »Kauz aus Kreuzberg« zu Recht »Könnerschaft, eiskalte Beobachtung, sorgfältige Komposition«, Ernst Wichner bezeichnete ihn als »fast ausschließlich[en] Sprach-Arbeiter«. Trotz einer lebenslangen Hingabe an die Literatur hat N. kein größeres Publikum erreicht. Folgendes Ritning kündet wohl auch von seiner eigenen Einsamkeit: »ich bin so grab-allein / daß ich heut erschrak / als ich im Spiegel mich sah«. Weitere Werke: Der Tod des Herrn Tarantel. Bln. 1967 (D.). – Lesebuch. Gerüchte vom herzl. Leben. Köln 1977 (E.). – Wer füttert im Winter die Fliege im Bernstein. Köln 1977 (L.). Literatur: Bibliografie: Ulrich Goerdten, in: K. N.: Vorgänge. Bln. 1985, S. 34–37. – Ingrid Kussmaul: Die Nachlässe u. Slg. des DLA. Bd. 1, Marbach 1999, S. 580 f. – Zu Werk und Vita: Ingeborg Drewitz: Kauz aus Kreuzberg. In: Zeit-Verdichtung. Wien 1980, S. 173 f. – Karin Kiwus (Hg.): Berliner Autorenstadtbuch. Bln. 1985, S. 137 f. – Ernst Wichner: K. N. wurde 85. In: L’80. Ztschr. für Lit. u. Politik 44 (1987), S. 5–8. Alexander Kosˇ enina
Neudörffer, Neudörfer, Johann d.Ä., * 1497 Nürnberg, † 12.11.1563 Nürnberg. – Schreib- (Modist) und Rechenmeister; Künstlerbiograf. Der Sohn eines Kürschners wandte sich früh der Kalligrafie u. Rechenkunst zu, wurde u. a. bei dem Kanzleischreiber Paulus Vischer u. dem Kompassmacher Erhart Etzlaub ausgebildet u. erwarb 1524, zus. mit seiner ersten Frau Magdalena, Witwe des Sängers Hanns Schellenmann, Hausbesitz unterhalb der Nürnberger Burg (Zu den Steinböcken) – als Wohnung u. Schulhaus zugleich. In Kontakt mit bedeutenden Nürnbergern, darunter dem Humanisten Christoph Scheurl, dem Ratsherrn Caspar Nützel sowie seinem Nachbarn Albrecht Dürer, wurde er 1531 Genannter des Größeren Rats, erhielt 1543 einen (1555 erweiterten) kaiserl. Wappenbrief
u. die Würde eines Comes palatinus. Handwerker, Künstler u. Lehrer in einem, ließ N. richtungweisende Werke zur Entwicklung der dt. Schreibschrift erscheinen: 1519 in Holzschnitt das Fundament Durch Johann Newdorffer [...], 1538 in Kupferstich Ein gute ordnung [...] – das bedeutendste Schreibbuch des 16. Jh. –, 1544 eine Anweysung zum Federschneiden, 1549 die Zusammenfassung seiner Methoden im Gesprechbüchlein zweyer schuler. Zahlreiche der kunstvollen Schreibbüchlein u. ihrer Bearbeitungen (Kurze Ordnung 1557/62; Anweisung der Frakturschrift), daneben kalligraf. Einzelwerke u. Schaublätter sowie Zeugnisse der Rezeption in Rezeptbüchern haben sich erhalten (Werkverz. bei Linke/Sauer 2007, S. 115–117). N.s mathemat. Arbeiten, denen er sich v. a. in späteren Lebensjahren zuwandte (das Porträt von Niclas Neufchâtel 1561, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, zeigt ihn mit einem Schüler, dem er einen Dodekaeder erklärt), dokumentieren mehrere Handschriften (Kaunzer 2004, S. 206–211) sowie zahlreiche Rückbezüge anderer RechenbücherAutoren, darunter v. a. seines Schülers Caspar Schleupner in seiner Practica (Breslau 1586). Für Simon Wolders New Türckenbuechlin (1558) schließlich lieferte N. Berechnungen, was an Material – von Menschen, Geld u. Geschütz bis hin zur Verpflegung –, zur Türkenabwehr aufzubringen sei. Fortgeführt wurde die Schreibmeistertradition durch N.s Sohn aus zweiter Ehe mit Katharina, Witwe des Goldschmieds Hanns Sidelmann, Johann d.J. († 1581) u. vor allem dessen Sohn Anton († 1628), einem herausragenden Kalligrafen. In N.s 1547 auf Anregung des Nürnberger Patriziers Georg Römer aufgezeichneten Nachrichten von Künstlern und Werkleuten der Reichsstadt stellte er, angeblich in nur acht Nächten, in anspruchsloser Form Informationen über 79 Persönlichkeiten zusammen, die er selbst noch gekannt hatte, darunter Dürer (für den er unter anderem die Texte unter den Öltafeln der Vier Apostel, München, Alte Pinakothek, schrieb), Adam Kraft, Veit Stoß u. Hans Sachs. Im 17. Jh. von Andreas Gulden († 1683) um 50 Personen erweitert, wurden sie erst im 19. Jh. (unzulänglich) gedruckt. Das Werk schließt eine Lücke in den
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dt. Künstlerbiografien der Zeit zwischen Johannes Butzbachs Libellus de claris picture professoribus (1505) u. Joachim von Sandrarts Teutscher Akademie (1675–79). Ausgabe: Georg Wilhelm Karl Lochner: Des J. N. [...] Nachrichten v. Künstlern u. Werkleuten [...] nebst der Forts. des Andreas Gulden. Wien 1875. Neudr. Osnabr. 1970. Literatur: Theodor Hampe: N. In: Thieme/Becker. – Albert Kapr: J. N. d.Ä. Lpz. 1956. – Werner Doede: Schön schreiben, eine Kunst. J. N. u. die Kalligraphie des Barock. Mchn. 1988. – Daniela Burkhardt: Die Anfänge des deutschsprachigen Künstlerportraits. Linguist. Untersuchungen zum Kunstbegriff u. zur Textgattung anhand der Werke ›Nachrichten‹ v. J. N. aus dem 16. Jh. u. ›Teutsche Academie‹ v. Joachim v. Sandrart aus dem 17. Jh. Diss. Univ. Augsb. 1993 (auch Mikrofiche-Ed.). – Wolfgang Kaunzer: J. N. d.Ä. aus Nürnberg, Kalligraph u. einflußreicher Mathematiker. In: Wege zu Adam Ries. Hg. Hartmut Roloff u. Manfred Weidauer. Augsb. 2004, S. 163–234. – Oliver Linke u. Christine Sauer: Zierlich schreiben. Der Schreibmeister J. N. d.Ä. u. seine Nachfolger in Nürnberg. Nürnb./Mchn. 2007 (mit Abb. der 5 Bildnismedaillen u. 2 Porträts N.s). Helgard Ulmschneider
Neuenahr, Hermann von, auch: de Nuenarius, De Nova aquila, * 1492, † 20.10. 1530 Augsburg; bestattet im Zisterzienserinnenkloster St. Mariengarten in Köln. – Humanistischer Autor, Herausgeber, Lehrer. Aus rheinischer Grafenfamilie stammend, wurde N. schon 1495 Kölner Domkanoniker; nach der Propstei in Aachen erhielt er 1524 die am Kölner Dom u. wurde damit Kanzler der Universität. Dort 1504 zwar immatrikuliert, erbrachte er nachhaltige Studienleistungen erst seit Jan. 1509 bei seinem vermutlich zweijährigen Aufenthalt an der Universität von Bologna, bei dem ihm der Kölner Humanist Johannes Caesarius zur Seite stand. Damals erworbene Kenntnisse in Griechisch u. Hebräisch befähigten ihn zur Lehre dieser Sprachen in Köln u. ließen ihn rasch in die Riege der führenden Humanisten Deutschlands aufsteigen. Den aus Italien mitgebrachten satir. Dialogus Osci et Volsci des Mariangelo Accursio sandte er an Johannes Reuchlin, der ihn freilich Melanchthon
überließ, welcher das Werk mit einer Vorrede an N. spätestens 1516 in Tübingen drucken ließ. Seit jenem Jahr korrespondierte N. mit Erasmus von Rotterdam, den er im Herbst 1518 sogar für mehrere Tage auf seinem Schloss Bedburg beherbergte. Hohe Reputation im Humanistenkreis erwarb sich N. während des Reuchlinstreites, als er den um den Dominikanerinquisitor Jakob Hoogstraten versammelten Feinden Reuchlins entgegentrat u. für diesen zentrale Verteidigungsschriften herausgab, so v. a. – als Antwort auf Hoogstratens Verurteilung von Reuchlins Augenspiegel – die Defensio Praestantissimi viri Joannis Reuchlin LL. Doctoris des Giorgio Benigni (Köln 1517), der zur päpstl. Kommission gehörte, die 1516 über den Augenspiegel zu urteilen hatte u. der mit theolog. Argumenten dessen umstrittene Anerkennung des Talmud für die christl. Glaubenslehre verteidigte u. die Bedeutung der hebr. Literatur hervorhob. Willibald Pirckheimer pries N. danach im Widmungstraktat seiner Epistola apologetica seiner Edition von Lukians Piscator (1517) als hervorragenden Theologen – was Hoogstraten postwendend in seiner polem. Apologia abwertete, die 1518 als Antwort auf den Benigni-Druck erschien, denn dieser Traktat erwies nach Ansicht der neueren Forschung der Causa Reuchlini einen größeren Dienst als die ungleich bekannteren Dunkelmännerbriefe. N. reagierte sofort mit der Veröffentlichung der Epistolae trium illustrium virorum, in denen er neben einem eigenen Brief an Reuchlin solche von Hermann von dem Busche, Ulrich von Hutten u. Reuchlin selbst publizierte, zudem eine anonyme Defensio nova Reuchlins u. seiner Position zur jüd. Literatur. N.s entschiedene Haltung im Reuchlinstreit resultierte aus seinem Bildungsprogramm, das er an prominentester Stelle im Juni 1519 als Bevollmächtigter des Kölner Erzbischofs auf dem Frankfurter Wahltag propagierte. Nach einer Rede an die Kurfürsten über Ruhm u. Ehre des Kaisertums wandte er sich im Auftrag einiger befreundeter Humanisten, »nomine studiosorum Germaniae«, an den designierten Römischen König Karl von Habsburg, um – unter Verwendung griech. Zitate aus Plutarch – gegen
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Neuffer
Literatur: Charles G. Nauert Jr.: Graf H. v. N. die (antihumanistischen) Sophisten zu argumentieren u. vom künftigen Kaiser mutig die and the Limits of Humanism in Cologne. In: HisVernichtung Hoogstratens als »unica pestis in torical Reflexions/Reflexions historiques 15 (1988), Germania« zu verlangen – wohl wissend um S. 65–79 (fehlerhaft). – Erich Meuthen: Kölner Universitätsgesch. Bd. 1: Die alte Univ., Köln 1988, deren langjährige gute Beziehung. Gedruckt S. 252, 379 f. u. ö. (Register). – Götz-R. Tewes: Die 1519 (bekannt u. d. T. Vivat Rex Carolus. Hg. F. Bursen der Kölner Artisten-Fakultät bis zur Mitte Pijper. In: Bibliotheca reformatoria neerlandica 9, des 16. Jh. Köln 1993 (Register). – Hans Peterse: 1912, S. 481–525), publizierte N. dort auch Jacobus Hoogstraeten gegen Johannes Reuchlin. sein Epigramm u. Distichon auf Karl sowie Mainz 1995, S. 79 f., 86–91 u. ö. (Register). – Hugo eine antikuriale, namens des dt. Adels an Karl Altmann: N. In: NDB. – Matthias M. Tischler: gerichtete Rede seines Kölner Humanisten- Einharts Vita Karoli. Hann. 2001, S. 873 f., freundes Jacobus Sobbius. Seine histor. 1665–1673 u. ö. (Register). – G.-R. Tewes: N. In: VL Dt. Hum. (in Vorb.). Götz-Rüdiger Tewes Kenntnisse u. Neigungen mündeten 1521 in einer eigenen Frankengeschichte u. einer viel beachteten, lange Zeit singulären Editio Neuffer, (Christian) Ludwig, * 26.1.1769 princeps der Karlsvita Einhards u. der sog. Stuttgart, † 29.6.1839 Ulm. – Lyriker. Einhard-Annalen, der N. einen achtseitigen, Bekannt ist N. nur noch als Freund Hölderals histor. Einführung konzipierten Wid- lins. Einer schwäbischen pietist. Honoratiomungsbrief an Karl V. vorausschickte, in renfamilie entstammend, besuchte er welchem er auch auf wichtige Vorarbeiten 1786–1791 das Theologische Stift in Tübinseines Freundes Konrad Peutinger hinwies. gen. Mit Hölderlin u. Rudolf Magenau bilVor allem mit diesem u. Pirckheimer (den N. dete er 1788 einen Freundschaftsbund. N. z.B. im Mai 1524 in Nürnberg besuchte) liebte die »Ausschweifungen« der Literatur, stand N. in einem engen, die überlieferten wie seine Familie rügte, u. wollte nach Briefzeugnisse übersteigenden gelehrten Schubarts Tod (1791) dessen »Chronik« fortAustausch, der sich auch in Projekten u. De- setzen. Als dichtender Pfarrer lebte er bis dikationsepisteln ausdrückte. Als Kanzler der 1803 in Stuttgart, wo er eine HofpredigerKölner Universität 1524/25 an der Ausarbei- stelle wegen des Verdachts, Jakobiner zu sein, tung humanistischer Reformprogramme be- nicht erhielt, kam über Weilheim u. Zell 1819 teiligt, versuchte er in den folgenden fünf nach Ulm, wo er ein biedermeierl. Leben Jahren folgerichtig Erasmus (vergeblich) für führte. 1805 erschien in Stuttgart die erste den Niederrhein zu gewinnen. Neben diplomat. Missionen im Auftrag Kurkölns zu den Sammlung seiner Gedichte. Neben seiner LyReichstagen von Regensburg (1528), Speyer rik, die sich in Themen u. Formen an die (1529) u. Augsburg (1530, wo er nach Anakreontik u. den Göttinger Hain anlehnt, schwerer Krankheit starb), auf denen er trotz gab er als »Veteran der schwäbischen Musen« eines fehlenden Bekenntnisses zur Reforma- poet. Almanache heraus u. übersetzte lat. tion v. a. mit Melanchthon einen freund- Autoren. Er gilt als Vertreter des »schwäbischaftl. Ausgleich pflegte, publizierte er 1529 schen Klassizismus«. Ausgabe: Poet. Schr.en. 3 Bde., Lpz. 1827/28. seine naturwiss. Untersuchungen, indem er Literatur: Willi Bauer: L. N. Diss. Heidelb. einen gemeinsam mit seinem Freund Simon Riquinus, hgl. Hofarzt in Kleve, erarbeiteten 1931. – Paul Böckmann: Hymn. Dichtung im Brieftraktat über das Schweißfieber (De suda- Umkreis Hölderlins. Eine Anth. Tüb. 1965. – Jotoria febri) sowie eine seit vielen Jahren mit hann Kreuzer (Hg.): Hölderlin-Hdb. Stgt/Weimar 2002, S. 27 ff. Gerhard Kurz Pirckheimer vertiefte krit. Deutung der Pflanzennamen im Werk des berühmtesten Pharmakologen der Antike, Pedanios Dioskurides, vorlegte (postum 1532 als Tl. 2 der Herbarum vivae eicones des Otto Brunfels gedruckt).
Neugebauer
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Neugebauer, Wilhelm Ehrenfried, * 1735 Neukirch, Benjamin, * 27.3.1665 Roniken oder 1736 Breslau, † 7. oder 8.4.1767 bei Guhrau/Schlesien, † 15.8.1729 AnsWien. – Erzähler, Odendichter. bach; Grabstätte: ebd., Friedhof. – Jurist; Lyriker, Übersetzer. Der Advokatensohn N., der sich nach abgebrochenem Jurastudium (Frankfurt/O., Greifswald) u. Aufenthalten in Danzig, Berlin u. Mecklenburg 1763 in Wien niederließ, versuchte sich als freier Schriftsteller zu etablieren. Dabei bediente er sich der beim Publikum beliebten Gattungen: der Ode (Zwei Oden auf Die Siege des Königs bey Roßbach und Neumark. Breslau 1758), der Fabel (Die Fabeln des Fuchses nebst einem Versuch in Todtengesprächen. Glogau 1761), der Moralischen Wochenschrift (»Der Verbesserer«, Wien, Okt. 1766 bis April 1767) u. des Romans (Der teutsche Don Quichotte, Oder die Begebenheiten des Marggraf von Bellamonte. Breslau/Lpz. 1753. Neudr. Stgt. 1971; zus. mit Zwei Oden u. anderen Schriften. Neudr. Bln./New York 1972; zus. mit Fabeln des Fuchses u. Todtengespräche). Die Kontakte, die N. mit Gottsched u. den Berliner Aufklärern zu knüpfen versuchte, scheinen wenig erfolgreich verlaufen zu sein. Der literar. Streit mit Sonnenfels in Wien zeigt einen eher konservativen, am didakt. Literaturbegriff festhaltenden Autor. Mit seinem bedeutenden, ein Romanleser-Modell entwerfenden Roman jedoch wies er neue Wege. Noch vor Wielands Don Sylvio machte er mit erzählerischen Mitteln den fiktionalen Charakter von Literatur bewusst.
Weitere Werke: Der Feldzug der aliirten Armee, 1758. Bln./Lpz. 1758. Neudr. in: Daphnis 6 (1977), S. 240–248 (Heldengedicht). Literatur: Liselotte E. Kurth: W. E. N. – Der teutsche Don Quichotte. In: JbDSG 9 (1965), S. 106–130. – Ernst Weber: Nachw. zum Neudr. ›Der teutsche Don Quichotte‹. Stgt. 1971. – L. E. Kurth: Nachw. zum Neudr. dess. Bln. 1972, S. 345–415; Werkverz. S. 416 f. – Thomas Habel: W. E. N.s ›Der teutsche Don Quichotte‹. In: Gelebte Lit. in der Lit. Hg. Theodor Wolpers. Gött. 1986, S. 72–109. Ernst Weber
Der Sohn eines Juristen u. Ratsherrn wuchs in ärml. Verhältnissen auf, konnte aber durch finanzielle Unterstützung u. a. von Herrn von Bojanowski ab 19.3.1673 die Schule in Bojanova, dann das Gymnasium in Breslau u. Thorn besuchen. In Thorn hielt er sich 1682–1684 auf u. begann nach dem Vorbild Opitz’, Hoffmannswaldaus u. Lohensteins zu dichten. In Frankfurt/O. studierte N. ab dem 14.7.1684 Jura, Geschichte u. Staatswissenschaften, um sich wie sein Vater auf eine bürgerl. Laufbahn vorzubereiten. 1687–1691 war er Advokat in Breslau, was ihn jedoch völlig unbefriedigt ließ. Mehr Glück brachten N. seine ersten Gelegenheitsgedichte. Deren Anerkennung am Hof Friedrichs III. ermutigte ihn – nach einem erneuten Aufenthalt in Frankfurt, wo er Poesie u. Rhetorik lehrte –, sich Ende 1692 in Berlin niederzulassen. Zunächst schien seine Erwartung berechtigt, am Berliner Hof eine angemessene Stellung zu finden. Erste Kontakte zu einflussreichen Persönlichkeiten, wie z.B. Johann von Besser, Reuter, Danckelmann u. Paul von Fuchs, bahnten sich an. Bereits nach einem Jahr geriet N. jedoch in Geldschwierigkeiten. Sein früherer Universitätslehrer Samuel Stryk vermittelte ihm in Halle die Möglichkeit, im Winter 1693 Vorlesungen zu halten. Sein pädagog. Talent neben einer umfassenden Bildung u. Sprachkenntnissen sprachen allgemein an. In Stellungen als Hofmeister u. Reisebegleiter junger Adliger, die ihn nach Paris (N. übersetzte dort Boileau) u. auch wieder drei Jahre nach Berlin führten, verdiente er bis 1703 seinen Lebensunterhalt. 1703 erhielt er endlich die erhoffte Berufung als Professor der Poesie u. Rhetorik an die Ritterakademie in Berlin. Nicht wenig mag zu dieser Anerkennung die Veröffentlichung der Anthologie Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen [...] Gedichte erster Theil (Lpz. 1695) beigetragen haben, für die N. auch eine Vorrede von der deutschen Poesie verfasste. Ein zweiter Band war 1697 erschienen, der dritte 1703. Diese
Neukirch
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Sammlung, die N. zu großem Ruhm u. Ansehen verhalf, enthält – neben Texten von Hoffmannswaldau, Lohenstein u. Mühlpfort – Gedichte der meisten zeitgenöss., erfolgreichen Dichter. Schon 1700 war N. zum Mitgl. der Königlichen Preußischen Sozietät der Wissenschaften ernannt worden. Nun war es ihm auch möglich, eine Fülle eigener Gedichte in anderen Anthologien u. als Einzeldrucke in Umlauf zu bringen. Hinzu kamen andere wichtige Werke, wie z.B. die Anweisung von teutschen Briefen (Lpz. 1709 u. ö.) u. seine Übersetzung nach Fénelon: Die Begebenheiten des Prinzen von Ithaca, oder: Der seinen Vater Ulysses, suchende Telemach (Tl. 1, Lpz. 1727, Tle. 2. u. 3, 1739). 1718 wurde im Zuge der kgl. Sparmaßnahmen nach dem Tod Friedrichs I. die Ritterakademie in Berlin geschlossen. N. sah im Alter von 53 Jahren seine Existenz aufs Neue gefährdet. Er wurde allerdings (wahrscheinlich durch Vermittlung des preuß. Hofs) noch im gleichen Jahr als Hofrat u. Erzieher des Erbprinzen Karl Wilhelm Friedrich nach Ansbach berufen, wo er fast zehn Jahre seinen Aufgaben nachging. 1728 trat er in den Ruhestand. Er starb verarmt (wegen früherer Schulden) u. völlig vereinsamt. Eine Gesamtausgabe seiner Werke, an die er noch kurz vor seinem Tod dachte, ist nie erschienen. N. erlebte im Gegenteil, dass Dichter wie Gottfried Benjamin Hancke willkürlich mit seinen Gedichten verfuhren u. sie etwa nach Belieben ihren eigenen anhängten. Sein 1700 geschriebenes Hochzeitsgedicht Auf die Linck- und Regiußische vermählung, das N.s Absage an die spätbarocke Dichtung enthält, gilt heute als Wendepunkt in der Geschichte der deutschsprachigen Lyrik. N. selbst verhinderte jedoch nicht nur knapp zehn Jahre lang die Veröffentlichung dieses Gedichts in der Neukirchschen Sammlung (Tl. 6, S. 152–155), sondern widerlegte die darin diskutierten Argumente noch gegen Ende seines Lebens in dem Aufsatz Gedancken von Richtigkeit und Vollkommenheit der teutschen Sprache (entstanden 1729. Sorau 1733). Hier pries er wiederum Fantasie u. Schönheit, wie er sie einst als junger Autor in Hoffmannswaldaus u. Lohensteins Werken gefunden hatte. Verglichen mit seinen Zeitgenossen
verfügte N. über einen künstlerischen Sprachstil, der sich durch Beweglichkeit, Klarheit u. große Ausdruckskraft auszeichnete. Er wusste die literar. Einflüsse aus Italien u. Frankreich vorbildlich zu verarbeiten u. bahnte damit kommenden Generationen den Weg. Weitere Werke: Galante Briefe u. Getichte. Coburg 1695. Internet-Ed.: HAB Wolfenbüttel. – Berlins unterthänige Gedancken, bey der höchstglückl. Vermählung [...]. Cölln an der Spree 1700. Internet-Ed.: HAB Wolfenbüttel. – Auserlesene Gedichte [...]. Hg. Johann Christoph Gottsched. Regensb. 1744. Ausgaben: Herrn v. Hoffmannswaldau u. andrer Deutschen auserlesene u. bißher ungedruckte Gedichte [...]. Lpz. 1695. Internet-Ed.: HAB Wolfenbüttel. – Trauerrede u. Trauergedicht für Sophie Charlotte (1705). In: Trauerreden des Barock. Hg. Maria Fürstenberg. Wiesb. 1973, S. 361–388. – B. N.s Anthologie. Herrn v. Hoffmannswaldau u. andrer Deutschen [...] Gedichte. Hg. Angelo George de Capua u. a. 7 Tle., Tüb. 1961–91. – Internet-Ed. mehrerer Werke in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 4, S. 2937–2957. – VD 17. – Weitere Titel: Wilhelm Dorn: B. N. Sein Leben u. seine Werke. Weimar 1897. – Franz Heiduk: Die Dichter der galanten Lyrik. Mchn. 1971. – Klaus Garber: Der locus amoenus u. der locus terribilis [...]. Köln u. a. 1974, Register. – Heiduk/Neumeister, S. 73, 212, 423 f. (Lit.). – Reinhard M. G. Nickisch: ›Die Allerneueste Art Höflich und Galant zu Schreiben‹. Dt. Briefsteller um 1700. Von Christian Weise zu B. N. In: Pathos, Klatsch u. Ehrlichkeit. Liselotte v. der Pfalz am Hofe des Sonnenkönigs. Hg. Klaus J. Mattheier u. a. Tüb. 1990, S. 117–138. – HKJL, Bd. 2, Sp. 979 f., 1630 f. u. Register. – F. Heiduk: B. N. In: NDB. – Lothar Noack: Christian Hoffmann v. Hoffmannswaldau (1616–79). Leben u. Werk. Tüb. 1999, Register. – Knut Kiesant: B. N. In: Noack/ Splett, Bd. 2, S. 301–311 (mit Schriftenverz.). – Tomasz Jablecki: ›Grosser Leute gunst zu kriegen ...‹. Ein Hochzeitsgedicht B. N.s auf die Vermählung v. Friedrich III. u. Sophie Charlotte (28. Sept. 1684). In: Hochzeit als ritus u. casus. Zu interkulturellen u. multimedialen Präsentationsformen im Barock. Hg. Miroslawa Czarnecka. Wroclaw 2001, S. 151–159. – Heinz Ludwig Arnold: Von der Regel-Poetik zur literar. Kritik. Zu den Vorreden der Neukirchschen Slg. In: Text + Kritik 154 (2002), S. 51–65. – Detlef Döring: Die Gesch. der Dt. Gesellsch. in Leipzig [...]. Tüb. 2002, Register. – Jörn /
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Neukirchsche Sammlung
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Steigerwald: Galanterie als kulturelle Identitätsbildung. Frz.-dt. Kulturtransfer im Zeichen der ›Querelles‹ (Dominique Bouhours, Christian Thomasius, B. N.). In: German Literature, History and the Nation [...]. Hg. Christian Emden u. a. Oxford u. a. 2004, S. 119–141. – Hans-Georg Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 4/2, Tüb. 2006; Bd. 5/2, Tüb. 1991, Register. – T. Jablecki: B. N. (1665–1729), s´ laski poeta przelomu wieków XVII i XVIII [B. N., schles. Poet an der Wende v. 17. zum 18. Jh.]. Warschau 2006. – Thomas Borgstedt: Gezielte Anstößigkeit [...]. In: Francesco Petrarca in Dtschld. Seine Wirkung in Lit., Kunst u. Musik. Hg. Achim Aurnhammer. Tüb. 2006, S. 243–255. /
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Erika A. Metzger / Red.
Neukirchsche Sammlung, auch: Breßlauische Sammlung. – Siebenbändige Anthologie deutscher Gedichte, Übersetzungen aus europäischen Sprachen u. Prosatexte. Die N. S. erschien, beginnend mit Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesene und bißher ungedruckte Gedichte, nebenst einer Vorrede von der deutschen Poesie, in sieben Teilen in den Jahren 1695 bis 1727 (der erste Band erst ab der Neuausgabe 1697 als »erster theil« bezeichnet), einzelne Bände wurden bis etwa 1755 neu aufgelegt. Verleger waren Thomas Fritsch (Leipzig), Gotthilff Lehmann (Glückstadt), Paul Straube (Frankfurt/M.) u. Michael Blochberger (Frankfurt/M. u. Leipzig). Von Benjamin Neukirch begonnen (die ersten zwei Bände erschienen 1695 u. 1697), wurde die N. S. nach dem Erscheinen des dritten Bandes 1703 nacheinander von den Literaten Christian Hölmann, Christoph Gottehr Burghart, Gottlieb Stolle, Ephraim Gerhard, Gottlob Friedrich Wilhelm Juncker u. anderen als Herausgeber u. Bearbeiter betreut. Die Rolle der einzelnen Verleger auch als Sammler u. Ankäufer der in der N. S. abgedruckten Texte ist dabei bis heute nicht geklärt. Erst seitdem Franz Heiduk 1969 die Entzifferung der Chiffre C. H. als Christian Hölmann gelang, ist es möglich, die Herausgeberfrage der Teile IV u. V (1704 u. 1705. Neubearb. 1712 u. 1710) im Zusammenhang mit den übrigen Bänden zu behandeln. Die N. S. repräsentiert die verschiedenen Tendenzen der dt. Lyrik um 1700. Neben
Rückgriffen auf Opitz u. die z.T. noch späthumanist. Lyrik seines Kreises (z.B. Tscherning, Dach) zeigen sich alle Übergänge von spätbarockem zu galantem Stil, von der schles. bis hin zur sächs. Dichtart. Bes. mit dem sechsten Band (1709), dem sog. »neuen Hoffmannswaldau«, überwand Stolle, d.h. Leander aus Schlesien, den spätgalanten Stil u. bahnte der Sammlung den Weg in das frühklassizist. 18. Jh. Hier u. im siebten Band wird der eher marinist. Ton in den Liebesgedichten abgelöst durch Texte, die den Einfluss Boileaus zeigen. Auch einige »galante Poetinnen« kommen zu Wort: eine sonst unbekannte »Florette«, Marianne Elisabeth von Breßler, Aurora von Königsmarck u. Friederike Caroline Neuber. Laut Ankündigung im siebten Teil war ein achter Band geplant, der jedoch nie erschien. Von den Zeitgenossen wurde die N. S. entweder als mustergültig gepriesen oder wegen ihrer erotisch-lasziven Verse heftig angegriffen (spätere Herausgeber nahmen deshalb auch religiöse Texte wie Psalmenbearbeitungen oder Nachdichtungen aus Thomas a Kempis auf): Beide Reaktionen ließen die Sammlung zu einem sensationellen buchhändlerischen Erfolg werden. Vergeblich bemühten sich andere Literaten u. Verlage, die N. S. zu imitieren u. womöglich zu übertreffen (Des schlesischen Helicons auserlesene Gedichte; Auserlesene [...] Gedichte unterschiedener [...] Männer; C. F. Weichmanns Poesie der Niedersachsen). Ihren Erfolg verdankte die N. S. zunächst Neukirch, der in seiner Vorrede zum ersten Teil die literar. Prinzipien herausarbeitete, nach denen er die Gedichte gesammelt hatte. Hier hob er auch diejenigen Dichter des 17. Jh. lobend hervor, deren »Schreibart« jeder Verfasser noch immer verbindlich zu folgen hätte, wenn er zu den besten Poeten gezählt werden wollte: Opitz, Fleming (»die heroische schreib-art«), Gryphius (»die bewegliche und durchdringende schreib-art«), Hoffmannswaldau u. Lohenstein (»die liebliche, galante und verliebte schreib-art«). In den Teilen I-III stellte Neukirch dann im Textteil exemplarisch jeweils diejenigen Verse zusammen, die seinen Kriterien in der Vorrede entsprachen. Er legte dabei auch die Unterabteilungen fest, die in den folgenden Teilen,
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Neukrantz
abgesehen von Umstellungen oder Umbe- locus terribilis [...]. Köln u. a. 1974, Register. – nennungen, fast völlig gleich blieben: Ga- Erika A. Metzger u. Michael M. Metzger: Opitz u. lante Gedichte, Verliebte Gedichte, Hoch- seine Zeitgenossen in der siebenbändigen Anth. zeits-Gedichte, Sinn-Gedichte, Begräbnis- ›Herrn von Hoffmannswaldau u. andrer Deutschen ... Gedichte‹. In: Chloe 10 (1990), S. 367–381. – E. Gedichte u. Vermischte Gedichte. Texte A. Metzger: Überlegungen zu Drucken der ›N. S.‹ namhafter Verfasser, manche nur unter ihren nach 1750. In: Daphnis 19 (1990), S. 511–518. – Initialen oder Chiffren angeführt (Assig, Dirk Niefanger: Die Chance einer ungefestigten Besser, Canitz, Christian Gryphius, Knorr von Nationallit. Traditionsverhalten im galanten DisRosenroth [der einzige kath. Verfasser der N. kurs. In: Der galante Diskurs. KommunikationsS.], Logau, Mühlpfort, Neumeister u. andere), ideal u. Epochenschwelle. Hg. Thomas Borgstedt stehen neben Hunderten von Texten von u. a. Dresden 2001, S. 147–163. – Heinz Ludwig Anonymi, die bis heute ein Rätsel geblieben Arnold: Von der Regel-Poetik zur literar. Kritik. Zu sind. Pietisten wie auch orthodoxe Luthera- den Vorreden der N. S. In: Text + Kritik 154 (2002), S. 51–65. Erika A. Metzger / Red. ner sahen ihre Verse im fünften u. sechsten Teil veröffentlicht. Im siebten Teil überwiegen Autoren aus dem Umkreis von Johann Neukrantz, Klaus (Fritz), * 27.5.1897 Ulrich König u. Gottsched, z.B. Christian Berlin, † nach 1941. – Romancier, ErzähGottlieb von Holtzendorff u. Samuel Seidel. ler, Journalist. Ein Gedicht von Günther schließt den siebten N. wuchs in einem bürgerl. Elternhaus auf, Teil der N. S. ab. Jeder der hauptverantwortl. Herausgeber nahm an der Jugendbewegung teil, meldete nahm außerdem auch einen beträchtl. Teil sich 1914 als Kriegsfreiwilliger u. schied 1919 eigener lyr. Texte in den von ihm edierten als Offizier aus. Im selben Jahr von sozialisBand auf, entweder weit verstreut oder als in tischem Gedankengut zu autodidakt. Studien sich geschlossenen Abschnitt. Das lässt sich angeregt, siedelte er nach Berlin über, bebes. deutlich am sechsten Band beobachten, suchte polit. Schulungen u. Arbeiterverden der Gelehrte Gottlieb Stolle nicht nur mit sammlungen u. veröffentlichte erste Erzäheiner ausführl. theoret. Vorrede wider die lungen. Als oppositionelles BetriebsratsmitSchmeichler und Tadler der Poesie eröffnet, son- glied war er zeitweise im Bezirksamt Kreuzdern ihn auch mit einem Sonderteil u. d. T. berg tätig. Nach dem KPD-Beitritt arbeitete Leanders aus Schlesien teutsche Gedichte ab- er als Redakteur u. a. für die »Internationale Arbeiterhilfe«, die »Welt am Abend« u. »Die schließt. Stolle bearbeitete auch NeuausgaRote Fahne«; in der »Linkskurve« rezensierte ben der Bände vier u. fünf, indem er Teile er u. a. Döblins Berlin Alexanderplatz negativ. seiner Lyrica nach Belieben hinzufügte. JunEine längere Reise führte ihn in die Sowjetcker, Herausgeber des siebten Teils, stellte union. N. war Mitgl. im Bund proletarischeine längere krit. Untersuchung der Hanckirevolutionärer Schriftsteller u. kurzzeitig schen weltl. Gedichte an den Anfang, seine Vorsitzender der »Unabhängigen Rundfunkeigenen Verse verteilte er über den gesamten autoren«, bevor er im März 1933 von den Band. Nationalsozialisten inhaftiert u. deportiert Ausgaben: Herrn v. Hoffmannswaldau u. andrer wurde. Er starb in einer Nervenheilanstalt. Deutschen auserlesene u. bißher ungedruckte GeAufsehen erregte N. mit Barrikaden am dichte [...]. Lpz. 1695. Internet-Ed.: HAB WolfenWedding. Roman einer Straße aus den Berliner büttel. – B. N.s Anthologie. Herrn v. Hoffmannswaldau u. andrer Deutschen [...] Gedichte. Hg. Maitagen 1929, das als zweiter Band in der Angelo George de Capua u. a. 7 Tle., Tüb. 1961–91. Reihe »Der Rote Eine-Mark-Roman« im Internationalen Arbeiter-Verlag (Bln. 1931. Literatur: Joachim Bark u. Dietger Pforte: Die deutschsprachige Anth. 2 Bde., Ffm. 1970. – Franz Bln./DDR 1959. Neuausg. Bln. 1988. Mit eiHeiduk: Die Dichter der galanten Lyrik. Bern/ nem Nachw. v. Walther Willmer) erschien, Mchn. 1971. – Joachim Schöberl: ›liljen-milch u. aber sofort verboten wurde. Der Roman rosen-purpur‹ [...]. Untersuchung zur N. S. Ffm. schildert die Ereignisse des 1. Mai 1929 1972. – Klaus Garber: Der locus amoenus u. der (»Blutmai«). Die soziale Anklage richtet sich
Neumann
gegen die Sozialdemokratie, die sich mit der verarmten Arbeiterschaft nicht solidarisch erklärt. N.s Barrikaden am Wedding spielen eine wichtige Rolle in den ästhet. Diskursen im ersten Band von Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands. Nicolai Riedel / Red.
Neumann, Alfred, * 15.10.1895 Lautenburg/Westpreußen, † 3.10.1952 Lugano; Grabstätte: München, Nordfriedhof. – Romancier, Dramatiker u. Übersetzer.
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1946 die amerikan. Staatsbürgerschaft annahm. Dämonie u. Faszination der Macht blieben auch weiterhin sein Thema: dargestellt am Beispiel der Geschwister Scholl (Es waren ihrer sechs. Amsterd. 1944) oder, wie in Der Pakt (Stockholm 1949), an südamerikan. Diktatur. Während einer Europareise erlag N., »ein Mehrer des Guten« (Thomas Mann), einem Herzleiden. Literatur: Doris Brett: Exil als Wendepunkt. Diss. University of Cincinnati 1975. – Guy Stern: A. N. In: Dt. Exillit., Bd. 1, Tl. 1, S. 542–570. – Wieland Grommes: ›Der Nachbar hört das Gras der neuen Schöpfung wachsen‹: A. N. u. Thomas Mann – eine Dichterfreundschaft. In: Thomas Mann in Mchn. 3. Hg. Dirk Heißerer. Mchn. 2005, S. 175–222. Annette Deeken / Red.
Studium der Kunstgeschichte, Verlagslektor bei Georg Müller, Dramaturg an den Kammerspielen – dies waren N.s Stationen in München, bevor er sich 1921 ganz dem Schreiben widmete. Ein kleiner Lyrikband sowie das Legendenbuch Die Heiligen (Mchn. 1919) waren schon erschienen. Erste Erfolge Neumann, Balthasar, getauft 30.1.1687 verzeichnete N. mit dem Roman Die Brüder Eger, † 19.8.1753 Würzburg; Grabstätte: (Warnsdorf 1924). Im selben Jahr heiratete er ebd., Marienkapelle. – Artillerist, Ingedie Tochter seines Verlegers u. wurde Nachnieur, Baumeister. bar u. Freund Thomas Manns (Briefwechsel. Hg. Peter de Mendelssohn. Heidelb. 1977). N. kam 1711 als Gießergeselle nach WürzDie Frage, ob Tyrannenmord gerechtfertigt burg. Um die Ingenieurslaufbahn einzusei, gestaltete N. in der Novelle u. erfolgrei- schlagen, trat er 1714 in die Artillerie ein. Seit chen Bühnenfassung Der Patriot (Stgt. 1925). 1719 maßgeblich für das fürstbischöfl. BauDamit hatte N. sein Grundthema entwickelt, wesen verantwortlich, hatte er 1720–1744 die das er vor wechselnden histor. Kulissen im- Bauleitung der Würzburger Residenz inne. mer neu arrangierte: »die Psychologie der Vor allem ital. u. Wiener Einflüsse (Guarino Macht und die intellektuelle Technik der Guarini, Johann Lucas von Hildebrandt) aufpolitischen Intrige« (Hermann Kesten). Als nehmend, führte N. die dt. Barockarchitektur Hauptwerk gilt sein Roman Der Teufel (Stgt.), zu ihrem Gipfel (Treppenhaus Schloss 1926 mit einem Teil des Kleist-Preises aus- Bruchsal, 1731 ff.; Treppenhaus Schloss Augezeichnet u. später erfolgreich dramatisiert gustusburg Brühl, 1740 ff.; Treppenhaus (Bochum 1954). Residenz Würzburg, um 1744; WallfahrtsNicht minder teuflisch als der Berater kirche Vierzehnheiligen, 1743 ff.; AbteikirLudwig XI. tritt die rechtsradikale Hauptfi- che Neresheim, 1747 ff.). 1732 richtete ihm gur in Der Held (Stgt.), dem Roman um den der Fürstbischof an der Universität WürzRathenau-Mord, auf – 1930 ein brisantes burg einen Lehrstuhl für Zivil- u. MilitärPsychogramm, das bei den Nationalsozialis- baukunst ein. Seine militärische Karriere beten auf erbitterte Feindschaft stieß. Nach endete N. als Obrist der Fränkischen Kreisderen Machtübernahme ging N., der auch als artillerie. Übersetzer (u. a. Lamartine, Musset) hervorAußer einer von ihm selbst herausgegebetrat, ins Exil nach Florenz u. publizierte nen Festschrift zur Einweihung der Hofkirfortan in engl. Sprache, darunter eine Ro- che Würzburg (Die Lieb zur Zierd des Hauß mantrilogie um Napoleon III. (Neuer Cäsar. GOTTES [...]. Würzb. 1745) hinterließ N. Lpz./Wien 1934. Kaiserreich. Amsterd. 1938. keine gedruckten Schriften. Jedoch sind mehr Die Volksfreunde. Amsterd. 1940). Einem als 200 Briefe z.T. beträchtl. Umfangs überHaftbefehl der Gestapo entging N. durch die liefert (vorwiegend Staatsarchiv Würzburg, Flucht über Nizza nach Los Angeles, wo er Bausachen 14/355, I-IV), die, zumeist an sei-
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nen fürstbischöfl. Auftraggeber gerichtet, einen umfassenden Einblick in die Arbeitsweise dieses wohl größten Baukünstlers seiner Zeit ergeben u. ein kulturhistor. Dokument ersten Ranges darstellen. Ausgaben: Briefe: Die Briefe B. N.s v. seiner Pariser Studienreise 1723. Hg. Karl Lohmeyer. Düsseld. 1911. – Die Briefe B. N.s an Friedrich Karl v. Schönborn. Hg. ders. Saarbr. u. a. 1921. – Max H. v. Freeden: Quellen zur Gesch. des Barocks in Franken [...]. Tl. 1/2, Würzb. 1950 ff. Literatur: Thieme/Becker 25. – Christian F. Otto: Space Into Light. New York u. a. 1979, S. 281 f. (Quellenbibliogr.). – Max H. v. Freeden: B. N. Mchn. 31981. – Hans Reuther: B. N. Mchn. 1983, S. 255 (Quellenbibliogr.). – Erich Hubala: B. N. 1687–1753. Stgt.-Bad Cannstatt 1987. – Bernhard Schütz: B. N. Freib. i. Br. u. a. 31988. – Thomas Korth: N. In: NDB. – Wilfried Hansmann: B. N. Köln 22003. – Zu den Briefen: Aus B. N.s Baubüro. Kat. Mainfränk. Museum Würzburg. Würzb. 1987, S. 105 f. Wolfgang Riedel / Wilfried Hansmann
Neumann, Caspar, * 14.9.1648 Breslau, † 27.1.1715 Breslau. – Evangelischer Theologe, Erbauungsschriftsteller, Statistiker. N.s Neigungen richteten sich zunächst auf die Medizin. Als Schüler des Breslauer Magdalenums bereitete er sich jedoch, gemäß dem Wunsch seines Vaters, des Kaufmanns u. Breslauer Steuereinnehmers Martin Neumann, auf das Theologiestudium vor. Am 18.10.1667 immatrikulierte er sich in Jena, wo er bei Weigel studierte. Nach seiner Magisterpromotion 1670 hielt N. dort Vorlesungen in Rhetorik u. Politik. 1673–1675 begleitete er den jüngsten Sohn Herzog Ernsts des Frommen auf einer Reise durch Süddeutschland, die Schweiz, Südfrankreich u. Italien. 1675 wurde er als Hofprediger nach Altenburg berufen. In Breslau übernahm N. 1678 die Stelle des untersten Diakons an St. Maria Magdalena. Während seiner Breslauer Amtszeit, seit 1688 als Pastor, betrieb N. zus. mit Breslauer Gelehrten, die der »Academia Naturae Curiosorum« nahestanden, mathematisch-naturwiss. Studien, korrespondierte mit Leibniz u. nahm Verbindung mit der »Royal Society« auf. 1697 wurde N. an die Breslauer Hauptkirche St.
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Elisabeth berufen u. auf Wunsch der protestant. Bürgerschaft, aber gegen den Einspruch der kaiserl. Behörden zum Inspektor der schles. Kirchen u. Schulen ernannt. Diese Ämter übte er bis zu seinem Tod aus. N.s Gebetbuch Kern aller Gebete, das vor 1680 schon in sechs Auflagen anonym erschienen war u. zunächst Johann Arndt zugeschrieben wurde, erlebte in den Jahren 1680 bis 1715 22 Neuauflagen, wurde in viele europ. Sprachen übersetzt u. war auch bei Katholiken beliebt. Aus dem Konvolut von N.s (meist postum gedruckten) Kasualpredigten sind zwei hervorzuheben, die N. anlässlich einer Kometenerscheinung im Jan. 1681 (Des Noah Regenbogen, und der itzt brennende Comet, einer des anderen Ausleger [...]. Breslau; vgl. dazu: Flugbl. Bd. 1, Nr. 209) u. eines Hagelunwetters im Okt. 1693 (DonnerWetter und Heuschrecken [...]. Breslau 1694) verfasst hat. N. klärt anhand dieser Erscheinungen seine Gemeinde über die natürl. Ursachen besonderer Naturphänomene auf, bekämpft den astrolog. Aberglauben u. demonstriert die Übereinstimmung des Bibeltextes mit den Ergebnissen der Naturforscher. Seine philosoph. Exkurse auf der Kanzel begründet N. in der Kometenpredigt damit, auch die Skeptiker als neue Zielgruppe ansprechen zu wollen. Für die Geschichte der dt. Literatursprache ist N. deshalb bedeutsam, weil er schon früh für einen natürlichen, leicht fassl. Predigtstil eintrat u. mit seinen übersichtlich gegliederten u. an Alltagsproblemen orientierten Predigten selbst einen Maßstab setzte. N.s Statistik über die Breslauer Geburten u. Todesfälle 1687–1691, die Edmond Halley 1695 in den Philosophical Transactions publizierte, beeindruckte Leibniz so, dass er den Pastor 1706 zur Aufnahme in die Berliner Sozietät der Wissenschaften vorschlug. Als Prediger u. Erbauungsschriftsteller, der seine Zuhörer mit den neuen Erkenntnissen der Naturwissenschaften bekannt machte u. die mathemat. Methode auf die Theologie zu übertragen suchte, gehört N. zu den Repräsentanten der dt. Frühaufklärung. Er bildete den Mittelpunkt eines Gelehrtenkreises, der auf die 1653 begonnene Rekatholisierungspolitik mit der Ausbildung einer iren. Fröm-
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migkeit reagierte u. die Physikotheologie als geeigneten Weg zur natürl. Gotteserkenntnis empfahl. Weitere Werke: Exercitatio academica de dispensatione circa legem naturae. Präses: Peter Vehr; Respondent: C. N. Jena 1668. – Disputatio secunda de dispensatione et quidem in specie circa legem naturae. Präses: P. Vehr; Resp.: C. N. Jena 1668. – M[agister]. C. N.s [...] in Altenburg vormahls gehaltene Leich-Abdanckungen [...]. Jena 1678. – Sechs-facher Kern-Schatz der Christen [...]. Braunschw. 1686. – Sieben-facher Kern-Schatz der Christen [...]. Braunschw. 1693. – Vor diesem, u. bißher gehaltene Trauer-Reden [...] in dreyen Theilen. Nebenst einer Anleitung wie dergleichen Trauer-Reden zu verfertigen [...]. Lpz. 1698. – Allerhand gesammlete Früchte v. mancherley Art [...]. 2 Tle., Breslau 1707–33 u. ö. – Trutina religionum quae hodie sunt [...]. Hg. Moritz Castens. Lpz. 1716 u. ö. – Auserlesenes u. vollständiges Gesang-Buch. Dresden 1718 u. ö. – Erndten- u. Ewigkeitspredigten. Hg. Christoph Pfeiffer. Breslau/Lpz. 1747. Ausgabe: Neukirch, Tl. 4, S. 424–428. Literatur: Bibliografie: VD 17 (mit fehlerhaften Zuschreibungen). – Weitere Titel: Adolf Schimmelpfennig: C. N. In: ADB. – Hildegard Zimmermann: C. N. u. die Entstehung der Frühaufklärung. Witten 1969 (ältere biogr. Lit.). – Estermann/Bürger, Tl. 1, S. 878; Tl. 2, S. 1037. – Ulrich Rose: C. N. In: Bautz. – Christian-Erdmann Schott: C. N.s ›Kern aller Gebete‹. Zum 350. Geburtstag des Breslauer Kircheninspektors. In: Jb. für schles. Kirchengesch. 76/77 (1997/98), S. 243–253. – Peter Koch: C. N. In: NDB. – C.-E. Schott: C. N.s (1648–1715) Programm zur Verbesserung des Gemeindegesangs in Schlesien. In: Jb. für schles. Kirchengesch. 81 (2002), S. 111–122. – Ralph-Jürgen Lischke: C. N. (1648–1715). Ein Beitr. zur Gesch. der Sterbetafeln. Bln. 2006. – Eberhard Günter Schulz: C. N. (1648–1715), Wissenschaftler, prakt. Theologe u. Schulmann. In: Über Schlesien hinaus [...]. Hg. Dietrich Meyer u. a. Würzb. 2006, S. 173–182. Barbara Bauer / Red.
Neumann, Gerhard, * 16.10.1928 Rostock, † 25.6.2002 Hamburg. – Lyriker. N., Sohn eines Lehrers, wurde 1944, im Alter von 15 Jahren, als Luftwaffenhelfer eingezogen. Er selbst bezeichnete dieses Ereignis als »Ende einer Kindheit«. Bis 1946 blieb er in amerikan. Kriegsgefangenschaft. Nach der Entlassung begann er in Rostock unter Auf-
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sicht der sowjet. Besatzer eine Ausbildung zum sog. Neulehrer. Als 1949 die DDR gegründet wurde, floh N. in die Bundesrepublik. Dort verdiente er sich seinen Lebensunterhalt als Bergmann, Stauer, Telegrafenmonteur u. Omnibusschaffner, bis er sich schließlich Mitte der 1950er Jahre in Wiesbaden als freier Schriftsteller niederließ. In diese Zeit fällt auch die Veröffentlichung seiner beiden ersten u. von der Kritik gelobten Lyrikbände Wind auf der Haut (Wiesb. 1956) u. Salziger Mond (Wiesb. 1958), in denen der Einfluss Gottfried Benns unverkennbar ist. Von Benn mag N. auch den Endzeit-Ton übernommen haben, der gerade in Wind auf der Haut die meisten seiner Gedichte bestimmt. Ob N. mit dem letzten Vers von Salziger Mond – »vergessen im Frost« – sich selbst meinte, ist nicht überliefert. Jedenfalls beendete er seine Laufbahn als Lyriker, bevor sie recht begonnen hatte. In den folgenden drei Jahrzehnten schrieb er Gedichte nur noch sporadisch u. wie nebenher; der Schwerpunkt seiner Arbeit lag auf Beiträgen für den Rundfunk u. auf dem Verfassen von Essays u. Rezensionen für diverse Zeitschriften u. Zeitungen. Dass er einmal viel versprechende Gedichte veröffentlicht hatte, geriet bald in Vergessenheit. 1980 verließ N. Deutschland u. zog nach Kopenhagen. Einige Jahre vor seinem Tod nahm er die dän. Staatsbürgerschaft an. Zu einem Comeback als Lyriker kam es im Jahr 1991 mit dem Band Mögliches Gelände (Aachen), der neben den in den 1950er Jahren bereits veröffentlichten Gedichtzyklen auch neuere Gedichte u. einige Prosaminiaturen enthielt. Der Aachener Rimbaud-Verlag konnte N. ermutigen, seine lyr. Produktion in den folgenden Jahren fortzusetzen. So entstanden nacheinander die Bände Angriff der Möven (Aachen 1994) u. Unter Ziegelbränden (Aachen 1997). Die Reduktion der Verse auf einzelne Worte u. Silben, harte Enjambements u. eine Überfülle kalkulierter Katachresen sind die formalen Kennzeichen dieser Spätlyrik. Daneben gibt es einen kleinen, wenige Jahre vor seinem Tod publizierten autobiogr. Prosatext (Stationen einer Rostocker Kindheit. In: Osiris 9, 2000, S. 45–57), in dem
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sich N. erstmals als glänzender Erzähler erweist. Ausgabe: Splittergelächter. Lyrik u. Prosa aus dem Nachl. Hg. Bernhard Albers. Aachen 2005. Marco Schüller
Neumann, Gert, eigentl.: G. Härtl, * 2.7. 1942 Heilsberg/Ostpreußen. – Prosaschriftsteller u. Lyriker.
Anschlag (Köln 1999) entwickelt sich aus der Aufforderung eines anonymen Westdeutschen an den ostdt. Ich-Erzähler auf dem Weg zum Kloster Chorin in der Uckermark: »Erklär mir Widerstand!«. Das daraus folgende »Schweigeduett« bzw. »Schweigeduell« reflektiert die Möglichkeit, in einem diktatorischen Staat poetisch Widerstand zu leisten, bevor der erneut schreibende Erzähler auf die myth. »Mittagsfrau« trifft, deren tödlicher Sichel nur der entgeht, der ihr »eine geschlagene Stunde ununterbrochen erzählt«.
N. erlernte den Beruf des Traktoristen u. arbeitete nach dem Wehrdienst in unterschiedl. Berufen, ehe er 1967 ein Studium am LiteraWeitere Werke: Übungen jenseits der Mögturinstitut Johannes R. Becher aufnahm. lichkeit. Ffm. 1991 (Prosastücke, L., Reden, Ess.s u. 1969 wurde er wegen nonkonformer Auffas- Briefe). Verhaftet. Dresdner Poetikvorlesung sungen exmatrikuliert u. aus der SED ausge- 1998. Dresden 1999. Literatur: Hanns-Josef Ortheil: Die Sprache des schlossen. Danach war er als Handwerker an staatl. u. kirchl. Institutionen in Leipzig an- Widerstands. In: Merkur 1981, H. 35, gestellt, u. a. am Warenhaus »Konsument«. S. 1169–1175. Gespräch mit G. N. In: Sprache & 1998 hat er die Poetik-Dozentur der Univer- Antwort. Stimmen u. Texte einer anderen Lit. aus der DDR. Ffm. 1988, S. 130–144. – Bernd Leistner: sität Dresden übernommen u. 1999 den UweDie Betrachtungen eines Sprachbedenkers. In: Johnson-Preis erhalten. NDL, H. 6 (1990), S. 137–139. Antonia GrunenN.s Literaturverständnis, das in der berg: In den Räumen der Sprache. In: Die andere Sprachmystik Jacob Böhmes u. Johann Georg Sprache. Neue DDR-Lit. der 80er Jahre. Mchn. Hamanns wurzelt u. deutlich vom frz. Post- 1990, S. 206–213. Jürgen Egyptien: Scheherazastrukturalismus geprägt ist, begreift Dich- de, ewiger Umgang u. Klandestinität. Anmerkuntung als Gegen-Diskurs zur schlechten gen zur poet. Praxis u. zu den Erzähltheorien v. Wirklichkeit u. verweigert sich jedem »Rea- Hanns-Josef Ortheil, Gerhard Köpf u. G. N. In: Vom lismus«, der das gesellschaftlich Falsche doch gegenwärtigen Zustand der dt. Lit. Hg. Heinz immer nur bestätigt. Abgesehen von früher Ludwig Arnold. Mchn. 1992, S. 10–18. Albert Meier: G. N. In: KLG. Thomas Beckermann: G. Lyrik in offiziellen Anthologien zur jungen N. In: LGL. Albert Meier Dichtung hat N. in der DDR daher nichts legal veröffentlichen können. Die Schuld der Worte (Ffm. 1979. Rostock Neumann, Günter (Christian Ludwig), 1989) führt in 15 surrealistisch anmutenden * 19.3.1913 Berlin, † 17.10.1972 MünProsastücken den Widersinn des Realsoziachen. – Verfasser von Film- u. Fernsehlismus vor, in dem die Sprache »auf den drehbüchern, Kabarettist, Komponist. kranken Ufern eines kranken Flusses« letzten Endes »leer« bleibt. Der in einem Leipziger N. wuchs in Berlin auf, besuchte dort die Kaufhaus spielende Roman Elf Uhr (Ffm. Musikhochschule u. verfasste bereits seit 1981. Rostock 1990) reflektiert in Tagebuch- 1929 Programme für verschiedene Kabaretts, Form die Behinderungen des Schreibens bzw. in denen er auch selbst auftrat (»Katakombe«, Sprechens im Alltag der werktätigen Bevöl- »Kabarett der Komiker«, »Kabarett der Siebkerung. Die Klandestinität der Kesselreiniger zehnjährigen«). Daneben arbeitete er für Re(Ffm. 1989) bringt N.s elementare Schreib- vuen u. den Rundfunk. Motivation im Untertitel Ein Versuch des SpreWährend des Kriegs war er Truppenbechens auf den Begriff. Wiederum verschränkt treuer, ab 1948 Leiter des eigenen RundN. autobiografisches Material mit essayisti- funkkabaretts »Günter Neumann und seine schen Reflexionen über die Lebenswirklich- Insulaner« (RIAS Berlin. Die Insulaner. 3 Bde., keit in einem Staat, der »ein verwahrloster Bln. 1954–57). Er bearbeitete Cole Porters Sozialismus ist«. Musical Kiss me Kate für die Bühne (1956) u.
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wurde v. a. bekannt als Verfasser erfolgreicher Filmdrehbücher (Paradies der Junggesellen, 1944. Berliner Ballade, 1948. Herrliche Zeiten, 1950. Das Wirtshaus im Spessart, 1957. Wir Wunderkinder, 1958. Das Spukschloß im Spessart, 1960. Herrliche Zeiten im Spessart, 1967). Seit 1958 hatte N. seinen Wohnsitz in München. Weitere Werke: Ich war Hitlers Schnurrbart. Eine Groteske. Bln. 1950. – Fritz Busse: Berlin. Ein Skizzenbuch. Mit Texten v. G. N. Mchn. 1971. Literatur: Bryan T. van Sweringen: Kabarettist an der Front des Kalten Krieges. G. N. u. das polit. Kabarett in der Programmgestaltung des Radios im amerikan. Sektor Berlins (RIAS). Passau 1989. 2 1995. – Regina Stürickow: Der Insulaner verliert die Ruhe nicht. G. N. u. sein Kabarett zwischen Kaltem Krieg u. Wirtschaftswunder. Bln. 1993. Karin Rother / Red.
Neumann, Oskar, auch: Jirmejahu, * 3.10. 1894 Brüx (Most)/Böhmen, † 26.4.1981 Moschav Beer-Tuvia/Israel; Grabstätte: ebd. – Lyriker, Dramatiker, Erzähler u. Publizist.
In seiner spätexpressionist. Lyrik beschreibt N. die Seelenlosigkeit der Großstadt, soziales Elend u. die Monotonie des Proletarierlebens; er kontrastiert die Lebensfeindlichkeit von Industrie u. Technik mit der Natur u. ruft auf zur internat. Ächtung des Kriegs. Während er im Lyrikband Zwischen zwei Dunkeln (Bratislava 1924) noch vornehmlich das Schicksal der jüd. Diaspora beklagt u. unbestimmte Sehnsucht nach dem Osten artikuliert (verdichtet in den Metaphern des Tanzes u. der Wüste), konkretisiert sich seine Begeisterung für das Aufbauwerk u. den Pioniergeist der jüd. Renaissance in dem unter dem Eindruck seines PalästinaErlebnisses verfassten Band Rote Perlen (Mukacˇevo 1931). Weitere Werke: Ruth. Bratislava 1923 (D.). – Aus dem Buche Ewigkeit. Bratislava 1926 (P.). – Flucht aus der Zeit. Neue Verse. Bratislava 1929. – Gottes Zigeuner. Bratislava 1935 (L.). – Beiträge in Anthologien: Meir M. Faerber (Hg.): Stimmen aus Israel. Gerlingen 1979. – Armin A. Wallas (Hg.): Texte des Expressionismus. Linz/Wien 1988. – Unveröffentlicht: Das große Schweigen (L.). – Ewiges Volk (D.). – Sturmvögel (D.). – T-Strahlen (D.). – Genosse Namenlos (D.). – Schattenspiel zu dritt (D.).
Der aus einer jüd. Familie stammende N. begeisterte sich bereits während der Schulzeit für die Ideen der zionist. Jugendbewegung. Nach der Promotion zum Dr. jur. in Prag u. Literatur: Dov Amir: Leben u. Werk der der Übersiedlung nach Bratislava 1920 ar- deutschsprachigen Schriftsteller in Israel. Mchn. beitete er in der Industrie u. engagierte sich 1980. – Jürgen Serke: Böhm. Dörfer. Wanderungen als Chefredakteur der »Jüdischen Volkszei- durch eine verlassene literar. Landschaft. Wien/ tung«, als Organisator des Jüdischen Natio- Hbg. 1987. Armin A. Wallas † / Red. nalfonds u. als Vorsitzender der Zionistischen Organisation der Slowakei für die zionist. Neumann, Peter Horst, * 23.4.1936 NeiPolitik. Über die Eindrücke einer Palästinaße/Oberschlesien, † 27.7.2009 Nürnberg. Reise 1931 berichtet Fahrt nach Osten (Muka– Literaturwissenschaftler, Essayist u. Lycˇevo 1933). Während des faschist. Tiso-Reriker. gimes organisierte N. als Mitarbeiter der Judenzentrale die illegale zionist. Arbeit u. die N. erlebte noch als Kind die Kriegsflucht der Hilfstätigkeit für die von der Deportation Eltern nach Aue, wo er seine Schulzeit im bedrohten Juden. 1944 wurde er im Kon- DDR-System verbrachte. Ab 1955 studierte er zentrationslager Sered inhaftiert u. 1945 in Leipzig Musik (Gesang, Klavier, Kontranach Theresienstadt deportiert. 1946 über- bass) u. Germanistik. Er selbst gab an, dort siedelte er nach Tel Aviv, wo er als Staatsbe- von Bloch u. Hans Mayer stark beeinflusst amter tätig war. In seinem Erinnerungsbuch worden zu sein. Aus polit. Gründen zwangsIm Schatten des Todes (Tel Aviv 1956. Hebr. relegiert, wechselte er zus. mit seiner LeBezél Ha-Mawet. Ebd. 1958) stellt er die Er- bensgefährtin, der Malerin Astrid Steinkopf, mordung u. den Widerstand der slowak. Ju- nach Westberlin, gab wegen Allergien das Gesangsstudium auf u. studierte zunächst an den dar. der FU Berlin, dann bei Walther Killy an der Universität Göttingen die Fächer Germanis-
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tik, Philosophie, Kunst- u. Musikwissenschaft. Er promovierte 1965 über Jean Pauls Flegeljahre (Gött. 1966) u. arbeitete dann über Celan, wobei er eine auf Roman Jakobson zurückgreifende Theorie der »reinen Poesie« entwickelte, nach der die Sprache eines beschädigten Lebens traditionelle Versmuster musikalisch überformend als »Silbenmusik« ausbreite. Bereits 1968 erhielt er aufgrund dieser Studien seinen ersten Lehrstuhl in Fribourg/Schweiz, wechselte nach einem Streit mit Hans Zeller 1983 nach Gießen u. 1985 nach Erlangen-Nürnberg (bis 2001). Die Jahre zwischen 1975 u. 1990 waren essayistisch die fruchtbarsten. Nach den bereits 1968 erschienen Celan-Studien (Zur Lyrik Paul Celans. Gött.) schrieb Neumann Essays über Brecht (Der Weise und der Elefant. Mchn. 1970), Lessing (Der Preis der Mündigkeit. Stgt. 1977) u. seinen Freund Günter Eich (Die Rettung der Poesie im Unsinn. Stgt. 1981. Neuausg. Aachen 2007). Für all diese »Versuche« kann gelten, dass sie v. a. auch stilistisch weit über »germanistisches« Fachdeutsch ragende Interpretationsleistungen philosophischer Art sind, in denen sich musikwissenschaftliche, histor. u. philolog. Ansätze durchdringen. Die Nürnberger Zeit – das Paar hatte inzwischen zwei indische Mädchen adoptiert – brachte eine Umorientierung. Zunächst in die Philosophie – N. beschäftigte sich eingehend mit Nietzsche –, dann aber v. a. auch in die Poesie. Seit 1990 entstanden acht Bände mit lyr. Veröffentlichungen, die zunächst bei Bargfeld, dann im Residenz-Verlag u. schließlich bei Rimbaud erschienen. Was N. aus seiner Essayistik dabei mitnahm, war die immer wieder überraschende Hellsicht seiner epigrammatisch kurzen Statements, die meist die Trias einer philosoph. Einsicht, einer poet. Metapher u. einer mikroskop. Alltagsbeobachtung aufeinander projizieren. Der Ton ist fast durchweg melancholisch, aber um Heiterkeit bemüht. Formal auf Reinheit u. Kargheit bedacht, sind vorsichtige Lebensfreude, zgl. Todesahnung, Auseinandersetzung mit religiösen Fragen u. moralische Zerissenheit ausbalanciert, die nie ganz zur ungebrochenen Freude oder gar zum kraftvollen Lebenszug aufblühen, sondern viel eher zur »Ermutigung«. Das verstandene
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Gedicht ist dabei nach einem Brief Celans an Hans Bender einem Händedruck gleichzusetzen, eine Formel, die N. sich zu eigen macht. Streitbarkeit u. zunehmende Düsternis wenden sich ansonsten gegen eine entliterarisierte Öffentlichkeit (»Diktatur der Medien!«), gegen die sich, vom Plädoyer für den Elfenbeinturm bis zum Trostlied für Dichter, die Arbeit der Poesie stellt. In vielen seiner oft lapidar kurzen Gedichte, die sich wie Nachrufe auf Verlorenes lesen, ist auch der Versuch erkennbar, die eigene zerstückelte Biografie zu retten, die schles. Jahre, das Elternhaus, die Alltäglichkeit der Nachkriegszeit oder Freundschaften zu vielen Größen des Literaturbetriebs der 1970er u. 1980er Jahre, die N. seit seinen Schweizer Jahren pflegte. Eine der herausragenden darunter war die zu Wolfgang Hildesheimer. Die Rezeption seiner lyr. Arbeiten war für N. nie zufriedenstellend; er schrieb dies der latenten Poesiefeindlichkeit speziell deutscher Wissenschaftsauffassung, aber auch einer nach Sparten trennenden literar. Öffentlichkeit zu (»Professorengedichte sind bei uns nicht anerkannt«). Verschiedene Bücher wurden allerdings von der Kritik überschwänglich gelobt (»Ein Gedichtband, der fast alles aufwiegt, was sonst an Lyrik erscheint«, schrieb etwa Peter Hamm zu N.s erstem Lyrikband 1994, u. Helmuth Berthold ergänzte zwei Jahre später: »eine Insel im Meer der postmodernen Beliebigkeit«). Verschiedene Einzeltexte wurden auch vertont, etwa von Hans Kraus-Hübner (Wahrheit, alte Streunerin u. Altes Kirchengewölbe. Urauff. 2003 u. a.) u. Peter Trojan, Zwei Frühlingslieder für Bariton u. Klavier (Aus: Texte aus Auf der Wasserscheide. Urauff. 2004). N. erhielt eine Reihe überregionaler Preise, deren größter 2001 der »Kulturpreis Schlesien« des Landes Niedersachsen war. Die Laudatio hielt Dagmar Nick. Die »poetischen Jahre« N.s waren auch begleitet von einem einflussreichen Engagement für Literatur- u. Sprachpflege außerhalb der Universität. Schon seit 1984 war er Präsident der Eichendorff-Gesellschaft (bis 2002). 1995 initiierte er gemeinsam mit Reinhard Knodt die »Nürnberger Autoren-
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gespräche«, die jährlich große Namen versammelten u. 2005 letztmalig 25 jüd. Autoren aus aller Welt auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg zusammenbrachten. 1996 initiierte er zus. mit Ilse Aichinger u. anderen Schriftstellerkollegen den »Frankfurter Appell«, der Kritik an der Rechtschreibreform übte. N. war Juror der Bestenliste des Südwestfunks u. Stammautor von Reich-Ranickis »Frankfurter Anthologie«. 2002 wurde er in die Bayerische Akademie der Künste aufgenommen, deren sehr aktiver literar. Direktor er bis zu seinem überraschenden Tod war. Weitere Werke: Gedichte, Sprüche, Zeitansagen. Bargfeld 1994. – Pfingsten in Babylon. Wien 1996. Aachen 2005. – Die Erfindung der Schere. Bargfeld 1999. – Auf der Wasserscheide. Aachen 2003 (L.). – Kreidequartiere. Hauzenberg 2003 (L.). – Erschriebene Welt – Ess.s u. Lobreden v. Lessing bis Eichendorff. Aachen 2004. – Was gestern morgen war. Aachen 2006 (L.). – Die allegor. Spinne. Kleine Lesereise zum eigenen Gedicht. Hauzenberg 2007. – Der Heckenspringer. Ausgew. Gedichte. Aachen 2009. Literatur: Helmut Berthold in: Griffel, Magazin für Lit. u. Kritik (1996), H. 3. – Kurt Oesterle: Gedichte v. lat. Strenge. In: Süddt. Ztg., 7./ 8.6.1997. – Henning Ziebritzki: P. H. N. In: Luth. Monatsh.e 4 (1997). Reinhard Knodt
Neumann, Robert, * 22.5.1897 Wien, † 3.1.1975 München; Grabstätte: ebd., Friedhof Haidhausen. – Erzähler, Dramatiker, Parodist, Fernseh- u. Hörspielautor, Literaturkritiker, politischer Publizist. Seit den 1920er Jahren hat N. im literar. Leben insbes. Deutschlands u. Österreichs, während seiner Exilzeit zwischen 1934 u. 1958 aber auch in England sowie durch die Übersetzung seiner Bücher in rd. 40 Sprachen auch international eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt. Gleichzeitig sind N.s Leben u. Werk zutiefst von Verfolgung u. Exil geprägt, die den (zweimaligen) Wechsel der literar. Sprache u. damit den jeweiligen Verlust von Leserschaft u. literar. Markt mit sich brachten u. nicht nur das umfangreiche Werk nachhaltig beeinflussten, sondern auch zu gravierenden Rezeptionsbrüchen führten.
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In bürgerlich assimiliertem jüd. Elternhaus in Wien geboren, studierte der Sohn eines Bankdirektors u. engagierten Sozialisten ebendort Medizin, Chemie u. Germanistik (eine Dissertation zum Thema Heine und der Dilettantismus ist bis heute verschollen). 1919 u. 1923 erschienen erste Gedichtbände (Gedichte. Wien, u. Zwanzig Gedichte. Wien), ab 1919 betätigte sich N. als Effektenkassierer eines Wiener Bankhauses u. gründete 1922 eine Lebensmittel-Importfirma, die jedoch 1926 zahlungsunfähig wurde. Im Frühjahr 1927 verdingte sich N., mittlerweile verheiratet u. Vater eines 1921 geborenen Sohnes, für einige Monate als Frachtaufseher auf einem niederländ. Tankdampfer, der die Strecke Medway River – Batum befuhr. Erlebnisse u. Impressionen dieser Reisen setzte N. in expressiv überzeichnenden Erzählungen u. d. T. Jagd auf Menschen und Gespenster (Stgt. 1928) um. Ebenfalls im Jahr 1927 erschien N.s erster Band literarischer Parodien, Mit fremden Federn (Stgt.), 1932 gefolgt von einem zweiten, Unter falscher Flagge (Bln./Wien/Lpz.). N.s damit begründeter Ruhm als »Meisterparodist« bleibt der einzige Aspekt seines umfangreichen u. vielseitigen Werkes, der bis heute ununterbrochen mit seinem Namen verbunden wird. Gleichwohl entstanden bereits in jener Zeit auch zwei umfangreiche Romane, Sintflut (Wien 1929) u. Macht (Wien 1932), die, der Neuen Sachlichkeit u. dem Genre des krit. Zeitromans verpflichtet, ein vielschichtiges Bild der Wiener Gesellschaft in der Zwischenkriegs- u. Inflationszeit mitsamt den Verflechtungen der aufkommenden Nazis mit maßgebl. Industrie- u. Bankenkreisen nachzeichnen. Mit diesen Werken sowie einer Reihe von Novellen (Die Pest von Lianora. Stgt. 1928. Hochstapler-Novelle. Stgt. 1930. U. d. T. Die Insel der Circe. Mchn. 1952) u. gesellschaftspsycholog. Skizzen (Panoptikum u. Passion, beide Wien 1930) am Beginn einer viel versprechenden literar. Karriere stehend, befanden sich N.s Werke 1933 auf der ersten Liste der von den Nazis verbrannten Bücher. Bereits 1934 verließ N. Österreich in Richtung England in ein zunächst provisorisches, dann jedoch bis 1958 dauerndes Exil. Hier entstand die krit. Romanbiografie des Waffentycoons
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Sir Basil Zaharoff (Zürich 1934. Neuaufl. Mchn. 1951), deren charakterist. Mischung aus biogr. Dokumentation u. Fiktion den formalen Grundstein auch für N.s spätere Autobiografien legt u. die ihm in England einen langwierigen Rechtsstreit mit der Familie Zaharoff eintrug. Historische Stoffe behandeln mit deutlich aktualisierender Stoßrichtung die Romane Struensee (Amsterd. 1935. Neuaufl. u. d. T. Der Favorit der Königin. Mchn. 1953. Gütersloh 1963. Verfilmt mit Horst Buchholz u. O. W. Fischer 1957 u. d. T. Herrscher ohne Krone) u. Eine Frau hat geschrien (Zürich 1938. Neuaufl. u. d. T. Die Freiheit und der General. Mchn./Wien/Basel 1958). 1939 erschien zuerst in engl. Übersetzung N.s großer Exilroman An den Wassern von Babylon (By the Waters of Babylon. London 1939 u. New York 1940. Dt. Oxford 1945. Neuaufl. Mchn./Wien/Basel 1954 u. Stgt. 1987. In einem Bd. mit Treibgut. Mchn. 1960), der an zehn Einzelschicksalen aus aller Welt ein beeindruckendes Panorama des universellen jüd. Exils am Vorabend u. unter den Vorzeichen der Shoa darbietet. Angesichts der Annexion Österreichs 1938 u. des Kriegsausbruchs 1939 unternahm N. verstärkte Aktivitäten zur Rettung bedrohter Schriftsteller aus den von den Nazis besetzten Gebieten. Gemeinsam mit Franz Werfel organisierte er 1939 die Neugründung des Austrian PEN im Exil (Ehrenpräsident Sigmund Freud), engagierte sich im Austrian Centre u. Free Austrian Movement (z.B. 1942 Organisation u. Vorsitz der »1. Österreichischen Kulturkonferenz« in London) u. war kontinuierl. Mitarbeiter insbes. bis 1940/41 beim österr. Programm der BBC. 1940 wurde N. als »Enemy Alien« vorübergehend auf der Isle of Man interniert. 1942 erschien sein erster auf Englisch verfasster Roman Scene in Passing (London 1942. New York 1943. Dt. Erstausg. Konstanz 1948), der die Thematik des Exils in einem fiktiv unbestimmt bleibenden Umfeld zgl. gesellschaftskritisch u. psychologisch vertieft – ein Charakteristikum, das mehrere von N.s Werken vom Beginn der 1940er Jahre an prägen wird. Vertreibung, Flucht u. Exil zwischen den europ. Faschismen thematisiert am Schicksal einer jungen Frau der 1944 erschienene Roman The Inquest (London 1944.
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New York 1945. Dt. Erstausg. u. d. T. Bibiana Santis. Mchn. 1950). Nach dem plötzl. Tod des Sohnes im gleichen Jahr begann N. verstärkt mit (zunächst unveröffentlicht bleibenden) autobiografischen Arbeiten, die aufarbeitende Selbstreflexion u. zeitgeschichtl. Darstellung miteinander verschränken u. deren Ansatz auch in einige Romane einfließt. Große Beachtung insbes. unter humanitärem Aspekt fand der kleine Roman Children of Vienna (London 1946 u. 1949. New York 1947. Dt. Erstausg. Amsterd. 1948 u., in Eigenübers., Mchn. 1974 u. Bln. 2008), der die Folgen des Krieges an Kindern unterschiedlichster Herkunft in einem Wiener Bombenkeller schildert. 1947 erhielt N. nach acht Jahren des Wartens die brit. Staatsbürgerschaft u. ließ sich 1948 in Cranbrook/Kent nieder. 1950 wurde er Vizepräsident des Internationalen PEN, in dem er sich über Jahre hinweg für Verständigung über die Fronten des Kalten Krieges hinweg engagierte. N.s literar. Schaffen seit Mitte der 1950er Jahre war insbes. von drei (interdependenten) Schwerpunkten geprägt: erstens dem satirisch-parodistischen (neue u. erw. Gesamtausg. der Parodien in 3 Bdn. Mchn. 1969. Olympia. Mchn. 1961. Karrieren. Mchn. 1966. Deutschland deine Österreicher. Hbg. 1970), zweitens dem zeitkritisch-politischen (Ausflüchte unseres Gewissens. Dokumentation zu Hitlers ›Endlösung der Judenfrage‹. NDR u. Hefte für das Zeitgeschehen 1960. Hitler. Mchn. 1961, Film 1961), drittens dem autobiografischen (Mein altes Haus in Kent. Mchn. 1957. U. d. T. The Plague House Papers. London 1959. Ein leichtes Leben. Mchn. 1963. Vielleicht das Heitere. Mchn. 1968. Bericht von unterwegs. 1974, unveröffentlicht). Bes. beachtet wurden in jener Zeit die grenzüberschreitende Diskussionsreihe zwischen der Marburger Philipps-Universität u. der Ostberliner Humboldt-Universität anlässlich des Jerusalemer Eichmann-Prozesses, deren Tonbandprotokolle 1964 von WDR u. NDR ausgestrahlt wurden (dokumentiert in Balzer/Hübsch, Hg.: Operation Mauerdurchlöcherung. Bonn 1994), u. der Roman Der Tatbestand oder Der gute Glaube der Deutschen (Mchn. 1965), der mittels einer fiktiven Handlung am Rande u. mit Materialien des Frankfurter Auschwitz-
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Prozesses den Umgang mit der Vergangenheit des Dritten Reichs in der Gegenwart beleuchtet. Entsprechend einem selbst gesetzten »Programm« sind N.s letzte größere Werke eher heiterer Natur u. beleuchten die Gegenwart des alternden Schriftstellers aus ironisch gebrochener autobiogr. Perspektive (Oktoberreise mit einer Geliebten. Mchn. 1970. Ein unmöglicher Sohn. Mchn. 1972). Erkrankt an einem Tonsillar-Karzinom, starb N. – laut einer Mitteilung aus dem Familienumkreis – durch Freitod. Weitere Werke: Die Blinden v. Kagoll. Lpz. 1929 (E.en). – Karriere. Stgt. 1931 (E.). – Das Schiff ›Espérance‹. Wien 1931 (E.). – Die blinden Passagiere. Zürich 1935 (E.). – Blind Man’s Buff. London 1949 (R.). – Dichterehen. 1959 (Hörsp.). – Die dunkle Seite des Mondes. Mchn. 1959. – Madame Sephardi. 1960 (Hörsp.). – Festival. Mchn. 1962 (R.). – R. N./Oswin [Oswald Meichsner]: Die Staatsaffäre. Mchn. 1964. – Dämon Weib. Mchn. 1969 (Parodie). – Nie wieder Politik. Mchn. 1969 (Parodie). – Vorsicht Bücher. Mchn. 1969 (Parodie). – 2 mal 2 = 5: Eine Anleitung zum Rechtbehalten. Düsseld. 1974 (Ess.). – Typisch R. N.: Eine Ausw. Mchn. 1975. – Herausgeber: 34 mal erste Liebe. Ffm. 1966. – N.s außerordentlich umfangreicher Nachlass befindet sich in der ÖNB, Wien. Literatur: Theodor Verweyen u. Günther Witting: Die Parodie in der neueren dt. Lit. Darmst. 1979, S. 76–83 u. ö. – Ulrich Scheck: Die Prosa R. N.s. Mit einem bibliogr. Anhang. New York/Bern/ Ffm. 1985. – Sylvia M. Patsch: Österr. Schriftsteller im Exil in Großbritannien. Wien/Mchn. 1985, S. 33–72. – Anne Maximiliane Jäger (Hg.): Einmal Emigrant – immer Emigrant? Der Schriftsteller u. Publizist R. N. (1897–1975). Mchn. 2006. – Hans Wagener: R. N. Biogr. Mchn. 2007. Anne Maximiliane Jäger-Gogoll
Neumann, Salomon, * 22.10.1819 Pyritz/ Pommern, † 21.9.1908 Berlin. – Publizist, Sozialhygieniker, Kommunalpolitiker. N. studierte in Berlin u. Halle, wo er 1842 zum Dr. med. promovierte. Neben der ärztl. Praxis (seit 1845 in Berlin) entwickelte er eine gemeinnützige Tätigkeit auf kommunaler Ebene. 1847 trat N. mit der Schrift Die öffentliche Gesundheitspflege und das Eigentum hervor. Mit seiner Medizinischen Statistik des preußischen Staates (Bln. 1849) war er Begrün-
der des statist. Amts in Berlin. Seine wiss. Arbeit galt der sozialen Ausgestaltung der Medizin u. der Statistik. Auf dem radikaldemokrat. Flügel stehend, trat er während der 1848er-Revolution für die politische u. soziale Emanzipation aller Deutschen ein. Von 1859 bis 1905 war er Mitgl. der Berliner Stadtverordnetenversammlung. N. war Vorsitzender des dt. Komitees der Alliance Israélite Universelle u. (Mit-)Begründer sowie Vorsitzender des Kuratoriums der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums (1895 bis 1906), der Zunz-Stiftung (1864) u. der »Salomon-Neumann-Stiftung zur Pflege der Wissenschaft des Judentums« (1899). Weitere Werke: Die Berliner Syphilisfrage. Bln. 1852. – Krankenanstalten im preuß. Staate. Bln. 1858. – Fabel v. der jüd. Masseneinwanderung. Bln. 41886. Literatur: Eckart Siegmann: S. M. u. die Sozialmedizin. Diss. Bochum 1988. – Günter Regneri: S. M. Eine biogr. Skizze zum 90. Todestag des Organisators der ersten ›modernen‹ Berliner Volkszählungen in den Jahren 1861 u. 1864. In: Berliner Statistik 52 (1998), S. 164–167. Ludger Heid / Red.
Neumann, Walter, * 23.6.1926 Riga/Lettland. – Lyriker, Autor von Erzählungen, Reiseberichten u. Hörspielen, Herausgeber von Anthologien. N. wuchs in Riga als Sohn eines Bankbeamten auf u. besuchte dort die dt. Grundschule. Nach der Umsiedlung der Deutschbalten wohnte er von 1940 bis 1944 in Thorn/ Westpreußen, absolvierte dort das Gymnasium, wurde mit 17 Jahren zur Wehrmacht einberufen u. kam 1945 in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Entlassung Ende 1945 arbeitete N. in Bielefeld zunächst als Tiefbauarbeiter, dann bis 1947 als Dolmetscher für die brit. Besatzung, zwischen 1947 u. 1962 als Maurer, techn. Zeichner u. Techniker; danach war er bis 1989 als Bibliothekar in der Stadtbibliothek Bielefeld tätig u. betreute seit 1969 als Lektor den Fachbereich Literatur- u. Sprachwissenschaft. Von 1964 an leitete N. 17 Jahre lang die Bielefelder »Autorenlesungen im Bunker Ulmenwall« u. 1980 für drei Monate eine
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»Internationale Arbeitszeit für Autoren«. 11.6.1969; HR 21.12.1974 (Hörsp.). – Ein Fußbreit 1965 bis 2005 war er Mitgl. des Verbandes dt. Leben. RB 1970. – Sieben Kapitel über die Heimat. Schriftsteller u. seit 1973 des PEN-Zentrums RB 1984. – Ein kleines, todesgezeichnetes Land. RB der Bundesrepublik. Am Bodensee, wo er von 1999. Literatur: Rudolf Langer: Jenseits der Worte. 1990 bis 2004 wohnte, gründete er die Meersburger Autorenrunde. Seit 2004 lebt er In: NDH 1976, H. 3. – Westf. Autorenlex. Cornelia Ilbrig in Bibertal/Günzburg. Seit 1961 veröffentlicht N. als freier Schriftsteller v. a. Gedichte, ebenso Erzählungen, Essays, Reiseberichte, Hörspiele u. Neumann, (Friedrich) Wilhelm, * 8.1. Anthologien. Titel wie Biographie in Bilder- 1781 Berlin, † 9.10.1834 Brandenburg. – schrift (N.s erster selbständiger Gedichtband, Erzähler, Literaturkritiker. Darmst. 1969) u. In den Gedächtnisfächern. Der früh verwaiste Kaufmannssohn musste Frühe Gedichte 1961–1977 (Mchn. 2006) machen bereits in jungen Jahren auf eigenen Füßen die prägende Thematik in N.s Lyrik deutlich: stehen. Nach Gymnasialbesuch, Handelslehre die Bewahrung von Erinnerungen, die N. als u. kurzem Theologiestudium in Halle lebte Grundlage u. Aufgabe der Literatur betrach- N. in Berlin als Hauslehrer, Publizist, Übertet: »Ueber etwas / schreiben / heisst / sich setzer u. Buchhandelsgehilfe. 1813 wurde er erinnern« (Biographie in Bilderschrift). Mit sei- Expedient im preuß. Kriegskommissariat, ner poetolog. Lyrik stellt er sich in die literar. 1815 stellvertretender Kriegskommissar, Tradition Hölderlins, Eichendorffs, Trakls u. 1822 schließlich »Königlicher IntendanturBrechts. Die Bewahrung u. Aufarbeitung von Rath«. Erinnerungen an Gewalt, Krieg, Zerstörung Literarisch wurde N. entscheidend von der u. Verlust verbindet N. zunächst mit einer Berliner Romantik beeinflusst, mit deren Warnung vor neuen u. – angesichts des techn. Repräsentanten (Varnhagen, Chamisso, FouFortschritts – globalen Katastophen; gleich- qué u. Bernhardi) er befreundet war. Aus der zeitig erweist er sich immer mehr als Freundschaft mit Varnhagen entstanden verSprachskeptiker: »Warum in Bildern spre- schiedene Gemeinschaftsprojekte: die Erzähchen? / Die Wahrheit ist bildlos, / vernehmbar lungen und Spiele (Hbg. 1807) u. der skurrilnur / im Schweigen.« (Jenseits der Worte. Mchn. parodist. Roman Die Versuche und Hindernisse 1976). »Überhaupt das schlichte / verständli- Karls (Bln./Lpz. 1808), zu dem auch Fouqué, che Sprechen« (ebd.) setzt N. bewusst an die Chamisso u. Bernhardi kurze Passagen beiStelle seiner metaphernreichen Bildersprache steuerten – eine spielerisch-iron. Replik auf des ersten Gedichtbandes. N. erhielt u. a. den Wilhelm Meister u. die Konzeption des spätAndreas-Gryphius-Preis (1981) u. den Ei- aufklärerisch-klassizist. Bildungsromans. chendorff-Preis (1989). Später schrieb N. Literaturkritiken für die Weitere Werke: Lyrik: Grenzen. Dortm. 1972. – Berliner »Jahrbücher für wissenschaftliche Mots-Clés/Schlüsselworte. Paris 1973. – Mitten im Kritik« u. die Leipziger »Blätter für literariFrieden. Bln. 1984. – Der Flug der Möwen. Eisin- sche Unterhaltung«. Er avancierte zum viel gen 1996. – Helle Tage. Uhldingen 1997. – Die beachteten Feuilletonisten, dessen Kritiken Bewegung der Erde. Waldburg 2001. – Die Ankunft Varnhagen zu den »besten unserer Literatur« des Frühlings. Mchn. 2004. – Erzählungen: Stadtzählte, ausgezeichnet durch »Besonnenheit, plan. Wuppertal 1974. – Eine Handbreit über den verständige Einsicht, klar gebildete Sprache, Wogen. Balt. Gesch.n. Weissach 1999. – Anthologien: Im Bunker. 100mal Lit. unter der Erde. Texte u. treffendes Urteil und schickliche FreimütigDaten v. 110 dt. u. ausländ. Autoren zur 100. Au- keit« (Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. torenlesung im Bielefelder Bunker Ulmenwall. Bd. 1, Mannh. 1837, S. 353 f.). Recklinghausen 1974. – Grenzüberschreitungen oder Lit. u. Wirklichkeit. Beiträge zur Internat. Arbeitszeit für Autoren in Bielefeld. Bremerhaven 1982. – Rundfunk: Leon Welliczker Wells, ein Sohn Hiobs. WDR 12.8.1964 (Hörsp.). – Schreien. RB
Weitere Werke: Des Nicolaus Machiavelli Florentinische Gesch. 2 Bde., Bln. 1809. – Schr.en. 2 Bde., Lpz. 1835. – W. N. u. Friedrich de la MotteFouqué (Hg.): Die Musen. Eine norddt. Ztschr. Bln. 1812/13.
Neumark Literatur: Franz Blum: Die Musen. Eine norddt. Ztschr. [...]. Diss. Mchn. 1914. – HansChristian Oeser: ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹ als Thema eines romant. Romans [...]. In: Archiv 135 (1983), S. 27–53. – Werner Greiling: W. N. – ein vergessener Dichter? In: WB 29 (1983), S. 1306–1308. Walter Weber / Red.
Neumark, Georg, auch: Der Sprossende, Thyrsis II., * 16.3.1621 Langensalza, † 8.7.1681 Weimar. – Dichter, Komponist, Bibliothekar, Sekretär der Fruchtbringenden Gesellschaft. Der Sohn eines angesehenen protestant. Tuchmachers wuchs in dem später stets als »Vaterstadt« bezeichneten thüring. Mühlhausen auf u. erhielt daselbst den ersten Schulunterricht. Nach dem Besuch der Gymnasien in Schleusingen u. Gotha sowie der Lateinschule in Osterode/Harz trat N. im Sept. 1641 die Reise nach Königsberg an, um an der Albertina zu studieren. Unterwegs von marodierenden Soldaten ausgeplündert, schlug er sich zunächst nach Hamburg durch u. debütierte dort als Autor mit dem »Schäferroman« Betrübt-Verliebter Doch entlich hocherfrewter Hürte Filamon, von dessen erster, wohl Ende 1641 erschienenen Auflage kein Exemplar mehr nachweisbar ist (Königsberg 2 1648). Der im Jan. 1642 in Kiel unerwartet glückenden Anstellung als Hauslehrer verdankt N.s bis heute bekanntester Text, das berühmte Trostlied Wer nur den lieben Gott läßt walten, seine Entstehung. Späten autobiogr. Aufzeichnungen zufolge (Thränendes HausKreutz. Weimar 1681) wurde es unter dem unmittelbaren Eindruck der Errettung aus widrigen Lebensumständen niedergeschrieben, sodass sich Wirklichkeitserfahrung u. Poesie in eine für die Literatur des 17. Jh. ungewöhnlich enge Verbindung bringen lassen. Während des fünfjährigen Studiums der Jurisprudenz in Königsberg (1644–1649), das N. formal nicht abschloss, unterhielt er Verbindungen zum Dichterkreis um Simon Dach u. fertigte zahlreiche Gelegenheitsdichtungen zu Ereignissen des städt. u. universitären Lebens an. Der zeittyp. Kasualpoesie traten bald ein Drama (Keuscher Liebesspiegel. Thorn
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1649), Übersetzungen (Die Sieben Weisen auß Griechenland. Thorn 1650. Danzig 21651) u. Verserzählungen (Danzig 1651) an die Seite. Auf das Experiment, sich als freier Schriftsteller zu etablieren (Thorn u. Danzig, 1649–1651), folgte ein zweiter Aufenthalt in Hamburg, wo N. 1652 eine erste Sammlung seiner lyr. Dichtungen u. d. T. Poetisch- und Musikalisches Lustwäldchen herausbrachte, die 1657, wesentlich erweitert, erneut aufgelegt wurde (Fortgepflantzter Musikalisch-Poetischer Lustwald. Jena). Die von Johann Rist u. Adam Olearius beförderte Anstellung als Bibliothekar am Weimarer Hof Herzog Wilhelms IV., als der »Schmackhafte« zweites Oberhaupt der Fruchtbringenden Gesellschaft (FG), beendete die Reisejahre u. eröffnete N. ab 1652 eine Laufbahn im fürstl. Dienst. Der sukzessive Aufstieg in der Beamtenhierarchie bis zum Sekretär der Geheimen Kanzlei (1672) wurde von der durch Dichterkrönung, Aufnahme in die FG (beides 1653), Palatinat (1668) u. Mitgliedschaft im Pegnesischen Blumenorden (1674) bezeugten Anerkennung der literar. Tätigkeit begleitet u. ging mit der Wahrnehmung der Aufgaben eines Hofdichters einher. Schon im ersten an den Herzog gerichteten Panegyrikus (Poetisch Lobthonende Ehrenseule [...]. Mühlhausen 1652) erklärt N., seine Poesie in den Dienst der repraesentatio maiestatis stellen zu wollen u. fordert im Gegenzug die angemessene Würdigung u. Honorierung der den Nachruhm des Fürstenhauses sichernden Dichtkunst ein. N.s umfangreiche enkomiast. Produktion gipfelt in der Psalmenparaphrase u. Prosaekloge miteinander verbindenden Memorialschrift Christlicher Potentaten Ehren-Krohne (Weimar 1675), die dem Andenken Herzog Wilhelms gewidmet ist. Als Erzschreinhalter der FG engagierte sich N. ab 1655 wie kein anderer für die Belange des Palmenordens u. sicherte unter schwierigsten Bedingungen den Zusammenhalt der Sozietät in der Ära des »Schmackhaften« u. ihr Weiterbestehen nach dessen Tod. Mit der aus den Quellen geschöpften Darstellung der Gesellschaftsgeschichte (Der Neu-Sprossende Teutsche Palmbaum. Nürnb. 1669) avancierte er zum wichtigsten Historiografen der Fructi-
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fera, deren Verdienste um die literar. Kultur er in apologet. Absicht beschrieb. Mit seinem auch theoretisch fundierten (Poetische Tafeln Oder Gründliche Anweisung zur Teutschen Verskunst. Jena 1667), gattungs- u. formenreichen Werk, in dem die Bukolik einen herausragenden Platz einnimmt, hatte N. wesentl. Anteil an der Formierung u. Profilierung der deutschsprachigen Literatur im 17. Jh., zumal er für die Zusammenführung seiner verstreut publizierten Dichtungen in mustergültigen Editionen sorgte (Lustwald [s. o.]. Poetisch-Historischer Lustgarten. Ffm. 1666. Des Sprossenden unterschiedliche [...] Lieder. Weimar 1675). Obwohl damit günstige Voraussetzungen für die Rezeption gegeben waren, hat N.s Œuvre – mit Ausnahme des erwähnten Trostliedes – wie das der meisten Barockautoren kaum Wirkungen über seinen Tod hinaus entfaltet. Die in den letzten Jahren intensivierten Forschungen zur FG haben indes den Blick nicht nur auf N.s kulturpolit. Aktivitäten, sondern verstärkt auch auf sein literar. Schaffen gelenkt. Ausgaben: Der Neu-Sprossende Teutsche Palmbaum. Hg. Martin Bircher. Mchn. 1970. – Poetische Tafeln. Hg. Joachim Dyck. Ffm. 1971. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl., Bd. 4, S. 2958–2978. – Heiduk/Neumeister. – Weitere Titel: Gottfried Claussnitzer: G. N. Diss. Lpz. 1924. – Klaus Garber: Der locus amoenus u. der locus terribilis. Köln/Wien 1974. – Andreas Herz: Akademieschr.en der FG in ihrer Spätzeit u. die Werke G. N.s als Editionsdesiderate. In: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Hg. Hans-Gert Roloff. Tl. 1, Amsterd. 1997, S. 511–528. – Michael Ludscheidt: G. N. (1621–81). Leben u. Werk. Heidelb. 2002. – Ders.: Gedächtnisstiftende Geselligkeit. Zum Schäfergespräch in G. N.s ›Ehren-Krohne‹ v. 1675. In: Ungesellige Geselligkeit. FS Klaus Manger. Hg. Andrea Heinz u. a. Heidelb. 2005, S. 19–44. – Jürgensen, S. 273–277, 447–451. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2420. Michael Ludscheidt
Neumayr, Franz, * 17.1.1697 München, † 1.5.1765 Augsburg. – Jesuit, Prediger; Dramendichter u. Erbauungsschriftsteller. Der Brauerssohn besuchte das Jesuitengymnasium seiner Vaterstadt u. trat 1712 in die
Gesellschaft Jesu ein. Er war als Lehrer an Jesuitenschulen in Deutschland u. in der Schweiz tätig, wurde als Volksmissionar ins Salzburgische geschickt (1729/30), wirkte als Rhetorikprofessor bzw. Studienpräfekt in München (1731–1736; 1743; 1746–1750) u. war 1752–1763 Domprediger in Augsburg, wo er sich hohen Ansehens auch außerhalb des kath. Lagers erfreute. N. war als Lehrer u. Seelsorger ein Mann der Praxis, gleichwohl bemühte er sich um die theoret. Grundlegung seines Tuns. Er verfasste eine Poetik, Idea Poeseos (Ingolst. 1751), die ebenso mehrere Auflagen erlebte wie sein Lehrbuch der Rhetorik, Idea Rhetoricae (Augsb. 1748). Er verstand sich auf Heilige Streitreden, wie er die drei Bände seiner Predigtsammlung über Glaubensfragen (Augsb. 1764/65) nannte. Aufsehen erregte seine Stellungnahme (1753) zu Franz Rothfischers Auslassungen über das kath. Schulwesen. Clemens Alois Baader, der N.s Bedeutung als Prediger u. geistl. Schriftsteller rühmt, kommt in seiner Bibliografie auf 55 Titel. Sebastian Sailer hielt ihm die Totenrede. N. steht mit seinem anschaulichen, ja packenden Duktus am Ende der großen barocken Predigttradition u. gehört zu den letzten Dramatikern seines Ordens. Daneben verfasste er auch Meditationen u. Oratorien (Der heilige Augustinus in seiner Bekehrung. Dt. Augsb. 1758). Weitere Werke: Idea cultus Mariani. Augsb. 1751. Dt. 1760. – Kern des Christentums. Mchn. 1756. – Geistl. Schaubühne. Augsb. 1758 ff. – Theatrum Politicum. Augsb., Ingolst. 1760 (Schulspiele). – Theologia ascetica. Mchn. 1760. Dt. Augsb. 1781. – Periochen (Inhaltsangaben) seiner Dramen. In: Das Jesuitendrama im dt. Sprachgebiet. Eine Periochenedition. Hg. Elida Maria Szarota. 4 Bde., Mchn. 1979–87 (Register!). Literatur: Werkverzeichnis: van der Veldt 1992 (s. u.). – Weitere Titel: Clemens Alois Baader: Lexikon verstorbener bair. Schriftsteller. Bd. 1,1, Augsb. 1824. – Jean-Marie Valentin: Le théâtre des Jésuites dans les pays de langue allemande. Bd. 2, Stgt. 1984, S. 1089. – Petrus Thomas van der Veldt SJ: F. N. SJ (1697–1765). Leben u. Werk eines spätbarocken geistl. Autors. Amsterd. u. a. 1992. Hans Pörnbacher / Red.
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Neumeister, Andreas, * 16.9.1959 Starnberg. – Schriftsteller, Installations- u. Ausstellungskünstler.
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fasst, die sich in ihren sozialen Brennpunkten kaum von den Städten im mittleren Westen der USA unterscheidet, so thematisiert er in Könnte Köln sein (Ffm. 2008), einem Text, dessen Genrebezeichnung »Städte. Baustellen. Roman« bereits für Irritation sorgt, den Konnex von Architektur, Politik u. Geschichte im Zeichen Hobbes’scher LeviathanVorstellungen. Schreibtechnisch an Gut laut (Ffm. 1998) u. Gut laut. Version 2.0 (Ffm. 2001), Sammlungen von Gedankensplittern zur Popmusik, anknüpfend, sucht N. in umgebauten, verfallenden oder restaurierten Gebäuden von Metropolen wie Berlin, Paris, New York, Moskau oder eben Rom nach den Gravuren politischer Macht. N. wurde mit dem Förderpreis zum AlfredDöblin-Preis (1993) u. dem Bayerischen Förderpreis für Literatur (1996) ausgezeichnet.
Ein Studium der Ethnologie an der Universität München schärfte N.s Einsicht in die Identität u. Alterität von Kulturen u. in die Probleme der modernen westl. Zivilisation. Sie grundiert sowohl seine literar. Arbeiten als auch die musikal. Projekte seines mit Christos Davidopoulos betriebenen mobilen Clubs medley. Schon in seinem Debütroman Äpfel vom Baum im Kies (Ffm. 1988), in dem er anhand disparaten, z.T. autobiogr. Text- u. Bildmaterials das Leben seines Alter Ego Andreas Nachleger erzählt, zeigt sich N. als Vertreter einer Popliteratur, die zwar formal um Anschluss an Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann bemüht ist, die Schreibweisen dieser Generation aber dadurch zu bereichern Weitere Werke: Salz im Blut. Ffm. 1990 (R.). – sucht, dass sie sich gegenüber zeitgenöss. Ausdeutschen. Ffm. 1994 (R.). – Pop als Wille u. Strömungen der Musik u. Literatur öffnet u. Vorstellung. In: Sound Signatures. Pop-Splitter. z.B. Elemente der Rap Poetry aufnimmt. So Hg. Jochen Bonz. Ffm. 2001, S. 19–26. dokumentiert N. mit der programmat. AnLiteratur: Charis Goer: Cross the Border – Face thologie Poetry! Slam! Texte der Pop-Fraktion the Gap. Ästhetik der Grenzerfahrung bei Thomas (Reinb. 1996), die er gemeinsam mit Marcel Meinecke u. A. N. In: Pop-Lit. Hg. Heinz Ludwig Hartges herausgab, nicht nur Brinkmann- Arnold. Mchn. 2003, S. 172–182. – Ingo Irsigler: Nachfolge, sondern auch den Willen zur ›Music makes the world go sound‹. Die Adaption popmusikal. Verfahren in der neueren dt. Poplit. künstlerischen Innovation. am Beispiel v. A. N.s ›Gut laut‹ (1998/2001). In: In seinen zumeist collagehaft komponierErzählstile in Lit. u. Film. Hg. Jan-Oliver Decker. ten Texten zeichnet N. ein kritisches, mit- Tüb. 2007, S. 93–107. Ralf Georg Czapla unter auch skept. Bild von der dt. Gegenwart. Die Veränderungen von Wahrnehmung u. Realität angesichts der fortschreitenden MeErdmann, * 12.5.1671 dialisierung der Gesellschaft werden thema- Neumeister, Uechtritz bei Weißenfels, † 18.8.1756 tisiert, der Fortschrittsoptimismus ironisch Hamburg. – Lutherischer Theologe, Kirkonterkariert, so etwa in den »Listen, Rechenlieddichter. frains, Abbildungen« von Angela Davis löscht ihre Website (Ffm. 2002). Seinen Aufenthalt als N. wuchs als viertes Kind des Schulmeisters u. Stipendiat der Villa Massimo in Rom nutzte Gutsverwalters Johann Neumeister auf dem N. 1999 zu einer inspirierten Auseinander- Land auf. »Wider [...] willen und Inclination« setzung mit der Stadt, in deren Zuge er die ging der 14-Jährige, auf Wunsch der Eltern, von Pier Paolo Pasolini u. Brinkmann geäu- nach Schulpforta, wo er sich in vier Jahren für ßerte Zivilisationskritik prononciert zuspitz- den Unversitätsbesuch qualifizierte. Von te. Wirft er in seinem Fotoband In dubio pro 1689 bis 1695 studierte N. in Leipzig Theodisco (Rom 1999) – er erschien anlässlich der in logie, lernte Johann Burckhard Mencke u. die Zusammenarbeit mit der Kölner Video- riesige Bibliothek dessen Vaters Otto Mencke künstlerin Frances Scholz realisierten Aus- kennen u. folgte zgl. seiner Neigung zur stellung Gerade noch – einen Blick auf Rom, Poesie, sodass er 1695 eine Magisterarbeit, De der die antike u. christl. Architektur nur Poetis Germanicis, vorlegen konnte. Es ist der flüchtig streift u. stattdessen eine Stadt er- erste Versuch einer krit. dt. Literaturge-
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schichte, die etwa 400 zeitgenöss. Autoren in alphabet. Reihenfolge anführt u. sich weithin auf Kenntnis der kommentierten Werke stützt. N.s unausgewogenes Urteil brachte ihm neben Anerkennung jedoch auch Anfeindung ein, was dazu geführt haben mag, dass er seine Poetikvorlesung, die er als Magister legens 1695–1697 hielt, nicht in Druck gab. Dies unternahm zehn Jahre später Hunold (Menantes), der sie ohne N.s Wissen u. Einverständnis als Allerneueste Art zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen (1707; zehn Aufl.n bis 1735) herausbrachte, die barocke Manieriertheit u. Bildlichkeit zugunsten leichter, eher spielerisch-galanter, an frz. Vorbildern orientierter Poesie überwindet. 1697 trat N. in den kirchl. Dienst. Binnen sieben Jahren anvancierte er zum Hofprediger des Herzogs von Weißenfels, u. ein Jahr nach der Vermählung der Weißenfelsischen Prinzessin Anna Maria mit dem Reichsgrafen von Promnitz folgte er dem Paar nach Sorau, wo er 1706 seinen Dienst als Oberhofprediger u. Superintendent antrat. N., der als Student kurze Zeit unter den Einfluss Franckes geraten war, entwickelte sich zu einem streitbaren Vertreter der luth. Orthodoxie. Dies brachte ihn in Schwierigkeiten mit der dem Pietismus zugeneigten reichsgräfl. Herrschaft, bes. als um 1708 der Chiliast Johann Wilhelm Petersen in die Niederlausitz kam u. am Hof offene Ohren fand. N.s kompromisslose Haltung führte schließlich zu seiner Entfernung aus dem Hofpredigeramt. »Alle Tage geschieht mir neuer Verdruß, sowohl an meiner Person als am Ampte [...]«, schreibt er am 1.12.1711 an Valentin Löscher. 1715 folgte N. einem Ruf nach Hamburg, wo er – als Nachfolger Riemers u. Schupps der dritte in einer Reihe literaturbeflissener Theologen – Hauptpastor u. Scholarch an St. Jakobi wurde. In diesem Amt, das er bis ins Alter ausübte, setzte er sich 1720 mit Eifer, wenn auch erfolglos für eine Bestallung Johann Sebastian Bachs ein u. arbeitete von 1721 an mit Georg Philipp Telemann zusammen, der als Musikdirektor nach Hamburg gekommmen war. N.s galante Gedichte waren hauptsächlich in seiner Poetik sowie in den ersten Bänden der Neukirchschen Sammlung (1695 ff.) erschienen. Mit seinem Eintritt
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ins kirchl. Amt wandte er sich jedoch ganz der geistl. Poesie zu. N. hatte wohl schon in Leipzig u. später in Weißenfels Texte für Johann Philipp Krieger geschrieben u. die Bindung der Poesie an die Musik betont. In seiner Poetik hatte er der Kantate bes. Aufmerksamkeit gewidmet. »Diese«, so schreibt er, »siehet [...] nicht anders aus, als ein Stück aus einer Opera, von Stylo Recitativo und Arien zusammengesetzt«. Ausgangspunkt für diese Form der ital. Kammerkantate war Giulio Caccinis Sammlung Le nuove musiche (Florenz 1601). Das von Caspar Ziegler in Deutschland propagierte Madrigal mit seiner freien Form eignete sich bes. für das meditative oder lehrhafte Rezitativ, während die Da-Capo-Arie das Vehikel für den lyr. Gefühlsausdruck wurde. Die Kantate wurde »zum für den lutherischen Gottesdienst typischen musikalischen Pendant zu Predigt, in dem Rezitativ und Arie zu einer Applicatio des Sonntagsevangeliums führten« (F. Krummacher). N.s erster gedruckter Kantatenjahrgang erschien 1700 u. d. T. Poetische Früchte der Lippen, in Geistlichen Arien. Im dritten Jahrgang von 1711 (Geistliches Singen und Spielen) traten zu Rezitativ u. Arie Bibelwort u. Choral. Damit war die für die Blütezeit der geistl. Kantate verbindl. Form geschaffen. Die bekannteste Ausgabe von N.s Kantaten sind die Fünffachen Kirchenandachten (Hg. Gottfried Tilgner. Lpz. 1716/17). Weitere Sammlungen mit z.T. unveröffentlichten frühen Texten folgten. N.s Kantatendichtungen waren bei den Komponisten der Zeit begehrt u. wurden von vielen zeitgenöss. Dichtern nachgeahmt, Bach vertonte mit Sicherheit jedoch nur fünf Texte N.s (BWV 18, 24, 28, 59, 61; fraglich, ob Bach drei weitere N.-Kantatentexte vertonte), die er mit feinem Gespür für die Echtheit des religiösen Gefühls auswählte. Für Telemann war N. der »beste Dichter in geistlichen Sachen«. Neben den Kantatentexten dichte N. auch über 700 Kirchenlieder, nicht selten mit Berührungspunkten zur ästhet. Position des Pietismus, die – zunächst in die Gesangbücher aufgenommen – heute (bis auf Jesus nimmt die Sünder an) vergessen sind. Gerne bedient sich N. dort barocker Zitier- u. Parodietechniken.
Neumeister
In den Sorauer Jahren hatte sich N. vorwiegend mit der Predigt beschäftigt u. zwei bedeutende Sammlungen verfasst (Priesterliche Lippen in Bewahrung der Lehre. Görlitz 1713. Heilige Sonntags-Arbeit. Lpz. 1716). Die Predigten demonstrieren trotz pedantischen Aufbaus u. gewisser exeget. Exzesse beachtl. Kanzelberedtheit. In Hamburg entwickelte N. rege schriftstellerische Tätigkeit; er verfasste neben mehreren Predigtsammlungen auch zahlreiche Pamphlete, z.T. unter verschiedenen Pseudonymen. Hier griff er neben den Pietisten auch die Herrenhuter, Calvinisten, Katholiken, insbes. Jesuiten u. später die »Synkretisten« an. Scharf wandte er sich gegen preuß. Unionsbestrebungen der protestant. Kirchen. Der Artikel Juden, oder Jüden in Zedlers Universallexikon (Bd. 14, Lpz. u. Halle 1739, Sp. 1497–1504), ein Zeugnis virulenten Judenhasses protestant. Spätorthodoxie, geht auf N. zurück, der zudem den Hamburger Pöbel gegen die Juden aufhetzte (v. Schade, S. 171). In einer vom Mühlhausener Pfarrer u. Freund Bachs Georg Christian Eilmar begonnen Schrift stellt N. alle antipietist. Erlasse zusammen u. systematisiert deren Bestimmungen (Pietismus a magistratu politico reprobatus et proscriptus. Hbg. 1736). Heiduks Verzeichnis der Schriften N.s nennt insg. 192 Titel, Süßmuth-Viswanathan konnte dieses Verzeichnis erweitern. Der von der Deutschen Gesellschaft nach N.s Tod am 18.8.1756 initiierten Trauerfeier in Hamburg stand Johann Christoph Gottsched vor. Weitere Werke: Lob-Gedichte des so gen. Bauer-Hundes, Oder Fürstl. Leib-Hundes [...] zu Weissenfels, o. O. u. J. [um 1700]. – Raisonnement über die Romanen. o. O. 1708 (Verfasserschaft N.s nicht gesichert). – Hl. Wochenarbeit. 4 Tle., Hbg. 1717/18. – Tisch des Herrn in LII Predigten. Hbg. 1722. – Freytags-Andachten. 4. Tle., Hbg. 1724–27. Ausgaben: N.s Briefe an Ernst Salomo Cyprian. Hg. T. Wotschke. In: Ztschr. des Vereins für Hamburg. Gesch. 26 (1925), S. 107–146; 30 (1929), S. 136–161; 31 (1930), S. 161–197. – De Poetis Germanicis. Hg. Franz Heiduk. Bern/Mchn. 1978. – Der höhn. Spaß-Galan. Hg. Klaus Sauer. Bln. 1966. – Herwardt v. Schade: ›Geld ist der Hamburger ihr Gott‹. E. N.s Briefe an Valentin Ernst Löscher. Herzberg 1998. Literatur: Samuel Magnus: Histor. Beschreibung der Hoch-Reichsgräffl. Residentz-Stadt So-
556 rau. Lpz. 1710. – Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller. Bd. 5 (1860), S. 494–512. – Koch 5, S. 371–381. – Max v. Waldberg: Die galante Lyrik. Straßb. u. a. 1885. – Ders.: N. In: ADB. – Ders.: E. N. Versuch einer Charakteristik. In: GRM 2 (1910), S. 115–123. – Grant C. Loomis: E. N.’s Contribution to Seventeenth-Century Bibliography. In: JEGPh 43 (1944), S. 222–241. – Luigi Ferdinando Tagliavini: E. N. In: MGG Bd. 9, Kassel 1961, S. 1401–1405. – Philipp Spitta: Johann Sebastian Bach. Bd. 1, Wiesb. 1962, S. 465–507, 631 ff. – Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit u. ihre Kritiker. Stgt. 1966, S. 376–399. – Ferdinand Zander: Der Dichter der Kantatentexte J. S. Bachs. In: Bach-Jb. (1968), S. 9–64. – Franz Heiduk: Der Dichter der galanten Lyrik. Bern/Mchn. 1971. – Harald Streck: Die Verskunst in den poet. Texten zu den Kantaten J. S. Bachs. Hbg. 1971, S. 50–86, passim. – Heiduk/Neumeister. – Klaus Conermann: Zu N.s ›Dissertation‹. In: WBN 4 (1977), S. 65 f. – Ders.: Die Kantate als Gelegenheitsgedicht. In: Gelegenheitsdichtung. Hg. Dorette Frost u. Gerhard Knoll. Bremen 1977, S. 69–109. – Eberhard Mannack: ›De Poetis Germanicis‹. In: Daphnis 8/2 (1979), S. 414–422. – Helmut K. Krausse: ›Die unverbotne Lust‹. E. N. u. die galante Poesie. In: Daphnis 9/1 (1980), S. 131–161. – Neues Hdb. der Musikwiss. Bd. 5, Laaber 1985, S. 108 ff. – Peter Schäffer: Reflections on the Literary History of E. N. In: Simpliciana 9 (1987), S. 185–191. – Ernst Fischer: Patrioten u. Ketzermacher. Zum Verhältnis von Aufklärung u. luth. Orthodoxie in Hamburg am Beginn des 18. Jh. In: Zwischen Aufklärung u. Restauration. Hg. Wolfgang Frühwald u. Alberto Martino. Tüb. 1989, S. 17–47. – Ute-Maria Süßmuth-Viswanathan: Die Poetik E. N.s u. ihre Beziehung zur barocken u. galanten Dichtungslehre. Diss. University of Pittsburgh 1989 (S. 262–406 Werkverzeichnis). – Guntram Philipp: Herrnhuter Texte für Telemann’sche Passionsmusiken. In: Unitas Fratrum 27/28 (1990), S. 23–89, zu N. S. 43–66. – Wolfram Steude: Anmerkungen zu David Elias Heidenreich, E. N. u. den beiden Haupttypen der evang. Kirchenkantate. In: Roswitha Jacobsen: Weißenfels als Ort literar. u. künstler. Kultur im Barockzeitalter. Amsterd. u. a. 1994, S. 45–61. – Wolfgang Miersemann: Lieddichtung im Spannungsfeld zwischen Orthodoxie u. Pietismus: zu E. N.s Weißenfelser Kommunionbuch ›Der Zugang zum Gnaden-Stuhl Jesu Christo‹. Ebd., S. 177–216. – Felix Höpfner: Georg Theophil Adamsen – ein Pseud. E. G. N. In: WBN 21 (1994), S. 16–18. – Renate Wilson: E. N. In: German Baroque Writers 1661–1730. Hg. James Hardin. Detroit u. a. 1996, S. 300–310. – Friedhelm Krummacher: Kantate. In MGG 2. Aufl., Sachteil
557 Bd. 4, Sp. 1743–1746. – Christoph Wolff: Die Welt der Bach-Kantaten. 3 Bde., Stgt. 1996–99. – Wolf Hobohm: Telemann als Kantatenkomponist. In: ›Nun bringt ein polnisch Lied die gantze Welt zum Springen‹. Sinzig 1998, S. 29–52. – W. Miersemann: N. In: NDB. – Christoph Krummacher: E. N. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 1999, S. 227 f. – Alfred Dürr: J. S. Bach – Die Kantaten. Bd. 1, Kassel u. a. 2000, S. 29–36, passim. – Henrike Rucker (Hg.): E. N. (1671–1756). Wegbereiter der evang. Kirchenkantate. Rudolstadt 2000. – Ann LeBar: Die subjektive Dichtkunst des jungen E. N. Ebd., S. 97–110. – Dieter Merzbacher: Ob ein Poete wohl Superintendens seyn könne? E. N.s Kantatendichtung im Spiegel seiner Poetik. Ebd., S. 75–95. – Johannes Wallmann: E. N. – der letzte orthodoxe Gegner des Pietismus. Ebd., S. 27–37. – Christian Bunners: Musiktheolog. Aspekte im Streit um den Neumeisterschen Kantatentyp. Ebd., S. 39–50. – W. Miersemann: E. N.s ›Vorbericht‹ zu seinen ›Geistlichen CANTATEN‹ v. 1704: ein literatur- u. musikprogrammat. ›Meister = Stück‹. Ebd., S. 51–37. – Wolf Hobohm: Telemanns Kantatenjahrgänge nach N.-Texten. Ebd., S. 111–134. – Ada Kadelbach: ›Jesu, meine Freude, Purpur, Gold u. Seide‹. Zitat u. Parodie in E. N.s ›Lieder = Andachten‹ 1743. Ebd., S. 147–170. – Herwarth v. Schade: ›Ey reimbts sichs nicht, so ists doch wahr‹. E. N. als Gelegenheitsdichter. Ebd., S. 241–248. – Lucinde Braun: N., E. In: Das Bach-Lexikon. Hg. Michael Heinemann. Laaber 2000, S. 392 f. – C. Wolff: J. S. Bach. Ffm. 2000, S. 175 f., 233–236, 278. – Dirk Niefanger: Die Chance einer ungefestigten Nationallit. In: Der galante Diskurs. Hg. Thomas Borgstedt u. Andreas Solbach. Dresden 2001, S. 147–163. – Martin Geck: Bach – Leben u. Werk. Reinb. 2001, S. 326–334, passim. – J. Wallmann: N. E. In: RGG 4. Aufl., Bd. 6, Sp. 231 f. – Ute Poetzsch-Seban: N. E. In: MGG 2. Aufl., Personentl., Bd. 12, Sp. 1021–1023. – Karl Christian Thust: Bibliogr. über die Lieder des Evang. Gesangbuchs. Gött. 2006, S. 310 f. (zu ›Jesus nimmt die Sünder an‹). – Ute Poetzsch-Seban: Die Kirchenmusik v. Georg Philipp Telemann u. E. N. Beeskow 2006. – Martin Petzoldt: Bach-Komm. Bd. 1 u. 2, Kassel u. a. 2004 u. 2007. – Hans-Joachim Schulze: Die Bach-Kantaten. Einf. zu sämtl. Kantaten Johann Sebastian Bachs. Lpz. 2006, passim. Helmut K. Krausse / Dieter Merzbacher
Neuss
Neuss, Wolfgang, eigentl.: Hans-Wolfgang Neuß, * 3.12.1923 Breslau, † 5.5. 1989 Berlin; Grabstätte: ebd., Waldfriedhof Zehlendorf. – Kabarettist, Drehbuchautor. N. unternahm erste kabarettistische Versuche als »Frontkomiker« bei der Wehrmacht. Anfang der 1950er Jahre wurde er in Berlin als »Mann mit der Pauke« bekannt. N. wirkte als Schauspieler in zahlreichen Theaterstücken u., meist an der Seite seines Kabarettkollegen Wolfgang Müller, in mehr als 50 Spielfilmen mit (u. a. Das Wirtshaus im Spessart, 1957. Wir Wunderkinder, 1958). 1960 drehte N. den Film Wir Kellerkinder (Mchn. 1961), mit dem er die bundesdt. Wirklichkeit, aufkeimenden Neofaschismus u. die Restauration der AdenauerÄra, satirisch aufs Korn nahm; in seinem zweiten Film, Genosse Münchhausen (1962), skizzierte er kabarettistisch eine neue Ostpolitik. Seine Kabarettprogramme Das jüngste Gerücht (Reinb. 1965), die Villon-Show Neuss Testament (Reinb. 1966) u. Asyl im Domizil (Reinb. 1968) zeigen die Wandlung vom kalauernden Symptomkritiker zum kompromisslosen Systemkritiker. Ab 1967 nahm N. vehement für die Ziele der Studentenrevolte Partei; Rudi Dutschke sah 1968 in N. einen der »wichtigsten Vorläufer der heutigen oppositionellen Bewegung«. Anfang der 1970er Jahre zog sich N. von der Bühne u. aus den Medien zurück u. machte fortan in seiner Berliner Wohnung nur noch »Kabarett im Schneidersitz« für Freunde u. Kollegen. In den letzten Jahren produzierte N. »Sponti-Sprüche und HaschPointen« u. plädierte in Gelegenheitsarbeiten für Funk, Fernsehen u. Presse ebenso witzig wie beharrlich für eine Liberalisierung der Rauschmittelgesetze. Weitere Werke: Da habt Ihr es! Stücke u. Lieder für ein dt. Quartett. Texte v. Franz Josef Degenhardt, W. N., Hanns Dieter Hüsch, Dieter Süverkrüp. Hbg. 1968. – Das W. N. Buch. Hg. Volker Kühn. Mchn. 1981. – Ohne Drogen nichts zu machen. Fünf G.e. Bln. 1983. – Tunix ist besser als arbeitslos. Sprüche eines Überlebenden. Hg. V. Kühn. Reinb. 1985. – Der gesunde Menschenverstand ist reines Gift. Paukenschläge v. W. N. Hg.
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Mathias Bröckers. Mchn. 1985. – N.’ Zeitalter. Ffm. 1989. Ausgabe: Der totale Neuss. Ges. Werke. Hg. V. Kühn. Ffm. 1997. 72004. Literatur: Gaston Salvatore: W. N. – ein faltenreiches Kind. Ffm. 1974. Hbg. 1995. – Ders.: Der Mann mit der Pauke. Reinb. 1983. – Roland Berbig: ›Es wird dich seltsam berühren, daß ich wir sage‹. W. N. trifft Uwe Johnson. In: Uwe Johnson – Befreundungen. Hg. ders. Bln. 2002, S. 13–56. Volker Kühn / Red.
Neutsch, Erik, * 21.6.1931 Schönebeck/ Elbe. – Romancier, Journalist. N.s Bildungsweg ist DDR-typisch: Der Arbeitersohn trat 1949 der FDJ u. SED bei, absolvierte 1950–1953 ein Journalistikstudium in Leipzig u. war anschließend bis 1969 Kultur- u. Wirtschaftsredakteur der Parteizeitung »Freiheit« in Halle. Seither lebt er dort als freier Schriftsteller. Aus seiner Identifikation mit der Partei (ob als Parteioffizier in der Nationalen Volksarmee, Mitgl. einer SED-Bezirksleitung oder Vorstandsmitgl. des Schriftstellerverbands) machte er nie einen Hehl, versuchte aber auch, kritisch auf sie einzuwirken. Schreiben ist für N. Waffe im Klassenkampf, sozialistischer Realismus eine Kunst, die sich durch ihre Themen von der bürgerlichen zu unterscheiden hat. In seinen in der DDR erschienenen Gedichten, Romanen u. Theaterstücken pflegte er einerseits das parteioffizielle Bild vom real existierenden Sozialismus; andererseits schlug bereits der Roman Spur der Steine (Halle 1964. Mchn. 1975), der von technischen, organisatorischen u. zwischenmenschl. Konflikten auf einer Großbaustelle handelt, durchaus neue, selbstkrit. Töne an. Mit mehr als 500.000 verkauften Exemplaren gehörte er zu den erfolgreichsten Büchern der DDR-Literatur. Die Verfilmung durch Frank Beyer wurde 1966 verboten u. erst 1989 wieder freigegeben. N.s 1965 abgeschlossener Roman Auf der Suche nach Gatt konnte aufgrund einzelner kritisierter Passagen ebenfalls erst nach mehreren Jahren erscheinen (Halle 1973. 13 1987. Mchn. 1980). Selbsterklärtes Lebenswerk N.s ist ein auf sechs Bände angelegtes
sozialist. Nationalepos (Friede im Osten. Halle 1974 ff.), von dem vier Teile erschienen sind (Am Fluß. 1974. Frühling mit Gewalt. 1978. Wenn Feuer verlöschen. 1985. Nahe der Grenze. 1987). Band 4 zog er im Febr. 1990 wegen falscher Darstellung der 68er-Ereignisse in der CˇSSR zurück, die Bände 5 u. 6 sind weitestgehend unveröffentlicht. Nach 1990 ist N. zuerst mit einem pessimist. Wenderoman (Totschlag. Querfurt 1994) an die Öffentlichkeit getreten, um sich dann v. a. in Interviews, Essays u. Erzählungen zu äußern. Der Gedichtband Die Liebe und der Tod (Halle 1999) stellte eine Hommage an die 1997 gestorbene Gattin dar. Der zuletzt erschienene histor. Roman Nach dem großen Aufstand. Ein Mathias-Grünewald-Roman (Lpz. 2003) verbindet histor. Gesellschaftsanalyse, kunstgeschichtl. Beobachtungen u. Gegenwartskritik. Weitere Werke: Bitterfelder Gesch.n. Halle 1962 (E.en). – Die anderen u. Ich. Halle 1970 (E.en). – Karin Lenz. 1971 (Opernlibretto). – Haut oder Hemd. Halle 1972 (D.). – Heldenberichte. Bln./ DDR 1976 (E.en). – Olaf u. der gelbe Vogel. Bln./ DDR 1979 (Kinderbuch). – Zwei leere Stühle. Halle 1979 (N.n). – Fast die Wahrheit. Ansichten zu Kunst u. Lit. Bln./DDR 1979. – Forster in Paris. Bln./DDR 1981. Mchn. 1982 u. in erw. Neuausg: Joachim Lahns (Hg.): Forster in Paris. Drei Ess.s. Querfurt 1994 (E.). – Da sah ich den Menschen. Dramat. Werke u. G.e. Bln./DDR 1983. – Claus u. Claudia. Halle 1989 (E.). – Vom Gänslein, das nicht fliegen lernen wollte. Illustrationen v. Susanne Berner. Lpz. 1995 (E.). – Stockheim kommt. Bln. 1998 (E.). – Verdämmerung. Kückenshagen 2003 (Ess.-E.). Literatur: Andreas Fritsche: Zur polyphonen Struktur in E. N.s Romanwerk ›Der Friede im Osten‹. Marburg 1997 (Mikrofiche-Ausg.). – Gregor Ohlerich: E. N.s Ästhetikkonzept als Sollbruchstelle von relativer Autonomie u. Parteilichkeit. In: Literar. Feld DDR. Bedingungen u. Formen literar. Produktion in der DDR. Hg. Ute Wölfel. Würzb. 2005, S. 105–122. – Klaus-Detlef Haas (Hg.): Wie Spuren im Stein – Das literar. Werk v. E. N. Bln. 2007. – Joachim Wittkowski: N. In: KLG. Hannes Krauss / Stefan Elit
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Neuwirth, Barbara, * 13.11.1958 Eggenburg/Niederösterreich. – Prosa-Autorin, Dramatikerin u. Lektorin.
Niavis
Machtspiele der Welt und die dies im Kleid phantastischer Erzählungen tut.« Weitere Werke: Prosa: Blumen der Peripherie. Mit Zeichnungen v. Regina Hadraba. Horn 1994 (E.). – Über die Thaya. Mit Originallinolschnitten v. Georg Koenigstein. Klosterneuburg-Wien 1994 (E.). – Die Liebe ist ein grüner Waschtrog. Ein letzter Versuch über die Ehre der Männer. Mit einem Nachw. v. Gerhard Jaschke u. Werner Herbst. Wien 1995 (zus. mit Sylvia Treudl). – Das gestohlene Herz. Ein romant. Märchen. Mit Originalradierungen v. G. Koenigstein. Klosterneuburg 1998. – Empedokles’ Turm. Wien 1998 (N.). – Ein Abschied v. Drosendorf. Mit Lithografien v. Georg Lebzelter. Horn 2000 (E.). – Tarot Suite. Ein Episodenroman. Wien/Ffm. 2001 (zus. mit Harald Friedl u. a.). – Magie der Worte II. Mit 6 Farblinolschnitten v. G. Koenigstein. Klosterneuburg 2006 (3 E.en, zus. mit Elisabeth Schawerda u. H. Friedl). – Das steinerne Schiff. E.en aus dem Land zwischen Donau u. Thaya. St. Pölten 2008. – Theaterstücke: Antigone. Und wer spielt die Amme? Urauff. 2003 (zus. mit Erhard Pauer). – Eurydike. Urauff. 2005. – Eurydike revisited. Ein Monolog. Urauff. 2006. – N. ist außerdem Hg. diverser Anthologien.
