Killy Literaturlexikon: Band 2 Boa – Den
 9783110209341, 9783110203752

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Killy Literaturlexikon

Band 2

Killy Literaturlexikon Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes 2., vollständig überarbeitete Auflage Herausgegeben von Wilhelm Kühlmann in Verbindung mit Achim Aurnhammer, Jürgen Egyptien, Karina Kellermann, Helmuth Kiesel, Steffen Martus, Reimund B. Sdzuj Band 2 Boa – Den

Walter de Gruyter • Berlin • New York

Die erste Auflage erschien unter dem Titel Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache im Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh/München, herausgegeben von Walther Killy unter Mitarbeit von Hans Fromm, Franz Josef Görtz, Gerhard Köpf, Wilhelm Kühlmann, Gisela Lindemann, Volker Meid, Nicolette Mout, Roger Paulin, Christoph Perels, Ferdinand Schmatz, Wilhelm Totok und Peter Utz. Die in diesem Lexikon gewählten Schreibweisen folgen dem Werk „WAHRIG – Die deutsche Rechtschreibung“ sowie den Empfehlungen der WAHRIG-Redaktion. Weitere Informationen unter www.wahrig.de Redaktion: Christine Henschel (Leitung) und Bruno Jahn Redaktionsschluss: 31. Januar 2008

1 Gedruckt auf säurefreiem Papier, *

das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN 978-3-11-020375-2 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.  für die 1. Auflage by Bertelsmann Lexikon Verlag GmbH, Gütersloh/München 1988 – 1993 Alle Rechte vorbehalten  für die 2. Auflage 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Satz: Konrad Triltsch, Ochsenfurt-Hohestadt Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Irmgard Ackermann Sylvia Adrian Philip Ajouri Michael Albrecht Heidrun Alex Robert J. Alexander Alfred Anger Klaus Arnold Matthieu Arnold Willem van Asselt Achim Aurnhammer Achim Ayren Martina Backes Claus-Ekkehard Bärsch Remigius Bäumer Arno Bammé André Barz Angelica Baum Michael Behnen Hans-Joachim Behr Wolfgang F. Bender Ingrid Bennewitz Sabine Beußel Wolfgang Beyrodt Wolfgang Biesterfeld Dietrich Blaufuß Hans Peter Bleuel Friedrich W. Block Herbert Blume Alfred Bodenheimer Gernot Böhme Alexander von Bormann Michael Braun Werner Braun Martin Brecht Dieter Breuer Gisela Brinker-Gabler Jürg Brönnimann Horst Brunner Andreas Bürgi Fritz Büsser Gudrun Busch Volker Busch

Rémy Charbon Paolo Chiarini Friederike Christ-Kutter Germinal Cˇivikov Ralf Georg Czapla Holger Dainat Birgit Dankert Lutz Danneberg Franz-Josef Deiters Christoph Dejung Heinrich Detering Werner Dettelbacher Gerd Dicke Peter Dilg Irene Dingel Peter Dinzelbacher Detlef Döring Gerald Dörner Verena Dohrn Reinhard Düchting Klaus Düwel Michel Durand Thomas Eder Hans Heinrich Eggebrecht Jürgen Egyptien Andrea Ehlert Hermann Ehmer Wilhelm K. Essler Eckhard Faul Jörg-Ulrich Fechner Ernst Feil Katharina Festner Hubert Filser Bernhard Fischer Cornelia Fischer Ernst Fischer Frank Fischer Petra Fochler Jürgen Fohrmann Konrad Franke Christian Frankenfeld Heino Freiberg Jutta Freund

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Jochen Fried Maria Frisé Cornelia Fritsch Wolfgang Frühwald Sabine Fuchs Frank Fürbeth Anton Gälli Martin Gaier Klaus Garber Sabine Geese Guillaume van Gemert Rolf George Michael R. Gerber Ulrich Giersch Bernd Goldmann Peter Goßens Klaus Graf Bernhard Graßl Mathias Greffrath Wolfgang Griep Detlef Haberland Wilhelm Haefs Claudia Händl Günter Häntzschel Hiltrud Häntzschel Andrea Hahn Wolfgang Harms Eberhard Haufe Jens Haustein J. P. Heering Matthias Heinzel Gabriele Henkel Christine Henschel Klaus Hensel Andreas Herberg-Rothe Walter Hettche Heribert A. Hilgers Karin Hoff Peter Hoffmann Otto Holzapfel Alexander Honold Christoph Huber Adrian Hummel Bettina Hurrelmann Bernhard Iglhaut Stefan Iglhaut Ferdinand van Ingen Andrea Jäger Bruno Jahn Herbert Jaumann Michael Jucker Renate Jürgensen Rudolf Käser Manfred Karnick

Helene M. Kastinger Riley Karina Kellermann Hans-Georg Kemper Florian Kessler Uwe-K. Ketelsen Katharina Kienholz Christian Kiening Wolfram Kinzig J. Klaus Kipf Dorothea Klein Erich Kleinschmidt Annette Kliewer Martin Klöker Kathrin Klohs Sandra Kluwe Manfred Knedlik Reinhard Knodt Jan Knopf Peter König Barbara Könneker Jürgen H. Koepp Sabine Koloch Henk J. Koning Katrin Korch Gisela Kornrumpf Fritz Krafft Hannes Krauss Wynfrid Kriegleder Marcel Krings Melanie Kronenberg Hans-Martin Kruckis Wilhelm Kühlmann Thomas Küpper Hartmut Kugler Rolf Max Kully Walther Kummerow Gerhard Kurz Volker Langeheine Corinna Laude Erwin Leibfried Felix Leibrock Wolfgang Leierseder Wolfgang Günter Lerch Pia-Elisabeth Leuschner Irmgard Lindner Charles Linsmayer Birgit Lönne Raffaele Louis Roman Luckscheiter Walther Ludwig Martin Lüdke Paul Michael Lützeler Matthias Luserke-Jaqui Cornelia Lutz

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VII Wolfgang Maaz Ulrich Maché Inge Mager Barbara Mahlmann-Bauer Kunigunde Malnieks Klaus Manger Zdeneˇk Marecˇek Hendrik Markgraf Christine Martin Dieter Martin Monika Maruska Reiner Marx Arno Matschiner Beat Mazenauer Eckehard Methler Walter Methler Wolfgang Mettmann Erika A. Metzger Dietrich Meyer G. H. M. Posthumus Meyjes Wolfgang F. Michael Josef Morlo Edgar Morscher Elfriede Moser-Rath Dominik Müller Gerhard Müller Gernot Michael Müller Philipp Müller Wolf-Dieter Müller-Jahncke Jutta Müller-Tamm Lothar Mundt Bernd Naumann Birgit Nestler Monika Neugebauer-Wölk Bernd Neumann Gunther Nickel Martin Oesch Günter Oesterle Ingrid Oesterle Peter Opitz Ernst Wolfgang Orth John Osborne Ernst Osterkamp Norbert H. Ott Clemens Ottmers Peter Karl Pabisch Walter Pape Rolf Paulus Jens Pfeiffer Kristina Pfoser-Schewig Stephan Porombka Bernd Prätorius Frank Prietz Veit Probst

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Rosemarie Inge Prüfer Frank Raepke Jürgen Rathje Peter Reichel Quirinus Reichen Karin Reimer-Sebald Heimo Reinitzer Helmut Riege Jörg Riemer Bodo Rinz Inge Rippmann Werner Röcke Heidi Rösch Maria Rößner-Richarz Udo Roth Arnold Rothe Thomas Rothschild Oliver Ruf Walter Ruprechter Johannes Sachslehner Eda Sagarra Hans Sarkowicz Gerhard Sauder Merio Scattola Richard Erich Schade Walter E. Schäfer Michael Schäfermeyer Andreas Schaffry Cornelia Scharpf Heinz Scheible Peter Schicketanz Jürgen Schiewe Hans-Jochen Schiewer Jörg Schilling Michael Schilling Hannelore Schlaffer Wilhelm Schmidt-Biggemann Christoph Schmitt-Maaß Heinz-Günter Schmitz Jens Schneider Joachim Schneider Sabine Scholl Oliver R. Scholz Dietrich Scholze Luise Schorn-Schütte Erhard Schütz Armin Schulz Armin Schulz Johannes Schulz Karlheinz Schulz Ursula Schulze Andreas Schumann Christian Schwarz Sabine Seelbach

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Ulrich Seelbach Clelia Segieth Olaf Selg Rita Seuß Christian Sieber Reinhart Siegert Christoph Siegrist Franz Günter Sieveke Celia Skrine Peter Skrine Ingar Solty Björn Spiekermann Peter Sprengel Enno Stahl Wolfgang Stein Hartmut Steinecke Robert Steinborn Reinhard Sternemann Mary E. Stewart Gideon Stiening Josef Stierli Andrea Stoll Friedrich Strack Robert Stupperich Marian Szyrocki Joachim Telle Reinhard Tenberg Heinz Thoelen Hellmut Thomke Michael Töteberg Elke Ukena-Best Erich Unglaub Anton Unterkircher Milosˇ Vec Theodor Verweyen Heinz Vestner

Reinhard Vogelsang Jochen Vogt Benedikt K. Vollmann Karin Vorderstemann Torsten Voß Harry Vredeveld Falk Wagner Hans Rudolf Wahl Till Gerrit Waidelich Bernhard Walcher Johannes Wallmann Klaus-Peter Walter Doris Walser-Wilhelm Peter Walser-Wilhelm Axel Walter Walter Weber Wolfgang Weismantel Christoph Weiß Eva Weisz Renate Werner Jonathan West Ursula Weyrer Heiner Widdig Hermann Wiegand Claudia Wiener Thomas Wilhelmi Werner Williams-Krapp Elisabeth Willnat Rainer Wolf Stephan Wolff Elisabeth Wunderle Dieter Wuttke Karin E. Yes¸ ilada Bernd Zegowitz Margot Zuckriegl

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Boas, Eduard, * 18.1.1815 Landsberg/ Warthe, † 12.6.1853 Landsberg/Warthe. – Erzähler u. Literarhistoriker. Anfänglich kaufmännisch tätig, wurde B. bald freier Schriftsteller, lebte in Berlin u. Dresden sowie an seinem Heimatort u. unternahm zahlreiche ausgedehnte Reisen nach Skandinavien u. in die Mittelmeerländer. Diese Reisen lieferten ihm auch vorwiegend den Stoff für seine Werke. Partiell bedienen sie sich der Form des Reiseberichts, wie etwa In Skandinavien. Nordlichter (Lpz. 1845). Pepita (Lpz. 1844) u. der komische Roman Des Kriegscommissär Pipitz Reisen nach Italien (4 Bde., Stgt. 1841). B.’ Reiseblüthen-Trilogie (Reiseblüthen aus der Oberwelt. 2 Bde., Grimma 1834. Reiseblüthen aus der Sternenwelt. Altenburg 1836. Reiseblüthen aus der Unterwelt. Altenburg 1836) versammelt episch-lyr. Dichtungen mit romant. Anklängen, denen das Reisemotiv gemeinsam ist. B.’ dramat. Versuche sind unbedeutend. Daneben befasste sich B. als Privatgelehrter intensiv mit der dt. Literaturgeschichte. Außer jeweils dreibändigen Nachträgen zu Goethe u. Schiller (Lpz. 1841 u. Stgt. 1838–40) schrieb er eine Monografie über Schiller’s und Goethe’s Xenien-Manuskript (2 Tle., Stgt./Tüb. 1856). Die geplante zwölfbändige Ausgabe seiner Schriften gedieh nur bis zum fünften Band (Lpz. 1846–48). Literatur: Ernst Kelchner: E. B. In: ADB. – Goedeke Forts. – Roswitha Wollkopf: Der Xenienkampf u. der Kampf um das Xenienmanuskript. Nachträglich zum 150. Todestag des Schriftstellers u. Literaturwissenschaftlers E. B. In: Germanic notes and reviews 35 (2004), S. 3–6. Christian Schwarz / Red.

Bobrowski, Johannes, * 9.4.1917 Tilsit/ Ostpreußen, † 2.9.1965 Berlin/DDR; Grabstätte: Berlin, Friedhof Friedrichshagen. – Lyriker u. Erzähler, Herausgeber. Der Sohn eines Eisenbahnangestellten, später -beamten, lebte mit seinen Eltern von 1925 an in Rastenburg, ab 1928 in Königsberg (hier 1936 Mitgl. der evang. Bekennenden Kirche), wo er bis 1937 das humanist. Gymnasium besuchte. Seit 1937 lebte die Familie in Ber-

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lin-Friedrichshagen. Nach Reifeprüfung, Arbeits- u. Militärdienst nahm B. als Nachrichtensoldat am Zweiten Weltkrieg teil, war 1939 in Polen, 1940/41 in Frankreich, 1941–1945 in der Sowjetunion (Ilmensee/ Kurland) stationiert. Im Wintersemester 1941/42 studierte er Kunstgeschichte in Berlin, 1943 heiratete er Johanna Buddrus (seit 1952 vier Kinder). Als Kriegsgefangener arbeitete B. 1945–1949 im Donezbecken im Kohlenbergbau u. wurde zweimal auf AntifaSchulen nach Rostow u. Taliza bei Gorki/ Wolga delegiert. Von 1950 an als Lektor im Altberliner (Kinderbuch-)Verlag Lucie Groszer tätig, wechselte er 1959 zum Union Verlag Berlin (Buchverlag der CDU/DDR). Sein Leben im sozialist. Deutschland, das er bejahte, blieb gleichwohl problematisch u. schwierig. Nach ersten, von Ina Seidel empfohlenen Gedichten 1944 in der Zeitschrift »Das Innere Reich« (hg. von Paul Alverdes) veröffentlichte Peter Huchel 1955 fünf Gedichte B.s in der Berliner Zeitschrift »Sinn und Form«. Die Publikation des ersten Gedichtbands Sarmatische Zeit (1961) in der DVA in Stuttgart vermittelte Joachim Moras vom Stuttgarter »Merkur«. Wichtige Freundschaften entstanden mit Peter Jokostra (1957), Edith Klatt (bes. von 1958 an), Günter Bruno Fuchs, Max Hölzer, auch Erich Arendt (1959), Christoph Meckel (1960), später Manfred Bieler u. Klaus Wagenbach. Hans Werner Richter lud B. 1960 erstmalig zur Jahrestagung der Gruppe 47 nach Aschaffenburg ein. Für seine Gedichte erhielt B. 1962 in Wien den Alma-JohannaKoenig-Preis, in Berlin den Jahrespreis der Gruppe 47. Sein Roman Levins Mühle (Bln./ DDR u. Ffm. 1964) wurde 1965 mit dem Heinrich-Mann-Preis der Dt. Akademie der Künste zu Berlin u. dem Charles-Veillon-Preis in Zürich ausgezeichnet. B.s Gesamtwerk, das in beiden dt. Staaten verlegt wurde, erhielt 1967 postum den F.-C.-Weiskopf-Preis der gleichnamigen Akademie. Seine Vorbildwirkung auf jüngere Autoren in der DDR war lange Zeit mit derjenigen Brechts vergleichbar. Übersetzungen liegen seit 1961 in fast allen europ. Sprachen vor, Levins Mühle wurde auch ins Hebräische übertragen. B.s Nachlass befindet sich im Dt. Literaturarchiv in Marbach.

Bobrowski

Seine literar. Anfänge sah B. in den Oden nach klass. Muster von 1941. Einziger Gegenstand dieser Oden war die russ. Landschaft, erst danach trat die memelländischlitauische Kindheitslandschaft als zweites Thema hinzu. Nach virtuos-epigonaler Heimat- u. Kunstlyrik fanden B.s Gedichte, unter dem Einfluss Klopstocks u. Huchels, 1952 ihre eigene, selbständige Sprache mit der themat. Rückkehr zur Odendichtung der Kriegsjahre u. in freirhythm. Versen. Sie verknüpfen metr. Elemente der Ode mit Strukturelementen der symbolist. Dichtungstradition von Baudelaire über Trakl bis Saint-John Perse. So fand B., in säkularisierender Aufnahme von Gedanken Johann Georg Hamanns, seiner wichtigsten Leitgestalt, zu einem magischen Sprach- u. Dichtungsverständnis, aus dem seine Lyrik ihre »Dunkelheit«, ihre melancholisch-evokative Kraft gewann, wie sie der Titel des zweiten Gedichtbands Schattenland Ströme (Stgt. 1962. Bln./DDR 1963) signalisiert. Der Großplan eines »Sarmatischen Divans«, deutlich fassbar seit 1954, bestimmte – obwohl später aufgegeben – die Gedichte bis 1961. Er verband sich aufs Engste mit dem Gedanken der Schuld Deutschlands u. der eigenen Mitschuld gegenüber den Völkern des Ostens. Magische Verssprache, die bis ins MythischArchaische greift, u. aufklärer. Intention, die auf Kenntnisvermittlung u. kritisches Nachdenken zielt, vereinen sich auf kompliziertproduktive Art u. bezeichnen den eigentüml. Platz dieser Lyrik im Spannungsfeld von Tradition u. Moderne. Nachdem B. 1961 systematisch zur Prosa übergegangen war u. diese das »sarmatische« Thema samt Geschichts- u. Schuldthematik übernommen hatte, artikulierte sich in den Gedichten ein neues, von numinoser Kraft geprägtes Welt- u. Naturverständnis (Wetterzeichen. Bln./DDR u. Bln./West 1967). Schwerpunkte der »Kleinprosa« (B.) wurden die Dorf- u. die Künstlergeschichte, doch spannt sich der historisch-themat. Bogen von der Taufe der Kiewer Rus 988 bis zum Berlin u. Stockholm der Gegenwart. Die offene Form der Kurzgeschichte erlaubte volkstümlich-mündl. Redeweise, lyrische Elemente, Wechsel der Erzählperspektive, Dichte der

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Darstellung, zgl. Befreiung »vom Zwang zur Fabel« (B.) u. zunehmend, wie in der Lyrik, auch Zeichensprache. Gleichzeitig mit der »Kleinprosa«, die bis 1964 der Band Boehlendorff und Mäusefest (Bln./ DDR 1965) sammelte, entstand 1962/63 der Roman Levins Mühle. Aus einem chronikalisch überlieferten Rechtsfall von 1874 im damaligen Westpreußen gewinnt der als Figur engagiert anwesende Erzähler in kühner Umbiegung der Tatsachen einen gegenwartsbezogenen Modellfall von dt. Schuld gegenüber Juden, Zigeunern, Polen u. Litauern; in der Solidarität der Armen u. Nichtkorrumpierten ein denkwürdiges moralisches Exempel. Auch im Roman wollte B. mit Hilfe eines farbigen umgangssprachlich-mündl. Erzählgestus der Technisierung u. Erstarrung der Sprache entgegenwirken. Vor die lange geplante »Kriegsgeschichte« drängte sich im Juni/Juli 1965 der Roman Litauische Claviere (Bln./DDR 1966 u. Bln./ West 1967). Angesiedelt im Jahr 1936 in B.s Kindheitslandschaft, darf dieser Roman trotz epischer Kargheit als Synthese gelten von sarmat. Dorf-, Stadt- u. Künstlergeschichte sowie von B.s Auseinandersetzung mit dem Faschismus u. dem Jahrhundert der Aufklärung (Kristijonas Donelaitis u. Hamann). Das Miteinander der Völker in Grenzgebieten u. das Fortwirken der Vergangenheit in die Gegenwart – als Gefährdung wie legitimierendes Erbe – bestimmten als zentrale Themen B.s Arbeit bis zuletzt, stets mit Blick auf die Zukunft, für die er einzig »Alles auf Hoffnung« setzte – u. die ihren christl. Grund eher verbirgt als aufdeckt. Weitere Werke: Mäusefest u. a. E.en. Bln./West 1965. – Boehlendorff u. a. E.en. Stgt. 1965. – Der Mahner. Bln./DDR 1967 u. Stgt. 1968 (E.en). – Im Windgesträuch. Gedichte aus dem Nachl. Ausgew. u. hg. v. Eberhard Haufe. Bln./DDR u. Stgt. 1970. – Literar. Klima. Ganz neue Xenien, doppelte Ausführung. Bln./DDR 1977 u. Stgt. 1978. – Herausgeber: Gustav Schwab. Die schönsten Sagen des klass. Altertums. Bln./DDR 1954. – Ders.: Die Sagen v. Troja u. v. Irrfahrt u. Heimkehr des Odysseus. Bln./ DDR 1955. – Hans Clauert, der märk. Eulenspiegel. Bln./DDR 1956 (Bearb.). – Jean Paul: Leben Fibels. Bln./DDR 1963. – Wer mich u. Ilse sieht im Grase. Dt. Poeten des 18. Jh. über die Liebe u. das Frauenzimmer. Bln./DDR 1964. – Briefe: J. B. – Peter

Bocer

3 Huchel: Briefw. Marbach 1993. – ›als wär es für mich gemalt‹. J. B. – Albert Ebert: Briefe. Bln. 1998. – J. B. – Michael Hamburger: ›Jedes Gedicht ist das letzte‹. Briefw. Marbach 2004. Ausgabe: Ges. Werke. 6 Bde., Stgt. 1998. Literatur: Gerhard Wolf: J. B. Leben u. Werk. Bln./DDR 1967. – Wolfram Mauser: Beschwörung u. Reflexion. B.s sarmat. Gedichte. Ffm. 1970. – Curt Grützmacher: Das Werk v. J. B. Mchn. 1974. – Brigitte Bischoff: B. u. Hamann. In: ZfdPh 98 (1975), S. 553–582. – J. B. Selbstzeugnisse u. neue Beiträge über sein Werk. Bln./DDR 1975 u. Stgt. 1976. – Gerhard Rostin (Hg.): Ahornallee 26 oder Epitaph für J. B. Bln./DDR 1977 u. Stgt. 1978. – Alfred Behrmann: Facetten. Untersuchungen zum Werk J. B.s. Stgt. 1977. – Fritz Minde: Das ZeichenGedicht. In: LiLi 8 (1978), S. 122–140. – Bernd Leistner: J. B. Studien u. Interpr.en. Bln./DDR 1981. – F. Minde: J. B.s Lyrik u. die Tradition. Ffm. 1981. – Werner Schulz: Die aufgehobene Zeit. Zeitstruktur u. Zeitelemente in der Lyrik J. B.s. Ffm. 1983. – Friedrich Hagemann u. Adolf Skerl: Schattenfabel v. den Verschuldungen. J. B. zur 20. Wiederkehr seines Todestages. Bln. 1985. – Stefan Reichert: Das verschneite Wort. Untersuchungen zur Lyrik J. B.s. Bonn 1988. – Eberhard Haufe: ›Schattenland Ströme‹. Zur Genesis eines Gedichtbandtitels v. J. B. In: ›Daß eine Nation die andere verstehen möge‹. FS Marian Szyrocki. Amsterd. 1988, S. 333–347. – Eva Adelsbach: B.s Widmungstexte an Dichter u. Künstler des 18. Jh. St. Ingbert 1990. – Alfred Kelletat (Hg.): Sarmat. Zeit, Erinnerung u. Zukunft. Sankelmark 1990. – Oliver Schütze: Natur u. Gesch. im Blick des Wanderers. Würzb. 1990. – Reinhard Tgahrt (Hg.): J. B. oder Landschaft mit Leuten. Marbach 1993. – E. Haufe: B.-Chronik. Daten zu Leben u. Werk. Würzb. 1994. – John Wiecorek (Hg.): J. B. (1917–65). Reading 1996. – Ralf Georg Czapla: ›Gedenke der Holunderblüte!‹ oder Schreiben wider das Vergessen. Erinnerte Gesch. bei Wilhelm Raabe u. J. B. In: Jb. der Raabe-Gesellsch. 1999, S. 33–59. – Thomas Taterka: ›Der Nachlass ist / gesichtet, der Dichter / beruhigend tot‹? Das Bild J. B.s in der Forsch. des letzten Jahrzehnts. Ein Literaturber. In: Studi Germanici 38 (2000), S. 129–183. – B. Leistner: J. B. In: LGL. – Dietmar Albrecht (Hg.): Unverschmerzt. J. B. Leben u. Werk. Mchn. 2004. – Andreas Degen: Bildgedächtnis. Zur poet. Funktion der Sinneswahrnehmung im Prosawerk J. B.s. Bln. 2004. – Heinz Ludwig Arnold: J. B. Text + Kritik 165 (2005). Eberhard Haufe / Ralf Georg Czapla

Bocer, Bocerus, Johannes, eigentl.: Bode(c)ker, * ca. 1526 Hausberge (heute Ortsteil von Porta Westfalica, nahe Minden), † 6.10.1565 Rostock. – Neulateinischer Lyriker u. Epiker. Nach dem Besuch des Martinsgymnasiums in Minden nahm B. 1540 ein Studium in Wittenberg auf; zum Sommersemester 1553 ließ er sich in Leipzig, zum Wintersemester 1556/ 57 in Frankfurt/O. immatrikulieren. In den Jahren seit der Beendigung seines Studiums in Wittenberg (vermutlich ca. 1549) bis 1557 führte B. ein unstetes Wanderleben, ständig auf der Suche nach einer festen Anstellung. Verbürgt sind, abgesehen von den genannten Studienorten, Aufenthalte in Lübeck u. Kopenhagen. Wahrscheinlich hat B. auch einige Zeit in Königsberg verbracht, als Mitglied des dortigen Dichterkreises um Georg Sabinus, der sich 1557, von seiner neuen Wirkungsstätte Frankfurt/O. aus, mit einer poet. Empfehlung erfolgreich bei Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg für B. verwandte. Im April 1558 berief ihn der Herzog auf die Rostocker Professur für Poesie u. Redekunst (seit 1563 für Poesie u. Geschichte). In dem Eintrag in die Rostocker Matrikel vom 5.1.1558 wird er erstmals als »poeta laureatus« bezeichnet; vermutlich hatte ihn Georg Sabinus ca. 1556/57 mit dieser Würde ausgezeichnet. Im Okt. 1565 fiel B. mit Frau u. Kindern einer schweren Pestepidemie in Rostock zum Opfer. In den 14 Jahren seiner publizist. Aktivität (beginnend 1551 mit der geistl. Dichtung Triumphus domini nostri Iesu Christi. Wittenb.) legte B. ein poet. Werk von beachtlichem Umfang vor. Im Zentrum stehen zwei Dichtungen zur Geschichte der Dynastie der Herzöge von Mecklenburg (De origine et rebus gestis ducum Megapolensium libri tres. Lpz. 1556) u. der Könige von Dänemark (Carminum de origine et rebus gestis regum Daniae et ducum Holsatiae comitumque Schowenburgensium libri quinque. Lpz. 1557), in denen die Herrscherpersönlichkeiten beider Häuser in annalistisch aneinandergereihten poet. Einzelporträts vorgestellt werden, sowie drei Städtelobdichtungen: zu Freiberg in Sachsen (Fribergum in Misnia. Lpz. 1553), zum schaumbur-

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gischen Stadthagen (Brevis illustratio urbis Ha- B.s Ankündigungen von Aeneis-Vorlesungen an der giensis. Rostock 1560) u. zu seiner Heimat- Univ. Rostock 1560–1563. In: Wolfenbütteler Restadt Minden (De origine, antiquitate et celebri- naissance-Mitt.en 25 (2001), S. 103–121. – Flood, tate urbis Mindae. Rostock 1563). Von seinem Poets Laureate, Bd. 1, S. 201–204. Lothar Mundt Interesse an der Bukolik zeugen seine neun Eklogen (sieben davon in der Sammlung Aeglogae septem. Rostock 1563), die z.T. bukol. Bock, Alfred, * 14.10.1859 Gießen, † 6.3. Texten des von ihm sehr geschätzten Petrus 1932 Gießen; Grabstätte: ebd., Neuer Lotichius Secundus nachgestaltet sind. Eine Friedhof. – Erzähler. große Zahl von geistl. Gedichten erschien B. entstammte einer wohlhabenden u. mugesammelt u. d. T. Sacrorum carminum et pia- sisch geprägten Fabrikantenfamilie in Gierum precationum libri quatuor (Rostock 1565). ßen. Hier studierte er Literaturgeschichte u. Hierin finden sich auch diverse Casualia u. Philosophie. Trotz vieler Reisen blieb er Gedichte autobiograf. Inhalts. Stark autobio- zeitlebens seiner oberhess. Heimat verbungrafisch ist auch das erste (u. einzige) Buch den. 1918 erhielt er die Ehrendoktorwürde seiner Elegiae (Lpz. 1554), die geprägt sind der Landesuniversität, 1924 wurde er mit von Klagen über den gegenwärtigen Weltzu- dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Seit stand (B. sieht Anzeichen eines Verfalls von 1955 befindet sich sein literar. Nachlass im Bildung u. Moral), über die Zwietracht unter Deutschen Literaturarchiv Marbach. den dt. Fürsten u. über sein persönl. MissgeB.s Erzählweise kann dem bürgerl. Realisschick (Armut, berufl. Unsicherheit, falsche mus zugerechnet werden. Er begann als LyFreunde). riker (Gedichte. Dresden 1889) u. KomödienNeben den genannten größeren Werken dichter, seine eigentl. literar. Betätigungsfelsind von B. viele Gelegenheitsgedichte der aber waren Novelle u. Roman. Dazu tru(Epicedien, Epithalamien, Genethliaca, Pro- gen wesentlich eine Begegnung mit Gustav pemptica u. a.) in Einzeldrucken oder als Freytag (1889) sowie seine freundschaftl. Beigaben zu fremden Publikationen oder Verbindungen zu Wilhelm Raabe, Carl SpitSammelausgaben überliefert. teler u. Hans Thoma bei. Bereits sein erster Weitere Werke: Panegyris de divo Iohanne Roman Die Pflastermeisterin (Bln. 1899) wurde Baptista, quae coelestis doctrinae eruditam sum- von Paul Heyse als »ein Kabinettstück echter, mam et Christiani hominis verum officium conti- feiner und derber Erzählkunst« gelobt. Den net. Wittenb. 1553. – Panegyris ad illustrissimos Flurschütz (Bln. 1901) wollte Carl Zuckmayer Principes [...] D. Iohannem Albertum et D. Udalri- dramatisieren. Mit eigenständiger Darstelcum fratres et Duces Megalburgenses etc. de nova lungskunst u. genauer Beobachtungsgabe hat dotatione et instauratione academiae Rostochianae. B. die Gattung des Heimatromans weiterRostock 1564. entwickelt. Dichtung u. Volkskunde vermiAusgaben: De origine, antiquitate et celebritate schen sich so in B.s z.T. tragikom. Erzählunurbis Mindae [Nachdr. des Originaldrucks v. 1563] / gen zu einem Genrebild des ausgehenden 19. Ursprung, Alter u. Bedeutung der Stadt Minden. Übertragung ins Deutsche v. Sievert Graf v. Wedel. u. beginnenden 20. Jh. Neben seiner umHg. Hans Nordsiek. Minden 1998. – Sämtl. Eklo- fangreichen novellist. Tätigkeit widmete er gen. Mit einer Einf. in Leben u. Gesamtwerk des sich in den letzten Lebensjahren auch kulVerf. Hg., übers. u. komm. v. Lothar Mundt. Tüb. turgeschichtl. Studien u. der vergleichenden Kunstbetrachtung (Aus einer kleinen Universi1999. Literatur: Johann Karl Opitz: Ioannis Boceri, tätsstadt. Gießen 1896). poetae Mindensis praestantissimi, vita, fata et scripta. Programm Minden o. J. [1750]. – Lothar Mundt: Einl. zu: J. B.: Sämtl. Eklogen, S. XILXXXIII. – Ders.: Verz. der Schr.en B.s u. Bibliogr. der Forschungslit. Ebd., S. 181–194. – Ders.: J. B. In: Biogr. Lexikon für Mecklenburg. Bd. 3. Hg. Sabine Pettke. Rostock 2001, S. 18–23. – Ders.: J.

Ausgaben: Das A. B.-Buch. Hg. Will Scheller. Marburg 1929. – Tagebücher. Hg. Werner Bock. Darmst. 1959. – A.-B.-Lesebuch. Hg. Michael Keuerleber. Fernwald 1991. – Gesamtausgabe: Ges. Werke. Hg. Erwin Leibfried. Marburg 1992–94. Bd. 1: Der Grenzgang (1992), Bd. 2: Der Flurschütz (1993), Bd. 3: Hausierer (1994).

5 Literatur: Bibliografie: M. Keuerleber: A.-B.-Bibliogr. Hg. v. der Forschungsstelle Literar. Kultur in Oberhessen am Fachbereich Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Fernwald 1990. – Weitere Titel: Fritz Droop: A. B. Marburg 1919. – M. Keuerleber: Untersuchungen zum Werk A. B.s. Ffm. 1996. Jürgen H. Koepp / Erwin Leibfried

Bock, Hieronymus, auch: Tragus, * 1498 Heidelsheim bei Bretten/Baden, † 21.2. 1554 Hornbach bei Zweibrücken/Pfalz. – Protestantischer Prediger, Arzt u. Botaniker. B. lebte spätestens seit 1522 in Zweibrücken, seit 1533 v. a. in Hornbach u. 1550/51 in Saarbrücken. Er genoss die Gönnerschaft der Zweibrücker Herzöge Ludwig II. u. Wolfgang sowie des Grafen Philipp II. von NassauSaarbrücken, stand mit Otto Brunfels u. Konrad Gessner in fachlichem Austausch u. war Lehrer von Jakob Theodor, gen. Tabernaemontanus. Bleibenden Ruhm verdankte B. seinem Kreütter Bu8 ch, einem frühneuzeitl. »Bestseller« der medizinisch-botan. Literatur (nicht illustr. Straßb. 1539. Mit Holzschnitten 1546 u. ö. 1552 lat. v. David Kyber, mit Vorw. v. Konrad Gessner. 1577 hg. v. Melchior Sebitz d.Ä. 1630 hg. v. Melchior Sebitz d.J., mit Register v. Johann Michael Moscherosch. Neudr.e der Ausg. v. 1577 Mchn. 1964 u. Grünwald 1980). Durch zahlreiche Ausgaben u. Übergang mancher Texte in Adam Lonitzers oft gedrucktes Kräuterbuch (1557 u. ö.) blieb es bis ins 18. Jh. präsent. B. hielt dafür, man könne nicht »ein jedes Gewächs also gänzlich in allen Dingen« »mit Schreiben abmalen«, doch erblickte er auch in der »schrifft« des »einfaltigen Leyen«, dem Bild, kein hinlängl. Medium zur Vermittlung pflanzenkundl. Wissens. B.s Drucker Wendelin Rihel ließ das Kreütter Bu8 ch indes aus kommerziellen Gründen von David Kandel mit Pflanzendarstellungen illustrieren. Obwohl B. nun erklärte, Kandel habe die Pflanzen unter seiner Aufsicht nach der Natur »auffs aller Einfaltigest / schlechst / vnd doch Warhafftigst [...] seüberlich abgerissen« (Vorrede), haben keineswegs nur Pflanzen als Vorlage gedient. Vielmehr ergab sich aus

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Kandels Gebundenheit an Abbildungen in den Pflanzenbüchern von Leonhart Fuchs, Otto Brunfels u. Eucharius Rößlin d.J., aus seiner pflanzenkundl. Unerfahrenheit u. einer mangelhaften Zusammenarbeit mit B., dass das Kreütter Bu8 ch neben naturgetreuen Abbildungen von der Natur mitunter weit entfernte Konstrukte enthält. Heute wird in B. kein »Reformator der Pflanzenkunde« mehr gefeiert, der die antikmittelalterl. Tradition uneingeschränkt zugunsten eines vorausweisenden Empirismus verworfen habe. Zwar bemühte sich B. in botan. Gärten u. auf Wanderungen um Pflanzenkenntnis aus eigener Anschauung, doch begegnet immer auch ein methodisch u. textlich von der pflanzenkundl. Tradition (Dioskurides, Theophrast, Plinius) abhängiger u. zwischen Autoritätsgläubigkeit u. Traditionskritik schwankender Buchgelehrter. Auch vor B.s Wirken hatte man die wichtigsten Kennzeichen der Gestalt einer Pflanze u. ihrer äußeren Lebensumstände nach der Natur beschrieben. Indes blieb es B. vorbehalten, über eine genaue Kennzeichnung der pflanzl. Hauptmerkmale hinaus die gesamte Pflanzengestalt charakterisiert, eben die »Lebensgeschichte« von Pflanzen dargestellt, die überkommenen Beschreibungen vermehrt u. um viele Beobachtungen bereichert zu haben. Diese fachgeschichtl. Verdienste trugen jedoch kaum dazu bei, dass das Kreütter Bu8 ch manche Konkurrenzschrift in der Gunst der frühneuzeitl. Leserschaft ausstach. Ins Gewicht fiel vielmehr B.s Wahl der dt. Sprache, seine mit erzählerisch-rhetor. Elementen durchsetzte Prosa, am stärksten aber wohl der medizinisch-therapeutische Grundzug des B.’schen Werks. Da B. in zeitgemäß-humanistischer Wendung wider die Arzneimittellehre der arabist. Schulmedizin den Gebrauch von »zu8 samen mischungen viler Arabischer Specereien« zugunsten von »gemeynen landt Kreüttern« bzw. »gemeynen Teütschen Simplicia« verurteilte u. über die Heilwirkungen von Hunderten fast ausnahmslos im »Vatterlandt Teütscher Nation« wachsenden Pflanzen informierte, besaß das Kreütter Bu8 ch für den nach medizinischer Selbsthilfe spähenden »gemeinen Mann« u.

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»armen gemeynen hauffen« einen beträchtl. Gebrauchswert. Ob seines entschiedenen Eintretens für den Gebrauch »teutscher« Arznei- u. Nahrungsmittel erscheint der »redliche« B. bei Johann Michael Moscherosch als ein vorbildlicher Kulturpatriot. Weitere Werke: Herbarum aliquot dissertationes. In: O. Brunfels: Herbarum [...] eicones. Bd. 2, Straßb. 1531, S. 256–265. – Regiment für das grausam Hauptwehe vnd Breune. Straßb. 1544 u. ö. – Teütsche Speiszkammer. Straßb. 1550 u. ö. (Ernährungslehre für Gesunde u. Kranke, seit 1610 auch unter dem Namen v. Bartholomäus Carrichter gedr.). – Bader Ordnung. Straßb. 1550. – Eine Pestschr. u. andere Krankheitsmonogr.n in Johannes Dryander (Eichmann): New Artznei vnd Practicierbüchlein. Ffm. 1557, Anhang. – Mitwirkung an Jacob Theodors Practick (abgeschlossen 1553). Ausgaben: Renaissance, Humanismus, Reformation. Hg. Josef Schmidt. Stgt. 1976, S. 100–105: Textprobe aus ›Kreütterbuch‹, 1595. – Der vollen brüder orden. Leipzig o. J. [1540?]. Neudr. Lpz. 1979. – Sendbrief an die Gemeinde in Hornbach, 4. Nov. 1550. Hg. Bergholz (2005, s. u.). Literatur: Engler: B. In: ADB. – Friedrich Wilhelm Emil Roth: H. B., genannt Tragus (1498–1554). In: Botan. Centralblatt 74 (1898), S. 265–271, 313–318, 344–347. – Ders.: H. B., genannt Tragus, Prediger, Arzt u. Botaniker 1498 bis 1554. In: Mitt.en des Histor. Vereins der Pfalz 23 (1899), S. 25–74. – Claus Nissen: Die botan. Buchillustration. Ihre Gesch. u. Bibliogr. Bde. I/II. Stgt. 1951, s. v. Bock. – Heinrich Marzell: Das Buchsbaum-Bild im Kräuterbuch (1551) des H. B. In: Sudhoffs Archiv 38 (1954), S. 97–103. – Hermann Ziegenspeck: B. In: NDB. – Brigitte Hoppe: Das Kräuterbuch des H. B. Wissenschaftshistor. Untersuchung. Mit einem Verz. sämtl. Pflanzen des Werkes, der literar. Quellen der Heilanzeigen u. der Anwendungen der Pflanzen. Stgt. 1969. – Jerry Stannard: B. In: DSB, Bd. 2 (1970), S. 218–220. – Hans Reichert: H. B. (Tragus) (1498–1554). In: Pfälzer Lebensbilder. Bd. 4, Speyer 1987, S. 85–103. – Michael Giesecke: Sinnenwandel. Sprachwandel. Kulturwandel. Studien zur Vorgesch. der Informationsgesellsch. Ffm. 1992, s. v. – Fritz Krafft: B. In: DBE. – Wolf-Dieter MüllerJahncke: B. In: Ärztelexikon. Von der Antike bis zum 20. Jh. Hg. Wolfgang U. Eckart u. Christoph Gradmann. Mchn. 1995, S. 67 f. – Peter Seidensticker: Zur Gesch. der Erstausg. v. H. B.s ›New Kreütterbuch‹ (1539) – Pflanzenbeschreibung u. Abb. bei H. B. In: Mitt.en des Histor. Vereins der Pfalz 94 (1996), S. 137–156. – Mechthild Haber-

6 mann: Dt. Fachtexte der frühen Neuzeit. Naturkundlich-medizin. Wissensvermittlung im Spannungsfeld v. Latein u. Volkssprache. Bln./New York 2001, s. v. – Thomas Bergholz: B. In: Bautz. – Ders.: ›Dass ich nichts als allein die heilige göttliche Schrift hab vorgetragen‹. Der Sendbrief des H. B. an die Gemeinde in Hornbach u. die Stellung der Saarbrücker Grafen zur Reformation. In: Monatsh.e für evang. Kirchengesch. des Rheinlandes 54 (2005), S. 169–192 (mit Textwiedergabe). Joachim Telle

Bock, Johann Christian, * um 1750 Dresden, † 1785 Dresden. – Bühnenautor u. Übersetzer, Verfasser humoristischer Prosa u. empfindsamer Lyrik. B.s Herkunft u. berufl. Werdegang sind nahezu unbekannt. 1772–1778 war er unter Friedrich Ludwig Schröder als Theaterdichter mit dramaturg. Aufgaben bei der Ackermannschen Gesellschaft in Hamburg angestellt. Später war er für Pasquale Bondini am Hoftheater Dresden tätig. Zu Lebzeiten wurden seine Dramen u. Dramenbearbeitungen auf dt. Bühnen erfolgreich gespielt u. z.T. mehrfach aufgelegt. Nach seinem Tod waren B. u. seine oft nur für den theatral. Tagesbetrieb verfertigten Arbeiten bald vergessen. B. debütierte als Erzähler u. Lyriker mit Erstlinge meiner Muse (Lpz. 1770) u. fand Beachtung mit seiner erzählenden Dichtung Die Tagereise (Lpz. 1770. Neuaufl. u. d. T. Geschichte eines empfundenen Tages. Lpz. 1775), in der Vers-, Dialog- u. Prosaform einander abwechseln. B. verarbeitet darin Einflüsse der zeitgenöss. Anakreontik u. Empfindsamkeit (Gleim, Johann Georg Jacobi, Ewald Christian von Kleist) u. hält dabei ein Plädoyer für eine Dichtkunst, die trotz Aufwertung von »Gefühl« u. »Leidenschaft« der aufklärer. Tugendlehre verpflichtet bleibt; der Text gipfelt in einer Hommage an Gellert u. greift ironisch das modisch gewordene Erzählmodell der »empfindsamen Reise« in Sternes Manier auf (vgl. auch B.s Empfindsame Reisen durch die Visitenzimmer [...]. 5 Bde., Hbg. 1772/73). In seinen Lustspielen zeigt B. starke patriot. Tendenzen u. führt z.B. in Die Deutschen (Hbg. 1773) eine polem. Auseinandersetzung mit frz.-»leichtlebiger« Mentalität. Gemäß der polit. Stimmung der Zeit bildet die

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freundl. Einschätzung Englands in politischer u. literar. Hinsicht den Gegenpol. B.s zahlreiche Übersetzungen u. oft im lokalen Umfeld angesiedelte Bearbeitungen, u. a. von Beaumarchais, Calderón, Goldoni u. Brooke, sind routiniert auf Bühnenwirksamkeit hin verfasst (vgl. sein Vermischtes Theater der Ausländer. 4 Bde., Lpz. 1778–81). Als Herausgeber des »Theatralischen Wochenblatts« (Hbg. 1774/75) warb er für dramaturg. Konzepte des Hamburger Theaters u. unterstützte Schröder bei der Förderung u. Aufführung junger Autoren (z.B. Jakob Michael Reinhold Lenz, Friedrich Maximilian Klinger) u. des engl. Theaters, insbes. Shakespeares. Weitere Werke: Für das dt. Theater. 2 Bde., Lpz. 1770/71 (Dramen u. Dramenbearbeitungen). – Etwas Dramaturgisches. Einige fliegende Rhapsodien [...]. o. O. 1774 (an.). – Kom. Opern der Italiener. 2 Bde., Lpz. 1881/82 (Übers.en u. Bearb.en). Literatur: Berthold Litzmann: Friedrich Ludwig Schröder. Ein Beitr. zur dt. Litteratur- u. Theatergesch. Bd. 2, Hbg./Lpz. 1894, S. 116 ff. Stefan Iglhaut / Red.

Bock, Werner, * 14.10.1893 Gießen, † 3.2. 1962 Zürich; Grabstätte: Gießen, Neuer Friedhof. – Erzähler, Lyriker, Essayist u. Literaturhistoriker.

Neben der neuromant. Linie der frühen Werke behauptete sich in den 1950er Jahren die Neue Sachlichkeit mit der Konzentration auf das Unsensationelle u. seine lebensbejahende Einstellung; in der Erzählung Maria Araña (in: FS für W. B.) etwa beschreibt B. in gedanklich präziser Prosa die kurze u. vorschnell beendete Beziehung zu einem »einfachen«, von Geheimnissen umgebenen Mädchen. Der Sammlung Tröstung, einer Auswahl der Gedichte von 1909 bis 1950 (Buenos Aires 1951), folgten Gedichte aus den Jahren 1952 bis 1956, Wenn ich Staub bin (Wiesb. 1956), sowie die Ausgewählten Gedichte aus drei Jahrzehnten (Wiesb. 1958). Eine Zusammenstellung seiner Prosawerke – von autobiogr. Impressionen über Reiseeindrücke bis zu Erzählungen u. Essays – in Blüte am Abgrund (Buenos Aires 1951. Erw. Heidelb. 1961), von Ernst Robert Curtius mit »aufrichtiger Sympathie« begrüßt, rundet B.s literar. Lebenswerk ab. Er war Mitgl. der Academia Goetheana, des Deutschen PEN-Zentrums u. korrespondierendes Mitgl. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 1958 zog er nach Losone bei Ascona. Literatur: Lenz im Herbst. FS W. B. zum 60. Geburtstag. Buenos Aires/Ffm. 1954 (mit Bibliogr. der Arbeiten in Südamerika). – Sigfred Taubert: W. B. zum 65. Geburtstag. In: Börsenblatt 14 (1958), S. 1355 f. – Ernst Robert Curtius: Büchertgb. Bern 1960, S. 17–19. – Fritz Usinger: Miniaturen. Kleine literar. Gedenk-Bilder. Merzhausen 1980, S. 111–118. Reinhard Tenberg / Red.

Der Sohn des Fabrikanten u. hess. Erzählers Alfred Bock schloss das Studium der Germanistik, Kunstgeschichte u. Philosophie in Gießen u. München mit der Dissertation Die ästhetischen Anschauungen Wielands (1919. Bln. 1921) ab. Er lebte als freier Schriftsteller u. Bockemühl, Erich, auch: Eberhard Büveröffentlichte zeitkrit. Gedichte, Essays u. ren, * 12.6.1885 Bickenbach bei Köln, Erzählungen; ausgewählte Gedichte erschie† 12.5.1968 Drevenack bei Wesel; Grabnen in der Anthologie Das ewige Du (Weimar stätte: ebd., Evangelischer Friedhof. – 1931). 1939 emigrierte B. nach Buenos Aires, Heimatschriftsteller. wo er Mitarbeiter zahlreicher Periodika wurde, u. a. war er seit 1944 Redakteur des ar- B., dessen Vater Lehrer war, ergriff selbst den gentin. Exilorgans »Deutsche Blätter« (Sant- Lehrerberuf. Zunächst lebte er in Drevenack iago de Chile). In Südamerika schrieb er bei Wesel, ab 1941 in Mönchengladbach, seitdem in dt. u. span. Sprache; für die Er- später in Rheydt-Oldenkirchen. Zu Beginn zählungen Morir es nacer (Buenos Aires 1947) seiner schriftsteller. Arbeit gehörte er dem erhielt er den ersten Preis des »Club del Libro romantisch-konservativen »Charon-Kreis« del Mes«. 1946–1949 hatte B. an der Uni- um Otto zur Linde an. B.s erste Gedichtbände versität Montevideo/Uruguay den Lehrstuhl So still in mir (Groß-Lichterfelde 1911) u. Worte für dt. Literatur u. Philosophie inne. mit Gott (Bln. 1913) zeigen seine christl.

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Weltauffassung in der Beschreibung von Alltagserlebnissen, in Landschafts- u. Naturbetrachtungen. In den späteren Jahren wurde B.s Sprache konkreter. Hauptgegenstand seiner Dichtung war nun die niederrheinische Landschaft. Seine Absicht, einen Beitrag zur Bewahrung der Volkskultur dieser Region zu leisten, zeigen seine teilweise für Kinder geschriebenen Bücher wie Lesebüchlein vom Kreise Rees (Wesel 1926. 2. Aufl. u. d. T. Lesebüchlein vom unteren Niederrhein. Wesel 1928), Aus der niederrheinischen Vergangenheit (Wesel 1926) u. Das rheinische Heimatland (zus. mit Heinrich Burhenne. Wesel 1927). Parallel zu einer Anthologie Die moderne Mariendichtung (Gotha 1928) veröffentlichte er die Kriegschronik des Dorfes Drevenack (Im Spiegel der Heimat. Wesel 1928). Auch nach dem Zweiten Weltkrieg bemühte sich B. um Literatur, Historie u. Sagen des Niederrheins. Weitere Werke: Niederrhein. Sagenbuch. Moers 1930. Nachdr. Hildesh./New York 1976. – Goethe. Köln 1932 (Biogr. für Kinder). – Schiller. Langensalza 1932 (Biogr. für Kinder). – Aus deinen Tiefen. Querfurt 1935 (L.). – Jahr des Sommers. Querfurt 1936 (L.). – Land um den Rhein. Hg. Heribert Teggers u. E. B. Braunschw. 1956 (Haus-, Lehr- u. Lesebuch). – Das goldene Spinnrad. Duisburg 1960. 21967 (Sagen). Literatur: Kurt Erich Meurer: Der Dichter E. B. In: Ostdt. Monatsh.e 22. (1955/56), S. 628–630. – E. B.: Dank u. Gedenken. In: Das Tor. Düsseldorfer Heimatbl. 34 (1968), S. 114 f.

rungen an einen Obelisken (Mchn. 1974). Weitere Gedichtsammlungen folgten in den 1980er Jahren. Tod u. Einsamkeit, Verzweiflung u. Resignation angesichts der Vergeblichkeit aller Hoffnungen auf Liebe u. gelingende Kommunikation bilden die themat. Schwerpunkte von B.s Dichtung seit ihren frühen Anfängen. »Gib deine Hoffnung auf: / Nichts von allem, / was sich bis jetzt nicht erfüllte, / wird sich erfüllen. / Finde dich ab« (Mitte des Lebens. In: Schattenzonen. Gedichte außerhalb der Zeit. St. Michael 1981). Charakteristisch für ihre Gedichte ist eine außergewöhnliche intellektuelle Klarheit u. Dichte. Obwohl B. von einigen Kritikern (Benno von Wiese u. a.) für eine der bedeutendsten dt. Lyrikerinnen der Nachkriegszeit gehalten wurde, blieb sie in der Bundesrepublik Deutschland, im Unterschied zu Italien beispielsweise, weitgehend unbeachtet. Neben Gedichten verfasste B. seit Mitte der 1970er Jahre eine Reihe von Kinderbüchern. Weitere Werke: Maulwurf Julius u. der Nudelbaum. Freib. i. Br. 1975. – Der gläserne Vogel. Gedichte gegen die Zeit. St. Michael 1980. – Die Gehäuse der Zeit. St. Michael 1983. – Hi Ha Hexenschuß. Mchn. 1983. Literatur: Benno v. Wiese: Eine poet. Frage. In: Frankfurter Anthologie 4 (1979), S. 250–252. – Lili Simon: Stets einsam im Umkreis des Todes. In: NDH 33 (1986), S. 793–802. Peter König / Red.

Elisabeth Willnat / Red.

Bode, Johann Joachim Christoph, eigentlicher Taufname: Johann Conrad ChrisBodden, Ilona, * 8.2.1940 Hildesheim, toph, * 12.1.1730 Barum bei Braun† 17.4.1985 Hamburg (Freitod). – Lyrike- schweig, † 13.12.1793 Weimar. – Schriftsteller, Übersetzer, Verlagsbuchhändler, rin u. Kinderbuchautorin. bedeutender Vertreter der deutschen Die Tochter eines Buchhändlers wuchs in Freimaurerei. Braunschweig auf, arbeitete nach dem Abitur einige Zeit im Buchhandel u. studierte schließlich Germanistik u. Psychologie. Als kaum 20-Jährige veröffentlichte sie ihren ersten Gedichtband Pappeln, schwarze Federn aus Nacht (Hbg. 1960). In den folgenden Jahren schrieb sie regelmäßig Beiträge für den Rundfunk sowie für Zeitschriften u. Zeitungen in der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich u. der Schweiz. 1974 veröffentlichte sie ihren zweiten Gedichtband Erinne-

B. wuchs als Sohn eines Tagelöhners in ärml. Verhältnissen auf, erhielt aber seit seinem 14. Lebensjahr Musikunterricht. Gefördert von dem Helmstedter Lehrer Johann Christoph Stockhausen, erlernte er autodidaktisch die frz., engl. u. andere Sprachen. 1752 wurde er Militärmusiker in Celle u. begann zu komponieren. Der Tod seiner ersten Frau brachte B. 1757 zu dem Entschluss, seinen Lebensunterhalt in Hamburg als freiberuflicher

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Sprach- u. Musiklehrer zu verdienen, bald auch als Übersetzer u. Zeitungsredakteur. Die reiche u. weltoffene Hansestadt bot B. die Chance zum sozialen Aufstieg. Die 1765 eingegangene Ehe mit der Hamburger Senatorentochter Simonetta Tamm brachte ihn schon ein Jahr später, nach deren Tod, in den Besitz eines beträchtl. Vermögens. Er kaufte eine Druckerei u. baute ein Verlagsunternehmen auf. Seine dritte Ehe mit Metta Maria Bohn, einer Tochter des Hamburger Verlagsbuchhändlers Johann Carl Bohn, integrierte ihn endgültig in das Handelsbürgertum Hamburgs. Die Hamburger Jahre waren für B. eine Zeit fruchtbarer literar. u. verleger. Tätigkeit. Hervorzuheben sind seine Bekanntschaften mit Lessing, Matthias Claudius u. dem Schauspieler u. Theaterreformer Friedrich Ludwig Schröder. Gemeinsam mit Lessing rief er 1767 die »Buchhandlung der Gelehrten« ins Leben, ein allerdings nur kurzlebiges Unternehmen, das durch die Kombination von Autorenselbstverlag u. buchhändlerischem Kommissionsgeschäft nicht nur anspruchsvolle Literatur herauszubringen, sondern deren Autoren auch vor unbefugtem Nachdruck zu schützen suchte. 1771 verlegte B. Claudius’ Zeitung »Der Wandsbecker Bothe« u. förderte durch Drucke, Übersetzungen u. Bearbeitungen die Bestrebungen Schröders, ein »Bildungstheater« zu schaffen. B.s geschäftlicher Erfolg blieb begrenzt, doch bahnte er bedeutenden Werken wie z.B. Lessings Hamburgischer Dramaturgie (1768/69) u. Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs Drama Ugolino (1768) den Weg in die Öffentlichkeit. Als Übersetzer englischer Autoren wie Sterne, Smollett, Goldsmith u. Fielding wurde B. zum Wegbereiter des engl. Romans in Deutschland. Seine Übersetzung von A Sentimental Journey Through France and Italy von Sterne (1768) trug maßgeblich dazu bei, den von Lessing geprägten Begriff der »Empfindsamkeit« als Markenzeichen jener etwa von 1740 bis 1780 vorherrschenden literarisch-ästhet. Bewegung zu etablieren, die eine empathische, stark gefühlsbetonte Dichtung pflegte u. ihren Höhepunkte in Klopstocks Messias u. Goethes Die Leiden des jungen Werthers fand.

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B. wurde 1761 in die Hamburger Loge »Absalom zu den drei Nesseln« aufgenommen u. machte in dem 1764 gegründeten »Hohen Orden der Ritter vom Heiligen Tempel zu Jerusalem«, einem freimaurer. Hochgradsystem, das sich unter dem Namen »Strikte Observanz« in ganz Europa ausbreitete u. als Fortsetzung des im 14. Jh. untergegangenen Tempelherrenordens verstand, eine steile Karriere. Seine Umtriebigkeit ließ B. (im Inneren Orden »Christophorus Eques a Lilio convallium«) bald zum »Faktotum« der »Strikten Observanz« werden. Mit dem russ. Gesandten in Hamburg, Graf Alexander Musin-Puschkin (»Eques ab Elephante«), plante B. Ansiedlungsprojekte in der Ukraine, die allerdings ebenso wenig wie die anderen ökonom. Pläne der »Strikten Observanz« verwirklicht wurden. Als Prokurator der VII. Ordensprovinz gehörte B. zum Provinzialkapitel, dem engsten Führungszirkel um den Ordensgründer u. »Heermeister« Gotthelf Freiherr von Hund und Altengrotkau. Auseinandersetzungen mit der konkurrierenden »Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland« in Berlin führten dazu, dass B. die Loge »Absalom« verließ u. die heute noch bestehende Loge »Emanuel zur Maienblume« gründete. 1778 bot ihm die Witwe des dän. Reformministers Johann Hartwig Ernst Graf von Bernstorff, Charitas Emilie Gräfin von Bernstorff, an, mit ihr nach Weimar zu übersiedeln, wohin er seit 1764 mit der Loge »Amalia« Beziehungen unterhielt. Er verkaufte sein Verlagsunternehmen in Hamburg u. lebte, zum Sachsen-Meiningischen Hofrat u. Hessisch-Darmstädtischen Geheimen Rat ernannt, seit 1779 als Sekretär der Gräfin Bernstorff nur 100 Meter von Goethes Haus am Frauenplan entfernt in deren Weimarer Stadtpalais. B. arbeitete weiterhin als Übersetzer (u. a. der Schriften Montaignes), doch im Mittelpunkt standen für ihn nun die geheimen Gesellschaften. Als leidenschaftlicher Aufklärer bekämpfte er die okkulten u. myst. Strömungen, die in der »Strikten Observanz« Fuß gefasst hatten. Auch Goethe u. Herder band B. in seinen Feldzug gegen »Kryptokatholiken«, vermeintl. Jesuiten u. obskure Wundermänner wie den Grafen Cagliostro

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ein. 1780 ließ sich unter seinem Einfluss Goethe, 1782 Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach in die Loge »Amalia« aufnehmen. Als die »Strikte Observanz« infolge interner Machtkämpfe u. mehrerer Hochstaplerskandale zu Beginn der 1780er Jahre in eine Krise geriet, setzte sich B. für eine zeitgemäße Reform ein. Die Schwierigkeiten, die sich auf dem Freimaurerkonvent zu Wilhelmsbad im Sommer 1782 den Reformplänen entgegenstellten, veranlassten B. noch in Wilhelmsbad zum Anschluss an die Illuminaten, einen erst 1776 gegründeten Geheimbund, der eine aufklärer. Bildungsprogrammatik mit gesellschaftspolit. Zielsetzung vertrat. Goethe u. Herzog Carl August, die B. vermittels eines »historischen Unterrichts« zuvor noch in den Inneren Orden der »Strikten Observanz« u. dessen Geheimnisse einführte, sowie weitere Gesinnungsgenossen aus der »Amalia« folgten ihm bald. B. (Ordensname »Aemilius«) wurde Vorsteher der Ordensprovinz »Ionien«. Zwar blieb der 1784 von B., Adolph Freiherr von Knigge u. einigen Weimarer Illuminaten unternommene Vorstoß, die dubiose, konspirativ-diktator. Führungspraxis des Ordensgenerals Adam Weishaupt durch eine Strukturreform einer kollektiven Kontrolle zu unterwerfen, ohne Erfolg, doch verschob das Verbot der Illuminaten in Bayern schon 1785 die Machtverhältnisse derart, dass sich B.s Einfluss deutlich erweiterte. Der Schwerpunkt des Ordens verlagerte sich nun nach Thüringen, wo er noch bis 1788, mit einzelnen Aktivitäten sogar noch bis 1793, wirkte. Gemeinsam mit dem Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg, der 1785 die Ordensleitung übernahm u. dem verfolgten Weishaupt 1787 Asyl gewährte, suchte B. den Orden zu erneuern u. europaweit zu vernetzen. Neben dem Ausbau der Stützpunkte im nördl. Deutschland kam es zu illuminat. Logengründungen in Rom, Neapel u. Kopenhagen. Damit verband sich eine zielgerichtete Personalpolitik, die u. a. zur Berufung der von B. in Weimar u. Jena angesiedelten Illuminaten Carl Leonhard Reinhold u. Gottlieb Hufeland als Professoren an der Jenaer Universität führte, wo sie

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eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der krit. Philosophie Kants spielten. Der Schwerpunkt der illuminat. Bestrebungen B.s lag auf der Reorganisation der Freimaurerei, die er in eine aufklärerische, antimyst. Richtung zu lenken versuchte. Ähnliche Ziele verfolgte in der frz. Freimaurerei die Pariser Loge »Les Amis Réunis«, wo sich 1773 unter der Bezeichnung »Göttlicher Orden der Philalethen« ein freimaurerisches Forschungsinstitut etabliert hatte. Auf dessen ersten internat. Kongress 1785 aufmerksam geworden, beteiligten sich B. u. weitere thüring. Illuminaten an der Vorbereitung des für 1787 anberaumten Nachfolgekongresses mit Denkschriften, u. Goethe lieferte ihm aus Italien Beweise zur Entlarvung des okkulten »Groß-Cophtas« Cagliostro, dessen spektakulärer »ägyptischer Ritus« für die geistige Verwirrung in der Freimaurerei symptomatisch war. Im Juli 1787 wohnte B. dem Kongress in Paris bei. Unter dem Einfluss der illuminat. Reformdenkschriften verwarf dieser geheime Wissenschaften, Magie u. Okkultismus als geistige Grundlagen der Freimaurerei. Führende Philalethen traten dem Illuminatenorden bei. All dies hielt den Niedergang der Illuminaten jedoch nicht auf. Als Carl Friedrich Bahrdt 1789 mit der »Deutschen Union der Zweiundzwanziger« eine Konkurrenzorganisation gründete, konnte deren Aufkommen zwar durch eine Enthüllungsschrift B.s u. eine von Goethe u. Herzog Carl August veranlasste Kampagne der in Jena erscheinenden »Allgemeinen Literatur-Zeitung« verhindert werden, doch setzte sich nun die schon 1788 von Wieland öffentlich vertretene Auffassung durch, dass man das Geheimbundwesen generell überwinden müsse u. der freie öffentl. Diskurs der Königsweg zur Verbreitung aufklärerischer Ideen sei. B.s letztes großes Projekt, der »Bund der deutschen Freimaurer«, kam nicht über Anfänge hinaus. B. geriet zudem nach dem Ausbruch der Französischen Revolution ins Visier reaktionärer Verschwörungstheoretiker, die in seiner Reise nach Paris 1787 einen Beweis dafür erblicken wollten, dass die Illuminaten den polit. Umsturz in Frankreich angezettelt hätten. 1792/ 93 wurden auch in Weimar u. Gotha sämtli-

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che arkanen Gesellschaften liquidiert. Nach Bode, (Arnold) Wilhelm von (geadelt B.s Tod im Dez. 1793 nahm Herzog Ernst II. 1914), * 10.12.1845 Calvörde bei Magdedessen freimaurerischen u. illuminat. Nach- burg, † 1.3.1929 Berlin; Grabstätte: ebd., lass unter Verschluss. Er bildet heute die be- Alter Luisenfriedhof. – Kunsthistoriker. rühmte »Schwedenkiste« im Archiv der Gothaer Freimaurerloge »Ernst zum Kompass«. Erst nach einem Jurastudium wandte sich B. B.s Reformintentionen setzte Friedrich Lud- der Kunstgeschichte zu, die damals nur an wig Schröder, der langjährige Meister vom wenigen Universitäten gelehrt wurde, so in Stuhl von B.s Hamburger Loge »Emanuel zur Berlin u. Wien, wo B. studierte. Die unzuMaienblume«, um 1800 in eine nachhaltige reichenden Studienmöglichkeiten zwangen Erneuerungsbewegung der dt. Freimaurerei ihn zu weitgehend autodidaktisch betriebeum, der sich 1808 auch die Weimarer »Ama- nen Forschungen, die er 1870 in Leipzig mit der Promotion abschloss. Nach einer Italienlia« anschloss. reise wurde B. 1872 Assistent, 1883 Direktor Literatur: Harvey Waterman Thayer: Laurence Sterne in Germany. New York 1905. – Josef Wihan: der Skulpturen-Abteilung der Berliner MuJ. J. C. B. als Vermittler engl. Geisteswerke in seen. Seit 1890 war er zudem Direktor der Dtschld. Prag 1906. Nachdr. Hildesh. 1975. – Peter Gemäldegalerie, u. 1905 erfolgte seine ErMichelsen: Laurence Sterne u. der dt. Roman des nennung zum Generaldirektor aller staatl. 18. Jh. Gött. 1972. – Richard van Dülmen: Der Kunstsammlungen, eine Funktion, die er – Geheimbund der Illuminaten. Stgt.-Bad Cannstatt von 1920 an kommissarisch – bis zu seinem 1975. – Bernhard Fabian: English Books and Their Tod ausübte. Das im Jahre 1904 von B. erEighteenth-Century German Readers. In: Robert öffnete Kaiser-Friedrich-Museum trägt seit Darnton u. a.: The Widening Circle. Essays on the 1956 seinen Namen. Circulation of Literature in Eighteenth Century Als »Bismarck der Museen« verhalf B. den Europe. Philadelphia 1976. – Franklin Kopitzsch: Grundzüge einer Sozialgesch. der Aufklärung in öffentl. Kunstsammlungen Berlins zu WeltHamburg u. Altona. Hbg. 1982. – W. Daniel Wil- niveau. Er verfolgte eine konsequente Anson: Geheimräte gegen Geheimbünde. Ein unbe- kaufspolitik, die auf einem »System« von kanntes Kapitel der klassisch-romant. Gesch. Wei- Mäzenen, Kunsthändlern u. -agenten beruhmars. Stgt. 1991. – Hermann Schüttler: J. J. C. B. te. Von seinem Weitblick als Sammler u. Journal v. einer Reise v. Weimar nach Frankreich. Museumspolitiker zeugen außer zahlreichen Im Jahr 1787. Mchn. 1994. – Ders.: B. u. die Frei- Erwerbungen erstrangiger europ., islam. u. maurerei in Weimar. In: Ettersburger H.e 3 (1995), ostasiat. Kunstwerke die Gründungen neuer S. 6–29. – Hans-Jürgen Schings: Die Brüder des Marquis Posa. Schiller u. der Geheimbund der Il- Abteilungen u. zukunftsweisende Bauplaluminaten. Tüb. 1996. – W. D. Wilson: Unterird. nungen. Bedeutend für die MuseumsgeGänge. Goethe, Freimaurerei u. Politik. Gött. 1999. schichte sind ferner seine innovativen, an äs– Joachim Bauer u. Gerhard Müller: ›Des Maurers thetischen u. kulturhistor. Kriterien orienWandeln, es gleicht dem Leben‹. Tempelmaurerei tierten Inszenierungen. Förderlich für das u. Politik im klass. Weimar. Rudolstadt/Jena 2000. Fach Kunstgeschichte war B.s Mitwirken an – H. Schüttler: Der Wilhelmsbader Freimaurer- den Gründungen des Kunsthistorischen Inkonvent im Spiegel der Illuminaten. In: Geheime stituts in Florenz (1897) u. des Deutschen Gesellsch. Weimar u. die dt. Freimaurerei. Kat. zur Vereins für Kunstwissenschaft (1908). Als Ausstellung der Stiftung Weimarer Klassik im Wissenschaftler stand B. in der Tradition der Schiller-Museum Weimar 21.6. bis 31.12.2002. Hg. Joachim Berger u. Klaus-Jürgen Grün. Mchn. 2002, »Schule der Kenner«. Regelmäßige Reisen S. 175–184. – Peter de Voogd u. John Neubauer durch Europa, v. a. Italien, sowie in die USA (Hg.): The Reception of Laurence Sterne in Europe. hatten ihm eine einzigartige Objektkenntnis London u. a. 2004. – Reinhard Markner, Monika vermittelt, auf der sein umfangreiches wiss. Neugebauer-Wölk u. H. Schüttler (Hg.): Die Kor- Werk fußt. respondenz des Illuminatenordens. Bd. 1: Die Mehrzahl seiner weit über 800 Titel 1776–81, Tüb. 2005. Gerhard Müller zählenden Veröffentlichungen ist der Zuschreibung u. kunsthistor. Einordnung von ital. Kunstwerken der Renaissance sowie der

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niederländ. Malerei des 17. Jh. gewidmet. liner Skulpturenslg. u. das System W. B.: Leonardo Waren die meisten Publikationen durch Ein- da Vinci oder Richard Cockle Lucas? Kiel 2006. Wolfgang Beyrodt / Martin Gaier zelerwerbungen motiviert, mündeten sie schließlich in große Korpuswerke wie Denkmäler der Renaissance-Skulptur Toscanas (12 Bode, Wilhelm, gen.: Goethe-Bode, * 30.3. Bde., Mchn. 1892–1905) u. Italienische Bron1862 Hornhausen/Sachsen, † 24.10.1922 zestatuetten der Renaissance (3 Bde., Bln. Weimar; Grabstätte: ebd. (erneuert durch 1907–12) oder wurden von B. für ein breiteres Walther Victor). – Populärer Goethe-ForPublikum zusammengefasst (Die Kunst der scher. Frührenaissance in Italien. Bln. 1923). Jacob Burckhardt vertraute ihm die Überarbeitung Nach dem Besuch des Realgymnasiums in seines Cicerone an u. B. gab sechs Neuauflagen Halberstadt studierte der Sohn eines Landheraus (1879–1904). B.s mit seiner Disserta- wirts in Freiburg i. Br., Berlin u. Straßburg tion (Frans Hals und seine Schule. In: Jb. für Germanistik u. Romanistik. Nach der ProKunstwiss. Lpz. 1871) erworbene Kenner- motion in Straßburg über Die Kenningar in der schaft der niederländ. Malerei stellte die angelsächsischen Dichtung (Darmst./Lpz. 1886) Rembrandt-Forschung auf eine neue Grund- arbeitete B. zunächst als Lehrer, Redakteur u. lage (Beschreibendes Verzeichnis seiner Gemälde. 8 Schriftsteller in London u. Mittelweida, seit Bde., Paris 1897–1905). Ein weiteres Stan- 1900 als Schriftsteller in Isseroda u. Weimar. dardwerk legte er mit Vorderasiatische Knüpf- B. setzte sich für die Bekämpfung übermäteppiche aus älterer Zeit (Lpz. 1901. 21914. ßigen Alkoholkonsums ein: Nachdem er 3 1922) vor. Weitere Publikationen befassten 1889 den »Alkoholgegnerverband« gegrünsich mit Kunsthandel, Kunstsammlungen u. det hatte, gab er seit 1891 die »Mitteilungen Museumspolitik. zur Bekämpfung der Trunksucht« heraus u. B.s literarisches Werk ist empirisch-positi- war von 1892 bis 1899 Geschäftsführer des vistisch u. faktenorientiert, ohne den An- »Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch spruch auf eine theoret. Fundierung zu er- geistiger Getränke«. B. starb bei einem Straheben. Das in seiner Autobiografie Mein Leben ßenbahnunfall in Weimar. Seit 1900 widmete sich B. ganz der Popu(2 Bde., Bln. 1930) entworfene Selbstbild ist u. a. durch die kommentierte Neuausgabe larisierung Goethes. Neben dem eigenen Pe(hg. v. Thomas W. Gaehtgens u. Barbara Paul. riodikum »Stunden mit Goethe. Für die Freunde seiner Kunst und Weisheit« (1 Bln. 1997) relativiert worden. Literatur: Bibliografien: Friedrich Künzel: Verz. [1905]-9 [1913], 10 [1921]) veröffentlichte er des schriftl. Nachl.es v. W. v. B. Bln. 1995. – Jürgen zahlreiche Bücher u. Quellensammlungen Zimmer: Bibliogr. W. (v.) B. In: Gaehtgens/Schus- über Goethe, dessen Zeit u. persönl. Bezieter 1996 (s. u.), S. 183–249. – Weitere Titel: Ludwig hungen. Erfolgreich waren v. a. B.s themat. Justi: W. v. B. In: NDB. – Manfred Ohlsen: W. v. B.: Anthologien wie Goethes Lebenskunst (Bln. Zwischen Kaisermacht u. Kunsttempel. Biogr. Bln. 1901. 91929) u. Der fröhliche Goethe (Bln. 1904). 1995. – Thomas W. Gaehtgens u. Peter-Klaus Unter den gut recherchierten Studien zu Schuster (Hg.): Kennerschaft: Kolloquium zum einzelnen Aspekten (Die Tonkunst in Goethes 150sten Geburtstag v. W. v. B. Bln. 1996. – Wolfgang Beyrodt: W. v. B. (1845–1929). In: Altmeister Leben. 2 Bde., Bln. 1912) u. quellenkundl. moderner Kunstgesch. Hg. Heinrich Dilly. Bln. Biografien (Amalie, Herzogin von Weimar. 3 2 1999, S. 18–34. – Max Seidel: W. B. als ›Schüler‹ Bde., Bln. 1908. Die Schicksale der Friederike Jacob Burckhardts. In: Storia dell’arte e politica Brion vor und nach ihrem Tode. Bln. 1920) ragt culturale intorno al 1900: la fondazione dell’Isti- die Biografie über Goethes Sohn (Bln. 1918. tuto germanico di storia dell’arte di Firenze. Hg. 31918. Nachdr. hg. v. Gabriele Radecke. Bln. ders. Venedig 1999, S. 55–109. – Catherine B. 2002. 22004) heraus. Indem B. Trunksucht, Scallen: Rembrandt, Reputation, and the Practice Depressionen u. Ehekrisen August von Goeof Connoisseurship. Amsterd. 2004. – Ulrike Wolffthes empathetisch schildert, erhellt er die Thomsen: Die Wachsbüste einer Flora in der BerSchattenseite des großen Vaters. Auf der Methode der indirekten Charakterisierung be-

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ruht auch B.s bedeutende Sammlung Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen. Auch eine Lebensgeschichte (3 Bde., Bln. 1921–23), welche die Vielfalt der zeitgenöss. GoetheRezeption dokumentiert. Ihren Quellenwert bezeugen mehrere Neudrucke (Bern 1969. Bln./Mchn. 1982. Bln./Weimar 1999). Unvollendet blieb das große Unternehmen einer Goethe-Biografie: Goethes Leben (seit 1920) dokumentierte B. bis 1790 (Bd. 7: Rom und Weimar: 1787–1790. Bln. 1923), zwei postum erschienene Folgebände von Valerian Tornius reichen bis 1797 (Bd. 9: Der Bund mit Schiller: 1794–1797. Bln. 1927). Weitere Werke: Goethes Liebesleben. Bln. 1914. Nachdr. Bern 1970. Lpz. 1996. – Goethes Leben im Garten am Stern. Bln. 1909. 161922. – Charlotte v. Stein. Bln. 1910. 61927. – Die Franzosen u. Engländer in Goethes Leben u. Urteil. Bln. 1915. – Goethe zwischen den Propheten (u. Ergo bibamus!). Bln.-Dahlem 1922. – Goethes Schweizer Reisen. Lpz. u. Basel 1922. Nachdr. Zürich 1946. Literatur: Walther Lampe: W. B. In: Mitteldt. Lebensbilder. Bd. 5, Magdeb. 1930. – Jens Riederer in: Weimar-Kultur-Journal 12 (2003), 1, S. 28 f. Achim Aurnhammer

Bodenhausen, Eberhard Frhr. von, * 12.6.1868 Wiesbaden, † 6.5.1918 Meineweh bei Weißenfels/Sachsen-Anhalt. – Industrieller; Kunsthistoriker, Kulturpolitiker u. Mäzen. B., aus niedersächsischem Landadel, studierte nach dem Besuch der Klosterschule Roßleben Jura in Bonn u. Leipzig u. arbeitete anschließend im höheren Verwaltungsdienst (Halberstadt, Potsdam). Parallel betrieb er intensive Kunst- u. Literaturstudien. 1893 fand B. Zugang zum »Schwarzen Ferkel«, einem Berliner Treffpunkt der literar. Moderne. Mit Otto Julius Bierbaum, Richard Dehmel, Julius Meier-Graefe u. Alfred Lichtwark gehörte B. zu den Mitbegründern der exklusiven Kunstzeitschrift »Pan« (1895–1900). 1897 übernahm B. die Geschäftsführung der Tropon-Werke u. wurde in dieser Funktion zu einem der Pioniere der künstler. Reklame. Nach dem Scheitern des »Pan« nahm er 1901 ein kunstgeschichtl. Studium in Heidelberg auf, mit dem Ziel, eine Laufbahn als Kunsthistoriker einzu-

schlagen. 1903 war B. Gründungsmitglied des Deutschen Künstlerbundes u. fungierte bis 1904 als einer seiner Schriftführer. Ein Jahr nach dem Studienabschluss (1905) u. nach erfolgloser Bewerbung um den Direktorenposten des Frankfurter Städel trat B. in die Verwaltung der Firma Krupp ein; ab 1910 gehörte er dem Direktorium, später dem Aufsichtsrat an. Im Okt. 1917 wurde B. zum Reichskanzler vorgeschlagen. Er lehnte die Kandidatur für dieses Amt ebenso ab wie die ihm ein Jahr zuvor angetragene Nachfolge Wilhelm von Bodes als Generaldirektor der Berliner Museen. B. gilt als eine der bedeutendsten Gestalten der Kulturbewegung um die Jahrhundertwende. Mit seinem engen Freund Harry Graf Kessler teilte er den Glauben an eine gesellschaftl. Erneuerung durch Kunst sowie an die ihnen als Kulturträger zukommende Verpflichtung zur Verbreitung dieses Glaubens. Wie Kessler verkörperte B. den Typ des Bildungs- u. Kunstaristokraten mit seiner für das späte Kaiserreich eigentüml. Verbindung von ambitionierter aristokrat. Distinktion, bürgerlicher Liberalität u. national bewusster Internationalität. Kritisch eingestellt gegenüber der wilhelmin. Kunstpolitik, setzte sich B. insbes. für die Rezeption von Malerei u. Plastik des frz. Neo-Impressionismus ein, förderte aber auch als Herausgeber des »Pan« die literar. Moderne in ihren symbolistischen, naturalist. oder impressionist. Varianten. Er wirkte als Übersetzer u. fungierte als Unterstützer u. Mäzen u. a. für Rudolf Borchardt, Rudolf Pannwitz, Rudolf Alexander Schröder, insbes. aber für den belgischen Architekten, Gestalter u. Kunsttheoretiker Henry van de Velde. B.s Briefwechsel mit Hofmannsthal (Hugo von Hofmannsthal, E. v. B.: Briefe der Freundschaft. Hg. Dora v. Bodenhausen. Düsseld. 1953) u. mit Kessler (E. v. B., Harry Graf Kessler: Ein Briefw. 1894–1918. Ausgew. u. hg. v. HansUlrich Simon. Marbach 1978) dokumentieren B.s Haltung zu Kunst u. Literatur. Weitere Werke: Gerard David u. seine Schule. Mchn. 1905 (Monogr.). – Ein Leben für Kunst u. Wirtschaft. Hg. Dora v. Bodenhausen-Degener. Düsseld. 1955.

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Literatur: Nicolas Nabokov: Der Mensch, der andere liebte. In: Der Monat 15 (1962), Nr. 170, S. 41–56. – Otto Heuschele: Umgang mit dem Genius. Mchn. 1974, S. 173–180. – Dominik v. König: Mit großem Sinn für Kollektivitäten. E. v. B.: Ein Leben zwischen Krupp, Kunst u. Kommerz. In: Wirtschaft & Wiss. 2 (1995), S. 20–24. – Felix Billeter: Zwischen Kunstgesch. u. Industriemanagement. E. v. B. als Sammler neoimpressionist. Malerei. In: Die Moderne u. ihre Sammler. Hg. Andrea Popanken u. Felix Billeter. Bln. 2001, S. 125–143. Reinhard Tenberg / Stephan Wolff

Bodenstedt, Friedrich (Martin) von (geadelt 1867), * 22.4.1819 Peine, † 18.4. 1892 Wiesbaden; Grabstätte: ebd., Nordfriedhof. – Lyriker, Reiseschriftsteller, Übersetzer u. Kulturhistoriker.

auf die polit. Verhältnisse des Nachmärz zu verstehen sind, vermitteln schablonenhaft eine heitere, exot. Lebensweise in geschickter orientalischer Verkleidung nach dem Vorbild von Goethes Divan. Aus B.s umfangreichem Œuvre sind v. a. seine Reiseberichte von bleibender Bedeutung. B. schien das selbst erkannt zu haben, denn er beschränkte seine Gesammelten Schriften (12 Bde., Bln. 1865–69) auf eine sorgfältig gesichtete Auswahl. Unbestritten sind seine Verdienste als Übersetzer russischer Werke, v. a. von Lermontow (2 Bde., Bln. 1852), Puschkin (3 Bde., Bln. 1854/55) u. den Erzählungen Turgenjews (2 Bde., Mchn. 1864/ 65). Seit 1858 übersetzte er Dramen altenglischer Dichter u. arbeitete an einer Shakespeare-Neuausgabe mit (9 Bde., Lpz. 1866–72). Seine Erinnerungen aus meinem Leben (2 Bde., Bln. 1888–90) sind ein interessantes Zeitdokument für die Jahre bis 1850.

B. war ein unruhiger, allem Neuen gegenüber aufgeschlossener Geist. Der Sohn eines Brauers war Kaufmannslehrling, bevor er in Göttingen kurzzeitig Geschichte u. FremdWeitere Werke: Erzählungen u. Romane. 7 sprachen studierte. 1840 reiste er nach Mos- Bde., Bln. 1871/72. – Aus dem Nachlasse Mirza kau, wo er Privatlehrer im Haus eines russ. Schaffy’s. Neues Liederbuch. Bln. 1874. – F. B.: Ein Fürsten wurde. 1843 wechselte er als Gym- Dichterleben in Briefen. 1850–92. Hg. Gustav nasiallehrer nach Tiflis. Die Eindrücke dieser Schenk. Bln. 1893. Literatur: Kurt Sundermeyer: B. u. die ›Lieder Zeit beschrieb er in Die Völker des Kaukasus und ihre Freiheitskämpfe gegen die Russen (2 Bde., des Mirza-Schaffy‹. Diss. Kiel 1932. – Ernst Ffm. 1848). Er bereiste Kleinasien (vgl. den Stemplinger: F. v. B. In: NDB. – Issa Chehabi: F. B.s Verdeutschung der Hafisischen Lieder. Diss. Köln kulturgeschichtlich-ethnograf. Reisebericht 1966. – Rudolf Gregor: F. B. als Vermittler russ. Lit. Tausend und ein Tag im Orient. 2 Bde., Bln. in Dtschld. Diss. Lpz. 1965. – Johannes Mundhenk: 1849/50), wohnte ab 1846, rastlos den Auf- F. B. u. Mirza Schaffy in der aserbeidschan. Literaenthalt wechselnd, in München, Triest, Ber- turwiss. Hbg. 1971. – Veronique de la Giroday: Die lin, Frankfurt/M., Bremen, Kassel u. Thü- Übersetzungstätigkeit des Münchner Dichterkreiringen als Mitarbeiter verschiedener Zeitun- ses. Wiesb. 1978. – Lieselotte Kurth-Voigt u. Wilgen. 1854 berief ihn König Maximilian II. von liam McClain: F. B.s ›Lieder des Mirza-Schaffy‹. Bayern nach München, wo er eine Honorar- Zur Entstehung u. Rezeption eines Bestsellers. In: professur für slaw. Sprachen, 1858–1866 für Buchhandelsgesch. 2 (1980), S. B384-B397. – W. H. engl. Literatur innehatte u. Mitgl. der Dich- McClain: F. v. B. In: Nineteenth-Century German Writers, 1841–1900. Hg. James Hardin. Detroit tergesellschaft »Krokodile« war. 1866 siedel1993, S. 17–24. – Mária Rózsa: Stilist. u. sprachl. te B. als Intendant des Hoftheaters nach Probleme in den Onegin-Übers.en v. F. B. u. Károly Meiningen über, trat aber schon 1869 zurück. Bérczy. In: Studia Slavica Academiae Scientiarum Seit 1876 lebte er in Wiesbaden, unterbro- Hungaricae 40 (1995), S. 33–42. – Goedeke Forts. chen nur 1880–1882 von einer Reise in die Bernd Goldmann / Red. Vereinigten Staaten (vgl. Vom Atlantischen zum Stillen Ozean. Lpz. 1882). Bodenstein, Adam von, * 1528 Kemberg/ Große – auch internationale – Beachtung Sachsen-Anhalt, † März 1577 Basel. – fand B. allein mit seinen Liedern des MirzaArzt; paracelsistischer Publizist. 165 Schaffy (Bln. 1851. 1917), die von ihm als Übersetzungen seines Lehrers in Tiflis aus- Der Sohn des Theologen Andreas von Bogegeben wurden. Die Lieder, die als Reaktion denstein (genannt Karlstadt) studierte in Ba-

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sel (1548: Magister artium), Freiburg i. Br., sel 1557. Amberg 1611. – Isagoge (zum ›Rosarium Leipzig u. Mainz u. erlangte in Ferrara die chymicum‹ (Ps.-)Arnalds v. Villanova, mit einer Würde eines Dr. med. (1550). Nach Aufent- Epistola ad Fuggeros). Basel 1559. – Philosoph. halt in Wien (1551) lebte B. vorab in Basel, rhatschlag. o. O. 1577 (Pestschr.). Ausgaben: Onomasticon [...] Theophrasti Paratrat aber auch ins nähere Blickfeld des späteren pfälzischen Kurfürsten Ottheinrich celsi eigne auszlegung [...] seiner wörter. Basel 1575. Nachdr. Hildesh. 1981. – Dedikationen an (1502–1559), der B. zum »Diener von Haus Girolamo Priuli (Basel 1560) u. Ludwig Wolfgang v. aus« bestallte (1553). Sowohl seine lose Zu- Hapsperg (Basel 1562). Hg. Perifano (1996). – Degehörigkeit zum Paracelsistenkreis um Ott- dikation an Cosimo de’ Medici (Basel 1563). Hg. heinrich (Michael Toxites, Alexander von Perifano (1997), S. 151–170 (mit frz. Übersetzung). Suchten) als auch der Umstand, dass ihn – Widmungen u. Vorreden v. 1560 bis 1576. In: CP Ottheinrich »mehrmals gantz gnedig er- I, Nr. 6–30, S. 104–544. mahnet« hatte, »Theophrasti Schrifften zu Literatur: Bibliografie: Karl Sudhoff: Ein Beitr. lesen« (1556), wandelten den galenist. Medi- zur Bibliogr. der Paracelsisten im 16. Jh. In: ZfB 10 ziner in einen »heimlichen Jünger Paracelsi«. (1893), S. 316–326, hier S. 317–320. – Ders.: Ein Nach seiner Aufnahme in das Basler »Consi- Nachtrag [...]. Ebd. 11 (1894), S. 169–172, hier lium facultatis medicae« (1558) bewirkten S. 170. – Ders.: Versuch einer Kritik der Echtheit jedoch Heilerfolge mit Paracelsischer Arznei der Paracels. Schr.en. Tl. 1. Die unter Hohenheims Namen erschienenen Druckschr.en. Bln. 1894, (1556), dass sich B. nun offen zur Hohenpassim. – Guido Jüttner: B. In: DDL. – Weitere Titel: heim’schen »Medicina nova« bekannte. Er August Hirsch: B. In: ADB. – Gerhard Eis: B. In: gab seit 1560 zahlreiche Paracelsica heraus, NDB. – Will-Erich Peuckert: Pansophie. Ein Verwurde deshalb aus dem galenistisch be- such zur Gesch. der weißen u. schwarzen Magie. herrschten »Consilium« ausgeschlossen Bln. 21956, s. v. – Pearl Kibre: B. In: DSB, Bd. 1 (1564) u. entwickelte sich zum führenden (1970), S. 4 f. – Karl-Heinz Weimann: ParacelsusVertreter des oberrhein. Paracelsismus. B., Lexikographie in vier Jahrhunderten. In: Mediein entschiedener Parteigänger Calvins, be- zinhistor. Journal 16 (1981), S. 167–195, hier teiligte sich an religiösen Konflikten in Basel; S. 167–170. – Alfredo Perifano: Les deux dédicaces d’A. de B. au ›De vita longa‹ de Paracelse. In: ferner widmete er sich der chemiatr. Praxis u. Chrysopoeia 5 (1992–96), S. 471–491. – Ders.: Transmutationsalchemie. L’Alchimie à la Cour de Côme Ier de Médicis. SaFachliterarische Bedeutung aber erlangte voirs, culture et politique. Paris 1997, S. 131–141 B. als ein im Dienst der Lehren Hohenheims u. ö. – Ders.: Considérations autour de la Question wirkender Publizist. Er kompilierte zum du Paracelsisme en Italie au XVIe Siècle: Les Verständnis Paracelsischer Fachtermini ein Dédicaces d’A. de B. au Doge de Venise et à Côme Ier Onomasticon (Straßb. 1566: Beigabe zu B.s de Medicis. In: BHR 62 (2000), S. 49–61. – CP I, Ausg. des Opus chyrurgicum Hohenheims. Basel S. 104–544 (mit Biogr. u. weiterer Lit.). – Carlos 1575: überarb. Separatausg.), mit dem die Gilly: B. In: HLS. Joachim Telle frühneuzeitl. Paracelsus-Lexikografie ihren Anfang nahm, u. besorgte über 40 Ausgaben Bodenstein, Andreas von ! Karlstadt, paracelsischer Schriften (erschienen 1560 bis Andreas von 1576). Sie beruhen zwar auf keiner philologisch hochstehenden Leistung; im Verein mit Bodler, Johannes, * 4.12.1629 Lindau, den teilweise von B. unterstützten Paracelsus- † 8.5.1698 Neuburg/Donau. – Jesuit, PreAusgaben des Toxites, Georg Forbergers u. diger. Gerhard Dorns haben sie jedoch Aufkommen u. Fortentwicklung des europ. Paracelsismus 1649 in die Societas Jesu eingetreten, war B. langjähriger Prediger, Beichtvater u. Prinmaßgeblich gefördert. Weitere Werke: Weyssagung Sibylle. o. O. 1557 zenerzieher am Hof des Kurfürsten Wilhelm (Übers. einer Praktika für das Jahr 1557 v. Luca von der Pfalz in Neuburg. Außer einer Reihe Gaurico). – Wie sich meniglich vor dem Cyperlin der fürstl. Familie gewidmeter Einzelpre[...] waffnen solle. Vnnd bericht diser kreüter / So digten verfasste er homilet. Betrachtungen den himmelischen zeichen Zodiaci zu8 geachtet. Ba- u. d. T. Angelus salutis verbi dei praedicator (Wien

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1678), ein Festivale, den Jahreszyklus Fest- Bodman, Emanuel Frhr. von und zu, und feyr-täglicher Predigen Curs, als in einem * 23.1.1874 Friedrichshafen, † 21.5.1946 Wettrennen zu dem Ring der glückseeligen Ewigkeit Gottlieben/Bodensee. – Lyriker, Erzähler, (Dillingen 1683), u. als Pendant dazu ein Dramatiker. Dominicale Die entlarffte Falschheit oder sonntäglicher Predigen-Curs (Dillingen 1697), au- B. entstammte einer alten badischen Adelsßerdem Diskurse über Bewährung, Erklärung familie; sein Vater war württembergischer und Verthädigung deß allerheiligisten Mesz-Opffers Offizier. Nach der Gymnasialzeit in Konstanz (Heidelb. 1688). In der Vorrede zum Festivale studierte er Jura u. Philosophie in Berlin u. begründet B. den häufigen Gebrauch von München. 1905–1910 lebte B. als freier Gleichnissen damit, dass sie dem Prediger die Schriftsteller in Zürich, danach übersiedelte Gedächtnisarbeit erleichterten u. zgl. den er nach Gottlieben/Bodensee. In seinem daZuhörern, »auch den gemeinen, einfältigen«, maligen Wohnhaus ist heute die 1996 geeher verständlich seien »als die Erörterung gründete Thurgauische Bodman-Stiftung einer hohen theologischen Frage«. Er brachte ansässig. Das angeschlossene »Haus der Liteseine zuvor mündlich vorgetragenen Kan- ratur« organisiert Veranstaltungen u. Auszelreden als Muster für weniger eloquente stellungen u. verfügt über eine GästewohAmtsbrüder zum Druck u. begründete ihre nung für Stipendiaten. Ausführlichkeit: Es sei »minder Arbeit und B. war Richard Dehmel u. Rilke freundKunst, wo es nöthig, einen Theil hinwegzu- schaftlich verbunden. In seiner Lyrik ist er der nehmen [...], als einen neuen hinzuzuset- neuromantisch-neoklassizist. Abkehr vom zen«. Gleichwohl sollten nach B.s Ansicht Naturalismus verpflichtet. Eine schwärmePredigten nicht – wie im Kanzelstil des Ba- risch-lyrische Grundhaltung kennzeichnet rock üblich – mit allzu vielen Geschichten auch seine erzählende Prosa u. seine Dramabefrachtet sein; er brachte dazu den bildhaf- tik, die oft autobiogr. Züge tragen. Die histen Vergleich eines mit »überhäufte[r] Speis« torische u. soziale Realität tritt vor dem inbelasteten Magens, dem mit »gemäßigten neren Erleben in den Hintergrund. B. übergekochten Gerichten« besser gedient sei. An nimmt in stark typisierender Weise antike anderer Stelle (Festivale, S. 344) beklagt B., Formen u. Motive zur Darstellung v. a. sittdass das Kirchenvolk den »Briefmahlern« u. lich-religiöser Probleme. »Zeitungsschreibern«, also von MarktschreiDen Gedichtzyklus Der tiefe Brunnen (Konern dargebotenen illustrierten Flugblättern stanz 1924) bezeichnete B. als sein »Seelenu. Bildtafeln mit Monstren u. Wunderzeiepos«; die Dramen Donatello (Bln. 1907), Die chen, eher Glauben schenke als den von PreKrone (Mchn. 1904) sowie Der Ring mit dem digern verkündeten, von der kath. Kirche Karfunkelstein (Konstanz 1923) zeigen seine authentisierten Mirakeln u. Legenden. Die Bemühungen um eine Tragödie neuen Stils. vielfach fließenden Grenzen zwischen Aberglauben u. kirchlicher Lehre sind ein in der Das Theater sollte als Tempel begriffen werBarockpredigt allg. zu beobachtendes Phä- den, u. am Schicksal des Einzelnen sollte sich das Allgemeine offenbaren. Diese Überzeunomen (vgl. z.B. Franz Anton Oberleitner). gung lag auch seiner als erzählerisches Ausgabe: Fromme Seelen haben sich vor dem Gerichts-Tag nit unmässig zubeförchten. In: Pre- Hauptwerk geplanten Autobiografie Mär von digten der Barockzeit. Texte u. Komm. Hg. Werner Sigmund zugrunde, die mit dem Buch der Kindheit (Stgt. 1952) nur zu einem ersten Teil Welzig. Wien 1995, S. 39–49, 541–544. Literatur: Backer/Sommervogel 1, Sp. von ihm abgeschlossen wurde. Im Ersten 1564–1566. – Werner Welzig: Kat. gedr. deutsch- Weltkrieg gab B. patriot. Soldatenlieder hersprachiger kath. Predigtslg.en. Bd. 1, Wien 1984, aus. 1917 hielt er eine Erbauungsrede vor dt. S. 126–130, S. 154 f. Bd. 2, Wien 1987, S. 584 f. – Fronttruppen (Schicksal und Seele. Stgt. 1918). DBA 114,270–272. Elfriede Moser-Rath † / Red. In ihr verband er spätantike Moralphilosophie u. abstrakte Mystik zu einer Predigt von überkonfessioneller Religiosität.

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17 Weitere Werke: Zirkusluft u. Künstlerwelt. E.en, G.e, Tagebuchnotizen. Frauenfeld u. a. 2001. – Früher Mord. Frauenfeld u. a. 2002 (G.e). Ausgaben: Die ges. Werke. Hg. Karl Preisendanz. 10 Bde., Stgt. 1951–60. – Werkausw. Hg. Walter Rügert u. Heinz Bothien. Frauenfeld u. a. 2000 ff. – Briefe: Lassen Sie bald wieder Gutes u. Mutiges v. sich hören. Briefe v. u. an E. v. B. Frauenfeld u. a. 2004. Literatur: Manfred Bosch: Dichterleben am Bodensee. Frauenfeld u. a. 2002. – Jochen Kelter: Lit. auf dem Land. Fünf Jahre B.-Literaturhaus in Gottlieben. In: Allmende 25 (2005), S. 57–61. Jürgen H. Koepp / Red.

Bodmer, Johann Jacob, * 19.7.1698 Greifensee/Kt. Zürich, † 2.1.1783 Zürich. – Dichtungstheoretiker, Übersetzer u. Herausgeber, Verfasser von Dramen u. Epen. Der Sohn eines Pfarrers bezog nach dürftigen Anfängen in einer Lateinschule das Collegium Carolinum in Zürich. Bereits 1718 kehrte er dieser Gelehrtenschule den Rücken, um in Lugano u. Lyon praktische kaufmänn. Kenntnisse zu sammeln. Die Ernte dieses Aufenthalts war jedoch eher literar. Art; seine intimen Kenntnisse ital. u. frz. Autoren gehen auf diese frühe Zeit zurück. Seit 1719 war er in der Zürcher Staatskanzlei tätig. 1727 heiratete er Esther Orell, die Tochter Felix Orells zum Spiegel. 1725 wurde B. als Verweser, 1731 als gewählter Professor auf den Lehrstuhl für Helvetische Geschichte an das Collegium Carolinum berufen, den er bis 1775 innehatte. Zus. mit seinem Neffen Conrad Orell u. dem Landschreiber Konrad von Wyss gründete er die Verlagsbuchhandlung Orell & Comp. Lebhaft war der literar. Verkehr im Hause B.s: Wieland u. Klopstock erfuhren seine Förderung; Goethe, Heinse, Lavater u. Tischbein gehörten zu den Gästen des »munteren Greises« (Goethe). In der Diskussion über einen neuen, den Rationalismus Christian Wolffs u. Johann Christoph Gottscheds überwindenden Poesiebegriff kommt B. eine bedeutende Stellung zu. An der Stärkung eines spezifisch eidgenössisch-republikan. Bewusstseins hatte er entscheidenden Anteil. Entsprechend umfasst B.s Gesamtwerk, an dem Johann Jacob Breitinger maßgeblich beteiligt war, Ge-

sellschaftsschriften, histor. Studien, altdt. u. neuere dt. Texteditionen, Dramen, Epen, einen satir. Roman sowie kritisch-ästhet. Schriften. Politisch-moral. Einfluss versprach sich B. von period. Schriften, die er in Gemeinschaft mit Gleichgesinnten ins Leben rief. 1720 konstituierte sich die Gesellschaft der Mahler, deren Publikationsorgan, die Wochenschrift »Discourse der Mahlern«, in 94 Nummern erschien (1721–23. Neuausg.n: Teildr. 1891. Neudr. 1969). Wegweisend war hier Joseph Addisons »Spectator« (1711/12, 1714), wobei B. eine frz. Ausgabe vorgelegen hat (Amsterd. 1714). Weniger die ästhetischpoetologischen als vielmehr die moralischpolit. Exkurse erregten das Misstrauen der Zürcher Zensurbehörden. »Stark vermehrt« u. strukturell geändert erschienen die »Discourse« später u. d. T. »Der Mahler der Sitten« (1746). Zu den Gründungsmitgliedern einer zeitweilig heimlich tagenden »Dienstags-Companie« (um 1750) gehörten u. a. Salomon Gessner u. der Stadtarzt Johann Georg Schulthess. Ihr Publikationsorgan »Crito« erschien lediglich für das Jahr 1751. Die vielfältigen Arbeitsgebiete B.s – u. teilweise auch Breitingers – kommen in einer Reihe von Zeitschriften zur Geltung. Beiträge zur Literaturkritik älterer u. neuerer Epochen vereinigt die Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvoller Schriften (Stücke 1–12, Zürich 1741–44). Distanzierte Wissenschaftssprache u. Polemik (meist gegen Gottsched) gehen hier ineinander über. Vorwiegend der Wiederentdeckung u. Neubewertung mhd. Denkmäler sollten die »Freimüthigen Nachrichten von neuen Büchern, und anderen zur Gelehrtheit gehörigen Sachen« (Jg. 1–8, 1744–51) dienen. Eindeutig die Stärkung republikan. Bewusstseins verfolgten B. u. Breitinger mit der Herausgabe der Helvetischen Bibliothek (6 Stücke, 1735–41), in der die geistige Nähe zur Geschichtsauffassung Montesquieus deutlich wird. Bleibende Verdienste kommen B. auf dem Gebiet der germanist. Wissenschaftsgeschichte zu. Nicht zuletzt ist es dieser Themenkomplex der Mittelalterrezeption, der Versuch, das »güldene schwäbische Alter« für das 18. Jh. fruchtbar zu machen, dem die neuere Forschung vermehrt ihre Aufmerk-

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samkeit widmete. Zus. mit Breitinger richtete er nach 1743 seine Aufmerksamkeit auf den sog. Minnekodex (heute: Große Heidelberger Liederhandschrift. Cod. pal. germ. 848. Zu B.s Zeit in der Kgl. Bibl. Paris) u. das Nibelungenlied. Nach langwierigen Verhandlungen u. durch Vermittlung des Straßburger Gelehrten Johann Daniel Schöpflin erhielten die beiden 1746 die Handschrift zur Einsicht. Von den 140 Sängern des Codex stellten sie 18 der Öffentlichkeit vor in den Proben der alten schwäbischen Poesie des Dreyzehnten Jahrhunderts (Zürich 1748). 1758 legten sie den ersten, 1759 den zweiten Teil der Sammlung von Minnesingern aus dem schwäbischen Zeitpuncte (Straßb.) vor; aufgenommen wurden alle 140 Sänger. Vorausgegangen war der Edition eine von B. u. Breitinger veranstaltete Ausgabe von Ulrich Boners Edelstein u. d. T. Fabeln aus den Zeiten der Minnesinger (Zürich 1757). In die zweite Hälfte der 1750er Jahre fällt auch die Beschäftigung mit dem Nibelungenlied. Die literar. Transaktion ging zurück auf die Vermittlung des Mediziners Jacob Hermann Obereit, der auf den Aufbewahrungsort, Schloss Hohenems/Vorarlberg, aufmerksam gemacht hatte (Hs. C, Hohenems-Laßbergische Hs.). 1757 erschien die Ausgabe Chriemhilden Rache, und die Klage, zwey Helden-Gedichte aus dem schwäbischen Zeitpuncte (Straßb.); nur das letzte Drittel des Nibelungenlieds sowie die »Klage« wurden aufgenommen. Charakteristisch ist die Auflösung der Langzeilen in Kurzzeilen. B.s Editionsprinzipien sind nur zu verstehen, wenn man seinen histor. Ort berücksichtigt. In der Einteilung beruft er sich auf die Darstellungsweise Homers, die ihm seit der Lektüre Theodor Blackwells vertraut war. Erst nach Breitingers Tod befasste sich B. erneut mit Editionsplänen, ohne dass er zu einem Abschluss gekommen wäre. Ergänzt wurden seine altdt. Bemühungen durch eine Reihe freier Bearbeitungen des Parzival-, Nibelungen- u. Willehalm-Stoffs, bezeichnenderweise zumeist in Hexametern (Der Parcival. In: Calliope von Bodmern. Bd. 2, Zürich 1767. Wilhelm von Oranse. Zürich 1774). Erst in der Sammlung Altenglische und altschwäbische Balladen. In Eschilbachs Versart (Zürich 1781) befreit sich B. vom Hexameterzwang. Sowohl zum Minnesang als auch

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zur mhd. Epik, altengl. u. altnord. Dichtung erschienen zahlreiche Einzelbeiträge, u. a. in den Critischen Briefen (Zürich 1746), den Neuen Critischen Briefen (Zürich 1749) u. den Freymüthigen Nachrichten (1744 ff.). Nicht zuletzt durch literar. Übersetzungen versprach sich B. die Anerkennung seiner ästhetisch-poetolog. Vorstellungen. Sowohl seine Milton- als auch seine Homer-Übersetzung (1778) übten nachhaltigen Einfluss auf Zeitgenossen aus (Klopstock, Herder, Wieland). Fünf Jahrzehnte beschäftigte ihn Miltons Paradise Lost: Die erste Auflage (Verlust des Paradieses) erschien in Zürich 1732, eine sechste 1780. B.s Affinität zur engl. Literatur fand ihren Niederschlag in den Übertragungen der Satiren Samuel Butlers u. Popes (Hudibras. Zürich 1737. Alexander Popens Duncias. Zürich 1747), die in die literar. Fehde mit Gottsched eingriffen. Im Zusammenhang mit der Klärung des eigenen Stilideals steht die Herausgabe einiger neuerer dt. Texte (Ludwig Meyer von Knonau: Ein halbes Hundert neuer Fabeln. Zürich 1744. Samuel Gotthold Lange u. Immanuel Jakob Pyra: Thirsis und Damons freundschaftliche Lieder. Zürich 1745. N. [recte: Christian] Wernike: Poetische Versuche in Überschriften [...]. Zürich 1749). Als bemerkenswertes Dokument in der Editionsgeschichte neuerer dt. Texte kann B.s gemeinsam mit Breitinger veranstaltete Ausgabe Martin Opitzens von Boberfeld Gedichte (Zürich 1745; nur der 1. Tl. erschienen) gelten. Zum Korpus der kleineren ästhet. Schriften gehört die zus. mit Breitinger verfasste Schrift Von dem Einfluss und Gebrauche der Einbildungs-Krafft (Ffm./Lpz. 1727), die Christian Wolff dediziert wurde. Nach Ausweis der »Vorrede« ist sie nur der kleinere Teil eines größeren Plans. Einbildungs-Krafft wird hier noch ganz im Sinne Wolffs u. Gottscheds mit dem Witzbegriff in Verbindung gebracht. Eine Sonderstellung innerhalb des Korpus der ästhet. Schriften nimmt der Brief-Wechsel von der Natur des poetischen Geschmackes (Zürich 1736. Neudr. Stgt. 1966) ein. Dieses bedeutende Zeugnis eines dt.-ital. Austauschs über Fragen des guten Geschmacks, der Rolle der Empfindung sowie der Wirkungen der Tragödie beruht auf 76 Briefen, die zwischen B.

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u. Pietro dei Conti di Calepio in Bergamo gewechselt wurden. Auf Gemeinsamkeiten zwischen dem Briefwechsel u. Lessings Hamburgischer Dramaturgie (Diskussion der aristotel. Affekte) wurde gelegentlich hingewiesen. Bis in die 1720er Jahre lässt sich die Entstehung der beiden großen dichtungstheoret. Schriften B.s zurückverfolgen. So eignet dem Traktat Anklagung des verderbten Geschmackes (Ffm./Lpz. 1728. Gewidmet Johann Ulrich König) der Charakter eines Prolegomenons insofern, als hier Gottscheds »Tadlerinnen« u. »Patriot« in ihrer Substanz in Zweifel gezogen werden. Die Diskussion der großen Epentradition (Milton, Dante, Tasso, Homer) steht im Mittelpunkt der Critischen Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen (Zürich 1740. Neudr. Stgt. 1966) sowie der Schrift Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde der Dichter (Zürich 1741. Neudr. Ffm. 1971). Mit dem Verweis auf Addison u. die spätantike Autorität eines Pseudo-Longin (Peri Hypsous, Über das Erhabene) rechtfertigt B. insbes. den kühnen Bildgebrauch Miltons – seine »Gemählde« – als affektsteigerndes Mittel gegen die Kritik Voltaires u. Gottscheds. Damit fügen sich seine Überlegungen ein in die Ästhetik des Erhabenen, die für die Dichtersprache des 18. Jh. bedeutsam wurde (Klopstock, Göttinger Hainbund). Freilich bleibt festzuhalten, dass das »Wunderbare« noch nicht ästhet. Kategorie in der Sicht der Romantik wird, sondern zunächst an die Vorstellung des »Wahrscheinlichen« gebunden bleibt. Dass B. Anteil an der Entstehung der ästhetisch-poetolog. Hauptschriften Breitingers von 1740 nahm, ist gesichert: Zu beiden Büchern steuerte er die »Vorrede« bei. B.s eigene dichter. Versuche blieben meist Gegenstand des Spotts. Angeregt durch Klopstocks Messias u. Miltons Paradise Lost, legte er 1750 die Gesänge 1 u. 2 des Epos Noah ein Heldengedicht vor (1. vollst. Ausg. Ffm./Lpz. 1752), das einige Zustimmung fand. Seine Dramen, gedacht als reine Lesedramen, behandeln Stoffe der griechisch-röm. Antike (Marcus Brutus. Zürich 1778), der vaterländ. Überlieferung (Tell-Stoff), der engl. u. ital. Geschichte (Hungerthurm in Pisa. Chur/Lindau 1769), des AT u. des NT (Der Tod des ersten

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Menschen. Zürich 1776). In polemisch-parodistischer Weise bezog B. Stellung gegen Lessings Emilia Galotti (Odoardo Galotti. Augsb. 1778) u. Philotas (Polytimet. Zürich 1760). Die dramaturg. Intentionen seiner Zeitgenossen blieben ihm grundsätzlich fremd. Es war v. a. Lessing, der einer Dramaturgie des bewunderten Helden ein Ende setzte. Weitere Werke: Crit. Lobgedichte u. Elegien. Zürich 1747. – Edward Grandisons Gesch. in Görlitz. Bln. 1755 (satir. R.). – Neue theatral. Werke. Lindau 1768. – Polit. Schausp.e. 3 Bde., Zürich 1768. – Schweizer. Schausp.e. o. O. 1775. – Herausgeber: Paragone della poesia tragica d’Italia con quella di Francia. Verf.: Pietro dei Conti di Calepio. Zürich 1732. Literatur: Franz Servaes: Die Poetik Gottscheds u. der Schweizer. Literarhistorisch untersucht. Straßb. 1887. – Friedrich Braitmaier: Gesch. der poet. Theorie u. Kritik v. den Diskursen der Maler bis auf Lessing. 2 Bde., Frauenfeld 1888/89. – Jakob Baechtold: Gesch. der dt. Lit. in der Schweiz. Frauenfeld 1892. Neudr. 1919. – J. J. B. Denkschr. zum 100. Geburtstag. Zürich 1900. – Max Wehrli: J. J. B. u. die Gesch. der Lit. Frauenfeld 1936. – Nicola Accolti Gil Vitale: Verso la critica letteraria. Gottsched, B. e Breitinger, Lessing. Varese 1952. – Rinaldo Boldini: Gian Giacomo e B., Pietro di Calepio. Incontro della ›Scuola Svizzera‹ con il pensiero estetico italiano. Mailand 1953. – Enrico Straub: Der Briefw. Calepio – B. Ein Beitr. zur Erhellung der Beziehungen zwischen ital. u. dt. Lit. im 18. Jh. Diss. Bln. 1965. – Wolfgang Bender: J. J. B. u. Johann Miltons ›Verlohrnes Paradies‹. In: JbDSG 11 (1967), S. 225–267. – Ders.: J. J. B. u. J. J. Breitinger. Stgt. 1973 (mit Bibliogr.). – Helga Brandes: Von den ›Discoursen der Mahlern‹ (1721–23) zum ›Mahler der Sitten‹ (1746). Ein Beitr. zur Publizistik der Aufklärung. Bremen 1974. – Karl S. Guthke: Literar. Leben im 18. Jh. in Dtschld. u. in der Schweiz. Bern/Mchn. 1975. – JanDirk Müller: J. J. B.s Poetik u. die Wiederentdeckung mhd. Epen. In: Euph. 71 (1977), S. 336–352. – Peter Faessler: Die Zürcher in Arkadien. Der Kreis um J. J. B. u. der Appenzeller Laurenz Zellweger. In: Appenzellische Jbb. 107 (1979), S. 1–48. – Angelika Wetterer: Publikumsbezug u. Wahrheitsanspruch. Der Widerspruch zwischen rhetor. Ansatz u. philosoph. Anspruch bei Gottsched u. den Schweizern. Tüb. 1981. – Horst-Michael Schmidt: Sinnlichkeit u. Verstand. Zur philosoph. u. poetolog. Begründung v. Erfahrung u. Urteil in der dt. Aufklärung (Leibniz, Wolff, Gottsched, B. u. Breitinger, Baumgarten). Mchn. 1982. – Daniel O.

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Dahlstrom: The taste for tragedy: the ›Briefwechsel‹ of B. and Calepio. In: DVjs 59 (1985), S. 206–223. – Hans Otto Horch u. Georg-Michael Schulz: Das Wunderbare u. die Poetik der Frühaufklärung. Gottsched u. die Schweizer. Darmst. 1988. – Felix Leibrock: Aufklärung u. Mittelalter. B., Gottsched u. die mittelalterl. dt. Lit. Ffm. 1988. – Albert M. Debrunner: Das güldene schwäb. Alter. J. J. B. u. das MA als Vorbildzeit im 18. Jh. Würzb. 1996. – Mathias Janßen: Findet den, der es gemacht hat! Über Autor, Text u. Ed. bei J. J. Bodmer u. J. Grimm. In: Text u. Autor. Hg. Christiane Henkes. Tüb. 2000, S. 5–32. – Helga Brandes: Frühe Diskurse der Aufklärung. Über B. u. Breitinger. In: Literar. Zusammenarbeit. Hg. Bodo Plachta. Tüb. 2001, S. 17–23. – Annegret Pfalzgraf: Eine Deutsche Ilias? Homer u. das ›Nibelungenlied‹ bei J. J. B. Zu den Anfängen der nat. Nibelungenrezeption im 18. Jh. Marburg 2003. – Rosemarie Zeller: Literary developments in Switzerland from B., Breitinger, and Haller to Gessner, Rousseau, and Pestalozzi. In: German literature of the eighteenth century. The Enlightenment and Sensibility. Hg. Barbara Becker-Cantarino. Rochester 2005, S. 131–153. Wolfgang F. Bender

Romans Die Rosse des Urban Roithner (Innsbr. 1950. Wieder in: Gesammelte Werke. Bd. 1, Karlsr. 1982) steht ein Bauer aus der Landschaft des Waldviertels, dessen Identität durch den Konflikt zwischen Bodenständigkeit u. Bewegung zerstört wird. B.s Werk steht in der konservativen Traditionslinie österreichischer Literatur, die v. a. in den 1950er u. 1960er Jahren einflussreich war. Weitere Werke: Die Jahreszeiten. Bln. 1940 (L.). – Solange es Tag ist. Innsbr. 1953 (R.). – Sieben Handvoll Salz. Wien 1958. St. Pölten 1984 (R.). – Haiku. Mchn. 1962. Neuausg. 2002 (L.). – Sonnenuhr. Salzb. 1973 (L.). – Die Bartabnahme. Karlsr. 1982 (R.). Ausgabe: Ges. Werke in Einzelausg.n. Karlsr. 1982 ff. (bisher 3 Bde. ersch.). – Briefw. 1959–76. Martin Heidegger – I. v. B. Hg. Bruno Pieger. Stgt. 2000. Literatur: Gottfried W. Stix: Vom Geheimnis der Landschaft. Zu I. v. B.s Dichtung. In: Lenau-Jb. 24 (1998), S. 7–20. – Fausto Cercignani (Hg.): Hugo v. Hofmannsthal, I. v. B. u. a. In: Studia austriaca 9 (2001). Sabine Scholl / Red.

Bodmershof, Imma von, * 10.8.1895 Graz, † 26.8.1982 Gföhl/Niederöster- Boeck, Carl von der, auch: C. Dauer, C. V. reich. – Verfasserin von Bauernromanen Derboeck, * 22.5.1832 Münster, † 22.9. u. Gedichten. 1892 Berlin. – Mundarterzähler, Kolportage- u. Jugendromanautor. Die Tochter des Begründers der Gestaltlehre, Christian von Ehrenfels, schuf mit ihrer Prosa aus präziser Kenntnis des Landlebens zu Sinnbildern erhobene Figuren u. Konstellationen. Ihr Werk, 1958 mit dem Großen Österreichischen Staatspreis ausgezeichnet, sucht eine zunehmend fragwürdig gewordene Traditions- u. Heimatverbundenheit zu stützen. Der Erfahrung von zerstörten Traditionen setzt B. eine Relativierung von Geschichte zugunsten von Ereignissen entgegen u. bekennt sich zu einer »allzeit gültigen« Sprache (»Es kommen keine Läuse über diese Worte«), die in Überwindung von Naturalismus u. Ästhetizismus eine klass. Entsprechung von schön u. wahr behauptet. In der Erzählung Stadt in Flandern (Bln. 1939) beschreibt sie die Position des Menschen im 20. Jh., dessen Ort jene Stadt ist, die durch Versandung den Anschluss ans Meer u. damit an die Natur verloren hat. Im Mittelpunkt ihres ersten

B. stammte aus einer preuß. Offiziersfamilie u. trat 1850 in das preuß. Kadettencorps ein. 1854 beendete er aus gesundheitl. Gründen seine militär. Laufbahn, um anschließend nach Amerika auszuwandern. Als Angehöriger der britisch-amerikan. Fremdenlegion nahm er am Krimkrieg teil, kehrte schließlich nach Deutschland zurück u. arbeitete zunächst als Redakteur der »Westfälischen Zeitung« in Dortmund, ab 1866 als freier Schriftsteller in Berlin. Im selben Jahr meldete er sich als Freiwilliger im preußischösterr. Krieg. Neben hochdt. Kolportage- u. Jugendromanen verfasste er auch plattdt. Texte. Obwohl aus Westfalen stammend, bediente sich der Reuter-Epigone B. dabei der Mecklenburgischen Mundart. Sein Roman Spledder un Spöhn (2 Tle., Bln. 1879/80) beschreibt humorvoll das Landleben in Mecklenburg. In Aufbau, Stil u. Sprache kann er sich mit den

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Romanen Reuters nicht messen, auch wenn einige Figuren plastisch geschildert werden. Sein hochdt. Werk ist heute nahezu vergessen. Weitere Werke: Luise, Königin v. Preußen. Ein Vorbild weibl. Tugenden. Bln. 1881 (E.). – Robinson im Diamantenlande. Bln. 1882 (E.). Literatur: Rudolf Eckart: Hdb. zur Gesch. der plattdt. Lit. Bremen 1911. Jörg Schilling / Red.

Boeckh, August, * 24.11.1785 Karlsruhe, † 3.8.1867 Berlin; Grabstätte: ebd., Dorotheenstädtischer Friedhof. – Altertumswissenschaftler. B. studierte in Halle bei Schleiermacher u. Friedrich August Wolf, den Begründern der modernen Altertumswissenschaft u. der neuen hermeneut. Textkritik. 1807 wurde er zum a. o. Professor, 1809 zum Ordinarius in Heidelberg ernannt, wo er klass. Literatur u. Geschichte der antiken Philosophie lehrte. Er stand in enger Verbindung mit Friedrich Creuzer, auch mit Carl Daub, u. lieferte zu deren »Studien« mehrere Beiträge. Ebenso schloss er sich dem Kreis der Romantiker um Brentano, Arnim u. Görres an. In Arnims »Zeitung für Einsiedler« finden sich einige von B. übersetzte Sonette. 1810 folgte B. einem Ruf an die neu gegründete FriedrichWilhelms- (die spätere Humboldt-) Universität. Im Verlauf seiner 56 Jahre währenden Lehrtätigkeit erwarb er sich große Verdienste um den Aufbau u. den Fortbestand dieser Universität, übernahm mehrfach das Amt des Dekans der Philosophischen Fakultät wie auch des Rektors. Seit 1814 gehörte er der Akademie der Wissenschaften an, lange Jahre als ihr erster Sekretär. B. hat in Forschung u. Lehre die Entwicklung der gesamten Altertums- u. Geschichtswissenschaft des 19. Jh. maßgeblich geprägt. Durch seine akribischen historisch-antiquar. Forschungen trug er viel zur Entmythisierung des vom Klassizismus verbreiteten Idealbildes der griech. Antike bei. In seinem Hauptwerk Staatshaushaltung der Athener (2 Bde., Bln. 1817. 21851) gab er eine nüchterne Darstellung nicht nur des staatl. Finanzsystems, sondern des gesamten volkswirtschaftl. Aufbaus des griech. Gemeinwesens, womit er

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einer historisch-kultursoziolog. Ausrichtung in Altertumskunde wie Geschichtsforschung den Weg ebnete. Bahnbrechend waren auch seine Untersuchungen über die Geschichte des griech. Kalenders, über Astronomie, Maßsysteme, Epigraphik u. v. a. über Musik des klass. Altertums. Als Mentor dieser realphilolog. Neuorientierung löste er teilweise heftigen Widerspruch bei den strikt sprachlich-textkritisch verfahrenden Vertretern seines Fachs (insbes. Gottfried Hermann) aus. Für die Literaturwissenschaft hat B. als ein von Schleiermacher inspirierter Repräsentant der romant. Hermeneutik Bedeutung erlangt. Er machte zahllose Generationen von Studenten mit der eigentl. Aufgabe der Philologie, dem »Erkennen des Erkannten«, vertraut (vgl. seine postum edierten Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften. Lpz. 1877. 21884. Neudr. Darmst. 1966). Abweichend von Schleiermacher legte er starkes Gewicht auf das intuitive Moment des Verstehens, das »Talent zur Kongenialität«. B.s Einfluss auf das theoretisch-philosoph. Selbstverständnis der Geisteswissenschaften reicht über Dilthey, Simmel, Scheler bis hin zu Gadamer. Weitere Werke: Graecae tragoediae principium, Aeschyli, Sophoclis, Euripidis. Heidelb. 1808. – De metris Pindari libri III. Lpz. 1809. – De platonico systemate caelestium globarum. Heidelb. 1810. – Corpus inscriptionum Graecarum. 4 Bde., Bln. 1828–58. – Kleine Schr.en. 7 Bde., Lpz. 1858–74. – Briefw. Friedrich Schleiermachers mit A. B. u. Immanuel Bekker. 1806–20. Hg. Heinrich Meisner. Bln. 1916. Literatur: Konrad Bursian: Gesch. der class. Philologie in Dtschld. 1. Hälfte, Mchn./Lpz. 1883, S. 655–705. – Max Hoffmann: A. B. Lpz. 1901. – Walther Vetter: A. B. In: NDB. – Johannes Irmscher: A. B. u. seine Bedeutung für die Entwicklung der Altertumswiss. In: Jb. für Wirtschaftsgesch. 1971, S. 107–118. – J. A. G. Klassen: A. B.s Hermeneutik, and its relation to contemporary literary scholarship. Diss. Stanford 1973. – Ernst Vogt: Der Methodenstreit zwischen Hermann u. B. In: Philologie u. Hermeneutik im 19. Jh. Hg. Helmut Flashar u. a. Gött. 1979, S. 103–121. – Bernd Schneider: A. B. Altertumsforscher, Universitätslehrer u. Wissenschaftsorganisator im Bln. des 19. Jh. Ausstellung zum 200. Geburtstag. Bln. 1985. –

Boeckler J. Irmscher: Die griech.-röm. Altertumswiss. am Übergang vom Klassizismus zum Historismus: zur 200. Wiederkehr der Geburtstage v. I. Bekker u. A. B. im Jahre 1985. Bln. 1986. – Axel Horstmann: Antike Theoria u. moderne Wiss. A. B.s Konzeption der Philologie. Ffm. u. a. 1992. – B. Schneider: A. B. In: DBE. – Christiane Hackel: Die Bedeutung A. B.s für den Geschichtstheoretiker Johann Gustav Droysen. Würzb. 2006. Jochen Fried / Red.

Boeckler, Boeclerus, Johann Heinrich, * 13.12.1611 Cronheim/Mittelfranken, † 12.9.1672 Straßburg. – Historiker u. Politologe. B. besuchte das Gymnasium in Heilbronn, studierte in Altdorf, dann v. a. in Straßburg u. wurde dort zuerst zum Lehrer am Gymnasium, dann zum Professor für Rhetorik ernannt (1637). Wenige Jahre später (1640) trat er die Nachfolge seines Lehrers Matthias Bernegger auf dem Lehrstuhl für Geschichte an. Nach Kriegsende berief ihn Königin Christina zuerst nach Uppsala (1649), bald darauf als Hofhistoriografen nach Stockholm (1650). Frucht dieses Aufenthaltes war v. a. seine Geschichte des schwedisch-dänischen Krieges von 1643–1645. Von der Königin mit einem Ehrensold bedacht, kehrte er, angeblich wegen des nordischen Klimas, schon 1652 nach Straßburg zurück u. entfaltete – auch im Briefwechsel mit namhaften Gelehrten u. Politikern (Hermann Conring, Johann Christian von Boineburg) – auf seinem alten Lehrstuhl (1654) eine rege Tätigkeit, die namhafte Schüler anzog (Leibniz, Spener, Veit Ludwig von Seckendorff). Schon vorher (1647) hatte der junge Andreas Gryphius bei B. gehört, der in lat. u. dt. Sprache auch mancherlei Kasualgedichte zu Papier brachte, u. hatten die Mitglieder der Straßburger Tannengesellschaft, v. a. deren Gründer Rompler von Löwenhalt (Briefwechsel), den Kontakt zu B. gesucht. Der reichstreue Lutheraner B. behandelte die großen Themen der Reichs- u. Universalgeschichte, allerdings wie bei Justus Lipsius zugeschnitten auf den modernen Typus des »Politikers«, v. a. in der humanist. Tradition der Quellenexegese, wobei er nament-

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lich in Tacitus den Gewährsmann einer kaiserzeitl. Literatur erblickte, in der modellhaft die Praktiken, Konflikte u. Probleme des modernen Fürstenstaates, auch die Herausforderungen eines Machiavelli vorgeprägt erschienen. Als einer der ersten akadem. Kommentatoren von Hugo Grotius’ De iure belli et pacis trug B. zgl. dazu bei, Theoreme des Naturrechts u. der interkonfessionellen Toleranz zu verbreiten. Eine zuverlässige Werkbibliografie u. eine hinreichende monograf. Abhandlung zu B. bleiben Desiderate. Werke: Dissertatio de Politicis Iusti Lipsii. Straßb. 1642. – In Corn. Taciti quinque libros histor. superstites. Annotatio politica. Straßb. 1648. – De Eloquentia Politici libellus. Straßb. 1654. – Dissertationes academicae. 3 Bde., Straßb. 1658–1712. – Museum ad Amicum. Straßb. 1672. – Institutiones Politicae. Accesserunt dissertationes politicae. Straßb. 1674. – In Hippolithi a Lapide Dissertationem de Ratione Status in Imperio nostro Romano Germano animadversiones. Straßb. 1674. – (An.): Bibliographia Historico-Politico-Philologica Curiosa. Germanopoli (d. i. Ffm.?) 1677. – Historia belli Danici 1643–45. Straßb. 1679. – Historia universalis. Straßb. 1680. 31704. – Minervae Tyrocinium Oder Praxis der Böcklerischen Anweisung Wie man die Authores Classicos bey und mit der Jugend tractiren soll. Straßb. 1680. – Orationes et programmata. Straßb. 1705. – Opera in quatuor tomos tributa. Straßb. 1712. – Bibliographia critica. Lpz. 1715. – Collegium Politicae posthumum [...] Von dem weitberühmten [...] J. H. Böcklern privatim ad calamum dictirt [...]. Hg. Wolf-Dietrich Wendel. o. O. u. J. (s. Bopp, S. 121 f.). Literatur: Paul Wentzcke: J. H. B. In: NDB. – Marcel Thomann: J. H. B. In: NDA. – G. Jacobson: J. H. B. In: Svenskt Biografiskt Lexikon. Bd. 5 (1925), S. 113–117. – E. Jirgal: J. H. B. In: MIÖG 45 (1931), S. 322–384. – Anna H. Kiel: Unveröffentlichte Briefe des Jesajas Rompler v. Löwenhalt an J. H. B. (1647–48). In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins N. F. 56 (1943), S. 232–255. – Johannes Wallmann: Philipp Jakob Spener u. die Anfänge des Pietismus. Tüb. 21986, S. 82–85. – Michael Stolleis: Lipsius-Rezeption in der politisch-jurist. Lit. des 17. Jh. in Dtschld. [1987]. In: Ders.: Staat u. Staatsräson in der frühen Neuzeit. Ffm. 1990, S. 232–267, bes. 258 ff. – Wolfgang Weber: Prudentia Gubernatoria. Studien zur Herrschaftslehre in der dt. polit. Wiss. des 17. Jh. Tüb. 1992, bes. S. 140–145. – Stefan Kiedron: Andreas Gryphius zwischen Straßburg u. Leiden: ein unbekannter

23 Brief v. J. H. B. an Claude de Saumaise. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 19 (1992), S. 86–89. – Fiammetta Palladini: Un nemico di S. Pufendorf: J. H. B. In: Ius commune 24 (1997), S. 133–152. – Monika Bopp: Die ›Tannengesellschaft‹. Studien zu einer Straßburger Sprachgesellsch. v. 1633 bis um 1700. Ffm. 1998, S. 119–123. – Wilhelm Kühlmann: Gesch. als Gegenwart. Formen der polit. Reflexion im dt. ›Tacitismus‹ des 17. Jh. In: Kühlmann/Schäfer (2001), S. 41–60. – Martin Disselkamp: Barockheroismus. Tüb. 2002, S. 69–82 (zu B.s ›Historia schola principium‹). – Dietmar Thill: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. u. 18. Jh. Tüb. 2004, S. 157–159. – Jaumann Hdb. – Justin Stagl: J. H. Boeclers reisetheoret. Schr. ›De Peregrinatione Germanici Caesaris‹ (1654). In: Frühneuzeitl. Bildungsreisen im Spiegel lat. Texte. Hg. Gerlinde Huber-Rebenich u. Walther Ludwig. Weimar/Jena 2007, S. 169–182. Wilhelm Kühlmann

Böckler, Otto Heinrich, auch: O. H. Johannsen, * 23.6.1867 Oranienburg, † 16.6.1932 Berlin. – Verfasser von Erzählungen u. Gedichten. Der Journalist B. war 1894–1896 Führer der antisemit. Bewegung in Stettin (1894 Mitbegründer der antisemitisch-großdt. Zeitung »Frei-Deutschland«). Nachdem er bereits durch eine Reihe »vaterländischer Schauspiele« u. histor. Erzählungen hervorgetreten war (u. a. Jatschko von Köpenick. Bln. 1899. Die letzte Schlacht. Bln. 1903. Markgraf Waldemar. Bln. 1904), veröffentlichte er während des Ersten Weltkriegs als Redakteur an Berliner Zeitungen chauvinist. Kriegsgedichte (Gedichte aus eiserner Zeit. 4 H.e, Bautzen 1914), nicht zuletzt mit dem Ziel einer Mobilisierung der Jugend zur Kriegsbegeisterung. Nach dem Weltkrieg engagierte B. sich u. a. mit der Sammlung Zu Trost und Trutz (1919) als Propagandist bedingungsloser Rache an den Siegermächten, der Dolchstoßlegende u. eines antichristlichen, »artgemäßen« Gottesglaubens (etwa in dem Gedicht Der deutsche Gott). Auch spätere Sammlungen historischer u. Zeit-Gedichte waren von dieser Haltung bestimmt (Landgraf, werde hart! Küstrin-Neustadt 1928). Weitere Werke: Der Franzosenring. Bautzen 1912 (E.). – Einquartierung. Bautzen 1913 (E.).