N. wuchs im nördl. Waldviertel an der österreichisch-tschech. Grenze auf. 1967 übersiedelte sie nach Wien, wo sie Geschichte u. Politikwissenschaften sowie ab 1981 Ethnologie studierte; 1986/87 absolvierte sie eine Diplomausbildung zur Dokumentarin. Von 1986 bis 1997 arbeitete N. als Lektorin u. Verlegerin im Wiener Frauenverlag (1997 umbenannt in Milena Verlag) u. als Herausgeberin der wiss. Reihe Frauenforschung. Neben der Verlagsarbeit ist sie auch immer wieder kulturpolitisch tätig gewesen: So war sie 1997 Mit-Initiatorin des weltweit ersten Frauenvolksbegehrens in Österreich (zu Fragen der Gleichstellung in Wirtschaft, Politik u. Gesellschaft) u. von 1998 bis 2008 Kultursenatorin des Bundeslandes Niederösterreich. Seit 1982 ist sie Mitgl. u. seit 1989 Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Autorinnen (AGA). N. lebt in Wien u. Mitterretzbach Literatur: Sylvia Treudl: An nächtl. Ufern. (Niederösterreich). Über B. N. In: Österr. Dichterinnen. Hg. Elisabeth Mit ihren frühen Erzählbänden In den Gär- Reichart. Salzb./Wien 1993, S. 169–189. – Kika ten der Nacht (Ffm. 1990) u. Dunkler Fluß des Bomer: Das Labyrinth. B. N.s Erzählslg. ›Dunkler Lebens (Ffm./Lpz. 1992) sowie in dem von ihr Fluß des Lebens‹ (1992). In: Zwischen Distanz u. herausgegebenen Band Blaß sei mein Gesicht. Nähe: Eine Autorinnengeneration in den 80er Vampirgeschichten (Wien 1988) präsentiert sich Jahren. Hg. Helga Abret u. Ilse Nagelschmidt. Ffm. N. als Erneuerin fantastischen wie auch erot. u. a. 1998, S. 171–197. – Clemens Ruthner: Dämon Erzählens in der österr. Literatur. K. Meeks des Geschlechts: VampirInnen in der österr. Lit. nach 1955 (Bachmann, Artmann, Jelinek, N.). In: Boomer hat ihre geheimnisvoll mäandernde, MAL 31 (1998), H. 3/4, S. 65–88. – Ruth Schmiedmitunter an Tagträume erinnernde Ästhetik berger: Liebe u. Sexualität als literar. Sujet bei B. N. mit den myth. Bedeutungsstrukturen eines Eine Analyse der Novellen ›Im Haus der SchneeLabyrinths verglichen. Thematisch dominie- königin‹ u. ›Empedokles Turm‹. Innsbr. 2002 (Diren die Geschlechterbeziehungen die meisten plomarbeit). – Sabine Treude: Erzählen als Entdevon N.s Werken, so auch die Novelle Im Haus ckung der Mischung. Zur poetolog. Konzeption u. der Schneekönigin (Wien 1994), wo es exem- zu ausgew. Texten v. B. N. In: Schreibweisen. Poplarisch heißt: »Liebe, sage ich und meine, etologien. Die Postmoderne in der österr. Lit. v. dass er mit mir sprechen soll.« In anderen Frauen. Hg. Hildegard Kernmayer u. Petra Ganglbauer. Wien 2003, S. 402–416. Clemens Ruthner Texten N.s spielt wiederum das nordniederösterr. Lokalkolorit (v. a. das Waldviertel) eine große Rolle. 1986 u. 1994 erhielt N. den Niavis, Paul, eigentl.: P. Schneevogel, * um Theodor-Körner-Preis, 1987 u. 2009 den An1460 Eger/Böhmen, † nicht vor 1514 erkennungspreis des Landes Niederösterreich Bautzen. – Pädagoge u. humanistischer sowie 2005 den Anton-Wildgans-Preis. In Publizist. ihrer Laudatio lobte Marianne Gruber N.s Perspektive als den »besondere[n] Blick einer N. besuchte die Universitäten Ingolstadt Frau, die zur Revolte angetreten ist gegen (immatrikuliert 19.4.1475, hier auch Baccanicht hinterfragte Konventionen, gegen die laureat) u. Leipzig (immatrikuliert 1479,
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Magister 1481). Anschließend wirkte er an mus u. Renaissance. Hg. Hans Rupprich. Bd. 2, verschiedenen Schulen, zeitweise als Rektor Darmst. 1964, S. 239–267. Dt. Übers., hg. v. Paul in Halle, von 1485 bis 1487 als Leiter des Krenkel. In: Freiberger Forschungsh. zu Kultur u. Ratsgymnasiums von Chemnitz. Von 1490 an Technik. D 3. Bln./DDR 1953. – Vgl. zum Gesamtwerk: Ludwig Hain: Repertorium biblioversah er sieben Jahre lang das Amt eines graphicum Nr. 11698–11745. Dazu Ergänzungen Stadtschreibers zu Zittau u. wurde dann zum aus den verschiedenen Kat.en der Wiegendrucke. Oberstadtschreiber von Bautzen ernannt. Literatur: ADB. – Aloys Bömer: Die lat. SchüIm Zentrum seines weitläufigen Werks lergespräche der Humanisten. Tl. 1, Bln. 1897, (mehr als 20 oft nachgedruckte Schriften) S. 19–55. – Gerhard Ritter: Über den Quellenwert stehen humanist. »Schülergespräche«, er- u. Verf. des sog. ›Heidelberger Gesprächsbüchleins wachsen aus seiner Lehrtätigkeit. Sie sollten für Studenten‹ (manuale scholarium, um 1490). In: jüngere u. ältere Studenten mit der Praxis des Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins 77 N. F. 38 mündl. Lateingebrauchs bekannt machen. N. (1923), S. 4–32. – Gerhard Streckenbach: ›Latinum begründete mit diesen kulturhistorisch ydeoma pro novellis studentibus‹ – ein Gesprächsbüchlein [...]. In: Mlat. Jb. 6 (1970), S. 152–191. 7 wertvollen, das Alltagsleben der akadem. (1971), S. 187–251 (Text mit Komm.). – Ders.: Das Sphäre treffsicher illustrierenden Dialogen ›Manuale scolarium‹ u. das ›Latinum ydeoma [...]‹ eine bis zum Ende des 16. Jh. blühende Form v. P. N. Ebd. 10 (1974), S. 232–269. – Ders.: Stilpädagog. Schrifttums. Zwar berief sich N. auf theorie u. Rhetorik der Römer im Spiegel der hudas humanist. Bildungsprogramm, doch manist. Schülergespräche. Gött. 1979. – Horst weisen stilistische u. themat. Züge seiner Bredekamp: Der Mensch als Mörder der Natur. Das Schriften noch auf die Lehrpraxis der spät- ›Iudicium Jovis‹ v. P. N. u. die Leibmetaphorik. In: mittelalterl. Universitäten. Viel beachtet Vestigia Bibliae 6 (1984), S. 261–283. – Joachim wurde seinerzeit das Iudicium Iovis, die lat. Knape u. Ursula Kocher: N. In: NDB. – Rand Johnson: A Parodistic Dialogue of Magister Paulus Fassung einer angeblich volksläufigen ErNiavis. In: Archivum Latinitatis Medii Aevi 59 zählung über den Prozess zwischen der ge- (2001), S. 243–259 (mit Ed.). – Volker Honemann: rade in Böhmen durch die aufblühende Bergbau in der Lit. des MA u. der frühen Neuzeit. Montanwirtschaft »misshandelten« Erde u. In: Stadt u. Bergbau. Hg. Karl Heinrich Kaufhold u. dem Bergmann als Repräsentanten potentiell Wilfried Reininghaus. Köln/Weimar 2004, sündigen Gewinnstrebens. Im Austausch S. 238–261. – Michael Rupp: Der Petrarca aus kontroverser Argumente u. im Rückgriff auf Böhmen. P. N. u. die humanistische Novelle. In: die Bibel u. antike Autoritäten wurde hier die Pirckheimer-Jb. 23 (2008), S. 59–104. Wilhelm Kühlmann Ausbeutung der Natur durch den wirtschaftenden Menschen zu einem zukunftweisenden Thema. Nibelungenlied, um 1200, und Klage, Weitere Werke: Dialogus [...] ad Latinum idioma perutilissimus. Basel 1489. – Latina ydeomata (mehrteilig, enthält auch: Latinum ydeoma pro novellis studentibus). Undatierte Drucke seit etwa 1487, dann u. a. Lpz. 1494. – Dass. in einer auf Heidelberger Verhältnisse zugeschnittenen Bearb. u. d. T. Manuale scholarium. Mehrere Ausg.n, u. a. Heidelb. u. Köln seit 1489/90. Ausg. v. Friedrich Zarncke in: Die dt. Univ.en im MA. Lpz. 1857, S. 1–48. – Elegantiae Latinitatis denuo emendatae una cum modo epistulari. o. O. u. J. – Colores rhetoricae [...]. o. O. u. J. (Sammelbd. verschiedener Schr.en). – Epistolae (breves, mediocres, longiores). o. O. u. J. Hg. v. Rand H. Johnson. Kalamazoo/Michigan 1995. – Declamatio [...] de conceptione intemeratae virginis Mariae. o. O. u. J. – Iudicium Jovis in valle amoenitatis habitum. o. O. u. J. (auch in: Colores rhetoricae, a. a. O.). Neudr. in: Humanis-
20er Jahre des 13. Jh. – Hochmittelalterliche Heldendichtungen aus dem Bereich der (kontinentalen) Nibelungensage; das Nibelungenlied in etwa 2400 vierzeiligen Langzeilenstrophen, die Klage in etwa 4300 kurzen Reimpaarversen. Wie die meisten näheren Umstände, unter denen diese komplementären Dichtungen entstanden, liegt auch die Identität ihrer Verfasser im Dunkeln. Zumindest beim N. ist das gattungsbedingt: Der Dichter ordnete sich der Tradition unter, weil er bemüht war, Diktion u. Erzählweise traditioneller (u. traditionell anonymer), mündl. Heldendichtung ins Literarische zu verlängern. Er kann (Hof-) Geistlicher gewesen sein, aber eher noch war
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er entweder einer aus der wachsenden Zahl aktiv an volkssprachiger Literatur interessierter Mitglieder des Laienadels oder ein spielmännisch-zwischenständ. Berufsunterhalter in wechselnden Diensten. Der Verfasser der K. war dagegen ausgesprochener Buchdichter u. als solcher wohl Kleriker. Dass er sich nicht nennt, mag u. a. mit der Anbindung seines Werks an das N. zusammenhängen. Seine Erwähnung eines »meister Kuonrat«, der im Auftrag des sowohl hier wie im N. als Onkel der Burgunder auftretenden (histor.) Bischofs Pilgrim von Passau nach Augenzeugenberichten sogleich eine (lat.) Chronik der trag. Ereignisse zusammengestellt habe (B 4295 ff./C 4401 ff.), ist ein topisch-literater Versuch, den Ursprung einer vielgestaltigen Tradition im Schriftlichen zu fixieren – zweifellos auch im Hinblick auf Passau, aber kaum, um seinen oder gar den Namen des N.-Dichters indirekt zu verewigen. Offenbar hat das rapide Wachstum einer deutsch-volkssprachig weltl. Literatur in anderen, zumeist importierten Gattungen im Lauf der Jahrzehnte 1180–1210 im Südosten des dt. Sprachgebiets (von Ostbayern über Österreich bis Südtirol) fortschreitend intensivere u. systematischere Versuche provoziert, den bisher verstreut u. eben vorwiegend noch mündlich tradierten einheim. Sagenstoffen vom Schicksal Siegfrieds von den Niederlanden am Hof der Burgunder in Worms u. vom Untergang dieser Burgunder (Nibelungen) am Hof des Hunnenkönigs Etzel zusammenfassende, schriftepische Gestalt zu verleihen u. sie so in die literar. Produktion der Zeit einzureihen. Hauptzentrum dieser Bemühungen wird die Passauer Residenz des auch sonst als Mäzen volkssprachiger Literatur bekannten Bischofs Wolfger von Erla (1191–1204) gewesen sein, u. das Ergebnis war eine Veröffentlichung, die zwei nach Form, Umfang, Inhalt, literar. Perspektive u. nicht zuletzt Qualität radikal verschiedene Lösungen dennoch zu einer Art Fortsetzungsroman verband. Er endet nicht etwa mit dem »Holocaust« in der Etzelburg, sondern schildert (in der K.) dessen Folgen, wertet rekapitulierend u. projiziert über den Exilkönig Dietrich von Bern das Ganze auf
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einen noch weiteren Sagenhintergrund. So haben das ganze MA u. noch der erste moderne Herausgeber, Johann Jacob Bodmer (1757), die Geschichte gelesen bzw. gehört; erst das 19. Jh. hat das N. isoliert: als literar. Nationaldenkmal u. von der Forschung wohl am meisten umworbenen Text des dt. MA. Im 20. Jh. hat die K. lange als (verlegene) Antwort auf das voll ausgeformte N. gegolten. Heute rechnen wir zumindest mit einer offeneren Situation, in der die Texte sich erst allmählich als feste Größen etablierten u. in der diese beiden literar. Unternehmen vielleicht sogar konkurrent miteinander abliefen, wenn auch in einem gemeinsamen Werkstattzusammenhang. Was der N.-Dichter schuf, war ein Rohbau oder jedenfalls ein Text, dem keine endgültige, »schriftliche« Autorität zukam. Jene erste Phase der Textkonstitution u. Traditionsbildung hat uns deshalb nur drei im Prinzip gleichermaßen authent. Fassungen hinterlassen, die nach den Siglen der jeweiligen Haupthandschriften A (viertes Viertel 13. Jh.), B (zweites Drittel 13. Jh.) u. C (zweites Viertel 13. Jh.) als *A, *B u. *C bezeichnet werden (dass die gen. Handschriften alle aus dem alpenländ. Raum stammen, mag bedeuten, dass sich schon in dieser Phase der geograf. Schwerpunkt des Publikumsinteresses zeitweilig weiter nach Süden verlagerte, vielleicht in Zusammenhang mit der Berufung Bischof Wolfgers zum Patriarchen von Aquileia 1204). Klar setzt sich v. a. die »höfisch« rationalisierende Fassung *C von den beiden anderen ab, u. aus diesem einflussreichsten Zweig stammt die (von A übernommene) Prologstrophe »uns ist in alten maeren...«, auf die ähnlich ins Formale objektivierend der abschließende Halbvers antwortet: »daz ist der Nibelunge liet«, statt »daz ist der Nibelunge not« in *A u. *B (der entsprechende, ebenfalls titelgebende Schlussvers der K. lautet: »dizze liet heizet diu Klage«). Noch im weiteren Verlauf des 13. Jh. treten andere Versionen neben diese drei, z.B. in der Handschrift J (viertes Viertel), wo u. a. die K. eine drastisch kürzende Bearbeitung erfahren hat, oder in einer erstmals um die Jahrhundertmitte fragmentarisch belegten Mischredaktion aus *B u. *C. Noch im 14.
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u. 15. Jh. sind Bearbeitungen entstanden, die den Text an den Zeitgeschmack oder bestimmte Überlieferungszusammenhänge anpassen sollten, d.h. dieser Transformationsprozess ist bis zum Ausklang der mittelalterl. Tradition in Kaiser Maximilians Heldenbuch (1516) praktisch nie zur Ruhe gekommen. Dabei bewegt sich insbes. der N.-Text von Anfang an u. auf lange Zeit hinaus in einem Fluidum konkurrierender Mündlichkeit (in paralleler Lied- oder Balladendichtung oder allg. Sagenwissen), die das für die schriftl. Großform Selektierte gegebenenfalls korrigiert oder anreichert. Bei der buchhaften K. liegen die Dinge trotz der bes. Überlieferungsgemeinschaft im Einzelnen anders. Konzept u. vielfach auch das Detail stimmen grundsätzlich mit der N.-Version *C überein, im Übrigen aber prägt sich der Text noch vor dem Ende des 13. Jh. in vier eigenen Fassungen aus (z.B. die Fassung *B in den Hss. A u. B). Anfänglich hat die K. wohl auch dem N. die literar. Respektabilität geliehen, die es brauchte, um selbst zum Bucherfolg zu werden. Die Stoffkerne der Sagentradition stammen aus dem burgundisch-fränk. Raum der späten Völkerwanderungszeit, sind jedoch nur schemenhaft in ein paar histor. Namen u. Aktionen greifbar: die Vernichtung des ostgerman. Stamms der nach Westen gewanderten Burgunden unter Gundahar durch römisch-hunn. Truppen 436/37, u. dazu später ein paar burgundische Königsnamen; auf hunn. Seite in dieser u. der folgenden Generation die Großkönige Bleda († 445; Blödelin) u. sein Bruder Attila († 453; Etzel), dazu Attilas Frau Hereka/Kreka (Helche). In den merowing. Bruderzwisten des 6. u. angehenden 7. Jh. spielt Brunichildis, Witwe des 575 von seinen Verwandten ermordeten Sigibert I, eine bedeutende Rolle. Aber Brunichildis ist nicht Kriemhild u. Sigibert ist nicht Siegfried, u. gerade in diesem Bereich der Sage muss man auch mit myth. Vorstellungen rechnen. Auf dieser schmalen Basis lässt sich nicht, wie man einmal gemeint hat, ein irgendwie kohärentes Entwicklungsschema aufbauen, das womöglich noch die Divergenzen miterklären soll, die zwischen der Sage auf dem Kontinent u. in Skandinavien (d.h. v. a. im
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Heldenteil der sog. Lieder-Edda u. in der Völsunga saga) bestehen. Die neuere Sagentheorie rechnet eher allg. mit einer begrenzten Anzahl von universalen Erzählmustern, über die histor. Erfahrung verständlich u. dichterisch transportabel wird u. in deren einmal etabliertem Rahmen dann die weitere Entwicklung grundsätzlich abläuft. Aber in der Praxis mündl. Reproduktion über Jahrhunderte hinweg muss es unzählige verschiedene liedhafte Reflexe des Stoffs gegeben haben. Der weiteren Variation im prosaischen, informellen Umgang mit der Sage sind ohnehin keine Grenzen gesetzt. Im Hinblick auf die Episierung um 1200 darf man immerhin folgende allg. Vorgaben der Tradition annehmen, die den isländ. Denkmälern ganz oder fast fehlen: lockere Verbindung der Sagenkreise in räuml. Zweipoligkeit Mittelrhein/Hunnenland; Kriemhilds »Verrat«, d.h. ihre Rolle als Rächerin ihres Mannes an ihren Brüdern; ein grundsätzlich positives Attilabild u. im Zusammenhang damit der Einschuss der Sage um Dietrich von Bern (Theoderich der Große, † 526) in den Burgunderuntergang. Den literarsoziolog. Rahmen dieser Entwicklung stellen urspr. an bestimmte Regionen gebundene, aber durch Familienbeziehungen übertragbare Haus- u. Sippentraditionen, in denen sich die allg. Funktion von Heldendichtung als Geschichtsüberlieferung der analphabetischen Elite weiter konkretisiert u. die sich v. a. in Personen- u. Ortsnamen spiegeln. In diesem Rahmen muss es immer wieder auch zu produktiven Umschichtungen u. Ergänzungen gekommen sein, nicht zuletzt durch Anverwandlung von Akteuren aus den Trägerfamilien selbst (Paradebeispiel ist der Sighardinger Pilgrim, 971–991 Bischof von Passau). Die solchen Familientraditionen des Altadels – u. im Norden auch städt. Überlieferungen (Soest!) – inhärenten Verbindlichkeiten der Sage als Vorzeitkunde sind wohl spätestens im 12. Jh. allmählich erloschen, was nicht heißt, dass nicht das gesellschaftl. Phänomen als solches den regionalen Literarisierungsbestrebungen im vierten Viertel des Jahrhunderts noch Impulse verliehen haben kann. Die schriftepischen Zusammenfassungen des Überlie-
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ferten im Südosten machen jedenfalls keine dezidierten histor. Aussagen im alten Sinn mehr; sie stehen der Tradition als ganzer kompilierend, organisierend, reflektierend u. im Fall der K. sogar manipulativ gegenüber. Der vielleicht wesentlichste Anstoß in dieser Richtung ging vom allmählich Mode werdenden Gebrauch einer Strophenform aus, die erstmals um 1150 im Werk des donauländ. Minnesängers Kürenberg belegt ist: vier durch Binnenkadenz zäsurierte u. paarweise endgereimte Langzeilen, deren vierte mit einer zusätzl. Hebung im Abvers die Strophe effektvoll abrundet. Um diese neue Form zu erfüllen, musste man von der traditionellen Sprachgebung der älteren Überlieferung bis zu einem gewissen Grad abgehen, u. der Dichter des N.s u. seine Umgebung haben auf dieser Basis das halbliterar. »Nibelungische« mit seinem eigenen Wort- u. Formelschatz, wenn nicht allein entwickelt, so doch als die Sprachnorm der neuen großepischen Erzähltradition etabliert (inwieweit sie eventuell dem Vortrag aus dem Gedächtnis Vorschub leistete, sei dahingestellt). Schon der Kürenberger erwähnt zu diesem im Anschluss an das N. nicht nur in der Heldenepik außerordentlich einflussreichen Strophentyp eine »wise«, aber wir kennen mehr oder weniger genau passende Melodien erst aus viel späterer Zeit. Sangbar war das N. in jedem Fall, doch war das Singen wohl eher fakultativ. Ganz unterschiedlich umfängl. Gruppen solcher Strophen sind in insg. 39 »aventiuren« (ein höf. Terminus) zusammengefasst, aber fast immer so, dass sich klar abgerundete Erzählblöcke ergeben. Tragende Pfeiler dieser Konstruktion sind auffällig lange Pausen zwischen den Handlungsabschnitten: Sie gliedern nicht nur; sie steigern die Intensität der handlungstreibenden Gefühle ins Überdimensionale u. erheben Privates zur Staatsaktion. Die 19. »aventiure« (Str.n 1101–1142) erfüllt dabei eine Art Scharnierfunktion zwischen zwei etwa gleich langen Hauptteilen: Kriemhild trauert dreieinhalb Jahre um Siegfried, bevor man dessen Nibelungenhort nach Worms holt, doch als sie verdächtig freigebig damit umzugehen beginnt, versenkt der misstrauische Hagen ihn im Rhein.
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Weitere neuneinhalb Jahre verstreichen, bevor dann Etzel um die Hand der berühmten Witwe anhält. Der Blick von hier aus zurück u. nach vorn fällt auf ein internes Handlungsgerüst, das sich aus paralleler u. kontrastiver Variation zweier vorgeprägter Handlungsschemata ergibt: erfolgreiche Brautwerbung (ein in Deutschland im 12. u. 13. Jh. literarisch beliebtes Modell) unter bedrohl. Auspizien, gefolgt von einer verräterischen Einladung, die mit dem Tod des Gastes bzw. der Gäste endet. Das ist die Rahmenkonstruktion, die aus vielen »alten maeren« (C 1, 1) erstmals »daz maere« (C 2440, 4) macht – als auch quantitativ ausgewogene Kombination zweier bislang eher locker assoziierter Zyklen. Am Hof in Worms wächst in der Obhut ihrer Brüder die Prinzessin Kriemhild heran. Um sie wirbt, kaum zum Ritter geschlagen, der niederländ. Königssohn Siegfried von Xanten. Dies ist als persönliche kriegerische Herausforderung an Land u. Leute angesetzt, wie es dem sagenhaft starken u. reichen Helden ziemt, von dessen Jugendtaten Hagen, Verwandter u. Gefolgsmann, den verblüfften Burgunderkönigen erzählt. Aber die höf. Wormser fangen diesen Ungestüm geschickt ab u. nehmen den jungen Mann einfach in ihre Dienste. Erst nachdem er Sachsen u. Dänen für sie besiegt hat, darf er Kriemhild zum ersten Mal sehen (5. av.), u. erst Gunthers eigene Werbung um die übermenschlich starke Brünhild bringt auch Siegfried zum Ziel: Kriemhilds Hand als Preis für seine Mithilfe. Siegfried tritt auf Isenstein als Gefolgsmann (»eigen man«) Gunthers auf, u. in seiner Rolle als (durch die Tarnkappe) unsichtbarer Werbehelfer sorgt er dafür, dass dieser die Freierprobe besteht (6./7. av.). Die Doppelhochzeit wird gestört durch Brünhilds Einspruch gegen die Ehe eines angebl. Vasallen mit Kriemhild. Da Brünhild sich überdies in der Brautnacht noch einmal als zu stark für Gunther erweist, muss Siegfried ein zweites Mal einspringen: Er überlässt die niedergerungene Braut Gunther, nimmt ihr aber Ring u. Gürtel u. schenkt beides Kriemhild. Seine eigene Brautfahrt endet mit der Rückkehr nach Xanten (11. av.).
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Es vergehen zehn Jahre, in denen u. a. hier wie in Worms ein Sohn geboren wird. Brünhilds schwelende Zweifel an Siegfrieds feudalrechtl. Status führen zu einer Einladung an die Xantener u. zum Streit der Königinnen (14. av.). Er schreitet kontrapunktisch vom privaten Zank um den offiziellen Rang der Männer zur öffentl. Konfrontation um Brünhilds privates Geheimnis fort, u. somit zum gesellschaftl. Eklat. Das böse Wort »mannes kebse« steht im Raum, u. Ring u. Gürtel dienen als »Beweis«. In einer Atmosphäre allg. Verwirrung überredet Hagen Gunther zum Mord an Siegfried. Eine Folge von Täuschungsmanövern kulminiert in der Szene, in der der waffenlos am Quell Trinkende hinterrücks von Hagen erstochen wird (15./16. av.). Kriemhild beschuldigt Hagen (u. Gunther), bleibt aber trotzdem in Worms. Auf die großen Intervalle von insg. 13 Jahren in »aventiure« 19 folgt der zweite Hauptteil in ähnl. Kombination der Grundschemata, jedoch in umgekehrtem erzählzeitl. Verhältnis. Etzels Werbung – eine offizielle Staatsaktion mit Rüdeger von Bechelaren als Boten (20. av.) – ist (ein allerdings gewichtiger) Auftakt zum Untergang u. als solcher nuanciert bewusst gemacht: Kriemhild motiviert allein der Wunsch nach Rache für Siegfrieds Tod, u. Hagen rät vergeblich gegen die Verbindung. Trotzdem vergehen auch nach dieser Hochzeit (in Wien) noch einmal viele Jahre (13), während derer u. a. ein Sohn, Ortlieb, geboren wird, bevor Kriemhild an die Ausführung geht (23. av.). Weder Hagen noch (in kom. Kontrafaktur dazu) der Küchenmeister Rumold können verhindern, dass die Brüder der Einladung des ahnungslosen Etzel Folge leisten; aber auf dem abenteuerreichen Zug der jetzt gelegentlich auch Nibelungen genannten Burgunder nach Süden, zur Donau u. über Passau u. Bechelaren (Pöchlarn) nach Etzelburg (Ofen/Budapest oder Gran/Esztergom?) tut Hagen zumindest alles, um sich u. ihnen die Unvermeidbarkeit der Tragödie bewusst zu machen (av. 25–27). Das Schicksal erfüllt sich im Zeitraffer von zwei Tagen u. drei Nächten, auf einer gedrängt vollen Bühne u. unter Beteiligung vieler, die nur in diesem Schlussabschnitt
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auftreten. Dies sind v. a. Dietrich von Bern u. seine Leute. Dietrich warnt die Burgunder, aber Hagen bekennt sich in direkter Konfrontation mit Kriemhild – Siegfrieds Schwert Balmung über den Knien – öffentlich zu seiner Tat (29. av.). Das ist, wie die, strukturell u. motivlich gesehen, parallele Begegnung der Königinnen vor dem Münster in Worms, eine der großen Szenen, in denen der Dichter sich über die selbstgewählte literar. Schematik erhebt, den Fluss der Erzählung dämmt u. das Geschehen verräumlicht, um die Akteure im dramat. Dialog für sich selbst sprechen zu lassen. Beide Seiten halten Etzel in Unkenntnis, während Kriemhild seinen Bruder Blödelin dazu gewinnt, die burgundischen Knappen zu überfallen. Damit wird der Kampf in der Herrenhalle unvermeidlich, dem Schauplatz alles Folgenden. Hagen enthauptet Ortlieb, aber Dietrich geleitet das hunn. Königspaar ins Freie. Den 7000 Hunnen, die jetzt erschlagen werden, folgen bald Tausende mehr, v. a. aber werden eine ganze Reihe von Exilfürsten bzw. Vasallen Etzels in die Auseinandersetzung hineingezogen. Alle sterben, während der Haufen der Burgunder immer kleiner wird – auch Rüdeger, der seine Tochter Giselher verlobt u. die Gäste ins Land geleitet hat, sich aber in einem ausweglosen Loyalitätskonflikt für Etzel u. Kriemhild entscheiden muss (37. av.). Sein Tod bringt die Dietrichmannen ins Spiel, die alle bis auf Hildebrand fallen, u. so bleibt es dem Berner selbst, die allein noch lebenden Burgunder, Gunther u. Hagen, zu überwinden u. Kriemhild zuzuführen. In einer rapiden Schlusssequenz spielt unvermittelt noch einmal der Hort u. sein Verbleib eine Rolle, womit auch zusammenhängt, dass Gunther hinter den Kulissen enthauptet wird. Aber dann vollzieht Kriemhild die Gattenrache, indem sie – hochsymbolisch – Hagen mit Balmung den Kopf abschlägt. Der entsetzte Hildebrand haut sie dafür in Stücke, u. der Erzähler schließt faktisch-nüchtern mit dem Hinweis auf die Klage der Überlebenden. Selbst in knapper Nacherzählung wird deutlich, dass es dem Dichter in der Tat geglückt ist, eine breit gefächerte, vielgestaltige Erzähltradition zusammenfassend so zu or-
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ganisieren u. mit den erzählerischen Mitteln seiner Zeit darzustellen, dass sie Anspruch auf literar. Geltung erheben durfte. Er hat damit die zeitgenöss. Palette um einen ihrer ausdrucksstärksten Töne bereichert u. eines der ganz wenigen originären dt. Erzählwerke des HochMA geschaffen. Dazu gehört durchaus die Brüchigkeit der Komposition: heterogene Motivation u. Handlungsführung (Rache u. Hort!); Doppelbesetzung von Motiven, z.B. in den Umständen von Siegfrieds Tod; das unvermittelte Nebeneinander verschiedener Entwicklungsschichten (der eine Hagen setzt ein ganzes Heer über die Donau!), kulturhistor. Konstellationen (archaisch – modern), die nicht zueinander passen wollen. An krit. Stellen fehlt die eindeutige faktische oder psycholog. Motivierung, z.B. ein guter, textinterner Grund für den Mord an Siegfried: Das feudalrechtl. Motiv der Standeslüge ist aufgesetzt u. dann nicht konsequent durchgespielt, u. der zweite Betrug an Brünhild wird nie als solcher aufgeklärt. Das Geschehen nimmt gleichsam von selbst seinen traditionellen Lauf. Dafür garantiert im Zweifelsfall Hagen, das epische Gewissen des Dichters, während über hundert epische Vorausdeutungen die Handlung ins Unausweichliche gerichtet halten – die erste u. allgemeinste schon gleich am Anfang (C 1, 4): wegen Kriemhilds Schönheit »muosen degene vil verliesen den lip«. Kriemhild selbst, die Gegenspielerin Hagens, ist andererseits eine »moderne« Frauengestalt, insofern ihr Schicksal schließlich als notwendige Konsequenz individuellen Handelns glaubhaft wird. Der im Zweig *C der handschriftl. Überlieferung begegnende Gesamttitel Buoch Krimhilden hält ihre zentrale Rolle fest. Nach einer allg. leitenden Idee weltanschaulicher oder soziopolit. Art sucht man dagegen vergebens. Von Schicksal ist nirgends die Rede; Christliches ist nur als Bestandteil des höf. Alltags gegenwärtig; u. der Tenor der (ohnehin seltenen) Erzählerkommentare ist pointierte Ratlosigkeit. Das gilt auch für den viel beanspruchten resümierenden Satz, dass »ie diu liebe leide z’aller jungeste git« (B 2378, 4), denn er zitiert die altkluge Rollenrede der jungen Kriemhild zu Beginn (B 17, 3). Genaue Auszeichnung der
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heimischen Geografie aktualisiert zwar diese an sich ja landfremde Geschichte von Betrug, Mord, Verrat u. Rache irgendwie im bayerisch-österr. Raum, aber gesellschaftlich oder politisch aktuell scheint das nicht gemeint. Im Bewusstsein von der Hinfälligkeit solcher Institutionen u. Normen erzählt das N. gegen den Strich der literar. Mode: Dem maiseligen Artuskreis steht das Schicksal Etzels u. seiner unglückl. Exulanten gegenüber. Andererseits ist gerade das Höfische ein Hauptfaktor der literar. Integration – vom allgegenwärtigen Glanz der Feste u. Waffen über die Feinsteuerung der Handlungsschemata (Brautwerbungshilfe als Minnedienst) bis zur Neubewertung persönl. Beziehungen. Minne als Gemeinschaft der »triuwe« über den Tod hinaus; eine Gestalt wie Rüdeger; Freundschaft, Zweifel, Opfer: all das sind Errungenschaften hochmittelalterlicher (literar.) Sensibilität. Durchdrungen ist der Stoff aber auch von dieser Seite her nicht, sondern man sucht punktuell nach (positivem) Sinn oder Ausgleich, wo die archaischen Mechanismen, die tatsächlich den Ablauf bestimmen, unverständlich bleiben (müssen) bzw. in modernen Vokabeln wie »übermuot« oder »hoher muot« nur unzulänglich gedeutet werden können. Kriemhilds »triuwe« (B 1142, 4 u. ö.) steht die Ungeheuerlichkeit der Rache »an ir naehsten magen« (B 2086, 3) gegenüber. Warum schlägt Hagen Ortlieb den Kopf ab, obwohl das Kind ihm nichts getan hat? Weil das in der Sage eben so ist (wobei sie vielfach anders – u. besser – motiviert). Der Dichter konzentriert sich aufs Faktische, u. er verbindet mit dem Bewusstsein von der Verbindlichkeit disparater Traditionen den ständig implizierten Appell an das (außerliterar.) Sagenganze als letzte Autorität. Darin liegt ein bewusster Verzicht auf erzählerische Kontrolle u. Autonomie. Bei der Schlussfolgerung, das Ergebnis sei deshalb auch letztlich nicht interpretierbar oder allenfalls als fatalist. »Dekonstruktion« seiner selbst zu beschreiben, sollten wir es allerdings nicht bewenden lassen. Der Dichter hat eben auch Dissonanz, Antagonismus u. Ambivalenz zu gestalterischen Prinzipien erhoben, um den Untergang einer versunkenen Kultur im Rahmen der eigenen plausibel zu
Nibelungenlied und Klage
machen. Dass es schon seinen Zeitgenossen schwer fiel, das nachzuvollziehen, bezeugt die anschließende K. Die Klage der Überlebenden, mit der das Lied schließt, ist der themat. Ansatzpunkt der K., aber Klage ist hier in einem sehr weiten Sinn – modern gesprochen, als Trauerarbeit – zu verstehen. Dieser Dichter vertritt die Welt der »litterati« u. kommt im Übrigen eher noch von der vorhöfisch-geistl. Epik her als vom höf. Roman, obwohl er mit dem Gebrauch des paarweise gereimten Vierhebers, von Prolog u. Epilog u. in der Stilistik Anschluss an beides signalisiert. Aber er bereitet den Sagenstoff nicht erzählend auf, sondern ruft ihn punktuell als Sagenwissen ab, um im Rahmen einer ergänzenden Weiterführung darüber zu reflektieren bzw. reflektieren zu lassen. So rekapituliert zunächst der Erzähler allerlei Namen u. Ereignisse aus dem Burgunderuntergang u. seiner Vorgeschichte (vv. B 17–586), primär um Kriemhilds Treue zu Siegfried als christl. Tugend zu interpretieren u. ihr so das Odium der »teuflischen Rächerin« (»valandinne«) zu nehmen, das ihr eben in der Tradition anhaftet, der im N. v. a. Dietrich (B 1748, 4) u. Hagen (B 2371, 4) Ausdruck verleihen. In der eigentl. Klage (B 587–2489) kommt dann das hinterbliebene Volk selbst zu Wort: in Klagen u. rekapitulierend kommentierenden Nachrufen, während Etzel gemeinsam mit Dietrich u. Hildebrand die Toten zusammensucht, aufbahren lässt u. beerdigt. Etzels unmäßiges Wehgeschrei rahmt diese Großepisode, u. der Meistbeklagte ist Rüdeger, dessen Schicksal etwa ein Fünftel der ganzen Dichtung gewidmet ist. Erst der Schlussteil bringt epische Handlung (B 2490–4360) – Hildebrand löst sie aus, indem er Dietrich vorschlägt, nach Bern zurückzukehren –, u. sie kommt im Heimritt der beiden mit Dietrichs Frau Herrad zum Abschluss, während Etzel in kataton. Starre zurückbleibt. Dazwischen liegt die Verbreitung der »leiden maere« durch den Spielmann Schwämmel, der u. a. in Bechelaren einkehrt. Sein rhapsodischer Auftritt in Worms bietet eine letzte, geschlossene Rekapitulation der »not«, bevor nun Brünhild
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ihren u. Gunthers Sohn zum König krönen lässt. Auf der Rückreise kehrt Schwämmel noch einmal bei Bischof Pilgrim ein, u. der sorgt dafür, dass die Tragödie auch schriftlich festgehalten wird. Diese Tragödie versucht die K. selbst durch vielstimmigen, meist christlich moralisierenden Kommentar zu bewältigen. Er zielt vorwiegend auf Einzelne u. kann dabei je nach Sprecherrolle durchaus verschieden ausfallen – selbst in Bezug auf Kriemhild: Brünhild schiebt ihr eindeutig die urspr. Verantwortung, nämlich die für Siegfrieds Tod zu (B 3978–3981), während der Erzähler statt dessen Siegfrieds eigenen »übermuot« herausstellt (B 39). »Übermuot« (im Zusammenhang aus christl. Sicht: »superbia«) wird auch den Burgunderkönigen u. Hagen verschiedentlich angelastet, wobei im Fall der ersteren der Hort eine sehr viel größere Rolle spielt als im N., bes. in der Reaktion des Kirchenmannes Pilgrim (B 3430 ff.). Für das Ganze findet auch die K. keine Erklärung: »ane not« – im Grunde wäre alles vermeidbar gewesen, wenn nicht irgendwie alle Beteiligten Gottes Zorn auf sich gezogen hätten. Diese vage Argumentation gewinnt allerdings im Falle Etzels eine bes. Pointe: Er ist die Hauptfigur der Dichtung, u. er sieht selbst alles als Bestrafung für seinen persönl. früheren Abfall vom Christentum (B 970–1007). Von dieser Apostase weiß die Sage nichts; hier wird sie aus der Perspektive der gelehrten Chronistik mit ihrem negativen Attilabild gedeutet: Die »Gottesgeißel« (»flagellum Dei«) erleidet selbst den »gotes slac« (B 954). So macht sich allenthalben, angefangen von auffällig zahlreichen u. diversen Quellenberufungen bis zur merkwürdig uneinheitl. Machart des Ganzen, ein ausgesprochen experimentelles Bemühen um die »richtige« Perspektive auf den alten Stoff, seine Geschichte u. sein Fortleben in der Gegenwart geltend. Eine große Dichtung hat das nicht erbracht, wohl aber eine sehr originelle. Im Übrigen hat auch der Redaktor *C, der N. u. K. im bes. Hinblick auf die letztere noch einmal gemeinsam überarbeitete, an der Vieldeutigkeit dieser Gesamtdeutung fast nur in dem Bereich noch geändert, der ihn spe-
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ziell interessierte: die Konfrontation Kriemhild – Hagen. In einem Punkt allerdings hatte der Verfasser der K. selbst für klare Verhältnisse gesorgt: Dietrich, Hildebrand u. v.a. auch Rüdeger sind ganz als Gestalten der Dietrichsage gesehen, d.h. mit persönl. Attributen behaftet u. in Handlungszusammenhängen vorgestellt, die wir nur oder vorwiegend aus der später verschriftlichten Dietrichepik kennen. Entsprechend führt der Schluss über den das Nibelungengeschehen abrundenden Staatsakt in Worms hinaus u. in den weiteren Rahmen der Dietrichsage hinein. Damit wiederum zeichnet die K. schon die Hauptlinie der Wirkungsgeschichte im späteren MA vor. Diese Tendenz zur Integration in das Dietrichleben tritt in der handschriftl. Überlieferung ebenso wie in der dt. Reimchronistik zutage, v. a. aber in der Dietrichepik selbst. Die Dichtungen vom Kampf um den Wormser Rosengarten u. der hier anschließende Biterolf und Dietleib leben weitgehend aus der in N. u. K. begründeten Polarität nordwestl. u. südöstl. Sagenwelten. Sie kristallisiert sich hier neu – als Parodie – um die Rolle der blutrünstig kapriziösen Kriemhild bzw. Brünhild als Schirmherrin dieses Männermordens, u. das wiederum ist Ausdruck des fast durchwegs negativen Urteils der Nachwelt über die Kriemhild des N.s. Sie war für das späte MA die »übeliu Kriemhild«, allen Bemühungen des K.-Dichters zum Trotz. Auf einer anderen Rezeptionslinie, die dem Schema der Brautwerbung folgt, hat der Dichter der Kudrun ein versöhnl. Gegenbild entworfen. Das N. selbst hat wie kein anderes Werk des deutschsprachigen MA seit Bodmer Erneuerung u. Nachahmung in einer Vielzahl von Gattungen u. Medien der Literatur, Bildkunst u. Musik erfahren. Eine Nationalgeschichtsdichtung wie die altfrz. Chanson de Roland konnte es in seiner eigenen geschichtl. Wirklichkeit unmöglich sein, aber das 19. Jh. hat es dazu erhoben. Aus dieser Sicht wurde die K. abgekoppelt u. der Inhalt des Liedes mit anderweitigen Zeugnissen der Sage zu einem Nibelungenmythos vermengt, den das 20. Jh. dann ideologisch-völkisch ausschlachtete. Die krit. Aufarbeitung danach ist inzwischen abgelöst von nostalgischer u.
Nibelungenlied und Klage
pseudowissenschaftlich begleiteter Wiederbelebung dieses Mythos. Ausgaben: Der Nibelunge Not mit der K. Hg. Karl Lachmann. Bln. 1826. 51878. Neudr. 1960 (nach A). – Der Nibelunge Not, mit [...] einem Wörterbuch. Hg. Karl Bartsch. 2 Tle. in 3 Bdn., Lpz. 1870–80. Neudr. 1966 (nach B; umfassendste krit. Ausg. des N.s). – Diu K. Hg. ders. Lpz. 1875. Neudr. 1964 (nach B). – Das N. Hg. ders. u. Helmut de Boor. 22. Aufl. v. Roswitha Wisniewski. Wiesb. 1988. Nachdr. 1996 (nach B). – Das N. Paralleldr. der Hss. A, B u. C nebst Lesarten der übrigen Hss. Hg. Michael S. Batts. Tüb. 1971. – Das N. nach der Hs. C. Hg. Ursula Hennig. Tüb. 1977. – Das N. in spätmittelalterl. Illustrationen. Die 37 Bildseiten des Hundeshagenschen Kodex [...]. Hg. Hans Hornung u. Günther Schweikle. Bozen 21982. – Die ›Nibelungenklage‹: synopt. Ausg. aller vier Fassungen. Hg. Joachim Bumke. Bln./New York 1999. – Die Nibelungenklage: Mhd. Text nach der Ausg. v. K. Bartsch. Einf., nhd. Übers. u. Komm. Hg. Elisabeth Lienert. Paderb. 2000. – Das N. nach der Hs. n: Hs. 4257 der Hess. Landes- u. Hochschulbibl. Darmstadt. Hg. Jürgen Vorderstemann. Tüb. 2000. – Das N.: nach der Hs. C der Bad. Landesbibl. Karlsruhe. Mhd. u. nhd. Hg. u. übers. v. Ursula Schulze. Düsseld. 2005. – Die N.-Bearbeitung der Wiener Piaristenhandschrift (Lienhart Scheubels Heldenbuch: Hs. k). Transkription u. Untersuchungen. Hg. Margarete Springeth. Göpp. 2007. Literatur: Bibliografien und Einführungen: Willy Krogmann u. Ulrich Pretzel: Bibliogr. zum N. u. zur K. Bln. 41966. – Michael Curschmann: N. u. K. In: VL. – Siegfried Grosse u. Ursula Rautenberg: Die Rezeption mittelalterl. dt. Dichtung. Eine Bibliogr. Tüb. 1989, S. 166–230. – Werner Hoffmann: Das N. Stgt. 61992. – Monika Deck: Die Nibelungenklage in der Forsch.: Ber. u. Kritik. Ffm./New York 1996. – Jan-Dirk Müller: Das N. Bln. 2002. – Otfrid Ehrismann: N. Epoche – Werk – Wirkung. Mchn. 22002. – Francis G. Gentry u. a. (Hg.): The Nibelungen Tradition. An Encyclopedia. New York/London 2002. – Ursula Schulze: Das N. Stgt. 22003. – Joachim Heinzle: Die Nibelungen: Lied u. Sage. Darmst. 2005. – Sammelbände und Ausstellungskataloge: Elmar Vonbank (Hg.): N. Bregenz 1979 (Ausstellung Hohenems). – Achim Masser (Hg.): Hohenemser Studien zum N. Dornbirn 1981. – Jörg Kastner (Hg.): Das N. in den Augen der Künstler vom MA bis zur Gegenwart. Passau 1986 (Ausstellung Passau). – Fritz P. Knapp (Hg.): N. u. K. Heidelb. 1987. – Wolfgang Storch (Hg.): Die Nibelungen. Bilder v. Liebe, Verrat u. Untergang. Mchn. 1987 (Begleitbd. zur Ausstellung in München). – Egon Boshof u. F. P. Knapp (Hg.): Wolfger
Nick v. Erla. Bischof v. Passau (1191–1204) u. Patriarch v. Aquileia (1204) als Kirchenfürst u. Literaturmäzen. Heidelb. 1994. – Klaus Zatloukal (Hg.): 6. Pöchlarner Heldenliedgespräch. 800 Jahre N.: Rückblick, Einblick, Ausblick. Wien 2001. – Jürgen Krüger (Hg.): Das N. u. seine Welt. Darmst. 2003 (Ausstellung Karlsruhe). – J. Heinzle u. a. (Hg.): Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos. Wiesb. 2003. – Christoph Fasbender (Hg.): N. u. Nibelungenklage. Neue Wege der Forsch. Darmst. 2005 (Nachdr. repräsentativer Aufsätze v. 1979 bis 2005). – Einzelne Titel: Otto Höfler: Die Anonymität des N.s. In: DVjs 29 (1955), S. 167–213. – Max Wehrli: Die K. u. der Untergang der Nibelungen. In: FS Fritz Tschirch. Köln/Wien 1972, S. 96–112. – Hans Fromm: Der oder die Dichter des N.s? In: Colloquio italo-germanico sul tema: I Nibelunghi. Rom 1974, S. 63–74 (wieder in: Ders.: Arbeiten zur dt. Lit. des MA. Tüb. 1989, S. 275–288). – O. Ehrismann: Das N. in Dtschld. Mchn. 1975. Ergänzungsbd. Gießen 1986. – M. Curschmann: N. u. Nibelungenklage. Über Mündlichkeit u. Schriftlichkeit im Prozeß der Episierung. In: Dt. Lit. im MA. Hg. Christoph Cormeau. Stgt. 1979, S. 85–119 (gekürzter Nachdr. in: Fasbender 2005, s. o., S. 159–189). – Uwe Meves: Die Rolle der Sieghardinger für die Adelslit. im Südosten des Reiches [...]. In: Adelsherrschaft u. Lit. Hg. Horst Wenzel. Bern 1980, S. 115–180. – Ulrich Schulte-Wülwer: Das N. in der dt. Kunst des 19. u. 20. Jh. Gießen 1980. – Burghart Wachinger: Die K. u. das N. In: Masser 1981, s. o., S. 90–101 (Nachdr. in: Fasbender 2005, s. o., S. 191–209). – Ulrich Müller: Überlegungen u. Versuche zur Melodie des N.s [...]. In: Zur gesellschaftl. Funktionalität mittelalterl. dt. Lit. Greifsw. 1984, S. 27–42, 136. – F. P. Knapp: Nibelungentreue wider Babenberg? In: PBB 107 (1985), S. 174–189. – M. Curschmann: Zur Wechselwirkung v. Lit. u. Sage: Das ›Buch v. Kriemhild‹ u. Dietrich v. Bern. In: PBB III (1989), S. 380–410. – Ders.: Dichter alter maere. Zur Prologstrophe des N. im Spannungsfeld v. mündl. Erzähltradition u. laikaler Schriftkultur. In: Grundlagen des Verstehens mittelalterl. Lit. Literar. Texte u. ihr histor. Erkenntniswert. Hg. Gerhard Hahn u. Hedda Ragotzky. Stgt. 1992, S. 55–71. – Marie-Luise Bernreuther: Motivationsstruktur u. Erzählstrategie im N. u. in der K. Greifsw. 1994. – Alois Wolf: Heldensage u. Epos. Zur Konstituierung einer mittelalterl. volkssprachl. Gattung im Spannungsfeld v. Mündlichkeit u. Schriftlichkeit. Tüb. 1995. – J.-D. Müller: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des N.s. Tüb. 1998. – Elisabeth Lienert: Intertextualität in der Heldendichtung. Zu N. u. K. In: Wolfram-Studien 15 (1998), S. 276–298. – Nikolaus Henkel: N. u. K. Überlegungen zum Nibelungenverständnis um
568 1200. In: Mittelalterl. Lit. u. Kunst im Spannungsfeld v. Hof u. Kloster. Hg. Nigel F. Palmer u. Hans Jochen Schiewer. Tüb. 1999, S. 73–98 (Nachdr. in: Fasbender 2005, s. o., S. 211–237). – Norbert Ott: Ikonen dt. Ideologie. Der Nibelungenstoff in der Bildkunst vom MA bis zur Gegenwart. In: Ztschr. für bayer. Landesgesch. 63 (2000), S. 325–356. – E. Lienert: Der Körper des Kriegers. Erzählen v. Helden in der ›Nibelungenklage‹. In: ZfdA 130 (2001), S. 127–142. – Ulrich Wyss: Nibelung. Irritationen. Das Heldenepos in der Literaturgesch. In: Zatloukal 2001 (s. o.), S. 261–271. – Stephan Müller: Datenträger. Zur Morphologie u. Funktion der Botenrede in der dt. Lit. des MA am Beispiel v. N. u. K. In: Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im MA. Hg. Ludger Lieb u. ders. Bln./New York 2002, S. 89–120. – Peter Johanek: Nibelungenstädte – myth. u. histor. Tradition in Worms u. Soest. In: Städt. Mythen. Hg. Bernhard Kirchgässner u. Hans-Peter Becht. Sigmaringen 2003, S. 29–54. – Gerd Althoff: Das N. u. die Spielregeln der Gesellsch. im 12. Jh. In: Der Mord u. die Klage. Das N. u. die Kulturen der Gewalt. Hg. Gerold Bönnen u. Volker Gallé. Worms 2003, S. 83–102. – Harald Haferland: Mündlichkeit, Gedächtnis u. Medialität: Heldendichtung im dt. MA. Gött. 2004. – J.-D. Müller: ›Improvisierende‹, ›memorierende‹ u. ›fingierte‹ Mündlichkeit. In: ZfdPh 124 (2005), Sonderh., S. 159–181. – J. Heinzle: Wiedererzählen in der Heldendichtung. Zur Fassung n des N.s. Ebd., S. 139–158. – Bernhard R. Martin: Die Nibelungen im Spiegelkabinett des dt. Nationalbewusstseins. Studie zur literar. Rezeption des N.s in der Jugend- u. Unterhaltungslit. v. 1819 bis 2002. Mchn. 2004. – Ingeborg Robles: Subversives weibl. Wissen im N. In: ZfdPh 124 (2005), S. 360–374. – Victor Millet: Die Sage, der Text u. der Leser. Überlegungen zur Rezeption Kriemhilts u. zum Verhältnis der Fassungen *B u. *C des N.s. In: Impulse u. Resonanzen. Tübinger mediävist. Beiträge zum 80. Geburtstag v. Walter Haug. Hg. Gisela Vollmann-Profe u. a. Tüb. 2007, S. 57–70. – U. Schulze: Mündlichkeit u. Schriftlichkeit im ›Editionsprozess‹ des N.s. In: editio 21 (2007), S. 1–18. – J. Heinzle: Zu den Handschriftenverhältnissen des N.s. In: ZfdA 137 (2008), S. 305–334. Michael Curschmann
Nick, Dagmar, eigentl. (verh.): D. Braun, * 30.5.1926 Breslau. – Lyrikerin, Hörspielautorin, Erzählerin. Geboren als zweites Kind des Komponisten, Dirigenten u. Musikkritikers Edmund Nick u. der halbjüd. Sängerin u. Schauspielerin
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Kaete Nick-Jaenicke, begann N. schon im Vorschulalter Gedichte zu schreiben. Nachdem ihr Vater, 1924–1933 musikal. Leiter des Schlesischen Rundfunks in Breslau, vom NSRegime abgesetzt u. vertrieben wurde, lebte die Familie einige Jahre in Berlin. Eine Erkrankung an Tuberkulose 1943 wurde für N. die »Inkubationszeit ihres Schreibens«. 1945 floh die Familie, die nach Schlesien zurückgekehrt war, vor der russ. Front nach Bayern. Dort absolvierte N. eine Ausbildung zur Grafologin. Heute lebt sie in München. Sie erhielt u. a. den Eichendorff-Preis (1966), die Roswitha-von-Gandersheim-Medaille (1977), den Kulturpreis Schlesien des Landes Niedersachsen (1986), den Andreas-GryphiusPreis (1993) u. ist Mitgl. des PEN u. der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. N.s frühe Gedichte setzen sich mit der Not des Krieges, Zerstörung, Verfolgung u. Tod auseinander; stilistisch zeugen sie von ihrer intensiven Rilke-Lektüre, in Metaphorik u. Lebensgefühl wird eine Nähe zum Expressionismus fühlbar. Ein von Erich Kästner 1945 in der Münchner »Neuen Zeitung« veröffentlichtes Gedicht, Flucht, trug ihr frühe Berühmtheit ein; für die Leser der ersten Nachkriegszeit wurde sie zu einer Stimme, die exemplarisch Ängste u. Leiden des Krieges u. der ersten Nachkriegszeit ausdrückt. In ihrem ersten Lyrikband, Märtyrer (Mchn. 1947), gedenkt sie der von den Nationalsozialisten Ermordeten u. findet zu einer selbstgewählten Aufgabe, die ihr lyr. Schaffen bis in die 1970er Jahre prägt: Fürsprecherin derer zu sein, die keine eigene Stimme haben – der Verfolgten u. Vergessenen. Später nahm sie sich so v. a. auch der vom Machtrausch des Menschen u. der technokrat. Verheerung bedrohten Schöpfung an. N.s Weltsicht kennt kein metaphys. Jenseits, in das aus Leid u. Tod zu entkommen wäre; für ihre Diesseitsauffassung ist die Flucht – als Vertrieben-Sein oder als SichEntziehen aus einer festgefahrenen privaten Situation – die Grundsignatur, die sich auch in vielen Titeln ihrer Werke u. Gedichte ausdrückt. In der stilist. Entwicklung ihrer Lyrik lässt sich – in den 1950er u. frühen 1960er Jahren – ein Übergang von traditionellen geschlossenen Formen (Sonetten u. Terzinen)
Nick
zunächst zu unregelmäßig, aber fortlaufend gereimten odischen Langgedichten mit zweioder dreihebigen Versen feststellen; danach leben ihre Gedichte v. a. aus einer Verbindung von emotionalem Gestus, Rhythmus u. Bildlichkeit u. einer allem Artistischen sich fernhaltenden, radikal persönl. Suche nach einer Stimmigkeit des inständig Empfundenen. Charakteristisch ist dabei ihr Festhalten am Paradigma der Erlebnislyrik. In den 1960er Jahren trat N. auch als Hörspielautorin hervor; zeitgleich begannen (schwerpunktmäßig zeitsatirische) Erzählungen zu entstehen, die – zus. mit neueren Texten – 2006 in einem Band Momentaufnahmen (Aachen) gesammelt erschienen. Aus längeren Aufenthalten in Israel oder Reisen auf Inseln des Mittelmeers ging eine Reihe von »Reisebüchern« hervor, die »keine ReiseErzählungen, keine Ich-Bücher u. keine Touristenführer« sein wollen, sondern – kulturhistorisch bewandert u. zgl. farbig schildernd – zu einem Verstehen der jeweiligen Regionen aus ihren mytholog. u. histor. Wurzeln einladen. Als N.s dritter Ehemann Kurt Braun 1982 einen Schlaganfall erlitt u. sie den danach Gelähmten bis zu seinem Tod 1998 pflegte, wandte sich ihre Lyrik markant dem Thema des Alterns u. des Sterbens zu; schon eine Aufzählung der Bandtitel spiegelt den Sog von Verlust-Schmerz, in den ihre Gedichte geraten: Gezählte Tage (Waldbrunn 1986), Im Stillstand der Stunden (Aachen 1991), Trauer ohne Tabu (Aachen 1999). Am Ende der 1980er Jahre entstanden drei Erzähl-Monologe, in denen mytholog. Frauenfiguren ihre Schicksale reflektieren: In Medea, ein Monolog (Düsseld. 1988) stellt N. die Frage nach dem Wert des »ewigen Lebens«, das sie als einen Fluch begreift; Lilìth, eine Metamorphose (Düsseld. 1992) zeigt das Bewusstsein von Mangel u. Tod als Essenzial der conditio humana nach dem Sündenfall; in Penelope, eine Erfahrung (Düsseld. 2000) wird aus markant weibl. Perspektive ein Erleiden der eigenen Vergänglichkeit mit der selbstvergessenen naturhaften Götternatur kontrastiert. In einem 2008 erschienenen Lyrikband Schattengespräche (Aachen) verarbeitet N. mit
Niclaes
unerbittlicher, illusionsloser Härte gegenüber sich selbst schwere persönl. Erfahrungen der vorangegangenen Jahre u. ihrer Gegenwart (Krankheiten u. Operationen, das Wissen um die Todesnähe). Weitere Werke: Das Buch Holofernes. Freib. i. Br. 1955 (L.). – Die Flucht. Ffm. 1958 (Hörsp.). – In den Ellipsen des Mondes. Hbg. 1959 (L.). – Das Verhör. Ffm. 1961 (Hörsp.). – Einladung nach Israel. Mchn. 1963 (P.). – Rhodos. Mchn. 1967 (P.). – Israel – gestern u. heute. Gütersloh 1968 (P.). – Zeugnis u. Zeichen. Mchn. 1969 (L.). – Requiem. Für zwei Sprecher u. Chor. Ffm. 1970 (Hörsp.). – Sizilien. Mchn. 1976 (P.). – Fluchtlinien. Mchn. 1978 (L.; mit einer Laudatio v. Gert Kalow). – Götterinseln der Ägäis. Mchn. 1981 (P.). – Sternfährten Gefährten (mit Bildern v. Klaus Bertelsmann). Aachen 1993 (L.). – Gewendete Masken. Aachen 1996 (L.). – Jüd. Wirken in Breslau. Eingeholte Erinnerung: Der Alte Asch u. die Bauers. Würzb. 1997. – Wegmarken. Aachen 2000 (L.). – Autobiogr. Fragmente u. Dokumente. Zusammengestellt v. Bernhard Albers. In: Osiris [Sonderh. D. N.] (2001), H. 10/11, S. 9–75. – Edmund Nick. Das literar. Kabarett ›Die Schaubude‹ 1945–48. Seine Gesch. in Briefen u. Songs. Hg. u. komm. v. D. N. Mchn. 2004. Literatur: Karl Krolow: Fluchtgeste als Lebengeste. Zu einem neuen Gedichtband D. N.s. In: Der Literat (1970), H. 2, S. 26. – Renate Schostack: Freundin der Schlange. In: FAZ, 30.5.85. – Sabine Friedrich: Traditionsbewusstsein als Lebensbewältigung. Zu Leben u. Werk der D. N. Diss. Mchn. 1986. – Hans Bender: Der humanist. Tradition verpflichtet. Zum 65. Geburtstag v. D. N.: Im Stillstand der Stunden. In: Osiris [Sonderh. D. N.] (2001), H. 10/11, S. 149 ff. – Reinhard Kiefer: Lob der Schlange. Überlegungen zur Bibelrezeption in der Lyrik v. D. N. Ebd. S. 153–165. – Thomas Betz: D. N. In: LGL. – Pia-Elisabeth Leuschner: D. N. In: KLG. Pia-Elisabeth Leuschner
Niclaes, Hendrik, * um 1502 Münster?, † ca. 1580 Köln. – Kaufmann, Sektengründer, Prophet. N. gründete die mystisch-spiritualist. Sekte »Hüsgesinn der Lieften« (Familie der Liebe). Gemeinschaften der Familisten bestanden bis ins 17. Jh. in den Niederlanden, im Nordwesten Deutschlands u. in England. Um 1540 soll N. in einer Vision die Unio mystica erlangt haben u. zum Propheten bestimmt worden sein. Nach weiteren Offen-
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barungen verließ er Amsterdam, wo er fast zehn Jahre als Kaufmann gelebt hatte, u. nahm Emden zum Ausgangspunkt seiner Mission. Hier verfasste er ab etwa 1540 in einem niederdt.-ostniederländ. Dialekt die meisten seiner Schriften, die, da die Familisten von kath. wie von evang. Seite verfolgt wurden, in den Niederlanden gedruckt wurden. In Deventer erschien neben Sendbriefen um 1550 Van dat geestlicke landt der belofften (Verheißung), das literarisch ansprechendste u. zgl. kurioseste von N.’ Werken, in dem allegorisch der Weg eines jungen Mannes in die »Terra pacis« beschrieben wird. Christoffel Plantijn aus Antwerpen druckte N.’ Hauptwerk Spigel der gerechticheit (1556–1562). In dem fast 600 Seiten starken, reich illustrierten Folianten legt N. in radikalen Formulierungen dar, dass die Erlangung des Heils durch den Geist, nicht durch den Buchstaben erfolgt. 1555–1565 ließ N. bei Plantijn den Katechismus Det wet [das Gesetz] offte de vornömpste geboden Godes [...], die apokalypt. Prophetie des geistes der lieften u. die wichtige Abhandlung Evangelium offte eine frölicke bodeschap drucken. Beschuldigt, verbotene Schriften verfasst u. vertrieben zu haben, musste er im Herbst 1560 aus Emden fliehen, hielt sich wohl erst in Kampen (Provinz Overijssel) auf, dann vielleicht in Utrecht u. Rotterdam. Neue Offenbarungen führten N. um 1570 nach Köln, wo er den Neudruck seiner Werke u. die Herausgabe einer engl. Übersetzung veranlasste. Er versuchte nun, seine Gemeinschaft durch eine streng hierarch. Ordnung zu festigen. Bald erhob sich Kritik an dem Charismatiker N.; 1573 sagten sich unter der Führung des neuen Propheten Hiël (Hendrik Jansen van Barrefelt) zahlreiche Mitglieder, darunter engste Vertraute N.’, von der Sekte los. Ausgabe: Cronica. Ordo sacerdotis. Acta HN. Three Texts on the Family of Love. Hg. Alastair Hamilton. Leiden u. a. 1988. Literatur: Bibliografien: Herman de la Fontaine Verwey: De geschriften van H. N. In: Het boek. Nieuwe Reeks 26 (1940/42), S. 161–211 (mit Verz. v. 116 Ed.en in 5 Sprachen). – VD 16. – Weitere Titel: Izaak Enschedé: Chronica van het Huys der Liefde. Haarlem 1716 (mit Quellen). – Friedrich Nippold:
571 H. N. u. das Haus der Liebe [...]. In: Ztschr. für die histor. Theologie 32 (1862), S. 323–402, 473–563. – Jacob Cornelis van Slee: H. N. In: ADB. – Irmgard Simon: H. N. u. das Huys der Liefde. Ein Überblick. In: Gedenkschr. für William Foerste. Hg. Dietrich Hofmann u. a. Köln u. a. 1970, S. 432–453. – Alastair Hamilton: The Family of Love. Cambridge 1981. – William C. Johnson: ›Three Godly Witnesses‹. Depictions of the Trinity in the Works of H. N. and the Theologia germanica. In: The Mennonite Quarterly Review 59 (1985), S. 24–41. – Ders.: The Mystical Tradition of the ›Homo Deificatus‹ in the Theology of the Family of Love [...]. In: Journal of Religious Studies 14 (1988), S. 1–24. – Paul Valkema Blouw: Was Plantin a Member of the Family of Love? Notes on his Dealings with H. N. In: Quaerendo 23 (1993), S. 3–23. – Elke Kuhn: H. N. In: Bautz. – Martin Tielke: H. N. In: Biogr. Lexikon für Ostfriesland. Bd. 1, Aurich 1993, S. 268–270. – Lesley Monfils: Family and Friends. H. N.’s ›Low German‹ Writings, Printed in England During the Rise of the Quakers. In: Quaerendo 32 (2002), S. 257–283. – A. Hamilton: H. N. In: Bibliotheca dissidentium [...]. Hg. André Séguenny. Bd. 22/1: The Family of Love. Baden-Baden u. a. 2003. – Ruben Buys: ›Te doene tghene datmen verstaet‹. Lekenwijsheid, stadse stoa en vrijzinnig christendom tussen reformatie en opstand. In: Queeste 12 (2005), S. 18–47. Jörg Köhler / Red.
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die zeitgenöss. Literatur der Romantiker völlig ignoriert. Weitere Werke: Maximilian Hulder u. Prascha, oder Der Bund fürs Glück der Bürger: mehr Gesch. als Roman. 3 Bde., Lpz. 1800. – Franz v. Werden. 4 Tle., Penig 1802 (R.). – Joachim Abentheurer oder die Kunst, ein großer Herr zu werden. 2 Tle., Quedlinb. 1815. – Sonntagsnovellen. 2 Bde., Quedlinb. 1815. – Umgangsbuch für Gebildete des weibl. Geschlechts. 2 Bde., Quedlinb. 1816. – Mary u. Jerome oder Liebe u. Betrug (Pseud. Baptist v. Heinsburg). Wien 1816 (R.). – Die Mietskutsche. 2 Tle., Quedlinb. 1817 (R.). – Glorina eine Legende. Der jüngste Tag ein Schwank. Täuschung in der Liebe Erzählung. Krähwinkel keine Legende. Quedlinb./Lpz. 1818. – Rolli oder das Mohrenmädchen. Quedlinb./Lpz. 1818. – Das Grab am Vesuv. Quedlinb./Lpz. 1818. – Lebenserfahrungen u. Lebensbeobachtungen. 2 Bde., Magdeb. 1819. – Die Reise nach Aachen. Seitenstück zu Knigge’s Reise nach Braunschweig. Halberst. 1819 (R.). – Die Mitwelt, oder Biogr.n denkwürdiger Personen u. histor. Gemälde der neueren Zeit. 1819 (Ztschr.). – August v. Kotzebue’s literar. u. polit. Wirken. Tobolsk, recte Lpz. 1819. – Magdeburg bis zu den Jahren 1813 u. 1814, ein literar. Gemälde. Arnstadt 1819. – Die Reise nach dem Brocken. Seitenstück zu der Reise nach Aachen. Nordhausen 1821 (R.). Matthias Luserke / Red.
Nicolai, Carl Ludwig, auch: Fesca, Feska, Nicolai, (Christoph) Friedrich, * 18.3.1733 Baptist von Heinsburg, Hilarius Jocosus, Berlin, † 8.1.1811 Berlin. – Buchhändler, Peter Hilarius, * 24.6.1779 Alsleben/Saale, Verleger, Herausgeber, Literaturkritiker † 30.11.1819 Halberstadt. – Erzähler. u. Erzähler. N. studierte in Halle/Saale, war zeitweise Advokat u. Kriminalrat in Magdeburg u. Blankenburg. 1813 ließ er sich als Privatgelehrter in Halberstadt nieder. Er war freier Mitarbeiter zahlreicher Zeitschriften (»Neue Fackeln«, »Thusnelda«). Über weitere Lebensumstände ist nichts bekannt. N. schrieb fast ausschließlich Unterhaltungsliteratur. Bemerkenswert ist sein Anstandsbuch Ueber Selbstkunde, Menschenkenntniß und den Umgang mit Menschen (Quedlinb. 1816). Sein Versuch einer Theorie des Romans. Kritisch-philosophisch behandelt (1. Tl., Quedlinb./Lpz. 1819; mehr nicht ersch.) ist für die Geschichte der dt. Romanpoetik interessant, da er den späten Versuch einer aufklärerischen Romantheorie auf dem Boden moralischer Argumentation darstellt u.
Sohn eines Buchhändlers u. Verlegers, besuchte N. 1746–1748 erfolglos namhafte Gymnasien, dann die Realschule u. trat 1749 in Frankfurt/O. eine Buchhandelslehre an. Gleichzeitig bildete er sich autodidaktisch weiter, studierte u. a. Nachschriften von Baumgartens Vorlesungen über Metaphysik u. Ästhetik, lernte Englisch, um Miltons Paradise Lost in der Originalsprache lesen zu können, u. beschäftigte sich mit den griech. Klassikern sowie Bayles Dictionnaire critique. 1752 trat er nach dem Tod des Vaters in die elterl. Buchhandlung ein, die er 1758, nach dem Tod des ältesten Bruders, übernehmen sollte. 1754 begann N.s Freundschaft mit Lessing u. Mendelssohn, mit denen er gemeinsam 1755 die Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland
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(Ffm./Lpz.) herausgab. 1756/57 entstand der Briefwechsel über das Trauerspiel (Hg. Jochen Schulte-Sasse. Mchn. 1972), u. im eigenen Verlag erschienen 1759–1765 dann die Briefe, die Neueste Literatur betreffend. Im Jahr 1760 heiratete N. die Arzttochter Elisabeth Macaria Schaarschmidt, die acht Kinder zur Welt brachte, von denen drei schon früh starben. 1787 kaufte er das Haus Brüderstraße 13, das er von Zelter umbauen ließ. Die Akademie der Wissenschaften zu Berlin ernannte ihn 1798 zum Mitgl., zu einer Zeit, da N. – nach seinen krit. Kommentaren zur Transzendentalphilosophie wie zu den Schriften Schillers – im Zentrum der Kritik ebenso Kants u. Fichtes wie Goethes, Schillers u. der Frühromantiker stand. Dennoch konnte er seine literarische u. publizist. Stellung festigen u. den Verlag wie die Buchhandlung weiter ausbauen. N. gehörte in den 1780er u. 1790er Jahren der Mittwochsgesellschaft an, zu der sich hohe Staatsbeamte (z.B. Svarez), Künstler u. Wissenschaftler trafen, um v. a. praktischpolit. Reformen zu diskutieren; 55 Jahre lang war N. auch Teilnehmer des Montag-Klubs, wo sich, dem Ideal der Geselligkeit u. gelehrten Konversation folgend, Künstler (u. a. Schadow, Quantz), Gelehrte (Sulzer, Abbt) u. Schriftsteller (Ramler, Engel) versammelten. N. starb als geachteter Unternehmer u. angesehener Bürger Berlins, bei dessen Begräbnis sich »freiwillig die angesehensten und edelsten Männer aus allen Zweigen der Staatsverwaltung und aus allen Ständen« (Goeckingk) beteiligten. So berechtigt viele Zeitgenossen N. kritisiert haben, so ungerecht verfuhr eine Literaturgeschichtsschreibung, die an den ästhet. Maximen der Goethe-Zeit orientiert war u. dabei die vor-goethesche Literatur, insbes. die Spätaufklärung u. N., geringschätzte. Gewiss haben Fichte, Schiller, Goethe u. die Frühromantiker recht, wenn sie N. als Vertreter der Zopfzeit, als unnachsichtigen u. pauschalen Kritiker der Französischen Revolution (der im Übrigen auf Schlegels berühmtes Athenäum-Fragment über Goethes Meister, Fichtes Wissenschaftslehre u. die Revolution als die größten Tendenzen des Zeitalters mit der Trias aus Friedrich dem Großen, der amerikan. Republik u. der Kartoffel replizierte)
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sowie als Verächter der neuen Kunst u. Literatur attackierten. Aber die Kritik greift dort zu kurz, wo sie N.s unbestreitbare Verdienste um die Literatur, seine vielfältigen Bemühungen zur Etablierung einer literar. Öffentlichkeit u. um die von ihm allererst mitgeschaffene Institutionalisierung der Literatur- u. Wissenschaftskritik außer Acht lässt. Zeitlebens hat N. in der Literatur v. a. ein Instrument gesehen, das praktischen sozialen u. moralischen Zwecken dient. Zeitlebens hat er deshalb auch die Klarheit u. Verständlichkeit im literarischen wie wiss. Diskurs eingeklagt. Erst in jüngerer Zeit haben Historiker u. Literaturwissenschaftler die Bedeutung von N. als einem der »wichtigsten Repräsentanten der Aufklärung in Deutschland« (Möller), seine Tätigkeit als »Inbegriff des aufklärerischen Wirkens« (Raabe) überhaupt wieder erkannt. N.s ehrgeizigstes Unternehmen ist wohl seine im Anschluss an die Literaturbriefe gegründete »Allgemeine deutsche Bibliothek« gewesen, ein im 18. Jh. einzigartiges Rezensionsorgan, das während der 40 Jahre seines Erscheinens (1765–1805) in 268 Bänden mehr als 80.000 Bücher besprochen hat. 433 Mitarbeiter haben an dieser Zeitschrift mitgewirkt, die ebenso einen Überblick über den zeitgenöss. Wissensstand vermittelte wie schließlich zu dem repräsentativen Organ der Aufklärung aufstieg. Was Fichte später abschätzig N.s »Rezensionsfabrik« genannt hat, ist von der Absicht geleitet, wie es in der Vorrede zum ersten Band heißt, »zuverlässige Nachrichten von den deutschen Büchern und von ihrem wahren Wert« zu geben. »Die ADB wollte ein kritisches Organ der Diskussion sein und damit erst die Voraussetzung dessen schaffen, was sich ›Aufklärung‹ nannte und im Prozeß öffentlicher Diskussion realisiert werden sollte« (Timmermann). Eine Arbeit ähnlich enzyklopäd. Ausmaßes ist auch N.s zwölfbändige Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781 (Bln./Stettin 1783–96. Nachdr. Hildesh. 1994), in der N. neben zahllosen Daten kameralistischer Art, bevölkerungspolitischen u. nationalökonom. Statistiken einen Querschnitt durch die theologischen u. geistigen Debatten im kath. süddt. Raum vermittelt.
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Wiederum leitet ihn dabei sein aufklärerischer Anspruch: »Er möchte eine möglichst große deutschsprachige Öffentlichkeit organisieren, indem er die kulturellen Schranken zwischen dem protestantischen Norden und dem katholischen Süden durch wechselseitige Information durchsichtig zu machen versucht« (Witte). Neben N.s gewaltigem krit. u. essayist. Werk nimmt sich sein im engeren Sinne literar. Œuvre eher bescheiden aus. Zumeist verfolgt es ebenso krit. Zwecke, wie die Parodie Freuden des jungen Werthers. Leiden und Freuden Werthers des Mannes (Bln. 1775), in dem der Werther-Kult entlarvt wird, oder wie der satir. Roman Vertraute Briefe von Adelheid B. an ihre Freundin Julie S. (Bln. 1799. Neuausg. Ffm. 1981), der die Geniesucht der Frühromantik anprangert, u. Leben und Meinungen Sempronius Gundibert’s eines deutschen Philosophen (Bln. 1798), worin die Transzendentalphilosophie aufs Korn genommen wird. Anders als diese satirischen, am aktuellen Geschäft der Tageskritik orientierten Texte hat N.s Romanerstling Leben und Meinungen des Herrn Magisters Sebaldus Nothanker (Bln. 1773–76) beachtl. Verbreitung (vier Auflagen bis 1799. Zahlreiche Neudrucke: Hg. Harry Timmermann u. Norbert Miller. Ffm./Bln. 1986. Krit. Ausg. 3 Bde. Hg. Bernd Witte. Stgt. 1991) erfahren u. kann noch heute als Musterstück aufklärerischer Prosa gelesen werden. Poetologisch interessant ist die Vorrede, in der N. – ähnlich wie Wieland – einer realist. Literatur des Alltags das Wort redet: »Alle Begebenheiten sind in unserer Erzählung so unvorbereitet, so unwunderbar, als sie in der weiten Welt zu geschehen pflegen.« Die Personen seien »ganz gemeine schlechte und gerechte Leute«, ihre Erfahrungen schließlich »so, wie sie in dem ordentlichen Laufe der Welt täglich vorgehen.« Erzählt wird die Geschichte eines protestant. Pastors, der nach einer unbedachten Predigt von der Orthodoxie aus seinem Amt gejagt wird. Sein Leben, das er fortan mit schlecht bezahlten Nebentätigkeiten fristet, wächst sich zu einer preuß. Odyssee aus. Sebaldus’ Tochter Mariane erleidet das zeittyp. Schicksal eines Hausmädchens u. einer Anstandsdame, bis sie endlich den stutzerhaften, am Ende von
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ihr bekehrten Poeten Säugling heiratet u. mit ihm aufs Land zieht. Neben den zeit- u. gesellschaftskrit. Aspekten des Romans (Kritik am Adel u. an der protestant. Orthodoxie) verdienen insbes. die selbstkrit. Reflexionen N.s hervorgehoben zu werden. Denn auf dem Höhepunkt der Berliner Aufklärung diskutiert N. zgl. den dialekt. Charakter einer Bewegung, die, obgleich sie maßgeblich zur Ausbildung einer bürgerl. Öffentlichkeit, bürgerl. Kultur u. einer Lesegesellschaft beigetragen hat, ebenso den Prozess der Trivialisierung eingeleitet hat. In einem langen Gespräch zwischen Sebaldus als dem Typ des idealist. Aufklärers u. einem Magister, der den Part des skeptisch geläuterten Rationalisten spielt u. in dem Zeitgenossen ein Selbstporträt N.s haben sehen wollen, lässt N. den Magister die divinator. Sätze sagen: »Der größte Haufen der Schriftsteller von Profession treibt ein Gewerbe so wie die Tapetenmaler oder die Kunstpfeifer und sieht die wenigen wahren Gelehrten fast ebenso für zudringliche, unzünftige Pfuscher an als jene Handwerker einen Mengs oder Bach.« Das Bücherschreiben sei zu einem »Gewerbe« herabgekommen, »worin jeder den Nutzen so sehr auf seine Seite zu ziehen sucht, als nur möglich ist«. Aufklärung, Bildung u. Erziehung schließlich seien den Gesetzen des Marktes unterstellt worden, der sein Absatzbedürfnis in »Geschichten, Romanen, Mordgeschichten, zuverlässigen Nachrichten von Dingen, die man nicht gesehen hat, Beweisen von Dingen, die man nicht glaubt, Gedanken von Sachen, die man nicht versteht«, befriedigt. Weitere Werke: Ehrengedächtniß Herrn Ewald Christian v. Kleist. Bln. 1760. – Ehrengedächtniß Herrn Thomas Abbt. Bln./Stettin 1767. – Eyn feyner kleyner Almanach Vol schönerr echterr liblicherr Volckslieder [...]. Bln./Stettin 1777. – Ein paar Worte betreffend Johann Bunkel u. Christoph Martin Wieland. Bln./Stettin 1779. – Noch ein paar Worte betreffend Johann Bunkel u. Christoph Martin Wieland. Bln./Stettin 1779. – Gesch. eines dicken Mannes worin drey Heurathen u. drey Körbe nebst viel Liebe. Bln./Stettin 1794. – Anhang zu Friedrich Schillers Musen-Almanach für das Jahr 1797. Bln./Stettin 1797. – Leben Justus Mösers. Bln./Stettin 1797. – Über den Gebrauch der falschen Haare u. Perücken in alten u. neuern Zeiten.
Nicolai Bln./Stettin 1801. – Einige Bemerkungen über den Ursprung u. die Gesch. der Rosenkreuzer u. Freymaurer. Bln./Stettin 1806. – Philosoph. Abh.en. Bln./Stettin 1808. Ausgaben: Ges. Werke. Ausg. in Neudr.en. Hg. Bernhard Fabian u. Marie-Luise Spieckermann. 23 Bde., Hildesh. 1985–2006. – Kritik ist überall, zumal in Dtschld. nötig. Satiren u. Schr.en zur Lit. Hg. Wolfgang Albrecht. Mchn. 1987. – Sämtl. Werke, Briefe Dokumente. Hg. P. M. Mitchell, Hans-Gerd Roloff, Erhard Weidl u. a. Bd. 3, 4, 6 u. 8,1–2. Bern u. a. 1991 f. Fortgesetzt [neue Folge]. Hg. Knut Kiesant, H.-G. Roloff u. István Gombrocz. Bd. 1,1–2. Stgt.-Bad Cannstatt 2009. – Briefe: Herders Briefw. mit N. Hg. Otto Hoffmann. Bln. 1887. – Aus dem Josephinischen Wien. Geblers u. N.s Briefw. 1771–86. Hg. Richard Maria Werner. Bln. 1888. – Neuerschlossene Briefe Moses Mendelssohns an F. N. In Gemeinschaft mit Werner Vogel hg. v. Alexander Altmann. Stgt.-Bad Cannstatt 1973. – Johann Jacob Ferber. Briefe an F. N. aus Mitau u. St. Petersburg. Hg. Heinz Ischreyt. Herford u. a. 1974. – Die beiden Nicolai. Briefw. zwischen Ludwig Heinrich Nicolay in St. Petersburg u. F. N. in Berlin, erg. um weitere Briefe [...]. Hg. H. Ischreyt. Lüneb. 1989. – Der Briefw. zwischen F. N. u. Carl August Böttiger. Hg. Bernd Maurach. Bern 1996. – Profile der Aufklärung. F. N. – Isaak Iselin. Briefw. (1767–82). Hg. Holger Jacob-Friesen. Bern 1997. – Annette Antoine: Unternehmungen der Spätaufklärung. Bd. 2, Editionsbd.: Die Korrespondenz v. Johann Gottwerth Müller (1743–1828) u. F. N. (1733–1811). Würzb. 2001. – Sigrid Habersaaat: Verteidigung der Aufklärung (s. u. unter Lit.), hier Bd. 2, Editionsbd.: F. N (1733–1811) in Korrespondenz mit Johann Georg Zimmermann (1728–95) u. Christian Friedrich v. Blanckenburg (1744–96). Würzb. 2001. – Briefe des Oldenburger Arztes u. Schriftstellers Gerhard Anton Gramberg an [...] F. N. aus der Zeit zwischen 1789 u. 1808. Hg. Gabriele Crusius. Oldenb. 2001. – Adolph Freiherr v. Knigge – F. N. Briefw. 1779–95. Hg. Mechthild u. Paul Raabe. Gött. 2004. Literatur: Leopold Friedrich Günther v. Goeckingk: F. N.s Leben u. literar. Nachl. Bln. 1820. – Ernst Friedel: Zur Gesch. der Nicolaischen Buchhandlung u. des Hauses Brüderstraße 13 zu Berlin. Bln. 1891. – Martin Sommerfeld: F. N. u. der Sturm u. Drang. Ein Beitr. zur Gesch. der dt. Auflklärung. Halle/S. 1921 (enth. Briefe aus N.s Nachl.). – Karl Aner: Der Aufklärer F. N. Gießen 1912. – Günther Ost: F. N.s ›Allgemeine Deutsche Bibliothek‹. Bln. 1928. – Gustav Sichelschmidt: F. N. Gesch. seines Lebens. Herford 1971. – Horst Möller: Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist u. Geschichts-
574 schreiber F. N. Bln. 1974. – Eckhardt MeyerKrentler: ›Kalte Abstraktion‹ gegen ›versengte Einbildung‹. Destruktion u. Restauration aufklärer. Harmoniemodelle in Goethes ›Leiden des jungen Werthers‹ u. N.s ›Freuden des jungen Werthers‹. In: DVjs 56 (1982), S. 65–91. – Peter Jörg Becker u. a.: F. N. Leben u. Werk. Ausstellungskat. Bln. 1983. – B. Fabian (Hg.): F. N. 1733–1811. Ess.s zum 250. Geburtstag. Bln. 1983 (mit Schriftenverz. v. M.-L. Spieckermann, S. 257–304). – Paul Raabe (Hg.): F. N. Die Verlagswerke eines preuß. Buchhändlers der Aufklärung. Wolfenb. 1983. – Klaus L. Berghahn: Maßlose Kritik. F. N. als Kritiker u. Opfer der Weimarer Klassik. In: ZfG (1987), H. 1, S. 50–60. – Bernd Witte: F. N. In: Dt. Dichter. Hg. Gunter E. Grimm u. Frank Rainer Max. Bd. 3, Stgt. 1988, S. 254–265. – Ute Schneider: F. N.s ›Allgemeine Deutsche Bibliothek‹ als Integrationsmedium der Gelehrtenrepublik. Wiesb. 1995. – Sigrid Habersaat: Verteidigung der Aufklärung. F. N. in religiösen u. polit. Debatten. 2 Bde., Würzb. 2001. – Pamela E. Selwyn: Everyday Life in the German Book-Trade. F. N. as Bookseller and Publisher in the Age of Enlightenment. Dordrecht 2008. – Rainer Falk u. Alexander Kosˇ enina (Hg.): F. N. u. die Berliner Aufklärung. Hann. 2008. Werner Jung
Nicolai, Gustav Alexander Wilhelm, * 28.5.1795 Berlin, † 1852 Berlin. – Musikschriftsteller, Komponist, Reiseschriftsteller. Der Sohn des Direktors der Seehandlung besuchte zunächst das Gymnasium in Königsberg in der Neumark, bevor er 1812 am Grauen Kloster in Berlin die höhere Schulbildung abschloss. Er nahm als freiwilliger Jäger an den Befreiungskriegen teil, musste aber wegen schwächl. Gesundheit den Militärdienst quittieren. N. studierte Rechtswissenschaften in Breslau u. Halle u. bildete sich musikalisch bei den dortigen Koryphäen Friedrich Wilhelm Berner u. Johann Friedrich Naue fort. Nach dem dreijährigen Referendariat am Oberlandesgericht in Naumburg an der Saale wurde N. 1820 Divisions-Auditeur in Berlin, wo er ab 1843 als Privatgelehrter lebte. Die letzten Jahre seines Lebens liegen allerdings im Dunkeln, 1849 klagt er in einem Brief über seine trostlose Lage. N. hatte sich schon als Musikkritiker einen Namen im kulturellen Leben Berlins gemacht, bevor er verschiedene Musik-Aspekte
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auch erzählerisch u. dramatisch behandelte. Die Geweihten oder der Cantor von Fichtenhagen (2 Tle., Bln. 1829. BDL 15589/90), als »Humoreske« betitelt u. weitläufig als Manuskriptfund fingiert, ist ein Musikroman, dessen tonkünstlerische Reflexionen, etwa über Mozarts Don Giovanni, durchaus Beachtung verdienen. Jeremias der Volkskomponist. Eine humoristische Vision aus dem 25sten Jahrhundert (Bln. 1830) ist eine schmale Satire auf die romant. »Modekomponisten«, repräsentiert durch den Titelhelden, u. auf die die sog. »Volksmusik«, welche die Wertschätzung der großen Komponisten »Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven« (ebd., S. 14) verdrängte. Neben Liedern von Uhland u. Heine komponierte N. selbst zwei Sinfonien u. bearbeitete 1852 Ernst Schulzes Bezauberte Rose für eine Vertonung. Eine repräsentative Sammlung seiner musiktheoret. Essays, Musiknovellen, »musikalischen Gedichte« u. Texte zu Oratorien versammelte N. in den Arabesken für Musikfreunde (2 Bde., Lpz. 1835. BDL 9190/ 91). 1832 wurde sein Oratorium Die Zerstörung von Jerusalem (ebd., Bd. 2, S. 153–184) mit der Musik von Carl Löwe unter dem mit N. befreundeten Spontini in der Königlichen Oper in Berlin aufgeführt, 1848 sein »großes Oratorium in zwei Abtheilungen« Johannes der Täufer (ebd., Bd. 2, S. 23–152) in der Komposition von Friedrich Wilhelm Markull in der Berliner Sing-Akademie. N.s intermediale Überlegungen zur »musikalischen Dichtkunst« (ebd., Bd. 2, S. 61–81) verdienen ebenso neu gewürdigt zu werden wie die Abhandlung über Nicolo Paganini (ebd., Bd. 2, S. 187–236). Größere u. bleibende literar. Bekanntheit erzielte N. jedoch als Reiseschriftsteller. 1833 hatte N. eine Reise nach Italien unternommen. Sein »Bericht über eine merkwürdige Reise in den hesperischen Gefilden« erschien u. d. T. Italien wie es wirklich ist (2 Bde., Lpz. 1834, BDL 9189/90. 2. verm. u. verb. Aufl. ebd. 1835, mit einem Anhang, »enthaltend sämmtliche in öffentlichen Blättern erschienene Beurtheilungen des Werks, mit Anm. des Vfs.«) »als Warnungsstimme für Alle, welche sich dahin sehnen«. N.s Klage über Flöhe, schlechtes Essen, miserable Unterkünfte, betrügerische Wirte, Armut, Bettler-
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wesen u. Betrügerei gipfelt in dem Ausruf: »Man wird in Italien wirklich nicht einen Augenblick seines Lebens froh« (Bd. 1, S. 253). Auch von den antiken Stätten u. Ausgrabungen ist N. enttäuscht. So lässt ihn das Pantheon kalt u. er kritisiert Pompeij als hässlich, klein u. geschmacklos. N.s Kritik u. Korrektur des klassizist. Italienbildes – sie richtet sich vorrangig gegen Goethe – rief eine heftige Kontroverse u. zahlreiche Gegenschriften hervor. Eine bes. böse Polemik (Schreiben eines deutschen Floh’s, welcher mit Herrn Gustav Nicolai die Schnellfahrt durch die hesperischen Gefilde gemacht hat. Meißen 1836) trug dem Verfasser Albin von Meddlhammer sogar eine Gefängnisstrafe ein. Ausgewogener geriet dagegen August Gottlob Eberhards Gegendarstellung Italien wie es mir erschienen ist (Halle 1839). Erst in jüngerer Zeit wurde N.s Reisebericht als Paradigmenwechsel in der Geschichte der Italienreisen neu gewürdigt u. historisch angemessen kontextualisiert. Weitere Werke: Der Musikfeind. Ein Nachtstück. In: Arabesken. Bd. 1, S. 13–294. – Elisabeth. Musikal.-dramat. Szene. Ebd. Bd. 2, S. 109–113. Literatur: Carl Frhr. v. Ledebur: TonkünstlerLexicon Berlins. Bln. 1861, S. 396 f. (mit Verz. der Kompositionen). – Goedeke X, S. 341–343. – Friedrich Noack: Das Deutschtum in Rom. Bd. 2, Bln./Lpz. 1927, S. 424. – Joachim Wieder: ›Italien, wie es wirklich ist‹. Eine stürm. Polemik aus der Gesch. der dt. Italien-Lit. In: FS Luitpold Dussler. Mchn. 1972, S. 317–333. – Wolfgang Altgeld: Das polit. Italienbild der Deutschen zwischen Aufklärung u. europ. Revolution v. 1848. Tüb. 1984, S. 190 f. – Stefan Oswald: Italienbilder. Beitr. zur Wandlung der dt. Italienauffassung 1770–1840. Heidelb. 1985, S. 142–147. – Italo Michele Battafarano: L’Italia ir-reale. Descritta dai tedeschi negli ultimi cinque secoli. Taranto 1995, S. 145–156. – Ders.: Der Weimarer Italienmythos u. seine Negation: Traum-Verweigerung bei Archenholtz u. N. In: Italienbeziehungen des klass. Weimar. Hg. Klaus Manger. Tüb. 1997, S. 39–60. – Thorsten Fitzon: Reisen in das befremdl. Pompeji. Antiklassizist. Antikenwahrnehmung dt. Italienreisender 1750–1870. Bln./New York 2004. Achim Aurnhammer
Nicolai
Nicolai, Philipp, urspr. P. Rafflenboel, * 10.8.1556 Mengeringhausen, † 26.10. 1608 Hamburg. – Evangelischer Theologe; Kirchenlieddichter u. -komponist. Nach dem Besuch verschiedener Schulen u. der Universitäten Wittenberg u. Erfurt (1574 bis 1579) zog sich der Pfarrerssohn zu Privatstudien in das waldeckische Kloster Volkhardinghausen zurück, bevor er 1583 seine erste Pfarrstelle in Herdecke antrat. Als »heimlicher Prediger« betreute er 1586/87 die evang. Gemeinde in Köln. 1588–1596 wirkte er als Pfarrer, Hofprediger u. Erzieher des Grafen Wilhelm Ernst von Waldeck in Altwildungen. Die geplante Promotion in Marburg 1590 wurde von Landgraf Wilhelm von Hessen aufgrund des 1586 in Tübingen erschienenen Buchs Fundamentorum Calvinianae Sectae cum veteribus Arianis et Nestorianis communium detectio verweigert u. konnte erst 1594 in Wittenberg mit der Dissertation De duobus Antichristis erfolgen. 1596–1601 war N. Pfarrer in Unna u. ging dann als Hauptpastor an St. Katharinen nach Hamburg. Von der theolog. Kontroverse der Lutheraner gegen die Reformierten geprägt sind das dogmat. Hauptwerk Methodus controversiae de omnipraesentia Christi (Ffm. 1596) u. Kurtzer Bericht von der Calvinisten Gott und ihrer Religion (Ffm. 1597). N. ist aber vornehmlich für die Erneuerung der Frömmigkeit bedeutsam, neben Theoria vitae aeternae (Hbg. 1606) bes. durch FrewdenSpiegel deß ewigen Lebens (Ffm. 1599). Dieses Erbauungsbuch, mit dem N. der durch die Pest niedergedrückten Gemeinde in Unna zusprechen wollte, enthält die Lieder Wie schön leuchtet der Morgenstern u. Wachet auf, ruft uns die Stimme. Das heute für den Weihnachtsfestkreis gebrauchte Lied sowie das aus Mt 25, 1–13 abgeleitete »Taglied« gehörten durch alle Epochen zu den beliebtesten Liedern der evang. Kirche u. gingen in neuerer Zeit auch in den kath. Kirchengesang ein. Die herausragend breite Rezeption der Lieder N.s u. ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber dem Zeitgeist ist angesichts ihres sehr dem frühen 17. Jh. verhafteten Charakters bes. erstaunlich. Die Texte sind bei aller Bibelorientierung von Jerusalem- u. Brautmystik, Jesuserotik u. Endzeiterwartung ge-
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prägt, die langen Strophenmuster in komplizierter Bauform waren schon bald veraltet. Beide Lieder bilden Akrosticha auf den Namen Wilhelm Ernst Graf zu Waldeck. Die Melodien sind seit der Erstveröffentlichung untrennbar mit dem Text verbunden. Dies hinderte aber nicht ihre Verwendung für unzählige Kontrafakturen. Bes. Wachet auf erlebte für die dt. Kulturgeschichte bezeichnende Parodierungen, darunter auch politische. Eine Gesamtausgabe der Schriften N.s besorgte sein Freund Georg Dedeken 1617 in Hamburg. Ausgabe: FrewdenSpiegel deß ewigen Lebens. Faks. hg. v. Reinhard Mumm. Soest 1963. Literatur: Louis Curtze: D. P. N.s Leben u. Lieder. Halle 1859. – Victor Schultze: P. N. Mengeringhausen 1908. – Walter Blankenburg: Die Kirchenliedweisen v. P. N. In: Musik u. Kirche 26 (1956), S. 172–176. – Winfried Zeller: Zum Verständnis P. N.s. In: Jb. der Hess. Kirchengeschichtl. Vereinigung 9 (1958), S. 83–90. – Hdb. zum EKG 3, 1 (1970), S. 241–247, 443–446. – Waldtraut Ingeborg Sauer-Geppert: Sprache u. Frömmigkeit im dt. Kirchenlied. Kassel 1984. – Hans-Georg Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 2, Tüb. 1987. – Jacobus Pannekoek: Das Pfarrergeschlecht N. zu Mengeringhausen. In: Geschichtsbl. für Waldeck 76 (1988), S. 55–115. – Anne M. SteinmeierKleinhempel: ›Von Gott kompt mir ein Frewdenschein‹. Die Einheit Gottes u. des Menschen in P. N.s ›FrewdenSpiegel deß ewigen Lebens‹. Ffm. 1991. – Hans-Otto Korth u. Daniela WissemannGarbe: P. N. u. seine Lieder. In: ›Die Pest, der Tod, das Leben‹. P. N. – Spuren der Zeit. Beiträge zum P.-N.-Jahr 1997. Hg. v. der Evang. Kirchengemeinde u. vom Evang. Kirchenkreis Unna. Unna 1997, S. 59–80. – Friedhelm Brusniak: N. In: NDB. – Martin Brecht: P. N. Luth. Orthodoxie u. neue Frömmigkeit. In: Liederkunde zum Evang. Gesangbuch. H. 4, Gött. 2002, S. 42–52. – Ders.: ›Wachet auf, ruft uns die Stimme‹. Ebd., S. 83–88 (mit ausführl. Lit.). – Irmgard Scheitler: ›Wachet auf, ruft uns die Stimme‹. Vom geistl. Brautlied zum nationalsozialist. Kampflied. In: IAH-Bulletin. Publikation der Internat. Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie 30 (2004), S. 159–171. – Anne M. Steinmeier: P. N. In: Hamburg. Kirchengesch. in Aufsätzen. Hg. Inge Mager. Bd. 2: Reformation u. konfessionelles Zeitalter, Hbg. 2004, S. 311–318. – Christian Bettels: P. N. In: MGG. Personentl. 12 (2004), S. 1058. – Traugott Koch: Die Entstehung der luth. Frömmigkeit. Waltrop 2004. – A. M.
577 Steinmeier: Wo bist Du, Gott? Wer bin ich Mensch? Eine Theologie der Seelsorge im Sterben der Pest. P. N. (1556–1608). In: 500 Jahre Theologie in Hamburg [...]. Hg. Johann Anselm Steiger. Bln./New York 2005, S. 17–33. – Siegfried Meier u. F. Brusniak: Nachwirkungen v. P. N.s Hymnodie im 20. Jh.: Zur dichter. Form/Zur musikal. Gestaltung der Kirchenlieder v. Heinz Werner Zimmermann. In: Geschichtsblätter für Waldeck 94 (2006), S. 142–176. Friedhelm Brusniak / Irmgard Scheitler
Nicolay, Nicolai, Ludwig Heinrich, Frhr. von (seit 1782), * 27.12.1737 Straßburg, † 28.11.1820 Schloss Monrepos bei Wyborg/Finnland; Grabstätte: ebd., Park. – Verfasser von Gedichten, Epen, Erzählungen u. Dramen; Übersetzer. Schon 13-jährig sandte der aus einer luth. Patrizierfamilie stammende N. dichterische Proben an Gellert, der ihn in freundl. Briefen (abgedr. in: Heier 1981, S. 23–25) bestärkte. 1752–1760 absolvierte N. in Straßburg ein Jurastudium, das er mit dem Lizentiat abschloss. 1760 veröffentlichte er anonym eine Sammlung von Elegien, Episteln, Oden u. Fabeln (Elegien und Briefe. Straßb.), in der der Einfluss La Fontaines, Gessners, Gellerts u. der Anakreontiker spürbar ist. Auf Reisen durch Europa, die er zunächst privat, dann als Sekretär des Fürsten Gallitzin u. ab 1766 als Hofmeister des jungen Alexej Rasumowskij unternahm, traf er mit bedeutenden literar. u. künstlerischen Persönlichkeiten seiner Zeit zusammen, u. a. mit d’Alembert, Diderot, Voltaire, Rousseau, Metastasio, Gluck u. Winckelmann. Später lernte er auch Friedrich Nicolai, Lenz u. Klinger kennen. Eine Straßburger Professur (für Logik u. Metaphysik), die er in diesen Jahren innehatte, scheint er kaum wahrgenommen zu haben. 1769 wurde N. zum Erzieher des russ. Großfürsten Paul berufen. Trotz vielfältiger Aufgaben als Lehrer u., ab 1773, Privatsekretär u. Bibliothekar des Thronfolgers fand er noch Zeit für seine poet. Neigungen. In N.s Werk ist der unterhaltende Stil des Rokoko mit dem lehrhaften der Aufklärung eine vielseitige Verbindung eingegangen. Als Höhepunkt gelten neun zwischen 1773 u. 1784 veröffentlichte, in freien Versen ver-
Nicolay
fasste Ritterepen, mit denen N. als Erster diese von Wieland begründete Gattung fortsetzte u. so zu einem wichtigen Vermittler Boiardos u. Ariosts wurde, deren OrlandoDichtungen ihm als Quelle dienten. Wieland lobte die »Lebhaftigkeit der Darstellung« u. bewunderte die geschickte Konzentration der in den Originalen verstreuten u. zerstückten Begebenheiten in »ununterbrochener Erzählung« (Der Teutsche Merkur, März 1784, S. 37). Während in den Ritterepen ein spielerischer Ton dominiert, sind N.s Prosaerzählungen Das Schöne (Bln. 1780. Zuerst in: Verse und Prose, Bd. 1) u. Idäa, oder männliche und weibliche Tugend. Eine historische Novelle (Wien 1792) sowie die in den 1790er Jahren entstandenen Balladen (Bln./Stettin 1810) ganz einem moralisierenden Aufklärungsoptimismus verpflichtet, der einem verkannten oder bedrohten tugendhaften Charakter bereits auf Erden ausgleichende Gerechtigkeit verspricht. Seine Privilegien am russ. Hof machten N. allerdings blind für die polit. Konsequenzen der Aufklärung. So rechtfertigte er in einer Epistel An die Kaiserinn Katharina II. (Vermischte Gedichte, Bd. 2) deren rücksichtslose Autokratie u. pries die herrscherl. Fürsorge des Adels. Paul, seit 1796 Zar, ernannte N. 1798 zum Präsidenten der Akademie der Wissenschaften. 1803 aus dem Staatsdienst entlassen, verbrachte N. seine letzten Lebensjahre auf seinem Landgut Monrepos, wo er sich dem Drama zuwandte. Seine histor. Trauerspiele Johanna I. u. Dion (in: Theatralische Werke, Bd. 1) befolgen strikt die klassizist. Regeln der Wahrscheinlichkeit u. der drei Einheiten. Weiterhin übersetzte u. bearbeitete N. Schauspiele Goldonis (Die Familien-Neckereyen. Königsb. 1808. Der Clubb oder die vorwitzigen Weiber. Königsb. 1809. Beide erneut in: Theatralische Werke, Bd. 2), Racines (Athalia. Lpz. 1816) u. Molières (Die gelehrten Weiber. Lpz. 1817. Muffel oder der Scheinheilige, [...] nach Molières Tartuffe. Wyborg 1819). Von diesen Stücken wurden nur die letzten beiden aufgeführt (Wien 1819, Reval 1820). N.s Werke, die in zeitgenöss. Almanachen u. Anthologien – etwa in Voß’ »Hamburger Musenalmanach« u. Ramlers Fabellese (1783 u. 1790) – verbreitet waren, wurden von
Nider
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Ausgabe zu Ausgabe (teils durch Ramler) Nider, Johannes, * um 1380 Isny, † 13.8. überarbeitet, sodass die Druckfassungen 1438 Nürnberg. – Dominikanertheologe. mitunter erheblich voneinander abweichen. N., einer der bedeutendsten Reformer des dt. N.s Nachlass ist in der UniversitätsbiblioDominikanerordens im 13. Jh., trat vermutthek Helsinki aufbewahrt. lich 1402 in das Colmarer DominikanerklosWeitere Werke: Verse u. Prose. 2 Bde., Basel ter ein. Nach einem Ordensstudium in Köln 1773. – Galwine. Eine Rittergesch. In sechs Gesängen. St. Petersburg 1773. – Vermischte Gedich- u. anschließendem Universitätsstudium in te. 9 Bde., Bln./Stettin 1778–86. – Vermischte Ge- Wien (1422–1426) promovierte er dort als dichte u. prosaische Schr.en. 8 Bde., Bln./Stettin Schüler des Franz von Retz. Seine hohe 1792–1810. – Das Landgut Monrepos in Finnland, theolog. Bildung setzte er von nun an in 1804, nebst einem Grundrisse. Bln./Stettin 1810 pragmatisch reformerische, seelsorgerische u. (L.; Faks.-Nachdr. der Ausg. 1840, Bln. 1995). – kirchenpolit. Aktivität um: 1428 wurde er Theatral. Werke. 2 Bde., Königsb. 1811. – Poet. Prior des Nürnberger Dominikanerklosters u. Werke. 4 Bde., Wien 21817. – Der Arme u. der 1429 Vikar der reformierten Klöster seiner Reiche. Ein Gedicht. Lpz. 1820. – Die Todtenwache. Ordensprovinz. 1429 reformierte er das BasEin Gedicht. Lpz. 1820. – Gedichte. New York o. J. – Übersetzungen: Tacitus: Das Leben des Agricola. In: ler Dominikanerkloster u. nahm 1431–1434 Verse u. Prose, Bd. 1. – William Robertson: Entwurf als führendes Mitgl. am Basler Konzil teil. Die des polit. Zustandes in Europa, vom Verfalle der letzten vier Jahre seines Lebens lehrte er röm. Macht an bis auf das 16. Jh. Ebd., Bd. 2 (freie wieder in Wien. Bearb.). In seinem umfangreichen, überwiegend Ausgabe: Die beiden Nicolai. Briefw. zwischen lat. Werk (keine modernen Ausgaben) widL. H. N. in St. Petersburg u. Friedrich Nicolai in mete sich N. zielstrebig der Erneuerung Berlin (1776–1811). Erg. um weitere Briefe [...]. geistl. Lebens. Als Vermittler wollte er die Hg. u. komm. v. Heinz Ischreyt. Lüneb. 1989. Lehren u. Gedanken der Kirchenväter u. Literatur: Jördens 4, S. 64–71. – Peter v. Ger- Philosophen (allen voran des Thomas von schau: Aus dem Leben des Frhr. H. L. v. N. Hg. Aquin) in seinen moraltheologisch u. prakAugust v. Binzer. Hbg. 1834. – Goedeke 4, 1 (1955), tisch-asketisch ausgerichteten Schriften für S. 628 f., 1154; 7 (1900), S. 514; 10 (1913), S. 570; Alltagsfrömmigkeit u. Seelsorgepraxis zur 11, 1 (1951), S. 596. – Wilhelm Bode: L. H. v. N. In: Jb. für Gesch., Sprache u. Litt. Elsass-Lothringens Verfügung stellen. Sein (neben einigen Pre18 (1902), S. 7–41. – Roland Mortier: Diderot et ses digten u. Briefen) einziges dt. Werk, Die 24 ›deux petits Allemands‹. In: Revue de Littérature goldenen Harfen, beruht auf einem Grundtext Comparée 33 (1959), S. 192–199. – Edmund Heier: monast. Spiritualität, den 24 Collationes des L. H. N. (1737–1820) and his Contemporaries. Den Johannes Cassianus, den N. durch Benutzung Haag 1965 (darin als Erstdr. N.s ›Erinnerungen‹). – zahlreicher jüngerer Quellen neu gestaltet u. Richard M. Ilgner: The Romantic Chivalrous Epic aktualisiert. Als eine programmat. Reformas a Phenomenon of the German Rococo. Bern u. a. schrift verfasste N. 1431 den Tractatus de re1979. – E. Heier: L. H. v. N. (1737–1820) as an formatione Status coenobitici; nichtmonast. LeExponent of Neo-Classicism. Bonn 1981 (mit Schriften- u. Lit.-Verz.). – Mechthild Keller: Dt. bensformen (z.B. Eremiten) behandelt er in Loblieder auf das Zarenreich. In: Russen u. Ruß- zwei Traktaten, in je einem auch kritisch den land aus dt. Sicht. 18. Jh.: Aufklärung. Hg. dies. Adel u. die Kaufleute. Kulturgeschichtlich Mchn. 1987, S. 499–515. – Ischreyt 1989 (s. o. unter interessant ist der Formicarius (Faksimile der ›Ausgabe‹). – Georges Livet: L. H. Frhr. v. N. In: Kölner Inkunabel v. 1480: Hans Biedermann. NDB. – Rainer Knapas: Monrepos. L. H. N. och Graz 1971), ein als Lehrer-Schüler-Gespräch hans värld i 1700-talets ryska Finland. Stockholm aufgebautes, moralisch belehrendes Sitten2003. Peter Langemeyer bild der Zeit. Vom hohen Ansehen N.s zeugen schon die Überlieferungszahlen seiner Werke; noch im 17. Jh. wurden einige davon wiederaufgelegt. Außerdem fanden Teile seiner Schriften in unveränderter Form ihren Weg in den be-
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rühmten Malleus maleficarum (Hexenhammer) seines Ordensbruders Heinrich Institoris. Literatur: Kaspar Schieler: Magister J. N. aus dem Orden der Prediger-Brüder. Mainz 1885. – Thomas Kaeppeli: Scriptores Ordinis Praedicatorum Medii Aevi 2. Rom 1975, S. 500–515 (Überlieferung). – Eugen Hillenbrand: N. In: VL (Werkübersicht, Lit.). – Ulla Williams: Schul der weisheit. Spirituelle artes-Auslegung bei J. N. Mit Ed. der ›14. Harfe‹. In: Überlieferungsgeschichtl. Ed.en u. Studien zur dt. Lit. des MA. FS Kurt Ruh. Hg. Konrad Kunze. Tüb. 1989, S. 391–424. – Michael D. Bailey: Abstinence and Reform at the Council of Basel. J. N.’s ›De abstinencia esus carnium‹. In: Mediaeval Studies 59 (1997), S. 225–261. – Catherine Chène: Le ›Formicarius‹ (1436–38) de Jean N. Une source pour l’histoire de la chasse aux sorciers et aux sorcières dans le diocèse de Lausanne? In: Schweizerische Ztschr. für Gesch. 52 (2002), S. 122–126. – Fritz Peter Knapp: J. N. In: Ders.: Zeman Gesch. Bd. 2/2: Die Lit. des SpätMA, S. 163–174. Ulla Williams / Red.
Niebelschütz, Wolf (Friedrich Magnus) von, * 24.1.1913 Berlin, † 22.7.1960 Düsseldorf; Grabstätte: Linnepe, Waldfriedhof. – Erzähler, Essayist, Lyriker. N. wuchs in Magdeburg auf, wo sein Vater Redakteur der »Magdeburgischen Zeitung« war. 1927–1932 besuchte er Schulpforta. Nach kurzen Studienaufenthalten in Wien u. München kehrte er nach Magdeburg zurück u. war als Volontär bei der »Magdeburgischen Zeitung« tätig; bald konnte er sich dort als Kunstkritiker etablieren. 1937 wurde ihm jedoch wegen »politischer Unzuverlässigkeit« gekündigt. N. ging daraufhin 1938 zur »Rheinisch-Westfälischen Zeitung« nach Essen. 1939 erschienen erstmals Gedichte in der »Neuen Rundschau«, im gleichen Jahr der Gedichtband Preis der Gnaden (Bln.). 1940 wurde N. eingezogen u. war bis auf eine kurze Ausnahme in Frankreich stationiert. 1942 erschien der Lyrikband Die Musik macht Gott allein (Bln.). Von diesem Zeitpunkt an arbeitete N. an dem Roman Der Blaue Kammerherr (Ffm. 1949. Mchn. 1998). Auf Einladung hielt er während des Kriegs literar. Vorträge an der Sorbonne, in Bordeaux, Chartres, Sèvres u. Etampes. 1944 erhielt er den Schrifttums-Förderungspreis der Stadt
Niebelschütz
Essen, 1952 den Immermann-Preis der Stadt Düsseldorf. 1950–1954 schrieb er als Auftragsarbeit die Biografie Robert Gerling. Ein dramatisches Kapitel deutscher Versicherungsgeschichte (Tüb. 1954), der weitere Firmengeschichten folgten (u. a. Karl Goldschmidt. Lebensbild eines deutschen Unternehmers. Essen 1957. A. Stotz AG 100 Jahre 1860–1960. Stgt. 1960). Nach ausgedehnten Studien u. Vorarbeiten veröffentlichte er 1959 den Roman Die Kinder der Finsternis (Düsseld./Köln. Ffm. 2004), sein letztes großes dichterisches Werk. Bereits in den frühen Arbeiten klingt ein Thema an, das sich durch N.’ Werk wie ein roter Faden zieht: Dichtung als göttl. Geschenk, das der Gestaltung bedarf. Mit dieser Haltung sieht sich N. der dt. wie auch der europ. Geistesgeschichte zugehörig: »Ich spreche vom Abendland, und wer vom Abendland spricht, der spricht vom Geiste. Wer aber vom Geiste handelt, der handelt von Gott« (in: Freies Spiel des Geistes. Düsseld./Köln 1961, S. 102; Reden u. Ess.s). In Der Blaue Kammerherr zeichnet N. ein poet. Bild der Rettung des historisch Gewachsenen inmitten weitgreifender Zerstörung durch den Nationalsozialismus u. den Zweiten Weltkrieg. Kunst, Musik u. Literatur, aber auch Religion, Gartenkunst u. Diplomatie gehen hier eine wohlkomponierte Verbindung ein. Sie bildet den Hintergrund für die Handlung des Romans, die Entwicklung Danaes von der kapriziösen Prinzessin zur verantwortungsbewussten Regentin. Formal konstruiert N. den Roman nach der Sonatenhauptsatzform. Er spielt sie virtuos in Themen, Motiven u. Symbolen durch. Damit gelingt es ihm, den Prozess der Reifung u. »Menschwerdung« Danaes zu gestalten u. zgl. Leben u. Kunst in barockem Sinn überzeugend miteinander zu vereinigen. Während die dt. Literatur der Nachkriegszeit ganz andere Wege ging, hielt N. an seinen ästhet. Überzeugungen fest. Da er sich keiner literar. Richtung oder Gruppierung anschloss, blieb er Einzelgänger, dem von der Kritik vielfach eine in Unkenntnis des Werks harsche Abfuhr zuteil wurde. Auch seinem zweiten Roman, Die Kinder der Finsternis, war dieses Schicksal beschieden. Hier hat N. nicht nur die mittelalterl. Welt der Provence in ei-
Niebergall
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ner eigenwilligen Deutung lebendig werden gänger: Frühe postmoderne Fantasien im Werk v. lassen, er hat zgl. seinem Thema, dem geistig Wolf v. N. In: NDL 52, H. 2 (2004), S. 141–162. – bestimmten Leben, erneut dichterische Ge- Gert Hübner: Taubenmist statt Minnesang. Das 12. Jh. in W. v. N.’ Roman ›Die Kinder der Finsternis‹. stalt gegeben. In: ZfG 14 (2004), H. 1, S. 150–64. – Ruth Schori Gleiches ist seinen Firmenschriften eigen, Bondelli: Der postmoderne Kammerherr: N. u. sein in denen N. neben der Darstellung des je- ›unzeitgemäßer‹ Nachkriegs-R. Bern u. a. 2005. – weiligen Betriebs wirtschaftl. Handeln in Michael Appel: ›Es muß eine Ordnung sein auf der histor. u. geistiger Dimension vergegenwär- Welt‹. Ein Beitr. zu Melancholie u. Ordnungsdentigt. Sie bildeten daher nicht nur die ökonom. ken bei W. v. N. Marburg 2005. – Joachim v. Below: Grundlage als freier Autor, sondern sind Le temps dans les deux romans de W. v. N. In: darüber hinaus (noch viel zu wenig beachtete) Temps et roman. Hg. Peter Schnyder. Paris 2007, Zeugnisse seines interdisziplinären Arbei- S. 125–133. Detlef Haberland / Red. tens. N. verfasste drei Dramen, von denen jedoch Niebergall, Ernst Elias, auch: E[lias] nur Eulenspiegel in Mölln (Mölln 1950) einmal Streff, * 13.1.1815 Darmstadt, † 19.4. aufgeführt wurde. Dem Gesellschaftsstück 1843 Darmstadt; Grabstätte: ebd., Alter um Metternich, Auswärtige Angelegenheiten Friedhof. – Verfasser von Lokalpossen u. (Mchn. 1956), u. dem Maskenspiel Das Nichts Erzählungen. (in: Gedichte und Dramen. Düsseld. 1962) blieb eine Wirkung versagt. In seiner Lyrik reflek- Der Sohn eines Darmstädter Hofmusikers war früh verwaist u. genoss die materielle tiert N. Zeitumstände. Weitere Werke: Über Dichtung. Hg. Ilse v. Unterstützung durch Großherzog Ludewig I. Niebelschütz. Ffm. 1979 (Aufsätze). – Über Barock von Hessen und bei Rhein, woraus sich vielu. Rokoko. Ffm. 1981 (Ess.). – Auch ich in Arkadi- leicht die unpolitisch-systemkonforme Halen. Respektlose Epistel an die Freunde. Zürich tung ableiten lässt, die ihn von seinem Darmstädter Altersgenossen Georg Büchner 1987. Literatur: Walter Boehlich: Verklärung des unterscheidet. 1827–1832 besuchte N. das Barock. In: Der Monat, 8. Jg., H. 85 (1955), renommierte städt. Gymnasium, danach imS. 73–78. – Marianne Kotthaus: W. v. N. ›Der Blaue matrikulierte er sich als Student der TheoloKammerherr‹. Skizze des Verlaufs, Interpretation, gie in Gießen, wo er der Burschenschaft Analyse der Bauformen, Sprachdeutung, Rangfra- »Germania« beitrat (vgl. Des Burschen Heimge. Diss. masch. Bonn 1957. – Detlef Haberland: kehr), der auch Büchner angehörte; Kontakte ›Dammi il Paradiso‹. Zu dem Roman ›Der Blaue zwischen den Schul- u. Studienkollegen sind Kammerherr‹ v. W. v. N. In: Textkritik u. Interpr. an keiner Stelle ihrer Biografien bezeugt, FS Karl Konrad Polheim zum 60. Geburtstag. Hg. obgleich sie bestanden haben müssen. Trotz Heimo Reinitzer. Bern/Ffm. 1985, S. 385–403. – Gustav Seibt: W. v. N. ›Auch ich in Arkadien‹ (...). seiner antirevolutionären Einstellung – In: Arbitrium (1988), S. 326–328. – D. Haberland: überliefert ist ein Stammbuchblatt mit einem W. v. N. zum 30. Todestag. Mit einer Bibliogr. Jakobiner, der auf einem Esel reitet; vgl. auch seiner Schr.en (1937–89). In: Philobiblon, H. I die während der Französischen Revolution (1990), S. 13–24. – Dossier W. v. N. In: Juni. Ma- spielende Erzählung Der Mann aus dem Marais gazin für Kultur & Politik. 4. Jg., Nr. 1 (1990), – wurde N. in Untersuchungen wegen polit. S. 9–52. – Michael Schweizer: W. v. N. Das Früh- Umtriebe verwickelt u. verließ 1835 die werk. Mchn. 1994. – Harald Fricke: Göttliches u. Universität zunächst ohne Examen, um sich Ergötzliches. Zur Rolle v. Mythologie u. Religion als Hauslehrer in Dieburg zu verdingen. Im im postmodernen Romanwerk des W. v. N. In: Gott selben Jahr begann er mit der Publikation von u. Götze in der Lit. der Moderne. Hg. Reto Sorg u. Erzählungen, die im »Rheinischen Boten« Stefan Bodo Würffel. Mchn. 1999, S. 151–164. – D. Haberland: ›Und alles Wirkliche gehorcht dem (wiederentdeckt u. neu hg. von Kempken Maß‹. W. v. N. u. der Barock. In: ›Ach, Neigung zur 2004, S. 207–238), ab 1836 in der »DidaskaFülle...‹. Zur Rezeption ›barocker‹ Lit. im Nach- lia«, einer Beilage zum »Frankfurter Jourkriegsdtschld. Hg. Christiane Caemmerer. Würzb. nal«, gedruckt wurden. Während N.s Die2001, S. 43–53. – Alban Nikolai Herbst: Der Vor- burger Zeit erschien auch die erste seiner
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beiden »in der Mundart der Darmstädter« verfassten Lokalpossen, Des Burschen Heimkehr, oder: Der tolle Hund (Worms 1837), die von einer Wandertruppe in Darmstadt aufgeführt wurde. 1839 konnte N., nachdem die polit. Verdächtigungen gegen ihn ausgeräumt waren, sein Theologie-Examen in Gießen nachholen u. erhielt 1840 eine Anstellung an einer Privatschule in Darmstadt. Hier entstand sein Hauptwerk Datterich (Darmst. 1841), in dem noch aktuelle Ereignisse bis zum März des Erscheinungsjahres verarbeitet sind. Das Stück wurde erst 1862 uraufgeführt, hatte jedoch seit Beginn des 20. Jh. ungebrochenen Erfolg auf heimischen u. überregionalen Bühnen sowie durch Fernsehaufzeichnungen. Schon mit Des Burschen Heimkehr gelang N. eine Posse, die den Stücken prominenter Gattungsrepräsentanten wie Johann Nestroy u. Karl Malß – Letzterer ein direktes Vorbild für N. – in Sprach- u. Situationskomik (z.B. durch Stilbrüche in der Figurenrede) nahe kommt. Im Plot um den relegierten Studenten Fritz Knippelius, der seine ruhmlose Rückkehr ins Elternhaus durch die Überwältigung eines tollwütigen Hundes in ein heldenhaftes Gesellenstück verwandelt, dominiert der Kontrast zwischen einer vielfältig kompromittierten Elterngeneration u. den vitalen Jungen, die ihr privates Glück energisch in die Hand nehmen, ohne allerdings mit den kleinbürgerl. Verhältnissen zu brechen. In der Figur des Betrügers Nachtschatten scheint bereits das Possenmodell von »Kollektiv und Störenfried« (Klotz) auf, demgemäß die Bedrohung durch einen gefährl. Außenseiter – Nachtschatten kommt aus Preußen u. spricht keinen Dialekt – das närr. Gebaren der lokalen Honoratioren zur vollen Entfaltung bringt, zgl. freilich auch den Zusammenhalt des Kollektivs befördert. Komplexer stellen sich die Verhältnisse im Datterich dar, wo der Außenseiter, ein abgehalfterter Schnorrer u. Aufschneider, eigentlich aus der Mitte der Gemeinschaft kommt u. nach einer Kompensation für den Verlust seiner bürgerl. Existenz strebt. Datterich versucht zwar durch bösartige List die teils naiven, teils dummdreisten Kleinbürger auszunehmen u. droht sogar das häusl. Glück
Niebergall
des jungen Lustspielpaares zu zerstören, doch dürften die Sympathien der Zeitgenossen dem intellektuell überlegenen, menschlich auch reiferen (Monolog in III,5) Datterich nicht weniger gegolten haben als den siegreichen Bürgern, die bei aller ökonomischen u. organisator. Effizienz doch auch die spießig-bornierten, ja abstoßenden Züge der biedermeierl. Gesellschaft verkörpern. Im Gegensatz zu den Mundartkomödien nehmen N.s Erzählungen, die teils lokale Sagenstoffe aufgreifen, teils der Fiktion des Autors entspringen u. Traditionen der Empfindsamkeit, der Spätaufklärung u. der Schauerromantik fortführen, nur ausnahmsweise die kleinbürgerl. Verhältnisse der eigenen Zeit aufs Korn (Die Schmeißfliege als Ehestifterin), stattdessen gestalten sie menschl. Laster u. Tugenden oft psychologisch wie erzählerisch recht überzeugend im Sinne der poet. Gerechtigkeit. Die literarhistorische, populärwiss. u. produktive Auseinandersetzung mit N. konzentriert sich bislang ausschließlich auf die beiden Dramen (bes. Datterich) u. auf die Beziehung des Autors zu seinem wichtigsten Helden, wobei sich weitgehend analog zu den kulturhistor. Paradigmenwechseln im 20. Jh. biografische, lokalpatriotisch-typolog., philologisch-quellenkundl., gattungsgeschichtl. u. metapoet. Ansätze ablösen (Übersicht bei Seidel 2007). Während also die biogr. Befunde soweit möglich rekonstruiert erscheinen (Esselborn, Gensicke, Becker) u. N.s dramat. Werk innerhalb der Geschichte der Lokalposse zuverlässig verortet ist (Klotz), harren die 13 Erzählungen noch der wiss. Erschließung, die sich u. a. mit Ansätzen literar. Reflexion bei N. (z.B. Empfindsamkeitskritik in Die Mondscheinnacht in den Ruinen) zu beschäftigen hätte. Ausgaben: Erzählende Werke. Hg. Karl Esselborn. 3 Bde., Darmst. 1925. – Dramat. Werke. Hg. ders. Darmst. 1925. – Datterich. Des Burschen Heimkehr, oder: Der tolle Hund. Hg. Horst Denkler u. Volker Meid. Stgt. 1975 u. ö. Die Neuaufl. seit 1999 enth. nur noch den ›Datterich‹: Datterich. Hg. V. Meid. Literatur: Werkverzeichnis: Werner Kempken: E. E. N. Krit. Bibliogr. u. zwei unbekannte Erzählungen. Darmst. 2004. – Bibliografie: Meid (s. o.). –
Niebuhr Weitere Titel: Karl Esselborn: E. E. N. Sein Leben u. seine Werke. Darmst. 1922 (mit älterer Lit.). – Walter Höllerer: Zwischen Klassik u. Moderne. Lachen u. Weinen in der Dichtung einer Übergangszeit. Stgt. 1958, S. 187–203. – Hellmuth Gensicke: Neue Quellen zur Lebensgesch. des E. E. N. In: Archiv für hess. Gesch. u. Altertumskunde N. F. 27 (1962–67), S. 165–183. – Volker Klotz (Hg.): E. E. N.: Datterich. Bln. 1963 (mit wichtigem Nachw.). – Georg Hensel (Hg.): E. E. N.: Der Datterich im Darmstädter Biedermeier. Darmst. 1975 (mit ausführl. Dokumentation). – V. Klotz: Bürgerl. Lachtheater [...]. Mchn. 1980. – Rudolf Becker: E. E. N. Bilder aus einem unauffälligen Leben. Darmst. 1998. – Jens Malte Fischer: E. E. N.s ›Datterich‹. In: Merkur 58 (2004), S. 368–372. – Robert Seidel: Von der Ehrenrettung des Autors zum selbstreferenziellen Spiel. E. E. N.s Darmstädter Lokalposse ›Datterich‹ u. ihre Rezeption in Wiss., Kritik u. Bühnenpraxis. In: Die alten Mitten u. die neuen Medien. Zur Rezeption v. Mundart u. Hochkultur in der Moderne [...]. Hg. Ernst Erich Metzner u. a. Darmst. 2007, S. 85–106. Robert Seidel
Niebuhr, Barthold Georg, * 28.8.1776 Kopenhagen, † 2.1.1831 Bonn; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof. – Historiker u. Staatsmann. Leben u. Persönlichkeit N.s üben bis heute eine Faszination aus, die sein Werk u. seine Bedeutung für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft in den Schatten stellen. Als Sohn Karsten Niebuhrs wuchs er unter merkwürdig widersprüchl. Bedingungen auf: zgl. isoliert u. doch intellektuell vielfältig angeregt, von instabiler Gesundheit, reizbar, frühreif, wissensdurstig, viellesend u. vielsprachig, aber ohne rechte Anleitung. Das ganz nach seinen Interessen angelegte Jurastudium in Kiel (1794–1796) brachte keine Entscheidung für einen wiss. Beruf. 1796 wurde er Privatsekretär des bedeutenden Finanzministers Graf Schimmelmann in Kopenhagen, hielt sich 1798/99 mit einem Staatsstipendium in England u. Schottland auf, wo er sich u. a. mit Natur- u. Agrarwissenschaften beschäftigte, trat danach in den dän. Dienst ein, stieg zum Direktor der Staatsbank auf u. wurde 1806 von Frhr. vom Stein als Finanzfachmann u. Direktor der Preußischen Seehandlung nach Berlin geholt,
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wo er in den engeren Kreis der Reformer eintrat. Nach seinem Ausscheiden im Konflikt mit dem Staatskanzler Hardenberg wurde er 1810 Mitgl. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, preuß. Hofhistoriograf u. (1816–1823) preuß. Gesandter beim Vatikan. 1824 erhielt er die Ernennung zum Staatsrat, aber keine neue aktive Verwendung in der Politik; er trat nun in freie Verbindung mit der Universität Bonn, wo er mit großem Erfolg Vorlesungen über die alte Geschichte in ihrem vollen Umfang, über röm. Altertümer, zuletzt auch über das Zeitalter der Revolution hielt. Er war Mitbegründer des »Rheinischen Museums« u. des Bonner Corpus der Byzantinischen Geschichtsschreiber. Er starb tief deprimiert, unter dem Eindruck des Brandes seines Hauses u. der Pariser Juli-Revolution. N. stand am Anfang der modernen wiss. Beschäftigung mit der alten Geschichte, war aber auch einer der Begründer der kritischen philolog. Methode der dt. Geschichtswissenschaft. Die alte Geschichte galt ihm hauptsächlich »[als] eine philologische Disziplin, [...] ein Mittel der Interpretation und der philologischen Kenntnisse«, sie war ihm zgl. Gegenstand eines gegenwärtigen Erkenntnisinteresses. War er doch überzeugt, dass eine »wahre Geschichtsschreibung« der Vergangenheit nur erreicht werde, »wenn wir eine Gegenwart mit gewisser Anschaulichkeit erlebt haben [und] diese Anschauungen auf frühere Zeiten übertragen«. Unter dem Eindruck gegenwärtiger Erfahrungen – v. a. der Aus- u. Fernwirkungen der Französischen Revolution, der Reformpolitik in Deutschland, insbes. der Verfassungsfrage, aber auch schon der Bauernbefreiung in SchleswigHolstein – beschäftigte er sich mit der Sozialverfassung der frühen röm. Republik, ausgehend von den öffentlich-rechtl. Institutionen, insbes. von der röm. Ackergesetzgebung, deren Untersuchung er bereits in Kopenhagen begann. Seine Vorlesung 1810/11 im ersten Semester der neuen Berliner Universität war ein wissenschaftliches u. gesellschaftl. Ereignis; 1811/12 erschienen die ersten beiden Bände seiner Römischen Geschichte (Bln.). Sie führten bis zum Ende der italischen Epoche der röm. Geschichte, die N. als
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Niebuhr
Alle Historiker der Antike jedoch, auch grundlegend für den Aufstieg Roms u. für das Wesen seiner Verfassung ansah. Die zweite, Mommsen, standen, selbst in der krit. Ausstark umgearbeitete Auflage erschien 1827/ einandersetzung mit N., auf dem wiss. Bo28, ein dritter Band, der die Zeit von 337 bis den, den er, der Einzelgänger, der keiner 265 v. Chr. behandelt, erst postum 1832. Die »Schule« angehörte u. keine gründete, mit Produktivität der späten Bonner Jahre fand in seinen Studien gelegt hatte. Er zuerst betonte den Kleinen historischen und philologischen die universalgeschichtl. Bedeutung der röm. Schriften (Bonn 1828. Bd. 2, 1843. Neudr. Os- Geschichte, in die die Geschichte des Alternabr. 1969) Niederschlag; weitere Sammlun- tums einmündete u. von der die spätere Gegen erschienen postum, ebenso die Vorle- schichte wesentlich bestimmt wurde. sungen zur Geschichte des Zeitalters der RevoluWeitere Werke: Nachgelassene Schr.en nichttion (2 Bde., Hbg. 1845), die er 1829, am philolog. Inhalts. Hg. Markus Niebuhr. Hbg. 1842. Vorabend der Juli-Revolution, gehalten hatte. – Vorträge über röm. Gesch. Hg. M[eyer] Isler. 3 N. war kein professioneller Historiker im Bde., Bln. 1846–48. – Vorträge über alte Gesch. Hg. engeren Sinne, handhabte jedoch das me- M. Niebuhr. 3 Bde., Bln. 1847–51. – Polit. Schr.en. thod. Werkzeug der Geschichtswissenschaft Hg. Georg Küntzel. Ffm. 1923. – Die Briefe 1776–1816. Hg. Dietrich Gerhard u. William Norseiner Zeit souverän u. entwickelte es weiter, vin. 2 Bde., Bln. 1926–29. – Briefe. N. F., 1816–30. v. a. zum Zwecke der Textkritik. Seine emi- Hg. Eduard Vischer. 4 Bde., Bern/Mchn. 1981–84. nente histor. Vorstellungskraft verdankte er Literatur: Dora Hensler: Lebensnachrichten nicht zuletzt seiner philologischen u. jurist. über B. G. N. aus Briefen desselben u. aus ErinneBildung, seiner prakt. Tätigkeit als Finanz- rungen einiger seiner nächsten Freunde. 2 Bde., experte u. weltläufiger Politiker. Seine Vor- Hbg. 1838/39 (unzuverlässig). – Seppo Rytkönen: lesungen, in denen er histor. Wirklichkeit B. G. N. als Politiker u. Historiker. Helsinki 1968. – anschaulich zu machen suchte, fanden au- Alfred Heuß: N. u. Mommsen. In: Antike u. ßerordentl. Resonanz; seine historiograf. Abendland 14 (1968), S. 1–18. – Karl Christ: B. G. Werke dagegen waren schon für die Zeitge- N. In: Ders.: Von Gibbon zu Rostovtzeff. Darmst. nossen wegen der oft schwer nachvollzieh- 1972, S. 26–49. – Bartold C. Witte: Der preuß. Tabaren Verbindung von detaillierter Darle- citus. Aufstieg, Ruhm u. Ende des Historikers B. G. N. Düsseld. 1979. – Peter Hanns Reill: B. G. N. and gung u. persönl. Reflexion, wegen der Fülle the Enlightenment Tradition. In: German Studies von Analogien u. der Neigung zur überlaste- Review 3 (1980), S. 9–16. – K. Christ: B. G. N. In: ten Periodenbildung schwierige Kost. So sind Dt. Historiker 6. Hg. Hans-Ulrich Wehler. Gött. denn seine Werke, die bald altmodisch wirk- 1980, S. 23–36. – A. Heuß: B. G. N.s wiss. Anfänge. ten, nicht zu histor. Leseklassikern geworden. Gött. 1981. – Gerhard Wirth (Hg.): B. G. N., HisAuch in dieser Hinsicht ist seine Römische Ge- toriker u. Staatsmann. Bonn 1984. – Gerrit Walschichte von derjenigen Mommsens völlig in ther: N.s Forsch. Stgt. 1993. den Hintergrund gedrängt worden. Noch Rudolf Vierhaus / Red. mehr gilt dies für die Interpretation. Beide wollten in der röm. Geschichte ein beweisNiebuhr, Carsten, * 17.3.1733 Lüdingkräftiges Lehrstück für die Gegenwart erworth/Elbe, † 26.4.1815 Meldorf. – Arakennen: N. in der frühen Republik das Beibienforscher. spiel für eine kontinuierliche, nicht-revolutionäre Entwicklung, die, von der plebs ge- Der aus einer Bauernfamilie stammende N. tragen u. von den Volkstribunen gelenkt, zur begann 1757 das Studium der Mathematik u. gesetzlich gesicherten Freiheit u. zum sozia- Astronomie in Göttingen. Nach zweijähriger len Ausgleich gelangt; Mommsen in der Re- Vorbereitungszeit trat er 1761 als Mitgl. einer publik v. a. der mittleren Zeit das paradig- dän. Arabienexpedition die Reise an, die ihn mat. Beispiel des Prozesses der Ausbildung durch den Orient (v. a. Jemen) u. nach Indien eines Staatsrechts u. einer »nationalen« Ein- führte. Er kehrte 1767 als einziger Überleheit – ein Thema, das seine Leser, die Bil- bender der Expeditionsteilnehmer zurück. In dungsschichten der zweiten Hälfte des 19. den folgenden Jahren widmete er sich der Jh., faszinierte. Aufarbeitung des während der Reise gesam-
Niederdeutscher Totentanz
melten Materials. 1772 erschien seine Beschreibung von Arabien (Kopenhagen), 1774 u. 1778 die beiden ersten Bände der Reisebeschreibung nach Arabien (Kopenhagen. Bd. 3, Hbg. 1837). 1778 trat N. die Stelle eines Landschreibers in Meldorf an. N. wurden zahlreiche wiss. Ehrungen zuteil, seine Werke in mehrere Sprachen übersetzt. Seine Schriften fanden jedoch außerhalb der interessierten Fachkreise vergleichsweise wenig Verbreitung. Sein trocken-sachlicher, etwas schwerfälliger Stil mag dazu beigetragen haben. Sein Sohn, der Historiker Barthold Georg Niebuhr, widmete dem Vater eine Biografie. Ausgaben: Reisebeschreibung nach Arabien u. den umliegenden Ländern. Neudr. Graz 1968 (Vorw. v. Dietmar Henze). – Entdeckungen im Orient. Hg. u. bearb. v. Robert u. Evamaria Grün. Stgt. 21983. Literatur: Barthold Georg Niebuhr: ›C. N.s Leben‹. In: Kieler Bl. 3 (1818), S. 1–86. – Thorkild Hansen: Reise nach Arabien. Hbg. 1965. – Fritz Treichel: C. N. In: BLSHL. – Rasmussen Stig (Hg.): C. N. u. die Arab. Reise 1761–67. Heide/Holstein 1986. – Josef Wiesehöfer u. Stephan Conermann (Hg.): C. N. u. seine Zeit. Stgt. 2002. Bertram Turner / Red.
Niederdeutscher Totentanz, Lübecker Totentanz, vollendet am 14.8.1463. – Leinwandgemälde in der Beichtkapelle der Lübecker Marienkirche, mit Versen. Der am 14.8.1463 (zehn Monate vor Ausbruch der Pest) vollendete Totentanz der Lübecker Marienkirche gilt als Werk von Bernt Notke: Oberhalb des Beichtgestühls bildeten ursprünglich 49 knapp lebensgroße, auf Leinwand gemalte Figuren einen etwa 30 Meter langen Fries. Ein musizierendes Gerippe führte den Reigen an. Ihm folgten abwechselnd ein Leichnam u. ein Todgeweihter hierarchisch angeordnet vom Papst u. Kaiser über Bürgermeister u. Kaufmann bis zum Bauern u. Wiegenkind. Man könnte von 24 Paaren sprechen. Den Hintergrund des Gemäldes bildeten realist. Landschaften u. Stadtpanoramen. Unterhalb der Figurenfolge standen achtzeilige niederdt. Dialoge. Darin forderte der Tod je einen Lebenden zum Tanz auf. Die
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Sterbenden reagierten entsetzt; viele erbaten erfolglos Aufschub: Die Gerippe kommentierten schlicht Sünden u. Verdienste des Angesprochenen, um sich in der letzten Verszeile bereits dem Nächsten zuzuwenden. Dieser Aufbau stimmt weitgehend mit der span. Danza general de la muerte u. der frz. Danse macabre überein, die wohl durch mittelniederländ. Zwischenstufen nach Norddeutschland wirkten. Die makabre Lübecker Wandbespannung musste im Lauf der Jahre mehrfach saniert werden. 1701 ersetzte Anton Wortmann den spätmittelalterl. Fries durch ein neues Gemälde, zu dem Nathanael Schlott barocke Dialoge beisteuerte. In der Nacht vom 28. zum 29. März 1942 ging der N. T. bei einem brit. Bombardement in Flammen auf. Eng verwandt mit dem durch histor. Fotografien dokumentierten Totentanz in der Lübecker Marienkirche ist das Gemäldefragment in der Nikolaikirche in Reval, das ebenfalls Bernt Notke zugeschrieben u. um 1500 datiert wird. Wie in der frz u. oberdt. Tradition eröffnet ein Prediger den Reigen. Ihm folgen ein Gerippe mit Dudelsack sowie je ein Leichnam, der Papst, Kaiser, Kaiserin, Kardinal u. König ins Jenseits führt. Die prächtig gekleideten Figuren u. die niederdt. Dialogverse stimmen weitestgehend mit der Vorlage überein. Zur Erbauungsliteratur wurden Bild u. Text 1489 als Inkunabel Des dodes dantz aus Hans von Ghetelens Lübecker Mohnkopfoffizin. Auswahl u. Charakterisierung der Figuren sind Bernt Notkes Fries verpflichtet, wenn auch der Vergleich der Vorkriegsaufnahmen mit den Holzschnitten die enge Verwandtschaft nicht auf den ersten Blick preisgibt. Mit 1686 Versen ist der Text außerdem weit länger als ähnl. Werke. Zunächst deuten Einleitungskapitel das Sterben als bittere Erfahrung, die dem Menschen ewiges Leben ermöglicht. Dann tritt der personifizierte Tod den Ständevertretern gegenüber. Jedem Paar ist eine Doppelseite gewidmet, wodurch das Reigenmotiv zugunsten der individuellen Auseinandersetzung an Bedeutung verliert. Rein optisch entsteht der Eindruck, der Todeskandidat – im Buch links –
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Niederhauser
eröffne den Dialog. Im Vergleich zur Vorlage Niederhauser, Rolf, * 25.10.1951 Zürich. sind fünf neue Figuren zu sehen. – Erzähler u. Publizist. Der N. T. beeinflusste die um 1485 entNach Abschluss einer Lehre als Elektromonstandene Wandmalerei in der Berliner Marienkirche. 1520, unmittelbar nachdem Her- teur holte N. 1974 das Abitur nach u. stumann Bote eine Prosafassung des Texts in dierte Nationalökonomie in Basel. Nach dem seine zweite, die sog. Hannoversche Weltchronik Studienabschluss 1982 arbeitete er als Jouraufgenommen hatte, veröffentlichte die nalist; seit 1988 lebt er als freier Schriftsteller Mohnkopfdruckerei eine Neuausgabe, die in Basel. In seinem ersten Buch, Der Mann im Übersich von der Inkunabel unterscheidet u. um kleid (Frauenfeld 1976), dem »Rapport« eines 1550 ins Dänische übersetzt wurde (vgl. www.dodedans.com/Eindex.htm). Zu er- Elektromonteurs, beschreibt N. eine abwähnen bleibt der Bremer Nachdruck von stumpfend eintönige Arbeitswelt. Dasselbe 1597 mit einer Einleitung von Nathan Chyt- Interesse für alternative Lebens- u. Arbeitsraeus, der an den dt. Ausgaben von Hans formen zeigt der Prosaband Ein paar junge Leute haben es satt zu warten auf das Ende der Holbeins Totentanz beteiligt war. Weniger gut erforscht ist die Rezeptions- bloßen Vermutung, daß es bessere Formen menschgeschichte des N. T. seit dem Barock. Schlotts licher Gemeinschaft gibt (Darmst. 1978), der aus 1702 im Druck veröffentlichte Neufassung dem Alltag einer Gruppe von jungen Leuten des Texts fand nicht nur Eingang in philolo- erzählt, die eine Genossenschaft gründen u. gische u. tourist. Werke. Sie diente 1776 als eine Gaststätte als Selbstverwaltungsbetrieb Grundlage des monumentalen Erfurter Toten- führen. N. verarbeitet darin auch eigene Ertanz. Später entwickelten insbes. die Bilder fahrungen als Mitarbeiter der Genossenschaft reges Eigenleben. Sie inspirieren bis heute »Kreuz« in Solothurn 1973 bis 1976. ProbleLiteraten, Maler, Musiker u. Tänzer zu Neu- me des Zusammenlebens eines alleinerzieschöpfungen. Neben großformatigen Lein- henden Vaters mit seinem Kind thematisiert wandfriesen von Markus Lüpertz 2002 u. der Roman Nada oder Die Frage eines Augenblicks Herwig Zens 2003 entstand bis 2006 auf In- (Darmst. 1988). Die quirlige Tochter Nada, itiative von Hartmut Kraft ein Künstler- die ganz in der Gegenwart lebt, regt bei ihbuchprojekt, an dem über 20 Personen mit- rem Vater eine Auseinandersetzung mit sich wirkten. Dazu kommen neuerdings histor. selbst an. Die frühere Spontaneität ist von Krimis: 2006 Totentanz von Silke Urbanski u. ihm abgefallen, es fällt ihm schwer, sich Michael Siefener sowie 2008 Das Mädchen und festzulegen u. die Vaterrolle ganz anzunehmen. Solidarität u. Engagement sind Antrieb der Schwarze Tod von Lena Falkenhagen. Literatur: Hellmut Rosenfeld: Lübecker T. In: für zwei Reisen, die N. 1988 u. 1990 nach VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Hartmut Nicaragua führten u. die die Grundlage bilFreytag (Hg.): Der Totentanz der Marienkirche in den für Requiem für eine Revolution. Tagebuch Lübeck u. der Nikolaikirche in Reval (Tallinn). Ed., Nicaragua (Ffm. 1990). Komm., Interpr., Rezeption. Köln u. a. 1993. – Seitdem betätigt sich N. hauptsächlich Kerstin Petermann: Bernt Notke. Arbeitsweise u. kulturpublizistisch u. pädagogisch; er unWerkstattorganisation im späten MA. Bln. 2000, terhält mehrere Projekte im Bereich des auS. 26–41 u. S. 231 f. – ›Ihr müßt alle nach meiner Pfeife tanzen‹. Totentänze vom 15. bis 20. Jh. 2000 ßerschulischen Lernens. Parallel dazu re(Ausstellungskat.e der Herzog-August-Bibl., Nr. cherchiert er im Bereich der Vernetzung von 77), S. 83–135. – Maike Claußnitzer: Sub specie Computerwissenschaften, Biologie u. Beaeternitatis. Ffm. u. a. 2007, S. 147–160, 207–221. wusstseinsforschung, woraus mehrere Essays Uli Wunderlich sowie das noch nicht abgeschlossene Romanprojekt Seltsame Schleife entstehen. Weitere Werke: Kältere Tage in sieben Bildern. Darmst./Neuwied 1980 (E.en). – Alles Gute. Fußnoten zum Lauf der Dinge 1980–85. Darmst. 1987 (P.). – Der Kindernarr. WDR 1991 (Hörsp.) – Max
Niedermayer
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Frisch: Ich stelle mir vor. Ein Lesebuch. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. R. N. Ffm. 1995 (Anth., Hg.). – Digitale Ameisen, lebende Roboter. In: Basler Zeitung, 2.9.1995. – Die neuen Alchemisten. Wiss. an der Schwelle zum 21. Jh. In: Tages-Anzeiger, 1.12.1995. – Lernen ausserhalb der Schule. Bern 2004 (Sachbuch).