Bödiker Literatur: Brümmer. – Kosch TL, Bd. 1 (1953), S. 168. Heinrich Detering / Red.

Bödiker, Bödicker, Johann, * 1.5.1641 nahe Stettin, † 27.8.1695 Cölln. – Philologe u. Verfasser von Gelegenheitsschriften. Der Bauernsohn besuchte das Gymnasium zu Cölln an der Spree u. war dort Schüler Samuel Müllers. Im Sommersemester 1662 immatrikulierte er sich an der Universität Jena, wo der Mathematiker Erhard Weigel u. der Historiker Johann Andreas Bose seine wichtigsten Lehrer waren. 1665 wurde er Prediger zu Parstein in der Uckermark, 1673 Konrektor, 1675 Rektor am Gymnasium zu Cölln. Der Pädagoge erregte auch Aufsehen durch die gelehrte Ausbildung seiner Töchter. B. verfasste, ausgehend von den sprachtheoret. Arbeiten Justus Georg Schottelius’, eine praxisnahe, stark rezipierte Schulgrammatik, die Grund-Sätze der deutschen Sprachen im Reden u. Schreiben (Cölln a. d. Spree 1690. Bln. 1698. 71746), u. arbeitete an einem Wörterbuch zur Sprache der Mark Brandenburg. Er veröffentlichte zahlreiche Reden u. Abhandlungen zu pädagogischen u. philolog. Themen u. machte sich mit lat. u. dt. Gelegenheitsgedichten auf Mitglieder des brandenburgischen Herrscherhauses einen Namen als Hofdichter. Seine Prosaekloge Nymphe Mycale (Bln. 1685) ist die erste poet. Genealogie des brandenburgischen Fürstenhauses. Weitere Werke: Christl. Bericht v. Cometen, als der grosse Comet 1680 u. 1681 geleuchtet [...]. Cölln an der Spree 1681. – Einzug u. Feuerwerck, als [...] Friderich [...] Chur-Printz zu Brandenburg [...] seine [...] Gemahlinn [...] Sophia Charlotta [...] heimführete. Cölln (1684). – Erklärung der hieroglyph. Sinn-Bilder. Cölln 1685. – Ein Teil der sehr seltenen Schr.en in dem Band ›Joh. Boedickeri, opuscula quaedam [...] ab anno 1674 edita‹ der Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz Berlin. Ausgaben: Fischer/Tümpel 3, S. 488–491. – J. B.s Grundsäze der teutschen Sprache mit dessen eigenen u. Johann Leonhard Frischens vollst. Anmerkungen. Durch neue Zusätze vermehret v. Johann Jacob Wippel. Bln. 1746. Neudr. Lpz. 1977. Literatur: Christian Rotaridis: Denck-Altar, bey [...] Leichbestattung. Des [...] Johannis Bödikeri [...]. 1695. In: J. B.: Triumphbogen, denen SeligVerstorbenen [...]. Hg. Carl Etzard Bödiker. Tl. 2,

Böhlau

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Ffm./Lpz. 1699, S. 1174–1212. – Wilhelm Scherer: J. B. In: ADB. – Carl Daniel Küster: Altes u. Neues Berlin. Bd. 1, Bln. 1737, S. 975. – Raisa Ibragimovna Kusova: Iogann Bediker i nemeckaja grammaticˇeskaja tradicija XVII-XVIII vekov (J. B. u. die dt. Grammatiktradition des 17. bis 18. Jh.). Ordzoˇnikidze 1975. – Eva Pauline Diedrichs: J. B.s ›Grund-Sätze der dt. Sprache‹: mit den Bearb.en v. Johann Leonhard Frisch u. Johann Jakob Wippel. Heidelb. 1983. – E. P. Diedrichs: Die orthograph. Regeln im ›Wohlgebahnten Weg zu der Teutschen Poesie‹ des Johann Joachim Statius (1716). In: Sprachwiss. 9 (1984), S. 126–138. – Noack/Splett 1, S. 31–64 (mit Werkverz.). – Werner Heinrich Veith: Bestrebungen der Orthographiereform im 18., 19. u. 20. Jh. In: Sprachgesch. Ein Hdb. zur Gesch. der dt. Sprache u. ihrer Erforsch. (= HSK Bd. 2). Hg. Werner Besch u. a. 2. Teilbd., Bln./New York 22000, S. 1782–1803 (u. Register). Renate Jürgensen / Red.

Böhlau, Helene, auch: Madame Al Raschid Bey, * 22.11.1859 Weimar, † 26.3.1940 Augsburg; Grabstätte: Widdersberg bei Herrsching/Ammersee. – Erzählerin u. Romanautorin. Nach guter Erziehung u. Bildungsreisen mit den Eltern – ihr Vater war Inhaber des Hermann Böhlau Verlags (u. a. »Sophienausgabe« der Werke Goethes) – publizierte B. 1882 als Erstlingswerk Novellen (Bln.) nach Heyses Vorbild. 1886 heiratete sie den Privatgelehrten Friedrich Arndt, der zum Islam konvertierte, um diese – seine zweite – Ehe eingehen zu können, sich nun Omar Al Raschid Bey nannte u. ihrer schriftsteller. Arbeit viel Verständnis entgegenbrachte. Sie lebten 1886–1888 in Konstantinopel, danach in Ingolstadt u. München. B. wurde bald zu den bedeutendsten Autorinnen ihrer Zeit gerechnet. Sie machte sich hauptsächlich in zwei Genres einen Namen: mit humoristischen, heute leicht manieriert wirkenden Erzählungen aus Altweimar, in denen sie einen ausgeprägten Sinn für die alltägl. Lebenswelt ihrer Figuren bewies, sowie mit frauenrechtlerischen, naturalist. Romanen. Von ihren als bürgerl. Familienlektüre rezipierten Erzählungen erzielten u. a. die humoristischen Rathsmädelgeschichten (Minden 1888. 131911) u. die Altweimarischen Liebes- und Ehegeschichten (Stgt. 1897) einen

langjährigen Publikumserfolg. In ihrer Zeit viel diskutiert wurden B.s gesellschaftskrit. Romane, die aus der Feder der populären Autorin gemütlicher Humoresken umso provokativer wirkten, so Der Rangierbahnhof (Bln. 1896. Neudr. Mellrichstadt 2004), Das Recht der Mutter (Bln. 1896. 51908) u. Das Halbtier (Bln. 1899. 51907. Neudr. Mellrichstadt 2004). Mit Das Halbtier, »eine[m] der provokantesten Frauenromane des 19. Jahrhunderts« (Becker), wollte B., die sich wie Gabriele Reuter mit der bürgerlich-gemäßigten Richtung der zeitgenöss. Frauenbewegung identifizierte, die Aufmerksamkeit des Lesepublikums auf die seelische Degradierung der bürgerl. Frau durch die wirtschaftl. Abhängigkeit in der Ehe zwingen. Autobiografischen Charakter tragen die Romane Das Haus zur Flamm’ (Bln. 1907) u. Isebies (Mchn. 1911). Insgesamt boten die meisten ihrer zahlreichen Romane seit der Jahrhundertwende lediglich leichte Unterhaltungskost, wie ihre Veröffentlichungen in der Reihe »10 Pfennig Unterhaltungshefte für die Nationalstenographen«. Weitere Werke: Der gewürzige Hund. Bln. 1916 (R.). – Die drei Herrinnen. Mchn. 1937 (histor. R.). Gesamtausgabe: Ges. Werke. 9 Bde., Weimar 1927–29. Literatur: Theodor Lessing: H. B. In: Die Gesellsch. 13 (1898). – Ernst v. Wolzogen: Wie ich mich ums Leben brachte. Erinnerungen u. Erfahrungen. Braunschw. 1923. – Josef Becker: H. B. Leben u. Werk. Diss. Zürich 1978. – Sandra L. Singer: Free Soul, Free Woman? A Study of Selected Works by Hedwig Dohm, Isolde Kurz, and H. B. New York 1995. – Gaby Pailer: ›Nixchen‹ u. ›Halbtier‹. In: Frauen MitSprechen MitSchreiben. Hg. Marianne Henn u. Britta Hufeisen. Stgt. 1997, S. 256–273. – Sabina Becker: H. B. Halbtier (1899), Philister über Dir! (Ms. 1900; Regie- u. Soufflierbuch), Salin Kaliske. Nov. (1882). In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schneider u. G. Pailer. Tüb. 2006, S. 49–52. – Helen Chambers: Humor and Irony in Nineteenth-Century German Women’s Writing. Studies in Prose Fiction 1840–1900. Rochester/New York 2007, S. 67–86. Eda Sagarra

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Boehlendorff, Casimir (Ulrich), * Anfang 1775 (gelegentlich wird 1776 angegeben) Mitau/Kurland, † 10.4.1825 Gut Markgrafen/Kurland (Freitod). – Verfasser von Dramen, Gedichten u. geschichtlichen Abhandlungen. Der mit fünf Jahren verwaiste B. studierte 1793/94 Rechtswissenschaft in Mitau, 1794 dann in Jena, das mit den Professoren Fichte, Schiller, Paulus u. a. die jungen dt. Intellektuellen faszinierte. Hier wurde er 1795 Mitgl. eines Freundschaftsbundes, der 1794 gegründeten »Gesellschaft der Freien Männer«, die sich der Aufklärung u. der Literatur verschrieben hatte u. mit der Französischen Revolution sympathisierte. »Wahrheit ist unser einziges unser höchstes Ziel«, heißt es in der Präambel der »Konstitution«. Auf den wöchentl. Sitzungen hatte sich jedes Mal ein Mitgl. mit einem Aufsatz der Diskussion zu stellen; 1795 las B. Über den Übergang des Zeitalters vom Wissen zum Tun. Zu dem Freundschaftsbund gehörten u. a. der Pädagoge u. Philosoph Johann Friedrich Herbart u. die Philosophen August Ludwig Hülsen u. Friedrich Muhrbeck. Friedrich Hölderlin, sein Freund Isaak von Sinclair u. Henrik Steffens standen dem Bund nahe. In diesen freundschaftl. Beziehungen bewegte sich auch B.s späteres Leben. 1797–1799 war B. in der Schweiz als Hauslehrer in Berner Patrizierfamilien tätig u. reiste mit dem Freund Johann Smidt durch die Schweiz bis nach Italien. Ein Ergebnis dieser Jahre sind die in den Abentheuerlichen Briefen festgehaltenen Reiseeindrücke (in: Taschenbuch für das Jahr 1803. Ffm. 1803) u. die Abhandlung Geschichte der Helvetischen Revoluzion von 1798 (in: Geschichte und Politik. Hg. Karl Ludwig Woltmann. Bln. 1802 u. 1803. Beide Texte als reprograf. Nachdr. hg. v. Klaus Pezold. Bern/Stgt./Wien 1998). B. verficht darin Republikanismus u. die Unabhängigkeit der Schweiz gegen das frz. Direktorium. 1799 führte ihn eine Deutschlandreise nach Homburg, wo er mit Hölderlin, Sinclair u. Muhrbeck zusammentraf. An Schiller gesandte Gedichte wurden zurückgewiesen. In Jena hörte B. bei Schelling u. A. W. Schlegel;

Boehlendorff

hier begegnete er Clemens Brentano u. Carl von Savigny. In Dresden beendete er seine dramat. Versuche Ugolino Gherasdesca, ein Trauerspiel (Dresden 1801), ein »Nachklang des Wallenstein« (Goethe in einem Verriss in der »Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung« 1805), u. Fernando oder Kunstweihe, eine dramatische Idylle (Bremen 1802), ein Künstlerdrama – keine Tragödie – mit Zügen romant. Kunstreligion. Auf dieses Stück bezieht sich Hölderlins wichtiger Brief vom 4.12.1801 an B., in dem jener über den Anlass hinaus das Verhältnis von griechischer u. moderner dt. Kunst bestimmt. Die Zeit vom Ende des Jahres 1800 bis Anfang des Jahres 1802 verbrachte B. in Bremen, wo er sich mit histor. Vorlesungen für ein kleines Publikum u. Italienischunterricht seinen Unterhalt zu verdienen suchte. Seine Versuche, sich als Autor zu etablieren, blieben auch hier erfolglos. 1802 war B. in Berlin als Privatsekretär u. Redakteur der »Vossischen Zeitung« tätig. Der Tod einer engen Freundin u. ein Verriss seines gemeinsam mit dem Oldenburger Gerhard Anton Gramberg herausgegebenen Poetischen Taschenbuchs für das Jahr 1803 von Garlieb Merkel trieb ihn in eine seel. Krise. Alte »hypochondrische« Ängste brachen auf, sein Zustand war »erschütternd«, wie Freunde berichteten. 1803 kehrte B. nach Kurland zurück, von Freunden unterstützt u. beschützt. Dort lebte er noch fast 22 Jahre als sog. »Krippenreiter«, ein von Hof zu Hof ziehender Hauslehrer. Immer wieder in zerrütteten Zuständen, verbrannte er 1804 u. 1818 seine Papiere, versuchte mehrmals erfolglos nach Deutschland zurückzukehren, reiste unstet, ohne Anstellung u. in ständiger finanzieller Not herum. 1808, 1809, 1820 u. 1824 erschienen einige Gedichte B.s in verschiedenen kurländ. Anthologien u. Zeitschriften. 1825 setzte er seinem ruhelosen, vagierenden Leben ein Ende. Die Nähe von B.s Leben zu dem Hölderlins inspirierte Johannes Bobrowskis Prosaskizze in Boehlendorff und andere Erzählungen (Stgt. 1965) bzw. in Boehlendorff und Mäusefest. Erzählungen (Bln. 1965).

Böhme

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Ausgabe: Werke in drei Bänden. Hg. Frieder Schellhase. Ffm. 2000. Literatur: Karl Freye: C. U. B., der Freund Herbarts u. Hölderlins. Langensalza 1913. – Renate Böschenstein-Schäfer: Hölderlins Gespräch mit B. In: HölderlinJb 14 (1965/66), S. 110–124. – Ernst Zunker: C. U. B. u. die pommerschen Freunde aus der Gesellsch. der Freien Männer u. im Einflussbereich Hölderlins. In: Balt. Studien N. F. 60 (1974), S. 101–126. – Hubert Ohl: C. U. B. – histor. u. poet. Gestalt. Zu Johannes Bobrowskis Erzählung ›Boehlendorff‹. In: JbFDH 1978, S. 552–584. – Robert Habeck: C. U. B.s Gedichte. Eine stilkrit. Untersuchung. Würzb. 1997. – Eva Zimmermann: Die Harmonie der Kräfte. C. U. B.s dramat. Dichtung. Weimar 1997. – Jens Stüben: Der ›Sänger, ein Wandrer‹. Zur Lyrik C. U. B.s. In: Johann Gottfried Herder u. die deutschsprachige Lit. seiner Zeit in der balt. Region. Hg. Claus Altmayer u. Armands Gutmanis. Riga 1997, S. 232–265. – Susanne Siebert u. Matthias Wolfes: C. U. Karl B. In: Bautz.

Weitere Werke: Morgenrot. Mchn. 1933 (L.). – Sommersonnenwende. Mchn. 1933 (R.). – Des Blutes Gesänge. Bln. 1934 (L.). – Volk der Arbeit. Potsdam 1936 (L.). – Ruf der SA. Mchn. 1938 (Liederslg.). – Andreas Jemand. Hbg. 1939 (R.). – Die zärtl. Verirrungen. Mchn. 1940 (E.). – Die guten Sterne sind mit uns vereint. Bln. 1944 (L.). – Ein gewonnenes Leben. Mchn. 1954 (N.). – Bekenntnisse eines freien Mannes. Mchn. 1959 (Ess.). – Am Wohnsitz der Götter. Mchn. 1964 (Balladen). – Die Ordnung der Werte. Mchn. 1967 (Reden u. Aufsätze). – Vermächtnis u. Auftrag. Letzte Reden, Aufsätze, Sprüche, Gedichte. Mchn. 1973. – Autobiografie: Aus meinem Leben. In: Die Neue Lit. 4 (1941). Literatur: Kurt Fischer: H. B. Mchn. 1937. – Joseph Wulf: H. B. In: Lit. u. Dichtung im Dritten Reich. Gütersloh 1963. – B. in: Lexikon nationalsozialist. Dichter. Biogr.n, Analysen, Bibliogr.n. Hg. Jürgen Hillesheim u. Elisabeth Michael. Würzb. 1993. Frank Raepke / Red.

Gerhard Kurz

Böhme, Herbert, * 17.10.1907 Frankfurt/ O., † 23.10.1971 Lochham bei München. – Verfasser u. Herausgeber nationalsozialistischer Propagandaliteratur. B. studierte 1928–1934 in München u. Marburg Germanistik u. Philosophie (Promotion 1940). Von 1935 an war er Obersturmführer der SA u. Reichsfachschaftsleiter für Lyrik in der Reichsleitung. Vor seiner Berufung in die oberste SA-Führung fungierte B. als Kulturreferent der »Ostmark« u. erhielt 1944 eine Professur in Posen. Neben der Herausgebertätigkeit für mehrere Anthologien faschistischer Lyrik (Rufe in das Reich. Bln. 1933/34. Gedichte des Volkes. Bln. 1938. Wir reiten gen Tag. Bln. 1938–45) verfasste B. selbst nationalsozialist. Propagandaliteratur, wie z.B. zahllose »Führer-Gedichte«. Insbes. das u. d. T. »Trommelgedicht« bekannt gewordene Der Führer wurde in zahllosen Zeitschriften abgedruckt. Nach 1945 konnte B. als Präsident des 1950 von ihm gegründeten Deutschen Kulturwerks europäischen Geistes in unverhohlener Weise seine rassistische u. kulturfeindl. Arbeit fortführen. Aufsätze u. Reden aus den Jahren 1950–1970 offenbaren B.s ungebrochen nationalistisches Denken.

Böhme, Jacob, * 1575 Alt-Seidenberg bei Görlitz, † 17.11.1624 Görlitz. – Mystiker. B. war das vierte Kind nicht unvermögender Bauersleute. Wegen seiner schwachen Gesundheit erlernte er das Schusterhandwerk. Nach den übl. Lehr- u. Gesellenjahren erwarb er 1599 das Meister- u. Bürgerrecht in Görlitz u. kaufte am 24.4. eine Schuhbank auf dem Untermarkt. Im gleichen Jahr (10.5.) heiratete er die Fleischhauertochter Katharina Kuntzschmann u. kaufte ein Haus vor dem Neißetor auf dem Töpferberg (21.8.). Am 29.1.1600 wurde der älteste Sohn Jakob geboren (die Taufmatrikeln erwähnen bis 1606 die Geburt von drei weiteren Söhnen); um diese Zeit hatte B. seine erste Vision. 1610 bezog die Familie ein neues Haus zwischen den Neißetoren. Anfang 1612 erfolgte eine abermalige Erleuchtung; die Bilder kamen wie in einem »Platzregen« (»was er trifft, das trifft er.« ep. 18, 12. Zitiert nach der Gesamtausg. Leiden 1730 mit Kapitel u. Abschnittszählung. Das Kürzel »ep.« = Sendbriefe). Zwischen Jan. u. Pfingsten 1612 schrieb B. sein erstes Werk nieder, die Morgenröthe im Aufgang (im Folgenden Morg.). Der Adlige Karl Ender von Sercha, der einem Schwenckfeldisch gesinnten Kreis angehörte, ließ sich das (Fragment gebliebene) Buchmanuskript zei-

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gen u. veranlasste eine Abschrift. Alsbald kursierten mehrere Kopien; eine davon geriet im Juli 1615 dem Görlitzer Pastor Primarius Gregor Richter in die Hände. Da Görlitz im ausgehenden 16. Jh. bereits als Hochburg des Paracelsismus galt u. dort das Gedankengut des von der luth. Orthodoxie hart bekämpften Valentin Weigel früh in Umlauf war, wollte Richter ein Exempel statuieren u. reichte beim Rat der Stadt eine Beschwerde ein. B. wurde am 26.7. nach kurzer Gefangensetzung ermahnt, »von solchen Sachen abzustehen«, sein Manuskript wurde beschlagnahmt. Richter war das zu wenig: Am 28.7. brandmarkte er B. in einer Strafpredigt als gefährl. »Enthusiasten«, am 30.7. folgte ein Glaubensverhör; B. erhielt Schreibverbot. B. hatte schon im März 1613 seine Schuhbank verkauft u. einen Garnhandel angefangen, was ihm eine gewisse soziale Unabhängigkeit verschaffte. Geschäftstüchtig wie er war, spekulierte er mit Garn u. Leder, was mitunter zu Misshelligkeiten mit den Zünften führte. Inzwischen setzte Richter seine Anfeindungen fort. B. muss aber mächtige Gönner gehabt haben (Karl Ender u. seine Standesgenossen); vielleicht schützte ihn auch der Bürgermeister Bartholomäus Scultetus, ein bekannter Humanist, der u. a. mit Tycho Brahe u. Johannes Kepler in Verbindung stand. Jedenfalls ließ man B., der bald das Interesse gebildeter Männer fand, gewähren. Der Arzt Tobias Kober, ein Paracelsist, verkehrte in seinem Haus; 1617 trat der in Fragen der Alchemie u. der jüd. Kabbala bewanderte Arzt Balthasar Walter an B. heran (der Name »Philosophus Teutonicus« geht auf ihn zurück). Er gab den Anstoß zu den Viertzig Fragen von der Seelen Urstand u. brachte B. in Verbindung zu Christian Bernhard, der »zu einer Art von Generalsekretär und Botschafter« B.s (Grunsky) wurde. Durch solche Kontakte mag B. in Berührung mit dem esoter. Gedankengut geraten sein, das er in »viel hoher Meister Schriften gelesen« habe (Morg., 10, 27); gerade in der Lausitz war es verbreitet. Der Mythos vom »Bauernphilosophen« ist also ebenso zu korrigieren wie die Legende vom unbemittelten u. alleinstehenden Visionär. Neuere Forschungen ergeben ein anderes Bild.

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Nicht nur wurde die geistige Kultur der Stadt Görlitz von einem humanist. Gelehrtentum geprägt, die polit. Lage in Görlitz (die Habsburger kümmerten sich kaum um das entlegene Grenzland) begünstigte auch eine relativ freie Entfaltung religiöser Strömungen zwischen dem orthodoxen Luthertum Sachsens einerseits, dem Katholizismus in den südl. u. östl. Gebieten andererseits. Eine aktive luth. Orthodoxie musste es namentlich mit Calvinisten, Täufern, Mährischen Brüdern u. Schwenckfeldianern aufnehmen. Der schwenckfeldisch gesinnte Adel der Lausitz gründete auf seinen Gütern Sondergemeinden, widersetzte sich damit unter Ausnutzung seiner Privilegien dem Landeskirchentum u. opponierte auch gegen die Gegenreformation des habsburg. Absolutismus in Schlesien u. Böhmen, wodurch er den dortigen Adel im Widerstand stärkte. Die Heterodoxie behauptete also innerhalb der von polit. u. kirchl. Zwängen beherrschten Wirklichkeit einen eigenen Freiraum. Vor diesem Hintergrund der von breiten sozialen Schichten getragenen freireligiösen Gruppen ist B.s Wirken zu sehen. Die oppositionelle Ausrichtung gab ihm die besondere Note: B. wurde geradezu zum »Exponenten der heterodoxen Parteien« (Gorceix). Mit gesellschaftl. Rückendeckung u. geistiger Förderung konnte B. es wagen, das Schreibverbot zu missachten u. die erworbenen Kenntnisse in die Praxis umzusetzen. 1618/19 entstand die Schrift von den Drey Principien, die sich gegenüber der Morgenröthe durch größere begriffl. Klarheit auszeichnet. Die Hauptschaffenszeit setzte 1620 ein. B. hatte sein Geschäft großenteils aufgegeben u. widmete sich ganz seiner Berufung. In schneller Folge entstanden mehrere Traktate. In das Jahr 1620 fallen die beiden Hauptwerke Von der Menschwerdung Jesu Christi u. Sechs theosophische Punckte. Zwischen 1621 u. 1624 unternahm B. sechs Reisen durch Schlesien. Er kam nach Breslau, Striegau, Glogau, Bunzlau, Liegnitz, wo er im Kreis von Gleichgesinnten disputierte. Die Theosophischen Sendbriefe nehmen auf diese Zusammenkünfte Bezug. Im Striegauer Kreis lernte B. bei Johann Theodor von Tschesch 1622 Abraham von Franckenberg kennen, der sein

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erster Biograf werden sollte. Die Gespräche brachten ihm auch Anregungen, die er in seinen Schriften verarbeitete. Die Schrift Von der Geburt und Bezeichnung aller Wesen (De Signatura rerum) wurde 1622, Von der Gnadenwahl Anfang 1623 abgeschlossen, das sehr umfangreiche Mysterium Magnum (Von der Offenbarung Göttlichen Worts durch die drey Principia Göttlichen Wesens) entstand 1622/23. Das einzige zu Lebzeiten B.s gedruckte Werk, Der Weg zu Christo (o. O. u. J. [Görlitz 1624]), bündelt die drei Schriften Von wahrer Busse, Von wahrer Gelassenheit u. Gespräch [...] von dem Über-Sinnlichen Leben. Es ging auf die Initiative des schles. Adligen Hans Siegismund von Schweinichen zurück, dem B. ein trostreicher »Seelenführer« gewesen war. Pastor Richter fühlte sich durch die Veröffentlichung herausgefordert u. setzte zum Angriff an. Der Stadtrat konnte keinen einhelligen Beschluss fassen u. beließ es vorläufig bei einer Verwarnung. B. war um seine Familie besorgt u. verfasste eine Schutzrede gegen Gregor Richter. In dieser unruhigen Zeit nahm er eine Einladung vom Hofarzt Benedikt Hinckelmann an den Dresdner Hof an, wo man ihm zu Verbindungen mit mehreren kurfürstl. Räten verhalf. Die Dresdner Episode brachte aber keine Änderung von B.s persönlicher Lage. B. reiste im August 1624 für einige Wochen nach Schlesien u. kam schwer krank nach Görlitz zurück, wo er am 17. Nov. starb. Der luth. Pfarrer Nikolaus Thomas weigerte sich zunächst, den Trauergottesdienst zu leiten; der Pöbel zerstörte das von B.s Freunden errichtete Grabkreuz. Wenn auch heute wohl feststeht, dass B. alchemistische u. paracelsist. Elemente verarbeitet hat, lassen sich diese Spuren dennoch nicht genau bestimmen. Dazu kommt, dass B. sich zwar um ständige Verfeinerung seiner Lehren bemühte, an deren Anfang aber kein System steht, sondern die überwältigende, Höhen u. Tiefen der Weltschöpfung durchdringende Schau, der visionäre Durchbruch der Erkenntnis des »rechten Himmels«, der »bis anhero den Kindern der Menschen fast verborgen gewesen« ist (Morg., 19, 1). Es ist B.s ureigenster Anspruch, ohne das Wissen der Welt u. allein durch die göttl. Gnade die Auflösung der Widersprüche des Lebens wie

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der Schöpfung in einer übergreifenden Einheit geschaut zu haben. Immer wieder betont B. den Kampf mit dem Teufel, der der Erleuchtung vorausgeht. »Du darffst auch nicht dencken, daß ich sey in Himmel gestiegen, und habe solches mit meinen fleischlichen Augen gesehen [...] unser Leben ist wie ein steter Krieg mit dem Teufel [...]. Wenn er aber überwunden ist, so gehet die Himmels-Pforte in meinem Geiste auf: dann siehet der Geist das Göttliche und himmlische Wesen, nicht ausser dem Leibe, sondern im Quell-Brunne des Hertzens gehet der Blitz auf in die Sinnlichkeit des Hirns, darinnen speculiret der Geist« (Morg., 11, 67 f.). So sei auch die erste Vision erfolgt: Als B. »hart wider GOtt und aller Höllen Porten stürmete«, da sei »nach etlichen harten Stürmen [...] mein Geist durch der Höllen Porten durchgebrochen bis in die innerste Geburt der Gottheit« (Morg., 19, 10 f.). B. vergleicht seinen Kampf mit Jakobs Hadern mit Gott u. seine Erleuchtung mit dem Erklimmen der Jakobsleiter (Morg., 13, 10). B.s gesamtes Schaffen wurzelt im luth. Glauben (»sola fide«, »theologia crucis«). Er weiß um die Bedeutung der Buße u. hebt die Kreuztragung hervor: »[...] daß er will in Christi bitter Leiden und Tod eingehen, und seiner Sünde und bösen Eitelkeit darinnen täglich absterben, und ernstlich GOtt bitten um die Erneuerung seines Gemüthes und Sinnen« (ep. 28, 2). Der Teufel hatte für B. die gleiche Realität wie für Luther; Anfechtung u. Melancholie bildeten den Anfang seiner Gottessuche: »ich habe allein das Hertz GOttes gesucht, mich vor dem Ungewitter des Teufels darein zu verbergen« (Morg., 23, 84); »Ich suchte allein das Hertze JEsu Christi, mich darinnen zu verbergen vor dem grimmigen Zorn GOttes, und den Angriffen des Teufels, und bat GOtt ernstlich um seinen H. Geist und Gnade« (ep. 12, 6). Dann erst wurde ihm die Gnade der Erkenntnis zuteil: »[...] ist mir die Pforte eröffnet worden, daß ich in einer Viertheil-Stunden mehr gesehen und gewust habe, als wann ich wäre viel Jahr auf hohen Schulen gewesen, dessen ich mich hoch verwunderte, wuste nicht wie mir geschahe« (ep. 12, 7).

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In luth. Geist schildern immer neue Wendungen Kampf u. Gefahr solcher Gottsuche. Keiner überwindet, der nicht umgürtet ist »mit dem Schwert des Geistes«: »Denn er muß durch eine grausame Tieffe steigen, der Schwindel wird ihm oft in Kopf kommen: darzu muß er mitten durch der Höllen Reich steigen [...]. Ich habe es in diesem Kampf auch oft müssen mit traurigem Hertzen erfahren: die Sonne ist mir oft verloschen, aber wieder aufgegangen« (Morg., 13, 21 f.). Das unterscheidet B.s Wesensschau von der Gelassenheit der Mystik jeglicher Observanz: »Du mußt dem Teufel und der Welt absagen wilst du kämpfen; sonst siegest du nicht [...], Es ist fürwahr ein enger Steg, der da will durch der Höllen Pforten zu GOtt dringen, er muß manchen Druck und Quetsch des Teufels leiden« (Morg., 13, 24 f.). Nach solchem Kampf wird die geistige Schau als eine Wiedergeburt erfahren: »[...] es läst sich auch mit nichts vergleichen als nur deme, wo mitten im Tode das Leben geboren wird, und vergleichet sich der Auferstehung von den Todten« (Morg., 19, 12). Die Erleuchtung (das »Triumphiren im Geiste«; ebd.) wird mit den traditionellen myst. Begriffen der Klarheit, der Sonne u. des Lichts umschrieben, so wie auch ein »Göttlich Licht« den Verstand erleuchten muss, denn »welcher im Lichte GOttes siehet, begreifet es« (Drey Principien, 2, 1); er allein erfährt den Triumph: »was das für ein Licht und Bestätigung sei, wer das Centrum naturae erfindet« (Vier Complexionen, 95). Hier unterscheidet B. sich grundlegend von der Mystik; sein Ziel ist Beschreibung u. Deutung alles Seienden: »Dann ich sahe und erkante das Wesen aller Wesen, den Grund und Ungrund: Item, die Geburt der H. Dreyfaltigkeit, das Herkommen und den Urstand dieser Welt, und aller Creaturen« (ep. 12, 8). B. verharrt also nicht im beseligenden Gefühl einer »unio mystica«, sondern beansprucht Wissen u. Erkenntnisse, die er vermitteln will – »so ist alsbald in diesem Lichte mein Willen gewachsen mit großem Trieb, das Wesen GOttes zu beschreiben« (Morg., 19, 13). B.s Modernität liegt darin, dass er mit seinen visionären Erlebnissen die Gotteserkenntnis zu einem Blick auf die Schöpfung als Ganzes

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ausweitete, Glauben u. Wissen verband: »In diesem Lichte hat mein Geist alsbald durch alles gesehen, und an allen Creaturen, so wol an Kraut und Gras GOtt erkant, wer der sey, und wie der sey, und was sein Wille sey« (ebd., 19, 13). Gott offenbart sich in der Schöpfung; die Erkenntnis muss von deren Krone, dem Menschen, ausgehen: »Dann das Buch, da alle Heimlichkeit innen lieget, ist der Mensch selber; Er ist selber das Buch des Wesens aller Wesen, dieweilen er die Gleichniß der Gottheit ist; das grosse ›Arcanum‹ lieget in ihme, allein das Offenbaren gehöret dem Geiste GOttes « (ep. 20, 3). Die Buchmetapher bringt zum Ausdruck, dass der Mensch zgl. Subjekt u. Objekt der Betrachtung ist, allerdings nicht der »fleischliche«, sondern der in Christus wiedergeborene Mensch. Ihm gilt B.s großes Buch Von der Menschwerdung Jesu Christi (1620). B. wird nicht müde, diesen einzigen Weg zu betonen (u. steht darin Luther sehr nahe): »wir müssen nur durch die Thüre, die uns GOtt in Christo hat aufgethan, eingehen, und in GOttes Reich ausgrünen« (ep. 20, 20). Solche theolog. Anthropologie setzt einen ständigen Kampf »wieder das irdische verderbte Leben« voraus: »Dann durch den Streit wird das grosse ›Arcanum‹ eröffnet, und die ewigen Wunder in GOttes Weisheit aus der seelischen Essentz offenbar« (ebd., 11 f.). Nur durch Christus u. den Hl. Geist gelangt der Mensch zu Gott als dem »Einen gegen der Creatur, als ein ewig Nichts« (Mysterium magnum, I, 2); er ist ohne Grund u. Ort, B. nennt ihn Ungrund u. Willen. Es ist eine dynamisch gedachte Gottheit in unendlicher Selbstgebärung: »Er gebäret von Ewigkeit in Ewigkeit sich selber in sich« (ebd.). Mithilfe der traditionellen theolog. Bestimmungen der drei göttl. Personen entwickelt B. seine eigenwillige Lehre von der dreifachen Geburt des ewigen Willens: »Also (1) heisset der unergründliche Wille Ewiger Vater; (2) und der gefundene, gefassete, geborne Wille des Ungrundes heisset sein geborner oder Eingeborner Sohn, denn er ist des Ungrundes Ens, darinnen sich der Ungrund in Grund fasset. (3) Und der Ausgang [ = Aushauchen, Aussprechen] des ungründli-

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chen Willens durch den gefasseten Sohn oder Ens, heisset Geist, denn Er führet das gefaste Ens aus sich aus in ein Weben oder Leben des Willens, als ein Leben des Vaters und des Sohnes« (Gnadenwahl, 1, 6). Der Ausgangsbewegung als Selbstfassung Gottes folgt eine Einwärts- oder Rückwendung zu sich selbst – der »ewige Prozeß« im Sinne der neuplaton. Seinsspekulation, den B. als Spannung von gegensätzl. Elementen denkt. In Gott wirken nämlich von Anfang an die Urgegensätze des Guten u. des Bösen, was sich in der ganzen Schöpfung spiegelt. »Wille« u. »Wiederwille« wirken gegeneinander – »Und befindet sich, daß es also seyn muß, sonst wäre kein Leben noch Beweglichkeit [...] sondern es wäre alles ein Nichts« (Drey Principien. Vorrede, 13). Wenn der Mensch daher Gutes u. Böses in sich findet, soll er begreifen, »daß solches alles von und aus GOtt selber herkomme, und daß es seines eigenen Wesens sey, das Er selber ist, und Er selber aus sich also geschaffen habe: und gehöret das Böse zur Bildung und zur Beweglichkeit, und das Gute zur Liebe« (ebd., 14). Es ist ein gewagtes Konzept, bei dem Liebe u. Zorn miteinander streiten, aber doch nicht ohne den freien Willen, über den auch das Ebenbild Gottes verfügt: »Denn ein ieder Mensch ist frey, und ist wie ein eigener GOtt, er mag sich in diesem Leben in Zorn oder ins Licht verwandeln: [...] was der Mensch für einen ›Corpus‹ in die Erde säet, ein solcher wird auch aufwachsen [...] alles nach des Samens Qualität« (Morg., 18, 19). Im Tod geht er »in sein Nichts« ein, ist »dem Schöpfer wieder heimgefallen, der machet das Ding wie es ist im ewigen Willen erkant worden, ehe es zur Creatur geschaffen ward«; er ist »an der Natur Ende« (De signatura rerum, 15, 51). Dann hat er an dem »einigen Liebe-Hall GOttes« teil: »alles was GOtt in sich selber ist, das ist auch die Creatur in ihrer Begierde in Ihme, ein GOtt-Engel und ein GOtt-Mensch, GOtt alles in allem, und ausser Ihme nichts mehr: [...] und das ist der Anfang und das Ende aller Dinge« (ebd., 52). B. betrachtet die Schöpfung als ein SichOffenbaren des Wesens Gottes: »Und ist kein Ding in der Natur [...] es offenbaret seine innerliche Gestalt auch äusserlich, dann das

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innerliche arbeitet stets zur Offenbarung, als wir solches an der Kraft und Gestaltniß dieser Welt erkennen, wie sich das ewige Wesen mit der Ausgebärung in der Begierde hat in einem Gleichniß offenbaret« (De signatura rerum, 1, 15). Das bildet den Antrieb zur Erforschung der Natur u. des Menschen: »Siehe, das ist der rechte Einige GOtt, aus dem du geschaffen bist, und in dem du lebest: Wenn du ansiehest die Tieffe, und die Sternen, und die Erden, so siehest du deinen GOtt, und in demselben GOtt lebest und bist du auch, und derselbe GOtt regiert dich auch, und aus demselben GOtt hast du auch deine Sinnen, und bist eine Creatur aus Ihme und in Ihme, sonst wärest du nichts« (Morg., 23, 9). Die Essenz offenbart sich in der Signatur, die sich nicht nur (wie bei Paracelsus) in Form u. Gestalt, sondern auch in der lautl. Äußerung zeigt: »Das Innere offenbaret sich im Halle des Wortes, dann das ist des Gemüthes natürliche Erkenntniß seiner selbst« (De signatura rerum, 1, 6). Zum Beobachten muss sich daher das Hören gesellen: »Darum ist in der ›Signatur‹ der größte Verstand, darinnen sich der Mensch [...] nicht allein lernet selber kennen [...] dann an der äusserlichen Gestaltniß aller Creaturen [...], item, an ihrem ausgehenden Hall, Stimme und Sprache kennet man den verborgenen Geist, dann die Natur hat iedem Dinge seine Sprache nach seiner Essentz und Gestaltniß gegeben [...]; Ein iedes Ding hat seinen Mund zur Offenbarung« (ebd., 16). Das ist die berühmte Natursprachen-Lehre, die Lehre von der »Natur-Sprache, daraus iedes Ding aus seiner Eigenschaft redet, und sich immer selber offenbaret« (ebd., 17). B.s Denken bewegt sich im Spannungsverhältnis zwischen Aufgabe der sündigen »Ichheit« u. Ruhe in Gott einerseits, Beobachtung u. Erforschung der gottdurchwirkten Natur andererseits. Eines ist aber ohne das andere nicht zu denken. Der von Gottes Größe u. Liebe überwältigte Sünder muss mit seinem »verderbten Willen in seinem Tode in und mit Ihme sterben, und ein Nichts in Ihme werden«: »so bin ich in Ihme todt, so lebe Er in mir wie Er wil« (De signatura rerum, 9, 57 f.). Wenn Christus in des Menschen »Nichtheit lebet« (ebd., 64), schaut der

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geisterfüllte Blick ungetrübt in das Wesen der Dinge. Der erleuchtete Geist, der nach dem Schema von den sieben Qualitäten (bitter u. herb, sauer u. süß, Liebe, Ton, Materialisation) im Buch der Natur liest, begreift die Schöpfung u. kann sie im nennenden Wort nachsprechen: »Also hat nun der Mensch den Gewalt von dem unsichtbaren Worte GOttes empfangen, zum Wideraussprechen, daß er das verborgene Wort der Göttlichen ›Scientz‹ wieder in Formungen und Schiedlichkeit ausspricht, auf Art der zeitlichen Creaturen« (Mysterium magnum. Vorrede, 6). Darin liegt B.s dichter. Sprachschöpfung begründet, seine genaue Beobachtung der phonet. Zeichen, denen er eine tiefere Bedeutung verleiht. Die Natur ist ihm religiös gedeutete Erfahrung, die sein gestaltbildender Blick in ihrer Weite u. Tiefe zu erfassen versucht. Dazu prägt B. neue Wörter u. verwendet herkömml. Begriffe in neuem Sinn. Die Rede vom Grund u. Ungrund, vom Wollen u. Wallen u. Weben des ewigen Gottes, die Vorstellung von dem sich ständig selbst gebärenden Alleinen, das Ineinander von Lichtwelt u. Finsterwelt – alles bekundet einen unersättl. Erkenntnisdrang, der sich in bisher ungeahnte Höhen vorwagt. Doch im Zentrum von B.s Metaphysik bleibt überall das Wesen Gottes, das auf »Art der Creaturen« als leiblich vorgestellt wird: »Wenn du sinnest und denckest, was da sey in dieser Welt und ausser dieser Welt, oder das Wesen aller Wesen, so speculirest du oder sinnest du in dem gantzen Leibe GOttes, welcher ist das Wesen aller Wesen: und der ist ein unanfängliches Wesen« (Morg., 16, 53). Die naturmyst. Betrachtungsweise gibt immer wieder Anlass zu konkreten Vergleichen, die das »Ausgebären« Gottes in der Schöpfung ins Bild heben. Am Anfang der Morgenröthe steht ein Baum mit seinen Wurzeln, Ästen u. Zweigen – »Ich vergleiche die gantze ›Philosophiam‹, ›Astrologiam‹ und ›Theologiam‹, samt ihrer Mutter, einem köstlichen Baum, der in einem schönen Lustgarten wächst« (Vorrede, 1). An einem Baum verdeutlicht B. auch die »Qualität«: »Wilst du das nicht glauben, so thue deine Augen auf, und gehe zu einem Baum, und siehe den an und besinne dich; so siehest du

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erstlich den gantzen Baum, nim ein Messer und schneide darein, und koste ihn wie er ist [...]« (ebd., 9, 39). So weiß B. die »Geheimnisse« im plast. Bild sinnfällig zu machen; so führt er den Leser an die Dinge des Geistes auf volkstüml. Art heran. Es ist ein dichterischer Theologe, der so redet: »Du wirst kein Buch finden, da du die Göttliche Weisheit köntest mehr inne finden zu forschen, als wenn du auf eine grüne und blühende Wiesen gehest, da wirst du die wunderliche Kraft GOttes sehen, riechen und schmecken, wiewol es nur ein Gleichniß ist« (Drey Principien, 8, 12). Es erstaunt nicht, dass von B. eine starke Faszination ausging. Damals weissagte man wiederholt das Weltende; es war die Zeit der »neuen Propheten«. Das Geheimnis der Natur u. das Studium geheimnisvoller Bücher fanden das Interesse von Schwenckfeldianern, Paracelsisten u. Weigelianern, meist hochgebildeten Leuten. B.s Betonung der Gegenwart des sich in seiner Schöpfung offenbarenden Gottes war gegenüber Luthers verborgenem Gott ein revolutionärer Gedanke. – »Er ist in, bei und durch uns, und wo er in einem Leben mit seiner Liebe beweglich wird, allda ist GOtt in seiner Wirkung offenbar« (Theosophische Fragen, 1, 3). Kein Zweifel, B. kam dem Verlangen seiner Zeit nahe. Dennoch wurde zu seinen Lebzeiten einzig Der Weg zu Christo veröffentlicht. Seine Manuskripte wurden von holländ. Anhängern gesammelt u. in den Druck gegeben (A. W. van Beyerland); in Amsterdam erschien die erste Gesamtausgabe. In Deutschland lebte B.s Theosophie zunächst weiter im Kreis der schles. Freunde u. ihrer Schüler; Abraham von Franckenberg, Daniel von Czepko, Angelus Silesius; dann in pietist. Kreisen (erwähnt sei nur Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie. 1699 f.); insbes. in Schwaben (Friedrich Christoph Oetinger) u. Philadelphia. B.s eigentl. Wiederentdeckung erfolgte in der Romantik. Hegel bewunderte B., Schelling aber erfuhr, nachdem Franz von Baader ihn mit B.s Lehre bekannt gemacht hatte, dessen tiefgreifenden Einfluss. Die romant. Dichter, allen voran Tieck u. Novalis, sahen bei B. ihre Naturfrömmigkeit vorgeprägt. Das Verständnis Gottes als »das Nichts und

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das Alles« u. das »Ewige Eine« (ep. 47,1 f.) faszinierte sie als Ausdruck ihrer eigenen Totalitätsvorstellung; nicht zuletzt waren sie von der urtüml. Sprachgewalt des (wie sie glaubten) »ungelehrten« Schusters beeindruckt. Auch wo es ihnen nicht um den philosoph. Kern von B.s Lehre ging, vollzog sich doch eine produktive Rezeption, durch die das Gedankengut des »deutschen Philosophen« in breite Kreise Eingang fand. Weitere Werke: Der Weg zu Christo, o. O. u. J. [Görlitz 1624]. 21628. Amsterd. 31635. 41658. 5 1674. 61677 u. ö., teilweise v. 1718 an u. d. T. Christosophia. Neuausg., hg. v. Gerhard Wehr. Freib. i. Br. 31979. – Josephus redivivus. o. O. [Amsterd.] 1631. 21635. – Aurora Das ist MorgenRöthe im Auffgang. o. O. [Amsterd.] 1635. 21639 [?]. Neuausg., hg. v. G. Wehr. Freib. i. Br. 1977. – Trost-Schr., Von vier Complexionen. o. O. u. J. [1639?]. – Zween seher schöne SendBriff. o. O. 1639. – Bedencken über Esaiae Stiefels Büchlein, o. O. [Amsterd.] 1639. 21676. Ffm. 31678. – Mysterium magnum. o. O. [Amsterd.] 1640. Amsterd./ Ffm. 21678. – Von Christi Testamenten. [Dresden 1642]. 2. Aufl. Amsterd. [1658?]. 1658 sep. 2. Fassung. – Gebethbüchlein. [Dresden 1642]. o. O. 2 1656. 3. Aufl. [Büdingen 1728?]. – Viertzig Fragen. Amsterd. 1648. 21663. – Dialogus. Amsterd. 1649. Amsterd./Ffm./Lpz. 21692. – Theosoph. Send-Schreiben. Amsterd. 1658. Neuausg., hg. v. G. Wehr. 2 Tle., Freib. i. Br. 1979. – Beschreibung der drey Principien. Amsterd. 1660. – Hohe u. tieffe Gründe. Amsterd. 1660. – Von der Menschwerdung Jesu Christi. Amsterd. 1660. Neuausg., hg. v. G. Wehr. Freib. i. Br. 1978. – Clavis. Amsterd. 1662. – Von sechs Puncten. Amsterd. 1665. – Von der Gnaden-Wahl. Amsterd. 1665. Neuausg., hg. v. G. Wehr. Freib. i. Br. 1978, – Apologia [gegen G. Richter]. Amsterd. 1675. Erw. u. d. T. Judicium [...]. Amsterd. 1677. – Das Umgewante Auge. Amsterd. 1676. – Gründl. Bericht vom [...] Mysterio. Amsterd. 1676. – Apologia [...] Vollkommenheit des Menschen. Amsterd. 1676. – J. B.s Erste Apologia wider Balthasar Tilken. Amsterd. 1676. – J. B.s Andere Apologia wider B. Tilken. Amsterd. 1677. – J. B. Werke [Morgenröte, De Signatura Rerum]. Hg. Ferdinand van Ingen. Ffm. 1997. Ausgaben: Gesamtausgaben: Des Gottseeligen [...] J. Böhmens [...] Alle / Theosoph. Wercken. 15 Bde., Amsterd. 1682 (= Erste oder Amsterdamer Gesamtausg.). – Theosophia Revelata. Das ist: Alle Göttl. Schr.en [...] J. Böhmens. 2 Bde., o. O. 1715 (= Zweite oder Hamburger Gesamtausg.). – Theosophia Revelata [...]. 16 Tle. in 14 Bdn., o. O. 1730 ( =

32 Dritte oder Leidener Gesamtausg.). Neudr., hg. v. Will-Erich Peuckert: J. B., Sämtl. Schr.en in 11 Bdn., Stgt. 1955–61. – J. B.s sämmtl. Werke. Hg. K. W. Schiebler. 7 Bde., Lpz. 1831–47. – Teilausgaben: 1. Von Gott. 2. Von der Hl. Dreyfaltigkeit. 3. Was Gott nach Lieb vnd Zorn [...] Aus J. B. T. Schr.en gezogen, o. O. u. J. [um 1652–54]. – Optimè de pietate et sapientia meriti [...] oder J. Böhmens [...] Theosoph. Schrifften. 15 Tle. in 1 Bd., Amsterd./ Ffm. 1675. – Der Für die Einmütigen epitomirte [...] J. B. Amsterd. 1700. Neudr. Calw 1820. Bln. 1918. – J. B. Die Urschr.en. Hg. Werner Buddecke. 2 Bde., Stgt. 1963–66. Literatur: Bibliografien: Werner Buddecke: Verz. v. J. B.-Hss. Gött. 1934. – Ders.: Die J. B.-Ausg.n. 2 Bde., Gött. 1937–57. – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, S. 672–702. – Biografisches: Will-Erich Peuckert: Das Leben J. B.s. Jena 1924. – Andrew Weeks: J. B. An Intellectual Biography of the Seventeenth Century Philosopher and Mystic. New York 1991. – Gesamtdarstellungen: Paul Hankamer: J. B. Gestalt u. Gestaltung. Bonn 1924. – Hans Grunsky: J. B. Stgt. 1956. 21984. – Heinrich Bornkamm: J. B. In: Die Großen Deutschen. Hg. Hermann Heimpel. Bd. 1,Bln. 1956, S. 500–513. – Alexandre Koyré: La philosophie de J. B. Paris 1929. 21971. – Gerhard Wehr: J. B. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Hbg. 1971. – Ernst-Heinz Lemper: J. B. Leben u. Werk. Bln. 1976. – Bernhard Gorceix: J. B. In: Dt. Dichter des 17. Jh. Hg. Harald Steinhagen u. Benno v. Wiese. Bln. 1984, S. 49–73. – Bo Andersson: ›Du Solst wissen es ist aus keinem stein gesogen‹. Studien zu J. B.s ›Aurora oder Morgen Röte im auffgang‹. Stockholm 1986. – Jan Garewicz u. Alois M. Haas (Hg.): Gott, Natur u. Mensch in der Sicht J. B.s u. seiner Rezeption. Wiesb. 1994. – Erkenntnis u. Wiss. J. B. Internat. J. B.-Symposium. Görlitz 2000. – Sibylle Rusterholz in: Ueberweg, Bd. 4/1, S. 61–102. – Gesch. Piet. Bd. 1, S. 205–217. – Beziehungen: Heinrich Bornkamm: Luther u. J. B. Bonn 1925. – Wirkungen: Edgar Ederheimer: J. B. u. die Romantiker. Heidelb. 1904. – Walter Feilchenfeldt: Der Einfluß J. B.s auf Novalis. Bln. 1922. – Julius Richter: J. B. u. Goethe. In: JbFDH 1934, S. 3–55. – Ernst Benz: Schellings theolog. Geistesahnen. In: Abh.en der Akademie der Wiss.en u. Lit. Mainz 1955. – Günther Bonheim: Zur literar. Rezeption J. B.s im Allgemeinen u. zur dadaistischen im Speziellen. In: Daphnis 25 (1996), S. 307–367. – Edwin Lüer: Aurum u. Aurora. Ludwig Tiecks ›Runenberg‹ u. J. B. Heidelb. 1997. – Themen: Mystik: Ders.: Der vollkommene Mensch nach J. B. Stgt. 1937. – R. T. Llewellyn: J. B.s Kosmogonie in ihrer Beziehung zur Kabbala. In: Antaios 5 (1964), S. 237–250. – Eberhard H. Pältz: Zur Eigenart des

33 Spiritualismus J. B.s. In: Wort u. Welt. FS Erich Hertzsch. Bln. 1968. – Susanne Edel: Die individuelle Substanz bei B. u. Leibniz. Stgt. 1995. – Ferdinand van Ingen: ›Der Anfang der Morgenröte‹. J. B.s reformator. Mystik. In: Die Kirchenkritik der Mystiker. Prophetie aus Gotteserfahrung. Hg. Mariano Delgado u. Gottfried Fuchs. Bd. 2, Fribourg/Stgt. 2005. – Sprache: Wolfgang Kayser: B.s Natursprachenlehre u. ihre Grundlagen. In: Euph. 31 (1930), S. 521–562. – Ernst Benz: Zur metaphys. Begründung der Sprache bei J. B. In: Euph. 37 (1936), S. 340–357. – Peter Schäublin: Zur Sprache J. B.s. Winterthur 1963. – Stephen A. Konopacki: The Descent into Words. J. B.s Transcendental Linguistics. Ann Arbor 1979. – Günther Bonheim: Zeichendeutung u. Natursprache. Ein Versuch über J. B. Würzb. 1992. – F. van Ingen: J. B. u. die Natursprache. Eine Idee u. ihre Wirkung. In: Internat. J. B.-Symposium 2000, S. 115–127. – B. Andersson: J. B.s Denken in Bildern. In: Morgen-Glantz 13 (2003), S. 303–319. Ferdinand van Ingen

Böhme, (Wilhelmine) Margarethe, Margarete, (Susanna), geb. Feddersen, auch: Ormános Sandor, * 8.5.1867 (nicht 1869) Husum, † 23.5.1939 Hamburg-Othmarschen. – Romanautorin. B. wuchs im Haus der Lena Wies auf, der »Märchentante« Theodor Storms. Erste Romane u. Erzählungen erschienen noch während ihrer Husumer Zeit in verschiedenen Wochenblättern u. Illustrierten unter ihrem Mädchennamen oder dem Pseudonym Ormános Sandor (»eine spielerische Betätigung meiner lebhaften Phantasie«). In der Folgezeit war B. als Journalistin in Hamburg u. Wien für norddt. u. österr. Zeitungen tätig. 1894 heiratete sie den Zeitungsverleger Friedrich Böhme (eine Tochter). Nach sechs Jahren wurde die Ehe geschieden. Mit Tochter u. Haushälterin zog B. von Boppard nach Berlin-Friedenau. Um finanziell überleben zu können, verfasste sie jährlich vier Romane. Sie selbst bezeichnete sich in dieser Zeit als »Heimarbeiterin« u. »armselige Romanfabrikantin«. In dem Maße, wie es ihr gelang, sich finanziell abzusichern, wurden ihre Romane realistischer u. sozialkritischer. Ihr Handlungshintergrund ist nun sorgfältig recherchiert. Ihren größten Erfolg erzielte B. mit dem Tagebuch einer Verlorenen (Bln. 1905). In ihm

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wird die Karriere einer Eiderstedter Apothekertochter zur Prostituierten, gleichsam dokumentarisch, nachgezeichnet u. die bürgerl. Doppelmoral, die eine solche Karriere erst ermöglicht u. fördert, angeprangert. Mit einer Gesamtauflage von über 1,2 Mio. Exemplaren u. Übersetzungen in 14 Sprachen ist es eines der erfolgreichsten deutschsprachigen Bücher jener Zeit. Es folgen Bühnenbearbeitungen u. Theaterskandale in Berlin, Hamburg, Frankfurt/M., Hannover u. Kiel. Bis spät in die 1930er Jahre dauerte der Streit der Experten verschiedener Disziplinen, ob es sich bei dem »Tagebuch« um ein Originaldokument oder um einen Roman (in Tagebuchform) handelt. Der Soziologe Leopold von Wiese ersuchte B. um Unterstützung bei seinen sozialpsycholog. Studien. Der Psychologe Willy Hellpach empfahl, das Buch in der akadem. Lehre als Fallstudie einzusetzen. Die Wiener Prozesse »Weinlich« u. »Riehl«, in denen es um Kinderprostitution ging u. die international Aufsehen erregten, wurden in der Tagespresse unter Berufung auf das »Tagebuch« kommentiert u. bewertet. Es erschienen zahlreiche Plagiate, u. Verbotsanträge wurden gestellt. Zweimal wurde das Tagebuch verfilmt, 1918 von Richard Oswald u. 1929 von Georg Wilhelm Pabst, mit Louise Brooks in der Hauptrolle. Das »Tagebuch« leitete einen neuen Abschnitt im Schaffen B.s ein. Es erschienen nun ähnlich gestaltete Werke, gleichfalls sozialkritisch u. sorgfältig recherchiert. Auch sie erreichten hohe Auflagen u. wurden in andere Sprachen übersetzt. W.A.G.M.U.S. (Bln. 1911), ein Roman über den Konkurrenzkampf der Berliner Kaufhäuser Wertheim u. Passage, nach eigenem Bekunden wohl das beste Werk aus ihrer Feder, wurde von der frz. u. engl. Literaturkritik mit Emile Zolas Au bonheur des dames verglichen. In dem Roman Christine Immersen (Dresden 1913) schildert B. das Arbeitsleid des neuen Berufsstandes der Telefonistinnen (»dieser lebendigen Automaten am Apparat«, »dieses Kanonenfutters des Verkehrs und der Kommunikation«). Aufgrund ihres Buches Die grüne Schlange (Bln. 1920), das die sozialen Unruhen in Braunschweig um 1918 zum Thema hat, geriet B. in den Verdacht, mit dem Kommu-

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nismus zu sympathisieren. In dem Roman Gesch. eines bewegten Lebens. Bln. 1921. – MariSarah von Lindholm (Lpz. 1914) skizziert sie die anne Wendels Leidensgang. Dresden 1922. – Meine Persönlichkeit einer Werftbesitzerin, einer Schuld, meine große Schuld. Bekenntnisse einer Frau, die in ihrem Betrieb sozialpolit. Refor- armen Sünderin. Dresden 1922. – Die goldene Flut. Dresden 1922. – Die Heirat der Mieze Biedenbach. men im Sinne Ernst Abbes durchzusetzen Was die Kellnerin weiter erlebte. Bln. 1923. – Rotrachtet. switha. Die Gesch. einer Glücklichen. Bln. 1923. 1911 heiratete B. ein zweites Mal, den Literatur: Arno Bammé (Hg.): M. B. Die ErBrotfabrikanten Theodor Schlüter (»Schlüter- folgsschriftstellerin aus Husum. Mchn./Wien 1994. Brot«). Sie bestand auf einen notariell be- – Eva Borst: Ichlosigkeit als Paradigma weibl. Daglaubigten Ehevertrag, der ihr Selbständig- seins. Prostitution bei M. B. u. Else Jerusalem. In: keit in wichtigen Belangen zusicherte (»Die Deutschsprachige Schriftstellerinnen des Fin de Liebe ist ein anormaler Seelenzustand, und siècle. Hg. Karin Tebben. Darmst. 1999, der Entschluss zur Ehe erfordert eine in jeder S. 114–137. – Natascha Ueckmann: Intertextualität Hinsicht robuste Gesundheit der Empfin- in Romanen v. M. B. In: Zu früh zum Aufbruch? Schriftstellerinnen im Nordfriesland der Jahrhundung«). Ihr Verhältnis zur zeitgenöss. Fraudertwende. Hg. Arno Bammé u. a. Bräist/Bredstedt enbewegung war zwiespältig: Die deutsche 1996, S. 105–120. Arno Bammé empfand sie, im Gegensatz zur französischen, als nicht radikal genug. Erfahrungen, die B. in der Brotfabrik ihres Mannes gemacht Böhme, Behm, Behem(b), Bohemus, Martin, hatte, verarbeitete sie in dem Roman Die * 16.9.1557 Lauban, † 5.2.1622 Lauban. – Maienschneider (Bln. 1925), in dem es u. a. um Evangelischer Theologe, geistlicher Dichdie Einführung u. Durchsetzung eines nahr- ter. hafteren, v. a. eines gesünderen, dunklen Vollkornbrotes geht. Auch hier, wie in vielen Nach dem Schulbesuch in Lauban u. Wien ihrer späteren, anspruchsvolleren Werke, er- (1574–1577) u. der Ausbildung zum luth. weist sich B. als genaue Beobachterin. Parallel Pastor in Straßburg (1577–1580) u. Lauban dazu veröffentlichte sie weiterhin gefällige, (1580–1586) war B. bis zu seinem Tod Hauptpastor seiner Heimatstadt. In Ausschnell hingeschriebene Bücher, die themaübung seines Amtes verfasste er zahlreiche tisch an den Publikumserfolg des »TagePredigten, Kirchenlieder u. drei Dramen. Der buchs« anknüpfen sollten. Kirchen Calender (Lauban 1604), eine ErbauWeitere Werke: Im Irrlichtschein. Bln. 1903. – ungsschrift zum Jahresgeleit, erlebte sieben, Zum Glück. Dresden 1903. – Wind u. Wellen. die Sammlung von 150 Betrachtungen im Halligroman. Reutlingen o. J. – Lebensretter Belf. Geist Johann Arndts Spectaculum passionis Jesu Die Gesch. eines vierfüßigen Helden. Reutlingen o. J. – Wenn der Frühling kommt ... Bln. 1904. – Christi (Wittenb. 1616) drei Auflagen. BeVanvoegelferme. Ein Zeitroman. Lpz. o. J. – Treue. zeichnend für B.s vorpietist. Frömmigkeit Bln. o. J. – Rheinzauber. Bln. o. J. – Herzensirren. waren die 323 Reimgebete, die er ab 1606 in Chemnitz o. J. – Fetisch. Bln. 1904. – Des Gesetzes Wittenberg veröffentlichte und u. d. T. Erfüllung. Bln. o. J. – Abseits vom Wege. Bln. 1904. Centuriae tres precationum rhythmicarum das ist – Die grünen Drei. Bln. 1905 (u. d. T. Anna Nissens Drey Hundert Reim-Gebetlein (o. O. [Wittenb.] Traum. Dresden 1913). – Mieze Biedenbachs Er- 1620. 21634 u. ö.) als Sammlung herauslebnisse. Erinnerungen einer Kellnerin. Bln. 1906. brachte; sieben davon leben heute im EKG – Dida Ibsens Gesch. Ein Finale zum »Tagebuch nach (49, [317], 343, 370, 377, 378, 379, 491). einer Verlorenen«. Bln. 1907. – Apostel DodenSein Ruf als Dichter beruhte auf den Drey scheit. Briefe an eine Dame. Bln. 1908. – Die graue schönen geistl. Comoedien (Wittenb. 1618), DraStraße. Dresden 1908. – Im weißen Kleide. Dresden men, die er zur Jahrhundertfeier der Refor1912. – Das Telegramm aus Meran. Dresden 1913 (u. d. T. Frau Ines’ Firmenwanderung. Dresden mation verfasste. Judith stellt die Heldin als 1922). – Kriegsbriefe der Familie Wimmel. Dresden Kämpferin gegen die blasphem. Übermacht 1915. – Siebengestirne. Dresden 1915 (u. d. T. des Holofernes dar, eine Analogie zum reNarren des Glücks. Dresden 1923). – Millionen- formator. Streit. Tobias macht die rechte Lerausch. Bln. 1919. – Lukas Weidenstrom. Die bensführung in der luth. Familie anschau-

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lich. Acolastus, ein Drama zum Thema des verlorenen Sohns, zeichnet Abfall vom u. Rückkehr zum Vater nach: eine Darstellung von Reue u. Bekehrung des gläubigen Einzelnen. In den Komödien fasste B. die religiöse Gedankenwelt seiner Zeit zusammen: die Stellung des Christen in der Gesellschaft, im Familienkontext, als Individuum. Die gereimten Paarverse zeugen von eher biederem dichterischen Können; dass B. die altbewährten Themen des protestant. Schuldramas aufgriff, offenbart die traditionelle Einstellung zum Dichtertum: Literatur im Dienst des Luthertums. Als Dichter war er weniger bedeutend denn als Typ des schriftstellerisch aktiven protestant. Pastors. Weitere Werke: Die drey grossen Landtplagen, Krieg, Tewrung, Pestilentz [...]. Wittenb. 1601. 2 1620. 31629. – Theologica contemplatio hominis [...]. 3 Tle., Wittenb. 1624. – Busz Spiegel [...]. In XIV. Predigten verfasset. Wittenb. 1627. 21634. Ausgabe: M. Behemb’s geistl. Lieder. In einer Ausw. nach den Originaltexten hg. v. Wilhelm Nöldeke. Halle 1857. – Wackernagel 5, Nr. 274–374. Literatur: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, S. 703–712. – Weitere Titel: Franz Spengler: M. B. In: Xenia Austriaca 2 (1893), S. 43–66. – P. Pressel u. Wilhelm Scherer in: ADB 2, S. 282 bzw. 3, S. 59. – Frels, S. 30. – Franz Lau: M. B. In: NDB. – Richard Erich Schade: M. B. (1557–1622). The Lutheran Pastor as a writer. Diss. Yale 1976. – Ders.: M. B. and Ludwig Hollonius: Lutheran apologists for drama. In: MLN 92 (1977), S. 583–594. – Heiduk/ Neumeister, S. 16, 146, 298 f. – R. E. Schade: M. B.s ›Judith‹ (1618). An anti-catholic drama on the Reformation centenary. In: Theatrum europeum. FS Elida M. Szarota. Mchn. 1982, S. 217–239. – Ders.: Zur Bildlichkeit in den Kirchenliedern M. B.s. In: Das Protestant. Kirchenlied im 16. u. 17. Jh. Hg. Alfred Dürr. Wiesb. 1986, S. 49–60. – Hans-Georg Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 2: Konfessionalismus, Tüb. 1987. – DBA 117,235–239. – HKJL. Von 1570 bis 1750, Sp. 1119 f. Richard Erich Schade / Red.

Böhme, Thomas, * 24.11.1955 Leipzig. – Lyriker, Verfasser von Romanen. Nach Abitur, Armeedienst u. einem nicht beendeten Lehrerstudium war B. Bibliotheksfacharbeiter u. Werberedakteur. 1981–1984 absolvierte er ein Fernstudium

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am Johannes R. Becher Literaturinstitut in Leipzig. Seit 1985 arbeitet er als freischaffender Autor, Herausgeber, Essayist u. Fotograf. B. ist Mitglied des Deutschen PENZentrums, des Deutschen Schriftstellerverbandes u. der Freien Akademie der Künste zu Leipzig. 1988 erhielt er den Georg-MaurerPreis der Stadt Leipzig, 1994 die Ehrengabe der Schiller-Stiftung Weimar u. 2006 den Literaturförderpreis Sachsen. Gedichte & Gebilde ist der Untertitel von B.s erstem Gedichtband Mit der Sanduhr am Gürtel (Bln./Weimar 1983). In ihm regiert ein kesser Ton, der wohl auch auf Peter Gosses Einfluss zurückzuführen ist. Pop-Songs u. Alltagslyrik dienen als Ansatz für lockere Strophen; ein typischer Titel lautet: Letzte Party an der Côte d’Azur mit Mick Jagger als Marilyn Monroe verkleidet. Der amerikan. Tonfall ist provozierend gemeint, als Absage an ein zu rigides Konzept des kulturellen Erbes u. des Aufbaus einer Nationalkultur. Es gibt Prosagedichte, gekonnte Adaptionen der Elegie u. viele anaphorische Fügungen. Als seine Vorbilder nennt B. Allan Ginsberg, Charles Bukowski: »Das waren die Säulenheiligen meiner Jugendjahre«. Dazu gesellen sich Jack Kerouac, Rolf-Dieter Brinkmann, dann aber auch Stefan George, Gottfried Benn u. August von Platen: nicht eben Namen der offiziellen DDR-Kultur. In B.s zweitem Lyrikband Die schamlose Vergeudung des Dunkels (Bln./Weimar 1985) ergänzen eigenwillige Sonette, Liedstrophen, barocke Formen die freien Verse. Themen sind die Widersprüche des Alltags u. die zugehörigen gelähmten Aufbruchsneurosen, der Verlust der Naturbilder u. die Zunahme der Geräusche; die v. a. homoerotische Liebe, die das Dunkel zu schätzen weiß u. nicht vergeudet; Porträts, auch Neuerzählungen von Mythen, Grotesken. B.s dritter Gedichtband Stoff der Piloten (Bln./Weimar 1988) konkretisiert B.s Motto »nach etwas lebendem sehn« u. behandelt formal wie thematisch Motive der Enteignung u. Entfremdung des Sehens. Das führte B. erneut auf eine konsequent moderne Lyriksprache, die Zitate u. Anspielungen nur als Voyeurismus, freilich auch als Vermischung – etwa mit Stefan George –, aber nicht als

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»Erbe« gelten lässt. Die Piloten werden zu einer zentralen Metapher. So heißt es im Gedicht die piloten der bühne: »sie proben das aufschwingen / abstürzen gleiten um abends sich atemlos / vor dem Vorhang zu zeigen sich zu verneigen / als ob sie noch lebten«. Von lyrischer, bildreicher Sprache geprägt sind auch B.s Romane u. Erzählungen, die oftmals um das Motiv des (realen oder imaginierten) Reisens kreisen (Geruch des Gastes. Bln. 1996; R. Die Erzählungen des Herrn Glasenapp. Bln. 1996; E.en. Dämmerung mit Dingen. Bln. 2000; E.). Weitere Werke: Einübung der Innenspur. Bln. 1990 (R.). – ich trinke dein plasma november. Bln. 1991 (L.). – ballett der vergeßlichkeit. Lpz. 1992 (L.). – Topographien einer Wundvermessung. Bln. 1993 (L.). – Vom Fleisch verwilderte Flecken. Bln. 1995 (R.). – Und an Bahnhöfe denken. Bln. 2001 (L.).– Balthus u. die Füchse. Bln. 2004 (N.n). – Nachklang des Feuers. Bln. 2005 (L.). Literatur: Anthonya Visser: Gespräch mit T. B. In: Dt. Bücher 19 (1989), S. 89–102. – Thorsten Dönges: T. B. In: LGL. Alexander von Bormann / Red.

Böhmenschlacht, bald nach 1278. – Historisch-politische Ereignisdichtung. Die mit 185 Versen fragmentarisch (Anfang u. Ende fehlen) überlieferte Reimrede eines unbekannten Dichters berichtet zeitnah vom Sieg des dt. Königs Rudolf von Habsburg über den böhm. Ottokar II. in der Schlacht auf dem Marchfeld (26.8.1278), in deren Verlauf der König von Böhmen den Tod fand. Trotz Glorifizierung des Habsburgers bleibt jede polem. Herabsetzung des Gegners aus. In dem in zwei Handschriften (um 1300) überlieferten Bruchstück stilisiert der Dichter dies Ereignis der Reichsgeschichte gegen die histor. Faktizität als Zweikampf zweier tapferer Ritter. Streckenweise allegorisiert er das Geschehen über die Wappentiere: Habsburger Löwe u. Reichsadler besiegen den böhm. Löwen. Mit den heraldischen Elementen verbinden sich solche der Chronistik, der Heldenepik, des höf. Romans u. der Ehrenrede zu einer neuen Dichtungsform: der historisch-polit. Ereignisdichtung. Der anonyme Autor ist aufgrund von sprachlichen u. überlieferungsgeschichtl.

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Kriterien an den Mittelrhein zu setzen; er hat außer der B. fünf weitere Kleindichtungen verfasst: Schlacht bei Göllheim, Minnehof, Ritterfahrt, Turnier u. Ritterpreis. Eine Identifizierung mit dem aus der Jenaer Liederhandschrift bekannten Spruchdichter Zilies von Sayn ist haltlos. Ausgaben: Rochus v. Liliencron (Hg.): Die histor. Volkslieder. Bd. 1, Lpz. 1865. Nachdr. Hildesh. 1966, Nr. 2, S. 4–9. – Adolf Bach (Hg.): Die Werke des Verf. der Schlacht bei Göllheim. Bonn 1930, S. 210–219. Literatur: A. Bach: Die Werke (s. o.), passim. – Erich Kleinschmidt: Herrscherdarstellung. Bern/ Mchn. 1974, S. 114, 223. – Ingeborg Glier: ›Schlacht bei Göllheim‹ (u. verw. Denkmäler). In: VL. – Sonja Kerth: ›Der landsfrid ist zerbrochen‹. Wiesb. 1997, passim. Karina Kellermann

Böhmer, Paulus, * 20.9.1936 Berlin. – Lyriker, Übersetzer, Essayist. B. wuchs auf im kleinen Ort Nieder-Ofleiden im Ohmtal/Oberhessen. Er lebte (kurzzeitig) in einem kath. Internat u. war als Messdiener tätig. Von 1950 an wohnte er in Essen, wo er ein Humanistisches Gymnasium besuchte. Nach dem Abitur studierte B. zunächst Jura, dann Architektur in Frankfurt/M. Beide Studien brach er jedoch ab, um nunmehr in Berlin ein Germanistik-Studium aufzunehmen, das ebenfalls unabgeschlossen blieb. Hier geriet er in Kontakt zu literar. Kreisen, u. a. Walter Höllerer. Eng befreundet war er mit Günther Bruno Fuchs. Mitte der 1960er Jahre wurde ihm das Berliner Boheme-Leben zuviel, er kehrte zurück nach Westdeutschland u. absolvierte in Mannheim eine Lehre zum Industriekaufmann. Während dieser Zeit begann er zu schreiben, das meiste noch für die Schublade, bevor er 1963 mit dem Liederbuch der Quantität ein erstes Buch in V. O. Stomps’ Eremitenpresse veröffentlichte (Stierstadt 1963); seine Familie aber kaufte die gesamte Auflage auf, um den Vertrieb zu unterbinden. Auch zwei weitere Kleinverlagspublikationen sind heute komplett vergriffen (Pelzblumen unter den Deckeln der Marmeladegläser. Bad Homburg 1965. Softgirls. Ffm. 1970). B. arbeitete kurze Zeit als Industriekaufmann, war aber dann als Gartenge-

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stalter, Stauden- u. Ziergraszüchter tätig. In seines lyr. Werkes in verstärktem Maße ein, diese Zeit fällt seine erste umfangreichere auch u. gerade initiiert von jüngeren LyriVeröffentlichung Aktionen auf der äusseren kerkollegen wie Nico Bleutge oder Jan Volker Rinde. 1966–1969 (Ffm. 1972), die in Jörg Röhnert. Insbesondere die Sprachgewalt der Schröders legendärem März-Verlag erschien. B.’schen Schöpfungen wurde dabei zu Recht Hierbei handelt es sich um eine experimen- herausgestellt, da es in der Tat eines außertelle Mischform von Lyrik u. Prosa, im Stil der gewöhnlichen Atems bedarf, um ein solches Zeit sind Fotos, Materialcollagen u. Fund- 350-seitiges Langgedicht zu inszenieren. stücke eingeschaltet. 1973 wandte sich B. 2007 erschien eine umfangreiche Fortsetzung nach Frankfurt/M., wo er als freiberuflicher unter dem Titel Kaddish XI-XXI (Ffm.), die den Reizwarenlieferant, Lektor u. Werbetexter Zyklus abschließt. wirkte. Zus. mit Peter O. Chotjewitz veröfWerke: Dein schwarzgekacheltes Blut. Dein fentlichte er zwei Kinderbücher (Itschi hat ei- Blut. Gießen 1993. – Säugerleid. Ffm. 1996. – Die nen Floh im Ohr, Datschi eine Meise. Hann. 1973 Ohm. Ostheim/Rhön 1997. – Eben noch, vor langer u. Kinder, Kinder! Hann. 1973), bevor er nach Zeit, jetzt. Ein Gedicht. Ffm. 1997. – Palais längerer Pause einen bibliophilen Band mit d’Amorph. Ffm. 1999. – Jehuda Amichai: Zeit Bildern, Gedichten, Gouachen u. Collagen (Übers. mit Lydia Böhmer). Ffm. 1998. – Die 13 Schnecken (mit Katharina Hacker). Ffm. 1999. – vorlegte (Des Edelmannes Ernst muss Luxus sein. Jehuda Amichai: Jerusalem-Gedichte (Übers. mit L. Friedberg 1985[?]). 1985 wurde B. Leiter des Böhmer). Zürich/Mchn. 2000. – Du aber bist schön Hessischen Literaturbüros in Frankfurt/M., wie eine Million Waggons. Ffm. 2000. – Wäre ich eine Position, die er bis 2001 bekleidete. Seit unsterblich. Gedichte 1996–99. Mchn. 2001. – dem Ende der 1980er Jahre begann B. in Lama Lama Sabachthani. Ostheim 2001. – Fuchsschneller Folge Gedichtbände zu veröffentli- leuchten. Ffm. 2004. – Kaddish I-X. Sonderausg. chen (Darwingrad. Gießen 1989. Mein erster zum 70. Geburtstag 2006. – Die Formeln der BeTod. Ffm. 1989. Da sagte Einstein. Gießen schwörung. Elisabeth Borchers zum 80. Geburtstag 1990). Seine Lyrik ist in ihren Anfängen ge- (Hg. mit Jochen Winter). Ffm. 2006. – Zeit bis zum prägt von der Rezeption der Beat Generation, Zug, erzähl! (Hg. mit Wolfgang Roth). Ffm. 2006. Literatur: Bibliografien: DDL-Ergänzungsbd. 2, insbes. von den Langgedichten Allen Ginsbergs, aber auch von der vitalist. Prosapoesie Sp. 224/225. – DDL, Das 20. Jh., Bd. 3, Sp. 277. – Weitere Titel: Alban Nikolai Herbst: ›Wer ich bin?‹ Walt Whitmans. Ähnlich wie der dt. NaturaNotizen zu P. B. Ffm. 1998. – Ders.: Jedes Stilleben list Arno Holz ordnet B. seine Lyrik grafisch Lüge. Kleine Anmerkung zur Dichtung P. B.s. In: zentriert an, richtet also das Layout grund- Akzente 45 (1998), 1, S. 38–41. – Alexander Frank: sätzlich an der Mittelachse der Buchseite aus, Lebendiges Totes. P. B.s universale Gedichte. [Rez. sodass der Textfluss visuell vehement voran- zu:] Kaddish I-X. In: NDL 51 (2003), H. 548, getrieben wird. Wirkungsästhetisch wird S. 173–175 . – A. N. Herbst: P. B. In: LGL. – Jan dem Leser so eine quasi meditative, nicht re- Volker Röhnert: Wenn der Kritiker am Kunstwerk flexive Rezeption nahegelegt. Trotz der graf. scheitert. Entgegnung auf Alexander Franks Rez. v. Überstimmung sind inhaltl. Einflüsse von P. B.s ›Kaddish‹. In: NDL 51 (2003), H. 550, Holz kaum zu bemerken. 1991 veröffent- S. 147–150. – Ders.: Picasso Passo im Palais d’Amorph. Der Dichter P. B. u. der Surrealismus. lichte B. seinen ersten Kaddish (Bln.), ein GeIn: GRM N. F. 55 (2005), 2, S. 191–203. dicht, benannt nach der jüd. Totenklage. Enno Stahl Diese Form baute B. in den nächsten fünfzehn Jahren konsequent aus. Nach weiteren Gedichtbänden u. Übersetzungsarbeiten erBoehn, Max von, * 5.2.1860 Potsdam, schien 2002 sein Kaddish I-X (Ffm.), der ein † 17.5.1932 Berlin. – Kunst- u. Kulturvorläufiges, umfangreiches Resümee des historiker. Kaddish-Zyklus darstellte. Kaddish I-X ist der Versuch, ein kosmologisches Weltgedicht zu Der preuß. Landadel entstammende B. wurde entwerfen, das Zeiten u. Räume zusammen- in jungen Jahren zu einer militär. Laufbahn fasst. Mit diesem ersten Buch in einem Pu- gedrängt, entschied sich jedoch gegen den blikumsverlag setzte die öffentl. Rezeption Offiziersberuf u. lebte vor der Jahrhundert-

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wende als Privatgelehrter in München, später Boeldicke, Joachim, auch: Sincerus, * 3.5. in Berlin. 1704 Plänitz/Priegnitzer Mark, † 15.5. Auf den Spuren der west- u. südeurop. 1757 Spandau/Berlin. – Prediger u. poKunstgeschichte sammelte er Stoff für mo- pularphilosophischer Schriftsteller. nograf. Darstellungen (Giorgione und Palma Vecchio. Bielef. 1908. Lorenzo Bernini. Bielef. Vom Sommersemester 1726 an studierte B. 1912) u. literar. Reiseberichte (Spanische Rei- Theologie in Jena u. Halle (Immatrikulation sebilder. Bln. 1904), in denen er seine Begeg- 15.4.1728); 1732 wurde er Rektor in Königsnungen mit der Kunst zu kultischen Annä- berg/Neumark, 1736 Diakon in Kalbe an der herungen an geniale Meisterwerke stilisierte. Milde, seit 1742 war er Diakon in Spandau u. Es folgte eine Reihe umfangreicher kul- Pastor zu Sacken/Mark Brandenburg. B. trat 1746 mit einem Abermaligen Versuch turhistor. Werke (Biedermeier. Bln. 1911. Vom Kaiserreich zur Republik. Bln. 1917). Hier zeigte einer Theodicee, darinn von dem Ursprung des Bösich das veränderte Interesse B.s, dem die sen in der besten Welt, der Güte, Weisheit und Gekulturellen Überlieferungen nunmehr als rechtigkeit Gottes, wie auch der Freyheit des MenZeugnisse zivilisationsgeschichtlicher Epo- schen gehandelt wird (Bln.) hervor, in welchem chen galten. Auf der Grundlage detaillierter er Leibniz’ Lehrgebäude von Gottes SchöpQuellenstudien entwarf B. facettenreiche Sit- fung als der besten aller Welten auf der tenbilder vergangener Zeiten. Mit seinen Grundlage einer ausgeprägt eudämonist. launigen Beschreibungen von Gemälden, Anschauungsweise zu verbessern suchte. B.s Karikaturen, Briefen, auch Fotografien u. a. Versuch war heftigen Angriffen vonseiten der Dokumenten ließ er Szenen des Alltags aus luth. Orthodoxie ausgesetzt, wurde aber auch der Sicht eines freisinnigen Aristokraten le- von aufklärerischer Seite kritisiert: Georg bendig werden. Seine im Plauderton verfass- Friedrich Meier (Beurtheilung des abermaligen ten »Geschichten«, die mit aufwendigen Re- Versuchs einer Theodicee. Halle 1747) konnte in produktionen ausgestattet waren, zielten auf ihm keinen Fortschritt gegenüber Leibniz u. die Unterhaltung eines großbürgerl. Publi- Christian Wolff erkennen. kums. Weitere Werke: Quod dubia apparentia in saDie größte Beachtung erfuhr Die Mode. cro codice obvia non cum sapientia dei pugnent Menschen und Moden vom Untergang der alten [...]. Praes.: J. B., Def.: Samuel Friedrich Boeldicke. Welt bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts (8 Bde., Küstrin o. J. [1735]. – Nikolaus Friedrich Herbst: Mchn. 1907–25. Neuausg. v. Ingrid Loschek. Prüfung des in dem abermaligen Versuche einer 2 Bde., Mchn. 1976. 21982). B. schilderte Theodicee enthaltenen Lehrgebäudes vom Urdarin nicht nur die Chronologie der Kleider- sprunge des Bösen u. J. B., Vertheidigung desselmoden, sondern versuchte, sie als Ausdruck bigen [...]. Bln./Lpz. 1747. – Auflösung neun epochaler Lebenshaltungen zu deuten; aller- wichtiger Zweifelsknoten, welche seiner Erklärung dings beschränkte er sich dabei auf den Ha- vom Ursprunge u. Bestrafung des Bösen entgegen bitus jeweils herrschender Gesellschafts- gesetzt worden. Bln. 1748. – Sinceri Gutdeutender Versuch, die wahre Absicht Nic. Machiavels [...] zu schichten. Weitere Werke: England im 18. Jh. Bln. 1920. – Das Bühnenkostüm in Altertum, MA u. Neuzeit. Bln. 1921. Nachdr. Rom 1995. – Dtschld. im 18. Jh. Bln. 1922. – Der Tanz. Bln. 1925. – Wallenstein. Wien/Bln. 1926 (Biogr.). – Polizei u. Mode. Bln. 1926. Volker Busch / Red.

entdecken. o. O. 1750. – Encyclopaedia eruditionis versibus germanicis comprehensa [...]. Bln. ca. 1750. – Des abermahligen Versuchs einer Theodicee zweiter Teil, worinn v. den Kennzeichen der Wahrheit, der Glückseligkeit, den Gesetzen der Glückseligkeit, der Ehre Gottes, dem Ursprunge des Bösen, u. der besten Welt gehandelt wird, u. insonderheit dasjenige, was die Herren Herbst, Müller, Obbarius, u. a. eingewendet haben, widerleget wird. Lpz. 1751. Ausgaben: Das Leben der schönen Österreicherin, beschrieben v. Sincero. Ffm./Lpz. 1747. Nachdr. Ffm. 1970.

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Literatur: DBA 118,350–352. – Ueberweg, Bd. 4/2, S. 1076 f. Ernst Fischer / Red.

nernden Wahrnehmung gleichberechtigt als eine von vielen Geschichten erzählt.

Böldl, Klaus, * 21.2.1964 Passau. – Prosaautor; Skandinavist.

Literatur: Thomas Kraft: K. B. In: LGL. – Uwe Schütte: Epiphanien unter eiskaltem Himmel. Zum Prosawerk v. K. B. In: Neoph. 89/3 (2005), S. 419–445. Florian Kessler

B. studierte nordische Philologie, GermanisBöll, Heinrich, * 21.12.1917 Köln, † 16.7. tik u. Komparatistik in München u. Lund 1985 Kreuzau-Langenbroich; Grabstätte: (Schweden). 1999 promovierte er über die Bornheim-Merten. – Erzähler u. Essayist. Rezeption der Edda in Aufklärung u. Romantik, 2005 erfolgte die Habilitation mit Als Sohn eines Kunsttischlers waren B. Eigi einhamr. Beiträge zur Eyrbyggja und anderen Kindheits- u. Jugendjahre zwischen den Isländersagas (Bln./New York 2005). B. ist Pri- Kriegen bestimmt von einem kleinbürgerlich vatdozent am Institut für nordische Philolo- u. katholisch geprägten Kölner Milieu. Die gie der Universität München. enge, affektive Anbindung an die eigene faNeben zahlreichen wiss. Arbeiten, Über- miliäre Herkunft, an Region u. Religion, an setzungen u. Herausgeberschaften im Bereich Zeit u. Gesellschaft hat B. rückblickend als der Nordistik bestimmt das Interesse an Fundament seines literar. Schaffens bezeichSkandinavien anfänglich auch B.s Prosawerk. net. Nach dem Abitur 1937, einer abgebroDer Debütroman Studie in Kristallbildung (Ffm. chenen Buchhandelslehre, nach Reichsar1997) u. die nachfolgende Erzählung Südlich beitsdienst u. Studienbeginn (Germanistik, von Abisko (Ffm. 2000) bilden in detailreich Altphilologie) erfolgte die Einberufung zur ruhiger Sprache das Innenleben einsamer zi- Wehrmacht. Als Soldat war B. an der West- u. vilisationskrit. Protagonisten ab, die in den Ostfront eingesetzt; er geriet bei Kriegsende kargen Lebenswelten Grönlands bzw. Lapp- in frz. u. engl. Gefangenschaft u. kehrte Ende lands besonders durch die Konfrontation mit 1945 nach Köln zurück. Seit 1942 war er mit den Dimensionen nordischer Landschaft in der Lehrerin Annemarie C¸ech verheiratet; einen Zustand der Entschleunigung u. zwischen 1947 u. 1950 wurden die Söhne Wahrhaftigkeit geraten: »Die Landschaft hier Raimund, René u. Vincent geboren. wirft jedoch nichts zurück. Sie läßt den Neben verschiedenen Gelegenheitsarbeiten Menschen stehen, so wie er ist.« Während nahm die literar. Tätigkeit einen immer gröbeide Veröffentlichungen ihre jeweiligen Ta- ßer werdenden Platz in B.s Leben ein; seit bleaus u. Reflexionen mit Hilfe reduzierter, 1947 veröffentlichte er erste Kurzgeschichten fast nur angedeuteter Handlungsläufe an- in Zeitungen u. Zeitschriften. Nach der Pueinanderbinden, verzichtet das Reisebuch Die blikation seiner ersten beiden Bücher (1950) fernen Inseln (Ffm. 2003) auf jegl. »Überbau« lebte B. seit 1951 als freier Schriftsteller. Im u. widmet sich in der freien Assoziation eines selben Jahr erhielt er den Literaturpreis der erzählenden Ichs den Landschaften, Witte- Gruppe 47, zu deren Gründungsmitgliedern rungen, Sagen u. Geschichten Islands u. der er gehörte, u. war bereits in den 1950er JahFaröer-Inseln. In Anklang etwa an Peter ren eine zentrale Figur der sich neu konstiHandke oder W. G. Sebald verfestigt sich so tuierenden, nonkonformistisch u. sozialkrizwischen Erzählung u. Anschauung eine tisch ausgerichteten westdeutschen NachPoetik der Kontemplation u. des plötzlichen kriegsliteratur. metaphys. Moments. Diesem Prinzip folgt In den folgenden Jahren unternahm B. auch die Erzählung Drei Flüsse (Ffm. 2006), längere Reisen, u. a. nach Irland u. in die Sodie sich mit der Vergegenwärtigung der Hei- wjetunion, u. erhielt zahlreiche bedeutende matstadt Passau einem biografisch grundier- Preise u. Auszeichnungen, darunter den ten Hintergrund zuwendet. Die Passauer Großen Kunstpreis des Landes NordrheinKindheit des erzählenden Ichs wird innerhalb Westfalen (1959), den Literaturpreis der Stadt seiner nuancenreich empfindenden u. erin- Köln (1961), den Georg-Büchner-Preis der

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Deutschen Akademie für Sprache u. Dichtung (1967) u. den Nobelpreis für Literatur (1972). Als Präsident des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland (1970–1972) u. des Internationalen PEN (1971–1974) engagierte er sich für soziale Belange von Autoren u. in vielen Einzelfällen für verfolgte Kollegen in aller Welt. Dem Ausgleich zwischen den Deutschen u. Osteuropa galt seine besondere Anstrengung. Zgl. protestierte er mit zunehmender Schärfe gegen innenpolit. Repression u. – in seinen letzten Lebensjahren mit großer moralischer Autorität innerhalb der Friedensbewegung – gegen weltweite Aufrüstung. Seit 1983 war B. Ehrenbürger seiner Heimatstadt Köln. Er lebte zuletzt in BornheimMerten, wo er im Lamuv Verlag mitwirkte, den u. a. sein Sohn René gegründet hatte. Im Sommer 1985 erlag B. einem Kreislaufleiden. Für sein Schreiben ist sowohl die »Gebundenheit an Zeit und Zeitgenossenschaft« wie auch die »Fortschreibung« bestimmter Themen u. Motive konstitutiv. B. entwickelte u. variierte über vier Jahrzehnte hinweg ein Repertoire solcher Themenfelder, Handlungsmuster u. Schreibweisen, die in fast allen seiner Werke wiederzufinden sind. Da diese fast ausnahmslos auf die jeweilige Gegenwart mit ihren historischen, sozialen, moralischen u. ideellen Problemen bezogen sind, hat man sie denn auch als einen »fortlaufenden Kommentar zur Geschichte Nachkriegsdeutschlands« (Wolfram Schütte) bezeichnet. So versuchen sowohl die Kurzgeschichten des Bandes Wanderer, kommst du nach Spa ... (Opladen 1950 u. ö. Mchn. 351995) als auch die längere Erzählung Der Zug war pünktlich (Opladen 1950 u. ö. Köln 1996. Lpz. 1998) u. der episod. Kurzroman Wo warst Du, Adam? (Opladen 1951 u. ö. Mchn. 231995) die typischen Erfahrungen von Krieg u. Nachkriegszeit in eine lakon. Erzählsprache umzusetzen. Der Verlust aller Ordnungen u. Wertorientierungen sowohl in der katastrophalen Kriegsrealität als auch in den nicht weniger chaotischen Trümmerjahren nach 1945 wird hier aus individueller Perspektive zum Thema. B.s sympathische Erzählerfiguren misstrauen dem brutalen System des Militärs ebenso wie

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den subtilen Zwängen der »verwalteten Welt«, die sie als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln erleben (exemplarisch in der Kurzgeschichte An der Brücke. In: Wanderer kommst du nach Spa ...). Erfüllung u. Lebenssinn erfahren sie nur in flüchtigen Momenten zwischenmenschlicher Begegnung u. gemeinsamen Genusses; die geteilte Zigarette wird zu einem für diese Zeit typischen Leitmotiv. B. hat seine literar. Anfänge wie die seiner Generationsgenossen eine »Suche nach einer bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land« genannt. Seine frühen Texte schließen weniger an die literar. Tradition der Exilliteratur an, als dass sie Anregungen des frz. Renouveau Catholique (u. a. Léon Bloy) u. amerikanischer Erzähler wie Ernest Hemingway aufnehmen u. von einer bisweilen überzeichneten Symbolik gekennzeichnet sind. Die Arbeit an der Großform des Romans zeigt ähnl. Tendenzen. Die Romane der 1950er Jahre, die sich primär der Nachkriegsrealität zuwenden, weisen thematisch wie erzählerisch zunehmende Komplexität auf. Und sagte kein einziges Wort (Köln 1953. 15., neu durchges. Aufl. Mchn. 1995), B.s erster Bucherfolg, rekapituliert aus der Wechselperspektive eines Paares die Geschichte einer materiell u. religiös motivierten Ehekrise – u. ihrer Überwindung durch subjektive Glaubensgewissheit. Wer dies – wie Gert Kalow vorgeschlagen hat – als ein Buch »erneuerter Frömmigkeit« lesen wollte, musste freilich auch die scharfe Kritik an einer Amtskirche registrieren, die ihren seelsorgerischen Auftrag häufig vernachlässigt, wenn nicht sogar verraten hat. Haus ohne Hüter (Köln 1954 u. ö. Mchn. 8 1993) u. Billard um halbzehn (Köln 1959 u. ö. Zuletzt 2007), beide als Familienromane angelegt, arbeiten mit doppelter Erzählebene u. thematisieren in der Spannung von Gegenwart u. Vergangenheit zgl. den Gegensatz von Erinnern u. Vergessen. Es treten sich, wie schon in dem frühen Text Das Vermächtnis (Bornheim-Merten 1982 u. ö. Mchn. 62002) u. in vielen späteren Werken, zwei Figurengruppen gegenüber: solche, die auf ihre Erinnerung, auf Leid u. Schuld fixiert sind u. Leistung im Sinne einer Karriere verweigern,

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u. jene, die »ihre Erinnerung geschlachtet« haben u. nun in den Machtzentren der neuen Gesellschaft regieren. Lange vor Alexander u. Margarete Mitscherlich hat B. den Problemkreis der »Unfähigkeit zu trauern« erzählerisch gefasst; auch in diesem Zusammenhang brachte ihm seine drastische Symbolik (»Sakrament des Lammes« versus »Sakrament des Büffels« in Billard um halbzehn) verschärfte Kritik ein. Anders als in diesem Roman, stilistisch eine Mischung aus Familiensaga u. Montage, wählte B. für Ansichten eines Clowns (Köln 1963 u. ö. Zuletzt Mchn. 2007) eine stimmige, wenn auch artifizielle Form. In einem einzigen Telefon- u. Bewusstseinsmonolog nimmt die Kunstfigur des Clowns u. abtrünnigen Millionärssohns Hans Schnier eine »Generalabrechnung mit dem CDU-Staat« der 1950er u. frühen 1960er Jahre vor. Er kritisiert die Verleugnung der Vergangenheit, die Heuchelei der Amtskirche u. hält ihnen seine Trauer, sein privates Beharren auf dem sakramentalen Gehalt der Ehe (auch ohne Trauschein) entgegen. Mit diesem Buch, das die bis dahin heftigsten Kontroversen um B. auslöste, war er ans Ende einer Schaffensphase gelangt, die ganz der moralisch fundierten Kritik an der westdt. »Restauration« gegolten hatte. Der Blick auf den Erzähler u. bes. den Romancier B. lässt jedoch allzu leicht Seitenlinien seines Schaffens unbeachtet, die seit den späten 1950er Jahren immer wichtiger wurden: die satirische Erzählung (Doktor Murkes gesammeltes Schweigen. Köln 1958 u. ö. Zuletzt 2000); die idyllische Reiseschilderung, die zgl. eine Form indirekter Deutschlandkritik ist (Irisches Tagebuch. Köln 1957 u. ö. Zuletzt 2007); die literar. Übersetzung (mit Annemarie Böll), v. a. aus dem Englischen; die polit. Publizistik als Rede, Rezension, Interview (Aufsätze, Kritiken, Reden. Köln 1967) u. schließlich die literar. Selbstverständigung (Frankfurter Vorlesungen. Köln 1966. Mchn. 3 1974). Vor allem die publizist. Arbeiten – Einmischung erwünscht (Köln 1977) u. Die Fähigkeit zu trauern (Bornheim 1986. Mchn. 1988) – gewannen bis zu B.s Tod immer mehr an Bedeutung. Im Sinne einer »Ästhetik des Humanen«, die sich, wie er sagte, ähnlich an

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Goethes, Stifters oder Jean Pauls Werk darstellen ließe, ging es ihm um die Verteidigung des Alltäglichen, des individuellen Lebensraums u. der persönl. Würde gegen die sich immer dichter zusammenschließenden Zwänge u. Ansprüche der staatlichen u. kirchl. Institutionen, des Konsumdenkens, der Massenmedien u. Meinungsmanipulation. »Es ist unsere Aufgabe«, schrieb er schon 1952 in einem Bekenntnis zur Trümmerliteratur (am 15.5. in: »Die Literatur«), »daran zu erinnern, daß der Mensch nicht nur existiert, um verwaltet zu werden – und daß die Zerstörungen in unserer Welt nicht nur äußerer Art sind [...].« Diese Motive machen sich auch in den Erzählwerken der späten 1960er u. frühen 1970er Jahre geltend, deren Form u. Stil durchaus differieren. Ende einer Dienstfahrt (Köln 1966 u. ö. Zuletzt 2003) nutzt die klass. Novellenform u. eine subtile Ironie, um anhand des Prozesses gegen die Herren Gruhl sen. u. jun., die einen Bundeswehrjeep feierlich verbrannt haben sollen, einerseits den »Unsinn« des militär. Betriebs anzuprangern, andererseits aber zu zeigen, wie nachbarschaftl. Solidarität die rechtl. Konsequenzen dieser Tat abzuwenden versteht. Das Provinzielle wird hier – harmonisierend u. idealisierend – im Sinne der Frankfurter Vorlesungen als Utopie konkretisiert. Dort sagt B.: »Wie ich Spott über Heimat für dumm halte, so halte ich es für provinzlerisch, Provinzialismus zu verachten.« Das Lob der guten Nachbarschaft u. die Verteidigung des individuellen Wohn- u. Freiheitsraums bilden auch in dem Roman Gruppenbild mit Dame (Köln 1971 u. ö. Zuletzt 2007) ein thematisches Zentrum, einem Roman, den man nicht zu Unrecht als B.s epische Summe, als sein bedeutendstes Buch bezeichnet hat. Der Versuch, die Vertreibung der ebenso unangepassten wie liebenswerten Leni Pfeiffer abzuwenden, ist darin mit der Lebensgeschichte dieser »Frau von Ende vierzig« verknüpft, die nach B.s Worten »die ganze Last dieser Geschichte zwischen 1922 und 1970 mit auf sich genommen hat«. In einer locker gefügten, die histor. Erfahrung der Leser ansprechenden Romanform u. einem wandlungsfähigen, ironischen Erzählton zeigt dieses Buch B. auf

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der Höhe seines epischen Schaffens. Er legte damit einen bedeutenden Roman erlebter Geschichte vor u. entwarf mit seiner Heldin Leni die utop. Wunschfigur einer nichtentfremdeten, am Bloch’schen »Prinzip Hoffnung« orientierten Lebensform. Ganz der gesellschaftspolitischen Aktualität verpflichtet ist dagegen die novellist. Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann (Köln 1974 u. ö. Zuletzt 2002). Thematisch verknüpft sie das Problem der Gewalttat eines Einzelnen mit dem der Zerstörung einer bürgerl. Identität durch den Missbrauch publizistischer Macht, hier in Gestalt der »BILD-Zeitung« aus dem Springer-Verlag. Der Publikumserfolg dieses Textes (mit Abstand B.s verbreitetster Titel), aber auch die Angriffe u. Schmähungen, die er dem Autor einbrachte, belegen seine Durchschlags- oder zumindest Irritationskraft. B. hatte sich bereits 1972 gegen die »Demagogie« der Springer-Presse geäußert, die er für das Klima der Diffamierung u. Verfolgung zu jener Zeit verantwortlich machte (Will Ulrike Meinhof Gnade oder freies Geleit? In: »Der Spiegel«, 10.1.1972). Sein Appell, eine Eskalation von Gewalt u. Gegengewalt zu verhindern, blieb ungehört. B.s kritisches Verhalten lenkte schließlich, u. erneut im »Deutschen Herbst« des Jahres 1977, Diffamierung u. Bedrohung auf den Autor selbst. B. wurde in »BILD« als geistiger Komplize terroristischer Agitation angeprangert. Eine deutliche Verdüsterung seines Gesellschaftsbildes, wie sie in den folgenden Romanen unübersehbar wird, wurde von solchen persönl. Erfahrungen mit verursacht. Fürsorgliche Belagerung (Köln 1979 u. ö. Mchn. 8 1995) entwirft das Bild eines totalen Überwachungsstaates, dem einzig noch ein Programm des subjektiven Aussteigens entgegengesetzt werden kann. Frauen vor Flußlandschaft (Köln 1986 u. ö. Zuletzt 2007), kurze Zeit vor B.s Tod erst abgeschlossen u. postum erschienen, zeichnet ein gespenstisches Tableau totaler Korruption im Umkreis der Bonner Politik u. ihrer Machteliten. Beide Arbeiten sind von der Kritik recht skeptisch u. oft negativ beurteilt worden. Es schien, als hätten sich B.s fortgeschriebene Themen u.

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Erzählmuster in gewissem Sinne erschöpft; bes. sein letzter Roman lässt sich als ein elegisches Selbstzitat verstehen. Im Kontrast dazu bildete sich bei B. eine zunehmende publizist. Aktivität in den frühen 1980er Jahren aus, die einerseits auf aktuelle Bedrohungen wie den weltpolitischen Aufrüstungswettstreit reagierte, andererseits sich erinnernd zurückwandte zur erlebten Vergangenheit, die als Lebensgeschichte u. Zeithistorie anschaulich wurde, ein Anliegen, das bereits dem autobiogr. Text Was soll aus dem Jungen bloß werden? (Bornheim-Merten 1981 u. ö. Mchn. 51990) zugrunde liegt. B.s literarhistor. Bedeutung ist unbestritten. Dennoch war er kein Avantgardist, der die literar. Entwicklung vorangetrieben hat, kein Jahrhundertschriftsteller. Seine Erzählstoffe waren für Zeitgenossen nachvollziehbar, seine Erzählmuster konventionell u. gerade deshalb beliebt. Doch wie kein Zweiter hat er mehreren Lesergenerationen ihre eigenen Erfahrungen in Kriegs- u. Trümmerzeit, in der neudt. Restauration, der nachfolgenden Reformära u. schließlich in den Jahren der konservativen »Wende« greifbar u. durchsichtig gemacht, indem er sie in mehr oder minder kunstvollen Geschichten wiedergab. Im Blick des Auslands haben seine Schriften u. seine Person nicht wenig dazu beigetragen, das histor. Bild des »hässlichen Deutschen« zu revidieren. B. war einer der erfolgreichsten Schriftsteller der damaligen Bundesrepublik Deutschland; er hat wie kein anderer ihre Literatur u. ihre polit. Kultur geprägt. Weitere Werke: Eine dt. Erinnerung. Interview mit René Wintzen. Köln 1979. – Vermintes Gelände. Essayist. Schr.en 1977–81. Köln 1982. – Ein- u. Zusprüche. Schr.en, Reden u. Prosa 1981–83. Köln 1984. – Schr.en u. Reden 1952–85. 9 Bde., Mchn. 1985–87. – Wir kommen weit her. Gött. 1986 (G.e). – Die Hoffnung ist wie ein wildes Tier. Der Briefw. zwischen H. B. u. Ernst-Adolf Kunz 1945–53. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Herbert Hoven. Mit einem Vorw. v. Johannes Rau. Köln 1994. – Briefe aus dem Krieg 1939–45. Hg. u. komm. v. Jochen Schubert. Mit einem Vorw. v. Annemarie Böll u. einem Nachw. v. James H. Reid. Köln 2001. Gesamtausgaben: Werke. Bde. 1–10. Hg. Bernd Balzer. Köln 1978 ff. – Werke. Kölner Ausgabe. Bde. 1–27. Hg. Árpád Bernáth u. a. Köln 2002 ff.

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43 Literatur: Hermann Stresau: H. B. Bln. 1964. – Marcel Reich-Ranicki (Hg.): In Sachen B. Mchn. 1971. – Wilhelm J. Schwarz: Der Erzähler H. B. Bern 1967. 31973. – Hans Joachim Bernhard: Die Romane H. B.s. Gesellschaftskritik u. Gemeinschaftsutopie. Bln. 21973. – Rainer Nägele: H. B. Einf. in das Werk u. in die Forsch. Ffm. 1976. – Bernd Balzer: H. B.s Werke: Anarchie u. Zärtlichkeit. Köln 1977. – Werner Lengning (Hg.): Der Schriftsteller H. B. Ein biogr.-bibliogr. Abriß. Mchn. 51977. – Peter Bruhn u. Henry Glade: H. B. in der Sowjetunion 1952–79. Bln. 1980. – Hanno Beth: H. B. Eine Einf. [...] in Einzelinterpr.en. Königst./Ts. 21980. – James H. Reid: H. B. Withdrawal and Reemergence. London 1981. – Erhard Friedrichsmeyer: Die satir. Kurzprosa H. B.s. Chapel Hill 1981. – Text + Kritik 33 (31982). – Christian Linder: H. B. Köln 21986. – Christine Gabriele Hoffmann: H. B. Eine Biogr. Neuausg. Bornheim 1986. – M. Reich-Ranicki: Mehr als ein Dichter. Über H. B. Köln 1986. – Jochen Vogt: H. B. Mchn. 21987. – Henning Falkenstein: H. B. Bln. 1987. – Manfred Nielen: Frömmigkeit bei H. B. Annweiler 1987. – Günter Wirth: H. B. Religiöse u. gesellschaftl. Motive im Prosawerk. Erw. u. vollst. überarb. Ausg. Köln 1987. – J. Reid: H. B. A German for his time. Oxford u. a. 1988. Dt. Mchn. 1991. – Bernhard Sowinski: H. B.: Kurzgesch.n. Interpr.en. Mchn. 1988. – B. Balzer: H. B.: Ansichten eines Clowns. Ffm. 1988. – Gerhard Rademacher (Hg.): H. B. Auswahlbibliogr. zur Primär- u. Sekundärlit. Mit einleitenden Textbeiträgen v. u. über H. B. Bonn 1989. – B. u. Köln. Hg. u. mit einem Vorw. vers. v. Viktor Böll. Köln 1990. – Christian Köllerer: H. B.s Konzeption v. Lit. zwischen Moral u. sozialer Erfahrung. Eine Einf. Ffm. 1990. – B. Balzer (Hg.): H. B. 1917–85. Bern u. a. 1992. – Stephan Güstrau: Lit. als Theologieersatz: H. B. ›Sie sagt, ihr Kuba ist hier und auch ihr Nicaragua‹. Ffm. 1990. – Mohamed Habib: Die Sozialisation des Kindes u. des Jugendlichen im Erzählwerk H. B.s bis 1957. Eine literatursoziolog. Lektüre. Ffm. u. a. 1991. – Dorothee Römhild: Die Ehre der Frau ist unantastbar. Das Bild der Frau im Werk H. B.s. Pfaffenweiler 1991. – Robert C. Conard: Understanding H. B. Columbia 1992. – Kálmán Kovács: Das Menschenbild H. B.s. Ffm. u. a. 1992. – H. B. u. sein Verlag Kiepenheuer & Witsch. 5.12.1992–30.01.1993, Zentralbibl. Köln. / Der Deutsche Herbst. H. B. u. die Terrorismus-Diskussion der 70er Jahre. 10.12.1992–23.01.1993, Histor. Arch. Köln. 2 Ausstellungen. Hg. Stadt Köln. Köln 1992. – Bernhard Sowinski: H. B. Stgt. 1993. – Sun-Ok Sa: Entfremdung. Untersuchungen zum Frühwerk H. B.s (1949–63). Ffm. u. a. 1993. – Christoph Schmidt: Die russ. Übers.en der Romane H. B.s

(1949–63). Ffm. 1993. – Dietrich Kluge: H. B. u. das Hörspiel. Der Läufer auf der Aschenbahn. Ffm. 1993. – Reinhard K. Zachau: H. B.: Forty years of criticism. Columbia 1994. – Claus H. R. Nordbruch: H. B.: Seine Staats- u. Gesellschaftskritik im Prosawerk der sechziger u. siebziger Jahre. Ffm. 1994. – Lee-Seob Kim: Dualität, Humanität u. Utopie in H. B.s Roman ›Ansichten eines Clowns‹. Ffm. u. a. 1994. – Michael Butler (Hg.): The narrative fiction of H. B. Social conscience and literary achievement. Cambridge u. a. 1994. – B. Sowinski: H. B. Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Interpr. Mchn. 1994. – Heinrich Jürgenbehring: Liebe, Religion u. Institution. Eth. u. religiöse Themen bei H. B. Mainz 1994. – H. B. Dissident der Wohlstandsgesellsch. Hg. Bernd Balzer u. Norbert Honsza. Wroclaw 1995. – Gesch. u. Melancholie. Über H. B.s Roman ›Frauen vor Flußlandschaft‹. Hg. Árpád Bernáth. Köln 1995. – Werner Bellmann (Hg.): Das Werk H. B.s. Bibliogr. mit Studien zum Frühwerk. Opladen 1995. – Hans Scheurer, Maiken Jerusalem u. Markus Schäfer (Hg.): H. B. Bilder eines Lebens. Köln 1995. – Frank Finlady: On the rationality of poetry: H. B.’s aesthetic thinking. Amsterd. u. a. 1996. – Henning Falkenstein: H. B. Überarb. Neuaufl. Bln. 1996. – Heinrich Herlyn: H. B. als utop. Schriftsteller. Untersuchungen zum erzähler. Werk. Bern u. a. 1996. – Helmut Bernsmeier: H. B. Stgt. 1997. – Werner Sulzgruber: H. B. ›Haus ohne Hüter‹. Analysen zur ›Sprachfindung‹, zu den Kritikmustern u. Problemkonstellationen im Roman. Wien 1997. – B. Balzer: Das literar. Werk H. B.s Einf. u. Kommentar. Mchn. 1997. – Ingo Lehnick: Der Erzähler H. B. Änderungen seiner narrativen Strategie u. ihre Hintergründe. Ffm. u. a. 1997. – Viktor Böll u. Markus Schäfer: Fortschreibung. Bibliogr. zum Werk H. B.s. Köln 1997. – Linda M. Hess-Liechti: Leidend, subversiv u. kinderlos. Eine Untersuchung zur Rolle u. zum Bild der Muttergestalten im Werk H. B.s. Stgt. 2000. – W. Bellmann (Hg.): H. B. Romane u. Erzählungen. Interpr.en. Stgt. 2000. – Klaus Schröter: H. B. Reinb. 122001. – Heinrich Vormweg: Der andere Deutsche. H. B. Eine Biogr. Köln 32002. – Christine Hummel: Intertextualität im Werk H. B.s Trier 2002. – V. Böll, M. Schäfer u. Jochen Schubert: H. B. Mchn. 2002. – Bernd Völkl: H. B.: Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Lektüreschlüssel. Ditzingen 2005. – Christiane Rogler: Ansichten eines Clowns. Inhalt, Hintergrund, Interpr.en. Mchn. 2006. – Friedhelm Kicherer: H. B. Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Hollfeld 82007. – Jürgen Schwarz: B. kennen lernen. LichtenauScherzheim 2007. Jochen Vogt / Oliver Ruf /

Bölsche

Bölsche, Wilhelm, * 2.1.1861 Köln, † 31.8. 1939 Oberschreiberhau/Riesengebirge. – Essayist, Populärwissenschaftler, Romanautor. B., Sohn eines Zeitungsredakteurs, studierte Philosophie u. Kunstgeschichte in Bonn. Anschließend ging er nach Paris, wo er erste schriftsteller. Pläne verfolgte, u. lebte ab 1885 in Berlin. Seine literar. Ambitionen erfüllten sich dort zunächst nicht. Doch fand er über den Intellektuellenkreis »Durch« bald Kontakt zu progressiven Literaten wie Eugen Wolff, Leo Berg, Bruno Wille oder Karl Bleibtreu, die eine Erneuerung der Kunst im Zeichen des Naturalismus postulierten. B.s Beitrag zu der Fülle an programmat. Schriften jener Zeit bestand in einem Essay mit dem symptomat. Titel Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena zu einer realistischen Ästhetik (Lpz. 1887. Neuausg. Tüb. 1976). Ausgehend von Zola u. dessen Übertragung des natur- u. sozialwiss. Positivismus auf die literar. Produktion, fordert B., dass »jede poetische Schöpfung [...] als ein einfaches, in der Phantasie durchgeführtes Experiment« einzurichten sei. Ziel dieses literar. Demonstrationsverfahrens ist es, jede verklärend »metaphysische« oder weltanschaulich fixierte Darstellung der Erfahrungswirklichkeit außer Kraft zu setzen u. die gesellschaftl. bzw. individuell-psych. Kausalitäten des Handelns freizulegen. Im Gegensatz zum »konsequenten« Naturalismus schloss B. in seinem Votum für einen »gesunden Realismus« jedoch nicht aus, dass der Schriftsteller auch »das Ideale in der natürlichen Entwickelung« zum Gegenstand der Literatur machen könne. B. war 1890 an der Gründung der Freien Volksbühne, die gezielt das Proletariat mit der modernen Theaterliteratur bekannt machen wollte, u. der von S. Fischer verlegten Zeitschrift »Freie Bühne« (ab 1894 »Neue Rundschau«) beteiligt, der er eine Zeitlang als Redakteur angehörte. Dem von ihm ins Leben gerufenen »Friedrichshagener Dichterkreis« gehörten die Brüder Hart, Richard Dehmel u. vorübergehend auch Gerhart Hauptmann an, mit dem B. seit 1888 befreundet war.

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Der anhaltende Misserfolg als Romanschriftsteller (u. a. Die Mittagsgöttin. 3 Bde., Stgt. 1887) trieb B. in ein Genre, in dem er dann zu einem der meistgelesenen Autoren seiner Zeit avancierte: Seine stark narrativen populärwiss. Bücher über die Entwicklungsgeschichte der Natur verbreiteten eine idealistisch gefilterte Variante des Darwinismus, die durch einen optimistischen u. teleolog. psycho-phys. Monismus gekennzeichnet ist. Er schrieb Klassiker des Genres wie Das Liebesleben in der Natur (3 F.n, Florenz 1898. Lpz. 1900–02), Vom Bazillus zum Affenmenschen (Lpz. 1900) oder Die Abstammung des Menschen (Stgt. 1904. 125. Tsd. 1931) – in 30 Jahren insges. mehr als 30 Titel. B.s Vordenker waren Ernst Haeckel, Gustav Fechner u. Wilhelm Ostwald, doch waren ihm als Herausgeber u. a. von Goethes Schriften zur Naturwissenschaft (Bd. 29/30 von Goethes Werken. Lpz. 1907–08), von Novalis u. Carus die Quellen dieses naturphilosoph. Pantheismus bestens vertraut. Weitere Werke: Paulus. 2 Bde., Lpz. 1885 (R.). – Stirb u. werde! Naturwiss. u. kulturelle Plaudereien. Jena 1913. – Das Leben der Urwelt. Aus den Tagen der großen Saurier. Lpz. 1931. – Briefe: Ernst Haeckel – W. B. Hg. Rosemarie Nöthlich. 2 Bde., Bln. 2002 u. 2006. Literatur: Bibliografie: Johannes J. Braakenburg: Bibliogr. der Schr.en v. W. B. In: W. B.: Die naturwiss. Grundlagen der Poesie. Neuausg. Tüb. 1976, S. 100–166. – Weitere Werke: Fritz Bolle: W. B. In: NDB. – Hans Urner: Gerhart Hauptmann u. W. B. in ihren Anfängen. In: Jb. für Berlin-Brandenburg. Kirchengesch. 45 (1970), S. 150–176. – Antoon Berentsen: Lit. im Zeichen v. Naturwiss. u. sozialer Frage. Zur frühen publizist. Tätigkeit W. B.s 1887–97. Utrecht 1979. – Jeremy D. Steakley: Vom Urschleim zum Übermenschen. Wandlungen des monist. Weltbildes. In: Natur u. Natürlichkeit. Hg. Reinhold Grimm u. Jost Hermand. Königst. 1981, S. 37–54. – Walter Gebhard: ›Der Zusammenhang der Dinge‹. Weltgleichnis u. Naturverklärung im Totalitätsbewußtsein des 19. Jh. Tüb. 1984, S. 330–428. – A. Berentsen; Vom Urnebel zum Zukunftsstaat. Zum Problem der Popularisierung der Naturwiss.en in der dt. Lit. 1880–1910. Bln. 1987. – Wolfram Hamacher: Wiss., Lit. u. Sinnfindung im 19. Jh. Studien zu W. B. Würzb. 1993. – Wolfgang Braungart u. Silke Jacobs: Naturwiss. Essayistik im Kontext des naturwiss. u. naturphilos. Diskurses um 1900: W. B. In: Essay-

Boemus

45 ismus um 1900. Hg. W. Braungart u. Kai Kauffmann. Heidelb. 2006, S. 49–71. Jochen Fried / Philip Ajouri

Bölte, Amely, eigentl.: Amalie (Elise Charlotte Marianna) B., * 6.10.1811 Rhena/Mecklenburg, † 15.11.1891 Wiesbaden. – Verfasserin von Romanen u. Biografien.

rückgekehrt, schrieb sie für das »Gothaer Morgenblatt«, Gutzkows »Unterhaltungen am häuslichen Herd« u. die »Grenzboten« u. verfasste zahlreiche Unterhaltungs- u. histor. Romane sowie Biografien. Zu ihrem Freundes- u. Bekanntenkreis gehörten neben anderen Schriftstellern Fanny Lewald, Gottfried Kinkel, Ida u. Ferdinand Freiligrath, Moritz Hartmann, Berthold Auerbach u. Karl Gutzkow.

Die Tochter des Bürgermeisters von Rhena Weitere Werke: Eine gute Versorgung. 2 Tle., erhielt Privatunterricht, v. a. in Musik u. Hbg. 1856 (R.). – Liebe u. Ehe. 3 Tle., Hbg. 1857 Französisch. Ihrer schwächl. Konstitution (E.n). – Winckelmann oder: von Stendal nach Rom. wegen weilte sie seit dem elften Lebensjahr 3 Bde., Bln. 1861 (Romanbiogr.). – Frauenbreviere. oft im Seebad Doberan, häufig gemeinsam Lpz. 1862. – Fanny Tarnow, ein Lebensbild. Bln. mit ihrer Tante, der Schriftstellerin Fanny 1865. – Prinzessin Wilhelmine v. Preußen. Jena 1868 (histor. R.). – Elisabeth oder eine dt. Jane Eyre. Tarnow. Eine mit 15 Jahren eingegangene 2 Bde., Wien 1872 (R.). Verlobung löste sie nach dem Tod des Vaters Literatur: Ludwig Fränkel: Amalie B. In: ADB. (1827). Ein Jahr später wurde sie Erzieherin u. – Antje Behrens: Studien zu A. B.s Briefen aus ging 1829 als Gouvernante nach England, wo England an Varnhagen v. Ense. Diss. Marburg sie im Haus Thomas Carlyles verkehrte. Sie 1954. – Goedeke Forts. – Gisela Brinker-Gabler: begann Artikel für dt. Zeitungen zu schreiben Zwischen Gouvernantentum u. Schriftstellerei. A. u. wurde die erste engl. Korrespondentin für B. in England. In: Exilanten u. andere Deutsche in Cottas »Morgenblatt«. Übersetzungen engli- Fontanes London. Hg. Peter Alter u. Rudolf Muhs. scher u. dt. Romane (u. a. von Tiecks Vittoria Stgt. 1996, S. 198–224. – Friedrich W. Bratvogel: A. Accorombona. 3 Bde., London 1846) ließ sie B. Literatin u. Bürgerin der Freiligrath-Zeit. In: Ihr eigene Erzählwerke folgen, in denen häufig gehorsamster... Hg. Werner Broer u. Fritz U. Frauenschicksale im Vordergrund stehen. Krause. Detmold 1999, S. 344–348. Gisela Brinker-Gabler / Red. Ihre erste, partiell autobiograf. Erzählung Luise, oder: Die Deutsche in England (Bautzen 1846) ist trotz des konventionellen HandBoemus, Boemus Aubanus, Bohemus, Böhm, lungsschemas, der trag. Verwicklungen u. des Johannes, Ioannes, * um 1485 Aub/Kreis glückl. Ausgangs (Heirat einer verarmten Ochsenfurt/Main, † um 1535 Rothenburg Waise mit einem jungen Lord) bedeutsam als ob der Tauber. – Verfasser einer humaThematisierung des Versuchs, als Frau eine nistischen Völkerkunde. selbständige Existenz zu gründen. Auch spätere Werke B.s kreisen um das Thema der Der Bauernsohn B. studierte nach dem BeStellung der Frau in den höheren Gesell- such der Lateinschule des Dominikanerklosschaftsschichten. Ihr Visitenbuch eines Arztes in ters in Halle/S. (1503 dort nachweisbar) nach London (2 Bde., Bln. 1852), eine lockere Ver- eigenen Angaben Theologie. Von 1508 bis knüpfung von Tagebuchform u. Liebesge- 1521 war er Hauskaplan im Deutschordensschichte, schildert die enttäuschende Erfah- haus in Ulm. In diesen Zeitraum fallen seine rung von nur aus Versorgungsgründen ge- beiden einzigen gedruckten Publikationen, schlossenen Ehen u. tritt für eine unabhän- der Liber heroicus (Augsb.: Miller 1515) u. gige Berufstätigkeit der Frauen ein, damit sie Omnium gentium mores (Augsb.: Grimm 1520). sich frei für eine Liebesheirat entscheiden B. verkehrte im Humanistenkreis des Ulmer oder zumindest selbst versorgen können. Seit Arztes Wolfgang Reichart. Er war bekannt 1844 stand B. mit August Varnhagen von mit Johannes Pinicianus, Andreas Dyrlin, JaEnse im Briefwechsel; seine Briefe veröffent- kob Locher, Nicolaus Schmirer, Johannes lichte sie später anonym (Briefe an eine Freun- Hiersdorfer, Bartholomeus Stoer u. bes. mit din. Hbg. 1860). 1851 nach Deutschland zu- Andreas Althamer, vielleicht auch mit Sebas-

Boemus

tian Franck. 1522 wechselte er auf die Ordenskomturei Kapfenburg bei Aalen. Bis mindestens 1525 schrieb er von dort Briefe (Namensform stets Bohemus). Nach einem Vermerk in Althamers Tacitus-Kommentar ist B. 1535 in Rothenburg verstorben. B. ist zu unterscheiden von dem namensgleichen Hebraisten Johannes Boemus (Behaim, Peham), einem Ulmer Priester u. Kantor, der vor 1490 von den Ulmer Juden Hebräisch gelernt u. Schriften gekauft hatte, deren Kopien an Reuchlin gelangten. B.s Hauptwerk, Omnium gentium mores, leges et ritus, gilt als eine Gründungsschrift der dt. Volkskunde (Schmidt 1904) wie auch der vergleichenden Ethnologie (Hodgen 1953). Das Werk unterteilt sich in drei Bücher. Liber I handelt in 6 Kapiteln von der Ausbreitung der Völker über die Erde u. von den Völkern Afrikas. Liber II behandelt in 12 Kapiteln die Völker Asiens, Liber III in 26 Kapiteln die Völker Europas. Das letzte Kapitel über die Insel Taprobane skizziert ein aus zehn Völkern bestehendes Gemeinwesen mit utop. Zügen. Das Kompendium sollte, wie Althamers Nachrede vermerkt, den Trägern öffentlicher Verwaltungsämter zur Unterrichtung dienen. Daraus erklärt sich, weshalb in vielen Kapiteln die Rechtsverhältnisse bes. akzentuiert sind. Wo immer möglich, kontrastiert B. die antiken Lebensverhältnisse mit den gegenwärtigen (»recentibus«). Das gelingt ihm bes. gut bei den Völkern des dt. Raums, wo er aus alten u. neuen Schriften schöpfen kann u. wohl auch Informationen aus eigener Anschauung u. Erinnerung einarbeitet. Geografische u. histor. Daten bleiben knapp, ausführlicher sind die Lebensgewohnheiten, die Rechtspflege u. die religiösen Riten geschildert. Bei den Völkern der Germania betrachtet er neben Adel, Geistlichkeit u. Bürgern ausdrücklich auch die Bauern. Gelegentliche Seitenblicke auf einzelne »Bräuche« waren bereits in den antiken u. modernen landeskundl. Schriften, von Tacitus bis Enea Silvio u. Nauclerus, zu finden. B. macht das »Brauchtum« zum Hauptthema u. entwickelt so etwas wie einen »ethnografischen Blick«, der sich bes. im systemat. Erfassen von Hochzeits- u. Begräbnisfeiern beweist.