Weitere Werke: Sinngedichte in vier Büchern. Ffm./Lpz. 1768. – Nachtr. zu den Sinngedichten in vier Büchern [...]. 2 Bde., Nürnb. 1770/71. Ffm./ Lpz. 1773. – Zugabe zu den Sinngedichten [...]. Ffm./Lpz. 1774. – Neuere u. letzte Sinngedichte [...]. Nürnb. 1776. – Absonderl. Beytr. zu den neuern, u. letzten Sinngedichten [...]. Nürnb. 1776.
Literatur: Christoph Geiser: Vom Kälteeinbruch in der Schweiz. In: SZ, 18.10.1980. – Elsbeth Pulver: Vor einem Kind ›bestehen‹ wollen. In: Schweizer Monatsh.e 69 (1989), H. 2, S. 159–162. – Gunhild Kübler: R. N. In: KLG. – Peter Ensberg u. a.: Imagination and Preconceptions. An Interview with R. N. In: Modern Language Studies 24 (1994), H. 3, S. 3–13. – Thomas Kraft: R. N. In: LGL. Gunhild Kübler / Beat Mazenauer
Ausgaben: Internet-Ed. mehrerer Werke in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. Literatur: Meusel 10, S. 104. – Goedeke 4/1, S. 147. – Kosch 10, Sp. 1712. – DBA. – Sieglinde Adler: Literar. Formen polit. Philosophie. Das Epigramm des 17. u. 18. Jh. Würzb. 1998. Isabel Grübel / Red.
Niederrheinisches Augustinusbuch. – Spätmittelalterliches hagiografisches Werk, wahrscheinlich entstanden Mitte Niedermayer, Johann Karl, auch: Myri- des 15. Jh. ander, * 28.10.1708 Neuötting, † 1779 Burghausen. – Epigrammatiker, Überset- Das N. A. ist eine Schriftensammlung in dt. Sprache, die über den Kirchenvater Augustizer. Mit Ausnahme des Librettos Telemachs Reise zu seiner Braut (Augsb. 1747) trat der Jurist N. fast ausschließlich mit z.T. mehrfach aufgelegten Sammlungen von Sinngedichten an die Öffentlichkeit. In der im 17. u. 18. Jh. sehr beliebten Gattung gelangte er über das Mittelmaß allerdings nicht hinaus. Immerhin bemühte sich N. in seinen zwei- bis sechszeiligen Epigrammen um gedankl. u. formale Konzentriertheit ebenso wie um die geistreiche Pointe oder überspitzt formulierte Schlussfolgerung. Als satir. Medium konnten N.s Sinngedichte der Bloßstellung allgemeinmenschl. Fehler dienen; er verwendete sie aber ebenso dazu, aktuelle Ereignisse zu kommentieren, das bayerische Kurfürstenhaus panegyrisch zu feiern oder antike röm. Kaiser treffend zu charakterisieren. Neben die eigenen Dichtungen stellte N. gerne seine Übersetzungen lat. Autoren. So fügte er seinem Bayerischen Reim-Schmied (Ffm./Lpz. 1750) einige Seiten aus Vergils Aeneis bei u. veröffentlichte eine Übersetzung des spätantiken Streitgedichts des Claudian gegen Rufinus (Claudians Gedicht wider den Rufinus. Nürnb. 1756). – In den Vorworten seiner Werke bekannte er sich ausdrücklich zu seinem bayerischen Zungenschlag als einem legitimen rhythm. Element.
nus informiert u. zur Erbauung u. Verehrung des Heiligen dient. Sie ist wohl um die Mitte des 15. Jh. entstanden. Der Inhalt besteht aus einem Augustinusleben (in der sog. niederrheinischen Redaktion a) u. aus Übersetzungen lat. Predigten, die den Sermones de sanctis (Opus Dan) des Augustiners Jordan von Quedlinburg († 1370/1380) entnommen sind, nämlich De translatione sancti Augustini (Nr. 185), die Predigt des Fernandus de Hispania zum Festtag Augustins (Nr. 150) u. die zehn Sermones de sancto Augustino (Nr. 129–149). Einige Handschriften nehmen Ergänzungen auf. Als Zusätze treten volkssprachige Fassungen der pseudoaugustin. Sermones ad Fratres in eremo, Teile der Soliloquia Augustins u. der pseudoaugustin. Soliloquia in Erscheinung. Obwohl das N. A. seine Wirkung in einer Zeit entfaltete, als es den Buchdruck längst gab, ist es nur in Handschriften überliefert. Ursachen dafür können in der lokalen Verbreitung u. im Adressatenkreis liegen, aber auch in dem Wunsch, ein bewusst würdiges Buch herzustellen u. zu besitzen, dessen Inhalt auf alter Tradition beruht. Prolog des Augustinuslebens, Provenienzen der Handschriften u. ihre meist ribuarische Schreibsprache zeigen, dass das N. A. in geistl. Frauengemeinschaften, überwiegend
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Niekisch
Literatur: Ute Obhof: Das Leben Augustins im im Kölner Raum, rezipiert wurde. Offensichtlich ist das Werk von Reformbewegun- N. A. des 15. Jh. Überlieferungs- u. Textgesch., gen verbreitet worden, die der Devotio mo- Teiled. Heidelb. 1991. – Dies.: N. L. In: VL (Nachderna nahe standen. Die Textzeugen sind aus träge u. Korrekturen). Ute Obhof der zweiten Hälfte des 15. Jh. – der älteste aus dem Jahre 1456 – bis etwa ins dritte JahrNiekisch, Ernst (August Karl), * 23.5.1889 zehnt des 16. Jh. überliefert. Trebnitz bei Breslau, † 23.5.1967 Berlin. – Die im Zusammenhang zu nennenden Politischer Schriftsteller. volkssprachigen Fassungen der Lebensbeschreibung Augustins fußen auf der lat. Au- In Nördlingen/Ries aufgewachsen, wurde der gustinusvita BHL 787. Diese ist ihrerseits eine Sohn eines Feilenhauermeisters 1908 VolksKompilation, die aus den Confessiones Augus- schullehrer in Augsburg. Seit 1917 Mitgl. der tins u. der spätantiken Augustinusbiografie SPD, wurde er 1918 Vorsitzender des Arbeiseines Schülers u. Wegbegleiters Possidius ter- u. Soldatenrats in Augsburg, 1919 für (BHL 785) schöpft. Bezeichnet nach dem je- einige Monate des Zentralrats für Bayern. weiligen Schwerpunkt der Überlieferung Nun Mitgl. der USPD, war N. 1922 nach der unterscheidet man eine niederländ. Fassung Vereinigung von Rest-USPD u. SPD kurze des Augustinuslebens (A), eine niederrheini- Zeit stellvertretender Vorsitzender der bayesche Redaktion (a) u. eine niederländisch/ rischen Landtagsfraktion, anschließend in niederrheinische Kurzfassung (B). Berlin bis 1926 Jugendsekretär des Deutschen Aus Anlage u. Zustand der überlieferten Textilarbeiterverbandes. In die Zeit 1926/27 Handschriften lässt sich schließen, dass das fällt N.s Rechtswendung. Wie sein späterer N. A. einerseits ein viel gelesenes Werk in Freund Ernst Jünger versuchte N. Rechtsgeistl. Frauengemeinschaften war, dass gruppierungen in einer »Widerstandsbewemanche Handschriften aber durchaus auch gung« gegen den Weimarer Liberalismus, die repräsentative Funktion hatten. Sie dürften »geistig-seelische Überfremdung« durch den zur privaten Lektüre u. als Vorlesebücher, Westen (Der politische Raum deutschen Widerv. a. an den Festtagen Augustins u. der Ge- stands. Bln. 1931) u. die Versailler Ordnung zu meinschaft, benutzt worden sein. Häufig sind sammeln. Ihr diente seine Monatsschrift die Bücher beim Übertritt zur Augustinerre- »Widerstand« (Dresden, später Bln. 1926–34, gel angeschafft worden. Die Typen der seit 1929 illustriert v. A. Paul Weber), die eine Überlieferung reichen von der einfachen Ge- Öffnung nach links propagierte, um das rebrauchshandschrift bis hin zum ausgespro- volutionäre Potential der dt. Arbeiterschaft chenen Prachtkodex. Bezogen auf einen grö- zur Errichtung einer Kriegsdiktatur u. des ßeren Rezipientenkreis ist das Buch gewis- totalen Staats auszunutzen. sermaßen ein Kompendium, das einem laHitler wurde von N. als »Laufbursche des teinunkundigen Publikum Wissen über Au- Westens« unterschätzt, dessen »Talentlosiggustinus vermittelte. keit die Grenzen des Üblichen und Erlaubten Man kann davon ausgehen, dass Entste- weitaus überschreitet« (noch in: Widerstand hung u. Verbreitung des niederländ. Augus- 1, 1933). In Hitler – ein deutsches Verhängnis tinuslebens A u. seiner niederrheinischen (Bln. 1932; mit fünf Zeichnungen von A. Paul Redaktion a in Zusammenhang stehen mit Weber. Koblenz 1990) prangerte er Hitlers der wachsenden Bedeutung der Augustiner- Messianismus an u. bezeichnete dessen Engregel in diesem Zeitraum in Frauengemein- land-Orientierung u. Antibolschewismus als schaften in den Niederlanden u. im Nord- Verhängnis für den »germanisch-protestanwesten Deutschlands. Das Augustinusleben tischen« Menschen. Sein 1935–1936 gewandelte sich in Inhalt u. Form durch viel- schriebenes Manuskript Das Reich der niederen fache Bearbeitungs- u. Überlieferungsstufen Dämonen (Hbg. 1953. Bln./DDR 1957) diente von der lat. Fassung BHL 787 zu einer im als Belastungsmaterial in einem Volksgeengeren Sinne eigenständigen volkssprachi- richtshofsprozess, bei dem N. 1939 zu legen Fassung im N. A. benslänglich Zuchthaus verurteilt wurde.
Niemand
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Nach dem Krieg lebte N. in Westberlin, Dies.: Die Münchener Räterepublik. Düsseld. 2008, wurde 1948 Professor an der Humboldt- S. 105–127. Michael Behnen / Red. Universität u. 1949 als SED-Mitgl. Abgeordneter der Volkskammer, 1951 jedoch kaltgestellt. Nach dem 17. Juni 1953 zog er sich Niemand. – Unbekannter Verfasser eines endgültig aus der Öffentlichkeit zurück u. Schwanks aus dem 14. Jh. versuchte vergeblich, in der Bundesrepublik Die Identität des Autors, von dem die unikal Deutschland als antifaschist. Widerstandsüberlieferte, wohl noch im 14. Jh. im nördl. kämpfer offiziell anerkannt zu werden. Elsass entstandene mhd. Erzählung Die drei Weitere Werke: Grundfragen der dt. AußenMönche zu Kolmar (404 Verse) stammt, ist nicht politik. Bln. 1925. – Gedanken über dt. Politik. geklärt; es kann sich um ein Dichter-PseudDresden 1929. – (Hg.) Die Entscheidung (illustriert v. A. Paul Weber). Bln. 1932/33 (Wochenschr.). – Dt. onym oder einen echten Familiennamen Daseinsverfehlung. Bln. 1945. 31990. – Ost u. West. handeln. Der Schwank gilt als Musterbeispiel Unsystemat. Betrachtungen. Bln. 1947. Hbg. schwarzen Humors u. führt sarkastisch eine 2 1963. – Erinnerungen eines dt. Revolutionärs. absurd gewordene Welt vor. Bd. 1: Gewagtes Leben. Köln 1958. Bln. 21974. Die schöne Frau eines verarmten Kolmarer Bd. 2: Gegen den Strom. Bln. 1974. – Polit. Schr.en. Bürgers geht nacheinander zur Beichte zu Köln 1965. – Die Kraft der Empfindlichkeit. Ess.s den Dominikanern, Franziskanern u. Au1949–90. Hg. Werner Liersch. Lpz. 1998. – Fried- gustinern, wird aber jedesmal mit einem rich Georg Jünger: ›Inmitten dieser Welt der Zerunzüchtigen Liebesantrag konfrontiert. Ihr störung‹. Briefw. mit Rudolf Schlichter, E. N. u. Ehemann, dem sie davon erzählt, ersinnt eine Gerhard Nebel. Hg. Ulrich Fröschle u. Volker List, die es ihnen ermöglicht, das gebotene Haase. Stgt. 2001. Geld einzunehmen u. trotzdem Rache zu Literatur: Hans Buchheim: E. N.s Ideologie des Widerstands. In: Vierteljahrsh.e für Zeitgesch. 5 üben. Die Liebhaber müssen sich jeweils nach (1957), S. 334–361. – Otto-Ernst Schüddekopf: Bezahlung vor dem angeblich heimkehrenLinke Leute v. rechts. Stgt. 1960. U. d. T. National- den Ehemann in einem mit kochendem bolschewismus in Dtschld. Ffm. 1972. – Friedrich Wasser gefüllten Zuber verstecken u. werden Kabermann: Widerstand u. Entscheidung eines dt. tödlich verbrüht. Ein angetrunkener Student Revolutionärs. Köln 1973. Koblenz 1993. – Louis schleppt die drei Leichen in den Rhein, Dupeux: National Bolchewisme. 2 Bde., Paris schließlich auch noch einen vierten, diesmal 2 1979. Dt. Mchn. 1985. – Uwe Sauermann: E. N. lebendigen u. unbeteiligten Mönch – gemäß Zwischen allen Fronten. Mchn. 1980 (mit Bio-Bider »Moral« des Autors, dass eben oft ein bliogr. v. Armin Mohler). – Ders.: E. N. u. der reUnschuldiger für den Schuldigen büßen volutionäre Nationalismus. Mchn. 1985. – Birgit Rätsch-Langejürgen: Das Prinzip Widerstand. Le- müsse. Die Annahme, ein vielleicht weltgeistl. ben u. Wirken v. E. N. Bonn 1997. – Ernst J. Nagel: Eth. Prinzipien in politicis? Martin Buber u. E. N. Verfasser ziehe satirisch gegen den Kolmarer In: Adel – Geistlichkeit – Militär. Hg. Michael Ordensklerus zu Felde, wird schon durch die Busch u. Jörg Hillmann. Bochum 1999, S. 159–175. weltweite Beliebtheit des Stoffs relativiert; – Sylvia Taschka: Das Rußlandbild v. E. N. Erlan- mit der mhd. Erzählung nah verwandt ist z.B. gen 1999. – Dies.: Unvereinbarkeit der Ideologien: das altfrz. Fabliau Estormi des Hugues PiauE. N.s Kampf gegen Adolf Hitler. In: Dt. Autoren cele. des Ostens als Gegner u. Opfer des NS. Hg. FrankLothar Kroll. Bln. 2000, S. 501–518. – Michael Pittwald: E. N. – völk. Sozialismus, nat. Revolution, dt. Endimperium. Köln 2002. – B. RätschLangejürgen: E. N. u. der Widerstands-Kreis. In: Völk. Bewegung, konservative Revolution, NS. Hg. Walter Schmitz u. a. Dresden 2005, S. 151–165. – Michaela Karl: E. N. (1889–1967). Vom Zentralratsvorsitzenden zum Nationalbolschewisten. In:
Ausgaben: Heinrich Niewöhner: Neues Gesamtabenteuer. 2. Aufl. hg. v. Werner Simon. Dublin/Zürich 1967, S. 127–132. – Hanns Fischer: Schwankerzählungen des dt. MAs. Mchn. 1967, S. 243–250 (nhd. Übers.). – Klaus Grubmüller (Hg.): Novellistik des MAs. Märendichung. Ffm. 1996, S. 874–897 (mit nhd. Übers.). Literatur: Volker Schupp: Die Mönche v. Kolmar. In: FS Friedrich Maurer. Düsseld. 1968, S. 199–222. – Hanns Fischer: Studien zur dt. Mä-
Niemann
589 rendichtung. Tüb. 21983, S. 198 f., 379 f. (Lit.). – Hans-Friedrich Rosenfeld: N. In: VL. – Grubmüller 1996 (s. o.), S. 1300–1307 (Überlieferung, Bibliogr., Komm.). – Victor Millet: Märe mit Moral? Zum Verhältnis v. weltl. Sinnangebot u. geistl. Moralisierung in drei mhd. Kurzerzählungen. In: Geistliches in weltl. u. Weltliches in geistl. Lit. des MA. Hg. Christoph Huber, Burghart Wachinger u. Hans-Joachim Ziegeler. Tüb. 2000, S. 273–290. – Klaus Grubmüller: Die Ordnung, der Witz u. das Chaos. Eine Gesch. der europ. Novellistik im MA: Fabliau – Märe – Novelle. Tüb. 2006, S. 220 f.
Weitere Werke: Von der Industrie, ihren Hindernissen u. Beförderungsmitteln. Altona 1784. – Grundsäze der Statswirthschaft. Altona/Lpz. 1790. – Über die Grundsätze der Armenpflege. Kiel 1794. – Abris der Statistik u. der Statenkunde [...]. Altona 1807. – Allg. Forststatistik der Dän. Staaten. Altona 1810. – Die holstein. Milchwirthschaft. Altona 2 1823. – Herausgeber: Akadem. Liederbuch. Altona/ Lpz. 1782 ff. – Schleswig-Holsteinische Provinzialber.e. 1. Jg., Altona 1787. – Gesellschaftl. Liederbuch. Altona/Lpz. 1795. – Kieler Bl. (später: Kieler Beiträge). Kiel 1815–19.
Ulla Williams / Corinna Laude
Literatur: Friedrich Hoffmann: Der Weg in die ›bessre Zukunft‹ u. A. C. H. N. als Wegbereiter. In: Nordelbingen 19 (1950), S. 63–79. – Klaus Thiede: A. C. H. N. In: BLSHL. – Bärbel Pusback: Kameralwiss. u. liberale Reformbestrebungen. Die Professoren Johann Christian Fabricius u. A. C. H. N. In: Ztschr. der Gesellsch. für Schleswig-Holstein. Gesch. 101 (1976), S. 259–283. – Kurt Feilcke: Der Kieler Prof. A. N. (1761–1832) u. seine Familie. In: Archiv für Sippenforsch. [...] 45/46, H. 76/77 (1980), S. 283–292. – Walter Hase: Rund um die kgl. dän. Forstlehranstalt zu Kiel u. Prof. Dr. phil. A. N. In. Die Heimat 101 (1994), S. 143–154. Erika Bosl / Red.
Niemann, August (Christian Heinrich), * 30.1.1761 Altona, † 21.5.1832 Kiel. – Kameralist u. Forstwissenschaftler.
Der Juristensohn besuchte das Akademische Gymnasium seiner Vaterstadt. 1780/81 studierte er Philosophie u. Rechtswissenschaften in Jena, 1781/82 in Kiel, ab 1782 v. a. Staatenkunde u. Kameralwissenschaften in Göttingen, wo ihn August Ludwig von Schlözer beeinflusste. 1784 kehrte N. nach Kiel zurück u. habilitierte sich dort 1785 an der Philosophischen Fakultät. 1787–1789 war er Kanz- Niemann, Norbert, * 20.5.1961 Landau an der Isar. – Prosa-Autor, Publizist. leiarchivar. 1787 erfolgte seine Ernennung zum a. o., 1794 zum o. Prof. der Kameral- N. studierte von 1982 bis 1989 Neuere deutwissenschaften in Kiel. sche Literatur, Musikwissenschaft u. Neuere N. war Pragmatiker. Das Ziel der Kame- Geschichte in Regensburg u. München u. ralwissenschaften sei, zur »Erhöhung des schloss dieses Studium mit einer Arbeit über gesellschaftlichen Lebensgenusses oder phy- Herbert Marcuse, Peter Schneider, Botho sischen Gesellschaftswohls, als Vorbereitung Strauß u. Rolf Dieter Brinkmann ab. Seit des sittlichen« beizutragen, führte er im Abris 1998 lebt er als freier Schriftsteller in Chiedes sogenannten Kameralstudiums [...] (Altona, ming am Chiemsee. Kiel 1792) aus. Ein Schwerpunkt seiner For1999 gründete N. zus. mit Heiner Link das schung war die Statistik, die er zur Landes- »Forum der 13« als Internetplattform für forschung machte. Als Mitbeförderer der Gegenwartsautoren. Sein bisheriges Werk ist Landeskunde seiner Heimat Holstein wollte durchdrungen von einem tiefen u. pessimist. N. v. a. auf »die Angelegenheiten des soge- Misstrauen gegenüber den Medien. 1997 nannten geringen Mannes« aufmerksam wurde er mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis machen. Mit seiner Einordnung der Staats- für einen Auszug aus seinem Romanerstling wirtschaftslehre blieb er der aristotel. Philo- Wie man’s nimmt (Mchn./Wien 1998) ausgesophietradition verhaftet, während er bei der zeichnet. Dieser Roman handelt von einem inhaltl. Bestimmung der einzelnen Wissen- Kunstrestaurator in seinem niederbayr. schaften Smith’sche Überlegungen über- Kleinstadtidyll, dessen Idealität sich als nahm. Er hat der Wirtschaftswissenschaft, scheinbar u. klischeehaft erweist, als er seine wie sie an den anderen dt. Hochschulen schon Gattin mit einer jungen Frau betrügt. Die lange gelehrt wurde, in Kiel zu großem An- fiktionale Welt bietet keinem ihrer Bewohner sehen verholfen. einen Ausweg aus den Klischees der sekundär
Niemeyer
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vermittelten Lebensentwürfe. In seinem zweiten Roman Schule der Gewalt (Mchn./Wien 2001) inszeniert der Autor erneut die mediale Determination gesellschaftlicher Handlung: Weder der Protagonist, ein Deutsch- u. Geschichtslehrer, der bes. Gefühle für eine Schülerin hegt, noch die Schüler, deren Verhalten schließlich in einem Akt der Gewalt kulminiert, können den Bildern, die von den Massenmedien produziert werden, entkommen: Wo Kommunikation nur noch über Medien u. mit Medien stattfindet, scheitern soziale Beziehungen tragisch am gegenseitigen Unverständnis. Der dritte u. bisher umfangreichste Roman, Willkommen neue Träume (Mchn./Wien 2008), stellt einen erfolgreichen Fernsehjournalisten in das Zentrum der Handlung. Dieser kehrt zurück in die bayr. Provinz seiner Kindheit u. tritt damit einen vermeintl. Ausweg aus seiner künstl. Umwelt an, der den Protagonisten seiner anderen Romane noch verwehrt blieb. Am Zielort seiner Flucht hat aber die kapitalorientierte u. medienkontrollierte Moderne längst Einzug gehalten u. die Idylle schließlich als Illusion entlarvt. Im Gegensatz zu Wie man’s nimmt u. Schule der Gewalt, die von der Presse überaus positiv aufgenommen wurden, war die Resonanz auf den breiteren Gesellschaftsroman Willkommen neue Träume nur mäßig. Weiteres Werk: Inventur. Dt. Lesebuch 1945–2003. Mchn./Wien 2003 (hg. zus. mit Eberhard Rathgeb). Literatur: Thomas Kraft: N. N. In: LGL. Gerrit Lembke
Niemeyer, August Hermann, * 1.9.1754 Halle, † 7.7.1828 Halle. – Evangelischer Theologe u. Pädagoge. N. war mütterlicherseits Urenkel von August Hermann Francke, dem Gründer der Hallischen Waisenhäuser u. der mit ihnen verbundenen Schulen; als Direktor (seit 1799) führte N. sie zu neuer Blüte. Auch um den Erhalt u. den Ausbau der Universität Halle erwarb er sich während unruhiger Besatzungs- u. Kriegszeiten größte Verdienste als ihr Rektor u. Kanzler (seit 1808 u. wiederum seit 1815). Einen Ruf an die neu gegründete
Berliner Universität, verbunden mit der Aufgabe der Reorganisation des preuß. Bildungswesens, lehnte N. jedoch ab; die ihm angetragene Position übernahm Wilhelm von Humboldt. N. hatte seit 1771 in Halle neben Philosophie u. Theologie auch klass. Philologie studiert, die er dort von 1777 bis zur Berufung von Friedrich August Wolf (1783) auch lehrte. Er veranstaltete Textausgaben u. Kommentare zu Homer, Sophokles, Euripides u. Cicero u. schrieb religiöse Dramen, Oratorien u. Hymnen in Klopstock’scher Manier (Gedichte. Lpz. 1778. Religiöse Zeitlieder und vaterländische Gedichte. Halle 1814. Geistliche Lieder, Oratorien und vermischte Gedichte. Halle 1814). Seinen Ruf als Theologe (seit 1784 o. Prof.) begründete N. mit seiner Charakteristick der Bibel (5 Bde., Halle 1775–82), der eine Fülle von praktisch-theolog. Lehr- u. Handbüchern sowie Religions(lehr)- u. Erbauungsbüchern folgten. N.s theolog. Standpunkt ist gekennzeichnet durch den Rationalismus der älteren Aufklärung – vermittelt durch seinen Lehrer Johann Salomo Semler – u. zgl. durch eine stark gefühlsbetonte Christlichkeit. Die Verbindung von christl. Sittlichkeit u. menschl. Selbstvervollkommnung als Weg zur dies- u. jenseitigen Glückseligkeit soll eine vom Neuhumanismus geprägte Pädagogik leisten. N.s Nachruhm begründete sein pädagog. Wirken in Halle, dessen Ertrag er zusammenfasste in den Grundsätzen der Erziehung und des Unterrichts (Halle 1796. Neudr. Paderb. 1970), dem ersten umfassenden systemat. Lehrbuch der Pädagogik in Deutschland. Seine Lebenserfahrungen, die Berichte von seinen ausgedehnten Reisen u. die Erinnerungen an Zeitgenossen überlieferte N. in seinen Beobachtungen auf Reisen in und außer Deutschland (4 Bde., Halle 1820–26). Literatur: Bibliografie in: ›Grundsätze [...]‹. Neudr. a. a. O. – Weitere Titel: Karl Menne: A. H. N. Sein Leben u. Wirken. Halle 1928. – Rudolf W. Keck: N. In: Bautz. Ulrich Herrmann / Red.
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Niemöller, Martin, * 14.1.1892 Lippstadt, † 6.3.1984 Wiesbaden. – Evangelischer Theologe.
Nieritz Verhaftung. Zürich 1939. – Reden. 5 Bde., Ffm. 1958–77. – Briefe aus der Gefangenschaft in Moabit. Ffm. 1975. – M. N. Ein Lesebuch. Hg. Hans Joachim Oeffler. Köln 1987. – Der Fall Niemöller. Ein Briefw. zwischen Georg Elsers Mutter u. dem Kirchenpräsidenten. Hg. Ulrich Renz. Königsbronn 2002.
Der Pfarrerssohn war im Ersten Weltkrieg UBoot-Kommandant, blieb danach kaisertreu, beteiligte sich am Ruhrkampf auf der Seite Literatur: Dietmar Schmidt: M. N. Hbg. 21960. der Freikorps u. studierte – um seine Ablehnung der Weimarer Republik zu bekunden – – Bis an das Ende der Erde. Festg. M. N. Mchn. Theologie, weil er in der Kirche einen festen 1962. – Jürgen Schmidt: M. N. im Kirchenkampf. Hbg. 1971. – FS zum 90. Geburtstag. Köln. 1982. – Halt für den Konservatismus erblickte; seit James Bentley: M. N. Mchn. 1985. – Hannes Kar1931 war er Pfarrer in Berlin-Dahlem. nick u. Wolfgang Richter (Hg.): Protestant. Das Jh. N., der nach eigenem Bekunden »gele- des Pastors M. N. Ffm. 1992. – Martin Greschat: M. gentlich auch die NSDAP gewählt« hatte, N. Repräsentant des dt. Protestantismus im 20. Jh. begrüßte die Machtübernahme der Natio- In: Pastoraltheologie 81 (1992), H. 7, S. 324–338. – nalsozialisten als das »gewaltige Werk der Hubert G. Locke u. Marcia Sachs Littell (Hg.): Revölkischen Einigung und Erhebung«. Er membrance and Recollection. Essays on the Cenlehnte jedoch entschieden den sog. Arierpa- tennialth Year of M. N. and Reinhold Niebuhr, and ragraphen des Beamtengesetzes vom April the 50 Year of the Wannsee Conference. Lanham/ London 1995. – Arie A. Spijkerboer: Een gehoorz1933 ab u. organisierte vom Herbst an den ame rebel. M. N. op de kansel en op het podium. Pfarrernotbund; Hitler selbst veranlasste Kampen 1996. – M. Greschat: ›Er ist ein Feind 1934 seine Entfernung aus dem Pfarramt. Bei dieses Staates!‹ M. N.s Aktivitäten in den AnZustimmung zu wichtigen Teilen der natio- fangsjahren der BR Dtschld. In: ZKG 114 (2003), H. nalsozialist. Außenpolitik (Austritt aus dem 3, S. 333–356. – Matthias Schreiber: M. N. Reinb. Völkerbund u. aus der Abrüstungskonferenz) 1997. 22008. – Hermann Düringer u. Martin Stöhr widersprach N. dem Neuheidentum der (Hg.): M. N. im Kalten Krieg. Ffm. 2001. – M. NSDAP. Er wurde 1935 erstmals inhaftiert u. Stöhr: Christl. Gewissen im Widerstand. Das Bei1937 als Privatgefangener Hitlers in die spiel v. M. N. u. Dietrich Bonhoeffer. In: Studienkreis Dt. Widerstand 1933–45 (Hg.): Widerstand Konzentrationslager Sachsenhausen u. Dachgegen den NS. Ffm. 2007, S. 109–127. au gebracht. Als führendes Mitgl. der BeMichael Behnen / Red. kennenden Kirche gestand N. später auch deren Versäumnisse im sog. Stuttgarter Nieritz, (Karl) Gustav, * 2.7.1795 Dresden, Schuldbekenntnis ein u. beteiligte sich seit † 16.2.1876 Dresden. – Volks- u. Jugend1947 als Kirchenpräsident in Hessen u. Nasschriftsteller. sau u. 1945–1955 als Mitgl. des Rates der EKD am Neuaufbau des evang. Kirchenwe- Sohn eines Elementarlehrers, wurde N. selbst sens. Darüber hinaus war N. im Nachkriegs- Lehrer, 1828 Nachfolger seines Vaters u. war deutschland als polit. Leitfigur bekannt u. 1841–1854 Direktor der Bezirksschule Dresumstritten: Zunächst aufgrund seiner polem. den. Seinem ersten schriftstellerischen VerAngriffe gegen die Wiederbewaffnung in den such, dem Pommeranzenbäumchen (1830 in der 1950er Jahren, in den 1960ern wegen seiner Dresdner Zeitschrift »Merkur«), folgten 117 Beteiligung als Präsident der Deutschen Bände Jugendschriften, die ihn – neben Friedensgesellschaft an der Kampagne gegen Christoph von Schmid u. Christian Gottlob den »Atomtod«, in den 1970ern wegen seines Barth – zum erfolgreichsten Volks- u. JuEngagements gegen die Berufsverbote u. in gendschriftsteller des 19. Jh. machten u. die den 1980er Jahren schließlich wegen seines im Rahmen seiner Jugend-Bibliothek immer wieder aufgelegt wurden. Ob in histor. ErEintretens für die Friedensbewegung. Weitere Werke: Vom U-Boot zur Kanzel. Bln. zählungen oder in Stoffen aus der Gegenwart, 1934. – ... daß wir an ihm bleiben! 16 Dahlemer stets sind seine Werke Fluchtliteratur – auch Predigten. Bln. 1935. – Dennoch getrost. Die letz- für ihn selbst aus der Misere des Alltags u. der ten 28 Predigten des Pfarrers M. N. vor seiner Armut, u. stets spiegelt er – wie seine Kolle-
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gen – »seinen Lesern eine nicht vorhandene, unter Gottes Lenkung wohl funktionierende Welt vor« (Schenda, S. 172). Seine Selbstbiographie (Lpz. 1872) zeigt ihn unsicher, sein soziales Engagement beschränkt sich auf Mitleid. Weitere Werke: Der blinde Knabe. Bln. 1937. – Der junge Trommelschläger u. der gute Sohn. Bln. 1838. – Die Negersklaven u. der Deutsche. Bln. 1841. – Das wüste Schloß [...]. Bln. 1844. – Der Bettelvetter oder: die drei Bleikugeln. Bln. 1845. – Georg Neumark u. die Gamba [...]. Bln. 1845. – Die Hussiten vor Naumburg. Lpz. 1853. – Edelmann u. Bauersmann. Lpz. 1854. – Die Türken vor Wien. Lpz. 1855. – Potemkin, oder: Herr u. Leibeigener. Lpz. 1858. – Dtschld.s Erniedrigung u. Erhebung. Lpz. 1863. – Zwei Könige u. drei Bitten. Oder: Die gute alte Zeit. Lpz. 1863. – Wie ich zum Schriftstellern kam. In: Centralblatt für dt. Volks- u. Jugendlit. 1 (1857), S. 36–52. – Ausgew. Volkserzählungen. Mit einer Einl. hg. v. Adolf Stern. Lpz. 1906. – Herausgeber: Dt. Volkskalender (teilweise u. d. T. ›Sächs. Volkskalender‹ u. ›Dt. Volksbüchlein für Jung u. Alt‹; 1845–50 auch u. d. T. ›Preuß. Volkskalender‹). Jg. 1–9, Lpz. 1842–50. N. F. Jg. 1–27, 1851–77. Literatur: Ewald Seifert: G. N. u. das philanthropine Schrifttum. Diss. Wien 1945. – Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Ffm. 1970, S. 170 ff. u. ö. – Hermann Bertlein: N. In: LKJL 2. – Sebastian Schmideler: Dokumente zur Schaffensweise u. zur Rezeption des Jugendschriftstellers G. N. aus dem Nachl. In: Kinder- u. Jugendliteraturforsch. (2005/ 06), S. 15–36. – Klaus Füller: Erfolgreiche Kinderbuchautoren des Biedermeier. Ffm. u. a. 2006. Walter Pape / Red.
Niese, Charlotte, auch: Lucian Bürger, * 7.6.1854 Burg/Fehmarn, † 8.12.1935 Altona. – Erzählerin u. Romanschriftstellerin. Die Tochter des späteren Direktors des Eckernförde-Seminars war Lehrerin u. lebte seit 1881 als freie Schriftstellerin in Plön, seit 1888 in Ottensen. Ihre in bürgerl. Kreisen beliebten histor. Romane, Volks- u. Jugenderzählungen spielen in der heimatl. Landschaft um Hamburg u. im Holsteinischen, wie etwa Cajus Rungholt. Roman aus dem 17. Jahrhundert (Breslau 1886), Phillip Reiff’s Schicksale. Erzählung aus dem 16. Jahrhundert (Hbg. 1886), Aus dänischer Zeit. Bilder und
Skizzen (2 Bde., Lpz. 1892–94). Sie blieb bis in die 1920er Jahre eine produktive u. beliebte Autorin. Friedrich Castelle gab ihre Gesammelten Romane und Erzählungen (8 Bde., Lpz. 1922) heraus. Weiteres Werk: Von Gestern u. Vorgestern. Lebenserinnerungen. Lpz. 1924. Literatur: Margarete Dierks: N. In: LKJL. Eda Sagarra
Niethammer, Friedrich Immanuel, * 6.3. 1766 Beilstein bei Heilbronn, † 1.4.1848 München. – Philosoph, Theologe, Schulreformer. Seine theologischen u. philosoph. Studien am Tübinger Stift u. an der Tübinger Universität (1784–1789) setzte N. seit 1790 in Jena fort, wo er sich publizistisch als Anhänger der Philosophie Kants u. Fichtes profilierte. 1793 wurde er Professor an der philosophischen, 1795 an der evang.-theolog. Fakultät in Jena. Von seiner Fähigkeit, die Philosophie Kants u. des Idealismus allgemeinverständlich darzustellen, profitierte auch Goethe 1795 in Jena durch regelmäßige private Kolloquien. N. stand außerdem in engem Kontakt zu Fichte, Schiller, Schelling, Karl Leonhard Reinhold u. Wilhelm von Humboldt, deren Beiträge sich in seinem gemeinsam mit Fichte herausgegebenen »Philosophischen Journal einer Gesellschaft deutscher Gelehrten« (Jena 1795–98) finden. Hier veröffentlichten Fichte u. Friedrich Forberg 1797 einige Aufsätze, die den sog. Atheismusstreit entfachten, welcher schließlich zur Entlassung Fichtes als Jenaer Professor führte. Zur Reform der evang.-luth. Landeskirche berief Maximilian Joseph Montgelas N. 1804 in bayer. Dienste: zunächst als Konsistorialrat u. Professor der Theologie an die für beide Konfessionen bestimmte Theologische Sektion der Universität Würzburg; 1805 wurde er protestant. Oberschulkommissär für Franken, 1807 Zentralschulrat der protestant. Konfession in München, 1808 Oberkirchenrat, 1818 Oberkonsistorialrat. In N.s Amtszeit fällt die Berufung Hegels als Gymnasialdirektor nach Nürnberg. 1808 mit der Reorganisation der höheren Schulen in Bayern beauftragt, führte N. im
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Sinne des Humboldt’schen Neuhumanismus die Trennung der Realanstalten u. der humanist. Gymnasien herbei, die allerdings mit der Revision der Montgelas’schen Staatsreformen bereits 1816 wieder aufgehoben wurde. N.s programmat. Schrift Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit (Jena 1808. Neudr. Weinheim 1968) ist ein wichtiger Text innerhalb der zeitgenöss. Debatte zwischen dem Utilitarismus der dt. Spätaufklärung u. der neuhumanist. Bildungsphilosophie u. wurde darüber hinaus das klass. Dokument für die Widersprüchlichkeit der modernen Bildungstheorie, die sich in der Antinomie von bürgerl. Brauchbarkeit u. allg. menschl. Bildung manifestiert. Literatur: Michael Schwarzmaier: F. I. N., ein bayer. Schulreformator. Mchn. 1937. Neudr. Aalen 1974. – Ernst Hojer: Die Bildungslehre F. I. N.s. Ffm. 1965. – Gerhard Lindner: F. I. N. als Christ u. Theologe. Diss. Erlangen 1970. – Günter Henke: Die Anfänge der evang. Kirche in Bayern. Mchn. 1974. – Peter Euler: Pädagogik u. Universalienstreit. Weinheim 1989. – Emil Wolfrum. Die Pädagogik F. I. N.s [...]. Diss. Passau 2005. – Gunther Wenz: F. I. N. Mchn. 2008. – Ders.: Hegels Freund u. Schillers Beistand. F. I. N. Gött. 2008. Ulrich Herrmann / Red.
Nietzsche, Friedrich (Wilhelm), * 15.10. 1844 Röcken bei Lützen/Sachsen, † 25.8. 1900 Weimar; Grabstätte: Röcken. – Philosoph. »Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit«, heißt es in der autohagiografischen Selbstdarstellung Ecce Homo, die N. gegen Ende des Jahres 1888 u. damit in den letzten Wochen seines wachen Lebens niederschrieb. Tatsächlich hat N. überlieferte Welt- u. Daseinsdeutungen zu sprengen versucht. N. war bestens vertraut mit der Tradition, an die er denkend Lunte legte. Seine Herkunft ist bildungsbürgerlich. N. wurde als Sohn eines evang. Pastors geboren. Nach dem frühen Tod ihres Mannes (1849) u. des jüngsten Sohns zog die Mutter Franziska Nietzsche 1850 mit ihren beiden Kindern Friedrich u. Elisabeth zu ihrer Familie nach Naumburg. Dort besuchte N. ab 1850 die
Knaben-Bürgerschule u. von 1855 bis 1858 das Domgymnasium. Im nahe gelegenen Internat Schulpforta erhielt N. dann von 1858 bis zum Abitur im Sept. 1864 eine vorzügliche humanist. u. musische Ausbildung. Sie ermöglichte ihm ein konzentriertes Studium der evang. Theologie u. der klass. Philologie in Bonn (1864/65) u. (nach Aufgabe der Theologie) zus. mit den Freunden Carl von Gersdorff u. Erwin Rohde in Leipzig (1865–1869), namentlich beim bekannten Altphilologen Friedrich Ritschl. In den Febr. 1865 fällt die von N.s Schulfreund Paul Deussen kolportierte Anekdote von N.s Visite in Köln: Ein Dienstmann habe ihn dort, statt wie verlangt, in ein Restaurant, in ein »übel berüchtigtes Haus« geführt. Bis hin zu Thomas Manns Ausgestaltung dieser Szene im Doktor Faustus hält sich hartnäckig die Vermutung, N. habe sich bei dieser Gelegenheit syphilitisch infiziert. Von schweren Krankheitsanfällen (Kopfschmerzen, migränehafte u. rheumat. Beschwerden usw.), aber auch von deutlich euphor. Phasen ist N.s Lebensgeschichte dauerhaft u. schon während seiner Jugendjahre gekennzeichnet. Er, der sich als Apologet der Gesundheit, der Stärke u. des Willens zur Macht vielen Lesern verdächtig machte, war zeitlebens ein kranker u. extrem kurzsichtiger Mann. Während der Leipziger Studienjahre machte N. prägende philosophisch-ästhet. Erfahrungen. Er ließ sich von Schopenhauers Schriften faszinieren, u. er lernte am 8.11.1868 im Haus des Orientalisten Hermann Brockhaus den Künstler kennen, der seinerseits im Bann Schopenhauers steht: Richard Wagner. Ihn, den verehrten Meister, spielte N. gegen »das wimmelnde Philologengezücht unserer Tage« (am 20.11.1868 an Rohde) aus. Zu diesem »Philologengezücht« zählte N. alsbald selbst. Denn schon als 25Jähriger u. noch vor dem Abschluss seiner Dissertation erhielt u. akzeptierte er im Febr. 1869 einen Ruf auf eine a. o. (bereits ab April 1870 ordentl.) Professur für Altphilologie an der Universität Basel. Bis zu seiner krankheitsbedingten Frühpensionierung kam N. zehn Jahre lang als Kollege u. a. Johann Jacob Bachofens u. Jacob Burckhardts mit häufig schlecht besuchten universitären u. gymna-
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sialen Lehrveranstaltungen u. a. über antike Rhetorik, griech. Philosophie (auch der Vorsokratiker), Literaturgeschichte (Hesiod, Homer) u. »Alterthümer des religiösen Cultus der Griechen« seinen akadem. Verpflichtungen nach. Wohnungsnachbar im Haus am Basler Schützengraben 45 wurde schon 1870 der neu berufene Theologieprofessor Franz Overbeck. Zwischen N. u. diesem, seinem angestammten Fach bald entfremdeten Kirchenhistoriker entwickelte sich eine enge Freundschaft u. ein alltägl. Gedankenaustausch, der für die Entwicklung von N.s kritisch-genealogischem Bewusstsein von nicht zu unterschätzender Bedeutung war. Unterbrochen wurde diese neue Alltäglichkeit durch N.s kurze Teilnahme als freiwilliger ziviler Krankenpfleger am Deutsch-Französischen Krieg 1870. Wegen einer Ruhrerkrankung wurde er jedoch nach einer Woche wieder entlassen. Den dt. Siegestaumel begleitete er mit distanzierten Anmerkungen. »Sieh doch zu, daß Du aus dem fatalen kulturwidrigen Preußen herauskommst!«, schrieb er am 23.11.1870 an Rohde. Stattdessen beflügelten ihn die vielen Ausflüge zu Richard Wagner u. der schwärmerisch umworbenen Cosima nach Tribschen (bei Luzern) u. ab April 1872 nach dem ferneren Bayreuth. Der Wagner-Bezug tritt bes. deutlich in N.s Buch-Erstling ans Licht: Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik (Lpz. 1872). Sie polemisiert, wie schon der Untertitel der Neuausgabe 1886, Griechenthum und Pessimismus, zu erkennen gibt, gegen das gängige bildungsbürgerl. Verständnis griech. Kultur. Die Antike, so N., glaubt nicht optimistisch an das Gute, Wahre u. Schöne. Vielmehr liege ihr die tief pessimist. Einsicht zugrunde, die in der Antwort des Weisen Silen auf die Frage nach dem Besten für die Menschen offenbar werde: »Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu sterben.« N. fährt, in scharfer Antithetik kommentierend, fort: »Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, mußte er vor
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sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen.« Den Musengott Apoll charakterisiert N. als den Antipoden des Dionysos: Gegen den Gott des Schrecklichen, des Rausches, der Intensität, der Musik u. der Selbstpreisgabe steht Apoll ein für die Notwendigkeit des schönen Scheins, des Traums, der Individuation, der Sprache u. somit der Verkennung, welche die Menschen, wollen sie überhaupt leben, nicht vermeiden können: »Denn nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt.« Diese tiefe »Duplicität des Apo ll in is ch en und des Di on ys isc h en « entdeckt N. als die Grundstruktur der griech. Tragödie: Dass sie aus dem Geist der dionys. Musik geboren ist, belegt der trag. Chor, zu dem die apollin. Bilderwelt der Dramenhandlung komplementär steht. Aufgelöst wurde dieses so faszinierende wie abgründige Wechselspiel zwischen der schreckl. Einsicht in das Drama von (Da-)Sein u. der »Urbegierde nach dem Schein« durch die aufgeklärte Dramatik des Euripides. Ihn versteht N. als »Dichter des ästhetischen Sokratismus«. Mit Sokrates nämlich habe der »Typus des theoretischen Menschen« die Bühne betreten, der auf kluge Weise dümmer ist als das alte Drama. Denn er falle der tiefsinnigen »Wahnvorstellung« anheim, »daß das Denken, an dem Leitfaden der Kausalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und daß das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu korrigieren imstande sei«. An diesem sokrat. Optimismus gehe die antike Tragödie mitsamt ihrer Weisheit zugrunde. Die Tragödienschrift endet mit einer Apotheose der Musik u. der Werke Wagners zumal. Denn sie verheißen die Wiederkehr der sokratisch verdrängten dionys. Welt- u. Lebenserfahrung. N.s Abhandlung stand quer zu gängigen philolog. u. kulturhistor. Vorstellungen, obwohl weder das Schema apollinisch/dionysisch noch die Herleitung der Tragödie aus dem dionys. Kult u. Mythos bahnbrechend neu waren (vgl. z.B. Jacob Bernays). Die Geburt der Tragödie stieß sofort auf Ablehnung innerhalb der akadem. Zunft. Das Anti-Nietzsche-Traktat Zukunftsphilologie des jungen Altphilologen Ulrich von Wilamowitz-Moel-
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lendorff (auch er besuchte Schulpforta) kulminiert in den Worten: »Eins aber fordere ich: halte hr. N. wort, ergreife er den thyrsos, ziehe er von Indien nach Griechenland, aber steige er herab vom katheder, auf welchem er wissenschaft lehren soll; sammle er tiger und panther zu seinen knieen, aber nicht Deutschlands philologische jugend.« N.s universitärer Ruf war lädiert; auch Rohdes u. d. T. Afterphilologie stehende Replik auf Wilamowitz-Moellendorff konnte daran nichts ändern. Außenseiter sollte N. bleiben. In den fünf gut besuchten öffentl. Basler Vorträgen (1872) über Die Zukunft unserer Bildungsanstalten analysierte er Gymnasium u. Universität wie ein Ethnologe fremde Kulturen. So wird hinter dem Schleier der Bildungsrhetorik schnell offenkundig, dass der »Staat als Leitstern der Bildung« fungiert: Höhere Bildung in Deutschland erscheint als Rekrutierungssystem für Beamte. Weniger originell ist N.s Gegenkonzept: Als Alternative zur massenhaften Bildung u. zum preuß. Beamtenstaat fordert N. eine elitäre, an tiefsinnigen Führern orientierte Bildung, die gegen wiss. Arbeitsteilung, »Journalistik« u. blind gewordene Aufklärung gefeit ist. Denn »die allgemeine Bildung ist nur ein Vorstadium des Communismus«, heißt es in einer Nachlassnotiz. Die hier zutage tretende Ambivalenz von radikaler Analyse u. affektiven (u. produktiven) Vorurteilen kennzeichnet fast alle Schriften N.s. In das Jahr 1872 fällt auch die Entstehung der kleinen, von N. selbst nie veröffentlichten Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn. Sie weist N. als einen Denker aus, der lange vor dem »linguistic turn« Erkenntniskritik als Sprachanalyse begreift. Die Grundthese dieser Abhandlung, die stark von Gustav Gerbers Die Sprache als Kunst (1871) beeinflusst ist, erweist sich als konsequenzenreich: Sprache – das zeigt schon die Vielfalt der Sprachen – kann in keinem verlässl. Verhältnis zum Sein stehen. Weil sie unmöglich »der adäquate Ausdruck aller Realitäten« sein kann, ist »Wahrheit« nur zu bestimmen als ein »bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen. [...] Die Wahrheiten sind Illu-
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sionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind«. Verbindliche Intersubjektivität ist nur möglich, weil Menschen der Verpflichtung nachkommen, »nach einer festen Convention zu lügen, schaarenweise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen«. N. erfuhr u. stilisierte sich zusehends als unzeitgemäßen Denker. Das bezeugt schon der Titel seiner vier Unzeitgemäßen Betrachtungen (Lpz. bzw. Chemnitz 1873–76). Ihr erstes Stück schrieb N. gegen David Friedrich Strauß, der sich von einem radikalen, Jesus u. das NT historisch-kritisch entmythologisierenden Theologen zum Verfechter einer forschrittsgläubigen Bildungs- u. Staatsreligion gewandelt hatte. Den Erfolg von Strauß’ Der alte und der neue Glaube (1872) begreift N.s stilkrit. Polemik unter dem Einfluss Wagners als Symptom der philiströs optimist. Kultur nach dem Krieg von 1870/71. Die Denkmotive u. der Stil von Strauß bezeugen N. zufolge die Gefahr einer »Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des ›deutschen Reiches‹«. Dagegen charakterisiert das dritte Stück Schopenhauer als Erzieher – als Erzieher zu einem ebenso heiteren wie metaphys. Pessimismus. Antithetisch stehen auch das zweite u. das vierte Stück zueinander. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben kritisiert den histor. Schein der Objektivität u. macht auf die fetischist. Momente histor. Bildung aufmerksam. Dabei unterscheidet N. drei Grundformen der Geschichtsschreibung: die monumentalische verehrt die Heroen der Vergangenheit u. vernachlässigt die Frage, warum »Größe« keine Kategorie der aufgeklärten Moderne mehr sein kann; die antiquarische bemüht sich um Exaktheit u. vernachlässigt die Frage, ob u. wie wir heute histor. Zwänge aufbrechen können; die kritische weiß, dass »wir nun einmal die Resultate früherer Geschlechter sind, [daher] auch die Resultate ihrer Verirrungen, Leidenschaften und Irrthümer, ja Verbrechen«, u. schreitet aus diesem Grund zur krit. Vernichtung des Gewesenen fort. Doch sie bleibt gleichfalls der »historischen Krankheit« verhaftet u. scheut sich, den »Gegenmitteln gegen das Historische« zu vertrauen – dem »Überhistorischen« u. »Unhistorischen«, das
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Kultur nicht als »Dekoration des Lebens«, sondern als dessen Stimulans begreift, wie N. es noch 1888 in der Götzen-Dämmerung ausdrückt. Wagners ästhetischer Umgang mit Geschichte ist das Thema der vierten (1876 rechtzeitig zur Eröffnung der ersten Festspiele erschienenen) Betrachtung: Richard Wagner in Bayreuth. Sie feiert Wagner als »Deuter und Verklärer einer Vergangenheit« im Interesse der Jetztzeit, als »Gegensatz eines Polyhistors«, als »Vereinfacher der Welt«. Sie charakterisiert seine Kunst als entscheidenden Beitrag zur Klärung der »wichtigsten Frage aller Philosophie: [...] wie weit die Dinge eine unabänderliche Artung und Gestalt haben: um dann, wenn diese Frage beantwortet ist, mit der rücksichtslosesten Tapferkeit auf die Verbesserung der als veränderlich erkannten Seite der Welt loszugehen«. Jedoch ist hier bereits eine gewisse Distanz zu Wagners Künstlichkeiten, Dilettantismen u. Maßlosigkeiten unverkennbar. Obwohl Richard u. Cosima Wagner sich um N. bemühten, waren auch die persönl. Beziehungen zusehends gereizter geworden. N. war nach einer Phase höchsten Engagements nicht bereit, Wagners Hauptpropagandist zu werden. Seine eigenen Kompositionsversuche nahm Wagner kaum ernst. N. wiederum hatte ab 1872 neue, z.T. bemerkenswert dissidente Inspiratoren u. Freunde gefunden, die ihm die Abhängigkeit von Wagner zu überwinden halfen: den »ästhetischen Ketzer« Karl Hillebrand, den Musikkritiker u. Briefpartner Carl Fuchs sowie die ihn während der häufigen Krankheitsphasen umsorgende Marie Baumgartner. Katalytisch wirkten neben Overbeck u. Burckhardt die Begegnungen mit dem fünf Jahre jüngeren Paul Rée, radikaler Essayist u. später sozial engagierter Arzt, mit Malwida von Meysenbug u. mit dem jungen Komponisten Heinrich Köselitz, dem N. den Künstlernamen Peter Gast verlieh u. der sein verlässlichster Helfer wurde. An diesen Kreis mag N. gedacht haben, als er seinem ab 1876 entstandenen Aphorismenbuch Menschliches, Allzumenschliches den Untertitel Ein Buch für freie Geister gab (Bd. 1,
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Chemnitz 1878. Bd. 2: Vermischte Meinungen und Sprüche, 1879, sowie Der Wanderer und sein Schatten, 1880. 2., überarb. Aufl. beider Bde. 1886). Mit den beiden weiteren Aphorismenbüchern Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurteile (Chemnitz 1881. 2., überarb. Aufl. 1887) u. Die fröhliche Wissenschaft (Chemnitz 1882) teilt dieses Buch Formen u. Leitmotive. Stilistisch sind diese klaren, illusionslosen u. pointiert darstellenden Bücher u. a. Montaigne, Stendhal und den frz. Moralisten verpflichtet. Immer radikal u. niemals im Dienste einer systemat. Ableitung von Sätzen aus vermeintlich sicheren Grundsätzen, stellt N. Modelle der Wahrnehmung von Welt u. Dasein vor, die sich von der abendländ. Tradition u. auch von der eigenen frühen Konzeption der dionysischpessimist. Wahrheit losgesagt haben. N. verwirft jede Form von »metaphysischen Erklärungen«, zumal jene, die Gott als erste u. letzte Instanz behaupten. Denn »Gott ist todt«, seitdem Menschen sich selbst zu vernünftigen Herren des Seins gemacht haben. »Wer uns das Wesen der Welt enthüllte, würde uns Allen die unangenehmste Enttäuschung machen.« Denn die Welt ist wesen- u. bedeutungslos. Schon die Vielzahl der Religionen u. Philosophien zeigt, dass sich über das hinaus, was der Fall ist, offenbar nichts Verbindliches ausmachen lässt. Analysieren lassen sich hingegen die unterschiedl. Weisen, auf die Einsicht zu reagieren, dass es metaphys. Wahrheit nicht gibt. Moralische Empfindungen, religiöses Leben u. Kunst bestimmen die gängigen Formen metaphys. Verhaltens: Sie verdrängen auf unterschiedl. Weise die Einsicht in die Unmöglichkeit von Metaphysik, indem sie Sinnangebote machen. N. begreift sich dabei als Analytiker solcher Sinnangebote. Er stilisiert sich als aufmerksamen Chronisten der modernen Auflösung alter metaphys. Wahrheiten in eine Fülle von Ersatzwahrheiten. Dabei überführt er Philosophie in Sprachkritik, in histor. Kritik u. Psychologie. Insbes. der Psychologe ist nach dem Kollaps vermeintl. Grundsätze u. Fundamente für die wuchernden Sekundärwahrheiten zuständig. So charakterisiert er z.B. die »grosse Unehrlichkeit der Conserva-
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tiven aller Zeiten – es sind die Hinzu-Lügner«, die nach dem Tod Gottes gegen besseres Wissen feste Gründe wie Kirchen, Nationen u. Rassen behaupten. »Lernt aus diesem Narrenbuche, / Wie Vernunft kommt – ›zur Vernunft!‹« Diese Verse hat N. als »Nachspiel« seinem ersten Aphorismenbuch mitgegeben. Tatsächlich hat er in radikaler Überbietung des kantischen Programms Vernunft gegen sich selbst ins Feld geführt. Das Resultat dieser tabulos aufgeklärten Vernunftkritik ist, wie N. selbst weiß, prekär: Grundlosigkeit kann als trag. Bedrohung oder aber als Befreiung erfahren werden. Die zweite Lesart favorisiert N. (der Titel deutet es an) spätestens seit der Fröhlichen Wissenschaft. Sie lässt den »ho mo po et a « (u. das heißt: den seiner selbst, des Sinns u. des Seins vernünftig mächtigen Menschen) feststellen u. fragen: »Ich selber, der ich höchst eigenhändig diese Tragödie der Tragödien gemacht habe, soweit sie fertig ist; ich, der ich den Knoten der Moral erst in’s Dasein hineinknüpfte und so fest zog, dass nur ein Gott ihn lösen kann, – so verlangt es ja Horaz! – ich selber habe jetzt im vierten Act alle Götter umgebracht, – aus Moralität! Was soll nun aus dem fünften werden! Woher noch die tragische Lösung nehmen! – Muss ich anfangen, über eine komische Lösung nachzudenken?« Die Lieder des Prinzen Vogelfrei, der sich von allen Denkverboten gelöst hat, beschließen die Fröhliche Wissenschaft (ab der Ausgabe von 1887). Von letzten Bindungen befreit hatte sich auch N. selbst. Die ersten Aufzeichnungen zu Menschliches, Allzumenschliches entstanden, als er nach den ersten Festspielen im Sommer 1876 aus Bayreuth geflohen war. »Ich sehne mich weg [...]. Mir graut vor jedem dieser langen Kunst-Abende« (am 1.8.1876 an die Schwester). Gescheitert war schon zuvor ein halbherziger Versuch zur ehel. Bindung: Mathilde Trampedach hatte im Frühjahr 1876 N.s Heiratsantrag ausgeschlagen. Befreit hatte sich N. schließlich auch von seinen universitären Pflichten. Krankheitshalber wurde er vom Wintersemester 1876/77 u. dann ab 1879 mit einer großzügigen Pension dauerhaft beurlaubt.
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Den Winter 1876/77 verbrachte N. zus. mit Rée, Albert Brenner u. Malwida von Meysenbug im südital. Sorrent. Dort kam es zur letzten Begegnung mit Wagner, die Anlass zu vielen Spekulationen gab. In der späten Schrift N. contra Wagner (Lpz. 1889, Privatdruck) heißt es dazu: »Schon im Sommer 1876, mitten in der Zeit der ersten Festspiele, nahm ich bei mir von Wagnern Abschied. [...] Es war in der That damals die höchste Zeit, Abschied zu nehmen: alsbald schon bekam ich den Beweis dafür. Richard Wagner, scheinbar der Siegreichste, in Wahrheit ein morsch gewordner verzweifelnder décadent, sank plötzlich, hülflos und zerbrochen, vor dem christlichen Kreuze nieder ...«. N. begreift den Komponisten des Bühnenweihfestspiels Parsifal (wie später Adorno) als übergelaufenen Rebellen. N. selbst aber dachte, lebte u. schrieb (wegen seiner extremen Kurzsichtigkeit besaß er wohl als erster Philosoph eine Schreibmaschine) immer rebellischer. Ab 1878/79 lebte N. nomadisch: im Winter zumeist in Nizza, im Sommer ab 1881 bevorzugt im Oberengadin (Sils-Maria), dazwischen an wechselnden Orten (u. a. bei der Mutter in Naumburg, in Basel, Genf, Berlin, am liebsten aber in Norditalien). Unterbrochen wurde diese peregrierende Einsamkeit im Sommer 1882. Mit Rée besuchte N. Malwida von Meysenbug in Rom u. lernte dort die kluge, junge, schöne u. auf ihre Freiheit bedachte Russin Lou von Salomé (spätere Andreas-Salomé) kennen, in die er sich (wie auch Rée) leidenschaftlich verliebte. N.s u. Rées Heiratsanträge weist Lou jedoch zurück. Nach dieser doppelten Trennung von Lou Salomé u. Rée begann N. mit der Arbeit an seinem Buch für Alle und Keinen – so der Untertitel von Also sprach Zarathustra (2 Bde., Chemnitz 1883. Bd. 3, Chemnitz 1884. Bd. 4, Lpz. 1885, Privatdruck). Also sprach Zarathustra kreist wie N.s Nachlassaufzeichnungen aus den 1880er Jahren, die seine Briefe u. Notizen fälschende Schwester 1901 u. d. T. Der Wille zur Macht (Lpz.) herausgab, um befremdl. Überlegungen. Die »Grundconception«, so schreibt N. selbst in Ecce Homo (postum Lpz. 1908), ist »der ewige-Wiederkunfts-Gedanke, die höchste Formel der Bejahung«. Eine mögl.
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Lesart dieses Gedankens ist, dass diese Welt, dieses Dasein u. die Ereignisse, die es ausmachen, ohne Alternative, ohne Aussicht auf Erlösung, ohne einen anderen metaphys. Schauplatz sind, an dem ihr Sinn bestimmt würde. N.s Denkfigur ist militant antiplatonisch. Denn sie verwirft alle Formen von Zweiweltenlehren, die an Oppositionen wie Idee u. Empirie, Gott u. Welt, wahre Welt u. Welt der bloßen Erscheinung festgemacht sind. Ewige Wiederkehr des Gleichen heißt: Was geschieht, geschieht u. geschieht so, als ob es ewig wieder geschehen würde. Die ewige Wiederkehr: Das ist eine von N.s paradoxen Formeln für ein radikales Denken der Zeitlichkeit u. der Immanenz von Welt. Dieser Gedanke von Zarathustras narrativdialogischer Philosophie erlaubt eine doppelte Brechung: Er ist (erste u. negative Perspektive) nihilistisch – außer dieser Welt u. ihren Ereignissen ist nichts (zumal kein Gott bzw. kein zentraler oder transzendentaler Sinn). Weil diese Welt transzendenzlos diese Welt u. nicht etwa der bloße Schauplatz eines anderen, eigentl. Seins ist, gibt es (so die zweite, positive Perspektive) die Möglichkeit ihrer tiefen Bejahung. N.s Formel dafür lautet: amor fati u. dionysisches Ja-Sagen zur alternativelosen Welt. Dieses Ja-Sagen kennzeichnet den Übermenschen. Er hält den schrecklich schönen Gedanken der ewigen Wiederkehr des Immergleichen aus. Anders als der letzte Mensch, der nach dem Tod Gottes ständig auf der Suche nach Ersatzgöttern ist, weiß der Übermensch, dass das Immergleiche der Wille zur Macht ist. Weil es metaphys. Wahrheit nicht gibt, hat der Wille zur Macht das letzte Wort. Skandalträchtig sind diese Überlegungen, weil sie keine Möglichkeit mehr lassen, Handeln normativ zu begründen. Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (Lpz. 1886) u. Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (Lpz. 1887) sind sich dessen vollauf bewusst: Moral ist bloßer Effekt von Einschreibungen, Strafandrohungen u. Sanktionen, die im Interesse eines Willens zur Macht ergehen – nicht aber Folge ausweisbarer oder gar theologisch oder argumentativ offenbarer Leitideen. In seinen letzten Schriften u. Notizen radikalisiert N.
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diese Überlegungen in buchstäblich unerhörter Weise. Er verflucht das Christentum (Der Antichrist. Entstanden 1888. Lpz. 1895), weil es mit seiner Fixierung auf Erlösungsvorstellungen das Leben u. Erleben verstellt u. die Werte der Lebensverneinung verbreitet. Er verwirft noch einmal Wagners Kunst (Der Fall Wagner. Lpz. 1888), weil sie – anders als Bizets Oper Carmen – überwundene religiöse Erlösungshoffnungen ästhetisch wendet u. als Symptom der allg. décadence erscheint. Er zertrümmert in der als »vollkommene Gesammt-Einführung« (Brief an Carl Fuchs, 9.9.1888) in sein Denken gedachten Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt (Lpz. 1889) noch einmal alle Denkmodelle u. -kategorien, die an die Stelle des getöteten Gottes Götzen wie Vernunft, Ziel der Geschichte, Fortschritt oder dergleichen gesetzt haben. N. wendet sich in seinen Spätschriften dem Projekt einer »Umwerthung aller Werthe« zu – namentlich im Antichrist, den er schließlich für die vollendete »Umwerthung« hält. Die Umwertung aller Werte hält er für die dringliche weltpolit. Aufgabe, ohne doch in alte Schemata einer präskriptiven u. heteronomen Moral zurückfallen zu wollen. Die Werke des Jahres 1888 zeigen eine Distanzierung von einer Philosophie, die sich überhaupt auf Lehren (wie z.B. Übermensch, Ewige Wiederkunft, Wille zur Macht) festlegen lässt u. erproben eine neue Form von Skepsis: »Die Stärke, die Fre ih eit aus der Kraft und Überkraft des Geistes b ew eis t sich durch Skepsis. [...] Überzeugungen sind Gefängnisse. [...] Ein Geist, der Grosses will, der auch die Mittel dazu will, ist mit Nothwendigkeit Skeptiker. [...] Die Überzeugung als Mit t el : Vieles erreicht man nur mittelst einer Überzeugung. Die grosse Leidenschaft braucht, verbraucht Überzeugungen«. Als die Götzen-Dämmerung erscheint, ist N. bereits in die psychiatr. Klinik von Jena eingewiesen. In den Tagen um den Jahreswechsel 1888/89 hatte er seine sog. Wahnsinnszettel aus Turin verschickt. An den König von Italien schrieb er: »Ich komme Dienstag nach Rom und will dich neben seiner Heiligkeit dem Papst sehn. Der Gekreuzigte.« Und an Jacob Burckhardt: »Lieber Herr Professor,
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zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben.«. Nach einjährigem Aufenthalt in der Psychiatrie von Jena holte N.s Mutter den kaum mehr ansprechbaren Sohn (offizielle Diagnose: progressive Paralyse) in ihr Naumburger Haus. Nach ihrem Tod 1897 nahm N.s Schwester den Bruder zu sich nach Weimar, wo sie das N.-Archiv gründete, das N. zum Nationalkonservativen, ja zum Präfaschisten stilisieren sollte. Das ist, wie Thomas Mann 1948 repräsentativ feststellte, N. gewiss nicht gewesen. Wohl aber war er der militante Kritiker der sog. abendländ. Vernunft. Als N. starb, war er weltberühmt. Zu diesem Ruhm hat das überwältigende Interesse der Dichter um 1900 entscheidend beigetragen. Thomas u. Heinrich Mann, Rilke, Hofmannsthal, Trakl, George, Kafka, Musil, Hesse, Benn (um nur sie zu nennen) standen zeitlebens im Banne des Denkens, das die nihilist. Grunderfahrung der Moderne schneidend scharf analysiert hat. Ob diese Erfahrung tragisch sein muss oder auch zum Ausgangspunkt einer fröhl. Wissenschaft werden kann – das könnte die »Grundfrage der Philosophie« u. nicht nur der Philosophie, sondern aller Formen der Daseinsdeutung sein. Ausgaben: Gesamtausg. 20 Bde. mit Register. Lpz. 1895–1905 (sog. ›Großoktav‹-Ausg.). – Werke in 23 Bdn. Hg. Richard Oehler u. a. Mchn. 1920–29 (sog. ›Musarion‹-Ausg.). – Werke in drei Bdn. (plus Registerbd.). Hg. Karl Schlechta. Mchn. 1960. – Krit. Gesamtausg. Hg. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bln./New York 1967 ff. (auch als Studienausg. 1980 u. ö., 1995 auf CD-ROM). – Briefw. Krit. Gesamtausg. Hg. dies. Bln./New York 1975 ff. (auch Sämtl. Briefe. Krit. Studienausg. Hg. dies. Bln./New York 1975–84). Literatur: Bibliografien: Weimarer N.-Bibliogr. Hg. v. der Stiftung Weimarer Klassik, Herzogin Anna Amalia Bibl. 5 Bde., Stgt./Weimar 2000–02, danach fortlaufend unter: http://ora-web.swkk.de/ swk-db/niebiblio/index.html. – Biografien: Curt Peter Janz: F. N. Biogr. 3 Bde., Mchn./Wien 1979. – F. N. Chronik in Bildern u. Texten. Zusammengestellt v. Raymond J. Benders u. Stephan Oettermann. Mchn./Wien 2000. – Hilfsmittel, Handbücher: Henning Ottmann (Hg.): N.-Hdb. Leben – Werk –
Nietzsche Wirkung. Stgt./Weimar 2000. – William H. Schaberg: N.s Werke. Eine Publikationsgesch. u. komm. Bibliogr. Basel 2002. – Giuliano Campioni u. a. (Hg.): N.s persönl. Bibl. Bln./New York 2003. – N.Wörterbuch. Hg. v. der N. Research Group. Bde. 1 ff., Bln./New York 2004 ff. – Keith Ansell Pearson (Hg.): A Companion to N. Oxford 2006. – Gesamtdarstellungen: Martin Heidegger: N. 2 Bde., Pfullingen 1961. – Karl Jaspers: N. Mchn. 1963. – Wolfgang Müller-Lauter: N. Seine Philosophie der Gegensätze u. die Gegensätze seiner Philosophie. Bln./New York 1971. – Gilles Deleuze: N. u. die Philosophie. Mchn. 1976. – Walter Kaufmann: N. Princeton 1974. Dt. Darmst. 1982. – Maudemarie Clark: N. on Truth and Philosophy. Cambridge 1990. – Volker Gerhardt: Vom Willen zur Macht. Anthropologie u. Metaphysik der Macht am exemplar. Fall F. N. Bln./New York 1996. – Günter Abel: N. Die Dynamik der Willen zur Macht u. die ewige Wiederkehr. Bln./New York 21998. – H. Ottmann: Philosophie u. Politik bei N. Bln./New York 21999. – Edith Düsing: N.s Denkweg. Theologie – Darwinismus – Nihilismus. Mchn. 2006. 2 2007. – Wichtige Monografien zu Einzelthemen: Alexander Nehamas: N. Life as Literature. Cambridge/ Mass. 1985. – Pia Daniela Volz: N. im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinisch-biogr. Untersuchung. Würzb. 1990. – Barbara v. Reibnitz: Ein Komm. zu F. N., ›Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‹ (Kap. 1–12). Stgt./Weimar 1992. – Theo Meyer: N. u. die Kunst. Tüb. 1993. – Andrea Orsucci: Orient – Okzident. N.s Versuch einer Loslösung vom europ. Weltbild. Bln./New York 1996. – Marco Brusotti: Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie u. ästhet. Lebensgestaltung v. ›Morgenröthe‹ bis ›Also sprach Zarathustra‹. Bln./New York 1997. – Andreas Urs Sommer: Der Geist der Historie u. das Ende des Christentums. Zur ›Waffengenossenschaft‹ v. F. N. u. Franz Overbeck. Bln. 1997. – Stanley Rosen: The Mask of Enlightenment. N.’s ›Zarathustra‹. Cambridge u. a. 2000. – Claus Zittel: Das ästhet. Kalkül v. F. N.s ›Also sprach Zarathustra‹. Würzb. 2000. – A. U. Sommer: F. N., ›Der Antichrist‹. Ein philosophisch-histor. Komm. Basel 2000. – Christian Benne: N. u. die historisch-krit. Philologie. Bln./ New York 2005. – Enrico Müller: Die Griechen im Denken N.s. Bln./New York 2005. – Rezeptionsgeschichte: Steven E. Aschheim: N. u. die Deutschen. Karriere eines Kults. Stgt./Weimar 1996. – Richard Frank Krummel: N. u. der dt. Geist. Ausbreitung u. Wirkung des N.schen Werkes im dt. Sprachraum bis zum Todesjahr. Ein Schrifttumsverz. der Jahre 1867–1945. 4 Bde., Bln./New York 1998–2007. – Alfons Reckermann: Lesarten der Philosophie N.s. Ihre Rezeption u. Diskussion in Frankreich, Italien
Nigg u. der angelsächs. Welt 1960–2000. Bln./New York 2003. Jochen Hörisch / Andreas Urs Sommer
Nigg, Walter, * 6.1.1903 Gersau/Kanton Schwyz, † 17.3.1988 Dänikon/Kt. Zürich. – Pfarrer, Kirchenhistoriker, Essayist. Nach dem Studium der protestant. Theologie in Zürich war N. Pfarrer in verschiedenen kleinen Gemeinden, zuletzt in Dänikon, unterrichtete jedoch seit 1931 als Lehrbeauftragter bzw. seit 1940 als Titularprofessor gleichzeitig auch Kirchengeschichte an der Universität Zürich. Nach fachwiss. Publikationen gelang es ihm 1942 mit dem Band Religiöse Denker. Kierkegaard, Dostojewski, Nietzsche, Van Gogh (Bern. U. d. T. Prophetische Denker. Zürich 1957) erstmals, über den engeren theolog. Kreis hinaus ein größeres Publikum anzusprechen, dem er in der Folge mittels brillant geschriebener, von ökumen. Geist geprägter Bücher nach u. nach das ganze Spektrum christl. Existenzmöglichkeiten vor Augen führte: Große Heilige (1946. Zuletzt 2006), Das Buch der Ketzer (1949. Zuletzt 1986), Heimliche Weisheit. Mystisches Leben in der evangelischen Christenheit (1959. Zuletzt 1992), Botschafter des Glaubens. Der Evangelisten Leben und Wort (1968), Heilige ohne Heiligenschein (1978), Heilige und Dichter (1982. 1991. Alle Zürich). Literatur: Eduard Stäuble: W. N. oder Die Heimkehr des Ketzers. In: Gedenkschr. zur Verleihung des Mozart-Preises 1980 an W. N. Salzb. 1980, S. 11–26. – Uwe Wolff: W. N. u. sein Weg zur Hagiographie. Diss. Fribourg 2007. – Ders: ›Das Geheimnis ist mein‹. W. N. – eine spirituelle Biogr. u. theolog. Werkmonogr. Zürich 2009. Charles Linsmayer / Red.
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sion u. der Erschließung des hebr. Bibeltextes. Belegt sind Predigttätigkeiten in Regensburg (1474), Bamberg u. Nürnberg. 1481 berief ihn Matthias Corvinus zum Rektor des Studium generale in Buda. N.s Hauptwerke, der Tractatus contra perfidos Iudaeos (Esslingen 1475) u. dessen erweiterte dt. Fassung Der Stern Meschiah (Esslingen 1477), sollen den Juden aus dem hebr. Bibeltext die Messianität Christi beweisen. Sie zeigen, wie eng judenfeindl. Propaganda u. insbes. von Franziskanern u. Dominikanern initiierte Judenmission zusammenhängen. Bes. im Stern Meschiah gehen polemisch-judenfeindl. u. judenmissionarische Äußerungen merkwürdig durcheinander: So behauptet N., die Juden litten verdient wegen ihres Wucherbetrugs u. ihrer Mordtaten; andererseits fordert er, dass getaufte Juden einen Teil ihres Besitzes als Almosen zum Schutz gegen Verarmung behalten dürfen. Geistesgeschichtlich steht N. zwischen Dunkelmännern u. Humanisten: Mit Pfefferkorn teilt er das Misstrauen gegenüber humanist. Studien u. den fanatischen religiösen Eifer, mit Reuchlin die profunde Kenntnis der hebräischen Sprache. Dennoch nennt Reuchlin im Augenspiegel N. u. Pfefferkorn zusammen: »Sie habent ain anfechtung zu Gott, doch nit nach der wissenhait.« Weitere Werke: Clipeus Thomistarum sive questiones super arte veteri Aristotelis. Venedig 1481. 1504. Nachdr. der Ausg. 1481: Ffm. 1967. Literatur: Heinrich Reusch: Peter Schwarz. In: ADB. – Hans-Martin Kirn: Das Bild vom Juden im Dtschld. des frühen 16. Jh. Tüb. 1989, passim. – Benedikt K. Vollmann: N. In: VL (Lit.). – Ders.: N. In: NDB. Astrid Seele / Red.
Nigri, Petrus, eigentl.: P. Schwarz, Nigrinus, Georg, eigentl.: G. Schwartz, Schwartz, * um 1435 Kaaden/Eger, † um * 13.9.1530 Battenberg, † 10.10.1602 1483 Buda. – Dominikanerprediger. Echzell. – Evangelischer Kontroverstheologe. N. wurde früh Dominikaner, studierte in Leipzig (1457), Bologna (1458), Montpellier u. Salamanca (Erwerb von Hebräischkenntnissen), war in Freiburg i. Br. (1471) u. Ingolstadt (1473; Lic. theol.) immatrikuliert. Ab 1474 widmete sich N., der sich zuvor, auch in mehreren Schriften, v. a. mit der aristotel. Philosophie beschäftigt hatte, der Judenmis-
N., aus ärml. Verhältnissen stammend, besuchte u. a. 1549 die Schule in Joachimsthal (dort Bekanntschaft mit Mathesius u. dem zufällig anwesenden Melanchthon), wurde 1550 Lehrer in Buchau/Schlesien, 1553 nach mehrfach fehlgeschlagener Stellensuche an der Poetenschule in München. 1555 durch die
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Weitere Werke: Von rechter ordentl. Wahl, u. Gegnerschaft der Jesuiten zum Weggang genötigt, wandte er sich, von Melanchthon dem Beruff der evang. Prediger [...]. Ursel 1573. – empfohlen, nach Hessen. Nach kurzem Stu- Stratologia et velitatio: Das ist: Musterung des dium in Marburg u. a. bei Andreas Hyperius Vortrabs Caspar Francken, u. Scharmützel mit demselbigen. Oberursel 1574. – Von der rechten wurde er 1556 Pfarrer in Homburg, 1564 in alten cath. Kirche, wo u. wie sie zu finden [...]. Gießen u. schließlich 1580 in Echzell u. Su- Oberursel 1575. – Schlüssel Büchlein. Vom ampt u. perintendent in Alsfeld-Nidda. Er wirkte nutz der rechten Schlüssel zum Himmelreich [...]. entscheidend für die Festigung des Konkor- o. O. 1587. – Nottwendige Errettung, deß christl. dienluthertums in dem traditionell melan- [...] Beruffs D. Martini Luthers seligen [...]. Ffm. chthonisch-bucerisch geprägten Land. 1597. – Jüden Feind, das ist: Von der falschen N.’ umfangreiches literar. Schaffen steht Stücken u. Tücken der Jüden so in Teutschland vornehmlich im Zeichen des geistigen wohnen [...]. Ffm. 1605. Ausgaben: Internet-Ed. mehrerer Werke in: VD Kampfs für den Erhalt der Kirche der luth. Reformation. Er wendet sich gegen Calvinis- 16 digital. – Carmen elegiacum [...]. De captivitate ten, v. a. aber gegen einzelne Propagandisten Cereris. Marburg 1555. Internet-Ed.: Slg. Hardender Gegenreformation, u. a. die Konvertiten berg. Literatur: Bibliografien: Frank-Rutger HausCaspar Franck, Jakob Rabe u. Johannes Pistorius d.J. sowie die Jesuiten Georg Scherer u. mann: Bibliogr. der dt. Übers.en aus dem Italienischen v. den Anfängen bis 1730. Bd. 1, Tüb. 1992, Georg Eders; gegen Letzteren ist sein umNr. 0619, 1074. – VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: fangreichstes theolog. Werk, Papistische Inqui- Adolf Link: G. N. In: ADB. – Arthur Venn: Die sition und gulden Flüs der römischen Kirchen polem. Schr.en des G. N. gegen Johann Nas [...]. (Straßb. 1582. 1589), eine Darstellung des Witten 1933. – Theodor Mahlmann: G. N. In: NDB Papsttums von den Anfängen bis in N.’ Zeit, (Lit.). – Kurt Mogk: Epitaph des Pfarrers u. Supergerichtet. intendenten G. N. in der Echzeller Kirche. In: Theologisches Argumentieren u. die zeit- Echzeller Geschichtsh.e 11 (2001), S. 9–14. – Thoübliche, persönlich verunglimpfende grobi- mas Kaufmann: Konfession u. Kultur. Luth. Proan. Polemik verbinden sich bei N. auf viel- testantismus in der zweiten Hälfte des Reformatifältige Weise. In dem 1571 bis 1583 geführten onsjahrhunderts. Tüb. 2006, Register. – Matthias Pohlig: Zwischen Gelehrsamkeit u. konfessioneller literar. Schlagabtausch mit dem Franziskaner Identitätsstiftung. Luth. Kirchen- u. UniversalgeJohannes Nas verfasste N. auch satir. Reim- schichtsschreibung 1546–1617. Tüb. 2007, bes. paargedichte, die, anknüpfend an breit aus- S. 402–405 u. Register. gelegte Wortspielereien (Nasus-asinus, AffUte Mennecke-Haustein / Red. Pfaff u. ä.), den Gegner mit Esel u. Affe vergleichen (Von Bruder Johan Nasen Esel und seiNiklas von Wyle, * um 1415 Bremgarten/ nem rechten Tittel [...]. Oberursel 1570. AffenSchweiz, † 13.4.1479 Stuttgart. – Notar, spiel F. Johan Nasen [...]. Oberursel 1571. VexStadtschreiber, Frühhumanist. amen des grossen, langen, breitten, dicken, hohen, tieffen, weitumbsehenden Tittels, Bruder Johan Nach dem Artesstudium in Wien (BaccalauNasen, für seinem Vexamen des Concordienbuchs reus artium 1433) durchlief N. die für das 15. [...]. Lemgo 1582). Die polem. Satire dient Jh. typische Karriere des akademisch gebildazu, die »Narrheit«, Ungelehrtheit u. Hin- deten Schreibers, der gleichzeitig Korreterlist des Gegners zu brandmarken; sie soll spondenz-, Verwaltungs- u. Ausbildungsaufden Leser aber auch unterhalten u. so sein gaben wahrzunehmen hatte. Zuerst wirkte er Interesse fesseln. Insg. geht es N. in seinem von 1439 bis 1444 als Notarius u. Lehrer an überwiegend dt. Werk gerade darum, den der Schule des Großmünsters in Zürich, wo er Laien zu erreichen u. ihm in der verworrenen in dem gelehrten Chorherrn Felix Hemmerli konfessionellen Situation das Erbe Luthers in einen Förderer u. Freund fand, dann bis 1447 seinen zentralen Argumenten zu übermit- als Stadtschreiber in Radolfzell. Nach kurzer teln. Tätigkeit als Ratsschreiber in Nürnberg wurde N. im Febr. 1448 Stadtschreiber u. Kanzleischullehrer in Esslingen. Hier am-
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tierte er mehr als 20 Jahre als Leiter der Stadtkanzlei, bis er 1469 aufgrund eigenmächtigen Handelns Amt u. Stadt überstürzt verlassen musste; von 1469 bis zu seinem Tod war er Vizekanzler am Stuttgarter Hof der Grafen von Württemberg. In Esslingen konnte N. sowohl berufliche als auch intellektuelle Ambitionen verwirklichen. Seine Tätigkeit als Leiter der Kanzlei machte ihn zu einer zentralen Person auch in der Politik der Stadt; in dieser Funktion hatte er die Korrespondenz zu führen u. die Stadt in juristischen u. diplomat. Fragen häufig auch nach außen zu vertreten. Dadurch kam er mit den wichtigsten Personen des politischen u. geistigen Lebens in Süddeutschland u. Österreich in Kontakt. N. weilte häufiger am »Musenhof« der Pfalzgräfin Mechthild in Rottenburg, am Hof der Markgrafen von Baden u. am kaiserl. Hof in Wien (acht Reisen nach Wien sind bezeugt), wobei bes. seine Bekanntschaft mit dem in der Wiener Neustädter Reichskanzlei tätigen Aeneas Silvius Piccolomini (seit 1458 Papst Pius II.) prägend wurde. Das von Piccolomini in seinem umfangreichen Briefverkehr, an dem N. von 1452 bis 1457 teilhatte, propagandistisch vertretene Ideal des humanistisch-antikisierenden Briefstils wurde auch für N. Vorbild. N. seinerseits wurde mit der konsequenten Nachahmung des Aeneas u. der Herausgabe der ersten in Deutschland gedruckten Sammlung von Aeneas-Briefen (Epistolae familiares. Reutl. 1478) selbst zum maßgebl. Musterautor. Die große Zahl seiner Korrespondenzpartner (u. a. Ludwig Rad, Albrecht von Bonstetten, Michael Christan u. Matthäus Hummel) wie auch die erhaltenen, als regelrechte Sammlungen angelegten Abschriften seiner Briefe zeigen, welch wichtige Rolle N. für den süddt. Frühhumanismus spielte. Eine zweite, nicht minder gewichtige Prägung seines lat. Stils erfuhr N. durch die Ausbildung zum Schreiber. Hier allerdings, u. nicht zuletzt durch das Artes-Studium, das Rhetorik auf dem Stand der pseudo-ciceron. Rhetorica ad Herennium vermittelte, steht er noch völlig in der Tradition der mittelalterl. artes dictandi. N.’ Latinität ist so durch ihre eigentüml. Ambivalenz gekennzeichnet, die in der Programmatik mittelalterlicher Tradi-
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tion, in ihren Stilmustern aber humanist. Vorbildern folgt. Deutlich wird dies in seinen Colores rethoricales, einer kleinen Briefmustersammlung, in der die Briefe jeweils zur Illustration einer bestimmten rhetorischen Color, d.h. Wortfigur, dienen. Definition u. Exempla einer jeden Color sind zwar den spätmittelalterl. Schriften des Nikolaus von Dybin entnommen, die Briefmuster aber folgen Texten des Poggio u. Aeneas, z.T. auch N.’ eigener Korrespondenz. Die Briefmustersammlung, die nur als Teil der 1528 erschienenen Rhetorik des Alexander Hugen überliefert ist, hatte N. um 1464/ 69 für seinen Unterricht angelegt; denn nach Art der spätmittelalterl. Schreiberausbildung hatte auch N. eine wechselnde Zahl von Unterschreibern, die bei ihm das Handwerk lernten. Der Unterricht bezog sich auf lat. wie dt. Texte; demgemäß hatte N. auch deutschsprachige Muster verfasst. Die Colores liegen nur in einer solchen dt. Fassung vor, noch dazu nur in einem Teilstück von sechs Kapiteln, doch illustrieren sie hinreichend N.’ Programmatik für einen dt. Briefstil. Eine Anregung von dem ihm seit Nürnberger Zeiten bekannten Gregor Heimburg aufnehmend, »daz ain yetklich tütsch, daz usz guotem zierlichen vnd wol gesatzten latine gezogen [...] wer, [...] ouch guot zierlich tütsche [...] sin müste«, versuchte N., lat. Syntax auch im Deutschen nachzubilden: In diesem Sinne sollte die lat. Rhetorik auch für das Deutsche verbindlich sein. Aus dieser Lehrsituation, der Einübung von genuin lateinischen, ins Deutsche transponierten Stilmustern, ist auch N.’ Übersetzungswerk entstanden, mit dem er bekannt geworden ist u. das ihm den Ruf eingetragen hat, mit ihm beginne die dt. gedruckte Literatur (Lessing): seine Translatzionen oder Tütschungen (erster Sammeldr., v. N. selbst hg., Esslingen: Konrad Fyner 1478). In insg. 18 Translationen, entstanden 1461–1478, hat N. vornehmlich Texte des ital. Renaissancehumanismus übersetzt, die ihm bes. geeignet schienen, seine Schüler »in kunste schribens vund dichtens« zu unterrichten. Den ersten Rang unter seinen Vorbildern nehmen dabei Poggio Bracciolini mit sechs (u. a. Trostbrief an Cosimo de’ Medici. An seni sit uxor ducenda.
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Übersetzung des Asinus von Lukian) u. Aeneas mit vier Texten (Historia de duobus amantibus. De remedio amoris. De studiis et litteris. Somnium de fortuna) ein, aber auch Petrarca (aus De remediis utriusque fortunae), Boccaccio (De Guiscardo et Sigismunda nach der lat. Version des Leonardo Bruni) u. Bruni geben Vorlagen ab. Schon nach den ersten Übersetzungen erregte N. Aufmerksamkeit außerhalb seiner Schule; v. a. die mit ihm befreundeten süddt. Adeligen erbaten sich weitere Werke. Das Interesse wurde allerdings weniger durch den Stil als vielmehr durch die neue Erzählgattung Novelle u. den Inhalt der Texte geweckt. In ihrer Gesamtheit bieten sie einen Querschnitt des humanist. Leseprogramms mit Themen wie Liebe, Fortuna, Tugendadel, Bildung u. öffneten so dem dt. Publikum, das ansonsten die Romane mittelalterl. Helden rezipierte, erstmals den Blick auf die moderne humanist. Literatur. Paradigmatisch kann dafür die berühmteste Translation, die der Novelle von Eurialus und Lucretia des Aeneas, stehen; gerade die neuartige psycholog. Darstellung einer an Standes- u. Gesetzesschranken scheiternden Liebe scheint das zeitgenöss. Publikum fasziniert zu haben. Diese breite Rezeption – schon vor dem ersten Sammeldruck erscheinen Drucke einzelner Translationen – außerhalb des von N. primär intendierten Lesekreises zwang N. in den Widmungsvorreden an seine Mäzenaten zu Reflexionen über seinen Übersetzungsstil. Obwohl N. wusste, dass seine das lat. Vorbild in Syntax u. Wortstellung nachahmende »Wortzu-Wort«-Methode die Verständlichkeit erheblich störte, hielt er daran fest. Auch ist das kulturelle Statusgefälle zwischen den Widmungstexten u. den eingelagerten Übersetzungen nicht zu verkennen. So rechtfertigt Aeneas Silvius in seinem programmat. Sendschreiben an Erzherzog Sigismund (De studiis et litteris), das N. als zechende translatze Markgraf Karl von Baden widmet, mit der Gleichrangigkeit von humanist. Geistesadel u. Geburtsadel, den Fürsten künftig nicht mehr zu »Irtzen«, sondern zu »dutzen«. Im Unterschied zum Binnentext bleibt N. in seiner Widmung aber beim traditionellen »Irtzen«. War N. so für seine Zeitgenossen einerseits Autorität in einer nicht nur auf die Kanzlei
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ausgerichteten Rhetorik, andererseits Exponent einer neuen literar. Gattung, so hat ihn später seine im Vergleich zu anderen Humanisten der Zeit eingeschränkte Lesbarkeit etwas suspekt gemacht. Doch wirkte N.’ Kanzleisprache über die weit verbreiteten Lehrbücher noch bis über die Mitte des 16. Jh. hinaus. Heute allerdings gilt N. gerade wegen seiner Mittlerrolle als bedeutender Propagator des ital. Renaissancehumanismus u. wegen seiner innovativen Übersetzungstheorie als einer der bedeutendsten dt. Frühhumanisten. Ausgaben: Adelbert v. Keller (Hg.): Translationen v. N. v. W. Stgt. 1861. Neudr. Hildesh. 1967. – Rudolf Wolkan: Neue Briefe v. u. an N. v. W. In: PBB 39 (1914), S. 524–548. – Margaret Ann Jackson: N. v. W.: Guiscardus u. Sigismunda. Magisterarbeit Durham 1981. – Eric John Morrall: Aeneas Silvius Piccolomini (Pius II.) and N. v. W.: The Tale of Two lovers Eurialus and Lucretia. Amsterd. 1988. – Aeneas Silvius Piccolomini u. N. v. W.: Euriolos u. Lucretia. Hg. Renate NolL-Wiemann. Hildesh. u. a. 2000, S. 133–147. Literatur: Paul Joachimsohn: Frühhumanismus in Schwaben. In: Württemberg. Vierteljahresh.e für Landesgesch. N. F. 5 (1896), S. 63–126, 257–288. Neudr. in: Ders.: Ges. Aufsätze. Hg. Notker Hammerstein. Aalen 1970, S. 149–248. – Rolf Schwenk: Vorarbeiten zu einer Biogr. des N. v. W. u. zu einer krit. Ausg. seiner ersten Translatze. Göpp. 1978. – Franz Josef Worstbrock: Die ›Colores rethoricales‹ des N. v. W. In: FS Paul Raabe. Amsterd. 1987, S. 189–209. Wieder in: Ders.: Ausgew. Schr.en. Hg. Susanne Köbele u. Andreas Kraß. Bd. 2, Stgt. 2005, S. 185–199. – Ders.: N. v. W. In: VL (Lit.). – Xenja v. Ertzdorff: Romane u. Novellen des 15. u. 16. Jh. in Dtschld. Darmst. 1989, S. 24–33. – Frank Fürbeth: Die Vorrede in dem Translatzendruck (1478) des N. v. W.: Widmungen oder rhetor. Exempla? In: Chevaliers errants, demoiselles et l’Autre. Hg. Trude Ehlert. Göpp. 1998, S. 389–407. – Eric John Morall: Selbstmord u. ›amor illicitus‹ in der Übersetzungslit. v. N. v. W., Arigo, Albrecht v. Eyb u. Johann Sieder. In: ZfdPh 117 (1998), S. 381–398. – Martina Backes: ›Getütschet für hochsinnige Lüte‹. N. v. W. u. das Publikum der frühhumanist. Übersetzungslit. In: Freiburger Universitätsblätter 38 (1999), S. 103–110. – Ulrike Bodemann: N. v. W. In: NDB. – Richard Forster u. a.: Schach im spätmittelalterl. Zürich. Das Rechen- u. Schachbuch des N. v. W. In: Züricher Taschenbuch auf das Jahr 2001. Zürich 2000, S. 43–118. – Vivien Hacker: Frauenlob u. Frauen-
Nikolaus von Dinkelsbühl schelte. Untersuchung zum Frauenbild des Humanismus am Beispiel der Oratio ad Bessarionem u. 16. Translatze des N. v. W. (mit krit. Texted., Quellenvergleich u. Interpr.). Ffm. 2002. – Friederike Voß: ›Zu höchstgelerter mannen rät und lere‹: der Geist des Humanismus, N. v. W., Heinrich Steinhöwel u. Konrad Fyner. In: Literar. Spuren in Esslingen. Hg. Irene Ferchl. Esslingen 2003, S. 20–31. – John L. Flood: Parallel Lives: Heinrich Steinhöwel, Albrecht v. Eyb, and N. v. W. In: Early Modern German Literature 1350–1700. Hg. Max Reinhart. Rochester u. a. 2007, S. 779–796. Frank Fürbeth / Achim Aurnhammer
Nikolaus von Dinkelsbühl, * um 1360 Dinkelsbühl, † 17.3.1433 Wien; Grabstätte: ebd., St. Stephan. – Theologe. N., dessen Familienname als Pruntzlein (bzw. als Brüntzler) überliefert ist, wurde um 1360 in der schwäb. Reichsstadt geboren. Gesicherte Nachrichten setzen 1385 ein, als sich N. in der 20 Jahre zuvor nach Pariser Muster gegründeten Wiener Universität immatrikulierte, um dort zunächst die Artes zu studieren (Mitte Juni 1389 Magister artium). 1390 begann er mit dem Studium der Theologie unter Heinrich von Langenstein (1409 Magister theologiae). Neben seiner akadem. Lehrtätigkeit, der ein Kommentar zu Psalm 1–50 (1396/97) u. Quaestiones communes zu den Sentenzen des Petrus Lombardus (1398–1402) entstammen, widmete sich N. bes. den Belangen der Wiener Universität, die er nach dem Tod Heinrichs von Oyta (1396) u. Heinrichs von Langenstein (1397) entscheidend prägte: als Dekan der Artistischen Fakultät (1392 u. 1397), als Rektor (1405) u. als Dekan der Theologischen Fakultät (1410, 1425 u. 1427). N. vertrat die Angelegenheiten der Universität u. 1425, im Streit um die Besetzung des Passauer Bischofsstuhls, auch die seines Landesherrn auf mehreren Romreisen; er war Berater u., seit 1425, auch Beichtvater Herzog Albrechts V., als dessen Abgesandter er bereits am Konstanzer Konzil (1414–1418) teilgenommen hatte. In Konstanz war er Mitgl. der Glaubenskommission sowie Gutachter u. hielt u. a. die Begrüßungsansprachen vor König Sigismund u. Johannes XXIII. N. gehörte als Beauftragter der dt. Nation
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dem Wahlkollegium an, das am 8.11.1417 Kardinal Odo Colonna zum neuen Papst (Martin V.) wählte; er leitete die Untersuchung gegen Hieronymus von Prag, der am 26.5.1416, nicht ganz ein Jahr nach Jan Hus, ebenfalls auf dem Scheiterhaufen starb. Der »Kampf für die Reinhaltung des Glaubens« bildete seit je einen Schwerpunkt von N.’ Tätigkeit: 1410 hatte er in Wien drei Prediger zur Anzeige gebracht, 1411 die Verbrennung des »rückfälligen Häretikers« Griesser aus Ybbs eloquent verteidigt (De oblationibus), u. 1417 argumentierte er in einem Tractatus contra errores Hussitorum, der die endgültige Verurteilung des Laienkelchs durch Martin V. beeinflusste, gegen eine Streitschrift böhm. Adeliger über die Kommunion in beiderlei Gestalt. Ob sich N. bereits um 1412 in einem Brief zu dieser Frage (Eloquenti viro) mahnend an Johannes Hus wandte (Madre, S. 252 f.), ist allerdings zweifelhaft (Damerau, Bd. 6, S. 14–17). Im Advent 1420 hielt N. eine im Autograf erhaltene Vortragsreihe vor den auf Befehl des Herzogs Albrecht V. eingekerkerten Wiener Juden, um ihnen die Überlegenheit des christl. Glaubens zu beweisen. Die Bekehrungsversuche scheiterten größtenteils, zahlreiche Juden wurden getötet. N.’ nachkonziliare Tätigkeit ist geprägt vom Gedanken religiöser Erneuerung, der Reform von Klerus u. Volk, bes. jedoch der Klöster. Schon 1415 hatte er in einer Denkschrift (Avisamenta seu Reformationis methodus) Vorschläge zur Berufung der Reformmönche aus Subiaco u. zur prakt. Durchführung der Klosterreformen gemacht. In engem Zusammenwirken zwischen N., Herzog Albrecht v. u. den Reformern Nikolaus Seyringer von Matzen u. Petrus von Rosenheim wurde die Reform – zunächst der benediktin. Klöster – von ihrem Zentrum Melk aus rasch u. äußerst erfolgreich verwirklicht. In Melk hielt N. zwischen 1421 u. 1424 die berühmt gewordene Lectura Mellicensis über das vierte Buch der Sentenzen (mit 200 Handschriften sowie fünf Bearbeitungen in 60 weiteren Handschriften sein wohl am weitesten verbreitetes Werk) u. 1422/23 den Predigtzyklus De dilectione Dei et proximi (mit anderen Zyklen bes. weit verbreiteter katechet. Schriften, etwa De
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decem praeceptis u. De oratione dominica, u. d. T. ser: Meister Eckhart in Melk. Bln. 1999. – Fritz Peter Knapp: N. v. D. In: Ders.: Zeman Gesch. Tractatus octo zusammengefasst). Im Kloster Melk liegt heute auch das Au- Bd. 2/2: Die Lit. des SpätMA, S. 147–163. Freimut Löser / Red. tograf von N.’ Matthäuskommentar u. den Quaestionen zu Matthäus. Während auch zahlreiche andere lat. Schriften N.’ in autoNikolaus von Jeroschin, * erste Hälfte grafer Gestalt überliefert sind, die zeigt, dass des 14. Jh. – Deutschordenschronist. N. seine lat. Texte selbst ständig weiterbearbeitete, dürften die in den Handschriften N. Die meisten in der Forschung diskutierten zugeschriebenen dt. Texte (sicher die Jahres- Angaben zu N.’ Leben beruhen auf Vermuu. Festtagspredigten sowie die dt. Fassung tungen: Er selbst erwähnt nur, dass er unter der Tractatus-octo-Texte) alle von einem Re- dem Hochmeister von 1335–1341, Dietrich von Altenburg, Kaplan des Deutschen Ordens daktor bearbeitet worden sein. N.’ Bedeutung liegt also, obwohl das lat. war (Chronik, vv. 302–314), in den ihn GottOpus Sermonum in über 200 Handschriften fried von Heimburg, als Komtur in Königsverbreitet ist, weniger in seinem Auftreten als berg 1326 bis 1329 bezeugt, aufnahm (AdalVolksprediger, weniger auch in eigenständig berts Leben, vv. 159–163), u. dass er nur über entwickelter oder formulierter theolog. Spe- mangelnde Deutschkenntnisse verfügte (ebd. kulation als vielmehr in seiner Rolle als einer vv. 137 f., u. Chronik, vv. 302–314). Alles übder maßgebl. Anreger u. Motoren der Melker rige – dass er vielleicht aus slaw. SiedlungsReformbewegung; mit seinen Werken raum stammte, sich zwischen 1311 u. 1341 in (insbes. den moraltheolog. Abhandlungen u. Preußen aufhielt, wohl Ende der 1320er Jahre Predigten wie auch der Lectura Mellicensis) in Königsberg wirkte u. um 1345 vermutlich zielte er auf religiöse Erneuerung, Mehrung kurz nach der Weihe der Marienburger der Frömmigkeit u. Vertiefung des Wissens in Schlosskirche (Chronik, vv. 27.669 ff.) starb – den Klöstern u. bei den »Multiplikatoren« ist aus unterschiedlich beweiskräftigen Indichristl. Lehre. Die immense Verbreitung sei- zien im Werk abgeleitet u. muss hypothener Schriften wurde zum Spiegel des Ein- tisch, wenn nicht zweifelhaft bleiben. N. ist Autor einer nur fragmentarisch flussbereichs der Reformbewegung. Die Wertschätzung nachfolgender Generationen überlieferten Lebensbeschreibung des hl. bezeugen Enea Silvio Piccolomini (der spätere Adalbert (Sent Adalbrechtes leben) u. einer Papst Pius II.), Gabriel Biel u. Jakob Wimp- Deutschordenschronik (Kronike von Pruzinlant), von der 15 Handschriften u. Fragmente, feling. Ausgaben: Rudolf Damerau: Studien zu den davon neun aus dem 14. Jh., bekannt sind. Grundlagen der Reformation. Bde. 6–10, Gießen Die Adalbertsvita, offensichtlich als Ergän1968–71. – Thomas Hohmann: Heinrichs v. Lan- zung zum Passional konzipiert, da der Heilige genstein ›Unterscheidung der Geister‹ lat. u. dt. dort nicht berücksichtigt ist, wurde vermutlich von Gottfried von Heimburg in seiner Mchn. 1977. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Zeit als Königsberger Komtur veranlasst, der Alois Madre: N. v. D., Leben u. Schr.en. Münster dort mit dem lokalen Heiligenkult in Be1965. – Damerau 1968–71 (s. o.). – Hohmann 1977 rührung kam; sie entstand also wohl Ende (Register) (s. o.). – Bernhard Schnell: Thomas Peu- der 1320er Jahre. Mehr als die beiden Vorrentner, ›Büchlein v. der Liebhabung Gottes‹. Mchn. den, in denen N. den Hl. Geist anruft u. 1984 (Register). – A. Madre: N. v. D. In: VL (auch: Auskunft über die Auftragssituation gibt, Nachträge u. Korrekturen). – Thomas Hohmann: sowie Ausführungen über Adalberts HerN.-v.-D.-Redaktor. In: VL (auch: Nachträge u. kunft u. Kindheit sind nicht erhalten; als – Korrekturen). – A. Madre: ›Sermo magistri Nicolai ad clerum et ad religiosos De profectu et perfecti- ziemlich frei umgesetzte – Quellen wurden one‹. In: Ecclesia militans. Studien zur Konzilien- die lat. Adalbertsviten des Johannes Canapau. Reformationsgesch. FS Remigius Bäumer. Hg. rius u. Bruns von Querfurt erschlossen. Wohl während seiner Amtszeit als HochWalter Brandmüller. Paderb. 1988, S. 185–212. – Ansgar Frenken: N. v. D. In: Bautz. – Freimut Lö- meister (1331–1335) beauftragte Luder von
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Braunschweig den Autor, das lat. Chronicon terrae Prussiae Peters von Dusburg von 1326 ins Deutsche zu übertragen. Luders Nachfolger Dietrich von Altenburg erneuerte, wie N. in seiner Vorrede ausführt, diesen Auftrag, da die begonnene Arbeit – aus nicht genannten Gründen – vernichtet worden sei; abgeschlossen wurde das Werk wohl Anfang der 1340er Jahre. Peters von Dusburg in vier Bücher gegliedertes Werk – Ordensgeschichte vor 1230; Schenkung des Kulmer Landes u. die Kämpfe dort; Eroberung Preußens bis 1283 u. Kriege gegen die Litauer bis 1326; welthistor. Abriss mit Papst- u. Kaisergeschichte – setzt N. in 26.755 sechs- bis neunsilbige Verse um; nur die aus der Deutschordenskommende Mergentheim stammende Handschrift HB V 95, der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart (zweites Viertel 14. Jh.), enthält zudem noch einen Epilog von 32 Versen, die Übertragung des bis 1330 reichenden Anhangs Peters in weiteren 1095 Versen u. als Schluss eine eigenständige Fortsetzung von 156 Versen. Peters viertes Buch, den welthistor. Abriss, hat N. in den übrigen Text integriert, seinen Prolog zugunsten einer eigenen Einleitung, die nach der Anrufung der Trinität über die Auftragssituation informiert, weggelassen. Zwar schließt sich N. in den Grundzügen an Peters lat. Chronik an, stellt sie aber doch in vielem um, kürzt an manchen Stellen u. fügt an anderen nach verschiedenen Quellen, so der Barbaralegende Luders von Braunschweig u. vermutlich auch Heinrichs von Hohenlohe Relation, hinzu. N.’ Chronik hatte, wie die übrigen volkssprachl. – chronistischen wie alttestamentl. – Ordensdichtungen auch, ihre Gebrauchsfunktion in der Tischlesung der Ordensritter: nicht nur als histor. Text zur Information der Ordensangehörigen über ihre eigene Geschichte, sondern auch in bewusst didaktischpolitisch stimulierender Absicht zur ideolog. Formierung der sich als Heidenkämpfer begreifenden Laienbrüder. So ist gegenüber der lat. Vorlage das heroische Kriegerethos wesentlich stärker betont, draufgängerisches Verhalten der »Helden« wird mit religiös motiviertem Todes- u. Jenseitsverlangen er-
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klärt. N.’ Deutschordenschronik ist somit als historisch verspätetes, wenn auch der Kommunikationsgemeinschaft des Ordens durchaus gemäßes Beispiel der Gattung Kreuzzugsdichtung zu lesen. Mit den Textzeugen der Ordenschronik des N. liegt uns analog zu den Deutschordensregeln und -statuten ein unmittelbar dem Orden zuzuordnender Fundus an Handschriften vor. Auffällig ist hier wie da eine auffällige Tendenz zur Normierung betreffend Schriftniveau, Gestaltung, Ausstattung u. Einrichtung. Sieht man einmal von sehr geringen dialektalen Eigenheiten u. kleinen Abweichungen in den Schreibgewohnheiten ab, bieten alle Handschriften zudem einen nahezu identischen, geradezu normiert anmutenden Text. Wie die handschriftl. Überlieferung zeigt, war die Kronike von Pruzinlant nicht nur in Preußen, sondern auch in den Ordensballeien im Reich verbreitet u. wurde bis zur Wiederentdeckung der lat. Chronik Peters von Dusburg Ende des 17. Jh. zur Quelle aller späteren preuß. histor. Texte, etwa der Älteren Hochmeisterchronik, der Älteren Chronik von Oliva Gerhards von Braunswalde u. der Jüngeren Hochmeisterchronik. 1464 übersetzte Konrad Gesselen in Thorn N.’ volkssprachl. Chronik wieder ins Latein seiner Vorlage zurück, wodurch sie dem poln. Historiografen Jan Dlugosz bekannt u. von der Chronistik Polens rezipiert wurde; von hier aus wirkte sie Mitte des 16. Jh. auf die städt. Geschichtsschreibung Danzigs. Ausgaben: Leben des Hl. Adalbert. Hg. Ernst Strehlke. In: Scriptores rerum Prussicarum 2. Lpz. 1863, S. 425–428. – Deutschordenschronik. Hg. Franz Pfeiffer. Stgt. 1854. Neudr. Hildesh. 1966 (Ausw.). – ›Kronike v. Pruzinlant‹. Hg. E. Strehlke. In: Scriptores rerum Prussicarum I. Lpz. 1861. Neudr. 1965, S. 303–624. Literatur: Walther Ziesemer: N. v. J. u. seine Quelle. Bln. 1907. – Karl Helm u. W. Ziesemer: Die Lit. des Dt. Ritterordens. Gießen 1951, S. 151–161. – Evald Johannson: Die Deutschordenschronik des N. v. J. Eine sprachl. Untersuchung mit komparativer Analyse der Wortbildung. Lund/Kopenhagen 1964. – Ders.: Studien zu N. v. J.s Adalbert-Übers. Lund/Kopenhagen 1967. – Udo Arnold: Handschriftenbruchstücke der Chronik J.s. In: Scriptores rerum Prussicarum 6 (1968), S. 36–43. – Horst Wenzel: Höf. Gesch. Bern u. a. 1980, S. 28–64. –
607 Hartmut Boockmann: Die Geschichtsschreibung des Dt. Ordens. In: Geschichtsschreibung u. Geschichtsbewußtsein im späten MA. Hg. Hans Patze. Sigmaringen 1987, S. 447–469, hier S. 456 f. – Ulrich Bartels u. Jürgen Wolf: Neues zur Überlieferung der ›Kronike von Pruzinlant‹ des N. v. J. In: ZfdA 127 (1998), S. 299–306. – Klaus Klein u. Ralf G. Päsler: Neue Fragmente der ›Kronike von Pruzinlant‹ des N. v. J. In: ZfdA 132 (2003), S. 77–84. – Udo Arnold: N. v. J. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Aktuelle Überlieferungsübersicht im Handschriftencensus: http://admin.marburgerrepertorien.de/admin/werke/487. Norbert H. Ott / Jürgen Wolf
Nikolaus von Kues, Cues, auch: Nicolaus Cusanus, * 1401 Kues/Mosel, † 11.8.1464 Todi. – Philosoph, Theologe, Kirchenpolitiker. Der Sohn des Mosel-Kaufmanns Johannes Cryf(f)tz (Krebs) promovierte 1423 nach sechs Studienjahren in Padua im Kirchenrecht u. stand nach seiner Rückkehr in Diensten des Trierer Erzbischofs Otto von Ziegenhain, dann dessen Nachfolgers Ulrich von Manderscheid. Ihn vertrat er als sein Kanzler auf dem 1431 eröffneten Basler Konzil, bei dem N. die Aufmerksamkeit auf sich zog u. zu einer zentralen Figur aufstieg. Die Anfangsphase der Basler Bemühungen spiegelt sein Werk De concordantia catholica (1433), das unter weitgespannten Perspektiven versucht, in der Diskussion über die Priorität von Papst oder Konzil zu vermitteln, notwendige Hierarchisierung unter Vermeidung von dogmat. Monismus zu begründen u. einen einheitl. Rahmen für die Gesamtkirche zu entwerfen. Während das Konzil selbst in die Krise geriet, verband sich N. in der Folgezeit stärker mit der röm. Kurie u. Papst Eugen IV. Noch die spätere Schrift De pace fidei (1453) zeigt aber die fortdauernde Gültigkeit der Frage nach einer Einheit des Glaubens, die nun unter dem Eindruck der Eroberung Konstantinopels im fingierten Dialog mit 17 Vertretern fremdländ. Religionen gestellt ist. Auf die Rückkehr von einer Gesandtschaftsreise aus Griechenland (1437/38) datierte N. selbst ein Initialerlebnis für die Ausformung seines philosoph. Grundgedankens, eine Erleuchtung, die »das Unbegreif-
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liche in nicht begreifender Weise in belehrter Unwissenheit« erfassen ließ. Damit sind Titel u. Sinnzentrum des Cusanischen Hauptwerks De docta ignorantia (1440) genannt. In drei Teilen werden zunächst theozentrisch die Unbegreiflichkeit eines Begriffes von Gott als des schlechthin Größten (»maximum absolutum«), sodann kosmologisch die Rolle des Universums als eines im eingeschränkten Sinne Größten (»maximum contractum«) u. schließlich anthropologisch u. christologisch die Stellung des Menschen zum absoluten Ursprung, Gott, entwickelt. Der »docta ignorantia« kommt dabei sowohl methodische wie grundsätzl. Bedeutung zu für die Position des aus der Endlichkeit heraus nach dem Unendlichen strebenden Menschen. Dieser versucht, die Vielheit des Seienden auf eine Einheit hin zu übersteigen, in der die Gegensätze als zusammenfallend gedacht werden können (»coincidentia oppositorum«); zgl. erfährt er vom Absoluten her die Eingeschränktheit u. unablässige Steigerungsfähigkeit des eigenen Denkens. In der wenig später entstandenen Schrift De coniecturis fundiert N. auf diesem Prinzip der »Mutmaßung«, auf dem approximativen Charakter menschl. Erkenntnis, eine in sich gestufte, am Ternar »sensus« – »ratio« – »intellectus« orientierte, ontologisch rückgebundene »Erkenntnistheorie«. Die beiden philosoph. Erstlingswerke markieren Grundzüge des Cusanischen Denkens, die in einer Reihe von kleineren Schriften weitergeführt u. aspektreicher – etwa im Kontext neuplaton. Lichtmetaphysik – entfaltet werden (De quaerendo deum u. De filiatione dei. 1445. De dato patris luminum. 1446). Doch waren in der methodisch stringenten Ausführung u. Weiterbildung des Gedankens der »docta ignorantia« Widersprüche aus verschiedenen Richtungen zeitgenössischer (Schul-)Philosophie vorgezeichnet. N. geriet einerseits in Konflikt mit dem Heidelberger Theologieprofessor Johann Wenck von Herrenberg, der im Begriff der »coincidentia oppositorum« den aristotel. Satz vom Widerspruch verletzt sah, den unendl. Prozess der Erkenntnis ablehnte u. in einer angebl. Verwechslung von Transzendenz u. Immanenz Gottes eine Tendenz zur
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Vergöttlichung der Welt u. des Menschen witterte (N. verteidigte seine Intention 1449 in der Apologia doctae ignorantiae). Andererseits war er einbezogen in die Diskussion über das Problem einer »theologia mystica«, die Frage nach der höchstmögl. Intensität der Gotteserfahrung. Während der Kartäuser Vinzenz von Aggsbach einen myst. Aufstieg unter Ausschaltung des Intellekts propagierte, hielt N. (bes. in De visione dei, 1453 von N. den ihn unterstützenden Mönchen von Tegernsee gewidmet), ungeachtet der Möglichkeit einer punktuellen Form direktester Gottesbegegnung (»visio facialis«), am Prinzip intellektualer u. immer konjektural bleibender Erkenntnis fest. Hintergrund der Diskussion um myst. Theologie war nicht nur das philosoph. Problem, das Verhältnis von Wissen bzw. belehrtem Nichtwissen u. intuitiver Einsicht zu bestimmen, sondern auch konkrete kirchenpolit. Parteinahme: Die österr. Kirchenreformer, zu denen Vinzenz zu rechnen ist, nahmen N. seine Hinwendung zum Papalismus auf dem Basler Konzil offensichtlich übel. So stieß er, 1448 zum Kardinal (Titelkirche: San Pietro in Vincoli) u. 1450 zum Bischof von Brixen ernannt, mit seinen Zielen der geistigen Erneuerung u. der Stärkung der Brixener Kirche schnell auf Widerstände in seiner Diözese u. geriet in eine nicht zimperlich geführte Auseinandersetzung mit Graf Sigmund von Tirol. Kirchenpolitisch fehlte dem Theologen, Philosophen u. unermüdl. Seelsorger N. hier die glückl. Hand. Doch entstanden noch im ersten Bischofsjahr drei Dialoge, die zu den zukunftsweisendsten des Cusaners gehören. In De sapientia, De mente u. De staticis experimentis geht das philosoph. Fragen jeweils von der Person des Laien, des »idiota«, aus, der in Frontstellung gegen erstarrte Schulweisheit die schöpferische Kraft des menschl. Geistes betont u. in seinen »Versuchen mit der Waage« Messbarkeit u. zunehmende Präzision als Prinzipien andeutet, die für die Entwicklung der Naturwissenschaften bestimmend sein werden. Altes u. Neues verbinden sich hier, Bekanntes zeigt sich in neuer Perspektive, Neuerschlossenes bleibt an geläufige Voraussetzungen rückgebunden. Das gilt für die
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Sprache der Texte, die, oft künstlich, scholastisch geprägt, gleichwohl Elemente der Mystik aufnimmt u. nach neuer Begrifflichkeit sucht, gilt für die Methode des Philosophierens, die im (kurzen) Dialog u. im immer neuen Rückgriff auf Beispiele der Sinnenwelt (gemaltes Bild, Kugelspiel, mathemat. Figuren) sich von scholast. Summenbildung abwendet, u. gilt für dessen Themen gleichermaßen. Platon u. Aristoteles bilden die Ausgangsbasis der philosoph. Position u. werden doch beide prüfender Kritik unterzogen (v. a. De beryllo. 1458). Die Bemühung um einen Wahrheit zur Sprache bringenden Gottesbegriff, die nach dem Brixener Scheitern u. der unfreiwilligen neuen Muße als Kurienkardinal u. Generalvikar unter Papst Pius II. (1458–1464) in den großen Alterswerken noch einmal intensiviert wird, greift auf neuplaton. Tradition zurück, auf Ps.-Dionysius Areopagita, auf Eriugena u. Meister Eckhart, dessen Texte N. in wichtigen Sammelhandschriften vereinigen ließ. Der Begriff des Nicht-Andern als eines unvorgreifbaren Gottesnamens (De li non aliud. 1462) rekurriert auf Philosopheme des Proklos, um die absolute Erhabenheit des Einen u. dessen gleichzeitiges Wirken in allem zu veranschaulichen. Andere Texte heben Gleichheit (De aequalitate. 1459), Identität (De genesi. 1447) oder den Zusammenfall von Möglichkeit u. Wirklichkeit (De possest. 1460. De apice theoriae. 1464) als Aspekte des Gottesbegriffs hervor. Die erst in jüngerer Zeit erschlossenen, knapp 300 lat. Predigten wiederum, von denen der Hauptteil, meist skizzenhafte Texte, aus der Zeit der Legationsreise u. der Bischofstätigkeit stammt (1451–1458), kreisen um die zentralen christl. Glaubenslehren u. das Verhältnis von Christologie u. Anthropologie; auch dabei kommt es aber, z.B. in den beiden volkssprachlich erhaltenen Vaterunser-Auslegungen, zu gedanklich-spekulativen Zuspitzungen. Während hier v. a. der Seelsorger spricht, experimentieren die philosoph. Hauptwerke mit einem neuen Konzept der Erkenntnis als einer prinzipiell unabgeschlossenen u. mit Perspektivität als zentralem Element menschl. Philosophierens. Von ihr her kann auch die Zentralstellung der Erde fraglich
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werden u. eine potentielle (aber von der göttlichen unterschiedene) Unendlichkeit der Welten in den Blick rücken. Kopernikus wird sich auf den Cusaner berufen, Kepler in genauer Kenntnis seiner Schriften ihn »divinus« nennen, Giordano Bruno den eingeschlagenen Weg weitergehen u. unter Ausschluss der Christologie die Unendlichkeit des Universums als notwendiges Resultat des maximalisierten Schöpfungsakts Gottes postulieren u. damit auf dem Scheiterhaufen enden. Die Präsenz des Cusaners, die zunächst einander rasch folgende Druckausgaben bezeugen (Straßb. 1488. Mailand 1502. Paris 1514. Basel 1565), ist in der Folgezeit allerdings eher mittelbarer Art u. auch im 19. Jh. (anders als etwa bei Augustinus, Eriugena u. Thomas von Aquin) kaum gesteigert. Erst Cassirers Buch (1927, s. u.) u. die beginnende krit. Edition gaben einer der bedeutendsten Gestalten an der Schwelle zur Neuzeit wieder Profil. Ausgaben: Opera. Hg. Faber Stapulensis. Paris 1514. Neudr. Ffm. 1962. – Opera omnia. Hg. Heidelberger Akademie der Wiss.en. 20 Bde. Lpz., später Hbg. 1932–2009 (beigeordnet eine Reihe Cusanus-Texte mit der Ed. v. Predigten, Marginalien, Briefen sowie die Acta Cusana mit Quellen zur Lebensgesch.). Dt. Übers. (teilweise parallel zum Text der Akademieausg.) bei der Philosoph. Bibl. Lpz./Hbg. 1936 ff. Literatur: Zeitschrift: Mitt.en u. Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellsch. (MFCG): seit 1961 (2006: Bd. 31; mit fortgeführten Bibliogr.n). – Biografie: Erich Meuthen: N. v. K. 1401–64. Münster 1964. 31976. – Rezeption: Stephan Meier-Oeser: Die Präsenz des Vergessenen. Zur Rezeption der Philosophie des Nicolaus Cusanus vom 15. bis zum 18. Jh. Münster 1989. – Einführung: Karl-Hermann Kandler: N. v. K. Denker zwischen MA u. Neuzeit. Gött. 1995. – Kurt Flasch: N. v. K. Gesch. einer Entwicklung. Ffm. 1998 u. ö. – Marc-Aeilko Aris (Hg.): Horizonte. N. v. K. seiner Welt. Trier 2001. – Christopher M. Bellitto u. a. (Hg.): Introducing Nicholas of Cusa. New York 2004. – Thomas Leinkauf: Nicolaus Cusanus. Eine Einf. Münster 2006. – Wichtige philosophische Studien: Eduard Vansteenberghe: Autour de la docte ignorance. Münster 1915. – Ernst Cassirer: Individuum u. Kosmos in der Philosophie der Renaissance. Lpz. 1927. Neudr. Darmst. 1963 u. ö. – Joachim Ritter: Docta ignorantia. Lpz./Bln. 1927. – Raymond Klibansky: Ein Proklos-Fund u. seine Bedeutung. Heidelb. 1929. –
Nikolaus von Kues Herbert Wackerzapp: Der Einfluß Meister Eckharts auf die ersten philosoph. Schr.en des N. v. K. Münster 1962. – Karl Jaspers: Nicolaus Cusanus. Mchn. 1964 (als Tb. 1987). – Klaus Jacobi: Die Methode der Cusan. Philosophie. Freib. i. Br./ Mchn. 1969. – Hans Gerhard Senger: Die Philosophie des N. v. K. vor dem Jahre 1440. Münster 1971. – Norbert Herold: Menschl. Perspektive u. Wahrheit. Münster 1975. – Hans Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner u. Nolaner. Ffm. 1976 u. ö. – Werner Beierwaltes: Identität u. Differenz. Opladen 1977. – Ders.: Visio absoluta. Heidelb. 1978. – Moffit P. Watts: Nicolaus Cusanus. Leiden 1982. – Fritz Nagel: Nicolaus Cusanus u. die Entstehung der exakten Wiss.en. Münster 1984. – Jasper Hopkins: Nicholas of Cusa’s Dialectical Mysticism. Minneapolis 1985. – Josef Stallmach: Ineinsfall der Gegensätze u. Weisheit des Nichtwissens. Grundzüge der Philosophie des N. v. K. Münster 1989. – Walter Andreas Euler: Unitas et Pax. Religionsvergleich bei Raimundus Lullus u. N. v. K. Würzb. 1990. – Ulrich Offermann: Christus – Wahrheit des Denkens. Eine Untersuchung zur Schr. ›De docta ignorantia‹ des N. v. K. Münster 1991. – Martha Maria Oberrauch: Aspekte der Operationalität. Untersuchungen zur Struktur des cusan. Denkens. Ffm. 1993. – Albert Dahm: Die Soteriologie des N. v. K. Ihre Entwicklung v. seinen frühen Predigten bis zum Jahr 1445. Münster 1997. – Hubert Benz: Individualität u. Subjektivität. Interpretationstendenzen in der Cusanus-Forsch. u. das Selbstverständnis des N. v. K. Münster 1999. – Ulli Roth: Suchende Vernunft. Der Glaubensbegriff des Nicolaus Cusanus. Münster 2000. – Harald Schwaetzer: Aequalitas. Erkenntnistheoret. u. soziale Implikationen eines christolog. Begriffs bei N. v. K. Hildesh. u. a. 2000. – Martin Thurnher: Gott als das offenbare Geheimnis nach N. v. K. Bln. 2001. – H. G. Senger: Ludus sapientiae. Studien zum Werk u. zur Wirkungsgesch. des N. v. K. Leiden 2002. – Johannes Wolter: Apparitio Dei. Der theophan. Charakter der Schöpfung nach N. v. K. Münster 2004. – William J. Hoye: Die myst. Theologie des Nicolaus Cusanus. Freib. 2004. – W. Beierwaltes u. H. G. Senger (Hg.): Nicolai de Cusa Opera Omnia. Heidelb. 2006. – Stefanie Frost: N. v. K. u. Meister Eckhart. Münster 2006. – Markus Riedenauer: Pluralität u. Rationalität. Die Herausforderung der Vernunft durch religiöse u. kulturelle Vielfalt nach Nicolaus Cusanus. Stgt. 2007. – Dirk Cürsgen: Die Logik der Unendlichkeit. Die Philosophie des Absoluten im Spätwerk des N. v. K. Ffm. 2007. – Klaus Reinhardt u. Harald Schwaetzer (Hg.): Universalität der Vernunft u. Pluralität der
Nikolaus von Löwen Erkenntnis bei Nicolaus Cusanus. Regensburg 2008. Christian Kiening
Nikolaus von Löwen ! Merswin, Rulman Nikolaus von Lyra, * um 1270 Lyre/Normandie, † 1349 Paris. – Franziskaner, Exeget. N., über dessen Vorbildung nichts bekannt ist, wurde als etwa Dreißigjähriger um 1300 Franziskaner u. studierte nach dem Noviziat an der Universität Paris Theologie, wo er 1308 den Grad eines Magisters erwarb. 1309 hielt er eine Quodlibet-Disputation, in der er aus dem AT das Gekommensein des Messias zu beweisen versuchte (Quaestio de adventu Christi). 1310 war er am Häresieprozess gegen die Mystikerin Marguerite Porete († 1310) beteiligt. Von 1319 bis 1324 amtierte er als Provinzial der französischen, von 1325 bis 1330 der burgund. Provinz seines Ordens. Als solcher war er in die Auseinandersetzungen der radikalen Franziskaner mit Johannes XXII. (1316–1334) über die Frage der Armut involviert, bei denen er sich mit der Mehrheit seiner Mitbrüder gegenüber dem Papst loyal verhielt. 1322–1331 verfasste N. sein Hauptwerk Postilla litteralis super totam Bibliam, in dem er, teilweise auch mit Hilfe von Illustrationen, den Literalsinn der Bibel erklärt. Da er sich dabei auch auf die hebr. Bibel stützt u. jüd. Erklärer heranzieht, hat man ihn fälschlicherweise für einen konvertierten Juden gehalten. 1333–1339 setzte er seine Bibelkommentierung mit der Erklärung des geistl. Sinnes (Postilla moralis) fort, die weniger für Wissenschaftler als für Prediger gedacht war. Die Postillen wurden mit oder ohne den kommentierten Bibeltext in unterschiedl. Zusammenstellung u. Vollständigkeit in über 800 Handschriften u. seit dem Erstdruck (5 Bde., Rom 1471/72) in etwa 50 Frühdrucken verbreitet. Das Werk erntete freilich auch Kritik: Der Bischof von Burgos, Paulus a S. Maria († 1435), ein konvertierter Rabbiner, warf N. vor, er habe in seiner Postilla litteralis die Kirchenväter u. bes. Thomas von Aquin, der vieles besser gesagt habe, zu wenig herangezogen. Der Franziskaner Mat-
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thias Doering († 1469) hat seinen Mitbruder N. verteidigt. Frühneuzeitliche Standardausgaben der lat. Bibel enthalten neben der Glossa ordinaria, einer fortlaufenden Bibelerklärung aus Kirchenvätertexten, die beiden Postillen des N. mitsamt den Streitschriften des Paulus von Burgos u. des Matthias Doering sowie die Quaestio de adventu Christi u. dokumentieren die Entwicklung u. Bandbreite der mittelalterl. Exegese. Angesichts der weiten Verbreitung der Postillen N.’ finden sich in der dt. Literatur des späten MA u. der Frühen Neuzeit vielfach Spuren ihrer Verwendung. Aus der Bedeutung, die dem Psalter auch für die Laienfrömmigkeit zukommt, erklärt sich, dass die Psalmenerklärung des N. in der ersten Hälfte des 14. Jh. von dem in der Forschung so genannten »Österreichischen Bibelübersetzer« mit Kürzungen oder Zusätzen für Laien bearbeitet ins Deutsche übertragen u. in zahlreichen Handschriften sowie im Druck verbreitet wurde. Früher wurde dieses Werk Heinrich von Mügeln zugeschrieben. Während ostmitteldt. Historienbibeln u. die 1494 in Lübeck gedruckte niederdt. Bibelübersetzung der Postilla litteralis v. a. Erklärungen geografischer Angaben u. Realien aus dem Alltag wie Zahlungsmittel, Maße u. Gewichte entnehmen, greift die in der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrte Historienbibel mgf 1277 darauf zurück zur Erklärung der Motive der handelnden Personen. Auch die Quaestio de adventu Christi wurde mehrfach ins Deutsche übersetzt. Literatur: Olaf Schwencke: Die Glossierung alttestamentl. Bücher in der Lübecker Bibel v. 1494. Beiträge zur Frömmigkeitsgesch. des SpätMA u. zur Verfasserfrage vorluth. Bibeln. Bln. 1967. – Kurt Ruh: N. v. L. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Wolfgang Bunte: Rabbin. Traditionen bei N. v. L. Ein Beitr. zur Schriftauslegung des SpätMA. Ffm. u. a. 1994. – Philip D. W. Krey u. Lesley Smith (Hg.): Nicholas of Lyra. The Senses of Scripture. Leiden u. a. 2000. – Gisela Kornrumpf: Österr. Bibelübersetzer. In: VL. – Anna Katharina Hahn: ›Die ebreyschen sprechen doribir‹ – Die ›Postilla‹ des N. v. L. in der Historienbibel Berlin, Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz, mgf 1277. In: Metamorphosen der Bibel. Hg. Ralf Plate u. a. Bern u. a. 2004, S. 247–264. – Manuela Niesner: ›Wer mit juden well disputieren‹. Deutschsprachige Ad-
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Nissel
versus-Judaeos-Lit. des 14. Jh. Tüb. 2005, bes. S. 596–599. Peter Walter
Sammlung dt. Traktate zugeschrieben werden kann. Den Handschriften zufolge reichte N.’ Wirkung bis ins 15. Jh.
Nikolaus von Straßburg, bezeugt erste Hälfte des 14. Jh. – Lektor u. Prediger.
Ausgaben: Predigten: Franz Pfeiffer (Hg.): Dt. Mystiker des 14. Jh. Bd. 1, Lpz. 1845, S. 259–305. – Deutsche Traktate: Hillenbrand 1968 (s. u.), S. 135–167. – Summa: Ausg. in der Reihe ›Corpus Philosophorum Teutonicorum Medii Aevi‹, 5, Hbg. 1983 ff. Bereits erschienen: Tiziana Suárez-Nani (Hg.): Liber II, Tractatus 8–14. 1990; Gianfranco Pellegrino (Hg.): Liber II, Tractatus 3–7. 2009; ders. (Hg.): Liber II, Tractatus 1–2. 2009.
Der Dominikaner N. ist zwischen 1318 u. 1331 bezeugt u. dürfte um 1280/90 geboren sein. Er lehrte Philosophie wahrscheinlich am Straßburger Ordensstudium sowie im Basler Konvent. 1321–1323 studierte er in Paris u. übernahm anschließend die Leitung des Literatur: Eugen Hillenbrand: N. v. S. Freib. i. Kölner Generalstudiums. 1324 hielt er die Br. 1968. – Ruedi Imbach: N. v. S. In: Dictionnaire breit überlieferte Predigt vom Goldenen Berg auf de spiritualité 11 (1982), Sp. 301 f. – Ders. u. Ulrika dem Provinzialkapitel der Teutonia in Lö- Lindblad: Compilatio rudis ac puerilis. Hinweise u. wen. 1325 bis wohl 1327 war er einer von Materialien zu N. v. S. u. seiner ›Summa‹. In: zwei päpstl. Visitatoren in dieser Provinz u. Freiburger Ztschr. für Philosophie u. Theologie 32 führte ein auf Freispruch zielendes Prü- (1985), S. 155–233. – Tiziana Suárez-Nani: Notefungsverfahren gegen Meister Eckhart durch; relle sulle fonti albertine del ›De tempore‹ di N. di diesen im erzbischöfl. Inquisitionsverfahren Strasburgo. Ebd., S. 235–47. – Claus Wagner: Maunterstützt zu haben, trug N. selbst einen terie im MA. Freib./Schweiz 1986. – E. Hillenbrand u. Kurt Ruh: N. v. S. In: VL (Lit.; Ausg.n). u. VL Prozess ein. Dennoch nahm er 1327 als Defi(Nachträge u. Korrekturen). nitor am Generalkapitel von Perpignan teil. Sabine Schmolinsky / Red. Wahrscheinlich war er danach Mitgl. des Freiburger Konvents. Nissel, Franz, * 14.3.1831 Wien, † 20.7. N. verfasste eine unvollständig erhaltene 1893 Bad Gleichenberg; Grabstätte: lat. Summa (vor 1323), ein in aristotel. TradiWien, Zentralfriedhof. – Dramatiker. tion nach den vier Ursachen gegliedertes Lehrbuch der scholast. Philosophie, das als Der Sohn eines Schauspielerehepaars verenzyklopäd. Kompilation dominikan. »doc- brachte eine unstete Jugend, u. a. in Graz, tores« bes. aus Thomas von Aquin u. Albertus Linz, Lemberg u. ab 1844 in Wien, wo er – als Magnus sowie den Thomisten Aegidius Ro- Student auch Teilnehmer an der Revolution manus u. Hervaeus Natalis schöpft u. sich von 1848 – das Schottengymnasium besuchu. a. mit Lehren Dietrichs von Freiberg aus- te, es jedoch trotz guter Leistungen 1850 nach einandersetzt; es muss im Rahmen der Bil- ersten dramat. Versuchen (u. a. Die Inquisitodungspolitik des Ordens in Hinsicht auf das ren. Zus. mit Sigmund Schlesinger) verließ. interne Philosophiestudium interpretiert Sein Unvermögen, sich in berufl. Zwänge zu werden. fügen, ließ ihn die Laufbahn eines freien In drei zusammengehörigen Traktaten, De Schriftstellers wählen, die jedoch überschatadventu Christi, antichristi et fine mundi, schrieb tet war von Krankheit, schweren ExistenzN. zwei Schriften des Johannes Quidort von sorgen, Einsamkeit u. dem steten, selten erParis aus u. fügte eine eigene Untersuchung folgreichen Ringen nach Anerkennung. über die Menschwerdung Christi ein. Zwei Häufig auf Reisen u. – besonders in den JahFlorilegien stellen den nach vollkommenem ren seiner Ehe mit der Sängerin Serafine, geb. klösterl. Leben Strebenden Marias Leben u. Reichsfreiin Binder von Krieglstein Mysterium sowie Leben u. Evangelium des (1863–1868) – wechselnden Aufenthaltsorts, Apostels Johannes dar. Die meist vor domi- blieb N. doch an Wien als Hauptwirkungsnikan. Ordensschwestern gehaltenen u. in stätte gebunden, zuletzt auch in konsoliLesefassungen überlieferten dt. Predigten dierteren Verhältnissen. erweisen N. als bes. mit der »cura monialium« befasst. Umstritten ist, ob ihm eine
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N.s Gedichte u. die – v. a. aus materiellen Gründen geschriebenen – Novellen fallen weder quantitativ noch qualitativ ins Gewicht; sein dramat. Schaffen wird, obwohl etwa Der Wohltäter neue Wege ins Volksschauspiel weist, durch das Ringen um das klass. Drama bes. in der Nachfolge Schillers bestimmt. Weitere Werke: Ausgew. Dramat. Werke. 3 Bde., Stgt. 1892–96. – Mein Leben. Hg. Caroline Nissel. Stgt. 1894. Literatur: Josef Ratislav: F. N. Diss. Wien 1914. – ÖBL. – Murray G. Hall u. Gerhard Renner: Hbd. der Nachlässe u. Slg.en österr. Autoren. 2., erw. Aufl. Wien u. a. 1995. – Felix Czeike (Hg.): Histor. Lexikon Wien. Bd. 4, Wien 2004. Elisabeth Lebensaft
Nißlen, Nißle, Nisle(n), Nüßle(n), Tobias, auch: Agathus Carion, De La Grise, De La Sireg, De Rebe, Sir Galen, * 17.4.1636 Ulm, † 28.9.1710 Weiltingen. – Theologe; Romancier, Übersetzer u. Fachschriftsteller.
Leben nachgehen konnte. N. behält oft die Kulisse des Schäferromans bei, doch geht es ihm v. a. um die Einmaligkeit der Persönlichkeit, die besonders in deren Entscheidungsfreiheit hervortritt – deutlich in seinem Hauptwerk Liebes-Kampf (6 Tle., Ffm./Ulm 1679–85). Deß verkehrt und wiederbekehrten Silobins [...] artliche Verheyratung (Ulm 1682) schildert Reiseerfahrungen eines jungen Adligen. Cats regte N. zu seiner Tugend-Liebe (Nürnb./Neustadt a. d. A. 1688) an. Weitere Werke: Krieg-Hof- u. Land-Lebens Beschreibung [...]. Ffm./Ulm 1680 (R.). – Der unglückselige Misoneur [...]. Ffm./Ulm 1681 (R.). – Die keusche [...] Susanna [...]. Ulm 1682 (bibl. Gesch.). – Der gottsfürchtige, fromme u. eben darum sehr beglückte Tobias [...]. Ulm 1682 (bibl. Gesch.). – Übersetzungen: Athanasius Kircher SJ: Neue Hall- u. Thon-Kunst [...]. Nördlingen 1684. Nachdr. Hann. 1983. Internet-Ed.: VD 17. – Heron v. Alexandrien: Buch v. Lufft- u. Wasser-Künsten [...]. Bamberg (auch: Ffm.) 1688. Internet-Ed.: VD 17. – Christoph Fischer SJ: Fleissiges Herren-Auge, oder wohl-ab- u. angeführter Haus-Halter [...]. Ffm./Nürnb. 1690 (›Hausväterbuch‹). Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel:
Der Schreinerssohn studierte 1653–1658 Arnold Hirsch: Bürgertum u. Barock im dt. Roman. Philosophie u. Theologie in Tübingen u. Köln/Graz 1957. – Manfred Koschlig: Wer war ›De Straßburg u. war 1659/60 Pfarrer in Bergen- La Grise‹? [...]. In: Ztschr. für Württemberg. Lanweiler. 1660 ernannte ihn Herzog Manfred desgesch. 32 (1973), S. 17–112, 512–528. – Ders.: Zur zweimaligen Widmung des ›Silobin‹ v. T. von Württemberg-Weiltingen zum »InforNisslen (De La Grise). In: Gutenberg-Jb. (1975), mator und Inspektor der fürstlichen Jugend« S. 168–181. – Ders.: Der 1. Mai als fiktives Datum u. schlug ihn 1661 für die Pfarrei Veitsweiler bei Zesen u. N. In: Wolfenb. Notizen zur Buchgevor. Ab 1669 war er Pfarrer in Weiltingen u. sch. 3 (1978), S. 190–193. bis 1705 auch fürstl. Beichtvater u. HofpreGuillaume van Gemert / Red. diger. N. trat mit naturwissenschaftlich-techn. Nithard, † wohl Mai 845. – GeschichtsSchriften hervor (u. a. Helio-Cometes [...]. schreiber. Nürnb. 1681. Eigentlicher Bericht, welcher Gestalten der [...] Comet zu Marckt-Wailtingen [...] Durch seine Abstammung von dem adeligen observiret worden. Augsb. 1680/81) u. verfasste Franken Angilbert u. Bertha, einer Tochter im Zusammenhang mit seiner Erziehertätig- Karls des Großen, gehörte N. zur weltl. Fühkeit Junger Fürsten Tugend-Schul (Nördlingen rungsschicht um die karoling. Herrscherfa1666), den verhaltensdidakt. Füglichste[n] Weg milie. Im Auftrag Karls des Kahlen übernahm (Nürnb. 1679; nach Jacques de Caillières) so- er mehrfach diplomat. Missionen u. kämpfte wie Neu-gefaßt- und polirter Hof-Spiegel (Nörd- in der Schlacht von Fontenoy mit (25.6.841). lingen 1683; nach Aegidius Albertinus’ Fas- Kurz zuvor hatte Karl ihn aufgefordert, die sung von Guevaras Menosprecio de corte). polit. Ereignisse im Zwist der drei Söhne Als den Romanautor De La Grise (De La Ludwigs des Frommen um das Reich in eiSireg, Sir Galen) identifizierte ihn Koschlig. nem Geschichtswerk aufzuzeichnen. Wohl N.s Romane spielen in Kreisen des Landadels, erst im Frühjahr 845 übernahm N. das Amt der stärker als der Hofadel einem eigenen eines Laienabts im Kloster St. Riquier u. fiel
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Nitsch
wahrscheinlich wenig später in einer Schlacht Textes, Histoire 22–23 (1992), S. 149–161. – Elina Screen: The Importance of the Emperor. Lothar I gegen die Normannen. Die Historiarum libri quattuor setzen zur Er- and the Frankish Civil War, 840–843. In: Early klärung der Gegenwart bei der Vergangen- Medieval Europe 12 (2003), H. 1, S. 25–53. Sabine Schmolinsky / Red. heit an: Ausgehend von der vorbildl. Herrschaft Karls des Großen beschreibt N. im ersten Buch die Zeit Ludwigs des Frommen Nitsch, Hermann, * 29.8.1938 Wien. – bis ins Jahr 843. Das zweite bis vierte Buch Aktionskünstler, Maler, Grafiker. gelten den Auseinandersetzungen Karls u. Ludwigs mit ihrem als betrügerisch geschil- N., der von 1953 bis 1958 eine Ausbildung an derten Bruder Lothar bis zur Heirat Karls mit der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Irmintrud Ende desselben Jahrs. N.s Unmut, Wien erhielt, entwickelte schon als 19-Jähridie widrigen Zustände in seinem eigenen ger die Idee vom Orgien-Mysterien-Theater, Geschlecht darstellen zu müssen, ließ ihn die seither zum Brennpunkt aller seiner zunächst mit dem zweiten Buch enden; er künstlerischen u. literar. Tätigkeiten wurde fuhr jedoch später fort, um künftigen Ver- (Das Orgien-Mysterien-Theater. Darmst. 1969). fälschungen der Geschichte vorzubeugen. Die Als Vorbild dient ihm neben Wagners Idee Ursache der Übel sah er in der Selbstsucht, vom Gesamtkunstwerk die abendl. Tragödie persönl. Ziele zu verfolgen u. das Wohl des in der Interpretation Nietzsches sowie Artauds »Theater der Grausamkeit«. 1971 erReiches dabei zu vernachlässigen. N.s aus der Teilnahme als Zeitgenosse warb N. das Schloss Prinzendorf an der Zaya/ entstandenes Werk ist die wichtigste Quelle Niederösterreich, wo er seine Idee nach vielen für die Kämpfe Ludwigs des Frommen u. Teilrealisationen in verschiedenen Aktionen seiner Söhne; als einziges Zeugnis überliefert schließlich 1998 in einem 6-Tage-Spiel realies die 842 in ahd. u. altfrz. Sprache ge- sieren konnte. Das Orgien-Mysterien-Theater schworenen Straßburger Eide. Sein Stil ist ist als Fest konzipiert, wobei das Dasein in schlicht u. frei von literarischen oder bibl. allen sinnl. Dimensionen gefeiert werden Zitaten. In die Abfolge der polit. Ereignisse soll. Für die Aufführung hat N. Regeln für die fügen sich Bemerkungen über Naturerschei- Architektur (Die Architektur des Orgien-Mysterinungen, die N. als zeichenhaft für den Un- en-Theaters. Bd. 1 u. 2, Mchn. 1987 u. 1993), Musikpartituren (Partitur des 6-Tage-Spiels 1., 2. frieden seiner Zeit empfand. Im MA war N.s Bericht kaum bekannt. Er und 3. Teil. Wien 1998) sowie theoretische (Zur ist in einer frz. Handschrift des 10. Jh. er- Theorie des Orgien Mysterien Theaters – zweiter halten u. wurde im 15. Jh. einmal abge- Versuch. Salzb. 1995) u. dramaturg. Schriften verfasst. Als literar. Hauptwerke sind die schrieben. Ausgaben: Nithardi historiarum libri 4. Hg. Aktions-Dramen König Ödipus (Neapel 1976), Ernst Müller. Hann. 1907. Neudr. 1965. – Reinhold Harmating, ein Fest (Bln. 1972), Die Eroberung Rau (Hg.): Quellen zur karoling. Reichsgesch. Tl. 1, von Jerusalem (Bln. 1977) anzusehen. Darmst. 1955. Neudr. 1987, S. 386–461 (mit N. zählt neben Günter Brus, Otto Mühl u. Übers.). Rudolf Schwarzkogler zu den wichtigsten Literatur: Wilhelm Wattenbach u. Wilhelm Vertretern des Wiener Aktionismus. Die Levison: Dtschld.s Geschichtsquellen im MA. H. 1: Umdeutung der Psychanalyse zu einem Die Vorzeit. Weimar 1952, S. 353–357. – Janet L. »psycho-physischen Naturalismus« (Nitsch) Nelson: Public Histories and Private History in the führte schon in den vom Tachismus angeWork of N. In: Speculum 60, 2 (1985), S. 251–93. – regten Malaktionen zu einer Erweiterung des Marie Luise Bulst-Thiele: N. In: VL. – J. L. Nelson: symbolischen Kunst-Bereichs in einen direkt Ninth-Century Knighthood. The Evidence of Nithard. In: Studies in Medieval History Presented to erfahrbaren Körper-Umwelt-Bereich, in dem R. Allen Brown. Hg. Christopher Harper-Bill u. a. »naturalistische« Materialien (Blut, Fleisch, Woodbridge 1989, S. 255–266. – Philippe De- Kadaver, Eier, Obst, Brot) in die künstlerische preux: N. et la Res Publica. Un regard critique sur le Aktion (Beschüttung, Bewerfung, Lärm, Prorègne de Louis le Pieux. In: Médiévales. Langue, zession, Zerfleischung, Kreuzigung) einbe-
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zogen werden. Der dabei intendierten Zer- der Presse 1988–95. Hg. Gerhard Jaschke. Wien trümmerung bürgerl. Ästhetikvorstellungen 1995. – H. N. Das Orgien Mysterien Theater. Muu. der Durchbrechung von Tabus läuft eine seum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien 1996. starke Tendenz zur Re-Mythisierung entge- – H. N., Leben u. Arbeit. Aufgezeichnet v. Danielle Spera. Wien 2005. – H. N., Das Orgien Mysterien gen. In der Radikalität der Durchsetzung Theater. Fotos früherer Aktionen. Hg. O. Rychlik. seiner Ziele erregte N. immer wieder Anstoß Rosenheim 2005. – N., der Mensch hinter seinen u. kam öfter mit dem Sittengesetz in Konflikt Aktionen. Fotografien v. Erika Schmied. Salzb. (auch Haftstrafen). 2005. – Winterreise. From Asolo to New York and N. kämpft unablässig für seine Idee des Vice Versa 1974. Verona 2007. – Nicht nur Farbe Orgien-Mysterien-Theaters wie um sein Re- sondern auch Blut. Über H. N. – Vierzehn Versuche nommee als international anerkannter aus achtzehn Jahren. Weitra 2007. – Museum H. N. Künstler u. Dramatiker, das ihm wegen der Ostfildern 2007. – Martin Freya: Der N. u. seine radikalen u. provokanten Seite seines Werks Freunde. Wien 2008. Walter Ruprechter mitunter abgesprochen wird. Doch die Präsenz seiner Werke in wichtigen Museen u. Nitschmann, Anna, * 24.11.1715 KuneSammlungen der Welt, die Lehraufträge an walde bei Fulnek/Mähren, † 21.5.1760 Hochschulen u. Universitäten, die Auffüh- Herrnhut. – Seelsorgerin, Missionarin, rung seines Orgien-Mysterien-Theaters am Liederdichterin. Wiener Burgtheater 2005 u. letztlich die ErDie durch die Erweckung der Mährischen öffnung eigener Nitsch-Museen in MistelBrüder geprägte N. wanderte mit ihrer Fabach (2007) u. Neapel (2008) zeigen, dass N. milie (Vater: David Nitschmann der Alte; diesen Kampf gewonnen zu haben scheint. Geschwister: Melchior, Rosina, Johann) um Weitere Werke: 1., 2., 3. u. 5. Abreaktionsspiel. ihres evang. Glaubens willen 1725 nach Urfassungen, Polizeiber.e, Gerichtsakten. Neapel Herrnhut aus u. trat in die Dienste der Gräfin 1976. – Frühe Aktionen. Neapel 1976. – Partitur Erdmuthe Dorothea von Zinzendorf. zur 50. Aktion. Bln. 1976. – Behauptungen u. Be1730 wurde sie durch das Los zur »Ältestin schreibungen zum Projekt des O. M.-Theaters (Ordensregeln). Wien 1981. – Das O. M.-Theater – der ganzen weiblichen Gemeine« bestimmt, Lesebuch. Wien 1983. – Das O. M.-Theater. gründete einen »Jungfernbund« (später 1960–83. Eindhoven 1983. – Das früheste Werk. »Schwesternchor« mit Wohngemeinschaft) u. Hg. Otmar Rychlik. Wien 1986. – Cuma, III. Fest. wurde Erzieherin von Zinzendorfs Tochter Neapel 1988. – Das Orgien Mysterien Theater, 80. Benigna. 1740–1743 war sie auf der Mission Aktion. Mchn. 1988. – Das O. M.-Theater, Mani- in Nordamerika, 1743/44 in Riga in Gefanfeste, Aufsätze, Vorträge. Salzb. 1990. – Cuma. 2 genschaft, dann ständig unterwegs als SeelBde., Prinzendorf 1994. – Die Wortdichtung des O. sorgerin der »Schwestern«. Als solche war sie M.-Theaters II. Wien 1996. – The Fall of Jerusalem. eine unentbehrl. Mitarbeiterin Zinzendorfs, Hg. Malcolm Green. London 1997. – Partitur des 6die dieser nach dem Tod seiner Frau ErdmuTage-Spiels, 1., 2. u. 3. Tl., Wien 1998. – Das the Dorothea 1757 heiratete. Sechstagespiel. Hg. O. Rychlik. Ostfildern 2001. – N.s Lieder, die die beglückende GeborgenWiener Vorlesungen. Hg. Michael Hüttler. Wien 2005. – Das Orgien Mysterien Theater, 122. Aktion. heit der Christusgemeinschaft besingen, aber auch zu nüchterner, demütiger Bewährung in Burgtheater 2005. Literatur: Peter Weibel u. Valie Export (Hg.): der Nachfolge rufen, werden in der BrüderBildkompendium Wiener Aktionismus u. Film. gemeine bis heute gesungen (11 Lieder im Ffm. 1970. – Ekkehard Stäk: H. N.s ›Orgien-Mys- Gesangbuch der Evangelischen Brüdergemeine. terien-Theater‹ u. die ›Hysterie der Griechen‹. Hbg. 1967). Mchn. 1987. – Von der Aktionsmalerei zum Aktionismus. Wien 1960–65. Klagenf. 1988. – Das rote Tuch – Der Mensch das unappetitlichste Vieh. Wien 1988. – Wiener Aktionismus 1960–71. Hg. Hubert Klocker. Klagenf. 1989. – Das bildnerische Werk. Salzb. 1989. – H. N. Eine biogr. Skizze. Krems 1994. – Reizwort N. Das O.M.T. im Spiegel
Ausgaben: Lebenslauf der Schwester A. N. [...] 1737 [...] eigenhändig verfaßt. In: Nachrichten aus der Brüder-Gemeine 26 (1844), S. 575–610. – Dass.: In: ›Mein Herz brannte richtig in der Liebe Jesu‹. Autobiogr.n frommer Frauen aus Pietismus u. Er-
615 weckungsbewegung. Eine Quellenslg. Hg. M. H. Jung. Aachen 1999, S. 151–168. Literatur: A. H. Lier: N. In: ADB. – Koch 5, S. 307–312. – Wilhelm Jannasch: Erdmuthe Dorothea Gräfin v. Zinzendorf. Herrnhut 1915. – Felix Moeschler: Alte Herrnhuter Familien. Bd. 1, Herrnhut 1922, S. 88–91. – Gudrun Meyer: Verfasserverz. zu: Herrnhuter Gesangbuch (v. 1735). Hildesh. u. a. 1981 (= Nikolaus Ludwig v. Zinzendorf: Materialien u. Dokumente. Reihe 4, Bd. 3., Tl. 3). – Bernhard H. Bonkhoff: Ein Brief der Zweibrücker Freifrau v. Steinkallenfels an A. N. aus dem Jahre 1746 [...]. In: Blätter für pfälz. Kirchengesch. u. religiöse Volkskunde 58 (1991), S. 138–141. – Martin H. Jung: Frauen des Pietismus. Zehn Porträts [...]. Gütersloh 1998, S. 61–73. – Lucinda Martin: Möglichkeiten u. Grenzen geistl. Rede v. Frauen in Halle u. Herrnhut. In: PuN 29 (2003), S. 80–100. – Gesch. Piet., Bd. 4, Register. – Linda Maria Koldau: Frauen, Musik, Kultur. Ein Hdb. zum dt. Sprachgebiet der Frühen Neuzeit. Köln u. a. 2005, Register. – L. Martin: A. N. [...], Priesterin, Generalältestin, Jüngerin der weltweiten Brüdergemeine. In: Frauen gestalten Diakonie. Hg. Adelheid M. v. Hauff. Bd. 1, Stgt. 2007, S. 393–409. Dietrich Meyer / Red.
Nivardus von Gent, auch: Magister N. – Möglicher Verfasser des mittellateinischen Tierepos Ysengrimus, vor 1150. Lange Zeit entnahm man den Namen des Autors einer Handschrift des Florilegium Gallicum: Ein Exzerpt aus dem Ysengrimus wird dort einem »magister Nivardus« zugeschrieben. Seitdem jedoch zwei weitere Namen in Florilegiensammlungen bekannt wurden, erscheint die Zuweisung an einen bestimmten Autor fraglich. Zahlreiche Hinweise zum Entstehungshintergrund liefert das Werk selbst. Die kuriose Geschichte etwa, die an den Namen einer Lokalheiligen geknüpft ist (II, 59–102), oder das Kloster St. Peter, in das Ysengrimus eintritt (V, 868, 870–888), sind einem Publikum im Raum von Gent am besten verständlich. Für das zweisprachige Flandern u. Brabant spricht auch das Nebeneinander von flämischen u. roman. Sprichwörtern u. Tiernamen sowie die Bildung lat. Formen aus german. Wörtern. Abgeschlossen war das Werk wahrscheinlich vor dem 24.8.1149, dem Todestag Anselms, Bischof von Tournai,
Nivardus von Gent
der als Lebender angesprochen ist. Die Erwähnung weiterer histor. Persönlichkeiten u. Ereignisse (s. u.) unterstützt diese Datierung. – Da solche Anspielungen untrennbar mit der satir. Darstellung verbunden sind, bleiben genauere Zuordnungen hypothetisch. Konträr beurteilt wird bes. das Lob der Äbte Walter von Egmond u. Balduin von Liesborn (V, 456–540), die einzige persönl. Äußerung des Erzählers. Wenn es sich nicht um eine weitere satir. Spitze handelt, erlaubt die abschließende Bitte um Gönnerschaft Rückschlüsse auf die Lebensumstände des Autors; einer monast. Gemeinschaft muss er zumindest nahegestanden haben. In dem umfangreichen Tierepos (insg. 6592 Verse in sieben Büchern) sind zum ersten Mal eine Fülle von Tiergeschichten aus unterschiedl. Traditionen in einen geschlossenen Zusammenhang gebracht: Handlungstragend ist der Gegensatz zwischen Fuchs u. Wolf; im Mittelpunkt der zwölf Hauptepisoden steht Ysengrimus. Gier u. Fresslust führen ihn schrittweise in den unausweichl. Untergang; nur in der ersten Episode ist er seinem Gegenspieler Reinardus überlegen. Schon hier sind die traditionellen Eigenschaften des Wolfes mit seinem früheren Klosterleben verbunden: Er hält sich noch immer an dessen »Regeln«, mehr zu nehmen, wenn man mehr brauche (I, 423–465 u. 639–650). Während des Hoftags des kranken Löwen (B. III) wird Ysengrimus seine mangelnde Raffinesse zum Verhängnis. Er selbst hatte den Tod zweier Besucher befürwortet, um den Löwen zu heilen, doch dem lügen- u. listenreichen Fuchs gelingt es, stattdessen die Häutung des Wolfes durchzusetzen. Erst danach erzählt der Bär dem geheilten Löwen u. den versammelten Tieren Ysengrimus’ Vorgeschichte (B. IV u. V), u. a. von dessen Klosterleben. Grund für seinen Eintritt u. die Vertreibung ist auch hier die Gier, die – so Reinardus – bei den Mönchen am besten befriedigt werden könne. Immer wieder werden kirchl. Rituale parodiert; die Vertreibung aus dem Kloster etwa ist als Bischofskrönung inszeniert. Im Finale des Schlussteils (B. VII) erscheint dieses Verfahren ins Groteske gesteigert: Eine Sauherde feiert die grausame Tötung als Messe mit liturgischem Gesang u.
Nivardus von Gent
Friedensküssen; anschließend »bestatten« sie Ysengrimus in ihren Bäuchen. Der Wolf ist mit diesem selbstständig gestalteten Abschluss – zugrunde liegen Legenden über den Tod Mohammeds – noch einmal gegenüber allen anderen Tieren hervorgehoben. Durch die konsequent akzentuierte Außenseiterrolle, aber auch durch vielfältige Verzahnungen u. die Binnenerzählung nach vergilischem Muster ist insg. epische Geschlossenheit erreicht. Demgegenüber fällt weniger ins Gewicht, dass sich das heterogene Material der Verbindung widersetzt u. einzelne Fabeln ein gewisses Eigenleben bewahren. Dem Erzähler liegt wenig an der Wahrscheinlichkeit des Geschehens, nichts an breiter Entfaltung: Handelnde Personen oder Hinweise zur Umgebung werden erst dann eingeführt, wenn der Fortgang der Erzählung es erfordert. Dieses Gestaltungsprinzip steht seinerseits in engem Zusammenhang mit der satir. Grundintention; denn ein möglichst vollständiges Abbild der realen Welt nähme dem gezielten Angriff seine Schärfe. Die Satire entfaltet sich dementsprechend v. a. im geschliffenen, pointenreichen Dialog. In souverän gestalteten Distichen wird auf beiden Seiten unerbittlich mit sophistischer Dialektik argumentiert. Die oft ambivalente Ironie ist dabei nicht rhetorischer Schmuck: Metaphern aus dem Bereich kulinar. Genüsse etwa verbildlichen Erwartungen u. Desillusionierung des unersättl. Wolfes. Die Figur des »lupus monachus«, die zuvor vereinzelt als unverbesserl. »Wolf im Schafspelz« in humoristischem Kontext erscheint, ist Zielscheibe einer sarkastisch-höhn. Invektive geworden. Dass damit das Mönchstum als geistl. Institution angegriffen wird, ist unbestritten. Schwierig zu bestimmen bleibt jedoch, von welchem Standpunkt aus der Angriff erfolgt u. inwieweit Zeitgenössisches zum Ausgangspunkt für die Satire wird. Im gesamten Werk ist kein positiver Gegenentwurf erkennbar; das Handeln aller Beteiligten ist allein auf den eigenen Vorteil gerichtet: Danach zu streben, wird als »Klugheit« bezeichnet. Recht u. Gerechtigkeit, die sonst keine Rolle spielen, werden im Prozess während des Hoftags v. a. von Rein-
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ardus ausschließlich für seine Zwecke instrumentalisiert. Hinweise zur Einordnung gibt die Figur des Wolfsmönchs selbst. Seine Titel »Abt« u. »Bischof«, deren Funktion in der Erzählung nicht weiter erklärt ist, verweisen über diese hinaus auf den Mönchsbischof. Er wird in der Gestalt des Anselm von Tournai, dessen ungezügelte Gier gegenüber seiner »Herde« genau dem Verhalten des Wolfes entspricht, direkt angegriffen; wie Ysengrimus u. gelegentlich auch Reinardus ist er mit dem Satan gleichgesetzt (V, 97–130). Den Betrügereien des Papstes Eugen III., ebenfalls Mönch u. nicht weniger geldgierig, wird das Scheitern des zweiten Kreuzzugs zugeschrieben (1147/ 48; vgl. VII, 463–470, 663–708). Die Klage über diese Katastrophe mündet in eine apokalypt. Vision: Anzeichen für die göttl. Vergeltung sind die Umkehrung aller natürl. Verhältnisse sowie das Auftreten Satans in der Welt (VII, 561–658). Damit werden im Epilog noch einmal die vielfältigen Aspekte der »verkehrten Welt« des Ysengrimus übersteigernd zusammengefasst – einer Welt, in der z.B. der Wolf, der betrügerische »Herdenhüter«, fortwährend selbst betrogen wird. »Je höher die Stellung eines Bösewichts, desto tiefere Erniedrigung verdient er«, kommentiert die Sau Salaura sein Ende (VII, 459). Viele Eigenheiten, denen der Ysengrimus seine herausragende Stellung in der mlat. Literatur verdankt, werden später nicht mehr aufgenommen; dennoch spielt er eine entscheidende Rolle für die weitere Entwicklung der Tierepik. Wie die Ecbasis Captivi (Mitte 11. Jh.) entstammt er dem dt.-frz. Grenzgebiet; dort sind auch Heinrichs Reinhart Fuchs u. der mittelniederdt. Reinke de vos beheimatet. Wichtigstes Zeugnis dieses Kulturkontakts ist der frz. Roman de Renart, dessen älteste »Branchen« unmittelbar auf den Ysengrimus zurückgehen; er wurde seinerseits zur Grundlage für die beiden deutschsprachigen Werke. Schließlich hat der Ysengrimus Teil an der überregionalen lat. Gelehrtenkultur; dies belegen u. a. die Umarbeitung der Hoftags- u. Wallfahrtsfabel im sog. Ysengrimus abbreviatus (um 1400) oder die Beliebtheit seiner Maximen u. Sprichwörter, die in Florilegien Eingang gefunden haben.
617 Ausgaben: Ysengrimus. Hg. Ernst Voigt. Halle/ S. 1884. Neudr. Hildesh./New York 1974 (krit. Ausg. mit Komm.). – L’Ysengrimus abbreviatus. Hg. Lieven van Acker. In: Latomus 25 (1966), S. 912–947. – Hg. Jill Mann. Leiden 1987 (Text nach E. Voigt, mit monograf. Einl., engl. Übers., Komm. u. Lit.). – Übersetzung: Hg. Albert Schönfelder. Münster/Köln 1955. Literatur: Max Wehrli: Vom Sinn des mittelalterl. Tierepos. (Zuerst 1956.) In: Mlat. Dichtung. Hg. Karl Langosch. Darmst. 1969, S. 467–480. – Hans Robert Jauss: Untersuchungen zur mittelalterl. Tierdichtung. Tüb. 1959, S. 56–113, 178–189. – Fritz Peter Knapp: Das lat. Tierepos. Darmst. 1979, S. 40–89. – W. Günther Ganser: Überlegungen zu Autor u. Publikum des Ysengrimus. In: ABäG 25 (1986), S. 29–43. – J. Mann: N. v. G. In: VL. – Fidel Rädle: Der Prozeß gegen den Wolf (›Ysengrimus‹ B. III). In: Lit. u. Recht. Literar. Rechtsfälle v. der Antike bis in die Gegenwart. Hg. Ulrich Mölk. Gött. 1996, S. 37–56. – Elisabeth Hesse: Der Fuchs u. die Wölfin. Ein Vergleich der Hersanthandlung im ›Ysengrimus‹, im ›Roman de Renart‹ u. im ›Reinhart Fuchs‹. In: Schwierige Frauen – schwierige Männer in der Lit. des MA. Hg. Alois M. Haas u. Ingrid Kasten. Bern u. a. 1999, S. 111–128. – Herfried Vögel: Ysengrims Haut. In: Tierepik u. Tierallegorese. Hg. Bernhard Jahn u. Otto Neudeck. Ffm. u. a. 2004, S. 63–70 (Lit.). – Christel Meier: Dialog- u. Redestrategien im ›Ysengrimus‹. Ein Beitr. zur Kommunikation der Verstellung. In: Norm u. Krise der Kommunikation. Inszenierungen literar. u. sozialer Interaktion im MA. FS Peter v. Moos. Hg. Alois Hahn u. a. Münster 2006, S. 35–53. Anette Syndikus
Magister Nivardus ! Nivardus von Gent Nizon, Paul, * 19.12.1929 Bern. – Erzähler. N. ist Sohn eines russ. Emigranten u. einer Schweizerin. Nach dem Studium der Kunstgeschichte, Archäologie u. Germanistik in Bern u. München promovierte er 1957 mit einer Arbeit über Vincent van Gogh (Die Anfänge Vincent van Goghs. Der Zeichnungsstil der holländischen Zeit. Untersuchung über die künstlerische Form und ihre Beziehung zur Psychologie und Weltanschauung des Künstlers. Bern 1960) u. gab 1977 dessen Korrespondenz u. d. T. Van Gogh in seinen Briefen (Ffm.) heraus. Nach der Promotion folgte die Anstellung als wiss. Assistent am Historischen Museum Bern.
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1960 hielt sich N. als Stipendiat am Schweizer Institut in Rom auf, ein Jahr danach leitete er die Abteilung Kunstkritik der »Neuen Zürcher Zeitung«. Seit 1962 lebt N. als freier Autor. Er war auch als Gastdozent tätig: 1969/70 an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, 1984 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt u. 1987 an der Washington University in St. Louis/Missouri. Im Jahre 1977 verließ N. die Schweiz u. ging nach Paris. Seine Werke wurden ins Französische, Italienische, Spanische, Kroatische, Polnische u. Russische übersetzt. Ihm wurden zahlreiche Literaturpreise verliehen, darunter: Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis (1972), Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen (1975), Preis der Schweizerischen Schillerstiftung (1982), Prix France Culture Étrangère u. Ernennung zum Chevalier dans l’Ordre des Arts et des Lettres (1988), Torcello-Preis der Peter-SuhrkampStiftung (1989), Marie-Luise-Kaschnitz-Preis (1990), Großer Literaturpreis des Kantons Bern (1994), Erich-Fried-Preis (1996), Kranichsteiner Literaturpreis (2007). N. betrat die literar. Bühne im Jahr 1959 mit den Prosaimpressionen Die gleitenden Plätze (leicht veränderte Neuausg. Ffm. 1990), in denen die Konstanten seines späteren Werks (der Mensch in Enge u. Aufbruch, das süchtige Erkunden von Städten u. sinnl. Schönheiten, die Wahrnehmung der Realität durch den Flaneur, Spaziergang als Ritus u. Verhaltensmuster, Schreiben als Leben) in nuce vorliegen u. die Sublimation des Ausdrucks nach Art Robert Walsers erkennbar wird; Letzterem bringt er eine geradezu kult. Bewunderung entgegen (vgl. den Essay Robert Walsers Poetenleben im Band Über den Tag und durch die Jahre. Essays, Nachrichten, Depeschen. Ffm. 1991). N.s Einzelwerke sind im Grunde Variationen ein u. desselben Stoffes; in jeweils abgewandelter Form bringen sie das Wunschbild eines schweifenden, sich jeglichem Gleichmaß entziehenden Lebens. Dabei präsentiert der Verfasser sein Alter Ego von einer jeweils anderen Seite. Seine Protagonisten legen alles darauf an, auf die Großstadt, sei es Rom als kulturelle Verdichtung in Canto (Ffm. 1963, Zürich 1963) oder Paris als Kultobjekt u. Interieur des Unbeschwerten,
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eine Gegenrealität der zurückgelassenen Schweiz in Das Jahr der Liebe (Ffm. 1981), flanierend zu schauen u. darüber zu schreiben. Canto, ein Ergebnis von N.s Aufenthalt in Rom, hält stark an der Autonomie des literar. Textes fest u. ist ein Versuch, dessen Originalität aus der Form u. Sprache heraus zu beglaubigen u. zgl. das Schreiben, das in sich selbst Genüge findet, als »Passion in den Fingern«, »Inkubieren eines Stoffes«, nie zu Ende gehende Wortsuche zu definieren; der Schreibende ist dabei »Sprachmensch, kein Inhalte-Verteiler«. Diese poetolog. Reflexion – auch im Kontext seiner Vorbilder van Gogh u. Robert Walser – setzt N. in den Frankfurter Vorlesungen Am Schreiben gehen (Ffm. 1985) sowie in Die Innenseite des Mantels. Journal (Ffm. 1995) fort. In Canto macht sich zudem die Erfahrung der Sexualität u. Weiblichkeit als einer freien, im Bürgertum tabuisierten Sphäre stark geltend. Dem Thema Enge u. Weite gibt der Schriftsteller in Diskurs in der Enge. Aufsätze zur Schweizer Kunst (Bern 1970) provokatives Gepräge: Die schweizerische Realität impliziere Stoffarmut u. folglich eine Flucht des Künstlers – ein Motiv, das sich in Die Erstausgaben der Gefühle. Journal 1961–1972 (hg. v. Wend Kässens. Ffm. 2002) als »Einübung in den Tod« präsentiert. Ähnliches wird im Prosaband Im Hause enden die Geschichten (Ffm. 1971) angesprochen. N. skizziert hier die Beengtheit des bürgerl. Alltags, Häuser u. Häuslichkeit als Lethargie u. stiller Wahnsinn. Der Schweizer Enge entflieht auch in der Erzählung Untertauchen. Protokoll einer Reise (Ffm. 1972) sein Alter Ego, ein nach Barcelona aufbrechender Kunsthistoriker, dem sich in der Fremde die Möglichkeit bietet, verdrängte Gefühle u. Emotionen in einem Liebesabenteuer zu kompensieren u. sich selbst neu zu entdecken. Auch der linear strukturierte, Elias Canetti gewidmete Roman Stolz (Ffm. 1975) ist eine Variante der Ausbruchsthematik. Iwan Stolz, der Kunstgeschichte studiert u. eine Arbeit über van Gogh schreibt, tritt aus dem gewohnten Lebenszusammenhang heraus, trennt sich von seiner bisherigen Existenz, von Frau u. Kind u. findet im Wald den Erfrierungstod. Das Jahr der Liebe, N.s literar. Höhenflug, zeigt vor dem Hintergrund der traumhaften Topogra-
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fie von Paris u. seinen visuellen Reizen die Hauptfigur als einen modernen Epikuräer u. Flaneur, den die Großstadt ins Leben lockt. Dieser amorphe, sehr stark autobiografisch geprägte Roman ist Ausdruck der Sehnsucht nach Verhältnissen, in denen die Aufhebung jeglicher Zwangslage u. die Erlangung von Freiheit u. sinnl. Glück möglich werden – in Form von Nachtleben, Erotik u. Ekstase, von obsessivem Spaziergang u. ebensolchem Schreiben. Dass Literatur eine Leistung normfreier, laun. Wortkunst sein kann, davon handeln auch die vom Autor selbst im Untertitel »Caprichos« genannten Erzählungen Im Bauch des Wals (Ffm. 1989), in denen neben der poet. Existenz, dem »Gleiten, Staunen« das »Dämmern« spürbar ist. N. lässt nun die Figur eines Randständigen deutlich erkennen u. stellt damit das Atmosphärische seiner weiteren Werke in Aussicht: Das Auge des Kuriers (Ffm. 1994), Hund. Beichte am Mittag (Ffm. 1998), Das Fell der Forelle (Ffm. 2005). Hier tritt der stadtberauschte Flaneur, eine für N. so charakterist. Figur, zurück zugunsten des sozial Marginalisierten. Die Darstellung gewährt diesmal einen Einblick in die Schicht des Unteren, in ein Dasein am Rande der Gesellschaft. Weitere Werke: Bildteppiche u. Antependien im Histor. Museum Bern. Zus. mit Michael Stettler. Bern 1959. – Lebensfreude in Bildern grosser Meister. Lausanne 1969. – Vincent van Gogh im Wort. Eine Ausw. aus seinen Briefen. Bern/Stgt./ Wien 1969. – Friedrich Kuhn. Hungerkünstler u. Palmenhändler. Zürich 1969. – Swiss made. Portraits, Hommages, Curricula. Zürich/Köln 1971. – Aber wo ist das Leben. Ein Lesebuch. Ffm. 1983. – Diskurs in der Enge. Verweigerers Steckbrief. Ffm. 1990. – Taubenfraß. Ffm. 1999. – Abschied v. Europa. Ffm. 2003. Ausgaben: Ges. Werke. 7 Bde., Ffm. 1999. – Das Drehbuch der Liebe. Journal 1973–79. Hg. Wend Kässens. Ffm. 2004. – Die Zettel des Kuriers. Journal 1990–99. Ffm. 2008. Literatur: Werner Bucher u. Georges Ammann: Schweizer Schriftsteller im Gespräch. Bd. 2, Basel 1971. – Benita Cantieni: Schweizer Schriftsteller persönlich. Interviews. Frauenfeld/Stgt. 1983. – Martin Kilchmann (Hg.): P. N. Ffm. 1985. – János Szabó: Erzieher u. Verweigerer. Zur deutschsprachigen Gegenwartsprosa der Schweiz. Würzb.
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619 1989. – Sven Spiegelberg: Diskurs in der Leere. Aufsätze zur aktuellen Lit. der Schweiz. Bern u. a. 1990. – Beatrice v. Matt (Hg.): Antworten. Die Lit. der deutschsprachigen Schweiz in den achtziger Jahren. Zürich 1991. – Text + Kritik, H. 110: P. N. (1991). – Joseph Bättig u. Stephan Leimgruber (Hg.): Grenzfall Lit. Die Sinnfrage in der modernen Lit. der viersprachigen Schweiz. Freiburg (Schweiz) 1993. – Paul Michael Lützeler (Hg.): Schreiben zwischen den Kulturen. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartslit. Ffm. 1996. – Philippe Derivière: P. N. – Das Leben am Werk. Ein Ess. Dt. v. Erich Wolfgang Skwara. Ffm. 2003. – Doris Krockauer: P. N. Auf der Jagd nach dem eigenen Ich. Mchn. 2003. – Ulrich Volk: Der poetolog. Diskurs der Gegenwart. Untersuchungen zum zeitgenöss. Verständnis v. Poetik, dargestellt an ausgew. Beispielen der Frankfurter Stiftungsgastdozentur Poetik. Ffm. u. a. 2003. – Pia Reinacher: Je Suisse. Zur aktuellen Lage der Schweizer Lit. Mchn./Wien 2003. – Wend Kässens: P. N. In: LGL. – Ders.: P. N. In: KLG. – Stefan Gmünder (Hg.): Die Republik N. Eine Biogr. in Gesprächen (geführt mit P. Derivière; aus dem Französischen v. E. W. Skwara). Wien 2005. – Zygmunt Mielczarek: Sonderwege in der Lit. Schweizer Schriftsteller im Außenseiterdiskurs. Wroclaw/Dresden 2007. /
Pia Reinacher / Zygmunt Mielczarek
Noack, Barbara, * 28.9.1924 Berlin. – Unterhaltungsschriftstellerin u. Fernsehautorin. N. studierte nach ihrem Abitur 1943 ein Semester lang Anglistik u. Romanistik in Berlin, bevor sie zur Arbeit in einer Munitionsfabrik verpflichtet wurde. Nach dem Krieg besuchte sie die Berliner Kunstakademie u. arbeitete zunächst als Journalistin u. Pressezeichnerin für Berliner Zeitungen. Auch ihr erster Roman erschien in einer Tageszeitung: Der »Berliner Telegraf« druckte die Ehekomödie Valentine heißt man nicht 1953 als Fortsetzungsgeschichte. Der Durchbruch gelang N. 1955 mit ihrem zweiten Roman Die Züricher Verlobung (Bln. 1955): eine heitere, verwickelte Liebesgeschichte, die von Helmut Käutner 1957 verfilmt wurde – mit Liselotte Pulver in der Hauptrolle. Es folgten weitere leichte u. unterhaltsame Romane, die sich in hohen Auflagen verkauften. Auch ihr Erstling erschien 1956 noch einmal in Buchform u. wurde zum Bestseller (Bln.
1956). Markenzeichen u. Erfolgsrezept von N.s Romanen sind freche, pointierte Dialoge u. der berlinerisch-schnodderige Ton, in dem die Autorin von den Liebeswirren ihrer Heldinnen u. Helden erzählt. 1973 machte N. sich außerdem als Fernsehautorin einen Namen: Sie schrieb das Drehbuch für die 13-teilige ZDF-Vorabendserie Der Bastian mit Horst Janson in der Rolle des charmanten, jungenhaften Studenten, der sich in eine pflichtbewusste, etwas ältere Ärztin verliebt. Die Figur des liebenswerten Querkopfs Bastian erreichte auch ein konservatives Fernsehpublikum, dem der Typ »ewiger Student« bislang eher suspekt geblieben war. Die Geschichte war sogar so erfolgreich, dass N. 1974 den gleichnamigen Roman zur Serie verfasste (Mchn./Wien 1974). Weitere Arbeiten als Drehbuchautorin folgten, u. a. Drei sind einer zuviel (ZDF 1977) u. Adieu mon amour (WDR 1995). Seit 1969 lebt N. am Starnberger See. Ihren Sohn zog sie dort alleine groß. Diese damals eher ungewöhnl. Situation als alleinerziehende Mutter ließ N. u. a. in den Erzählband Eines Knaben Phantasie hat meistens schwarze Knie (Bln. 1971) einfließen. In Interviews wird sie daher häufig mit dem Satz zitiert, die Anschaffung eines Sohnes habe sich »bestens amortisiert«. 1982 erschien der autobiogr. Roman Eine Hand voll Glück (Mchn./Wien 1982. Niederländ. 1985), in dessen Zentrum die Jahre bis 1945 stehen. Die Fortsetzung Ein Stück Leben (Mchn./Wien 1984) spielt in den Berliner Nachkriegsjahren. Die Arbeit mit authent. Material setzt sich in N.s zuletzt erschienenem Roman fort: Jennys Geschichte (Mchn. 1999) beruht auf dem wahren Schicksal einer jungen Frau, die in den 1920er Jahren nach Berlin ging, um dort Gesang zu studieren. N. recherchierte Jennys Geschichte anhand von Tagebüchern u. Briefen. Am Beispiel von drei Generationen – Jenny, ihre Mutter Paula u. ihre Großmutter Tilla – zeigt dieser breit angelegte Roman, wie radikal sich die Möglichkeiten von Frauen Anfang des 20. Jh. veränderten. Weitere Werke: Italienreise – Liebe inbegriffen. Bln. 1957. Verfilmt 1958. – Ein gewisser Herr Ypsilon. Bln. 1961. – Geliebtes Scheusal. Bln. 1963. – Danziger Liebesgesch. Bln. 1964. – Was halten Sie
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vom Mondschein? Bln. 1966. – ... u. flogen achtkantig aus dem Paradies. Bln. 1969. – Ferien sind schöner. Mchn./Wien 1974. – Das kommt davon, wenn man verreist. Mchn./Wien 1977. – Auf einmal sind sie keine Kinder mehr oder die Zeit am See. Mchn./Wien 1978. – Flöhe hüten ist leichter. Mchn./Wien 1980. – Drei sind einer zuviel. Mchn./ Wien 1982 (R.). – Kann ich noch ein bißchen bleiben? ZDF 1989. – Brombeerzeit. Mchn. 1992. Sophia Ebert
Noack, Hans Georg, * 12.2.1926 Burg/ Magdeburg, † 15.11.2005 Würzburg. – Jugendbuchautor, Lektor, Übersetzer. Der Sohn eines Gärtners u. einer Kindergärtnerin besuchte nach der mittleren Reife eine Lehrerbildungsanstalt. 1935–1944 war er bei der Hitlerjugend, im Juli 1944 wurde er zum Kriegsdienst eingezogen u. geriet im April 1944 in Gefangenschaft (amerikanische, britische u. belgische), arbeitete in der Kohlengrube, dann ein Jahr lang in der belg. Glasindustrie in Charleroi. Bis 1954 war N. für den belg. CVJM tätig. Anschließend war er Dolmetscher bei der UNESCO u. Privatsekretär der Pianistin Elly Ney, gründete dann seine eigene Konzert- u. Gastspieldirektion u. veröffentlichte erste Werke. 1960–1973 war er als freier Autor u. Übersetzer tätig u. fungierte 1969–1974 als Sprecher des Ausschusses für Kinder- u. Jugendbuchautoren beim Bundesvorstand des Verbandes deutscher Schriftsteller. 1973 übernahm N. die literar. Leitung des Hermann Schaffstein Verlags in Dortmund, die er bis 1980 innehatte. Von 1980 bis 1991 leitete er den Arena Verlag in Würzburg. N. ist einer der Begründer der bundesrepublikan. Jugendliteratur. Geprägt von den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, betrachtet er das realistische, problemorientierte Kinder- u. Jugendbuch als Mittel polit. Bildung. Beeinflusst vom amerikan. Jugendbuch, schildert N. in erfolgreichen Jugendromanen wie Hautfarbe Nebensache (Baden-Baden 1960. Ravensburg 1980. 121994 u. ö.), Trip (Baden-Baden 1971. Ravensburg 1975. 281996 u. ö.) u. Benvenuto heißt willkommen (BadenBaden 1973. Ravensburg 1976. 161994) Rassismus, Drogenabhängigkeit u. Gastarbeiterproblematik als Fehlentwicklungen der bun-
desrepublikan. Gesellschaft. Benvenuto heißt willkommen zeigt die Enttäuschung u. Ernüchterung der Familie Parachini, die mit ihrem Sohn Benvenuto in Deutschland Geld verdienen will, um dann in der südital. Heimat ein besseres Leben führen zu können. Wie viele andere Gastarbeiter treffen sie jedoch auf eine Vielzahl von Problemen. Mit Sammelbänden wie Streiter, Erben, Hüter. Vom Kampf um die Menschenrechte (Baden-Baden 1964), Biografien wie Der gewaltlose Aufstand. Martin Luther King und der Kampf der amerikanischen Neger (Baden-Baden 1965) u. histor. Rückblicken wie Stern über der Mauer (BadenBaden 1962. U. d. T. Die Webers, eine deutsche Familie 1932–1945. Ebd. 1980) versucht N. das demokrat. Bewusstsein junger Leser zu stärken. Stern über der Mauer zeigt das Leben einer Arbeiterfamilie zur Zeit der NS-Diktatur; auch mögl. Ursachen für die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten kommen zur Sprache. Die Zeichnung der zumeist männl. Figuren ist nicht schwarz-weiß: Auch positive Charaktere haben Schwächen, negative Figuren haben gute Seiten. N.s erfolgreichstes Jugendbuch wurde Rolltreppe abwärts (BadenBaden 1970. Ravensburg 1974. 381995 u. ö.), die sensible, nach Ursachen u. Motiven forschende Schilderung eines straffällig werdenden Jungen. Angesprochen werden so schwierige Themen wie Jugendkriminalität, Heimerziehung, gestörtes Verhältnis zwischen Eltern u. Kindern, falsche Freunde u. die gefährl. Auswirkung von Vorurteilen. Rolltreppe abwärts wurde 2005 unter der Regie von Dustin Loose verfilmt. N. behandelte in seinen Werken aktuelle Probleme u. setzte sich für Schwächere ein; das Zentralthema war stets die Frage nach Gerechtigkeit. N. übersetzte daneben Bücher aus dem Englischen u. Französischen; seine Übersetzungen wurden z.T. mit Jugendbuchpreisen ausgezeichnet, so Der Mann, der überlebte (von Lawrence Elliott, Konstanz 1969) 1970 u. Ein nützliches Mitglied der Gesellschaft (von Barbara Wersba, Baden-Baden 1972), 1973. Auch für sein eigenes Werk wurden N. zahlreiche Preise verliehen, u. a. der Große Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendbuchliteratur (für das Gesamtwerk, 1978), der Friedrich-Bödecker-
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Preis (1990) u. das Bundesverdienstkreuz (1979). N. gründete 1996 die »Jugendstiftung Hans-Georg Noack«, die die Förderung benachteiligter Kinder u. Jugendlicher zum Ziel hat. Weitere Werke: Jürg, die Gesch. eines Sängerknaben. Bamberg 1955 (E.). – Der Schloßgeist. Bamberg 1956. Balve 1971. – Mutter am Gerichtstag. Konstanz 1960. – Das große Lager. BadenBaden 1960. Ravensburg 1966. 121986. – Fahrerflucht zu Gott. Konstanz 1961. 1964. – Die Milchbar zur bunten Kuh. Baden-Baden 1966. Ravensburg 1971. 181993 (R.). – Einmaleins der Freiheit. Baden-Baden 1967. – Die Abschlußfeier. BadenBaden 1972. Ravensburg 1977. 141995. – Suche Lehrstelle, biete... Baden-Baden 1975. Ravensburg 1980. 81989. – David u. Dorothee. Baden-Baden 1977. Ravensburg 1982. 61993 (zus. mit Ingeborg Bayer). – Niko. Mein Freund. Menden/Sauerland 1981. Literatur: Malte Dahrendorf: H.-G. N. u. die Jugendlit. der Bundesrepublik. In: Das gute Jugendbuch 26 (1976), H. 2, S. 55–62. – Karl Heinz Klimmer: H.-G. N.: Rolltreppe abwärts. In: Das gute Jugendbuch 26 (1976), H. 2, S. 62–68. – Theodor Karst: Problemorientierte Lektüre – zum Beispiel H.-G. N.s realist. Jugendroman ›Rolltreppe abwärts‹ u. die Jugendkriminalität. In: Kinder- u. Jugendlektüre im Unterricht. Hg. ders. Bd. 2, Bad Heilbrunn 1979, S. 97–108. – Winfried Freund: Das zeitgenöss. Kinder- u. Jugendbuch. Paderb. u. a. 1982, S. 140–143. – Heide Morjan u. Christoph Steinbach: NS im Jugendbuch. In: Jugend, Lit. u. Identität. Hg. Wolfgang Wangerin. Braunschw. 1983, S. 123–146. – Ilse u. Rainer Weissmann: Benvenuto heißt willkommen. Behandlung einer Ganzschrift in der 7. Jahrgangsstufe. In: Pädagog. Welt 40 (1986), S. 378–382. . Birgit Dankert / Agnieszka Bozek
Nöller
Schwerpunkt) von hoher literar. Qualität enthalten. Was N. beschreibt, hat er selbst erwandert. Deutlich überwiegt die Liebe zur Natur das Verständnis für Kunst u. Geschichte: Der Dom zu Brixen ist für ihn lediglich ein »Steinhaufen«. Zwar verwahrte sich N. dagegen, als Dichter zu gelten, doch versuchte er sich immer wieder in Erzählprosa (Der Zauberer des Hochgebirges. Bln. 1874. Gasteiner Novellen. Wien 1875. Die Reise in den Naßwald. Teschen 1886); aus dem Russischen übersetzte er Gedichte von Tjutschev. Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, schrieb er wohlfeil Journalistisches. Dagegen gehören große Teile von Neue Studien aus den Alpen (Mchn. 1868) u. der erste Band des Deutschen Alpenbuchs (4 Bde., Glogau 1875–78) zu den Klassikern der Reiseliteratur. Weitere Werke: Bair. Seebuch. Mchn. 1865. – In den Voralpen. Mchn. 1865. – Gottes Zorn. Mchn. 1866. – Ach wie dumm geht es in Bayern zu. Mchn. 1866. – Oesterr. Seebuch. Mchn. 1867. – Frühling in Meran. Meran 1868. – Dies Irae. Jugenderinnerungen. Mchn. 1872. – Ein Tgb. aus Abbazia [= Opatija]. Teschen 1884. – Edelweiß u. Lorbeer. Mchn. 1896. – Seinerzeit in den Bergen. Hg. Wilfried Feldhütter. Rosenheim 1981. Literatur: Aloys Dreyer: H. N. In: Obb. Archiv 71 (1935), S. 47–122. – Klaus-Jürgen Wittig u. Traudl Oberrauch Wittig: Brixen in der Reiselit. v. Ludwig Steub u. H. N. In: Der Schlern 56 (1982), S. 491–499. – Benno Hubensteiner: Der Alpenwanderer H. N. In: Ders.: Biographenwege. Mchn. 1984, S. 159–174. Hans Pörnbacher / Red.
Nöller, (Johann) Jonathan Ludwig Leb(e)recht, auch: Thomann, * 7.3.1773 Weißenfels, † unbekannt. – Lyriker, Erzähler, Noë, Heinrich (August), * 16.7.1835 Mün- Übersetzer. chen, † 26.8.1896 Bozen; Grabstätte: N. war Advokat in Dresden, später in Gosda, Gries bei Bozen, Katholischer Friedhof. – danach Justizkommissär in Spremberg/NieReiseschriftsteller u. Erzähler. Nach dem Studium der Naturwissenschaften u. der vergleichenden Philologie in München u. Erlangen wurde N. Bibliothekar in München u. London (British Museum). 1863 gab er seine Staatsstelle auf u. wurde freier Schriftsteller. Zahlreiche Bücher entstanden, deren beste Landschaftsschilderungen (vornehmlich aus den Alpen mit Tirol als
derlausitz. Er begann seine umfangreiche schriftstellerische Nebentätigkeit mit kom. Erzählungen u. Kunstmärchen sowie historisch-anekdotenhaften Episoden in Versform (Sieben Übereilungen. Sieben freie Novellen. Pirna/ Dresden 1800. Milesische Märchen. 2 Bde., Lpz. 1803. Historietten. 11 Bde., Lpz. 1803), die dem Publikumsgeschmack des bürgerl. Nachrokoko entsprachen u. die er wegen ih-
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res frivolen Charakters teils anonym, teils pseudonym erscheinen ließ. Anerkennung seriöser Kenner u. Aufnahme in Sammlungen fand seine Lyrik (Gedichte. Dresden 1805. Erw. 21808), die der Dichtung des Göttinger Hains nachempfunden ist; Trost an Henriette, Rollengedicht eines »abgeschiedenen Liebenden« an seine Geliebte, fand z.B. 1802 Platz im »Musenalmanach« des Jenensers Bernhard Vermehren. N. ahmte teils den klassizist. Stil Matthissons, teils den eleg. Ton Höltys nach; antike poet. Topoi u. Nomenklatur wurden als überhöhende Schmuckformen dem belanglosen Inhalt aufgesetzt, sodass eine Requisitenlyrik entstand, die jedoch, wie die Auflagen zeigen, Anklang fand. Weitere Werke: Der schwarze Kater, eine Bagatelle. Dresden 1805. – Archambaud, oder der Einsiedler im Ardennerwald. Dresden 1805 (E.). – Ausstellungen. Merseburg 1812. Christian Schwarz / Red.
Nöstlinger, Christine, geb. Draxler, * 13.10.1936 Wien. – Autorin von Kinderu. Jugendbüchern, Lyrik u. Mundarttexten. Die Tochter eines Uhrmachers u. einer Kindergärtnerin absolvierte nach der Matura die Akademie für angewandte Künste in Wien. Seit 1970 arbeitet sie als freie Autorin für Verlage, Presse, Rundfunk, Fernsehen, Film u. Bühne. N. lebt in Wien u. im Waldviertel in Niederösterreich. Sie gehört zu den erfolgreichsten Kinder- u. Jugendbuchautorinnen dt. Sprache u. erhielt u. a. 1972 den FriedrichBödecker-Preis, 1973 den Deutschen Jugendbuchpreis, 1988 den Österreichischen Staatspreis, 1984 für ihr Gesamtwerk die Hans-Christian-Andersen-Medaille sowie 2010 den Buchpreis der Wiener Wirtschaft. N.s erste Kinderbücher wie Die feuerrote Friederike (Wien 1970) wurden zur Zeit der antiautoritären Phase deutschsprachiger Kinderliteratur geschrieben u. waren beeinflusst von sozialistisch-utop. Gedankengut. Auch später übte N. in ihren fantast. Kinderbüchern humorvoll Sozialkritik u. entwarf Gegenbilder zu den Zwängen kindlicher Lebenswirklichkeit. Die Institution der Fa-
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milie wird in Jugendbüchern wie Die unteren sieben Achtel des Eisbergs (Weinheim 1978) u. Pfui Spinne (Weinheim 1980) scharf kritisiert. In Wir pfeifen auf den Gurkenkönig (Weinheim 1972. Verfilmt 1975) wird das Verhalten eines Vaters in Frage gestellt, der kleine gehorchende Kinder liebt, während er die größeren mit eigenen Ansichten nur kritisiert. Mit der Figur des unsympath. Gurkenkönigs, der von seinen Untertanen bedingungslosen Gehorsam fordert, führt N. autoritäres Fehlverhalten vor u. gibt den Kindern so die Möglichkeit, sich zu wehren. Der Gurkenkönig wird an Vaters Statt aus der Familie vertrieben. In Konrad oder Das Kind aus der Konservenbüchse (Hbg. 1975. Verfilmt 2007) wird die Entwicklung eines Kindes von hinten aufgerollt. Konrad, das am besten erzogene u. angepassteste Kind, wurde synthetisch in einer Fabrik hergestellt, um den Ansprüchen der »graugekleideten« Ehepaare zu genügen. Es ist eine große Portion Nichterziehung notwendig, damit aus dem dressierten Knaben ein fröhl. Individuum wird. Die Familie wird auch in Hugo, das Kind in den besten Jahren (Weinheim 1983. Tb. 2004) als Zwangsapparat dargestellt. Hugo nennt seine Eltern »Miesmacher 1 und 2«. Inspiriert wurde dieser Roman von den surrealen Grafiken Jörg Wollmanns. Als eine der ersten deutschsprachigen Jugendbuchautorinnen behandelte N. in den Romanen Maikäfer, flieg (Weinheim 1973) u. Zwei Wochen im Mai (Weinheim 1981) kritisch eigene Kindheitserinnerungen an die erste Nachkriegszeit. Kindheit ist im Werk N.s kein paradiesischer Zustand. Sie benennt die Verletzungen u. Traumatisierungen, die Kinder durch das Verhalten Erwachsener erleiden, sei es durch Streit u. Scheidung, schlechte Pädagogik oder soziale Kälte. Im Werk N.s kollidieren die Lebensentwürfe der Erwachsenen mit den Vorstellungen der Kinder. Deutlich wird dieser Konflikt in den Büchern, die z.B. die Trennung der Eltern thematisieren. Sich streitende oder geschiedene Eltern sind eine Potenzierung kindlicher Probleme. Doch N.s Selbstverständnis als Kinderbuchautorin läuft es entgegen, Kindern lediglich das egoist. Fehlverhalten der Erwachsenen vor Augen zu führen. In
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ihrer Auseinandersetzung mit den Thesen von Alice Miller, die neben weiteren Aufsätzen, Reden u. Interviews zum Thema Kindsein u. Schreiben für Kinder u. d. T. Geplant habe ich gar nichts (Wien 1996 mit Werkverz.) dokumentiert ist, erkennt N. die quasi »zwangsneurotische Verstrickung« (Ewers) von Eltern u. Kindern. Eltern als Versager vorzuführen, kann das Ziel von Kinderliteratur nicht sein, denn diese Darstellung können Kinder in ihrem ureigensten Interesse nicht akzeptieren. Deshalb kommt N. zu der Überzeugung, dass man Kindern mit dem Rat, sich jeder Autorität zu widersetzen, nicht hilft, denn Kinder sind nicht autonom. Stattdessen zeigt sie Geheimwege u. Fluchträume auf. Großväter, Großmütter oder erfundene Figuren leisten solidarische Unterstützung auf dem Weg zum Erwachsenwerden. In Anatol und die Wurschtelfrau (Wien/ Mchn. 1983. Tb. Weinheim/Basel 1993) bietet der Großvater Desiree Pistulka u. ihrem Kater Anatol ein Refugium vor ihren hekt. Eltern. In Am Montag ist alles anders (Wien/Mchn. 1984) ist es die Großmutter, die hilft. Deutlich wird dabei, dass eine unkonventionelle Lebensweise, die die Kinder bei den eigenen Eltern ablehnen, bei den Großeltern akzeptiert wird. Bei jüngeren Kindern wird die Einsamkeit oft durch Fantasiefiguren kompensiert, wie z.B. in Der Zwerg im Kopf (Hbg. 1989). In TV-Karl (Weinheim 1995) findet der 12-jährige Anton M. in einer Figur, die er zufällig im Fernsehen entdeckt, einen Ersatzvater, der ihm u. seiner Oma später in seiner Fernsehwelt Asyl bietet. Karl flüchtet vor einem Leben mit den gestressten, ewig streitenden Eltern, die so sehr mit sich selbst beschäftigt sind, dass sie den Geburtstag ihres einzigen Kindes vergessen. Das Buch erzählt von den Alltagserlebnissen dieses Jungen, aber gleichzeitig treten fantast. Elemente in seine reale Welt ein u. verändern sie. In der Vermischung von Realität u. Fiktion gelingt es N., komische Elemente in eine so ernste Thematik wie Einsamkeit u. soziale Vernachlässigung zu bringen. Mut zu machen ist die andere Herausforderung, der sich N.s Kinderliteratur stellt. Kathi wird zur Außenseiterin, als ihre Oma ihr wegen der Läuseplage in der Schule einen
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Irokesenschnitt verpasst, Mini Zipfel ist eine Bohnenstange mit roten Haaren u. Sommersprossen (Reihe Frechdachs: z.B. Mini ist die Größte. Wien 1993), oft leiden die Kinder unter Figurproblemen (Lillis Supercoup. Hbg. 2004). N.s Prinzip ist es, die Kinder nicht stromlinienförmig für die Gesellschaft aufzubereiten, sondern ihnen das Selbstbewusstsein zu vermitteln, eigene Stärken zu erkennen u. sich selbst zu akzeptieren. Der prädestinierte Außenseiter ist Jasper aus Das Austauschkind (Wien 1992. Tb. Weinheim/Basel 2006). Das familiäre Durcheinander, das ihn umgibt, findet sich in seiner Unordnung u. seinem Essverhalten gespiegelt. Hier wird die Wechselwirkung zwischen der prekären familiären Situation u. dem chaot. Verhalten des Jugendlichen eindringlich vorgeführt. N.s Mädchengestalten in frühen Kinder- u. Jugendbüchern wie Der Spatz in der Hand (Weinheim 1974) u. Ilse Janda (Hbg. 1974. Verfilmt 1976) kämpfen mit Problemen, die Mütter, Familie u. eingeschränkte Lebensmöglichkeiten verursachen. Daneben stehen heitere Jugendgestalten wie in Luki-live (Hbg. 1978) u. humorvolle Schilderungen von Familienproblemen wie in der Trilogie um Gretchen Sackmeier (Gretchen Sackmeier. Hbg. 1981. Gretchen hat Hänschen-Kummer. Hbg. 1983. Gretchen, mein Mädchen. Hbg. 1988). An die Lebenswirklichkeit der Kinder dockt N. auch mit ihrem »stilisierten Jugendjargon« an. Darunter versteht sie eine schnoddrige Umgangs- u. Alltagssprache auf der Grundlage des Wiener Dialekts, den sie als ihre Muttersprache bezeichnet. N. publizierte Dialektgedichtbände, die die sog. Unterschicht zu Wort kommen lassen (z.B. Iba de gaunz oamen Leit. Wien 1996. Neuaufl. St. Pölten/Salzb. 2009. Iba de gaunz oaman Kinda. Wien/Mchn. 1974). Sie bekennt sich zur avantgardist. Mundartliteratur der Wiener Gruppe, bes. zu H. C. Artmann. Neben Artmann schätzt sie Ernst Jandl, den sie als Verbündeten der Kinder versteht. Sein Dichten beschreibt sie als identisch mit Phasen des kindl. Spracherwerbs. Die kindl. Jandl-Leidenschaft bestehe aus Staunen, zudem gebe er den Kindern die Bausteine, um sich ein eigenes Sprachhaus zu errichten. Mit dem Kinderbuch Der neue Pinocchio (Weinheim
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1987) wagte N. die krit. Umdeutung des pädagog. Programms des internat. Klassikers der Kinderliteratur von Carlo Collodi. Weitere Werke: Die Kinder aus dem Kinderkeller. Weinheim 1971 (E.). – Mr. Bats Meisterstück oder Die total verjüngte Oma. Ein Science-FictionMärchen für größere Kinder. Hbg. 1971. Neuausg. 2003. – Achtung! Vranek sieht ganz harmlos aus. Wien 1974 (E.). – Stundenplan. Weinheim 1975 (R.). – Lollipop. Weinheim 1977 (E.). – Rosa Riedl, Schutzgespenst. Wien 1979 (R.). – Rosalinde hat Gedanken im Kopf. Hbg. 1981 (E.). – Olfi Obermeier u. der Ödipus. Hbg. 1984 (E.). – Man nennt mich Ameisenbär. Hbg. 1986 (R.). – Der geheime Großvater. Wien 1986 (R.). – Der gefrorene Prinz. Wien 1990 (R.). – Romane für Kinder (Wir pfeifen auf den Gurkenkönig. Der Hund kommt. Der Zwerg im Kopf). Weinheim/Basel 2006. – Leon Pirat. Weinheim 2009. – Pudding-Paule rührt um. Der 1. Fall. Wien 2009 (R.) . Literatur: Klaus Doderer: C. N. In: LKJL. – C. N. In: Oetinger-Almanach 19. Hbg. 1981, S. 17–27. – Eva-Maria Metcalf: Concepts of Childhood in Peter Handkes ›Kindergeschichte‹ and C. N.s ›Hugo, das Kind in den besten Jahren‹. In: ABNG 27 (1988), S. 281–302. – Karin Richter: Kinderlit. im Deutschunterricht. Anmerkungen zum Werk der österr. Schriftstellerin C. N. In: DU 43 (1991), H. 4, S. 234–249. – Klaus Jürgen Dilewsky: C. N. als Kinder- u. Jugendbuchautorin. Genres, Stoffe, Sozialcharaktere, Intentionen. Ffm. 1993. – Mike Rogers: C. N. The Notion of Childhood. In: The Individual, Identity and Innovation. Signals from Contemporary Literature and the New Germany. Hg. Arthur Williams u. Stuart Parkes. Bern u. a. 1994, S. 89–98. – Inge Wild: Vater-Mutter-Kind. Zur Flexibilisierung v. Familienstrukturen in Jugendromanen v. C. N. In: DU 48 (1996), H. 4, S. 56–67. – Günter Lange: C. N. In: Kinder- u. Jugendlit. Ein Lexikon. Hg. Alfred C. Baumgärtner u. Heinrich Pleticha. Meitingen 1996. – K. Doderer: C. N.s aufrechter Gang in die Resignation. In: Ders.: Reisen in erdachtes Land. Mchn. 1998, S. 274–282. – Sabine Fuchs. C. N. Eine Werkmonogr. Graz. 2001 (mit Bibliogr. bis 2001). – Sabine Fuchs u. Ernst Seibert (Hg.): ›... weil die Kinder nicht ernst genommen werden‹. Zum Werk v. C. N. Wien 2003. – Sybil Gräfin Schönfeld: C. N. In: LGL. – HansHeino Ewers: Die Kinderlit. u. die Erkundung kindl. Lebenswelten. In: Kinder lesen – Kinder leben. Kindheiten in der Kinderlit. Hg. Gudrun Stenzel. Weinheim 2005, S. 8–22. – Ursula Pirker: C. N. Die Buchstabenfabrikantin. Wien 2007. –
624 Judit Kirchner: Neue Figurentypen in C. N.s Buch ›Die Ilse ist weg‹. Saarbr. 2009. Birgit Dankert / Elke Kasper
Nohl, Herman, * 7.10.1879 Berlin, † 27.9. 1960 Göttingen; Grabstätte: ebd. – Philosoph u. Pädagoge. Der Schüler Friedrich Paulsens u. Wilhelm Diltheys promovierte in Berlin über Sokrates und die Ethik (Tüb. 1904) u. habilitierte sich in Jena (Die Weltanschauungen der Malerei. Lpz. 1908). 1920 folgte er einem Ruf nach Göttingen, wo er bis zu seiner Amtsenthebung 1937 sowie 1945–1948 Pädagogik u. Philosophie lehrte. Als Philosoph stand N. in der Tradition der Philosophie des Lebens u. der Weltanschauungen seines Lehrers Dilthey (Typische Kunststile in Dichtung und Musik. Jena 1915. Einführung in die Philosophie. Ffm. 1935. 91998. Die ästhetische Wirklichkeit. Ffm. 1935. 41973. Charakter und Schicksal. Ffm. 1938. 71970. Die sittlichen Grunderfahrungen. Ffm. 1939). Mit postum gesammelt erschienenen Aufsätzen wurde er der Historiograf der von Dilthey so genannten Deutschen Bewegung (Gött. 1970). In der Pädagogik stand N. seit seiner Jenenser Zeit als Mitgl. des Sera-Kreises um Eugen Diederichs der Jugendbewegung nahe u. war 1919 Mitbegründer der Volkshochschule Thüringen in Jena. Auf seinem Göttinger Lehrstuhl war er der herausragende Förderer der reformpädagog. Bewegung in der Weimarer Republik, deren Ertrag er als (Mit-)Herausgeber repräsentativer Organe zur Geltung brachte: in der Reihe Göttinger Studien zur Pädagogik (Langensalza, später Weinheim 1923 ff.), mit der Zeitschrift »Die Erziehung« (zus. mit Aloys Fischer, Wilhelm Flitner, Theodor Litt u. Eduard Spranger. 1925–43) u. dem Handbuch der Pädagogik (zus. mit Ludwig Pallat. 5 Bde., Langensalza 1928–30. Neudr. Weinheim 1966). Die dt. Reformpädagogik verdankt N. ihre klass. Selbstdarstellung (Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie. Ffm. 1935. 11 2002). N. begründete die auch nach 1945 bis heute innerhalb der Universitätspädagogik führende Göttinger Schule der geisteswiss. Pädagogik mit dem Schwerpunkt in der
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Kindergarten- u. Heimpädagogik, Verwahr- Noll, Chaim, eigentl.: Hans N., * 13.7. losten- u. Gefangenenfürsorge (Jugendwohl- 1954 Berlin/DDR. – Erzähler, Kritiker. fahrt. Lpz. 1925. Pädagogische Aufsätze. Erw. N., Sohn des DDR-Schriftstellers Dieter Noll, Langensalza 21930. Pädagogik aus dreißig Jahstudierte zunächst Mathematik, dann Grafik ren. Ffm. 1949). in Jena u. Ostberlin. Als Angehöriger der Die Bedeutung von N.s Ausformulierung Kunst-Nomenklatura seines Landes konnte er der Theorie des pädagog. Bezugs liegt in der 1978, 1980 u. 1983 Studienreisen nach ArAnalyse der Eigentümlichkeit der Erziemenien, Karelien u. Moskau unternehmen. hungswirklichkeit als eines autonomen KulDie Erfahrung des totalitären Zwangschaturgebiets, das charakterisiert ist durch eine rakters führte ihn bald in Konflikt mit dem spezif. Struktur, Gesetzlichkeit u. Dynamik linientreuen Vater u. den Behörden u. zur zwischenmenschl. Beziehungen, die von päkurzzeitigen Psychiatrisierung, doch wurde dagog. Ethos u. Impuls getragen werden. ihm mit Frau u. Kindern rasch die Ausreise Weitere Werke: Ein Landsturmmann im Himbewilligt. Der Bericht darüber in seinen mel. Flandern u. der Erste Weltkrieg in den Briefen »Journal« Der Abschied (Hbg. 1985) kombiv. H. N. an seine Frau. Hg. Walter Thys. Lpz. 2005. – H. N.s Schr.en u. Artikel in der NS-Zeit. Doku- niert eigene Eindrücke mit einer profunden Kenntnis der russischen u. sowjet. Kunst, mente 1933–45. Ffm. 2008. Literatur: Bibliogr. H. N. Weinheim 1954. – Geschichte u. Literatur, in denen N. sein Klaus Bartels: Die Pädagogik H. N.s. Weinheim Schicksal gespiegelt sieht. Die z.T. autobiogr. 1968. – Elisabeth Blochmann: H. N. Gött. 1969. – Romane Russland, Sommer, Loreley (Hbg. 1986) Georg Geißler: H. N. In: Klassiker der Pädagogik. u. Der goldene Löffel (Stgt. 1989) zeichnen Bd. 2, Mchn. 1979, S. 225–240. – Wilhelm Henze wiederum oft satirisch überspitzte Innenan(Hg.): B. Zimmermann, H. N., K. Hahn. Ein Beitr. sichten der Privilegiertenschicht der DDR u. zur Reformpädagogik. Duderstadt 1991. – Robert verarbeiten N.s gespanntes Verhältnis zum E. Maier: Pädagogik des Dialogs. Ein historisch- Vater, der seine jüd. Wurzeln verleugnete. N. systemat. Beitr. zur Klärung des pädagog. Verhältreagierte darauf mit Namensänderung, dem nisses bei N., Buber, Rosenzweig u. Grisebach. Bekenntnis zum Judentum u. der AuswanFfm. u. a. 1992. – Giosua Thöny-Schwyn: Philosophie u. Pädagogik bei Wilhelm Dilthey u. H. N. derung. N. lebte zunächst als Journalist in WestBern/Stgt. 1992. – Stephan Pfeiffer: Pädagogik als Politikersatz. H. N.s Osthilfeprogramm in lebens- berlin, danach in Rom (1992–1995) u. seither geschichtl. Perspektive. Diss. Tüb. 1993. – Jürg in Israel, seit 1998 besitzt er die israelische Blickenstorfer: Pädagogik in der Krise. Hermeneut. Staatsbürgerschaft. N.s schriftstellerische ArStudie, mit Schwerpunkt N., Spranger, Litt zur Zeit beit bewegt sich seither oft in themat. Verder Weimarer Republik. Bad Heilbrunn 1998. – wandtschaft zu der von Lea Fleischmann u. Joachim Henseler: Disziplingeschichtl. Analyse der Henryk M. Broder. Sein histor. Roman Der Sozialpädagogik Paul Natorps u. H. N.s. Diss. Bln. Kitharaspieler (Bln. 2008) behandelt Fragen 1998. – Dorle Klika: H. N. – sein ›Pädagogischer jüdischer Identität vor dem Hintergrund des Bezug‹ in Theorie, Biogr. u. Handlungspraxis. Köln u. a. 2000. – J. Henseler: Wie das Soziale in die Roms Kaiser Neros u. des aufkommenden Pädagogik kam. Zur Theoriegesch. universitärer Christentums. Sozialpädagogik am Beispiel Paul Natorps u. H. N.s. Weinheim/Mchn. 2000. – Damian Miller: H. N.s ›Theorie‹ des pädagog. Bezugs. Bern 2002. – Peter Dudek: Ein Leben im Schatten: Johannes u. H. N. Bad Heilbrunn 2004. – Christian Hoch: Zur Bedeutung des ›Pädagogischen Bezuges‹ v. H. N. für die Identitätsbildung v. Jugendlichen in der Postmoderne. Würzb. 2005. – Benjamin Ortmeyer: H. N. u. die NS-Zeit. Forschungsber. Ffm. 2008.
Weitere Werke: Berliner Scharade. Hbg. 1987. – Nachtgedanken über Dtschld. Reinb. 1992 (Ess.s). – Taube u. Stern. Roma Hebraica. Eine Spurensuche. Hünfelden-Gnadenthal 1994. – Leben ohne Dtschld. Reinb. 1995 (Ess.s). – Die Wüste lächelt. Weilerswist 2001 (G.e). – Meine Sprache wohnt woanders. Gedanken zu Dtschld. u. Israel. Ffm. 2006 (mit Lea Fleischmann). Literatur: Carsten Peter Thiede: C. N. In: LGL.
Ulrich Herrmann / Red.
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Noll, Dieter, * 31.12.1927 Riesa, † 6.2.2008 Zeuthen. – Erzähler.
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am 7.6.1979 vor. N. war von 1957 bis zum Ende der DDR unter den Decknamen »Schreiber«, »Romanze«, »Georg« und »Klaus-Dieter« als IM für die Staatssicherheit tätig.
Der Apothekersohn, dessen Mutter die Nationalsozialisten wegen »nichtarischer Abstammung« verfolgten, wurde mit 15 Jahren Weitere Werke: Neues vom lieben, närr. Nest. Luftwaffenhelfer, später Soldat. Bei KriegsErlebnisse eines jungen Mannes in der Zeiss-Stadt ende geriet er in amerikan. Gefangenschaft. Jena. Lpz. 1952 (Reportage). – Die Dame Perlon u. 1946 trat N. in die KPD ein. Nach dem Stu- andere Reportagen. Bln./DDR 1953. – Sonne über dium der Germanistik, Philosophie u. den Seen. Heitere u. bedenkl. Abenteuer eines Kunstgeschichte in Jena arbeitete er als Jour- Schleppkahnpassagiers. Bln./DDR 1954 (Reportage). – Mutter der Tauben. Bln./DDR 1955 (E.). – In nalist, seit 1956 als freier Schriftsteller. N., der zunächst Reportagen u. Erzählun- Liebe leben. G.e 1962–82. Bln./Weimar 1985. Literatur: Hans Jürgen Geerdts: D. N. In: Lit. gen schrieb, gelang mit dem zweibändigen Entwicklungsroman Die Abenteuer des Werner der DDR in Einzeldarstellungen. Hg. ders. u. a. Holt (Bln./Weimar 1960 bzw. 1963) ein be- Bd. 1, Bln./DDR 1976, S. 311–326. – Gerd Labroisse: Überlegungen zu D. N.s Roman ›Kippendeutendes Werk der »Ankunftsliteratur«, das berg‹. In: DDR-Roman u. Literaturgesellsch. Hg. auch heute noch als ein »bemerkenswertes ders. u. Jos Hoogeveen. Amsterd. 1981. – Andreas belletristisches Zeitdokument« (Manfred Jä- Jüngling: Starr, Stark, Schön, Schwach. Über D. N., ger) gelten kann. Er durchbrach mit dem ›Die Abenteuer des Werner Holt. Roman einer Roman das bis dahin gültige literar. Muster, Heimkehr‹. In: Krit. Ausg. 7 (2003), H. 2, S. 22–24. den Übergang vom Nationalsozialismus zum – Chaim Noll: Werner Holt – ein MenschheitstheAufbau der DDR in der Figur eines antifa- ma. Zum Tod v. D. N.: Erinnerungen seines Sohschist. Widerstandskämpfers zu idealisieren, nes. In: Neues Dtschld., 7.2.2008. – Manfred Jäger: der sich bruchlos zum sozialist. Vorbild wei- Nur der ›Roman einer Jugend‹. Zum Tode v. D. N. terentwickelt. Mit der Figur des Werner Holt (1927–2008). In: Dtschld. Archiv. Ztschr. für das vereinigte Dtschld. 41 (2008), H. 2, S. 202 f. versucht N., den widersprüchl. ErfahrungsAndrea Jäger u. Erkenntnisprozess einzufangen, die Umu. Irrwege, die ein Parteigänger des Nationalsozialismus geht, ehe er im Sozialismus Noll, Hans ! Noll, Chaim eine neue Perspektive für sich findet. Den geplanten dritten Band, der das Leben des Noll, Ingrid, * 29.9.1935 Shanghai/China. Sozialisten Holt als positive Bestandsaufnah- – Romanautorin. me der DDR-Gesellschaft darstellen sollte, N. verbrachte ihre Kindheit als Tochter einer schrieb N. nicht mehr. Statt dessen erschien dt. Arztfamilie in Nanjing. 1949 kehrte die 1979 der Roman Kippenberg (Bln./Weimar) – Familie nach Deutschland zurück. Nach dem eine krit. Auseinandersetzung mit der Figur Abitur studierte N. Germanistik u. Kunstgedes Planers u. Leiters, der seine wiss. Verant- schichte in Bonn, brach das Studium jedoch wortung längst der Karriere geopfert hat. ab, um sich ihrer Familie zu widmen u. ihren Doch N. biegt die krit. Anlage seines Romans Mann in seiner Arztpraxis zu unterstützen. ab. Am Ende sind berufl. Aufstieg u. Enga- Nachdem alle früheren literar. Versuche ins gement für den Sozialismus wieder versöhnt. Leere liefen, begann sie erst Ende der 1980er Am 22.5.1979 veröffentlichte das »Neue Jahre wieder zu schreiben. Schon ihr DebütDeutschland« einen offenen Brief an Erich roman Der Hahn ist tot (Zürich 1991) wurde Honecker, in dem N. Stefan Heym, Joachim ein internat. Beststeller. N.s Romane wurden Seyppel u. Rolf Schneider als »kaputte Ty- bisher in 21 Sprachen übersetzt u. z.T. verpen« denunziert, die »mit dem Klassenfeind filmt. N. wurde mit dem Friedrich-Glauserkooperieren, um sich eine billige Geltung zu Preis für den besten Kriminalroman des Jahverschaffen«. N.s Brief bereitete ideologisch res 1994 ausgezeichnet u. gilt als meistgeleden Ausschluss der genannten u. sechs wei- sene Krimiautorin des deutschsprachigen terer Autoren aus dem Schriftstellerverband Raums.
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Der Hahn ist tot handelt von der 52-jährigen Rosemarie Hirte, die sich in den Volkshochschuldozenten Rainer Witold Engstern verliebt. Nach außen hin bieder u. unauffällig, tötet sie sukzessive alle potenziellen Konkurrentinnen inklusive seiner Frau sowie den Kommissar, der kurz davor steht, sie als Mörderin zu entlarven. Bei dessen Beseitigung erleidet der inzwischen eingeweihte Witold einen schweren Unfall. Zwar darf sie ihn danach pflegen, aber ihre frühere Hoffnung erfüllt sich nicht: Er vegetiert ohne Gedächtnis u. Sprache im Rollstuhl. In diesem Debütroman finden sich bereits wesentl. Bestandteile von N.s Erfolgsrezept: der schwarze Humor u. die zahlreichen Reminiszenzen an den bürgerl. Bildungskanon. So zitiert der Titel des Romans Die Häupter meiner Lieben (Zürich 1993) Schillers Glocke u. Röslein rot (Zürich 1998) Goethes Heideröslein. In letzterem Text spielt außerdem die Stilllebenmalerei eine herausragende Rolle. Die meisten Texte N.s leben v. a. von ihren Protagonistinnen u. der Diskrepanz zwischen deren betont harmlosem Äußeren u. ihren Mordtaten. Zusätzlich unterstrichen wird diese Diskrepanz dadurch, dass sie meist durchgehend aus der Ich-Perspektive der Mörderinnen erzählt werden. So werden herrschende Geschlechterstereotypen destruiert, allerdings ohne dass damit explizit ein subversiver gesellschaftl. Anspruch verbunden wäre. N., die sich u. a. an den gehobenen Kriminalromanen von Patricia Highsmith orientiert, geht häufig über eine reine Kriminalhandlung hinaus. So ist etwa Kalt ist der Abendhauch (Zürich 1996) – der Titel zitiert Matthias Claudius’ Abendlied –, einer von N.s besten u. dichtesten Romanen, v. a. subtiles Porträt der 83-jährigen Charlotte, ihres Alterns u. ihrer Liebe zum gleichaltrigen Schwager Hugo. Dass sie sich gegen die Zudringlichkeiten ihres aus dem Krieg heimkehrenden Mannes wehrt, ihn dabei tötet u. die Leiche mit Hugos Hilfe im Keller einbetoniert, erscheint daneben marginal. Überhaupt sind N.s Texte immer auch Porträts des bürgerl. Milieus, in dem sie spielen. Schauplatz ist häufig die Gegend um Mannheim u. Heidelberg, in der die Autorin lebt.
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Neben der originellen Figurenzeichnung haben in den 1990er Jahren v. a. zwei Faktoren zu N.s Erfolg beigetragen: Zum einen erfolgte eine tendenzielle Aufwertung des Kriminalromans innerhalb des dt. Literaturbetriebs, für die neben N. Namen wie Christine Grän, Jakob Arjouni u. Bernhard Schlink stehen. Zum anderen kam es zu einer »Feminisierung« des lange von männl. Autoren u. Figuren dominierten Genres. Im Gegensatz zu Autorinnen wie etwa Doris Gercke u. ihren »Bella Block«-Romanen übt N. jedoch keine grundsätzl. Kritik an den patriarchalen Geschlechterverhältnissen. Der Roman Rabenbrüder (Zürich 2003) bricht die Handlungsmuster der frühen Romane auf. Hier ist der Mörder ein Mann, dessen Taten allerdings durch seine patholog. Geistesverfassung motiviert sind. Die Forschung ist gespaltener Meinung. Aus feminist. Perspektive deutet Helga Arend die Morde an Männern als Befreiung von den Erwartungen u. Vorstellungen anderer. Ulrike Strauch erblickt in N.s Texten gar ein Gegenprogramm zu Ingeborg Bachmanns Prosazyklus Todesarten. Helmut Schmiedt kritisiert dagegen anhand von Die Häupter meiner Lieben, die Psychologie der Täterinnen folge den Formeln der Unterhaltungsliteratur. Weitere Werke: Der Schweinepascha. In 15 Bildern. Zürich 1996 (Kinderbuch). – Stich für Stich. Schlimme Gesch.n. Zürich 1997. – Die Sekretärin. Drei Rachegesch.n. Zürich 2000. – Selige Witwen. Zürich 2001 (R.). – Falsche Zungen. Ges. Gesch.n. Zürich 2004. – Ladylike. Zürich 2006 (R.). – Kuckuckskind. Zürich 2008 (R.). Literatur: Gudrun Hommel-Ingram: Der Mörder ist selten der Butler. Gesellschaftskritik in der Kriminallit. v. E. T. A. Hoffmann, Theodor Fontane u. I. N. Diss. University of Oregon 1998. – Ulrike Strauch: Tötungsarten. Die Mörderinnen bei I. N. In: Zwischen Distanz u. Nähe. Eine Autorinnengeneration in den 80er Jahren. Hg. Helga Abret u. Ilse Nagelschmidt. Bern 1998, S. 127–153. – Gaby Pailer: Weibl. Körper im männl. Raum. Zur Interdependenz v. Gender u. Genre in deutschsprachigen Kriminalromanen v. Autorinnen. In: WB 46 (2000). – Helga Arend: Nette alte Dame mit Leiche im Keller. I. N.s Romane als Unterrichtsthema. In: Frauen auf der Spur. Kriminalautorinnen aus Dtschld., Großbritannien u. den USA. Hg. Carmen Birkle, Sabina Matter-Seidel u. Patricia
Nollius Plummer. Tüb. 2001, S. 273–286. – Antje Weber: I. N. In: LGL. – Cesare Giacobazzi: ›Mit Kind, Hund, warmen Decken und Leiche‹. Die Normalität des Mordes in I. N.s Kriminalromanen. In: Mord als kreativer Prozess. Hg. Sandro M. Moraldo. Heidelb. 2005, S. 41–49. – Helmut Schmiedt: Dr. Mabuse, Winnetou & Co. Dreizehn Klassiker der dt. Unterhaltungslit. Bielef. 2007, S. 240–257. Stefan Höppner
Nollius, Noll, Nolle?, Henricus, Heinrich, * ca. 1583 Ziegenhain/Hessen, † 27.1. 1626 Weilburg. – Arztphilosoph, zeitweise Medizinprofessor, Alchemoparacelsist u. hermetistischer Fachbuchautor. Der Sohn des Nicolaus Nollius studierte seit 1599 in Marburg – erwarb wohl dort schon den Magistergrad (1604?) –, anschließend in Jena (1605/06) u. Gießen, wo er sich nach mehrjähriger Abwesenheit am 22.4.1614 noch einmal immatrikulieren ließ. Spätestens während seiner Jenaer Zeit widmete er sich der paracelsistisch geprägten Medizin u. Alchemie. Um 1612 lebte er unter bedrängten Umständen, durch alchem. Experimente verarmt u. von Rechtfertigungsnöten bewegt, im calvinistisch-reformierten Weilburg (Nassau-Dillenburg). Von hier aus muss er berufl. Kontakte gesucht haben, wandte sich mehrfach in Briefen u. Manuskriptsendungen an den Landgrafen Moritz von Hessen. Am 19.7.1615 wurde er als o. Prof. für Medizin (u. Naturkunde) an das calvinistisch-reformierte Gymnasium Illustre des Grafen Adolf von Bentheim in Steinfurt/Westfalen (heute: Burgsteinfurt) berufen, jedoch 1620 dort wieder entlassen. Dass N. überhaupt eine Anstellung in Steinfurt gefunden hatte, dürfte der Empfehlung namhafter Persönlichkeiten zu verdanken sein, zu denen N. schon 1604 jedenfalls den Marburger Professor Rudolf Goclenius zählen durfte (Dank an ihn in Prodromi logici tractatus tres. Hanau 1604, S. 9 f.). Trotz seiner regen publizist. Aktivität hinterließ N. in Form von akadem. Schriften u. als Praeses von Disputationen seine Spuren auch im Steinfurter Lehrbetrieb u. wurde von einem namhaften Kollegen, dem Philosophen Clemens Timpler, trotz seiner »neuen Ansichten« sehr geschätzt. N.’ akadem. Stellung machte allerdings eine
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Promotion unabdingbar. Im vorgerückten Alter ließ er sich – wohl deshalb – am 16.4.1618 in Marburg unter Henricus Petraeus zum Dr. med. promovieren, nachdem er eine Dissertation mit dem Titel Methodus medendi Hermetica vorgelegt hatte (Marburg 1617). Dass Landgraf Moritz von Hessen wider Erwarten einen Beitrag zu den Promotionskosten leistete, aufschlussreich für N.’ Kontakte zu höf. Kreisen, wissen wir aus der an Moritz gerichteten Vorrede (16.1.1617) der von N. in Steinfurt publizierten Schrift Gnôstikê seu Ars et per propriam indagationem et per revelationem aliquid discendi. Die Vorrede deutet zgl. an, dass er sich mit der akadem. Medizin nicht zufriedengeben wollte u. die »libertas philosophandi« für sich beanspruchte. Weiterhin ist bekannt, dass N. sich am 20.8.1620 mit Joachim Morsius, dem gleichgesinnten Verfasser bzw. wichtigen Verbreiter hermetistischer Schriften, in Hamburg traf (Schneider 1929, mit Faks. des Stammbuchblatts, S. 34 f.). Morsius gab 1620 (o. O.) unter dem Pseud. Anastasius Philaretus Cosmopolita N.’ alchemotheolog. Programmschrift Via sapientiae triuna heraus, in der Paracelsus u. Valentin Weigel als maßgebl. Autoritäten berufen werden. Als Morsius in seinem Nuncius Olympicus (Philadelphia, recte Amsterd. [?] 1626) einen fast 230 Titel umfassenden Katalog der hermetistisch-pansoph. Bibliothek von Adam Haslmayr, dem ersten »Verkünder der Rosenkreuzerschriften«, publizierte (Faksimiledr. in Gilly 1994, S. 239–290), druckte er am Schluss Begleitverse seines »engsten Freundes« N. ab, der hier noch als Steinfurter Professor zeichnet. In der Vorrede seines kurz vor dem Ende der Steinfurter Zeit publizierten Naturae Sanctuarium, quod est Physica Hermetica (Ffm. 1619) wandte sich N. an die »docti Theosophi, veri medici et philosophi« u. umriss seine theosophisch grundierte, von einem eschatolog. Hermetismus bestimmte Weltsicht, in der er zgl. die Basis für eine Reform der Künste u. Wissenschaften fand u. damit eine neue u. letzte Epoche der Aufdeckung aller Geheimnisse des Universums proklamierte. Um Weihnachten 1622 kam N. nach Gießen u. wohnte auf Empfehlung des Medizin- u. Botanikprofessors Ludwig Jungermann im
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Hause des Buchbinders Schultes, von wo aus er zu medizin. Kuren gerufen wurde. Im Jan. 1623 wurde er – zus. mit Philipp Homagius, einem bereits 1619 verurteilten u. schließlich als geisteskrank geltenden »Ketzer« – in einem durch reiches Aktenmaterial (v. a. Gießen UB; Hessische Staatsarchive Darmstadt u. Marburg; Übersicht in Cimelia Rhodostaurotica, S. 156f.) dokumentierten Prozess wegen seiner »Rosenkeuzerei« u. »weigelianischen Schwärmerei«, auch wegen angebl. nächtl. Treffen mit gleichgesinnten »Fanatikern« angeklagt u. sollte eingekerkert werden (zum Ablauf des Prozesses s. Klenk 1965). Ausschlaggebend war dabei N.’ 1623 in Gießen publiziertes Parergi philosophici Speculum (Verfasserms. heute noch bei den Prozessakten), eigentlich nur eine harmlose alchemo-allegor. Erzählung in Art des Rosenkreuzer-Märchens (Referat bei Peuckert 1973, bes. S. 162 f.; Hochhuth 1863, S. 220–222), in der N. – neben dem Bekenntnis zu Hermes u. zu Paracelsus – allerdings seine auch schon früher geäußerte Hoffnung auf die angeblich von den Rosenkreuzern inaugurierte Generalreformation der Wissenschaften deutlich zutage treten ließ. Die Prozessakten geben tiefe Einblicke in die zerklüftete, vom Haß orthodoxer Theologen u. von der Angst der Obrigkeit geprägte Atmosphäre der Rosenkreuzer-Epoche u. kennzeichnen Formen der massiven Repression, wie sie kurz vorher (1619) selbst unter Moritz von Hessen in Marburg (gegen Homagius, den Schwiegersohn des Druckers der Rosenkeuzer-Manifeste), fast gleichzeitig (1622) in Tübingen gegen Drucker Eberhard Wild mit dem Ziel ins Werk gesetzt wurden, die »ketzerischen« Regungen des paracelsist. »Weigelianismus« samt der darin wurzelnden »Rosenkreuzerei« (also der theolog. u. wiss. Reformbewegungen) zu unterdrücken. Die ungemein aufschlussreichen N.-Akten (verschiedene akadem. Gutachten) bedürften einer kompletten kommentierten Edition (Auszüge in CP III). Vor dem Prozess u. der drohenden Verhaftung wich N. am 3.2.1623 ins nassauische Weilburg aus. Dort lebte u. starb er, verarmt, jedoch wohl juristisch ungestört, angeblich bei Verwandten seiner Frau, obwohl Landgraf
Nollius
Ludwig V. von Hessen-Darmstadt die zuständige Obrigkeit vor N. warnte. Am Abendmahl nahm N. in Weilburg nicht teil, weigerte sich noch auf dem Totenbett, seinen Gegnern zu verzeihen, u. wurde nur unter großen Schwierigkeiten (Verschweigen des Namens) kirchlich beerdigt. In Walter Ummingers spektakulärem Briefroman Das Winterkönigreich (Stgt. 1994), der die geistigen u. polit. Verwerfungen des Frühbarock vergegenwärtigt, ist auch N. mit je einem fiktiven Brief an Philipp Homagus (Nr. 215, S. 560 f.) u. Daniel Mögling (Nr. 292, S. 741 f.) vertreten. Weitere Werke: Auxiliante Deo [...] praeside philosopho Dn. M. Rodolpho Goclenio [...] haec sequentia themata ex Philosophia deprompta pro ingenii sui modulo defendet Henricus Nollius Zigenhainensis Hassus. Marburg 1601. – Prodromi logici tractatus tres. Hanau 1604. – Disp. metaphysica [...] cuius veritatem [...] praeside M. Heinrico Nollio [...] Martinus Faber Oringensis [...] defendet. Jena 1605. – Disp. prima de definitione logicae, cuius veritatem praeside M. Heinrico Nollio [...] defendet Joannes Rhörerus Eisfeldensis [...]. Jena 1605. – Aphorismi miscellanei ex philosophia congesti quos ventilandos et discutiendos [...] consensu amplissimae facultatis philosophicae in illustri Salana praesidente M. Heinrico Nollio Zigenhainensi Hasso suis commilitonibus offert Iustus Thilo Darmstatius Rhenanus. Ad diem 1. Februarii. Jena 1606. – Metaphysices methodica synopsis: in qua praecisis inutilibus, ociosis, et curiosis scholasticorum barbarorum quaestionibus, obscuris terminis et teretismatis, universalia principia ad veram philosophandi rationem viam aperientia dilucide delineantur. Jena 1606. – Methodus metaphysici systematis convenientissima: Canonibus illustrata et sex libris comprehensa. Ffm. 1613. – De Spiegel van het Filosophisch Bijwerk, waarin de kunst en de moelijkheid van het maken van de Steen der Wijzen voor heel de wereld zichtbaar wordt gemaakt. Gießen 1613 (Titelaufnahme nach Angaben v. Carlos Gilly). – Systema medicinae hermeticae generale. Ffm. 1613. – De generatione rerum naturalium liber, ex vero naturae lumine conformatus. Ffm. 1615. Übers. ins Englische u. d. T. The Chymists Key. London 1657. – Verae physices compendium novum; in sincerioris philosophiae studiosorum gratiam conscriptum, et in lucem editum. Steinfurt 1616; darüber gedr. Disputation unter N.’ Vorsitz v. Joannes Buddaeus. Ebd. 1616 (Richter 1967, S. 108, Nr. 110). – Methodus medendi Hermetica. Marburg 1617 (N.’
Nolte medizin. Diss.). In: Agonismata medica Marpurgensia, dogmatica juxta et hermetica [...] sub praesidio [...] Henrici Petraei. Marburg/L. 1618, Disp. V, S. 346–353. – Disp. physico-medica de mutuatione virium in remediis praeside Henrico Nollio [....] publice discutiendam ad diem 28. Aug. [...] exhibet Wilhelmus Peutius Amisfurensis [...]. Steinfurt 1619. – Alchimia philosophica. Ffm. 1619. – Via sapientiae triuna. Edita ab Anastasio Philareto Cosmopolita [d. i. Joachim Morsius]. o. O. [1619, so das Chronogramm, erschienen aber erst 1620 nach Datierung der Vorrede des Morsius]. – Parergi philosophici speculum, in quo ars et difficultas conficiendi lapidem philosophorum toti orbi consideranda exhibetur, philosophice adumbratur et [...] explicatur. Gießen 1623 (handschriftl. Ex. bei den Prozessakten, UB Gießen; s. Gilly, Cimelia Rhodostaurotica, S. 129). – Trias scholastica, disciplinarum generalium: gnosticae, didacticae, et metaphysicae. Ffm. 1625. – Discursus posthumus. Pro vera philosophia et medicina Hermetis ex auctoris relictis schedis descriptus et editus. [Hg. Joachim Morsius]. Rostock 1636. – Handschriftliches: Außer den Beständen der LB Kassel u. der UB Gießen (Prozessakten, darunter die Verfasserhs. des Parergi philosophici speculum: Universitätsarchiv Gießen; Allg. B. 15; Kopie: ebd. 26; Schüling 1985, S. 223) sowie anderen versprengten Erwähnungen u. Exzerpten bes. SUB Hamburg, Collectanea Chymica, Cod. alchim. 668 u. 684: Sammelhss. u. a. mit Texten v. N. Literatur: Gottfried Arnold: Unpartheische Kirchen- u. Ketzerhistorie [...]. Bd. 2, Schaffhausen 1741, S. 254. – Karl Wilhelm Hermann Hochhuth: Mittheilungen aus der protestant. Secten-Gesch. in der hess. Kirche. Tl. 1: Im Zeitalter der Reformation. 4. Abt.: Die Weigelianer u. Rosenkreuzer. In: Ztschr. für histor. Theologie 32 (1862), 86–159; Forts.: Grunius u. N. Ebd. 33 (1863), S. 169–262, zu N. S. 192–253. – ADB (wertlos!). – John Ferguson: Bibliotheca Chemica. Bd. 2, Glasgow 1906, S. 139–141. – Heinrich Schneider: Joachim Morsius u. sein Kreis. Lübeck 1929, S. 33–35. – Heinrich Klenk: Ein sog. Inquisitionsprozeß in Gießen anno 1623. In: Mitt.en des Oberhess. Geschichtsvereins N. F. 49/50 (1965), S. 39–60. – Günter Richter: Theophil Caesar. Drucker am Gymnasium Illustre Arnoldinum zu (Burg-)Steinfurt. Nieuwkoop 1967, S. 63, 108–110 f. – Will-Erich Peuckert: Das Rosenkreutz. Bln. 21973, bes. S. 162–165. – Gerhard Menk: Die hohe Schule zu Herborn in ihrer Frühzeit (1584–1660). Ein Beitr. zum Hochschulwesen des dt. Calvinismus im Zeitalter der Gegenreformation. Wiesb. 1981 S. 178–183. – Hermann Schüling: Verz. des v. 1605–1624 in Gießen er-
630 schienenen Schrifttums. Gießen 1985, S. 223. – Joseph S. Freedman: European Academic Philosophy in the Late Sixteenth and Early Seventeenth Centuries. The Life, Significance, and Philosophy of Clemens Timpler (1563/64–1624). 2 Bde., Hildesh. u. a. 1988 (zu N.’ Steinfurter Zeit passim; Register!). – Siegfried Wollgast: Philosophie in Dtschld. zwischen Reformation u. Aufklärung. 1550–1650. Bln. 1988, S. 336 f., 434–437, 582 f. – Ingeborg Höting: Die Professoren der Steinfurter Hohen Schule. Steinfurt 1991, S. 136 f. – Bruce T. Moran: The Alchemical World of the German Court. Occult Philosophy and Chemical Medicine in the Circle of Moritz of Hessen (1572–1632). Stgt. 1991, S. 122–129. – Carlos Gilly: ›Theophrastia sancta‹. Der Paracelsismus als Religion im Streit mit den offiziellen Kirchen. In: Analecta Paracelsica. Hg. Joachim Telle. Stgt. 1994, bes. S. 470 f. – Ders.: Adam Haslmayr. Der Verkünder der Manifeste der Rosenkreutzer. Amsterd. 1994, S. 108 f., 114 f., 150, 289. – Cimelia Rhodostaurotica, S. 73, 128 f., 156 f. – Stephan Meier-Oeser: H. N. [...]. Aristotel. Metaphysik u. hermet. Naturphilosophie im frühen 17. Jh. In: Spätrenaissance-Philosophie in Dtschld. 1570–1650. Hg. Martin Mulsow. Tüb. 2009, S. 173–193. – CP III (im Dr.). Wilhelm Kühlmann
Nolte, Jost, * 29.8.1927 Kiel. – Erzähler, Essayist, Dramatiker. N. wuchs in Kiel als Sohn eines Lehrers auf. Im Alter von 15 Jahren war er bei der MarineFlak, als er 17 war, wurde er zu einem Reiterregiment in Pommern eingezogen. Das Kriegsende erlebte er in einem Lazarett in Hamburg. Nach dem Krieg machte er das Abitur u. arbeitete von 1947 bis 1954 als Regieassistent u. dann als Dramaturg beim Hamburger Thalia-Theater. 1954 begann N.s journalist. Tätigkeit, zunächst als Mitarbeiter der »Bergedorfer Zeitung« u. Theaterkritiker der »Welt«, deren »Welt der Literatur«-Seite er von 1964 an betreute. Nach einem Wechsel zur »Zeit« war er Gerichtsreporter u. von 1972 an Textredakteur beim »Zeit-Magazin«, dann einige Jahre freier Schriftsteller u. 1980–1990 Kulturredakteur der NDR-Hamburg-Welle. Seit 1994 arbeitete er erneut für die »Welt« u. wurde Berater für das Feuilleton. Zurzeit ist N. tätig als Autor der »Welt« u. der »Berliner Morgenpost«.
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Noltz
N. hat sich vieler literar. Formen bedient, fehle das mitmenschliche Verständnis für von der Rezension bis zum Drama; auch die sein Schicksal.« Themen, zu denen er schreibt, sind breit geWeitere Werke: Kulturpolitik als Flickentepfächert. 1969 wurde N. mit dem Theodor- pich oder die Revolution als Schelmenstück: ein krit. Ess. zur Kulturpolitik. Hbg. 1989. – Koba. Wolff-Preis ausgezeichnet. In der Sammlung Grenzgänge. Berichte über Charakterfarce in drei Partien u. einem Nachspiel. Literatur (Wien 1972) veröffentlichte N. 30 Urauff. Ernst-Deutsch-Theater Hamburg, März 1996. Essays über Literatur, die sich mit unterLiteratur: Theo Sommer: Freundl. Lob zum schiedl. Epochen u. Gattungen auseinanderAchtzigsten. In: Die Zeit, H. 35, 23.8.2007. setzen. Neben seinen literatur- u. kulturkrit. . Karin Rother / Agnieszka Bozek Essays (Kollaps der Moderne. Traktat über die letzten Bilder. Hbg. 1989) schrieb er auch Romane. Eva Krohn oder Erkundigungen nach einem Noltz, Reinhard, Reinhardt, Reinhart, * um Modell (Ffm. 1976) geht den Gründen für den 1450 Worms, † Ende 1518 Worms. – Selbstmord eines Fotomodells nach; die Bürgermeister u. Verfasser einer städtiSchädlichen Neigungen (Ffm. 1978) verwerten schen Chronik zu Worms, bekannt als das N.s Erfahrungen als Gerichtsreporter u. be- Tagebuch des Reinhard Noltz. schreiben anhand eines Mordprozesses die sozialen u. emotionalen Konflikte des ju- N. gehörte zum Typus des humanistisch gegendl. Täters, der seine Freundin getötet hat. bildeten Juristen aus niederadliger, patriz. oder bürgerl. Familie, wie er seit dem 15. Jh. Die Geschichte wird von einem Realschulvielfach in den Städten zu finden war. N. lehrer erzählt, der die Menschen erziehen stammte aus einer vermögenden Handwermöchte. Der Titelbegriff stammt aus dem 17. kerfamilie. 1471 studierte er in Heidelberg, Paragraf des Jugendgerichtsgesetzes; mit wo er den Magistergrad erwarb, 1472 in Köln. »schädlichen Neigungen« wird das VerhänWohlhabend geworden, fand N. Aufnahme in gen der Jugendstrafe begründet. In beiden die patriz. Münzerhausgenossenschaft. Auf Romanen versucht N., einen gesellschaftl. diese Weise den Angehörigen der alten GeKonflikt erzählerisch zu entwickeln u. dabei schlechter ebenbürtig geworden, erreichte N. zu einer Analyse der bundesrepublikan. 1489 die Aufnahme in den Wormser Rat, Wirklichkeit vorzustoßen. wurde Schultheiß (1490) u. Baumeister des Der Briefroman Es ist Dein Leben, Anna. Ein Liebfrauenstifts. Zwischen 1495 u. 1516 beVater schreibt seiner Tochter (Düsseld. 1983) re- kleidete er mehrfach das Amt eines Bürgerflektiert anhand von Themen wie der Frie- meisters. Häufig befand er sich nach 1493 auf densbewegung, der Freiheit des Individuums diplomat. Missionen, v. a. am Kaiser- u. Köoder dem Wunsch nach Rebellion Probleme nigshof. Zwischen 1498 u. 1502 erblindete er u. Unterschiede zwischen den Generationen. teilweise, konnte jedoch durch eine StarIn dem Roman Feigling (Ffm. 2003) beschreibt Operation sein Augenlicht wiedergewinnen. N. Peter Grubbe (eigentl. Claus Volkmann), N. berichtet in seinen Aufzeichnungen v. a. einen angesehenen linksliberalen Journalis- von den Auseinandersetzungen der Stadt mit ten, der als junger Mann Judenvernich- dem Wormser Bischof. Er beschreibt polit. tungsaktionen geleitet hat; eine Tatsache, die Rituale u. Zeremonien wie Turniere, kirchl. 1989 publik geworden war. Folgendermaßen Festtage u. das kaiserl. Entrée bei den erklärte N. sein Interesse an dem Thema: Wormser Reichstagen u. erzählt Kurioses wie »Weil Grubbes Lebensgeschichte nicht nur extreme Wetterbedingungen, das Erscheinen für mich schwer zu begreifen war, habe ich von drei Sonnen u. Begebenheiten wie die versucht, sie mir mit den Mitteln eines Ro- Geburt siamesischer Zwillinge. mans zu erklären. Seither meinen die einen, Das »Tagebuch« gehört zu den wichtigsten er sei im Feigling zu gut weggekommen, Quellen der Wormser Geschichte, ist darüber während die anderen der Ansicht sind, ein hinaus in der Forschung aber bisher nur richtiger Nazi sei er nie gewesen und mir sporadisch als Quelle für die Auftritte Kaiser
Nonne
Maximilians untersucht worden. Seine Bedeutung als Quelle zu polit. Ritualen, zu städt. Diplomatie, zum Selbstverständnis des Rates, zur Kultur- u. Alltagsgeschichte dieser Zeit u. als mögl. Egodokument ist wenig beachtet worden. Es ist in einer Abschrift einer verschollenen Handschrift aus der Sammlung des Zacharias Conrad von Uffenbach in Frankfurt überliefert u. liegt heute im Wormser Stadtarchiv. Anfang u. Schluss fehlen. Die erhaltenen Aufzeichnungen beginnen im Juni 1493 u. enden 1509. Blinde Verweise lassen auf Lücken in der Abschrift schließen, aber auch N. überging Zeiträume. 1893 nahm Heinrich Boos die Quelle in seine Monumenta Wormatiensia auf u. ergänzte sie mit Exzerpten aus den möglicherweise von N. mit dem Wormser Stadtschreiber Adam von Schwechenheim verfassten Acta Wormatiensia. Ebenfalls enthalten sind elf erhaltene Briefe des Bürgermeisters an städt. Institutionen u. Funktionsträger. Boos gab den Aufzeichnungen auch den irreführenden Titel Tagebuch. Tatsächlich ließ N. jedoch nur vereinzelt biogr. Mitteilungen einfließen u. bezeichnete den Text selbst als Chronik, die vermutlich für seine Ratskollegen oder eine städt. Öffentlichkeit gedacht war. Ausgabe: Tgb. des Reinhart N., Bürgermeister der Stadt Worms 1493–1509, mit Berücksichtigung der officiellen Acta Wormatiensia 1487–1501. In: Monumenta Wormatiensia – Annalen u. Chroniken. Hg. Heinrich Boos. Bln. 1893, S. 373–570. Literatur: Falk Eisermann: R. N. In: VL (Nachträge u. Korrekturen). – Karl Morneweg: Johann v. Dalberg, ein dt. Humanist u. Bischof (geb. 1455, Bischof v. Worms 1482, gest. 1503). Heidelb. 1887. – Fritz Reuter: Worms als Reichstagsstadt 1495. In: 1495 – Kaiser, Reich, Reformen, Ausstellungskat. Koblenz u. a. 1995, S. 123–138. – Karen Schleeh: Das Selbstverständnis der Stadt Worms u. das Tgb. des R. N. Kiel 2004 (unveröffentlichte Magisterarbeit). Karen Schleeh
Nonne, Johann Heinrich Christoph, * 26.8.1785 Lippstadt, † 29.4.1853 Schwelm. – Lyriker, Erbauungsschriftsteller. N.s Vater, Johann Gottfried Christian Nonne (1749–1821), genoss als Pädagoge u. Schulreformer in Lippstadt (1774) u. Duisburg
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(1796) großes Ansehen (s. Arnold P. W. Möller: Johann Gottfried Christian Nonne. Hamm/ Münster 1822). Der preuß. Bildungsreform griff er voraus, indem er für einen vom Staat zu leistenden Ausbau des Bildungswesens, v. a. für die Einrichtung von berufsvorbereitenden Schulen eintrat. Dabei bleibt unklar, inwieweit seine Bildungskonzeption nur auf die höhere Effektivität individueller Leistungen für den Staat oder auch auf eine die absolutist. Staatsform in Frage stellende Veränderung der Gesellschaft abzielte. Als Schriftsteller begann er mit anakreont. Dichtungen (Vermischte Gedichte. Jena 1770) u. einer Wochenschrift (»Der Beobachter des Herzens«. Jena 1771). Seine späteren Werke haben teils philosophischen (Ephemeriden aus den Gärten des Epikur. Duisburg 1793–96), teils histor. Charakter (Geschichte der Zeit. Lippstadt 1790/91). Als langjähriger Redakteur der »Lippstädter politischen Zeitung« engagierte er sich für die amerikan. u. anfangs auch für die Französische Revolution. Deutlicher als sein Vater setzte N. (1808 Pfarrer in Drevenack, 1815 in Schwelm, später Präses der märk. u. westfäl. Provinzialsynode) das poet. Wort zu volkserzieherischen Zwecken im staatstragenden Sinn ein. Aufklärerische Traditionen werden in seinen erbaul. Erzählungen u. Fabeln, die er z.T., wie auch viele Gedichte u. Aufsätze, in westfäl. Zeitschriften veröffentlichte, biedermeierlich überformt. Der Entwurf häusl. Lebens in der Erzählung von der Silvesterfeier einer frommen Predigerfamilie (Der letzte Abend des Jahres 1817. Schwelm 1817) gerät zur patriarchal. Herrschaft bestätigenden Pseudo-Idylle. N. verfasste neben an Salis, Matthisson u. Friedrich Adolph Krummacher geschulter Natur- u. religiöser Lyrik (Wanderungen durch Duisburgs Fluren. Duisburg/Essen 1807. U.d.T. Poetische Spaziergänge. 1808) Andachtsliteratur für die Jugend (z.B. Neujahrsbüchlein für das Jahr 1819. Schwelm o. J. Umgearbeitet: Der Jahresschluß. Essen/Duisburg 1819), seine bevorzugte Leserschaft. Der Rezensent der Vermischten Gedichte und Parabeln (Duisburg/Essen 1815) bezeichnete dieses Werk als »Unterhaltungsbuch« für die »ungereifte Jugend«, weil N. eine milde Fantasie u. edlen, frommen Sinn zeige, der »die unwandelbaren
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Verhältnisse [des Lebens] ehrt und verschönt« (in: Zeitung für die elegante Welt 1815, Sp. 1509 f.). Diese mit preußisch-patriot. Liedern durchsetzte Sammlung enthält auch das gleichzeitig in Einzeldrucken u. Zeitungen verbreitete Lied zur Feier der Leipziger Schlacht 1814, Flamme empor, das sich aufgrund seiner Aufbruch u. Gemeinschaft versinnbildlichenden Lichtmetaphorik bis in die jüngste Vergangenheit sowohl in polit. wie christl. Anthologien wiederfindet. Ausgabe: Vesperklänge. Aufsätze u. Gedichte aus dem Nachl. Hg. J. H. J. Nonne. Schwelm 1854. Literatur: Westf. Autorenlex. Ernst Weber
Nonnenmann, Klaus, * 9.8.1922 Pforzheim, † 11.12.1993 Pforzheim. – Romancier, Erzähler, Essayist.
Nonnenturnier
net, wie er es in der Titelerzählung Herbst des gleichnamigen Sammelbändchens (Darmst. 1977) auf die knappe Formel bringt: »[...] was ich suche, ist tot«. Erst aus dem Nachlass trat als Fragment ein weiteres Romanprojekt zutage, an dem N. in den 1970er Jahren gearbeitet hatte: Ortungen: Talburg; Hausen, enthalten in ›Ein Lächeln für morgen‹. Orte und Zeiten (Tüb. 2000). Diese Geschichte eines Vaters, der autobiogr. Züge N.s trägt, u. seiner zur »68er«-Studentengeneration zählenden Tochter spielt in einem nur oberflächlich verschlüsselten, liebevoll ironisierten Pforzheim u. in Hausen, dem Heimatdorf Johann Peter Hebels. Weitere Werke: Vertraul. Geschäftsber. 11 Gesch.n u. 1 Spiel. Olten/Freib. i. Br. 1961. – Kongreß der Zauberer. Mit einem Nachw. v. Peter Härtling. Ffm. 1992 (E.en).
Literatur: Walter Hilsbecher: Der Atem der Nach Abitur u. Arbeitsdienst als Bordfunker zur Luftwaffe eingezogen, überlebte N. zwei Anmut. In: FH 17 (1962). – Ders.: Die Wunde der Abschüsse u. floh 1945 aus der Gefangen- Unterbrechung. Ebd. 20 (1965). – Kurt Batt: Unschaft. Ab 1946 studierte er in Hamburg, gewisser Tatbestand. In: NDL 14 (1966). – Jochen Greven: K. N. in Pforzheim. Spuren 59, Marbach/ Heidelberg u. Frankfurt/M. Soziologie, RoN. 2002. – Michael Schulte: K. N. In: LGL. manistik u. Germanistik, mit UnterbrechunFriedhelm Sikora / Jochen Greven gen durch eine zu Invalidität führende Lungenkrankheit. Er schrieb seit 1947 Kabaretttexte, Feuilletons, Essays, Kurzgeschichten. Nonnenturnier. – Spätmittelalterliche 1964 erhielt er den Förderpreis des SWF. N. priapeische Kurzerzählung aus dem 15. lebte zeitweilig in Frankfurt/M., in GaienJh. hofen am Bodensee, in Straubenhardt-Feldrennach u. zuletzt wieder in Pforzheim. Die reimtechnisch u. metrisch anspruchslose N.s viel beachtetes Romandebüt waren Die Kurzerzählung bietet die obszön-groteske sieben Briefe des Doktor Wambach (Olten/Freib. i. Geschichte eines Ritters, der sich von seinem Br. 1959. Leicht verändert Ffm. 1987. Tüb. Genitale trennt, um das dann in einem Non2001). Die Fabel von den sieben letzten Le- nenkloster ein brutaler Kampf ausbricht. Der benstagen des 83-jährigen Dr. Wambach, von Erzähler setzt ein mit einer Vorrede, in der er diesem genutzt, um sieben Ausreißerbriefe sein Publikum auffordert, andere Unterhaleiner verschwundenen Puppe an die fünf- tungen wie das Tanzen einzustellen u. zum einhalbjährige Puppenmutter zu »fälschen«, Geschichtenerzählen überzugehen, womit er spielt ihre eigene, poet. Wirklichkeit aus in den Anfang machen wolle. Nach diesem in einer reizvollen Balance zwischen Märchen u. der Manier von Boccaccios Decameron das ErAlltag, heiterer Melancholie u. verhaltener zählen als Gesellschaftsvergnügen annoncieIronie. Ein eng verwandtes Motiv, Flucht aus renden Einsatz berichtet der Erzähler von der »Bessere-Leute-Routine« in eine doppel- einem als Liebhaber begehrten Ritter, den bödig nachgestellte Kindheits-Welt, variiert eine Dame aus Rache dafür, dass er sie nur der parodistische Roman Teddy Flesh oder die eine Nacht mit seiner Liebe beglückt hat, Belagerung von Sagunt (Olten/Freib. i. Br. 1964. dazu überredet, sich sein Geschlechtsteil abFfm. 1988). Bei aller Brillanz u. skurrilen zuschneiden: Ohne Penis werde er für die Spielfreude ist N.s erzählerisches Werk durch Frauen noch begehrenswerter sein. Der ereinen Hang zur trag. Vergeblichkeit gezeich- zähllogisch unvermittelt zum Narren dege-
Nordau
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Ausgaben: Hanns Fischer (Hg.): Die dt. Märennerierende Ritter führt daraufhin einen Dialog mit seinem Genitale, in dem er es be- dichtung des 15. Jh. Mchn. 1966, S. 31–47. – Thoschimpft, u. trennt sich schließlich von ihm mas Cramer (Hg.): Mæren-Dichtung. 2 Bde., Mchn. (eine Prozedur, die beide dank einer Salbe der 1979; Bd. 2, S. 159–172. – Klaus Grubmüller (Hg.): Novellistik des MAs. Märendichung. Ffm. 1996, Dame überleben). Er bringt den »zagel« (V. S. 618–647 (mit nhd. Übers.; zit.). 182) in ein Nonnenkloster, deponiert ihn dort Literatur: Werner Williams-Krapp: D. N. In: unter einer Treppe u. kehrt zu der Dame zuVL. – Fischer 1966 (s. o.), S. 528. – Grubmüller 1996 rück, um seine Belohnung abzuholen – diese (s. o.), S. 1330–1340 (Überlieferung, Bibliogr., »valentinne« (Teufelin, V. 264); jedoch jagt Komm.). – Klaus Grubmüller: Die Ordnung, der ihn mit über 100 anderen Frauen gewaltsam Witz u. das Chaos. Eine Gesch. der europ. Novelaus der Stadt. Er fristet sein Leben als Ein- listik im MA: Fabliau – Märe – Novelle. Tüb. 2006, siedler in einer Höhle, in der er mehr als 34 S. 231–238. Corinna Laude Jahre lang sein Schicksal bis zu seinem Tode beweint. Nordau, Max, eigentl.: Simon Maximilian Ein zweiter Erzähleinsatz hebt nun an mit Südfeld, * 29.7.1849 Pest, † 22.1.1923 der Aufforderung ans Publikum zu schweiParis. – Arzt; Journalist, Schriftsteller, gen, jetzt sei die Rede vom Penis: Er ist nach Kulturkritiker, Zionist. einem Jahr seines unkomfortablen Quartiers überdrüssig u. mischt sich im Kreuzgang N, Sohn des Rabbiners Gabriel Südfeld, verunter die Nonnen. Sogleich bricht ein Streit öffentlichte ab 1867 journalist. Arbeiten, zudarüber aus, was mit ihm zu geschehen habe. nächst für den »Pester Lloyd«, dann arbeitete Schließlich bestimmt die Äbtissin, dass ein er für große Zeitungen wie die »Vossische Turnier darüber entscheiden solle, welche Zeitung« in Berlin, die »Neue Freie Presse« in Nonne das Genitale behalten könne. Dieses Wien u. die »La Nación« in Buenos Aires. Turnier, in das sich schließlich auch noch die Nach dem Tod des Vaters änderte er am Novizinnen einmischen, verwirklicht sich al- 11.4.1873 seinen Namen in Max Nordau. N. lerdings als völlig regelloser Kampf aller ge- unternahm Studienreisen nach Dänemark, gen alle, der grausame Verletzungen u. einige Schweden, Island, England, Frankreich u. Todesfälle zur Folge hat. Unvermittelt ist Spanien u. wurde 1872 zum Dr. med. prodann kurz die Rede davon, dass der »zagel« moviert. 1878 folgte die Niederlassung als heimlich vom Turnierplatz getragen worden Arzt. 1880 übersiedelte er nach Paris, wo er u. verschwunden sei. Daraufhin stellen die überwiegend als Armenarzt tätig war. Im Nonnen ihren Kampf ein, beklagen ihre deutschen sozialdemokrat. Leseclub in Paris Wunden u. einigen sich darauf, das Gesche- hielt er Abend-Vorträge über soziale Fragen. hen geheim zu halten sowie ihre ehemalige In Paris kam es zu einem regen GedankenFreundschaft wiederaufleben zu lassen. austausch mit Schriftstellern unterschiedliDas Märe operiert mit verschiedenen, in- cher Nationalitäten. 1892 begegnete N. ternational verbreiteten Motiven, etwa der Theodor Herzl, ab 1895 engagierte er sich für Verkehrung des Minnedienstes, der Kastrati- den polit. Zionismus u. war Hauptautor des on als Rache einer listigen Frau; der Anthro- Baseler Programms sowie Präsident des siebten pomorphisierung u. Verselbständigung der bis zehnten »Zionistischen Kongresses«. Genitalien (vgl. auch die Kurzerzählungen Trotz seiner grundsätzl. Ablehnung von Gold und Zers; Der weiße Rosendorn); der gro- Mischehen heiratete er 1898 die dän. Protesbianischen Inversion von Turnierritualen u. tantin Anna Kaufmann. 1903 wurde ein Atdem Motivkomplex des »mundus perversus« tentat auf N. verübt. Nach dem Ausbruch des hier in Gestalt der depravierten Nonnenge- Ersten Weltkrieges lebte N. in Madrid, ab meinschaft. Durch ihre, freilich nicht immer 1918 in London. 1920 kehrte er nach Paris kohärente, Kombination wird ungebundene zurück. N. starb 1923 u. wurde 1926 in Tel Sexualität als Quelle von Chaos u. Anarchie Aviv beigesetzt. inszeniert, vor der keinerlei Ordnung mehr Berühmt-berüchtigt wurde N. durch seine Bestand hat. kulturkrit. Schriften. 1883 erschienen Die
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Norden
conventionellen Lügen der Kulturmenschheit Die Krankheit des Jh. 2 Bde., Lpz. 1888 (R.). – Ge(Lpz.), die in 15 Sprachen übersetzt, in Russ- fühlskomödie. Breslau 1891 (R.). – Seelenanalysen. land u. Österreich aber verboten wurden. Als Bln. 1892 (N.n). – Das Recht zu lieben. Bln. 1892 Fortsetzung veröffentlichte N. 1885 Paradoxe (D.). – Die Kugel. Bln. 1895 (Schausp.). – Drohnenschlacht. Bln. 1898 (R.). – Zeitgenöss. Franzoder conventionellen Lügen (Lpz.), die Proklamasen. Litteraturgeschichtl. Ess.s. Bln. 1901. – Was tion einer sozialistisch wie sozialdarwinis- bedeutet das Turnen für uns Juden? In: Jüd. tisch orientierten Solidaritätsmoral, mit dem Turnztg., Juli 1902. – Morganatisch. Bln. 1904 (R.). Ziel, der Entfremdung des modernen Men- – Von Kunst u. Künstlern. Lpz. 1905. – Mahá-Rog. schen entgegenzuwirken. 1892/93 griff N. in Bln. 1905 (N.n). – Märchen. Bln. 1905. – Der Sinn seiner Radikalpolemik Entartung (Bln.) die der Gesch. Bln. 1909. – Zionist. Schr.en. Bln. 1909. Atavismustheorie Cesare Lombrosos auf, in- – Die Biologie der Ethik. Lpz. 1920. – Erinnerundem er neben den äußeren, körperlich sicht- gen. Lpz. 1928 (postum). Literatur: Anna u. Max Nordau: M. N. New baren Stigmata der Entarteten die bes. Struktur der patholog. Nervenzelle hervor- York 1943. – Dies.: M. N. L’homme – le penseur – le hob u. Lombrosos Vorstellung vom »monstre sioniste. Paris 1948. – Milton Painter Foster: The Reception of N.’s ›Degeneration‹ in England and humain« um entscheidende Komponenten America. Diss. University of Michigan 1954. – Meir erweiterte. Nahezu alle Vertreter moderner Ben-Horin: M. N. New York 1956. – Jens Malte Kunst – insbes. des Naturalismus u. der Fischer: Dekadenz u. Entartung. M. N. als Kritiker Décadence – deklarierte N. zu Kranken u. des Fin de siècle. In: Fin de siècle. Hg. Roger Bauer damit zur biolog. Gefahr für die Gesellschaft. u .a. Ffm. 1977, S. 93–111. – Joachim Schoeps: N.s Feldzug richtete sich v. a. gegen Ibsen u. Neues Lexikon des Judentums. Gütersloh 1992, den als »lüsternes Raubtier« bezeichneten S. 342. – Christoph Schulte: Psychopathologie des Nietzsche. Im Gegensatz dazu verehrte er den Fin de Siècle: Der Kulturkritiker, Arzt u. Zionist M. als »Meister« bezeichneten Paul Heyse. Das N. Ffm. 1997. – Petra Zudrell: Der Kulturkritiker u. Schriftsteller M. N. Zwischen Zionismus, Deutschskandalträchtige Werk N.s veranlasste Geortum u. Judentum. Würzb. 2003. – Karola Dahmen ge Bernard Shaw bereits 1895 zu der Streit- u. Franziska Agnes: Spurensuche. Der Mediziner, schrift The Sanity of Art: An Exposure of the Romancier, Kulturkritiker u. Journalist M. N. in Current Nonsense about Artists being Degenerate. seiner Rolle als Kunstkritiker der Neuen Freien Als erfolgloser Bühnenautor u. beachteter, Presse. Ffm. 2006. – Céline Kaiser: Rhetorik der wenngleich heftig kritisierter Romancier Entartung. M. N. u. die Sprache der Verletzung. versuchte N., seine Kulturkritik in literar. Bielef. 2007. – Melanie Murphy: M. N.’s Fin-deFormen zu veranschaulichen. Thematisch siècle Romance of Race. New York 2007. – Hedwig dominieren die vermeintl. Krankheitssym- Ujvári: Dekadenzkritik aus der ›Provinzstadt‹. M. N.s Pester Publizistik. Budapest 2007. – Jutta Perptome des Fin de Siècle. Das Personal im lison: Der pathograph. Blick. Physiognomik, Ataterar. Werk N.s ist polarisiert: einerseits vismustheorien u. Kulturkritik 1870–1930. Würzb. »Entartete«, die pathologisiert u. disqualifi- 2008. Karin Tebben ziert, andererseits »Gesunde«, die zu moral. Leitsternen erhoben werden. Dramatik u. Epik sind formal konventionell, sprachlich Norden, Eduard, * 21.9.1868 Emden, gekennzeichnet von darwinistischer Meta- † 13.7.1941 Zürich. – Klassischer Philophorik. Doktor Kohn (Bln. 1898) wirft in den loge. Figuren Fragen der jüd. Identität auf, die in der politisch-zionist. Essenz des Stückes eine Der Sohn eines Sanitätsrats trat als 17-jähriger Primaner vom jüdischen zum protestant. eindeutige Antwort finden. Glauben über. Er studierte in Bonn bei Franz Weitere Werke: Aus dem wahren MilliardenBuecheler, dem er 1898 sein erstes großes lande. Pariser Bilder u. Studien. 2 Bde., Lpz. 1878. – Seifenblasen, Federzeichnungen u. Gesch.n. Lpz. Buch ebenso widmete wie vier Jahrzehnte 1897. – Vom Kreml zur Alhambra. 2 Bde., Lpz. später (1939) sein letztes. Bereits mit 23 Jah1879. – Die neuen Journalisten. Bremen 1880. – ren promovierte N. über die SatirenfragParis unter der dritten Republik, neue Bilder. Lpz. mente des Cicero-Zeitgenossen Varro, 1895 1880. – Der Krieg der Millionen. Lpz. 1882 (D.). – erhielt er einen Ruf nach Greifswald, 1899
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nach Breslau, 1906 nach Berlin. Hier wurde er lenmaterial ermöglichten Zusammenfüh1913 Mitgl. der Akademie der Wissenschaf- rung auch entlegener Quellen zu detailreiten u. wirkte später auch als Rektor der Uni- chen Gesamtbildern, die methodologisch wie versität. Im Frühjahr 1935 emeritiert, aus inhaltlich die Klassische Philologie, die Rhedem Direktorium des Deutschen Archäologi- torikforschung wie die religionswiss. Arbeischen Instituts wie aus der Akademie der ten im 20. Jh. nachhaltig beeinflusst haben. Wissenschaften als Nicht-Arier ausgeschlosWeitere Werke: Beiträge zur Gesch. der griech. sen, musste er 1939 in seinem achten Le- Philosophie. Lpz. 1893. – Ennius u. Vergilius. bensjahrzehnt ins Schweizer Exil gehen, das Kriegsbilder aus Roms großer Zeit. Lpz. 1915. – 4 ihm wohlhabende Verwandte großzügig er- Röm. Lit. Lpz. 1923. 1952 (mit einem Anhang: Die lat. Lit. im Übergang vom Altertum zum MA). – möglichten. Mit seinem Frühwerk Die antike Kunstprosa Kleine Schr.en zum klass. Altertum. Hg. Bernhard Kytzler. Bln. 1966. vom 6. Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der ReLiteratur: Bibliografie in: Kleine Schr.en (s. o.), naissance (2 Bde., Lpz. 1898. Neudr. Darmst. S. 683–690 (mit Übersicht der v. N. geleiteten Dis1958) schuf N. auf rd. 1000 Seiten die sertationen). – Weitere Titel: Walter Abel: Studium grundlegende Darstellung der griech. u. lat. Berolinense 1924–32. Tl. 2: E. N. In: Gymnasium Rhetorik dieser Zeit. Nicht minder funda- 91 (1984), S. 449–484. – Bernhard Kytzler: E. N. In: mental ist sein Kommentar zum Unterwelts- Berliner Lebensbilder, Geisteswissenschaftler. Bln. buch der Aeneis Vergils, P. Vergilius Maro Aeneis 1989, S. 327–342. – Ders.: E. N. In: Classical Buch VI (Lpz. 1903. 21916. Neudr. Darmst. Scholarship. A Bibliographical Encyclopedia. New 1957), in dem sich handwerkliche philolog. York 1990, S. 341–345. – Jörg Rüpke: Röm. ReliMeisterschaft mit sensiblem poet. Verständ- gion bei E. N. Marburg 1993. – B. Kytzler (Hg.): E. nis u. religionswiss. Fundierung auf unver- N. Stgt. 1994. – William M. Calder u. Bernhard gleichl. Weise verbinden. Hier ging N. auch Huss (Hg.): ›Sed serviendum officio...‹. The Correspondence Between Ulrich v. Wilamowitz-Moelals Übersetzer – der zuvor schon das Märchen lendorff and Eduard Norden. Hildesh. u. a. 1997 des Apuleius, Amor und Psyche (Lpz. 1902), (mit Komm.). – Wilt Aden Schröder: Der Alterglänzend übertragen hatte – eigene Wege: tumswissenschaftler E. N. Hildesh. u. a. 1999. Der lat. Originaltext im daktyl. Hexameter Bernhard Kytzler / Red. wird deutsch in immer wieder wechselnden Versformen wiedergegeben, um so die unterschiedl. Färbung der lat. Rhythmik in allen Nordström, Clara, eigentl.: C. von Vegesack, * 18.1.1886 Mexö/Schweden, † 7.2. Feinheiten zu verdeutlichen. Die Beschäftigung mit rhetorischen wie 1962 Mindelheim. – Erzählerin. mit religionswiss. Fragen kulminierte in Aufgewachsen in Schweden, kam N. 1903 Agnostos Theos (Lpz. 1913. Neudr. Darmst. nach Deutschland. Sie lebte mit ihrem Mann 1956), einer Untersuchung über die Formenge- Siegfried von Vegesack auf Burg Weißenfels schichte religiöser Rede. Ihr folgte als Geschichte bei Regen, dann in Stuttgart u. später in einer religiösen Idee eine Darstellung der Ge- Dießen/Ammersee. dankenmuster über das Erscheinen des HeilObgleich sie die meiste Zeit ihres Lebens in bringenden Knaben (Die Geburt des Kindes. Deutschland verbrachte, suchte N. in ihren Lpz. 1924. Neudr. Darmst. 1958). Des Wei- Romanen die Eigenheit der schwed. Landteren entstanden Die germanische Urgeschichte schaft u. ihrer Landsleute zu beschreiben. Wie in Tacitus Germania (Lpz. 1920. 31923. Neudr. in Frau Kajsa (Stgt./Bln. 1935) stehen häufig Darmst. 1959) sowie Alt-Germanien (Lpz. Frauenschicksale im Zentrum ihrer dialog1934. Darmst. 21962), völker- und namens- reichen Prosa. N.s christl. Weltauffassung kundlichen Untersuchungen; schließlich das in bestimmte ihr literar. Werk ebenso wie ihr Zürich imprimierte, 1939 in Lund/Schweden Leben. gedruckte Alterswerk des Exulanten, Aus altWeitere Werke: Tomtelilla. Stgt./Bln. 1923 römischen Priesterbüchern. (R.). – Roger Björn. Stgt./Bln. 1935 (R.). – Lillemor. N.s Bedeutung liegt in der durch seine Stgt./Bln. 1936 (R.). – Bengta, die Bäuerin aus magistrale Überschau über das antike Quel- Skane. Stgt./Bln. 1941 (R.). – Mein Leben. Heidelb.
Nossack
637 1957 (Autobiogr.). – Die Flucht nach Schweden. Heidelb. 1960 (R.). – Die höhere Liebe. Heidelb. 1963 (R.). Literatur: Marianne Wintersteiner: Das Glanzlicht. C. N.s Lebensroman. Heilbr. 1988. Sabine Geese / Red.
Northoff, Thomas, * 18.11.1947 Wien. – Schriftsteller, Fotograf, Graffitiforscher.
rigkeiten (v. a. jüngerer Menschen) hält N. regelmäßig Vorträge u. Lehrveranstaltungen. Weitere Werke: hirnsand. Wien 1972. – Verständigungsschwierigkeiten. 1974 (Hörsp.). – In dem Lande sogar Jubel u. Trauer befohlen wurden. Beiträge zur kollektiven Sicherheit. Wien 1993. – Ausgew. Gedichte. Wien 2007. Gerald Leitner / Red.