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In den Eingangskapiteln (De origine hominis) entwickelt B. den Gedanken einer »vergleichenden Anthropologie« (Hodgen 1964): Die nach der Sintflut über die Welt zerstreuten Völker hätten aus primitivsten Anfängen heraus im Überlebenskampf gegen die wilde Natur ihre je den Umständen angepassten verschiedenen Sprachen u. Gemeinschaftswerke ausgebildet, hätten freilich auch, vom Irrglauben geleitet, ihre Errungenschaften allzu oft wieder verspielt. Unter den Autoritäten, auf die sich B. beruft, sind neben den alten (Herodot, Diodorus Siculus, Strabo, Solinus, Ptolemäus, Tacitus u. a.) auch viele neuere (recentiores): Vinzenz von Beauvais, Enea Silvio, Antonius Sabellicus, Ioannes Nauclerus, Ambrosius Calepinus, Nicolaus Perottus u. a. Enea Silvio scheint ihm am ehesten zugesagt zu haben. Celtis’ Norimberga u. das Evagatorium des Felix Fabri hat er gekannt u. benutzt. Berichte über die Neue Welt lässt er ausdrücklich beiseite, weil sie zu viel Unglaubwürdiges u. Unbestätigtes enthalten. B.s Darstellung ist wenig eifernd u. geprägt vom Blick fürs knapp u. gut erzählbare Detail. Wunderdingen gegenüber ist B. zurückhaltend. Das Werk entfaltete nach B.s Tod (u. der Aufhebung des Druckprivilegs) eine lang anhaltende Wirkung. Zwischen 1535 u. 1620 wurde der lat. Text europaweit ca. 40-mal gedruckt. Es gab Übersetzungen ins Französische, Italienische, Spanische u. Englische. Die späteren Übersetzungen wurden durch einen vierten Teil über die Neue Welt ergänzt. Die erste deutschsprachige Ausgabe, 1604 von Johann Homberg veranstaltet, ist textlich erweitert u. mit anderen Schriften zus. unter den Titel Historia moralis, das ist, Warhafftige Erzelung aller vornemsten ... Regimenten gestellt (Ffm.: Bitsch). Etliche Abschnitte der Omnium gentium mores sind aber bereits früh in deutschsprachige Werke eingegangen: in Sebastian Francks Weltbuch (1534) sowie in Sebastian Münsters Mappa Europae (1536) u. Kosmographey (1544, 1550 u. ö.). Die Gedichtsammlung Liber heroicus (einziger Druck Augsb. 1515) ist wohl zu verschiedenen Anlässen während B.’ Ulmer Zeit entstanden. Unter den 25 ihm gehörenden

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Böni

Texten sind drei hervorzuheben: der Libellus S. 17–34. – DBE (1995, fehlerhaft). – Hartmut de musicae laudibus, ein Lob der zeitgenöss. Kugler: B. In: VL Dt. Hum. Hartmut Kugler Vokal- u. Instrumentalmusik; eine quaestio Theologicalis, die den Lauf der vier JahreszeiBöni, Franz, * 17.6.1952 Winterthur. – ten mit Genreszenen (Beerensammeln, Erzähler. Schweineschlachten u. a.) veranschaulicht – manches daraus ist in Omnium gentes mores (III, Nach einer kaufmänn. Ausbildung lebt B. seit 15) übernommen; schließlich ein Carmen de 1979, unterbrochen von einigen Auslandslaude et situ Ulmiae Sueviae metropolis, mit dem aufenthalten, als freier Schriftsteller in Zürich. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, B. sich vielleicht in Ulm eingeführt hat. Darüber hinaus haben sich außer einem u. a. 1979 den Werkpreis des Kantons Zürich Dutzend Briefen an Andreas Althamer u. u. den Gastpreis des Kantons Bern, 1980 den Wolfgang Reichart/Richard nur Hinweise auf Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, 1989 den verschollene Arbeiten erhalten. B.s dt. Über- Gesamtwerkpreis der Schweizerischen Schilsetzung einer Polemik gegen eine Sintflut- lerstiftung u. 2002 den Buchpreis des Kanprognose (Augustinus Niphus: De falsa diluvii tons Zürich. B.s Werk erzählt von der Brutalität des prognosticatione. Rom 1521) ist ebenso verArbeitsalltags von Unterprivilegierten u. schollen wie das Manuskript eines Hieronymus-Psalters in Distichen. Eine dt. Überset- Einzelgängern. Obschon gesättigt mit konzung von Ovids Metamorphosen ist offenbar kreten Details aus dem Leben von Hausierern über eine (brieflich geäußerte) Absichtser- (Der Talhändler. In: Ein Wanderer im Alpenregen. Erzählungen. Zürich/Ffm. 1979), Transportarklärung B.’ nicht hinausgekommen. beitern auf Bahnhöfen (Schlatt. Zürich/Ffm. Literatur: Gustav Veesenmeyer: Commentatio historico-litteraria de Joanne Boemo, Aubano. Ulm 1979, R.) oder Schichtarbeitern in einer 1806, S. 3–12. – Carl Ruland: B. In: ADB. – Erich Spinnerei (Die Wanderarbeiter. Zürich/Ffm. Schmidt: Dt. Volkskunde im Zeitalter des Huma- 1981, R.), sind B.s Texte nicht »realistisch«; nismus u. der Reformation. Bln. 1904, bes. das 2. denn sie stellen die Welt nicht in freischweKapitel, S. 60–107. – August Schnizlein: Einiges bender Objektivität dar, sondern aus der über Johannes Hornburg u. Joannes B. Aubanus. Perspektive von Menschen, denen das Leiden In: Beiträge zur bayr. Kirchengesch. 14 (1908), unter den Arbeitsbedingungen auch die S. 174–183, bes. S. 179–183. – Ders.: J. Böhm aus Träume eingefärbt hat. Wenn sie auf langen Aub. In: Das Bayerland 19 (1908), S. 111–113, Wanderungen dem Unerträglichen zu ent129 f. u. 140 f. – H. Greiner: Hans Böhm u. sein kommen suchen, erleben sie die Kälte u. GeLoblied auf die Reichsstadt Ulm (lat./dt.). In: Ulfährlichkeit der Natur im Gebirge als mische Blätter für heimatl. Gesch., Kunst u. Denkmalpflege 2 (1926), S. 1–3 u. 10–12. – Richard Gleichnis dessen, was sie zurücklassen Kohl: Die geistesgeschichtl. Bedeutung der möchten. Jenseits der Passhöhe ahnen sie eine Deutschlandkap. im Repertorium des Joannes B. bessere Welt, aber keiner gelangt dorthin, u. Aubanus. In: Ztschr. für Volkskunde 47 (1938), NF der Rückweg ist lebensgefährlich. Das Gefühl Bd. 9, S. 191–200. – Erich Ludwig Schmidt: J. von Geborgenheit gibt es nur in seltenen, fast Böhm aus Aub. Die Entstehung der dt. Volkskunde illusionären Augenblicken. Mit scheinbar aus dem Humanismus. In: Ztschr. für bayer. Lan- unbeholfener Sprache beschwört B. die bedesgesch. 12 (1939–40), S. 94–111. – Max Huber: B. klemmende Vision einer ausweglosen Welt. In: NDB. – Margaret T. Hodgen: Johann B. (fl. In Die Fronfastenkinder. Aufsätze 1966–1985 1500): An Early Anthropologist. In: American An(Ffm. 1985) formuliert er kompromisslos sein thropologist 55 (1953), S. 284–294. – Dies.: Early mit den Macht- u. Wortlosen solidarisches Anthropology in the Sixteenth and Seventeenth Dichtungsverständnis u. stellt sich in die Centuries. Philadelphia 1964, S. 131–143. – Klaus A. Vogel: Cultural Variety in a Renaissance Per- Nachfolge Robert Walsers. Der Roman Die spective: J. B. on ›The manners, laws and customs Residenz (Zürich 1988) bietet eine Art Panof all people‹ (1520). In: Shifting Cultures: Inter- orama von B.s Erzählwelt bis zu diesem action and Discourse in the Expansion of Europe. Zeitpunkt; mit dem Roman Amerika (Bern/ Hg. H. Bugge u. J. P. Rubiés. Münster 1995, Mchn. 1992), der anhand zahlreicher Einzel-

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episoden die Erlebnisse u. Erfahrungen eines Schriftstellers auf einer Reise durch Israel u. die USA schildert, wendet sich B. schließlich neuen Themen u. Motiven zu. Weitere Werke: Hospiz. Ffm. 1980 (E.). – Der Knochensammler. Zürich/Ffm. 1981 (E.en). – Der Johanniterlauf. Fragment. Ffm. 1984. – Die Wüste Gobi u. andere Gesch.n. Basel 1990. – In der Ferienkolonie. Ffm. 2000 (R.). – Rimini. Gedichte u. Stücke. Ffm. 2002. – Geisterstadt. Ffm. 2004 (R.). – Lange habe ich dich nicht gesehen. Fast eine Biogr. Briefe 1964–2002. Ffm. 2004. – Gruß aus der Hollywoodschaukel. Ein Lesebuch. Ffm. 2005. Literatur: Rolf Michaelis: Archipel Gletscher. Toronto 1986. – Samuel Moser: F. B. In: KLG. – Thomas Kraft: F. B. In: LGL. Rudolf Käser / Red.

Börne, (Carl) Ludwig, eigentl.: Juda Löw Baruch, * 6.5.1786 Frankfurt/M., † 12.2. 1837 Paris; Grabstätte: ebd., Père Lachaise. – Politischer Publizist, Literaturu. Theaterkritiker, Essayist. B. erfuhr als Sohn eines Frankfurter Wechselmaklers im drückenden Milieu des Ghettos eine bereits vom Reformjudentum geprägte Erziehung. Die Berührung mit frühromant. Kreisen im Haus seines Berliner Mentors, des Kantianers Markus Herz, war flüchtiger als die erotisch gefärbte Mutterbindung an Henriette Herz, welcher der erste tagebuchartige Briefwechsel des jungen B. zu verdanken ist. 1804–1806 hörte B. in Halle als Medizinstudent – denn nur dieses Studium bot zu jener Zeit einem Juden Berufsaussichten – bei dem Naturphilosophen Henrik Steffens u. dem Theologen Friedrich Schleiermacher; dort wurde ihm in der Theorie des organ. Kosmos u. der diesen reflektierenden Vernunft ein ethisches, von der Romantik geprägtes Weltbild vermittelt, das die Dialektik von intellektuellem Erkennen u. geschichtl. Handeln (bzw. künstler. Produzieren) in der Einheit von Denken u. Sein gegründet sah. Dieser philosoph. Ansatz war von nachhaltiger Wirkung auf B.s politische wie auf seine ästhet. Konzeption. Er fand seinen ersten Ausdruck in dem Essay Über Theorie und Praxis in der Politik. Das Leben und die Wissenschaft (in: Minerva 4, 1808, S. 331–347). Hier formulierte B. den für sein späteres

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Schreiben programmat. Gedanken der Synthese von Wissenschaft u. Leben u. forderte eine organ. Wechselbeziehung zwischen Staat u. Bürger. Nachdem die veränderten polit. Verhältnisse ihm einen Fachwechsel ermöglichten, promovierte B. 1808 in Gießen zum Dr. phil. in Staats- u. Kameralwissenschaften. Kritische Studien zu Fragen des Judenbürgerrechts beschäftigten ihn in den folgenden Jahren. Die den Frankfurter Juden im neu geschaffenen Großherzogtum gewährte Rechtsgleichheit eröffnete ihm 1811 die Verwaltungslaufbahn. Mit der Restitution der alten Ordnung durch den Wiener Kongress wurde der Polizeiaktuar B. 1814 von der wieder »Freien« Stadt zwangspensioniert. Kurz nach Namenswechsel u. Taufe trat B. als Publizist an die Öffentlichkeit: Von Juli 1818 bis 1821 gab er, zuerst im Selbstverlag, »Die Wage. Eine Zeitschrift für Bürgerleben, Wissenschaft und Kunst« heraus (Ffm.; ab Bd. 2, Heft 2: Tüb. Aufl. etwa 600 Exemplare). Hier entfaltete er in Theater- u. Literaturkritik sein Programm der Integration aller wesentl. Lebensbereiche in einem neuen bürgerl. Bewusstsein; von dem Wirkungszusammenhang zwischen kulturellen u. gesellschaftlich-polit. Zuständen ausgehend, suchte er mit dem Plädoyer für Pressefreiheit u. Volksvertretung die literar. Öffentlichkeit zur politischen umzugestalten (vgl. Labuhn 1980). Im Tagesjournalismus trug er als Redakteur der »Zeitung der Freien Stadt Frankfurt« (Jan. bis Juni 1819) harte Zensurfehden aus; die von ihm herausgegebenen »Zeitschwingen« (Offenbach 1819) wurden durch die reaktionären Karlsbader Beschlüsse unterbunden, bei der gleichzeitig einsetzenden Demagogenhetze geriet er vorübergehend in Haft. 1821 widerstand B. dem inoffiziellen Ruf der Wiener Staatskanzlei, die den bekannten Kritiker restaurativer Machtpolitik auszuschalten u. für die Interessen der »Heiligen Allianz« zu gewinnen hoffte. Als freier Mitarbeiter der liberalen »Neckarzeitung« u. der Cottaschen Blätter (»Morgenblatt für die gebildeten Stände«, »Politische Annalen«) lebte B. 1820–1830 in München, Stuttgart, Frankfurt, Paris u. Hannover. In dieser Periode politischer Resignation näher-

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te er sich durch Infragestellen jeglicher Machtstrukturen der utop. Anarchie (»Freiheit geht nur aus Anarchie hervor«). Gleichzeitig entwickelte B. unter dem Zwang der Zensur seine Witz u. Satire strategisch einsetzende Prosa u. perfektionierte die schon in den dramaturgischen u. zeitkrit. Rezensionen der »Wage« entwickelte »Schreibart«, mit der er »das Einverständnis zwischen Rezensent u. Publikum« (Helmut Koopmann) herzustellen u. so den Leser in den Meinungsbildungsprozess einzubeziehen suchte. Die hintergründigen Humoresken Monographie der deutschen Postschnecke (erschienen 1821 in der »Wage« 2, H. 2) u. Der Esskünstler (in: Morgenblatt, 1822), seine facettenreichen Schilderungen aus Paris (in: Morgenblatt, 1822–24), die durch rhetor. Pathos ausgezeichnete Denkrede auf Jean Paul (in: Morgenblatt, 1825), der von ihm als Gegenbild des »Hofmanns« Goethe zum »Sänger der Armen« stilisiert wurde, wie die Satire auf den Kult der Sängerin Henriette Sontag (Henriette Sontag in Frankfurt. In: Morgenblatt, 1827) erwarben dem einstigen »Wage«-Herausgeber den Ruf eines der brillantesten dt. Feuilletonisten u. Humoristen, als der er 1828 in Berlin zelebriert wurde (vgl. die Berlin-Satire im 74. der Briefe aus Paris). Als problematisch wurde u. wird seine Kritik an der polit. Abstinenz der dt. Klassik, vornehmlich an derjenigen Goethes, aufgenommen (vgl. Inge Rippmann: ›Ihn tadeln heisst ihn achten‹. Goethe im Gegenlicht. In: Forum Vormärz Forsch. Jb. 2003, S. 49–70). Durch eine erste freundschaftl. Begegnung mit Heinrich Heine wurde B. 1827 auf den Hamburger Verleger Julius Campe aufmerksam, bei dem 1829–1832 seine Gesammelten Schriften (8 Bde.) erschienen. Ab Herbst 1830 lebte B., durch die als Zeitwende empfundene Julirevolution der physischen u. psych. Depression entrissen, in Paris, das er nur noch zu Reisen nach BadenBaden u. in die Schweiz verließ. Aus der Korrespondenz mit Jeanette Wohl, seit 1816 seine Freundin, Anregerin, Kritikerin u. einzige Briefpartnerin, gingen die in einem die Bewegung der Zeit spiegelnden Sprachduktus geschriebenen, selbst von den moderiert Liberalen mit Empörung aufgenommenen

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Briefe aus Paris hervor (3 F.n, Hbg. 1831–34), die trotz vorsorglich falscher Firmierung durch Campe sofort nach Erscheinen beschlagnahmt u. in Preußen verboten wurden. Das bunte Textgewebe ist strukturiert durch Kommentare zur polit. Tagesgeschichte Europas wie durch Schilderungen des öffentl. Lebens im nachrevolutionären Paris. Ordnender Gesichtspunkt der stoffl. Selektion u. krit. Reflexion bleibt der Fortschritt in der Freiheit, d.h. für B.: die mit polit. Mitteln u. publizistischer Aufklärung voranzutreibende Emanzipation von Mensch u. Gesellschaft, nicht zuletzt die der Juden, im Kampf gegen Vorurteile, Privilegien u. die herrschaftsstützende Funktion des Kapitals. B.s von der Degeneration des Juli-Königtums geförderte, auch sprachlich zu verfolgende Radikalisierung, mit der er den spätaufklärerisch-liberalen Horizont überschritt (Heinrich Laube: »Börne als Publicist ist kein Schriftsteller, sondern eine fortlebende und fortwirkende politische That«), zeigt sich in seiner Entwicklung vom Konstitutionalisten zum Republikaner wie in der Verlagerung seines Interessenschwerpunkts u. seiner Zielgruppe vom Bürger zum Volk (so auch in den 1832 begonnenen, Fragment gebliebenen Studien über Geschichte und Menschen der Französischen Revolution). Entsprechend suchte B. Anfang 1832 die Handwerkervereine in Paris, Keimzelle der dt. Arbeiterbewegung, agitatorisch auf ihren revolutionären Auftrag vorzubereiten. Im Mai 1832 wurde er auf dem Hambacher Fest spontan als einer der Hauptanreger der freiheitlich-oppositionellen Bewegung in Deutschland gefeiert. Als B. 1834 in den Paroles d’un croyant des Sozialrevolutionärs Abbé de Lamennais eine messian. Botschaft zu hören glaubte, die den sich ankündigenden »Krieg der Armen gegen die Reichen« unter das Zeichen brüderlich-christlicher Solidarität u. Nächstenliebe stellte, übersetzte er dessen Werk (u. d. T. Worte des Glaubens. Paris 1834), um es an die dt. Handwerker in Paris zu verteilen. 1836 griff B. noch einmal auf das Medium bürgerlich-literarischer Öffentlichkeit zurück: Ziel der kurzlebigen, bis heute wenig beachteten Zeitschrift »La Balance« war es, auf dem Weg über die vergleichende Literatur

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Literatur: Bibliografien und Forschungsberichte: (Béranger et Uhland) Frankreich u. Deutschland, das handelnde u. das denkende Volk, als Ralph P. Rosenberg: Recent Börneana, 1926–36. In: Kern eines Europas der Zukunft freund- GR 12 (1937), S. 242–250. – Alfred Estermann u. a.: Bausteine zu einer B.-Bibliogr. In: L. B. 1786–1837. schaftlich zu verbinden. Ffm. 1986, S. 359–424. – Wolfgang Labuhn: Die L. Von grundsätzlicher Bedeutung auch für B.-Forsch. seit 1945. In: ZfdPh 96 (1977), die Wirkungsgeschichte B.s waren die beiden S. 269–286. – Weitere Titel: Helmut Bock: L. B. Vom Kontroversen der letzten Lebensjahre. Mit Gettojuden zum Nationalschriftsteller. Bln./DDR den Streitschriften gegen den Stuttgarter 1962. – W. Labuhn: Lit. u. Öffentlichkeit im Vor»Literaturpapst« Wolfgang Menzel (Menzel märz. Das Beispiel L. B. Königst. 1980. – Manfred der Franzosenfresser. Paris 1837), der ihn selbst Schneider: Die kranke schöne Seele der Revolution. als den am »Schmerz der Zeit« leidenden Heine, B., das ›Junge Dtschld.‹, Marx u. Engels. Patrioten vorgestellt hatte, trat B. gegen die Ffm. 1980. – Johannes Weber: Libertin u. CharakAnwendung sitten-polizeilicher, antisemit. u. ter. Heinrich Heine u. L. B. im Werturteil der Literaturgeschichtsschreibung 1840–1918. Heidelb. chauvinist. Kriterien in der von Menzel in1984. – Inge Rippmann: B.-Index. Histor.-biogr. szenierten, den Übergriff des Staatsapparats Materialien zu L. B.s Schr.en u. Briefen. 2 Halbbde., auf die Literatur provozierenden Pressehetze Bln. 1985. – Helmut Koopmann: ›Wer nicht gegen das »Junge Deutschland« auf. Stand B. schreiben kann, rezensiert‹? Zur Literaturkritik des in der Abwehr deutschtümelnder, denunzia- Jungen Dtschld. (L. B. als Literaturkritiker). In: Das tor. u. totalitärer Methoden auf der gleichen Junge Dtschld. Kolloquium zum 150. Jahrestag des Seite wie Heine, so zerbrach die Bundesge- Verbots vom 10. Dez. 1835. Hbg. 1987, S. 173–192. nossenschaft der beiden Exilschriftsteller an – I. Rippmann u. W. Labuhn (Hg.): ›Die Kunst – der zeittyp. Polarisierung von politisch-revo- eine Tochter der Zeit‹. Neue Studien zu L. B. Bielef. lutionärem u. sozial-utop. Fortschrittsge- 1988 (mit Forschungsber. v. W. Labuhn für 1976–86). – Will Jasper: L. B. Keinem Vaterland danken. Die von B. schon im Blick auf Goethe geboren. Eine Biogr. Bln. 2003. – Frank Stern u. formulierte Alternative – politisch engagierte Maria Gierlinger (Hg.): L. B. Deutscher, Jude, DeLiteratur oder Autonomie der Kunst – brachte mokrat. Bln. 2003. – Rachid L’Aoufir: L. B. Heine auf den folgenreichen Nenner: »Na- (1786–1837). Un Parisien pas comme les autres. zarener« versus »Hellene«. B. blieb damit für Paris 2004. – I. Rippmann: ›Freiheit ist das mehr als ein Jahrhundert in bürgerlicher Schönste u. Höchste in Leben u. Kunst‹. L. B. zwi(Georg Brandes, Thomas Mann, Benn) wie schen Lit. u. Politik. Bielef. 2004. Inge Rippmann marxistischer (Marx, Mehring, Lukács) Sicht der dogmatisch beschränkte, kunstfeindl. Ja- Boesch, Hans, * 13.3.1926 Frümsen/Kt. St. kobiner. Seine stilistisch u. ideologisch in- Gallen, † 21.3.2003 Stäfa/Kt. Zürich. – novative Wirkung auf die jungdeutschen u. Romanschriftsteller, Essayist. linkshegelianischen Autoren des eigentl. Vormärz schwächte sich in der zweiten Jahr- Nach einer Ausbildung an der Ingenieurhunderthälfte ab zur Anerkennung nur for- schule in Winterthur arbeitete B. als Tiefmaler Qualitäten eines thematisch überlebten bauingenieur u. Verkehrsplaner, 1970–1989 Feuilletonisten. Forschungsansätze der Zwi- wirkte er am Institut für Orts-, Regional- u. schenkriegszeit blockte die NS-Germanistik Landesplanung der ETH Zürich. Er lebte in ab. Mit der nach 1965 angebahnten Neube- Stäfa/Kt. Zürich. B. erhielt u. a. den Preis der wertung kritischer u. operativer Prosa als Schweizer Schiller-Stiftung 1969 u. 1988, den Medium der Emanzipationstendenz zeichnet Bodensee-Preis 1989, die Ehrengabe der Stadt sich eine Revision der ideologisch-polit. wie u. des Kantons Zürich 1989 sowie den JosephBreitbach-Preis 1998. der kritisch-ästhet. Aspekte des B.-Bilds ab. Bereits B.s erster Roman Das Gerüst (Olten/ Ausgaben: B.s Werke. Hist.-krit. Ausg. hg. v. Freib. i. Br. 1960. Neuaufl. Zürich 2007) Ludwig Geiger u. a. Bde. 1–3, 6, 7, 9. Bln./Lpz. o. J. [1911–14]. – L. B. Sämtl. Schr.en u. Briefe. Neu schildert Leben u. Arbeit eines jungen Techbearb. u. hg. v. Inge u. Peter Rippmann. 5 Bde., nikers, der den Auftrag erhält, in einer miliDüsseld. 1964. Darmst. 1968. Neudr. Dreieich 1977 tärisch besetzten Zone zus. mit einheimi(ohne Nachw. u. Bibliogr.). schen Arbeitern ein ausgebombtes Bergwerk

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wieder betriebsbereit zu machen. Er scheitert am Fanatismus eines Vorgesetzten. Der Roman Die Fliegenfalle (Zürich 1968. Neuaufl. Zürich 2007) ist als Lebensbeichte des Ingenieurs Pardiel angelegt, der auf Baustellen im Hochgebirge nicht nur sein eigenes Leben verpasst, sondern sich auch Schuld am Schicksal seines Freundes Jul zuschreiben muss, dessen Liebe er als Eindringling stört. Aus realistisch dargestellten Situationen (z.B. der gefährl. Arbeit im Innern eines Silos, in einem einstürzenden Graben, aber auch des Wohnens in Mietskasernen) ergibt sich das Sinnbild der Fliegenfalle. Die straffe Erzählweise lässt diesen Roman rückblickend als überzeugendes Werk B.s erscheinen, obschon ihm der Durchbruch erst mit dem vielschichtigen Roman Der Kiosk (Zürich/Mchn. 1978. Neuaufl. Zürich 2007) gelang. Nach einem Brandanschlag auf den Kiosk eines Mehrzweckgebäudes werden neben der Leiche des beinamputierten Inhabers dessen in einem Blechkübel versteckte Aufzeichnungen gefunden. Boos, früher Vermessungstechniker, erinnert sich an seine Arbeit, an die Liebe zu Eva u. an den Unfall, der sein Leben zerstörte. Sprachlich von einem traditionellen Stilwillen geprägt, zeichnen sich B.s Texte durch den Kontrast von sachkundiger Schilderung technischer Arbeitsprozesse einerseits, hymnischer Natur- u. Liebesdarstellung andererseits aus. Weil B. stets den Menschen sieht, der arbeitet, nie nur das techn. Produkt, weist er mit zunehmender Schärfe auf die Konsequenzen der Technikgläubigkeit hin. Verbissenes Vertrauen in die Machbarkeit künstlicher Paradiese, oft genährt von verschwiegener Enttäuschung, treibt einige seiner Techniker in eine Lebensferne, die für sie u. andere gefährlich wird. Dieser Grundkonflikt bestimmt auch im autobiografisch inspirierten Roman Der Sog (Zürich 1988. Mchn. 1999) das Leben einer Dorfgemeinschaft. Auf zarte u. eindringl. Weise stellt B. dar, wie das Kind Simon diese Bedrohung erlebt. Während seine Mutter der Faszination stählerner Männlichkeit erliegt, die jenseits der Landesgrenze die Macht ergriffen hat, lernt er in Margeritas Liedern u. Sinas Märchen Bilder kennen, die es ihm ermöglichen, die neue Gewalt als

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Fortsetzung eines viel älteren Geschehens der Vergewaltigung zu verstehen u. die Ahnung zu bewahren, dass Leben sich nicht machen, sondern nur empfangen u. liebevoll pflegen lässt. Von Simon Mittler, B.s Alter Ego, handeln auch die beiden folgenden Romane Der Bann (Zürich 1996. Mchn. 2000) u. Der Kreis (Zürich 1998. Mchn. 2004). Simon ist erwachsen geworden u. hat die Heimat der Kindheit verlassen. In Zürich, wo er als Geometer arbeitet, wird er Zeuge der 1968er-Krawalle, die ihm u. seinen Freunden eine Radikalität demonstrieren, die sie mehr einschüchtert als aufwiegelt. Fasziniert von der Magie des Dreiecks, hält sich Simon außerhalb u. versucht die Welt aus seiner triangulierten Weltoptik zu erkennen. Das aktive Dreieck hat die lädierte Harmonie des Quadrats aus dem Kindheitsroman abgelöst. Simons Zurückhaltung findet ihre Erfüllung schließlich in Der Kreis. 30 Jahre später sitzt er mit seinem alten Freund Abplanalp in einer Wirtsstube im engadinischen Bever u. wartet auf weitere Gäste, die wegen des starken Schneefalls aber nicht eintreffen. So kommen die beiden mit dem Wirtspaar ins Plaudern, Erzählen, Erinnern. In mehreren Erzählkreisen umspielt B. den ewigen Widerspruch zwischen Fernsucht u. Heimweh, den bes. die raue Bergwelt hervorruft. Dabei enthält er sich aller nostalg. Wehmut u. schaut zwar skeptisch, doch gelassen auf das verflossene Jahrhundert zurück. Der Kreis rundet die Romane um Simon Mittler zur großartigen Trilogie ab. Parallel zur literar. Arbeit hat sich B. immer wieder pointiert mit der modernen Stadtentwicklung auseinandergesetzt, wie es schon im Roman Der Kiosk anklang. Im Essayband Die sinnliche Stadt (Zürich 2001) hält er dem kritisierten städt. Mobilitätswahn das Modell einer lebenswerten »Langsamverkehrsstadt« entgegen. Beinahe unbemerkt von der Öffentlichkeit, hat er auf diesem Gebiet seit den 1970er Jahren wichtige Pionierarbeit geleistet. Danach kehrt B. ein letztes Mal zu Simon Mittler zurück u. erweitert seine Trilogie um einen luftigen Epilog, den schmalen Roman Schweben (Mchn./Wien 2003. Mchn. 2005). Auf seinen geliebten Gängen in die Berge

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begegnet Simon wiederholt einer jungen Frau, die ihre innere Unruhe körperlich in wilden Wanderungen austobt. Als sie einmal vom Schneetreiben überrascht werden, schützen sie sich in einer Felsnische u. Simon kommt ins Erzählen, redet sich mitten in die Kindheit hinein, wie sie in Der Sog geschildert ist. Präzise komponiert, voller verblüffender Landschaftsbeschreibungen u. in einer luziden, schwebenden Sprache geschrieben, scheint es, als habe sich B. hier von aller Pflicht losgelöst, streng geordnet erzählen zu müssen. Diese Leichtigkeit täuscht aber darüber hinweg, dass sie der Autor einer äußerst schmerzhaften Krankheit abgetrotzt hat. Weitere Werke: Der junge Os. Zürich/Mchn. 1957. Zürich 1979 (R). – Ein David. Zürich 1970 (L.). – Der Mensch im Stadtverkehr. Zürich 1975 (Ess.). – Das Unternehmen Normkopf. Zürich/ Mchn. 1985 (Satiren). – Samurai. Zürich 2005 (E.en). Literatur: Beat Mazenauer: H. B. In: KLG. – Rudolf Probst: H. B. In: LGL. Rudolf Käser / Beat Mazenauer

Böschenstein, Johannes, auch: Bossosthenius, * 1472 Esslingen/Neckar, † um 1540 Nördlingen. – Verfasser mathematischer, hebraistischer u. theologischer Schriften. B. war 1503–1513 Hebräischlehrer ohne besoldete Lektur an der Universität Ingolstadt (Schüler Johannes Eck u. Andreas Osiander). 1514–1518 Tätigkeit in Augsburg, wo erste Werke erschienen. Hebräischlekturen an den Universitäten Wittenberg (1518/19) u. Heidelberg (1522) versah B. jeweils nur wenige Monate. Es folgte ein unstetes Wanderleben; lediglich in Nürnberg u. Nördlingen hielt B. sich längere Zeit auf. Die letzten Lebensjahre waren durch wachsende Not gekennzeichnet. Das Bild von B. ist stark durch das negative Urteil Luthers u. Sebastian Münsters geprägt. Sein Rechenbiechlin (Augsb. 1514) lehrt die vier Grundrechenarten bei ganzen Zahlen u. bei Brüchen sowie den Dreisatz. Als kurze Einführungen in die hebräische Sprache veröffentlichte B. das Elementale introductorium (Augsb. 1514) mit Übungstexten, denen lat. u. dt. Übersetzungen beigegeben sind, u. die

umfangreicheren, auf Moses Kimchi u. Johannes Reuchlin basierenden Hebraicae grammaticae institutiones (Wittenb. 1518). Die Lesbarkeit von B.s Übersetzungen biblischer Texte (Num. 6,24–26, I Reg. 8, Bußpsalmen, Ruth, Threni) u. jüdischer Gebete (Tefilot haSchana, Zidduk ha-Din, Birkat ha-Mazon) aus dem Hebräischen leidet unter der aus didakt. Gründen gewählten Ad-verbum-Methode. Drei der vier B. zugeschriebenen geistl. Lieder (Von den syben wortten. Von den zehen geboten. Von wunderlichen dingen. Gott ewig ist) sind Bearbeitungen älterer Stücke. B.s meist nur wenige Seiten umfassende theolog. Schriften verstehen sich als Aufrufe zu Buße u. Umkehr: In Ain christenliche underricht (1523) u. Ain christenliche underweysung (Augsb. 1534) bindet er Glaube u. Liebe eng aneinander. Die tätige Liebe sei Kennzeichen des Jüngers Jesu u. finde ihren Ausdruck im friedl. Miteinander, in mildtätigen Werken u. der Hilfe für den Nächsten. Die Nächstenliebe solle auch Juden u. Muslimen zuteil werden, um sie für den christl. Glauben zu gewinnen. Hindernis für die Bekehrung Andersgläubiger bildeten die innerchristl. Streitigkeiten. Die unter dem Titel Ain christliche leer veröffentlichten Predigten über Mt. 7 (1523) kritisieren die Missachtung des Gebots der Nächstenliebe durch den in Kirche u. Staat herrschenden Eigennutz u. die Ausübung obrigkeitlicher Gewalt aus Gewinnsucht. Die Bestrafung einer nicht nach Gottes Gebot regierenden Obrigkeit zeigt B. in Ain getreuwe ermanung (Augsb.? ca. 1523) am Beispiel der alttestamentl. Könige Jojakim u. Zedekia. Mit Ain diemitige versprechung (ca. 1524) verteidigt er seine Ablehnung der Bilder. Eine sehr pessimistische Auffassung menschl. Daseins offenbart B. in seinem letzten Werk Milicia hominis (Nürnb. 1539): Das Leben des Menschen, auch des Frommen, sei von Beginn an dem Leid unterworfen; der Mensch könne allein auf die Liebe Gottes hoffen. Ausgabe: Ain diemitige versprechung. In: Andreas Osiander d.Ä.: Gesamtausg. Hg. Gerhard Müller u. Gottfried Seebaß. Bd. 1, Gütersloh 1975, S. 67–76. Literatur: Wackernagel 2, S. 1090–1097. – Biogr. Lex. LMU 1, S. 47 f. – Rainer Gebhardt (Hg.):

53 Verf. u. Hg. mathemat. Texte der frühen Neuzeit. Annaberg-Buchholz 2002, S. 145–152. – Gerald Dörner: B. In: VL Dt. Hum. Gerald Dörner

Die böse Adelheid. – Schwankhafte Versnovelle, wohl aus dem 14. Jh.

Böse Frau

Motiv der aus Trotz schließlich ertrinkenden u. vom Ehemann flussaufwärts gesuchten Frau entsprechend mehrfach. Die auf diesen Höhepunkt zusteuernde Handlung narrativ entfaltet u. konsequent die List des Mannes anhand verschiedener, im Erzählzusammenhang kohärent (nicht allein episodisch) erscheinender Beispiele kunstvoll demonstriert zu haben, ist allerdings wohl dem Anonymus der dt. Version zuzuschreiben. Die misogyne Aussage erscheint dadurch einerseits gesteigert, denn Adelheid ist nicht nur als widerspenstig u. teuflisch gezeichnet, sondern auch – u. zwar von Beginn an – als ebenso unbedacht wie manipulierbar. Andererseits gerät vielleicht auch Markhart in die Kritik: Hat er sich doch jahrelang von Adelheid quälen lassen, anstatt ihr die ihr angemessene Position als Ehefrau zuzuweisen, u. bedarf er doch schließlich auch wieder einer expliziten Anweisung in Gestalt der Empfehlung des Reiters, um von einem dem Erzähler offenbar als absurd geltenden Tun (der Suche nach Adelheid den Naturgesetzen widersprechend flussaufwärts) abgebracht zu werden.

Die schwankhafte Märendichtung Von der übeln Adelheit und irem man (183 Verse), die vermutl. im Augsburger Raum entstanden u. in nur einer aus den 30er Jahren des 14. Jh. stammenden Handschrift anonym überliefert ist, erzählt vom »übelen wîp« Adelheid, das seinem Ehemann Markhart durch extremen Starrsinn das Leben zur Hölle macht: Adelheid tut seit Jahren immer genau das Gegenteil dessen, was Markhart empfiehlt, wünscht oder erbittet. Eines Tages weigert sie sich, ihm das Mittagessen vorzusetzen, u. fängt eine wüste Prügelei an, als er ins Dorf laufen u. sich Brot kaufen möchte. Daraufhin überlegt er, wie er die »vâlentinne« (Teufelin) sich unterwerfen könne: Er verfällt auf die List, das Gegenteil von dem zu fordern, was er tatsächlich will. Auf diese Weise gelangen die Eheleute nicht nur nach Augsburg u. in den Ausgaben: Heinrich Niewöhner (Hg.): Neues Genuss eines guten Essens im Gasthaus, Gesamtabenteuer. Bd. 1, Bln. 1937. Neudr. Dublin/ Markhart wird außerdem auch stolzer Besit- Zürich 1967, S. 44–46. – Klaus Grubmüller (Hg.): zer eines modischen Rockes. Als er vor- Novellistik des MA. Märendichung. Ffm. 1996, schlägt, im Wirtshaus noch weiter zu ver- S. 208–219 (mit nhd. Übers.) (zit.). Literatur: Hans-Joachim Ziegeler: D. b. A. In: weilen, bricht Adelheid erwartungsgemäß sofort auf u. läuft zum Lech. Markhart fordert VL. – Grubmüller 1996 (s. o.), S. 1101–1106 sie auf, nicht zu nah ans Ufer zu gehen – (Komm., Lit.). Corinna Laude prompt nähert sie sich dem Fluss zu dicht u. stürzt hinein. Die Pointe besteht darin, dass Die böse Frau. – Schwankhafte VersnoMarkhart seine ertrunkene Frau nun flussvelle aus der zweiten Hälfte des 13. Jh. aufwärts sucht, denn – so erklärt er einem Vorbeireitenden – sie sei so widerspenstig Daz buoch von dem übeln wîbe wurde von einem gewesen, dass sie nicht flussabwärts getrie- unbekannten Dichter wohl nach 1250 in Tirol ben sein könne. Der Reiter rät schließlich verfasst. Es ist nur in einer späten Handdazu, die Suche abzubrechen u. Adelheid schrift, dem sog. Ambraser Heldenbuch (entdem »tievel« (Teufel) zu überlassen. standen 1504–1517), überliefert. Die Welt- u. Geschlechterordnung u. die In 820 Versen schildert ein Ich-Erzähler mit ehel. Normen zu verkehren, indem das Ge- viel Sprachwitz das leidvolle Leben als Ehehorsamsgebot missachtet wird, das Ehefrau- mann an der Seite eines »übelen wîbes«, das en ihren Männern nach theologischer Auf- ihm typusgerecht durch permanenten Wifassung u. den rechtl. Bestimmungen zufolge derspruch u. durch die (meist unmotivierte) im MA unterordnete, kennzeichnet Adelheid Anwendung von körperlicher Gewalt das Leals Typus des »übelen wîbes«, der in der ben zur Hölle macht. spätmittelalterl. Versnovellistik häufiger beDer Erzähler berichtet in einem ersten Teil gegnet. Im europ. Erzählgut findet sich das nach einem Lob der Ehe als göttlicher Ein-

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richtung, die das ewige Seelenheil verheißt, (ein beständig temporeicher Schlagabtausch von seinen eigenen gegenteiligen Erfahrun- in den Dialogen der Ehepartner; ausgefallene gen: Bereits mit der Nachfeier der Hochzeit, Reimbindungen; komplexe Wortfiguren etc.) bei der sich der Morgentrank als Giftgabe in ihre Tradition einschreibt. Der erzähler. darstellt, setzt sein Martyrium ein, das jenes Witz, mit dem hier dem in der mittelalterl. der hl. Märtyrer aufgrund seiner (lebens-) Versnovellistik gängigen Typus des »übelen zeitl. Unbegrenztheit übersteigt. Varianten- wîbes« ein früher Don Quichotte an die Seite reich wird der absolute Widerspruchsgeist gestellt wird, der sein eigenes Leiden durch der Frau beschrieben, die immer das Gegen- seine literar. »Verblendung« zumindest relateil dessen sagt u. tut, was der Mann sagt oder tiviert, wenn nicht desavouiert, begegnet in tut, u. die ihre Renitenz häufig durch körperl. der Textgruppe eher selten. Dadurch verBrutalität unterstreicht. Angesichts dieser schiebt sich die Rezeptionsaufmerksamkeit Qualen erfolgt eine Kritik an den Geistlichen, auf den männl. Part. Demgegenüber rücken die keine Trennung der Ehepartner erlauben. das »übele wîp« als klassischer Vertreter des Ein Lob der im Guten miteinander auskom- Topos von der »verkehrten Welt«, in der die menden Ehepartner u. eine Klage über das Frau sich zum »meister« über den Mann setzt u. damit rechtl. Vorstellungen wie theolog. eigene heillose Schicksal schließen sich an. Im zweiten Teil wird von sechs konkreten Argumenten des MA widerspricht, u. die u. sehr blutigen Schlägereien erzählt, welche misogyne Kritik daran ein wenig in den die Eheleute sich liefern: Während die Frau, Hintergrund. die die Handgreiflichkeiten jeweils beginnt Ausgaben: Daz buoch v. dem übeln wîbe. Hg. u. als die Überlegene daraus hervorgeht, Karl Helm. Tüb. 1955. 2. neu bearb. Aufl. v. Ernst durch ihre Tätigkeiten (Flachsschwingen, A. Ebbinghaus. Tüb. 1968. Breiproduktion in der Stampfmühle u. SpinLiteratur: Hans-Friedrich Rosenfeld: D. b. F. nen) in der Manier Neidharts als unhöfisch- In: VL. – Hanns Fischer: Studien zur dt. Mären2 dörperl. Bauernfrau ausgewiesen ist, ergeht dichtung. Tüb. 1968. 1983, S. 333–335 (Bibliogr.). Corinna Laude sich der Ich-Erzähler in ritterlich-höf. Fantasien: Er zieht nicht nur den ironisch-hyperbol. Vergleich zu Kämpfen in der Heldenepik, Boëtius, Henning, auch: Uwe Bastiansen, sondern kontrastiert seine Situation als ge* 11.5.1939 Langen/Hessen. – Romanprügelter Ehemann mit dem Schicksal beschriftsteller, Kinder- u. Sachbuchautor, kannter Liebespaare aus der höf. Dichtung Übersetzer. (u. a. Dido–Eneas, Enite–Erec, Isolde–Tristan, Belakane–Gahmuret). Im letzten Kampf wird B., als Sohn eines Kapitäns in Norddeutschihm gar ein derber Bauernstubenstuhl zum land aufgewachsen, studierte in Frankfurt/M. ritterl. Schild, mit dessen Hilfe er sich seiner Germanistik u. Philosophie u. promovierte Haut zu erwehren versucht. Doch nur dem mit einer Arbeit über Hans Henny Jahnn Eingreifen einiger Freunde des Paares, die die (Utopie und Verwesung. Bern 1967). Bis 1973 Kämpfenden trennen, verdankt er seine Ret- war er am Frankfurter Goethe-Haus Mitartung. Schließlich aber muss der Mann seiner beiter an der krit. Ausgabe der Werke BrenFrau wieder willfahren: Sie verbietet ihm tanos, um anschließend dem Wissenschaftsendgültig den Mund, u. er schweigt wie eine betrieb den Rücken zu kehren u. sich in verMaus, denn er fürchtet, andernfalls den schiedenen Berufen zu versuchen. B. arbeitete Scheinfrieden zu verletzen. u. a. als Musiker, Hausmeister, Maler u. Der Autor offenbart stupende Kenntnisse Goldschmied, lebte in dieser Zeit z.T. ohne der höf. Literatur (Heldenepik, höf. Roman, festen Wohnsitz u. fand schließlich zur LiteNovellistik, Minnesang), die er in Zitaten u. ratur. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Anspielungen ironisch bricht u. der er Berlin. gleichzeitig höchsten Respekt erweist, indem B.s umfangreiches Werk umfasst Romane, er sich z.B. ihrem Stilideal verpflichtet u. sich Novellen, Lyrik, Kinder- u. Sachbücher. Eidurch eine kunstreiche sprachl. Gestaltung nen Namen machte er sich mit Romanbio-

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grafien berühmter Schriftsteller, u. a. zu Jo- naturwiss. Betrachtungen verbinden (Troll hann Christian Günther (Schönheit der Verwil- Minigoll von Trollba. Darmst. 1981. Ffm. 2006. derung. Ffm. 1987. Mchn. 2002), Lichtenberg Troll Minigoll und das Labyrinth von Vagna. Ffm. (Der Gnom. Ffm. 1989) u. Rimbaud (Ich ist ein 2006. Troll Minigoll und die Mondscheinsonate. anderer. Ffm. 1995), die ihm von der Kritik Ffm. 2007). Die ersten beiden Teile liegen, großes Lob eintrugen. Die seel. Abgründe u. ebenso wie Phönix aus Asche, auch als Hörbuch letzten Lebensstunden der Dichter Goethe u. vor. Kleist gestalten die Novellen Tod in Weimar Weitere Werke: Der verlorene Lenz. Ffm. 1985. (Gifkendorf 1999. Mchn. 2003) u. Tod am – Undines Tod. Mchn. 1997. 21999 (histor. KrimiWannsee (Gifkendorf 2002). Daneben verfasste nalr.). – Die blaue Galeere. Mchn. 2004 (histor. R.). B. eine Reihe von Kriminalromanen um den – Die Gesch. der Elektrizität. Weinheim 2006 (JuKommissar Piet Hieronymus von der Gro- gendsachbuch). – Der Strandläufer. Mchn. 2006 ninger Polizei, der der Spur des Verbrechens (R.). – Übersetzungen: Jens Bjørneboe: Haie. Gifkendorf 1984. – Hans Henrik Jaeger: Die Bibel der an Orte in ganz Europa folgt, u. a. nach Anarchie. Gifkendorf 1997 (beide aus dem NorweLappland (Joiken. Ffm. 1992. Mchn. 1999), in gischen). die thüring. Provinz (Blendwerk. Ffm. 1994) u. Literatur: Christian v. Zimmermann: Indivinach Rom (Rom kann sehr heiß sein. Mchn. duen, Dichter, Sonderlinge: H. B.s biogr. Annähe2002). B. versteht es hier, subtile Spannung rungen an Brentano, Lenz, Günther u. Lichtenberg. mit der detaillierten, lebendigen Schilderung In: Fakten u. Fiktionen. Strategien fiktionalbiogr. von Orten u. Landschaften zu verbinden. Dichterdarstellungen in Roman, Drama u. Film seit Der Roman Phönix aus Asche (Mchn. 2000. 1970. Hg. ders. Tüb. 2000, S. 101–118. 2002) machte B. auch international bekannt. Christine Henschel Er erzählt von der letzten Atlantiküberquerung des Zeppelins »Hindenburg«, die im Böttger, Adolf, * 21.5.1815 Leipzig, Mai 1937 bei der Landung in Lakehurst in † 16.11.1870 Gohlis bei Leipzig. – Übereiner Katastrophe endete. Im Mittelpunkt setzer, Lyriker u. Dramatiker. steht die Geschichte zweier Männer, deren Schicksal durch das Unglück eng miteinander Der Sohn eines auch als Lexikograf tätigen verbunden ist: Edmund Boysen, Navigator Steuereinnehmers wurde nach dem Besuch auf der »Hindenburg« (sein Lebensweg ist der Thomasschule u. der Universität Leipzig dem von B.s Vater Eduard Boëtius nachemp- (Studium der Philosophie u. Philologie) freier funden, der selbst der Mannschaft der »Hin- Schriftsteller u. einer der bedeutendsten denburg« angehörte), u. Birger Lund, ein Übersetzer des 19. Jh. aus den neueren Spraschwed. Journalist u. Passagier an Bord, der chen. Sein Leben, ohne wesentl. Einschnitte, die Katastrophe zum Anlass nimmt, seinem in arbeitsamer Zurückgezogenheit u. ohne früheren Leben zu entfliehen. Die Männer größere öffentl. Anerkennung stets am Heitreffen nach Ende des Zweiten Weltkriegs matort verbracht, wirkt typisch biedermeieraufeinander u. diskutieren die beide quälen- lich. Seine letzten Jahre verlebte B. vereinde Frage von Pflicht u. Schuld, wobei es bald samt in schwerer Melancholie. weniger um den Zeppelinabsturz geht als um B.s Bedeutung liegt in der Vermittlung ein verantwortungsvolles Leben u. die zu- englischer Literatur, v. a. Lord Byrons, an eirückliegenden Kriegsgräuel. Brillant recher- nen größeren dt. Leserkreis; seine Byronchiert, wurde der Roman in kurzer Zeit in Übersetzung (12 Bde., Lpz. 1840) wurde mehrere Sprachen übersetzt u. bes. auf dem mehrfach aufgelegt. Weitere Übersetzungen ausländ. Markt zu einem großen Verkaufs- (u. a. von Werken Shakespeares, Popes, erfolg; die Universal Studios sicherten sich Goldsmiths, Miltons, Sternes u. Racines) die Filmrechte. schlossen sich an. B. pflegte v. a. die im BieB. gestaltete daneben die bei Kindern wie dermeier bes. beliebte Gattung der VerserErwachsenen beliebten Geschichten um den zählung u. markierte hier eine Station auf kleinen Steintroll Troll Minigoll, die mär- dem Weg zur »Goldschnitt-Literatur« natiochenhafte Elemente mit philosophischen u. nal-apologet. Charakters, als nach der

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Reichsgründung von 1871 das Versepos zur Lieblingsgattung der Gebildeten aufrückte. Zahlreiche Nachfolger fand B. als Erfinder der sog. Blumenlyrik, der seine Gedichte (Frühlingsblumen. Lpz. 1846) u. seine melodiösen, Pflanzen personifizierenden, epischlyr. Schöpfungen wie Hyazinth und Lilialide (Lpz. 1849. 41852) u. die Pilgerfahrt der Blumengeister (Lpz. 1851. 31858) zuzurechnen sind. Auch B.s Textfassung zu Grandvilles Fleurs animées gehört in diese Kategorie. Meist historisierenden Charakter haben B.s spätere Verserzählungen wie Der Fall von Babylon (Lpz. 1855) u. seine Dramen (Heinrich III. Lpz. 1836. Agnes Bernauer. Lpz. 1845). Weitere Werke: Till Eulenspiegel. Modernes Heldengedicht. Lpz. 1850. – Düstere Sterne. Dichtungen. Lpz. 1852. – Habana. Lpz. 1853 (L.). – Goethes Jugendliebe. Lpz. 1861 (L.). – Die Tochter des Kain. Lpz. 1865 (L.). – Das Galgenmännchen. Dramat. Märchendichtung. Lpz. 1870. Ausgabe: Ges. Werke. 6 Bde., Lpz. 1865/66. Literatur: Kosch TL. – Goedeke Forts. Christian Schwarz / Red.

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der »Jugend« seit 1901 erscheinende Lyrische Tagebuch des Leutnants von Versewitz (Separatdr. 2 Tle., Lpz. 1901 u. 1904), in zackigem Militärjargon u. sächsischem Dialekt gehalten, war als Absage an den wilhelmin. Nationalstolz angelegt. Mit Parodie, Ulk u. Unsinn – worin ihm sein als Joachim Ringelnatz bekannter Sohn Hans folgen sollte –, mit zahlreichen humorvollen Ritterballaden im Uhland-Ton (z.B. Alfanzereien. Lpz. 1899) u. als Herausgeber der »Kränzchen-Zeitung« (1887–1889) fand B. den Zugang zur literar. Welt unsinntreibender Gesellschaften (»Stalaktiten«, »Leoniden«). In seinen letzten Lebensjahren vollzog B. den polit. Wandel zum Konservativen, einige Gedichte dieser Zeit sind von vaterländischer Gesinnung geprägt. Weitere Werke: Heitere Stunden. Lpz. 1909. – Auerbach’s dt. Kinder-Kalender. Lpz. 1901–13. – Bismarck als Zensor. Lpz. 1907. Neuausgabe: Das lustige Jena. ›Bilder aus dem Studentenleben‹ (1895) nebst einem ›Brief über Jena‹ (1877). Hg. Detlef Ignasiak. Erlangen u. a. 1994. Literatur: Walter Pape: Joachim Ringelnatz.

Bötticher, Georg, auch: Rentier Quengler, Parodie u. Selbstparodie in Leben u. Werk. Bln. C. Engelhart, * 20.5.1849 Jena, † 15.1. 1976. Reinhard Tenberg / Red. 1918 Leipzig; Grabstätte: ebd., Johannisfriedhof. – Humorist u. UnterhalBoetticher, Hermann von, * 13.8.1887 tungsschriftsteller. Eldingen/Lüneburger Heide, † wahrDer Pfarrerssohn B., Vater von Joachim Rin- scheinlich 28.4.1941 Sonnenstein/Sachgelnatz, erhielt eine Ausbildung als Muster- sen. – Dramaturg, Dramatiker. zeichner in Dresden, besuchte die Webeschule in Chemnitz (1866/67) u. arbeitete bis 1870 in einem Pariser Atelier für gewerbl. Kunst. Er lebte in Dresden, Mannheim u. Jena, seit 1875 in Wurzen. B. veröffentlichte anfangs Fachbücher, konzentrierte sich dann aber auf literar. Arbeiten. B., der mit Detlev von Liliencron u. Johannes Trojan befreundet war u. mit Fontane, Raabe, Freytag u. a. einen regen Briefwechsel führte, trat in seinen über 40 Büchern vorwiegend als Jugend- u. Unterhaltungsschriftsteller hervor. Dem Militärischen verlieh er heitere bis groteske Züge. So werden etwa in den harmlos-lustigen Versen Wie die Soldaten Tiere werden wollten (Lpz. 1892. Mit Illustrationen von Fedor Flinzer) menschl. Eigenschaften auf Tiere übertragen. Das in

Nach abgebrochenem Schulbesuch arbeitete B. ab 1912 bei einer Bank. 1914 wanderte er nach Amerika aus u. geriet bei seiner Rückkehr im selben Jahr in frz. Gefangenschaft, floh in die Schweiz, wurde anfangs interniert u. arbeitete dann als Dramaturg u. Regisseur in Bern. Aus dieser bewegten Lebensphase stammt das Drama Jephta (Bln. 1919), das B.s Zugehörigkeit zum Expressionismus zeigt. Sein bekanntestes Drama Friedrich der Große (Bln. 1919) sucht in chronologischer Folge einen Lebensverlauf darzustellen. Im Zentrum steht der quälende Konflikt zwischen den musischen Neigungen des Kronprinzen u. dem vom Vater geforderten Pflichtbewusstsein.

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1919 wurde B. Dramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus; nach 1920 arbeitete er als freier Schriftsteller in Berlin, München, Rom, Genf, Paris u. hauptsächlich in Florenz. Anfang der 1930er Jahre wurde er geisteskrank. Er starb unter ungeklärten Umständen in einer Euthanasieanstalt; wahrscheinlich wurde er ermordet. Weitere Werke: Hexensabbath. Bln. 1919 (D.). – Die Liebe Gottes. Bln. 1919 (D.). – Sonette des Zurückgekehrten. Weimar 1919. – Erlebnisse aus Freiheit u. Gefangenschaft. Bln. 1919. – Das Bild. Bln. 1924 (N.). Literatur: Bernhard Diebold: Anarchie im Drama. Ffm. 1922. – Paul Raabe: Die Autoren u. Bücher des literar. Expressionismus. Stgt. 1985, S. 70 f. Matthias Heinzel / Red.

Böttiger, Karl (Carl) August, * 8.6.1760 Reichenbach/Vogtland, † 17.11.1835 Dresden. – Verfasser philologischer, archäologischer sowie theaterkundlicher Schriften. Nach seiner Gymnasialzeit in Schulpforta (1772–1778) studierte B. bis 1781 Theologie u. klass. Philologie in Leipzig. Nachdem er einige Jahre als Hofmeister tätig gewesen war, wurde er 1784 – nach seiner Promotion zum Dr. phil. in Wittenberg – Rektor des Lyzeums zu Guben/Niederlausitz u. schließlich 1790 Rektor des Gymnasiums in Bautzen. Herders Vermittlung verdankte er 1791 die Berufung zum Direktor des Weimarer Gymnasiums u. Oberkonsistorialrat für Schulangelegenheiten. In dieser Zeit veröffentlichte B. zahlreiche gelehrte Programme; seine Antrittsrede als Direktor des Weimarer Gymnasiums am 3.10.1791 beschäftigte sich mit den Vor- u. Nachteilen, die einer Schule aus der Nachbarschaft einer Universität entstehen. B. erwies sich als gründlicher Kenner der antiken Literatur u. wurde so auch mit Goethe u. Schiller bekannt, die ihm viele Stoffe für ihre Balladen verdankten (z.B. Die Kraniche des Ibykus). 1797 half er Goethe bei der Schlussredaktion von Hermann und Dorothea u. vermittelte den Verkauf des Manuskripts an den Verleger Hans Friedrich Vieweg. Goethe versuchte B.s prinzipielle Hilfsbereitschaft aus-

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zunutzen u. ihn als dienstbaren Geist an sich zu binden; B. entzog sich jedoch solcher Bindung. Nicht zuletzt deshalb kam es zum Bruch zwischen Goethe u. ihm (»dieser Tigeraffe«, Goethe an Wieland, 13.1.1802). In den Jahren 1802 bis 1804 versuchte Goethe mehrfach – u. oft mit Erfolg –, die Veröffentlichung ihm nicht genehmer Rezensionen u. Aufsätze B.s zu verhindern; so erreichte er im Jan. 1802, dass Wieland die Veröffentlichung einer Besprechung B.s im »Journal des Luxus und der Moden« unterband, die eine Aufführung von Schlegels Ion in Goethes Inszenierung zum Gegenstand hatte. Auch B.s Abschiedsrede als Direktor des Weimarer Gymnasiums im Jahr 1804 konnte wegen einer verhalten krit. Bemerkung über Herzog Karl August auf Goethes Drängen hin nur zensiert im Druck erscheinen. Im Okt. 1802 erschien in Karl Spaziers »Zeitung für die elegante Welt« eine anonyme persiflierende Besprechung der von Goethe organisierten Weimarer Kunstausstellung; erst 1925 hat man B. als den mutmaßl. Autor dieser Rezension, über die Goethe sehr verärgert war, ermitteln können (Hünich, S. 288). Auch Schiller ging auf Distanz zu B., nachdem dieser mehrmals Manuskripte Schillers ohne dessen Wissen verbreitet hatte. Als schließlich 1799 eine Kopie der Handschrift von Wallensteins Lager in Kopenhagen auftauchte, hatte man sofort – u. zu Recht – B. in Verdacht (vgl. Schiller an Goethe, 1.3.1799). In Weimar nutzte B. die großen Bestände der Hofbibliothek für seine archäolog. Studien, die er später zu zahlreichen Publikationen verarbeitete. Seine Hauptbeschäftigung in Weimar war jedoch die journalist. Tätigkeit; so gab er 1795–1803 Friedrich Justin Bertuchs »Journal des Luxus und der Moden« u. 1797–1803 Wielands »Neuen teutschen Merkur« heraus u. veröffentlichte in anderen Zeitschriften eine Vielzahl von Rezensionen u. Kulturberichten. Sein Hang zur Vielschreiberei u. seine Neigung, überall mitzureden u. mitzuhandeln, trugen ihm von Goethe u. Schiller den Spitznamen »Magister ubique« ein. Seine Sucht, »sich in

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anderer Affairen zu mischen« (Schiller), kels an Carl A. B. Hg. ders. Bern 1987. – Die Briefe machte ihn in Weimar immer unbeliebter. Johann Daniel Sanders an Carl A. B. Hg. ders. 4 1804 ging B. auf Vermittlung von Joseph Bde., Bern 1990–93. – Der Briefw. zwischen Friedrich von Racknitz u. Franz Volkmar Friedrich Nicolai u. Carl A. B. Hg. ders. Bern/Bln. 1996. – Briefw. mit Auguste Duvau. Hg. Klaus Reinhard nach Dresden, wo er erst StudienGerlach. Bln. 2004. – Aubin-Louis Millin et l’Alledirektor der Pagerie – des Pageninstituts – magne: le magasin encyclopédique – les lettres à K. wurde u. 1814–1821 Direktor der Ritteraka- A. B. Hg. Geneviève Espagne u. Bénédicte Savoy. demie u. Oberaufseher der Antikenmuseen Hildesh. 2005. war. Im Jan. 1835 trat er in den Ruhestand. Literatur: Karl Wilhelm Böttiger: K. A. B., eine In Dresden nahm B. wie zuvor in Weimar biogr. Skizze. Lpz. 1837. – Fritz Adolf Hünich: regen Anteil am literar. u. gesellschaftl. Le- Spaziers ›Visite à Weimar‹. In: Jb. der Slg. Kipben, neigte aber auch hier zur Intrige; so penberg 5 (1925), S. 277–289. – Bernd Maurach: K. verhinderte er im Okt. 1808, dass Cotta das in A. B. als Berichterstatter der Goethezeit. Diss. Univ. finanzielle Schwierigkeiten geratene Zeit- of Washington 1971. – Ders.: Zeitgenosse Goethe. schriftenprojekt »Phöbus« Heinrich von K. A. B.s verschmähte krit. Notizen über Goethe. Kleists u. Adam Müllers in seinen Verlag In: JbFDH 1978, S. 225–255. – Ernst F. Sondermann: K. A. B. Literar. Journalist der Goethezeit in nahm. Einige Angriffe auf Kleists Beiträge im Weimar. Bonn 1983. – Rüdiger Wartusch: Neue »Phöbus«, die B. in der Zeitschrift »Der Lebensspuren Heinrichs v. Kleist im Briefw. zwiFreimüthige« anonym veröffentlichte, schen B. u. Falk. In: Kleist-Jb. 1996, S. 188–200. – machten ihn zur Zielscheibe scharfer pole- Eckhard Richter: ›Verehrtester Herr Hofrath‹. mischer Epigramme Kleists. Tieck u. B. In: Ludwig Tieck. Hg. Walter Schmitz. B. hielt in Dresden populäre Vorlesungen Tüb. 1997, S. 169–191. – Carl A. B.: Literar. Zuüber Archäologie, die er u. d. T. Andeutungen stände u. Zeitgenossen. Begegnungen u. Gespräche zu 24 Vorträgen über die Archäologie (Dresden im klass. Weimar. Hg. Klaus Gerlach u. René 1806) herausgab; es folgten die Ideen zur Ar- Sternke. Bln. u. a. 1998. – Elena Agazzi: Carl A. B. u. seine Rolle als Vermittler zwischen Bühne, Alchäologie der Malerei (Dresden 1811) u. die Ideen tertumsforsch. u. Roman. In: Euph. 94 (2000), zur Kunst-Mythologie (Dresden/Lpz. 1826), de- S. 423–434. – Julia A. Schmidt-Funke: K. A. B. ren zweiter Teil nach seinem Tod 1836 er- (1760–1835): Weltmann u. Gelehrter. Heidelb. schien. Die archäolog. Werke B.s sind heute 2006. – René Sternke: B. u. der archäolog. Diskurs. nur noch von wissenschaftshistor. Wert; die Bln. 2007. Walter Hettche / Red. von seinem Sohn Karl Wilhelm Böttiger herausgegebenen Litterarischen Zustände und Zeitgenossen (Lpz. 1838. Neudr. 2 Bde., Ffm. 1972. Böttiger, Karl Wilhelm, * 15.8.1790 BautNeuausg. hg. v. Klaus Gerlach u. René zen, † 17.11.1862 Erlangen. – Historiker Sternke. Bln. 1998. 22005) geben wichtige u. Biograf. Aufschlüsse über das literar. Leben im klass. Der Sohn Karl August Böttigers wurde nach Weimar. Weitere Werke: Ueber den Misbrauch der Dt. seinem Theologie- u. Geschichtsstudium Lectüre auf Schulen. Lpz. 1787. – Ueber die besten 1819 a. o. Professor für Geschichte in Leipzig, Mittel die Studirsucht derer, die zum Studiren 1821 Ordinarius in Erlangen. Seine zahlreikeinen Beruf haben, zu hemmen. Lpz. 1789. – chen histor. Schriften waren zu seinen LebZustand der neuesten Litteratur, der Künste u. zeiten weit verbreitet u. dienten, wie die AllWiss.en in Frankreich. 2 Tle., Bln. 1795/96. – Ent- gemeine Geschichte für Schule und Haus (Erlangen wicklung des Ifflandischen Spiels in 14 Darstel- 1824. 21856) u. die Geschichte des deutschen lungen auf dem Weimar. Hoftheater. Lpz. 1796. – Volkes und des deutschen Landes (2 Bde., Stgt. Sabina: oder Morgenscenen im Putz-Zimmer einer 1835/36. 31845), als patriotisches Anschaureichen Römerin. Lpz. 1803. – Archaeolog. Aehrenlese. Dresden 1811. – Amalthea: oder Museum ungsmaterial. Die groß angelegte Weltgeschichte in Biograder Kunstmythologie u. bildl. Altertums-Kunde. 3 phien (8 Bde., Bln. 1839–44) kann als repräBde., Lpz. 1820–25. – Briefe: Der Briefw. zwischen August v. Kotzebue u. Carl A. B. Hg. Bernd Mau- sentativ gelten für die biedermeierl. Konrach. Bern 1987. – Die Briefe Garlieb Helwig Mer- zeption ›denkwürdiger Personen‹, in deren

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Wirken der teleologisch gesicherte Gang von Volk u. Geschichte beispielhaft sichtbar werden soll. Mit Litterarische Zustände und Zeitgenossen (Lpz. 1837. Neudr. Ffm. 1972) u. Karl August Böttiger. Eine biographische Notiz (Lpz. 1837) wurde er auch als Nachlassverwalter u. Biograf seines Vaters tätig. Weitere Werke: Heinrich der Löwe. Hzg. der Sachsen u. Baiern. Hann. 1819. – Kurzgefaßte Gesch. des Kurstaates u. Königreiches Sachsen. 2 Bde., Hbg. 1830/31. – Gesch. Bayerns nach seinen alten u. neuen Bestandtheilen. Erlangen 1832. Literatur: Geschichtswiss. in Erlangen. Hg. Helmut Neuhaus. Erlangen/Jena 2000, passim. Wolfgang Leierseder / Red.