Nach Studien in Medizin, Biologie u. Ethno- Nossack, Hans Erich, * 30.1.1901 Hamlogie u. einer dreijährigen Tätigkeit als burg, † 2.11.1977 Hamburg; Grabstätte: Hauptschullehrer lebt N. heute als freier ebd., Friedhof Ohlsdorf. – Erzähler. Schriftsteller, Fotograf u. Forscher in Wien. Sein literarisches u. wiss. Interesse gilt ge- Gemeinsam mit vier Geschwistern wuchs N. sellschaftl. Randbereichen. In dem autobio- in den Konventionen des hanseat. Großbürgrafisch gefärbten Roman ... stets ein leichtes gertums auf. Ein eher leiser, zurückhaltender Hungergefühl (Wien 1981) wird der Haupt- Vater, der später im Werk behutsam beschullehrer Lang wegen Haschischhandels u. schrieben wird, schuf mit der Kaffee-Export-konsums festgenommen. In unprätentiöser, firma einen von Sorgen freien wirtschaftl. an Dialekt- u. Jargonausdrücken reicher Hintergrund. Die zeitlebens als Bedrohung Sprache beschreibt N. die menschenunwür- empfundene dominante Mutter lebte mit aldigen Bedingungen des österr. Strafvollzugs, ler Kraft für das gesellschaftl. Renommee. Sie die am Interesse an einer Resozialisierung der wurde für N. zum Lebenstrauma, das sein Häftlinge zweifeln lassen. N.s zweites Werk, Verhältnis zu Frauen prägte u. ihn früh verSchmutz & Schund. Geschichten über Gott & Die anlasste, die »biologische Nabelschnur« zu Welt (Wien 1983), bringt eine Abkehr vom durchtrennen u. seine einzige Chance jenseits kruden Realismus; ironisch nähert er sich den der »Herkunft« zu suchen: »Seit meiner Abgründen des Alltags u. demaskiert durch frühesten Jugend bin ich vor der Tat gefloImmoralismus die scheinbare Moralität. Ti- hen, die mir allein völlige Erlösung geschenkt tel, Inhalt u. die Illustrationen Gottfried hätte, eine so völlige, daß ich sie ohne Zögern Helnweins stießen auf massive Ablehnung; mit dem dann vielleicht über mich verhängviele Buchhändler sahen sich zur Retournie- ten Todesurteil bezahlt haben würde. Ich rung bereits georderter Exemplare veran- meine die Ermordung meiner Mutter. [...] Ich versichere [...], daß hier der realste Punkt lasst. Neben seiner Arbeit als Schriftsteller u. meines Wesens liegt.« (Tagebücher, 19.5.1952). Fotograf (u. a. am 1983 ins Leben gerufenen Die humanist. Ausbildung in der Gelehrtenurbansemiot. literar. Endlosprojekt »Stadt- schule des Johanneums betrachtete er rückLeseBuch/Letztes VolksBuch«, das nur über blickend als wichtig u. mit Stolz. Spuren des Dia-Projektionen gezeigt werden kann) betä- hier erworbenen Wissens zeigten sich später tigt sich N. seit den frühen 1980er Jahren v. a. u. a. in der atmosphärisch dichten, in der als Graffitiforscher (Graffiti. Die Sprache an den röm. Kaiserzeit angesiedelten MeistererzähWänden. Wien 2005) u. als Initiator u. Leiter lung Das Testament des Lucius Eurinus (Ffm. des GraffitiArchivs in Wien (die dort zusam- 1965), in dem N., nicht ohne parabolische mengetragene Sammlung von mittlerweile Bedeutsamkeit, seinen Protagonisten den über 25.000 Dias ist das weltweit größte Freitod suchen lässt, weil er gegen den IrraBildarchiv zu Wort- u. Verbalgraffiti). Zum tionalismus der neuen Christensekte, zu der Thema Graffiti u. Graffiti-Sprache sowie zu sich auch die Ehefrau bekennt, nicht aufden darin zum Ausdruck kommenden Be- kommen kann. N.s Jurastudium in Jena findlichkeiten, Lebenshaltungen u. Schwie- (1919–1922), das mit der Mitgliedschaft in einer schlagenden Verbindung einherging, wurde vorzeitig abgebrochen. Es blieben
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Schmisse, die seine linke Gesichtshälfte zerrissen u. ihn lebenslang zu Unrecht arrogant erscheinen ließen. Nach später gefundenen Dokumenten, v. a. dem Fragebogen zur Bearbeitung des Aufnahmeantrags für die Reichsschrifttumskammer vom 15.10.1942 (s. Dammann 2000; Kommentarbd. zum Briefwechsel), war N. damals in einem rechtsnat. Freikorps aktiv u. stand politisch offenbar der Deutschnationalen Volkspartei nahe. Mit dem Abbruch der Studien ging auch der Bruch mit der Familie u. allen Konventionen einher, in einer »Krise von geradezu dramatischem Ausmaß« (Dammann). Zeitweise arbeitete N. als Hilfsarbeiter im Jenaer Glaswerk Schott u. trat 1923 (nach Söhling, Kommentar zum Briefbd.) in die KPD ein, was nach der Machtergreifung auch Hausdurchsuchungen durch die Gestapo mit sich brachte. Auch wenn N. nach der Heirat mit Gabriele Knierer (1925) wieder in der väterl. Firma tätig war, in ihren Diensten einige Zeit in Südamerika zubrachte u. sie nach dem Tod des Vaters führte, wahrte er innerlich Abstand zu diesem Geschäft u. dieser Herkunft. Neben der kaufmännischen führt N. eine zweite, literar. Existenz. Schon seit Längerem schrieb er nach dem Vorbild Hebbels Tagebücher, Gedichte u. dramat. Versuche. Zu Publikationen kam es jedoch einstweilen nicht, obwohl N. von einem etwaigen NSSchreibverbot offenbar nicht ausdrücklich betroffen war. Bei der Zerstörung Hamburgs im Juni 1943 verlor er neben der gesamten persönl. Habe viele Manuskripte, v. a. sämtl. Tagebücher. Erst spät entschloss er sich, das Doppelleben zu beenden u. die väterl. Firma zu liquidieren (1956), um künftig als Schriftsteller zu leben. In diesem Jahr zog er nach Aystetten bei Augsburg in die Nähe des Großindustriellen Kurt Bösch, der ihn zeitlebens materiell unterstützte. 1962 übersiedelte er nach Darmstadt, 1965 nach Frankfurt/M. Ab 1969 lebte er in Hamburg. N. war Mitgl. der bedeutenden Akademien. Er wurde u. a. mit dem Georg-Büchner-Preis (1961) u. dem Wilhelm-Raabe-Preis (1963) ausgezeichnet. Er war Träger des Ordens »Pour le mérite«. N. bezeichnete Barlach als seinen »Vater« u. Camus als »Bruder«. Kleist, Hebbel, Strindberg u. dem Maler Max Beck-
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mann fühlte er sich verpflichtet. Er korrespondierte mit den meisten zeitgenöss. Autoren, distanzierte sich jedoch vom Literaturbetrieb, insbes. der Gruppe 47 u. deren sozialkritischem Neorealismus. Lebenslang (nicht ohne Spannungen) befreundet war N. mit Hans Bender, Hans Henny Jahnn u. Hermann Kasack. Nach ersten Publikationen im Krüger Verlag ist sein gesamtes umfangreiches Werk im Suhrkamp Verlag erschienen. Viele Titel sind in zahlreiche Sprachen übersetzt worden. »Ein Ereignis hat einen Mann schlaflos gemacht«, heißt es im Vorspruch zu Spirale. Roman einer schlaflosen Nacht (Ffm. 1956). Die Zerstörung Hamburgs war solch ein entscheidendes Ereignis für N.s schriftstellerische Arbeit. Im Bericht Der Untergang, der wenige Wochen nach der Katastrophe entstand u. in Interview mit dem Tode (Hbg. 1948) veröffentlicht wurde (Thomas Mann nannte den Text »ein Werk für immer« u. Jean Paul Sartre veröffentlichte ihn früh in »Les temps modernes«) beschreibt er den Verlust zgl. als Chance u. Auftrag: »Wir / werden uns von nun an nicht mehr fragen können: Hält es stand, dein Werk angesichts der Weite des Landes und am Ufer des Meeres? Wir werden fragen müssen: Hält es stand angesichts dieses Friedhofes?« (ebd.). Dieses Werk ist für N. nicht das einzelne Buch, sondern der Prozess des Schreibens. In ihm löst er sich von der Herkunft u. macht sich auf in immer neue literar. Regionen »ganz ohne Landschaft, ohne Hintergrund«. Die Figuren N.s sind immer Grenzgänger, wie in den einzelnen Kapiteln der Spirale: der Junge, der in der Erzählung Am Ufer heimlich schwimmen lernt, um eines Nachts unbemerkt an das verbotene Ufer zu gelangen; oder der junge Mann in Schalttafel, der ein perfektes Tarnsystem entwickelt, um im Schatten seines eigenen Bildes den Kreis der Herkunft verlassen zu können; oder der Versicherungskaufmann, der in Unmögliche Beweisaufnahme (Ffm. 1959) seinen Aufbruch ins »Unversicherbare« vorbereitet. Ihr gemeinsames Ziel ist die Annäherung an sich selbst, die Suche nach dem Urbild der eigenen Möglichkeiten. Der »Engel«, der »jüngere Bruder« u. »Gott« sind Chiffren hierfür. Am
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Ende dieser lebenslangen Suche ist der »Kreis des Bewußtseins«, wie N. ihn in Kleists Aufsatz über das Marionettentheater beschrieben fand, ausgeschritten: ein alter Mann kehrt als Ein glücklicher Mensch (Ffm. 1975) in die »Heimat« als eigentl. Fremde zurück. In einem Beitrag seiner Pseudoautobiographischen Glossen (Ffm. 1971) schrieb N.: »Ich werde keine Lebenserinnerungen schreiben. Ich sehe keine Logik in meinem Lebenslauf, ich sehe nur Situationen.« Erst die postum publizierten Tagebücher u. Briefe (hervorragend kommentiert), mit denen eine neue Phase der N.-Forschung begonnen hat, werfen einiges Licht auf die Motive dieser u. anderer Äußerungen. Denn sie geben den Blick frei auf eine schwankende, oft widersprüchliche, zwischen äußerer Haltung u. innerer Verzweiflung changierende, jedenfalls komplexe intellektuelle, seelische u. körperliche (auch sexuelle) Verfassung, die in den Erzählungen meist nur in typologisch abstrahierten Figurenkonstellationen verarbeitet wurde. Bereits die ständig reflektierte u. mit anderen Schriftsteller-Diarien verglichene Konzeption der Tagebücher spiegelt die fortwährende Suche nach einer ideologisch u. begrifflich kaum zu fassenden Existenzform u. Lebensproblematik, nach einem immer wieder misslingenden Ausgleich zwischen Offenheit u. Verhüllung. Weitere Werke: ›Dieser Andere‹. Ein Lesebuch mit Briefen, Gedichten, Prosa. Hg. Christof Schmid. Ffm. 1976 (S. 283–297 Bibliogr. der Erstveröffentlichungen v. Einzel- u. Buchpublikationen). – Einzeltitel: Gedichte. Hbg. 1947. – Nekyia. Ber. eines Überlebenden. Hbg. 1947. – Die Rotte Kain. Hbg. 1949 (Schausp.). – Spätestens im Nov. Ffm. 1955 (R.). – Die Hauptprobe. Neuwied 1956 (tragödienhafte Burleske). – Der jüngere Bruder. Ffm. 1958. Erw. Ausg. 1973 (R.). – Nach dem letzten Aufstand. Ein Ber. Ffm. 1961. – Begegnung im Vorraum. Ffm. 1963 (E.en). – Ein Sonderfall. Neuwied 1963 (Schausp.). – Das kennt man. Ffm. 1964 (E.en). – Die schwache Position der Lit. Reden u. Aufsätze. Ffm. 1966. – Der Fall d’Arthez. Ffm. 1968 (R.). – Dem unbekannten Sieger. Ffm. 1969 (R.). – Die gestohlene Melodie. Ffm. 1972 (R.). – Bereitschaftsdienst. Ber. über die Epidemie. Ffm. 1973. – Um es kurz zu machen. Miniaturen, Etüden, Parabeln. Ffm. 1975. – Die Erzählungen. Hg. Christof Schmid. Ffm. 1987. – Aus den Akten der Kanzlei
Nossack Seiner Exzellenz des Herrn Premierministers Tod. Glossen u. Miniaturen. Ffm. 1987. Tagebücher und Briefe: H. E. N.: Die Tagebücher 1943–77. Hg. Gabriele Söhling. Mit einem Nachw. v. Norbert Miller. 3 Bde. [Bd. 3: Komm.], Ffm. 1997. – Geben Sie bald wieder ein Lebenszeichen. Briefw. 1943–56. 2 Bde. [Bd. 2: Komm.], Ffm. 2001. Literatur: Bibliografien: Claude Dornseiff: H. E. N. – eine Bibliogr. In: Revue d’Allemagne 6, Nr. 2 (1974), S. 145–172. – Michael Bielefeld: H. E. N. In: KLG. – Gabriele Söhling: H. E. N. Schreiben u. Veröffentlichungen. Bibliogr. u. ausgew. Texte. Mainz 1991. – Birgit Kawohl: H. E. N.-Bibliogr. Wetzlar 1995. – Söhling 1995 (s. u.). – Weitere Titel: Christof Schmid: Monolog. Kunst. Untersuchungen zum Werk H. E. N.s. Stgt. 1968. – Ders. (Hg.): Über H. E. N. Ffm. 1970. – Manfred Durzak: Epische Rechenschaftsber.e. Das Erzählwerk v. H. E. N. In: Ders.: Gespräche über den Roman. Ffm. 1976. – Karl G. Esselborn: Gesellschaftskrit. Lit. nach 1945. Polit. Resignation u. konservative Kulturkritik, bes. am Beispiel H. E. N.s. Mchn. 1977. – Joseph Kraus: H. E. N. Mchn. 1981. – Marcel Reich-Ranicki: Der nüchterne Visionär. In: Ders.: Dt. Lit. in West u. Ost. Mchn. 1983, S. 17–33. – Gerhard Baumgaertel: H. E. N. Die Frühen Dramen (1925–34). In: Euph. 41 (1991), S. 147–167. – Inge Hofsommer: Aufrechtstehen im Nichts. Untersuchungen zum A-sozialen im Werk H. E. N.s. Ffm. u. a. 1993. – Wolfgang Michael Buhr: H. E. N. Grenzsituationen als Schlüssel zum Verständnis seines Werkes. Ffm. 1994. – G. Söhling: Das Schweigen zum Klingen bringen. Denkstruktur, Literaturbegriff u. Schreibweisen bei H. E. N. Mainz 1995 (mit Werku. Literaturverz.). – Inge Stephan: ›Was geht uns Kassandra an?‹ Zur Funktion des Mythos in H. E. N.s frühen Nachkriegstexten. In: ›Dann waren die Sieger da.‹ Studien zur literar. Kultur in Hbg. 1945–50. Hg. Ludwig Fischer. Hbg. 1999, S. 111–129. – G. Söhling: H. E. N. Hbg. 2003. – Günter Dammann (Hg.): H. E. N. Leben – Werk – Kontext. Würzb. 2000, hier bes.: Ders.: Neue Funde zur frühen Biogr., S. 227–237. – Jan Bürger: H. E. N. In: LGL. – Andrew Williams: H. E. N. u. das Mythische. Werkuntersuchungen unter bes. Berücksichtigung formalmyth. Kategorien. Würzb. 2004. – Ders.: ›Das stanniolene Rascheln der Weinblätter‹. H. E. N. u. der Luftkrieg. In: Bombs Away! Representing the Air War over Europe and Japan. Hg. Wilfried Wilms u. William Rasch. Amsterd./New York 2006, S. 213–229. Christof Schmid / Wilhelm Kühlmann
Nostitz und Jänckendorff
Nostitz und Jänckendorff, Gottlob Adolf Ernst von, auch: Arthur vom Nordstern, * 26.4.1765 Gut See bei Niesky/Oberlausitz, † 15.10.1836 Gut Oppach/Oberlausitz. – Staatsmann, Gelegenheitsdichter.
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men. Lpz. 1818). Einige seiner vertonten Gedichte wurden populär. Die Sammlung Erinnerungsblätter eines Reisenden im Spätsommer 1822 (Lpz. 1824) berichtet in variantenreichen Versen, detailverliebt u. mit Anmerkungen versehen, von einer Reise durch Süddeutschland, die Schweiz, Oberitalien, Ungarn u. Österreich. Andererseits erlag N. dem 1818 einsetzenden »Byronfieber«, das er als einer der ersten Übersetzer auch noch schürte (Der Gjaur. Ein Bruchstück einer türkischen Erzählung [...]. Lpz. 1820. Ritter Haralds Wanderungen [...]. In: Die Muse 1. Hg. F. Kind. Lpz. 1821, H. 1–3). N. verfasste zahlreiche, z.T. unveröffentlichte Versepen. Im Alter – er quittierte 1831 hochdekoriert den Staatsdienst – wandte er sich verstärkt der geistl. Dichtung zu.
N., aus altem Oberlausitzer Adelsgeschlecht, nahm 16-jährig ein Studium der Staats-, Verwaltungs- u. Rechtswissenschaft in Leipzig auf. 1786 ging er als kursächs. Finanzrat nach Dresden, wo er Schiller kennenlernte. 1789 kehrte er in seine Heimat zurück u. entfaltete eine reiche kulturelle u. sozialpolit. Tätigkeit in vielen amtl. Funktionen (1804 Oberamtsmann der Provinz). Die in seiner Schrift Versuch über die Armenversorgungsanstalten in Dörfern (Görlitz 1801) dargelegten Pläne zur Verminderung des Elends setzte er auf Weitere Werke: Preis der Dichtkunst. Lpz. seinem Gut Oppach in die Tat um. Als Ober- 1796 (G., vertont v. Johann Gottfried Schicht). – konsistorialrat in Dresden (ab 1806) betrieb er Valeria. [...] nach Florian. Dresden 1803 (Versep.). – nicht nur die Verfassung Sachsens (N. war Griech. u. röm. Mythen in Briefen an Emilie. [... Mitunterzeichner), sondern v. a. die soziale nach] de Moustier u. Tressan. 6 Bde., Dresden Fürsorge: 1811 begründete er bei Pirna nach 1802–04. – Liederkreis für Freimaurer. 2 Bde., Lpz. modernen psychiatr. Erkenntnissen die Heil- 1815–28. – Irene. Lpz. 1818 (Versep.). Literatur: Hermann Anders Krüger: Pseudou. Pflegeanstalt Sonnenstein, in der beachtl. Therapie-Erfolge erzielt wurden. N.s umfas- romantik. Friedrich Kind u. der Dresdener Liedersende Studie über dieses Reformwerk, Be- kreis. Lpz. 1904. – Wilhelm Ochsenbein: Die Aufschreibung der Königlich Sächsischen Heil- und nahme Lord Byrons in Dtschld. Bern 1905. Neudr. Hildesh. 1975. – Felix Voigt: G. A. E. v. N. u. J. als Pflegeanstalt Sonnenstein [...] (Dresden 1829), Dichter. In: Neues Lausitz. Magazin 105 (1929), fand überregionale Anerkennung. In der S. 59–75. – A. Frhr. v. Ungern-Sternberg: G. A. E. v. 1824 zu Bräunsdorf bei Freiberg gegründeten N. u. J., Arthur vom Nordstern / Der Staatsmann u. Landeswaisenanstalt machte er Erziehung u. Dichter. In: Grenzland Oberlausitz 17 (1936), Ausbildung der Kinder zur Pflicht. S. 112–114. – Rudolf Böttger: Ein bisher unbeWährend der Nebenstunden dilettierte N. kannter Korrespondent Schillers. In: Schiller-Jb. 15 in der Dichtkunst. In Dresden belebte er 1815 (1971), S. 500–504. Ulrike Leuschner / Red. den Liederkreis neu, eine literar. Abendgesellschaft, die in Norddeutschland Berühmtheit erlangte; man pflegte dort auf brave Nostitz-Wallwitz, Helene von, geb. von Weise eine trivialisierte Romantik. Sein Ver- Beneckendorff u. Hindenburg, * 18.11. such, in Schillers »Horen« zu publizieren, 1878 Berlin, † 17.7.1944 Bassenheim bei schlug 1796 fehl; die regionalen Zeitschriften Koblenz; Grabstätte: ebd., Schlosspark. – Verfasserin autobiografischer Schriften, u. Almanache, so die »Lausitzische MonatsEssayistin. schrift« oder die Taschenbücher seines Freundes Friedrich Kind standen N. dagegen Die frühe Jugend verbrachte N. in Berlin, offen. London u. überwiegend in Paris bei ihrem Erzogen im humanist. Geist der frz. Auf- Großvater, dem dt. Botschafter Fürst Georg klärung, blieb N. ihren Themen treu. Er be- Münster. Hier lernte sie den europ. Hochadel sang erbaul. Bildung (Gesänge der Weisheit, u. viele bedeutende Intellektuelle kennen. Tugend und Freude. Für gesellige Kreise. Dresden Mit einigen pflegte sie einen regen Brief1802) oder hochspezialisierten Genuss (Gem- wechsel. Aus Begegnungen mit Auguste Ro-
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Noth
din gingen die Essays Rodin in Gesprächen und Graf Kessler: Das Tgb. 1880–1937. Bde. 2–7, Stgt. Briefen (Dresden 1927) hervor. Die jahrelang 2004–08, passim. Reinhard Tenberg / Red. geführte, umfangreiche Korrespondenz, v. a. mit Rilke u. Hofmannsthal, weist N. als Noth, Ernst Erich, eigentl.: Paul Krantz, kunst- u. literaturliebende Mäzenatin aus. * 25.2.1909 Berlin, † 15.1.1983 Bensheim/ Der Briefwechsel mit Rilke dokumentiert, Odenwald. – Romancier, Essayist, Liteunberührt von Intimitäten, ihre gegenseitige rarhistoriker. herzl. Sympathie u. hohe Anerkennung. Dank wohlwollender Unterstützung ihres N., proletarischer Herkunft, war in den Mannes, des sächs. Ministers Alfred von »Steglitzer Schülermord« verwickelt u. beNostitz-Wallwitz, konnte sie mehrere kleine suchte nach seinem Freispruch die Oden(nur mäßig erfolgreiche) literar. Salons ins waldschule. In Frankfurt/M. studierte er Germanistik, Geschichte, Soziologie u. PhiLeben rufen. Größeres literar. Renommee fand N. mit losophie, u. a. bei Tillich, Horkheimer u. ihrer autobiogr. Schrift Aus dem alten Europa Mannheim. Daneben publizierte er schon (zuerst in Kesslers Cranach-Presse, 1924. Ffm. früh Beiträge in der »Frankfurter Zeitung« u. 1982. 1993). Mit viel Sensibilität u. Beob- den aufsehenerregenden Roman Die Mietskaachtungsgabe schildert sie das Europa einer serne (Ffm. 1931. Frauenfeld/Stgt. 1982. Ffm. Gesellschaft, deren Glanz nach 1918 erlosch. 2003), der von den Nationalsozialisten verIhre Memoiren riefen unterschiedl. Reaktio- boten u. verbrannt wurde. Im frz. Exil konnte nen hervor. Ludwig Curtius z.B. attestierte N. in angesehenen Zeitschriften publizieren, ihnen »Atmosphäre«; Karl Kraus hingegen, bis er 1939 in Les Milles interniert wurde. der satirisch bemerkte, es sei N. gelungen, 1941 gelang ihm die Flucht über Spanien u. »beim ›Thee‹ mit toute Vienne außer mit mir Portugal in die USA, wo er als Abteilungsleiin Verbindung zu treten«, kritisierte ihre ter bei NBC, Chefredakteur von »Books abDarstellung, indem er ihren leicht »baro- road« u. Literaturprofessor tätig war. In den 1960er Jahren lehrte N. in Frankreich. 1971 cken« Stil pointiert imitierte. kehrte er in die Bundesrepublik Deutschland In den folgenden Jahren ist N. – abgesehen zurück u. war bis 1974 als Honorarprofessor von einigen kleineren Veröffentlichungen – an der Universität Frankfurt/M. tätig, fühlte wenig in Erscheinung getreten. Zu Beginn sich aber heimatlos u. wenig beachtet. der 1930er Jahre beteiligte sie sich mit DöSein Debüt Die Mietskaserne ist die sozialblin, Zuckmayer, Piscator u. anderen am öfkrit. Schilderung einer tristen Berliner Vorfentl. Protest gegen die vom Direktor der stadtjugend in der Weimarer Republik. Seit Kunsthochschule, Paul Schultze-Naumburg, der Emigration schrieb N. fast nur noch vertretene nationalsozialist. Kulturpolitik; Französisch oder Englisch, rechnete er sein zwei Jahre später legte sie mit 87 weiteren Schaffen zur frz. Literatur. Lediglich der RoSchriftstellern dem Reichskanzler Adolf Hitman La voie barrée (Paris 1937) u. der Essay La ler das »Gelöbnis treuester Gefolgschaft« ab. tragédie de la jeunesse allemande (Paris 1934) Weitere Werke: Festl. Dresden. Die Stadt Au- erschienen – allerdings erst nach 45 bzw. gusts des Starken. Bln. 1941. – Hugo v. Hof- nach fast 70 Jahren – u. d. T. Weg ohne Rückkehr mannsthal – H. v. N. Briefw. Hg. Oswalt v. Nostitz. (Frauenfeld/Stgt. 1982) bzw. Die Tragödie der Ffm. 1965. – Rainer Maria Rilke – H. v. N. Briefw. deutschen Jugend (Ffm. 2002) auch auf deutsch. Hg. ders. Ffm. 1976. In La voie barrée wird anhand der Entwicklung Literatur: Karl Kraus: Aus der Barockzeit. In: eines Studenten vom Unpolitischen zum Die Fackel, 27. Jg., Okt. 1925, S. 78–88. – Ludwig entschiedenen Gegner der NationalsozialisCurtius: Torso. Stgt. 1957, S. 265–267. – Oswalt v. Nostitz: Muse u. Weltkind. Das Leben der H. v. N. ten, der schließlich ins Exil geht, ein beMchn. 1991. – Christian Lenz (Hg.): Rodin u. H. v. klemmendes Porträt Deutschlands zu Beginn N. – Ma grande et noble amie. Heidelb. 1999. – der nationalsozialistischen Herrschaft (vom Wolfgang W. Günther: Weimar, lieb’ Frauen. Von 30.1.1933 bis zum Röhmputsch) gezeichnet. Anna Amalia bis H. v. N. Marburg 2000. – Harry In N.s Autobiografie Mémoires d’un Allemand
Notker Balbulus
(Paris 1970. Dt. gekürzt. Hbg./Düsseld. 1971) werden die Probleme neuer kultureller wie sprachl. Identität, Isolierung, Fremdheit u. Verbitterung eines lebenslangen Außenseiters u. jahrelangen Emigranten deutlich. Weitere Werke: Der Einzelgänger. Zürich 1936. Ffm. 2005 (R.). – L’homme contre le partisan. Paris 1938. – Le roman allemand. Kolmar 1938. – L’Allemagne exilée en France. Paris 1939. – Le désert. Paris 1939 (R.). – La guerre pourrie. La plus petite France. New York 1942. – Bridges over the Rhine. New York 1947. – Russes et Prussiens. New York 1948. – The Contemporary German Novel. Milwaukee 1961. – Le passé nu. Paris 1964 (R.). – Die Gestalt des jungen Menschen im dt. Roman der Nachkriegszeit. Ffm. 2001 (Diss. 1933). – Jup u. Adolf. Eine zeitgemäße Abwandlung des dt. Kinderbuches ›Max und Moritz‹ v. Wilhelm Busch. Ffm. 2003. – Straße gesperrt. Ffm. 2006 (R., Erstausg. nach dem deutschsprachigen Ms. aus den Jahren 1935/36). Literatur: Thomas Lange: Sprung in eine neue Identität. Der Emigrant E. E. N. In: Exilforsch. Ein internat. Jb. Bd. 2, Mchn. 1984, S. 121–142. – Claudia Noth: E. E. N. (1909–83). Bibliogr. Ffm. 2002. – Jürgen C. Thömig: E. E. N. als Film-Revival. Ergänzung der Forsch. durch Unterhaltungsmedien. In: Laboratorium Vielseitigkeit. Zur Lit. der Weimarer Republik. Hg. Petra Josting u. Helga Karrenbrock. Bielef. 2005, S. 483–500. Thomas B. Schumann / Red.
Notker Balbulus, auch: N. der Stammler, N. I. von St. Gallen, N. Poeta, N. der Dichter, * um 840 in der Gegend von Jonschwil/Toggenburg, † 6.4.912 St. Gallen. – Sequenzen- u. Hymnendichter, Autor einer Karls-Vita, einer Musterbriefsammlung u. eines Martyrologiums. Grundherrlichem Adel entstammend, wurde N. als »puer oblatus« dem Benediktinerkloster St. Gallen übergeben, das sich eben zu dieser Zeit anschickte, in die Phase seiner literarischen, künstlerischen u. wiss. Hochblüte einzutreten. N.s Obere waren die bedeutenden Äbte Grimald († 872) u. Hartmut († 895), die – selbst literarisch tätig – in Otfrids Evangelienbuch als Widmungsempfänger erscheinen. Sie werden N.s dichterische Begabung ebenso erkannt u. gefördert haben wie seine Lehrer: der von Otfrid neben Hartmut genannte Werinbert, der Ire Marcellus/
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Moengal u. der »doctor nominatissimus« Iso. Mitschüler u. lebenslange Freunde N.s waren der Hymnendichter u. Klosterchronist Ratpert sowie der Musiker, bildende Künstler u. Tropendichter Tutilo. Im Kloster bekleidete N. verschiedene Ämter, so das des Bibliothekars u. Hospitars, v. a. aber war er Dichter, Gelehrter u. Lehrer. Seine berühmtesten Schüler waren Waldo, 884–906 Bischof von Freising, u. Salomon, 890–919 Bischof von Konstanz. Die ersten dichterischen Versuche reichen zurück in die 850er Jahre. Die beiden folgenden Jahrzehnte bildeten eine Zeit des Reifens, während in den 880er Jahren in rascher Folge N.s Hauptwerke entstanden oder, soweit früher begonnen, zum Abschluss kamen. N.s Schaffen in diesem Lebensabschnitt scheint vom kaiserl. Hof angeregt worden zu sein. Jedenfalls sind die Adressaten der damals fertiggestellten Werke fast ausnahmslos Mitglieder des Hofes: Kaiser Karl III. (881–887), dessen Kanzler Liutward von Vercelli (879–887) u. die schon genannten Waldo u. Salomon, seit 880 bzw. 884 Notare in der Hofkanzlei. Nach 890, dem Jahr, in dem Salomon zum Bischof von Konstanz u. Abt von St. Gallen erhoben wurde, nahm N. nichts Neues mehr in Angriff, doch arbeitete er mindestens bis 896 an seinem gelehrtesten Werk, dem Martyrologium, u. noch 909 ist er als Urkundenschreiber nachweisbar. Als N. etwa 70-jährig starb, war er bereits zur Legende geworden: Die N.-Anekdoten u. insbes. die Teufelsmirakel, die Ekkehard IV. in seine Casus St. Galli (Kap. 33–39, 41–44, 46 f.) aufnahm, reichen sicher auf dem Weg mündl. Klostertradition bis in die Lebenszeit N.s zurück. Man wusste, wie sehr er zum Ruhm der Abtei beigetragen hatte; man wusste aber auch von seiner gewinnenden Bescheidenheit, von dem Humor, mit dem er seinen Sprachfehler (»balbulus« = »der Stotterer«) ironisierte, u. von seiner Begabung für echte Freundschaft, die ihn ebenso befähigte, mit den selbstbewussten Ratpert u. Tutilo fruchtbaren Gedankenaustausch zu pflegen, wie die Talente seiner Schüler zu wecken u. zur Entfaltung zu bringen. Der ins Formelbuch aufgenommene Briefwechsel mit Waldo u. Salomon sowie das in dichterischem
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Wettstreit mit seinem Schüler Hartmann verfasste Metrum de vita St. Galli legen davon schönstes Zeugnis ab. So verwundert es nicht, dass die St. Galler N. als Heiligen betrachteten, dessen kultische Verehrung sie von der Kirche bestätigt zu sehen wünschten. Eine N.-Vita, wohl zwischen 1220 u. 1240 verfasst, diente vermutlich dem Ziel, das Kanonisationsverfahren auf den Weg zu bringen, ein Ziel, das freilich erst 1513 mit N.s Seligsprechung erreicht wurde. Wie anziehend N.s Persönlichkeit aber auch gewesen sein mag, wie nützlich der von ihm bearbeitete Heiligenkalender der röm. Kirche (Martyrologium), seine Briefmustersammlung (Formelbuch) mit der vorgeschalteten Einführung in die theolog. Literatur (Notatio de illustribus uiris) u. anderes mehr wie z.B. die Fortsetzung von Erchamberts Abriss der fränk. Königsgeschichte (Continuatio breviarii Erchamberti) oder der Lehrbrief über die als Vortragshilfen in Neumenhandschriften eingetragenen sog. Romanus-Buchstaben (Epistola ad Lantbertum) – die Verehrung, die N. in St. Gallen entgegengebracht wurde, u. der literar. Ruhm, den er bis heute genießt, beruhten v. a. auf seinem Meisterwerk, dem Liber Ymnorum (Hymnenbuch), einer Liutward von Vercelli gewidmeten Sammlung der bis dahin (um 884) von N. verfassten Sequenzen. Der urspr. Umfang des Liber Ymnorum kann heute nur durch stilist. Vergleich erschlossen werden – von den Steinen rechnet mit 40 Stücken –, da bereits zu N.s Lebzeiten seine Art der Sequenzendichtung nachgeahmt wurde, sodass schon die frühesten Textzeugen (um 1000) unter N.s Namen fremdes Gut überliefern. N.s Erfolg verdankte sich gewiss auch der Neuheit der vermutlich in Westfranken aufgekommenen Gattung Sequenz, die mitten in der Feier der strengen röm. Messliturgie dem Ausdruck subjektiven Empfindens u. Sprechens Raum gab, u. dies in Verbindung mit neuen Melodien, die der zeitgenöss. weltl. Musik näher gestanden haben dürften als der röm. Gregorianik. Der bes. Erfolg N.s aber erklärt sich aus der bes. Art seiner »Hymnen«, die durch den Aufbau klanglicher u. inhaltl. Beziehungsgeflechte die einzelnen Wörter zu Sprachkunstwerken von großer Dichte zusammenfügen, so sehr,
Notker Balbulus
dass sie unter Umständen sogar auf die einzige formale Stütze, die Wiederholung parallel gebauter Versikel, verzichten können. Die »klassische« N.-Sequenz freilich ist durch den Doppelversikel strukturiert u. schlägt so die Brücke zur liturg. Praxis der Doppelchörigkeit u. zum inneren Bauprinzip alttestamentar. Dichtung (»parallelismus membrorum«). Die überaus sorgfältige Wortkomposition hingegen (Alliteration, Lautresponsion u. Ä.) verrät vergilisches Klanggefühl, u. die (von der Forschung noch nicht genügend beachtete) Fülle von Bild- u. Gedankenassoziationen, die fast bei jedem Wort mitzusehen u. mitzudenken sind, zeigt N.s an der allegorischen Schriftauslegung geschulte Meisterschaft im Spiel mit verschiedenen Sinnebenen. Trotzdem ist das Ganze nicht überintellektualisiert, sondern getragen u. durchwärmt von dem Gefühl innerer Ergriffenheit. N.s Sequenzen sind Dichtung im eigentl. Sinn des Wortes u. von einer Vollkommenheit, die im MA nur selten wieder erreicht wurde. N.s Kunst verhalf der Gattung zum Durchbruch; sie wurde der Ausgangspunkt einer reichen Produktion, welche die Sequenz über viele Jahrhunderte hin zu einer der fruchtbarsten Formen mittelalterl. Lyrik werden ließ. Eine liebenswürdige Sammlung von Anekdoten um Karl den Großen (Gesta Karoli), von Karl III. in Auftrag gegeben, blieb möglicherweise unvollendet; von den angekündigten drei Büchern sind jedenfalls nur zwei auf uns gekommen. In ihnen zeichnet N. das Bild des idealen christl. Herrschers, jedoch nicht – wie die zeitgenöss. Fürstenspiegel – durch Aufzählen von Ge- u. Verboten, sondern durch Erzählen vom exemplarischen Handeln des bereits legendarisch verklärten Kaisers. Der Text ist anonym überliefert; erst moderne Kritik konnte ihn wieder N. zuweisen. Selbst in der Erinnerung des eigenen Klosters blieb der Name N. fast ausschließlich mit seiner Sequenzendichtung verbunden. Ausgaben: Martyrologium. In: PL 131, Sp. 1029–1164. – Metrum de vita S. Galli. Hg. Walter Berschin. In: FS Johannes Duft. St. Gallen/Sigmaringen 1980, S. 91–118. – Formelbuch (ohne »Notitia«). Hg. Karl Zeumer. In: MGH Formulae. Hann. 1886, S. 395–433. – Notatio de illustribus
Notker uiris. Hg. Erwin Rauner. In: Mlat. Jb. 21 (1986), S. 58–69. – Continuatio breviarii Erchamberti. Hg. Georg H. Pertz. In: MGH SS 2. Hann. 1829, S. 329 f. – Epistola ad Lantbertum. Hg. Jaques Froger. In: Études Grégoriennes 5 (1962), S. 69 f. – Liber Ymnorum. In: Wolfram v. den Steinen: N. der Dichter. Editionsbd. Bern 1948. Neudr. 1978, S. 8–91. – Gesta Karoli. Hg. Hans F. Haefele. Bln. 1959. – Weitere Ausg.n u. Übers.en in: VL. Literatur: Wolfram v. den Steinen: N. der Dichter. Darstellungsbd. Bern 1948. Neudr. 1978. – Hans F. Haefele: N. B. In: VL (mit umfassender Bibliogr. bis 1985). – Andreas Haug: Zur Vortragsform einer Sequenz N.s v. St. Gallen. In: Musica sacra 107 (1987), S. 267- 279. – Wilhelm Wattenbach, Wilhelm Levison u. Heinz Löwe: Dtschld.s Geschichtsquellen im MA. Bd. 6, Weimar 1990, S. 750–755. – Susan Rankin: The Earliest Sources of N.’s Sequences. In: Early Music History 10 (1991), S. 201–234. – Franz Brunhölzl: Gesch. der lat. Lit. des MA. Bd. 2, Mchn. 1992, S. 28–58, 558–562. – Klaus Herbers: N. B. In: Bautz. – Peter Ochsenbein: ›Cultura Sangallensis‹. Ges. Aufsätze. Hg. Ernst Tremp, Cornel Dorn, Silvio Frigg u. Karl Schmucki. St. Gallen 2000, S. 156–203. – Walter Berschin: N. I. v. St. Gallen († 912) überlieferungsgeschichtlich gesehen. In: Walter Berschin: Mlat. Studien. Heidelb. 2005, S. 193–202. Benedikt K. Vollmann
Notker der Deutsche, auch: N. Teutonicus, N. Labeo, N. III., † 29.6.1022 Kloster St. Gallen. – Mönch (OSB), Gelehrter u. Lehrer im Kloster St. Gallen. N. starb über 70-jährig an einer Seuche, die das aus Italien heimkehrende Heer Heinrichs II. eingeschleppt hatte u. die auch andere bedeutende Männer des Klosters dahinraffte. Außer dem Todestag ist wenig an äußeren Daten über N. bekannt. Ekkehart IV., vielleicht selbst mit ihm verwandt, berichtet in den Casus Sancti Galli (Cap. 180) beiläufig, dass Ekkehart I. († 973) vier seiner Neffen, darunter auch N., dem Kloster zugeführt habe. Alle in Ekkeharts IV. Casus erwähnten Verwandten N.s gelangten zu hohen Ehren im St. Galler Konvent, u. es darf angenommen werden, dass sie einem bedeutenden, bei St. Gallen ansässigen, thurgauischen Adelsgeschlecht entstammten. Der Spärlichkeit an äußeren Daten zu N.s Leben stehen aber eindrucksvolle, verstreute Zeugnisse der St. Galler Haustradition zur
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Charakterisierung seiner Person gegenüber, die entweder von Ekkehart IV. selbst stammen oder unter seinem Einfluss stehen. Sie heben einerseits die Liebenswürdigkeit der Person N.s als Lehrer, andererseits seine außerordentlich große Gelehrsamkeit hervor. Zwei eigenhändige Zeilen einer von N. verbesserten St. Galler Orosius-Handschrift werden von Ekkehart IV. fast wie eine Reliquie des verehrten Lehrers überschwänglich glossiert. Am eindrucksvollsten ist aber der bes. die mönchischen Tugenden N.s hervorhebende Nachruf, den Ekkehart IV. ihm gewidmet hat. In einem lat. Hexametergedicht über die bedeutendsten Männer der St. Galler Klostergeschichte, das er selbst glossierend erläutert, schildert Ekkehart N.s Ende (Liber benedictionum, Nr. 44, vv. 62–83): N. sei am Tage des hl. Petrus gestorben, den er zeitlebens bes. verehrt u. zu dessen Verehrung er auch Ekkehart unablässig ermahnt habe. N. sei es gewesen, der als Erster das barbarische Deutsch als Schriftsprache gebraucht u. genießbar gemacht habe, indem er aus Liebe zu seinen Schülern etl. Bücher deutsch erklärt habe. Nachdem er schon zuvor den Psalter meisterhaft verdeutscht habe, sei er am gleichen Tage gestorben, an dem er eine dt. Bearbeitung des Buches Hiob auf der Grundlage der Moralia in Job Gregors des Großen vollendet habe. Das Deutsche sei damit als viertes sprachl. Gefäß würdig neben die drei hl. Sprachen Hebräisch, Griechisch, Latein gesetzt worden. Die Kaiserin Gisela, Gemahlin Konrads II., habe später großes Interesse an N.s Werken gezeigt u. sich sorgfältige Abschriften von N.s Psalter u. Hiob anfertigen lassen, als sie im Jahre 1027 in St. Gallen weilte u. sich in die Gebetsbrüderschaft des Klosters aufnehmen ließ. Sterbend habe N. die Armen bewirten lassen, ihrem lärmenden Treiben zugeschaut u. öffentlich vor ihnen gebeichtet. Seine schwersten Vergehen waren, dass er als junger Mann in Mönchskleidung einen Wolf getötet habe u. dass ihm als Siebziger im Schlaf zweimal etwas Beschämendes zugestoßen sei. Sein letzter Wunsch war es, als Toter nicht entkleidet zu werden, damit niemand seine nach dem Vorbild des hl. Gallus in eiserne Ketten geschlagenen Lenden sehen sollte.
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N.s erstaunlich umfangreiches, meist aus zweisprachigen, lat.-dt. Bearbeitungen lateinischer Originale bestehendes Werk ist fast ausschließlich in der Haustradition von Handschriften überliefert, die dem Buchbestand der St. Galler Schule angehörten. In diesem Überlieferungszusammenhang bleibt die Tradierung wie selbstverständlich anonym. Sie versteht sich selbst wohl als Sonderüberlieferung der lat. Originale in bearbeiteter Gestalt, deren Autoren allein genannt werden, während der Name des Bearbeiters, N., ungenannt bleibt. Nur wo, wie im Falle des Psalters u. bei den wenigen Originalwerken N.s (Komputus, Rhetorik, Musik), die Überlieferung über St. Gallen hinausgreift, wird sie mit seinem Namen verbunden. Das u. eine gelehrte Fälschung Melchior Goldasts aus dem Jahre 1606, welche die Fiktion einer St. Galler Übersetzerschule aufbaute, haben lange daran zweifeln lassen, ob wirklich alle Werke des N.-Korpus N. selbst zuzuschreiben seien oder ob man mit mehreren Autoren einer Schule N.s zu rechnen habe. Solche, durch die Autorität Karl Lachmanns eingeführten Zweifel hielten sich hartnäckig, selbst nachdem Jakob Grimm schon 1835 einen authent. Brief aus N.s Feder veröffentlicht hatte, in welchem N. gegen Ende seines Lebens seine bereits geschaffenen u. noch geplanten Werke aufzählt. Der Brief ist an Bischof Hugo von Sitten (Sion, östlich des Genfer Sees im Rhônetal) gerichtet. Hugo ist urkundlich zuletzt im Jahr 1017 belegt, u. N.s Brief lässt sich aus inhaltl. Gründen etwa auf 1019/20 datieren. Er gibt authent. Aufschluss über den Umfang von N.s Werk u. will darüber hinaus im Sinne eines literarischen u. gelehrten Programms verstanden werden. N. zählt hier Bearbeitungen von Werken des Boethius auf, nämlich eine der Consolatio Philosophiae u. eine aus dem Komplex der boethian. Trinitätstraktate. Sodann nennt er als Bearbeitungen von Verswerken seine Versionen der Disticha Catonis, der Bucolica Vergils u. der Andria des Terenz. Aus dem Gebiet der Prosa u. der Freien Künste habe er die Nuptiae Philologiae et Mercurii des Martianus Capella sowie die Kategorien u. die Hermeneutik des Aristoteles bearbeitet u. in einer weiteren Schrift die Grundlagen der Arithmetik.
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Schließlich habe er den ganzen Psalter übersetzt u. nach Augustinus ausgelegt. Den Hiob habe er begonnen, aber kaum zu einem Drittel vollendet. Auch ein paar kleinere lat. Schriften werden summarisch erwähnt, unter ihnen namentlich eine neue Rhetorik u. ein neuer Komputus, d.h. eine Lehrschrift der Kirchenzeitrechnung auf astronom. Grundlage. Das Fragment auch einer dt. Fassung des Komputus wurde erst kürzlich aufgefunden. Dieser Brief erweist nicht nur die Fülle der erhaltenen u. N. zurechenbaren Schriften als authentisch. Er belegt darüber hinaus sogar einen Umfang seines Werks, der noch weit über das Erhaltene hinausreicht. Denn von den hier genannten Werken ist ein großer Teil verloren: die Trinitätsschrift des Boethius, die Disticha Catonis, die Bucolica Vergils, die Andria des Terenz, die Principia arithmeticae u. der Hiob. Andererseits bewahrt die Überlieferung einige hier nicht erwähnte Arbeiten, die sich den in N.s Brief summarisch genannten kleinen Schriften problemlos zuordnen lassen: aus dem Gebiet der Logik eine lat.-dt. Originalschrift De syllogismis, ein ebensolches Bruchstück De definitione u. einzelne Kapitel einer musiktheoret. Abhandlung, die als einzige aller Schriften N.s rein deutsch abgefasst ist. Inhaltlich decken die Schriften N.s auf den Gebieten 1. der literar. Schulbildung, 2. der Sieben Freien Künste u. 3. der Theologie ein weites Wissensfeld ab. Dem ersten Gebiet gehören die Schulautoren »Cato«, Vergil, Terenz u. Boethius mit der Consolatio an, dem zweiten propädeutisch die Bearbeitung der Fabel von der Hochzeit Merkurs u. der Philologie. Denn nur diesen Teil der Artes-Enzyklopädie Martians meint der in N.s Brief genannte Titel Nuptiae, u. mehr hat N. hier auch nicht bearbeitet. Bes. Gewicht im Bereich der Artes legt er aber auf die Dialektik (Logik). Hierher gehören die ausführl. Bearbeitungen der aristotel. Schriften nach Übersetzungen u. Kommentaren v. a. des Boethius. Hierher gehören auch N.s Originalschriften De syllogismis u. De definitione. Den mathemat. Artes sind die verlorene Arithmetik, der Komputus u. die Musikschrift zuzurechnen. Ausgedehnte Kenntnis der Arithmetik des Boethius zeigt N.s Aristoteleser-
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klärung. Dass die Astronomie für ihn geradezu ein Lieblingsfach gewesen ist, belegen die Consolatio- u. die Nuptiae-Erklärungen reichhaltig. Gerade auf dem Gebiet der mathemat. Wissenschaften zeigen N.s Kenntnisse mehr als einmal, dass er zur Schule des herausragendsten Gelehrten seiner Zeit, Gerbert von Reims, in einer noch näher zu erforschenden Verbindung stand. Doch auch das Schwergewicht, das der Logik in N.s Curriculum zukommt, u. unter den Schulautoren bes. die Berücksichtigung des Terenz verweisen darauf, dass N. das durch Gerbert erweiterte Schulpensum auch für St. Gallen eingeführt u. so den Anschluss an die aktuelle Entwicklung des Bildungswesens seiner Zeit hergestellt hat. Unter den theolog. Werken N.s ist der Verlust der Trinitätsschrift nach Boethius wohl z.T. ersetzt durch die ausgiebige Benutzung der boethian. Trinitätstraktate in der Erklärung des Athanasianischen Glaubensbekenntnisses, die N. im Rahmen seines Psalters gibt. Die Bearbeitung des Psalters selbst, dieses Haupttextes des monast. Offiziums, ist keineswegs auf dem Elementarniveau gehalten, das den Psalmen als Gegenstand des ersten klösterl. Unterrichts zunächst zukam. N.s Psalterversion auf der Grundlage v. a. der großen Kommentierungen Augustins u. Cassiodors repräsentiert vielmehr den höchsten wiss. Anspruch seiner Zeit. Beigegeben sind die im monast. Offizium täglich gebrauchten Cantica des AT u. NT sowie Bearbeitungen katechetisch-liturgischer Stücke (Vaterunser, Apostolisches u. Athanasianisches Glaubensbekenntnis). Die Erklärung des Hiob schließlich, die N. auf das einschlägige Riesenwerk Gregors des Großen stützte, galt im MA als eine der schwierigsten Aufgaben des Theologen. In der Volkssprache wagte man sich erst Jahrhunderte später wieder an sie heran. Von bes. Wert sind die Bemerkungen, die N.s Brief im Hinblick auf die von ihm verfolgte Zielsetzung enthält. Die Freien Künste sind für ihn als Mönch ausschließlich Instrumente, die einem einwandfreien Verständnis der kirchl. Bücher dienen sollen, das ohne sie nicht möglich sei. Bes. für das Studium der geistl. Schriften, die in der Schule
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gelesen werden, muss man sie heranziehen. Sie haben keinen Wert für sich selbst, sind in dieser Zweckbindung aber durchaus etwas, das Genuss u. Befriedigung verschafft, freilich auch Versuchung bedeuten u. als Last empfunden werden kann. Aus diesem spannungsvollen Verhältnis zu den Freien Künsten, in das sich N. hineinstellt, ist sein gesamtes Werk zu verstehen. Das gilt in bes. Weise auch für N.s oft fehlgedeuteten Einsatz der dt. Sprache. Auch er ist in keinem anderen als in einem instrumentalen Sinn zu verstehen. Wenn N. das Deutsche gebraucht, so nicht, um das Latein der bearbeiteten Originale oder eigenen Werke zu ersetzen, sondern ausschließlich, um deren einwandfreies Verständnis zu sichern. Die Zielrichtung der Bearbeitung geht nicht vom Latein zum Deutsch, sondern umgekehrt vom Deutsch zum Latein. Dies freilich nicht um der Sprache, sondern um der in ihr ausgesagten Sache willen. Das heißt, N.s Arbeit ist letztlich nicht sprach-, sondern sachorientiert. Voraussetzung für die Erfüllung dieses Konzepts ist freilich nicht nur eine hohe Souveränität im Umgang mit beiden Sprachen, insbes. aber mit der eigenen, sondern auch eine außerordentl. Kreativität, mit der N. das Deutsch der histor. Entwicklungsstufe seiner Zeit auf Inhalte u. differenzierte Aussageweisen seiner Bearbeitungsvorlagen abstimmen musste, die der Volkssprache bis dahin noch nie abgefordert worden waren. Im Übrigen bewertet N. seinen Einsatz des Deutschen zum Verständnis des Lateinischen selbst als etwas nahezu Unerhörtes, dem der Charakter eines gewagten Experiments zukommt. Er sieht voraus, dass seine Schriften zuerst abschreckend wirken werden, weiß aber auch, dass dieser Eindruck schwinden muss, sobald der Leser die Vorteile seines Verfahrens erfährt. Das Studium der erhaltenen Texte des N.Korpus bestätigt u. präzisiert die Charakterisierung, die N. ihnen in seinem Brief selbst gibt. Die Technik der Bearbeitung seiner Originale lässt sich auf mehreren Ebenen analysieren. Im Großen segmentiert N. aus dem Kontinuum des lat. Vorlagetextes ohne die Vorgabe lat. Kommentarquellen überschaubare Abschnitte, zu denen er lat. Kapitelüberschriften frei formuliert. Innerhalb
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dieser Kapitel isoliert N. nun zunächst einmal einzelne Sätze oder syntakt. Einheiten des lat. Originals. Dabei organisiert er die lat. Wortfolge zum Zweck des leichteren Verständnisses neu. Wo sie grammatisch u. stilistisch komplizierte Spreizstellungen zeigt, ordnet er sinngemäß Zusammengehöriges zueinander, aber nicht etwa im Sinne dt. Wortstellungsregeln, sondern im Sinne einer »natürlichen« Ordnung der Worte, wie sie in der lat. Schulgrammatik zu lernen war, für die hier unmittelbar der sog. St. Galler grammatische Traktat als Lehrbuch des eigenen Hauses einschlägig war. Diese Schrift wird inzwischen mit hoher Wahrscheinlichkeit N. selbst als Autor zugeschrieben. Die Aussage der so präparierten syntakt. Einheiten des lat. Originals wird dann auf deutsch wiederholt. Dabei kommt es nicht auf eine wortgetreue Übersetzung an, sondern auf eine genaue, wenn auch frei formulierte Sinnwiedergabe. Der Begriff der Übersetzung wäre hier tatsächlich irreführend. Man könnte von einer Erinnerung der Aussage des lat. Originals im Medium der dt. Sprache reden. Gelegentlich kann eine solche Sinnwiedergabe stark verkürzend u. frei sein, bei Bedarf ist sie originalnäher oder auch ausführlicher als das Original. Im Rahmen des Deutschen bleiben übrigens immer wieder lat. Worte stehen, teils solche, die in früherem Zusammenhang terminologisch abgeklärt worden sind, teils solche, deren Selbstverständlichkeit eine dt. Wiedergabe überflüssig macht. In der Psalterbearbeitung wurden all diese lat. Reservate schon früh von einem recht geschickten Glossator, in dem man Ekkehart IV. vermutet hat, ins Deutsche umgesetzt. So entsteht aus dem Nacheinander des in der Wortfolge neu arrangierten lat. Originals u. der sog. Mischprosa der dt., mit lat. Brocken durchsetzten Sinnwiedergabe ein lebendiger, zweisprachiger Lehrvortrag, dessen Nähe zur gesprochenen Sprache des Schulunterrichts nicht selten mit Händen greifbar scheint. Bei der Schreibung der Volkssprache beachtet N. mit hoher, für seine Zeit gänzlich einmaliger phonet. Sensibilität u. orthograf. Konsequenz die lautl. Feinheiten seines alemann. Althochdeutsch durch den Gebrauch von Akut u. Zirkumflex wie in der Berücksichtigung der
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regelmäßig wechselnden Stimmhaftigkeit bzw. Stimmlosigkeit der mit b, d, g bzw. p, t, k anlautenden Worte u. Silben. Als nächste Ebene seiner Bearbeitertätigkeit lässt sich die der Sachkommentierung herauspräparieren. Sie kann mit kleinen Worterläuterungen bereits in das lat. Original wie auch in dessen dt. Wiedergabe inseriert werden. Weitergehend kann sie diese Wiedergabe in der Konzeption ihrer Formulierung u. Anreicherung ihres Sinns gegenüber dem Original bestimmen. Sie erreicht schließlich häufig die Form zusätzl. Ausführungen, deren Umfang von dem einer kurzen, fußnotenartigen Bemerkung bis zu dem eines mehrseitigen Exkurses reichen kann. Diese Sachkommentierung stützt sich auf elementarer Ebene kontinuierlich auf bestimmte kanonische Hauptquellen des schulischen Gebrauchs. Neben den bereits erwähnten wären für die Consolatio u. die Nuptiae hier v. a. die fortlaufenden Kommentare des Remigius von Auxerre aus dem 9. Jh. zu nennen. Doch die Zuständigkeit dieser Quellen reicht wenig über das elementare Niveau der Wort- u. Sacherklärung hinaus. Für alles weiter Ausgreifende aus den Gebieten der Freien Künste, geschichtl. u. mytholog. Wissens sowie einer vielseitigen Realienu. Naturkunde muss man wesentlich tiefer graben, meist jedoch ohne die jeweils unmittelbaren Quellen von N.s reichem Wissen benennen zu können. Im Falle der Consolatio ließe sich schließlich auf einer höchsten Bearbeitungsstufe zeigen, wie N. eine umfassende, alle Ebenen der Kommentierung beteiligende literar. Interpretation des Werks durchführt, welche den geistigen Gesundungsprozess des verzweifelten Boethius durch den Einsatz von Rhetorik u. Dialektik als Heilmittel der philosophisch-theolog. Erkenntnis nachzeichnet. Der Gebrauch des Deutschen als Medium für gelehrte Inhalte u. wiss. Aussage hat N. zu einer bis dahin unbekannten, neuen u. historisch einmaligen Form wiss. Darstellung geführt. Die zu seiner Zeit für gelehrte Arbeiten noch übliche literar. Technik der Kompilation lat. Quellen, wie sie von Beda begründet u. von den großen karoling. Gelehrten des 9. Jh. perfektioniert worden war,
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hätte ihren Sinn bei einer Einbeziehung der Volkssprache weitgehend verloren. Eine volkssprachl. Umsetzung des scholienhaften glossatorischen Verfahrens lat. Kommentatorik hätte nur einem elementaren Verständnisniveau dienlich sein können. Der konsequente Einsatz des Deutschen bei der anspruchsvoll gelehrten Vermittlung literar. Texte u. wiss. Kompendien war nur möglich, wenn dafür eine neue Form der Darstellung entwickelt wurde, wie es N. auf einmalige u. dabei natürl. Weise gelungen ist. N.s sprachl. u. gelehrte Leistung ist innerhalb der dt. Literatur des MA u. auch im Vergleich mit der lateinischen außerordentlich hoch einzuschätzen. Kaum je wird er sprachlich oder im Hinblick auf das sachl. Niveau von der meist popularisierenden dt. Übersetzungsliteratur des späteren MA in Theologie, Philosophie u. Fachschrifttum erreicht oder gar übertroffen. Sein in vielfacher Hinsicht außerordentl. Werk ist praktisch ohne Nachwirkung geblieben. Die Überlieferung, der – ungewöhnlich für das Werk eines Gelehrten im MA – aus sprachl. Gründen natürlich nur der deutschsprachige Raum offenstand, drang kaum über St. Gallen hinaus u. läuft auch hier mit dem Ende des 11. Jh. aus. Erster Anlass dafür wird die lothring. Klosterreform gewesen sein, an die auch St. Gallen bald nach N.s Tod angeschlossen wurde u. gegen die Ekkehart IV. u. a. in Scholien zu N.s Psalter (zu Ps. 21, 19) heftig polemisiert. Im Rahmen der Reform blieb für die Interessen der Schule u. wiss. Betätigung in St. Gallen offenbar nur wenig Spielraum übrig. Auch der reicher überlieferte Psalter N.s bildet innerhalb dieser Entwicklung keine Ausnahme. Denn dort, wo er über das 11. Jh. hinaus tradiert wird, z.T. bis ins 14. Jh. hinein, ist er durch gründl. Umgestaltung von einem Werk gelehrten Anspruchs zum Erbauungsbuch für fromme Frauen geworden u. gerät so in das gleiche Fahrwasser wie die vielen, unabhängig von N. seit dem 12. Jh. entstandenen dt. Psalterbearbeitungen. Ausgaben: Die Schr.en N.s u. seiner Schule. Hg. Paul Piper. 3 Bde., Freib. i. Br./Tüb. 1882/83. – Die Werke N.s des Deutschen. Neue Ausg., begonnen v. Edward H. Sehrt u. Taylor Starck, fortgesetzt v. James C. King u. Petrus W. Tax. 10 Bde., Tüb.
648 1973–2008. – St. Galler Traktat: The St. Gall Tractate. A Medieval Guide to Rhetorical Syntax. Hg. Anna A. Grotans. Columbia/SC 1995. – Komputus: Norbert Kruse, Eine neue Schrift N.s des Deutschen: Der ahd. Computus. In: Sprachwiss. 28 (2003), S. 123–155. – Brief: Ernst Hellgardt: N.s des Deutschen Brief an Bischof Hugo v. Sitten. In: Befund u. Deutung. Hg. Klaus Grubmüller. Tüb. 1979, S. 169–192 (Text S. 172 f.). – Übers. (auch v. Ekkeharts IV. Nachruf) bei Samuel Singer: Die Dichterschule v. St. Gallen. Lpz. 1922, S. 78–80, 87 f. – Vgl. Art. Ekkehard IV. von St. Gallen. Literatur: Bibliografie: Evelyn Scherabon-Firchow: N. d. D. v. St. Gallen (950–1022). Ausführl. Bibliogr. Gött. 2000. – Dazu: Ernst Hellgardt u. Norbert Kössinger: N. d. D. Hss.- u. Sachregister zur Bibliogr. v. E. Scherabon-Firchow. In: ZfdA 133 (2004), S. 363–380. – Weitere Titel: Paul T. Hoffmann: Der mittelalterl. Mensch. Gesehen aus der Welt u. Umwelt N.s des Deutschen. Gotha 1922. – Ingeborg Schröbler: Die St. Galler Wiss. um die Jahrtausendwende u. Gerbert v. Reims. In: ZfdA 81 (1944), S. 32–43. – Dies.: N. III. v. St. Gallen als Übersetzer u. Kommentator v. Boethius’ ›De consolatione Philosophiae‹. Tüb. 1953. – Lambertus M. de Rijk: On the Curriculum of the Arts of the Trivium at St. Gall from c. 850-c. 1000. In: Vivarium 1 (1963), S. 35–86. – Bernd-Michael Neese: Untersuchungen zum Wortschatz des Glossators v. N.s Psalmenkomm. Diss. Marburg 1966. – Günter Glauche: Schullektüre im MA. Mchn. 1970. – Herbert Bolender: N.s ›Consolatio‹-Rezeption als widerspruchsfreie Praktik. Eine Hypothese. In: PBB 102 (1980), S. 325–333. – Stefan Sonderegger: Gesprochene Sprache im Ahd. u. ihre Vergleichbarkeit mit dem Nhd. Das Beispiel N.s des Deutschen v. St. Gallen. In: Ansätze zu einer pragmat. Sprachgesch. Hg. Horst Sitta. Tüb. 1980, S. 71–87. – Herbert Backes: Die Hochzeit Merkurs u. der Philologie. Studien zu N.s Martian-Übers. Sigmaringen 1982. – Jerold C. Frakes: ›Fortuna‹ in the ›Consolatio‹: Boethius, Alfred and N. Ann Arbor 1982. – Ders.: Die Rezeption der neuplaton. Metaphysik des Boethius durch Alfred u. N. In: PBB 106 (1984), S. 51–74. – E. Hellgardt: N. Teutonicus. Überlegungen zum Stand der Forsch. I. In: PBB 108 (1986), S. 190–205; II. In: PBB 109 (1987), S. 202–221. – S. Sonderegger: N. III. In: VL. – Ders.: Orpheus u. Eurydike bei N. dem Deutschen. Besonderheiten einer dichterischen Schulübersetzung. In: Grammatica ianua artium. FS Rolf Bergmann. Hg. Elvira Glaser. Heidelb. 1997, S. 115–138. – Petrus W. Tax: Kritisches zu einigen Artes-Schr.en N.s des Deutschen u. zu deren Sitz im Leben. Ebd., S. 159–168. – Dagmar Gottschall:
649 L’apoteosi mistica del sapiente nel commento di N. III. di San Gallo al ›De nuptiis‹ di Marziano Capella. In: L’antichità nella cultura europea del medioevo. Hg. Rosanna Brusegan. Greifsw. 1998, S. 127–133. – Sonja Glauch: Die Martianus-Capella-Bearb. N.s des Deutschen. Bd. 1: Untersuchungen; Bd. 2: Übers. v. Buch I u. Komm. Tüb. 2000. – Christine Hehle: Boethius in St. Gallen. Die Bearbeitung der ›Consolatio philosophiae‹ durch N. Teutonicus zwischen Tradition u. Innovation. Tüb. 2002. – James C. King: N. the German of S. Gall on Music, Tangentially and Head-on. In: Verba et litterae: Explorations in Germanic Languages and German Literature. Essays in Honour of Albert L. Lloyd. Hg. Alfred R. Wedel. Newark 2002, S. 227–242. – P. W. Tax: Die lat. Schr.en N.s des Deutschen. In: PBB 124 (2002), S. 411–441. – S. Glauch: Die Etymologien N.s des Deutschen: Musterfälle einer doppelt motivierten Übersetzungstechnik. In: Volkssprachig-lat. Mischtexte u. Textensembles in der ahd., altsächs. u. altengl. Überlieferung. Hg. R. Bergmann. Heidelb. 2003, S. 203–225. – P. W. Tax: Althochdeutsch, lateinisch, gemischt: die drei Behandlungen des Syllogismen durch N. Labeo. Einige Überlegungen zu deren Sitz im Leben. Ebd., S. 267–282. – Harald Saller: Ein neues Editionskonzept für die Schr.en N.s des Deutschen anhand v. ›De interpretatione‹. Ffm. u. a. 2003. – Anna A. Grotans: Reading in Medieval St. Gall. Cambridge u. a. 2006. – Alexandra Rink: Aristoteles in Sankt Gallen. N.s des Deutschen Kategorien-Bearb. (Kap. 1–17) auf Grundlage der Übers. u. des Komm.s des Boethius. Ffm. u. a. 2006. – E. Hellgardt: N. magister nostre memorie hominum doctissimus et benignissimus. Bemerkungen zu den Lebenszeugnissen über N. den Deutschen. In: Dt. Texte der Salierzeit. Neuanfänge u. Kontinuitäten im 11. Jh. Hg. Stephan Müller u. Jens Schneider. Mchn. u. a. 2010. Ernst Hellgardt
Novak, Helga Maria, verh. Karlsdottir, * 8.9.1935 Berlin. – Erzählerin, Lyrikerin. Nach dem Abitur 1954 in Berlin studierte N. Journalistik u. Philosophie an der Universität Leipzig. Sie arbeitete als Monteurin, Laborantin u. Buchhändlerin. Während eines ersten längeren Aufenthalts in Island (1961 bis 1965; dort Heirat 1961) war sie in verschiedenen Fabriken beschäftigt. Nach ihrer Rückkehr nach Leipzig studierte sie am Literaturinstitut Johannes R. Becher. Wegen illegalen Verteilens systemkrit. Gedichte wurde N. 1966 die DDR-Staatsbürgerschaft ab-
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erkannt. 1967 siedelte sie nach Frankfurt/M. über. Dann wohnte sie als isländ. Staatsbürgerin in Westberlin. Seit 1992 lebt sie in Polen. Für ihr Werk erhielt N. u. a. folgende Auszeichnungen: 1985 Kranichsteiner Literaturpreis, 1989 Roswitha-Gedenkmedaille, 1994 Gerrit-Engelke Literaturpreis, 1997 Brandenburgischer Literaturpreis, 2001 IdaDehmel-Literaturpreis u. 2009 Seume-Literaturpreis. Ob in Balladen oder Naturgedichten, Moritaten oder Bänkelsang: ihrer Heimat blieb die in ihrer Lyrik von Brecht beeinflusste Autorin auch nach dem Umzug in die Bundesrepublik treu. Erscheinen durfte freilich keines ihrer Bücher in der DDR. Ihre erste Veröffentlichung, Die Ballade von der reisenden Anna (Neuwied/Bln. 1965), war noch von unmittelbaren Erfahrungen mit den ideolog. Gängelungen im Sozialismus geprägt. Wie hier setzte sie – um Einfachheit u. Direktheit bemüht – auch in ihrem zweiten Lyrikband, Colloquium mit vier Häuten (Neuwied/Bln. 1967; Bremer Literaturpreis), den Protest gegen die staatl. Verplanung des individuellen Lebens fort. In Märkische Feemorgana (Ffm. 1989) werden Erinnerungen an N.s einstige Heimat in poet. Bildern mitunter sehnsuchtsvoll heraufbeschworen. Von typischer Heimatliteratur kann man bei ihren durchaus erzählerischen Gedichten allerdings nicht sprechen. Abseits der Zivilisation tritt das lyr. Ich in dem Gedichtband Silvatica (Ffm. 1997) als Waldfrau u. in mytholog. Verkleidung als Artemis in Erscheinung. Das Leben in den poln. Wäldern evoziert die Sprache der Jäger, mit der sie, wie N. in einem Interview ausführte, aufgewachsen sei (der Stiefvater war Jäger) u. die in ihrem Anspielungsreichtum nicht verloren gehen dürfe. Die Texte in ihrem persönlichsten Lyrikband, Margarethe mit dem Schrank (Bln. 1978), bezeichnete Rolf Michaelis als »unidyllische Naturgedichte im Ton realistischer Elegien« (Die Zeit, 26.5.1978). Die Landschaften, von denen N. hier »erzählt«, werden bestimmt von der Trennungslinie, die Deutschland in zwei Teile zerriss: »Grenze bei jedem Wetter und ich denke / die ist längst durch mich
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hindurchgewachsen / ich fühle direkt die mann: Die Kommunikationsstruktur der Autobiogr. Mit kommunikationsorientierten Analysen Spieße die Pfähle im Fleisch [...].« Die in Geselliges Beisammensein (Neuwied/ der Autobiogr.n v. Max Frisch, H. M. N. u. Elias Bln. 1968) versammelten Prosastücke stehen Canetti. Bern u. a. 1988. – Florian Vaßen: ›Der Traum vom anderen Leben‹. Skizzen zu vergesseim Kontext einer neuen Literatur der Arnen Texten. Laudatio für H. M. N. anlässlich der beitswelt. N. verfasste auch dokumentarisch Verleihung des ›Gerrit-Engelke-Preises‹ der Stadt ausgerichtete Texte: In Wohnhaft im Westend Hannover. In: Die Horen 41 (1996), H. 1, S. 21–31. (zus. mit Horst Karasek. Neuwied/Bln. 1971) – Ricarda Schmidt: Die böse Mutter. Zur Ästhetik informiert sie kritisch über die Frankfurter sadomasochist. Mutter-Tochter-Beziehungen in liWohnsituation u. den Auf- u. Abstieg der terar. Texten aus dem Kontext der FrauenbeweStudentenbewegung. Die Landnahme von Torre gung. In: Mutter u. Mütterlichkeit. Hg. Friederike Bela (Bln. 1976) verarbeitet Erfahrungen Christ-Kuttner. Würzb. 1996, S. 347–358. – Dorowährend der Agrarreform in Portugal. Mit thea v. Törne: Subversive Spiele. Idylle u. Anarchie. der Textart Autobiografie erlangte N. in den Ilma Rakusa u. H. M. N. In: ndl 46 (1998), H. 517, S. 173–175. – Rainer Hartmann: Zu H. M. N.s 1980er Jahren literar. Bedeutung. In Die Eis›kann nicht steigen nicht fallen‹. In: Liebesgedichte heiligen (Darmst./Neuwied 1979) berichtet sie der Gegenwart. Hg. Hiltrud Gnüg. Stgt. 2003, von ihren Kindheits- u. Jugenderlebnissen S.128–134. – J. Monika Walther: Im Himmel ist zur Zeit des Nationalsozialismus sowie von Jahrmarkt – u. sei es auch nur in Gedanken. Die ihren widersprüchl. Erfahrungen in den Or- Dichterin H. M. N. In: Dünn ist die Decke der Ziganisationen der kommunist. Jugendbewe- vilisation. Hg. Maike Stein. Sulzbach 2007, gung. Der Wechsel von dokumentarischen, S. 49–62. – Izabela Surynt: ›so verletzt, so erniedlyrischen, monologischen, dialogischen u. rigt, so elend, so mißhandelt, so verwundbar, so episodenhaften Passagen ersetzt hier auf li- ungeschützt‹. Zur Problematik v. Identität u. Gewalt im Werk H. M. N.s. In: Convivium (2007), terarisch anspruchsvolle Weise das lineare S. 119–143. – Dies.: Leben als Exil. Zum Schaffen v. Erzählen. Mit Vogel Federlos (Darmst./Neu- H. M. N. In: Dt.-dt. Literaturexil. Schriftstellerinwied 1982) setzt N. ihre Autobiografie fort. nen u. Schriftsteller aus der DDR in der BundesreNach der Auflösung der DDR gehört N. zu publik. Hg. Jörg Bernig u. Walter Schmitz. Dresden den überzeugenden Autoren, die über das 2009, S. 173–187. – Ursula Bessen: N. In: KLG. – Private hinaus bleibende Eindrücke geben Ursula Krechel: H. M. N. In: LGL. von der Alltagsverfassung des einstigen dt. Hajo Steinert / Elke Kasper Einheitsstaates. 2005 erschien zu N.s 70. Geburtstag der Novalis, eigentl.: (Georg) Friedrich (Philbibliophile Druck Aus Wut mit Lithografien ipp) Frhr. von Hardenberg, * 2.5.1772 von Dieter Goltzsche in der Mariannenpresse Oberwiederstedt/Harz, † 25.3.1801 Wei(Bln.). Michael Lentz gab u. d. T. wo ich jetzt bin ßenfels; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof, (Ffm. 2005) eine Auswahl von N.s Gedichten jetzt: Stadtpark. – Lyriker, Erzähler, Esheraus. Seit den 1990er Jahren wird ihr Werk sayist, Aphoristiker, Philosoph. vom Schöffling Verlag betreut; die Autobiografie wurde 1998 neu aufgelegt. Der Band Der Sohn des streng pietist. Salinendirektors Aufenthalt in einem irren Haus (Ffm. 1995) ver- Heinrich Ulrich Erasmus von Hardenberg u. sammelt Prosa aus 30 Jahren, solange noch dessen Ehefrau Auguste Bernhardine, geb. Liebesbriefe eintreffen (Ffm. 1999, Nachw. v. Eva von Bölzig, schloss sein Studium der Rechte Demski) präsentiert N.s gesammelte Gedich- in Jena, Leipzig u. Wittenberg Juni 1794 mit dem besten Examen ab. Ursprünglich für den te. Weitere Werke: Palisaden. E.en 1967–75. preuß. Staatsdienst bestimmt, wurde er Darmst. 1980. – Grünheide Grünheide. Gedichte stattdessen im Okt. 1794 als Aktuarius zum 1955–80. Darmst. 1983. – Legende Transsib. Kreisamtmann August Coelestin Just (später N.’ erster Biograf) nach Tennstedt geschickt. Darmst. 1985. Literatur: Michael Hulse: Inner Emigrees: H. Im nahe gelegenen Grüningen begegnete er M. N. and Sarah Kirsch. In: The Antigonish Review der damals noch nicht dreizehn Jahre alten (1985), H. 62/63, S. 223–233. – Madeleine Salz- Sophie von Kühn, mit der er sich am
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15.3.1795 ohne Wissen der Eltern verlobte – die Verlobung wurde im Juli 1796 von den Eltern sanktioniert. Im Jan. 1796 wurde N. Akzessist an der Salinendirektion in Weißenfels, dem Wohnort der Familie seit 1785. Nach dem frühen, krankheitsbedingten Tod Sophie von Kühns am 19.3.1797 ging N. Ende des Jahres an die Freiberger Bergakademie, wo er beim renommierten Mineralogen Abraham Gottlob Werner hauptsächlich Bergwerkskunde, Chemie u. Mathematik studierte. Pfingsten 1799 kehrte er zur Salinendirektion zurück u. wurde im Dez. 1799 zum Salinenassessor u. Mitgl. des Salinendirektoriums ernannt. Höhepunkt der berufl. Laufbahn war die Ernennung zum Supernumerar-Amtshauptmann für den Thüringischen Kreis am 6.12.1800. Seit Aug. wohl an Lungenschwindsucht erkrankt, konnte er sein Amt nicht mehr wahrnehmen. Zu Weihnachten 1798 hatte sich N. zum zweiten Mal, mit Julie von Charpentier, verlobt; zur Eheschließung konnte es nicht mehr kommen. N. war eine durch u. durch gesellige Natur u. hohe dialogische Begabung, deren Geschick im spontanen geselligen Austausch vielfach in verbalen Porträts durch andere Romantiker festgehalten wird. Seine Persönlichkeit war gleichermaßen von brillanter Intellektualität u. schillernder Fantasie, akrobatischem Witz u. liebenswürdiger Urbanität, schwärmerischem Enthusiasmus u. treffsicherer Ironie gekennzeichnet. Sein Geist zeichnete sich durch eine atemberaubend schnelle Auffassungsgabe u. erstaunl. Vielseitigkeit aus. Sein dichterisches Schaffen war ebenfalls von Spannungen bestimmt: zwischen Beruf u. Dichtung, Wissen u. Glauben, Poesie u. Unpoesie, Romantik u. Aufklärung, Antike u. Moderne, Reform u. Revolution – aber auch von dem Bestreben, diese tief greifenden Gegensätze der Zeit durch poetisch-experimentelle Vermittlung tendenziell-utopisch miteinander zu versöhnen. Das früh sich regende Interesse für Poesie u. schöne Wissenschaften schlug sich zunächst 1788–1791 in dem erst 1998–1999 in der hist.-krit. Ausgabe vollständig veröffentlichten, umfangreichen Jugendwerk nieder. Hier übte er sich systematisch u. ge-
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schickt in nahezu allen gängigen Literaturgattungen der Spätaufklärung. Gute Grundkenntnisse der antiken Literatur u. Rhetorik hatte er schon am Eislebener Luthergymnasium dank Christian David Jani erworben. 1791 hörte er in Jena Karl Ludwig Reinholds Vorlesungen über die Kantische Philosophie sowie auch Schillers Geschichtsvorlesungen. Während Schillers Krankheit kam er ihm auch persönlich nahe. Schillers idealistischklassizist. Ästhetik verdrängte um diese Zeit N.’ Leidenschaft für die empfindsam-volkstüml. Balladendichtung Gottfried August Bürgers, den er schon 1789 persönlich kennengelernt hatte. Schiller gelang es auch, N. um diese Zeit von der Poesie ab- u. dem ernsthaften berufl. Leben zuzulenken. Diese Grundspannung reflektiert N.’ erste Veröffentlichung, die Elegie Klagen eines Jünglings (April 1791 in Wielands »Neuer Teutscher Merkur«). 1795/96 beschäftigte N. neben der berufl. Arbeit eine vertiefte krit. Auseinandersetzung mit Fichtes postkantischer Wissenschaftslehre, die schließlich sein weltanschaul. Fundament bildete u. mit den gleichzeitigen postfichteschen Spekulationen Hölderlins, Schellings u. Hegels zusammen den Grundstein der Romantik legte. Aus Fichtes absolutem Ich machte N. einen postulierten absoluten Weltgeist, der sich setzend sich selbst über Ich u. Nicht-Ich in der Welt, in Natur u. Geschichte, verwirklicht. Zugang zum Reich Gottes findet der Mensch – entgegen Fichtes rein bewusstseinsorientierter Vorstellung – durch »intellectuale Anschauung« (intuitive Einkehr in sich selbst), einen vorreflexiv-ekstatischen Akt, den N. später mit charakteristischer Metaphorik »Selbsttödtung« nannte. Aufgabe der Poesie ist es, diese Selbstu. Welterkenntnis herbeizuführen, um dann durch »Romantisiren« (bewusste Konstruktionen der wechselseitigen Durchdringung von Ideal u. Real) den Gegensatz von Geist u. Welt aufzuheben. Das leidvolle Verscheiden der schwärmerisch geliebten Sophie von Kühn im Frühjahr 1797 löste in N. eine existentielle Krise aus, die er mit einer für ihn typischen Doppelstrategie bekämpfte: durch genaue Selbstbeobachtung u. durch erneuerten wissen-
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schaftlich-berufl. Eifer. Die erste Strategie schlug sich in einem nach pietistischem u. Lavater’schem Muster bearbeiteten Journal nieder. Hier registrierte N. sorgfältig alle Bewusstseinszustände u. bewertete sie im Lichte des »Entschlusses«, die »Idee« der Verstorbenen bewusst zum Mittelpunkt seines Lebens zu erheben u. ihr rasch, aber tätig wirkend nachzusterben. Gleichzeitig verehrte N. Reliquien der Verblichenen, so Kleidungsstücke, ein Porträt, einen Ring mit der Inschrift »Sophia sey mein Schutzgeist«. Sein stark erotisierter Todeskult der Braut kulminierte in einer im Journal festgehaltenen Vision der Verklärten im transparent gewordenen Grab am 13.5.1797. Den religiösen Ertrag dieser Epoche, der freilich vor dem Hintergrund der metaphysisch-poetolog. Fichte-Studien verstanden werden muss, fasste N. in der für die myth. Mittlerfunktion der Geliebten bezeichnenden Formel »Xstus und Sophie« zusammen. Andererseits widmete er sich erneut dem Studium der Philosophie u. Naturwissenschaften, was in der Entscheidung gipfelte, sich an der Freiberger Bergakademie für die Salinenarbeit fachlich zu qualifizieren. In die Freiberger Zeit 1798 fielen N.’ Wiederaufnahme der literar. Tätigkeit u. die eigentliche Grundlegung der Frühromantik. Schon 1792 hatte N. in Leipzig Friedrich Schlegel kennengelernt. Seit 1795/96 entwickelte sich zwischen den Freunden die Praxis der »Symphilosophie« bzw. »Sympoesie«: Sie förderten gegenseitig die intellektuelle Produktivität durch den Austausch der privaten Arbeitshefte, schätzten experimentell-provisorische u. durch iron. Rücknahme charakterisierte Entwürfe höher als definitiv Abgeschlossenes, strebten Dialogizität u. kollektive Autorschaft an. 1797 wurde N. zur Mitarbeit an der von Friedrich u. August Wilhelm Schlegel herausgegebenen Zeitschrift »Athenæum« eingeladen. Im April 1798 erschien im ersten Heft desselben N.’ erstes reifes literar. Produkt unter dem Pseud. Novalis (lat.: de novali, »der Neuland Rodende«), welches einen alten Namen des HardenbergGeschlechts darstellt u. somit die Wahrheit über seine Autorschaft in typischer Weise verhüllend offenbart. Schlegel freilich redu-
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zierte in diesem symphilosoph. Geist die von N. gelieferten Vermischten Bemerkungen von 125 auf 114 sog. »Fragmente«, beseitigte den sachl. Titel u. veröffentlichte sie unter dem stark metaphorischen Titel Blüthenstaub. Vor dem Hintergrund multipler Krisen – der polit. Krise der Revolution, der kulturellen Krise der verknöcherten Aufklärung u. des von der Aufklärung radikal unterminierten Christentums – sollten N.’ »mystische Fragmente« den romant. Wunsch nach erneuter geistiger Durchdringung der modernen, philisterhaft verfallenen Wirklichkeit auf jedem Lebensbereich fruchtbringend verkünden. Hauptleistung u. z.T. Ergebnis des »Sophienerlebnisses« war hier das sog. Mittlerfragment, das auch Schleiermachers Christologie beeinflussen sollte. Hier reduzierte N. die mögl. Gottesvorstellungen auf lediglich zwei (»Panthëismus und Entheismus«). Die freie Wahl eines Mittlers zwischen Gott u. Mensch (im Sinne einer bewussten Setzung des Ich) wird als unentbehrlich zu wahrhafter Religiosität erklärt. Der sich daraus ergebende Streit zwischen der theoretisch unendlichen Pluralität möglicher pantheist. Mittler u. dem einzigen Mittler des Christentums wird dadurch gelöst, dass Christus zum Mittler der Mittler erhoben wird. So kann auch jedes echte Buch zur Bibel erhoben werden. Analog antwortet N.’ auf Harmonisierung gerichtetes Denken auf das polit. Problem der Zeit durch ein Plädoyer für den »poëtischen Staat«, eine geistgesättigte Mischung aus den Gegensätzen Monarchie (Ancien Régime) u. Demokratie (Revolution). Durch die Charakteristik der Französischen Revolution insbes. als »pubertärer« Phase in der histor. Entwicklung des Menschengeschlechts wird sie zwar – mit dem konservativen Edmund Burke – kritisiert; sie wird aber damit auch – g egen Burke – als naturgegebenes Phänomen legitimiert. Selbst das Element der Poesie wird neu bestimmt, als ein vom Menschen konstruiertes temporales Neuland, jene uferlos-flüssige »geistige Gegenwart«, die sich aus der narrativen Vermischung der diskreten Zeitreiche Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft ergibt. Die Sammlung wirkte aber nicht nur aufgrund ihres themat. Gewichts. Verfasst von einem souve-
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rän-selbstbewussten Ich im universell-indikativischen Präsens apodikt. Gewissheit, das nur selten in den hypothet. Konjunktiv abgleitet, sind die scheinbar endgültig formulierten Fragmente in Wahrheit provisorischprovokative »Texte zum Denken«. So wird Goethe frech-zweischneidig als »Statthalter des poetischen Geistes auf Erden« gepriesen. Eine zweite Fragmentsammlung, Glauben und Liebe oder der König und die Königin, wurde durch die Thronbesteigung des neuen Königs Friedrich Wilhelm III. von Preußen u. seine Gemahlin Luise 1798 angeregt. Die Schrift erschien auf N.’ ausdrückl. Bitte stückweise im Juni- u. Juli-Heft der »Jahrbücher der preußischen Monarchie«, einem staatl. Organ, das kurz vorher zur Huldigung des neuen Königspaars – angeblicher Hoffnungsträger einer neuen Zeit – gegründet worden war. Diesmal war die dreiteilige, 68 Fragmente umfassende Sammlung einem einzigen Thema gewidmet: die Anwendung der Mittlertheorie auf die Politik, eine Neubestimmung der Rolle des Herrscherpaars in der nachrevolutionären Zeit, womit N. die altbewährte Gattung des Fürstenspiegels erneuerte. So polemisiert er hier konventionell genug gegen die verstandeszentrierten Verfassungen der neuen Republiken in Amerika u. Frankreich u. sucht stattdessen die kgl. Würde als Garant einer wahrhaft menschlichen Regierungsform transzendentalphilosophisch-religiös zu legitimieren. So ist der König in seiner Person Symbol des »mystischen Souverains«, mithin dessen Mittler u. – dies ein Seitenhieb auf Friedrich II. – mitnichten ein Staatsbeamter. Wie die jedes Mittlers beruht seine Macht nicht auf Verfassung u. Buchstabe (geschweige denn auf Erbrecht oder göttl. Willen), sondern auf der »freywilligen Annahme eines Idealmenschen« durch die Untertanen. Im Geiste dieses Glaubens soll auch seinerseits der inspirierte Monarch als das »gediegene Lebensprinzip des Staats« wirken, seine Untertanen zur eigenen Thronfähigkeit bilden. So kommt wenigstens metaphorischerweise das republikan. Moment in die tradierte monarchische Regierungsform: »Der ächte König wird Republik, die ächte Republik König seyn.« Die recht bürgerlich anmutende Kö-
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nigin soll ihrerseits als weibl. Identifikationsfigur dienen. Letztlich sollte der Staat zur Familie werden. Der Aufsatz wurde an höchster Stelle ungnädig zur Kenntnis genommen; die Publikation musste nach Erscheinen der ersten zwei Teile eingestellt werden. Im Aug. 1798 wurde N.’ Mitgliedschaft in der ersten romant. Schule durch seine Teilnahme am ersten Romantikertreffen in Dresden mit Besuch der Gemäldegalerie in Begleitung der Schlegels u. Karl August Böttigers besiegelt, wo er u. a. Raphaels an seine verstorbene Geliebte mahnende Madonna bewunderte. So, trotz N.’ z.T. ironisch gemeinter, aber doch zutreffender Bemerkung, die »Schriftstellerei« sei für ihn, verglichen mit der prakt. Arbeit, fortan nur »Nebensache«, erstaunt nicht mehr seine literar. Produktivität in Freiberg. Hauptertrag dieser Epoche waren zwei längere Bruchstücke, die die intensive Beschäftigung mit den Naturwissenschaften widerspiegeln. Das allgemeine Brouillon war N.’ »practische Idee 1«. Durch Werners systemat. Ordnungsgeist angeregt, wollte N. eine Art fragmentarische romant. Enzyklopädie schreiben, die gleichzeitig Werners rigorosen Empirismus u. den aufklärerischen Ansatz der Encyclopédie Diderots überwinden sollte. Durch höchst variierte poet. Durchformung u. Analogisierung der pragmatischen naturwiss., histor. u. philosoph. Inhalte sollten eine »reale, wissenschaftliche Poesie« der gegenseitigen Repräsentation gestiftet u. damit die inneren Verwandtschaften von vermeintlich höchst heterogenen Verästelungen der Wissenschaften sichtbar gemacht werden. Der Leser sollte damit in den Zustand gesetzt werden, als »magischer Idealist« visionäre Gedankenexperimente durchzuführen. Daher konnte N. das Projekt als »lebendiges, wissenschaftliches Organon« bezeichnen. Auch in den Wissenschaften sollte das Goldene Zeitalter vergegenwärtigt werden. Die Lehrlinge zu Saïs waren als »ächtsinnbildlicher Naturroman« das ästhet. Analogon der Enzyklopädie. Form u. Inhalt sind in diesem unkonventionellen Text in Wahrheit stets virtuos aufeinander abgestimmt u. einem dynam. Wandel unterzogen, sodass er
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wenig mit einer traditionellen Erzählung gemein hat. Damit – als Produkt des reif gewordenen poet. Geistes – entsprechen Die Lehrlinge am ehesten in N.’ epischem Werk dem ästhet. Imperativ der souveränen Gattungsmischung, den Friedrich Schlegel für den romant. Roman aufgestellt hatte. Hier befindet sich ein Lehrling im Tempel zu Saïs, den man sich keineswegs als geheimnisumwobenen ägypt. Mysterientempel im Sinne von Schillers Das verschleierte Bild zu Sais vorzustellen hat, sondern vielmehr als eine Art ungeheures, modern angelegtes Naturalienkabinett. Dort, in einer radikalen Variante des in Wilhelm Meisters Lehrjahre wieder beliebt gewordenen Mentor-Modells (nach Fénelon, Télémaque), arbeitet ein Lehrer (dem Werner Pate stand) daran, den myst. Natursinn seiner Lehrlinge auszubilden. Er kann ihnen nur beistehen, jeder muss allein-experimentell den individuellen Weg zur Selbst- u. Naturerkenntnis finden: auf dem Weg nach innen, nach außen oder (eventuell auch) über christl. Offenbarung. Dieser unser Lehrling geht den Weg nach innen, ist eher für Worte als Dinge empfänglich. In ihm hat sich im ersten Teil (Der Lehrling) die Sehnsucht nach der geheimnisvollen Jungfrau gebildet. Im Glauben an sie geht er im zweiten Teil (Die Natur) daran, suchend die eigene »Figur« zu beschreiben. Völlig verwirrt durch ein mitgehörtes, aber wenig kommunikatives Gespräch der Tempelbewohner über Sinn u. Einheit der Natur – das schließlich die übergeordnete Erzählinstanz vollkommen zum Verschwinden bringt –, wird sein Geist für die höheren Erkenntnismöglichkeiten der Poesie empfänglich gemacht. Ein Gespiele, der dichterische Vermittler, erzählt ihm gleich anschließend das Märchen von Hyacinth u. Rosenblüthchen. In diesem Text, der die für N. kanonische Gattung der myth. Größe »Poesie« vertritt, hört der Lehrling, wie Hyacinth über das männlich-verstandesmäßige Grübeln den Sinn für Natur u. Geliebte verliert, ihn nur mit der Sehnsucht ersetzen kann. Dem Wink eines alten, hexenartigen Weibes folgend, verreist Hyacinth nach Saïs. Dort angekommen, kann er im Traum – im Kontrast zu Schillers nur-kantisch geschultem Lehrling – ungestraft den
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Schleier der Naturgöttin heben, um aber das wirkl. Rosenblüthchen in die Arme zu fassen. Er kann sie heiraten, hat mit ihr Kinder – freilich ohne wieder aufzuwachen. Diese triumphale, aber auch subtil ironisierte poet. Synthese von Göttin u. Mädchen, Geist u. Natur, Traum u. Wirklichkeit spiegelt antizipatorisch den Weg des Lehrlings wider, der ja auch nach dem Tempel gereist ist u. sich nach Isis sehnt. Unter tiefsinnigen Gesprächen zwischen dem Lehrer u. nach Atlantis suchenden Reisenden klingt das vermutlich nicht abgeschlossene Fragment aus. Die Zeit nach der Rückkehr nach Weißenfels bis Juni 1800 war in dichterischer Hinsicht noch produktiver als die Freiberger Epoche. Ludwig Tieck, den N. im Juli 1799 kennengelernt hatte, weckte sein Interesse an der Poesie wieder. Der philosoph. Eifer ließ etwas nach; zunehmend kränklich, wandte sich N. noch intensiver der konventionellen Religion, namentlich auch der Lektüre Jacob Böhmes u. Paracelsus’ zu. Dem sog. zweiten »Romantikertreffen« vom 11. bis 14.11.1799 in Jena ging eine hekt. Produktivität voraus. Die Christenheit oder Europa war N.’ Antwort auf den zweiten Koalitionskrieg u. den Tod des vorläufig nicht ersetzten Papstes Pius VI. am 29.8.1799 in der frz. Haft. Dieser z.T. durch Schleiermachers Reden Über die Religion inspirierte Text ist eine Geschichtsdeutung u. ein Friedensentwurf, der formgeschichtlich sogar im bunten literar. Erbe der Frühromantik fast allein dasteht. Essay, Rede, Traktat? In Anlehnung an die fingierte Sprech-Form von Schleiermachers Reden wäre er am ehesten als »exoterische Predigt« einzustufen. Eingangs schildert ein fiktiver enthusiast. Redner mit glänzender Rhetorik ein hochidealisiertes, utopisch gedachtes MA. Damals, so behauptet er, habe die einheitliche kirchl. Autorität den kulturellen u. polit. Frieden durch die versöhnende Arbeit ihrer priesterl. Mittler sichern können. Jedoch seien dem Wesen der Geschichte fortschreitende, aber oszillierende u. typologisch strukturierte Evolutionen eigentümlich. So wird die gesetzte einheits- u. friedensstiftende Idylle des MA durch innere Verwesung u. den Protest des für seine angebl. Fixierung auf den Buchstaben heftig kritisierten Luther zer-
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stört. Die weitere Verfallsgeschichte des christl. Europa wird als Kampf zwischen zwei feindl. Momenten geschildert: dem positiven der Einheit u. des Glaubens (Jesuiten) u. dem negativen der individuellen Freiheit u. des Verstandes (Reformation, Aufklärung). Die mit der Französischen Revolution sich manifestierende absolute Vernichtung der Religion durch den Verstand ruft aber nicht die Katastrophe hervor, sondern mit dialektischer Notwendigkeit die Wiedergeburt der Religion u. ihrer Mittler-»Zunft«. Damit, dank dieser postulierten Geschichtskonstruktion, ist die Möglichkeit des »goldenen Zeitalters« in der Gegenwart (wieder) gegeben, u. zwar natürlich als Inzitament für den Leser. Wo der Verfasser von Glauben und Liebe die Monarchie beschworen hat, plädiert hier der Redner für die Errichtung einer neuen irenischen Kirche, die den ewigen Frieden zwischen den Staaten stiften soll. Vorgelesen beim »Romantikertreffen«, stieß der Text auf uneingeschränkte Zustimmung (bei Tieck) wie auf schroffe Ablehnung (bei Schelling). Er blieb aber – wie Schellings Replik (Epikuräisch Glaubensbekenntnis Heinz Widerporstens) – auf Goethes Rat in der schwülen Atmosphäre des Atheismusstreits um Fichte ungedruckt. Der seherisch-predigende Ton der Christenheit klingt noch in Nietzsches geschichtsphilosoph. Essays nach. N.’ lyr. Produktion war nie versiegt. Tieck u. Friedrich Schlegel sammelten N.’ (überwiegend Gelegenheits-) Dichtungen als Vermischte Gedichte. 15 Geistliche Lieder von 1799–1800 sind überdies erhalten. Sie verraten in ihren kunstreich-einfachen Formen u. ihrem intimen, Ich- u. Herz-bezogenen Ton die Einwirkung von Zinzendorfs Innerlichkeit. Auch Marienlieder u. sonstige Predigtlieder sind dabei, die die »Probe eines neuen, geistlichen Gesangbuchs« bilden sollen. N.’ Hymne vermischt gewagt erot. u. religiöse Energien. Erstmals im »Musenalmanach auf das Jahr 1802« publiziert, waren die Geistlichen Lieder N.’ populärstes Werk. Allerdings fanden sie erst in dogmatisch bereinigter Form Eingang in die kirchl. Gesangbücher. Am klarsten kommt N.’ myth. u. erot. Mittlerreligion in den Hymnen an die Nacht zum Ausdruck. Sie setzen die Tradition der
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Nacht- u. Friedhofsdichtung (Edward Youngs Nachtgedanken) fort, hängen aber auch mit N.’ Freiberger Überlegungen zum Problem des Lichts zusammen, in denen unter Böhme’schem Vorzeichen die Erfahrung des Todes der Geliebten aufgearbeitet ist bis zu deren visionärer Verklärung. Dabei sind die Hymnen keineswegs als Erlebnisdichtung zu verstehen – allein zeitlich lagen zweieinhalb Jahre dazwischen, N. war längst wieder verlobt. Die Sprechsituation ist wie immer Ichzentriert, der Ton feierlich-erhaben. In apodikt. Präsens, in dem Sprechen u. Erleben eins sind, fließt die Sprache in freien Rhythmen dahin. Das Ich preist das die (aufgeklärte) Lichtwelt tragende Nachtreich u. deren Botin, die »zarte Geliebte«, »Sonne der Nacht«. Es sehnt sich nach der Alleinherrschaft der Nacht. In der dritten Hymne erinnert es sich an eine Vision der Geliebten im Grab (z.T. mit wörtl. Anklängen an die Journal-Eintragung vom 13.5.1797). Durch diese Epiphanie gestärkt, erreicht es eine Art philosophisch-emotionales Äquilibrium zwischen Lebenspraxis u. Todessehnsucht. Es fristet seine Existenz im Neuland des transzendentalen Bewusstseins »auf dem Grenzgebürge der Welt« in Erwartung des letzten Tages. Diesem individuellen Mythos kontrastiert in der fünften Hymne eine Mythisierung des histor. Christentums. In Er-Form wird Christi Geburt aus dem Untergang der griech. Naturreligion geschildert, welche am Rätsel des Todes gescheitert ist. In einem gewagten Schritt wird Christus mit jenem fackeltragenden griech. Jüngling identifiziert, der nach Lessing als Zwillingsbruder des Schlafs euphemistisch verbrämend die grässl. Wirklichkeit des Todes darstellt. So ist Christus, der das Grab verlässt, zgl. die leibhafte Lösung des für die Antike unlösbaren Todesrätsels u. der befreiende Bote der Nacht, Mitstreiter der »Sonne der Nacht«. Auf weltgeschichtl. Ebene wiederholt sich so das Geschehen der dritten Hymne. So ist die alte Einheit wieder hergestellt u. die Religion für den modernen Menschen wieder verfügbar gemacht. Im April 1800 schloss N. den ersten Teil des unvollendet gebliebenen Romans Heinrich von Ofterdingen (1802) ab, der die von Heinrich
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Wackenroder (Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, Joseph Berglinger) u. Tieck (Franz Sternbalds Wanderungen) begonnene Reihe der romant. Künstlerromane fortsetzt. Er sollte nach den Lehrlingen als absolutes Buch der Romantik u. »Apotheose der Poësie« das von N. im Wilhelm Meister aufgespürte »Evangelium der Oeconomie« (die Unpoesie der Moderne) bekämpfen, poet. Therapie für den kranken Geist des modernen Menschen liefern. Symptomatisch für die Wende gegen das übermächtige Vorbild Goethes, ist dies ein Schlüsselwerk der Frühromantik. In einem durch die Erzählungen eines Fremden angeregten Traum erfährt Heinrich antizipatorisch, in der symbolischen Form der blauen Blume, die Offenbarung der Poesie u. der Liebe. Was er träumend auf dem Weg nach innen erfahren, aber nicht verstanden hat, wird im ersten Teil (Die Erwartung) auf seiner poet. Bildungsreise vom väterl. Eisenach nach dem mütterl. Augsburg geklärt oder gar verwirklicht. Kaufleute vermitteln auf ihre Weise Grundkenntnisse der Poesie. Ein Kreuzritter u. die Morgenländerin Zulima machen ihn mit dem Geist des Kriegs u. des Friedens bekannt. Ein Bergmann u. der unter der Erde wohnende Einsiedler, Graf von Hohenzollern, weihen ihn in die Geheimnisse der Natur u. der Geschichte ein. Bei einem Fest in Augsburg begegnet er der Traumgeliebten Mathilde u. deren Vater, dem Meisterdichter Klingsohr, der Heinrichs Ausbildung mit einer Einführung in die Theorie u. Praxis der Dichtkunst abschließt. Klingsohrs Märchen beschließt den ersten Teil u. nimmt die utop. Klimax des Romans vorweg: Mit barock anmutender Bildlichkeit u. komplexer Allegorik, wird, die neuesten naturwiss. Erkenntnisse (Galvanismus) integrierend, von der Erlösung der rationalistisch erstarrten Welt durch die kindl. Fabel (= Poesie) erzählt. Heinrich erfährt im zweiten Teil (Die Erfüllung) eine Vision der inzwischen gestorbenen Mathilde, die seine Zunge löst u. ihn zum Dichter macht. Die Einheit von Poesie u. Liebe u. gleichzeitig die Lösung des Todesrätsels ist nunmehr durch die Figur des androgynen Kindes Astralis symbolisiert, die die Blumenkinder des Traumes der blauen Blume postfiguriert, u.
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deren Poesie, wach geworden, das erste Kapitel eröffnet. In den nicht ausgeführten Kapiteln sollte die dargestellte Wirklichkeit in Märchen übergehen: Heinrich besiegt im »Sängerkrieg« auf der Wartburg die »Unpoësie«, pflückt die blaue Blume u. findet Mathilde wieder. So vermischen sich Traum u. Wirklichkeit, die geschiedenen Zeitreiche lösen sich in die »geistige Gegenwart« auf. Die Wirkungsgeschichte N.’ ist von wohlmeinenden, aber schwerwiegenden Missverständnissen geprägt. N.’ erste Editoren haben tendenziell das einseitige Bild des mystischnaiven u. todessehnsüchtigen Jünglings propagiert. Nach einer rasch einsetzenden Welle des »Novalismus«, der schwärmerischen Verehrung in diesem Sinne durch Graf Loeben u. andere, folgte – diese Tendenz bestätigend – die von Goethe u. Hegel induzierte scharfe Kritik wegen eskapistischer Tendenzen bzw. der schlechten Unendlichkeit der romant. Ironie. Poe u. Nerval aber schätzten N. ebenso wie später Maeterlinck, Hofmannsthal u. George wegen seiner Vorwegnahme der symbolist. Poetik. Nach dem Ersten Weltkrieg erhob Thomas Mann N. zu einem Kronzeugen des konservativen Republikanismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckte man N. als Vertreter der »anderen« (sc: demokratischen) Romantik u. erkannte sogar den roten Unterton der blauen Blume. Erst als die 100 Jahre lang maßgebliche bruchstückhafte Ausgabe von Tieck u. Friedrich Schlegel durch die neue hist.-krit. Ausgabe ersetzt wurde, gelangte man zu einem adäquateren Verständnis der transzendentalphilosoph. Voraussetzungen u. des bewusst utop. Gehalts des Werks – zum Verständnis von N.’ Bedeutung als Vertreter der frühen ästhet. Moderne, als Dichter u. Denker, der auf die neuartigen Probleme der fragmentierten Erfahrung u. Wirklichkeit der Moderne ernstzunehmende Antworten bietet. Ausgaben: Schr.en. Hg. Friedrich Schlegel u. Ludwig Tieck. 2 Tle., Bln. 1802. 51837. Tl. 3, Hg. L. Tieck u. Eduard v. Bülow. Bln. 1846. – Schr.en. Hg. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel. 4 Bde., Lpz. 1929. 7 Bde., Stgt. 2–31960 ff. Literatur: Wilhelm Dilthey: N. In: Preuß. Jbb. 15 (1865), S. 596–650. Auch in: Ders.: Das Erlebnis u. die Dichtung. Lpz. 1905. – Richard Samuel: Die
657 poet. Staats- u. Geschichtsauffassung Friedrich v. Hardenbergs (N.). Ffm. 1925. – Käte Hamburger: N. u. die Mathematik. In: Romantik-Forsch.en. Halle 1929, S. 113–184. Auch in: Dies.: Philosophie der Dichter. Stgt. 1966. – Heinz Ritter: N.’ ›Hymnen an die Nacht‹. Heidelb. 1930. 21974. – Theodor Haering: N. als Philosoph. Stgt. 1954. – Martin Dyck: N. and Mathematics. Chapel Hill 1960. – Gerhard Schulz: Die Berufslaufbahn Friedrichs v. Hardenberg (N.). In: JbDSG 7 (1963), S. 253–312. – Werner Vordtriede: N. u. die frz. Symbolisten. Stgt. 1963. – Hans-Joachim Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des N. Heidelb. 1965. – Wilfried Malsch: Europa. Stgt. 1965. – Helmut Schanze: Romantik u. Aufklärung. [...]. Nürnb. 1966. 21976. – Leif Ludwig Albertsen: Novalismus. In: GRM N. F. 17 (1967), S. 272–285. – Manfred Dick: Die Entwicklung des Gedankens der Poesie in den Fragmenten des N. Bonn 1967. – H.-J. Mähl: Goethes Urteil über N. In: JbFDH (1967), S. 130–270. – Eckhard Heftrich: N. Vom Logos der Poesie. Ffm. 1969. – G. Schulz: N. Reinb. 1969. – Ders. (Hg.): N. Darmst. 1970. 21986. – John Neubauer: Bifocal Vision. N.’ Philosophy of Nature and Disease. Chapel Hill 1971. – Hannelore Link: Abstraktion u. Poesie im Werk des N. Stgt. 1971. – Géza v. Molnár: Another Glance at N.’ ›Blue Flower‹. In: Euph. 67 (1973), S. 273–286. – Margot Seidel: Die ›Geistlichen Lieder‹ des N. [...]. Diss. Bonn 1973. 21983. – Elisabeth Stopp: ›Übergang vom Roman zur Mythologie‹. Formal Aspects of the Opening Chapter of Hardenberg’s ›Heinrich von Ofterdingen‹ Part 2. In: DVjs 48 (1974), S. 318–341. – Ernst G. Gäde: Eros u. Identität bei N. Marburg 1974. – Johannes Hegener: Die Poetisierung der Wiss.en bei N. Bonn 1975. – Dennis F. Mahoney: Die Poetisierung der Natur bei N. Beweggründe, Gestaltung, Folgen. Bonn 1980. – J. Neubauer: N. Boston 1980. – Ulrich Stadler: ›Die theuren Dinge‹. Studien zu Bunyan, Jung-Stilling u. N. Bern/Mchn. 1980. – Friedrich Strack: Im Schatten der Neugier [...]. Tüb. 1982. – Hermann Kurzke: Romantik u. Konservatismus. [...]. Mchn. 1983. – Nicholas Saul: Poetry and History in Novalis and in the Tradition of the German Enlightenment. London 1984. – J. Striedter: Die Fragmente des N. als ›Präfigurationen‹ seiner Dichtung. Mchn. 1985. – Alice A. Kuzniar: Delayed Endings. Nonclosure in N. and Hölderlin. Athens, GA 1987. – G. v. Molnár: Romantic Vision, Ethical Context. N. and Aesthetic Autonomy. Minneapolis 1987. – H. Kurzke: N. Mchn. 1988. – Barbara Naumann: ›Musikalisches Ideen-Instrument‹. Das Musikalische in Poetik u. Sprachtheorie der Frühromantik. Stgt. 1990. – Herbert Uerlings: Friedrich v. Hardenberg, genannt N. Werk u. Forsch. Stgt. 1991. – Azade Seyhan: Representation
Nowak and its Discontents. The Critical Legacy of German Romanticism. Berkeley/Oxford 1992. – Penelope Fitzgerald: The Blue Flower. London 1994. Dt. v. Christa Krüger: Die blaue Blume. Ffm. 1999. – Ira Kasperowksi: Mittelalterrezeption im Werk des N. Tüb. 1994. – D.F. Mahoney: The Critical Fortunes of a Romantic Novel. N.’ ›Heinrich von Ofterdingen‹. Columbia, SC 1994. – William Arctander O’Brien: N. Signs of Revolution. Durham, NC 1995. – Dirk v. Petersdorff: Mysterienrede. Zum Selbstverständnis romant. Intellektueller. Tüb. 1996. – Regula Fankhauser: Des Dichters Sophia. Weiblichkeitsentwürfe im Werk des N. Köln 1997. – H. Uerlings (Hg.): N. u. die Wiss.en. Tüb. 1997. – N. Saul: Experimentelle Selbsterfahrung u. Selbstdestruktion: Anatomie des Ichs in der literar. Moderne. In: Ästhet. Moderne in Europa. Grundzüge u. Problemzusammenhänge seit der Romantik. Hg. Silvio Vietta u. Dirk Kemper. Mchn. 1998, S. 321–342. – H. Uerlings: N. (Friedrich v. Hardenberg). Stgt. 1998. – Irene Bark: ›Steine in Potenzen‹. Konstruktive Rezeption der Mineralogie bei N. Tüb. 1999. – Verena Anna Lukas: Der Dialog im Dialog. Das Inzitament bei Friedrich v. Hardenberg. Bern 2000. – H. Uerlings (Hg.): ›Blüthenstaub‹: Rezeption u. Wirkung des Werkes v. N. Tüb. 2000. – Jürgen Daiber: Experimentalphysik des Geistes. N. u. das romant. Experiment. Gött. 2001. – D. F. Mahoney: Friedrich v. Hardenberg (N.). Stgt. 2001. – N. Saul: ›...des irdischen Leibes / Hohen Sinn‹. Modernity, Corporeality and the Trace of Transcendence in N. (Friedrich v. Hardenberg). In: London German Studies 7 (2001), S. 109–122. – Gabriele Rommel (Hg.): N. Das Werk u. seine Editoren. Oberwiederstedt 2001. – Sophia Vietor: Astralis v. N. Hs. – Text – Werk. Würzb. 2001. – Laurie Ruth Johnson: The Art of Recollection in Jena Romanticism. Memory, History, Fiction and Fragmentation in Texts by Friedrich Schlegel and N. Tüb. 2002. – Ralf Liedtke: Das romant. Paradigma der Chemie. Friedrich v. Hardenbergs Naturphilosophie zwischen Empirie u. alchemist. Spekulation. Paderb. 2003. – H. Uerlings (Hg.): N. Poesie u. Poetik. Tüb. 2004. – Mario Zanucchi: N. Poesie u. Geschichtlichkeit. Die Poetik Friedrich v. Hardenbergs. Paderb. 2006. – Michael Weitz: Allegorien des Lebens. Literarisierte Anthropologie bei Friedrich Schlegel, N., Tieck u. E.T.A. Hoffmann. Paderb. 2008. Nicholas Saul
Nowak, Claus, * 6.6.1938 Leipzig. – Roman- u. Kinderbuchautor. N., der einer Arbeiterfamilie entstammt, studierte in Leipzig Chemie u. war
Nowak
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1961–1979 in der Industrieforschung tätig; Nowak, Ernst, * 13.3.1944 Wien. – Lyriker, seit 1979 lebt er als freier Schriftsteller in Prosa-, Drehbuch- u. Hörspielautor. Halle. Sein erster Roman, Zahl bar, wenn du Seine Kindheit u. Schulzeit verbrachte N. im kannst (Rudolstadt 1978), handelt von Konflikten zwischen wissenschaftlich-techn. Be- niederösterr. Amstetten. Im Anschluss an das rufsarbeit u. dem Streben nach Selbstver- Studium der Bühnen- u. Kostümgestaltung wirklichung. Die Romane Zugzwang (Rudol- an der Wiener Akademie für Angewandte stadt 1979) u. Wart nicht auf einen Orden (Halle/ Kunst sowie der Germanistik u. Geschichte S. 1980) analysieren kritisch das Dilemma der an der Universität Wien promovierte N. 1974 Figuren zwischen offiziellen sozialen u. mit einer Arbeit über Franz Kafka. In den ideolog. Forderungen u. persönl. Selbstach- 1970er Jahren trat er in Rundfunk u. Ferntung. Die selbstkrit. Reisetagebücher Besuch sehen künstlerisch in Erscheinung, so im im Glashaus (Halle/S. 1982) geben über N.s Bayerischen Rundfunk mit dem Hörspiel künstlerisch-weltanschaul. Selbstverständnis hoeren spielen (1971) u. im ORF mit dem Buch Aufschluss. N.s Lust an außergewöhnl. Rol- zu dem Film Notizen aus einer Kleinstadt (1976). len- u. Sprachspielen offenbart sich in Das Als künstlerisch bes. gelungen erweisen sich Leben Gudrun (Halle/S. 1984. 21987): Techni- die kalt-distanziert beschriebenen Techniken ken der Dokumentarliteratur erschließen einer organisierten individuellen Selbstverdarin sehr subjektiv gehaltene Einsichten in stümmelung in den Erzählungen aus Kopflicht Möglichkeiten u. Grenzen menschl. Wand- (Salzb. 1974) sowie die im sachl. Protokollstil lung im Sozialismus. N.s Geschichten sind festgehaltenen hilflosen Befreiungs- u. nicht zuletzt Versuche, gegenwärtiges Erle- Selbstverstrickungspraktiken eines Wir-Kolben als Vergangenheitsbewältigung erkenn- lektivs gegenüber den »Anschaffern und bar zu machen (Aber Träume tragen doch. Halle/ Aufpassern« einer Einrichtung im DebütroS. 1986) u. Humanitätsfragen auf neue Weise man Die Unterkunft (Salzb. 1975). Die Forzur Diskussion zu stellen. Dies gilt auch für schung sieht N.s Erzählungen v. a. in der das Verhältnis von Naturwissenschaft u. Tradition Thomas Bernhards im ästhet. menschl. Verantwortung, das N. in seinem Bannkreis einer »Umdüsterung, die den reerfolgreichen Roman Alaska-Trip (Halle/ duzierten Menschen als das repräsentative S. 1985. 61989. Dortm. 1986) zur Darstellung Menschenbild erkennt« (Adel). Graf-Blauhut betont darüber hinaus den surrealist. Gehalt bringt. Seit der Wende veröffentlichte N. mit der Erzählungen. Das Grunderlebnis der Ausnahme von zwei Reiseführern zu Gegen- Prosa erstreckt sich von Verlust u. Verletzung den in Sachsen-Anhalt u. Thüringen (Der bis hin zur Grenzerfahrung des Sterbens. Ostharz. Von Wernigerode zum Kyffhäuser. Bielef. Diese Tendenz deutet sich auch in dem Ge1990. 21991. Thüringen. 888 Kilometer durch das dichtband Entzifferung der Bilderschrift (Baden grüne Herz Deutschlands. Bielef. 1991) keine bei Wien 1977) an, der in präziser Monotonie die Spannweite zwischen Tod, Ungeborenweiteren Werke mehr. Weitere Werke: Mansfelder Kupferring. Bln./ sein, ästhet. Hervorbringung u. Verstummen DDR 1984 (Kinderbuch). – Der Tod muß warten. abmisst. Der Roman Addio, Kafka (Salzb. 1987) Halle/S. 1987. 21988 (R.). – Der Hungerstollen. setzt dieses Szenario in den narrativen DukHalle/S. 1988. 21989 (Kinderbuch). tus eines diskontinuierl. Handlungsraums Literatur: Dietrich Sommer: Kontinuität u. um. N. selbst skizzierte in einem 1988 erDiskontinuität im Erzählwerk v. C. N. In: WB, H. 1 schienen, an Kafka anknüpfenden Text den (1983). – Rüdiger Bernhardt: Interview mit C. N. ästhet. Schaffensprozess als einen Hausbau, In: WB, H. 12 (1988). – Ders.: Reibung an Anpas- der zgl. als lustmörderische Zerstörung marsung u. Angepaßtem. Ebd. kiert ist u. dem auch das weiße, unschuldige Dietrich Sommer / Red. Papier ausgeliefert ist. N. erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Kulturpreis der Stadt Amstetten (1975), den Förderpreis der Stadt Wien (1977)
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sowie den Deutschen Kurzgeschichtenpreis des Autoren-Colloquiums Arnsberg (1977). N. lebt als freier Schriftsteller in Wien. Weitere Werke: Das Versteck. Salzb. 1978 (R.). . . – Hasenjagd: osterr. Erzahlungen / Chasse au lie` vre: re´ cits autrichiens. Paris 1994. – Schubert spielen. Salzb. 1996. – Friedrich Steinkellner. Zeichnen: Bilder 1970–95. Wien 1996 (zus. mit G. Tobias Natter u. Peter Rosei). – Steine. Bln. 2003 (zus. mit F. Rosei). Literatur: Kurt Adel: Aufbruch u. Tradition. Einf. in die österr. Lit. seit 1945. Wien 1982, S. 66. – Heidrun Graf-Blauhut: E. N. In: Sprache: Traum u. Wirklichkeit. Österr. Kurzprosa des 20. Jh. Wien 1983, S. 271 f. Iulia-Karin Patrut
Nowak, Heinrich (Vinzenz), * 26.1.1890 Wien, † 12.8.1955 Zürich. – Lyriker. Obwohl N. zu den führenden Frühexpressionisten Österreichs zählt, fand sein Werk erst seit der Expressionismus-Renaissance der 1960er Jahre gelegentlich Beachtung. N., aus tschech. Familie stammend u. Sohn eines Messerschmieds, studierte nach Absolvierung des Akademischen Gymnasiums Deutsche Philologie, Kunstgeschichte u. Psychologie in Wien, ohne jedoch einen Abschluss zu erlangen. N. begann sich um 1912 im »Akademischen Verband für Literatur und Musik« in Wien zu engagieren. Die ersten Gedichte (ab März 1912) veröffentlichte er in dessen Organ »Der Ruf«, der ersten expressionist. Zeitschrift Österreichs. In seinen Gedichten (Die tragische Gebärde. Heidelb. 1913. Neudr. Nendeln 1973) setzt N. das Simultanerlebnis u. das Tempo der modernen Zeit, von der er sich bewusst mitreißen ließ, in die nüchterne lapidare Form eindringl. Momentaufnahmen um. In der Prosa dominiert die zeittypische, antibürgerl. u. lebenssteigernde Sehnsüchte verkörpernde Exotik. 1919 heiratete N. die Schauspielerin Cäcilie Lvovsky u. war als freier Journalist in Wien tätig. Nach der Ehescheidung 1929 arbeitete er als Südosteuropa-Korrespondent für amerikan. Nachrichtenagenturen, bis er 1939, nach monatelanger Haft, emigrieren musste. Seiner zweiten Frau konnte er in die Emigration nach England nicht folgen. N. flüchtete nach Zürich, wo er sein Leben mit journalist. Tätig-
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keiten unter amerikanisiertem Namen nur kümmerlich fristete. 1949 heiratete er Hedwig Ammann, die ihm in der Not der Emigration beigestanden hatte. Ausgabe: Die Sonnenseuche. Das gesamte Werk. 1912–20. Hg. Wilfried Ihrig u. Ulrich Janetzki. Wien/Bln. 1984. Literatur: Walter Höllerer: H. N. Ein verschollener Expressionist. In: Akzente, H. 10 (1963), S. 453–455. Walter Ruprechter / Red.
Nowotny, Joachim, * 16.6.1933 Rietschen/ Oberlausitz. – Erzähler, Autor von Kinderbüchern u. Hörspielen. Der Arbeitersohn u. gelernte Zimmermann studierte 1954–1958 in Leipzig Germanistik, hat als Verlagsassistent, Hilfslektor u. dann als Verlagslektor gearbeitet, seit 1962 schreibt er freischaffend u. war 1967–1982 Dozent am Literaturinstitut »Johannes R. Becher«. 1970/ 71 war N. im Kunstpreis der Stadt Leipzig tätig. Er war Vizepräsident des Schriftstellerverbandes der DDR. N. gehört zu den wichtigsten, wenngleich nicht meistgelesenen Kinderbuchautoren der DDR. In seinen Werken will er bezüglich Themenwahl u. Darstellungsart keine Unterschiede zwischen Kinder- u. Erwachsenenliteratur machen (WB 19, 1973, H. 7, S. 106). Die ersten von seinen Erzählungen entstanden Anfang der 1960er Jahre. Seine erste größere Erzählung war Hexenfeuer (Halle 1965). Anregungen zu diesem Werk verdankt N. einem längeren Aufenthalt auf einer LPG in Leipzig. N. hat v. a. kurze Prosa verfasst u. sich als »Erzähler von Geschichten«, nicht als Romanschriftsteller verstanden (Neubert 1982, 124). Seine Prosa spiegelt durchgängig ein »Gefühl der Sehnsucht« nach der in Kindheit u. früher Jugend erlebten Heimat wider. Der Autor gibt selbst zu, dass er wegen dieser Sehnsucht angefangen hat zu schreiben: Die Lausitzer Heide- u. Teichlandschaft kommt in N.s Werk oft vor. Es gibt auch bestimmte Namen, die bevorzugt auftauchen. N. behauptet, dass erst durch die »Verbindung mit einer konkreten Landschaft Realismus möglich« wird (WB 19, 1973, H. 7, 111). Mit der Vorliebe für die Darstellung des All-
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täglichen war N. in der DDR-Literatur kein Außenseiter. Das Besondere an seiner Darstellung des Menschen jedoch ist, dass seine Protagonisten in den alltägl. Situationen weit von jeder Form des Heldendaseins entfernt sind. N. hat immer betont, er wolle seine Figuren »lebensecht« schaffen (In: NDL 34, 1986, H. 10, 44). Als einer der ersten DDR-Schriftsteller konstatiert N. die Zerstörung der Natur. Seine frühen Werke, beeinflusst von den Bitterfelder Konferenzen, beschreiben die Zerstörung dörfl. Traditionen durch Technik u. Industrie noch als »gesellschaftlich notwendig«, so im realistisch u. pointiert erzählten »Roman für junge Leute« Der Riese im Paradies (Bln./DDR 1969), der die mit dem Bau eines Großkraftwerks zusammenhängenden Lebensveränderungen in dem Lausitzer Dorf Kattuhn schildert. Im Zentrum steht ein Junge in der Zeit seiner Pubertät. N. beschreibt seinen psych. Zustand u. zeichnet zgl. ein Gesellschaftsbild eines Lausitzer Dorfes. Der Protagonist reflektiert über den Sinn des Lebens, wird aber mit der Unmöglichkeit der Realisierung aller seiner großen Träume konfrontiert. Dies endet mit der Aufgabe seiner Isolation u. seinem aktiven Wirken in der Gesellschaft. Interessant ist die Art u. Weise des Erzählens: Der Autor wendet sich an den Leser, macht Vor- u. Rückgriffe, zeigt seine »wissende Überlegenheit«. Aufgrund der Ich-Erzählsituation wird »ein enger Autor-Erzähler-Figur-Leser-Bezug« aufgebaut. N. wurde durch erzählerische Mittel wie »akzentuierte breite Exposition des Handlungsgeschehens«, »punktuelle Rückblende«, »historische Bezugsfelder des Gewordenseins sozialistischer menschlicher Beziehungen« sowie »phantastische Mittel, die in Form von Träumen und Visionen geschichtsphilosophische Hintergründe blitzartig beleuchten« zu einem, der »sozialistische Kurzgeschichte« bereichert u. ausgeprägt hat (Neuber 1982, 119). Für N.s Stil ist »das reflexionsgesättigte Netz von Episoden« charakteristisch. Aus persönl. Betroffenheit schildert N. zunehmend drastischer, wie der Braunkohletagebau Menschen u. Dörfer der Lausitz ver-
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schlingt. In der Erzählung Abschiedsdisco (Bln. 1981) fährt ein 15-jähriger Junge zu seinem Großvater ins Dorf Wussina, wo er das verlassene Land entdeckt. Er beobachtet die sich vollziehenden Veränderungen. Letzter Auftritt der Komparsen (Halle 1981) zeigt die Geschichte eines 11-jährigen Jungen, der auf sein Zuhause nicht verzichten will. Er hat vor, an seinem Wohnort zu bleiben, obwohl der Ort von einem Bagger zur Wüste gemacht wird. Es werden zwei Gruppen von Menschen gezeigt: Die »Komparsen«, die nicht in die Stadt ziehen wollen, sondern an ihrer alten Heimat hängen, bilden die eine. Zu der anderen Gruppe gehören diejenigen, die aus den Wandlungen Nutzen ziehen wollen. Das Werk endet tragisch, da der Junge vom Kirchturm fällt. Das an heitere Geschichten aus der Lausitz gewöhnte Publikum hat dieses Werk nicht positiv aufgenommen. Vier Jahre später erschien ein Band mit zehn überwiegend neuen, z.T. autobiografisch geprägten Geschichten N.s, Schäfers Stunde (Halle 1985). Die meisten Erzählungen N.s, die sich alle durch Genauigkeit der Beobachtung, Sinnlichkeit u. Detailreichtum auszeichnen, spielen auf dem Lande. N. hat hier eine »Mittellage« porträtiert u. auf die Darstellung extremer Situationen u. Emotionen weitgehend verzichtet. Die Sammlung Sonntag unter Leuten (Halle 1971) ist deutlich mit der Landschaft von N.s Jugend assoziiert. Grund dafür sind Namen, die ihrem Klang nach an die Lausitz erinnern. Der Band besteht aus insg. 14 Geschichten, von denen sich die meisten an N.s Herkunftsort abspielen. Die bestimmenden Themen der Sammlung sind die Furcht vor dem Alltag, Hoffnung auf Erfolg sowie Vorurteile gegen das Weibliche. In dem Roman Ein gewisser Robel (Halle 1976) ist der Held Vertreter der Arbeiterklasse. Robel ist kein typischer Arbeiter, sondern eine Gestalt mit vielen Möglichkeiten. Sein Vater ist Bauer, er wird Maurer, dann Kraftfahrer, seine Frau Hanna ist Lehrerin. Das Geschehen spielt an einem Tag, der dem alltägl. Rhythmus entrückt ist. Neben der Handlung gibt es viele Reflexionen; die Erzählebenen wechseln. N. hat das Werk »einen Roman in Geschichten« genannt (In: NDL 34, 1986, 43, H. 10).
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N. hat viele seiner Geschichten in Fern- N. in den achtziger Jahren. In: WB 33 (1987), sehspiele umgesetzt, für die das Episodische S. 1516–1520. – Ders.: J. N. [...]. Bln./DDR 1989. . Horst Heidtmann / Agnieszka Bozek charakteristisch ist; die Handlung wird sehr genau, detailreich u. psychologisch dargestellt. Zu N.s Fernsehspielen gehören: Gal- Nüchtern, Hans, * 25.12.1896 Wien, † 9.1. genbergstory (1974), Erstes Haus linker Hand 1962 Wien. – Lyriker, Prosaautor. (1976), Ein altes Modell (1976), zu den Hörspielen: Vier Frauen eines Sonntags (1971), Kug- N. wurde nach dem Germanistikstudium lers Birken (1973), Brot und Salz (1976), Ein sel- Leiter der Literaturabteilung der Radio-Vertener Fall von Liebe (1978) u. X-Y-Anett (1980). kehrsgesellschaft u. Direktor von Radio Wien. Präsident der antisemit. Für Brot und Salz wurde N. 1976 mit dem 1930–1938 Deutschösterreichischen SchriftstellergenosHörspielpreis der DDR ausgezeichnet. Nach der Wende hat sich N. zurückgezo- senschaft, trat N. 1933 aus dem österr. PENClub aus, favorisierte als einflussreicher Kulgen. Weitere Werke: Hochwasser im Dorf. Bln./ turfunktionär der austrofaschist. LiteraturDDR 1963. – Jagd in Kaupitz. Bln./DDR 1964. – politik katholische u. völk. Autoren u. blieb Jakob läßt mich sitzen. Bln./DDR 1965 (E.). – La- selbst gegen Kriegsende noch vom Arbeitsbyrinth ohne Schrecken. Halle 1967 (E.n). – Abste- dienst freigestellt. Der konservativen Halcher mit Rührung. 1968. (Hörsp.). – Die Äpfel der tung, die N. als Kulturfunktionär einnahm, Jugend. Bln./DDR 1983. – Ein Lächeln für Zacha- entspricht sein formaler Traditionalismus rias. Bln./DDR 1983. – Der erfundene Traum u. sowohl in den Gedichtzyklen mit vorwiegend andere Gesch.n. Bln./DDR 1984 (P. aus den Jahren historischer (z.B. Die letzte Insel. Wien 1919) u. 1967–84). – Der Popanz. Bln./DDR 1986. – Wo der bibl. Thematik als auch in seiner Naturlyrik. Wassermann wohnt. Bautzen 1988. – Adebar u. Seine Prosa bevorzugt kulturgeschichtliche u. Kunigunde. Bln./DDR 1990. – Als ich Gundas Löwe histor. Stoffe wie der Roman über Cortés, Das war. Lpz. 2001. Herz des Hidalgo (Wien 1947). Literatur: Heinz Plavius: Gestalt u. Gestaltung... In: NDL 14 (1966), H. 10, S. 148–158. – Gerhard Rothbauer: Wie sich die ›verborgene Sache‹ beim Erzählen offenbart. J. N.: ›Sonntag unter Leuten‹. In: NDL 19 (1971), H. 8, S. 135–140. – Günter Jäckel: Zwischen Erinnerungen u. Vertrauen. Geschichts- u. Perspektivbewußtsein in der sozialist. dt. Kurzgesch. In: NDL 20 (1972), H. 1, S. 135–144. – Christel Berger: Heimat bei J. N. In: WB 19 (1973), H. 7, S. 113–129. – Dies. u. J. N. (Interview). In: WB 19 (1973), H. 7, S. 99–112. – Siegfried Pitschmann: Laudatio. In: NDL 25 (1977), H. 8, S. 163–166. – Walter Nowojski: Ein ganz gewöhnl. Tag. J. N.: ›Ein gewisser Robel‹. In: NDL 25 (1977), H. 2, S. 152–155. – Inge Borde: Poesie u. Alltag. In: NDL 27 (1979), H. 1, S. 148–157. – Joachim Hannemann: Disco mit leisten Tönen. J. N.: ›Abschiedsdisco‹. In: NDL 30 (1982), H. 2, S. 133–136. – G. Rothbauer: J. N.: ›Letzter Auftritt der Komparsen‹. In: SuF 34 (1982), S. 1325–1330. – Reiner Neubert: J. N.s Schaffen in den siebziger Jahren. In: WB 28 (1982), H. 7, S. 117–136. – Helmut Baldauf u. J. N. (Interview). In: NDL 34 (1986), 43, H. 10, S. 43–49. – Jürgen Engler: Vibrierende Mittellage oder N.s Realismus. J. N.: ›Schäfers Stunde‹. In: NDL 35 (1987), H. 1, S. 149–152. – R. Neubert: Ansichten zur Lit. [...] u. zur poet. Konzeption J. N.s. Bln./DDR 1987. – Martin Straub: J.
Weitere Werke (Erscheinungsort Wien): Wie’s mir tönt v. ungefähr. 1918. – Der Haß gegen die Stadt. 1921 (R.). – Das unnennbare Licht. 1921. – Der große Friede. 1922. – Roman einer Nacht. 1924. – Der stumme Kampf. 1924 (3 Roman-N.n). – Gesang vom See. 1932 (L.). – Buch der Brüder v. St. Johann. 1933. – Perchtoldsdorfer Frühling. 1934 (L.). – Nur ein Schauspieler. 1935. – Die wilde Chronik. 1936 (L.). – Die Beiden im Herbst. 1937. – Die Apostel. 1946 (L.). – Passion der Stille. Graz 1946 (L.). – Die ewige Melodie. 1947. – Zwischen den Zeiten. 1950. – Der steinerne Psalter. 1961. Johann Sonnleitner / Red.
Nürnberger, Joseph Emil, * 25.10.1779 Magdeburg, † 6.2.1848 Landsberg/Warthe (poln. Gorzów Wielkopolski). – Naturwissenschaftler, Übersetzer, Erzähler, Dichter. N. wurde als Sohn eines Juristen u. kgl.preuß. Kriegs- u. Domänenrates geboren. In Magdeburg besuchte er die Domschule. Der Rektor dieser angesehenen Bildungsanstalt, der Aufklärer u. Universalgelehrte Gottfried Benedict Funk (1734–1814), beeinflusste N.s
Nürnberger
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geistige Entwicklung entscheidend. Da ihm u. auf anrührende Weise lebensphilosoph. jedoch aus familiären Gründen ein Universi- Fragen behandeln. N.s Sohn ist der Arzt u. tätsstudium verwehrt blieb, schlug N. die Schriftsteller Woldemar Nürnberger (geb. Laufbahn eines preuß. Postbeamten ein. Um 1817). 1800 kam er als Postsekretär in die neumärk. Weitere Werke: Theorie des Infinitesimal-CalStadt Landsberg an der Warthe, wo er die culus. Bln. 1812 (wiss. Abh.). – Die letzten Gründe Kriegswirren der Jahre 1806 bis 1813 haut- der höheren Analysis. Halle 1815 (wiss. Abh.). – nah miterlebte. Nach berufsbedingten Auf- Untersuchungen u. Entdeckungen in der Analysis. enthalten in Halle, Leipzig u. Sorau (poln. Halle 1816 (wiss. Abh.). – Das erste Buch v. Virgils Zary) kehrte N. nach Landsberg zurück u. Aeneide nach Maaßgabe der Schillerschen Uebers. des zweiten u. vierten Buchs [...]. Mit dem übernahm 1835 die Leitung des dortigen Grundtexte zur Seite. Halle 1819 (Übers.). – Virgils Postamtes. Er stieg bis zum Oberpostdirektor Aeneide. In Dt. Jamben. 4 Bde., Zwickau 1821/22 auf, erhielt den Titel eines Geheimen Hofra- (Übers.). – Q. Horatius Fl. Episteln. In dt. Jamben. tes u. starb als anerkanntes Mitgl. zahlreicher Prenzlau 1827 (Übers.). – Q. Horatius Fl. Werke, wiss. Gesellschaften. zweiter Theil: Satyren. In dt. Jamben. Prenzlau N. trat als Verfasser viel gelesener wiss. u. 1828 (Übers.). – Novellenkranz. Bln. 1830 (N.n). – belletrist. Werke in Erscheinung. Für seine Astronom. Abendunterhaltungen auf einem WaldVerdienste als Mathematiker ehrte ihn die schlosse. Briefauszüge. Bln. 1831 (R.). – P. Ovidius Universität Halle 1816 mit der Verleihung Naso Werke. Deutsch in gereimten Jamben. 5 Tle., der Doktorwürde. N. befasste sich mit astro- Prenzlau 1831–35 (Übers.). – Erzählungen. 2 Bde., Dresden. Lpz. 1834 (E.en). – Tibull’s Elegien. nomischen u. physikal. Erkenntnissen sowie Deutsch mit Erläuterungen. Bln. 1838 (Übers.). – mit techn. Neuerungen, die er für ein breites Ernste Novellen u. Skizzen. Kempten 1839 (N.n). – Publikum allgemeinverständlich aufbereitete Virgil’s Aeneide. In dt. Jamben. 2 Bde., Kempten (Natur- und gewerbswissenschaftliche Berichte, oder 21841 (Übers.). Darstellung der neuesten Physik und Technologie, Literatur: Franz Brümmer: J. E. N. In: ADB. – in aphoristischer Form. Kempten 1837. Populäres Goedeke X, S. 173–175; XVII, S. 1009–1012. – astronomisches Hand-Wörterbuch [...]. 2 Bde., Znamienitosci Landsbergu. Landsberger BerühmtKempten 1846/48). Als Erzähler stand er der heiten: J. E. N. (1779–1848). Woldemar N. Dresdener Romantik um Theodor Hell (1817–1869). 2., veränderte Aufl. im Auftrag der (1775–1856) nahe u. reicherte sein natur- Bundesarbeitsgemeinschaft Landsberg (Warthe) kundl. Wissen mit fantast. Elementen sowie Stadt u. Land e.V. Gorzów Wielkopolski 2009. Martin A. Völker mit philosophisch-metaphysischen u. polit. Exkursen an (Astronomische Reiseberichte oder Skizzen der Topographie des Himmels und planeNürnberger, Woldemar, auch: M. Solitar, tarischen Metempsychose. Kempten 1837). DaM. Solitaire, Hilarius Bierfreund, Johanneben veröffentlichte er Übersetzungen von nes Muckenicht, * 1.10.1817 Sorau (poln. Horaz, Ovid, Tibull u. Vergil. In Landsberg Zary), † 17.4.1869 Landsberg/Warthe erbaute N. das villenartige Haus »Still-Le(poln. Gorzów Wielkopolski). – Novellist, ben«, das er mit seiner Familie ab 1828 beLyriker, Humorist. wohnte u. das im Zentrum seines philosoph. Briefromans Still-Leben, oder Ueber die Unsterb- N. wuchs in den ostbrandenburg. Städten lichkeit der Seele (Kempten 1839. 21842) steht. Sorau u. Landsberg/W. auf, in denen sein Er kombiniert hier die detaillierte Beschrei- Vater Joseph Emil Nürnberger (1779–1848) bung seines Domizils mit ästhetischen u. re- als hoher preuß. Postbeamter u. angesehener ligiösen Betrachtungen. Dieser zur Gattung Schriftsteller wirkte. Er besuchte das Gymder Erbauungsliteratur gehörige Roman nasium in Stettin u. studierte zwischen 1838 stellt ein hoch bedeutsames Zeugnis der u. 1842 Medizin in Berlin. 1843 wurde N. bürgerl. Lebensweise in der Biedermeierzeit dort promoviert u. ließ sich als Arzt in dar. Beachtenswert sind ferner seine Ernste[n] Landsberg/W. nieder. Das Gedicht Faust (Bln. Dichtungen (Kempten 1841), die von einem 1842. 2. Ausg.: Josephus Faust. Landsberg/W. starken Vergänglichkeitsbewusstsein zeugen 1847), sein erstes eigenständiges u. bekann-
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Nüßler
testes Werk, richtet sich gegen den romant. M. Solitaires (1818–69). Diss. Bln. 1937. – Eric Idealismus der Biedermeierzeit u. behandelt Blackall: W. N. and his Faust. In: London German den seinen dämonischen Trieben schutzlos Studies IV. Hg. R. A. Wisbey. London 1992. – ausgelieferten Menschen, der ohne Erlö- Martin A. Völker: Das bürgerl. Haus u. seine monströsen Dependancen – Raumphantasien bei sungshoffnung zugrunde geht. Das sich Joseph Emil N. u. W. N. In: Utop. Räume. Phandurchsetzende Nützlichkeitsdenken kritisie- tastik u. Architektur. Hg. Thomas Le Blanc u. Betrend, erweist sich der von Theodor Storm tina Twrsnick. Wetzlar 2008. Martin A. Völker hoch geschätzte N. als ein Meister des Morbiden, der die Unmenschlichkeit sowie verdrängten Leidenschaften arrivierter Gesell- Nüßler, Bernhard Wilhelm, * 12.1.1598 schaftsschichten aufdeckt u. das Elend der Friedland, † 1.6.1643 Breslau. – GelegenUnterprivilegierten zeigt. Mit seiner literar. heitsdichter. Ästhetik des Hässlichen reagiert N. auch auf die gescheiterte Revolution von 1848 (Michel! Zusammen mit Büchner u. Venator hat Opitz Du schläfst noch! [...] Erbauliche Betrachtungen seinen Freund N. in der Schäfferey von der über die Zeit und ihre Zustände. Landsberg/W. Nimfen Hercinie (1630) verewigt. Gemeinsam Driesen o. J.). Weltschmerz u. Pessimismus mit Opitz besuchte N. die Bunzlauer Schule werden in seinen Novellen allerdings durch u. seit 1616 die Universität Frankfurt/O., um die überwiegend grotesk-komisch gestalteten ein Jurastudium zu absolvieren. Schon 1616 Figuren konterkariert. N.s Fantasiestücke legte er seinen Princeps literatus, eine Huldierinnern an E. T. A. Hoffmann, von dessen gung an Georg Rudolf von Liegnitz, vor. Sie fehlender Realitätsnähe er sich jedoch im nahm Züge des Fürstenspiegels in sich auf, Nachwort seiner Erzählungen bei Nacht (Lpz. die auch in der Comparatio galli gallicanei cum 1858) ausdrücklich distanziert. Obwohl N.s principe (Görlitz 1619) wiederzuerkennen nervöse Erzählweise u. sein Manierismus auf sind. So war N. nach einer Hauslehrerstelle die literar. Moderne vorausweisen, ist die bei dem Liegnitzischen Rat Dr. Andreas Geisler – vgl. die Vorrede zu den Laudes aranei Bedeutung seines Œuvres bislang nur unzu(Lpz. 1619) – für die Stelle eines Sekretärs u. reichend gewürdigt worden. Rats im Dienst der Herzöge von Liegnitz u. Weitere Werke (Erscheinungsort, wenn nicht Brieg prädestiniert. N. wurde immer wieder anders angegeben, Landsberg/W.): De vulneribus in von Opitz besungen. Er selbst huldigte dem pectus et abdomen penetrantibus. Diss. Bln. 1843. – Charitinnen. Phantasiestücke u. Humoresken. Freund in Zuschriften, etwa zu dem Landle1847. – Die Erben v. Schloß Sternenhorst. 1847 bengedicht Zlatna (1623) oder dem satir. (N.). – August, oder: Der Bierwirth u. Biertrinker Lehrgedicht Vesuvius (1633). Daneben edierte wie er sein soll u. muß. 1848 (Humoreske). – 1848. er Opitz’ nlat. Lyrik in der Sammlung Silva[...] Reflexionen über Revolutionen. 1848. – Die rum libri III, Epigrammatum liber unus (Frankf./ beiden Finkenstein. 1851 (Lustsp.). – Bilder der O. 1631). Nacht. 1852 (G.e). – Die Tragödie auf der Klippe. 1853 (N.). – Celestens Hochzeitsnacht. Lpz. 1854 (N.). – Die Fahrt zur Königin v. Britania. 1854 (N.). – Alte Bilder in neuen Rahmen. 1855 (Reiseskizzen). – Dunkler Wald u. gelbe Düne. Lpz. 1856 (N.n). – Koralla. 1856 (Humoreske). – Trauter Herd u. fremde Woge. 1856 (N.n). – Das braune Buch. 1858 (N.n). – Erzählungen bei Licht. 1860 (N.n). – Diana-Diaphana oder die Gesch. des Alchymisten Imbecill Kätzlein. 3 Bde., Nordhausen 1863 (R.). – Erzählungen bei Mondenschein. Lpz. 1865 (N.n).
Ausgaben: Briefe: Briefe G. M. Lingelsheims, M. Berneggers u. ihrer Freunde [...]. Hg. u. erl. v. Alexander Reifferscheid. Heilbr. 1889, S. 709 f., 886 f. u. Register. – Briefe der Fruchtbringenden Gesellsch. u. Beilagen. Unter Mitarb. v. Gabriele Ball, Andreas Herz, Dieter Merzbacher, hg. v. Claus Conermann. Bd. 1 ff. Tüb. 1992 ff. (Register). – Der Briefw. des Martin Opitz. Ein chronolog. Repertorium. Hg. C. Conermann, A. Herz u. Mitarb. v. Olaf Ahrens. In: WBN 28 (2001), S. 3–133, Nr. 9, 15 (Briefe v. Opitz an N.), Nr. 178 (N. an Opitz).
Literatur: Adolf Stern: M. S. Eine krit. Skizze. Lpz. 1865. – Emmy Luckwaldt: M. Solitaire (W. N.). Ein Beitr. zur Gesch. des Weltschmerzes. Diss. Anklam 1917. – Edgar Hampe: Der Pessimismus
Literatur: Bibliografien: Goedeke III (1887), S. 51 f. – Pyritz/Bölhoff II (1985), S. 506. – Kosch XI (1988), Sp. 501 – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. XXIV (2000), S. 76 – Hdb. des personalen Gele-
Nunnenbeck genheitsschrifttums in europ. Bibl.en u. Archiven. Hg. Klaus Garber. Bd. 1 ff., Hildesh. 2001 ff. – Weitere Titel: August Heinrich Hoffmann v. Fallersleben: B. W. N. In: Weimarisches Jb. für dt. Sprache, Lit. u. Kunst 4 (1856), S. 147–150. – George Schulz-Behrend (Hg.): Martin Opitz. Ges. Werke. Bd. 1, Stgt. 1968, S. 29–33. – Martin Opitz: Lat. Werke. Bd. 1: 1614–24. Hg. Veronika Marschall u. Robert Seidel. Bln. 2009, passim (Register in Bd. 3). Klaus Garber
Nunnenbeck, Lienhard, † nach 1518, vor 1527. – Nürnberger Meistersinger.
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N. ist neben Hans Folz u. dem jungen Hans Sachs der einzige Nürnberger Meistersinger aus der Zeit vor der Reformation, von dem ein umfangreiches Textkorpus erhalten ist. Bis auf drei weltl. Lieder – einem Rätsellied, einer Schulkunst (Lob des Gesanges) u. dem als Flugschrift erschienen Lied, das auf der Grundlage des gedruckten Trojabuches den Trojastoff behandelt (»Wie die Stadt Troja zerstört ward durch die schöne Königin Helena«) – sind alle Lieder geistl. Themen gewidmet (Maria, Christus, Trinität). Auffallend ist, wie engagiert N. in nicht weniger als neun Liedern für die damals äußerst umstrittene Lehre von der unbefleckten Empfängnis Marias eintritt. Das ausgeprägte Interesse an scholastisch geprägter Trinitätsspekulation (14 Lieder) teilt er mit seinen Nürnberger Meistersingerkollegen, insbes. mit Hans Folz. Der Reimspruch behandelt die Fastnachtsbräuche der Metzger zu Nürnberg (Zämertanz, Schembartlauf).
N. erhielt 1514 das Nürnberger Bürgerrecht, stammte also von außerhalb, 1515 wurde er Meister des Leineweberhandwerks. Vor 1511 war er der Lehrer des jungen Hans Sachs im Meistergesang. Eines seiner Gedichte ist auf 1518 datiert, 1527 zählt ihn Sachs neben Fritz Kettner, Konrad Nachtigall, Fritz Zorn, Sixt Beckmesser, Hans Folz u. a. unter die verstorbenen Zwölf Meister zu Nürnberg. Die weitaus wichtigste Quelle für N.s Texte Ausgabe: Eva Klesatschke: L. N.: Die Meisterist die 1517/18 von Hans Sachs geschriebene lieder u. der Spruch. Ed. u. Untersuchungen. Göpp. Handschrift Berlin, SB-PK, Mgq 414, die 46 1984 (nur Texte). – Eine vollst. Ausg. der Melodien seiner Meisterlieder enthält; nur zwei davon fehlt. Literatur: Irene Stahl: Die Meistersinger v. finden sich auch in späteren Handschriften. Ein weiteres Lied ist in vier Einzeldrucken Nürnberg. Archival. Studien. Nürnb. 1982, S. 250. erhalten. Den einzigen Reimspruch enthält – Frieder Schanze: Meisterl. Liedkunst zwischen eine Chronikhandschrift (erste Hälfte 16. Jh.). Heinrich v. Mügeln u. Hans Sachs. 2 Bde., Mchn. N. ist Autor von zehn Meistertönen (ohne die 1983/84. – Eva Klesatschke: N. In: VL. – RSM 4, S. 455–475 (Texte); 2, S. 200–203 (Töne). – Horst Melodien erhalten sind die Klagweise, die Brunner (Hg.): Die dt. Trojalit. des MA u. der FrüNeue Chorweise, die Straßweise u. der Un- hen Neuzeit. Wiesb. 1990, S. 182 f. – Johannes benannte Ton, mit den Melodien der Abge- Rettelbach: Variation – Derivation – Imitation. schiedene Ton, die Goldene Schlagweise, die Untersuchungen zu den Tönen der SangspruchHämmerweise, der Kurze Ton, der Lange dichter u. Meistersinger. Tüb. 1993. – Johannes Ton, die Zeherweise). Die Töne zeichnen sich Janota: Fides et ratio. Die Trinitätsspekulationen in durch eine komplizierte Reimtechnik aus den Meisterliedern des Hans Folz. In: Wolfram(ein- u. zweisilbige Anreime, dreisilbig-weibl. Studien 20 (2008), S. 351–386. Horst Brunner Reime), einige von ihnen wurden durch Hans Sachs einer vereinfachenden Bearbeitung Nythart, Hans ! Neithart, Hans unterzogen. Die meisten Töne N.s wurden bis in das 17. Jh. vielfach für neue Lieder verwendet.
O Oberammergauer Passionsspiele. Die O. P. sind Volksschauspiele einer ländl. Gemeinde, die sich schon in der Frühzeit der Spiele durch Kunstfertigkeit u. Weitläufigkeit ihrer Bewohner auszeichnete. Zudem förderten die Patres aus Rottenbuch u. Ettal die Spiele. Aus beiden nahegelegenen Klöstern sind Bearbeiter namentlich bekannt. Nach örtl. Überlieferung gehen die Spiele auf ein Gelübde anlässlich der Pest 1633 zurück, alle zehn Jahre die Passion Christi zur Aufführung zu bringen. 1634 soll das erste Spieljahr gewesen sein. Dies gilt als wahrscheinlich, obwohl erst für 1674 eine Aufführung gesichert ist. Die älteste erhaltene Textfassung wurde 1662 aufgezeichnet, als das Passionspiel »widerumben Renoviert, vnd beschriben« wurde. Sie ist aus mehreren Vorlagen zusammengestellt. Die zwei wichtigsten sind ein schwäbisch-bayer. Volksschauspiel u. die Tragödie Der Passion und die Auferstehung Christi (1566) des Augsburger Meistersingers Sebastian Wild, die ihrerseits auf den Christus redivivus Nicholas Grimalds aufbaut. Wilds Drama, Mitte des 17. Jh. neu aufgelegt (Ein schöne Tragoedi, auß heiliger Schrifft gezogen, von dem Leyden und Sterben, auch Aufferstehung [...] Jesu Christi [...]. Augsb. ca. 1650), ist das erste gedruckte Passionsspiel. Das Volksschauspiel ist selbst nicht greifbar, doch geht darauf eine Abschrift aus dem Benediktinerkloster St. Ulrich u. Afra zu Augsburg, aufgezeichnet im letzten Viertel des 15. Jh., zurück. Bei der Kompilation des Textes von 1662 achtete der Autor weniger auf sprachl. Gewandtheit als auf den Handlungsablauf. Katholische Ausdrucksformen verbinden sich mit protestantisch lehrhafter Tendenz. Die Lautung wahrt vielfach älteren Stand. 1674
wurde das Spiel überarbeitet. Als Autor kommt P. Augustin Grieninger von Rottenbuch in Betracht; die Niederschrift stammt von Michael Eyrl, dem Inhaber der Frühmesspfründe. Neu eingeschoben wurden u. a. ein Brief Luzifers, den Satan vorträgt, u. fünf Betrachtungen von Leidensstationen Christi in Dialogen zwischen Engel u. Seele. Zu Überleitungen erklingt Musik. In den Folgejahren sind 1700, 1704 u. ab 1710 im Zehnjahresrhythmus Aufführungen bezeugt. Für 1720 übernahm die Texterneuerung P. Karl Bader aus Ettal, der sprachlich glättend eingriff u. den Text in elf Akte gliederte. Das strenge Paarreimschema der Knittelverse ist hier bereits mehrfach aufgebrochen. Die mit einem prunkvollen Portal u. Wechselkulissen ausgestattete Bühne wird durch Gassen für Volksaufzüge gegliedert. Das Spiel P. Anselm Mannhardts aus Rottenbuch von 1730 bringt mit Allegorien, die in die Haupthandlung eingreifen, sowie den erklärenden Chören vor den Akten eine entscheidende Neuerung. Geringfügig sind die Änderungen P. Clemens Prassers aus Rottenbuch für 1740. 1750 setzte P. Ferdinand Rosner aus Ettal in seiner Textbearbeitung Bitteres Leyden, obsiegender Todt und glorreiche Auferstehung des eingefleischten Sohn Gottes erstmals Präfigurationen aus dem AT ein. 1770 erlangten die Oberammergauer nach dem Generalverbot der Spiele trotz nachdrückl. Gesuche keine Spielerlaubnis. 4000 Periochen waren bereits gedruckt. 1780 durfte wieder gespielt werden; das Alt- und Neu-Testament des P. Magnus Knipfelberger aus Ettal entspricht weitgehend dem gekürzten Rosner-Text. Die Bearbeitung P. Ottmar Weis’ (Ettal), Das große Versöhnungsopfer auf Golgatha (1811/15), bewahrte die O. P. vor neuerl. Verbot: Die Sprechtexte wurden in Prosa ge-
Oberammergauer Passionsspiele
fasst, Allegorien erschienen nicht mehr, die Teufel blieben verbannt. 1850/60 schrieb der Ortspfarrer Joseph Alois Daisenberger die letzte umfassende Revision des Spieltextes. Das feste Schema der Unterteilung in Vorstellungen (Prolog, Vorbild, Handlung) blieb seither bestehen. Kleinere Umarbeitungen der letzten Zeit sollten v. a. dem Vorwurf des Antisemitismus begegnen. Der Aufwand für die Ausstattung stieg, die Musik erhielt ab 1780 mehr Gewicht. Für 1811 schrieb Rochus Dedler zu Arien, Chören u. Rezitativen die (erste erhaltene Oberammergauer Passions-)Musik. Sie wird bis heute, nach der Bearbeitung durch Eugen Papst von 1950, gespielt. Die 1815 neu gestaltete Bühne wurde 1830 vom Friedhof auf die Passionswiese verlegt. 1890 wurde sie völlig neu gestaltet, 1899/1900 die Zuschauerhalle errichtet. Nach der Entdeckung Oberammergaus durch Literaten u. Theaterleute ab 1820/30 weitete sich der Besucherkreis; die Außenorientierung schob sich in den Vordergrund. In den letzten Spieljahren des 19. Jh. wurde ein Hoftheaterstil gepflegt, ehe sich ab 1900 ein auf Schlichtheit ausgerichteter Nazarenerstil durchsetzte. Die O. P. wirkten vielfach vorbildhaft. Die Texte wurden von anderen Spielorten übernommen: der Rosner-Text von Spielgruppen aus München, Pfarrkirchen, Tölz, Dachau, Freising, um 1800 dann von Oberaudorf, Thiersee, Erl u. Kiefersfelden. Nach dem Weis-Text spielten Waal, Rott am Inn, Thaining, Mittenwald, Telfs, Axams, Erl (ab 1859), Brixlegg. Der Darstellungsstil wirkte z.B. bei Lebenden Bildern in Endorf oder der Stummen Prozession von Vilgertshofen (ab 1874) nach. Wie beim Volksschauspiel allg. gilt auch für die O. P.: Den Spielträgern ist nicht die literar. Bedeutung der Texte wichtig, sondern deren Funktionen. Sie können »zu einem Exempel [...] und Jedermann zu gueter lehr« dienen, wie es im Epilog von 1662 heißt. Das Spiel kann die Bindung an das Gelübde verkörpern, es kann aber auch profane Zwecke im Dienste der Infrastruktur des Dorfes übernehmen. Spätestens seitdem Oberammergau zu einem Anziehungspunkt über die
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nähere Umgebung hinaus geworden ist, kommen dem Spiel mehrere Aufgaben zu. Ausgaben: August Hartmann: Das O. P. in seiner ältesten Gestalt. Lpz. 1880. – Ao. Do. 1662. Der älteste Text des O. P.s. Hg. Georg Queri. Oberammergau 1910. – Text des O. P.s. Hist.-krit. Ausg. umfassend den Urtext v. P. Ottmar Weiß [...] u. vollem Variantenapparat für die Umformung durch J. A. Daisenberger [...] besorgt v. Otto Maußer. Dießen 1910. – Ferdinand Rosner. Passio Nova. Das O. P. v. 1750. Hist.-krit. Ausg. Hg. Stephan Schaller. Bern/Ffm. 1974. – Magnus Kipfelberger [...] u. sein O. P. Bearb. S. Schaller. St. Ottilien 1985, S. 26–183. – Textausw. in: Bayer. Bibl. Bd. 2, S. 1177–1179 (Vorrede v. 1662), 1279. Literatur: Martin v. Deutinger: Das Passionsspiel in Oberammergau. In: Beyträge zur Gesch., Topographie u. Statistik des Erzbisthums München u. Freysing. Mchn. 1851. Bd. 2, S. 397–570. Bd. 3, S. 1–460. – Hans Moser: Chiemgauer Volkssp.-Texte. In: Das Bayer. Inn-Oberland 18 (1933). S. 5–10. – Stephan Schaller: Die Passionsspiele v. Oberammergau 1634–1950. Ettal 1950. – Dagmar Landvogt: Die Lebenden Bilder im O. P. Diss. Köln 1972. – Edgar Harvolk: Oberammergau u. das dt. Volksschausp. In: Schönere Heimat 69 (1980), S. 197–202. – Franz Mussner (Hg.): Passion in Oberammergau. Düsseld. 1980. – S. Schaller: Die ersten 100 Jahre des O. P.s. In: Jb. für Volkskunde 5 (1982), S. 78–125. – Norbert Jaron u. Bärbel Rudin: Das O. P. Eine Chronik in Bildern. Dortm. 1984. – Dietz-Rüdiger Moser: Das Passionsspiel v. Oberammergau in der Bayer. Literaturgesch. In: Lit. – Theater – Museum. Acta Ising 1986. Mchn. 1987, S. 92–117. – Eberhard Dünninger u. Michael Henker (Hg.): Hört, sehet, weint u. liebt. Passionsspiele im alpenländ. Raum. Mchn. 1990. – Josef Georg Ziegler: Das O. P. Erbe u. Auftrag. St. Ottilien 2 1991. – Klaus Lazarowicz: Gespielte Welt. Eine Einf. in die Theaterwiss. an ausgew. Beispielen. Ffm. u. a. 1997, S. 213–229. – Erwin Naimer: ›... und haben die Pasions-Tragedie alle 10 Jahre zu halten Verlobet ...‹. Die Oberammergauer ›Pestmatrikel‹ u. das Passionsspiel. In: Beiträge zur altbayer. Kirchengesch. 44 (1999), S. 42–59. – Hans Pörnbacher: Pater Ferdinand Rosner u. seine Oberammergauer Passion. Ebd. 45 (2000), S. 111–131. – Dietz-Rüdiger Moser: Auf dem Weg zum Volkstheater. Das Passionsspiel v. Oberammergau in neuem Gewand. In: Lit. in Bayern 60 (2000), S. 25–28. – Tomas Dashuber: Ecce homo. Die Entstehung des O. P. Eine Dokumentation. Mchn. u. a. 2000. – Peter Blath: Oberammergau u. seine Passion. Erfurt 2000. – Godefridus J. Snoek: De passiespelen te O. in 2000. Traditionele en
667 transitionele aspecten. In: Tijdschrift voor theologie 41 (2001), S. 167–185. – Wolfgang Reinhold: Der Text der O. P. 2000. Ein Produkt des christlichjüd. Dialoges u. ein Testfall für dessen gegenwärtigen Stand. In: ZThK 98 (2001), S. 131–160. – James S. Shapiro: Oberammergau. The Troubling Story of the World’s Most Famous Passion Play. New York 2001. Hans Schuhladen / Red.
Oberdeutscher Servatius. – Verslegende des 12. Jh.
Oberdeutscher Totentanz
erzählerisch nicht an den S. heranreicht, ist nicht sicher. Wahrscheinlich gehen die Ähnlichkeiten auf eine gemeinsame Quelle zurück. Um diese Frage aber einwandfrei zu klären, wäre eine umfassende Sichtung der ungedruckten Servatius-Legenden nötig, die eine breitere inhaltl. Varianz aufweisen als die Forschung bisher angenommen hat. Ausgaben: Friedrich Wilhelm: Sanct Servatius oder wie das erste Reis in dt. Zunge geimpft wurde. Mchn. 1910, S. 151–269. – Goossens 1991 (Servatiusbruchstücke, s. u.). – Abdr. der Prager Fragmente: Burmeister 1996 (s. u.). Literatur: O. Greifeld: S., eine oberdt. Legende des XII. Jh. Diss. Bln. 1887. – Kai Walter: Quellenkrit. Untersuchung zum ersten Teil der Servatius-Legende Heinrichs v. Veldeke. Diss. Münster 1970. – Ludwig Wolff: Der Servatius Heinrichs v. Veldeke u. der O. S. In: FS Marie-Luise Dittrich. Göpp. 1976, S. 51–62. – Kurt Gärtner: O. S. In: VL (Lit.). – Jan Goossens: Die Servatiusbruchstücke. Mit einer Untersuchung u. Ed. der Fragmente Cgm 5249/18, 1b der Bayer. Staatsbibl. München. In: ZfdA 120 (1991), S. 1–65. – Heike Annette Burmeister: Prager Fragmente des O. S. In: ZfdA 125 (1996), S. 322–329. – James K. Walter: The ›Upper German Servatius‹. Secular Influences on the Art of a Saint’s Life in the Late 12th Century. In: ›Nu lôn’ ich iu der gâbe‹. FS Francis G. Gentry. Hg. Ernst Ralf Hintz. Göpp. 2003, S. 285–298. – J. Goossens: Zur Quelle des O. S. In: PBB 128 (2006), S. 398–408.
Die knapp 4000 Verse umfassende Legende des in den Niederlanden hoch verehrten Bischofs von Maastricht, Servatius (Mitte des 4. Jh.), dem einige Jahre vorher Heinrich von Veldeke auch eine längere volkssprachl. Vita gewidmet hatte, ist um 1190 im süddt. Raum – möglicherweise in Augsburg (Sprache, kultische Verehrung) – entstanden. Da der Servatius-Kult im Süden nie sehr verbreitet war, bleiben die Gründe für die Entstehung des Werks rätselhaft. Der wohl geistl. Verfasser folgt im Wesentlichen seiner lat. Hauptquelle, den Gesta Sancti Servatii; er ist aber ein begabter Erzähler, der die ohnehin interessante Handlung recht lebendig zu vermitteln versteht. Servatius aus Armenien führt ein heiligmäßiges Leben u. wird unter mirakulösen Werner Williams-Krapp / Red. Umständen Bischof von Tongeren. Doch wird er von den Bürgern vertrieben. In der EinOberdeutscher Totentanz, Basler Totensamkeit einer Kapelle bei Maastricht protanz, um 1445. – Vermutlich ältester phezeit er die Zerstörung von Tongeren deutscher Totentanz. durch die Hunnen. Er interveniert erfolglos beim hl. Petrus in Rom, um das Unheil ab- Der O. T. liegt in zahlreichen Handschriften zuwenden. Nach seinem Tod wird Tongeren u. Drucken vor. Fast alle spätmittelalterl. u. durch die Hunnen zerstört, der Bischofssitz frühneuzeitl. monumentalen Darstellungen kommt nach Maastricht. Die Gebeine des – darunter die um 1440 entstandene Malerei Servatius werden später durch Karl den Gro- auf der Mauer des Laienfriedhofs beim Basler ßen erhoben. Zahlreiche Wunder schließen Dominikanerkloster (auch Prediger Totentanz, die Erzählung ab. Ausgespart bleibt die in Großbasler Totentanz genannt) – existieren den dt. Legenden meist vorhandene höchst nicht mehr. Heute gilt das um 1443/47 von fabulöse Genealogie des Servatius, die ihn in Sigismund Gossembrot verfasste Manuskript direkter Verwandtschaft mit der Familie Jesu cpg 314 der UB Heidelberg (www.handsehen will. schriftencensus.de/4904) als ältestes Zeugnis. Der O. S. ist zweifellos einem adligen Pu- Der Text des Augsburger Humanisten beblikum zugedacht. Der Verfasser hat offenbar steht allerdings nur aus einer bußpredigtardas Rolandslied u. die Kaiserchronik gekannt, an tigen Einleitung sowie – ähnlich einem Vado die der Stil bisweilen erinnert; ob er aber auch mori – aus 24 Monologen todgeweihter StänVeldekes niederländ. Werk rezipierte, das devertreter in zweizeiligen lat. u. vierzeiligen
Obereit
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Literatur: Franz Egger: Basler Totentanz. Basel dt. Strophen, angeordnet vom Papst u. dem Kaiser bis hinab zum Kind, das tanzen soll, 1990, bes. Abb. S. 33. – Frank Hieronymus: 1488 obwohl es noch nicht laufen kann. Laien u. Petri – Schwabe 1988. Eine traditionsreiche Basler Kirchenleute treten nicht in separaten Grup- Offizin im Spiegel ihrer frühen Drucke. 2 Bde., Basel 1997, bes. S. 1632–1646. – Uli Wunderlich: pen an. Um Federzeichnungen u. Wechsel- Zwischen Kontinuität u. Innovation – Totentänze reden ergänzt wurde der Stoff in Gossem- in illustrierten Büchern der Neuzeit. In: ›Ihr müßt brots Vermahnung der Stände, Kodex clm 3941 alle nach meiner Pfeife tanzen‹. Totentänze vom der SB München (www.handschriftencen- 15. bis 20. Jh. Wiesb. 2000 (Ausstellungskat.e der sus.de/14952 bzw. www.fotomarburg.de). Herzog-August-Bibl., Nr. 77), S. 137–202. – Patrick Nur die Bilder dieses Dokuments u. ein 1596 Layet: Die bimediale Münchner Totentanzhandvon Hans Bock d.Ä. gezeichnetes Blatt legen schrift Xyl. 39. In: L’art macabre 1 (2000), S. 80–96. nahe, dass der Basler Totentanz ursprünglich – Christian Kiening: O. vierzeiliger T. In: VL (Nachträge u. Korrekturen) (Ausg.n u. Lit.). – ein Reigenaufzug war. Alle Drucke stellen – Christoph Mörgeli u. U. Wunderlich: Berner Towie auch diejenigen des Lübecker Totentanzes – tentänze. Düsseld. 2006, S. 17, 25 f. u. 42. Paare in hierarchischer Folge dar. Uli Wunderlich Für das älteste illustrierte Beispiel des O. T. hält die Mehrheit der Forscher das um 1455/ 58 in Basel entstandene, aus 25 vierzeiligen Obereit, Jakob Hermann, * 2.12.1725 ArDialogen u. einer abschließenden Predigt bon/Schweiz, † 2.2.1798 Jena. – Arzt, Albestehende Blockbuch cpg 438 der UB Hei- chimist, Philosoph. delberg (www.handschriftencensus.de/4945), Als Sohn eines Anhängers der Mystikerin dessen Holzschnitte im 16. Jh. in Wort u. Bild Madame Guyon stand O. von Jugend an im als Vorlage für die Wandmalerei in der österr. Banne theosophisch-pansophischer SpekulaMarktgemeinde Metnitz dienten. Von Motion. Seit 1750 als prakt. Arzt in Lindau niedernisierungen weit stärker verschont als dergelassen, fand er Anschluss an den BodWerke im städt. Raum, gibt der Zyklus Aufmer-Kreis u. befreundete sich mit Wieland. schluss über die ursprüngl. ZusammensetDie Suche nach dem Stein der Weisen zwang zung bzw. die Variabilität des Personals. So ihm im Alter ein ruheloses Wanderleben auf. verdeutlicht der Vergleich mit den Putzresten Seine besten Jahre erlebte er 1786–1791 als im Historischen Museum Basel, den Apiarius Hofphilosoph des Herzogs von Meiningen. zugeschriebenen Textausgaben von 1530 u. O.s letzte, durch äußerste Armut geprägte 1583, Huldrich Frölichs seit 1588 weit ver- Lebensphase war beherrscht von der Auseinbreiteten, mit Holzschnitten ausgestatteten andersetzung mit Kant u. Fichte. Büchern sowie den Kopien, die Emanuel BüBekannt wurde O. durch den Streit mit chel nach den Wandmalereien des seit 1524 Johann Georg Zimmermann über die Einaufgelösten Basler Dominikanerinnenklos- samkeit (Vertheidigung der Mystik und des Einters Klingenthal (Kleinbasel) anfertigte, dass siedlerlebens [...]. Ffm. 1775. Die Einsamkeit der es bis zu 40 u. mehr Ständevertreter erst ge- Weltüberwinder nach innern Gründen erwogen. gen 1600 gab, als überdies längst Hans Hol- Lpz. 1781). Zimmermanns Psychopathologie beins vom Geist der Reformation geprägte des Anachoretentums fand in O. ein exemTodesbilder die Inhalte beeinflussten. Die plarisches Opfer (Johann Georg Zimmervielfach reproduzierten auf Matthäus Merian mann: Ueber die Einsamkeit. 3. Tl., Lpz. 1785, zurückgehen Kupferstiche des 17. Jh. haben S. 1–93). Trotz der Ächtung durch die aufdemnach nur bedingt mit dem spätmittelal- klärerische Schwärmerkritik blieben O.s terl. O. T. zu tun. Sie sind jedoch verant- »Tiefdenkereien« nicht ganz ohne Wirkung, wortlich dafür, dass sich die Rezeptionsge- auch außerhalb christl. Mystikerkreise. Erst schichte – die sämtliche literar. Gattungen, jüngst hat man die Möglichkeit eines Einbildende Kunst, Film, Musik u. Tanz ein- flusses auf den jungen Schiller aufgezeigt. schließt – bis heute kaum mehr überblicken Ein bleibendes Verdienst um die dt. Literatur lässt. erwarb sich O. durch den Fund der Hand-
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schrift C des Nibelungenlieds auf Schloss Hohenems (1755). Weitere Werke: Urspr. Geistes- u. Körperzusammenhang nach Newtonischem Geist. Augsb. 1776. – Erz-Räthsel der Vernunft-Kritik u. der verzweifelten Metaphysik [...]. Meiningen 1789. – Beobachtungen über die Quelle der Metaphysik [...]; veranlaßt durch Kant’s Kritik der reinen Vernunft. Meiningen 1791. – Finale Vernunftskritik für das gerade Herz, zum Commentar Herrn M. Zwanziger’s über Kant’s Kritik der prakt. Vernunft [...]. Nürnb. 1796. Literatur: Friso Melzer: O.-Studien. In: ZfdPh 55 (1930), S. 209–230 (mit Bibliogr.). – Werner Milch: Die Einsamkeit. Zimmermann u. O. im Kampf um die Überwindung der Aufklärung. Frauenfeld/Lpz. 1937. – Hans-Jürgen Schings: Philosophie der Liebe u. Tragödie des Universalhasses. ›Die Räuber‹ im Kontext v. Schillers Jugendphilosophie (I). In: Jb. des Wiener GoetheVereins (1980/81), S. 71–95. – Werner Dobras: Leben u. Werk des Entdeckers der Nibelungen-Hs. J. H. O. In: Montfort 34 (1982), S. 154–162. – Carsten Behle: ›Allharmonie von Allkraft zum Allwohl‹. J. H. O. zwischen Aufklärung, Hermetimus u. Idealismus. In: Kunst u. Wiss. um 1800. Hg. Thomas Lange u. Harald Neumeyer. Würzb. 2000, S. 151–174. – Mark-Georg Dehrmann: Produktive Einsamkeit. Hann. 2002. – W. Dobras: Ein biogr. Versuch über J. H. O. [...]. In: Der Schwabenspiegel 6–7 (2007), S. 363–372. Wolfgang Riedel / Red.
Oberkofler, Joseph Georg, * 17.4.1889 St. Johann im Ahrntal/Südtirol, † 12.11.1962 Innsbruck; Grabstätte: ebd., Mühlauer Friedhof. – Erzähler, Lyriker. Aus einer kinderreichen Bauernfamilie stammend, besuchte O. das bischöfl. Seminar in Brixen u. studierte in Innsbruck Philosophie, Medizin u. Jura (Dr. jur. 1920 nach freiwilliger Kriegsteilnahme). Seine Existenz als Bauer im heimatl. Ahrntal gab er zugunsten einer Redakteurstätigkeit bei der Bozener Wochenschrift »Tiroler« auf; 1925 wechselte er nach Innsbruck ins Lektorat der Verlagsanstalt Tyrolia, eine Tätigkeit, die O. auch nach seinen großen Bucherfolgen der 1930er Jahre beibehielt. Im Werk O.s erreicht die Blut-und-BodenLiteratur Österreichs ihren Höhepunkt. Als »Deutscher und Genosse eines Grenzvolkes« schreibt er am Mythos der alten Tiroler Frei-
Oberkofler
bauerngeschlechter, in dessen Zentrum die »ewigen Gesetze des Blutes und der Rasse«, Gott u. die hl. »heimatliche Erde« stehen. Seine lyr. Debütarbeiten in den Innsbrucker Literaturzeitschriften »Der Föhn« u. »Der Brenner« 1911/12 (gesammelt in: Stimmen aus der Wüste. Innsbr. 1918) u. Gebein aller Dinge (Mchn. 1921) stehen hingegen noch im Zeichen religiösen Ringens. Die Wende brachte sein erster histor. Bauernroman Sebastian und Leidlieb (Innsbr. 1926), in dem er die »lebensgesetzliche« Polarität von Fremde u. Heimat beschwört. Als verhängnisvoller erwies sich das Konstruktionsprinzip seiner in einer markig-wuchtigen, dem Sagastil nachempfundenen Sprache erzählten heroischen Romane Das Stierhorn (Jena 1938; 1939 Volkspreis für Deutsche Dichtung) u. Der Bannwald (Jena 1939. Neuaufl. Wien 1953. 1963): Im Gewand der histor. Bauernwelt wird dem Leser jeweils die Bereitschaft zum tödl. Selbstopfer vorexerziert, immer unter Hinweis auf das »eherne« u. »ewige« Gesetz. Die Analogie zur polit. Gegenwart u. zu den Forderungen des Nationalsozialismus an die Untertanen verband sich hier zudem mit krassen rassist. u. völk. Vorstellungen, etwa im Entwurf des bäuerl. Herrenmenschen. Weitere Werke: Die Knappen v. Prettau. Regensb./Mchn. 1922. Brixen 2006 (E.). – Triumph der Heimat. Mchn. 1927 (L.). – Nikolausspiel. Bln. 1930. – Drei Herrgottsbuben. Innsbr. 1934 (E.en). – Nie stirbt das Land. Jena 1937 (L.). – Das rauhe Gesetz. Jena 1938 (E.). – Und meine Liebe, die nicht sterben will. Wien 1947 (L.). – Die Flachsbraut. Innsbr. 1949 (R.). – Verklärter Tag. Innsbr. 1950 (L.). – Wo die Mutter ging. Innsbr. 1960 (Erinnerungen). – Südtirol. Innsbr. 1962. – Gedichte u. Prosa. Ausgew. u. eingel. v. Erich Kofler. Bozen 1983. Literatur: Irene Harrasser-Maier-Böttcher: Literar. Expressionismus in Berührung mit bäuerl. Tradition – J. G. O.s Lyrik im ›Brenner‹. In: Untersuchungen zum ›Brenner‹. FS Ignaz Zangerle. Hg. Walter Methlagl u. a. Salzb. 1981, S. 193–200. – Elmar Oberkofler: J. G. O. Leben u. Werk. Brixen 1987. – Ders.: ›Sie hören meinen Ruf um die Heimat. Aber sie begreifen mich nicht‹: J. G. O., 1889–1989. In: Der Schlern 63 (1989), S. 155–59. – Johann Holzner: J. G. O. im Strom der tirol. Lit. 1918–45. In: Der Schlern 64 (1990), S. 474–479. – Anton Unterkircher: Eine späte ›Heimkehr‹. Zum
Oberleitner
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Nachl. v. J. G. O. In: Mitt.en aus dem Brenner-Archiv 22 (2004), S. 145–150.
[...]. Augsb. 21732. Nachdr. hg. u. eingel. v. Jürgen G. Sang. Hildesh. 1993.
Johannes Sachslehner / Red.
Literatur: Bernhard Zöpf: Gesch. der Pfarrei Obertaufkirchen. In: Oberbayer. Archiv für vaterländ. Gesch. 21 (1859–61), S. 277–284. – E. MoserRath: Geistl. Bauernregeln. In: Ztschr. für Volkskunde 55 (1959), S. 201–226. – Dies.: Predigtmärlein der Barockzeit. Bln. 1964, S. 396–411. – Dies.: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen [...]. Stgt. 1991, passim. – Dies.: Kleine Schr.en zur populären Lit. des Barock. Hg. Ulrich Marzolph u. a. Gött. 1994, Register. Elfriede Moser-Rath † / Red.
Oberleitner, Franz Anton, * um 1680 Salzburg, † 1741 Obertaufkirchen bei Schwindegg. – Prediger.
O. erscheint am 11.11.1689 in den Matrikeln der Salzburger Benediktiner-Universität, u. zwar unter den Prinzipisten, also der Unterstufe des der Hochschule angeschlossenen Gymnasiums; er zahlte die für Söhne von Kleinbürgern übl. Gebühr von 45 kr. Seine Laufbahn als Priester begann er, soweit ak- Oberlin, Johann Friedrich, * 31.8.1740 tenkundig, als Kooperator in der Pfarre Straßburg, † 1.6.1826 Waldersbach/ElFeichten bei Trostberg, einem Dörflein, in sass; Grabstätte: Fouday/Elsass. – Pastor dem der Geistliche neben einer kleinen u. Volkserzieher. Landwirtschaft auch den Bierausschank für Als Sohn einer angesehenen u. frommen Gedie Bauern betrieb. Wiederholte Gesuche lehrtenfamilie kam O. frühzeitig in Kontakt verschafften ihm 1714 eine Pfarrstelle in mit pietist. Erneuerungsbestrebungen. Unter Grünthal bei Wasserburg, die er 15 Jahre bis ihrem Einfluss verpflichtete er sich zu myst. zu seiner Versetzung nach Obertaufkirchen Herzensreligiosität, strenger Selbstdisziplin, innehatte. tätiger Nächstenliebe, vielseitigem Bildungs1733 erschien erstmals sein für einen fleiß u. geistl. Existenz (Erneuerung des Dorfpfarrer beachtl. Werk Simplicium leges, das Taufbundes, 1760). Dem Schulbesuch, weitist: Geistliche und unfehlbare Bauren-Reglen [...] verzweigten Studien an der Straßburger 2 (Augsb. 1748). Laut Titelblatt war es zum Universität (1756–1763) u. einer Hauslehrereinen als eine Sammlung von Predigtmustern tätigkeit (1763–1765) folgten das theolog. für Amtsbrüder gedacht, zum andern als Examen (1767) u. 1768 O.s Bestellung zum Hauspostille »für alle der Einsamkeit und Pastor des verarmten, infrastrukturell beLand-Leben Ergebne, Gelehrte und Ungenachteiligten und kulturell abgekapselten lehrte, darmit zu gelegenen Ruhe-Stunden Pfarrsprengels Waldersbach im Steintal/Vosich in Gott zu ergötzen [...]«. Auch als Stoff gesen. Gegen erhebl. Widerstände etablierte zum Vorlesen empfahl O. seine Diskurse der er sich dort als ökumenisch gesinnter Seelweitgehend analphabet. Landbevölkerung. sorger, als Reformer, Arzt u. Pharmazeut. Da er zeitlebens vor Bauern gepredigt hatte, O. formte die protestant. Enklave zur mitbefassen sich seine Texte v. a. mit deren Nöteleurop. Musterdomäne u. pietist. Idealgeten, Beschwernissen u. Lastern, bringen aber meinde um. Orientiert an pädagog. Gedanauch, der Zeittendenz entsprechend, ein Lob ken Rousseaus, Franckes u. Basedows, gründes Landlebens. Christoph Selhamers Tuba dete er die ersten Kleinkinderschulen Eurorustica u. Placidus Tallers Bauern-Prediger pas. Mühsam finanzierte Alphabetisierungsdürften, nach manchen Übereinstimmungen kampagnen u. der Ausbau des Schulwesens zu schließen, seine Vorbilder gewesen sein. schlossen sich an. Darüber hinaus sollten Eine reiche Auswahl lebendig erzählter, die Straßenbau, Entsumpfung, Abklärung stritLehre exemplifizierender Legenden, Fabeln tiger Wald- u. Weiderechte sowie Ansiedlung u. Schwänke sind durchwegs auf bäuerl. von Handwerks- u. Gewerbebetrieben der Thematik abgestellt. Strukturschwäche des Steintals abhelfen. Ausgaben: Textausw. in: Bayer. Bibl. Bd. 2, Neben Genossenschaftssparkasse u. »diakoS. 601–604, 885, 1120, 1279. – Simplicium leges nischem Hilfswerk« diente die Förderung weibl. Berufstätigkeit der sozialen Absiche-
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Obermüller
rung finanziell gefährdeter Gemeindemit- ›Lenz‹. In: Ed. v. autobiogr. Schr.en u. Zeugnissen zur Biogr. Hg. Jochen Golz. Tüb. 1995, S. 218–227. glieder. O. hat seine Predigttexte, Tagebuchauf- – Gesch. Piet. Bd. 2, S. 725–732 u. ö. – Hubert zeichnungen u. diversen Handlungsanlei- Gersch u. a.: Der Text, der (produktive) Unverstand des Abschreibers u. die Literaturgesch. J. F. O.s Ber. tungen nicht veröffentlicht. Praktische Er›Herr L...‹ u. die Textüberlieferung bis zu Georg folge haben ihn berühmt gemacht. Jung- Büchners Lenz-Entwurf. Tüb. 1998. – Davide GiuStilling u. Lavater priesen die Neuerungen riato: J. F. O. u. ›Herr L...‹. In: Mir ekelt vor diesem »Papa Oberlins« enthusiastisch, Zar Alexan- tintenklecksenden Säkulum. Hg. Martin Stingelin. der stellte ihm einen Schutzbrief aus (1814), Mchn. 2004, S. 86–102. – Eberhard Fritz: J. F. O. u. in Ohio/USA wurde eine Stadt seines Namens die pietist. Bewegung in Straßburg. In: PuN 34 gegründet (1833), u. zahllose O.-Gesellschaf- (2008), S. 167–188. Adrian Hummel / Red. ten mit pädagog. Zielsetzungen entstanden. Als literar. Gestalt figuriert O. in Friedrich Obermüller, Hermann, * 17.12.1946 ÖpLienhards »Roman aus der Revolutionszeit«, ping/Oberösterreich. – Mittelschullehrer, Oberlin (1910). Vor allem aber regte die Lek- Erzähler. türe von O.s Tagebuchbericht über den Besuch des Dichters Lenz im Waldersbacher Im kargen, nördl. Mühlviertel als Sohn eines Pfarrhaus (1778; dort mittlerweile ein mo- Kleinhäuslers geboren, war O. Bauernknecht, dernes O.-Museum) Georg Büchner zur Ab- dann Tischlerlehrling. Nachdem er die fassung seines gleichnamigen Novellenfrag- Abendschule mit der Matura abgeschlossen ments an (1835/36), wobei Büchner der Vor- hatte, studierte er Germanistik, Sport u. Völlage, durch andere Quellen vermittelt, große kerkunde in Wien. O. lebt heute als Mittelschullehrer in Wallern an der Trattnach/ Teile wörtlich entnahm. Oberösterreich. Weitere Werke: Ber.e eines Visionärs [...]. Das Mühlviertel mit seiner bäuerl. BevölMitgetheilt v. G. H. v. Schubert. Lpz. 1837. – Zion u. Jerusalem [...]. Stgt. 1841. – J. F. O.s [...] vollst. kerung u. seinen archaischen Strukturen ist Lebensgesch. u. ges. Schr.en. Hg. W. Burckhardt. das Thema des Erzählbands Ameisen (Linz Stgt. 1843. – Nichts ohne Gott. Worte v. J. F. O., 1979), dem O. mit einer knappen Prosa stiges. v. Wilhelm Steinhilber. Stgt. 1961. – Georg listisch zu entsprechen sucht, deren leidenBüchner: Lenz. Im Anhang [u. a.] J. F. O.s Bericht schaftslose Präzision an den »nouveau ro›Herr L...‹. Hg. Hubert Gersch. Stgt. 1986 (hier man« erinnert. Die Problematik des sozialen Weiteres zur Überlieferung). – Briefe: ›Lenzens Aufsteigers aus dem ländl. Milieu, ein in der Verrückung‹. Chronik u. Dokumente zu J. M. R. österr. Heimatliteratur der 1970er u. 1980er Lenz vom Herbst 1777 bis Frühjahr 1778. Hg. Jahre oft variiertes Thema, steht im MittelBurghard Dedner, Hubert Gersch u. Ariane Martin. punkt des Romans Ein verlorener Sohn (Köln Tüb. 1999 (Lit.!). 1982). Der Häuslersohn Jell gerät nach dem Literatur: Wilhelm Scheuermann: Ein Mann Medizinstudium u. einer gescheiterten Ehe mit Gott. Das Lebenswerk J. F. O.s Bln. 1937. – mit einer Beamtentochter ins soziale u. Wilhelm Heinsius: J. F. O. u. das Steintal. In: Alemann. Jb. 3 (1955), S. 278–393. – Erich Psczolla: J. emotionale Niemandsland u. begeht SelbstF. O. Gütersloh 1979. Frz.: Jean Frédéric O. Straßb. mord. Durch impressionist. Rückblenden 1985. – John W. Kurtz: J. F. O. Sein Leben u. Wir- entsteht das Porträt einer deklassierten Geken. Metzingen 1982. 32002 (Bibliogr.). Zuerst sellschaft, aus der ein Entkommen schwer engl. u. d. T. John Frederic O. Boulder 1976. – Mira möglich erscheint. Miladinovic´ : Georg Büchners ›Lenz‹ u. J. F. O.s O. wurde für sein literar. Schaffen mit Aufzeichnungen. Eine vergleichende Untersu- zahlreichen Preisen ausgezeichnet; er erhielt chung. Ffm. 1986. – J. F. O. Ou le divin ordre du u. a. den Theodor-Körner-Preis (1977) u. den monde. Exposition Strasbourg 1990. – Bernard Romanpreis des Landes Niederösterreich Kaempf: J. F.O. In: Gesch. der Seelsorge in Einzel(1981) sowie den Walter-Buchebner-Preis porträts. Hg. Christian Möller. Bd. 2, Gött. 1995, (1981). S. 357–370. – Eberhard Zwink: O. In: TRE. – Burghard Dedner: Der autobiogr. u. biogr. Text als literar. Quelle. O.s Ber. ›Herr L...‹ u. Büchners
Obernosterer Weiteres Werk: Amerikafahrt. Aufzeichnungen aus einer geteilten Welt. In: Rampe 1 (1989), S. 49–76 (Reisetgb.). Gerald Leitner / Red.
Obernosterer, Engelbert, * 28.12.1936 St. Lorenzen im Lesachtal/Kärnten. – ProsaAutor.
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Duktus der Dekonstruktion, sondern der Rekonstruktion. O.s literar. Schaffen wurde v. a. in Kärnten wahrgenommen; er erhielt u. a. den Würdigungspreis des Landes Kärnten für Literatur 2004. Weitere Werke: Verlandungen. Wien 1993. – Die Mäher u. die Grasausreißer. Klagenf. 2002. – Bodenproben. Klagenf. 2003. – Paolo Santonino. Ein Sittenbild in 5 Aufzügen. Klagenf. 2004.
O. wuchs als jüngstes von sieben Kindern auf einem Bauernhof im abgelegensten Kärntner Literatur: Witterungen. Materialien zu E. O. Bergtal an der Grenze nach Italien u. Osttirol auf. Er besuchte 1950–1956 das kath. Inter- Hg. Walter Fanta, Katharina Herzmansky u. David natsgymnasium Tanzenberg, entschied sich Pölzl. Klagenf. 2008. Walter Fanta gegen den Priesterberuf; nach abgebrochenem Germanistik- u. Geschichtsstudium in Oberrheinischer Revolutionär, * wohl Wien übte er 1965–1998 an Volks-, Haupt- u. 1438, † nicht vor 1510. – Anonymer VerMittelschulen seiner Heimatregion den fasser einer Reformschrift. Lehrberuf aus. In seinen bislang ca. 15 Buchpublikationen O. R. nannte Herman Haupt 1893 den bisher spielen die bäuerl. Herkunft, die Schule u. das nicht zweifelsfrei identifizierten Autor einer Leben in der kleinstädt. Provinz eine zentrale Reformschrift in elsäss. Mundart, die als Rolle. Im Erstling Ortsbestimmung (Wien 1975) Buchli der hundert capiteln in einer 1509/10 rückt O. den Mythen ländlicher Arbeit, Se- noch zu Lebzeiten des Verfassers entstandexualität, Tourismus u. kirchlichem Leben im nen Sammelhandschrift überliefert ist. Der Dorf zu Leibe u. dekonstruiert die Topografie Verfasser war offensichtlich Jurist. seines Heimattals in Verfahren, die an die Auf der Basis umfänglicher Literatur- u. Werke seiner Landsleute Gert Jonke u. Josef Quellenstudien entstand seit 1490 ein KonWinkler denken lassen u. O. gemeinsam mit zept, das der O. R. in Gestalt einer weltgeden erwähnten Autoren als Kärntner Vertre- schichtlich in Chiliaden angelegten u. astroter des Neuen Heimatromans ausweisen. Die logisch fundierten Denkschrift zur ReichsreLinie satir. Heimatdekonstruktion führt O. form auf dem Wormser Reichstag 1495 mit Der senkrechte Kilometer (Klagenf. 1980), überreichte, ohne Resonanz zu finden. Im Vom Ende der Steinklopfer (1998) sowie Grün. Anschluss an den Abschied des Freiburger Eine Verstrickung (Klagenf. 2001. 2006) fort. Reichstags von 1498 wandte er sich, ebenfalls Mit den Aporien des Lehrer- u. Schülerda- erfolglos, mit erweiterten u. kritischer geseins setzt sich die Sammlung von Kurzessays fassten Reformplänen an Maximilian I., die Der Zaun der Welt (Klagenf. 1988. Erw. Aufl. er dann bis 1509 zu bearbeiten fortfuhr. 1991) auseinander. Die Bewirtschaftung des Als Ursache aller Missstände erschienen Herrn R. (Klagenf. 1990) stellt den größer an- dem O. R. die fünf Sünden Ehebruch, Gotgelegten Versuch dar, Selbstentfremdung u. teslästerung, Wucher, Landfriedensbruch u. Erosion des Erzählbaren an einem namenlo- Habgier der Geistlichkeit, deren Beseitigung sen Kleinstadtbürger als Gegenmodell zum er zunächst von Maximilian (»mille maxiherkömml. Bildungs- u. Entwicklungsroman mus« in der achten u. letzten Chiliade) u. vorzuführen. Völlige Absage an die Fiktion, später von einem künftigen, mit apokalypstattdessen in sezierender Sprache vermittelte tisch-eschatolog. sowie stark national akzenEinzelbeobachtungen in aphorist. Miniatu- tuierten Erwartungen verbundenen Frieren kennzeichnen die späte Prosa O.s. Seinem denskaiser Friedrich aus dem Schwarzwald Herkunftstal u. seiner Kindheit u. Jugend erhoffte. Dieser sollte von einer Michaelsnähert er sich in Mythos Lesachtal (Klagenf. bruderschaft der frommen Eheleute im Zei2005. 2008) u. in der Autobiografie Nach chen des gelben Kreuzes unterstützt werden, Tanzenberg (Klagenf. 2007) nicht mehr im aus der der staatstragende neue Ritterstand
Oehlenschläger
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hervorgehen sollte. Unter dem Einfluss astrologischer Spekulation sah der O. R. zgl. einen sozial motivierten Aufstand des gemeinen Mannes voraus u. kündigte schließlich die Zerstörung des Reichs an; seine Reformforderungen – u. a. nach Gemeineigentum u. rechtl. Verbesserungen – ähneln denen des Bundschuh. Aus der Gruppe verwandter Reformschriften seiner Zeit kannte der O. R. die Reformatio Sigismundi; sein eigenes, im Alter zäh weiter verfolgtes Werk hat jedoch keine erkennbare Wirkung ausgeübt. Ausgaben: Annelore Franke (Hg.): Das Buch der hundert Kapitel u. der vierzig Statuten des sog. O. R. Histor. Analyse v. Gerhard Zschäbitz. Bln. 1967. – Klaus H. Lauterbach (Hg.): Der O. R. (Buchli der hundert Capiteln mit XXXX Statuten). Mchn. 2009. Literatur: Klaus Arnold: O. R. oder ›Elsässischer Anonymus‹? Zur Frage nach dem Verf. einer Reformschrift vom Vorabend des dt. Bauernkriegs. In: AKG 58 (1976), S. 410–431. – Klaus H. Lauterbach: Geschichtsverständnis, Zeitdidaxe u. Reformgedanke an der Wende zum 16. Jh. Freib. i. Br./Mchn. 1985. – Tilman Struve: O. R. In: VL (Lit.). u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Herbert A. Arnold: Time, History and Justice in the Book of 100 Chapters and 40 Statutes of the Revolutionary of the Upper Rhine. In: Fifteenth-Century Studies 23 (1997), S. 93–100. – K. H. Lauterbach: Sendgericht, Missetat u. Feme im Werk des sog. O. R. Mit einem Anhang zum Loskauf Gefangener. In: Ztschr. der Savigny-Stiftung für Rechtsgesch. GA 118 (2001), S. 185–221. – Tom Scott: Der O. R. u. Vorderösterr. Reformvorstellungen zwischen Reich u. Territorium. In: Außenseiter zwischen MA u. Neuzeit. FS Hans-Jürgen Goertz. Hg. Norbert Fischer u. Marion Kobolt-Groch. Amsterd. 1997, S. 47–63.
bütierte er in Ansbach. Mit verschiedenen Schauspieltruppen kam er über Dresden (1800) u. Leipzig schließlich 1807 an das Wiener Hofburgtheater, an dem er als Schauspieler u. ab 1818 als Regisseur bis zum Ende seiner Bühnenlaufbahn blieb. Seine wenigen eigenen Stücke hatten nur mäßigen Erfolg, seine Rolleninterpretationen aber, v. a. von Intriganten u. Schurken, machten ihn weit über Wien hinaus berühmt. Schiller etwa schätzte ihn als Charakterdarsteller; als Tragöde war er für Raimund Vorbild. Von hohem wiss. Wert waren O.s Arbeiten als Schmetterlingsforscher. Seine eigene u. die Sammlung des kaiserl. Naturalienkabinetts, die er lange betreute, bildeten die Grundlage für das Werk Die Schmetterlinge von Europa (4 Bde., Lpz. 1807–16), das nach seinem Tod von Georg Friedrich Treitschke (Bde. 5–10, Lpz. 1825–35) fortgesetzt wurde. Weitere Werke: Skizzen aus dem Menschenleben, oder Gesch. Johann Wendelin Ehrenbergs. 2 Bde., Ffm. 1790/91 (R.; an.). – Die Einquartierung. Mannh. 1794 (Schausp.). – Der Brautschatz. Dresden 1807 (Lustsp.; Pseud.). Literatur: Ferdinand Gleich: Aus der Bühnenwelt. Biogr. Skizzen u. Charakterbilder. Bd. 1, Lpz. 1866, S. 160. – Ludwig Eisenberg: Großes Biogr. Lexikon der dt. Bühne im 19. Jh. Lpz. 1903. – Joseph Anton Christ: Schauspielerleben. Ebenhausen/Mchn. o. J. [1912], S. 323 ff. – ÖBL. Wolfgang Griep / Red.
Odo von Magdeburg ! Herzog Ernst
Oehlenschläger, Øhlenslæger, Adam Gottlob, * 14.11.1779 Kopenhagen, † 20.1. 1850 Kopenhagen. – Lyriker, Epiker, Ochsenheimer, Ferdinand, auch: Theo- Dramatiker, Übersetzer. bald Unklar, * 17.3.1767 Mainz, † 2.11. Der Däne O. verkörpert eine Literatur, die bei 1822 Wien. – Dramatiker u. Schauspieler; durchaus nationalromant. Ausrichtung zgl. Schmetterlingsforscher. Sabine Schmolinsky / Red.
O. studierte in Mainz, promovierte zum Doktor der Philosophie u. erhielt eine Stelle als Hofmeister in Mannheim. Die Liebe zum Theater, die sich schon in seinen ersten dramat. Versuchen (Das Manuskript. Ffm. 1791) u. in seinen Reisebeschreibungen (Streifereien durch einige Gegenden Deutschlands. Lpz. 1795) deutlich zeigt, zog ihn zur Bühne: 1795 de-
weltoffene Züge trägt. Wesentlich beeinflusst von der dt. Literatur u. auch auf sie zurückwirkend, schrieb O. in dän. wie in dt. Sprache. O.s Vorfahren stammten aus dem dt.-dän. Grenzland, der Vater war Verwalter von Schloss Frederiksberg bei Kopenhagen. Im Gefühl, als »echter Musensohn« geboren zu sein, versuchte O. 1796 erfolglos eine Karriere am Theater; 1799 wandte er sich dem Studi-
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um der Jurisprudenz zu. Seine ersten Dichtungen sind noch ganz der nordisch-empfindsamen Tradition verpflichtet. Die entscheidende Wendung seiner literar. Entwicklung markiert die Begegnung mit Henrik Steffens, der ihn mit den Ideen der dt. Frühromantik u. einem romantisch vermittelten Goethe-Bild bekannt machte. Unter dem überwältigenden Eindruck ihres berühmten 16-stündigen Gesprächs im Sommer 1802, das O. wie eine »Bekehrung« erlebte, entstand das Gedicht Guldhornene, eines der bekanntesten der dän. Literatur: Der gerade geschehene Diebstahl der altnord. Goldhörner von Gallehus aus der Kopenhagener Kunstkammer wird verklärt zur Rücknahme eines myth. Zeichens, das die große Zeit der nordischen Götter gegenwärtig sein lässt u. das die modernen Menschen in ihrem Unverstand verwirken; allein die Poesie vermag die Gegenwart des Mythischen zu erfahren u. zu deuten u. darin nordische u. christl. Mythologie zu versöhnen. Das Gedicht erschien Ende 1802 in der am Vorbild von August Wilhelm Schlegels Gedichten orientierten Sammlung Digte (Kopenhagen 1803; daher auch Digte 1803), das als poetischer Grundstein der dän. Romantik gilt. Der mehrere Gattungen in universalpoetischer Absicht vereinende Band enthält neben Balladen u. Naturgedichten auch das romant. Erzählgedicht Hakon Jarls Død (Hakon Jarls Tod; über einen Stoff der altnord. Geschichte) u. die bis heute populäre Komödie Sanct Hansaften-Spil (Johannisabend-Spiel), die Elemente aus Shakespeares Sommernachtstraum mit witziger Zeitsatire u. romant. Naturphilosophie geistreich u. dramatisch wirkungsvoll verknüpft. Die Sammlung Poetiske Skrifter (Kopenhagen 1805) enthält im ersten Band mit der Romanze Langelands-Reisen (die zur Wiederentdeckung »unverbildeter« Ursprünglichkeit im eigenen Land beitrug) noch einmal einen hochromantisch-kühnen Versuch. Dagegen zeichnet sich in dem humorist. Spiel Freyas Alter (Freyas Altar) u. dem Gedichtzyklus Jesu Christi gientagne Liv i den aarlige Natur (Jesu Christi wiederholtes Leben in der jährlichen Natur; nach dem Vorbild von Novalis’ Geistlichen Liedern) eine formale Mäßigung ab, die O.s Entwicklung hin zu einem klass. Dichtungs-
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verständnis erkennen lässt. Der zweite Band stellt der nordisch-myth. Erzählung Waulundurs Saga (Wielandssage) das morgenländischheitere Schauspiel Aladdin, O.s dramat. Hauptwerk, gegenüber. Dieses von Goethes Faust, Tiecks Kaiser Octavianus u. 1001 Nacht angeregte Drama, das bedeutendste der dän. Literatur, verbindet auf virtuose u. komplexe Weise Elemente von Komödie u. Tragödie, Fantasie u. Realismus, Welttheater u. Künstlerdrama. Die Entwicklung des naivoptimist. Helden veranschaulicht die Ausbildung einer harmonisch geschlossenen Persönlichkeit durchaus im Sinne Goethes, dem das Stück gewidmet war. Die Begegnung mit ihm, Tieck, Schleiermacher, den Brüdern Schlegel, Madame de Staël u. anderen während O.s großer Bildungsreise durch Deutschland u. Frankreich 1805–1809 vergrößerte seine Distanz zu Steffens. In seinem am Ende dieser Reise entstandenen Erzählgedicht Der irrende Ritter, einer seiner ersten Dichtungen in dt. Sprache, reflektierte O. diesen Wandel, der in Nordiske Digte (Kopenhagen 1807) vollends zutage trat: im humorist. Epos Thors Reise til Jothunheim, im »mythologischen Trauerspiel« Baldur hin Gode (Baldur der Gute; geschrieben in Weimar u. Dresden), v. a. aber in der Tragödie Hakon Jarl hin Rige (Hakon Jarl der Mächtige). Sie entstand während O.s Aufenthalt bei Steffens in Halle, ist aber bereits ganz der Schiller’schen Dramatik verpflichtet u. begründet die dän. »Nationalromantik«, zu der O. sehr produktiv, aber mit nachlassender Erneuerungskraft beitrug. Gleichwohl bestimmen auch O.s spätere Geschichtsdramen wie Axel og Valborg (1810), Hagbarth og Signe (1815) u. Dina (1842) die skandinav. Theatergeschichte bis zu Ibsen u. Strindberg. Das während einer Romreise entstandene Künstlerdrama Correggio (Kopenhagen 1809), das bekannteste der zunächst in dt. Sprache geschriebenen Werke, behandelt verschlüsselt O.s problemat. Verhältnis zu Goethe. Ab 1809 beamtet als Professor für Ästhetik an der Kopenhagener Universität, verkörperte O. nun zunehmend den bürgerlich gebildeten Dichterfürsten des biedermeierlich geprägten »Guldalder« der dän. Literatur. Selbst die jahrelangen Anfeindungen durch
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Jens Immanuel Baggesen (seit 1813) vermochten diese Stellung nicht zu erschüttern, die auch auf seiner großen u. bis zum Ende des 19. Jh. anhaltenden Wirkung im dt. Sprachraum beruhte. Durch seine Übersetzungen zeitgenössischer dt. Literatur ins Dänische (u. a. Goethes Götz von Berlichingen, Hermann und Dorothea, Reineke Fuchs, Tiecks Gesammelte Werke, Novellen u. Märchen von Grimm, Runge, Fouqué, Kleist, Tieck u. a.) u. dänischer Literatur ins Deutsche (u. a. Ludvig Holberg u. Johan Herman Wessel) wurde er zu einem wichtigen Vermittler zwischen skandinavischer u. dt. Literatur. Die Aufnahme in den Orden Pour le Mérite 1844 ehrt den Dramatiker in der Nachfolge Schillers u. den wirksamen Vermittler. O.s 1850/51 in vier Bänden in Kopenhagen zgl. dänisch u. deutsch erschienenen Lebenserinnerungen geben ein anschaul. Bild der Epoche, zu deren wichtigsten Repräsentanten O. gehörte. Ausgaben: Dänisch: Poetiske Skrifter. Hg. F. L. Liebenberg. 32 Bde., Kopenhagen 1857–62. – Poetiske skrifter i udvalg. Hg. Helge Topsøe-Jensen. 5 Bde., Kopenhagen 1926–30. – Deutsch: Schr.en. Ausg. letzter Hand. 18 Bde., Breslau 1829/30. – Werke. 21 Bde., Breslau 21839. Literatur: Bibliografien: Aage Jørgensen: O.-litteraturen 1850–1966. Kopenhagen 1966. Suppl. 1971. – Ders.: O.-litteraturen 1967–79. Kopenhagen 1979. – Weitere Titel: Alvhild Dvergsdal: A. O.s tragediekunst. Kopenhagen 1997. – Andreas Blödorn: Zwischen den Sprachen. Modelle transkultureller Lit. bei Christian Levin Sander u. A. O. Gött. 2004. Heinrich Detering / Heinrich Anz
Oehring, Richard, * 16.6.1891 Düsseldorf, † Mai 1940 Holland (Freitod). – Lyriker, Erzähler, Essayist. O., der Sohn eines protestant. Oberpostdirektors, besuchte in Berlin das Luisenstädtische Gymnasium; ein Klassenkamerad war Alfred Lichtenstein. Nach einem Studienaufenthalt in München wandte sich O. der schriftstellerischen u. journalist. Arbeit zu. In Berlin knüpfte er Kontakt zum literaturrevolutionären Zirkel um Franz Pfemferts »Aktion«, in der er 1912 erste Gedichte veröffentlichte. Mit den Freunden Franz Jung u. Otto Groß gab er 1915 bis 1917 die expressionist. Zeitschrift »Freie Straße« heraus.
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Themenbestimmend für O.s literar. Werk waren die Verzweiflung u. Sehnsucht des modernen Menschen sowie psychologische u. sozialpolit. Fragen, die er in essayistischer Form behandelte. 1922 ging O. in die Sowjetunion, für die er später in Berlin in der Handelsvertretung arbeitete. 1933 verließ er Deutschland u. war in Holland in der sowjet. Vertretung tätig. Beim Einmarsch der dt. Truppen im Mai 1940 nahm er sich das Leben. Seine Dichtungen veröffentlichte O. lediglich in Zeitschriften. Eine erste Sammlung seines literar. Werks erschien 1988 (Straßen fließen steinern in den Tag. Hg. u. mit einem Nachw. v. Hartmut Vollmer. Siegen). Weitere Werke: Die Organisation des modernen Fabrikbetriebes. Bln. 1920. – Sowjethandel u. Dumpingfrage. Bln. 1931. Literatur: Ludwig Kunz: Propheten, Philosophen, Parteigründer – Eine Erinnerung an R. O. u. seinen Kreis. In: ABNG 6 (1977), S. 119–128. – Cläre Jung: Paradiesvögel. Erinnerungen. Hbg. 1987. – Michael Matzigkeit: R. O. In: Lit. v. nebenan 1900–45. Hg. Bernd Kortländer. Bielef. 1995, S. 257–262. Hartmut Vollmer
Oekolampad, Johannes, eigentl.: J. Hausschein, Huszgen, Husschen, * 1482 Weinsberg bei Heilbronn, † 24.11.1531 Basel; Grabstätte: ebd., Kreuzgang des Münsters. – Humanist u. Reformator. O.s Vater war ein wohlhabender Kaufmann, seine Mutter stammte aus dem Basler Geschlecht der Pfister. Nach Schulbesuch in Weinsberg u. Heilbronn immatrikulierte O. sich 17-jährig in Heidelberg (dort erster Kontakt mit Wimpfelings Reformhumanismus). Nach Erwerb des Magisters artium im Okt. 1503 studierte er kurz Jura in Bologna, nahm aber bald in Heidelberg ein Theologiestudium auf. Daneben betrieb er intensive humanist. Studien, die v. a. dem Erwerb der drei hl. Bibelsprachen u. der Kenntnis der frühchristl. Literaturen dienten. Ab seiner Priesterweihe 1510 versorgte er die ihm von seiner Familie u. der Stadt Weinsberg gestiftete Prädikatur. Er lernte Reuchlin, Melanchthon u. Capito kennen, durch dessen Vermittlung er 1515 eine Einladung Bischof
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Christophs von Utenheim nach Basel erhielt. Neben wiss. Korrektorarbeit bei Froben brachte er sein Theologiestudium zu Ende (1515 Baccalaureat, Okt. 1516 Lizentiat, Sept. 1518 Doktorat). Mitverursacht durch die frühe Reformation, gestaltete sich seine Berufsfindung unruhig: Er bemühte sich noch weiterhin darum, das Predigtamt in seiner Heimatstadt wahrzunehmen. Durch Vermittlung Capitos wurde er aber bereits im März 1518 erneut nach Basel ans Münster, nun als Pönitentiar, berufen. Noch 1518 folgte er einem Ruf nach Augsburg als Domprediger. Dort geriet er umgehend in die Auseinandersetzung um die »Causa Lutheri«, namentlich mit Johannes Eck. Um seine Position zu klären, zog er sich im April 1520 in das Birgittenkloster Altomünster zurück. Als Ergebnis kann man sein Judicium de Martino Luthero (Augsb. 1521) u. eine erste Kritik an der Sakramentslehre, Quod non sit onerosa Christianis Confessio Paradoxon (Augsb.), ansehen. Er verließ das Kloster fluchtartig im Jan. 1522: Über Mainz u. Heidelberg kam er für einige Monate auf die Ebernburg des Franz von Sickingen, wo sich auch Hutten u. Capito aufhielten. Kurz vor der Katastrophe Sickingens zog er nach Basel, wo er im Haus des Buchdruckers Cratander vorläufig Unterkunft u. Beschäftigung fand. In die Rolle des Basler Reformators wuchs O. nach u. nach hinein. Im Frühjahr 1523 begann er an der Universität in lat. u. dt. Sprache die Propheten auszulegen u. nahm bald provisorisch an St. Martin eine Prädikatur wahr. Erste aufsehenerregende Schritte waren seine öffentl. Disputationen im Aug. 1523 über »die wahre evangelische Lehre« u. im Febr. 1524 »über den Zölibat«. Sie fanden gegen erheblichen altkirchl. Widerstand vor einem breiten Publikum in Deutsch statt. Anders als der frz. Glaubensflüchtling Guillaume Farel konnte sich der gemäßigtere O. dank der starken Rückendeckung bei den Zünften u. einem Teil des Rats in der Stadt halten. Kritischer wurde seine Lage mit dem durch Karlstadt u. die Wiedertäufer verschärften Sakramentsstreit. O. vertrat eindeutig die figürl. Deutung der Einsetzungworte u. näherte sich damit, in Basel bes. heikel, Zwingli stark an.
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Karlstadt erhielt in Basel Lehr- u. Druckverbot. O.s Rechtfertigungsschrift De genuina verborum Domini: Hoc est corpus meum [...] expositio (Straßb. 1525) löste in Basel eine Krise der Reformbewegung aus. Der Rat erließ ein Druckverbot; schärfere Maßnahmen unterblieben trotz der Ausweitung des Streits (u. a. Disput auf der Schweizer Tagsatzung im Mai 1526), da Zürich auf striktem Reformkurs blieb u. das mächtige Bern mehr u. mehr zur Reformation tendierte. Eine starke Fraktion im großen Rat Basels schützte O., sodass er nun sogar eine neue Gottesdienstordnung u. ein neues, dt. Gesangbuch durchzusetzen vermochte. Die Durchführung der Reformation in Bern aufgrund von Religionsgesprächen unter Teilnahme O.s u. Zwinglis wirkte dann entscheidend auf Basel. Im Dez. 1528 forderte eine von O. verfasste Petition der Prediger die Abschaffung der Messe. Am 9.2.1529 verpflichtete sich der Rat nach heftigen Unruhen zur Einführung der Reformation u. trat in das Eidbündnis der reformierten Kantone ein. Darauf verließen etliche der kath. Repräsentanten die Stadt, darunter, zu O.s Bedauern, viele Universitätsprofessoren – u. auch Erasmus. O. wurde erster Münsterpfarrer u. »Antistes« (Vorsteher) der Basler Geistlichkeit. Er heiratete im März 1528. Aus O.s Feder stammt die Basler Reformationsordnung u. das Ausschreiben zur Visitation des Kirchen- u. Schulwesens. Seine Bemühungen, die Universität wiederzubeleben, hatten begrenzten Erfolg: Er selbst begann in seinem letzten Lebensjahr wieder zu lesen u. vermochte Simon Grynaeus, Paul Phrygius u. Sebastian Münster nach Basel zu holen. Auch in der Konstitution eines Konsistoriums als unabhängiges kirchl. Leitungsgremium setzte sich O. nicht gegen die Stadt durch. Keinen Erfolg brachten die Einigungsbemühungen von O. u. Bucer zwischen Zwingli u. Luther im Marburger Religionsgespräch 1529. Tätig wurde O. mit Rat u. Tat bei der Reformation verschiedener schwäb. Städte. Nach dem Tod Zwinglis galt er als berufener Nachfolger, lehnte aber am 1.11.1531 den Ruf ab; er starb wenige Wochen später 49jährig. Seine Witwe Wibrandis Rosenblatt
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heiratete später die Reformatoren Capito u. Bucer. Ernst Staehelins Bibliografie der Schriften O.s umfasst 238 Nummern, wovon 175 zur Lebenszeit O.s erschienen sind. Die frühen Schriften bis etwa 1518/19 sind meist Beiträge zu humanist. Werken; auch die späteren, v. a. homilet. u. reformerischen Schriften bleiben deutlich Werke des humanistisch gebildeten Theologen. O.s erste spektakuläre Leistung, die ihm die Hochschätzung des Erasmus u. der gelehrten Mitwelt sicherte, ist seine Mitarbeit an den großen Ausgaben des Novum Testamentum u. des Hieronymus, welche Erasmus bei Froben in Basel herausgab (Nachwort von O. im Novum Instrumentum von 1516 u. 1519; Hieronymus-Index von 1518). Eine erste Sammlung lat. Übersetzungen griech. Vätertexte brachte Froben 1518 heraus. Ab 1519 treten dann deutlich Kommentare u. Übersetzungen aus den Hl. Schriften u. den griech. Kirchenvätern hervor. Es dominieren Predigten des Chrysostomos. Zu »aktuellen« Themen werden Auszüge aus den Kirchenvätern auch ins Deutsche übertragen – so aus Basilius’ Vom geistlichen Regiment. Außer seinen Anmerkungen zum Römerbrief u. verschiedenen Ausdeutungen der Einsetzungsworte hat O. sich bes. um die Propheten bemüht, die er kommentierend ins Lateinische übertrug, dann ins Deutsche übersetzen ließ – so den Malachias von Ludwig Hätzer (Basel: Wolf 1526). Spielen schon die patristischen oder bibl. Texte als Predigtvorlagen oder -muster eine große Rolle, so nehmen Texte in literar. Predigtform im Werk O.s eine zentrale Stellung ein. Wie üblich, hat O. seine Predigten zwar deutsch gehalten, aber lateinisch ausgearbeitet publiziert. Es galt offenbar als durchaus prestigehaltig, solche O.-Texte auch für die dt. Reformöffentlichkeit zu publizieren: Georg Spalatin, Johannes Dieboldt, Caspar Hedio besorgten dt. Ausgaben von – zum Teil den Vätern folgenden – Predigten O.s. Ab Mitte der 1520er Jahre ließ O. auch eigene dt. Fassungen publizieren; allerdings näherte sich deren Form mehr u. mehr der reformatorischen Bekenntnisschrift. Die wichtigste Rolle in O.s Werk spielen formal vielfältige Texte zur Kirchenreforma-
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tion, beginnend mit dem Judicium de Martino Luthero, das umgehend acht Druckausgaben im Jahr 1521 erfuhr, u. Briefstellungnahmen zu verschiedenen Reformthemen. In der frühen Reformation sind die Adressaten dieser Texte v. a. maßvolle Reformer. Auffällig viele Schriften aus seiner Augsburger u. Altomünster Zeit sind Bernhard Adelmann von Adelmannsfelden gewidmet. Mit der Verschärfung der öffentl. Auseinandersetzung um die Sakraments- u. Messfrage treten theolog. Streitschriften oder Protokolle von Disputationen, Kolloquien, Religionsgesprächen, aber auch gedruckte Gutachten, Stellungnahmen oder Ratschläge in den Vordergrund. Diese zeigen O. als führenden Theologen u. Prediger der Basler Reformation, kaum jedoch als ihren polit. Führer. Den Schwerpunkt bilden die Auseinandersetzungen mit anderen Reformatoren, so um die Deutung der Einsetzungsworte mit Luther, Melanchthon, den schwäb. Theologen, namentlich Billican. Daneben haben die Kontroversen mit den Täufern u. Schwärmern einen bes. Stellenwert – namentlich Von der widertaufe gegen Balthasar Hubmeier (1527) u. ein Brief gegen Schwenckfelds De cursu verbi Dei (1527). Weitere Werke: De risu paschali. Basel: Cratander 1518. – Dragmata graecae literaturae. Ebd. 1518 u. ö. – De non habendo pauperum. Ebd. 1523. Dt. v. Konrad Peutinger u. d. T. Vom Almosengeben. Ebd. 1524. – Übersetzer: Theophylact: Narrationes evangelicae. Basel 1524. – Cyrill v. Alexandrien: Opera. Ebd. 1528. – Chrysostomus: Opera omnia. Ebd.: Froben 1530. Ausgaben: Internet-Ed. etlicher Schr.en in: The Digital Library of Classic Protestant Texts (http:// solomon.tcpt.alexanderstreet.com). Literatur: Ernst Staehelin: Die Väterübers.en des O.s. In: Schweizer Theolog. Ztschr. 33 (1916), S. 57–91. – Briefe u. Akten zum Leben O.s. Bd. 1 u. 2, bearb. v. E. Staehelin. Lpz. 1927 u. 1934. – Ders.: Erasmus u. O. in ihrem Ringen um die Kirche Jesu Christi. In: Gedenkschr. zum 400. Todestag des Erasmus v. Rotterdam. Basel 1936, S. 166–182. – Ders.: Das theolog. Lebenswerk J. O.s. Lpz. 1939. – O.-Bibliogr. Bearb. v. E. Staehelin. Nieuwkoop 2 1963 (mit den Nachträgen). – A. Demura: Church Discipline according to J. O. in the Setting of his Life and Thought. Diss. masch. Princeton 1964. – Oecolampadiana (Nachträge). Hg. E. Staehelin. In:
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Basler Ztschr. für Gesch. u. Altertumskunde 65 (1965), S. 165–194. – Hans Guggisberg: J. O. In: Gestalten der Kirchengesch. Hg. Martin Greschat. Bd. 5, Mchn. 1981, S. 117–128. – K. Hammer: O.s Reformationsprogramm. In: Theolog. Ztschr. 37 (1981), S. 149–163. – Hans-Joachim Köhler: Bibliogr. der Flugschriften des 16. Jh. Bd. I/2, Tüb. 1992, S. 134 f.; Bd. I/3 (1996), S. 174–200. – Walter Troxler: O. In: Bautz. – Ulrich Gäbler: O. In: TRE. – Thomas Kaufmann: Reformatoren. Gött. 1998, S. 43–45. – Olaf Kuhr: Die Macht des Bannes u. der Buße: Kirchenzucht u. Erneuerung der Kirche bei J. O. Bern u. a. 1999. – Wolfram Kinzig: O.s Übers. der Schrift ›Contra Iulianum‹ des Kyrill v. Alexandrien. In: Relationen. FS Karl-Heinz zur Mühlen. Hg. Athina Lexutt u. Wolfgang Matz. Münster 2000, S. 154–187. – Ilse Tobias: Die Beichte in den Flugschr.en der frühen Reformationszeit. Ffm. u. a. 2002, S. 110–123. – Dagmar Drüll: Heidelberger Gelehrtenlexikon 1386–1651. Bln. 2002, S. 420 f. – Martin H. Jung : O. In: RGG, 4. Aufl. – Jaumann Hdb. – J. O.: Von der Austeilung des Almosens, Basel (1523). In: Die Entstehung einer sozialen Ordnung Europas. Hg. Theodor Strohm u. Michael Klein. Bd. 1, Heidelb. 2004, S. 237–255. Heinz Holeczek
Oelfken, Tami, eigentl.: Marie Wilhelmine O., auch: Gina Teelen, * 25.6.1888 Blumenthal/Bremen, † 7.4.1957 München. – Roman- u. Kinderbuchautorin, Novellistin, Lyrikerin. Nach dem Besuch der Mädchenoberschule in Vegesack u. des Lehrerseminars in Bremen mit dem Abschluss des Staatsexamens 1908 arbeitete O. bis 1918 als Lehrerin. Sie stand zeitweise in enger Verbindung mit Heinrich Vogeler u. dem Worpsweder Künstlerbund (»Barkenhoff«-Kreis), von dem ihr späteres literar. Werk stark beeinflusst ist. 1918 trat sie in den »Spartakus«-Bund ein, 1920 kämpfte sie mit den Linken in Gotha gegen den Kapp-Putsch. In den 1920er Jahren war sie zunächst Referentin für das Mädchenschulwesen in Thüringen, später an Reformschulen in Hellerau (dort lernte sie Alexander Sutherland Neill kennen) u. Berlin tätig u. publizierte in verschiedenen pädagog. Zeitschriften u. Sammelwerken (u. a. Grundschulversuche in dem von Paul Oestreich hg. Band Bausteine zur neuen Schule. Mchn. 1923). 1928 gründete sie, unter dem Einfluss sozialisti-
scher u. reformpädagog. Ideen, eine elternmitbestimmte fortschrittl. Gemeinschaftsschule in Berlin-Lichterfelde, die 1934 von den Nationalsozialisten geschlossen wurde. 1936 emigrierte O. nach London, dann nach Paris u. Südfrankreich, kehrte aber 1939 nach Deutschland zurück u. arbeitete u. a. als Redakteurin in einem Berliner Verlag. Fortan lebte die gehbehinderte Autorin unter wechselnden Adressen in Berlin in bescheidenen u. – zumal nach dem Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer 1942 – zeitweise bedrückenden Verhältnissen, unter Beobachtung der Gestapo. 1943 zog sie an den Bodensee nach Überlingen u. wohnte dort bis wenige Monate vor ihrem Tod. O. veröffentlichte, nach überwiegend unpubliziert gebliebenen Gedichten u. Erzählungen u. einem Roman, zunächst die Kinderbücher Nickelmann erlebt Berlin (Potsdam 1931), eine Darstellung des Großstadtlebens »für Kinder und deren Freunde«, sowie Peter kann zaubern (Stgt. u. a. 1932). Ab Mitte der 1930er Jahre verfasste sie mehrere Romane sowie Novellen u. Gedichte, von denen die Mehrzahl erst nach 1945 erscheinen konnte. Die Romane Tine (Bln. 1940. Neuausg. u. d. T. Maddo Clüver. Konturen einer Kinderlandschaft. Wedel/Holstein 1947. Düsseld. 1956. Dülmen-Hiddingsel 1988) u. Die Persianermütze (Breslau 1942. Neuausg. u. d. T. Traum am Morgen. Gütersloh 1950) wurden von der NSZensur (der erste, ein zivilisations- u. gesellschaftskritischer Roman über die Industrialisierung der Unterweser-Region, wegen »propolnischer« Darstellung) verboten. Beide Romane sind einfühlsame Fiktionalisierungen von Kindheits- u. Jugenderinnerungen O.s. Hauptwerk O.s ist der Tagebuchbericht Fahrt durch das Chaos. Logbuch von Mai 1939 bis Mai 1945 (Überlingen 1946. U. d. T. Das Logbuch. Wedel/Holstein 1948. Untertitel: Ein Logbuch aus Zeiten des Kriegs. Lengwil 2003), der instruktive Einblicke in das Schriftstellerleben unter den spezif. Bedingungen der NSDiktatur aus dem Blickwinkel einer undogmat. Sozialistin gewährt. Ihren polit. Überzeugungen u. ihrem Pazifismus blieb die Individualistin auch in den ersten Nachkriegsjahren u. in der Bundesrepublik Deutschland
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treu. Anfang der 1950er Jahre wurde sie wegen der Zusammenarbeit mit DDR-Schriftstellern in der Öffentlichkeit angegriffen u. denunziert (v. a. von Paul Hühnerfeld in »DIE ZEIT«): Der Verleger J. Witsch (Kiepenheuer & Witsch), der ihre Werke publizieren wollte, distanzierte sich daraufhin von der Autorin, ihre Bücher erschienen, sieht man von der bei Bertelsmann erschienenen Novelle Stine Löh (Gütersloh 1953. Hörsp. 1961. Fernsehsp. 1962) ab, in den folgenden Jahren abseits des westdt. Literaturbetriebs in der DDR u. im Düsseldorfer Verlag Progreß von Johann Fladung. Weitere Werke: Matten fängt den Fisch. Ein Märchenspiel nach einer Volkssage. Bln. 1940. – Die Sonnenuhr. Überlingen 1946. Wedel/Holstein 1947 (N.n). – Zauber der Artemis. Wedel/Holstein 1947 (L.). – Die Kuckucksspucke. Wedel/Holstein 1948 (R.). – Traum am Orgen. Gütersloh 1950 (R., Hans Reisiger gewidmet). – Die Penaten. Eine tröstl. Hauspostille. Düsseld. o. J. – Noch ist es Zeit. Briefe nach Bremen 1945–55. Hg., Einl. u. Anhang v. Ursel Habermann. Dülmen-Hiddingsel/Ffm. 1988. Literatur: Kurt Heilmann: T. O., kleiner Wegweiser 1888–1957. Leben u. Werk der Blumenthaler Schriftstellerin. Bremen 1988 (Dokumentation). – Ursel Habermann: ›Das Gewohnte und das Feste will ich lassen...‹. Annäherung an eine vergessene Dichterin. In: Allmende, H. 28/29 (1991), S. 166–188. – Manfred Bosch: Bohème am Bodensee. Literar. Leben am See v. 1900 bis 1950. Lengwil 1997, S. 193–197. Wilhelm Haefs
Ören, Aras, * 1.11.1939 Istanbul. – Lyriker u. Erzähler. Ö. war 1959–1969 als Schauspieler u. Dramaturg an mehreren Theatern seiner Heimatstadt tätig. Während dieser Zeit erschienen seine ersten türk. Gedichtbände, u. er nahm Kontakte zu Theatern u. türk. Kulturinitiativen in der Bundesrepublik auf. 1969 übersiedelte er nach Westberlin, wo er zunächst als Gelegenheitsarbeiter tätig war. Seit 1974 war er Redakteur, seit 1996 Leiter in der türk. Redaktion des Senders Freies Berlin (SFB). Seit 1970 erscheinen seine in türk. Sprache geschriebenen Texte, die sich mit dem Leben in Deutschland auseinandersetzen, meist zuerst in dt. Übersetzung (die
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späteren Romane erscheinen allerdings zuerst auf türkisch). So wurde Ö. zum Wegbereiter u. Exponenten der Literatur ausländ. Autoren in Deutschland. 1985 erhielt er darum als erster Autor den Adelbert-von-Chamisso-Preis. Seine Stellung in der dt. Literatur begründete Ö. mit seiner Berlin-Trilogie Was will Niyazi in der Naunynstraße, Der kurze Traum aus Kagithane u. Die Fremde ist auch ein Haus (Bln. 1973, 1974, 1979), die er als »Poem« bezeichnete. Sie zeigen ein soziales Gefüge – das Berlin der Kreuzberger Naunynstraße mit Deutschen, Türken u. anderen Ausländern – als Modell für das mühsame, oft missglückende u. dann doch wieder hoffnungsvolle Zusammenleben von Menschen aus verschiedenen Kulturen, den langsamen Prozess der Entwicklung zu einer multikulturellen Gesellschaft. Dies ist auch ein Prozess polit. Bewusstwerdung bei den Bewohnern der Naunynstraße. In Ö.s weiteren Werken, etwa in den Erzählungen Manege (Düsseld. 1983) u. Paradies kaputt (Mchn. 1986), treten immer häufiger Tagträume auf, Visionen von einer sich neu entwickelnden Welt multikultureller Wirklichkeit. Seine sechs Romane, von 1983 bis 1993 entstanden, sind zunächst in der Türkei, dann nach u. nach (bis auf einen) in dt. Übersetzung erschienen. Sie bilden zwar keinen Romanzyklus, sondern sind thematisch sehr verschieden ausgerichtet, aber sie sind verbunden durch den allen gemeinsamen Untertitel Auf der Suche nach der Gegenwart. Dieser Gegenwart wird nicht an einem Einzelschicksal nachgespürt, sondern in einem Geflecht von Beziehungen, Situationen mit ihrem sozialen Hintergrund, aus einem Strudel von Erinnerungen, Tagträumen u. Fantasien. Sie ergeben ein facettenreiches Bild der türk. Migranten in Berlin, aber das zentrale Anliegen bleibt die Identitätssuche zwischen Fantasie u. Wirklichkeit. Die gesuchte Gegenwart kristallisiert sich aus aus Erinnerungen, Realitätsbildern u. Fantasiegebilden. Die Zeitebenen wechseln u. fließen, oft schwer unterscheidbar, ineinander: »Ich glaube, wir haben in Berlin innerhalb der gegenwärtigen sowohl die vergangene als
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auch die zukünftige Zeit gelebt.« (Unerwarteter Besuch, S. 378). Weitere Werke (Auswahl, alle aus dem Türkischen übersetzt): Disteln für Blumen. Bln. 1970. (L.). – Der Hinterhof. U-Bahn. Bln. 1972 (E.en). – Privatexil. Bln. 1974 (L.). – Dtschld., ein türk. Märchen. Düsseld. 1978 (G.e). – Alte Märchen neu erzählt. Stgt. 1979. – Mitten in der Odyssee. Düsseld. 1980 (L.). – Bitte nix Polizei. Düsseld. 1981 (E.). – Der Gastkonsument. Bln. 1982 (E.en). – Das Wrack. Second-hand-Bilder. Ffm. 1986 (L.). – Gefühllosigkeiten – Reisen v. Berlin nach Berlin. Ffm. 1986 (L.). – Dazwischen. Ffm. 1987 (L.). – Eine verspätete Abrechnung oder der Aufstieg der Gündog˘dus (Auf der Suche nach der Gegenwart I). Ffm. 1988 (R.). – Berlin Savignyplatz (Suche V). Bln. 1995 (R.). – Unerwarteter Besuch (Suche VI). Bln. 1997 (R.). – Granatapfelblüte (Suche II). Bln. 1998 (R.). – Sehnsucht nach Hollywood (Suche IV). Bln. 1999 (R.). Literatur: Monika Frederking: A. Ö.: Berlintrilogie. In: Dies.: Schreiben gegen Vorurteile. Lit. türk. Migranten in der Bundesrepublik Dtschld. Bln. 1985, S. 57–81. – Yüksel Pazarkaya: Über A. Ö. In: Chamissos Enkel. Hg. Heinz Friedrich. Mchn. 1986, S. 19–21. – Irmgard Ackermann: Ali Itırs Wandlungen. A. Ö.s Romanheld zwischen Wirklichkeit u. Phantasie. In: Interkulturelle Konfigurationen. Zur deutschsprachigen Erzähllit. v. Autoren nichtdt. Herkunft. Hg. Mary Howard. Mchn. 1997, S. 17–30. – Ulrich Hohoff u. I. Ackermann: A. Ö. In: KLG. – B.Venkat Mani: Phantom of the ›Gastarbeiterliteratur‹. A. Ö.s ›Berlin Savignyplatz‹. In: Migration u. Interkulturalität in neueren literar. Texten. Hg. Aglaia Blioumi. Mchn. 2002, S. 112–129. – Anke Bosse: A. Ö. In: LGL. Irmgard Ackermann
Oertel, Friedrich von, auch: Theophilus Speck, * 1764 Leipzig, † 27.10.1807 Leipzig. – Erzähler u. Übersetzer. O. studierte in Jena, Erlangen u. Leipzig Jura u. Theologie. Danach lebte er in Erfurt, Weimar, später in Leipzig als Schriftsteller u. Privatgelehrter. Er publizierte neben eigenen Werken zahlreiche Übersetzungen frz. u. engl. Romane sowie kleinere Beiträge in Wielands »Neuem Teutschen Merkur« (1795. 1798) u. der »Leipziger Monatsschrift für Damen« (1794). O.s dem gelegentlich bizarren Erzählstil Jean Pauls verpflichteter Roman Denkwürdigkeiten des ehemaligen Nachtwächters Robert zu
Zwäzen [...]. Ein Opus posthumum des [...] Theophilus Speck (2 Bde., Schneeberg 1794/95) spiegelt die auch literar. Verehrung seines berühmten Wunsiedeler Freundes, den er, u. a. in einer Replik auf eine Rezension Friedrich Schlegels (Ueber Jean Paul Richter. Herrn Friedrich Schlegel gewidmet. In: Neuer Teutscher Merkur, Okt. 1798, S. 174–178), gegen Angriffe der Kritik verteidigte. Sein Briefwechsel mit Jean Paul informiert nicht nur über die wechselhaften (erot.) Schicksale seines Intimus, sondern gewährt auch Einblicke in den Entstehungsprozess von dessen Werken u. literaturtheoret. Reflexionen. Obwohl Jean Paul O.s Rhapsodien über das Gute, Schöne und Wahre [...] (Lpz. 1792) u. seinen Roman Karl Flor. Mq. de Fleurange (2 Bde., Lpz. 1791) sehr positiv würdigte (Brief vom 1.10.1796), konnte sich O. nie zu einem eigenen Stil durchringen. Seine späteren Werke tragen epigonenhafte Züge, wie z. B. das den Voß’schen Idyllen verpflichtete Gedicht Diethelm (Lpz. 1800). Weitere Werke: Gesch. meiner Kinder- u. Jünglingsjahre. 2 Bde., Halle 1788. – Kilbur oder Beitr. zur Gesch. des sittl. Ganges menschl. Natur. 2 Bde., Lpz. 1790/91. – Sie an Ihn. Eine Reihe v. Originalbriefen. Lpz. 1791. – Ueber Humanität. Ein Gegenstück zu des Präsidenten v. Kotzebues Werk vom Adel. Lpz. 1793. – Der Mönch. Aus dem Engl. 3 Bde., Lpz. 1797/98. – Erzählungen aus Canterbury v. Henriette Lee. 2 Bde., Lpz. 1798, 1810. – Victor oder Der Sohn des Waldes. Nach dem Frz. des Ducray-Duminil. 2 Bde., Lpz. 1798. – Das Schloß Ankerwick. Ein Sittengemälde nach der Natur. Nach dem Engl. der Mrs. Crofts. 2 Bde., Lpz. 1801. – Letzter Wettkampf der beiden Miß Lee. Aus dem Engl. Lpz. 1801. – Der Nachtbesuch. Nach dem Engl. der Marie Roche. 3 Bde., Lpz. 1802. – Ormond, oder Der geheime Zeuge. Frei aus dem Engl. nach Godwin. Lpz. 1802. – Pauline v. Ferrière Faverolle, oder Das geraubte Mädchen. Nach dem Frz. Lpz. 1802. – Abenteuer Joh. Andrews u. seines Freundes Abr. Adams, v. Fielding. Aus dem Engl. 2 Bde., Meißen 1802. – Ethelwina, oder Das Fräulein v. Westmoreland. Aus dem Engl. 2 Bde., Lpz. 1803. – Spinalba, oder die Offenbarungen aus dem Rosenkreuzer-Orden. Aus dem Frz. des RegnaultWarin. 2 Bde., Lpz. 1804. Literatur: Ernst Förster: Denkwürdigkeiten aus dem Leben v. Jean Paul F. Richter. Bd. 1, Mchn. 1863, S. 321 ff. – Carl Massinger: Drei Freunde Jean Pauls. In: Jean-Paul-Kalender 2 (1929), S. 44–48. –
Oesterle
681 Eduard Berend: Jean-Paul-Bibliogr. Bln. 1925. Neudr. hg. v. Johannes Krogoll. Stgt. 1963. Andreas Meier / Red.
Salget: E.en für das Volk. Evang. Pfarrer als Volksschriftsteller im Dtschld. des 19. Jh. Bln. 1984. – Christina Niem: W. O. v. Horn. In: Rheinischwestfäl. Ztschr. für Volkskunde 44 (1999), S. 143–154. Ulrike Leuschner / Red.
Oertel, (Philipp Friedrich) Wilhelm, auch: W. O. von Horn, Friedrich Wilhelm Lips, * 15.8.1798 Horn bei Simmern/Hunsrück, Oesterle, Kurt, * 17.5.1955 Oberrot/Ba† 14.10.1867 Wiesbaden; Grabstätte: den-Württemberg. – Essayist, Verfasser ebd., Alter Friedhof. – Volksschriftsteller. von Reportagen u. Literaturkritik, ProsaAutor. Der protestant. Pfarrerssohn O. wuchs ab 1804 in Bacharach/Rhein u. Umgebung auf. Während des Theologiestudiums in Heidelberg 1815–1819 lernte er Jean Paul u. JungStilling kennen. In seinem Heimatdorf Manubach wurde er 1820 Pfarrverwalter, 1822 Pfarrer. 1835–1863 war er Pfarrer u. Superintendent (bis 1848 auch Schulinspektor) in Sobernheim/Nahe. Aus histor. Aufsätzen zu lokalen Forschungsgegenständen entwickelten sich O.s erste Erzählungen in enger Bindung an seine Heimatlandschaften Hunsrück u. Rheintal: Heimatliebe verbindet sich mit gefühlvoller Religiosität u. einem in Franzosenhass ausartenden Nationalismus. Seine christlichkonservativ belehrenden Erzählungen – säkulare Predigten – kleidete O. meist in Liebeshandlungen (deren Sinnlichkeit prüderen Zeitgenossen oft zu weit ging) oder wählte die eingängige Anekdotenform. O.s Volkskalender »Die Spinnstube« (Ffm. 1845–70), den Ludwig Richter 1849–1860 illustrierte, fand weite Verbreitung u. festigte O.s bes. in seiner Heimat bis heute andauernden Ruhm als Volksschriftsteller. Um sein karges Gehalt aufzubessern, entfaltete er eine ausufernde Produktivität, der die Qualität – neben Heimatgeschichten auch Exotisches – oft nicht standhielt. O. war Beiträger verschiedener Zeitschriften, u. a. der »Gartenlaube«.
Weitere Werke: Sämmtl. historisch-romant. E.en u. Gesch.n. 3 Bde., Ffm. 1833/34. – Friedel. Darmst. 1845 (E.). – Horn’sche Volks- u. Jugendbibl. 77 Bde., Wiesb. 1853–68. – Die Maje. Monatsztschr. Wiesb. 1858 ff. (8 Jahrgänge). – Der Rhein. Gesch.n u. Sagen seiner Burgen, Abteien, Klöster u. Städte. Wiesb. 1867. Neudr. Eltville 1978. Literatur: Hugo Oertel: W. O. v. Horn. Wiesb. 1868. – Walter Diener: W. O. v. Horn als Heimat- u. Volksschriftsteller. Bonn 1916. – Klaus Müller-
O. wuchs in einer agrarisch-handwerklich geprägten Region Württembergs auf. In Tübingen studierte er Germanistik, Geschichte u. Philosophie u. promovierte dort 1989 bei Walter Jens mit einer Arbeit über Peter Weiss’ Die Ästhetik des Widerstands. Seit 1988 verfasst O. Essays, Reportagen u. Literaturkritiken für das »Schwäbische Tagblatt« u. die »Süddeutsche Zeitung«. Dazu veröffentlicht er Gedichtinterpretationen für die »Frankfurter Anthologie« der FAZ. 1998 erhielt O. den Theodor-Wolff-Preis für seinen Essay Die heimliche deutsche Hymne über Ludwig Uhlands Lied Der gute Kamerad. Die Darstellung von medien- u. mentalitätsgeschichtl. Umbrüchen in Verbindung mit einem genauen, an der Reportage orientierten Stil sind bestimmend für O.s Schreiben. Der Debütroman Der Fernsehgast oder Wie ich lernte die Welt zu sehen (Tüb. 2002. 52004) wurde von der Kritik wohlwollend aufgenommen. Darin wird, aus kindl. Perspektive, vom Einbruch des Fernsehens in ein Dorf der 1960er Jahre erzählt. Die Aufmerksamkeit der Darstellung richtet sich dabei sowohl auf den Fernseher als Signum der Modernisierung als auch auf traditionelle, teils archaisch anmutende Lebensformen. In der viel beachteten literar. Reportage Stammheim (Tüb. 2003) beschreibt O., basierend auf Gesprächsprotokollen mit dem Vollzugsbeamten Horst Bubeck, die Haftbedingungen der ersten Generation der RAF-Terroristen. 2007 nahm O., mit einem Auszug aus dem noch unveröffentlichten Roman Wunschbruder, am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teil. Weitere Werke: Reportage/Essay: Nordwand u. Todeskurve. Zwei Gesch.n aus dem dt. Nachkriegssport. Schorndorf 1995. – Richard Gölz. Ein
Österreicher Wankheimer Licht im dt. Dunkel. Tüb. 1998. – Beim Tod der Eltern. Tüb. 2005. Daniel Lutz
Österreicher, Heinrich, † 18.4.1505. – Kanonist u. Übersetzer.
682 Raum durch eine Landwirtschaftslehre. Columellas Werk ›De re rustica‹ in der Übers. des H. Ö. In: ›Ir sult sprechen willekomen‹. FS Helmut Birkhan. Hg. Christa Tuczay u. a. Bern u. a. 1998, S. 521–538. Sabine Schmolinsky / Red.
Ö. war Mönch im schwäb. Prämonstraten- Österreichischer Bibelübersetzer. – serstift Schussenried sowie seit 1466 »rector« Autor von Prosawerken, erste Hälfte des an verschiedenen Pfarrkirchen; 1467–1480 14. Jh. studierte er kanonisches Recht in Heidelberg. 1480 wurde er zum Abt seines Klosters ge- Bergeler hat 1937 mit einer reich bezeugten wählt. Er war vielfach in Rechtsangelegen- kommentierten Psalmenübersetzung, die in heiten tätig u. wurde 1498 von seinem Orden der ältesten vollständig erhaltenen Handzum Generalvisitator der schwäb. Zirkarie schrift vom Jahre 1372 Heinrich von Mügeln bestellt; Friedrich III. ernannte ihn zum kai- zugeschrieben wird, mehrere anonym überlieferte Texte als »dt. Bibelwerk Heinrichs serl. Rat. Ö. galt als hochgelehrt u. literarisch aktiv. von Mügeln« zusammengeführt u. dem Erhalten ist nur eine 1491 abgeschlossene Corpus 1944 einige Traktate hinzugefügt. Übertragung eines bekannten röm. Fach- Die Zuweisung an Mügeln muss für das werks über die Landwirtschaft aus dem 1. Jh. ganze Corpus aufgegeben werden, die Zuv. Chr.: De re rustica sowie Liber de arboribus des weisung an ei ne n Autor jedoch hat Bestand. L. Iunius Moderatus Columella. In zwölf Der Anonymus hat den Notnamen »Ö. B.« Büchern wird ein Abriss des »purischen ge- erhalten. In der Geschichte der dt. Bibel vor schäffts« gegeben, der Fragen der Ansied- Luther nimmt er wegen des sprachl. Rangs u. lung, des Ackerbaus, der Anlage von Obst- u. der frühen programmat. Äußerungen über – bes. ausführlich – Weingärten, der Vieh- den Anspruch der Laien auf die Hl. Schrift in zucht u. Tierhaltung, der Imkerei, des Gar- der Volkssprache eine herausragende Position tenbaus u. der Verarbeitung der Nahrungs- ein. Der Ö. B. dürfte in den Jahrzehnten um mittel behandelt. 1330 – etwa eine Generation vor Mügeln – im Von Fehlern u. kleinen Veränderungen Herzogtum Österreich tätig gewesen sein. Er abgesehen, übersetzte Ö. den Prosatext in ein dem Lateinischen angepasstes Deutsch, wie es war selbst Laie, »sei es in der Welt oder im den Stilprinzipien des Niklas von Wyle ent- Kloster« (Knapp 1999); als Laien, der weder sprach; das elfte, in Hexametern verfasste geweiht u. zu predigen befugt sei noch Hohe Buch ließ er allerdings aus. Sein Werk ist die Schulen besucht habe, bezeichnet er sich deerste dt. Version Columellas u. entstand im zidiert im Prolog zum Evangelienwerk u. in Auftrag des lebhaft an den Wissenschaften den dt. u. lat. Verteidigungsschriften u. ininteressierten Grafen Eberhard V. im Bart von sistiert darauf, dass es Laien nicht verboten Württemberg, der als Erster in Deutschland sei, die Bibel »zu schreiben oder zu lesen«, in größerem Umfang antike Autoren über- was nach seinem Verständnis Übersetzen u. setzen ließ. Es ist in einer illuminierten Kommentieren einschließt. Wo konkret u. zu Handschrift aus der Zeit seiner Entstehung welchem Zweck der Ö. B. die gründl. Ausbildung genossen hat, die ihn befähigte, sein überliefert. Werk – mit Hilfe des Hl. Geistes u. UnterAusgabe: L. Junius Moderatus Columella: De re stützung gelehrter Berater – zu schaffen, wer rustica. Übers. durch H. Ö., Abt v. Schussenried. die Anreger u. Förderer waren, die er erHg. Karl Löffler. 2 Bde., Tüb. 1914. wähnt, bleibt offen. Dass er nicht nur lat. Literatur: Hubert Kohler (Hg.): Bad Schussenried. Gesch. einer oberschwäb. Klosterstadt. Sig- Werke benutzte, sondern auch mit dt. geistl. maringen 1983, passim. – Jürgen Glocker: Ö. In: VL Dichtung vertraut war, geht u. a. aus der (Lit.) u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Christa Verwendung der Kindheit Jesu Konrads von Baufeld: Antikerezeption im deutschsprachigen Fußesbrunnen u. von Christi Hort Gundackers
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von Judenburg sowie aus der Nennung Wolframs von Eschenbach, Konrads von Würzburg u. Frauenlobs hervor. Hauptziel des Ö. B. ist es, häretischen Bestrebungen in seiner Umgebung entgegenzuwirken, indem er lateinunkundigen Laien die Hl. Schrift in ihrer Sprache zugänglich macht u. durch die beigegebene Kommentierung Hörer u. Leser vor ketzer. Missverständnissen bewahrt. In bewusstem Gegensatz zu zeitgenöss. Ketzern bezieht der Ö. B. Apokryphen u. Legenden in sein Werk ein, meidet es allerdings, sie mit dem bibl. Wortlaut zu vermischen. Breiten Raum beansprucht in Kommentaren, Verteidigungsschriften u. Traktaten Polemik gegen Ketzer, ›falsche Christen‹, gegen hochmütige Theologen, Anhänger der heidn. Philosophie u. gegen die Juden, die das richtige Verständnis der Hl. Schrift verweigerten u., statt in Christus den geweissagten Messias zu erkennen, immer noch auf sein Kommen hofften. Bergelers Schriften-Corpus ist 1991 u. 2004 erweitert worden; ein Neufund wird unten angeführt; mit zusätzl. Funden ist zu rechnen. Nach derzeitigem Kenntnisstand umfasst das Œuvre des Ö. B. folgende Texte: Schlierbacher Altes Testament mit Daniel, Genesis, Exodus, Tobias, Hiob, teils raffend u. auszugsweise übersetzt, nicht durchgehend kommentiert, u. die Vorreden I u. II, Reaktionen auf wiederholte Anfeindungen, denen der Ö. B. sich nach dem Evangelienwerk ausgesetzt sah (3 Hss.; Tobias, Hiob, die Vorreden I u. II auch separat bzw. in anderem Kontext überliefert). In der ältesten Handschrift ist die aufschlussreiche lat. Verteidigungsschrift vorgeschaltet. – Psalmenkommentar, dt. Psalter mit kürzender Übertragung der Postilla litteralis des Nikolaus von Lyra OFM († 1349) u. eigenen Zusätzen samt Vorrede C, sekundär verkürzt zu Vorrede A, diese im Zuge einer Bearbeitung erweitert zu Vorrede B (etwa 65 Hss. u. Fragmente, 2 frühe Drucke). – Proverbia u. Ecclesiastes, mit Kommentar (2 Hss., 1 Fragment). – (Klosterneuburger) Evangelienwerk, abschnittsweise Übertragung u. Kommentierung der vier eigenständig harmonisierten Evangelien mit eingefügten alttestamentl. Weissagungen (kommentierte Psalmen- u. Prophetenverse), fort-
Österreichischer Bibelübersetzer
geführt über Pfingsten hinaus bis zur Rächung von Christi Tod durch die Zerstörung Jerusalems, ergänzt um apokryphe u. legendarische Berichte (u. a. Kindheitswunder, Nikodemusevangelium, Marienklagen, PilatusVeronika-Legende), Erstfassung (7 Hss. u. Fragmente, Exzerpte in 11 Hss.) u. Bearbeitung (7 Hss. u. Fragmente, 2 Exzerpte). Hierzu stellt sich neu ein auf Maria konzentriertes Supplement (2 Hss.). – Thematisch geordnete, kommentierte Auszüge aus Proverbia, Ecclesiastes, Sapientia u. Jesus Sirach (1 Hs., 1 Fragment; dazu 1 Hs. mit doppelt so umfangreichem Text in Princeton); eingebettet sind mehrere Traktate, die teilweise auf dem lat. Sammelwerk des Passauer Anonymus über Juden, den Antichrist u. Ketzer (um 1260/66) fußen. – Zwei Adversus-Judaeos-Traktate sind mit der Erstfassung des Evangelienwerks überliefert (je 2 Hss.). – Dem Büchlein vom Antichrist (4 Hss.), in dem der Ö. B. ebenfalls den Passauer Anonymus heranzieht, ist zweimal das Büchlein vom Jüngsten Gericht beigesellt. Die zerklüftete Überlieferung des Bibel- u. Traktate-Werks setzt im 2. Viertel des 14. Jh. ein, reicht bis ins 16. Jh. u. im Falle des Psalmenkommentars weit über Österreich hinaus. Sie spiegelt ganz unterschiedl. Interessen. Selten erscheinen Teile des Œuvre in einem Codex vereint, z.B. in der ältesten Handschrift des Schlierbacher Alten Testaments. Vom Evangelienwerk u. vom Psalmenkommentar sind Abschriften mit kunsthistorisch bedeutsamem Schmuck aus dem 14. u. 15. Jh. erhalten. Traktate des Ö. B. hat Michel Beheim seinem Liederzyklus Nr. 227–234 u., wie bereits vermutet (Niesner 2004), den Liedern Nr. 235 u. 236 zugrunde gelegt. Ausgaben (Auswahl): ›Schlierbacher AT‹ mit den Vorreden I u. II: Hg. Freimut Löser u. Klaus Wolf (in Vorb.); Vorreden I u. II: Löser/Stöllinger-Löser 1989 (s. Lit.), S. 280–313 (mit Komm.); Hiob: Hans Vollmer: Materialien zur Bibelgesch. u. religiösen Volkskunde II, 2. Bln. 1927, S. 823–837. – Psalmenkommentar, Vorreden A, B, C: Ratcliffe (s. Lit.), S. 49–59; Drucke der Bearb. mit Vorrede B: [Straßb., ca. 1478]: http://daten.digitale-sammlungen.de/db/0003/bsb00034535/images/; Worms 1504: http://daten.digitale-sammlungen.de/db/ bsb00003994/images/. – ›(Klosterneuburger) Evangeli-
Ötenbacher Schwesternbuch enwerk‹, Auszüge: Das ›Evangelium Nicodemi‹ in spätmittelalterl. dt. Prosa. Hg. Achim Masser u. Max Siller. Heidelb. 1987, S. 396–444 (Fassung H); älteste Hs. der Bearb. (Schaffhausen, Stadtbibl., Gen. 8): http://www.e-codices.unifr.ch/en. – Die drei Adversus-Judaeos-Traktate: Niesner 2005 (s. Lit.), S. 463–555 (mit dem Text der lat. Quellen). – Ketzertraktat, erster Teil: Löser/Stöllinger-Löser 2004 (s. Lit.), S. 145–149. – Vom Antichrist. Hg. PaulGerhard Völker. Mchn. 1970. Literatur: Alfred Bergeler: Das dt. Bibelwerk Heinrichs v. Mügeln. Diss. Bln. 1937. – Ders.: Kleine Schr.en Heinrichs v. Mügeln im Cod. Vind. 2846. In: ZfdA 80 (1944), S. 177–184. – Karl Ernst Geith: Eine Quelle zu Gundackers v. Judenburg ›Christi Hort‹. In: ZfdA 97 (1968), S. 57–68. – F. W. Ratcliffe: Die Psalmenübers. Heinrichs v. Mügeln. In: ZfdPh 84 (1965), S. 46–76. – Alexander Patschovsky: Der Passauer Anonymus. Stgt. 1968, S. 13–15. – Kurt Gärtner: ›Klosterneuburger Evangelienwerk‹. In: VL (Lit.). – Freimut Löser u. Christine Stöllinger-Löser: Verteidigung der Laienbibel. Zwei programmat. Vorreden des ö. B. der ersten Hälfte des 14. Jh. In: Überlieferungsgeschichtl. Ed.en u. Studien zur dt. Lit. des MA. FS Kurt Ruh. Hg. Konrad Kunze u. a. Tüb. 1989, S. 245–313. – Gisela Kornrumpf: Das ›Klosterneuburger Evangelienwerk‹. In: Dt. Bibelübers.en des MA. Hg. Heimo Reinitzer. Bern 1991, S. 115–131, 168–171. – F. Löser: Ein zweiter Textzeuge der ›Schlierbacher Bibel‹. Zur Laienmissionierung des 14. Jh. in Österr. Ebd. S. 132–154. – K. Gärtner: Die erste dt. Bibel? In: Wissenslit. im MA u. in der Frühen Neuzeit. Hg. Horst Brunner u. a. Wiesb. 1993, S. 273–295. – Werner J. Hoffmann: The ›Gospel of Nicodemus‹ in High German Literature of the Middle Ages. In: The Medieval ›Gospel of Nicodemus‹. Hg. Zbigniew Izydorczyk. Tempe, Arizona 1997, S. 287–336, bes. S. 295, 306–308. – Fritz Peter Knapp: Die Lit. des SpätMA in den Ländern Österr. [...]. I. Halbbd., Graz 1999, S. 215–233, 516 f.; II. Halbbd., Graz 2004, S. 47–56, 650. – F. Löser: Dt. Bibelübers.en im 14. Jh. Zwölf Fragen. In: JOWG 12 (2000), S. 311–323. – Bettina Mattig-Krampe: Das Pilatusbild in der dt. Bibel- u. Legendenepik des MA. Heidelb. 2001. – G. Kornrumpf: Ö. B. In: VL 11 (Lit.). – F. Löser: Heinrich v. Mügeln u. der Psalmenkomm. des ›Ö. B.‹. In: Magister et amicus. FS K. Gärtner. Hg. Václav Bok u. a. Wien 2003, S. 689–707. – Johannes Janota: Gesch. der dt. Lit. [...]. Bd. III,1: Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit (1280/ 90–1380/90), Tüb. 2004, bes. S. 457–460. – G. Kornrumpf: ›Nova et vetera‹. Zum Bibelwerk des österr. Laien der ersten Hälfte des 14. Jh. In: Me-
684 tamorphosen der Bibel. Hg. Ralf Plate u. a. Bern 2004, S. 103–121. – F. Löser u. Ch. Stöllinger-Löser: Das Fragment eines Ketzertraktats im Kloster Tepl [...]. Ein Beitr. zum Werk des Ö. B. In: Dt.böhm. Literaturbeziehungen. FS V. Bok. Hg. HansJoachim Behr u. a. Hbg. 2004, S. 134–157. – Manuela Niesner: Die ›Contra-Judaeos-Lieder‹ des Michel Beheim. Zur Rezeption [...] des Ö. B. im 15. Jh. In: PBB 126 (2004), S. 398–424. – Dies.: ›Wer mit juden well disputiren‹. Deutschsprachige Adversus-Judaeos-Lit. des 14. Jh. Tüb. 2005 (grundlegend auch zum ›Evangelienwerk‹). – Alison L. Beringer: Before the Betrayal: The Life of Judas in a Vernacular Fourteenth-Century Austrian Manuscript. In: Between the Picture and the Word. Hg. Colum Hourihane. Princeton 2005, S. 151–160, Abb. 213–231. – Dies.: Word and Image in the ›Klosterneuburger Evangelienwerk‹. Diss. Princeton 2006. – Dies.: Imaginatio, Bilder u. Texte: Die Marienklagen im ›Klosterneuburger Evangelienwerk‹ der Stadtbibl. Schaffhausen. In: Imagination u. Deixis. Hg. Kathryn Starkey u. a. Stgt. 2007, S. 141–151. – Dies.: Speaking the Gospels: The Visual Program in Schaffhausen, Stadtbibl., Gen. 8. In: JEGPh 107 (2008), S. 1–24. – Elisabeth Meyer: Klosterneuburger Evangelienwerk (um 1330). In: Literar. Performativität. Hg. Cornelia Herberichs u. a. Zürich 2008, S. 240–256. – Martin Roland: ›Klosterneuburger Evangelienwerk‹. In: Kat. der deutschsprachigen illustrierten Hss. des MA. Bd. 4/ 1, Lfg. 1/2, Mchn. 2008, S. 121–155, Tafel VIIIb-XI, Abb. 61–71. – Karin Schneider: Got. Schriften in dt. Sprache. II: Die oberdt. Schriften v. 1300 bis 1350, Wiesb. 2009, S. 96–99. – Klaus Wolf: ›Propter utilitatem populi [...]‹. Die ›staatstragende‹ Rezeption der ›Summa de vitiis‹ des Guilelmus Peraldus in der spätmittelalterl. Wiener Schule. In: Laster im MA. Hg. Christoph Flüeler u. a. Bln./New York 2009, S. 187–199, bes. S. 197 ff. – G. Kornrumpf: Ein Suppl. des Ö. B. zu seinem ›Evangelienwerk‹ (in Vorb.). Gisela Kornrumpf
Ötenbacher Schwesternbuch. – Chronik u. Schwesternviten des Dominikanerinnenklosters Ötenbach in Zürich, 14./ 15. Jh. Das Ö. S. gehört zur Gattung der Viten- u. Offenbarungsliteratur des 14. Jh., die in literarisch produktiven Dominikanerinnenkonventen des süddeutsch-oberrhein. Raums entstanden war. Es besteht aus zwei Teilen: dem sog. Stiftungsbuch, das über die Gründung u. Geschichte des Klosters bis etwa 1286
Ötenbacher Schwesternbuch
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berichtet, u. den Beschreibungen des religiösen Lebens vorbildlicher Schwestern des Konvents, vornehmlich ihrer göttl. Offenbarungen u. Gnadenerfahrungen. Wie die meisten anderen erhaltenen Schwesternbücher ist es anonym überliefert u. nicht das Werk einer einzelnen Autorin. Kennzeichnend ist seine komplexe, stufenweise Entstehung, beginnend mit einer in Ötenbach wohl um die Mitte des 14. Jh. entstandenen Fassung, in die bereits ältere Texte aus dem 13. Jh., Aufzeichnungen von den Anfängen des Klosters u. ursprünglich selbständige Viten, Eingang fanden. Bis hin zu seiner heute vorliegenden, um die Mitte des 15. Jh. entstandenen Gestalt wurde das Werk von mehreren Schwesterngenerationen unter der Beteiligung ihrer Seelsorger schrittweise überarbeitet u. erweitert. Als letzte hinzugefügt wurden die umfangreichen Viten der Elsbeth von Oye, Adelheit von Freiburg u. Margarethe Stülinger, von denen die beiden ersten als eigenständige Büchlein existierten, bevor sie ins Schwesternbuch Aufnahme fanden. Seine überlieferte Form erhielt das Ö. S. um 1450 durch den Zürcher Dominikaner Johannes Meyer (1422–1485), der einen Prolog voranstellte, die Vita der Margarethe Stülinger verfasste u. möglicherweise auch sonst das Werk im Geist der dominikan. Reformbestrebungen des 15. Jh. redigierte, bevor er es in seine Sammlung von Schwesternleben u. Chroniken der Klöster Töß, St. Katharinental (Dießenhofen) u. St. Michael in der Insel (Bern) aufnahm. Von dieser Sammlung existiert heute eine einzige, auf zwei Bände verteilte Abschrift, die um 1460 im Nürnberger Dominikanerinnenkloster St. Katharina entstanden war. Die Bandgrenze verläuft dabei mitten durch das Ö. S. Die beiden Bände, u. damit auch die beiden Teile des Ö. S., wurden im 16. Jh. getrennt u. befinden sich heute in Bibliotheken in Nürnberg u. Wroclaw (Breslau). Besondere Beachtung unter den Schwesternleben des Ö. S. verdient dasjenige der Elsbeth von Oye (um 1289–1339), das kurz nach ihrem Tod von einem anonymen Dominikaner verfasst wurde. Nach eigenen Aussagen hat er die ihm in mehreren Büchlein vorliegenden Offenbarungen der Or/
densschwester unter weitgehender Beibehaltung des Wortlauts thematisch neu geordnet u. zu einer Vita umgeformt; seine Hauptquelle, eine einzigartige autografe Handschrift Elsbeths, ist erhalten u. belegt die konservative Bearbeitung des Redaktors. Zentrales Thema der Vita ist der körperl. u. seel. Nachvollzug des Leidens Christi mit dem Ziel einer völligen Gleich- u. Einswerdung mit dem Gekreuzigten. Sie fügt sich damit gut in die Gesamtkonzeption des Ö. S. mit der Passion Christi als eines der Leitthemen. Es blieb jedoch nicht bei dieser ersten Redaktion der Offenbarungen Elsbeths: Die Vita wurde neuer Ausgangspunkt von Bearbeitungen u. Exzerptionen sowie einer lat. Übersetzung im 17. Jh. Die breite Tradierung des Elsbeth-Korpus stellt somit einen Glücksfall innerhalb der Viten- u. Offenbarungsliteratur dar, weil hier der singuläre Fall der Überlieferung einer ganzen Bearbeitungs- u. Rezeptionskette vorliegt, die von der eigenhändigen Niederschrift, die selbst mehrere Stufen der Bearbeitung durch die Autorin aufweist, über die Umformung zur Vita u. deren Aufnahme in ein Schwesternbuch bis hin zu Kompilationen in Traktatform reicht. Ausgaben: Heinrich Zeller-Werdmüller u. Jacob Bächtold: Die Stiftung des Klosters Oetenbach u. das Leben der seligen Schwestern daselbst. In: Zürcher Tb. 12 (1889), S. 213–276. – Wolfram Schneider-Lastin: Leben u. Offenbarungen der Elsbeth v. Oye. In: Kulturtopographie des alemann. Raums. Hg. Barbara Fleith u. René Wetzel. Tüb. 2009, S. 395–467. – Ders.: Von der Begine zur Chorschwester: Die Vita der Adelheit v. Freiburg aus dem Ö. S. In: Dt. Mystik im abendländ. Zusammenhang. Hg. Walter Haug u. ders. Tüb. 2000, S. 515–561. Literatur: Peter Dinzelbacher: Ö. S. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Monika Gsell: Das fließende Blut der Offenbarungen Elsbeths v. Oye. In: Dt. Mystik im abendländ. Zusammenhang. Hg. Walter Haug u. Wolfram Schneider-Lastin. Tüb. 2000, S. 455–482. – Johanna Thali: Gehorsam, Armut u. Nachfolge im Leiden. Zu den Leitthemen des Ö. S. In: Bettelorden, Bruderschaften u. Beginen in Zürich. Hg. Barbara Helbling, Magdalen Bless-Grabher u. Ines Buhofer. Zürich 2002, S. 199–213. Wolfram Schneider-Lastin
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Oetinger, Friedrich Christoph, auch: Halatophilus Irenaeus, * 2.(?)5.1702 (getauft 6.5.) Göppingen, † 10.2.1782 Murrhardt; Grabstätte: ebd., Stadtkirche. – Evangelischer Prälat, lutherischer Pietist, Theosoph, Polyhistor. Nach dem Besuch der evang. Klosterschulen Blaubeuren (1717–1720) u. Bebenhausen (1720–1722) studierte der Stadtschreibersohn 1722 bis 1727 als Stiftler in Tübingen Philosophie (Magister 1725) u. Theologie. Für O.s umfassende Bildung wurden drei Reisen wichtig. Auf der ersten (1729/30) begegnete er in Frankfurt/M. dem jüd. Kabbalisten Koppel Hecht († 1729), in Berleburg dem myst. Spiritualisten Johann Conrad Dippel. Als Magister legens in Halle kam er in Verbindung mit dem Pietisten Gotthilf August Francke; 1730 lernte er in Herrnhut Zinzendorf kennen, von dem er sich später unter dem Einfluss des nüchternen Exegeten Bengel zu lösen begann. Seine zweite Reise (1733–1735) führte ihn wieder nach Herrnhut (1733/1734), die dritte (1735–1737) nach Halle u. Homburg v. d. H. Am Ende dieser unruhigen, vielfältigsten Anregungen zugewandten Lehr- u. Wanderjahre, die von einer Tätigkeit als Stiftsrepetent in Tübingen (1731–1733) unterbrochen u. abgeschlossen wurden (1737/38), stand die Entscheidung für Ehe u. Pfarramt: O. wurde Pfarrer in Hirsau (1738), Schnaitheim (1743) u. Walddorf bei Tübingen (1746), 1752 Spezialsuperintendent (Dekan) in Weinsberg u. 1759 in Herrenberg. 1765 stieg er zum Herzoglichen Rat, Prälaten u. Abt des ehemaligen Klosters Murrhardt auf. O. ist der Prototyp des Polyhistors: »Denn Er – der Christ! der Edle! und der Weise!! War’ eine hohe Schul’ allein« (Schubart: Sämtliche Gedichte. Bd. 2, Stgt. 1786, S. 60). Ein rastloser, geradezu faustischer Wissensdrang, der Blick »in’s ungeheure Ganze« (ebd., S. 61) der Wissenschaften kennzeichnen ihn; die enzyklopäd. Vielfalt bändigt eben dieser Gedanke der globalen Ganzheit: Alles steht nach dem Heilsplan Gottes in einem lebendigen Zusammenhang: Himmel u. Erde, Geist u. Leib, Worte u. Werke Gottes in der Natur u. Geschichte, das im Sinne von Ben-
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gels bibl. Realismus wörtlich genommene Buch der Schrift u. das Buch der Natur. Am Ende der Zeiten wird die kosm. Allversöhnung durch Christus, das »Heil der Natur«, stehen, im Einklang mit der Lehre von der »Wiederbringung aller«. Aus Jakob Böhme (Aufmunternde Gründe zu Lesung der Schrifften Jacob Boehmens. Ffm./Lpz. [Görlitz] 1731), der romanischen Mystik, der Alchemie, Kabbala, Emblematik, Mathematik, Musik, Rechtswissenschaft, Medizin u. den Naturwissenschaften (bes. der Physik Newtons) wie aus der krit. Auseinandersetzung mit der Philosophie von Leibniz u. Wolff schöpft O.s »Heilige Philosophie« vielfältige Anregungen, denen ein flickenteppichartig mit Zitaten durchsetzter Stil entspricht. Selbst der Titel seiner Autobiografie, Genealogie der reellen Gedanken eines Gottesgelehrten (In: Karl C. E. Ehmann, Hg.: Friedrich Christoph Oetingers Leben und Briefe, als urkundlicher Commentar zu dessen Schriften. Stgt. 1859), zitiert insgeheim die »ganz reellen- und zuverläsigen Gedancken über die Bereitung des Steins der Weisen« einer von Karl Hermann Gravel veröffentlichten alchemist. Schrift. Die Inquisitio in sensum communem et rationem (vollst.: Tüb. 1752. 1753. Neudr. der Ausg. 1753 mit Einl. v. Hans-Georg Gadamer. Stgt. 1964. Heilbr. 1753), zu der sich als populäres dt. Gegenstück Die Wahrheit des Sensus Communis (2 Tle., Stgt. [1753/]1754) gesellt, hebt die Bedeutung des Sensus communis, des prärationalen allg. Wahrheitsgefühls, für die Erkenntnis hervor. Die Inquisitio beeindruckte Wieland, der den »Abt von Murrhard« in Musarion (1768, S. 62) ausdrücklich erwähnt. Die polit. Schrift Die Güldene Zeit (3 Tle., Ffm./ Lpz. 1759–61. Mit einer naturphilosoph. Ergänzung: Die Philosophie der Alten wiederkommend in der güldenen Zeit. 2 Tle., ebd. 1762) plädiert, vielleicht schon unter freimaurerischem Einfluss, für eine gerechtere, auf größere Gleichheit, auf Gütergemeinschaft u. Freiheit ausgerichtete Sozialordnung. Ihre Wirkungen sind bis zu Hölderlins Friedensfeier (1802) spürbar. Das kabbalist. Hauptwerk, Offentliches Denckmahl Der Lehr-Tafel einer weyl. Würtembergischen Princeßin Antonia (Tüb. 1763), wurde von Susanna Katharina von Klettenberg, Goethes »Schöner Seele«, eben-
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so wie von Schillers Lehrer Karl Friedrich Stgt. 1858–64. Neudr. v. 2, 2: Swedenborgs ird. u. Harttmann u. Hölderlins Lehrer Nathanael himml. Philosophie. Von 2, 3: Die Psalmen Davids. Köstlin, von Schelling wie von Mörike u. Stgt. 1977. Literatur: Bibliografien: Gottfried Mälzer: Die Hermann Hesse geschätzt, der O. 1934 in Studien zum Glasperlenspiel porträtiert hat (Der Werke der württemberg. Pietisten des 17. u. 18. Jh. Bln./New York 1972, S. 231–279. – Martin Weyervierte Lebenslauf Josef Knechts. Zwei Fassungen. Menkhoff u. Reinhard Breymayer (Hg.): ChronoFfm. 1966). Das systemat. Hauptwerk, Theo- logisch-systemat. Bibliogr. der Werke F. C. O.s. logia ex idea vitae deducta (Ffm./Lpz. [Ulm] Bln./New York (in Vorb.). – M. Weyer-Menkhoff 1765), würdigt Gott als das Leben spendende 1990 (s. u.), S. 274–290. – Weitere Titel: Ernst Benz: Leben. Als Vermittler des Geistersehers Swe- Swedenborg in Dtschld. F. C. O.s u. Immanuel denborg wirkte O. auf Goethes Faust durch Kants Auseinandersetzung mit der Person u. Lehre Swedenborgs und anderer Irrdische und himmlische Emanuel Swedenborgs. Ffm. 1947. – Henry F. Philosophie (2 Tle., Ffm./Lpz. [Tüb.] 1765; die Fullenwider: F. C. O. Wirkungen auf Lit. u. PhiloAusg. 2[1773] besaß Goethe in Weimar. Ffm. sophie seiner Zeit. Göpp. 1975. – R. Breymayer: Zu F. C. O.s Theologia Emblematica u. deren nieder1776/77). In diesem Werk spricht O. ebenso länd. Wurzeln. In: Pietismus u. Réveil. Hg. J. van Sympathien für Freimaurer aus wie in dem den Berg u. J. P. van Dooren. Leiden 1978, Buch Die Metaphysic in Connexion mit der Chemie S. 253–281. – Rainer Piepmeier: Aporien des Le(Schwäbisch Hall [1770]), das der engen Be- bensbegriffs seit O. Freib. i. Br. 1978. – Sigrid ziehung von Geistigem u. Stofflichem Rech- Großmann: F. C. O.s Gottesvorstellung. Gött. 1979. nung tragen möchte u. sich im Besitz der – Walter Dierauer: Hölderlin u. der spekulative Klettenberg, Mendelssohns, Herders u. Mo- Pietismus Württembergs. Gemeinsame Anschauzarts befand. Zwei Neffen O.s gehörten der ungshorizonte im Werk O.s u. Hölderlins. Zürich 1774–1784 bestehenden Loge »Zu den Drei [1986]. – M. Weyer-Menkhoff: Christus, das Heil der Natur. Entstehung u. Systematik der Theologie Zedern« in Stuttgart an, darunter Eberhard F. C. O.s. Gött. 1990. – Ders.: F. C. O. Wuppertal/ Christoph Ritter und Edler von Oetinger, der Zürich 1990. – Guntram Spindler (Hg.): Glauben u. 1784 eine Verwandte von Goethes Mutter Erkennen. Die Hl. Philosophie v. F. C. O. Studien heiratete, dazu Hölderlins Pate Karl Friedrich zum 300. Geburtstag. Metzingen 2002. – Sabine Bilfinger, der Mann von O.s Nichte Anastasia, Holtz u. a. (Hg.): Mathesis, Naturphilosophie u. geb. Dertinger. Hölderlin besaß: [Oetinger:] Arkanwiss. im Umkreis F. C. O.s (1702–82). Stgt. Zweyter Theil der Predigten über die Sonntägliche 2005. – R. Breymayer: O., F. C. In: Dictionary of Episteln vom Fest Trinitatis an bis zu Ende. o. O. Gnosis & Western Esotericism. Hg. Wouter J. Hanegraaff u. a. Leiden/Boston 2006, S. 889–894. – [1776], darin eine kabbalist. Predigt über den Friedemann Stengel: Aufklärung bis zum Himmel. Friedefürsten nach Jes 9. In O.s Alterswerk Emanuel Swedenborg im Kontext der Theologie u. Biblisches und Emblematisches Wörterbuch Philosophie des 18. Jh. Habil-Schr. Heidelb. 2009. ([Heilbr.] 1776. Neudr. Hildesh. 1969. 1987. Reinhard Breymayer Russ. Teilübers. [Moskau 1786]), das sich gegen die allegorisierende Exegese Swedenborgs u. der Rationalisten wendet, findet sich Oettinger, Eduard Maria, * 19.11.1808 auf S. 407 die berühmte Sentenz: »Leiblich- Breslau, † 26.6.1872 Blasewitz bei Dresden. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker u. keit ist das Ende der Werke Gottes.« Ausgaben: Historisch-kritische Ausgabe: Texte zur Gesch. des Pietismus. Abt. 7, hg. v. Gerhard Schäfer u. Martin Schmidt: F. C. O. Bd. 1, hg. v. Reinhard Breymayer u. Friedrich Häußermann: Die Lehrtafel der Prinzessin Antonia. 2 Tle., Bln./New York 1977. Bd. 2, hg. v. Konrad Ohly: Theologia ex idea vitae deducta. 2 Tle., ebd. 1979. Bd. 3, hg. v. Gerhard Schäfer u. a.: Bibl. u. Emblemat. Wörterbuch. 2 Tle., ebd. 1999. – Teilausgaben: Karl C. E. Ehmann (Hg.): Sämmtl. Schr.en, zum ersten Mal vollst. ges. u. unverändert hg. Abt. 1: 5 Bde. Abt. 2: 6 Bde.,
Zeitschriftenherausgeber. Der Sohn durch Kriegsverluste verarmter jüd. Eltern musste sein Studium abbrechen. In Wien zum Katholiken konvertiert, wurde er von Bäuerle als Journalist gefördert. In schnellem Wechsel gab O. 1829 in Berlin (»Eulenspiegel«) u. München (»Das schwarze Gespenst«) humoristisch-satir. Zeitschriften heraus; bald nach Erscheinen wurden sie verboten, O. des Landes verwiesen. Auch
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weitere Projekte (u. a. »Figaro« 1830/31 in Berlin u. »Argus« 1836–1838 in Hamburg) scheiterten an den Behörden, mehrfach wechselte er den Wohnsitz (ab 1842 Leipzig, wo er bis 1852 den »Charivari« u. 1843–1849 den »Narren-Almanach« herausgab; ab 1852 Paris u. Brüssel; ab 1860 Blasewitz). Daneben versorgte er den Markt mit einer Vielzahl von Werken in allen kurrenten Gattungen. In romant. Manier oder satirisch-unterhaltend legte er vielbändige histor. Gemälde ebenso vor wie Anekdotenhaftes mit kuriosen u. häufig pikanten Themen. Zuletzt lag der Schwerpunkt auf bibliogr. Arbeiten (u. a. Moniteur des Dates. Dresden 1866–68. Bibliographie biographique universelle. Lpz. 1850. Brüssel 21854). Weitere Werke: Das Buch der Liebe. Bln. 1833 (L.). – Eau de mille fleurs. 2 Bde., Hbg. 1835 (R.). – Dramat. Desserts [...]. Hbg. 1835/36. – Fashionable Dummheiten. Hbg. 1836 (Skizzen). – Rossini. Lpz. 1847 (kom. R.). – Molla Lontez. Lpz. 1847 (Satire). – König Jerome Napoleon u. sein Capri. 3 Bde., Dresden 1852 (R.). – Meister Johann Strauß [...]. 4 Bde., Dresden 1862 (R.). – Offenes Billet-Doux an den berühmten Hepp-Hepp-Schreier u. JudenFresser Wilhelm Richard Wagner. Dresden 1869. Literatur: Wurzbach. – F. Schnorr v. Carolsfeld: O. In: ADB. – Goedeke 11/1. Wolfgang Weismantel / Red.