Bogatzky, Karl (Carl) Heinrich von, * 7.9. 1690 Gut Jankowa/Niederschlesien, † 15.6.1774 Halle. – Erbauungsschriftsteller u. Liederdichter.

Boger weltübl. Tanzen u. Spielen zu halten sey, u. ob es nicht mit zur christl. Freyheit gehöre? Halle 1750. – Betrachtungen v. der Freiheit der Gläubigen vom Gesetz. Halle 1750. – Einer gläubigen Seele Umgang mit Gott. Halle 1752. 41867. – Der einige u. schmale Himmels-Weg u. breite Höllen-Weg zur Bekehrung der Sünder vom Irrthum ihres Weges auf Verlangen aus Gottes Wort deutlich gezeiget [...]. Halle 1754. – Theurer Schatz v. Vergebung der Sünden. Halle 1758 (Aufl.n bis in die zweite Hälfte des 19. Jh.). – Der eitle Musicant u. Schenkwirth als zwey Wunder in der Christenheit, bes. in den itzigen betrübten Kriegsläuften. Halle 1760. – Lebenslauf v. ihm selbst beschrieben. [...] Als Beitr. zur Gesch. der Spenerschen theolog. Schule hg. Halle 1801. Neuausg. Bln. 1872. Literatur: Koch 4, S. 468–478. – Paul Gabriel: K. H. v. B. In: NDB. – Dietrich Meyer: K. H. v. B. In: RGG 4. Aufl. Bd. 1, Sp. 1666. – Paul Raabe: Goethe u. B. Eine Marginalie. In: Goethe u. der Pietismus. Hg. Hans-Georg Kemper u. Hans Schneider. Tüb. 2001, S. 1–11. – Jörg-Ulrich Fechner: Carl H. v. B. (1690–1774). In: Internat. Pietismusforsch.en. Hg. Udo Sträter u. a. Tüb. 2005, S. 171–185.

Vom Vater zur Armee bestimmt, strebte der stets kränkl. Sohn während seines Studiums Heimo Reinitzer / Jörg-Ulrich Fechner in Breslau, Jena u. Halle einen juristischen, ab 1716 einen theolog. Beruf an. Ihm blieb jeBoger, Heinrich, auch: Bonger, Curvator, doch nur die Möglichkeit zu privater SeelFlexor, Versor, * vor 1450 Höxter, † Ansorge u. sozialen Diensten, v. a. im Umkreis fang 1505 Rostock. – Frühhumanist, von August Hermann Francke. neulateinischer Dichter. B. verfasste 411 geistl. Lieder u. Gebete sowie zahlreiche erbaul. Schriften, Andachten B. studierte in Erfurt, erwarb dort den Titel u. Betrachtungen. Berühmt wurde seine eines »Baccalaureus artium« (1473) u. legte Sammlung evang. Sprüche, sein Güldenes sein Magisterexamen ab (1485). 1489/90 erSchatz-Kästlein der Kinder Gottes, deren Schatz im warb er den Grad Dr. theol. (eventuell in PeHimmelreich ist (Breslau 1718. 671924. Neu- rugia); mehrere Italienaufenthalte sind beausg. u. d. T. Schatzkästchen [...]. Bielef. zeugt. 1502/03 wurde er von Maximilian I. in 1994), das erbauliche Verse u. Anmerkungen Bologna zum »poeta laureatus« gekrönt. B. enthält. Die zahlreichen verstreut oder bis kam erst ab 1490 zu verschiedenen Domherdahin noch nicht publizierten Lieder er- renpfründen (1490 u. 1501 Hamburg; 1501 schienen in der Uebung der Gottseligkeit in Rostock u. Güstrow), ab 1499 wirkte er in allerley Geistlichen Liedern [...] (Halle 1750, Rostock als Lehrer des Herzogs Erich von Vorrede vom 17.9.1749. 31775. Nachdr. Bln. Mecklenburg, den er 1502–1504 nach Italien 1844). Sie sind nicht kunstvoll oder in begleitete. 1506 erschien in Rostock postum B.s Ethedunklem, geblümtem Stil, sondern in klarer, bibl. Sprache, nicht ohne Bilder u. Gleich- rologium (= »Kunterbuntes«), das in zwölf nisse geschrieben. Etwa 50 von ihnen haben Distinctiones (Oraciuncule, Historie, Invective, Eingang in regionale Gesangbücher gefun- Familiaria, Panegirica, Epitaphia, Arenge, Doctriden, darunter Herr, gib, ach gib mir wahre Treue ne, Querele, Dialogi, Hymni, Apologi) Gelegenheitsdichtung autobiografischen, panegyr., u. Wach auf, du Geist der ersten Zeugen. Weitere Werke: Tägl. Hausbuch der Kinder religiösen, zeitgeschichtl. sowie universitätGottes. 3 Tle., Halle 1748/49. 51841/42. – Schrift- shistor. Inhalts (überwiegend in leoninisch mässige Beantwortung der Frage: was v. dem gereimten Hexametern, daneben in reimlo-

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sen eleg. Distichen) enthält. Neben dem Etherologium kursierten zwei Einblattdrucke u. mehrere Handschriften; einige Gedichte wurden ins Niederdeutsche übertragen. Trotz seiner poet. Mediokrität u. seines Mitteilungsdrangs sind B.s Dichtungen ein wertvoller Spiegel des Übergangs von der spätmittelalterl. zur humanist. Bildungswelt. Literatur: Heinrich Reincke: H. B. In: NDB. – Wolfgang Maaz: Henricus B. – ein Beitr. zur ›Vetula‹-Rezeption. In: FS für Paul Klopsch. Göpp. 1988, S. 345–358. – Christoph Fasbender: H. B. In: VL Dt. Hum. (grundlegend). Wolfgang Maaz

Bohse, August, auch: Talander, Gustav Hohes, * 2.4.1661 Halle, † 11.8.1742 Liegnitz. – Jurist; Übersetzer, Verfasser von Romanen u. Briefstellern. B. gilt als einer der ersten Autoren, die – zumindest für eine gewisse Zeit – als Berufsschriftsteller lebten. Er stammte aus einer Juristenfamilie. Nach dem Besuch des Hallenser Gymnasiums bezog er im Sommersemester 1679 die Universität Leipzig, in deren Matrikel er bereits im Wintersemester 1667 als 6-Jähriger eingetragen wurde. Dort studierte er, wie anschließend in Jena (Immatrikulation 8.7.1681), Beredsamkeit u. Jura. 1685–1688 lebte er in Hamburg, wo er öffentlich Vorträge über Rhetorik u. Recht hielt. Nach unsteten Jahren in Dresden, Leipzig u. Halle ging er 1691 als Sekretär an den kulturell rührigen Hof in Weißenfels, wo er sich auch als Opernschriftsteller versuchte. Anschließend wanderte er wieder mit Vorträgen über Land (Jena, Erfurt). 1700 wurde er in Jena mit einer Dissertatio inauguralis de iure posthumorum (Jena o. J.) zum Dr. jur. promoviert; 1708 beendete er sein unruhiges Wanderleben u. wurde Professor an der neu gegründeten Ritterakademie in Liegnitz. Um 1700 war er unter dem Pseud. Talander einer der erfolgreichsten Schriftsteller, geriet aber schnell in Vergessenheit. Neben zeitüblichen Gelegenheitsgedichten u. seinen Übersetzungen – wie etwa von Barclays Argenis (Lpz. 1701. 1709), Fénelons Télémaque (Breslau 1700. 1707. 1715. 1722) u., wie einige glauben, von 1001 Nacht – schrieb B. v. a. Briefsteller u. Romane. Mehr

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als ein halbes Hundert Einzelschriften erschienen von ihm, viele dickleibig, ein großer Teil in mehreren Auflagen. Neben Christian Friedrich Hunold, den er anregte, gilt B. als der zweite bedeutende Poet der galanten Periode. Sein unübersichtliches Werk bekommt aus dieser kulturgeschichtl. Zuordnung seine Kontur. In einer Zeit der Umorientierung schrieb er für ein informationsbedürftiges adliges Publikum u. eine aufstiegswillige u. nach Belehrung suchende bürgerl. Leserschaft. Die frz. Hofkultur u. der Salon waren seine u. seiner Leser(innen) Orientierungspunkte; von dort bezog er Vorbild u. Normen, auch wenn damit angesichts der dt. Verhältnisse mehr Illusionen als Realität verbunden waren. Als Verfasser von Briefstellern war er erfolgreich wie niemand sonst. Über eine lange Reihe hin, die mit Der allzeitfertige Brieffsteller (3 Tle., Dresden 1690–94. 71732) begann, entwickelte B. sein in Regeln kodifiziertes u. mit Beispielen u. Vorbildern belegtes Programm. Er sah im Brief ein eigenständiges Genre, das pragmat. Zielen zugeordnet ist: den Schreiber beim Adressaten in ein erfreuliches Licht zu rücken. Es gelte, den Empfänger »zu persuadiren / was er ihnen vorträget / und ihre Affecten also zu gewinnen / damit sie ihm Beyfall geben / und auf seine Seite treten«. Das war das alte Rhetorik-Programm, das unter dem Vorzeichen einer galanten Conduite aufgefrischt wurde: Der (frz.) Konversationston wurde zum Ideal. Hypotaxe, (nach damaligem Gebrauch) kurze Sätze, Abwechslung u. Schicklichkeit in der Wortwahl, Zwanglosigkeit u. Übersichtlichkeit in der Argumentation galten ihm als Ideale. Die demonstrierte Beherrschung eines weitläufigen Konversationsstils betrachtete er als Teil der einnehmenden Botschaft eines jeden Briefs. In der literar. Form schlug sich ein Stück Sozialkontrolle nieder. Ähnlichen Überlegungen entsprangen seine insg. 15 Romane, deren erster (Der Liebe Irregarten) 1684 u. deren letzter (Antonia de Palma) 1709, beide in Leipzig, erschienen. Nach frz. Vorbild passte er die tradierte Romanform den neuen Gegebenheiten an, sorgte für zeitgemäße Unterhaltung u. lieferte zgl. nützl. Handlungsanweisungen. Die

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transzendente Orientierung des Staats- u. Liebesromans wurde von einer innerweltl., »moralischen« Normierung abgelöst, aus Helden wurden Menschen, aus Staatsaktionen wurden Liebesverwicklungen. B. sprengte die Tradition nicht, er passte sie den veränderten Bedürfnissen im sich etablierenden absolutist. Staat an. In seinen Romanen malte er die Verhaltensmuster aus, die die Vertreter des »Politischen« wie Christian Weise u. v. a. Christian Thomasius theoretisch verkündet hatten. Dabei schilderte er aber weniger Vorhandenes, vielmehr webte er am Traumbild einer höf. Gesellschaft, in der sich traditioneller Adel u. durch Verdienst legitimierte Bürgerlichkeit zu einer imaginierten adligen Welt bürgerl. Zuschnitts vereinten. So verwandelte B. die Muster des Barockromans ins Galant-Höfische (Amor an Hofe. 2 Tle., Dresden 1689–1691), ins Galant-Heroische (Die getreue Sklavin Doris. Lpz. 1696) oder zu den Vorformen des nichthöf. galanten Romans (Die Eiffersucht der Verliebten. Lpz. 1689). Trotz B.s großem Erfolg war sein Nachruhm bescheiden. Schon Gottsched u. die Schweizer erwähnten ihn kaum noch. Als sich das galante Programm überlebt hatte, war auch B.s Zeit vorbei. Zwar war er einer der Ersten gewesen, die im Roman die Episodenstruktur durch eine längere Handlungskonstruktion zu ersetzen trachteten, aber er wurde schnell übertroffen. Gellerts kolloquialer Briefstil ersetzte B.s rhetor. Orientierung endgültig. Erst mit der sozialgeschichtl. Ausrichtung der Literaturwissenschaft rückte er wieder etwas stärker ins Licht. Weitere Werke: Liebes-Cabinet der Damen. Lpz. 1685. Neudr. Hildesh. 1980. – Die lebenden Todten welche in dem Herrn entschlaffen, durch unterschiedene Trauer-Reden [...] beehret [...]. Lpz. 1698. – Die liebenswürdige Europäerin Constantine. Ffm./Lpz. 1698. Neudr. Ffm. 1970. – Gründl. Einl. zun Teutschen Briefen. Jena 1700. Jena 31706. Neudr. Kronberg 1974. Ausgaben: Gedichte (Ausw.). In: Neukirch, Tl. 6, S. 87 f., 91, 93. – [Fr. de la Rochefoucauld:] Gemüths-Spiegel [...] aus der frantzösischen in unsrer teutschen Sprache vorgestellet v. Talandern (Lpz. 1699). In: Abgerissene Einfälle. Dt. Aphorismen

Boie des 18. Jh. Hg. Harald Fricke u. Urs Meyer. Mchn. 1998, S. 9–37 u. 233–236 (Ausw.). Literatur: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, S. 713–757 (Bibliogr.). – Frank-Rutger Hausmann: Bibliogr. der dt. Übers.en aus dem Italienischen v. den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 1 (2 Teilbde.), Tüb. 1992, Nr. [0527], 0909, 1176. – William Jervis Jones: German lexicography in the european context. A descriptive bibliography of printed dictionaries and word lists containing german language (1600–1700). Bln./New York 2000, S. 118–123, Nr. 217–221. – Weitere Titel: Ernst Schubert: A. B. gen. Talander. Breslau 1911. – Frels, S. 32. – Liselotte Brögelmann: Studien zum Erzählstil im ›idealist. Roman‹ v. 1643–1733. Diss. Gött. 1953. – Willi Flemming: A. B. In: NDB. – Reinhard Nikisch: Die Stilprinzipien in den dt. Briefstellern des 17. u. 18. Jh. Gött. 1969. – Heiduk/Neumeister, S. 17, 147, 300 f. – Elisabeth Brewer: The novel of entertainment during the gallant era. A study of the novels of A. B. Bern 1983. – Claudia Nölling: A. B.: Der getreue Hoffmeister adelicher u. bürgerl. Jugend (1703). In: HKJL. Von 1570 bis 1750, Sp. 773–791 u. 1121 f. – Dies.: A. B.: Tugend u. Laster Comoedie (1699), ebd., Sp. 930–941 u. 1122 f. – Elizabeth Bredeck: A. B. In: German Baroque Writers, 1661–1730. Dictionary of Literary Biography 168. Hg. James Hardin. Detroit 1996, S. 51–61. – Olaf Simons: Zum Korpus ›galanter‹ Romane zwischen B. u. Schnabel, Talander u. Gisander. In: Das Werk Johann Gottfried Schnabels u. die Romane u. Diskurse des frühen 18. Jh. Hg. Günter Dammann u. Dirk Sangmeister. Tüb. 2004, S. 1–34. – Florian Gelzer: Nachahmung, Plagiat u. Stil. Zum Roman zwischen Barock u. Aufklärung am Beispiel v. A. B.s ›Amazoninnen aus dem Kloster‹ (1685/96). In: Daphnis 34 (2005), S. 255–286. – Ders.: Konversation, Galanterie u. Abenteuer. Romaneskes Erzählen zwischen Thomasius u. Wieland. Tüb. 2007. Uwe-K. Ketelsen / Red.

Bohuslav Lobkowicz von Hassenstein ! Lobkowicz und Hassenstein, Bohuslaus von Boie, Heinrich Christian, * 19.7.1744 Meldorf/Holstein, † 25.2.1806 Meldorf/ Holstein. – Herausgeber u. Lyriker. B. war der älteste Sohn des aus einer Dithmarscher Familie stammenden Pastors Johann Friedrich Boie u. seiner Frau Engel Katharine, geb. Haberkorn, die einer hess. Gelehrtenfamilie entstammte. B.s Vater, der seit

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1742 Prediger in Meldorf war, zog 1757 mit seiner Familie nach Flensburg, wo er Diakonus an St. Nikolai wurde (1767 Hauptpastor, 1774 Kirchenpropst). Nach dem Besuch der Flensburger Gelehrtenschule begann B. im Sommer 1764 in Jena das Studium der Theologie, wechselte jedoch kurz darauf zur Rechtswissenschaft. Die Liebe zur schöngeistigen Literatur, die sich bereits in der Schulzeit gezeigt hatte, wurde nun ein bestimmendes Element in seinem Leben: Er las engl. Schauspiele, übersetzte u. bearbeitete einige von ihnen u. verfasste – vorwiegend nach frz. Mustern – eigene Gedichte. Schon während seiner Studienzeit knüpfte er erste literar. Kontakte, so zu Gellert u. Johann Georg Jacobi. Im Herbst 1767 kehrte B. nach Flensburg zurück. Auf der Reise dorthin besuchte er in Halle Christian August Klotz, in Halberstadt Gleim, den er kurz zuvor in Leipzig kennengelernt hatte, in Braunschweig u. a. Eschenburg u. Zachariä, in Hamburg Basedow u. Lessing, mit dem er später noch wiederholt in Braunschweig u. Wolfenbüttel zusammentraf. Im April 1769 ging er nach Göttingen, um das jurist. Studium fortzusetzen. Während er als Hofmeister seinen Unterhalt verdiente, widmete er sich dort jedoch in erster Linie seinen literar. Neigungen. Noch 1769 gründete B. zusammen mit Friedrich Wilhelm Gotter – angeregt durch den seit 1765 erscheinenden frz. »Almanach des Muses« – einen dt. Musenalmanach, der alljährlich eine Reihe von Gedichten in einer »Poetischen Blumenlese« sammeln u. dem Publikum so einen Überblick über die Lyrik der Zeit vermitteln sollte. Unterstützung erhielten die beiden Initiatoren hierbei von Abraham Gotthelf Kästner, der neben Christian Gottlob Heyne u. Lichtenberg zu den Göttinger Professoren zählte, mit denen B. privat verkehrte, u. der dessen poet. Ambitionen wohlwollend beurteilte. Der erste Jahrgang des »Musenalmanachs«, der neben Beiträgen der Herausgeber u. a. Gedichte von Klopstock, Gleim u. Kästner enthält, erschien 1770. Nach Gotters Weggang aus Göttingen gab B. fünf weitere Jahrgänge (1771–1775) allein heraus, wobei er die Redaktion des letzten Johann Heinrich Voß übertrug. His-

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tor. Bedeutung erlangte der Almanach dadurch, dass B. ihn sehr bald auch der Lyrik neuen Stils öffnete u. somit zu einem gewichtigen Organ für eine neue literar. Entwicklung machte. Bereits in den Jahrgängen 1772/73 ist die Lyrik der jungen Dichter Bürger, Claudius, Herder, Voß u. a. repräsentativ neben der älteren aufklärerischen u. anakreont. Poesie vertreten. Die Almanache für 1774 u. 1775 wurden dann zu einem Forum für die jüngere Dichtergeneration, bes. für den »Göttinger Hain«: Unter ihren Beiträgern befinden sich – namentlich genannt oder chiffriert – fast alle »modernen« Lyriker der Zeit, darunter auch Goethe mit mehreren Gedichten. Im Frühjahr 1771 war B. mit einigen in Göttingen lebenden jungen Dichtern in engere Beziehung getreten. Von den eigenen poet. Fähigkeiten inzwischen weniger überzeugt, sah er seine Aufgabe mehr u. mehr darin, heranwachsenden Talenten durch Anregung u. krit. Urteil fördernd zur Seite zu stehen. Er befreundete sich mit Bürger u. lernte Ludwig Christoph Heinrich Hölty, Johann Martin Miller u. Johann Friedrich Hahn kennen. »Wir bekommen nachgerade hier einen Parnassum in nuce«, schrieb er an Knebel (30.1.1772). »Ich suche das Völkchen zu vereinigen.« Im Frühjahr 1772 kamen Carl Friedrich Cramer u. – durch Vermittlung B.s – Voß nach Göttingen, die sich dem Kreis anschlossen. Durch Voß u. einige seiner engeren Freunde erfolgte im Sept. 1772 die feierl. Stiftung des »Göttinger Hainbundes«. B. erhielt als »Werdomar« (so heißt der Führer des Bardenchors in Klopstocks Hermanns Schlacht) eine Ehrenstelle in dieser Dichtervereinigung. Den als Vorbild verehrten Klopstock, zu dem die Ende 1772 nach Göttingen gekommenen Brüder Stolberg den Kontakt hergestellt hatten, besuchte B. im Winter 1773/74 in Hamburg u. überbrachte anschließend den Göttinger Freunden dessen Absichtserklärung, dem Bund beizutreten. B. hatte mit Klopstock, der zeit seines Lebens sein literar. Idol blieb, schon vorher in Verbindung gestanden, indem er als dessen »Premierminister« (Klopstock an Ebert, 30.6.1773) tatkräftige Hilfe bei der Subskri-

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bentensammlung für die Gelehrtenrepublik geleistet hatte. Auf Reisen erweiterte B. den Kreis seiner literar. Bekanntschaften u. damit oft auch den der Almanach-Beiträger. In Berlin lernte er im Winter 1769/70 u. a. Ramler, Anna Luisa Karsch, Moses Mendelssohn u. Nicolai kennen, in Potsdam Knebel. Im Frühjahr 1770 traf er in Erfurt mit Wieland zusammen, mit dem er trotz gelegentl. Verstimmungen in stetigem Kontakt blieb, u. ein Jahr später in Braunschweig mit Johann Arnold Ebert u. Carl Christian Gärtner. In Göttingen begegnete ihm mehrfach Herder, der ihm für viele Jahre ein enger Freund wurde. 1774 sah B. in Düsseldorf die Brüder Jacobi, in Ehrenbreitstein Sophie von La Roche, in Darmstadt Johann Heinrich Merck u. in Frankfurt erstmals Goethe, der ihm seinen Urfaust vorlas. Nach B.s Niederlegung der Redaktion des Musenalmanachs, die u. a. mit seiner inneren Distanzierung von dem zunehmenden programmat. Radikalismus der Hain-Dichter zusammenhing, kam es zu einer Spaltung des Unternehmens: B.s künftiger Schwager Voß, von ihm zum Nachfolger bestimmt, trennte sich von dem Verleger Dieterich u. gab ab 1776 einen Musenalmach in Hamburg heraus, während der Göttinger Almanach zunächst von Goeckingk, ab 1779 von Bürger u. ab 1795 von Karl Reinhard weitergeführt wurde. B. seinerseits begann gemeinsam mit Christian Conrad Wilhelm Dohm die Herausgabe einer Monatsschrift vorzubereiten, deren Ziel er in der »Ausbreitung des deutschen Geistes und Kenntniß und Verbindung wahrer Deutscher unter einander« sah (B. an Voß, 27.8.1775). Sie erschien ab Jan. 1776 u. d. T. »Deutsches Museum« u. wurde – bis Juli 1778 von B. u. Dohm, danach bis Dez. 1788 von B. allein herausgegeben – eines der wichtigsten Organe in der Geschichte des dt. Zeitschriftenwesens. B. konnte für diese Zeitschrift, die auf alle Gebiete des Wissens gerichtet war, aufgrund seiner weitreichenden persönl. Beziehungen einen großen Mitarbeiterkreis gewinnen. Zu ihren literar. Beiträgern gehörten neben den früheren Hainbündlern u. a. Klopstock, Bürger, Hamann, Lichtenberg, Herder, Goethe, Lenz, Klinger, Friedrich Heinrich Jacobi u. August

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Wilhelm Schlegel. Nach der durch den Verleger Weygand herbeigeführten Einstellung des »Deutschen Museums« machte B. im Juli 1789 bei Göschen einen Fortsetzungsversuch mit dem »Neuen Deutschen Museum«, das jedoch nicht über Juni 1791 hinausgelangte. Im Dez. 1775 erhielt B. die Stelle des zweiten Stabssekretärs bei der hannoverschen Armee, um die er sich zur Erlangung eines festen Einkommens – das ihm das »Museum« nicht bieten konnte – beworben hatte. Er übersiedelte Anfang 1776 nach Hannover, wo er fünf Jahre in der militär. Verwaltung tätig war. Von den alten Freunden traf er dort zunächst Hölty u. Johann Anton Leisewitz an, der noch 1774 als Letzter dem Hainbund beigetreten war. Während er in den Familien von Johann Christian Kestner (vgl. Goethe) u. Georg Brandes verkehrte, lernte er im Herbst 1776 Luise Mejer kennen, die bald seine engste Freundin u. über Jahre seine vertrauteste Briefpartnerin wurde. Eine weitere intensive Freundschaft entwickelte sich zu dem Arzt Johann Georg Zimmermann. Als Besucher stellten sich Bürger, Claudius u. Anton Matthias Sprickmann ein. Im Sommer 1779 war B. ausgiebig mit den Brüdern Stolberg zusammen, auf deren Wunsch er Ende des Jahres eine erste Sammlung ihrer Gedichte herausgab (Lpz. 1779). 1780 lernte B. in Kopenhagen den dän. Minister Andreas Peter Graf von Bernstorff, Schwager der Brüder Stolberg, kennen, der sich für seine berufl. Pläne einsetzte. Im Jan. 1781 erhielt er – trotz des unterdessen erfolgten Sturzes von Bernstorff – die Stelle des Landvogts von Süderdithmarschen in Meldorf, die er am 1. Mai antrat u. die mit seiner Ernennung zum dän. Justizrat (1790 Etatsrat) verbunden war. Konfrontiert mit ungewohnten berufl. Problemen (Deichbau, Bodennutzung etc.), litt er in der abgelegenen Kleinstadt zunächst unter der geistigen u. gesellschaftl. Isoliertheit. Freundschaftl. Kontakte zu der Familie des seit 1778 als Landschreiber in Meldorf lebenden Carsten Niebuhr sowie regelmäßige Reisen nach Flensburg, zu Klopstock u. anderen Freunden in Norddeutschland brachten eine gewisse Abwechslung in den einförmigen Alltag. 1789–1792 war B. auch mehrfach Gast in

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Emkendorf, einem Schloss des Grafen Friedrich von Reventlow, das zu dieser Zeit ein Zentrum des geistigen Lebens in Holstein war, doch führte der wachsende religiöse Dogmatismus u. polit. Konservativismus sowie die Intoleranz des dortigen Kreises zu einer Lösung der Beziehungen. Im Juni 1785 heiratete B. in Celle die damals 38-jährige Luise Mejer, die bereits ein Jahr später im Kindbett starb. 1788 heiratete er Sara von Hugo, eine Freundin Luises. Der Ehe entstammten vier Kinder, darunter der spätere Jurist u. Ornithologe Friedrich Boie u. der spätere Jurist u. Naturforscher Heinrich Boie. Nach dem Tod seiner ersten Frau begann B. – ermuntert durch Voß – wieder Gedichte zu schreiben, um die Mitte der 1790er Jahre auch mehrere größere Verserzählungen. 1796/97 wurden einige dieser Arbeiten in Voß’ »Musen Almanach« u. in Schillers »Horen« veröffentlicht. Erneut wandte B. sich dem schon 1779 auf Zuraten Bürgers gefassten Plan einer Sammelausgabe seiner Lyrik zu, doch kam er über die Vorbereitungen nicht hinaus. Als einzige Separatveröffentlichung B.s erschienen zwei Jahre vor seinem Tod vier Lieder der Freude (Friedrichstadt 1804) auf die Geburtstage des dän. Königs u. Kronprinzen. B.s entscheidende Leistung für die Literatur liegt in seiner Wirksamkeit als Anreger u. Vermittler. Mit größter Offenheit für die geistigen Strömungen seiner Zeit nahm er als Herausgeber des »Musenalmanachs« u. des »Deutschen Museums« Einfluss auf das literar. Schaffen in der zweiten Hälfte des 18. Jh. Er stand in Verbindung mit den älteren Dichtern der Aufklärung, entdeckte u. förderte Begabungen in der jüngeren Generation u. knüpfte Beziehungen der Schaffenden untereinander. Als Dichter war er ohne bes. Originalität; seine zahlreichen lyrischen u. epigrammat. Produktionen, vielfach nach frz. u. engl. Vorbildern gearbeitet, bleiben konventionell. Als Beurteiler, Berater u. Redakteur war er dagegen aufgeschlossen für alle Richtungen, unparteiisch, distanziert u. stets von hohem Verantwortungsbewusstsein. Hierauf beruhte zwei Jahrzehnte lang B.s Ansehen in der literar. Welt – von den Göttinger Jahren, als Gleim ihn den »Intendan-

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ten auf dem deutschen Parnaß« nannte (an Knebel, 13.10.1772), bis zum »Tode des Museums« (B. an Luise von Pestel, 21.8.1791), mit dem B. sich aus dem öffentlichen literar. Leben zurückzog. Besondere Bedeutung ist B. als – zeitlebens überaus eifrigem – Briefschreiber zuzusprechen. Seine persönl. Bekanntschaft mit nahezu allen wichtigen Vertretern des literar. Lebens seiner Zeit führte zu einer Korrespondenz, deren Umfang selbst im »Jahrhundert des Briefes« als außergewöhnlich zu bezeichnen ist. Während ein großer Teil von B.s Briefen unpubliziert oder nur in verstreuten Drucken zugänglich ist, liegt in seinem 1961 erstmals veröffentlichten Briefwechsel mit Luise Mejer ein kulturgeschichtl. Dokument ersten Ranges vor, in dem der Briefschreiber B. sich einerseits als gefühlvoll-schwärmerischer Freund u. Liebender, andererseits als distanzierter, besonnener Rationalist zeigt. Dieser Briefwechsel spiegelt somit wesentliche Züge sowohl empfindsamer als auch aufklärerischer Geisteshaltung wider. Weitere Werke: Gedichte: Verstreut ersch. in verschiedenen Ztschr.en. – Ausw. in: Karl Weinhold: H. C. B. Halle 1868, S. 282–373. – H. C. B. [Gedichte.] In: Lyriker u. Epiker der klass. Periode. Tl. 1 (Dt. National-Lit. 135, 1). Hg. Max Mendheim. Stgt. o. J. [1883], S. 30–41. – Übersetzungen: Richard Chandler: Reisen in Klein-Asien. Lpz. 1776. – Ders.: Reisen in Griechenland. Lpz. 1777. – Briefe: [Briefw. B.s mit Bürger.] In: Briefe v. u. an Gottfried August Bürger. Hg. Adolf Strodtmann. Bd. 1–4, Bln. 1874. – Briefe an H. C. B. In: Mitt.en aus dem Litteraturarchive in Berlin 3 (1901–05), S. 237–394. – [10 Briefe B.s an Christian u. Friedrich Leopold Stolberg.] In: Efterladte Papirer fra den Reventlowske Familiekreds. Udgivne ved Louis Bobé. Bd. 8, Kopenhagen 1917, S. 3–38. – Ich war wohl klug, daß ich dich fand. H. C. B.s Briefw. mit Luise Mejer 1777–85. Hg. Ilse Schreiber. Mchn. 1961. 2 1963. Neudr. 1975. – H. C. B.: Briefe aus Berlin 1769/70, in Verb. mit dem DLA hg. v. Gerhard Hay. Hildesh. 1970. – 11 Briefe v. H. C. B. u. Luise Mejer an Sophie La Roche (1779–88). Mitgeteilt v. Ursula Schulz. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 3 (1976), S. 67–99. – [Briefw. B.s mit Klopstock.] In: Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke u. Briefe. Abt. 2, Bd. 6–8; 11. Hg. Annette Lüchow u. Helmut Riege. Bln. 1982–2007. – [24 Briefe B.s an Herder.] In: Briefe literarhist. Inhalts aus Herders Nachl.

65 Hg. Günter Arnold. In: Impulse 10 (1987), S. 274–323; 11 (1988), S. 255–313. – York-Gothart Mix: Der Intendant auf dem dt. Parnaß. 20 unveröffentlichte Briefe v. H. C. B. an Johann Arnold Ebert. In: Lenz-Jb. 2 (1992), S. 185–226. – [Erstdrucke einzelner Briefe B.s.] In: Lichtenberg-Jb. 1992, S. 132–134; 2002, S. 215; 2004, S. 152–154; 175–179; Dithmarschen 2006, S. 60–64. – Dokumente: Ernst Consentius: Aus H. C. B.s Nachl. Textgeschichtl. Mitt.en zu Klopstock, Lessing, Herder, Gerstenberg, Voß u. a. In: ZfdPh 48 (1920), S. 389–433; 49 (1923), S. 57–78, 195–229. – H. C. B.: Stammbuch. Hg. Wolfgang Vulpius, mit Ergänzungen v. Ursula Schulz. In: Genio huius loci. Hg. Dorothea Kühn u. Bernhard Zeller. Wien 1982, S. 33–78. – Kornelia Küchmeister: Der Familiennachl. B.-Voß in der Schleswig-Holstein. Landesbibl. Kiel. In: Johann Heinrich Voß. Beiträge zum Eutiner Symposium im Okt. 1994. Hg. Frank Baudach u. Günter Häntzschel. Eutin 1997, S. 295–305. Literatur: Karl Weinhold: H. C. B. Halle 1868. Neudr. Amsterd. 1970 (Zusätze u. Berichtigungen in: ZfdPh 1, 1869, S. 378–388). – Walther Hofstaetter: Das Dt. Museum (1776–88) u. das Neue Dt. Museum (1789–91). Lpz. 1908. – Hans Grantzow: Gesch. des Göttinger u. des Vossischen Musenalmanachs. Bln. 1909. Neudr. Bern 1970. – Alexander Ritter: Gelehrter Mentor für bürgerl. Lektürekultur in der ländl. Kleinstadt. H. C. B. u. die Lesegesellsch. in Meldorf/Holstein. In: Lesen u. Schreiben im 17. u. 18. Jh. Hg. Paul Goetsch. Tüb. 1994, S. 135–149. – H. C. B. Literat u. Landvogt. Hg. Wolf D. Könenkamp. Heide 1995. – Urs Schmidt-Tollgreve: H. C. B. Leben u. Werk. Husum 2004. Helmut Riege

Boie, Kirsten, * 19.3.1950 Hamburg. – Kinder- u. Jugendbuchautorin. B. studierte Germanistik, Anglistik u. Philosophie in Hamburg u. Southampton. Nach ihrer Promotion (1977, mit einer Arbeit über Brecht) arbeitete sie als Lehrerin. Den Lehrerberuf musste sie nach der Adoption zweier Kinder 1983 u. 1985 aufgeben. B. arbeitet seit 1985 als freie Autorin in Barsbüttel (Schleswig-Holstein), im Wintersemester 2006/07 hatte sie die Poetikprofessur an der Universität Oldenburg inne. B. ist eine der renommiertesten Kinderbuchautorinnen. Bereits ihr erstes Buch Paule ist ein Glücksgriff (Hbg. 1985 u. ö. Zuletzt Mchn. 2005), das die Geschichte eines farbi-

Boie

gen Adoptivkinds erzählt, war ein großer Erfolg u. wurde für mehrere Literaturpreise nominiert. Das mehr als 80 Bücher umfassende Werk wendet sich an alle Altersgruppen. Direkt u. ehrlich erzählen die Bücher für jüngere Kinder von ihrer Lebenswelt. Genauso treffend schreibt B. für Zwölfjährige. Nicht Chicago. Nicht hier (Hbg. 1999. Mchn. 9 2005) ist ein beklemmendes Buch über Mobbing in der Schule, das nicht nur durch erschreckend realistisch geschilderte Handlung, sondern auch durch seinen anspruchsvollen Stil beeindruckt. Die Kritik feiert B. als Nachfolgerin von Astrid Lindgren, weil ihre Bücher keine Massenware sind, sondern sowohl durch eingängige Handlung u. liebevolle Gestaltung als auch durch Anspruch überzeugen. B. schreibt außerdem Fernsehdrehbücher u. setzt sich in Aufsätzen wissenschaftlich mit dem Thema Kinderliteratur auseinander. Nach mehreren Nominierungen für den Deutschen Jugendliteraturpreis wurde B. 2007 der Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises für ihr Lebenswerk verliehen. Weitere Werke: Heinzler mögen saure Gurken. Hbg. 1986. – King-Kong, das Reiseschwein. Hbg. 1989. 22003. – Der kleine Pirat. Hbg. 1992. 32000. – Ich ganz cool. Hbg. 1992. 22001 u. ö. – Sophies schlimme Briefe. Hbg. 1995. Mchn. 2000. 32002. – Ein Hund spricht doch nicht mit jedem. Hbg. 1996. – Man darf mit dem Glück nicht drängelig sein. Hbg. 1997. Ffm. 2005. – Wir Kinder aus dem Möwenweg. Hbg. 2000. Mchn. 2006. – Lena fährt auf Klassenreise. Hbg. 2004. Mchn. 2008. – Die Medlevinger. Hbg. 2004. – Der kleine Ritter Trenk. Hbg. 2006. 22007. – Aufsätze: So viel Größenwahn muss sein! Kann Kinderlit. die Welt verändern? In: 1000 u. 1 Buch (2003), S. 15–20. – Realismus im Kinderbuch. In: Blickpunkt Autor. Hg. Kurt Franz. Hohengehren 1996, S. 13–25. Literatur: Eva-Susanne Bertrand-Rettig: Les enfants et l’enfance dans la littérature de jeunesse contemporaine à visée réaliste de langue allemande et française. Une étude de quatre œuvres représentatives; Christine Nöstlinger, K. B., Marie-Aude Murail et Brigitte Smadja. Diss. Clermont-Ferrand 1995. – Hannelore Daubert: K. B. In: LGL. Melanie Kronenberg

Boisserée

Boisserée, Melchior (Herman Joseph Georg), * 23.4.1786 Köln, † 14.5.1851 Bonn; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof; Boisserée, (Johann) Sulpiz (Melchior Dominikus), * 2.8.1783 Köln, † 2.5.1854 Bonn; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof. – Kunstschriftsteller u. -sammler. Die Brüder B. waren Söhne von Nicolas Boisserée, der aus Stockem bei Maastricht stammte, den Adel abgelegt hatte u. Handelsherr (Großkaufmann) in Köln war. Sulpiz, der ältere u. später einflussreichere der beiden, sollte ebenfalls Kaufmann werden u. ging 1798 in eine Lehre nach Hamburg, kehrte aber schon im nächsten Jahr wieder zurück. Von seinem älteren Freund Johann Baptist Bertram beeinflusst, widmete er sich überwiegend ästhet. u. kunsthistor. Studien. 1803 reiste er mit seinem Bruder nach Holland, um dort gotische Kunstschätze zu studieren, dann mit ihm u. Bertram nach Paris. Melchior arbeitete seit dieser Zeit gemeinsam mit Sulpiz. In Paris schlossen die Brüder Bekanntschaft mit Friedrich Schlegel, was für beide Seiten große Bedeutung hatte. Schlegel hielt ihnen mehrere private Vorlesungen, die damals seine Haupteinnahmequelle waren. Sulpiz, der von Georg Forsters enthusiastischer Schilderung des Kölner Doms in dessen Ansichten vom Niederrhein (1791) beeinflusst war, vermittelte Schlegel ein neues Verständnis der gotischen Baukunst. 1804 zog Schlegel mit den Brüdern nach Köln; die Reise über Cambrai, Brüssel, Löwen u. Aachen schlug sich in seinen 1806 publizierten Briefen auf einer Reise durch die Niederlande [...] nieder. Ab 1804 begann in Köln die für die Kunstgeschichte bedeutsame Tätigkeit der Brüder B. Systematisch sammelten sie die nach der Säkularisation von 1803 aus Kirchenbesitz wahllos verstreuten Gemälde. Ihre Galerie mit Erwerbungen aus den Niederlanden, dem Rheinland, Franken u. Schwaben umfasste schließlich über 200 Bilder vom ausgehenden 13. bis zum Ende des 16. Jh., darunter etliche große Meister wie van der Weyden, van Eyck, Altdorfer u. Dürer.

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1810 siedelten die Brüder mit ihrer Galerie nach Heidelberg über; eine Attraktion für zahlreiche Besucher, denen die Bildersammlung im Sinne eines dt.-romant. Kunstbegriffs den Rückgriff auf die eigene Vergangenheit bedeutete. Eingang in die Literatur fand sie u. a. durch Beschreibungen in Schlegels »Deutschem Museum« (1812) u. Goethes »Über Kunst und Altertum« (1816). 1819 siedelten die B.s nach Stuttgart über, wo sie ihre Galerie erstmals der Öffentlichkeit zugänglich machten. 1827 erwarb sie König Ludwig I. von Bayern für 120.000 Taler, zunächst für Schloss Schleißheim, später kam sie größtenteils in die Alte Pinakothek in München. Die bayer. Hauptstadt wurde auch Wohnsitz der Brüder, die nun in enge Verbindung mit Görres u. Brentano kamen. 1835 zum bayer. Oberbaurat u. Generalkonservator ernannt, nahm Sulpiz bereits 1836 aus Gesundheitsgründen seinen Abschied u. hielt sich längere Zeit in Südfrankreich u. Italien auf. 1845 wurde er preuß. Geheimer Hofrat, u. die Brüder ließen sich in Bonn nieder. Sulpiz hat auch Wesentliches zu der 1842 erfolgten Grundsteinlegung zur Vollendung des Kölner Doms beigetragen. Ab 1822 veröffentlichte er die Ansichten, Risse und einzelnen Theile des Doms zu Köln (4 Lfg.en, Stgt. 1822–31), ein Prachtwerk, das mit gewaltigem Aufwand teilweise eigens in Paris hergestellt wurde; daneben besorgte er noch eine histor. Darstellung: Geschichte und Beschreibung des Doms von Köln (Stgt. 1823). Melchior, der sich für die Wiederbelebung der Glasmalerei eingesetzt hatte, hinterließ seine Sammlung alter Glasbilder der Stadt Köln. Für die Literaturgeschichte bedeutsam war Sulpiz auch durch seine Freundschaft mit Goethe. Auf Vermittlung des gemeinsamen Bekannten Karl Friedrich von Reinhard wandte er sich 1810 an Goethe. Obwohl Sulpiz als Schüler des inzwischen zum Katholizismus konvertierten Friedrich Schlegel mit großem Misstrauen empfangen wurde, gelang es ihm bei seinem ersten Besuch in Weimar, 1811, Goethes Bedenken zu zerstreuen. Es entstand eine Freundschaft, die Goethe 1814 u. 1815 nach Heidelberg u. in die B.’sche Gemäldesammlung, später auch Sulpiz häufiger nach Weimar führte. Goethe

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Bokemeyer

beauftragte ihn 1825/1826 damit, die Ver- 1996, S. 117–142. – Peter-Henning Haischer: Ruihandlungen zu seiner Ausgabe letzter Hand mit ne oder Monument? Goethes Lebenswerk im Spieden Verlegern, insbes. Cotta, zu führen. Auf- gel seiner Gotik-Studien. In: GoetheJb 122 (2005), grund der hohen finanziellen Erwartungen u. S. 215–229. Karlheinz Schulz / Red. der vielen Bedenken des Dichters sollten sich diese als recht mühsam erweisen. Sulpiz’ Tagebücher (Tagebücher 1808–1854. Hg. Hans-J. Bokemeyer, Heinrich, * März 1679 ImWeitz. 5 Bde., Darmst. 1978–95), in denen mensen bei Lehrte, † 7.11.1751 Wolfenseine Beziehung zu Goethe einen Schwer- büttel. – Kantor, Musiktheoretiker, punkt bildet, nehmen sowohl als literarhi- Sammler kirchenmusikalischer Werke; stor. Quelle wie als kunst- u. kulturge- Lyriker. schichtliches Dokument einen bedeutenden B. besuchte in Braunschweig 1693–1699 die Rang ein. St. Martins- u. die St. Catharinenschule. Er Weitere Werke: S. B.s Briefw. nebst Aufzeich- studierte 1702–1704 in Helmstedt Metaphynungen [...]. Hg. Mathilde Boisserée. 2 Bde., Stgt. sik, Logik, Naturrecht u. Theologie. Am 1861/62 (Bd. 2: Briefw. mit Goethe). 2.4.1704 wurde er zum Kantor an St. Martin Literatur: Oscar Seiler: Die Brüder B. in ihrem zu Braunschweig ernannt, 1712 Kantor in Verhältnis zu den Brüdern Schlegel. Diss. Zürich Husum, 1717 an der Fürstlichen Schule zu 1915. – Eduard Firmenich-Richartz: S. u. M. B. als Wolfenbüttel Stellvertreter des Kantors JoKunstsammler. Jena 1916. – Richard Benz: Goethe hann Jakob Bendeler, dessen Amt er 1720 u. die romant. Kunst. Mchn. o. J. [1940], übernahm u. bis zu seinem Tod bekleidete. S. 191–254. – Georg Poensgen: Die Begegnung mit Für die Literatur ist B. durch seine dt. Geder Slg. B. in Heidelb. In: Goethe u. Heidelb. Heidelb. 1949, S. 145–184. – Ernst Beutler: Die B.- dichte von Bedeutung, von denen er eine Gespräche v. 1815 u. die Entstehung des Gingo- Anzahl in einigen unter dem Menantesbiloba-Gedichtes (1940). In: Ders.: Essays um Pseudonym erschienenen Werken Christian Goethe. Zürich 1941. 71980, S. 360–390. – Gottlieb Friedrich Hunolds (z.B. Galante, verliebte und Leinz: Ludwig I. u. die Gotik. In: Ztschr. für satyrische Gedichte. 2 Tle., Hbg. 1704 u. ö.), Kunstgesch. 44 (1981), S. 399–443. – Gisela Gold- aber auch in Christian Friedrich Weichmanns berg: History of the B. Collection. In: Apollo 116 Poesie der Nieder-Sachsen (Hbg. 1721–38) un(1982), S. 210–113. – Werner Fleischhauer: Die B. terbrachte. Die Musik verdankt ihm eine in Stuttgart. In: Ztschr. für Württemberg. Landesunersetzliche, etwa 150 Bände umfassende gesch. 45 (1986), S. 229–283. – Annemarie GethSammlung musikalischer Werke des 17. u. mann-Siefert: Die Slg. B. in Heidelberg. Anspruch u. Wirkung. In: Heidelberg im säkularen Um- 18. Jh. bruch. Traditionsbewußtsein u. Kulturpolitik um 1800. Hg. Friedrich Strack. Stgt. 1987, S. 394 ff. – Doris u. F. Strack: Kunst u. Kunstgesch. in Wechselwirkung. Ein unbekanntes Ms. S. B.s zur altdt. Malerei. In: JbFDH 1989, S. 156–201. – Eva Schulz: Das Museum als wiss. Institution. Neue Ideen u. tradierte Vorstellungen am Beispiel der Slg. B. In: Wallraf-Richartz Jb. 1990, S. 285–317. – Claudia Pala: Riflessioni sull’arte del teorico e collezionista S. B. In: Collezionismo e ideologia. Mecenati, artisti e teorici dal classico al neoclassico. Hg. Elisa Debenedetti. Rom 1991, S. 285–305. – Annemarie Gethmann-Siefert u. Otto Pöggeler (Hg.): Kunst als Kulturgut. Die Bilderslg. der Brüder B. Bonn 1995. – Uwe Heckmann: ›Um dem Geschmack zu erstatten, was der Frömmigkeit entrissen wurde.‹ Die Slg. B. u. ihre Konzeption zwischen sichtbarer Kunstgesch. u. neuem Er-Lebensraum. In: Historismus u. Moderne. Hg. Harald Tausch. Würzb.

Weitere Werke: Gespräch zwischen Orthodoxo u. Alethophilo v. Ketzern u. ketzerischen Schr.en. o. O. u. J. (auch Wolfenb. 1712). Literatur: Johann Christoph Dommerich: Memoria [...] Henrici Bokemeyeri [...]. Wolfenb. 1752. – v. Dommer: H. B. In: ADB. – Werner Wolffheim: Eine Kollegankündigung des Kantors H. B. In: Gedenkboek aangeboden aan Dr. Daniel François Scheurleer. ’s-Gravenhage 1925. – Harald Kümmerling: Kat. der Slg. B. Kassel 1970. – Christian Friedrich Weichmanns Poesie der Nieder-Sachsen. Hbg. 1721–38. Neuausg. hg. v. Christoph Perels, Jürgen Rathje u. Jürgen Stenzel. Nachweise u. Register. Wolfenb. 1983, S. 56–58. – Fritz Stein: H. B. In: NDB. – Werner Braun: Dt. Musiktheorie des 15. bis 17. Jh. Von Calvisius bis Mattheson. Darmst. 1994, passim. – Peter Wollny: Zwischen Hamburg, Gottorf u. Wolfenbüttel. Neue Ermittlungen zur Entstehung der ›Sammlung Bokemeyer‹. In:

Bolanden

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Schütz-Jb. 20 (1998), S. 59–77. – Wolfgang Hirschmann in: MGG 2. Aufl. Bd. 3, Sp. 289–293, mit Werkverz. u. Lit. – George J. Buelow in: The New Grove 2. Aufl. Bd. 3, S. 815 f.

Boldt, Paul, * 31.12.1885 Christfelde, Kreis Schwetz/Westpreußen, † 16.3.1921 Freiburg i. Br. – Lyriker.

Jürgen Rathje / Red.

B. besuchte in Schwetz, wo seine Eltern einen Gutshof besaßen, das Gymnasium u. machte hier 1906 das Abitur. Anschließend studierte er Germanistik u. Kunstgeschichte in München u. Marburg, ab 1908 in Berlin. Dort beendete er 1913 sein Studium ohne Examen. Ab 1912 veröffentlichte B. Gedichte in der expressionist. Zeitschrift »Die Aktion«, in der nahezu sein gesamtes Werk erschienen ist. B. verkehrte im Kreis der Berliner Frühexpressionisten, wo er aber ein Einzelgänger blieb. Er trat mehrfach bei öffentl. Veranstaltungen literarischer Cabarets (»Gnu«, »Die feindlichen Brüder«) u. bei Autorenabenden der »Aktion« auf. 1914 veröffentlichte B. sein einziges Buch, den Lyrikband Junge Pferde! Junge Pferde!, der in der Reihe »Der jüngste Tag« (Bd. 11) bei Kurt Wolff in Leipzig erschien. 1915 wurde B. zur preuß. Armee eingezogen, doch bereits 1916 wegen eines Nervenleidens wieder entlassen. Im Lauf des Ersten Weltkriegs ging B.s literar. Produktion immer mehr zurück. 1918 versiegte sie völlig. In diesem Jahr begann er ein Medizinstudium in Berlin, das er 1919 in Freiburg i. Br. fortsetzte. Dort starb er 1921 an den Folgen einer Operation. B. ist einer jener Dichter, deren Name mit einem einzigen Gedicht verbunden ist. Seine Jungen Pferde erschienen Ende 1912 in der »Aktion« u. wurden von der Generation der Frühexpressionisten als Ausdruck ihres Lebensgefühls sofort begeistert aufgenommen. Wie kein zweites Werk dieser Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gibt Junge Pferde die Stimmung des Aufbruchs, der vitalistischen Lebensgier wieder. Dass dies in Bildern der Natur geschieht, ist bezeichnend für B.s ganzes, fast ausschließlich lyrisches Werk. Darin finden sich neben der expressionist. Naturlyrik Gedichte mit Motiven aus der Großstadt Berlin, v. a. aber thematisiert B. immer wieder die ambivalente Erfahrung von Sexualität: ihre lebenssteigernde Wirkung, aber auch die fatale Abhängigkeit von ihr. Unter Bevorzugung traditioneller Formen kommt es dabei häufig zu einer für B. cha-

Bolanden, Konrad von, eigentl.: Joseph Eduard Konrad Bischoff, * 9.8.1828 Niedergailbach/Rheinpfalz, † 30.5.1920 Speyer. – Erzähler u. Publizist. Im Alter von 13 Jahren bezog B. das Bischöfliche Konvikt in Speyer, 1849 trat er ein Studium der Theologie in München an. Nach der Priesterweihe 1852 wurde B. Domkaplan in Speyer, bald darauf Pfarradministrator in Kirchheimbolanden. 1856–1869 wirkte er als Pfarrer in Börrstadt u. Berghausen. Mit der erklärten Absicht, »das Volk durch historische Romane und Novellen über die Geschichtslügen aufzuklären«, ergriff B. im Vorfeld des Kulturkampfes Partei für den orthodoxen Katholizismus. Sein Erstlingswerk, Eine Brautfahrt (Regensb. 1857), stellt die Reformationsbewegung als moralisch verworfene Rebellion dar. B.s tendenziöse Prosa u. die vehemente Polemik seiner Pamphlete veranlassten 1869 selbst seinen Dienstherrn, den Bischof von Speyer, zu einer Rüge. B. trat vom geistl. Stand zurück. Als Privatmann, von Papst Pius IX. 1872 zu seinem Wirklichen Geheimen Kammerherrn berufen, lebte er bis zu seinem Tod in Speyer. Seine kath. Kampfschriften mit pfälz. Kolorit wurden in 14 Sprachen übersetzt. Gegen Ende des 19. Jh. konnte sich B. einer großen Lesergemeinde in weiten Teilen Europas u. in den USA erfreuen. Weitere Werke: Die Aufgeklärten. Mainz 1864 (R.). – Gustav Adolph. 3 Bde., Mainz 1867–71 (R.). – Kelle u. Kreuz. Mainz 1871 (E.). – Die Mageren u. die Fetten. Regensb. 1872 (E.). – Die Reichsfeinde. 2 Bde., Mainz 1874 (R.). – Kelle u. Kreuz. Die Bartholomäusnacht. 2 Bde., Mainz 1879 (R.). – Die Volksverderber. Mainz 1896 (E.). – Satan bei der Arbeit. Heiligenstadt 1908 (Ess.). Literatur: Lorenz Wingerter: K. v. B. In: NDB. – Viktor Carl: Lexikon der Pfälzer Persönlichkeiten. Edenkoben 21998. Volker Busch / Red.

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Bollinger

rakteristischen Vermischung der verschiedenen Themen- u. Bildbereiche.

schen Akademie für Kinder- u. Jugendbuchliteratur e.V. Volkach für sein Gesamtwerk.

Ausgabe: Junge Pferde! Junge Pferde! Das Gesamtwerk. Hg. Wolfgang Minaty. Olten/Freib. i. Br. 1979. Literatur: Wolfgang Minaty: P. B. u. die ›Jungen Pferde‹ des Expressionismus. Stgt. 1976. – Eberhard Scheiffele: ›Knappe, statuarische, eisklare Sinnlichkeit‹: Zum bildhaften Ausdruck in den Gedichten P. B.s. In: GRM 27 (1977), S. 76–87. – Eckhard Faul: Diese Leichtigkeit. P. B.s ›Junge Pferde‹. In: ›Wir wissen ja nicht, was gilt‹. Interpr.en zur deutschsprachigen Lyrik des 20. Jh. Hg. Reiner Marx u. a. St. Ingbert 1993, S. 25–36. – Eberhard Scheiffele: ›Ihr jugendlichen Sonnen! Fleischern Licht!‹: Junge Frauen in P. B.s Lyrik. In: GRM 51 (2001), S. 419–429. Eckhard Faul / Red.

Weitere Werke: Das Riesenfest u. andere Gesch.n. Aarau 1990. – Jakob, der Gaukler. Zürich 1991. – Ein Sommer mit dreizehn. Freib. i. Br. 1992 (E.en). – Ruth. Bibl. Nacherzählung. Zürich 1994. – Der Drache u. der Hase. Fabeln ganz neu erzählt. Ravensburg 1993. – Kalebs Esel. Eine Weihnachtslegende. Zürich 1994. – Wie Georg den Drachen bezwang. 51 Legenden neu erzählt. Freib. i. Br. 1994. – Hinter den sieben Bergen. Dreimal dreizehn Kindergedichte. Würzb. 1995. – Wichtel. Wenn Zwergenkinder streiken. Zürich 1997. – Das Ravensburger Buch der Bibl. Gesch.n. Ravensburg 1999. 2007. – Der grüne Fuchs. Ein Lesebuch. Feldbrunnen 1999. – Der Weg zur Krippe. Zürich 1999. 32000. – Kater Clemens. Aarau 2000. – Stoppel, Poppel oder Hoppel? Eine Gesch. Zürich 2000. – Ein Stern am Himmel. Niklaus v. der Flüe. Zürich 2000 (Biogr.). – Kleines Glück u. wilde Welt. Bln. 2000. Dominik Müller / Red.

Bolliger, Max, * 23.4.1929 Schwanden/Kt. Glarus. – Lyriker, Kinder- u. Jugendbuchautor. B. ist v. a. als Autor von Kinder- u. Jugendbüchern bekannt geworden, in denen er immer wieder versucht, jungen Lesern die Situation von Außenseitern nahezubringen. Seine Sprache ist einfach u. ausdrucksstark, nie kindertümelnd, weder in den Bilderbüchern für Kinder, kürzeren u. längeren Erzählungen – darunter mehrere Nacherzählungen biblischer Geschichten – noch in den »Lebensbildern« großer Persönlichkeiten für Jugendliche (Was soll nur aus dir werden? Frauenfeld/Stgt. 1977). Während diese Bücher für eine positive Lebenseinstellung werben, beherrscht B.s »Erwachsenenbücher« eine fast schwermütige Stimmung. Gefährdete Liebe, Einsamkeit, Todesahnungen u. Sprachnot sind häufige Themen der Gedichte (Gedichte. Küsnacht bei Zürich 1953. Ausgeschickte Taube. Küsnacht bei Zürich 1958. Schweigen vermehrt um den Schnee. Meilen/Zürich 1969). Die Erzählungen in Verwundbare Kindheit (St. Gallen 1957) skizzieren von Leid überschattete Kindheitsszenen. B. erhielt für sein Werk zahlreiche Auszeichnungen, u. a. 1966 den Deutschen, 1972 den Schweizerischen Jugendbuchpreis, 1991 den Jugendpreis der Deutschen Bischofskonferenz u. 2005 den Großen Preis der Deut-

Bollinger, Ulrich, * 1567 Backnang, † 26.1.1612 Waldenbuch. – Neulateinischer Dichter u. Pädagoge. Der Sohn eines »Diaconus« aus Backnang studierte nach dem Besuch der Stiftsschule Bebenhausen seit 1585 mit Unterstützung seiner einflussreichen Verwandten Nikolaus Varnbühler u. Martin Aichmann in Tübingen Philologie u. Theologie, erwarb dort 1589 den Magistergrad u. wurde wenig später von dem pfälz. Humanisten Paulus Schedius Melissus zum Dichter gekrönt. Um 1594 übernahm er ein Pfarr- u. Schulamt zunächst an der Klosterschule zu Bebenhausen, wo er den späteren Dichter Georg Maickler unterrichtete u. in Verbindung zu dem Alchemisten Oswald Crollius trat, dann im hess. Wetter. 1603 wirkte er als Pastor in Schlaitdorf u. Waldenbuch. Zu B.s Tübinger Lehrern gehörte außer dem Gräzisten Martin Crusius Nikodemus Frischlin, den er im Gefängnis besuchte u. dessen Hebraeis er 1599 u. 1610 herausgab. Neben zahlreichen Kasualgedichten, geistl. oder histor. Poemen u. Beigaben zu Werken anderer legte B. 1597 nach fünfjähriger Arbeit eine lat. Fassung der Evangeliumsparaphrase des Nonnos vor (Nonni paraphrasis evangelica secundum Ioannem. Speyer 1597), die

Bollstatter

aber mit derjenigen Eberhard Hedeneckers nicht zu konkurrieren vermochte. B. zählt zu den Vertretern des luth. Programms einer moralisch integren, von den Obszönitäten antiker Mythologie befreiten Dichtung. Seine Moseis, eine zunächst 4 (Ffm. 1597), später 9 Bücher (Tüb. 1603) umfassende Paraphrase des Exodus-Buches versteht sich als epische Exemplifikation von Luthers Lehre des rechten Bildgebrauchs. Weitere Werke: Panegyrici tres de vita, rebus gestis, et obitu [...] Georgii Principis Würtenb. et Teccii. Tüb. 1603. – Panegyricus de illustrissimis & fortissimis Marchionibus Badens. et Hochburg, Landgrav. Susenberg, Dominis Roetel. et Badowyl. Tüb. 1603. – Elegia de vera antiqua philosophica medicina. In: Oswaldus Crollius: Basilica chymica. Ffm. 1609. 1620. Genf 1631. Lpz. 1634 u. ö. – Encomium Wetterae Athenarum Hassiae. Ebd. – Joseph Aigner: Die poet. Umschreibung des Johanneischen Evangeliums v. U. B. Mchn. 1825, S. 1–235. Literatur: Georg Lucas: Ein christl. Leichpredigt bey der Begräbnuß deß Ehrwürdigen [...] Herrn M. U. B. Tüb. 1612. – Joseph Aigner: Vorw. zu: Die poet. Umschreibung (s. o.), S. III-XXIX. – Wilhelm Kühlmann u. Joachim Telle in: Oswaldus Crollius: Alchemomedizin. Briefe 1585–97. Stgt. 1998, S. 164–166. – Flood, Poets Laureate, Bd. 1, S. 212–214. Ralf Georg Czapla

Bollstatter, Konrad, auch: K. Müller, Molitor oder Mulitor, * um 1425 Öttingen, † 1482 oder später. – Schreiber u. Autor. B., Sohn des Schreibers u. Notars Konrad Müller, war, wie schon sein Vater, Kanzlist der Grafen von Öttingen (1446–1453), deren reicher Bibliothek er wohl den Grundstock seiner Literaturkenntnisse verdankt. Von 1455 bis 1458 hielt er sich zeitweise in Höchstädt/Donau u. auf dem Hohenrechberg auf. Spätestens seit 1466 war er in Augsburg ansässig, wo er bis 1482 nachweisbar ist. Er hat vielleicht eine oder zwei Pilgerreisen ins Heilige Land unternommen. Zu einer Zeit, als Augsburg sich zu einem Zentrum deutschsprachiger Druckproduktion entwickelte, widmete B. sich anscheinend ausschließlich der Herstellung deutscher Handschriften. Bekannt sind jetzt 17 ganz

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oder teilweise von B. geschriebene Codices, ein handschriftlich ergänzter Druck, der bislang als verschollen galt, dazu die Einträge im Öttinger Lehenbuch. Von B. stammt z.T. auch der Buchschmuck (Initialen u. häufig Illustrationen). Nur einen Auftraggeber hat B. namentlich genannt: den Augsburger Bürgermeister Jörg Sulzer (Prager Armenbibel, 1481). B. kopierte ältere Versdichtungen, die neuen Prosatexte der Frühhumanisten, Erbauungs-, Geschichtsliteratur, zuletzt das Berliner Weltgerichtsspiel. Darüber hinaus war er als Sammler, Kompilator, Redaktor u. gelegentlich als Autor tätig. Eine bemerkenswerte Losbücher-Kollektion u. zwei literarhistorisch interessante Spruchsammlungen sind ihm zu verdanken. Dass B. nicht nur die Straßburger Chronik des Jakob Twinger (Druck) u. Sigismund Meisterlins dt. Augsburger Chronik, sondern auch die Sächsische Weltchronik erweitert u. bis in die eigene Gegenwart fortgesetzt hat, weiß man erst neuerdings. Ausgaben: H. Schmidt-Wartenberg: Conrad Vollstatter’s Gedicht v. des Teufel’s Töchtern. In: Journal of Germanic Philology 1 (1897), S. 249–251. – Ein Losbuch K. B.s. Kommentiert v. Karin Schneider. Wiesb. 1978 (Faksimileausg.). – Berliner Weltgerichtsspiel. Augsburger Buch vom Jüngsten Gericht; Ms.germ.fol. 722. Abb. der Hs. Mit Einl. u. Texttranskription hg. v. Ursula Schulze. Göpp. 1991. Literatur: Karin Schneider, a. a. O. (grundlegend). – Elisabeth Grünenwald: Das älteste Lehenbuch der Grafschaft Öttingen. Einl. Öttingen 1975, S. 74–81, Abb. 5–17. – K. Schneider: K. B. In: VL (wichtigste ältere Lit.). – Kurt Gärtner: B.s Spruchslg. In: VL. – Klaus Graf: Exemplar. Gesch.n. Mchn. 1987, S. 192–202 (neue Hss., neuere Lit.). – Gisela Kornrumpf: Chronik u. Roman. In: Der Trojan. Krieg im dt. MA. Hg. Horst Brunner. Wiesb. 1989, S. 457–467 (zu B.s wiedergefundenem Druck). – Johannes Janota u. Werner WilliamsKrapp (Hg.): Literar. Leben in Augsburg während des 15. Jh. Tüb. 1995. – Jürgen Wolf: Die Augsburger Stadt-Weltchronik K. B.s (mit Teilabdr.). In: Ztschr. des Histor. Vereins für Schwaben 87 (1995), S. 13–38. – Ders.: K. B. u. die Augsburger Geschichtsschreibung. Die letzte Schaffensperiode. In: ZfdA 125 (1996), S. 51–86. – Ders.: Augsburger Stadtchroniken des 15. Jh. In: VL (Nachträge u. Korrekturen). Gisela Kornrumpf / Red.