Özakin, Aysel, * 7.9.1942 Urfa/Türkei. – Erzählerin, Romanautorin. Ö., im Südosten der Türkei geboren, machte das Abitur in Izmir, studierte Romanistik in Ankara u. Paris u. unterrichtete dann Französisch in Ankara u. Istanbul. Seit 1973 veröffentlichte sie in der Türkei Romane u. Erzählungen. 1981 blieb sie nach dem Militärputsch bei einer Schriftstellertagung in der Bundesrepublik. Danach lebte sie zunächst in Westberlin oder Hamburg, seit 1988 in England. 1984 war sie Stadtschreiberin von Altona. Bereits in ihren in der Türkei veröffentlichten Werken tritt Ö. als eigenwillige Autorin auf, die Traditionen kritisiert u. v.a. die überlieferte Frauenrolle in Frage stellt. Der Roman Die Preisvergabe (türk. 1981, dt. Hbg. 1982) schildert in verschiedenen Handlungssträngen u. Erzählperspektiven am Beispiel
dreier Frauen aus drei Generationen die offenen u. subtilen Formen von Unterdrückung u. Auflehnung in den patriarchal. Strukturen. Auch in den in Deutschland entstandenen Werken (meist in türk. Sprache geschrieben, dann ins Deutsche übersetzt) ist die Emanzipation der Frauen ihr Hauptthema. Der Roman Die Leidenschaft der anderen (Hbg. 1983) gibt die Erfahrungen einer türk. Autorin auf einer Lesereise in Deutschland wieder, die ihre »Rolle als unterwürfige Frau« nicht akzeptiert hat, aber gleichzeitig in der Spannung zwischen Tradition u. westl. Entwicklungen steht. Emanzipation der Frau u. polit. Befreiung stehen für Ö. in engem Zusammenhang; so auch im Roman Die blaue Maske (türk. 1988, dt. Ffm. 1989), wo die Ich-Erzählerin in Zürich auf der Spurensuche nach ihrer verstorbenen Freundin Dina, Schriftstellerin wie sie selbst u. ihr kontrastreiches Alter Ego, mit ihrer eigenen Identitätssuche zwischen Tradition u. Befreiung konfrontiert wird. Weitere Werke: Soll ich hier alt werden? Hbg. 1982 (E.en). – Das Lächeln des Bewußtseins. Hbg. 1985 (E.en). – Du bist willkommen. Hbg. 1985 (L.). – Zart erhob sie sich bis sie flog. Ein Poem. Hbg. 1986. – Der fliegende Teppich. Auf der Spur meines Vaters. Reinb. 1987 (R.). – Glaube, Liebe, Aircondition. Hbg. 1991 (R.). – Die Vögel auf der Stirn. Ffm. 1991 (R.). – Deine Stimme gehört dir. Mchn. 1992 (E.en). – Die Zunge der Berge. Mchn. 1994 (R.). Literatur: Monika Frederking: A. Ö.: Die Leidenschaft der Anderen. In: Dies.: Schreiben gegen Vorurteile. Lit. türk. Migranten in der Bundesrepublik Dtschld. Bln. 1985, S. 105–127. – Thomas Wägenbaur: Kulturelle Identität oder Hybridität? A. Ö.s ›Die blaue Maske‹ u. das Projekt interkultureller Dynamik. In: LiLi 97 (1995), S. 22–47. – Annette Wierschke: Schreiben als Selbstbehauptung: Kulturkonflikte u. Identität in den Werken v. A. Ö., Alev Tekinay u. Emine Sevgi Özdamar. Ffm. 1996. – Immaculata Amodeo: A. Ö., Franco Biondi u. Gino Chiellino: Beispiele, die keine Regel bestätigen. In: Dies.: Die Heimat heißt Babylon. Zur Lit. ausländ. Autoren in der Bundesrepublik Dtschld. Opladen 1996, S. 137–193 (zu A. Ö.: S. 138–151). Irmgard Ackermann
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Özdamar, Emine Sevgi, * 10.8.1946 Malatya/Ostanatolien. – Romanautorin u. Schauspielerin. Ö. kam 1965 als Arbeiterin nach Westberlin u. kehrte 1967 in die Türkei zurück, wo sie bis 1970 die Schauspielschule in Istanbul besuchte u. in ersten professionellen Rollen auftrat. 1976 kam sie wieder nach Berlin mit dem Ziel, »das Brechttheater zu lernen«. Sie bekam ein Engagement an der Volksbühne in Ostberlin zunächst als Hospitantin, dann als Regieassistentin von Benno Besson. 1978 u. 1979 arbeitete sie mit Besson an Brecht-Inszenierungen in Paris u. Avignon, 1979–1984 hatte sie ein Engagement am Bochumer Schauspielhaus unter Claus Peymann. Ö. übernahm Rollen auch in verschiedenen Filmen, u. a. mit Doris Dörrie. Seit 2007 Mitgl. der Deutschen Akademie für Sprache u. Dichtung, lebt sie in Berlin als freie Schriftstellerin. Ö. erhielt u. a. folgende Literaturpreise: Ingeborg-Bachmann-Preis 1991, Walter-Hasenclever-Preis 1993, Adelbert-vonChamisso-Preis 1999, Preis der LiteraTour Nord 1999, Künstlerinnen-Preis des Landes NRW 2001, Literaturpreis der Stadt BergenEnkheim u. Stadtschreiberin 2003, KleistPreis 2004, Kunst-Preis (Fontane-Preis) der Stadt Berlin 2009, Carl-Zuckmayer-Medaille 2010. Nach ersten Theaterstücken u. Erzählungen gelang Ö. der literar. Durchbruch mit dem Roman Das Leben ist eine Karawanserei / hat zwei Türen / aus einer kam ich rein / aus der anderen ging ich raus (Köln 1992). Der Entwicklungroman spielt zwischen der Geburt der Ich-Erzählerin u. ihrer Ausreise nach Deutschland, den beiden »Türen«. Die Heranwachsende erlebt in der Türkei alle Umwälzungen durch die polit. Veränderungen u. durch mehrfachen Wohnungswechsel der Großfamilie zwischen Traditionsgebundenheit u. modernem Großstadtleben sehr intensiv. Das aufgezeigte lebendige Zeit- u. Sittenbild wird nicht in distanzierter objektiver Darstellung gebracht, sondern aus der sehr persönl. Perspektive des Kindes u. der Jugendlichen, die ihre Umwelt mit oft kindlich-naivem, aber immer wachem Blick wahrnimmt u. daraus ihr eigenes Weltbild
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aufbaut. Dieses findet seinen Ausdruck in der farbigen, fantasievollen u. bildhaften Darstellung türkischer Lebenswelt wie auch in der sprachl. Gestaltung mit Redewendungen u. Sprichwörtern aus dem Türkischen, eigenwilligen Wortschöpfungen u. lebendigen Bildern, die dem Roman sein einzigartiges Kolorit geben. Auch der zweite Roman Die Brücke vom Goldenen Horn (Köln 1998) ist ein Entwicklungsroman, in dem die persönl. Lebensgeschichte aufs Engste verknüpft ist mit der polit. Szene der 68er-Bewegungen in Deutschland u. in der Türkei. Er erscheint als die Fortsetzung des ersten Romans u. spielt zunächst in Berlin, wo die Ich-Erzählerin im Jahre 1966 ankommt, einen Arbeitsplatz u. einen Platz im »Frauenwonaym« findet, sich mit der neuen Umgebung auseinandersetzt u. einen polit. Bewusstwerdungsprozess durchmacht. Der zweite Teil spielt wieder in der Türkei, wo sie die Schauspielschule in Istanbul besucht, ihren Traumberuf als Schauspielerin realisiert, aber gleichzeitig mit der brisanten polit. Situation konfrontiert u. davon herausgefordert wird. Ihr polit. Engagement in Ostanatolien führt zu vorübergehender Verhaftung u. danach zur Rückkehr nach Deutschland. Der dritte dieser als Trilogie angelegten Romane, Seltsame Sterne starren zur Erde. Wedding – Pankow 1976/77 (Köln 2001), besteht zum großen Teil aus zurückliegenden Tagebuchaufzeichnungen der Autorin (April 1976 bis Jan. 1978), ergänzt durch ihre eigenen Skizzen u. Zeichnungen von Inszenierungen an der Berliner Volksbühne. Der Roman spielt in Berlin auf beiden Seiten der Mauer. Die Erzählerin, die in einer Wohngemeinschaft in Westberlin lebt u. als Schauspielerin in Ostberlin arbeitet, bewegt sich durch den tägl. Wechsel von West nach Ost u. zurück in zwei verschiedenen Welten, die mit scharfer Beobachtung, aber in sehr subjektiven Wirklichkeitsausschnitten dargestellt werden. Der Schwerpunkt liegt auf ihrer Theaterarbeit mit Benno Besson, Matthias Langhoff u. Heiner Müller an der Volksbühne. Aus Theater u. Alltagswirklichkeit, aus den unterschiedl. Realitäten der geteilten Stadt, aus Begegnungen u. Erinnerungen baut sie sich
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ihre eigene Welt auf. Nicht mehr die überbordende Fantasie, die bes. den ersten Roman der Trilogie bestimmt, prägt das literar. Verfahren des dritten Romans, sondern die neugierige Erkundung der umgebenden Realität u. die Orientierung darin. Hohe Bildhaftigkeit u. Sinnlichkeit der Sprache sowie die mehrkulturelle Perspektive geben der Trilogie ihre Originalität in der dt. Literaturszene.
rina Gerstenberger u. Patricia Herminghouse. New York/Oxford 2008, S. 135–152. – Yasemin Yıldız: Political Trauma and Literal Translation: E. S. Ö.s ›Mutterzunge‹. In: Gegenwartslit. 7 (2008), S. 248–270. – Beverly M. Weber: Work, Sex, and Socialism: Reading Beyond Cultural Hybridity in E. S. Ö.’s ›Die Brücke vom Goldenen Horn‹. In: GLL 63 (2010), H. 1, S. 37–53. Irmgard Ackermann
Weitere Werke: Karagöz in Alemania. Ffm. 1982 (Theaterstück). – Mutterzunge. Bln. 1990 (E.en). – Kelogan in Alemania. Die Versöhnung v. Schwein u. Lamm. Ffm. 1991 (Theaterstück). – Der Hof im Spiegel. Köln 2001 (E.en). – Sonne auf halbem Weg. Die Istanbul-Berlin-Trilogie. Köln 2006 (Ausg. der drei Romane). – Zahlreiche Übersetzungen ihrer Werke erschienen (bis 2008) in 16 Ländern.
Özdogan, Selim, * 15.1.1971 Köln. – Verfasser von Romanen, Erzählungen u. Tagebüchern.
Literatur: Annette Wierschke: Schreiben als Selbstbehauptung: Kulturkonflikt u. Identität in den Werken v. Aysel Özakin, Alev Tekinay u. E. S. Ö. Ffm. 1996. – Elizabeth Boa: Sprachenverkehr. Hybrides Schreiben in Werken v. Ö., Özakin u. Demirkan. In: Interkulturelle Konfigurationen. Zur deutschsprachigen Erzähllit. v. Autoren nichtdt. Herkunft. Hg. Mary Howard. Mchn. 1997, S. 115–138. – Gürsel Aytaç: Sprache als Spiegel der Kultur. Zu E. S. Ö.s Roman ›Das Leben ist eine Karawanserei‹. Ebd. S. 171–177. – Nilüfer Kuruyazıcı: E. S. Ö.s Roman ›Das Leben ist eine Karawanserei‹ im Prozeß der interkulturellen Kommunikation. Ebd. S. 179–188. – Regula Müller: ›Ich war Mädchen, war ich Sultanin‹: Weitgeöffnete Augen betrachten türk. Frauengesch.(n). Zum Karawanserei-Roman v. E. S. Ö. In: Denn du tanzt auf einem Seil. Positionen deutschsprachiger MigrantInnenlit. Hg. Sabine Fischer u. Moray McGowan. Tüb. 1997, S. 133–149. – Irmgard Ackermann: E. S. Ö. In: KLG. – Azade Seyhan: Writing Outside the Nation. Princeton/New York 2001. – Stephanie Bird: Woman Writers and National Identity: Bachmann, Duden, Ö. Cambridge 2003. – Norbert Mecklenburg: Leben u. Erzählen als Migration. Intertextuelle Komik in ›Mutterzunge‹ v. E. S. Ö. In: Text + Kritik 9 (2006), Lit. u. Migration, S. 74–83. – Claire Horst: Der weibl. Raum in der Migrationslit. (Irena Brezˇná, E. S. Ö., Libusˇe Moníková). Bln. 2007. – Kader Konuk: Taking on German and Turkish History: E. S. Ö.s ›Seltsame Sterne‹. In: Gegenwartslit. 6 (2007), S. 232–256. – John Pizer: The Coordination of Countermemory: E. S. Ö.s ›Seltsame Sterne starren zur Erde‹. In: German Literature in a New Century. Trends, Traditions, Transitions, Transformations. Hg. Kathe-
Der Sohn türkischer Eltern wuchs zweisprachig auf u. studierte Anglistik u. Philosophie (ohne Abschluss), ehe er als Journalist u. Schriftsteller hervortrat. In seinem 1995 erschienenen Romandebüt Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist (Bln.) geht es um eine Sommerliebe, die traumhaft beginnt u. schmerzlich endet. Sie lässt den angeblich allzeit »coolen« Protagonisten Alex letztlich in sich zusammenbrechen. Das ein Jahr später publizierte literar. Roadmovie Nirgendwo & Hormone (Bln.) spielt irgendwo in den Weiten Nordamerikas. Es steht der Kolportage nicht fern u. strotzt vor alltagsphilosoph. Weisheiten u. krassen Sprüchen. Beide Bücher machten Ö. als authentisch wirkenden Literaten seiner Generation bekannt, der das Lebensgefühl großstädtischer Jugendlicher in den 1990er Jahren einzufangen weiß. Ö. erzählt, mit sicherem Gefühl für Tempo, in schnoddriger Zeitgeistsprache u. zgl. in ganz unterschiedl. Tonlagen, von den Erfahrungen, Träumen u. Gefühlen junger Menschen. Die schnörkellose, unkonventionelle u. oft ironisch grundierte Sprache seiner frühen Texte besticht v. a. durch treffl. Humor u. ungewöhnlich witzige Pointen. Für seine in der Tradition der frühen Popliteratur (Hunter S. Thompson) stehenden ersten beiden Bücher u. den 1998 erschienenen Geschichtenband Ein gutes Leben ist die beste Rache (Bln.), der 33 rebellisch-träumerische Kurz- u. Kürzesttexte enthält, wurde Ö. 1999 der Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis zuerkannt. Der Roman Mehr (Bln. 1999. 32005) handelt von Betrug u. Verrat – u., komplementär dazu, von Liebe, Respekt, Würde, Ehrlichkeit u. Seelenfrieden: Wie kann der in durchaus
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prekären Umständen lebende, rastlos im großstädt. Alltag umherirrende u. sich zgl. als aufrichtiger Schriftsteller versuchende 26jährige Ich-Erzähler seiner Freundin Anika u. zgl. seiner Lust auf »mehr« treu bleiben? Erzählt wird von seinem letztlich unlösbaren Konflikt zwischen dem Wunsch nach Spaß, Musik, Sex, Drogen u. völliger Ungebundenheit einerseits u. dem Beibehalten hehrer Ideale sowie der real notwendigen Selbstbeschränkung andererseits, wobei auf unaufdringl. Art ein türk. Hintergrund ins Spiel kommt u. auf den sechs Jahre später publizierten Roman Die Tochter des Schmieds (Bln.) vorverweist. Im Jahr 2000 folgte Im Juli (Hbg. u. a.), eine vom gleichnamigen Film von Fatih Akin inspirierte, spannend u. unterhaltsam geschriebene Geschichte, die dabei Klischees nicht scheut. Sie handelt von dem Mädchen Juli u. anderen jungen Leuten, die per Anhalter nach Istanbul reisen. 2002 erschien der ins Genre der erot. Literatur gehörende, um das Thema »Glück« kreisende Roman Ein Spiel, das die Götter sich leisten, in dem Ö. »zu einem eher (be)sinnlicheren, wenngleich nicht weniger provokant-verführerischen Erzählgestus« gefunden hat – die Urlaubsreise von Mesut u. Oriana, beide Anfang dreißig, mit kulturellen Wurzeln im Mittelmeerraum u. heftig ineinander verliebt, weitet sich zu einer »Reise ins Herz der Sinnlichkeit« (Jung). 2003 wurde die Geschichtensammlung Trinkgeld vom Schicksal (Bln.) veröffentlicht, die heutigen Alltagssituationen oft Skurriles abzugewinnen weiß u. dabei erstmals auch Elemente islamischen Lebens in Deutschland beleuchtet. 2005 überraschte Ö. mit dem weithin beachteten Roman Die Tochter des Schmieds, der in traditionell-realist. Manier das Heranwachsen einer jungen Frau namens Gül (Rose) schildert, der ältesten Tochter des Schmieds Timur, »der das Leben eher zustößt, als dass sie es in der Hand halten würde« (Pflitsch). Der stets pflichtbewussten Gül wird nur eine dürftige Schulbildung zuteil, sie lernt Schneiderin, u. schon als Halbwüchsige muss sie, nach dem Tod der Mutter, die Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister Melike u. Sibel übernehmen. Im Alter von 16 Jahren wird sie mit einem Trin-
Özdogan
ker u. Spieler verheiratet u. in ein Dasein als Gratis-Dienstmädchen für dessen Großfamilie gezwungen; obendrein schenkt sie zwei Mädchen das Leben u. zieht sie groß. Trotz ihres fremdbestimmten Schicksals ist Gül, die ihren Alltag undramatisch bewältigt, die bisweilen zur Melancholie neigt u. die nie gelernt hat, etwas für sich zu fordern, eine sanfte u. innige Lebensfreude durchaus nicht fremd. Der in der Türkei in den 1940er bis 1960er Jahren spielende u. mit Güls Emigration nach Deutschland endende Familien- u. Gesellschaftsroman, der von einem neutralen u. allwissenden Erzähler aus Güls Perspektive erzählt wird u. wegen seines naiv-simplen Tonfalls bisweilen märchenhaften Charakter annimmt, verleiht jenen scheinbar geschichtslosen Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben als Gastarbeiter in Deutschland gelandet sind, eine liebevoll u. detailliert geschilderte Vergangenheit. »Es gibt keine Psychologie, es gibt keine Sozialsatire, keine Gesellschaftskritik« (Branco). Der Kritik erschien v. a. wichtig, dass Ö. mit diesem Buch »die Literatur in den Kontext der Stiftung eines kollektiven Gedächtnisses stellt, dass er versucht, Klischees eines konventionellen Orientalismus zu vermeiden, dass er sich an der Problematik des Übergangs von traditionellen Gesellschaften in die Moderne abarbeitet und die Funktion des Erzählens in beiden Kontexten reflektiert« (Hofmann). Auch nach Die Tochter des Schmieds möchte der Autor offenbar nicht nur als realist. Chronist vergangener Welten gesehen werden. Live-Mitschnitte von Lesungen, die eher Performances sind (Traumland, 2000; Tüten und Blasen, 2003), sowie das Tourtagebuch (Regensb. 2006) zeigen Ö. als popkulturellen Schriftsteller seiner Generation. Weiteres Werk: Zwischen zwei Träumen. Bergisch Gladbach 2009 (R.). Literatur: Jeffery S. Hull: Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist. In: Focus on Literatur 2/ 2 (1995), S. 198–201 (Rez.). – Peter Dausend: Ich gehör’ hier dazu. Der Kölner Schriftsteller S. Ö. ist ein ›ausländischer Deutscher‹. In: Die Welt, 11.11.2000. – Thomas Jung: Reise ins Herz der Sinnlichkeit (zu ›Ein Spiel, das die Götter sich leisten‹). In: Signum. Blätter für Lit. u. Kritik 4 (2003), H. 2, S. 119 f. – Andreas Pflitsch: Wunschlos
Ohler
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unglücklich (Mit dem Roman ›Die Tochter des Schmieds‹ siedelt S. Ö. seine Leser nach Anatolien um). In: Zenith – Ztschr. für den Orient 6 (2005), H. 2, S. 60. – Clara Branco: Ein Becher Meer (S. Ö.s Gesch. eines ungelebten Lebens in der Türkei). In: FAZ, Nr. 253, 31.10.2005. – Michael Hofmann: Güls Welt. Erzählen u. Modernisierung in S. Ö.s ›Die Tochter des Schmieds‹. In: Alman Dili ve Edebiyati Dergisi / Studien zur dt. Sprache u. Lit. Hg. v. der Abt. für dt. Sprache u. Lit. an der Philosophischen Fakultät der Univ. Istanbul. Bd. XIX (2007), S. 155–168. – Mahmut Karakus¸ : S. Ö.s ›Die Tochter des Schmieds‹: Möglichkeiten der Selbstverwirklichung der Frauen. Ebd., S. 139–154. Klaus Hübner
Ohler, Norman, * 4.2.1970 Zweibrücken/ Rheinland-Pfalz. – Journalist u. Autor.
Textsorte erscheinen lässt. Die virtuose Ausnutzung virtuellen Datentransfers weicht das kausal motivierte Realitätsprinzip auf, was inhaltlich durch die medizinisch neuartige Geburt des Protagonisten Ray/Maxx Rutenberg aus dem Leib seiner toten Mutter aufgenommen wird. Breitenwirkung erlangte O.s zweiter Roman Mitte (Bln. 2001), dessen Handlung sich um ein verwunschenes Haus in dem titelgebenden Stadtteil Berlins entfaltet. Dieter Hildebrandt bezeichnet den an die Gothic Novel angelehnten Stil des Textes als »Elektronischen Expressionismus«. Auch Stadt des Goldes (Reinb. 2002), der letzte Teil der »Metropolen-Trilogie«, verarbeitet die während eines Aufenthalts in der Metropole Johannesburg gewonnenen Eindrücke zu einer Spurensuche der Drogenkurierin Lucy nach ihrer eigenen, verlorenen Geschichte. O. zeichnet als Co-Autor des Films Palermo Shooting von Wim Wenders (D/F/I 2008). Er erhielt zahlreiche Auzeichnungen u. Stipendien (u. a. den Förderpreis zum Kunstpreis Rheinland-Pfalz 2003).
Als Sohn des Richters u. (Mundart-)Autors Wolfgang Ohler, Absolvent der Henri-Nannen-Journalistenschule u. Kolumnist für zahlreiche führende deutsche Printmedien (»Stern«, »Spiegel«, »GEO«, »ZEIT«) verfügt O. über einen sowohl intellektuell als auch publizistisch profunden Hintergrund. Seine Mitarbeit am Künstlernetzwerk Tribes GalLiteratur: Elmar Krekeler: N. O. In: LGL. – lery in New York, Stipendien als Stadtschrei- Steffen H. Hantke: Dead Center: Berlin, the Postber von Ramallah u. Jerusalem (2004) sowie modern Gothic, and N. O.’s ›Mitte‹. In: Studies in Aufenthalte in Johannesburg u. verschiede- Twentieth and Twenty-First Century Literature 30 nen dt. Städten weisen O. als Kosmopoliten (2006), H. 2, S. 305–332. Ole Petras neuerer Prägung aus. O.s Reportagen bedienen sich eines empathisch-distanzierten Ohnemus, Günter, * 29.1.1946 Passau. – Tons, der sein Objekt als Effekt individueller Autor, Übersetzer, Verleger, Lektor. u. kollektiver Gegenwartserfahrungen sichtbar macht u. der souveränen Perspektive O. wuchs in Passau auf u. ging mit 19 Jahren Christian Krachts vergleichbar ist. nach München. Dort absolvierte er eine AusLiterarisch ist O. bisher mit drei sog. »Me- bildung als Buchhändler u. arbeitete antropolen-Romanen« in Erscheinung getreten. schließend in verschiedenen BuchhandlunDas 1996 bei Hoffmann & Campe verlegte gen u. Verlagen. Nach dem Studium der AnDebüt Die Quotenmaschine (Hbg.) spielt in New glistik u. Germanistik war O. am Collins DicYork u. entwickelt eine konventionelle Kri- tionary in Glasgow tätig. Der Autor lebte eiminalhandlung, in deren Verlauf sich Mörder nige Zeit in den USA. u. Detektiv als ein- u. dieselbe Person erweiO.’ Werk umfasst neben diversen Erzählsen. Der oft als »weltweit erster Internetro- bänden u. vier Romanen auch literar. Überman« bezeichnete Text spielt mit heute eher setzungen aus dem Englischen. In den 1980er antiquiert wirkenden Schreibweisen, die der Jahren galt sein besonderes Interesse dem aufkommenden Internet-Technologie Rech- amerikan. Schriftsteller Richard Brautigan. nung tragen. Gleichwohl begleitete die Erst- Seit 1994 schreibt O. als Literaturkritiker für veröffentlichung des Romans im Internet ein die Wochenzeitung »Die ZEIT«. 1994 erhielt vom User nachzuvollziehendes System von er gemeinsam mit seiner Frau Ilse den MarHyperlinks, was O. zu Recht als Pionier dieser burger Literaturpreis, 1998 wurde er mit dem
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Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet. Im selben Jahr ehrte ihn die Stadt München mit dem Tukan-Preis für den Roman Der Tiger auf deiner Schulter. O. lebt als freier Schriftsteller u. Übersetzer in Freising bei München. Der Erzählband Zähneputzen in Helsinki (Augsb. 1982) ist in jegl. Hinsicht paradigmatisch für alle nachfolgenden literar. Arbeiten des Autors. Die auf den ersten Blick disparat erscheinenden Geschichten greifen eine Vielfalt von Themen auf, die oftmals nur durch die konstante Anwesenheit eines IchErzählers miteinander verbunden sind. In seinen Geschichten reflektiert der Erzähler zuweilen lakonisch über das Leben, die Liebe, die Sehnsucht u. den Verlust. Oftmals richtet er sich direkt an den Leser u. versichert sich ironisch dessen Zustimmung. Dabei ist sein Wissen um die Lebensumstände, die Beweggründe oder die Gefühlslage seiner Protagonisten keineswegs so lückenlos wie er den Leser gerne glauben machen möchte. Eigentlich weiß er nichts mit Gewissheit, er stellt Vermutungen an oder lässt seinen Assoziationen freien Lauf. Keine Alltäglichkeit erscheint ihm zu banal, kein Exkurs zu abwegig, kein Zitat zu ausgefallen, wenn es gilt, eine Stimmung wiederzugeben oder einen Erkenntnisprozess zu befördern. Gleichzeitig gestattet er dem Leser oftmals nur einen kurzen Blick auf seine eigene Befindlichkeit oder die seiner Protagonisten. Wichtige Zusammenhänge bleiben deshalb vielfach im Dunkeln, andere wiederum inszeniert er ohne jedweden Kontext als für sich sprechende Momentaufnahmen. Ganz der postmodernen Tradition verpflichtet, reduziert der Erzähler seine Geschichten auf das Wesentliche, enthält sich jeder Wertung u. überlässt die Sinnsuche dem Leser. O.’ Geschichten meiden zwar den trag. Habitus, zeigen sich jedoch problembewusst. Sie ändern »nichts am Gewicht der Welt und am Gang der Dinge«, Widersprüche werden nicht aufgehoben, sondern als notwendige u. produktive Seiten des Lebens sichtbar gemacht. Die Sprache seiner Texte ist leicht, schwebend, zuweilen ironisch, manchmal melancholisch, aber stets ohne Pathos.
Ohnemus
Die Romane Der Tiger auf deiner Schulter (Ffm. 1998) u. Alles was du versäumt hast (Ffm. 2008) erzählen aus der Sicht eines Jugendlichen von der ersten Liebe, der Sehnsucht, aber auch vom Verlust eines geliebten Menschen u. der Bewältigung dieser Erfahrung. Anknüpfend an die Gefühlslage Holden Caulfields in Salingers Roman Der Fänger im Roggen trifft O. genau den Ton der Jugendlichen auf der Schwelle zum Erwachsenwerden. Diesen u. das jungenhaft-vorbehaltlose Herangehen an das Leben u. die Liebe haben sich die späteren Romanfiguren O.’ weitgehend erhalten. Auch in den Romanen Reise in die Angst (Mchn. 2002) u. Als die richtige Zeit verschwand (Mchn. 2005) geht es um die Sehnsucht, die die Protagonisten antreibt. Doch hier sind Liebe u. Schuld bereits unauflöslich miteinander verknüpft. In Reise in die Angst werden die Verstrickungen des zur Selbstzerstörung neigenden ehemaligen Schriftstellers Harry Willemer mit der Russen-Mafia in Kontrast gesetzt zu dessen Lebens- u. Leidensgeschichte. Der Roman changiert kunstvoll zwischen Thriller u. Liebesgeschichte; oftmals wird der Gang der Handlung von Exkursen u. Rückblenden unterbrochen, in denen der Leser weitere Details aus dem Leben Willemers erfährt. Doch die Mafia bleibt ihm u. seiner Zufallsbekanntschaft Sonja auf den Fersen. Um seine Frau zu schützen, verlässt er Sonja u. reist zurück nach Europa, wo sich seine Spur verliert. In seinem Roman Als die richtige Zeit verschwand nimmt O. diesen Erzählfaden noch einmal auf u. lässt den unheilbar krank aus Amerika nach München zurückgekehrten Schriftsteller u. Drehbuchautor Robert Schirmer an der Seite seiner Tochter Allie u. seiner Freundin Susannah über die verpassten Gelegenheiten seines Lebens reflektieren. Mit seinem Auftrag, den verschollenen Harry Willemer aufzuspüren, überwindet Schirmer seine Schreibblockade u. findet auf wundersame Weise ins Leben – wenn auch in das Leben eines anderen – zurück. Auch in diesem Roman bleibt O. seiner bewährten Mischung aus Thriller u. Autorreflexion, Liebesgeschichte u. Exkurs treu. Virtuos erzählt, schlägt der Roman jedoch auch ernstere Töne an. Die mentale Krise des Protagonisten droht
Ohorn
stets in lähmende Lethargie umzuschlagen. Seine Versuche, einen selektiven Blick auf die vergangene Zeit zu werfen, um daraufhin umso radikaler mit dem Leben abzuschließen, misslingen gründlich. Denn gerade die Zeit, die Schirmer am meisten zu verdrängen versucht, erweist sich als die wichtigste in seinem Leben: die Zeit mit Una, seiner ersten großen Liebe, u. die mit seiner Frau Carol u. seiner Tochter Allie. Doch Liebe u. Vertrauen sind zu zerbrechlich, als dass sie ein Leben lang halten könnten – eine Erfahrung, die Schirmer sowohl mit seiner geschiedenen Tochter als auch mit seinen neuen Freunden teilt. Den Verlust »seiner« Frauen hat Schirmer nicht verwinden können. Und so hört er nicht auf, sich in den »aphrodisischen Strom« des Lebens zu stürzen, dem stets eine »neue Venus« entsteigt, die den »Himmel erröten macht« u. ihn die fortschreitende Zeit vergessen lässt. Wo Schirmer das Vergessen sucht, wird er von den Frauen immer wieder auf sich selbst u. die Rollen, die er im Laufe seines Lebens angenommen hat, zurückverwiesen. Unter dieser Prämisse ist sein Identitätswechsel am Ende des Romans nichts weiter als eine weitere Stufe auf der Suche nach sich selbst. Das Ende des Romans bleibt offen u. lässt hoffen – Robert Schirmer machte schon immer alles passend, den Text ebenso wie sein Leben: »Ich habe bisher noch jedes Drehbuch repariert.« Weitere Werke: (Hg.): Ein Parkplatz für Johnny Weissmüller. Siegen 1984. – Die letzten großen Ferien. Augsb. 1993. – Siebenundsechzig Ansichten einer Frau. Augsb. 1995. – Ein Macho auf der Suche nach seinem Stuntman. Münster 2003. Literatur: Henk Harbers: Kann es postmoderne Liebesgesch.n geben? Die Erzählungen v. G. O. – In: Postmoderne Lit. in dt. Sprache. Eine Ästhetik des Widerstands? Hg. ders. Amsterd. 2000, S. 199–232. – Thomas Kraft: G. O. In: LGL. Klaudia Hilgers
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1870 zum Priester geweiht, promovierte 1872 zum Dr. phil., konvertierte zum Protestantismus u. war seit 1877 Professor für dt. Literatur an der kgl. Gewerbeschule in Chemnitz. In milieugetreuen Bühnenstücken, die gegen den Ultramontanismus Stellung bezogen, ließ O. erstmals Ordensgeistliche als Protagonisten auftreten (Die Brüder von St. Bernhard. Bln. 1905). Dieselbe Tendenz verfolgen Romane wie beispielsweise Das neue Dogma (2 Bde., 1894. 21903 u. d. T. Los von Rom). Die komplizierten Verhältnisse Böhmens thematisieren von nationalistisch gefärbtem Freiheitsdenken getragene Romane wie Es werde Licht (Gotha 1886; über die Zeit des Siebenjährigen Krieges). Bekannt wurden auch die Lyriksammlungen Heimchen (Lpz. 1884), In gerechter Fehde (Lpz. 1892; Streitgedichte) u. Mein Deutsch-Böhmen (Prag 1918). Das umfangreiche Gesamtwerk O.s, mit zunehmend dt.-nationaler u. monarchist. Tendenz, verteilte sich auf die gängigen Formen, so auch Sagendichtungen (Der fliegende Holländer. Mühlhausen 1873) u. histor. Erzählungen, z.T. exotisch eingefärbt (Emin, der weiße Pascha im Sudan. Lpz. 1891). Huldigungen an Regenten u. Bismarck fehlen ebenso wenig wie Sammlungen nationaler Ansprachen u. nat. Festspiele (Sedania. Erfurt 1895); hinzu kommen literaturgeschichtl. Überblicke, Sagensammlungen, Monografien (z.B. über Walther von der Vogelweide u. Johann Christian Günther). Autobiografisch ist Aus Kloster und Welt. Das Buch meines Lebens (Mügeln 1918). Literatur: Bernhard Rost: A. O. Meißen 1911. – Ingeborg Posselt: Die zeitgenöss. Fragen in A. O.s Werken. Diss. Wien 1936. – ÖBL. – LKJL. Christian Schwarz / Red.
Oken, Lorenz, eigentl.: L. Okenfuß, * 1.8. 1779 Bohlsbach bei Offenburg, † 11.8. 1851 Zürich; Grabstätte: ebd., Friedhof Ohorn, Anton, * 22.7.1846 Theresien- Sihlfeld. – Naturforscher, Naturphilostadt/Böhmen, † 30.6.1924 Chemnitz. – soph u. Publizist. Dramatiker, Erzähler, Lyriker; LiteraturDer aus einer verarmten Bauernfamilie historiker. Seit 1865 Prämonstratensermönch, studierte O. Theologie u. Philosophie in Prag, wurde
stammende u. früh verwaiste O. studierte ab dem Wintersemester 1800 in Freiburg/Br. Medizin u. wurde dort am 1.9.1804 zum Dr.
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med. promoviert. Angeregt von Schelling, arbeitete er schon während seiner Studienzeit an einem Grundriss der Naturphilosophie, zu dem er 1803 die Uebersicht des Grundrisses (Ffm.) drucken ließ. Bereits hier postulierte O. die Notwendigkeit einer Vereinigung von Empirie u. Spekulation: »Die Aussöhnung beider gebärt dem Menschen das Wissen, führt ihn in den Tempel der Gottheit und der Natur, welches Erbauen des leztern die Arbeit der Naturfilosofie ist.« (GW 1,5). Seine Studien setzte O. dann in Würzburg u. a. bei Schelling fort, auf dessen Anraten er nach Göttingen wechselte, wo er sich 1805 mit der Schrift Die Zeugung (Bamberg/Würzb.) habilitierte u. den Grundriss u. d. T. Abriss des Systems der Biologie. Zum Behufe seiner Vorlesungen (auch u. d. T. Abriss der Naturphilosophie) publizierte. Während seiner Göttinger Zeit führte O. wiss. Untersuchungen über die embryonale Entwicklung der Säugetiere durch, die vor der »Göttinger Sozietät der Wissenschaften« verlesen wurden. Ausgehend von der »Gleichheit der Entwicklung des Embryo der Säugthiere mit den Vögeln« (GW 1,163) entdeckte er die Übereinstimmung von Dottersack (Vögel) u. Nabelbläschen (Säugetiere). 1807 wurde O. als a. o. Prof. der Medizin nach Jena berufen. In seiner Antrittsvorlesung Über die Bedeutung der Schädelknochen (Jena 1807), die später zu einem Prioritätsstreit mit Goethe führte, formulierte er seine Wirbeltheorie: »Das Skelet ist nur ein aufgewachsenes, verzweigtes, wiederhohltes Wirbelbein; und ein Wirbelbein ist der präformirte Keim des Skelets.« (GW 1,370). In seinem Lehrbuch der Naturphilosophie (Jena 1809–11. 2 1831. Zürich 31843) bezeichnet er diese als »Wissenschaft von der ewigen Verwandlung Gottes in die Welt« (GW 2,21). Sie soll »die Entwicklungsmomente der Welt von dem ersten Nichts an« aufzeigen u. erklären, »wie die Weltkörper und die Elemente entstanden, wie diese sich zu höheren Gestalten emporhoben, endlich organisch wurden und im Menschen zur Vernunft kamen. [...] Die Naturphilosophie ist im umfassendsten Sinne Kosmogenie, oder Genesis schlechthin, wie sie Moses nennt.« (GW 2,21). 1812 erhielt O. an der Philosophischen Fakultät eine ordentl.
Oken
Honorarprofessur für Naturgeschichte u. publizierte ab 1813 (bis 1826) sein Lehrbuch der Naturgeschichte (3 Tle. in 5 Bdn., Jena/Lpz.). 1814 heiratete er Louise Stark, eine Tochter des Jenaer Mediziners Johann Christian Stark. Ab 1816 (die ersten Hefte sind auf 1817 vordatiert) gab O. die von ihm als enzyklopädisch-wiss. Zeitung konzipierte »Isis« heraus, die er, nicht zuletzt unter dem Einfluss von Brockhaus, in den ersten Jahren auch als Forum für seine liberal-nationalen Anschauungen nutzte. Die dort eingerückte Berichterstattung über das Wartburgfest 1817 u. weitere polit. Artikel zu Storza u. Kotzebue führten zum Verlust seiner Professur, denn O. weigerte sich die Herausgeberschaft niederzulegen u. wurde daraufhin 1819 aus dem Dienst entlassen. Es folgten Aufenthalte in verschiedenen Städten (u. a. München, Paris u. Basel). Ab 1822 lebte O. in Jena als Privatgelehrter, u. im selben Jahr trat in Leipzig zum ersten Mal die von ihm im Vorjahr einberufene »Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte« zusammen, aus der die bis heute bestehende gleichnamige »Gesellschaft« hervorging. 1827 ging O. als Privatdozent nach München, wurde 1828 zum o. Prof. für Physiologie ernannt, aber bereits 1832 wieder entlassen. Schließlich wurde er 1833 als Prof. für Allgemeine Naturgeschichte, Naturphilosophie u. Physiologie an die neu gegründete Universität Zürich berufen u. wenige Monate später zum ersten Rektor der Universität gewählt. In Zürich verfasste O. sein umfangreichstes Werk, die Allgemeine Naturgeschichte für alle Stände (13 Bde., Stgt. 1833–42. Abb.en dazu in 16 Lfg.en 1834–44). Sein bekanntester Schüler war wohl der früh verstorbene Dichter u. Naturforscher Georg Büchner, der 1836 mit einer Arbeit Über das Nervensystem der Barben promoviert wurde. Nur wenige Monate nachdem O. im Jahr 1850 den letzten Band der »Isis« (Jg. 1848) publiziert hatte, verstarb er 1851 in Zürich an einer Bauchfellentzündung. O. gilt als Vertreter der sog. »Romantischen Naturphilosophie«. Wissenschaftlich steht er in der Tradition von Schelling, dessen naturphilosoph. Prinzipien er unter Heranzie-
Okopenko
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hung der älteren Mikro-Makrokosmos-Vor- (1779–1851). Hg. Dietrich v. Engelhardt u. Jürgen stellung für seine naturgeschichtl. Klassifi- Nolte. Stgt. 2002. – Katrin Stiefel: Zwischen Nakation fruchtbar macht. Schon 1805 ist das turphilosophie u. Wissenschaftspolitik: Zum Profil Tierreich für O. nichts anderes »als der ana- der ›Isis‹ [...]. In: Ber. zur Wissenschaftsgesch. 26 (2003), S. 35–56. – M. T. Ghiselin: L. O. In: Natomirte Mensch«, »das Makrozoon des Mikturphilosophie nach Schelling. Hg. Thomas Bach u. rozoon«, in ihm »liegt offen und in der O. Breidbach. Stgt. 2005, S. 433–457. – Claudia schönsten Ordnung auseinander gewikelt, Taszus: O.s ›Isis‹. Pressefreiheit, Restriktionen u. was in diesem, zwar nach derselben Ordnung, Zensur [...]. In: Jb. für Europ. Wissenschaftskultur in kleine Organe sich gesammelt hat.« (GW 4 (2008), S. 205–241. – T. Bach: Avantgarde im 1,19). An dieser Vorstellung hält er bis zum Bereich der Naturgesch. Arno Schmidt u. die Ed. Schluss fest, noch in der Allgemeinen Naturge- der Ges. Werke v. L. O. In: Autoren u. Redaktoren schichte ist das Tierreich nur »die allmähliche als Editoren. Hg. Jochen Golz u. Manfred Koltes. Entwickelung und selbstständige Darstel- Tüb. 2008, S. 240–252. – C. Taszus: L. O.s ›Isis‹ (1816–48). Zur konzeptionellen, organisator. u. lung der Organe des höchsten Thiers oder des techn. Realisierung der Ztschr. In: Blätter der GeMenschen« (V.1,3). sellsch. für Buchkultur u. Gesch. 12/13 (2009), Aufgrund seiner empirisch-embryolog. S. 85–154. Thomas Bach Forschungen betrachtet schon Haeckel O. als Vorläufer der Entwicklungslehre; mit seinen Arbeiten über die »Infusorien oder Bläs- Okopenko, Andreas, * 15.3.1930 Kaschau chen«, die er als selbständige morpholog. (Kosˇ ice)/Ostslowakei, † 27.6.2010 Wien. – Einheiten interpretiert, greift er der später Lyriker, Erzähler, Essayist, Hörspielautor. von Schleiden u. Schwann formulierten Zelltheorie vor. Seine naturgeschichtl. Werke er- O., Sohn eines ukrain. Arztes u. Diplomaten reichten eine breite Öffentlichkeit u. einige u. einer österr. Mutter, übersiedelte 1939 mit der von O. in die Wissenschaftssprache ein- seiner Familie nach Wien. Dort legte O. an geführten Begriffe (Kerfe, Lurche, Nesthocker einem humanist. Gymnasium die Matura ab. u. -flüchter) wurden auch in die Alltagsspra- Nach dem Chemiestudium trat er 1950 als Angestellter in einen Papierkonzern ein. Ab che übernommen. 1968 war er freier Schriftsteller, von 1973 bis Weitere Werke: Erste Ideen zur Theorie des 1985 Mitgl. der Grazer AutorenversammLichts. Jena 1808. – Über das Universum als Forts. des Sinnensystems. Jena 1808. – Über Licht u. lung, seit 1979 Mitgl. der IGÖA. O. lebte in Wärme. Jena 1809. – Neue Bewaffnung neues Wien, er erhielt zahlreiche Preise, u. a. den Frankreich neues Theutschland. Jena 1814. – Na- Anton-Wildgans-Preis (1965), den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur turgesch. für Schulen. Lpz. 1821. Ausgabe: Ges. Werke (= GW). 4 Bde. Hg. Thomas (1998) u. den Georg-Trakl-Preis (2002). Der Autor wolle »sich und die Leser aus Bach, Olaf Breidbach u. Dietrich v. Engelhardt. dem Schnarchfluß stören«, heißt es in O.s Stgt. 2007 ff. Literatur: Alexander Ecker: L. O. Stgt. 1880. – Roman Lexikon einer sentimentalen Reise zum Wolfgang Proß: L. O. – Naturforscher zwischen Exporteurtreffen in Druden (Salzb. 1970. Wien Naturphilosophie u. Naturwiss. In: Die dt. literar. 2008). Die Absichtserklärung wird durch den Romantik u. die Wiss.en. Hg. Nicholas Saul. Mchn. Text nachdrücklich eingelöst, O. verweigert 1991, S. 44–71. – Sibille Mischer: Der verschlun- sich in seinem Lexikon-Roman dem Erzählen gene Zug der Seele. Natur, Organismus u. Ent- u. sprengt mit der alphabet. Anordnung von wicklung bei Schelling, Steffens u. O. Würzb. 1997. A-Z in Stichwörtern inklusive Querverweisen – L. O. (1779–1851). Ein polit. Naturphilosoph. Hg. das Zeitkontinuum u. psycholog. GlaubwürOlaf Breidbach u. a. Weimar 2001 (darin zahlreiche digkeitsgebote. Die Schiffsreise eines Chebiogr. Artikel u. eine Bibliogr.). – O. Breidbach u. Michael T. Ghiselin: L. O. and ›Naturphilosophie‹ miekaufmanns von Wien in die Wachau biein Jena, Paris and London. In: History and Philo- tet den Lesern Reisemöglichkeiten im Kopf. sophy of the Life Sciences 24 (2002), S. 219–247. – 1998 erschien ELEX, eine Hypertextversion Von Freiheit u. Verantwortung in der Forsch. des Romans (Text, Grafik, Musik), realisiert Symposium zum 150. Todestag v. L. O. von der Gruppe Libraries of the Mind, als CD-
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Rom, die multimedial das Romankonzept aufgreift u. ergänzt. Seine Unbekümmertheit um den Zeitgeist bewies O. auch 1976 mit seinem zweiten Roman Meteoriten (Salzb.) – zu einer Zeit, da die meisten seiner Kollegen neue Zugänge zur epischen Verbindlichkeit hergestellt hatten. Hier waltet erneut das Prinzip der alphabet. Vokabelreihe. Anders als im Lexikon sind die Stichwörter nicht mehr nur einem substantivischen Repertoire entnommen, ein Gutteil der Roman-»Artikel« wird (in chaot. Folge) durch Vor-, Für-, Umstands-, Eigenschaftswörter eingeleitet. Die Meteoriten-Kapitel sind Erlebnissplitter, Versatzstücke einer Zeit, die als Bruchstücke eine Epoche dokumentieren. Erst in Kindernazi (Salzb. 1984) ist O. der Erzählkonvention kleinräumiger ausgewichen: Der Roman präsentiert 62 sequenziell verkoppelte Episoden u. macht im narrativen Verlauf politisch-biogr. Bezüge im Leben des Hitlerjungen Anatol fasslich. Die auktoriale Rekonstruktion gegen die Chronologie beginnt im April 1945, endet im April 1939 u. legt damit den Anfang einer Geschichte kindl. Beeinflussbarkeit u. naiver Propagandaanfälligkeit bloß. Bei O. bleibt das Schreiben prinzipiell dem Leben verpflichtet, der Abbau erzählerischer Einsinnigkeit dem Neubau einer Art Ding- u. Denkenzyklopädie, in der an die Stelle systemat. Rubriken eine überaus sinnliche, auf Details u. Farbeindrücke, auf skurrile Wortfügungen u. kühne Assoziationen abgestellte lyr. Schreibweise tritt. Bezeichnenderweise merkt O. im Nachwort zu seinem Band Gesammelte Lyrik (Wien/Mchn. 1980) an: »Ich bin nicht nur meinen Anfängen, sondern auch meinem Wesen nach Lyriker.« O. wandte sich zum ersten Mal mit Gedichten, die 1949 in der Literaturzeitschrift »Neue Wege« abgedruckt wurden, an ein größeres Publikum. 1951–1953 war er Herausgeber der Zeitschrift »publikationen einer wiener gruppe junger autoren«, an der u. a. auch H. C. Artmann u. Konrad Bayer mitarbeiteten. 1957 erschien sein erster Gedichtband Grüner November (Mchn.), 1963 u. 1977 erwarb er sich mit der gemeinsam mit Otto Breicha herausgegebenen Werkausgabe (Graz bzw. Eisenstadt) große Verdienste um das
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Schaffen der früh verstorbenen Hertha Kräftner. Freundschaftlicher Kontakt verband O. mit Elfriede Gerstl, Ernst Kein, Ernst Jandl u. Friederike Mayröcker (»A. O. ist einer unserer bedeutendsten Dichter, und die Stille um ihn (in mehrfacher Bedeutung) ist gleichzeitig seine Gloriole.«). Zum Autorenkreis aber, der heute als »Wiener Gruppe« in der Literaturgeschichte einen festen Platz einnimmt (Artmann u. Bayer sowie Achleitner, Rühm, Wiener), wahrte er Distanz. Ein »konkreter Poet« wollte O. nie sein; für seine Zurückhaltung gegenüber der »absoluten Textur, die die Teilwelt der Sprache, der Schrift oder anderer Signale von der Welt, auf die sie bezogen ist, loslöst« (in: Vier Aufsätze. Ortbestimmung einer Einsamkeit. Salzb. 1979), hat er provozierend die Bezeichnung »Konkretionismus« gewählt. Möglichst konkret sollte die Dichtung auf den realen Einzelfall reagieren, sein »Reaktions-Gefühl auf ausgewählte Wirklichkeit« (ebd.) bezeichnete er als »Fluidum«: »Das Fluidum-Erlebnis hat Ähnlichkeit mit Erleuchtungszuständen oder mystischer Innigkeit, ohne daß beim Fluidum ein Glaube mitspielt« (ebd.). Das kann sich in bestechend einfachen poet. Vignetten niederschlagen: »Die Sonne wärmt am Morgen Altmetalle. / Ein rotes Torschild macht uns wieder kindlich. / Die Wintertage sind vergangen alle« oder in komplexeren Formationen: »fünf Achtel Stratokumulus, rosig das Dach der Verzinkerei / voll Milchgeruch drüben unten dunkel- / blau-weißer Ammenvorhang« (in: Gesammelte Lyrik). O.s Bekenntnis zur Sachreferenz der Wörter gibt andererseits (im Spätwerk mit einer Tendenz zu gesteigerter Lakonik) oft genug zu erkennen, dass es Orte wechselnden Unbehagens (so der Titel von O.s Gedichtsammlung, Salzb. 1971) nicht zu überspringen vermag. Als eigene Gattungen verstand O. seine Traumberichte (Linz 1998) – das sind Traumprotokolle, die er im Zustand des Aufwachens notierte –, u. seine Locker- u. Spontangedichte. In mehreren Bänden (Lockergedichte. Wien 1983. Immer, wenn ich heftig regne. Wien 1992. Affenzucker. Wien 1999) sind die Zwei- u. Mehrzeiler erschienen, die ironisch u. lakonisch zwischen Nonsens u. Aphorismus angesiedelt sind u.
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für die O. »keine Verantwortung« übernahm, weder »ethisch noch moralisch«. Exemplarisch zwei Beispiele: »Schriftsteller / Missing link / pissing ink«. Bei seinen Lockergedichten durfte in selbstauferlegter purist. Disziplin nichts geändert werden, während er sich in den Spontangedichten des Bandes Streichelchaos (Klagenf. 2004) Retuschen erlaubte – O. erweist sich in ihnen als Meister der undisziplinierten Spontanpoesie, bisweilen gepaart mit beißendem Spott. Weitere Werke: Seltsame Tage. Mchn./Esslingen 1963 (L.). – Die Belege des Michael Cetus. Salzb. 1967 (E.en). – Warum sind die Latrinen so traurig? Spleengesänge. Salzb. 1969 (L.). – Der Akazienfresser. Parodien, Hommagen, Wellenritte. Salzb. 1973. – Graben Sie nicht eigenmächtig! Linz 1980 (Hörsp.e). – Johanna. Baden 1982 (Hörsp.). – Ges. Aufsätze u. andere Meinungsausbrüche aus fünf Jahrzehnten. 1. In der Szene. 2. Konfrontationen. Klagenf. 2000/01. – Erinnerung an die Hoffnung. Ges. autobiogr. Aufsätze. Wien 2008. Literatur: Margit Waid-Cuchnal: A. O. – Zum Romanwerk eines Lyrikers. Diss. Wien 1986. – Ulrich Janetzki: A. O. In: KLG. – Klaus Kastberger (Hg.): A. O. Texte u. Materialien. Wien 1998. – Anton Thuswaldner: A. O. In: LGL. – Konstanze Fliedl u. Christa Gürtler (Hg.): A. O. Dossier 23. Graz 2004 (mit Bibliogr.). Martin Loew-Cadonna / Christa Gürtler
Olbers, (Heinrich) Wilhelm (Matthias), * 11.10.1758 Arbergen, † 2.3.1840 Bremen; Grabstätte: ebd., Riensberger Friedhof. – Arzt u. Astronom. Schon während seiner Schulzeit bildete sich O. als Autodidakt in Mathematik u. Astronomie, was er während seines Medizinstudiums in Göttingen (1777–1780) fortsetzte. 1781 ließ er sich in Bremen als prakt. Arzt nieder, widmete sich aber auch, u. ab 1820 fast ausschließlich, der Astronomie. O. muss, wie seine 1782 veröffentlichte Arbeit über den Kometen von 1779 zeigt, schon während seiner Studienzeit jene einfache Methode, aus drei Örtern die Bahn eines Kometen genügend exakt berechnen zu können, entwickelt haben, die er, zur Abhandlung über die leichteste und bequemste Methode, die Bahn eines Cometen zu berechnen (engl. Übers. London 1820. Korrigierte Neuausg.
durch Franz Encke. Weimar 1847 u. Johann Gottfried Galle. Lpz. 1864.) ausgearbeitet, 1797 Franz Xaver von Zach zur Begutachtung übersandte, der sie ohne O.’ Wissen, um Kometentafeln erweitert, sogleich publizierte (Weimar 1797). Seine Methode blieb über 100 Jahre in Gebrauch u. begründete O.’ internat. Ruf als Astronom. Bei ihm liefen die geistigen Fäden zumindest der dt. Astronomie seiner Zeit zusammen, wie der weitgespannte Briefverkehr zeigt. Hierdurch war es ihm auch möglich, den Bremer Kaufmannslehrling, Autodidakten u. späteren »Papst« der Astronomie der ersten Hälfte des 19. Jh., Friedrich Wilhelm Bessel (1784–1846), bis hin zur Übernahme der Astronomieprofessur in Königsberg (1810) zu fördern. Obwohl O. fast alle Bereiche der zeitgenöss. Astronomie beherrschte, galt sein Hauptinteresse ab 1797 Kometen u. kometenähnl. Gebilden. Am 1.1.1802 konnte er den genau ein Jahr zuvor von Giuseppe Piazzi entdeckten »Kometen« wiederauffinden u. aufgrund der Bahndaten als Kleinen Planeten (Ceres) erweisen, der genau die schon von Kepler aufgewiesene Lücke zwischen Mars u. Jupiter füllte. Nach Entdeckung weiterer Planetoiden schloss O. aufgrund der Bahndaten, die alle sich in einer bestimmten Himmelsgegend nähern ließen, richtig, dass sie Bruchstücke eines größeren, an dieser Stelle geplatzten Planeten seien u. weitere am ehesten eben dort zu finden sein müssten. 1820 warf O. die als »Olberssches Paradoxon« berühmt gewordene, mit den Vorstellungen der klass. Physik nicht lösbare Frage auf, warum der Nachthimmel trotz der unermessl. Zahl von leuchtenden Sternen dunkel ist. Weitere Werke: W. O. Sein Leben u. seine Werke. Hg. C. Schilling. 3 Bde., Bln. 1894–1909; Bd. 1: Biogr. – Briefw. zwischen W. O. u. Friedrich Wilhelm Bessel. Hg. Adolph Erman. 2 Bde., Lpz. 1852. Literatur: Von Bremer Astronomen u. Sternfreunden. Hg. Walter Stein. Bremen 1958. – Stanley L. Jaki: The Paradox of O.’ Paradox. New York 1969. – Ders.: O Studies. With Three Unpublished Manuscripts by O. Tucson 1991. – Diedrich Wattenberg: W. O. im Briefw. mit Astronomen seiner Zeit. Stgt. 1994. – Gerd Biegel (Hg.): Neue Welten.
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Olden, Balder, auch: Olaf B., * 26.3.1882 Zwickau/Sachsen, † 24.10.1949 Montevideo/Uruguay (Freitod). – Erzähler, EssayOldecop, Johan, * 1493 Hildesheim, † 9.1. ist. 1574 Hildesheim. – Chronist. Der Sohn eines Schauspielerehepaars, Bruder W. O. u. die Naturwiss.en um 1800. Braunschw. 2001. Fritz Krafft
O., Sohn eines Hildesheimer Stadtbaumeisters, studierte 1515–1517 in Wittenberg (u. a. bei Luther) Theologie, blieb allerdings zeit seines Lebens der kath. Lehre treu. 1519 trat er in Rom in den Dienst eines Pronotars der Kurie, 1524 wurde er in Hildesheim Kaplan des Bischofs. Beide Tätigkeiten brachten zahlreiche Reisen mit sich, die ihn in die Niederlande, nach Süddeutschland (wo er in Freiburg Erasmus begegnete), Italien u. Spanien führten. Seit 1530 war O. Scholaster am Kollegiatsstift in Hildesheim; 1549 wurde er Dechant des dortigen Kreuzstifts. Mit O.s Namen verbindet sich bis heute die von ihm verfasste Chronik (Hg. Karl Euling. Tüb. 1891): Aufzeichnungen nach »Denkwürdigkeiten«-Art, die Jahre 1500–1573 umfassend, teils auf eigenem Wissen, in vielem aber auf Gewährsleuten (z.B. Albert Krantz) beruhend. Besonderen Raum widmet O. darin der »Hildesheimer Stiftsfehde« (1519–1523), einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen dem Hildesheimer Bischof u. dem Herzog in Celle einerseits, dem Wolfenbütteler u. dem Calenberger Herzog auf der anderen Seite. O.s polit. Sympathien galten dabei der Sache des Bischofs. In konfessioneller Hinsicht ist seine Chronik ein Plädoyer für die alte Kirche u. (dem Lutherbild Johannes Cochläus’ verpflichtet) gegen die Reformation, in der er eine Störung der Ordnung der Welt erblickt. O.s Chronik ist im 17. u. 18. Jh. vielfältig rezipiert worden; auch Leibniz hat sie benutzt. Literatur: Günter Scholz: Die Aufzeichnungen des Hildesheimer Dechanten J. O. Münster 1971. – Udo Stanelle: Die Hildesheimer Stiftsfehde in Ber.en u. Chroniken des 16. Jh. Hildesh. 1982. – Nicolaus Heutger: O. In: Bautz. Herbert Blume
von Rudolf Olden, studierte Literatur, Geschichte u. Philosophie in Freiburg/Br. Seine erste Publikation, Aus der Mannschaftsstube (Bln./Lpz. 1905), war eine Sammlung von Novellen, in denen er seine Kritik am preuß. Militarismus zum Ausdruck bringt. Als Feuilletonist der »Kölnischen Zeitung« machte er mehrere Weltreisen. Bei Kriegsausbruch 1914 befand er sich in Ostafrika. O. kämpfte zwei Jahre in der berüchtigten Truppe des Generals Lettow-Vorbeck u. geriet 1916 in engl. Gefangenschaft, aus der er erst 1920 zurückkehrte. Seine Kriegserlebnisse verarbeitete er in dem antiimperialist. Kriegsroman Kilimandscharo (Bln. 1922). In der Folge erschienen krit. Reisereportagen. Weithin bekannt wurde O. durch den biogr. Roman über den dt. Kolonialgründer Carl Peters, Ich bin Ich (Bln. 1927). Obwohl es sich um eine differenzierte, antinationalist. Studie der Mentalität eines »Vor-HitlerNazi« (Olden) handelt, fand sie auch den Beifall von Nationalsozialisten. 1933 emigrierte O. nach Prag. Dort schrieb er Anbruch der Finsternis. Roman eines Nazi (Erstdr. u. d. T. Dawn of Darkness. London 1933. Bln. 1981). Der Roman, der Deutschland in der Zeit von Dez. 1932 bis Mai 1933 schildert, veranlasste die Nationalsozialisten, O. auszubürgern u. seine Bücher zu verbrennen. Seit 1935 lebte O. in Frankreich u. schrieb als Literaturkritiker für verschiedene dt. Exilzeitschriften. Im April 1941 schiffte er sich nach Südamerika ein. In Argentinien u. ab 1943 in Uruguay engagierte sich O. in der antinationalsozialistischen kulturellen u. propagandist. Arbeit der Bewegungen »Das Andere Deutschland« in Argentinien u. »Freies Deutschland« in Mexiko. Durch zwei Schlaganfälle teilweise gelähmt u. stumm geworden, setzte O. seinem Leben selbst ein Ende. Ausgabe: Paradiese des Teufels. Biographisches u. Autobiographisches. Schr.en u. Briefe aus dem
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Exil. Hg. u. mit einem Nachw. v. Ruth Greuner. Bln./DDR 1977. Literatur: Ruth Greuner: Gegenspieler. Profile linksbürgerl. Publizisten aus dem Kaiserreich u. der Weimarer Republik. Bln. 1969. – Wolfgang Kießling: Exil in Lateinamerika. Lpz. 1980. Ilse Auer / Red.
Olden, Rudolf, auch: Karl Wurzbach, * 14.1.1885 Stettin, † 17.9.1940. – Journalist, Verfasser politischer Schriften. Bevor sich O., Bruder von Balder Olden, dem Journalismus zuwandte, war er Assessor in Bonn. Nach dem Ersten Weltkrieg, an dem er als Dragoner teilgenommen hatte, entwickelte er sich zum Pazifisten. In den 1920er Jahren war er gleichzeitig als polit. Redakteur des »Berliner Tageblattes« u. als Strafverteidiger in polit. Prozessen am Kammergericht in Berlin tätig. Er war einer der Verteidiger Carl von Ossietzkys in dessen Verfahren wegen Landesverrats. 1933 emigrierte O. in die Tschechoslowakei, 1934 nach England, wo er bis zu seiner Internierung von Juni bis Aug. 1940 zuerst in London, dann in Oxford lebte u. lehrte. Bei der Überfahrt mit dem Kinderevakuierungsschiff »City of Benares« Richtung USA fand er mit seiner Frau Ika den Tod, als das Schiff, von dt. U-Booten torpediert, unterging. Neben tagespolit. Artikeln veröffentlichte O. in Deutschland u. a. die 1929 in Berlin erschienene Biografie Stresemann. Weitere Werke: Das Wunder v. Konnersreuth. Bln. 1927. – Hitler der Eroberer. Die Entlarvung einer Legende v. einem dt. Politiker. Prag 1933. Amsterd. 1935. Hildesh. 1981. – Warum versagten die Marxisten? Paris 1934. – Hindenburg oder der Geist der preuß. Armee. Paris 1935. – ›Rettet Ossietzky!‹ Dokumente aus dem Nachl. v. R. O. Hg. Charmian Brinson u. Marian Malet. Oldenb. 1990. – ›In tiefem Dunkel liegt Deutschland‹. Von Hitler vertrieben – ein Jahr dt. Emigration. Hg. u. eingel. v. C. Brinson u. M. Malet. Bln. 1994. Literatur: Richard Drews u. Alfred Kantorowicz (Hg.): Verboten u. verbrannt. Dt. Lit. 12 Jahre unterdrückt. Bln./Mchn. 1947. Neuaufl. Mchn. 1983. – Ruth Greuner: Gegenspieler. Profile linksbürgerl. Publizisten aus Kaiserreich u. Weimarer Republik. Bln. 1969. – Charmian Brinson u. Marian Malet: R. O. in England. In: Lit. u. Kultur des Exils
in Großbritannien. Hg. Siglinde Bolbecher. Wien 1995, S. 193–215. – Brita Eckert: Dt. Exilarchiv erwirbt 900 Briefe v. R. O. In: Dialog mit Bibl.en. Die dt. Bibl. 14, H. 1 (2002), S. 49–52. – Wolfgang Georg Fischer: Der österr. PEN-Club im Exil oder Thomas Manns Brief über Robert Musil an R. O. In: Die Rezeption des Exils. Gesch. u. Perspektiven der österr. Exilforsch. Hg. Evelyn Adunka u. a. Wien 2003, S. 13–19. Ilse Auer / Red.
Oldenburg, Oldenbourg, Henry (Heinrich), * ca. 1618/19 Bremen, † 1677 London (Charlton); Porträtgemälde von Jan van Cleef (1668). – Redakteur, Wissenschaftsorganisator u. -kommunikator. Der Vater Heinrich Oldenburg war Lehrer am Paedagogium in Bremen, das auch der Sohn besuchte, u. später Prof. an der erst 1632 von König Gustav Adolf gegründeten Universität Dorpat. Der Sohn wechselte 1633 ans Gymnasium illustre, eine Gelehrtenschule, an der er 1639 zum Magister der Theologie promoviert wurde. Anschließend studierte er 1641 während einer Bildungsreise in den Niederlanden an der Universität Utrecht Theologie, wo er die Philosophie von Descartes kennenlernte. Über das folgende Jahrzehnt im Leben des jungen Gelehrten ist wenig bekannt, wahrscheinlich war er als Privatlehrer u. Begleiter reicher Studenten auf Reisen in verschiedenen Ländern Europas. 1652 zurück in der Heimat, reiste er im Sommer des folgenden Jahres im Auftrag des Stadtregiments seiner Heimat nach England, um mit dem Parlament (es ist noch die Zeit der Regierung Cromwells) über die Respektierung der Neutralität Bremens im Krieg zwischen England u. den Niederlanden zu verhandeln. Zwar scheint er mit seiner Mission wenig erreicht zu haben, aber er behielt seither seinen dauernden Aufenthalt in London u. an anderen Orten außerhalb, unterbrochen von nur wenigen Reisen auf dem Kontinent. O. wurde Mitgl. des Kreises um Samuel Hartlib, Theodor Haak, John Pell u. John Dury in dessen letzter Phase, mit Durys Tochter Dora Katherina war er seit 1668 in zweiter Ehe verheiratet (zwei Kinder, Rupert u. Sophia), u. wie auch die anderen Mitglieder dieses Kreises verkehrte er v. a. in den ersten Jahren mit
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John Milton. Auch mit dem antiquarian John Evelyn u. dem Theologen u. Naturphilosophen John Wilkins verbanden ihn frühe Kontakte. Eine Bekanntschaft mit Thomas Hobbes scheint auf frühere Begegnungen in Paris zurückzugehen. Robert Boyle engagierte O. als Privatinstruktor zur Unterrichtung seines Neffen Richard Jones. Mit ihm hielt sich O. 1656 in Oxford auf, u. 1657–1660 begleitete er seinen Schüler zum Studium auf dem Kontinent, einige Monate in Deutschland, dann in Südfrankreich u. v.a. in Paris. 1660 waren sie rechtzeitig zurück in London, um Zeugen des triumphalen Einzugs von König Charles II. zu sein, mit dem die Restoration-Ära begann. Als Mitgl. der Gelehrten des Gresham College war er wie Haak u. Wilkins um u. nach 1660 aktiv an der Gründung der Royal Society beteiligt u. wurde 1661 eines der ersten Mitglieder. Auf den Einfluss von Boyle geht 1662 seine Anstellung als einer der beiden Sekretäre der Gesellschaft zurück, ein Amt, das O. lebenslang bis 1677 u. zeitweise zus. mit Wilkins ausübte. Wie Hartlib in London oder Marin Mersenne u. Théophraste Renaudot in Paris, aber nahezu eine Generation jünger als Hartlib, der eng mit der Cromwell-Ära verbunden u. mit dieser gescheitert war, trat O. als Wissenschaftskommunikator (»intelligencer« ist die zeitgenöss. Bezeichnung) mit europ. Horizont hervor u. darüber hinaus als bedeutender Organisator der Neuen Wissenschaft im Sinne der experimentellen Naturforschung in der Fortführung der Tradition des Baconianismus. In seiner Verantwortung liegen die Sitzungsprotokolle der Royal Society u. bes. die mehr als drei Jahrzehnte umfassende Korrespondenz mit Gelehrten in ganz Europa auf Englisch, Latein, Französisch u. Deutsch, u. a. mit Edmund Halley, Christopher Wren, Hartlib u. Boyle (London), Johannes Hevelius (Danzig), Christiaan Huygens (Paris u. Amsterdam), Marcello Malpighi (Bologna, später Rom), Antonius van Leeuwenhoek (Delft), Jan Swammerdam (Amsterdam), Ehrenfried Walther von Tschirnhaus (Dresden) oder Gottfried Wilhelm Leibniz (Hannover). Man hat 2911 erhaltene Briefe gezählt (Ed. der Correspondence in 13 Bdn., 1965–86).
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Im Jahre 1665, dem Jahr auch der Gründung des Pariser »Journal des Savants« nur wenige Wochen zuvor, startete O. die »Philosophical Transactions«, trotz der Ungunst der Verhältnisse, nämlich einer Pestepidemie, die während fast zweier Jahre von Frühjahr 1665 bis Herbst 1666 in der Stadt grassierte, als der Hof nach Oxford auswich. O. ließ die Nummern 6–8 des 1. Jahrgangs des neuen Journals in Oxford erscheinen. Hinzu kam das verheerende »Great Fire«, das am Morgen des 2.9.1666 in einer Bäckerei ausbrach u. nach vier Tagen u. Nächten etwa vier Fünftel des alten Zentrums von London zerstörte. Die dritte Katastrophe hatte im Jahr zuvor eingesetzt u. sich parallel zur Pest entwickelt: der Ausbruch des zweiten Krieges gegen die Niederlande im Febr. 1665. Das gelehrte Journal, das sich, anders als das »Journal« in Paris, im Wesentlichen auf Rezensionen konzentrierte, wurde von O. stets selbst geleitet. Es war zwar die wichtigste publizist. Plattform, nicht aber das offizielle Organ der Royal Society, sondern O.s privates Unternehmen, das ihm zwar europaweiten Ruhm einbrachte, weil es bald überall gelesen wurde, das ihn aus seiner beständigen Finanznot jedoch zu keiner Zeit herausführte. Mit seinem Geldmangel hatte es auch zu tun, dass er während des Krieges sich gegen Bezahlung für den Nachrichtendienst einspannen ließ. Aufgrund einer fehlgeleiteten Intervention des Vorgesetzten seines Auftraggebers Sir Williamson wurde er im Sommer 1667 wegen »dangerous desseins and practices« (wegen staatsgefährdender Bestrebungen u. Machenschaften) ein paar Monate im Tower gefangengesetzt (die komplizierten Hintergründe bei McKie 1948 u. M. Boas Hall 2002, S. 107 ff., u. dies. in: Oxford Dictionary of National Biography 41, 2004, S. 675). Spinoza, den er 1661 bei einem kurzen Besuch in Amsterdam persönlich getroffen hatte, ermutigte O. zur Publikation seiner Philosophie. Seine lat. Korrespondenz mit Spinoza in den Jahren 1661–1665 u. 1675 ist bei weitem die umfangreichste, die dieser mit irgendeinem Gelehrten geführt hat. Diskutiert werden darin Details der Philosophie Spinozas sowie die relative Bedeutung des Experiments für die Methode der Wissen-
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schaft, das in den Briefen O.s bes. von Robert Boyle vertreten wird. Werke: Philosophical Transactions. Oxford 1665–77. – The Correspondence of H. O., 1641–73. 13 Bde. Hg. u. übers. v. Alfred Rupert Hall u. Marie Boas Hall. Madison/London 1965–86 [in Bd. 1 Frontispiz mit zeitgenöss. Porträt O.s v. 1668, das John Van Cleef zugeschrieben wird, u. biogr. Einl.]. – Briefe v. Ehrenfried Walther v. Tschirnhaus an H. O. u. Pieter van Gent aus den Jahren 1675–76. Faks. einer Hs. Amsterd. 1990. – Editionen anderer Autoren: The Diary of John Evelyn. Hg. William Bray. 2 Bde., London 1907. – Robert Hooke: Diary, 1672–80. Hg. H. W. Robinson u. W. Adams. London 1935. – Thomas Birch: History of the Royal Society. 4 Bde., London 1756/57. Nachdr. New York 1968.
702 and Corrections to ›The Correspondence of H. O.‹. In: Notes and Records of the Royal Society of London 44 (1990), S. 143–150. – Sarah Hutton: H. O. and Spinoza. In: L’hérésie Spinoziste. La discussion sur le ›Tractatus theologico-politicus‹, 1670–77. Hg. Paolo Cristofolini. Amsterd./Maarssen 1995. – M. Boas Hall: H. O. Shaping the Royal Society. Oxford 2002. – Dies.: H. O. In: Oxford Dictionary of National Biography, Bd. 41 (2004). Herbert Jaumann
Oldendorp, Christian Georg Andreas, * 8.3.1721 Groß-Lafferde im Stift Hildesheim, † 9.3.1787 Ebersdorf/Thüringen. – Erzieher u. Prediger der Brüdergemeine, Literatur: Thomas Sprat: History of the Royal Missionshistoriker.
Society. London 1667. – Jöcher. – Friedrich Althaus: O. In: Beilage zur Allg. Ztg., Mchn., Jg. 1888, Nr. 229–233; 1889, Nr. 212–214. – Dorothy Stimson: Hartlib and O.: Intelligencers. In: Isis 31 (1940), S. 309–326. – George H. Turnbull: Hartlib, Dury and Comenius. Gleanings from Hartlib’s Papers. Liverpool/London 1947. Nachdr. Farnborough 1968. – Douglas McKie: The Arrest and Imprisonment of H. O. In: Notes and Records of the Royal Society of London 6 (1948), S. 428–447. – Henri Daudin: Spinoza et la science expérimentale: sa discussion de l’expérience de Boyle. In: Revue de l’Histoire des Sciences 2 (1949), S. 179–90. – Alfred Rupert Hall u. Marie Boas Hall: Why Blame O.? In: Isis 53 (1962), S. 482–491. – Dies.: Philosophy and natural philosophy: Boyle and Spinoza. In: Mélanges Alexandre Koyré. Paris 1964. – M. Boas Hall: Some hitherto unknown facts about the private career of H. O. In: Notes and Records of the Royal Society of London 18 (1963), S. 94–103. – Dies.: H. O. and the Art of Scientific Communication. In: British Journal for the History of Science 2 (1964/65), S. 277–290. – A. R. Hall u. M. Boas Hall: Further Notes on H. O. In: Notes and Records of the Royal Society of London 23 (1968), S. 33–42. – A. R. Hall: H. O. et les relations scientifiques au VIIe siècle. In: Revue d’Histoire des Sciences 23 (1970), S. 285–304. – Ders.: H. O. In: DSB. – The Dictionary of Seventeenth-Century British Philosophers. Hg. Andrew Pyle. Bd. 2, Bristol 2000. – M. Boas Hall: O., the ›Philosophical Transactions‹ and Technology. In: Uses of Science in the Age of Newton. Hg. J. G. Burke. Berkeley 1976, S. 21–47. – Dies.: Les liens publics et privés dans les relations franco-anglaises (1660–1720). In: Revue de Synthèse 97 (1976), S. 51–59. – Elhanan Yakira: Boyle et Spinoza. In: Archives de Philosophie 51 (1988), S. 107–124. – A. R. Hall u. M. Boas Hall: Additions
Der Pfarrerssohn lernte auf dem Gymnasium in Hildesheim die Philosophie Wolffs kennen, kam aber durch sein Theologiestudium in Jena in den Kreis der erweckten Studenten. 1743 schloss er sich der Herrnhuter Brüdergemeine an, unterrichtete in verschiedenen Kinderanstalten, war Informator der Söhne des Grafen von Schweinitz in Herrnhut (1746–1748) u. des Barons von Campenhausen in Orellen/Livland (1753–1759), danach am Pädagogium in Niesky (1762–1766). 1766 erhielt er den Auftrag, die Geschichte der Brüdermission auf den Westindischen Inseln zu schreiben, die er bis Ende 1768 bereiste. Seit 1769 war er u. a. Prediger in Marienborn, Neuwied, Amsterdam, zuletzt in Ebersdorf. O., ein »Liebhaber der Naturgeschichte«, wurde bekannt durch seine materialreiche, an Land u. Menschen interessierte (Auskünfte der Sklaven über ihre Heimat in Afrika, ihre Sprache) Geschichte der Mission der evangelischen Brüder auf den caraibischen Inseln S. Thomas, S. Croix und S. Jan (2 Tle., Barby 1777), die Johann Jakob Bossart gekürzt herausgab (Neudr. nach dem handschriftl. Original in Vorbereitung). O.s Lieder wurden nur innerhalb der Brüdergemeine gesungen (Brüdergesangbuch). Ausgaben: Criol. Wörterbuch. Erster [...] Versuch. Hs. 189 S. im Unitätsarchiv Herrnhut. Neuausg. Tüb. 1996. – Bekehrungs-Gesch. der heydn. Mohren-Sclaven. o. O. [Stgt.] 1782 (Auszug aus der ›Gesch. der Mission‹). – Historie der carib. Inseln Sanct Thomas, Sanct Crux u. Sanct Jan, insbes. der dasigen Neger u. der Mission der evang. Brüder
703 unter denselben. 1. Tl. Komm. Ausg. des vollst. Ms. aus dem Archiv der Evang. Brüder-Unität Herrnhut. Hg. Gudrun Meier, Stephan Palmié, Peter Stein u. Horst Ulbricht. Bln. 2000. Literatur: Meusel 10, S. 218 f. – Lebenslauf mit eingestreuten Gedichten. In: Gemeinnachrichten V, I (1787), S. 538–565 (handschriftl.). – H. A. Lier: O. In: ADB. Dietrich Meyer / Red.
Olearius, Adam, auch: Öhlschlegel, * 16.8. 1599 (1603?) Aschersleben, † 22.2.1671 Schleswig. – Hofgelehrter. O., Sohn eines Schneiders, begann im Herbst 1620 in Leipzig ein Studium der Theologie, betrieb aber v. a. Philosophie u. Mathematik (Bakkalaureat am 24.9.1624). Nach der Erlangung des Magistergrades am 25.1.1627 wurde er spätestens 1630 Konrektor der Nikolaischule in Leipzig, 1632 Assessor der Philosophischen Fakultät. Aus dieser Zeit, in der er sich auch als Dichter in der Nachfolge Opitz’ betätigte (u. a. mit einem einzeln gedruckten Gedicht auf den Tod Gustav Adolfs: Sieges- und Triumffs-Fahne Gustavi Adolphi Magni [...]. Lpz. 1633. Internet-Ed.: VD 17), datiert seine Freundschaft mit Paul Fleming. 1633 verließ O. Leipzig, um bis 1639 als Sekretär einer Gesandtschaft Herzog Friedrichs III. von Schleswig-Holstein-Gottorf nach Russland u. Persien zu gehen; mit ihm reiste Fleming, dem er ebenfalls eine Anstellung verschafft hatte. Nach der Rückkehr erhielt O. am Hof des Herzogs auf Schloss Gottorf bei Schleswig eine Anstellung als Hofmathematiker; 1649 wurde er zgl. Hofbibliothekar. In den beiden Jahrzehnten bis zum Tod des Herzogs 1659 stand O. auf der Höhe seines Wirkens, war vielfach auf Reisen, auch im Ausland, knüpfte Verbindungen zu Gelehrten u. Literaten (Johannes Hevelius, Stanislaw Lubieniecki, Harsdörffer, Neumark, Rist u. a.) u. wurde 1651 in die Fruchtbringende Gesellschaft (FG 543) aufgenommen. Er brachte die dt. Gedichte u. lat. Epigramme Flemings zum Druck (Teütsche Poemata. Lübeck 1646. Epigrammata latina [...]. Hbg. 1649), veröffentlichte die Beschreibung der »Muscowitischen u. Persischen Reise« (Offt begehrte Beschreibung der newen orientalischen Reise [...]. Schleswig 1647. Internet-Ed.: VD 17 [HAB]),
Olearius
die Morgenländische Reyse-Beschreibung seines Gefährten Mandelslo (Hbg./Schleswig 1658. Internet-Ed.: VD 17 [HAB]. 1668. Hbg. 1696) u. eine Übersetzung von Saadis Gulistan aus dem Persischen (Persianischer Rosenthal [...]. Schleswig 1654. 1660. Hbg. 1696); später schloss hier noch die Bearbeitung u. Edition der Orientalischen Reise-Beschreibungen von Jürgen Andersen u. Volquard Iversen an (Schleswig 1669. Hbg. 1696). Dazu kamen Gelegenheitsgedichte sowie die Programme von Hofballetten u. anderen Festlichkeiten. Zgl. war O. neben dem Herzog führend an allen wiss. Bestrebungen des Hofs beteiligt, die in der Gründung einer Universität gipfeln sollten. Dazu gehörten, außer der Erweiterung u. Katalogisierung der Bibliothek, der Erwerb der natur- u. völkerkundl. Sammlung des Bernhard Paludanus in Enkhuizen (1651), die den Grundstock für den Aufbau einer Kunstkammer bildete, u. die Entwürfe für zwei bei den Zeitgenossen berühmte astronom. Modelle: eine bewegl. Armillarsphäre, die das Sonnensystem nach dem kopernikan. Modell darstellte (Nationalhistorisches Museum Frederiksborg/Dänemark), u. einen Globus von über drei Metern Durchmesser, der innen als eine Art Planetarium eingerichtet war (in veränderter Gestalt im Lomonosov-Museum, Leningrad). Für anspruchsvolle Veröffentlichungen standen ihm in seinem Haus mehrere Kupferpressen zur Verfügung. Schon das Ende der Regierungszeit Herzog Friedrichs war vom dänisch-schwed. Krieg überschattet, der die finanziellen Möglichkeiten des Hofs einschränkte. Unter Herzog Christian Albrecht blieb O. im Amt, jetzt als Bibliothecarius u. Antiquarius. Er hatte aber anscheinend weniger Rückhalt u. war an der Gründung der Universität Kiel 1665 nicht beteiligt. Seine Arbeiten waren jetzt v. a. Buchveröffentlichungen, darunter eine Darstellung der Beisetzungsfeierlichkeiten für Friedrich III. (Schleswig 1662), zwei Erbauungsbücher (Hbg. 1662 u. 1666) u. eine Bibelausgabe (Schleswig 1664; alle wohl für die Herzoginwitwe gedruckt), eine Holsteinische Chronik seit 1448 (Kurtzer Begriff einer holsteinischen Chronic [...]. Schleswig 1663. 1674), eine neue Agende für die Landeskirche (Das
Olearius
Schleßwigische und Holsteinische Kirchen Buch [...]. Schleswig 1665. Internet-Ed.: VD 17 [HAB]), die über 100 Jahre in Gebrauch blieb, u. eine Beschreibung von Stücken aus der Gottorffische[n] Kunst-Cammer (Schleswig 1666. Internet-Ed.: VD 17 [HAB]. 1674). Das literar. Werk des O. ist vielfältig, wie es den wechselnden Anforderungen an einen Hofgelehrten entsprach. Sein Hauptwerk ist der Bericht über die große Gesandtschaft, in dem der merkantilist. Zweck des – gescheiterten – Unternehmens, eine neue Route für den bes. einträgl. Handel mit Seide aus Persien zu erschließen, freilich ganz ausgespart bleibt. O. schildert die beschwerl. Reise u. die geografischen, polit. u. kulturellen Verhältnisse in Russland u. Persien im Wesentlichen aus eigener Anschauung, sachlich, klar, in krit. Auseinandersetzung mit den vorhandenen Berichten u. gibt zahlreiche Ortsansichten u. Darstellungen des Volkslebens sowie einige zuverlässige neue Karten. In der erweiterten Fassung von 1656, die zwischen Länderbeschreibung u. Reisebericht trennt, gehört die Reisebeschreibung in Stil, Aufbau u. Gehalt sowie in der drucktechn. Ausstattung zu den bedeutendsten Leistungen barocker Sachliteratur. Sie wurde ins Englische, Französische u. Niederländische übersetzt; für die Kenntnis Russlands im 17. Jh. gibt es keine vergleichbare westeurop. Quelle. Wie die an sie anschließenden Veröffentlichungen, mit denen sie als Des welt-berühmten Adami Olearii colligirte und viel vermehrte ReiseBeschreibungen (Hbg. 1696. Internet-Ed.: dünnhaupt digital) zusammengefasst wurde, ist sie das Ergebnis eines wachsenden Interesses an Erd- u. Völkerkunde u. des Aufschwungs der Erfahrungswissenschaften. Als Gelehrter ist O. v. a. nüchterner Beobachter u. Sammler, noch ohne ausgeprägte Methode u. ohne prakt. Zielsetzungen. Seine Grundhaltung, die er den Lesern vermitteln will, ist das Erstaunen über das »große Wunderbuch« der Welt in ihrer bunten Fülle. Ausgaben: Kurtze Erinnerung u. Ber., v. der grossen u. erschreckl. Sonnen-Finsterniß [...]. Lpz. 1630. Internet-Ed.: VD 17 (HAB). – Vermehrte newe Beschreibung der Muscowit. u. Pers. Reyse [...]. Schleswig 1656. Nachdr. hg v. D. Lohmeier. Tüb.
704 1971 (mit Nachw. u. Bibliogr. v. Werken u. Lit.). Ffm. 1994. London 2003. – Internet-Ed. weitere Texte in: VD 17. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 4, S. 2979–3004. – William Jervis Jones: German Lexicography in the European Context [...]. Bln. u. a. 2000, S. 545–549, Nr. 894–898. – VD 17. – Weitere Titel: Johannes Moller: Cimbria literata. Bd. 2, Kopenhagen 1744, S. 593–600. – Samuel H. Baron: Vorw. u. Einl. zu: The Travels of O. in Seventeenth-Century Russia. Stanford 1967. – Faramarz Behzad: A. O. ›Persian. Rosenthal‹ [...]. Gött. 1970. – Karin Unsicker: Weltl. Barockprosa in Schleswig-Holstein. Neumünster 1974. – Heiduk/ Neumeister, S. 427 f. u. Register. – D. Lohmeier: A. O. u. die Gottorfer Kupferstecher. In: Von allerhand Figuren u. Abb.en. Hg. Holger Borzikowsky. Husum 1981, S. 59–78. – Uwe Liszkowski: A. O.’ Beschreibung des Moskauer Reiches. In: Russen u. Rußland aus dt. Sicht: 9.-17. Jh. Hg. Mechthild Keller. Mchn. 1985 (21988), S. 223–263. – Estermann/Bürger, Tl. 1, S. 889; Tl. 2, S. 1115. – Frank Kämpfer: Engelbert Kaempfers ›Diarium Itineris [...]‹ u. sein Verhältnis zur ›Moscowitischen u. Persianischen Reise‹ v. A. O. In: Engelbert Kaempfer. Werk u. Wirkung. Hg. Detlef Haberland. Stgt. 1993, S. 72–84. – Thomas Strack: Exot. Erfahrung u. Intersubjektivität. Reiseber.e im 17. u. 18. Jh. Genregeschichtl. Untersuchung zu A. O., Hans Egede, Georg Forster. Paderb. 1994. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 24, S. 122–142. – Claus Priesner: A. O. In: NDB. – Hans-Georg Kemper: ›Denkt, dass in der Barbarei / Alles nicht barbarisch sei!‹ Zur ›Muscowitischen vnd Persischen Reise‹ v. A. O. u. Paul Fleming. In: Beschreibung der Welt [...]. Hg. Xenja v. Ertzdorff. Amsterd. u. a. 2000, S. 315–344. – Elio Christoph Brancaforte: Visions of Persia: Mapping the Travels of A. O. Cambridge, MA 2003. – Kulturgesch. der balt. Länder in der frühen Neuzeit [...]. Hg. Klaus Garber u. a. Tüb. 2003, Register. – Wolfgang Geier: Russ. Kulturgesch. in diplomat. Reiseberichten aus vier Jh.en. Sigmund v. Herberstein, A. O., Friedrich Christian Weber, August v. Haxthausen. Wiesb. 2004. – Dietmar Schubert: ›Zeuch in die Mitternacht, in das entlegne Land‹. Russlandbilder in den Gedichten Paul Flemings u. in der Reisebeschreibung des A. O. In: Spiegelungen [...]. FS Elke Mehnert. Hg. Sandra Kersten u. a. Bln. 2005, S. 433–452. – H.-G. Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 4/ 2, Tüb. 2006, Register. – Der neue Gottorfer Globus. Hg. Herwig Guratzsch. Lpz. 22006. – Wolfgang Struck: Evidenz u. evidentia. Die Suche nach einem dokumentar. Stil in A. O.’ ›Beschreibung der muscowitischen und persischen Reyse‹ (1656). In:
705 Erzählstile in Lit. u. Film. Hg. Jan-Oliver Decker. Tüb. 2007, S. 61–77. Dieter Lohmeier / Red.
Oleschinski, Brigitte, * 10.8.1955 Köln. – Lyrikerin, Essayistin u. Historikerin.
Olfers
Geisterströmung von 2004 (Köln) werden Bulgarien u. Südostasien als neue Erfahrungsräume bedeutsam. 2004 erhielt O. den ErichFried-Preis. Von 2003 bis 2005 erarbeitete sie mit dem indones. Regisseur Amien Kamil die Poesie-Performance Laut Lesung, die in Indonesien, Deutschland u. Mexiko aufgeführt wurde; von 2003 bis 2007 war sie Jurorin beim Leonce-und-Lena-Preis. Die poetolog. Reflexionen führt O. im Rahmen von Gastdozenturen, 2007 etwa der Kieler LiliencronDozentur, u. gemeinsam mit anderen Autoren im Internet fort (www.neuedichte.de). O. wird zu den profiliertesten Lyrikerinnen u. Lyrikern ihrer Generation gezählt. In einem Überblicksartikel über Lyrik heute von 2001 wird Mental Heat Control exemplarisch für die 1990er Jahre angeführt. Dementsprechend haben einige von O.s Gedichten auch Eingang in die neueren Anthologien deutschsprachiger Lyrik gefunden.
Die in Köln aufgewachsene O. ging 1978 nach Berlin, wo sie an der Freien Universität Politologie studierte. 1990 erschien ihr erster Gedichtband (Mental Heat Control. Reinb.), der bereits durch einen individuellen Stil gekennzeichnet ist; im Mittelpunkt der rhythmisch, klanglich u. metaphorisch dicht strukturierten Texte stehen komplexe Wahrnehmungen oft peripherer u. ephemerer Phänomene u. Situationen sowie dadurch ausgelöste Prozesse der Selbstreflexion. 1992 war O. Mitgründerin des Torgauer Dokumentations- u. Informationszentrums zur Geschichte der Gefängnisse u. Haftstätten im Nationalsozialismus u. in der Sowjetischen Besatzungszone; aus dieser Arbeit gingen eiWeitere Werke: Historische Schriften: Mut zur nige Publikationen hervor. 1993 folgte die Menschlichkeit. Der Gefängnisgeistliche Peter Promotion. Parallel zu ihrer wiss. Arbeit Buchholz im Dritten Reich. Königswinter 1991. – verfolgte O. ihre literar. Ambitionen weiter. Das Torgau-Tabu. Wehrmachtstrafsystem, NKWDZus. mit Durs Grünbein u. Peter Waterhouse Speziallager, DDR-Strafvollzug. Lpz. 1993 (hg. zus. veröffentlichte sie 1995 Die Schweizer Korrektur mit Norbert Haase). – ›Ein letzter stärkender Gottesdienst...‹. Die dt. Gefängnisseelsorge zwischen (Basel), einen Band experimenteller Poetik, in Republik u. Diktatur (1918–45). Bln. 1993. – Gedem ein poetologischer Essay von jedem der denkstätte Plötzensee. Bln. 1994. – Torgau. Ein drei Autoren von den jeweils anderen beiden Kriegsende in Europa. Bremen 1995. – ›Feindliche in parallel gedruckten Spalten kommentiert Elemente sind in Gewahrsam zu halten‹. Die sowird; in ihrem Beitrag bezieht O. sich u. a. auf wjet. Speziallager Nr. 8 u. Nr. 10 in Torgau elementare Körperfunktionen wie Atem, 1945–48. Lpz. 1997. Herzschlag u. Schritt als Grundlage ihrer Literatur: Theo Elm: Lyrik heute. In: Gesch. Lyrik. 1997 folgte mit Your Passport is Not der dt. Lyrik. Vom MA bis zur Gegenwart. Hg. Guilty (Reinb.) der zweite Gedichtband, der Walter Hinderer. Zweite, erw. Aufl. Würzb. 2001, den Stil des ersten weiterführt u. vertieft. S. 605–620. – Michael Braun: B. O. In: LGL. Frieder von Ammon 1998 wurde O. mit dem Bremer Literaturförderpreis u. dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet. Im selben Jahr schloss sie sich Olfers, Marie von, auch: M. Werner, dem PEN-Zentrum der Bundesrepublik * 27.10.1826 Berlin, † 8.1.1924 Berlin. – Deutschland an. 2001 erhielt sie den ErnstNovellen- u. Kinderbuchautorin, Malerin. Meister-Preis. Die poetolog. Essayistik wurde fortgesetzt mit den Bänden Reizstrom in Aspik Die Briefe und Tagebücher 1870–1924 (hg. v. ihrer von 2002 (Köln) u. Argo Cargo von 2003 (Hei- Nichte Margarete v. Olfers. 2 Bde., Bln. delb.). Letzterem ist, im Zusammenhang mit 1928–30) von O. sind eine anschaul. Quelle der Orpheus-Thematik des Essays, erstmals für das Kulturleben der gebildeten Berliner eine CD (ARGO CARGO – Wie Gedichte singen) Oberschicht. Das Haus ihrer Eltern, des Gebeigefügt, die von der Autorin gesprochene neraldirektors der Berliner Museen u. seiner Gedichte mit Gesang u. anderen Klängen Frau Hedwig, in dem auch die hochkultikombiniert. Hier wie im dritten Gedichtband vierte Großmutter Elisabeth Stägemann leb-
Oliver
te, bildete einen geistigen u. geselligen Mittelpunkt des biedermeierl. Berlin, eine Tradition, die die unverheiratet gebliebene Kunstmalerin u. Autorin von Lyrik (Simplicitas. Bln. 1884) u. weit verbreiteter Kinderbücher, bes. Märchen u. Novellen, glücklich weiterführte. Zu ihrem näheren Umgang gehörten neben Humboldt, den Grimms, später Dilthey u. Wildenbruch, im Alter Rilke u. Hofmannsthal. Literatur: Helene v. Nostitz-Wallwitz: Aus dem alten Europa. Menschen u. Städte. Lpz. 1925. – Bernadette H. Hyner: Not Another Grim(m) Tale: The Rights of Passage in M. v. O.’ ›Little Princess‹. In: Sophie Journal: Articles and Resources about Works by German-Speaking Women (2007), S. 1–24. Eda Sagarra / Red.
Oliver, José Francisco Agüera, * 20.6.1961 Hausach/Schwarzwald. – Lyriker, Essayist.
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1992. In Duende. Meine Ballade in drei Versionen (Gutach 1997) wird die alemann. Sprachkunst auf einen Höhepunkt geführt. Danach gehen die alemannischen (u. weniger stark auch die spanischen) Einschübe in der Lyrik zurück. Seit 2000 sind O.s Werke im Frankfurter Suhrkamp-Verlag erschienen: fernlautmetz (2000), nachtspuren (2002), finnischer wintervorrat (2005) u. unterschlupf (2006). Mit Mein andalusisches Schwarzwalddorf (2007) legte O. seinen ersten Essayband vor, in dem er auch Lyrik in die Prosatexte einfließen lässt. O. geht auf den ursprüngl. Wortsinn zurück u. hebt als Sprachbaumeister, als »Metz«, bes. die lautl. Dimension der Zeichen hervor (Fernlautmetz), bei Lesungen auch durch Performance u. Gesang. Code-Switchings führen z.T. an die Toleranzgrenze des monolingualen Lesers. Der Schwarzwald u. Andalusien stellen Orte der Alterität dar, denen O. sich annähert u. zu denen zgl. in krit. Distanz bleibt. O. engagiert sich auf Lesereisen, veranstaltet Schreibwerkstätten u. hat das Literaturfest »Hausacher LeseLenz« begründet.
Als Sohn einer andalusischen, nach Deutschland immigrierten Arbeiterfamilie geboren, studierte O. Romanistik, Germanistik u. Philosophie in Freiburg/Br. Er erhielt u. a. Literatur: Harald Weinrich: Laudatio auf J. F. folgende Auszeichnungen u. Preise: Stipen- A. O. In: Bayer. Akademie der Schönen Künste Jb. dium des Berliner Senats für das Literarische 11 (1997), S. 535–541. – Joachim Sartorius: ›im Colloquium Berlin (1994), Adalbert-von- wort sei klangherkunft/laut-vermächtnis‹. Zu eiChamisso-Preis (1997), Stadtschreiber des nem neuen Gedichtzyklus v. J. F. A. O. In: Sprache Goethe-Instituts in Kairo (2004), Kulturpreis im techn. Zeitalter 38 (2000), H. 154, S. 229–239. – Elke Sturm-Trigonakis: Formen u. Funktionen des des Landes Baden-Württemberg (2007). O.s Multilingualismus im poet. Werk des J. F. A. O. In: Lyrik steht in der Tradition von Konstaninos Sprache u. Multikulturalität. Hg. Eleni Butulussi. Kavafis, Octavio Paz, Paul Celan u. bes. von Thessaloniki 2005, S. 381–399. Christian Weber Federcio García Lorca. Er führt in seinen Gedichten dt. Hochsprache, alemann. Dialekt u. span. Sprache zusammen. In der äußeren Omeis, Magnus Daniel, * 6.9.1646 NürnForm sind seine Texte durch den Einsatz von berg, † 22.11.1708 Altdorf. – Philologe, häufigen Interpunktionszeichen (bes. durch Polyhistor u. Kirchenlieddichter. Doppelpunkte) gekennzeichnet, stilistisch durch Komposita, Alliterationen, Assonanzen Nach dem Besuch des Egidien-Gymnasiums u. Synästhesien geprägt. u. der Vorlesungen von Dilherr, Wülfer, Beer Die frühen Veröffentlichungen Auf-Bruch u. Arnold im Auditorium Publicum nahm der (Bln. 1987), HEIMATT und andere FOSSILE Sohn einer protestant. Nürnberger PfarrersTRÄUME (Bln. 1989), Weil ich dieses Land liebe familie 1664 ein Studium in Altdorf auf. Am (Bln. 1991) beschäftigen sich mit der Veror- 29.6.1667 wurde er dort zum Magister artitung eigener Identitätskreise (»W:orte«). Der um promoviert u. von Sigmund von Birken Band Gastling (Bln. 1993), ein Neologismus zum Dichter gekrönt, wenig später (1669) als aus Gast-arbeiter u. Fremd-ling, thematisiert »Damon« in den Pegnesischen Blumenorden die ausländerfeindl. Brandanschläge in Ho- aufgenommen. Die Jahre 1668 bis 1672 veryerswerda, Mölln u. Solingen vom Herbst brachte O. als Hofmeister im Haus des bran-
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Ompteda
denburgischen Residenten in Wien, wo er nes academicae u. Programmata in der Slg. Will der Kontakte zu Nicolai Avancini u. Petrus Lam- Stadtbibl. Nürnberg. Ausgaben: Fischer-Tümpel 5, S. 144–150. – beck knüpfen konnte. Nach einem kurzen Zwischenspiel als Hofmeister in Altdorf Trauerrede für S. v. Birken (1681). In: Trauerreden wurde O. 1674 als Nachfolger Christoph des Barock. Hg. Maria Fürstenberg. Wiesb. 1973, S. 335–337. – Internet-Ed. etlicher Schr.en in: VD Molitors Professor der Redekunst, 1697 17. wurde ihm die Präsidentschaft im BlumenLiteratur: Bibliografien: VD 17. – Jürgensen, orden übertragen, 1699 übernahm er die S. 353–378. – Weitere Titel: Erhard Reusch: MemoProfessur für Poesie. ria Omeisiana. In: Juvenci historiae evangelicae liO. verfasste über 200 zumeist lat. Reden, bri IV. Ffm./Lpz. 1710. – Georg Andreas Will: Abhandlungen u. Gelegenheitsgedichte. In Nürnbergisches Gelehrten-Lexicon [...]. Tl. 3, seinem Lehrbuch Gründliche Anleitung zur Nürnb./Altdorf 1757, S. 78–87. – Max Koch: M. D. teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst O. In: ADB. – Wilhelm Feldmann: Professor O. (Nürnb. 1704. 21712. Nachdr. Hildesh. in wird Kaiserl. Pfalzgraf. In: Reichswaldblätter Nr. Vorb.) setzte sich O. vom ästhet. Programm 11 (1940). – Blake Lee Spahr: Erasmus Francisci and M. D. O. In: Ders.: The Archives of the Pegnesischer der frühen Pegnitzschäfer – bes. von der Blumenorden. Berkeley 1960, S. 70–72. – Sigmund Klangmalerei – ab u. suchte ein am frz. v. Lempicki: Gesch. der dt. Literaturwiss. bis zum Klassizismus orientiertes Dichtungsideal Ende des 18. Jh. Gött. 21968, S. 172 f. – Franz durchzusetzen. Seine durch pietist. Fröm- Günter Sieveke: Topik im Dienst poet. Erfindung migkeit inspirierten geistl. Lieder wurden [...]. In: Jb. für Internat. Germanistik 8 (1976), 1706 in der Sammlung Geistliche Gedicht- und S. 17–48. – DBA. – BBHS, Bd. 6, S. 374 f. – EsterLieder-Blumen (Nürnb.) gedruckt. In seinen dt. mann/Bürger, Tl. 1, S. 891. – Thomas Althaus: Casualia für Nürnberger Patrizier setzte er Epigrammat. Barock. Bln. u. a. 1996, Register. – Sieglinde Adler: Literar. Formen polit. Philosophie. konsequent die Tradition der Schäferdich- Das Epigramm des 17. u. 18. Jh. Würzb. 1998. – tung fort (z.B. Glückwünschendes Hirten-Gedicht Thomas Diecks: M. D. O. In: NDB. – Markus Paul: Carolino mit Helidore. Nürnb. 1672. Des Cupido Reichsstadt u. Schauspiel. Theatrale Kunst im Fast-Nacht-Spiel. Nürnb. 1680). 1690 wählte O. Nürnberg des 17. Jh. Tüb. 2002, Register. – Linda in der Nachfolge der großen Trauerdichtun- Maria Koldau: Frauen, Musik, Kultur. Ein Hdb. gen von Birken u. Limburger nochmals die zum dt. Sprachgebiet der Frühen Neuzeit. Köln Form der Trauerekloge, um Christoph Fürer u. a. 2005, Register. – Jürgensen, passim. – Flood, VI. von Haimendorf zu ehren (Fürerischer Eh- Poets Laureate, Bd. 1, S. CXXX, Bd. 3, S. 1447–1451 u. Register. Renate Jürgensen / Red. ren-Tempel. o. O. 1690; Fortsetzung des Fürerischen Ehren-Tempels [...]. o. O. 1690). Als Philologe u. Historiker verfasste O. Vorarbeiten zu einer Teutschen Mythologia u. einem Nürn- Ompteda, Georg Frhr. von, auch: G. Egestorff, * 29.3.1863 Hannover, † 10.12. bergischen Gelehrten-Lexikon. Weitere Werke: Exercitatio philosophico-philologica [...]. Präses: Christoph Molitor; Autor: M. D. O. Altdorf 1666. – Schediasma de quatuor paradisi fluminibus [...]. Altdorf 1675. – Gloria Academiae Altdorfinae [...]. Altdorf 1683. – Panegyricus quem Leopoldo Magno [...] triumphatori [...] dicat consecratque M. D. O. [Altdorf] 1691. – Ethica Platonica [...]. Altdorf 1696. – Compendium ethicum [...]. Altdorf 1694. Erw. 1701. – Compendium rhetoricum topologiae cumprimis et pathologiae fundamenta perspicue monstrans [...]. Nürnb. 1699. – De claris quibusdam in orbe literato Norimbergensibus. Präses: M. D. O.; Respp.: Jakob Wilhelm Feuerlein, Johann Georg Haffner, Georg Andreas Will. Altdorf 1708. – Zahlreiche Prolusio-
1931 München; Grabstätte: Dresden, Trinitatis-Friedhof. – Romancier, Erzähler, Dramatiker, Lyriker, Übersetzer.
O. entstammte einem alten fries. Adelsgeschlecht, das im 16. Jh. nach Hannover ausgewandert war; sein Vater war letzter Hofmarschall des engl. Königs Georg V. Nach Erziehungsjahren in Wien u. Gymnasialzeit in Dresden schlug O. 1883 die Offizierslaufbahn ein u. absolvierte 1888–1891 die Kriegsakademie in Berlin, musste jedoch 1892 nach einem zur Dienstuntauglichkeit führenden Sturz vom Pferd aus dem Militär ausscheiden. Seither lebte er als freier
Oncken
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Schriftsteller in Berlin u. Dresden, später in Meran u. München. O. begann mit Gedichten u. erot. Novellen in Anlehnung an Maupassant, dessen Gesammelte Werke er auch übersetzte (20 Bde., Bln. 1898–1903). Größere Bekanntheit erlangte er mit seinen späteren gesellschaftskrit. Romanen, in denen er ein neues, auf Pflichterfüllung u. Dienstleistung gegründetes Adelsethos zu entwickeln suchte, so v. a. in der Trilogie Deutscher Adel um 1900 (Sylvester von Geyer. 2 Bde., Bln. 1897. Eysen. 2 Bde., Bln. 1900. Cäcilie von Sarryn. 2 Bde., Bln. 1902). Daneben wandte er sich immer wieder dem Genre des Bergromans zu, zuletzt in Bergkrieg (Bln. 1932; postum). Weitere Werke: Von der Lebensstraße. Lpz. 1889 (L.). – Die Sünde. Gesch. eines Offiziers. Lpz. 1891 (R.). – Ehel. Liebe. Bln. 1898 (D.). – Excelsior! Ein Bergsteigerleben. Bln. 1909 (R.). – Die Tochter des großen Georgi. Theaterroman. Bln. 1911. – Ausgew. Novellen. Stgt. 1923. – Sonntagskind. Stgt. 1929 (Autobiogr.). Literatur: Egon Schwarz: Adel u. Adelskult im dt. Roman um 1900. In: Ders.: Dichtung, Kritik u. Gesch. Gött. 1983, S. 69–112, bes. S. 93–100. Thomas Brechenmacher / Red.
Oncken, Hermann, * 16.11.1869 Oldenburg, † 28.12.1945 Göttingen; Grabstätte: ebd. – Historiker, politischer Publizist. Der Sohn eines Hofkunsthändlers entstammte einem alten fries. Geschlecht. Nach dem Studium in Berlin, Heidelberg u. Göttingen promovierte er, wieder in Berlin, bei Max Lenz zur oldenburgischen Geschichte im MA u. habilitierte sich vier Jahre später ebenfalls bei Lenz zur frühneuzeitlichen oldenburg. Geschichte. Im Sinne der neu-rankean. Position seines Lehrers Lenz griff O. 1897 in den sog. Lamprecht-Streit ein, indem er dem Leipziger Sozial- u. Kulturhistoriker Karl Lamprecht unsaubere Zitierweise u. Quellenarbeit nachwies. Doch obgleich O. zeitlebens, verstärkt unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs, den Maximen dieser Schule verpflichtet blieb – so dem Vorrang der Machtpolitik u. dem Primat der Außenpolitik –, wies er der Historiografie neue Wege, weniger methodisch als thematisch. Im Medium traditioneller Biografik wandte
er sich sozialen Bewegungen u. der Parteigeschichte zu. Nach dem programmat. Aufsatz 1903/04 über Politik, Geschichtsschreibung und öffentliche Meinung (wiederabgedr. in: Historisch-politische Aufsätze und Reden. Bd. 1, Mchn. 1914. S. 203 ff.) erschien sein Lassalle. Zwischen Marx und Bismarck (Stgt. 1904. 51966) – positiv auch im sozialist. Lager aufgenommen –, einige Jahre später die seinem eigenen polit. Standort entsprechende große life-andletter-Biografie Rudolf von Bennigsen. Ein deutscher liberaler Politiker (2 Bde., Stgt. 1910). Nach einer Privatdozentur in Berlin u. gleichzeitiger Lehre an der dortigen Kriegsakademie folgte O. 1906 einem Ruf nach Gießen. Zuvor hatte er als Gastprofessor 1905/06 in Chicago grundlegende Erfahrungen in Amerika gewonnen; die Kontakte zur angelsächs. Welt durch mehrere Aufenthalte auch in England prägten dauerhaft sein realpolitisch ausgerichtetes Urteilsvermögen. Bereits 1907 folgte O. einem Ruf nach Heidelberg, wo er in Max Webers Janus-Kränzchen engen Kontakt mit Ernst Troeltsch, Friedrich Gundolf u. Heinrich Rickert pflegte. Als national-liberaler Politiker u. seit 1915 als Vertreter der Universität in der Ersten Badischen Kammer wandte er sich mit großer öffentl. Resonanz 1912 gegen eine überzogene dt. Rüstungspolitik. Im engen Austausch mit dem letzten dt. Reichskanzler Max von Baden wirkte er mit ihm u. Max Weber seit Anfang 1919 in der Heidelberger Vereinigung für einen moderaten Verständigungsfrieden, nachdem er im Weltkrieg für außenpolit. Mäßigung u. innere Reformen plädiert hatte. In der Weimarer Republik setzte sich O., der seit 1923 in München, seit 1928 als Nachfolger Friedrich Meineckes in Berlin lehrte, als Vernunftrepublikaner für die parlamentarisch-demokrat. Verfassung ein u. unterstützte die Außenpolitik Gustav Stresemanns. Seine wiss. Arbeit konzentrierte sich nun auf die jüngere europ. polit. Geschichte zur Widerlegung der These von der Alleinschuld Deutschlands am Ausbruch des Weltkriegs u. auf umfangreiche Akteneditionen. Doch setzte sich sein großes Thema, die »Spannung zwischen Macht und Idee« fort, das er dann unter den Bedingungen des Na-
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tionalsozialismus variierte, mit scheinbar nur historischen, in Wirklichkeit aber zeitkrit. Arbeiten über Cromwell. Vier Essays über die Führung einer Nation (Bln. 1935) u. Die Sicherheit Indiens (Bln. 1937) sowie der Aufsatzsammlung Nation und Geschichte (Bln. 1935). Ein infamer Angriff seines ehemaligen Schülers Walter Frank im »Völkischen Beobachter« beendete 1935 abrupt O.s akadem. Laufbahn. Verbittert u. schwer krank überlebte er, Ehrendoktor u. Mitgl. zahlreicher dt. u. ausländ. wiss. Akademien, das Kriegsende unter der Fürsorge seines Freundes Meinecke in Göttingen um wenige Monate. Im Schatten seiner späteren, traditionsorientierten wiss. Arbeiten wurden seine frühen innovator. Wegweisungen nur zögernd von der dt. Geschichtswissenschaft wahrgenommen, eine eigentl. Schule hat er nicht begründet; seine bedeutendsten Schüler waren Gerhard Ritter u. Franz Schnabel. Weitere Werke: Das alte u. das neue Mitteleuropa. Gotha 1917. – Aus Rankes Frühzeit. Gotha 1922. – Die Rheinpolitik Kaiser Napoleons III. 1863–70 u. der Ursprung des Krieges v. 1870/71.3 Bde., Stgt. 1926. – Großhzg. Friedrich v. Baden. 2 Bde., Stgt. 1927. – Vorgesch. u. Begründung des Zollvereins. 3 Bde., Bln. 1934. Literatur: Klaus Schwabe: H. O. In: Dt. Historiker. Bd. 2, Gött. 1971, S. 81–97. – Rüdiger vom Bruch: Wiss., Politik u. öffentl. Meinung. Husum 1980. – Ders.: H. O. In: Historikerlexikon. Hg. ders. u. a. Mchn. 1990. – Christoph Cornelißen: Polit. Historiker u. dt. Kultur. Die Schr.en u. Reden v. Georg v. Below, H. O. u. Gerhard Ritter im Ersten Weltkrieg. In: Kultur u. Krieg. Hg. Wolfgang J. Mommsen. Mchn. 1996, S. 119–142. Rüdiger vom Bruch / Red.
Ophüls, Max, eigentl.: M. Oppenheimer, * 6.5.1902 Saarbrücken, † 26.3.1957 Hamburg; Grabstätte: Paris, Friedhof Père-Lachaise. – Theater-, Rundfunk- u. Filmregisseur, Hörspiel-, Theater- u. Revueautor. Nach dem Schulbesuch in Saarbrücken erhielt O. eine Schauspielausbildung bei Fritz Holl in Stuttgart, hatte erste Engagements in Aachen (1921–1923), Dortmund (1923/24), wo er erstmals Regie führte, in Barmen-Elberfeld (1924/25; Durchbruch als Regisseur)
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u. am Burgtheater in Wien (1925/26), wo ihm aus antisemit. Gründen gekündigt wurde. 1926–1928 war er Oberspielleiter am Neuen Theater in Frankfurt/M., 1928–1930 am Lobe- u. Thaliatheater in Breslau. Seit 1925 arbeitete O. auch für den Rundfunk u. verfasste zahlreiche Hörszenarien u. kabarettist. Sendungen. Ab 1931 war er in Berlin für Theater, Rundfunk u. Film tätig; sein erster Film war der Kurzfilm Dann schon lieber Lebertran (1931). O. konnte sich rasch etablieren, v. a. mit dem Operntonfilm Die verkaufte Braut (1932) nach Smetana u. der Schnitzler-Verfilmung Liebelei (1932/33), die ein großer internat. Erfolg wurde. Bereits Ende März 1933 floh O. vor den Nationalsozialisten ins Exil, lebte bis 1941 überwiegend in Frankreich, arbeitete aber auch in Italien u. Holland. 1938 erhielt er die frz. Staatsbürgerschaft u. nahm als Soldat am Zweiten Weltkrieg teil. Nach dem Zusammenbruch der frz. Front flüchtete er zunächst in die Schweiz, führte 1940/41 Regie am Zürcher Schauspielhaus u. ging dann in die USA (1941–1949), wo er nach längerer Arbeitslosigkeit 1947–1949 vier Filme drehte. 1949 kehrte O. nach Frankreich zurück; sein erster Film La Ronde (nach Schnitzler, 1950) wurde sein größter Erfolg. Für den SWF inszenierte er zwei Hörspiele (1954 Novelle, nach Goethe, u. 1956 Berta Garlan, nach Schnitzler). Sein letzter Film Lola Montez (1955) wurde von Publikum u. Kritik missverstanden u. abgelehnt. Die Inszenierung von Beaumarchais’ Der tolle Tag am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg (1957) war seine letzte künstlerische Arbeit. O. schuf trotz des zweifachen Exils ein stilistisch u. thematisch geschlossenes Werk. Seine Dramaturgie der Doppelung von direkter u. indirekter Beschreibung, die Einführung der Erzählerfigur u. der Gebrauch der Rückblende sind für seine Filme ebenso charakteristisch wie die fließende Bewegung der Inszenierung u. der Kamera. Die Beziehung der Geschlechter u. die Rolle der Frau in einer von Männern geprägten Gesellschaft behandelte O. häufig nach literar. Vorlagen, seine Verfilmungen der Werke u. a. von Schnitzler, Goethe, Stefan Zweig u. Guy de
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Maupassant gehören zu den bedeutendsten Literaturverfilmungen. Seit 1980 veranstaltet O.’ Geburtsstadt Saarbrücken jedes Jahr das Filmfestival Max Ophüls Preis für Nachwuchsfilmer aus Deutschland, Österreich u. der Schweiz. Weitere Werke: Spiel im Dasein. Eine Rückblende. Stgt. 1959. Erw. Neuausg. Dillingen 1980 (Autobiogr.). – Ich bin ein unheilbarer Europäer. Briefe aus dem Exil. Hg. Heike Klapdor. Bln. 2007. – Filme: Die verliebte Firma. 1932. – Lachende Erben. 1932/33. – On a volé un homme. 1933/34. – La signora di tutti. 1934. – Divine. Entstanden 1935. In: Colette au Cinéma. Paris 1975. – La tendre ennemie. 1935/36. – Komedie om Geld. 1936. – Yoshiwara. 1937. – Werther. 1938. – Sans Lendemain. 1939. – De Mayerling à Sarajevo. 1939/40. – The Exile. 1947. – Letter from an Unknown Woman. Entstanden 1947/48. New Brunswick 1986. – Caught. 1948. – The Reckless Moment. 1949. – Le plaisir. 1951/52. – Madame de... 1953. Literatur: Claude Beylie: M. O. Paris 21984. – Paul Willemen (Hg.): O. London 1978. – Peter W. Jansen u. Wolfram Schütte (Hg.): M. O. Mchn./ Wien 1989. – M. O. Hg. v. Freunden der Dt. Kinemathek. Bln. 1989. – Helmut G. Asper (Hg.): M. O. Theater, Hörspiele, Filme. St. Ingbert 1993. – Susan M. White: The Cinema of M. O. Magisterial Vision and the Figure of Woman. New York 1995. – Lutz Bacher: M. O. in the Hollywood Studios. New Brunswick 1996. – Jean Pierre Berthomé: Le plaisir (M. O.). Étude critique. Paris 1997. – H. G. Asper: M. O. Eine Biogr. Bln. 1998. – Gerd K. Schneider: Die Verwandlung v. Arthur Schnitzlers ›Reigen‹ bei M. O. u. in amerikan. Filmversionen. In: MAL 32 (1999), H. 4, S. 241–252. – Nöel Herpe (Hg.): M. O. Paris 2001. – Gero Gandert (Hg.): M. O. Mchn. 2002. – Luciano de Giusti u. Luca Giuliani (Hg.): Il piacere e il disincanto nel cinema di M. O. Mailand 2003. – S. M. White (Hg.): M. O. In: Arizona Quarterly 60 (2004), H. 5, S. 1–222. – Walter C. Metz: ›Who Am I in This Story?‹ On the Film Adaptations of M. O. In: Literature Film Quarterly 34 (2006), H. 4, S. 285–293. Helmut G. Asper / Red.
Opitz, Christian (Gottfried), * 15.11.1745 Petersdorf/Schlesien, † 2.6.1787 Liegnitz/ Schlesien. – Unterhaltungsschriftsteller. O.’ nähere Lebensumstände liegen fast völlig im Dunkeln. Mit hinlängl. Sicherheit lassen sich sein Beruf u. zwei seiner Wirkungsstätten angeben: Demnach lebte O. 1777 als Lehrer u. Kantor in Goldberg u. wechselte
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schließlich an eine Schule in Liegnitz, wo er anscheinend Prorektor war. Außerdem scheint er sich zu einem unbekannten Zeitpunkt an der Universität Halle promoviert zu haben. O. verzeichnete vorübergehend einen beachtl. Erfolg als Unterhaltungsschriftsteller. Ein publikumswirksamer, anonym veröffentlichter Romanzyklus empfindsamen Kolorits (Die Gleichheit der menschlichen Herzen bey der Ungleichheit ihrer äußerlichen Umstände in der Geschichte Herrn Redlichs und seiner Bedienten. 4 Tle., Lpz. 1766–71) kursierte unter seinem Namen, obwohl O. ebenso wie Johann Gottlieb Schummel nur einen Teil desselben verfasst hatte. Andere Autoren (u. a. Johann Jakob Bülau) wiederum borgten sich Namen u. Bekanntheitsgrad des Titelhelden für ihre eigenen Elaborate. Ein zweiter O. zugeschriebener Erfolgsroman (Geschichte des Herrn Wilhelm von Hohenberg und der [!] Fräulein Sophia von Blumenthal. Nach dem Geschmack Herrn Fieldings. 4 Tle., Langensalza 1758) stammt dagegen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht von O. Literatur: Goedeke 4/1, S. 578. Adrian Hummel / Red.
Opitz, Detlef, * 8.11.1956 Steinheidel/Erlabrunn (Erzgebirge). – Erzähler, Romanautor. O. wurde in der ehemaligen DDR wegen seiner Boheme-Existenz bespitzelt, mehrfach festgenommen u. 1985 wegen »gesellschaftlichen Missverhaltens« verurteilt; seine Texte erschienen bis 1989 fast ausnahmslos im Westen Deutschlands. Der mit mehreren Preisen, u. a. dem F.-C.-Weiskopf-Preis der Berliner Akademie der Künste u. der Eugen Viehof-Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung, Ausgezeichnete lebt in Berlin. Die Sammlung Idyll (Halle/Lpz. 1990) enthält Erzählungen, Miniaturen u. Briefe an das Steueramt oder die Volkspolizei in Halle u. Ostberlin, die O. in der ersten Hälfte der 1980er Jahre verfasst hat. Sie erweisen O. als literar. Eulenspiegel, der seine fortgesetzte Schikane durch die Stasi mit Eingaben u. Amtshilfen ad absurdum führt, die den Floskelapparat des Überwachungsstaates
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nachahmend überbieten u. entlarven. Als Klio, ein Wirbel um L. wird der Vorgang der »parodie & persiflage« des real existierenden Stoffrecherche, der Fakten, Konfabulationen Bürokratismus deutet sich bereits in diesen u. Fazetien einschließt, auch in Der BücherBriefen die Performanz von zweistimmigem mörder zum Prätext für Digressionen. LauWort u. doppeldeutiger Rede an, die O. auch rence Sternes The Life and Opinions of Tristram in seinem sprachartist. Roman Klio, ein Wirbel Shandy, Gentleman (1760 ff.) vergleichbar, um L. (Gött. 1996) nutzt, um zgl. die verlo- wird die Fragwürdigkeit jeder konsekutiv genen Luther-Feierlichkeiten des Honegger- erzählten Fall- u. Lebensgeschichte suspenRegimes, die hagiograf. Mythen der Refor- diert zugunsten kontingenter physiolog. u. mation u. die Auswüchse jener Gelehrsam- psycholog. Daten sowie zugunsten einer keit aufs Korn zu nehmen, die sich dieser Diskurs-Welt, deren Protagonisten Rede- u. Legendenbildung gegenüber kritiklos ver- Gedankenfiguren, Textsorten u. Genreforhält. Dabei setzt O. den auf die Normierung meln sind. Bekannte Motive u. Sujets werden der öffentl. Meinung bedachten Diskursen jeweils verquer buchstabiert u. dadurch ander staatl. u. kirchl. Autoritäten die »zentri- ders als gedacht lesbar gemacht. fugalen Kräfte« (Michail Bachtin) der HeteWeitere Werke: Das dritte Foto. Mit Linolroglossia u. Polyphonie entgegen: Durch schnitten v. Wolfgang Jörg. Bln. 1997. – Schicksale, echte u. falsche Zitate, Jargon u. Mundart, Scheusale, Labsale – Bücher. In: Vom Schreiben 6: Syntax u. Typografie werden die Mythen u. Aus der Hand oder Was mit den Büchern geschieht. Legenden »gegen den Strich gelesen«. Bearb. v. Reinhard Tgahrt, Helmut Mojem u. UlStrukturell knüpft der Roman an die über rike Weiß. Marbach 1999, S. 1–13. – Elke Erb u. D. O.: Leibhaft lesen. Gedichte / Andersdenken anders Arno Schmidt (Etym-Theorie) bis zu Johann denken. Laudatio auf Elke Erb [anlässlich der VerFischart zurückreichende Tradition einer leihung des Franz-Carl-Weiskopf-Preises am 23. Schriftbildlichkeit an, die den sexuellen April 1995 in der Akademie der Künste zu Berlin]. Subtext einzelner Ausdrücke sowie die Warmbronn 1999. Umkehrbarkeit der Intention sichtbar macht. Literatur: Andreas Koziol: Zur Prosa v. D. O. Einerseits stellt der aus zahlreichen Dialog- NachWort. In: Idyll 1990, S. 230–236. – Udo szenen, Annotationen u. Supplementen Scheer: Prall, flink, lästerlich. In: Gegengift 8,8 montierte Roman eine Satire auf den Topos (1996), S. 20–22 (Rez. zu ›Klio‹). – Gerhard Wolf: vom »inneren Ringen« Luthers um den Landstörzer u. Poet dazu. In: NDL 44,3 (1996), wahren Glauben dar, andererseits aber auch S. 184–186 (Rez. zu ›Klio‹). – Ulf Zimmermann: o. eine Hommage an die Vitalität seiner Tisch- T. In: World Literature Today 71 (1997), S. 377 gespräche u. Sendschreiben wie seiner für die (Rez. zu ›Klio‹). – Lutz Hagestedt: D. O. In: LGL. – Matthias Bauer: Subversive Supplemente in D. O.’ dt. Sprachgeschichte äußerst folgenreichen ›Klio, ein Wirbel um L.‹. Der histor. Roman zwiÜbersetzung der Hl. Schrift. schen Geschichtsklitterung u. Dekonstruktion. In: Die für O.’ Schaffen charakterist. Tendenz Tendenzen im Geschichtsdrama und Geschichtszur Demarkation der »Aktenlage« u. anderer roman des 20. Jh. Hg. Marijan Bobinac, Wolfgang vermeintl. Gewissheiten zeichnet auch Der Düsing u. Dietmar Goltschnigg. Zagreb 2004, Büchermörder (Ffm. 2005) aus, ein im Unterti- S. 313–330. Matthias Bauer tel als »Criminal« ausgewiesenes, von frivolen Spekulationen durchsetztes Konvolut Opitz, Hellmuth, * 6.1.1959 Bielefeld. – über den bibliomanen Pfarrer Johann Georg Kritiker, Lyriker, Hörbuch- u. Prosa-AuTinius, der 1813 verhaftet u. in einem langtor. jährigen, Aufsehen erregenden Indizienprozess des zweifachen Mordes angeklagt u. O. wuchs in der größten Stadt der überwie(angeblich) überführt wurde. Der mit Quel- gend protestantisch geprägten Region Ostlenangaben, Marginalien u. Sottisen verse- westfalen-Lippe auf. Großen Einfluss auf O. hene Text kehrt die Ungereimtheiten der übte bereits während seiner Jugend die nun Überlieferung hervor, nistet sich im Kanz- auch im Fernsehen zunehmend präsente leistil der Dokumente ein u. brütet dort ein Rock- u. Popkultur aus. Bes. die Anfang der polyhistor. Kuckucksei aus. Ähnlich wie in 1970er Jahre aufkeimende Heavy Metal-Ära
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weckte sein Interesse für Musik. O. machte fortan selber Musik u. begann eigene Songtexte zu verfassen, ehe er 1979 zum Studium der Germanistik u. Philosophie nach Münster ging. Dort paarte sich mit der Bewunderung jener musikal. Subkultur die Begeisterung für die dt. Literatur. Vor allem die Rhythmik bei Gottfried Benn u. die Bildwelt in Gerhard Falkners Lyrik wirkten sich auf die frühen Arbeiten O.’ aus. O. beschloss, fortan vom Schreiben zu leben. Nach dem Studium arbeitete er als freier Musikjournalist für überregionale Magazine wie »Musikexpress« u. »Rolling Stone«, führte Interviews mit internat. Künstlern wie Bruce Springsteen oder Aerosmith u. veröffentlichte zahlreiche Musikrezensionen. Heute arbeitet O. als Autor u. Werbetexter. In Bezug auf Stil u. Themenwahl trifft man in O.’ literar. Werk auf eine große Bandbreite, so auch in seinem letzten Gedichtband Die Sekunden vor Augenaufschlag (Bielef. 2006), in dem sich neben Prosagedichten u. freien Versen auch klass. Reime u. Lieder finden, die sich mit dem urbanen Alltag zwischen Hamburg u. Berlin auseinandersetzen. Weitere Werke: Prosa: Lonsky, Eine Shortstory. Bielef. 1988. – Metro, Texte zur Pariser Unterwelt. Bielef. 1987. – Lyrik: An unseren Lippengrenzen. Bielef. 1982. – Entfernungen Entfernungen. Bielef. 1984. – Die Städte leuchten. Ein Zyklus. Bielef. 1986. – Die elektr. Nacht. Elf erot. G.e. Bielef. 1990. – Engel im Herbst mit Orangen. Bielef. 1996. – Gebrauchte Poesie. Gedichte aus 20 Jahren. Bielef. 2003. – Hörbuch: Gebrauchte Gedichte. Bielef. 2004. – Frauen. Na ja. Schwierig. Hbg. 2005 (zus. mit Steffen Jacobs u. Matthias Politycki). Literatur: Michael Braun: H. O. In: LGL. Torsten Kellner
Opitz, Karlludwig, * 19.2.1914 Regensburg. – Romancier u. Publizist. O. trat 1931 in die frz. Fremdenlegion ein. Nach der Rückkehr nach Deutschland absolvierte er eine Ausbildung zum Journalisten, bevor er 1936–1938 seinen Wehrdienst ableistete. Wegen angeblichem Landesverrat wurde er verhaftet, jedoch später rehabilitiert. Ab 1941 war O. im Zweiten Weltkrieg Soldat u. nahm am Afrika-Feldzug Rommels teil. Ein »Heimatschuss« brachte ihn zurück
nach Deutschland. Danach war er in Frankreich im Einsatz. Nach dem Krieg war O. Stadtrat in Zittau (SBZ), wurde aber wegen angebl. Kollaboration mit dem »Klassenfeind« 1948 verhaftet u. ins Zuchthaus in Halle/S. gesteckt. 1949 siedelte O. nach seiner Entlassung nach Heidelberg in den Westteil Deutschlands über. Er schrieb für Zeitungen, das Fernsehen u. Theater. Seine ersten beiden Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. O. bereiste mehrfach die Länder des Ostblocks u. lebte zeitweise in der DDR. Die Ossietzky-Medaille, die ihm der ostdt. Deutsche Friedensrat verlieh, gab O. 1965 zurück. O. debütierte mit dem Kriegsroman Der Barras (Hbg. 1953. Halle/S. 1954), der auf autobiogr. Basis die Erlebnisse des Landsers Lingen an den Fronten in Afrika u. Frankreich schildert. Der Text gehört zum Typus des »harten Kriegsromans«, der ohne jede moralische oder polit. Wertung in krassen Details die Grausamkeit des Krieges herausstellt. Lingen sieht sich selbst als Rädchen einer Maschinerie, die ihn zum »berufsmäßigen Totschläger« gemacht hat. Er sieht keine Chance, der Täterrolle zu entkommen, nimmt sich aber die Freiheit, einem im Pariser Exil lebenden jüd. Jugendfreund einen Botendienst zu leisten. Stilistisch wird die Plastizität der Darstellung durch den Gebrauch des Präsens u. einer derben, das Vulgäre nicht scheuenden Sprache unterstützt. O.’ zweiter Roman Mein General, der parallel in West- u. Ostdeutschland erschien (Hbg. 1955. Halle/S. 1955), ist eine satir. Bloßstellung des Ungeistes der Restauration u. Remilitarisierung in der jungen Bundesrepublik. Aus der Perspektive des ehemaligen Fahrers des Generals, Feldwebel Horlacher, wird erzählt, wie sein Vorgesetzter gegen Kriegsende noch unter frz. Partisanen wütete, von den Amerikanern verhaftet u. den Franzosen ausgeliefert wurde. Der Ost-WestKonflikt führt zu seiner vorzeitigen Entlassung u. triumphalen Auftritten bei Kameradschaftstreffen. Seine wahnhafte Idee, Europas Heere gegen Russland zu sammeln, lässt ihn irrsinnig werden. Neben der Wiederkehr des militarist. Denkens demonstriert O. an Horlacher, der mit der Generalstochter
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eine einträgl. Schwarzbrennerei betreibt u. dann eine Maschinenfabrik gründet, die Soldatenhelme zu Kesseln umformt, das ebenso clevere wie skrupellose Ausnutzen der Nachkriegswirren zum ökonom. Aufstieg. Mit seinen im Ostberliner EulenspiegelVerlag erschienenen Werken Im Tornister: ein Marschallstab! Die jähe Karriere eines braven Soldaten (1959) u. O du mein Deutschland (1960) setzte O. die satir. Auseinandersetzung mit den Themen Militarismus u. Restauration fort. Im Tornister: ein Marschallstab! besitzt die Form eines monolog. Briefromans, in dem der junge Martin Bispamcke seinen Weg von der freiwilligen Meldung zur Bundeswehr 1957 bis zu seinem Eintritt in den Kameradschaftsverein »Stahlhelm« 1958 schildert. Der steile Aufstieg vom Rekruten zum Unteroffizier erfährt ein jähes Ende durch einen Panzerunfall, der ihn zum Invaliden macht. Die Briefe dokumentieren die Fortexistenz einer Bewusstseinslage, die durch die Bereitschaft zu bedingungslosem Gehorsam, Obrigkeitshörigkeit, blindem Antikommunismus u. Chauvinismus gekennzeichnet ist. Die Vielzahl der Briefempfänger – Braut u. Geliebte, Pfarrer u. Abgeordneter, Schulfreund u. Vorgesetzter, Versorgungsamt u. Kriegsdienstverweigerer – zeigt die Doppelzüngigkeit beziehungsweise den Opportunismus des Briefschreibers. Eine besondere stilist. Note erhält der Text durch O.’ Technik, die Sätze des Briefschreibers in Teilsätze zu zerlegen, was seine geistige Ungelenkheit offenbart u. zu unfreiwilliger Komik führt (»Sobald als möglich. Werde ich kostenlos zwei gutsitzende Prothesen erhalten. Auf denen ich mich unauffällig fortbewegen kann.«). Die selbstentlarvenden Briefe des Martin Bispamcke werden durch antimilitarist. Karikaturen von Kurt Halbritter flankiert. Auch der Folgeband O du mein Deutschland, der Kurzgeschichten, Glossen u. dokumentarisches Material enthält, wird in seiner satir. Absicht von den Illustrationen von Heinz Bormann unterstützt. Einige Texte aus diesem Band hat O. auch in seinem Roman Bolsche-Vita (Bln 1966) verwendet. Der Protagonist Leo Neumann kehrt als begeisterter Kommunist aus sowjet. Kriegsgefangenschaft zurück u. engagiert sich für den Aufbau des
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Sozialismus in der DDR. Wegen Kritik an der Bodenreform wird er aus der Partei ausgeschlossen u. muss sich in der Produktion bewähren. Durch die Entdeckung eines Herstellungsverfahrens aus der Zeit vor 1945 löst er eine Produktionskrise u. steigt zum Betriebsdirektor auf. Mit der erheblich jüngeren Ingetraud führt er ein luxuriöses Leben, bis seine Partnerin spontan eine Gelegenheit zur Republikflucht nutzt u. Neumann aus seiner Anwendung eines »faschistischen« Produktionsverfahrens ein Strick gedreht wird. Entsprechend des Untertitels Das Auf und Ab des Genossen Neumann findet sich die Hauptfigur am Ende in derselben kümmerl. Lebenssituation wie nach ihrer ersten Demontage wieder. O. entlarvt in Bolsche-Vita durch den reichl. Gebrauch des SED-Parteijargons den eklatanten Widerspruch zwischen den defizitären Produktions- u. Lebensbedingungen u. der ideolog. Schönfärberei. Der 1963 erschienene Roman ›...leidet für Deutschland‹ (Hbg.) spielt in einem bayerischen Dorf Anfang der 1960er Jahre. O. entwirft das düstere Bild einer Dorfgemeinschaft, die nach 1945 ebenso von nationalsozialist. Gesinnung durchdrungen ist wie sie es zuvor war, nur dass sich jetzt alle christlich-sozial geben. Im vertrauten Gespräch oder wenn der Bierrausch beim Einweihungsfest des Kriegerdenkmals die Zunge löst, bricht sich der alte Ungeist wieder Bahn. Der stramme Antikommunismus, der als willkommene Legitimation aller Ressentiments dient, stiftet im Zeichen bajuwarischer Gemütlichkeit eine ideolog. Waffenbrüderschaft zwischen alten Kameraden u. amerikan. Besatzungssoldaten. Dieser Ort ist das ideale Refugium für den ehemaligen SS-Offizier Kilian Spanner, der hier als Polizeimeister Unterschlupf findet u. seine als Kriegsverbrecherin gesuchte Frau Sigrid unter falschem Namen als Haushaltshilfe tarnt. In dem restaurativen Klima, an dem die kath. Kirche, das nahe Nonnenkloster, Bauernstand u. Honoratioren mitwirken, gedeihen die Rachegelüste des immer noch NS-fanatischen Paars. Als die Strafverfolgung seiner Frau ausgesetzt wird, verlassen die beiden das Dorf, weil Spanner von einem SS-Weggefährten der Rang eines Hauptmanns u.
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Kompaniechefs in der jungen Bundeswehr zugeschanzt wird. Erzähltechnisch hat O. die knapp ein Jahr währende Handlung mit Rückblenden in die Kindheit u. Jugend des Protagonisten durchsetzt, die seinen Lebensweg vom Anschluss an den Nationalsozialismus bis zum Untertauchen am Kriegsende nachzeichnen. Spanner hatte sich im Krieg auf dem Balkan u. in Russland zu einem Partisanenjäger entwickelt u. an zahlreichen Massenerschießungen teilgenommen. Gegen Kriegsende liquidierte er in Frankreich Fahnenflüchtige, bis er sich selbst absetzte. O. liefert die pessimist. Diagnose einer ihrer Vergangenheit verhafteten Gesellschaft, deren hyster. Russenangst zu einer Verblendung des Bewusstseins führt, die alle demokrat. Ansätze unterminiert. Mit seinen letzten beiden Romanen wendet sich O. von der Gegenwart ab u. der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zu. In der Manier von Hans Fallada schildert er in Haste was, dann biste was (Bern/Mchn. 1985. Neuausg. Ffm./Bln. 1988) die Jahre 1931 bis 1935 im Leben des gelernten Gleisbauers Bernhard Behse. Auf dem Höhepunkt der Arbeitslosigkeit kommt der junge Behse in ein Arbeitsdienstlager in der Lausitz, wird aber wegen eines Trippers, den er sich beim ersten Geschlechtsverkehr einfängt, entlassen. Im Frühjahr 1933 kommt er wegen einer unbedachten briefl. Äußerung über Hitlers Physiognomie für sieben Monate ins Zuchthaus. Sein Schwager, der eine steile Karriere bei der SS macht, bringt ihn im NS-Arbeitsdienst auf einem pommerschen Gut unter. Als sein Delikt ruchbar wird, wirft man ihn heraus u. verwehrt ihm auch den Antritt der zugesagten Lehrstelle bei der Reichsbahn. Behse darf immerhin noch Rangierer werden, aber nach einem Unfall im Urlaub hinkt er u. landet beim Gleisbau. Während die kleinen Leute in Bolsche-Vita u. Haste was, dann biste was nach ihren vergebl. Bemühungen um einen dauerhaften gesellschaftl. Aufstieg am Ende zumindest in die bescheidenen Verhältnisse ihrer Ausgangssituation zurückkehren können, wartet O.’ letzter u. wohl bester Roman Das Pfandhaus der Glückseligkeit (Bern u. a. 1989) mit einem trag. Ausgang auf. In einem Stil, der dem Ton
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der Neuen Sachlichkeit nachempfunden ist, erzählt O. handlungs- u. figurenreich die Parallelbiografien der Freunde Hugo Wiesella u. Eduard Wogatzki in der Zeit vom Ausbruch des Ersten bis zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Wiesella stammt aus der böhm. Kleinstadt Ohlau u. siedelt 1919 ins damals noch selbstständige Köpenick bei Berlin über, wo Wogatzki in eine Schlosserei eingeheiratet hat. Der Diebstahl eines Depots von Zigarren-Importen u. Goldmünzen zwecks »Existenzgründung« erlaubt Wiesella einen luxuriösen Lebenswandel, zumal er dem mit Tresoren vertrauten Wogatzki bei gelegentl. Einbrüchen assistiert. Die beiden genießen mit ihren lebenslustigen Partnerinnen die vor Dynamik u. Vitalität brodelnde Atmosphäre des Berlins der 1920er u. frühen 1930er Jahre. Ein unglückl. Zufall lässt die Polizei 1933 auf ihre Spur kommen. Nach langer Untersuchungshaft enden sie als Moorsoldaten im Emsland, wo Wiesella auf einen alten Widersacher aus Ohlau stößt, der bei den Nazis Karriere gemacht hat u. ihm am Ende eine tödl. Falle stellt. Die Dichte u. Lebendigkeit der Schilderungen des Berliner Großstadtalltags machen O.’ Roman zu einer kulturhistor. Quelle ersten Ranges. Von den wechselnden Modetrends bis zur Tätigkeit diverser Verwaltungsämter, von der Binnenstruktur des organisierten Verbrechens bis zur Freizeitgestaltung in der Berliner Seenlandschaft, von der extensiven Nutzung der Kneipenszene bis zu Daten über die Entwicklung der Verkehrsverhältnisse gibt Das Pfandhaus der Glückseligkeit erschöpfend Auskunft. Von der einzigartigen Atmosphäre dieses vergangenen Berlin legt O. so authentisch Zeugnis ab wie die zeitgenöss. Romane von Döblin, Kästner oder Keun. Weitere Werke: Meine Süße. Allerlei Allotria zwischen Tochter u. Vater. Hbg. 1956. Gütersloh 1956 u. ö. – Dt. Küchenfibel. Mchn. 1983. Jürgen Egyptien
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Opitz, Martin, auch: Martinus Opitius, Opicius, M. O. v. Boberfeld(t), Pseud. u. Gesellschaftsname: Der Gekrönte, * 23.12.1597 Bunzlau, † 20.8.1639 Danzig. – Diplomat, Gelehrter, Dichter. O. war Sohn eines Fleischermeisters in Bunzlau (Schlesien). Er kam also aus dem zünftigen Bürgertum u. musste sich den Weg zur Gelehrtenschaft, zum Patriziat sowie zu Adel u. Fürstentum selbst bahnen. Das gelang ihm rasch u. mit Unterstützung frühzeitig sich findender Gönner, wie sie ihm lebenslang zur Seite standen. In Bunzlau waren es sein Onkel Christoph Opitz u. Valentin Sänftleben als Rektoren der Lateinschule, in Breslau der Rektor des Magdalenäums Johannes von Hoeckelshoven u. die weit über Breslau hinaus bekannten Gelehrten Caspar Cunrad, Henel von Hennenfeld u. Daniel Rindfleisch. Sie alle neigten dem calvinist. Bekenntnis zu. Von dessen Geist war auch das Beuthener Gymnasium Georg von Schönaichs geprägt, das der jungen Generation die fehlende Landesuniversität dank illustrer Gelehrter ersetzte. Hier wirkte Caspar Dornau, der eine neu geschaffene Professur für Sittenlehre innehatte u. seine Zöglinge konfessionelle Toleranz u. v.a. »politische« Fertigkeiten lehren sollte. Hier wurden die Grundlagen für O.’ polit. Karriere zwischen den konfessionellen Fronten gelegt. Ein großes Lebenswerk bedarf der zündenden Inspiration in der Jugend. Sie wurde O. während seines Studiums ab 1619 in Heidelberg zuteil. Hier kam er in die Hauptstadt des dt. Calvinismus, denn die Pfälzer Dynastie war – von kurzen Intermezzi abgesehen – reformiert. Und hier sammelten sich unter dem Patronat des Pfälzer Oberrats u. Humanisten Georg Michael Lingelsheim die jungen Dichter um Zincgref zur Pflege einer neuen, dem Ausland ebenbürtigen höfisch-humanist. Kunstdichtung. Schede Melissus war ihrer aller Vorbild. O.’ schles. Freunde Kirchner u. Nüßler trafen sich hier u. im benachbarten Straßburg, wo Matthias Bernegger die Jugend begeisterte, nahmen die Impulse auf, die ihren schles. Versuchen die Richtung wiesen, u. gerieten alsbald in die Wogen der Politik. Sie konnten nicht gleich-
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gültig bleiben, als der junge Kurfürst von der Pfalz sich anschickte, den Habsburgern die böhm. Königskrone in Prag zu entreißen u. damit auch das Patronat über die schles. Erbu. Mediatfürstentümer zu übernehmen. Sie durften hoffen, dass ihre Sympathien für das calvinist. Bekenntnis endlich offen ausgesprochen werden konnten, der Druck des nachtridentiner Katholizismus von ihrer Heimat weichen, die deutschsprachige Kunstdichtung zum Organon ihrer nat. Hoffnungen wie in Frankreich, England u. den Niederlanden aufrücken u. die Föderation aller Protestanten befördern würde. Überschwänglich begrüßten sie daher den Einzug Friedrichs V. zunächst in Prag, dann in Breslau im Herbst 1619. Doch nach der verlorenen Schlacht am Weißen Berg im Nov. 1620 war der Traum ausgeträumt. Als gleichzeitig Heidelberg von Tillys Truppen eingenommen u. die »Bibliotheca Palatina« als schönste u. reichste dt. Bibliothek auf Geheiß Papst Gregors XV. nach Rom überführt wurde, verloren die Dichter u. Gelehrten in der Pfalz u. in Schlesien ihren Wirkungsraum u. mussten wie der Winterkönig ein unruhiges Wanderleben auf sich nehmen, das nicht selten im Exil endete. So auch O. Er entwich schon 1620 in das niederländ. Leyden, die gelehrte Hochburg des westeurop. Calvinismus u. der modernen polit. Theorie um Lipsius, lernte den niederländ. »Nationaldichter« Daniel Heinsius kennen, dessen Position er in Deutschland anstrebte, u. kehrte über Jütland im Sommer 1621 nach Schlesien zurück. Seine Gönner, die Herzöge von Liegnitz u. Brieg, hatten sich gleichfalls im böhmisch-habsburg. Krieg kompromittiert, das Sagen hatte der kath. Präsident der schles. Kammer Karl Hannibal von Dohna. So hieß es für O. schon 1622 weiterziehen ins reformierte Fürstentum Siebenbürgen, wo Bethlen Gabor junge Gelehrte für sein neu errichtetes Gymnasium in Weißenburg benötigte. Doch schon 1623 kehrte O. nach einer Zwischenstation bei Herzog Hans Ulrich von Schaffgotsch, der auch aufseiten des Pfälzer Kurfürsten gestanden hatte, zurück. Die schles. Herzöge u. Freunde vermochten nichts für ihn zu tun. So nutzte O. die
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Chance, sich einer schles. Delegation anlässlich des Todes Erzherzog Karls nach Wien anzuschließen. Der Kaiser war beeindruckt von einem lat. Lobgedicht aus dem Stegreif, verlieh die Würde eines kaiserlich gekrönten Poeten, der 1627 sogar die Nobilitierung folgte. Als O. dann 1629 in die »Fruchtbringende Gesellschaft« aufgenommen wurde, war der Zenith des Ruhms erreicht. Ihm blieb keine Wahl; er hatte seine Dienste der kath. Seite zu entbieten. 1626 wurde O. Sekretär u. Leiter der geheimen Kanzlei von Dohnas. Das hat die biederen Literaturhistoriker v. a. im 19. u. frühen 20. Jh. empört. O.’ Freunde sahen viel nüchterner, dass einer der ihren auf dem »Theatrum mundi« angesichts der schnell wechselnden Auftritte durchaus nicht unwichtig war; sie haben ihm die Volte (mit Ausnahme wohl von Andreas Gryphius) nicht verübelt. O. aber blieb nicht allein mit Akten, Korrespondenzen, Verträgen befasst. Unermüdlich war er in diplomat. Mission unterwegs, in Berlin, in Dresden, in Warschau, in Prag. Sein Geschick, seine Redekunst, seine Verschwiegenheit sind mehr als einmal bezeugt. Eine Krönung stellte die Paris-Reise von 1630 dar, führte sie ihn doch ins Zentrum des europ. Gelehrtentums. Hier weilten nicht nur Grotius u. die Godefroys; hier residierten auch die Gebrüder Dupuy, die mit den Späthumanisten ganz Europas korrespondierten, ein unübersehbares gelehrtes u. polit. Archiv, das Cabinet Dupuy, unterhielten u. die einschlägige Informationsagentur für alle am Geschick der europ. Nationen Interessierten bildeten. So konnte auch O. seinen Auftraggeber mit wichtigen Nachrichten versorgen. Dessen Tage waren freilich gezählt. Als die Schweden 1632 Breslau einnahmen, musste er nach Böhmen fliehen, wo er 1633 starb. O. konnte unbehelligt ins protestant. Lager der Herzöge von Liegnitz u. Brieg zurückkehren. Als Sachsen dann 1635 den Prager Separatfrieden schloss, Breslau erneut dem Druck Habsburgs ausgesetzt war, wich O. mit den schles. Herzögen nach Thorn aus u. fand im liberalen Polen Vladislavs IV. seine letzte Wirkungsstätte. Als Sekretär u. Historiograf des Königs verschaffte er vom Nachrichtenzentrum Danzig aus sowohl dem polnischen wie seinem Gegenspieler, dem schwed. Kö-
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nig, einschlägige Informationen u. suchte nach Kräften für die protestant. Sache u. seine Heimat zu wirken. Inmitten der Vorbereitungen für eine repräsentative Ausgabe seiner Schriften ereilte ihn der Pesttod. O. war seit Langem das von Freunden u. Gönnern anerkannte Haupt. Einer der Nächsten, Christoph Koeler, hielt die Toten- u. Gedenkrede im Magdalenäum, der Studienstätte seiner Jugend. Der Dichter hatte den Boden der Heimat u. seiner geistigen Hauptstadt Breslau nicht wieder betreten. Wie alle großen dt. Dichter des 17. Jh. hat O. in nlat. Sprache begonnen u. sein Leben lang zweisprachig gedichtet. Aus dem Jahr 1614 stammt der erste Eintrag in das Stammbuch eines Freundes. Schon ein Jahr später war die erste, 21 Stücke umfassende Sammlung abgeschlossen: Strenarum libellus (Görlitz 1616). O.’ Gelegenheitsdichtung, die überwiegende Menge seiner lat. Gedichte, ist v. a. dank des Wirkens seines Jugendfreundes Bernhard Wilhelm Nüßler erhalten, der sie 1631 in den Silvarum libri III. Epigrammatum liber unus (Ffm. 1631. Internet-Ed. in: CAMENA u. Dünnhaupt digital) zusammentrug. Bedenkenswert bleibt, dass der junge Dichter sehr früh schon den Übergang zum dt. Idiom suchte, u. zwar in der Theorie wie in der Praxis. Einer lateinischen Übungsrede, vorgetragen 1617 im Beuthener Gymnasium, hat er sein Bekenntnis zur dt. Dichtung anvertraut: Aristarchus sive de contemptu linguae teutonicae. Sie ist eines der großen Manifeste der dt. Literatur. O. kannte sich im humanist. Milieu aus. So setzte er den Germanen-Mythos als Äquivalent zur Rom-Ideologie der Italiener effektvoll ein, um an das nat. Ehrgefühl seiner Landsleute zu appellieren, endlich eine den europ. Nachbarn in Ost u. West ebenbürtige dt. Sprache u. Kunstdichtung auf den Fundamenten der antiken Poesie zu schaffen. Damit hatte O. das Thema seines Lebens gefunden. Er sprach, wie alle Humanisten, erfüllt von Liebe für sein Vaterland, doch kosmopolitisch nehmend u. gebend, wie es zwischen dieser gelehrten Elite üblich war, die allenfalls konfessionelle, jedoch keine nat. Schranken kannte. O.’ auf den Aristarchus folgendes Buch von der deutschen Poeterey
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(Breslau 1624) ist als Regelwerk für die Handhabung des poet. Handwerkszeugs u. insbes. als kleines Organon zur Gattungslehre gelesen worden. All das war es auch, doch zgl. wesentlich mehr. Ging es doch um die Rehabilitierung des zum Pritschmeister herabgesunkenen Dichters u. der Poesie gleichermaßen. O. kehrte die Stellen der poetolog. Tradition Europas hervor, in denen die Würde, die Kompetenz, die Universalität des Dichters sinnfällig wurden. Er arbeitete daraufhin, dem Adel u. dem Fürstentum einen souveränen Partner anzuempfehlen. Nur so ist die große programmat. Vorrede zu verstehen, die er seiner ersten deutschsprachigen Gedichtsammlung von 1625 vorausschickte u. die nicht zufällig dem Begründer der Fruchtbringenden Gesellschaft, Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen, zugeeignet ist. Die erlauchte Reihe von Augustus bis Franz I. wird bemüht, um zu demonstrieren, dass Regenten u. Dichter wechselseitig profitieren, wo immer sie zusammenarbeiten. Diese Verankerung der Poesie im höf. Milieu konsequent vollzogen zu haben, blieb in den Augen schon der Zeitgenossen O.’ großes Verdienst, gab es doch keine geschichtl. Alternative. O. wusste mit seinen Nachfolgern sicherzustellen, dass darüber das bürgerlichgelehrte Erbe der Renaissance nicht verloren ging, um dessentwillen er der Aufklärung teuer war: Vernunft, Tugend, Sachverstand, Gleichberechtigung mit dem Adel in allen auf Wissen gegründeten Fragen u. Disziplinen. O. wollte eine poet. Sprache schaffen, in der der missl. Gegensatz zwischen natürlicher u. poet. Wortbetonung, wie im älteren Knittelvers üblich, beseitigt war. Kluger Kalkulator auch in Dingen der Verskunst, strebte er den regelmäßigen Wechsel zwischen betonten u. unbetonten Silben an. O. suchte den gewichtigen, gehobenen, kunstvollen Vers u. fand ihn im Alexandriner, den er als Äquivalent zum antiken Hexameter gelten ließ. Als sein Freund Julius Wilhelm Zincgref 1624 in Straßburg die poet. Ernte vornehmlich des so reichen Heidelberger Jahres in den Teutschen Pöemata sammelte, präsentierte sich ein formsicherer Künstler: »Du Teutsche Nation voll Freyheit Ehr und Tugendt, / Nimb an diß kleine Buch, die früchte meiner Jugendt, / Biß
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daß ich höher steig und deiner Thaten zahl / Werd unablässiglich verkünden überal.« So hieß es nun programmatisch u. metrisch makellos. O. war mit dem Werk des treubesorgten Freundes nicht zufrieden. Er wollte nicht vornehmlich als Dichter von Liebesgedichten auftreten, fand immer noch unsaubere Verse u. vermisste v. a. die strenge Komposition. So ließ er schon im nächsten Jahr die Acht Bücher Deutscher Poematum (Breslau) folgen. Sie haben in der Geschichte der dt. Lyrik Epoche gemacht, dank ihrer Themen, ihrer Formen, ihrer Architektur. O. wählte für die ersten fünf Bücher die antike Form der Silvae zur Gliederung. Sie erlaubte ihm – einem Mischwald gleich – Verschiedenartiges zu vereinen u. zgl. nach thematischer, anlassbezogener u. ständ. Rangordnung zu sondern. An den Anfang stellte er die geistl. Gedichte, die später in seiner Ausgabe letzter Hand einen eigenen Band füllen sollten. Dann folgten die Lehrgedichte. Das dritte Buch war den Gelegenheitsgedichten vorbehalten. Eine eigene Abteilung unter den Casualia bildeten die Hochzeitsgedichte. Weniger exponiert, aber immer noch reichhaltig bestückt, gab sich das fünfte Buch der Liebesgedichte. Neben das Alexandrinergedicht trat das Lied, u. hier erreichte der junge O. auf Anhieb eine Schlichtheit, Anmut u. Gewandtheit, die in der Geschichte der dt. Lyrik denkwürdig bleiben wird, zgl. aber auch zeigte, was es bedeutete, wenn an vorhandene Traditionen angeknüpft werden konnte. Den Oden oder Gesängen behielt er folglich ein eigenes Buch vor. Mit ihnen wurden die drei letzten Bücher eröffnet, den aus der Antike ererbten u. in inzwischen überall in Europa kurrenten lyr. Formen gewidmet. Briefliche Zeugnisse belegen, dass O.’ Lieder auf den Gassen Heidelbergs gesungen wurden. Ihre zarte Linienführung überdauerte wie sonst nur das Kirchenlied die Zeiten; im Lied gelangen den Dichtern des 17. Jh. – allen voran den Leipziger Lyrikern mit Paul Fleming an der Spitze – am frühesten vollendete Schöpfungen »Jetzund kömpt die Nacht herbey / Vieh und Menschen werden frey / Die gewüntschte Ruh geht an; / Meine Sorge kömpt heran.«
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Für fast alle Lieder lassen sich ausländische, zumal frz. u. niederländ., Quellen ausfindig machen. Es war O.’ Ziel, die dt. Sprache zur ebenbürtigen Kunstsprache zu formen. Er hatte im Aristarchus gegen die Manieristen gewettert. Seine Sprache verselbständigte sich nie, sondern blieb dem poet. Gedanken angemessen, der als gefälliger u. gänzlich durchgestalteter von hohem Kunstverstand zeugte u. zu solchem einlud. Dieses formale Exercitium verlangte O. seinen Nachfolgern wie seinen Lesern ab u. sorgte für eine Reinigung wie eine Schulung des Geschmacks, die angesichts der Verwilderung der Formen unabdingbar schien. Im Übrigen dürfte er selbst seine eigentl. Leistung in seinen »Sonetten« gesehen haben, die schon 1625 ein eigenes Buch füllten u. überall an den europ. Meister der Gattung, Petrarca, erinnerten. In der Gattung des »Epigramms« schließlich, mit dem die Acht Bücher schließen, konnten sich alle Vorzüge des auf Pointen, Anspielungen, Antithesen gerichteten O.-Stils auf knappstem Raum entfalten. Damit war der dt. Literatur ein lyr. Repertoire erobert, das ausgebaut, metrisch u. strophisch bereichert, rhetorisch weiterentwickelt werden konnte, im Grunde jedoch ein ganzes Jahrhundert inspirierte u. den Grund für eine durchgehende Revision der dt. Dichtersprache legte, ohne die das 18. Jh. nicht denkbar gewesen wäre. O. blieb jedoch nicht bei den lyr. Genera stehen. Er musste auch das Problem der großen Formen lösen u. tat es mit dem ihm eigenen Geschick. Das ehrgeizigste Projekt knüpfte sich für alle Humanisten an das Epos in der Nachfolge zumal Vergils. O. machte sich in Jütland an die Arbeit u. verfasste sein Trostgetichte in Widerwärtigkeit des Krieges, das er erst 1633 in Breslau publizierte. Gewiss hatte es nicht die Vergil’schen Dimensionen, aber es teilte mit dem großen Römer u. seinen Nachfolgern das nat. Thema unter den Bedingungen der Moderne, des in Bürgerkrieg u. Religionsspaltung gefesselten Europa, das an den Untergang der röm. Republik gemahnte. Wie die Besten des europ. Späthumanismus machte sich auch O. zum Anwalt von religiösem Frieden u. Toleranz, scheute sich freilich auch nicht, zu Verteidigung u. Widerstand aufzu-
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rufen, wo der kath. Aggressor den Protestanten das Lebensrecht streitig machte. Höher als die Ansprüche der sich diskreditierenden Konfessionen stand das Wohl des Vaterlandes u. dessen Befreiung von auswärtigen Zwängen. Solche Töne, aus dem europ. Humanismus ererbt, machten O.’ Stimme dem aufgeklärten 18. Jh. teuer; noch im Vormärz bei Hoffmann von Fallersleben ist sie vernehmbar. In diesem Kräftefeld zwischen Renaissance u. Aufklärung ist die Dichtung O.’ u. seiner Nachfolger angesiedelt. Dass sie deshalb nicht »unhöfisch« zu sein brauchte, ist nur einer undialekt. Literaturwissenschaft ein Rätsel. Neben dem Epos stand der Roman, der in Spanien seine erste Blüte im neueren Europa gezeitigt hatte. Mit sicherem Griff machte O. die beiden höf. Formen in Deutschland heimisch. Der allegorisch verschlüsselte polit. Roman hatte in John Barclays nlat. Argenis ein europ. Musterbild, das O. 1626–1631 übertrug. Der Schäferroman, gleichfalls höfisch orientiert u. zum Regentenspiegel tendierend, besaß in Philipp Sidneys Arcadia ein leuchtendes Beispiel, das 1629 nach Deutschland gelangte u. von O. 1638 revidiert wurde. Im Übrigen bedurfte es einer ausgebildeten Hofgesellschaft zur Pflege des Romans, wie sie sich in Deutschland erst nach dem Krieg konsolidierte. In weiser Erkenntnis seiner Möglichkeiten, beschränkte sich O. auf eine kleine schäferliche Erzählung, die Schäfferey von der Nimfen Hercinie (Brieg 1630), die Hunderte von Nachahmern auf den Plan rief. Der niedere, pikareske Roman interessierte ihn nicht, mangelte ihm doch das höf. Ambiente. Hier mussten Grimmelshausen u. Beer später im Rückgriff auf die Spanier eigene, von O. nicht gebahnte Wege beschreiten. Dagegen bedurften Drama u. Theater seiner Aufmerksamkeit. O. ist es gelungen, mit Senecas Trojanerinnen (1625) u. Sophokles’ Antigone (1636) ein lat. u. griech. Muster bereitzustellen. Die Grenzen eines von Rationalismus, Neostoizismus u. Didaxe vorgegebenen Horizonts des Übersetzens sind jedoch im Blick auf Sophokles unübersehbar. An der »niederen« Gattung der Komödie ging O. vorbei, sodass Rist, Gryphius u. Weise in die Bresche traten. Aber der höf. Gattung par
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excellence, der Oper, verschaffte O. wiederum mit der Übertragung von Ottavio Rinuccinis Daphne (Breslau 1627) in der Vertonung von Heinrich Schütz den viel gepriesenen repräsentativen Archetypus. Nimmt man hinzu, dass die Pflege des Lehrgedichts nicht abriss u. eine respektable Reihe mit seinen Landgedichten Zlatna (Liegnitz 1623), Lob des Feldlebens (o. O. 1623) u. Vielguet (Breslau 1629) zustande kam, der sich die der Satire, dem Enkomion wie dem Lehrgedicht gleichermaßen verpflichteten Stücke Lobgesang Bacchi (Liegnitz 1622), Vesuvius (Breslau 1633?), Lob des Krieges Gottes Martis (1628) sowie Übersetzungen anschlossen, so zeichnet sich der Kosmos des von O. geschaffenen Formenrepertoires ab. Zu erinnern ist jedoch, dass den Humanisten auch die Pflege der geistl. Dichtung weiterhin oblag u. mehr als eine Pflichtübung war. Die calvinist. Schöpfung par excellence war seit den Tagen Bezas u. Guimels die Psalmendichtung, der auch O. sich zuwendete. Auffällig blieb in Übereinstimmung mit dem Calvinismus die Affinität zu Stoffen des AT, ob es nun um die Übertragung des Hohen Liedes (Breslau 1627), die Klage-Lieder Jeremia (Görlitz 1626), Jonas (Breslau 1628), oder Judith (Breslau 1635) ging. Selten versäumte O., die nat. Inbrunst der alttestamentar. Gestalten herauszustreichen u. das Wirken der Propheten für das geknechtete u. unterdrückte Volk Israel zu betonen. Entsprechend ging es u. a. im Lobgesang über den freudenreichen Geburtstag Jesu Christi (Liegnitz 1624) um die überkonfessionelle menschl. u. religiöse Botschaft Jesu, die in seinem Liebestod sinnfällig wurde. Erasmischer Geist waltet in der Übersetzung von Grotius’ Von der Warheit der Christlichen Religion (Breslau 1631), in der das auf Versöhnung, Toleranz u. Vernunft bedachte Experiment der Amalgamierung der christl. Religion aus dem Geist des Humanismus dem streitbaren Katholizismus entgegengehalten wird – eine weitere Brücke in das 18. Jh. der Aufklärung. Die Geschichte der O.-Rezeption stellt ein eigenes faszinierendes Kapitel zunächst der Dichtungs-, dann der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik dar. Nachdem sich die Dichter der ersten Jahrhunderthälfte so
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gut wie einhellig zu ihm bekannt hatten, drohte sich sein Bild bei den späteren Nachfahren zugunsten Hoffmannswaldaus u. Lohensteins zu verdunkeln. Dagegen lief Gottsched Sturm u. verteidigte den gemäßigten Klassizismus O.’ vehement, während Lessing Gefallen an dem wohlkalkulierten Schliff u. der epigrammat. Würze seines Stils fand. Herder las ihn mit den Augen Fischarts u. Weckherlins u. lobte seine »altdeutsche«, »körnichte« Diktion. Bis in den Vormärz hinein – einen Gipfel bezeichnet hier die Literaturgeschichte des Gervinus – wusste man um O.’ Schrittmacherdienste für die dt. Nationalliteratur u. damit sein Verdienst um die Aufklärung in Deutschland. Gerade dieser geschichtlich zutreffende Aspekt war bedroht, wo die Dichtung an einem falsch verstandenen romant. Ideal der Volkstümlichkeit gemessen u. die gelehrthumanist. Poesie diskreditiert wurde, wie bei so vielen deutschnationalen Historikern zwischen Vilmar u. Bartels. Die neuere Barockforschung seit Richard Alewyn, Günther Müller, Karl Viëtor u. anderen hat diese Verzeichnungen berichtigt. Wo das Barock jedoch in Antithese zu Renaissance u. Aufklärung gerückt wurde, drohten die geschichtl. Zusammenhänge erneut verloren zu gehen. Erst der jüngsten Forschung ist mit der sozialgeschichtl. Situierung zwischen Hof u. Stadt auch der konfessionspolit. Hintergrund der späthumanist. Dichtung wieder gegenwärtig geworden, als deren Repräsentant im Kontext der europ. nobilitas literaria O. in Deutschland gelten darf. Ausgaben: M. O.: Ges. Werke. Bd. 1–4. Hg. George Schulz-Behrend. Stgt. 1968–90 (Ausg. der lat. u. deutschsprachigen Werke bis 1630. Nicht abgeschlossen!). – M. O.: Lat. Werke. 2009 ff. Bd. 1: 1614–24. In Zus. mit Wilhelm Kühlmann, HansGert Roloff u. zahlreichen Fachgelehrten hg., übers. u. komm. v. Veronika Marschall u. Robert Seidel. Bln./New York 2009. – Geistl. Poemata. Breslau 1638. – Weltl. Poemata. Tl. 1–2, Ffm. 1644. Faks.-Ausg. Hg. Erich Trunz. Tüb. 1975 (mit diversen editor. Beigaben!). – Gedichte. Hg. Johann Jakob Bodmer u. Johann Jacob Breitinger. Tl. 1, Zürich 1745. Titelaufl. 1755 (mehr nicht ersch.!). – Teutsche Gedichte, in vier Bände abgetheilet. Hg. Daniel Wilhelm Triller. Ffm. 1746. – Auserlesene Stücke der besten dt. Dichter v. M. O. bis auf ge-
Opitz genwärtige Zeiten mit histor. Nachrichten u. krit. Anm. vers. v. Friedrich Wilhelm Zachariä. Bd. 1: M. O. Braunschw. 1766. – Auserlesene Gedichte. Hg. Wilhelm Müller. Lpz. 1822. – Ausgew. Dichtungen. Hg. Julius Tittmann. Lpz. 1869. – Weltl. u. geistl. Dichtung. Hg. Hermann Oesterley. Bln./Stgt. o. J. [um 1890]. – Gedichte. Eine Ausw. Hg. Jan-Dirk Müller. Stgt. 1970. – Jugendschr.en vor 1619. Hg. Jörg-Ulrich Fechner. Stgt. 1970. – Buch v. der dt. Poeterey (1624). Studienausg. mit dem ›Aristarch‹ (1617) u. der Vorrede zu O.’ ›Teutschen Poemata‹ (1624 u. 1625) sowie der Vorrede zu seiner Übers. der ›Trojanerinnen‹ (1625). Hg. Herbert Jaumann. Stgt. 2002. – Einzeltitel: Das Annolied. Hg. Joseph Kehrein. Ffm. 1865. – Buch v. der dt. Poeterei [1624]. Hg. Wilhelm Braune. Halle 1876. – Aristarchus [...] u. Buch v. der Dt. Poeterey. Hg. Georg Witkowski. Lpz. 1888. – Teutsche Poemata 1624 mit den Varianten der Einzeldrucke u. der späteren Ausg.n. Hg. Georg Witkowski. Halle 1902. Nachdr. Halle 1967. – Die Trojanerinnen. Hg. Wilhelm Flemming. Lpz. 1930. Neudr. Darmst. 1965. – Judith-Dramen. Hg. Martin Sommerfeld. Bln. 1933, S. 114–133. – Das Anno-Lied. Diplomat. Abdr. besorgt v. Walther Bulst. Heidelb. 1946. – Buch v. der Dt. Poeterey (1624). Nach der Ed. v. Wilhelm Braune [1876] neu hg. v. Richard Alewyn. Tüb. 2 1966. – Schäfferey v. der Nimfen Hercinie. Hg. Peter Rusterholz. Stgt. 1969. – Philipp v. Sidney: Arcadia, Faks. der O.-Bearb. Ffm. 1643. Darmst./ Hildesh. 1971 (ohne editor. Beigaben!). – Buch v. der Dt. Poeterey (1624). Hg. Cornelius Sommer. Stgt. 1974. Erg. Aufl. 1995. – Teutsche Poemata u. Aristarchus wieder [!] die Verachtung Teutscher Sprach. Nachdr. der Ausg. 1624. Hildesh./New York 1975 (unvollst. Exemplar zugrundegelegt; ohne editor. Beigaben!). – Schäfferey v. der Nimfen Hercinie. Hg. Karl F. Otto. Bern/Ffm. 1976. – Die Psalmen Davids. Nach den Französischen Weisen gesetzt. Hg. Eckhard Grunewald u. Henning P. Jürgens. Nachdr. Hildesh. 2004. – Briefe: Epistolae ad Martinum Opitium ex Museio Jaskiano. Danzig 1670. Internet-Ed. in: CAMENA. – Briefe G. M. Lingelsheims, M. Berneggers u. ihrer Freunde. Hg. Alexander Reifferscheid. Heilbr. 1889. – Briefe der Fruchtbringenden Gesellsch. u. Beilagen. Hg. Klaus Conermann unter Mitarb. v. Gabriele Ball, Andreas Herz u. Dieter Merzbacher. Bd. 1 ff., Tüb. 1992 ff. – Der Briefw. des M. O. Ein chronolog. Repertorium. Hg. K. Conermann u. A. Herz unter Mitarb. v. Olaf Ahrens. In: WBN 28 (2001), S. 3–133 (vielfach Briefregesten!). – Briefw., Eintragungen u. andere Lebenszeugnisse. Mit Übers.en u. Komm.en. 3 Bde. Hg. K. Conermann unter Mitarb. v. Harald Bollbuck. Bln. 2009/10.
720 Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 4, 1991, S. 3005–3074. – Hdb. des personalen Gelegenheitsschrifttums [...]. Hg. Klaus Garber. Bd. 1 ff., Hildesh. 2001 ff. – Wissenschaftliche Literatur: Julian Paulus u. Robert Seidel: O.-Bibliogr. 1800–2002. Heidelb. 2003. – Gesamtdarstellungen: Herbert Schöffler: Dt. Geistesleben zwischen Reformation u. Aufklärung. Von M. O. zu Christian Wolff. Ffm. 31974 (11940). – Ulrich Bornemann: Anlehnung u. Abgrenzung. Untersuchungen zur Rezeption der niederländ. Lit. in der dt. Dichtungsreform des 17. Jh. Assen/Amsterd. 1976. – M. O. Studien zu Werk u. Person. Hg. Barbara BeckerCantarino. Amsterd. 1982. – Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik u. Fürstenstaat. Tüb. 1982. – Gunter E. Grimm: Lit. u. Gelehrtentum in Dtschld. Tüb. 1983. – K. Garber: M. O. In: Dt. Dichter des 17. Jh. Hg. Harald Steinhagen u. Benno v. Wiese. Bln. 1984, S. 116–184 (Lit.). – G. E. Grimm: M. O. In: Dt. Dichter. Leben u. Werk deutschsprachiger Autoren. Bd. 2: Renaissance u. Barock, Stgt. 1988, S. 138–155. – Nation u. Lit. im Europa der Frühen Neuzeit. Hg. K. Garber. Tüb. 1989. – O. u. seine Welt. Hg. B. Becker-Cantarino u. Jörg-Ulrich Fechner. Amsterd./Atlanta 1990. – W. Kühlmann: M. O. Dt. Lit. u. dt. Nation. Herne 1991. Heidelb. 2 2001. – R. Seidel: Späthumanismus in Schlesien. Caspar Dornau (1577–1631). Leben u. Werk. Tüb. 1994. – M. O. Orte u. Gedichte. Ausw., Konzeption u. Komm.e: Walter Schmitz u. a. Dresden 1999. – M. O. (1597–1939). Nachahmungspoetik u. Lebenswelt. Hg. Thomas Borgstedt u. W. Schmitz. Tüb. 2002. – K. Garber: Späthumanist. Verheißungen im Spannungsfeld v. Latinität u. nat. Aufbruch. In: Germania latina – Latinitas teutonica. Politik, Wiss., humanist. Kultur vom späteren MA bis in unsere Zeit. Hg. Eckard Keßler u. Heinrich C. Kuhn. 2 Bde., Mchn. 2003, S. 107–142. – Achim Aurnhammer: Tristia ex Transilvania. M. O.’ OvidImitatio u. poet. Selbstfindung in Siebenbürgen (1622/23). In: Dtschld. u. Ungarn in ihren Bildungs- u. Wissensbeziehungen während der Renaissance. Hg. W. Kühlmann u. Anton Schindling. Stgt. 2004, S. 253–272. – Walter (2004). – M. O. Fremdheit u. Gegenwärtigkeit einer geschichtl. Persönlichkeit. Hg. J.-U. Fechner u. Wolfgang Kessler. Herne 2006. – K. Garber: Linker Nationalismus in Dtschld. u. das nationalliterar. Projekt im frühneuzeitl. Europa. In: Nation – Europa – Welt. Identitätsentwürfe vom MA bis 1800. Hg. Ingrid Baumgärtner u. a. Ffm. 2007, S. 443–455. – Theodor Verweyen: Pluralisierung u. Autorität an der Schwelle zur Literaturrevolution um 1600. In: Maske u. Mosaik. Poetik, Sprache, Wissen im 16. Jh. Bln. 2007, S. 361–396. – Volkhard Wels: ›Verborgene Theologie.‹ Enthusiasmus u. Andacht bei M.
Opitz
721 O. In: Daphnis 36 (2007), S. 223–294. – Stefanie Stockhorst: Reformpoetik. Kodifizierte Genusstheorie des Barock u. alternative Normenbildung in poetolog. Paratexten. Tüb. 2008. – K. Garber: Lit. u. Kultur im Europa der Frühen Neuzeit. Mchn. 2009, S. 107–213, 419–442. – Ders.: M. O., Paul Fleming u. Simon Dach auf der Reise in den Osten. Köln u. a. 2010. – Biografisches: Johann Christoph Gottsched: Lob- u. Gedächtnißrede auf den Vater der dt. Dichtkunst, M. O. v. Boberfeld. Lpz. 1739. – Hermann Palm: M. O. In: Ders.: Beiträge zur Gesch. der dt. Lit. des 16. u. 17. Jh. Breslau 1877. Neudr. Lpz. 1977, S. 129–260. – Max Rubensohn: Der junge O. In: Euph. 2 (1895); 6 (1899). Repr.: Studien zu M. O. Mit einem wissenshistor. Nachw. hg. v. R. Seidel. Heidelb. 2005. – Marian Szyrocki: M. O. Bln./DDR 1956. 2., überarb. Aufl. Mchn. 1974. – Péter Ötvös: M. O.ens kleine Welt in Siebenbürgen. In: Die oberschles. Literaturlandschaft im 17. Jh. Hg. Gerhard Kosellek. Bielef. 2001, S. 205–220. – T. Verweyen: Parallel Lives: M. O. and Julius Wilhelm Zincgref. In: Early Modern German Literature 1350–1700. Hg. Max Reinhart. Rochester 2007, S. 823–852. – G. Kosellek: M. O. im Dienst des poln. Königs Wladislaw IV. Wahrheit u. Legende. In: Germanoslavica 19 (2008), S. 17–33. – Poetik: Curt v. Faber du Faur: Der ›Aristarchus‹. Eine Neuwertung. In: PMLA 69 (1954), S. 566–590. – Rudolf Drux: M. O. u. sein poet. Regelsystem. Bonn 1976. – Volker Sinemus: Poetik u. Rhetorik im frühmodernen Staat. Gött. 1978. – Heinz Entner: Der Weg zum ›Buch v. der Dt. Poeterey‹. In: Studien zur dt. Lit. im 17. Jh. Bln./Weimar 1984, S. 11–144. – K. Garber: Zur Archäologie nationalliterar. Diskurse in der Frühen Neuzeit. In: Nlat. Jb. 6 (2004), S. 51–67. – Nicola Kaminski: Ex bello ars oder Ursprung der ›Deutschen Poeterey‹. Heidelb. 2004. – Hans-Georg Kemper: Platonismus im Barock. M. O.’ Rede über die Dignität der Dichtkunst im ›Buch von der Deutschen Poeterey‹ (Kap. I-IV). In: ›auf klassischem Boden begeistert‹. Antike-Rezeptionen in der dt. Lit. FS Jochen Schmidt. Hg. Olaf Hildebrand u. a. Freib. i. Br. 2004, S. 37–66. – Jörg Robert: M. O. u. die Konstitution der dt. Poetik. Norm, Tradition u. Kontinuität zwischen ›Aristarch‹ u. ›Buch von der deutschen Poeterey‹. In: Euph. 98 (2004), S. 281–322. – Ralph Häfner: Das Subjekt der Interpr. Probleme des Dichtungskomm.s bei M. O. In: Gesch. der Hermeneutik u. die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen. Hg. Jörg Schönert u. a. Bln. 2005, S. 97–118. – K. Garber: Von europ. poeterey. Sprachen- u. Lit.-Politik im Europa der Frühen Neuzeit. In: Ber.e u. Forsch.en. Jb. des Bundesinstituts für Kultur u. Gesch. der Deutschen im östl. Europa 15 (2007), S. 43–65. – Übersetzungen: Ri-
chard Alewyn: Vorbarocker Klassizismus u. griech. Tragödie. Heidelb. 1926. Neudr. Darmst. 1962. – E. Grunewald: ›Keiner unser Sprach ist mächtiger gewesen‹. M. O. als Übersetzer des Genfer Psalters. In: Schles. Gelehrtenrepublik. Hg. Marek Halub u. Anna Man´ko-Matysiak. Bd. 2, Wroclaw 2006, S. 96–114. – Lyrik: Maria Krause: Studien zur dt. u. lat. Gelegenheitsdichtung v. M. O. Diss. Breslau 1942. – Christian Wagenknecht: Weckherlin u. O. Zur Metrik der dt. Renaissancepoesie. Mchn. 1971. – Janis L. Gellinek: Die weltl. Lyrik des M. O. Bern/ Mchn. 1973. – David Taub Pedersen: Reflexive Intertextualität. Eine Interpr. v. O.’ ›Galathee‹ in ihrer Beziehung zur antiken u. nlat. Bukolik. In: Text u. Kontext 25 (2003), S. 139–167. – T. Verweyen: Epische ›ars narrativa‹ im Kontext der städt. Kultur des oberrhein. Humanismus u. des landesfürstl. Absolutismus der Barockepoche. Wickrams ›Goldfaden‹ u. O.’ ›Argenis‹. In: Humanisten am Oberrhein. Hg. Sven Lembke u. Markus Müller. Leinfelden-Echterdingen 2004, S. 267–302. – A. Aurnhammer: M. O.’ petrarkist. Mustersonett ›Francisci Petrarchae‹ (Canzoniere 132), seine Vorläufer u. Wirkung. In: Francesco Petrarca in Dtschld. Seine Wirkung in Lit., Kunst u. Musik. Tüb. 2006, S. 189–210. – R. Seidel: Zwischen Architektualität u. Intertextualität. Überlegungen zur Poetik nlat. Dichtung am Beispiel v. M. O. ›Hipponax ad Asterien‹. In: ›Parodia‹ u. Parodie. Aspekte intertextuellen Schreibens in der lat. Lit. der Frühen Neuzeit. Hg. Reinhold F. Glei u. a. Tüb. 2006, S. 171–207. – Kühlmann (2006), S. 441–499. – Lehrdichtung: Horst Nahler: Das Lehrgedicht bei M. O. Diss. Jena 1961. – William L. Cunningham: O. Poems of Consolation in Adversities of War. Bonn 1974. – K. Garber: Konfessioneller Fundamentalismus u. späthumanist. Nationalismus. Die europ. Bürgerkriege in der poet. Transformation um 1600: O.ens ›Trost-Getichte in Widerwärtigkeit des Krieges‹. In: Konfessioneller Fundamentalismus. Religion als polit. Faktor im europ. Mächtesystem um 1600. Hg. Heinz Schilling u. Mitarb. v. Elisabeth MüllerLuckner. Mchn. 2007, S. 23–46. – Theater/Oper: Elisabeth Rothmund: O.’ erster Entwurf einer Oper in dt. Sprache. Kulturpatriot. Wagnis oder kunstgeschichtl. Irrweg. In: Österr. Oper oder Oper in Österr. Die Libretto-Problematik. Hg. Pierre Béhar. Hildesh. 2005, S. 15–31. – Erzählung: Peter Hess: ›Ein Lusthaus der Nimfen und Feldtgötter‹. Zur Rolle der Topik in der Erzählprosa des 16. u. 17. Jh. In: Daphnis 19 (1990), S. 25–40. – Hans Krah: Autorschaft vor der Geburt des Autors. M. O.’ ›Schäfferey von der Nimfen Hercinie‹ (1630) als ›AutorPoiesis‹. In: DVjs 80 (2006), S. 532–552. – J.-U. Fechner: Schles. Provinz – Literar. Kosmopolitismus. Bad Warmbrunn u. die ›Schäfferey von der /
/
Opiz Nimfen Hercinie‹ v. M. O. In: Schlesien als literar. Provinz. Lit. zwischen Regionalismus u. Universalismus. Hg. Marek Adamski u. Wojziech Kunicki. Lpz. 2008, S. 11–23. – Geistliche Dichtung: Hugo Max: M. O. als geistl. Dichter. Heidelb. 1931. – Richard D. Hacken: The Religious Thought of M. O. [...]. Stgt. 1976. – Publizistik: Stefanie Arend: Zu Topik u. Faktur v. M. O.ens Panegyrikus auf Ludwig Camerarius. In: Lat. Lyrik in der Frühen Neuzeit. Hg. Beate Czapla. Tüb. 2003, S. 330–355. – Stammbuch: László Jónácsik u. Péter Lokös: ›Ich bin kein Hofeman...‹ Ein als Stammbuchepigramm verwendetes O.-Zitat im Stammbuch des Johannes Hoßmann (Ungarische Széchény-Nationalbibl., Oct. Lat. 453). In: Simpliciana 26 (2004), S. 473–482. – Nachlass: Walther Gose: Dacia Antiqua, ein verschollenes Hauptwerk v. M. O. In: Südostdt. Archiv 2 (1959), S. 127–144. – Rezeption: K. Garber: M. O. – ›der Vater der dt. Dichtung‹. Eine krit. Studie zur Wissenschaftsgesch. der Germanistik. Stgt. 1976. – Dieter Martin: Barock um 1800. Bearb. u. Aneignung dt. Lit. des 17. Jh. v. 1770 bis 1830. Ffm. 2000. Klaus Garber
Opiz, Opitz, Johann Ferdinand, * 11.10. 1741 Prag, † 11.1.1812 Tschaslau (Cˇáslav). – Journalist, Romancier, Verfechter der josephinischen Aufklärung. Ursprünglich Jesuit (Eintritt 1757 in Prag, niedere Weihen 1761 in Olmütz), trat O. 1762 aus dem Orden aus, studierte Jura, kam in die Dienste des Grafen Clary in Dobritschan u. wurde danach Kanzlist u. schließlich Bibliothekar des Fürsten Karl Egon von Fürstenberg. Schließlich wurde er Finanzbeamter in Tschaslau. Seine umfangreiche Schriftstellerei stand im Dienst einer kämpferischen, antiklerikalen Popularaufklärung im Sinne des Reformprogramms Josephs II., so seine zahlreichen Lobgedichte, Aufsätze u. Polemiken sowie seine Moralische Wochenschrift »Wöchentlich etwas« (1774) u. sein nach dem Stilvorbild Sternes geschriebener satir. Roman Wer war und wie hieß Melchisedeks Vater? Eine gelehrte Dorfgeschichte (Philadelphia [recte Triest] 1792). Das umfangreiche Werk (insg. 47 Titel) liefert ein Sitten- u. Kulturbild Böhmens im 18. Jh. Weitere Werke: Der Köcher, ein Rezept für mein krankes Vaterland. Prag 1782. – Meine Gedanken vom Papste. Prag 1782. – Die Bücherfrei-
722 heit. Brünn 1784. – Herkules, der wahre Held. Ein Impromptu. Bln. 1793. Literatur: A. G. Przedak: J. F. O. u. seine Familie. In: Dt. Arbeit 5. Prag 1905, S. 482–501. – Jaroslav Kamper: Der Philosoph v. Caslau. In: Die Politik (Prag, 25.12.1906). – A. G. Przedak: J. F. O. Ein Lebensbild aus der josephin. Zeit. Prag 1911. – Werner M. Bauer: Fiktion u. Polemik. Studien zum Roman der josephin. Aufklärung. Wien 1978, S. 250 ff. Werner M. Bauer / Red.
Oporinus, Johannes, auch: J. Herbst, * 25.1.1507 Basel, † 6.7.1568 Basel; Grabstätte: ebd., Kreuzgang des Münsters. – Buchdrucker, Verleger u. Professor. O., als Sohn des Basler Malers Hans Herbst(er) geboren, war vier Jahre lang, zus. mit Konrad Hubert, Schüler von Hieronymus Gebwiler u. Beatus Rhenanus in Straßburg. 1526 übernahm er eine Lehrstelle am Zisterzienserkloster St. Urban (im Nordwesten des Kantons Luzern), wo der humanistisch u. reformatorisch gesinnte Chorherr Johannes Xylotectus wirkte. 1527 heiratete er Margaretha Feer, die mit dem inzwischen verstorbenen Xylotectus verbunden gewesen war. 1526 wurde er Lehrer an der Schule zu St. Leonhard in Basel, war nebenher als HebräischLehrer bei Thomas Platter tätig u. kopierte für Erasmus u. den Drucker Johann Froben Texte griechischer Kirchenväter (v. a. Irenäus). 1527 wurde er Famulus des soeben an die Basler Universität berufenen Theophrastus Paracelsus. Er schrieb dessen Vorlesungen mit u. verbesserte sie sprachlich (Latein). 1528 musste Paracelsus Basel verlassen; O. folgte ihm für einige Zeit. Über seine Begegnungen mit Paracelsus berichtet er geraume Zeit später ausführlich (Abdruck: Steinmann 1967, s. u., S. 4 f.). 1529 war O. wieder in Basel, schloss sich, im Gegensatz zu seinem Vater, dem reformatorischen Glauben an u. wurde Schulmeister an der Schule »auf Burg« am Münsterplatz. 1533 wurde er Lateinprofessor an der Universität; 1538 gab er dieses Amt infolge Differenzen auf. Er wurde Griechischprofessor u. leitete die Burse im ehemaligen Augustinerkloster; dort hatte er Kontakt mit Jean Calvin. Daneben war er bei Druckern Korrektor. O.’ erste Ehe verlief un-
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Oppeln-Bronikowski
glücklich; die Frau starb 1534. In zweiter Ehe Korrespondenz. Als Verfasser eigener literar. war er ab 1536 mit der Basler Bürgerstochter Werke ist er indessen nicht in Erscheinung Maria Nachpur (»Oporiniana«) verheiratet, in getreten. dritter (1565) mit Elisabeth Holtzach, in Literatur: Edgar Bonjour: J. O. In: NDB. – vierter (1566) mit Faustina Iselin, der Tochter Martin Steinmann: J. O. Ein Basler Buchdrucker um die Mitte des 16. Jh. Basel u. Stgt. 1967. – Ders.: Bonifacius Amerbachs. 1535 bildete O. zus. mit seinem Schwager Aus dem Briefw. des Basler Buchdruckers J. O. In: Robert Winter, Thomas Platter u. dem Setzer Basler Ztschr. für Gesch. u. Altertumskunde 69 Balthasar Lasius eine Druckgemeinschaft, die (1969), S. 103–203. – Harry Clark: Foiling the Pirates: The Preparation and Publication of Andreas trotz etlicher Spannungen bis 1544 Bestand Vesalius’s ›De humani corporis fabrica‹. In: The hatte. Im Nov. 1542 eröffnete er eine eigene Library Quarterly 51 (1981), S. 301–322. – Carlos Offizin. Seine Druckermarke, vom Jan. 1543 Gilly: Spanien u. der Basler Buchdruck bis 1600. an in Gebrauch, zeigt den lorbeerbekränzten, Basel/Ffm. 1985, S. 183–226 u. passim. – Hartmut harfenspielenden, auf dem Rücken eines Fi- Bobzin: Zur Anzahl der Drucke v. Biblianders Kosches sitzenden Sänger Arion (vgl. Wolken- ranausg. im Jahr 1543. In: Basler Ztschr. für Gesch. hauer 2002). 1543 ließ O. nach monatelangen u. Altertumskunde 85 (1985), S. 213–219. – Frank Auseinandersetzungen mit den Zensurbe- Hieronymus: Griech. Geist aus Basler Pressen. Bahörden, die auch zu seiner Absetzung an der sel 1992 (Ausstellungskat.). Internet-Ed. Basel 2003 Universität führten, dank der Fürsprache (http://www.ub.unibas.ch/kadmos/gg/). – H. Bobzin: Der Koran im Zeitalter der Reformation. Beirut Luthers beim Basler Rat eine lat. Ausgabe des 1995, S. 176–178, 205–212 u. passim. – Alban Koran erscheinen (Mahumetis eiusque successo- Norbert Lüber: Die Basler Zensurpolitik in der rum vitae, doctrina, ac ipse Alcoran [...]; insg. zweiten Hälfte des 16. Jh. In: Basler Ztschr. für sechs Druckvarianten); 1550 folgte eine wei- Gesch. u. Altertumskunde 97 (1997), S. 77–141 tere Ausgabe. Die handschriftl. Vorlage wur- (passim). – C. Gilly: Die Mss. in der Bibl. des J. O. de für ihn von Theodor Bibliander beschafft. Basel 2001. – Anja Wolkenhauer: Zu schwer für In demselben Jahr erschien auch ein weiteres Apoll. Die Antike in humanist. Druckerzeichen des epochemachendes Werk, De humani corporis 16. Jh. Wiesb. 2002, S. 384–396. – Christoph Reske: fabrica des in Basel wirkenden Anatomen Die Buchdrucker des 16. u. 17. Jh. im dt. Sprachgebiet. Wiesb. 2007, S. 78–80. Andreas Vesalius. Thomas Wilhelmi Vorübergehend hatte die Offizin sechs Druckpressen u. rd. 30 Angestellte, 1552 alOppeln-Bronikowski, Friedrich von, lerdings nur noch drei Pressen. 1557 war sie * 7.4.1883 Kassel, † 9.10.1936 Berlin. – mit 1800 Gulden verschuldet. 1566 waren die Erzähler, Herausgeber, Übersetzer. Schulden gar auf 9800 Gulden angewachsen. Ende 1567 zog sich O. zurück u. verkaufte O. stammte aus einer Offiziersfamilie u. sollte seine weithin berühmte Offizin. Sie wurde ebenfalls Soldat werden. Er besuchte eine mit neuer Rechnung, aber unter Beibehal- Kadettenanstalt, diente in einem Husarenretung des Namens u. des Signets bis um 1600 giment, erlitt aber bei einem Reitunfall eine weitergeführt. schwere bleibende Verletzung, sodass er In O.’ Druckerei u. Verlag erschienen bei- pensioniert wurde, das Abitur machte u. von nahe 1000 zum Teil bemerkenswerte Druck- 1896 bis 1899 in Berlin Philosophie, Romawerke in schöner, sorgfältiger Ausführung. nistik u. Archäologie studierte. Anschließend Im Vordergrund standen dabei Ausgaben ließ er sich als freier Schriftsteller nieder. antiker u. nlat.-humanist. Literatur, aber O. publizierte bis zu seinem Tod fast 100 auch geografische (z.B. Guillaume Postels De Bücher u. Schriften, neben heute vergessenen orbis terrae concordia), kirchengeschichtliche u. Novellen, Romanen, histor. Darstellungen u. religionspolit. Schriften. Vielen Editionen lat. Sammlungen aus dem Militärleben v. a. u. griech. Texte lagen von O. beschaffte Ma- Übersetzungen aus dem Französischen (darnuskripte zugrunde; viele davon sind in Basel unter Anatole France, Maupassant, Flaubert noch vorhanden. Er führte eine umfangrei- u. Casanova). Besonderes Interesse entwiche, zu einem guten Teil noch erhaltene ckelte O. für die belg. Literatur. Er übersetzte
Oppermann
de Coster u. fast alle Werke Maeterlincks, deren Rechtsvertreter er war. Von daher rührt eine mehrjährige Korrespondenz mit Rilke seit 1902, dessen Werk er einige essayistische Arbeiten widmete. Nach Aufenthalten in Italien u. der Schweiz (1901–1905) lebte O. in Berlin. 1914 wurde er trotz seiner Behinderung eingezogen u. diente bis 1919 im Generalstab. 1920–1923 war er im Auswärtigen Amt tätig. In seinen Schriften Antisemitismus? Eine unparteiische Prüfung (Bln. 1920) u. Gerechtigkeit! Zur Lösung der Judenfrage (Bln. 1932) hat sich der deutsch-national Gesinnte für eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit den Juden eingesetzt. Weitere Werke: Renaissancenovellen. Bln. 1904. – Zwischen Lachen u. Weinen. Bln. 1912 (E.en). – Schlüssel u. Schwert. Ein Papstleben. Bln. 1929. – Archäolog. Entdeckungen im 20. Jh. Lpz. 1931. Literatur: Gero v. Wilpert u. Adolf Güring: Erstausg. dt. Dichtung. Stgt. 1967 (Bibliogr.). – Klaus W. Jonas: Ein früher Kritiker Rilkes: der Schriftsteller F. v. O. In: MAL 15 (1982), H. 3/4, S. 183–219 (mit Briefauszügen). – Friedrich-Wilhelm v. Oppeln-Bronikowski: F. v. O. Offizier, Übersetzer, Schriftsteller, Journalist u. Streiter gegen den Antisemitismus in der Weimarer Republik. Sein Leben u. Wirken. Limburg/Lahn 2009. Detlev Schöttker / Red.
Oppermann, Heinrich Albert, auch: Hermann Forsch, * 22.7.1812 Göttingen, † 16.2.1870 Nienburg/Weser; Grabstätte: ebd., Friedhof Verdener Straße. – Jurist, Politiker, Schriftsteller. Der Sohn eines luth. Buchbinders studierte ab 1831 in seiner Geburtsstadt Göttingen zunächst bei Karl Krause Philosophie, dann bei Wilhelm Eduard Albrecht u. Friedrich Christoph Dahlmann Rechtswissenschaft. Seit 1834 publizierte er entweder anonym oder unter Pseud. historisch-polit. Broschüren u. Zeitungsartikel in dem von Karl Ferdinand Gutzkow herausgegebenen »Frankfurter Telegraf«, in denen er schonungslose Kritik an den Zuständen im Königreich Hannover u. insbes. in Göttingen übte. Sein erster Roman Studentenbilder oder Deutschlands Arminen u. Germanen in den Jahren 1830 bis 1833 erschien 1835 (Hbg.) unter dem Pseud. Her-
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mann Forsch. Nach dem ersten jurist. Advokatenexamen trat er 1835 zur prakt. Ausbildung in die Kanzlei Krämer u. Grefe ein. Auf Gesuch vorzeitig aus dem Vorbereitungsdienst entlassen, erwarb er 1838 das zweite Staatsexamen. Da seine Publikationstätigkeit ihn ins Visier des Justizministers gebracht hatte, scheiterten seine Versuche, in Göttingen eine Anwaltstelle zu erlangen. Von den Behörden unentdeckt blieb seine Rolle bei der Verbreitung der »Protestation« der »Göttinger Sieben«. Nach der Promotion zum Dr. jur. ließ sich O. 1842 als Rechtsanwalt in Hoya/Weser nieder. 1846 wurde er zum Notar ernannt, 1852 zum Obergerichtsanwalt u. Vizepräsidenten der Anwaltskammer in Nienburg. Enthusiastisch begrüßte O. die März-Revolution. Seine Kandidatur für das Paulskirchenparlament in Frankfurt scheiterte wegen einer Wahlmanipulation. Von 1849 bis 1857 u. von 1862 bis 1866 war O. Deputierter in der Zweiten Kammer der Hannoverschen Allgemeinen Stände-Versammlung, von 1867–1870 als Nationalliberaler Mitgl. des preuß. Abgeordnetenhauses. Auch in der Provinz behielt er seine publizist. Tätigkeit bei. Mit der zweibändigen Geschichte des Königreichs Hannover von 1832 bis 1860 (Lpz. 2 1868) legte er 1860–1862 sein histor. Hauptwerk vor. Seit 1863 gab O. das »Nienburger Wochenblatt« heraus. Nach der Annexion des Königreichs Hannover durch Preußen 1866 verfasste er zehn »Trostbriefe für Hannover», die als Artikel in der »Kölner Zeitung« erschienen. 1867–1870 war er Mitgl. des preuß. Abgeordnetenhauses für die Liberale Partei. O.s literar. Hauptwerk, der neun Teile umfassende Schlüsselroman Hundert Jahre, 1770–1870. Zeit- und Lebensbilder aus drei Generationen (Lpz. 1870. Neuaufl. Ffm. 1982. 4 1998), erschien postum. Arno Schmidt, der dem von der Literaturgeschichtsschreibung nahezu vergessenen Roman mit seinem Funkessay aus dem Jahre 1961 wieder eine größere Aufmerksamkeit sicherte, bezeichnete ihn als den »einzigen politischen Roman der Deutschen«. In Hundert Jahre erzählt O., ausgehend von den Lebensläufen einiger Bewohner der im Hannoverschen gelegenen Kleinstadt Heustedt, ein Vexierbild Hoyas,
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von den politischen u. gesellschaftl. Entwicklungen zwischen 1770 u. 1870, v. a. vom Niedergang des Adels u. vom Aufstieg des Bürgertums u. von den Emanzipationsbestrebungen der Juden. Individuelle Lebensgeschichten, die z.T. auf Zeitgenossen verweisen, werden mit der Geschichte des Königreichs Hannover bis zu dessen Untergang 1866 verknüpft u. führen den Leser nicht nur durch Deutschland, sondern auch ins revolutionäre Paris, nach Italien u. Nordafrika u. ins Amerika der frühen Industriealisierung u. Sklavenbefreiung. Der Leser erlebt bedeutende histor. Ereignisse mit u. wird in Nebenhandlungen in das Göttinger Studentenleben, die Reisen des begüterten Bildungsbürgertums u. in das Milieu der Freimaurer, Piraten u. oriental. Sklavenhändler eingeführt. Über den Abenteuererzählungen stehen die philosophisch-histor. Reflexionen zu epochalen Ereignissen wie dem Wiener Kongress, aber auch zur eigenen Biografie, in denen O. seine nationalliberale Position ebenso thematisiert wie seine Rolle bei der Verbreitung des Protestbriefs der »Göttinger Sieben«. Die Gründung des Deutschen Reiches wenige Monate nachdem Hundert Jahre vollständig vorlag, führte nach Arno Schmidt dazu, dass der Roman in Vergessenheit geriet. Weitere Werke: (an.) Worte eines Studirenden über die Reform der Univ.en, Burschenschaften u. Landsmannschaften in ihrem Verhältniß unter sich, zu der vergangenen u. gegenwärtigen Zeit u. zu der Reform. Lpz. 1834. – De quaestione an et quatenus absolutio ab instantia in caussis criminalibus locum habeat. Gött. 1836. – (an.) Die Univ. Gött. Aus den Dt. Jbb. für Wiss. u. Kunst abgedr. Lpz. 21842. – (an.) Zur Gesch. der Entwicklung u. Thätigkeit der allg. Stände des Königreichs Hann. Erste Hälfte 1803–32. Lpz. 1842. – Die Göttinger gelehrten Anzeigen während einer hundertjährigen Wirksamkeit für Philosophie, schöne Lit., Politik u. Gesch. Hann. 1844. – Encyklopädie der Philosophie. Zum Gebrauche für obere Gymnasialklassen u. zur ersten Einf. in die Philosophie für alle Gebildete. Hann. 1844. – Pombal u. die Jesuiten. Hann. 1845. – Hannoversche Zustände seit dem 24. Febr. 1848. Bremen 1849. – Allg. bürgerl. Proceßordnung für das Königreich Hannover u. Gesetz, die Übergangsbestimmungen in das neue Proceßverfahren betreffend. Gött. 1852. – Geschäfts- u. Adreß- Kalender für das Königreich
Oppermann Hannover auf das Jahr 1853. Gött. 1853. – Slg. der im Fürstenthum Lüneburg u. in den Grafschaften Hoya u. Diepholz erlassenen auf das Meierrecht bezügl. Verordnungen, Ausschreiben u. Resolutionen. Nienburg 1854. – Slg. sämmtl. im Fürstenthum Calenberg, Grubenhagen, Göttingen, Lüneburg u. in den Grafschaften Hoya u. Diepholz in Beziehung auf das Meierrecht erlassenen Gesetze, Verordnungen, Ausschreiben u. Resolutionen von der ältesten bis auf die neueste Zeit. Nienburg 2 1861. – (an.) Hie Welf! Hbg. 1861. 21861. – Hann. (Gesch., Verfassung u. Verwaltung, Statistisches). Separatdruck aus der dritten Aufl. des RotteckWelcker’schen ›Staats-Lexikons‹. Lpz. 1862. – Hannoversches Wahlgesetz zur Ständeversammlung. Zusammenstellung derjenigen gesetzl. Bestimmungen, welche bei den bevorstehenden Wahlen zur Ständeversammlung ins Auge zu fassen sind. Mit erläuternden Anmerkungen, hg. v. Dr. A. O. Hann. 1863. – Die wichtigsten Ereignisse von der frz. Revolution bis zur Schlacht bei Leipzig mit bes. Rücksicht auf Hann. Hann. 1863. – (an.) Trostbriefe für Hann. Von einem Alt-Hannoveraner. Hbg. 1866. 21866. – Der Weg zum Jahre 1866 u. seine Nothwendigkeit für das Heil Dtschld.s. Studie zur Belehrung, Verständigung u. Versöhnung. Dem dt. Volke gewidmet. Bln. 1869. – Onno Klopps Auslegung des nicht angenommenen Briefes König Georgs V. an Se. Majestät den König v. Preußen. Beleuchtet v. Dr. H.A.O. Bln. 1869. – Unruhestifter u. trotziger Demokrat. Hann. 1996. Literatur: Arno Schmidt: Hundert Jahre (Einem Manne zum Gedenken) [1961]. In: Ders.: Dialoge. Bd. 2, Zürich 1990, S. 143–193. – Gerhard K. Friesen: The German Panoramic Novel of the 19th Century. Bern u. a. 1972, S. 163–200. – Guido Erol Öztanil: Personalakte H. A. O.: ›Vertrauliche‹ Einblicke in das Verhältnis v. Staat u. Individuum im Königreich Hannover 1832–66. In: Göttinger Jb. 39 (1991), S. 151–167. – Ders.: ›Soweit ich ihm nachgehen konnte...‹. Arno Schmidt u. H. A. O. Rekonstruktion einer Spurensuche. In Bargfelder Bote, Lfg. 257–259 (2001), S. 3–47. – Hermann Weber: H. A. O. (1812–70): ›Hundert Jahre‹ – Der vergessene Roman eines vergessenen Juristen. In: Ders.: Juristen als Dichter. Baden-Baden 2002. – Bernd Ulrich Hucker u. H. Joachim Kusserow: Zwischen Hoya u. Brooklyn. Neue Beiträge zu Person, Familie u. Werk H. A. O.s. Hoya 2003. – Christoph Suin de Boutemard (Hg.): H. A. O. Zivilgesellschaftl. Handeln in histor. u. aktueller Perspektive. St. Ingbert 2007. Ralf Georg Czapla
Opsopoeus
Opsopoeus, Obsopäus, Obsopoeus, Opsopaeus, Johannes, eigentl.: J. Koch, * 25.7. 1556 Bretten, † 23.9.1596 Heidelberg. – Arzt u. Humanist. Die Biografie des Sohnes namentlich unbekannter Eltern ist nur in wenigen Fakten bekannt. Nach einer ersten schulischen Unterweisung in Neuhausen unter Fortunatus Crellius bezog O. 1573 das Collegium sapientiae in Heidelberg. Zu seinen Lehrern gehörte hier u. a. Zacharias Ursinus. Wegen seines reformierten Bekenntnisses unter Kurfürst Ludwig VI. nicht mehr gelitten, trat O. 1576 als Korrektor in die Wechelsche Druckerei in Frankfurt/M. ein. Zu seinen Aufgaben zählte u. a. die philolog. Betreuung der Drucklegung der Briefsammlung Joachim Camerarius’ d.Ä. 1578 begab er sich nach Paris, wo er – ebenfalls wegen seines Bekenntnisses – zunächst gefangen gesetzt wurde. Nach seiner Entlassung widmete er sich medizin. Studien, die er 1584 mit der Promotion zum Dr. med. abschloss. Bis Juni 1586 war O. als prakt. Arzt in Paris tätig. 1586/87–1589 unternahm er Studienreisen nach England u. in die Niederlande. Seit 1589 war O. als Nachfolger Heinrich Smetius’ auf der Professur für Physiologie wieder in Heidelberg. Am 18.6.1589 ist seine Aufnahme in den Senat belegt. 1592 wurde O. zum Prorektor, ein Jahr später zum Rektor gewählt u. war schließlich 1594 Dekan der medizin. Fakultät. Im Jan. 1596 begleitete er Kurfürst Friedrich IV. von Pfalz in Vertretung für dessen Leibarzt Johannes Posthius nach Amberg. Nach seiner Rückkehr etwa im März desselben Jahres verstarb er in Heidelberg an der Pest. Seinen Tod beklagt Janus Gruter 1598 in einem Schreiben an David Hoeschel. Gelehrte Kontakte bestanden im deutschsprachigen Raum darüber hinaus u. a. zu Paul Melissus Schede, Johannes Posthius, Friedrich Sylburg, Joachim Camerarius d.J. u. Bruno Seidel. Letzterer widmete ihm 1593 zus. mit Posthius seinen Liber morborum incurabilium causas [...] explicans. Überdies hatte O. in Frankreich Beziehungen geknüpft u. a. zu Jean Saintandré, Aimar Ranconet, Adrien u. Nicolas Turnèbe, Jean Dorat, Jean-Antoine
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Baif, Claude Depuys, Pierre d’Elbène u. Jacques Auguste de Thou. O.’ literar. Hinterlassenschaft bietet v. a. Editionen. Die Reihe wird 1582 u. 1583 eröffnet mit Vorlesungen Petrus Ramus’ (In Ciceronis orationes et scripta nonnulla [...] praelectiones. Ffm.) bzw. Omer Talons (Praelectiones in Ciceronem, Porphyrii Isagogen, et Aristoteles primum librum ethicum. Ffm.) u. setzt sich dann mit antiken Autoren fort: Vergil (Ffm. 1583), Hippokrates (Ffm. 1587), Macrobias (Paris 1588) sowie Frontinus zus. mit der Origo gentis Romanae (Paris 1588). Ferner zeigt O.’ editorisches Profil ein deutl. Interesse an Orakelliteratur: Er besorgte Ausgaben der Oracula Chaldaica mit den Kommentaren Plethons u. Michael Psellus’ (Paris 1589) sowie der von ihm als nachchristlich bewerteten Oracula Sibyllina zus. mit Onufrio Panvinios Liber de sibyllis et carminibus sibyllinis (wohl erst postum Paris 1599; ein in der Literatur genannter Druck von 1589 ist in der Nationalbibliothek zu Paris zurzeit nicht auffindbar) u. der Oracula metrica Iovis, Apollinis, Hecatis, Serapidis et aliorum deorum ac vatum tam virorum quam feminarum (Paris 1599). Letzteren sind die Oneirocritica des Astrampsychus nach der Edition Josephe Juste Scaligers beigegeben. Ab 1592 erschienen emendationes u. annotationes zu Seneca in Ausgaben anderer Herausgeber. Erhalten sind zudem Briefe sowie medizin. Dissertationen, die unter O.’ Vorsitz verteidigt wurden: Theses de temperamento corporis humani, eiusque discernendi notis (Heidelb. 1591; Resp. Johannes Möller) u. De colico dolore (Heidelb. 1593; Resp. Andreas Muschler). Literatur: ADB. – Wilhelm Kühlmann u. Joachim Telle: Humanismus u. Medizin an der Univ. Heidelberg im 16. Jh. In: Semper apertus. Bd. 1: MA u. frühe Neuzeit 1386–1803. Hg. Wilhelm Doerr. Bln. u. a. 1985, S. 255–289. – Graecogermania. Griechischstudien der Humanisten [...]. Bearb. v. Reinhard Barm [...]. Weinheim/New York 1989 (Ausstellungskat. der Herzog-August-Bibl. 59), S. 232–234. – Klaus Karrer: Johannes Posthius (1537–1597). Verz. der Briefe u. Werke mit Regesten u. Posthius-Biogr. Wiesb. 1993, Register. – Dagmar Drüll: Heidelberger Gelehrtenlexikon 1386–1651. Bln. u. a. 2002, S. 424. – Claudio Schiano: Il secolo della Sibilla. Momenti della tradizione cinquecentesa digli ›Oracoli Sibillini‹. Bari 2005, Register. – Die dt. Humanisten. Dokumente
727 zur Überlieferung der antiken u. mittelalterl. Lit. in der Frühen Neuzeit. Abt. I: Kurpfalz. Bd. 3, hg. u. bearb. v. Wilhelm Kühlmann u. a. Turnhout 2010 (mit ausführl. Bibliogr., im Dr.). – Handschriftlich überlieferte Briefe in der UB Erlangen-Nürnberg, Slg. Trew (s. Kat. S. 437 f.). Susann El Kholi
Opsopoeus, Vincentius, eigentl.: Vinzenz Heidecker, Heidnecker, † Aug. 1539 Ansbach. – Philologe u. lateinischer Dichter.
Orabuena
Trunkenheitsliteratur u. lieferte – mit durchsichtiger Ironie – die Rezepte u. Regeln der feineren oder auch gröberen Geselligkeit. Noch Janus Gruter nahm das Werk in seine Delitiae poetarum Germanorum auf (Bd. 4,2, S. 1202–1273. Internet-Ed.: CAMENA). Literatur: Ludwig Schiller: Die Ansbacher gelehrten Schulen unter Markgraf Georg v. Brandenburg. Programm Ansbach 1874/75. – Adolf Hauffen: Die Trinklit. in Dtschld. bis zum Ausgang des 16. Jh. In: Vjs. für Litteraturgesch. 2 (1889), S. 481–516. – Hermann Jordan: Reformation u. gelehrte Bildung in der Markgrafschaft AnsbachBayreuth. In: Quellen u. Forsch.en zur bayr. Kirchengesch. 1 (1917), S. 115 ff. u. ö. – August Jegel: Der Humanist Vinzenz Heidecker, gen. O. In: Archiv für Kulturgesch. 30 (1940), S. 27–84. – E. M. Jellinek: Classics of the Alcohol Literature [...] O. ›Art of Drinking‹. In: Quarterly Journal of Studies on Alcohol 5 (1945), S. 647–661 (anschließend eine engl. Prosaversion). – Niklas Holzberg: Willibald Pirckheimer [...]. Mchn. 1981 (Register). – Contemporaries. Wilhelm Kühlmann
Der Sohn eines Kochs (danach die latinisierte Namensform) stammte aus Bayern u. wirkte als Lehrer in Salzburg. Unter dem Eindruck der Reformation zog er zum Studium nach Wittenberg u. Leipzig (1524). Aus dieser Zeit stammen die Kontakte mit Melanchthon u. Camerarius (Briefwechsel). Durch Übersetzungen u. Editionen luth. Schriften empfahl sich O. dem Reformator (u. a. Epistel an die Galater. Lat. Hagenau 1526. Lutheri Epistolarum farrago. Hagenau 1525. Lat. Ed.: Lutheri Sermo [...] super sacramento. Hagenau 1527. Lat. Übers.: Lutheri Catechismus. Hagenau 1529). Orabuena, José, eigentl.: Hans SochaczeVorübergehend lebte O. dann in Nürnberg wer, * 10.8.1892 Berlin, † 16.2.1978 As(etwa 1524 bis 1527), wo er sich mit Hilfe cona/Schweiz. – Erzähler. Willibald Pirckheimers dem Studium der griech. Antike zuwandte. Zahlreiche Ausga- Der in Berlin aufgewachsene Sohn assimiben, z.T. mit lat. Übersetzungen, machten lierter jüd. Eltern wandte sich früh der Liteihn als bemühten Philologen bekannt: u. a. ratur zu. Seine Lebenserinnerungen Im Tale Polybios (1530), Heliodor (Aethiopica. Basel Josaphat. Eigene Lebensgeschichte (Zürich 1964) 1534; nach einer aus der Bibliothek des legen nahe, dass er unter dem fehlenden reMatthias Corvinus stammenden Hand- ligiösen Zugehörigkeitsgefühl u. der strenschrift), Lukian (u. a. Hermotimus, 1527), Ho- gen Erziehung des Vaters litt, der O.s mer (lat. Übers. von Buch II u. IX der Ilias, Wunsch, Schriftsteller zu werden, als Wahn1527; dazu Brief an Pirckheimer 1525/26), idee verwarf u. ihn in einer Irrenanstalt inBriefe des Basilius u. Gregors von Nazianz ternieren ließ. Im Ersten Weltkrieg wurde O. (1528; von Erasmus getadelt). Seit 1528 als Soldat von der West- an die Ostfront verwirkte O. als Schuldirektor in Ansbach, da- setzt u. im Nov. 1916 in der litauischen Stadt neben zeitweilig auch als Erzieher des jungen Wilna stationiert, wo er durch das OstjudenMarkgrafen Albrecht Alcibiades. Während tum sein eigenes verloren gegangenes Judieser Zeit erschien eine lat. Teilübersetzung dentum wiederentdeckte. 1925 übersiedelte der Psalmen (Hagenau 1532) u. sein bekann- O. nach Kopenhagen u. floh 1935 vor den testes Werk, das an Ovid angelehnte scherz- Nationalsozialisten nach England. Zwischen hafte Lehrgedicht De arte bibendi libri tres 1933 u. 1945 veröffentlichte er kaum, sodass (Nürnb. 1536; zahlreiche weitere Drucke bis sein Werk nur bedingt der Exilliteratur zumindestens 1690; dt. Übers. v. Gregor Wick- zurechnen ist, wenngleich er gelegentl. Konram. Freib. i. Br. 1537. Nachdr. Köln 1891; takt zu österreichischen u. dt. Exilliteraten hier ein deutschsprachiger Widmungsbrief wie Joseph Roth, Erich Maria Remarque u. des Verfassers). Die viel gelesene Dichtung Stefan Zweig hatte. Seit 1950 lebte O. bis zu gehört zum weitläufigen Komplex der sog. seinem Tod in Ascona. Er besaß die brit.
Ordo Rachelis
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Staatsbürgerschaft u. konvertierte in den Der Protagonist erschlägt seine Ehefrau u. letzten Lebensjahren noch zum Katholizis- versucht im Gefängnis das Begangene zu sühnen, es wird jedoch deutlich, dass endmus. O.s Werke sind heute mit Ausnahme seines gültige Erlösung, zumindest in dieser Welt, Großstadtromans Sonntag und Montag (Pots- unmöglich ist. Die Werke aus dem Nachlass dam 1927. Ersch. unter dem bürgerl. Namen O.s sind von dessen Freund Walter Nigg Hans Sochaczewer) nahezu vergessen. Der herausgegeben u. mit Nachworten versehen. Roman schildert die sozialen Lebens- u. ArWeitere Werke: Unter Hans Sochaczewer: Die beitsbedingungen der Proletarier, Kleinbür- Grenze. Konstanz 1922 (E.). – Henri Rousseau. ger u. Ostjuden im Berliner Scheunenviertel Potsdam 1927 (N.). – Das Liebespaar. Bln. 1928 (R.). während der Inflationszeit 1920–1923. Zur – Menschen nach dem Krieg. Wien 1929 (R.). – Die Zeit der Weimarer Republik verfasste O. für Untat. Bln. 1931 (R.). – Unter José Orabuena: Glück u. verschiedene Zeitungen u. Zeitschriften Geheimnis. Lebensgesch. des Pater Marcellus. Zürich 1957 (R.). – Rauch u. Flamme. Zürich 1962 (R.). zahlreiche Artikel u. Essays über diverse – Auch Gram verzaubert. Zürich 1962 (R.). – Das Themen aus den Bereichen Gesellschaft, Urlicht. Schicksal des Erzählers Elias. Zürich 1971 Kultur u. Literatur u. rezensierte literar. (R.). Neuerscheinungen, u. a. von Arnold Zweig u. Literatur: Karl Pfleger: Welt im Frieden Gottes. Alfred Döblin. Im Roman Groß ist deine Treue Seelengesch. im Romanwerk v. J. O. In: Horizonte. (Zürich 1959) verarbeitet O. seine Begegnung 1. Jg. H. 1 (1962). – Walter Nigg: Vom Morgenstern mit dem osteurop. Judentum u. berichtet beschienen. J. O. In: Ders.: Was bleiben soll. Zehn über das jüd. Leben der Stadt Wilna. »Es war biogr. Meditationen. Olten 1974, S. 98–123. – eine neue Welt, und ich fand mich in ihr zu- Ders.: Der heilende Dichter. J. O. In: Heilige u. recht und behaglich wie in einer Heimat«, Dichter. Hg. ders. Olten 1982, S. 203–226. – Anschreibt O. selbst in seinem autobiogr. Essay dreas Heinecke: Das Ostjudentum im Werk v. J. O. Zur Geschichte meines Wilna-Romans (Zürich Ffm. u. a. 1990. Sabina Becker 1962, S. 9). Dort finden sich auch poetolog. Aussagen von O., der sich gegen den Natu- Ordo Rachelis ! Freisinger Ordo Raralismus u. eine mimet. Nachahmung wendet chelis u. postuliert, dass »die Literatur mit der Wiedergabe der Wirklichkeit nichts zu Orendel, Der graue Rock, um 1190. – schaffen hat« (ebd., 25). Ferner beruft sich O. Spielmännischer Legenden- u. Abenteuauf Arthur Schopenhauers Diktum von 1851, erroman. »die Aufgabe des Romanschreibers ist nicht, große Vorfälle zu erzählen, sondern kleine Das Werk, das die Authentizität des ungeinteressant zu machen« (ebd., 74). nähten Rocks Christi u. seinen Weg nach Im Erzählband Ebenbild-Spiegelbild. Erinne- Trier dokumentieren soll – daher auch der rungen (Zürich 1962) – die erste dieser Er- Titel Der Graue Rock –, verdankt seine Entstezählungen erschien bereits 1951 u. d. T. hung wohl den Versuchen des Trierer EpiKindheit in Cordoba (Ffm.) – beschreibt O. in skopats, die führende Rolle des Bistums, u. a. Form fiktiver Aufzeichnungen die Lebensge- durch die »depositio« der Reliquie im Hochschichte des spanisch-jüd. Arztes David Ora- altar des Doms am 1.5.1196, zu demonstriebuena, nach dem O. sich seit 1946 benannte. ren. Diese mitteldt. Urfassung ist verloren: In der Folge distanzierte er sich von fast allen Einzige Überlieferungszeugen sind eine seiner zuvor veröffentlichten Werke. Weitere (1870 in Straßburg verbrannte, nur in einer journalist. Arbeiten u. Rundfunkbeiträge von Abschrift erhaltene) mit Bildbeischriften O. über Kunst, Literatur u. Religion erschie- versehene elsäss. Handschrift von 1477 u. ein nen in den 1950er u. 1960er Jahren. Sein illustrierter Augsburger Druck (Hans Froletzter postum veröffentlichter Roman Tragi- schauer 1512) sowie eine ebenfalls 1512 gesche Furcht (Freib. i. Br. 1980) ist von der Frage druckte Prosabearbeitung (Augsb.: Hans nach Schuld u. Sühne bestimmt, wobei dem Othmar). Mehrere Indizien jedoch (Hinweis Religiösen eine große Bedeutung zukommt. auf eine O.-Handschrift – »Item ain hübsch
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buch genant der graw rok vnd kunk alexander« – in einer Verlagsanzeige der Werkstatt Diebold Laubers in Hagenau/Elsass; eine knappe Inhaltsangabe des ersten Teils innerhalb der Herogonie in der Prosavorrede des Straßburger Heldenbuchs von etwa 1480; der Einfluss des O. auf die legendarisierende Bearbeitung des Brautwerbungsepos Münchner Oswald, den Wiener Oswald), lassen auf eine relativ breite oberdt. Handschriften-Tradition im 14. u. 15. Jh. schließen; zudem ist mindestens eine, vermutlich erweiternde, Neubearbeitung noch im 13. Jh. anzunehmen. Der fast 4000 Verse umfassende Text gliedert sich in zwei unterschiedlich lange Hauptteile, einen kurzen Vorspann u. einen knappen Schluss: Auf die Frühgeschichte des ungenähten Rocks (bis v. 154) folgt als erster Teil (vv. 155–3149) die Brautwerbungs-, Aventiure- u. Ehegeschichte des Trierer Königssohns Orendel mit der Erwerbung des Grauen Rocks u. dessen Überführung nach Trier, der zweite Teil (vv. 3150–3863) mit weiteren Abenteuern endet mit der erneuten Befreiung Jerusalems, der Schluss (vv. 3864–3895) mit dem Tod der Protagonisten. Orendel zieht in den Orient, um dem Hl. Grab zu dienen u. Bride, die Alleinerbin Jerusalems, als Gattin zu erwerben; auf der langjährigen Abenteuerfahrt dorthin kauft er dem Fischer Ise, der ihn aufgenommen hat, für 30 Pfennige das Gewand Christi ab. In den Kämpfen um die Hand Brides u. die Befreiung Jerusalems besiegt er, in den grauen Rock gekleidet, zahlreiche Riesen u. heidn. Heere, bis ihn Bride, von der er Schwert u. Krone Davids erhält, heiratet u. sich an seiner Seite selbst aktiv an den kriegerischen Handlungen beteiligt. In der Urfassung wird Orendel nun mit Gattin u. Reliquie direkt nach Trier zurückgekehrt sein, im vorhandenen Text finden davor noch weitere Kämpfe in Westfalen u. im Hl. Land statt. Das Paar hat einem Engel neunjährige Keuschheit schwören müssen: In den gemeinsam mit dem inzwischen zum Herzog erhobenen Fischer Ise bestandenen Abenteuern bestätigt sich die Ehe in gegenseitigen Treuebeweisen; Gott u. seine Engel beschützen Orendel auf Fürbitte Marias in allen Gefahren. Das Keuschheitsgelübde wird
Orendel
endgültig: »zwên tage und ein halbez jâr« danach sterben Orendel, Bride, Ise u. der Mitstreiter Herzog Achille; die Engel führen »die vier sêlen« in das »frône himelrîch«. Das Werk, dessen Autor – wohl ein »litteratus« – verschiedene Erzähltypen gemeineuropäischer Tradition neben- u. gegeneinander benutzte, ist von merkwürdig oszillierender Gattungszugehörigkeit. Seine burlesken Elemente gehören einem Typ eher unterliterarischer spielmänn. Heldendichtung an; die Zusammenführung von Askese u. Heroismus steht in Opposition zur älteren Heldendichtung u. hat wohl ihre literar. Funktion v. a. im Zusammenhang mit der »resignierenden« Heldenepik des 13. Jh.; die – christliche – Abwertung der Brautwerbung ist am ehesten als Reflex auf die säkularisierte spielmänn. Brautwerbungsepik zu verstehen, wie die Auseinandersetzung des Textes mit dem Oswald zeigt. Direkte Quellen sind jedoch, trotz der breiten Motivstreuung, bis auf eine Benützung des Apollonius, kaum auszumachen. Altertümlich wirkt die Formelhaftigkeit der vierhebigen Reimpaarverse mit der oft nahezu wörtl. Wiederkehr stereotyper Floskeln u. ganzer Erzählblöcke, was aber wohl weder aus mündl. Komposition noch aus mündl. Gebrauch resultiert, sondern sich eher als »manieristische Sprachhyperbolik« (Curschmann) erklären lässt. Ausgaben: Arnold E. Berger (Hg.): O. Ein dt. Spielmannsgedicht. Bonn 1888. Neudr. Bln./New York 1974. – Hans Steinger (Hg.): O. Halle 1935. – Faksimilia: Ludwig Denecke (Hg.): O. (Der graue Rock). Versfassung (Druck Froschauer 1512). Prosafassung (Druck Othmar 1518). Stgt. 1972. Literatur: Forschungsbericht: Michael Curschmann: Spielmannsepik. Stgt. 1968, S. 14–19, 80 f. u. ö. – Weitere Titel: Ders.: Der Münchener Oswald u. die dt. spielmänn. Epik. Mchn. 1964, S. 115–126 u. ö. – Alfred Ebenbauer: O. – Anspruch u. Verwirklichung. In: FS Blanka Horacek. Wien/Stgt. 1974, S. 25–63. – Uwe Meves: Das Gedicht vom ›Grauen Rock‹ (O.) u. die Trierer Reliquientradition. In: Kurtrierisches Jb. 15 (1975), S. 5–19. – Peter K. Stein: O. 1512. Probleme u. Möglichkeiten [...]. In: Montfort 32 (1981), S. 148–163. – Maria Dobozy: The Theme of the Holy War in German Literature, 1152–1190. Symptom of Controversy between Empire and Papacy? In: Euph. 80 (1986), S. 341–362. – M. Curschmann: O. In: VL. – Bern-
Orff ward Plate: O. – König v. Jerusalem. In: Euph. 82 (1988), S. 168–210. – Armin Schulz: Morolfs Ende. Zur Dekonstruktion des feudalen Brautwerbungsschemas in der sog. ›Spielmannsepik‹. In: PBB 124 (2002), S. 233–249. – Corinna Biesterfeldt: Moniage, der Rückzug aus der Welt als Erzählschluß. Untersuchungen zu ›Kaiserchronik‹, ›König Rother›, O., ›Barlaam und Josaphat‹, ›Prosa-Lancelot›. Stgt. 2004. Norbert H. Ott / Red.
Orff, Carl, * 10.7.1895 München, † 29.3. 1982 München; Grabstätte: Klosterkirche Andechs. – Komponist. Nach kurzem Akademiestudium u. Kapellmeisterjahren leitete der aus einer bayerischen Offiziersfamilie stammende O. 1930–1933 den Münchner Bachverein. Von 1924 an erprobte er in der von ihm u. der Ausdruckstänzerin Dorotheé Günther gegründeten Günther-Schule die Einheit von Gymnastik, Tanz u. Musik u. das auf Naturformen zurückgreifende sog. Orff-Instrumentarium. Seine am Theater-Mimus als der Urform der Künste orientierte Musikpädagogik für Kinder u. Behinderte fasste er im Schulwerk (zus. mit Gunhild Keetman. Mehrere Bearbeiter. Mainz 1960) zusammen. Die von O. nach einer Liederhandschrift aus dem 13. Jh. zusammengestellten u. vertonten Texte der Carmina Burana (Urauff. Ffm. 1937) bezeichnen den Beginn seines von ihm selbst als gültig erklärten Bühnenschaffens. Frühe Übung als Librettist u. die Fertigkeiten in Auswahl u. Einrichtung von Textvorlagen ließen nun eine Reihe von Meisterwerken entstehen. Der Mond, O.s kleines Welttheater, bildete mit der Münchner Uraufführung 1939 den Auftakt; ihm folgte Die Kluge (Urauff. Ffm. 1943), für die O. – wie im Mond – wiederum ein Märchen der Brüder Grimm bearbeitete. Das 1943 in Leipzig uraufgeführte szen. Spiel Catulli Carmina knüpfte an die Carmina Burana an, u. die stets die traditionellen Grenzen des Musiktheaters überschreitenden Werke Die Bernauerin (Mainz 1947), Astutuli (Mainz 1953), das Osterspiel Comoedia de Christi Resurrectione (Mainz 1957) sowie das Weihnachtsspiel Ludus de nato infante mirificus (Mainz 1960) zeigen O. als Komponisten, dessen Musik vom
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Wortklang u. -rhythmus u. von der mimischen Szene ausgeht. Eine scharfe Grenze zwischen O.s eigenen Dichtungen, die Anregungen u. Vorlagen nicht verleugnen, u. seinen Bearbeitungen, Texteinrichtungen u. -zusammenstellungen lässt sich nicht ziehen. Denn auch deren musikalisch-klanglicher u. rhythmisch-deklamatorischer Charakter ist aus dem Geiste archaisierender, oft historisch abgelebter Sprachformen entstanden. Weitere Werke: Trionfo di Afrodite. Concerto scenico. Urauff. Mailand 1953 (Texteinrichtung v. O. nach Sappho, Catull u. Euripides). – De temporum fine comoedia. Urauff. Salzb. 1973 (Textzusammenstellung v. O.). – C. O. u. sein Werk. Dokumentation. 8 Bde., Tutzing 1975–83. – Briefe zur Entstehung der Carmina Burana. Hg. Michel Hofmann u. Frohmut Dangel-Hofmann. Tutzing 1990. – Verz. der veröffentlichten Werke. Mainz u. a. 1995. – Welttheater – C. O. u. sein Bühnenwerk. Texte v. C. O. aus der ›Dokumentation‹. Hg. Hans Jörg Jans. Tutzing 1996. – C. O. – Ferdinand Leitner. Ein Briefw. Hg. Lukas Näf u. a. Mainz u. a. 2008. Literatur: Werner Thomas: Wortmagie u. Klangmagie. In: Musik im Unterricht 46 (1955), S. 163–165. – Das Orff-Schulwerk im Dienste der Erziehung u. Therapie behinderter Kinder. FS zum 75. Geburtstag v. C. O. Bln. 21978. – Lilo Gersdorf: C. O. Reinb. 1981. 62002. – Alberto Fassone: C. O. Lucca 1994. – Michael H. Kater: C. O. im Dritten Reich. In: Vierteljahrsh.e für Zeitgesch. 43 (1995), H. 1, S. 1–35. – Godela Orff: Mein Vater u. ich. Mchn. 1995. Bln. 2008. – Franz Willnauer (Hg.): Carmina Burana v. C. O. Entstehung, Wirkung, Text. Mainz 1995. 22007. – Kim H. Kowalke: Burying the Past. C. O. and his Brecht Connection. In: Musical Quarterly 84 (2000), H. 1, S. 58–83. – Michael Kugler (Hg.): Elementarer Tanz – elementare Musik. Die Günther-Schule Mchn. 1924 bis 1944. Mainz u. a. 2002. – Pietro Massa: C. O.s Antikendramen u. die Hölderlin-Rezeption im Dtschld. der Nachkriegszeit. Ffm. u. a. 2006. – Susanne Gläß: C. O.: Carmina Burana. Kassel u. a. 2008. – Odilo Lechner, Hellmuth Matiasek u. Franz Willnauer (Hg.): C. O. u. der Hl. Berg Andechs. Mchn. 2008. Joseph Kiermeier-Debre / Red.
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Orth, Orthus, Zacharias, * ca. 1535 Stralsund, † 2.8.1579 Barth/Pommern. – Poetiklehrer u. neulateinischer Dichter.
Ortheil Bemerkungen zur Gattungsfunktion der ›laus urbis‹. In: Kühlmann (2006), S. 287–307 [zuerst 1994]. – Hartmut Freytag: Über das Stadtlob des Z. O. auf Stralsund (1562) u. das Stadtlob des Peter Vietz auf Lübeck (1552). Eine literaturhistor. Skizze. In: Ztschr. des Vereins für Lübeckische Gesch. 77 (1997), S. 29–48. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1454–1456. Wilhelm Kühlmann
O. besuchte die Gelehrtenschule in Lübeck, studierte 1555–1557 in Rostock, wo er den Poetenlorbeer u. den Magistertitel erwarb (18.5.1557), u. wandte sich dann, von Melanchthon angezogen, nach Wittenberg. Dort konnte er eine Rede über Homer u. über die Grundzüge der Dichtkunst halten, zu der Ortheil, Hanns-Josef, * 5.11.1951 Köln. – Melanchthon ein empfehlendes Vorwort lie- Autor von Romanen, Essays, literarischen ferte (Oratio de arte poetica. Wittenb. 1558). Tagebüchern, Rezensionen. Bald darauf (1559) wurde O. als Professor für Als poeta doctus u. Professor für Kreatives Poesie nach Greifswald berufen, wo er bis Schreiben repräsentiert O. den angelsächs. 1561 Vorlesungen über antike Autoren hielt, Autorentypus, der die Bedingungen künstlebald darauf aber, im Anschluss an einen rischer Produktivität reflektiert, das alltägl. kurzen Aufenthalt in Schweden, nach Wit- Wahrnehmen skizziert (Blauer Weg. Literaritenberg zurückkehrte (dort bis Anfang 1564). sches Tagebuch. Mchn./Zürich 1996) u. die ReSeine Befähigungen suchte er mit einer lat. geln seines Handwerks in ArbeitsprotokolÜbersetzung der griech. Geschichte des By- len, Interviews u. Poetikvorlesungen offenzantiners Georgios Gemistios Pletho (Lübeck legt (Schauprozesse. Mchn./Zürich 1990. Wie 1561), mit einem Band lat. Elegien (Carminum Romane entstehen. Mchn. 2008). Zur Autorliber primus. Rostock 1562) u. mit vier Bänden schaft fand O. über das Studium der Germagriechisch geschriebener poet. Porträts der nistik, das ihn – nach der Ausbildung zum griech., türk., röm. u. dt. »Kaiser« unter Be- Konzertpianisten – zur Promotion (Der poetiweis zu stellen (Sammeltitel: Caesares. Wit- sche Widerstand. Geschichte und Auslegung des tenb. 1563). Nach Melanchthons Tod schloss Romans im 17. und 18. Jahrhundert. Königst./Ts. sich O. bes. an Joachim Camerarius d.Ä. an. Es 1980) u. in die Hochschulassistenz für neuere folgte ein bewegter Lebenslauf: Wir finden O. dt. Literatur (bis 1988) führte. Seit 1991 arin Wien, wo er erneut zum Dichter gekrönt beitet O. als Dozent für Kreatives Schreiben wurde (1564), als Hofmeister Nürnberger an der Universität Hildesheim, die ihm 2003 Studenten in Tübingen (Juni 1564), als Lehrer eine Professur einrichtete. Zum Selbstveru. Aufseher des Alumnats in Königsberg ständnis seiner akademisch-literar. Doppel(1566–1570), als Reisebegleiter in Venedig u. existenz gehört die poetolog. Begründung, Padua (1572/73), im Umkreis des Braun- d.h. das regelmäßige Entwerfen von Theorien schweiger Hofes (1575), dann wieder in Stet- des eigenen Schreibens. Umgekehrt ist es Teil tin (1578). Als bedeutsam für die Gattung des dieses Konzepts, die Tendenzen des literar. frühneuzeitl. »Städtelobs« erweist sich O.s in Betriebs zu beobachten, auf vermeintl. Verepischer Darstellungstopik entfaltetes, histo- engungen mit Postulaten u. Gegenentwürfen rische, polit. u. kulturgeograf. Perspektiven zu reagieren. In den ausgehenden 1980er verknüpfendes Preisgedicht auf seine Vater- Jahren initiierte O. die dt. Diskussion um die stadt Stralsund (Inclytae urbis Stralsundae origo literar. Postmoderne, die er u. a. an den meet gestae. Rostock 1562. Text mit dt. Übers. bei tafiktionalen Romanen Italo Calvinos u. Umberto Ecos exemplifizierte (Was ist postZober 1831). moderne Literatur? In: Ders.: Schauprozesse. BeiLiteratur: Theodor Pyl: O. In: ADB. – VD 16. – Ellinger 2, S. 283–286. – Ernst Heinrich Zober: Des träge zur Kultur der 80er Jahre. Mchn. 1990, M[agisters] Z. O. Lobgedicht auf Stralsund. Stral- S. 106–115). Es gehört zu den Eigentümlichsund 1831. – Wilhelm Kühlmann: Zum Profil des keiten von O., sich zum Anwalt einer postpostreformator. Humanismus in Pommern. Z. O. strukturalistisch inspirierten Literatur zu (ca. 1535–79) u. sein Lobgedicht auf Stralsund. Mit machen, zgl. aber die avancierten Ansätze
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vom eigenen Schreiben fernzuhalten. Seine Orientierung am klass. Erzählgestus vermeidet illusionsstörende Fragmentarisierungen u. perspektiv. Brüche u. mag mit der musikal. Prägung durch Leitbilder wie Schumann u. Mozart zusammenhängen. Im Grunde resultiert das Festhalten an der Idee epischer Kontinuität aus der der eigenen Biografie, die in den ersten Romanen als verborgener Antrieb der Kreativität rekonstruiert u. zu einer autobiog. Poetik verdichtet wird (Das Element des Elephanten. Wie mein Schreiben begann. Mchn. 1994). Das Romandebüt Fermer (Ffm. 1979) entwirft das zeitgenöss. Bild eines richtungslos unwirkl. Jahrzehnts aus der Perspektive des jugendl. Titelhelden, dessen Angst- u. Einsamkeitszustände in der Natur der Rheinauen, der Lektüre geliebter Klassiker, der Gemeinschaft Gleichgesinnter Milderung finden. Ein Schumann-Konzert verschafft das ersehnte einigende Erlebnis einer inneren Sprache, das von einem lukullischen Mahl überhöht u. ins Sinnliche gewendet wird. Die romant. Aufbruchsgeschichte endet mit der Flucht der Freunde aus dem »kalten Land« ins Sehnsuchtsland Italien – ein Muster, das in späteren Romanen (Faustinas Küsse. Mchn. 1998. Die große Liebe. Mchn. 2003. Die Erfindung des Lebens. Mchn. 2009) wiederkehrt, wo es mit der Öffnung der Sinne u. der Entdeckung künstlerischer Anlagen verquickt wird. Die folgenden Zeit- u. Erinnerungsromane thematisieren den Schrecken des Zweiten Weltkrieges im Mikrokosmos der eigenen Familie, umkreisen die seel. Verwundungen, die sich dem Leben des »einzigen Erben« eingeschrieben haben. Der im elterl. Haus am Rand des Westerwalds logierende Erzähler unternimmt in Hecke (Ffm. 1983) den Versuch, in sieben nächtl. Schreibanläufen ein Lebensbild der Mutter zu entwerfen, u. entdeckt dabei das Muster, das der eigenen Biografie zugrunde liegt. Das entscheidende Ereignis, dessen Name nicht ausgesprochen werden darf, wird aus unterschiedl. Stimmen u. dokumentarischem Material wie ein Puzzle zusammengesetzt. »Hecke« ist der Name des abgelegenen Gehöfts, wo die Katastrophe geschah – der Ort, an dem im April 1945 der
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zweite Sohn der Eltern durch Kriegseinwirkungen ums Leben kam. Die Mutter erleidet als Folge dieses doppelten Verlusts Totgeburten; das fünfte Kind, der Schreiber u. Erzähler, wird sich in der vorsichtigen Rekonstruktion bewusst, zum Wiedergänger des in den Armen der Mutter getöteten Bruders verdammt zu sein: »Wo lebte ich? Mehr in ihm als in mir.« Schwerenöter (Mchn./Zürich 1987) verschiebt die Thematik ins Kollektive, spiegelt die bundesrepublikan. Geschichte von der Währungsreform 1948 bis zum Einzug der Grünen in den Bundestag 1983 in den individuellen Lebensläufen des ungleichen Zwillingsbruderpaars Josef u. Johannes – namentlich bezeichnete Antagonismen in der Persönlichkeit des Autors. Um der Stoffmassen Herr zu werden, erprobt der Roland Barthes-Verehrer O. hier erstmals das semiolog. Verfahren der Zeichendeutung, ein Charakteristikum seines Schreibens, das das Zeittypische einfangen will. Signifikante Gegenstände, Gesten, Theorien, Stile, Moden ergeben additiv gereiht das Bild einer gespaltenen Generation. Ausgeprägte Strukturalisten sind auch die Helden des Lifestyle-Romans Agenten (Mchn./ Zürich 1989), die Schulfreunde Meynard u. Blok, eine weitere Variante des Gegensatzes ambitionierter Karrierist/sensibler Künstler, nun im Zeichen des postmodernen »way of life« der Achtziger. Die stilverwöhnten, »coolen« Helden frönen dem oberflächl. Marken-Leben u. betreiben ihren gesellschaftl. Aufstieg als intrigantes Rollenspiel. Am Ende kann der eine mit dem vom Vater erpressten Geld die erträumte Szene-Bar eröffnen, während der andere seinen Redakteursposten u. die Freundin verliert. In der Melancholie des Verlustes entwickelt er sich zum Autor, dessen Geschichte der Leser in Händen hält. Abschied von den Kriegsteilnehmern (Mchn./ Zürich 1992) schildert als Gegenstück zu Hecke den Ablösungsprozess des Sohnes vom Vater. Über dessen nachgelassene Texte u. geodät. Arbeitsgeräte setzt ein Dialog ein, der sich zur doppelten Biografie entwickelt. In der Rekonstruktion des väterl. Erlebens der Kriegs- u. Nachkriegszeit wird sich der Er-
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zähler zögernd der eigenen seelischen Verwundungen bewusst, aus denen der Vater ihn zu lösen suchte, indem er das autistisch verstummte Kind auf langen Wanderungen ans Zeichnen u. Schreiben heranführte. In der apokalypt. Schlussvision trägt der Sohn den Vater u. die vier toten Brüder über die Schlachtfelder des Weltkriegs nach Osten in den Sonnenaufgang. Das symbolische Begräbnis markiert den Abschluss von O.s schmerzvollen Vermessungsarbeiten der dunklen Vergangenheit u. den Anbruch eines neuen Lebensabschnitts. Mit dem »Ausschreiben« des Krieges verkehrt sich die literar. Szenerie vom Dunklen ins Helle, von Trauer u. Leid in Schönheit u. Genuss. Die zentrale Frage nach dem Ursprung künstlerischer Produktivität wird verlegt, gleichsam zurückdatiert auf die Epoche des Ancien Régime ins Jahr 1786 u. am Beispiel Goethes in Rom (Faustinas Küsse), Turners in Venedig (Im Licht der Lagune. Mchn. 1999) u. Mozarts in Prag (Die Nacht des Don Juan. Mchn. 2000) weiterverfolgt. Die postmoderne Kombination aus Künstlerbiografie u. -roman erlaubt es, die eigene Problematik an verehrten Vorbildern zu spiegeln u. einer Lösung zuzuführen. Die Suche nach einer inneren Sprache, der Impuls, das Erfahrene in Worte, Töne oder Bilder zu übersetzen, ist bei O. signifikanterweise eng an äußere, sinnl. Reize gebunden – in allen drei Romanen ist der Körper der Geliebten das auslösende Moment, die Schaffenskrise zu überwinden, neue Energien zu entbinden. Die erot. Erfahrung bewirkt eine neue Sichtweise. Sie manifestiert sich in einem geradezu kunsthistor. Blick, einem Willen zur Schönheit, der die Welt als dekorative Landschafts- u. Stadtansichten, als hochästhet. Arrangements von Gegenständen wahrnimmt. Der Kurzschluss von Ästhetik u. Erotik mündet folgerichtig in eine Neubelebung des affirmativen, auf das große Publikum zielenden Liebesromans, dem sich O. – den Kitschverdacht bewusst provozierend – zuletzt verschrieben hat. Die große Liebe, Die geheimen Stunden der Nacht (Mchn. 2005) u. Das Verlangen nach Liebe (Mchn. 2007) verbindet nicht nur das Projekt einer Phänomenologie des »falling in love«, sondern auch das post-
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moderne Credo einer totalen Inszenierung der Lebenswelt. Die künstlerisch veranlagten, vom Leben desillusionierten Helden um die fünfzig, die noch einmal den Aufbruch wagen, verwandeln sich in innenperspektivisch vergegenwärtigten Liebesbegegnungen. Sie erkennen »mitten im haarsträubenden Chaos [...] zungenschnalzendes Glück, Stimmigkeit«. Der ästhet. Blick »präpariert« die Welt, zwingt das Abgründige in die schöne Form, um die anflutende chaot. Wirklichkeit im (Auf-)Schreiben zu bannen. Parallel zur Hypostasierung des Ästhetischen verläuft die scheinbar gegensätzl. Tendenz einer umfassenden Mythisierung. Doch ist die Durchsetzung des Erlebten mit myth. Inhalten ein kalkulierter Effekt der Intertextualität, insofern archetyp. Bilder u. Strukturen mittels verdeckter Zitate u. struktureller Anleihen aus Oper u. Literatur in die Texte eingewebt werden. O. erprobt das Mythische als Spielfeld von Möglichkeiten, was dem genuin postmodernen Grundzug seiner Literatur entspricht. Der jüngste Roman mit dem programmat. Titel Die Erfindung des Lebens amalgamiert auf bewährte Weise Autobiografisches u. Fiktives u. wirkt – indem noch einmal der Bogen von der Kindheit in die unmittelbare Gegenwart des Schreibers Johannes geschlagen wird – wie eine Bilanz alles bisher poetisch Erprobten u. Erreichten. Ein in Rom logierendes erfolgreiches Autor-Ich rekonstruiert das eigene Schriftstellertum aus einem kriegsbedingten familiären Trauma heraus, das sich tief ins Kind eingeprägt hat. Aus dem Gefängnis des mit der Mutter bis ins Schulalter geteilten Autismus führen – mühsam u. von Rückschlägen begleitet – das Klavierspiel u. die vom Vater angeleiteten Schreibexerzitien heraus. Das Zur-Sprache-Kommen vollzieht sich als buchstäbl. Zur-Welt-Kommen, als Neugeburt. Seine Ausbruchs- u. Entdeckungsreisen führen den jungen Mann schließlich nach Rom, wo er seine Anlagen in der Erfahrung von Freiheit, Freundschaft u. Liebe zum Künstler ausbildet, ohne das innere Dunkel völlig überwinden zu können. In einem von Kommentaren durchbrochenen romanhaften Bericht über das Werden eines Schriftstellers ist alles wie zur eigenen Versi-
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cherung noch einmal versammelt: die Schönheit der Natur u. Kunst, die Feier von Liebe u. Leben, die rückhaltlose Reflexion eigenen Erlebens u. die Rettung vor dem dunklen Abgrund im kontinuierlichen, existentiellen Schreibprozess. Weitere Werke: Mozart. Im Inneren seiner Sprachen. Ffm. 1982 (Ess.). – Köder, Beute u. Schatten. Suchbewegungen. Ffm. 1985 (Ess.s). – Lo u. Lu. Roman eines Vaters. Mchn. 2001. – Die weißen Inseln der Zeit. Orte, Bilder, Lektüren. Mchn. 2004 (Ess.s). – Das Glück der Musik. Vom Vergnügen, Mozart zu hören. Mchn. 2006 (Ess.). – Lesehunger. Ein Bücher-Menu in 12 Gängen. Mchn. 2009. – Rom. Eine Ekstase. Mchn. 2009 (Reiseführer). Literatur: Michael Töteberg: H.-J. O. In: KLG. – Manfred Durzak u. Hartmut Steinecke (Hg.): H.-J. O. – Im Innern seiner Texte. Studien zu seinem Werk. Mchn./Zürich 1995. – Helmut Schmitz: Der Landvermesser auf der Suche nach der poet. Heimat. H.-J. O.s Romanzyklus. Stgt. 1997. – Michaela Kopp-Marx: Auf Goethes Spuren in Rom. H.-J. O.s Roman ›Faustinas Küsse‹. In: Fakten u. Fiktionen. Strategien fiktionalbiogr. Dichterdarstellungen in Roman, Drama u. Film seit 1970. Hg. Christian v. Zimmermann. Tüb. 2000, S. 167–191. – Dies.: H.-J. O. In: LGL. – Hans-Rüdiger Müller (Hg.): Die Kunst der Benennung. Autobiogr. Bildungsforsch. am Beispiel v. H.-J. O.s Ess. ›Das Element des Elephanten‹. Gött. 2005. – M. Kopp-Marx: Zwischen Petrarca u. Madonna. Der Roman der Postmoderne. Mchn. 2005, S. 11, S. 40 ff. – Stephanie Catani u. a. (Hg.): Kunst der Erinnerung, Poetik der Liebe. Das erzählerische Werk H.-J. O.s. Gött. 2009. – M. Kopp-Marx: Il rumore del mare. Mythos u. Ästhetik in H.-J. O.s ›Die große Liebe‹. Ebd., S. 239–261. Michaela Kopp-Marx
Orths, Markus, * 21.6.1969 Viersen/Westfalen. – Verfasser von Romanen, Erzählungen u. Essays. O. studierte Philosophie, Romanistik u. Englisch u. arbeitete danach zunächst als Lehrer; seit 2001 lebt er als freier Schriftsteller in Karlsruhe. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den Förderpreis des Landes NRW (2003), den Goldenen Lorbeer (2006) für den Historienroman Catalina (Ffm. 2005); 2006 bekam er das Heinrich-Heine-Stipendium für Erzählungen aus Fluchtversuche (Ffm. 2006) u. 2008 den Telekom Austria Preis bei den Ta-
gen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt für einen Auszug aus Das Zimmermädchen (Ffm. 2008). Sein bisher größter Bucherfolg gelang O. mit dem Roman Lehrerzimmer (Ffm. 2003), der die Institution Schule als ein auf Angst, Jammer, Schein u. Lüge basierendes totalitäres System beschreibt. Wie in dieser Satire auf das Bildungssystem stehen auch in anderen Texten neurot. Figuren u. skurrile Alltagsszenen im Zentrum von O.’ Prosa. Der mit religiöser Symbolik aufgeladene Debütroman Corpus (Ffm. 2001) stellt eine Ansammlung solcher Szenen dar, die um das Leben zweier Jugendfreunde, Christof u. Paul, kreist. Nachdem die beiden in ihrer Kindheit versehentlich Christofs Vater umgebracht haben, schlägt Christof die Priesterlaufbahn ein, was nicht nur seine Schuldgefühle verstärkt, sondern überdies zur jahrelangen Verdrängung erotischer Sehnsüchte führt. Von dieser biogr. Exposition ausgehend, schildert der Roman hauptsächlich die Selbstsuche des jungen Mannes, die von zahlreichen, flankierend erzählten Tragödien begleitet wird. Von sonderbar anmutenden Selbstfindungen handeln auch die zehn Erzählungen des Bandes Fluchtversuche. So ist etwa in Kleine Welt die Überwindung von Grenzen als eine psychopatholog. Flucht nach »Innen« inszeniert, die mit der Selbsteinweisung des Protagonisten in eine Anstalt einhergeht. Der Roman Das Zimmermädchen entwirft eine gegensätzl. Ausgangskonstellation: Hier bildet die Entlassung aus der Psychiatrie den Anfang der Geschichte um die zwangsneurotisch veranlagte Hauptfigur Lynn Zapatek, die eine Stelle als Putzkraft im Hotel Eden antritt. Anders als dieser narrative Auftakt vermuten ließe, spürt der Roman im Folgenden aber nicht den psycholog. Ursachen von Lynns obsessiven Handlungen nach, sondern er beschreibt vielmehr, wie die Hauptfigur zunehmend in das Leben der fremden Hotelgäste eindringt. Von dieser Warte aus entwirft der Text ein Bild des »modernen« Menschen, das von Anonymität, Einsamkeit u. Ängsten geprägt ist. Weitere Werke: Schreibsand. Köln 1999. – Wer geht wo hinterm Sarg? Ffm. 2001. Ingo Irsigler
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Ortlepp, Ernst, auch: Omikron, Johannes Paulus, * 1.8.1800 Droyßig bei Zeitz, † 14.6.1864 Schulpforta bei Naumburg; Grabstätte: ebd. – Lyriker, Romancier, Redakteur, Übersetzer, Komponist.
Ortlob Literatur: Friedrich Walter Ilges: 81. aus dem Leben u. Dichten eines Verschollenen. Mchn. 1900. – Ernst Lotichius: Die Werke E. O.s. Diss. Mchn. 1922. – Reiner Bohley: ›Der alte O. ist übrigens todt‹. In: FS Walter Jens. Hg. Wilfried Barner u. a. Stgt. 1983, S. 321–331. – Thomas Schneider: Das Selbstbildnis des Dichters als Genie. Leben u. Werk E. O.s. Stgt. 1990. – Kai Agthe: ›Ich dichte fort, bis dieses Leben schwindet‹. Beiträge zu Leben u. Werk E. O.s. Halle 2006. Thomas Schneider / Red.
Als Sohn aus protestantischem Pfarrhaus besuchte O. auf einer leistungsbezogenen Freistelle die Eliteschule Pforta bis 1818, studierte in Leipzig Theologie u. Philosophie bis 1825 u. wurde dann freier Schriftsteller. Überregionalen literar. Ruhm errang er ab Ortlob, Carl, * 17.1.1628 Oels, † 17.8.1678 1830 (Polenlieder. Lpz. 1831). Als Freund Breslau. – Pfarrer, Liederdichter; VerfasLaubes u. Diskussionspartner Wagners nahm ser einer literarhistorischen Studie. er an den revolutionären Bestrebungen in der Der Sohn eines kaiserl. Steuereinnehmers Folge der frz. Julirevolution teil; karikieren- studierte nach dem Besuch des Lyzeums in de Romane u. pathet. Gedichte rückten ihn in Oels (ab 1634) u. des Elisabeth-Gymnasiums die Nähe des »Jungen Deutschland«. Sein in Breslau (ab 1643) seit dem SommersemesPamphlet Fieschi (Lpz. 1835) gilt am Vorabend ter 1647 in Frankfurt/O. u. seit dem des Bundestagsbeschlusses gegen das »Junge 12.10.1647 in Wittenberg Theologie. Am Deutschland« als Auslöser für dessen Verbot 9.10.1649 erlangte er dort den Magistergrad u. O.s polit. Verfolgung. 1836 musste er u. wurde am 19.10.1650 Magister legens. Leipzig verlassen u. wurde Mitarbeiter beim Nach sechs Jahren Privatkollegia an der phi»Stuttgarter Neuen Tagblatt«; bis 1850 ver- losoph. Fakultät wurde O. Pfarrer in Bernöffentlichte er 24 Bücher (z.T. Übersetzun- stadt, später in Oels; 1669 übernahm er die gen). 1856 legte er das philolog. Examen in Oelsnische Superintendentur. Ab 1672 war er Halle erfolgreich ab, 1854 bekam er das Diakon an St. Elisabeth in Breslau. »Narrendiplom« der Stadt Köln. In Pforta Eine Sammlung von Liedern O.s erschien begleitete er die Jugendjahre Nietzsches, dem 1651 u. d. T. Sieben mahl sieben geistliche Geder Einzelgänger in vielem Vorbild wurde. Da dankken in gebundener Rede in Wittenberg. Ein ihm zeitlebens ökonom. Erfolg verwehrt postum veröffentlichter Sammelband trägt blieb, lebte O. sinnbildhaft die Spitzweg’sche zahlreiche Leichen-Predigten (Breslau 1680) O.s »Arme Poeten«-Karikatur. Trotzig forderte er zusammen. in einem seiner letzten Gedichte eine PensiBereits in seiner Wittenberger Studienzeit on, die auf alle ihm bekannten Straßenkinder vermittelte Buchner O. Kenntnisse der übergehen sollte. Seine Romane sind auto- Opitz’schen Poetik. Friedrich Taubmann biogr. Natur, die Gedichte formbewusst, sel- regte O. zum Studium der altdt. Literatur an ten ironisch, meist voller Selbst- u. Zeitkritik. u. machte ihn wohl auch mit der Poetik Julius Vorbilder sind Jean Paul, E. T. A. Hoffmann, Cäsar Scaligers vertraut. O.s Dissertation De Sterne. Die Autothematik des Dichtens u. das varijs Germanae poëseos aetatibus exercitatio (ReProblem der Ich-Identität des Dichters sind spondent: Johann Friedrich Schulz [SculteO.s Antworten auf die Frage nach Kunst u. tus]. Wittenb. 1654) kann als erster Versuch Kunsthandwerk. Als Gestalt lebte er die Zer- einer Periodisierung der dt. Literaturgeschichte gelten. Sich z.T. an Scaliger orienrissenheit der Epoche. Weitere Werke: Cölestin. Lpz. 1833 (R.). – tierend, teilt O. in einem organolog. Modell Briefe eines Unglücklichen. Lpz. 1833 (R.). – Be- die Entwicklung der Poesie in fünf Epochen lustigungen u. Reisen eines Todten. Lpz. 1834 (R.). ein: 1. das vorschriftl. Zeitalter, die »Dich– Lyra der Zeit. Eine Slg. größerer polit. u. zeitge- tung der Urzeit«; 2. die Anfänge der schriftl. nöss. Gedichte. Ffm. 1834. – Beethoven. Eine Fixierung; 3. die mhd. Zeit; 4. die Überphantast. Charakteristik. Lpz. 1836. gangszeit vom MA zur Neuzeit; 5. das WieAusgabe: Ges. Werke. 3 Bde., Winterthur 1845. deraufleben der Poesie um das Jahr 1620, die
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neue Blütezeit der Dichtkunst im Umkreis Opitz’. Dabei setzt sich O. mit der Dichtung von Opitz u. deren Rezeption auseinander, berücksichtigt aber auch Tobias Hübner, Diederich von dem Werder u. v.a. August Buchner. Weitere Werke: Disputatio chorographica de Silesia. Präses: Christoph Nottnagel; Autor u. Respondent: C. O. Wittenb. 1649. – De spectris [...]. Präses: Johann Sperling; Resp.: C. O. Wittenb. 1649. – Kurtzentworffener rechtschaffener Evergetes oder Wohlthäter. Wittenb. 1649. InternetEd.: VD 17. – Positiones theologicae [...]. Disputatio X. [...] de offico et statibus Christi in genere. Präses: Abraham Calov; Resp.: C. O. Wittenb. 1651. – Arbor optima et maxima, coelestis et imperialis: Der allerfürtreflichste, höchste u. beste, himml. u. ird. Regenten-Baum [...]. Wittenb. 1658 (Predigt auf die Wahl Kayser Leopolds). – Encaenia Salomonaea Janischdorffensium Exemplar. Salomon. Kirch-Weihe der Janischdorffischen Fürspiel [...]. Oels 1659. – Fürstl. Würtembergisch-Oelsnisches Traur-Gedächtnüs. Oels 1664. Ausgabe: Fischer-Tümpel 1, S. 398–401. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Johannes Sinapius: Olsnographia. Lpz. 1707. – Johann Caspar Wetzel: Histor. Lebens-Beschreibung der berühmtesten Lieder-Dichter. Tl. 2, Herrnstadt 1721. – Koch 3. – Sigmund v. Lempicki: Gesch. der dt. Literaturwiss. bis zum Ende des 18. Jh. Gött. 2 1968, S. 137–142. – Heiduk/Neumeister, S. 78, 217, 437 f. – Franz Heiduk: C. O. In: Kosch. – Hanspeter Marti: Die Gesch. der dt. Lit. als Thema einer Disputation in der Barockzeit. Die wiederaufgefundene Dissertation des Schlesiers K. O. (1628–78). In: WBN 20 (1993), S. 5–9.
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Meier Helmbrecht (Mchn. 1928; Trauersp.) schrieb O. die Volksstücke Jud Süß (1933), nach der Novelle von Hauff, u. Moor (Mchn. 1934. Urauff. beim Reichsparteitag 1935), das den Kampf um die Scholle thematisiert. Damit griff er von den Nationalsozialisten geförderte Themen auf. Wenngleich O. sich damit dem Zeitgeist anpasste, vermied er in den folgenden Jahren eine direkte polit. Vereinnahmung, indem er sich vorwiegend auf kulturhistor. Romane u. Biografien konzentrierte, die vorbildhafte, ihre Epoche prägende Persönlichkeiten behandeln. Weitere Werke: Französinnen ohne Geschlecht. Bln./Lpz. 1920 (R.). – Gott Stinnes. Ein Pamphlet gegen den vollkommenen Menschen. Hann. 1922 (D.). – Jean braucht ein Milieu. Nürnb. 1925 (Lustsp.). – Insulinde. Mchn. 1929 (D.). – Albrecht Dürer. Dt. Sehnsucht, dt. Form. Bln. 1934 (Ess.). – Balthasar Neumann. Roman des Barock. Mchn. 1937. Neuaufl. u. d. T. Der Barockbaumeister B. Neumann. Bindlach 1989. – Ein Mann kuriert Europa. Der Lebensroman Sebastian Kneipps. Mchn. 1938. Neuaufl. u. d. T. Sebastian Kneipp. Seine Lebensgesch. Mchn. 121994. – Gesch. der Fugger. 2 Bde., Mchn. 1939/40 (R.). – Georg Friedrich Händel. Ein Roman des Barock. Mchn. 1942. 1984. Literatur: Paul Baumann: Das dramat. Werk E. O.s. Mchn. 1930. – Friedrich Rosenthal: E. O. In: Die Lit. 32 (1930). Wolfgang Weismantel / Red.
Ortner, Hermann Heinz, * 14.11.1895 Bad Kreuzen/Mühlviertel, † 18.8.1956 Salzburg; Grabstätte: Bad Kreuzen, Friedhof. Gabriele Henkel / Red. – Dramatiker, Drehbuchautor, Librettist, Lyriker. Ortner, Eugen, * 26.11.1890 Glaishammer Seine bewegte Schulzeit schloss O., Sohn eibei Nürnberg, † 19.3.1947 Traunstein. – nes Kaufmanns u. ehem. Schauspielers, im Dramatiker u. Erzähler. Der Lehrerssohn nahm nach dem Studium in München, Leipzig u. Paris am Ersten Weltkrieg teil, wurde selbst Lehrer, später Journalist u. ab 1928 freier Schriftsteller in München. O. begann als Dramatiker mit sozial engagierten Stücken nach dem Vorbild von Hauptmann u. Wedekind. Das unter dem Eindruck von Kriegserlebnissen verfasste Heimkehrerdrama Michael Hundertpfund (Urauff. 1924. Mchn. 1959) fand starke Beachtung. Nach einer Dramatisierung des
Marienkonvent von Freistadt ab. Gegen den Willen seiner Eltern wandte er sich der Bühne zu u. debütierte 1914 am Stadttheater Iglau (weitere Stationen: Steyr, Marienbad, Pilsen u. Reichenberg). Ab 1921 in Wien, versuchte er sich u. a. als Versicherungsangestellter, von 1926 bis 1928 war er Chefdramaturg an der Neuen Wiener Bühne. Inzwischen hatte sich O. mit Mater Dolorosa (Lpz./Wien 1923. Urauff. Reichenberg 1921) u. Auferstehung (Lpz./Wien 1923. Urauff. Linz 1921), einem Drama über die Kärntner Volksabstimmung
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von 1920, auch als Autor einen Namen ge- Ortnit, erste Hälfte des 13. Jh. – Mittelmacht. Der Durchbruch gelang ihm aller- hochdeutsches Brautwerbungsepos. dings erst mit der dramat. Legende Tobias Der Schwerpunkt der Überlieferung (zwölf Wunderlich (Wien 1928. Bln. 21929; BurgHandschriften u. ein sechsfach aufgelegter theaterpremiere 1929. Von Josef Haas als Druck von etwa 1300–1590) liegt im letzten Oper vertont. Urauff. 1937). O., zwischen Drittel des 15. Jh. Die wichtigste von sieben, 1929 u. 1955 meistgespielter österr. Dramanur im Detail voneinander abweichenden tiker am Wiener Burgtheater, wandte sich Fassungen (AW) umfasst 597 Strophen im nach der Tragödie Schuster Anton Hitt (Wien Hildebrandston. Die älteste Fassung entstand 1932) v. a. histor. Stoffen zu, so in Beethoven wohl etwa 1230 im bayerisch-österr. Raum. (Wien 1935), Isabella von Spanien (Wien 1938) Dem Dichter der Fassung AW lässt sich auch u. dem österr. Bauernkriegsdrama Stefan Fa- die Fassung A des Wolfdietrich zuschreiben. dinger (Wien 1933. Neufassung u. d. T. Der Der O. ist fast überall als Vorgeschichte des Bauernhauptmann. Wien 1943), das nicht zu- Wolfdietrich konzipiert u. überliefert. Da eine letzt die nach 1930 erfolgte Hinwendung O.s zykl. Tendenz der heldenepischen Tradition zum Nationalsozialismus festschreibt. O. Wolfdietrich genealogisch mit Dietrich von zählte mit Jelusich, Brehm u. Hohlbaum zum Bern verbindet, findet eine Ansippung des O. harten Kern jener Autoren, die 1933 die an die histor. Dietrichepik statt. Sprengung des österr. PEN-Clubs bewirkten Der O. lässt sich vor dem doppelten Hinu. in der Illegalität des Ständestaats den tergrund der auf alte, mündl. Erzähltradition »Anschluß« vorbereiteten. Seit 1933 SA- zurückweisenden heroischen BrautwerMann u. NSDAP-Mitgl., nach 1938 Träger bungserzählung wie der literar. Aventiuredes Gaupreises Oberdonau, sah sich O. im dichtung des 13. Jh. verstehen. AbweichunDritten Reich auf dem Höhepunkt seines Er- gen vom Handlungsschema u. Motivbestand folgs – nun mit leichten Komödien wie Him- der Brautwerbungsformel u. die Kontrastiemeltau (Bln. 1943). 1945 versuchte er vergeb- rung von deren Handlungsstruktur mit derlich, sich als »Widerstandskämpfer« zu re- jenigen der höf. Aventiure-Epik begründen habilitieren. den Sinn der Geschichte. Der umfangreiche Nachlass O.s befindet Zu Anfang wird Ortnit, der als Kaiser in sich im Adalbert-Stifter-Institut des Landes Garda, der Hauptstadt von Lamparten (LomOberösterreich. bardei) residiert, als ein über die Kraft von Weitere Werke: Sumpf. Lpz./Wien 1923 zwölf Männern verfügender jugendl. Held (Trag.). – Steile Berge. Lpz./Wien 1923 (Trag.). – charakterisiert. Die in der BrautwerbungsChristus Heimdal. Lpz./Wien 1923 (Trag.). – Kohle. dichtung übl. Legitimierung durch genealog. Lpz./Wien 1923 (Trag.). – Menschen. Lpz./Wien Eingliederung in die Dynastie unterbleibt 1923 (Trag.). – Schmiere. Wien 1927 (Kom.). – ebenso wie die Ausstattung mit CharakterPäpstin Johanna Angelica. Lpz./Wien 1928 (D.). – zügen wie Weisheit, Frömmigkeit, GerechSebastianslegende. Wien 1929 (D.). – Wer will unter tigkeit u. rittermäßiger Hilfsbereitschaft. die Soldaten. Bln./Wien 1930 (D.). – Amerika sucht Seine Gefolgsleute raten Ortnit, sich eine Helden. Wien 1931 (Tragikom.). – Lit. G.m.b.H. ebenbürtige Gemahlin zu erwählen. Ilias von Wien 1932 (D.). – Matthias Grünewald. Meisterlegenden u. E.en. Wien 1935. – Himml. Hochzeit. Riuzen (Russland), sein Onkel von MutterWien 1936 (Traumsp.). – Das Paradiesgärtlein. Bln. seite, nennt ihm die Tochter des Heidenkö1940 (Kom.). – Veit Stoß. Bln. 1941. Wien 1942 (D.). nigs Machorel als einzige seiner würdige Literatur: Helga Spirk: Thematik in den Dra- Braut. Doch beabsichtige Machorel, nach dem men H. H. O.s. Diss. masch. Graz 1954. – Aldemar Tod seiner Gemahlin selbst seine Tochter zur Schiffkorn: Ein Leben für das Theater. H. H. O. In: Frau zu nehmen, u. habe bereits die Boten 72 Oberösterr. 4 (1982), S. 77–85. – Julia Danielczyk: früherer Brautwerber töten lassen. Ortnit Selbstinszenierung. Vermarktungsstrategien des lässt sich nicht abraten. In Ilias verpflichtet er österr. Erfolgsdramatikers H. H. O. Wien 2003. sich einen Werbungshelfer, der sich freilich Johannes Sachslehner / Red. nicht durch die zu dieser Rolle gehörende
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bes. Kundigkeit u. List auszeichnet, sondern durch unerschütterl. Gefolgschaftstreue, heldenhafte Kraft u. bedenkenlose Furchtlosigkeit. Ortnit setzt ganz auf Gewalt u. unterlässt sogar die sonst unbedingt übl. Aussendung von Werbungsboten. Eingeschoben wird eine nach dem Aventiuremuster des Artus-Romans gestaltete Episode. Auf einem Aventiureritt überwindet Ortnit, von seiner Mutter mit einem Zauberring ausgestattet, den Zwerg Alberich u. fordert von ihm Hilfe bei der Gewinnung seiner Braut. Sogleich listet Alberich ihm den Ring u. damit seine Überlegenheit ab. Nur zum Schein lenkt Alberich ein, gibt den Ring zurück u. klärt Ortnit darüber auf, dass er dessen Mutter, die von ihrem Gemahl hätte kinderlos bleiben müssen, vergewaltigt habe, um dem Land zu einem Thronfolger zu verhelfen. Durch diese geheim bleibende Entlarvung Ortnits als eines Incubusbastards wird das zur Brautwerbungsformel gehörige Motiv der genealog. Legitimität des Brautwerbers eliminiert u. der Sinn der Werbung selbst in Frage gestellt. Ortnit kehrt, von Alberich mit einer unzerstörbaren Rüstung u. einem kostbaren Schatz beschenkt, zurück u. begibt sich auf die – passagenweise als Kreuzfahrt dargestellte – Werbungsreise. Durch Alberichs List wird die Hauptstadt Machorels in einem für Ortnit verlustreichen Kampf genommen – nicht aber die Burg, in der sich Machorel mit Frau u. Tochter verschanzt hat. Ilias, dessen Leute alle fallen, büßt dabei seine Helferfunktion weitgehend ein, während Alberich noch über diese hinaus in die Rolle des eigentl. Führers wächst. Allein seine List ermöglicht Entführung u. Heimführung der Braut. Doch rächt sich der Brautvater, indem er zwei Dracheneier in Ortnits Reich schmuggeln lässt. Die aus ihnen erwachsende Drachenbrut verwüstet bald das Land. Nun wird abermals das Aventiuremodell der höf. Ritterepik eingesetzt: Ortnit macht sich allein auf, den Drachenkampf zu bestehen. Seine Gemahlin verspricht, nur dann einen neuen Gemahl zu nehmen, wenn dieser ihr Ortnits Waffen als untrügl. Zeichen seines Todes u. die Zungen der erschlagenen Drachen als Beweis dafür bringt, dass er Ortnit
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gerächt hat. Am Ort ihrer ersten Begegnung trifft Ortnit auf Alberich. Jetzt erfüllt sich typologisch deren Sinn. Der Zwerg versagt Rat u. Hilfe gänzlich, warnt ihn vor dem Drachenkampf u. fordert den Ring zurück. Er entlässt Ortnit ratlos u. warnt ihn nur davor, einzuschlafen. Nach langem Ritt wird Ortnit aber vom Schlaf überwältigt u. fällt ohne Gegenwehr einem der Drachen zum Opfer, der ihn seinen Jungen zum Fraß zuträgt. Dem nur scheinbaren Erfolg der ersten, in die Werbungsfahrt mündenden Alberich-Aventiure entspricht antitypisch die zweite, zur endgültigen Niederlage führende. Als Ortnits Witwe sich weigert, einen anderen zum Gemahl zu nehmen als den Rächer Ortnits, verfallen Recht u. Ordnung im schutzlos gewordenen Reich. Erst Wolfdietrich, dessen Geschichte mit dem Ende der Erzählung exponiert wird, soll als Rächer Ortnits dessen Gemahlin erhalten u. das Land wiederherstellen. Die Erzählung demonstriert, dass keine Herrschaft Bestand haben kann, die allein auf Gewalt, Kraft u. Macht gegründet ist. Die genealog. Herleitung Ortnits als Incubusbastard lässt sich als Deutungskonzept für den demonstrierten Missstand verstehen. Über die Herkunft des Stoffs u. seine Verbindung mit dem Wolfdietrich-Epos wurden vielfältige Spekulationen angestellt. Neben solchen über einen mytholog. Ursprung der Erzählung u. über ihre Zugehörigkeit zu einem international verbreiteten Zweibrüdermärchen ist die Anknüpfung an die Hertnitgestalt der Thidrekssaga denkbar u. über deren niederdt. Quellen hinaus an die russ. Bylinendichtung (Garda = Holmgard/Nowgorod; Ilias von Riuzen = Ilja Muromec). Auch in der Chanson de geste finden sich Parallelen (Huon de Bordeaux: Auberon = Alberich). Schließlich wurden histor. Wurzeln in der merowingisch-fränk. u. in der got. Geschichte des 6. u. 7. Jh. gesucht. Ausgaben: O. u. die Wolfdietriche. Nach Müllenhoffs Vorarbeiten hg. v. Arthur Amelung. Bln. 1871. Neudr. Dublin/Zürich 1968. – O. u. Wolfdietrich D. Krit. Text nach Ms. Carm. 2 der Stadt- u. Universitätsbibl. Frankfurt/M. Hg. Walter Kofler. Stgt. 2001.
739 Literatur: Hermann Schneider: German. Heldensage. Bd. 1, 1. Buch: Dt. Heldensage. Bln. 2 1962, S. 344–361. – Wolfgang Dinkelacker: O.Studien. Bln. 1972. – Ders.: O. In: VL. – Christian Schmid-Cadalbert: Der O. AW als Brautwerbungsdichtung. Bern 1985. – Lydia Miklautsch: Väter u. Söhne: O. AW u. Wolfdietrich A. In: 4. Pöchlarner Heldenliedgespräch: Heldendichtung in Österr., Österr. in der Heldendichtung. Hg. Klaus Zatloukal. Wien 1997, S. 151–170. – Uta Störmer-Caysa: Ortnits Mutter, die Drachen u. der Zwerg. In: ZfdA
Ortnit 128 (1999), S. 282–308. – Walter Kofler: O. / Wolfdietrich u. die Dietrichepik. In: JOWG 14 (2003), S. 217–232. – Ders.: Die Macht u. ihr Preis. Überlegungen zu Ortnîts Scheitern. In: 7. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Mhd. Heldendichtung außerhalb des Nibelungen- u. Dietrichkreises (Kudrun, O., Waltharius, Wolfdietriche). Hg. K. Zatloukal. Wien 2003, S. 135–150. – Victor Millet: German. Heldendichtung im MA. Eine Einf. Bln./ New York 2008, S. 382–400. Ernst Hellgardt
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