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Boltz, Valentin, * Rufach/Elsass, † 1560 Binzen/Baden. – Übersetzer, Dramatiker u. Fachschriftsteller. B. war 1534 evang. Pfarrer in Alpirsbach (Württemberg), 1535–1539 in Matt/Kt. Glarus, 1539 evang. Diakon in Tübingen, 1540 Prädikant in Schorndorf, 1541 kurze Zeit Pfarrer auf dem Hirzel (Zürich), anschließend Pfarrer in Elm, 1542–1544 in Mollis. 1544–1546 wirkte er in Schwanden (alle Kt. Glarus), 1546 als Diakon in Laufen (ehemals Bistum Basel, heute Kt. Baselland), ab Herbst 1546–1555 als Spitalpfarrer in Basel, 1555–1559 war er Pfarrer in Ungershausen/ Württemberg, 1559–1560 Pfarrer in Binzen. Nach dem Zeugnis seines Basler Amtskollegen Johannes Gast war B. als begabter, temperamentvoller Prediger bes. beim einfachen Volk überaus beliebt. Mit Publij Terentij Aphri, sechs verteutschte Comedien (Tüb. 1540. Bis 61567 z.T. überarbeitete Neuaufl.n) schuf B. eine sehr frühe dt. Prosaübersetzung der Terenzkomödien. B. folgt darin seiner lat. Vorlage recht genau, achtet aber bewusst auf korrekte dt. Wortwahl u. Syntax. Die fünfaktige Tragicocomoedia Sant Pauls bekerung (Basel 1551. 21552) wurde 1546 in Basel mit großem Aufwand u. Unterstützung der Behörden von Basler Bürgern öffentlich aufgeführt u. auf Staatskosten gedruckt. Über die Aufführung berichten außer Gast auch Felix Platter in seinem Tagebuch u. Josias Simler in einem Brief an Heinrich Bullinger. Die sechs Akte der zeitkrit. Satire Der welt spiegel (Basel 1550. 21551. Neudr. hg. v. Albert Geßler in: Jacob Baechtold: Schweizer Schauspiele des 16. Jh. Bd. 2, Frauenfeld 1893) benötigten mit ihren 158 meist allegor. Figuren zwei Spieltage. Formal weitgehend ein Reihenspiel, entwickeln sich v. a. am zweiten Spieltag ab u. zu auch lebendige Dialoge. Reizvoll sind die sechs eingestreuten Kontrafakturen nach damals bekannten Melodien u. Texten. Die Oelung Dauidis deß Jünglings, Vnnd sein streit wider den Risen Goliath (Basel 1554) benutzt nicht, wie B. in seiner Widmung behauptet, Rudolf Gwalthers Monomachia Davidis et Goliae als Vorlage, sondern ist selbstän-

Boltz

dige Übersetzung u. Bearbeitung des lat. Schuldramas von Jakob Schöpper, Monomachia Davidis et Goliae (Dortm. 1550). Schöppers Werke standen auf dem Index. Sie wurden darum in der Öffentlichkeit, auch von einem evang. Theologen, als Vorlage besser nicht erwähnt. B.’ Illuminierbuoch (Basel 1549. Erfurt 18 1672. Dän. 1642), das erste seiner Art, fand weite Verbreitung. B. gibt hier zeitgenöss. Buchmalern ausführliche Anleitung zur Herstellung von Farben u. Lasuren, um möglichst naturgetreue Farbwirkungen zu erzielen. Im Anhang erhält der Leser auf 48 Seiten, mit leeren Holzschnitten als Muster, Gelegenheit, die Farben auszuprobieren. Weitere Werke: Senece gspraechsbüechlin / Wider die vnuersehenen zuofael (Basel 1552): Übers. eines lat. Pseudoseneca-Textes in dt. Verse. – Die These in Konrad Gesners ›Appendix Bibliothecae‹ (Zürich 1555), B. habe außerdem eine ›Comoediam septem artium liberalium contra abusus mundi‹, eine ›Passionis Christi historiam‹, ein ›Concilium Christi et Papae‹, eine ›Samsonis historiam‹, eine ›Tragoediam Susannae‹ u. weitere ›noch nicht gedruckte Werke‹ verfasst, ist nicht haltbar. Solche Texte ließen sich auch als Hss. oder in Aufführungsbelegen nicht nachweisen. Ausgabe: Jlluminierbuch: Wie man allerlei Farben bereiten, mischen u. auftragen soll; allen jungen angehenden Malern u. Illuministen nützlich u. fürderlich. Neudr. der Ausg. 1913. Mchn./Vaduz 1993. Literatur: Wilhelm Scherer: B. In: ADB. – Jacob Baechtold: Gesch. der dt. Lit. in der Schweiz. Frauenfeld 1892. – Gustav Bossert: Zur Biogr. v. V. B. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins 14 (1899), S. 194–206. – Joh. Baptist Hartmann: Die Terenz-Übers. des V. B. Diss. Mchn. 1911. – Fritz Mohr: Die Dramen des V. B. Diss. Basel 1916. – Karl Gauss: V. B. im Zürcher- u. Glarnerland. In: Zwingliana 3 (1920), S. 524 f. – Ders. in: Basilea Reformata. Basel 1930, S. 133 f. – Das Tgb. des Johannes Gast. Hg. u. übers. v. Paul Burckhardt. In: Basler Chroniken 8 (1945). – Emanuel Dejung u. Willy Wuhrmann: Zürcher Pfarrerbuch 1519–1952. Zürich 1953, S. 42, 209. – Felix Platter: Tgb. (1612). Hg. Valentin Lötscher. In: Basler Chroniken 10 (1976), S. 82 f. – Wolfgang F. Michael: Die ›Bekehrung Pauli‹ v. V. B. In: ZfdPh 113 (1994), S. 385–392. – Friederike Christ-Kutter: V. B. Seine Bibeldramen u. sein Trostbüchlein. Kom-

Bolzano mentierte Ed. Zürich 2007. – Pierre Paul Faust: B. In: – F. Christ-Kutter: Biogr. v. V. B. (in Vorb.). Rolf Max Kully / Friederike Christ-Kutter

Bolzano, Bernard, * 5.10.1781 Prag, † 18.12.1848 Prag; Grabstätte: ebd., Olsˇ aner Friedhof. – Philosoph, Mathematiker u. Theologe. B.s Vater kam aus der Lombardei (daher der ital. Name) u. war Kaufmann. Seine Mutter stammte aus einer deutschsprachigen Prager Familie. B. war das vierte von zwölf Kindern; außer einem älteren Bruder, der ihn überlebte, starben alle seine Geschwister in Kindheits- u. Jugendjahren. Gegen den väterl. Willen studierte B. 1800–1804 an der Universität Prag Theologie. Durch dieses Studium überwand er seine Glaubenszweifel, u. 1805 ließ er sich zum Priester weihen. Kurz darauf wurde er zum Dr. phil. promoviert. Schon früh zeigten sich sein großes Interesse u. seine Begabung für die Mathematik; bereits 1804 erschien von ihm ein Buch über Fragen der Geometrie. Obwohl sich B. auch auf eine Professur für Mathematik bewarb, erhielt er die neu eingerichtete Professur für (kath.) Religionslehre an der Philosophischen Fakultät der Universität Prag, die er am 19.4.1805 antrat. Mit dieser Professur war die Verpflichtung zur sonntägl. Abhaltung von »Erbauungsreden« oder »Exhorten« verbunden. Professuren dieser Art waren 1804 von Kaiser Franz an allen österr. Universitäten zur Bekämpfung der Aufklärung u. zur Unterstützung von Staat u. Religion eingerichtet worden. Dieser Zielsetzung zum Trotz vertrat B. in seinen Vorlesungen philosophische u. religiöse Ideen im Sinne der Aufklärung u. setzte sich in seinen Erbauungsreden für soziale u. polit. Reformen ein. (Eine Auswahl der Erbauungsreden, welche politisch brisante Passagen enthielt, erschien 1813; B.Gesamtausg. Bd. I/2, 1985.) Wegen der Verbreitung von angeblich staatsgefährdenden Lehren wurde B. auf Anordnung von Kaiser Franz am 20.1.1820 seines Amtes enthoben u. mit einem Lehr- u. Publikationsverbot belegt. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits mehrere mathemat. Werke B.s erschienen. Sein 3-jähriger Vorlesungszyklus über Religionslehre

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wurde aufgrund von Vorlesungsmitschriften von Schülern u. Freunden B.s (ohne Angabe des Verfassers) in 4 Bänden u. d. T. Lehrbuch der Religionswissenschaft (Sulzbach 1834) veröffentlicht (B.-Gesamtausg. Bde. I/6–8, 1994 ff.); dieses Werk wurde ebenso wie die Erbauungsreden von 1813 auf den Index librorum prohibitorum gesetzt. B. nutzte seine Absetzung zunächst zur Ausarbeitung eines umfassenden Lehrbuchs der Logik: Wissenschaftslehre (4 Bde., Sulzbach 1837. B.-Gesamtausg. Bde. I/11–14, 1985 ff.). Hierauf widmete er sich bis zu seinem Lebensende seinem lang gehegten Projekt einer umfassenden Neubegründung der Mathematik u. d. T. Größenlehre. Dieses Werk blieb allerdings unvollendet. Der Wiener Philosoph Robert Zimmermann, der diesen überaus wertvollen mathemat. Nachlass auf B.s Wunsch übernommen hatte u. sich um seine Veröffentlichung kümmern sollte, vernachlässigte diese Aufgabe sträflich; er übergab den Nachlass unbearbeitet der damaligen Hof- u. heutigen Nationalbibliothek in Wien, ohne Vorkehrungen für seine Bearbeitung u. Veröffentlichung zu treffen. Erst im 20. Jh. wurde B.s mathematischer Nachlass durch Zufall entdeckt. Zwischen den beiden Weltkriegen wurden einzelne Teile daraus veröffentlicht, die systemat. Erschließung erfolgte jedoch erst in den letzten 35 Jahren im Rahmen der B.-Gesamtausgabe u. ist immer noch nicht abgeschlossen. Besonders bekannt wurden unter Mathematikern (neben speziellen Lehrsätzen wie dem Theorem von B.Weierstraß) B.s Paradoxien des Unendlichen (Lpz. 1851. Nachdr. Hbg. 1975). Trotz der großen Bedeutung von Theologie u. Mathematik im wiss. Schaffen B.s steht doch die Logik im Mittelpunkt seines Gesamtwerks. Mit der Erschließung der Welt der Sätze an sich (der sog. Welt 3 bei Karl Popper) hat B. lange vor Frege u. Husserl den Pychologismus überwunden u. die Logik auf eine solide, objektive Grundlage gestellt. Sätze an sich werden dabei als der (zeitlose) Inhalt von psych. Denkakten u. gleichzeitig als der (zeitlose) Sinn sprachlicher Sätze aufgefasst; diese Sätze an sich haben nach B. (ähnlich wie später bei Frege u. Wittgenstein) Priorität gegenüber ihren Bestandteilen – den

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Bonafont

Literatur: Bibliografie: B.-Gesamtausg. Bd. E2/1 Vorstellungen an sich. Für diese objektiven log. Gegenstände stellt B. erstmals in der (1972), S. 81–170, Bd. E2/1, Suppl. 1 (1982), Bd. E2/ Geschichte der Logik (u. fast genau 100 Jahre 1, Suppl. 2 (1988); Beiträge zur B.-Forsch. Bd. 2 vor Alfred Tarski) strenge Definitionen der (1993), Bd. 10 (1999). – Biografien: Eduard Winter: B. B.-Gesamtausg. Bd. E1 (1969). – Gregor Zeitlog. Grundbegriffe (insbes. des Begriffs der hammer: Biogr. B.s. B.-Gesamtausg. Bd. IV/2 log. Wahrheit u. der log. Folge) auf; auf dieser (1997). – Schriftenreihe: Beiträge zur B.-Forsch. Grundlage entwickelte B. auch seine Wahr- Sankt Augustin 1992 ff. (bisher 20 Bde.), darin: scheinlichkeitstheorie. Bd. 8: Kurt Blaukopf: Die Ästhetik B. B.s (1996). – B. hat die Philosophie des Deutschen Gesamtdarstellung: Edgar Morscher: B. B. In: StanIdealismus vehement bekämpft u. als »Ge- ford Encyclopedia of Philosophy: http://plato. schwätz« abgetan; mit der Philosophie von stanford.edu/entries/bolzano/. Edgar Morscher Kant hat er sich trotz der vielen Unklarheiten, die er ihm vorhält, intensiv u. fruchtbar ausBonafont, Carl Philipp, auch: B. Fontano, einandergesetzt. In der Metaphysik überC. Philippi, * 22.7.1778 Rastatt/Baden, nimmt B. die traditionelle Lehre von Sub† um 1848 in Westfalen. – Schriftsteller u. stanz u. Adhärenz, im Gegensatz zu Leibniz Übersetzer. nimmt er aber eine Wechselwirkung zwischen Substanzen an. In der Ethik vertritt B. – B.s bei den Rastatter Piaristen begonnene u. ohne besondere Originalität – den Stand- an der Universität Mainz fortgesetzte Studien punkt des Utilitarismus, der jedoch in seinen fanden ein Ende, als Mainz 1792 von frz. staatsphilosoph. Auffassungen z.T. zu sehr Revolutionstruppen besetzt wurde. Eine fortschrittlichen (von Zeitgenossen als sozia- Zeitlang arbeitete er als Verwaltungsangelistisch oder gar kommunistisch eingestuf- stellter, zuletzt 1813 als Präfekturbureauchef ten) Auffassungen führte; diese Ideen hat er in Aachen. Nach einem Intermezzo als Priin seiner Staatsutopie Von dem besten Staate vatgelehrter wurde B. Professor für frz. niedergelegt, die allerdings erst 1932 veröf- Sprache am Pageninstitut in Weimar. 1819 fentlicht wurde (B.-Gesamtausg. Bd. IIA/14, wurde er entlassen, weil er die Schauspielerin 1975). B.s utilitarist. Ethik findet auch in Jagemann kritisiert hatte u. ging über Zwiseiner Ästhetik ihren Niederschlag; seiner schenstationen als Regierungssekretär nach Analyse des Begriffes des Schönen zufolge Merseburg. 1821/22 habilitierte er sich als hängt die Schönheit eines Gegenstandes nicht Professor der frz. Sprache an der Universität nur von seinen inneren Eigenschaften, son- Halle; 1827 wurde er zum herzogl. Coburgidern auch von seiner Wirkung auf den Be- schen Legationsrat ernannt. Ab 1830 lebte er trachter ab. B.s Erbauungsreden, von denen in Zeitz, später in Bonn u. in Westfalen. mehrere Auswahlausgaben postum erschieB.s schriftstellerische Laufbahn begann mit nen, bieten einen interessanten Einblick in dem epigonalen Wertherroman Der Neue die Rhetorik der damaligen Zeit; die voll- Werther oder Gefühl und Liebe (o. O. 1804). Auch ständige krit. Edition aller Erbauungsreden seine zahlreichen weiteren epischen u. drawurde 2007 im Rahmen der B.-Gesamtaus- mat. Werke sind wenig originell u. trugen B. gabe begonnen (Bd. IIA/15). Als eine der we- lediglich den Ruf eines Vielschreibers ein. nigen vollständig erhaltenen u. katalogisier- Trotzdem gelangten einige seiner vorzugsten Privatbibliotheken aus der damaligen weise auf histor. Begebenheiten basierenden Zeit stellt B.s Privatbibliothek ein interes- Dramen zur Aufführung. Bedeutender als santes Zeitzeugnis dar (dokumentiert in Bei- seine Originalwerke sind B.s Bearbeitungen träge zur Bolzano-Forschung. Bd. 14 u. 15, Sankt frz. Dramen, darunter Beaumarchais’ Eugenie u. seine Schiller-Übersetzungen (u. a. Würde Augustin 2002). Ausgaben: B. B.-Gesamtausg. Hg. E. Winter, J. der Frauen u. Das Lied von der Glocke). Berg, F. Kambartel, J. Louzˇil, E. Morscher, B. v. Rootselaar. Stgt.-Bad Cannstatt 1969 ff. (bisher 75 Bde.). – Untersuchungen zur Grundlegung der Ästhetik. Ffm. 1972.

Weitere Werke: Ein Tag aus dem Leben des großen Friedrichs. Histor. Schauspiel. Köln 1814. – Originalitäten aus dem Gebiet der Wahrheit u. Dichtung. 2 Bde., Lpz. 1820. – Reminiscenzen aus

Bonaventura meinem Leben, in Briefen merkwürdiger u. berühmter Zeitgenossen an den Herausgeber geschrieben. Münster 1847. Literatur: Brümmer. – Goedeke, Bd. 11 (1981), S. 205–209. – Kosch TL, Bd. 1 (1953), S. 179. – Johannes Werner: Von Rastatt nach Weimar u. weiter. In: Heimatbuch Rastatt 73 (1997), S. 151–158. Karin Vorderstemann

Bonaventura ! Klingemann, August Bonaventura, eigentl.: Johannes Fidanza, * 1217 oder 1221 Bagnorea/Mittelitalien, † 1274 Lyon; Grabstätte: ebd. – Franziskanertheologe u. Kirchenlehrer. B. war seit 1242 als Magister artium in Paris tätig, wo er nach den vorgeschriebenen Vorlesungen über die Sentenzen des Petrus Lombardus zum Magister/Doktor der Theologie promoviert wurde. Bereits 1243 in den Franziskanerorden eingetreten, löste er 1257 Johannes von Parma, einen Vertreter radikaler Armut u. eschatologischer Ausrichtung, als Generalmeister des Ordens ab. Im Folgenden förderte er teilweise rigoros die ideolog. Klärung der jungen franziskan. Bewegung u. deren Integration in die Gesamtkirche: Er ließ seinen Vorgänger verbannen u. schuf mit einer neuen Franziskuslegende die Grundlage, um gegen die Spiritualen – die die Lehren des Franziskus radikal wörtlich nahmen – vorzugehen. Hatte er bis dahin grundsätzliche Schriften zur Theologie (De scientia Christi, De mysterio Trinitatis) u. Mendikantenbewegung (Quaestiones de perfectione evangelica) vorgelegt, so blieb angesichts der vielfältigen Verpflichtungen als Ordensmeister nurmehr Zeit für kürzere (allerdings wirkungsreiche) Abhandlungen (Itinerarium mentis in Deum, Soliloquium) u. für Exegetisches (bes. die anti-aristotelisch geprägten Collationes in Hexaëmeron von 1273). 1273 wurde B. zum Kardinal ernannt; 1482 erfolgte im Rahmen einer B.-Renaissance, die auch den dt. Sprachraum erfasste, die Kanonisation, 1587 die Erhebung zum Kirchenlehrer; 1588 wurde dem schon zu Lebzeiten wegen seiner Sprachkraft Gerühmten von Sixtus V. der Titel eines »doctor seraphicus« verliehen.

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Mit seinen Werken stellt B. einen deutlichen Gegenpol zu den zeitgenöss., v. a. dominikan. Denkrichtungen dar. Der Aristotelismus des Thomas von Aquin blieb ihm ebenso fremd wie die Diskussion um die Intellekttheorie bei Albertus Magnus u. Dietrich von Freiberg. Von dem sich dort eröffnenden autonomen Raum der Philosophie kann bei ihm keine Rede sein: Weltliche Wissenschaft hat eindeutig hinter den Hl. Schriften, den Texten der Kirchenväter u. den theolog. Werken der Universitätslehrer zurückzustehen u. ist nur mit größter Vorsicht zu benutzen. Auch wenn Logik u. Kategorienlehre als Voraussetzungen erhalten bleiben, gilt dem Aristotelismus einschneidende Kritik: Aristoteles habe die Urbildlichkeit der Welt in Gott u., ausgehend von der Ewigkeit der Welt, die göttl. Einrichtung des Weltlaufs bestritten. B. greift demgegenüber stärker als irgendein Denker der Zeit wieder auf Augustinus zurück u. rückt den Logosgedanken ins Zentrum des Philosophierens: Die Seele, Abbild der Trinität, nimmt in sich, von den Erscheinungen der Vielheit abstrahierend u. den einen Urgrund begehrend u. suchend, das göttl. »verbum« wahr, gelangt in der Rückwendung auf sich selbst zur »unaussprechlich süßen Schau« u. zur »Verkostung« der Gottheit (Soliloquium). Gnadenhaft im Lichte der Betrachtung (»radius contemplationis«) stehend, steigt die Seele zum ungeschaffenen, uranfänglichen göttl. Licht auf: In emphatischer Metaphorik entwickelt B. eine Lichtmetaphysik, die zum Charakteristikum der Franziskanerschule werden sollte. Seine Zusammenführung monastischer u. scholast. Theologie im Itinerarium lieferte ein Modell, neuplatonisches Denken, hochscholastische Begrifflichkeit u. franziskan. Spiritualität zu vereinen. Auch die eindringl. u. innovative Sprachgebung u. die Distanz zum zeitgenöss. Aristotelismus eröffneten Möglichkeiten des Weiterwirkens: Man konnte B.s Konzeption des Willens u. der geistigen Erkenntnis (»cognitio intuitiva«) oder die Kritik an der Philosophie aufgreifen, wie es Johannes Duns Scotus u. Wilhelm von Ockham taten; man konnte aber auch den mystisch-asketischen Aspekt hervorheben, wie es in der Franziskanermystik des späten 13. u.

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frühen 14. Jh. bei Johannes Gerson u. im volkssprachl. Schrifttum geschah. Die Volkssprache wird im 15. Jh. – mit der Ausbreitung des Franziskanerordens u. des Bedürfnisses nach Laienunterweisung – zum wichtigsten Medium der B.-Rezeption. Das Soliloquium etwa liegt allein in elf mhd. Übersetzungen u. zwei Bearbeitungen vor; von den Franziskusviten u. Novizenregeln sind gleichfalls mehrere Redaktionen erhalten. Übertragungen von genuin theolog. Werken (wie des Sentenzenkommentars) befinden sich demgegenüber in der Minderheit. Kaum messbar ist die Wirkung pseudepigrafischer Schriften, die literarische u. spirituelle Traditionen begründeten: Die verschiedenen Fassungen des Stimulus amoris (Jakob von Mailand) bieten eine Anleitung zur Betrachtung des Lebens Christi, die weitverbreiteten Meditationes de Passione Christi (Johannes de Caulibus) liefern reiches Anschauungsmaterial für die Imagination der Leidensgeschichte, die viel gelesene Theologia mystica (Hugo von Balma) beschreibt modellhaft die drei Wege zur »unio«. Der meist anonyme Überlieferungsstrom setzt um 1370 ein u. erreicht v. a. im niederländ. u. alemann. Sprachraum schnell einen Höhepunkt. Für die Bewegung der Devotio moderna spielt B. nun eine ebenso wichtige Rolle wie für die zwischen 1453 u. 1460 ausgetragene Kontroverse um die myst. Theologie (an der neben Vinzenz von Aggsbach u. Bernhard von Waging auch Nikolaus von Kues beteiligt war, der B.s Aristoteleskritik im Hinblick auf das eigene Konzept der »docta ignorantia« weiterentwickelte). Auch für die Ausgestaltung einer dt. scholastischen u. mystischen Terminologie spielt die B.-Rezeption eine entscheidende Rolle. Die Notwendigkeit, theolog. Gedankengut der Laienwelt zu vermitteln, zwang zur Auseinandersetzung mit den spezif. Ausdrucksmöglichkeiten der eigenen Sprache. Ein Übersetzer des Itinerarium (1478) stellte fest, dass die Übertragung u. Bearbeitung eigenen Regeln zu folgen habe: Da das Werk für Ungelehrte bestimmt ist, »darumb muß ich vil wort haben, daz si dester paß dy maynung mügen versten«. B. avancierte im 15. Jh. zu einer der meistzitierten Autoritäten – über theologi-

Bonaventura

sche u. ordensspezif. Trennlinien hinweg. Seine Werke sind zus. mit denen des Thomas von Aquin tradiert, Abschriften stammen aus verschiedenen Ordensgemeinschaften (Dominikaner, Kartäuser, Augustiner, Benediktiner), der Franziskanergeneral bleibt über die Jahrhunderte hinweg als Kirchenlehrer präsent. Ausgaben: Opera omnia. Hg. Bonaventurakolleg. 10 Bde., Quaracchi 1882–1902. – Lateinischdeutsche Ausgaben: Soliloquium. Hg. Josef Hosse. Mchn. 1958. – Collationes in Hexaëmeron. Hg. Wilhelm Nyssen. Mchn. 1964. – Quaestiones disputatae de scientia Christi. Hg. Andreas Speer. Hbg. 1992. – Itinerarium mentis in Deum. Hg. Marianne Schlosser. Münster 2004. – Breviloquium. Hg. dies. Einsiedeln u. a. 2002. – Mittelalterliche deutsche Übersetzungen: ›De triplici via‹ in altschwäb. Übertragung. Hg. Kurt Ruh. Bln. 1957. – ›Legenda Sancti Francisci‹ in der Übers. der Sibilla v. Bondorf. Hg. David Brett-Evans. Bln. 1960. – Arbor Amoris. Der Minnebaum. Ein Pseudo-B.-Traktat. Hg. Urs Kamber. Bln. 1964. – Franziskan. Schrifttum im dt. MA. Hg. K. Ruh. 2 Bde., Mchn. 1965/85 (versch. Texte). Literatur: P. Ephrem Longpré: La théologie mystique de St. B. In: Archivum Franciscanum historicum 14 (1921), S. 36–108. – Etienne Gilson: La philosophie de St. B. Paris 31953 (dt. Lpz. 1929. Darmst. 21960). – Joseph Ratzinger: Die Geschichtstheologie des hl. B. Mchn. 1959. – St. B. 1274–1974: Volumen commemorativum. 5 Bde., Grottaferrata 1973/74. – Ewert H. Cousins: B. and the coincidence of opposites. Chicago 1978. – Andreas Speer: Triplex Veritas. Wahrheitsverständnis u. philosoph. Denkform B.s. Werl 1987. – JacquesGuy Bougerol: Introduction à Saint B. Paris 1988. – Kurt Ruh: Gesch. der abendländ. Mystik. Bd. 2, Mchn. 1993, S. 406–445. – Dieter Hattrup: Ekstatik der Gesch. Die Entwicklung der christolog. Erkenntnistheorie B.s. Paderb. 1993. – Bernard McGinn: Die Mystik im Abendland. Bd. 3, Freib./ Basel/Wien 1999, S. 168–213, 220–227. – Paul Zahner: Die Fülle des Heils in der Endlichkeit der Gesch. B.s Theologie als Antwort auf die franziskan. Joachiten. Werl 1999. – Emmanuel Falque: Saint B. et l’entrée de dieu en théologie. Paris 2000. – Marianne Schlosser: B. begegnen. Augsb. 2000. – Richard S. Martignetti: Saint B.s tree of life. Theology of the mystical journey. Grottaferrata 2004. – Gregory LaNave: Through holiness to wisdom. The nature of theology according to St. B. Rom 2005. – Wirkungsgeschichte: K. Ruh: B. deutsch. Bern 1956. – Georg Steer: Scholast. Gnadenlehre in mhd. Spra-

Bondeli che. Mchn. 1966. – Werner Höver: Theologia Mystica in altbair. Übertragung. Mchn. 1971. – Ildefons Vanderheyden (Hg.): B. Studien zu seiner Wirkungsgesch. Werl 1976. – Falk Eisermann: ›Stimulus amoris‹. Inhalt, lat. Überlieferung, dt. Übers., Rezeption. Tüb. 2001. Christian Kiening

Bondeli, Julie von, eigentl.: Susanna Juliana B., getauft 1.1.1732 Bern, † 8.8.1778 Neuchâtel. – Briefschreiberin, Salonnière u. Femme de lettres.

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durch sein unstetes Verhalten getrübt wurde; mehrfach legte er ihr Dichtungen zur Beurteilung vor, auf ihren Rat hin unternahm er Änderungen u. vernichtete er vermutlich sein Jugendwerk Lucian. Über Wieland entspann sich ein ausgedehnter Briefwechsel mit Sophie von La Roche, der u. a. zu einer emphat. Beurteilung der Geschichte des Fräuleins von Sternheim durch B. führte u. erst mit B.s Tod endete. B. gehörte zu den Anhängerinnen Rousseaus u. stand während seines Aufenthalts 1762 bis 1765 in Neuchâtel direkt u. über ihre Freunde im Austausch mit ihm. Eine innige Freundschaft u. Seelenverwandtschaft verband sie mit Johann Georg Zimmermann, diese erkaltete aber nach dessen Abreise nach Hannover 1768. Im Briefwechsel mit Leonhard Usteri, der bis an ihr Lebensende dauerte, zeigen sich ihr breiter Wissenshorizont u. ihr kritisches Denken. B. korrespondierte u. a. auch mit Johann Caspar Lavater, Jakob Heinrich Meister, Salomon Gessner, Albrecht von Haller, Elie-SalomonFrançois Reverdil u. André-Salomon Roger. Ihre umfassende Bildung u. ihre persönl. Ausstrahlung machten sie zu einer der herausragenden Persönlichkeiten der Schweizer Aufklärung u. der bedeutenden Briefeschreiberinnen des 18. Jh.

Die aus einer Berner Patrizierfamilie stammende B. erhielt schon früh gelehrten Unterricht u. entwickelte sich zum Mittelpunkt des geistig-geselligen Lebens in Bern. Nach dem Tod ihres Vaters (1761), der Mitgl. des Großen Rats in Bern war, u. ihrer Mutter (1767) geriet sie, die unverheiratet blieb, in materielle Not. Sie lebte nach 1767 bei der Generalsgattin Marie-Frédérique-Anne (Henriette) von Sandoz in Neuchâtel, von wo aus sie zahlreiche Reisen zu ihren Freunden in Bern u. im Waadtland unternahm u. wo sie 1778 nach langer Krankheit starb. War es im 18. Jh. noch ungewöhnlich, dass Frauen sich der Wissenschaft zuwandten, so hob sich B. gerade dadurch hervor, dass sie sich in mehreren Disziplinen fundierte Kenntnisse erwarb, so in philosophischen, Weitere Werke: Sophie v. La Roche: Mein literar. u. ästhetischen, histor., medizini- Schreibetisch. Bd. 2, Lpz. 1799, S. 140–366. – J. v. schen, theolog., pädagog. u. ökonomischen B. u. ihr Freundeskreis [...]. Nebst bisher ungedr. Fragen. Zwar verfasste sie keine eigenen Briefen der B. an Zimmermann u. Usteri. Hg. Werke, doch gleichen ihre durchweg frz. ge- Eduard Bodemann. Hann. 1874. – Die Briefe v. J. B. schriebenen Briefe z.T. wiss. Abhandlungen an Johann Georg Zimmermann u. Leonhard Usteri. Dt. v. Lilli Haller. Frauenfeld 1930. – Une lettre de oder literaturkrit. Traktaten. Ihre literar. J. B. à Suzanne Curchod. Hg. Manfred Gsteiger. In: Vorliebe galt den engl. Schriftstellern u. frz. Études de lettres (1985), S. 92–97. – Angelica Baum »philosophes«; zu ihren Lieblingsautoren u. Birgit Christensen (Hg.): J. B. Briefe. Zürich gehörten Shakespeare, Cervantes u. Sterne, 2008. v.a. aber Rousseau, dessen treue Anhängerin Literatur: P. Johann J. Schädelin: J. B., die sie war. Sie las aber auch die deutschsprachi- Freundin Rousseaus u. Wielands. Bern 1838. – Lilli gen Aufklärer, v.a. Mendelssohn, Sulzer, Haller: J. B. Lpz. 1924. – Angelica Baum u. Brigitte Winckelmann, Wieland u. Goethe, erkannte Schnegg: J. B. Ein Porträt in Briefen. Bern 1998. die literar. Bedeutung von dessen Werther, Felix Leibrock / Angelica Baum kritisierte jedoch die überspannte Emotionalität des Sturm u. Drang. B. korrespondierte Bondy, François, * 1.1.1915 Berlin, † 27.5. mit Suzanne Curchod, spätere Necker, der 2003 Zürich. – Essayist u. Publizist. Mutter von Germaine de Staël. Mit Wieland verband sie während dessen Berner Zeit Der Sohn des aus Prag stammenden Schrift(1759/60) eine stürmische Freundschaft, die stellers Fritz Bondy alias N. O. Scarpi wuchs aber nach seiner Rückkehr nach Biberach u. in Lugano u. Nizza auf. Studien führten ihn

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nach Paris u. Zürich. Er arbeitete als Redakteur u. a. der »Neuen Zürcher Zeitung« (Kulturberichte aus Paris), beteiligte sich 1943–1946 an der Gründung der europ. Bewegung u. war 1951–1969 politischer Redakteur der »Schweizer Monatshefte« sowie Mitarbeiter bedeutender dt., frz., engl. u. amerikan. Zeitschriften. B. erhielt u. a. 1988 den Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik u. 1994 die Johann-Jakob-Bodmer-Medaille der Stadt Zürich. Er war Mitgl. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Aus nächster Ferne. Bericht eines Literaten in Paris (Mchn. 1970) zieht die an deutschsprachige Leser adressierte Summe aus 25 Jahren literaturkritischer Tätigkeit. Brillante Essays u. a. über Italo Svevo, Michel Leiris, Emil Cioran, Camus, zu Erzählern des Maghreb, zum Werk des Polen Witold Gombrowicz u. zum »Nouveau roman« bezeugen die polyglotte Belesenheit B.s. Er bewertete Literatur nie losgelöst von ihren polit. Entstehungs- u. Wirkungszusammenhängen. B.s polit. Erfahrungen sind zusammengefasst in Der Nachkrieg muß kein Vorkrieg sein. Europäische Orientierungen (Zürich/Köln 1985). Die Wirtschafts- u. Finanzordnung u. ihre v. a. außerhalb des atlant. Raums bedenklichen Konsequenzen werden in den Europäischen Orientierungen nicht beleuchtet. Sein zeitgeschichtliches Wissen ermöglichte es ihm, modische u. ideolog. Schlagworte kritisch zu befragen. Damit leistet er einen wesentl. Beitrag zur Kultur der polit. Sprache. Weitere Werke: Der Rest ist Schreiben. Schriftsteller als Aktivisten, Aufklärer u. Rebellen. Wien 1972. – Eugène Ionesco. Reinb. 1975. 32002. – Mein dreiviertel Jahrhundert. Zürich 1990 (R.) – Iso Camartin (Hg.): Wer Europa sagt... Ess.s u. Ehrungen v. u. für F. B. Mchn. 1995. Literatur: Richard Reich u. a. (Hg.): Homme de Lettres. Freundesgabe für F. B. Zürich 1985. Rudolf Käser / Red.

Boner, um 1350. – Spätmittelalterlicher Verfasser des ersten deutschen Fabelbuchs. »Bonerius« nennt sich im Pro- u. Epilog der Autor des nach der ersten Fabel so betitelten

Edelstein. Dialektsprachlich ist er im Umfeld seines Widmungsadressaten, des im Berner Oberland ansässigen Freiherrn Johann (I.) von Ringgenberg, zu verorten u. dort am ehesten mit dem von 1324–1350 in Bern urkundenden Dominikaner Ulrich Boner zu identifizieren, da im gleichnamigen Berner Bürgergeschlecht nur dieser die Bildungsvoraussetzungen besaß, aus den im Predigerorden verbreiteten lat. Quellen ein dt. Fabel- u. Exempelbuch zu formen. Strittig ist, ob die Epilog-Dedikation an Johann, der wohl mit dem gleichnamigen Spruchdichter der Manessischen Handschrift identisch ist, wie im Prolog noch dem lebenden galt; der Tod des Freiherrn nach 1351 liefert der Datierung der Sammlung daher nur einen ungefähren »terminus ante«. Mit 100 von Pro- u. Epilog umrahmten Fabeln, zweiteiligen, nach Akteuren u. Themenstichworten gegliederten, Überschriften u. einer an Korrespondenzen u. Deutungsbezügen der Texte orientierten Anordnung zielt B. auf ein einheitliches »buoch«, eine geschlossene Äsop-Sammlung, wie er sie v. a. bei den Hauptgewährsleuten Äsops im MA vorfand: 53 Fabeln bezog er aus den lat. Distichen des Anonymus Neveleti, 22 aus denen des Avian. Für die Umsetzung des Anonymus zog er dessen lat. Schulkommentierung nur punktuell bei, machte Handlungsdetails u. Deutungsangebote der Avian-Kommentare aber vielfach zum Bestandteil auch der dt. Versionen. 25 Texte, häufig moralisierende Kurzerzählungen mit rein menschlichem Personal, entnahm B. Stoffparallelen zufolge mlat. Exempelsammlungen, unter denen konkrete Vorlagen (z.B. das Alphabetum narrationum) aber nur selten aufscheinen. B.s Fabeltyp knüpft an das v. a. vom Stricker geprägte Reimpaarbîspel des 13. Jh. an: dem sprachlich schlichten u. konzisen Erzählteil folgt ein gegenüber den Vorlagen eigenständigeres »Fabula docet«, das den Lehrertrag in sprichworthaft verdichteten Verhaltens- u. Erfahrungsregeln ausmünzt u. sich im Variantenreichtum seiner Deutungsangebote mit der lat. Kommentartradition misst. Die Lehrausbeute zielt auf Vermittlung einer »tugenden und êren« verpflichteten »kluogkeit« (Prolog, V. 26 u. 66), die das

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Nützliche mit dem moralisch Gebotenen in S. 139–159. – Ders.: Meister Esopus. UntersuEinklang zu bringen weiß u. sich zumal in chungen zu Gesch. u. Funktion der Fabel im MA. der Bewältigung sozialer Konflikte bewährt. Mchn. 1977. – Ders. u. Gerd Dicke: Die Fabeln des Im Wertediskurs seiner Zeit bezieht B. keine MA u. der frühen Neuzeit. Ein Kat. der dt. Versionen u. ihrer lat. Entsprechungen. Mchn. 1987. – signifikanten, etwa spezifisch geistlich oriUlrike Bodemann u. G. Dicke: Grundzüge einer entierten Positionen; deutlich aber pronon- Überlieferungs- u. Textgesch. v. B.s ›Edelstein‹. In: ciert er das Thema der Freiheit, das in der Dt. Hss. 1100–1400. Hg. Volker Honemann u. NiEidgenossenschaft wie bei dem in seiner gel F. Palmer. Tüb. 1988, S. 424–468. – Wulf-Otto Souveränität bedrohten Freiherrn von Ring- Dreeßen: ›Edelstein‹-Splitter. In: ›Ist zwîvel herzen nâchgebûr‹. FS Günther Schweikle. Hg. Rüdiger genberg mit bes. Interesse rechnen konnte. Von den (inkl. Streugut) 36 zumeist illus- Krüger u. a. Stgt. 1989, S. 241–253. – Andreas trierten Handschriften u. 2 Inkunabeln der Schaffry: Im Spannungsfeld zwischen LiteraturSammlung gehören die wenigsten zu Pfeif- kritik u. philolog. Methode. Aspekte der Rezeption v. U. B.s ›Edelstein‹. In: Jb. der Oswald v. Wolfers Kl. I mit (zumindest annähernd) 100 Fakenstein Gesellsch. 7 (1992/93), S. 405–433. – Aabeln samt Vor- u. Schlussrede, während Teil- ron E. Wright: ›Hie lert uns der meister‹. Latin korpora (v. a. Kl. III: 84 Texte ohne Pro- u. Commentary and the German Fable 1350–1500. Epilog) das Gros ausmachen. Der unfeste Tempe/Arizona 2001. – Marion Wagner: Der saTextbestand geht eher auf Editionsschritte genhafte Gattungsstifter im Bild. Formen figudes Autors hin zur geschlossenen Form als rierter Autorschaft in illustrierten äsop. Fabelslg.en auf selektive Tradierung zurück. Die Typo- des 15. Jh. In: FMSt 37 (2003), S. 385–433. Gerd Dicke logie der Überlieferung (Prachthandschriften neben solchen für Schul- u. Predigtgebrauch) bezeugt die Funktionsvielfalt, ihre Breite den Boner, Hieronymus, * 1556 Colmar. – großen Erfolg des Edelstein: schon Sorti- Übersetzer griechischer u. lateinischer mentsbestandteil der Handschriften-Manu- Autoren ins Deutsche. faktur Diebold Laubers, wird er durch die Ausgaben Albrecht Pfisters (Bamberg 1461. B. entstammte einer im Oberelsass beheima1463/64) zum ersten mit Typen u. Holz- teten Stadtschreiberfamilie. Konkrete Anschnitten gedruckten dt. Buch überhaupt. haltspunkte zu seinem Bildungsgang fehlen. Nach Erscheinen von Heinrich Steinhöwels 1525 war er als Gerichtsschreiber in Colmar Prosa-Esopus (um 1476/77) lief die Weitergabe tätig, wo er sich bis zu seinem Tod fast ausschließlich aufhielt. 1527–1551 bekleidete er mit vereinzelten Abschriften aus. Im sog. Schweizer Anonymus fand B. zwar immer wieder wichtige Ämter im Stadtregieinen Nachahmer, doch blieb seine produk- ment: So hatte er elfmal als Obristmeister den tive Rezeption auf wenige Fabeln in jiddi- Ratsvorsitz inne. B. wurde auch öfter mit dischen Äsopica des 16. u. 17. Jh. beschränkt. plomat. Missionen betraut; z.B. nahm er als Aufbauend auf den Fabel- u. B.-Studien Gel- Abgesandter Colmars an verschiedenen lerts, Gottscheds u. Lessings bildete die frühe Reichstagen teil. Trotz seines polit. Engagements fand B. Germanistik anfangs des 19. Jh. v. a. am Edelstein ihr philologisch-editorisches Rüst- Zeit für eine Reihe z.T. sehr umfangreicher zeug aus (Ausgaben durch Scherz, Bodmer/ Verdeutschungen; er war einer der fruchtbarsten Übersetzer seiner Zeit. Sein Interesse Breitinger, Benecke u. a.). galt fast ausschließlich histor. Werken. Es Ausgaben: Der Edelstein v. U. B. Hg. Franz handelte sich stets um Texte, die vorher noch Pfeiffer. Lpz. 1844. – Neuausg. in Vorbereitung. nicht ins Deutsche übertragen worden waren. Literatur: Bibliografie (der älteren Forschung): DoBei griech. Autoren benutzte er immer lat. ris Fouquet: Einl. In: U. B. Der Edelstein. Faks. der ersten Druckausg. Bamberg 1461. Stgt. 1972, Vorlagen. B. bevorzugte die im 16. Jh. verS. 39–41. – Weitere Titel: Klaus Grubmüller: Ele- breitete Methode des sinngemäßen Übersetmente einer literar. Gebrauchssituation. Zur Re- zens; typisch dafür sind u.a. erklärende Zuzeption der aesop. Fabel im 15. Jh. In: Würzburger sätze u. Synonymhäufungen. Mitunter nahm Prosastudien 2. Hg. Peter Kesting. Mchn. 1975, B. auch Kürzungen vor. Er übersetzte Hero-

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dian (Augsb. 1531; nach Angelo Poliziano), Justins Epitome (Augsb. 1531), Thukydides (Augsb. 1533; nach Lorenzo Valla), Plutarch (4 Vitenpaare: Augsb. 1534. Sämtl. Parallelviten, 4 z.T. unechte Viten: Colmar 1541; nach einer lat. Sammelausg. mit Übers. v. Lapo da Castiglionchio u. a.), Herodot (Augsb. 1535; nach Valla), Orosius (Colmar 1539), Xenophon (Kyropädie, Anabasis, Hellenika: Augsb. 1540; nach der lat. Ausg. Basel 1534), Demosthenes (Philippiken: Augsb. 1543; nach Christoph Hegendorff), die Spanische Chronik von Bracellus u. Jovinianus (Augsb. 1543) u. eine Ungarische Chronik von Bonfinius (Basel 1545). Einige Übersetzungen dienten Hans Sachs als Quelle für seine Dichtungen. Literatur: Bibliogr. v. B.s Übers.en heidnischantiker Texte in: Worstbrock, Nr. 195–198, 242–243, 297–299, 412 (mit Lit.). – Frank-Rutger Hausmann: Bibliogr. der dt. Übers.en aus dem Italienischen v. den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 1 (2 Teilbde.), Tüb. 1992, Nr. 0185, 0216. – Weitere Titel: Merzdorf: H. B. In: ADB. – Gustaph Wethly: H. B. Leben, Werke u. Sprache. Ein Beitr. zur elsäss. Litteraturgesch. Straßb. 1892. – DBA 124,315–318. – Manfred Keßler: Thukydides – Lorenzo Valla – H. B. Die ›Historien‹ des Thukydides auf dem Weg über Vallas lat. zu B.s frühneuhochdt. Übers. Diss. Univ. Augsb. 2001. – Lucien Sittler: B. In: NDA, Lfg. 2–5, S. 296. Petra Fochler / Red.

Bongs, Rolf, * 5.6.1907 Düsseldorf, † 20.11.1981 Düsseldorf. – Lyriker, Erzähler u. Essayist. Der Sohn eines Landrats studierte Germanistik, Kunstgeschichte u. Philosophie in Berlin, Marburg, München u. promovierte zum Dr. phil. Anschließend arbeitete er als Archivar u. Bibliothekar. Bis zum Publikationsverbot durch die Nationalsozialisten erschienen B.’ frühe Gedichte, die in der Tradition der Neuen Sachlichkeit stehen, in der »Rabenpresse«, erste Prosatexte in der »Vossischen Zeitung«. Im Zweiten Weltkrieg war B. Soldat u. Kriegsberichterstatter. 1945 kehrte er aus der Gefangenschaft nach Düsseldorf zurück u. wurde Journalist, Kunst- u. Literaturkritiker. Ab 1956 lebte B. als freier Schriftsteller in Düsseldorf-Lörick. 1971 war er Gastprofessor

für deutschsprachige Lyrik an der Universität Amherst/USA. Kunstreisen führten ihn durch Europa u. Kleinasien. B. erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Förderpreis zum Heinrich-Droste-Literaturpreis (1956), den Preis der Hermann-Hesse-Stiftung (1957), den Preis der Rudolf-Alexander-SchröderStiftung (1958) sowie die Willibald-Pirkheimer-Medaille (1966). Sein Nachlass befindet sich im Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf. B. befasste sich in seinen wichtigsten Essays mit André Gide (Das Antlitz André Gides. Düsseld. 1953). Es ist sein Verdienst, in der Bundesrepublik Deutschland auf ihn aufmerksam gemacht zu haben. B. bewunderte Gides Mut zum Außenseitertum, zur Aufklärung u. Provokation. In Übereinstimmung mit ihm formulierte er den eigenen poetolog. Anspruch auf Deutlichkeit, Klarheit u. Einfachheit. Seine bedeutendste Erzählung, der Monolog eines Betroffenen (Stgt. 1961), thematisiert die Frage nach der Mitschuld am Dritten Reich. Schonungslose Konfrontation mit der eigenen Erinnerung ist auch Thema des Dramas Absturz (Emsdetten 1959). Die Passagiere eines Flugzeugs, dessen Absturz bevorzustehen scheint, bekennen einander in ihrer Todesangst die bisher nicht eingestandene Wahrheit. Weitere Werke: Ein Dorf siedelt um. Bln. 1942 (Tgb.). – Flug durch die Nacht. Düsseld. 1951 (L.). – Die großen Augen Griechenlands. Emsdetten 1963 (L.). – Rechenschaft. Emsdetten 1964 (L.). – Oberwelt. Düsseld. 1977 (L.). – Ein amerikan. Mädchen. Emsdetten 1980. Ffm. 1984 (R.). Literatur: Lothar Huesmann u. Hans Günther Auch (Hg.): Begegnungen mit R. B. Emsdetten 1967. – Willi Schäferdiek: R. B., ein Schriftsteller der Gegenwart. Düsseld. 1972. – Ursula u. Rolfson Bongs: Ein bibliogr. Verz. 1925–72. Düsseld. 1972. – Wolfgang Paulsen: Versuch über R. B. Der Schriftsteller als Dichter. Darmst. 1973. – Ders.: R. B. aus amerikan. Sicht. In: Der Dichter u. sein Werk. Hg. Elke Nicolai. Ffm. 1993, S. 537–542. – Ders.: Romanautor u. Romanheld: Zu E. B.’ Roman ›Das Londoner Manuskript‹. Ebd., S. 543–561. – Ders.: Erinnerungen an R. B. In: Dt. Bücher 27 (1997), 3, S. 163–179. Heinz Vestner / Red.

Bonhoeffer

Bonhoeffer, Dietrich, * 4.2.1906 Breslau, † 9.4.1945 Konzentrationslager Flossenbürg. – Protestantischer Theologe.

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des Menschen neu zu gestalten u. zu interpretieren. Die Problematik der Haft suchte er zudem in den fragmentarisch gebliebenen literar. Texten Fragmente aus Tegel (Mchn. 1978; D. B. Werke VII) u. in Gedichten (Jürgen Henkys, s. u. Lit.) zu bewältigen. Eines von diesen, Von guten Mächten, findet sich inzwischen als Lied in evang. u. kath. Gesangbüchern. B.s Bedeutung besteht in seinen durch die Praxis eingelösten theolog. Stellungnahmen u. Meditationen, in denen sich ein Glaube manifestiert, der im Kampf gegen das Unrecht nicht vergisst, dass diese Welt von Gott angenommen u. durch das Kreuz zum Heil berufen ist.

B. entstammte der seit 1912 in Berlin lebenden Familie des Psychiaters Karl Bonhoeffer. Das Studium der evang. Theologie in Tübingen, Rom u. Berlin beschloss er 1927 mit der Promotion u. 1931 mit der Habilitation. Nach Aufenthalten in Barcelona u. New York wurde er Dozent, Studentenpfarrer u. Sekretär für Internationale ökumen. Jugendarbeit. Von Anfang an leistete er Widerstand gegen den Nationalsozialismus, bereits 1933 durch sein Eintreten gegen die Deutschen Christen u. die Anwendung des Arierparagrafen auf die evang. Kirche. 1933–1935 Pfarrer in Ausgabe: D. B. Werke, I-XVII. Mchn. 1986–1992 London, bildete B. 1935–1940 illegal Vikare u. Gütersloh 1993–1999. der Bekennenden Kirche aus. Nach Entzug Literatur: Biografien: Eberhard Bethge: D. B. der Lehrbefugnis 1936 u. der Ausweisung aus Mchn. 1967. Gütersloh 92005. – Ders. u. a. (Hg.): D. Berlin 1938 erhielt B. 1940 Reichsredeverbot B. Bilder aus seinem Leben. Mchn. 1986. Neuausg. u. 1941 Schreibverbot. Auf Vermittlung sei- hg. v. Renate Bethge u. a. Gütersloh 2005. – Ferdines Schwagers Hans von Dohnanyi beteiligte nand Schlingensiepen: D. B. Mchn. 2005. 42006. – er sich seit 1940 am Widerstand im Kreis um Einzeltitel: Ernst Feil: Die Theologie D. B.s. Mchn. 5 Admiral Canaris u. Hans Oster, in dem später 1971. Münster 2005. – E. Bethge u. a. (Hg.): Indas Hitler-Attentat vom 20. Juli mit vorbe- ternat. B.-Forum I-IX. Mchn. 1976–93. – Werner reitet wurde. Bereits 1943 verhaftet, wurde B. Kallen: In der Gewißheit seiner Gegenwart. Mainz 1997. – E. Feil (Hg.): Internat. Bibliogr. zu D. B. zwei Jahre später hingerichtet. Gütersloh 1998. – Jürgen Henkys: Geheimnis der Literarisch gewirkt hat B. zu Lebzeiten Freiheit. Die Gedichte D. B.s aus der Haft. Biogr. – insbes. durch seine meditative Schrift Nach- Poesie – Theologie. Gütersloh 2005. – Josef Aufolge (Mchn. 1937, D. B. Werke IV), die ange- ßermair u. Gregor Maria Hoff (Hg.): D. B. Orte sichts der sich ständig verschärfenden Aus- seiner Theologie. Paderb. 2007. – Reihe: Christian einandersetzungen mit dem nationalsozia- Gremmels u. a. (Redaktion): D.-B.-Jb. Gütersloh list. Regime einen Aufruf zur Kreuzesnach- 2003 ff. Ernst Feil folge der Christen formuliert. Weithin bekannt wurde B. jedoch durch postum publizierte Schriften: In der Ethik (Mchn. 1949. D. Bonin, Christian Friedrich Ferdinand AnB. Werke VI) reflektierte er – herkommend selm von, * 16.6.1755 Magdeburg, † 14.2. aus einer protestantisch-preuß. Tradition – 1813 Neustrelitz. – Offizier; Hoftheaterintendant, Übersetzer u. Komödienautor. die Notwendigkeit des Widerstands u. der Schuldübernahme; denn nicht zu handeln, B. entstammte einer bedeutenden Adelsfalasse auch schuldig werden. Weltliches Han- milie Hinterpommerns. Er gehörte bis 1786 deln verteidigte B. dabei nachhaltig als im dem preuß. Garderegiment »Gens d’Armes« Glauben gebotenes Handeln. In seinen Brie- an. Danach begab er sich als Hofbeamter u. fen aus der Haft Widerstand und Ergebung Hoftheaterintendant in die Dienste des Her(Mchn. 1951; D. B. Werke VIII) plädierte er zogs von Mecklenburg-Neustrelitz. In den dafür, vom christl. Glauben ausgehend, die preuß. Militärdienst zurückgekehrt, starb B. mündig gewordene Welt der Neuzeit zu ak- als hoher Offizier an den Strapazen des nazeptieren; gegen eine kulturprotestant. »Re- poleonischen Russlandfeldzugs. ligion« wies B. auf die Notwendigkeit hin, Bedeutung erlangte B. als erster u. kongechristl. Glauben angesichts der Autonomie nialer Übersetzer der hochadelskrit. Briefro-

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man-Serie Les liaisons dangereuses von Choderlos de Laclos (Paris 1782); seine Übertragung (Lpz. 1783) liegt noch der neuesten deutschsprachigen Ausgabe Die gefährlichen Bekanntschaften (Lpz./Mchn. 1987/88) zugrunde. Darüber hinaus verfasste u. übersetzte B. Soldatenstücke (Haß und Liebe. Bln. 1786) sowie Komödien von einigem Unterhaltungswert. Dabei galt während des 19. Jh. v. a. eine dreigeteilte Hauptrolle im Lustspiel Die Drillinge (Gotha 1781) als Paraderolle berühmter Schauspieler. Weitere Werke: Blanfurt u. Wilhelmine. Breslau 1779 (D.). – Sendschreiben über die Berliner u. Breslauer Bühne. Breslau 1779. – Der Sonnenritter. 2 Tle., Lpz. 1781 (R.). – Der Postmeister. Duisburg 1792 (D.). Literatur: Klaus-Ulrich Kreutke: Militär u. Schöngeist: C. F. F. A. B. In: Mecklenburg-Magazin 41 (2004), S. 22. – Klaus-Ulrich Kreutke u. Ralf Mumm: C. F. F. A. B. Mecklenburg-Strelitzer Oberst. In: Dies.: Soldaten aus Mecklenburg. Schwerin 2004, S. 17 f. Adrian Hummel / Red.

Bonn, Ferdinand, auch: Franz Baier, Florian Endli, * 20.12.1861 Donauwörth, † 23.9.1933 Bernau/Chiemsee. – Bühnenautor u. Schauspieler. Der Student der Rechtswissenschaften debütierte 1885 während seiner Münchner Studienzeit als Schauspieler am Nürnberger Stadttheater. Er wurde zu einer der schillerndsten Figuren der dt. Theaterszene um die Jahrhundertwende. Nach Engagements am Deutschen Theater in Moskau, am Hoftheater in München u. am Wiener Burgtheater war B. seit 1896 gefeierter Interpret des klass. Repertoires auf Berliner Bühnen, ehe er 1905 (bis 1907) mit einem eigenen »Berliner Theater« sein Glück als Intendant, Regisseur u. Autor versuchte. Seine auf vordergründige Bühneneffekte hin konzipierten Schauspiele lockten zwar anfangs das Publikum, stießen jedoch auf zunehmende Ablehnung der Kritik. B.s Autobiografie Mein Künstlerleben (Diessen 1920) dokumentiert in der larmoyanten Schilderung des Abstiegs vom Publikumsliebling zur komischen Figur unfreiwillig Doppelmoral

Bonnus

u. hohles Pathos des wilhelmin. Kulturbetriebs. Weitere Werke: Der junge Fritz. Lpz. 1898 (D.). – Lustige Soldatengesch.n. Bln. 1904. – Sherlock Holmes. Lpz. 1906 (D.). – Zwei Jahre Theater-Direktor in Berlin. Bln. 1908 (Autobiogr.). Ausgabe: Ges. Werke. 4 Bde., Lpz. 1911. Literatur: Brigitte Müller: F. B. – Frauenheld, Lebemann u. Weltverbesserer. Frauen, Adel u. Volk im Leben u. Werk v. F. B. Marburg 2004. Volker Busch / Red.

Bonnus, Hermann, * 1504 Quakenbrück bei Osnabrück, † 12.2.1548 Lübeck. – Evangelischer Theologe u. lateinischplattdeutscher Literat. Nach dem Besuch der Domschule in Münster studierte B. seit April 1523 in Wittenberg (möglicherweise bei Melanchthon u. im Kreis um Luther), ab 1525 lehrte er in Greifswald u. wurde 1530 erster Rektor der neu gegründeten lat. Gelehrtenschule in Lübeck (Katharineum) u. am 9.2.1531 Superintendent der durch Bugenhagen reformierten Hansestadt; obwohl er in allerlei stadtpolit. Händel verstrickt war, lehnte er auswärtige Berufungen (nach Hamburg 1532 u. Lüneburg 1535) ab u. unterstützte nur 1543 die reformator. Bewegung (Kirchen- u. Schulordnung) in Stadt u. Hochstift seiner Heimat Osnabrück. Neben Eingaben an den Rat u. einer Chronica der [...] Stadt Lübeck (Magdeb. 1539), der Ausarbeitung verschiedener Kirchenordnungen, einer Sammlung von Exempla für Prediger, der Farrago praecipuorum exemplorum (Schwäbisch Hall 1539. Internet-Ed.: Slg. Hardenberg), lateinisch-plattdt. Katechismen, Predigten (Sermones) u. Exegetica verfasste B. auch wiederholt aufgelegte Schulgrammatiken u. Geistliche Lieder u. Psalmen. Er bearbeitete das Rostocker Gesangbuch von Joachim Slüter; zwei seiner Kirchenlieder stehen noch im EKG (Nr. 57: O wir armen Sünder, Nr. 200: Mein Seel, o Herr, muß loben dich). Ausgaben: Wackernagel 1, Nr. 464–480; 3, Nr. 846–853. – Christlicke Kercken Ordenungh. Der Statt Ossenbrügge, dorch M. H. B. verfatet (1543). In: 450 Jahre Reformation in Osnabrück. Hg. Karl Georg Kaster u. Gerd Steinwascher. Bramsche 1993,

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S. 172–191 (mit nhd. Übers.). – Kerckenordnunge vor de landkercken des stifts Osenbrugge [...] (1543), ebd., S. 210–215 (mit nhd. Übers.). – Ordinatio Magistri H. B. Exercitium quotidianum in sacris scripturis [...] (1543), ebd., S. 236–239 (mit Übers.). – Herausgeber: Enchiridion. Geistlike Lede u. Psalmen. Lübeck (ca. 1547). Internet-Ed.: http://www.uni-kiel.de/ub/digiport/bis1800/ Arch4_161(1).html. Literatur: VD 16, B 6619–6641. – Hauschild, BLSHL (s. u.). – Weitere Titel: Johannes Moller: Cimbria literata [...]. Bd. 2, Kopenhagen 1744, S. 70–74. – Heppe: H. B. In: ADB. – Caspar Heinrich Starck: Kurtz-gefaßte Lebens-Beschreibung derer Lübeckischen Herren Superintendenten [...], davon der I. Theil vorstellet Hrn. H. B. Lübeck/Lpz. 1710. – Gustav Kawerau: H. B. In: RE. – Ellinger 2, S. 162. – Franz Flaskamp: Zur Reformationsgesch. des Hochstifts Osnabrück: H. B. Gütersloh 1951. – Olof Ahlers: H. B. In: NDB. – Heide Stratenwerth: Die Reformation in der Stadt Osnabrück. Wiesb. 1971. – Wolf-Dieter Hauschild: H. B.: In: BLSHL. – Vibeke Winge: Das mittelniederdt. evang. Gesangbuch König Friedrichs v. Dänemark. In: Nd. Jb. 107 (1984), S. 32–59. – W.-D. Hauschild: Leben u. Werk des Reformators H. B. (1504–1548). In: Quakenbrück. Von der Grenzfestung zum Gewerbezentrum. Zur 750-Jahr-Feier. Hg. Horst-Rüdiger Jarck. Quakenbrück 1985, S. 298–318. – Sabine Pettke: Des Lübecker Superintendenten H. B.’ Behelfskirchenordnung für Rostock v. Jahr 1533. In: Ztschr. der Savigny-Stiftung für Rechtsgesch. 104 (1987), S. 337–345 (mit Ed.). – Dies.: Ein Gutachten des Lübecker Superintendenten H. B. zur Reform der Univ. Rostock (1533). In: Schr.en des Vereins für Schleswig-Holstein. Kirchengesch., Reihe 2, Bd. 44 (1989), S. 93–97. – Petra Savvidis: H. B. Superintendent v. Lübeck (1504–1548). Sein kirchenpolit.organisator. Wirken u. sein praktisch-theolog. Schrifttum. Lübeck 1992 (mit. Lit.). – 450 Jahre Reformation in Osnabrück, a. a. O., passim. – Thomas Schmidt-Beste [Georg Karstädt] in: MGG 2. Aufl. Bd. 3, Sp. 352 f. – Martin H. Jung: Evang. Heiligenverehrung. Die Vorstellungen des Osnabrücker Reformators H. B. In: Jb. der Gesellsch. für Niedersächs. Kirchengesch. 102 (2004), S. 63–80. Reinhard Düchting / Red.

Bonsels, Waldemar, * 21.2.1880 Ahrensburg/Holstein, † 31.7.1952 Ambach/ Starnberger See; Grabstätte: Garten seiner Villa am Starnberger See. – Erzähler. B. wuchs in Ahrensburg, Berlin u. Kiel als Sohn eines Apothekers u. Zahnarztes auf. Als

Siebzehnjähriger entfloh er der Atmosphäre seines bürgerlich-pietistisch geprägten Elternhauses u. zog durch mehrere europ. Länder. 1901 arbeitete er in Karlsruhe in einer Buch- u. Kunstdruckerei, ließ sich dann aber zum Missionskaufmann ausbilden u. reiste 1903 im Auftrag der Baseler Mission nach Indien. Enttäuscht über die seiner Ansicht nach fragwürdigen Arbeitsmethoden dieser Gesellschaft, warf er ihr nach seiner Rückkehr aus Indien in einem offenen Brief (Mein Austritt aus der Baseler Missions-Industrie und seine Gründe. Mchn. 1904) die Koppelung von Missionsauftrag u. geschäftl. Gewinnstreben vor u. kündigte seinen Dienst. 1904 war er Mitbegründer eines Verlags in München, gab jedoch 1912 die begonnene Verlagsarbeit wieder auf, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Während des Ersten Weltkriegs hielt er sich als Kriegsberichterstatter in Galizien u. im Baltikum auf. Seit 1918 lebte er in Ambach am Starnberger See. Zu B.’ ersten Veröffentlichungen gehören die Erzählung Ave vita morituri te salutant (Mchn. 1906) u. die Romane Blut (Hbg. 1909) u. Die Toten des ewigen Krieges (Bln. 1911; seit 1917 u. d. T. Wartalun). Sie kreisen alle um das Thema der Befreiung aus der Enge des bürgerlich-pietist. Milieus u. um das Spannungsverhältnis zwischen Trieb u. Vernunft. 1912 erreichte er mit dem Natur- u. Tiermärchen Die Biene Maja und ihre Abenteuer (Bln. 1912 u. ö. Neuaufl. Mchn. 2007) den Höhepunkt seines Erfolgs. Eine mit individuellen menschl. Zügen ausgestattete Biene verlässt ihren heimatl. Bienenstock, gerät dabei in verschiedenste Abenteuer u. kann schließlich das eigene Volk vor der Vernichtung durch einen Hornissenschwarm retten. Die Biene Maja erlebte bis 1979 eine Gesamtauflage von 1,7 Mio. Exemplaren, wurde mehr als 150mal übersetzt u. mehrmals (zuerst 1924) verfilmt. Eindrücke von einem Aufenthalt in Indien legte B. in dem Bericht Indienfahrt (Ffm. 1916 u. ö. Zuletzt Zürich 1989) nieder, der die Konfrontation europäisch-christlicher Lebensauffassung mit dem Hinduismus u. Buddhismus spiegelt. In der Trilogie Aus den Notizen eines Vagabunden (Ffm. 1917–23. Neuaufl. Wien/Mchn. 1979) entwickelte B. seine

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kultur- u. religionsphilosoph. Anschauungen. Das seiner eigenen Einschätzung nach in dieser Hinsicht bedeutendste Werk, der weltanschaul. Roman Dositos (Mchn. 1943. 2. Aufl. u. d. T. Das vergessene Licht. Stgt. 1951. Zuletzt u. d. T. Der Grieche Dositos. Stgt. 1991), behandelt einen Stoff aus biblischer Zeit. Der Grieche Dositos kommt nach Jerusalem u. wird in neutestamentar. Ereignisse verwickelt. Die Begegnung mit der Lehre des Nazareners wird dabei für ihn zum Schlüsselerlebnis. Weitere Werke: Runen u. Wahrzeichen. Wuppertal 1947. – Wanderschaft zwischen Staub u. Sternen. Hg. Rose-Marie Bonsels. Bde. 1–10, Mchn. 1980. Literatur: Bibliografie: Otto Jordan: W. B. Bibliogr. Bohmstedt bzw. Mchn. 1977 [1978]. – Weitere Titel: Lini Hübsch-Pfleger: W. B. Eine biogr. Studie. In: Wanderschaft, a. a. O., Bd. 1, S. 9–65. – Rose-Marie Bonsels: W. B. im Spiegel der Kritik. Wiesb. 1986. – Dies.: Menschenbild u. Menschenwege im Werk v. W. B. Wiesb. 1988. – Roswitha Hentschel: Paula Ludwig u. W. B. Dokumente einer Freundschaft. Wiesb. 1994. – Helga Karrenbrock: Tagträume u. Kinderwünsche. Die ›Biene Maja‹ u. ihre mannigfaltigen Brüder u. Schwestern. In: Die Zoologie der Träume. Studien zum Tiermotiv in der Lit. der Moderne. Hg. Dorothee Römhild. Opladen 1999. Elisabeth Willnat / Red.

Bonstetten, Albrecht von ! Albrecht von Bonstetten Bonstetten, Karl Viktor von, auch: Charles-Victor de B., Bonstetten de Valeyres, * 3.9.1745 Bern, † 3.2.1832 Genf; Grabstätte: Valeyres-sous-Rances, Kanton Waadt. – Frühliberaler Staatsmann, Verfasser anthropologischer, archäologischer, landeskundlicher u. pädagogischer Schriften in deutscher u. französischer Sprache. B. stammte aus einem seit dem frühen 10. Jh. urkundlich erwähnten, mit den Habsburgern mehrfach liierten Freiherrengeschlecht, dessen Burg südlich von Zürich lag. Bedeutendster Vorfahre war der Humanist Albrecht von Bonstetten, Verfasser wichtiger chronikal. Werke, so der ältesten Beschreibung der Schweiz (1479). Während der Zürcher Famili-

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enzweig ausstarb, lebte die humanist. Tradition im Berner Zweig fort, vorzüglich in B. u. in dessen Enkel Gustav von Bonstetten, einem Archäologen von internat. Rang. Der Patrizier B. teilte mit seinem humanist. Ahnen die Urbanität, die er sich in Holland, England, Frankreich, Skandinavien u. Italien angeeignet hatte (er war schweizerisch-dän. Doppelbürger), ferner die (autodidaktisch erworbene) Vertrautheit mit den lat. Klassikern sowie einen ausgeprägten histor. u. ästhet. Sinn. Goethes Eckermann schildert B. als einen »Mann, der von Voltaire u. Rousseau herauf bis zu der Frau v. Staël u. Lord Byron mit aller Literatur des Jahrhunderts gelebt hat. Er besitzt eine grenzenlose Erfahrung u. eine besondere Gabe, die Eigenheiten verschiedener Personen durch die feinsten u. schärfsten Andeutungen einem anderen zu überliefern u. anschaulich zu machen« (Gespräch mit Goethe, 25. Nov. 1830). B.s attraktive Persönlichkeit, sein Erfahrungsreichtum u. sein zwischen Zeitaltern u. Kulturen vermittelnder Geist ließen ihn zu einem gesuchten Gesprächs- u. Briefpartner werden. Der großenteils überlieferte Briefbestand aus seinem europ. Korrespondentennetz bietet vielfältige Aufschlüsse über die Jahrzehnte zwischen 1760 u. 1830. B. war korrespondierendes Mitgl. der Akademien in Kopenhagen, Pisa, Neapel, Lyon sowie wiss. u. gemeinnütziger Gesellschaften. B.s Beobachtungsgabe, sein im Studium mit dem Genfer Naturforscher u. Psychologen Charles Bonnet entwickelter »art de l’observation« sowie sein volatiler Möglichkeitssinn bewährten sich in der staatsmännischen Praxis wie in seinen Studien in den Bereichen der Landeskunde (Briefe über ein schweizerisches Hirtenland. Der Teutsche Merkur 1781. Basel 1782), der klass. Archäologie (Voyage sur la scène des six derniers livres de l’Énéide. Genf 1804), der Psychologie (Recherches sur la nature et les lois de l’imagination. Genf 1807), der Nationalbildung (Über Nationalbildung Zürich 1802. Pensées sur divers objets de bien public. Genf 1815), der Anthropologie (L’homme du Midi et l’homme du Nord. Genf 1824. Études de l’homme. Genf 1821, dt: Philosophie der Erfahrung. Stgt. 1828), wobei sich diese Interessen stets miteinander verbanden.

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B. war kein systematischer Denker. Seine spräche, 1811–13. Hg. D. u. P. Walser-Wilhelm. veröffentlichten u. in Manuskripten überlie- Gött. 2005 ff. (auch in frz. Ausg.). Literatur: Aimé Steinlen: Charles-Victor de B. ferten Essays widerspiegeln ein Denken in »statu nascendi«, das sich philosophiege- Lausanne 1860. – Marie-L. Herking: Charles-Victor schichtlich zwischen den frz. »Idéologues«, de B. 1745–1832. Lausanne 1921. – Louis-G. Boursiac: Un essayiste et philosophe familier de der Schottischen Schule u. Kants Kritik der Coppet. Ch.-V. de B. et son œuvre française. Essai de reinen Vernunft bewegte u. durch seinen récréation psychologique et littéraire. Paris 1940. – »phénoménisme« in die Zukunft wies. Stefan Howald: Aufbruch nach Europa. K. V. v. B. Zweisprachig u. sprachkritisch, wie er war, 1745–1832. Leben u. Werk. Basel/Ffm. 1997. vermisste er noch im höchsten Alter eine anDoris Walser-Wilhelm / Peter Walser-Wilhelm gemessene Sprache: »Moi, j’aurais un plaisir immodéré à écrire dans une langue neuve qui Bopp, Franz, * 14.9.1791 Mainz, † 23.10. recevrait jusqu’aux moindres nuances de ma 1867 Berlin; Ehrengrab auf dem Dreifalpensée et me donnerait comme une glace pure tigkeitsfriedhof Berlin-Kreuzberg. – l’image la plus vraie de mon âme«. Um ihm Sanskritforscher u. Begründer der verals meditierendem u. spontan schreibendem gleichenden indogermanischen SprachBeobachter zu begegnen, sind (ähnlich wie wissenschaft. bei Maine de Biran) neben seinen veröffentlichten Schriften die überlieferten Manu- B. wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. skripte u. seine Korrespondenzen beizuzie- Sein Interesse an den Kulturen des Orients wurde durch den Aschaffenburger Universihen. B.s Schriften hatten eine oft unbemerkte tätslehrer Karl Joseph Windischmann geoder unterschätzte Nachwirkung, die unter weckt. Noch folgenreicher war die Lektüre der Zweisprachigkeit seines Œuvres litt. von Friedrich Schlegels Schrift Ueber die SpraSainte-Beuve widmete ihm 1860 in seinen che und Weisheit der Indier (Heidelb. 1808), Lundis drei hervorragende Studien, adoptierte welche die entscheidenden morpholog. u. strukturellen Übereinstimmungen der Spraihn als einen »aimable français du dehors« u. chen Sanskrit, Griechisch, Latein, Germawürdigte ihn zgl. als einen »esprit cosmoponisch u. Persisch thematisierte u. deren gelite, européen«. Die Vergleichende Literaturmeinschaftliche Abstammung, also Sprachwissenschaft, vor allem in den Bereichen des verwandtschaft, erwies. Unter dem Eindruck »Groupe de Coppet« sowie der frz., ital. u. der Lektüre Schlegels übersiedelte B. nach russ. Frühromantik, hat ihn so wenig verParis (1812–1816), dem damaligen »Mekka« gessen wie die Archäologie der röm. Camdeutscher Orientalisten. pagna oder die Geschichtsschreibung des euTrotz unzureichender Lehrmittel u. ohne rop. Frühliberalismus. Die seit 1996 erscheisystemat. Sanskritunterricht konzentrierten nende historisch-krit. Gesamtausgabe seiner sich seine Sprachstudien nach anfänglicher Korrespondenzen u. Schriften, auch der bisBeschäftigung mit dem Persischen u. Arabiher unveröffentlichten, belebt die Aufmerkschen auf die autodidaktische grammat. samkeit für diese hervorragende Persönlich- Analyse von Sanskrittexten. Diese schärfte keit im Übergang vom 18. zum 19. Jh. seinen Blick für die Sprachverwandtschaft u. Ausgaben: Werkausgabe: Bonstettiana. Hg. Doris führte zur Publikation der epochemachenden u. Peter Walser-Wilhelm u. a.: Hist.-krit. Ed. der Schrift Über das Conjugationssystem der SansBriefkorrespondenzen K. V. v. B.s u. seines Kreises, kritsprache in Vergleichung mit jenem der griechi1753–1832. Bern 1996–2000. Forts.: Gött. 2002 ff. schen, lateinischen, persischen und germanischen – Hist.-krit. Ed. v. K. V. v. B.s Schr.en. Bern Sprache (Ffm. 1816). Sie war trotz zeitbe1997–2000. Forts.: Gött. 2006 ff. – Online-Übersicht: www.bonstettiana.ch (zu beiden Reihen). – Aus- dingter Irrtümer der erste systemat. Vergleich wahl: Italiam! Italiam! Ein neuentdeckter K. V. v. B. des Verbalsystems indogermanischer SpraHg. D. u. P. Walser-Wilhelm. Bern 1995 (auch in chen u. gilt weitläufig als die Gründungsurfrz. u. ital. Ausg.). – Zeitgebirge. K. V. v. B., Mme de kunde der Indogermanistik. Das Werk entStaël, Friederike Brun, geb. Münter. Zwei Briefge- hält auch Episoden nebst Übersetzungen

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meist aus dem altind. Epos Maha¯bha¯rata. Auch in seinen späteren Vorlesungen versäumte B. es selten, literar. Texte zu behandeln. Während B.s Londoner Studienaufenthalt (1818–1820) wurde der damalige preuß. Gesandte Wilhelm von Humboldt sein engagierter Sanskritschüler, woraus sich ein nachhaltiges wiss. Zusammenwirken entwickelte. Bei der Erforschung der indogerman. Sprachen legte B. besonderes Gewicht auf die Erklärung der oft reichen Flexion dieser Sprachen. Während er im Conjugationssystem noch in der Tradition von Schlegels romantischer Entfaltungshypothese der grammat. Formen (»durch entsprechende Modifikation der Wurzel«, S. 18) bleibt u. die logizist. Annahme vertritt, »wie aber zuweilen das verbum abstractum [esse] mit der Stammsylbe ... verschmolzen wird« (ebd.), so folgt er schon im »Nachtrag« zum Conjugationssystem der sog. Zusammensetzungs- (oder Agglutinations-)Theorie, d.h. dem Hinzutreten ursprünglich selbstständiger (pronominaler) Elemente an die Wortwurzel. Diese theoret. Umorientierung bestimmt die Analytical Comparison von 1820, eine Art Neukonzeption des Conjugationssystems, mit der sich B. in offene Konfrontation zu Schlegel begibt. Humboldt vertrat nachdrücklich die Agglutinationstheorie. Erst 1820 in Göttingen h. c. promoviert, wurde B. auf Veranlassung Humboldts am 1. Dez. 1821 zum a. o. Prof. für Orientalische Literatur u. allgemeine Sprachkunde an die Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin berufen. Nach der Aufnahme in die Preußische Akademie (1822) wurde er 1825 zum o. Prof. ernannt. Zu B.s zentralen Schriften zählen seine Akademieabhandlungen. Theoretisch bedeutsam sind seine Studien über die Pronomina, die er, zeitgenössischen sowie altind. Grammatikervorstellungen gemäß, als einsilbige Wurzeln auffasste (neben den ebenfalls einsilbigen »Verbal«-Wurzeln, den Trägern der lexikal. Bedeutungen) u. in agglutinierender Weise zur Erklärung der Flexion nutzte. Seine »Anatomie« der Sprachformen wandte B. auf weitere indogerman. Sprachen an (Keltisch u. Litauisch). Er sah das Sanskrit

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nunmehr als eine »Schwestersprache der verwandten Europäischen« (Lpz. 1972, S. 33), eine relativierende Sicht, ohne aber die Rekonstruktion einer Grundsprache zu versuchen. Unterschiede zwischen den Sprachen werden noch nicht durch rekurrente Lautentsprechungen, sondern oft spekulativ (als »Lautunterdrückungen«, »Entartungen« u. a.) behandelt, was zu fatalen Fehlgriffen bei der Vergleichung von nicht indogermanischen malayisch-polynes. u. kaukas. Sprachen führte. Bedeutsam war seine letzte Abhandlung (1855) zum indorgerman. Charakter des Albanischen. B.s wichtigstes Werk ist die Vergleichende Grammatik des Sanskrit, Zend, Griechischen, Lateinischen, Litthauischen (Altslavischen ab 2. Abt.), Gothischen und Deutschen (6 Abt.en, 1. Aufl. Bln. 1833–52. 2. umgearbeitete u. erw. Aufl. 1856–60. 3. Aufl. postum 1868–71). Darin geht es zunehmend um den Nachweis des den Sprachen gemeinsamen Formengutes, das B. »organisch« nennt, neben den einzelsprachlichen »unorganischen« Neuerungen. B. sucht das Identische in der Vielfalt der Erscheinungen, u. hierin offenbart sich die eigentliche histor. Dimension in seinem Denken u. Schaffen. Die bis heute umstrittene Theorie einer indogerman. Grundsprache ebenso wie die systemat. Erforschung der histor. Phonologie (Lautlehre) des Indogermanischen waren das Werk Nachfolgender. B. wirkte für die Verbreitung des Sanskrit als Hochschulfach. Seine Lehrbücher, Texteditionen, Grammatiken u. Wörterbücher dienten als unentbehrliche Studiengrundlage der jungen Disziplin. B.s epochales Verdienst für die Indogermanistik war der Aufweis des indogerman. Charakters der Sprachen, die er noch »indoeuropäisch« nannte. Weitere Werke: Analytical Comparison of the Sanskrit, Greek, Latin and Teutonic Languages [...]. In: Annals of Oriental Literature. London 1820, S. 1–64. – Kleine Schr.en zur vergleichenden Sprachwiss. Lpz. 1972 (danach zit.). Unveränderter Nachdr. Abh.en u. Sitzungsber.e der Kgl. Akademie der Wiss. Bln. 1824–54 (darin u. a. Schr.en zu den Pronomina, zum Keltischen, zu malayisch-polynes. Sprachen, zum Georgischen sowie zum Litauischen u. Albanischen). – Vergleichendes Accentuations-

Boppe system nebst einer gedrängten Darstellung der grammat. Übereinstimmungen des Sanskrit u. Griechischen. Bln. 1854. – Lehrbezogene Werke: Ausführl. Lehrgebäude der Sanskrita-Sprache. Bln. 1827. – Grammatica critica linguae Sanscritae. 2. erw. Aufl. Bln. 1832. – Krit. Grammatik der Sanskrita-Sprache in kürzerer Fassung. Bln. 1834 u. ö. – Glossarium Sanscritum. Bln. 1830 (ab 2. Aufl. auch lexikal. Vergleiche mit anderen indogerman. Sprachen). Literatur: Salomon Lefmann: F. B., sein Leben u. seine Wiss. 1. u. 2. Hälfte. Nachtr.: Briefw. F. B. u. W. v. Humboldt. Bln. 1891–97. – Berthold Delbrück: Einl. in das Studium der indogerman. Sprachen. Lpz. 61919, S. 61–82. – Thomas A. Sebeok: Portraits of Linguists. Bd. 1, Bloomington/ London 1966 (Aufsätze zu B. v. Russel Martineau, August Leskien, Peter A. Verburg). – Günter Neumann: Indogerman. Sprachwiss. 1816 [u. 1866]. Innsbrucker Beitr. zur Kulturwiss. Sonderh. 24. Innsbr. 1967. – Hans Arens: Sprachwiss. Der Gang ihrer Entwicklung v. der Antike bis zur Gegenwart. Bd. 1, Freib. i. Br./Mchn. 1969, S. 175–179, 218–227. – T. A. Amirova u. a.: Abriß der Gesch. der Linguistik. Lpz. 1980, S. 238–246. – Reinhard Sternemann: F. B. u. die vergleichende indoeurop. Sprachwiss. Innsbrucker Beitr. zur Sprachwiss. Vorträge u. kleinere Schr.en 33. Innsbr. 1984 (mit Verz. aller Berliner Lehrveranstaltungen). – B.Symposium 1992 der HU zu Berlin. Hg. R. Sternemann. Heidelb. 1994. Reinhard Sternemann

Boppe, zweite Hälfte des 13. Jh. – Sangspruchdichter. B. gehört zu den profilierteren »kleineren« Autoren der Sangspruchdichtung in der zweiten Hälfte des 13. Jh. Wir besitzen kein hist. Zeugnis, doch lassen sich, aufgrund historischer Bezüge in seinen Sprüchen, seine Wirkungszeit auf die 80er u. 90er Jahre des 13. Jh. u. sein Wirkungsraum auf das süddt. Gebiet eingrenzen. 1287 oder kurz danach entstand I.21 (Bitte um das Seelenheil Konrads von Würzburg, † 1287). IV.1 muss zwischen 1283 u. 1290 verfasst worden sein; auf die bad. Markgrafen Rudolf I. († 1288) bzw. Hermann VII. († 1291), auf die hier angespielt wird, bezieht sich auch I.20, auf Rudolf von Habsburg († 1291) evtl. auch I.8 u. II.1. Die Reimbelege lassen keine gesicherte dialektale Einordnung zu.

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Als literar. Eigentum B.s können am ehesten die in den älteren Handschriften überlieferten Sprüche in Ton I, der später »Hofton« genannt wird, gelten: Große Heidelberger Liederhandschrift C (20 Sprüche, mit Autorenbild); Jenaer Liederhandschrift J (18 Sprüche, zwölf davon auch in C, mit Melodie); bereits durch C u. J bekannte Sprüche finden sich außerdem in der Niederrheinischen Liederhandschrift (zwei Sprüche) u. Basel, UB, B XI 8 (ein Spruch). Basel, N I 3, Nr. 145 überliefert sechs Sprüche, drei davon befinden sich auch in C bzw. J; ein aus J bekannter Spruch findet sich nochmals im Fragment Berlin, Mgq 795, das einen weiteren Spruch enthält, von dem eine lat. Umdichtung zweifach überliefert ist. Es sind somit 30 altüberlieferte Sprüche in Ton I erhalten. Daneben findet sich eine breite Überlieferung des Hoftons in den späteren Meisterliederhandschriften; die umfangreichste bietet die Kolmarer Liederhandschrift mit ca. 190 Strophen. Diese stammen wohl größtenteils aus dem 14. u. 15. Jh., doch ist völlige Sicherheit darüber nicht zu erlangen. Die anderen sieben, nur in C überlieferten, Töne (20 Strophen) entsprechen – abgesehen von Ton VIII – anderweitig bekannten Tönen: Marners Langem Ton, Meißners Ton I, Stolles Alment, Klingsors Schwarzem Ton, Frauenlobs Grünem Ton u. Gasts Ton. Man kann annehmen, dass selbst in C unter B.s Namen Strophen verschiedener Autoren überliefert sind. Die Sprüche befassen sich mit politischen, moral. u. theolog. Fragen u. decken fast das ganze themat. Spektrum der mhd. Sangspruchdichtung ab. Neben Herrscherpreis u. -mahnung, Klage des Fahrenden, Marien-, Gottes- u. Frauenpreis liegt der Schwerpunkt auf anaphor. Explikationen höf. Tugenden u. Laster (»milte«, »kerge«, »barmunge«, »zucht«, »unzucht«, »triuwe«) sowie moral. Natur- bzw. Tierallegorese (Galadrius, Taphart, Pardus, Antilapus; der Stein Kamahu, der Komet). Mehrfach finden sich Rätsel (I.16, I.8, V.1), häufig Namenskataloge (I.9, I.19, I.20). Priamelartig zugespitzte Einzelstrophen werden gleichermaßen zum Lob der Geliebten, des Geldes, der Huld Gottes, Konrads von Würzburg u. der holstein. Stormarn verwendet. Abgesehen von V.2–6 (eine

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an Tannhäusers Lied X anknüpfende Verspottung des Minnedienstes) u. VII (Preis der »barmunge« mit mehrfachen Berufungen auf »des küniges Tirols buoch«) herrscht bei den unter B.s Namen überlieferten Tönen das Prinzip der thematisch abgeschlossenen Einzelstrophe vor. Die Bekanntheit seiner Dichtung u. seines Namens auch noch in späteren Jahrhunderten deutet darauf hin, dass seine Sangspruchdichtung bei Zeitgenossen u. Nachfahren beliebt war. Ein bei Berthold von Regensburg († 1272) u. in den Baseler Annalen zum Jahr 1270 früh bezeugter »starker« B. ist vermutlich nicht der Dichter. Sichere Belege für die Verbindung von Stärke u. Dichtertum finden sich erst ab dem 14. Jh. z.B. im Autorenbild von C (Bl. 418r; der der SimsonIkonographie entsprechend dargestellte B. biegt mit bloßen Händen ein Hufeisen auseinander) u. in Konrads von Megenberg »Buch der Natur« (1349). Den Meistersängern ist B. als Erfinder des von ihnen häufig benutzen Hoftons bekannt u. gilt als einer der zwölf Begründer ihrer Kunst: Um 1350 erscheint B. in der Liste »Von allen singern« von Lupold Hornburg. Danach begegnet B.s Name mehrfach in jüngeren Meister-Katalogen u. in der Meisterlieder-Überlieferung. Ausgabe: Heidrun Alex: Der Spruchdichter B. Ed. – Übers. – Komm. Tüb. 1998. Literatur: Gisela Kornrumpf: B. In: VL. – RSM 3 (1986), S. 209–245. – Alex 1998 (s. o.). – Jens Haustein: Beiläufiges zu sechs B.-Liedern. In: ZfdPh 119 (2000), S. 197–207. – Johannes Spicker: Geograph. Kat.e bei B. Ebd., S. 208–221. – Michael Baldzuhn: Vom Sangspruch zum Meisterlied. Tüb. 2002, passim. – Shao-Ji Yao: Der Exempelgebrauch in der Sangspruchdichtung vom späten 12. Jh. bis zum Anfang des 14. Jh. Würzb. 2006, S. 108–111 u. passim. Heidrun Alex

Borchardt, Rudolf, * 9.6.1877 Königsberg, † 10.1.1945 Trins/Tirol; Grabstätte: ebd. – Lyriker, Erzähler, Essayist, Übersetzer, Redner. Einer Königsberger Kaufmannsfamilie jüd. Herkunft entstammend, wuchs der Sohn des Bankiers Robert Borchardt in Berlin auf, wo die Familie seit 1882 lebte. Da seine Leis-

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tungen am Französischen Gymnasium nicht ausreichten, wurde er in die Obhut des Gymnasialprofessors F. Witte gegeben, der ihn an den Königlichen Gymnasien in Marienburg/Westpreußen u. Wesel/Rheinland »in den Traditionen evangelischen Lebens und der Treue gegen den König« (so B. in: »Der Ring«. Jg. 2, 1929, H. 10, S. 185) erzog. Ab 1895 studierte B. zunächst in Berlin u. dann in Bonn v. a. klass. Philologie u. Archäologie. In dieser Zeit erfuhr er entscheidende geistige Prägungen durch die Lektüre der Schriften Herders u., im Febr. 1898, durch die Begegnung mit dem Frühwerk Hugo von Hofmannsthals. Bleibende Eindrücke hinterließ auch das Werk Stefan Georges; B.s lebenslange Auseinandersetzung mit George kulminierte 1936 in einer bitteren polem. Abrechnung mit dessen Leben u. Werk (Aufzeichnung Stefan George betreffend. Aus dem Nachl. hg. u. erl. v. Ernst Osterkamp. Mchn. 1998). Im Nov. 1898 setzte B. sein Studium in Göttingen fort u. begann dort mit der Arbeit an einer Dissertation über die Gattungen der griech. Lyrik, die aber nie abgeschlossen wurde. Seit 1899 entstanden unter dem Einfluss Hofmannsthals, Georges u. der großen engl. Dichter des 19. Jh. (Algernon Charles Swinburne, Robert Browning, Dante Gabriel Rossetti) in dichter Folge die Jugendgedichte (Privatdr. Lpz. 1913. Erste öffentl. Ausg. Bln. 1920), in deren aus äußerster Formenstrenge u. einer rauschhaft-entgrenzenden Sprachgewalt spannungsvoll gefügten lyr. Gebilden die komplexen Seelenzustände des jungen B. Gestalt fanden. Nach schweren Krisen (gefährl. Erkrankung im Febr. 1901, im Jahr darauf Bruch mit dem Vater) gab B. den Plan einer Universitätslaufbahn auf u. führte jahrelang ein unstetes Wanderleben in Italien. 1906, nach seiner Heirat mit der Malerin Karoline Ehrmann, ließ sich B. auf Dauer in Italien, in der Umgebung Luccas, nieder. B. kehrte 1914 nach Deutschland zurück, um am Ersten Weltkrieg im Heeresdienst teilzunehmen. Nach der Scheidung seiner ersten Ehe (1919) u. der Heirat mit Marie Luise Voigt (1920), einer Nichte Rudolf Alexander Schröders (aus der Ehe gingen vier Kinder hervor), siedelte B. erneut nach Italien

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über, von wo ihn nur noch seine Vortragsreisen (bis 1933) nach Deutschland führten. Im Aug. 1944 wurde B. mit seiner Familie verhaftet u. nach Innsbruck transportiert. In dem Fragment gebliebenen Text Anabasis hat B. noch kurz vor seinem Tode über diese Ereignisse zu berichten versucht (Anabasis: Aufzeichnungen, Dokumente, Erinnerungen 1943–1945. Hg. Cornelius Borchardt in Verb. mit dem Rudolf-Borchardt-Archiv. Mchn. 2003). In Trins am Brenner, wo die Familie unterkam, starb B. am 10.1.1945 an einem Schlaganfall. Vom literar. Leben seiner Zeit abgewandt, entwickelte B. in seinem freiwilligen Exil in Italien das Programm einer dichter. Erneuerung der auf der griechisch-latein. Antike u. dem europ. MA beruhenden kulturellen Überlieferung. Sein Traditionsbewusstsein versetzte ihn in Opposition zu den entscheidenden Bewegungen der literar. Moderne, sei es zu den im George-Kreis vertretenen Konzeptionen einer »poesie pure«, sei es zu der Formzertrümmerung des Expressionismus. Während B. in seiner Jugend auf die Publikation seiner Werke verzichtete – abgesehen vom seltenen Erscheinen seiner Gedichte in Privatdrucken u. in der »Insel« –, drängte er seit 1905 entschieden an die Öffentlichkeit: mit dem seine künstlerische Formauffassung u. seine Übersetzungstheorie begründenden Gespräch über Formen und Platons Lysis deutsch (Lpz. 1905), der Rede über Hofmannsthal (Lpz. 1905) u. der öffentl. Ausgabe des in der Sprache der Lutherbibel erzählten Buchs Joram (Lpz. 1907. Privatdr. Basel 1905). Das gemeinsam mit seinen Freunden Hugo von Hofmannsthal u. Rudolf Alexander Schröder herausgegebene Jahrbuch Hesperus (Lpz. 1909) brachte u. a. B.s Kritik an Stefan Georges Siebentem Ring u. erste Proben seiner Übersetzung von Dantes Commedia; der ganze in ein von B. erfundenes vorlutherisches Oberdeutsch übersetzte Dante deutsch erschien 1930 in München. Ein breiteres, wenn auch nie großes Publikum erreichte B. erst nach dem Ersten Weltkrieg. Seit 1920 brachte er seine Schriften im Ernst Rowohlt Verlag heraus (von zwölf geplanten Bänden erschienen sieben, daneben mehrere Einzelausgaben). Zgl. entfaltete er

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als einer der wirkungsmächtigsten Redner seiner Zeit an Themen der Dichtung, der kulturellen Überlieferung u. der Politik sein Programm einer »schöpferischen Restauration« der dt. Nation u. Kultur aus dem Geist einer in Antike, MA u. Romantik gründenden Poesie. Im Zeichen einer Erneuerung der geistigen Überlieferung stand auch B.s Mitarbeit im Verlag »Bremer Presse« (Mchn.) seit 1912. Hier stellte er mit kanonischem Anspruch eine Folge von Anthologien zusammen (Deutsche Denkreden. Mchn. 1925. Ewiger Vorrat deutscher Poesie. Mchn. 1926. Der Deutsche in der Landschaft. Mchn. 1927). Von zentraler Bedeutung für B.s Programm einer »schöpferischen Restauration« war sein Übersetzungswerk, das er als sprachschöpferische Erneuerung der abendländ. Tradition verstand (Tacitus: Deutschland. Mchn. 1922. Altionische Götterlieder. Mchn. 1924. Die großen Trobadors. Mchn. 1924. Hartmann von Aue: Der Arme Heinrich. Mchn. 1925). Aber auch seine eigene dichter. Produktion verband B. mit dem Anspruch, in einer Zeit umfassenden Formzerfalls mit jedem Werk ein Muster seiner Gattung zu schaffen: so in der Lyrik (Die Schöpfung aus Liebe. Bln. 1923. Vermischte Gedichte. Bln. 1924), mit Verserzählungen (Der Durant. Bln. 1920), im Drama (Verkündigung. Bln. 1920. Pamela. Mchn. 1934), in zeitkrit. Erzählungen (Das hoffnungslose Geschlecht. Bln. 1929), im Roman (Vereinigung durch den Feind hindurch. Wien 1937) u. im Essay (Handlungen und Abhandlungen. Bln. 1928). B.s selbstgestellter Lebensaufgabe, in grundsätzl. »Gegnerschaft gegen den modernen Zeitgeist« an einer »Restauration deutscher Kulturtotalität aus ihren gesamten geschichtlichen Beständen« (R. B., Alfred Walter Heymel, Rudolf Alexander Schröder. Eine Ausstellung des DLA im Schiller-Nationalmuseum. Marbach 1978, S. 391) zu wirken, setzte die nationalsozialist. Machtergreifung ein Ende. Von fast allen Publikationsmöglichkeiten abgeschnitten, widmete er sich seit 1933 in Italien weiterhin seinen historischen (Pisa. Zürich 1938) u. philolog. Studien u. arbeitete an einem großen Gartenbuch (Der leidenschaftliche Gärtner. Postum Zürich 1951). B.s im Widerstand zu den geschichtl. Bewegungen seiner Zeit u. den literar. Ent-

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wicklungen der Moderne entstandenes viel- würfe. 1901–20. Hg. Friedhelm Kemp u. Gerhard schichtiges Werk hat seinen Ursprung in der Schuster. Marbach 1985. – Briefe. Hg. G. Schuster dt. Universitätskultur des 19. Jh.: »Ich bin, u. Hans Zimmermann. 6 Bde., Mchn./Wien nicht nur als wissenschaftlicher Arbeiter, 1995–2002. – R. B. – Hugo v. Hofmannsthal: Briefw. Bearb. v. G. Schuster. Mchn./Wien 1994. – sondern auch als Dichter der dankbare Sohn R. B. – Rudolf Alexander Schröder: Briefw. 2 Bde., der aus dem Geiste der Romantik wiederge- Mchn./Wien 2001. – Die Entdeckung Amerikas. R. borenen deutschen Universität« (Gesammelte B. u. Edna St. Vincent Millay. Gedichte, ÜbertraWerke in Einzelbänden. Prosa VI. Stgt. 1990, gungen, Ess.s. Hg. G. Schuster. Mchn. 2004. S. 200). B.s Werk, in dem Dichtung u. ForLiteratur: Werner Kraft: R. B. Welt aus Poesie schung, Übersetzung u. polit. Rede gleich- u. Gesch. Hbg. 1961. – Hans-Georg Dewitz: ›Dante gewichtig nebeneinander stehen, will in sei- deutsch‹. Studien zu R. B.s Übertragung der ›Dinem strengen Traditionsbezug als ein Ganzes vina Commedia‹. Göpp. 1971. – Theodor W. aufgefasst sein: als der Versuch einer geisti- Adorno: Die beschworene Sprache. In: Ders.: Noten gen Wiederherstellung geschichtlich verloren zur Lit. 4. Ffm. 1974, S. 63–89. – Hildegard Humgegangener kultureller Einheit, wie sie ihm mel: R. B. Interpr.en zu seiner Lyrik. Ffm./Bern in der Welt der griech. Antike u. des europ. 1983. – R. B. 1877–1945. Referate des Pisaner Colloquiums. Hg. Horst Albert Glaser in Verb. mit MA vor Augen stand. In seinem dichter. Enrico De Angelis. Ffm. u. a. 1987. – Susanne Selbstverständnis berief B. sich in antiker Hofmann: Bildung u. Sehnsucht. Untersuchungen Tradition auf die Idee des mit prophetischem zum Mittelalterbild R. B.s. Paderb. u. a. 1995. – Seherblick göttlich begnadeten »poeta vates« Ernst Osterkamp (Hg.): R. B. u. seine Zeitgenossen. u. begründete das Dichterische in Inspiration Bln./New York 1997. – R. B. Verz. seiner Schr.en. u. urspr. Schöpferkraft. Dennoch gehört er als Bearb. v. Ingrid Grüninger in Verb. mit Reinhard ein »poeta doctus«, der sich seiner Distanz zu Tgahrt. Marbach 2002. – Kai Kauffmann (Hg.): den zurückzugewinnenden Traditionsbe- Dichter. Politik. Studien zu R. B. Bern u. a. 2002. – ständen stets bewusst war, ganz der Moderne Ders.: R.B. u. der ›Untergang der dt. Nation‹. Selbstinszenierung u. Geschichtskonstruktion im an. In seiner Lyrik spiegelt sich dieser Wiessayist. Werk. Tüb. 2003. – Alexander Kissler: ›Wo derspruch in dem spannungsvollen Ineinan- bin ich denn behaust?‹ R. B. u. die Erfindung des der von bewusster Formenstrenge u. klang- Ichs. Gött. 2003. – Meike Steiger: Textpolitik. Zur magischer Sprachmusik, von hochgespann- Vergegenwärtigung v. Gesch. bei R. B. Würzb. tem Stilwillen u. eruptivem Gefühlsaus- 2003. – Frank Hofmann: Sprachen der Freunddruck. Als einer der großen dt. Prosaautoren schaft. R. B. u. die Arbeit am ästhet. Menschen. dieses Jahrhunderts erweist sich B. v. a. in Mchn./Paderb. 2004. – K. Kauffmann (Hg.): Das seinen Essays, deren sprachl. Reichtum u. wilde Fleisch der Zeit. R. B.s Kulturgeschichtsderen Fähigkeit zur sinnl. Evokation von schreibung. Stgt. 2004. – Ernst A. Schmidt: R. B.s Gestalten, Landschaften u. geschichtl. Situa- Antike. Heroisch-trag. Zeitgenossenschaft in der Moderne. Heidelb. 2006. Ernst Osterkamp tionen schon früh gerühmt wurden. Als Übersetzer schließlich, der sich die Schließung der Brüche in der kulturellen Überlie- Borchers, Elisabeth, * 27.2.1926 Homferung Deutschlands zur Aufgabe gesetzt berg/Niederrhein. – Lyrikerin, Erzählehatte, hat B. dem dt. Publikum – von diesem rin, Kinderbuchautorin. freilich nahezu unbemerkt – in einer großen sprachschöpferischen Leistung ein Spektrum B. wuchs im Elsass auf u. lebte längere Zeit in abendländ. Poesie erschlossen, das sich von Frankreich u. den USA, bis sie 1959 MitarSappho u. Pindar über die Provenzalen u. beiterin von Inge Aicher-Scholl an der HochDante bis hin zu Swinburne u. Edna St. Vin- schule für Gestaltung in Ulm, 1960 Lektorin beim Luchterhand Verlag u. 1971 bei Suhrcent Millay erstreckt. Ausgaben: Schr.en. 7 Bde., Bln. 1920–24. – Ges. kamp u. Insel wurde. Daneben ist sie als Werke in Einzelbdn. 14 Bde., Stgt. 1955–90. – Übersetzerin tätig u. gab bislang mehr als ein Scritti italiani e italici. Hg. Marianello Marianelli. Dutzend Anthologien heraus, darunter moMailand/Neapel 1971 (mit ausführl. Bibliogr. v. derne Märchen deutscher Dichter (von Oskar Marlis Ingenmey). – Vivian. Briefe. Gedichte. Ent- Panizza bis Wolf Wondratschek. Ffm. 1972.

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1993) u. Das Insel-Buch der Träume (Ffm. und Spiele. Neuwied/Bln. 1965), 1967 den 1975). Ihrem ersten Kinderbuch Bi, Be, Bo, Ba, Kulturpreis der Deutschen Industrie u. 1976 Bu – Die Igelkinder (zus. mit Dietlind Blech. die Roswitha-Medaille der Stadt GandersHbg. 1962. Mchn. 81983) folgten zahlreiche heim u. 1986 den Friedrich-Hölderlin-Preis weitere. Für Heute wünsch ich mir ein Nilpferd der Stadt Bad Homburg v. d. Höhe. 1996 (zus. mit Wilhelm Schlote. Ffm. 1975) erhielt wurde ihr das Große Bundesverdienstkreuz verliehen. B. ist Mitgl. der Akademie der B. den Deutschen Jugendbuchpreis 1976. B.’ erste gedichte (Neuwied/Bln. 1961) sind Wissenschaften und der Literatur in Mainz, im Stil märchenhafter Erzählung gehalten u. des PEN-Zentrums der Bundesrepublik folgen der kindl. Fantasie, selten unterbro- Deutschland u. der Deutschen Akademie für chen von distanzierender Reflexion. Am Sprache und Dichtung in Darmstadt. 2003 20.7.1960 erschien in der »Frankfurter All- übte sie die Poetik-Dozentur der Universität gemeinen Zeitung« ihr Gedicht eia wasser Frankfurt/M. aus. regnet schlaf (in: gedichte). Es löste eine heftige Weitere Werke: Der Tisch an dem wir sitzen. Leserbriefdebatte über den Text, die Autorin Neuwied 1967 (L.). – Eine glückl. Familie. Neuwied u. über die Frage aus, was künstlerisch zeit- 1970 (vier Prosastücke über das Leben in den USA gemäß sei. Die einen sprachen von »entarte- u. in der BR Dtschld.). – Gedichte. Ffm. 1976 ter Kunst«, die anderen von einem »vollen- (Ausw. aus den beiden ersten Bdn. u. 34 neue, deten Gedicht«. In ihrer Antwort (in: FAZ, ausgew. v. Jürgen Becker). – Wer lebt. Ffm. 1986 (L.). – Von der Grammatik des heutigen Tages. Ffm. 10.8.1960) stellte B. ihr Gedicht in die Tra1992 (L.). – Was ist die Antwort. Ffm. 1998 (L.). – dition der modernen Kunst: »Wie es der Alles redet, schweigt u. ruft. Ges. Gedichte. Ausneuen Malerei [...] darum zu tun ist, die gew. u. mit einem Nachw. v. Arnold Stadler. Ffm. Farbe ihrer eigenen Realität zurückzugeben, 2001. – Eine Gesch. auf Erden. Ffm. 2002 (L.). – [...] geht es der Literatur [...] darum, die Lichtwelten. Abgedunkelte Räume. Frankfurter Sprache ihrer eigenen Realität zurückzuge- Poetikvorlesungen. Ffm. 2003. ben.« Gedichten ist es erlaubt, »der Realität Literatur: Peter Wapnewski: Fisch u. Feuer, [...] zu entfliehen, ihre eigene unnütze Rea- Stier u. Stadt. Zu E. B.’ Gedicht ›chagall‹. In: Gelität zu finden, und sei es die des Traums«. In dichte u. Interpr.en 6. Hg. Walter Hinck. Stgt. gedichte erschien aber auch bereits das Gedicht 1982, S. 241–250. – Wulf Segebrecht: E. B. In: LGL. spielzeug, das diese Poetologie hinter sich lässt – Magdalene Heuser: E. B. In: KLG. Walther Kummerow / Red. u. das Ende der Realitätsflucht ankündigt: »einmal werde / ich müde sein / vom singen / vom spielen / mein pferdchen / mein liedchen Borchert, Wolfgang, * 20.5.1921 Ham/ dann bring ich euch um.« Anstatt mit der burg, † 20.11.1947 Basel; Grabstätte: »eigenen Realität der Sprache« zu spielen, Hamburg, Ohlsdorfer Friedhof. – Verfaswidmen sich B.’ Gedichte in den folgenden ser von Kurzgeschichten, Dramen, Lyrik Jahren mehr der Reflexion der schmerzhaft u. einem Hörspiel. erfahrenen Realität u. der Verluste des Lebens. Sowohl thematisch als auch formal u. Der Sohn einer niederdt. Heimatschriftstelsprachlich haben B.’ Gedichte ein breites Re- lerin u. eines Volksschullehrers verließ nach gister, in dem viele Traditionslinien der dt. der Obersekunda im Dez. 1938 die OberrealLyrik seit der Romantik anklingen. B. ist eine schule in Hamburg-Eppendorf, wurde BuchPoeta docta, deren literar. Schulung sich händlerlehrling u. Schauspielschüler. Nach freilich nicht aufdringlich zeigt. Sie berührt bestandener Schauspielprüfung gab er die in ihren Gedichten vielfach aktuelle Themen, Lehre auf u. arbeitete ab März 1941 als wird aber nicht parteilich oder agitatorisch, Schauspieler an der »Landesbühne Osthansondern wahrt eine kritisch-reflektierende nover« in Lüneburg. Im Juni 1941 wurde er Distanz. zur Wehrmacht eingezogen u. bis 1943 an der B. erhielt 1965 den Erzählerpreis des Süd- Ostfront eingesetzt. Eine Anklage wegen deutschen Rundfunks für die Funkerzählung Selbstverstümmelung – B. hatte eine SchussRue des Pompiers (gedr. in: Nacht aus Eis. Szenen verletzung an der linken Hand – u. Denun-

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ziationen wegen regimefeindl. Äußerungen brachten ihm längere Gefängnisaufenthalte ein: 1942 viereinhalb Monate in Nürnberg u. 1944 neun Monate in Berlin-Moabit. Im Sept. 1944 wurde er zur »Feindbewährung« entlassen u. im März 1945 bei Frankfurt/M. von frz. Truppen gefangen genommen. Auf dem Transport gelang ihm die Flucht. Sie führte ihn im Mai 1945 wieder nach Hamburg. Hier trat er kurze Zeit in einem Kabarett auf. Seine Absicht, als Schauspieler u. Regieassistent zu arbeiten, wurde durch sein zunehmend schwerer werdendes Leberleiden unmöglich gemacht. Die Krankheit fesselte ihn ab Spätherbst 1945 bis zum Tod fast völlig ans Bett. Die letzten acht Wochen lag B. im Clara-Spital in Basel. Auf dem Krankenlager entstanden ab Jan. 1946 in rascher Folge Prosatexte; eine erste Sammlung erschien u. d. T. Die Hundeblume (Hbg. April 1947. Reinb. 1995 u. ö. Übers.en ins Serbokroatische u. Rumänische) u. eine zweite Sammlung mit dem Titel An diesem Dienstag (postum veröffentlicht Hbg. Nov. 1947. Übers. ins Katalanische). Zwischen Sept. 1946 u. Juni 1947 schrieb B. auch in drei Arbeitsschritten (Schauspiel/Hörspiel/Schauspiel) das Stück Draußen vor der Tür (Hbg. 1947. Neuausg., zus. mit anderen ausgew. E.en u. einem Nachw. v. Heinrich Böll. Hbg. 1956. Reinb. 1999), dem Ernst Schnabel, Chefdramaturg des Hörspiels im NWDR, den Titel gab. Es wurde am 13.2.1947 mit großer Resonanz vom NWDR als Hörspiel gesendet u. einen Tag nach B.s Tod in den Hamburger Kammerspielen als Schauspiel uraufgeführt. Eine Auswahl von Gedichten aus den Jahren 1940–1945 erschien im Dez. 1946 u. d. T. Laterne, Nacht und Sterne (Hbg. Neuausg. Lpz. 2002). B. hatte schon als Jugendlicher gedichtet. Drei ästhetisch nur schwer einzuordnende Stücke u. einige seiner zahlreichen Gedichte sind erhalten. Diese sind abhängig von vielerlei Leseeindrücken zwischen Rilke u. Ringelnatz. Als individuell u. stilbildend erweisen sich B.s Prosatexte der letzten beiden Jahre. Es sind Kurzgeschichten verschiedener Muster; dazu gehörten der Situationsausschnitt statischen Charakters (Die Krähen fliegen abends nach Hause), die Zustands- u. Vorgangsbe-

Borchert

schreibung mit verfremdendem Gestus (Die Kegelbahn), die handlungszentrierte Erzählung mit innerem Wendepunkt (Nachts schlafen die Ratten doch; Holz für morgen), die Simultaneitätserzählung, deren Pointe gerade im Nichtformulierten, im unausgesprochenen Zusammenhang zwischen dem zeitlich Gleichen u. räumlich Entfernten liegt (An diesem Dienstag). Daneben stehen kabarettistisch zugespitzte Kurztexte mit polemischpolitischer Intention (Lesebuchgeschichten), Gefühls- u. Gedankenprotokolle gleitender Perspektive (Die lange lange Straße lang), manifestartige Bekenntnisse (Generation ohne Abschied; Das ist unser Manifest) u. der pazifist. Appell (Dann gibt es nur eins!). Der Bestand an Stoffen, Schauplätzen u. Figurationen in B.s Werk ist begrenzt. Seine Erzählungen spielen im Krieg u. in der kriegsversehrten Nachkriegszeit, im Gefängnis, an der russ. Winterfront u. in der poetisierten, oft hymnisch in ihren Ambivalenzen gefeierten Großstadt, die nicht selten bei ihrem Namen, Hamburg, genannt wird. Sie handeln von Ausgesetzten, fast immer von Männern, von Einsamkeit u. leiser Freundschaft, von Tod u. zuweilen von unklarem erot. Getriebensein, das sich im Verhalten zu Frauen unfertig, scheu u. großspurig zgl. äußert. Wiederkehrende Motivverbindungen ergeben sich aus dem einen vielnamigen Gegensatzfeld – von Ausgesetztheit u. Aufgehobenheit, Verstoßung u. Behütung. Unterwegssein u. Heimkehrsehnsucht, Straße u. Haus, Krieg u. Frieden –, das allen Texten B.s die Grundspannung gibt. Das Zuhause wird manchmal unter der Chiffre der »Mütter« u. der Chiffre »Deutschland« sakralisiert; der Ton lässt dann an den Mutter- u. Vaterlandskult im Liedgut der Hitlerjugend denken. Dieses Zuhause wird aber nie ganz erreicht, sondern immer als ein abwesendes, ersehntes oder verlorenes berufen: »Jetzt weiß ich, daß es das Paradies war« (Die Küchenuhr). – Die Verstoßung wird erlitten u. genossen. Das Leiden daran ist eine Generationserfahrung. Sie kommt aus dem Missverhältnis von Lebensalter u. Kriegsentsetzen, Ereigniszwang u. Verarbeitungskapazität u. spezifiziert sich für den Autor als Missverhältnis von Wirk-

Bordesholmer Marienklage

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lichkeitsstoff u. Darstellungsmitteln. Daraus Stimme dieser Generation wird B. bis heute erwächst B.s »Poetik«: der Lapidarstil (»Ad- gehört; als ihre Stimme hat er sich selbst dieren, die Summe versammeln, aufzählen, verstanden. notieren«) u. der assoziativ-dissonante ReiWeitere Werke: Die traurigen Geranien u. anhungsstil einer »neuen Harmonielehre« ex- dere Gesch.n. Hg. u. Nachw. v. Peter Rühmkorf. pressionistischer Provenienz (Im Mai, im Mai Hbg. 1962 u. ö. Zuletzt Reinb. 1995 (auch Übers.en schrie der Kuckuck). Der Genuss des Ausge- ins Französische, Slowakische, Türkische). – Liesetztseins nimmt Züge der Vagantenpoesie ber? Filmaufbau Gött. 1948 (Film. Regie Wolfgang der Jugendbewegung auf u. passt zgl. in das Liebeneiner). Ausgaben: Das Gesamtwerk. Biogr. Nachw. v. Zeitklima »existentieller Geworfenheit«: Bernhard Meyer-Marwitz. Hbg. 1949. 71991. 2000. Unterwegssein als Lebenszustand. Sonderausg. 2004. – Das Gesamtwerk. Hg. Irmgard Wichtiges Stilmittel aller Texte ist die Schindler u. Michael Töteberg. Reinb. 2007. Wiederholung. Sie kann naturnahe WiederLiteratur: Peter Rühmkorf: W. B. Reinb. 1961. gabe von hamburgischen Gesprächsredun- 8 2002. – Reinhard Baumgart: Ein Hungerkünstler. danzen sein (Er hatte auch viel Ärger mit den In: Bundesrepublikan. Lesebuch. Hg. Hermann Kriegen), sie ist Mittel der Komposition u. der Glaser. Mchn. 1978. – Claus B. Schröder: W. B. zuweilen manipulativen Gefühlsintensivie- Hbg. 1985 (Biogr.). – Gustav Zürcher: W. B. In: rung (ähnlich wie bei Rudolf Kinau), u. sie ist KLG. – Erwin J. Warkentin: The unpublished zgl. Ausdruck eines permanenten Draußen- works of W. B. Ann Arbor 1995. – Kåre E. Gullvåg: u. Dazwischenseins. Man kommt nie ganz los Der Mann aus den Trümmern. W. B. u. seine Dichtung. Aachen 1997. – James L. Stark: W. B.’s u. nie ganz an. Dies bestimmt auch B.s Drama Draußen vor Germany. Reflections of the Third Reich. Lanham der Tür, eine bittere Zeitsatire mit grotesken 1997. – Jan-Geert Wolff: Die Aufarbeitung des Kriegserlebnisses im Werk W. B.s. Mainz 2001. – Zügen, ein Ich-Theater-Spiel, denn alle FiGordon J. A. Burgess: The life and works of W. B. guren sind dem Protagonisten nur beigeord- Rochester u. a. 2003. Manfred Karnick / Red. net, u. zgl. ein Weltspiel, denn alle Figuren sind auch Repräsentanten; der Form nach ist es ein Stationendrama. Es erinnert an Ernst Bordesholmer Marienklage, vermutlich Tollers Die Wandlung (1919), inhaltlich auch 1476 aufgezeichnet. – Spätmittelalterlian seine Tragödie Der deutsche Hinkemann ches geistliches Spiel. (1924). B.s Stilfigur der Wiederholung u. sein Unter den selbständig überlieferten dramat. Thema des Verstoßenseins u. der Heimkehr- Marienklagen des dt. MA ist die mittelniesehnsucht, Repetition u. Gegensatz, prägen derdt. B. M. mit ihren 855 volkssprachigen sich in der Struktur des Dramas aus u. werden Versen, von denen fast 300 gesungen wurden, semantisch durch die Frage nach der Schuld u. einer Vielzahl lateinisch-liturgischer verbunden. Der Kriegsteilnehmer Beckmann, Hymnen, Sequenzen etc. nicht nur die bisder mit steifem Bein u. Gasmaskenbrille aus lang umfangreichste: Wie kein anderes verSibirien zurückkommt, erfährt eine Reihe gleichbares Spiel zeichnet sie sich zudem von Abweisungen bis zum offenen Ende, dem durch eine ungewöhnliche textl. u. musikal. fragenden Schrei des Einsamen, der ohne Geschlossenheit aus. Niedergeschrieben Antwort bleibt. Er kommt vom Vergangenen wurde der eng in den gottesdienstl. Kontext nicht los, das sich für ihn Nacht für Nacht eingebundene Planctus devotissimus vor 1488 wiederholt. Er bleibt aus der Nachkriegsge- (vermutlich 1476) vom damaligen Propst des sellschaft ausgeschlossen, in der es für ihn Klosters Bordesholm, Johannes Reborch, der keine Zukunft gibt. Die Schuldverteilung ist jedoch nicht der Verfasser, vielmehr der Beeindeutig: Die Schuldigen, Angehörige der arbeiter einer älteren Textvorlage war. So älteren Generation, sind satt, aufgehoben, zeigen sich z.B. mehr oder minder enge Verdrinnen u. ohne Schuldbewusstsein. Der bindungen zum mhd. Gedicht von Unser durch Schuldbewusstsein von seiner Mit- vrouwen clage, zur Wolfenbütteler Marienklage u. schuld Entlastete gehört der jungen Generation an. Er bleibt »draußen vor der Tür«. Als

Borée

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zu den Marienklagen der böhmisch-schles. Borée, Karl Friedrich, * 29.1.1886 Görlitz, Gruppe. † 28.7.1964 Darmstadt; Grabstätte: ebd., Eingeleitet wird die B. M., deren Auffüh- Alter Friedhof. – Romanautor, Essayist u. rungszeit auf zweieinhalb Stunden berechnet Feuilletonist. war, durch ein lat. Responsorium der PalmB. studierte in Berlin Nationalökonomie u. sonntagsliturgie, dem sich ein von Johannes Jura u. promovierte 1913 zum Dr. jur. Der im Evangelista gesprochener predigthafter ProErsten Weltkrieg schwer verwundete Offizier log anschließt, ein ausführlicher, am Dankgewar 1919–1924 als Beamter in Berlin u. Köbet von den Sieben Tagzeiten orientierter Bericht nigsberg (seit 1920 Stadtrat). Eine 1924 in über die bisherigen Leiden Christi. Es folgen Berlin gegründete Rechtsanwaltspraxis gab – unter steter Aufforderung der Zuschauer er 1934 auf, um fortan als freier Schriftsteller zur »compassio« – Klagen Marias, Maria zu arbeiten. Magdalenas, der »mater Johannis« u. des Bereits sein erster Roman Dor und der SepApostels selbst über Sterben u. Tod Christi. tember (Ffm. 1930. Neuaufl. Mchn. 1949) war Ein kurzer Epilog des Johannes, der dem ein großer Erfolg. In journalistisch knappem Publikum den Segen erteilt, u. ein ResponStil u. v. a. im Bestreben, zeitgeschichtlich sorium der Karfreitagsliturgie beschließen relevante Geschehnisse literarisch zu verardas Spiel. Vorangestellt ist dem Text eine beiten, zeigt sich B.s Nähe zum Programm detaillierte Anweisung zu seiner Inszenieder Neuen Sachlichkeit. Sein 1936 erschienerung. In ihr finden sich Angaben zum Aufner Roman Das Quartier an der Mosel (Ffm. u. führungsort (in oder vor der Kirche), zum Darmst. 21955), der die Auflösung von Heer Aufführungstermin (Karfreitag oder Diensu. Kaiserreich im Nov. 1918 zum Thema hat, tagvormittag der Karwoche) u. zu den Ausgehört zu der seit Ende der 1920er Jahre führenden (Geistliche), daneben zum Tempo verbreiteten Kriegsliteratur, die sich um der Aufführung, zu Kostümen u. Requisiten Darstellung u. Aufklärung der Ereignisse des wie auch zur Gestik u. Sprechweise der DarErsten Weltkriegs sowie ihrer Hintergründe steller. Bes. betont wird der andächtige Chabemühte. Wegen seiner »unsoldatischen« rakter des Spiels: Es diene nicht der UnterTendenz wurde das Buch von den Nationalhaltung, sondern solle beim Zuschauer Mitsozialisten verboten. 1954 knüpfte B. in seileiden u. frommes Weinen hervorrufen. nem Roman Frühling 45. Chronik einer Berliner Ausgaben: Die B. M. Hg. Gustav Kühl. In: Jb. des Familie (Darmst.) an die frühen Versuche an, Vereins für niederdt. Sprachforsch. 24 (1898), Krisenerfahrungen in der Schilderung exemS. 1–75, 148: Melodienanhang S. 1–14. plar. Einzelschicksale anschaulich werden zu Literatur: Anton Schönbach: Über die Marilassen. enklagen. Graz 1874. – Hans Eggers: B. M. In: VL. – 1952 wurde B. Sekretär der Deutschen Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Akademie für Sprache und Dichtung. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986. – Bernd Neumann: Geistl. Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Bd. 2, Mchn./Zürich 1987, Nr. 3584. – Renate Peters: Zur Sprache der B. M. In: Lit. – Gesch. – Literaturgesch. Hg. Nine Miedema u. Rudolf Suntrup. Ffm. 2003, S. 809–824. – Ursula Schulze: Emotionalität im geistl. Lied. Die Vermittlung v. Schmerz u. Trauer in der B. M. u. verwandten Szenen. In: Ritual u. Inszenierung. Hg. Hans-Joachim Ziegeler. Tüb. 2004, S. 177–193. Bernd Neumann / Red.

Weitere Werke: Kurze Reise auf einen anderen Stern. Bln. 1937 (R.). – Die Gesch. eines Unbekannten. Bln. 1938 (E.). – Maria Nehls. Bln. 1939 (E.). – Diesseits v. Gott. Mchn. 1941 (Ess.). – Heilung. Bad Wörishofen 1948 (E.). – Die halbvollendete Schöpfung. Mchn. 1948 (Ess.). – Ein Abschied. Wiesb. 1951 (R.). – Semiten u. Antisemiten. Ffm. 1960 (philosoph. Gespräche). – Spielereien u. Spiegelungen. Darmst. 1961 (Kurzp.). – Autobiografie: Fällige Zwischenbilanz. Ein Selbstporträt. In: Welt u. Wort 3 (1948). Literatur: Arno Lubos: K. F. B. In: Die schles. Dichtung im 20. Jh. Mchn. 1961. – August Scholtis:

Borkenstein

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Born, Ignaz Edler von, * 26.12.1742 Karlsburg/Siebenbürgen, † 24.7.1791 Frank Raepke / Red. Wien. – Mineraloge, Montanist u. Satiriker. Borkenstein, Hinrich, * 21.10.1705 Hamburg, † 29.11.1777 Hamburg. – Der Sohn eines Artillerieoffiziers (u. Stadthauptmanns von Karlsburg) besuchte die Lustspieldichter. Gedenkwort für K. F. B. In: Jb. der Dt. Akademie für Sprache u. Dichtung, 1964.

B. war noch 1741 Buchhalter, ging um 1745 nach Spanien, kehrte 1764 als reicher Mann nach Hamburg zurück, erwarb dort am Jungfernstieg ein ansehnliches Stadthaus u. lebte nur mehr nach seinen privaten Neigungen. Er wurde 1766 zum kgl. dänischen Kommerzienrat ernannt u. heiratete 1768 Susanna Bruguier, die ihm einen Sohn u. drei Töchter schenkte, deren älteste, Susanna (»Susette« Gontard), als Hölderlins Diotima bekannt wurde. Der Einfluss Gottscheds, Ludvig Holbergs u. der moralist. Geist des »Patrioten« haben auf das einzig erhaltene der beiden Lustspiele B.s eingewirkt. Er wandte in diesem das Schlendrianmotiv auf die Verhältnisse seiner Zeit u. Umgebung an u. stellte in publikumswirksamen Karikaturen den hamburgischen »Bookesbeutel«, ein auf Gewohnheit, Unwissenheit u. Egoismus beruhendes Gemisch von altfränk. Sitten u. Vorurteilen, der zivilisierteren Denk- u. Lebensweise des damaligen Leipzig gegenüber. Werk: Der Bookesbeutel. Ein Lustsp. v. Drey Aufzügen. Ffm./Lpz. 1742. Hbg. 21746. 31747. Hg. v. Franz Ferdinand Heitmüller. Lpz. 1896. Literatur: Johann Friedrich Schütze: Hamburgische Theater-Gesch. Hbg. 1794, S. 260–263. – Ferdinand Heitmüller: Hamburgische Dramatiker zur Zeit Gottscheds u. ihre Beziehungen zu ihm. Wandsbeck 1890, S. 60–99. – Ders.: Der Bookesbeutel. Lustsp. v. H. B. Lpz. 1896, S. 3–30. – Günter Sasse: Die aufgeklärte Familie. Untersuchungen zur Genese, Funktion u. Realitätsbezogenheit des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung. Tüb. 1987. – Gero v. Wilpert: Dt. Dichterlexikon: biogr.-bibliogr. Handwörterbuch zur dt. Literaturgesch. Stgt. 31988. Jürgen Rathje / Red.

Elementarschule in Hermannstadt, ab 1755 das Gymnasium in Wien. 1759 trat er in den Jesuitenorden ein, den er 16 Monate später jedoch wieder verließ. In Prag studierte er die Rechte; nach ausgedehnten Reisen durch Deutschland, die Niederlande u. Frankreich betrieb er naturwiss. u. techn. Studien, v. a. in der Mineralogie u. Bergwerkskunde. Nach seiner Entlassung aus dem Staatsdienst wegen der Veröffentlichung neuer, geheimzuhaltender bergbautechn. Erkenntnisse zog er sich auf sein Gut in Südböhmen zurück u. forschte als Privatgelehrter. Ab 1775 gab er das Periodikum Abhandlungen einer Privatgesellschaft in Böhmen zur Aufnahme der Mathematik, der Vaterländischen Geschichte und der Naturgeschichte (6 Bde., Prag 1775–84) heraus. Seit 1776 lebte er in Wien, wohin er von Maria Theresia berufen worden war. Er legte 1778 ein bedeutendes Beschreibungswerk des kaiserl. Naturalienkabinetts vor u. wurde 1779 zum Hofrat im Münz- u. Bergwesen ernannt. Bereits seit 1770 an einer schweren Knochenerkrankung leidend, war B. bis an sein Lebensende dennoch rastlos als Wissenschaftler, Wissenschaftsorganisator, Freimaurer (ein Aufsatz B.s diente Mozart als Quelle zur Zauberflöte; B. gilt, nicht unumstritten, als »Urbild« des »Sarastro«) u. als Publizist tätig. Er war daneben aktives Mitglied mehrerer Akademien u. Sozietäten. Literarische Berühmtheit erlangte B. mit seiner 1783 zunächst lat. (Specimen Monachologiae), dann dt. unter Pseudonym veröffentlichten Satire Neueste Naturgeschichte des Mönchthums, beschrieben im Geiste der Linnäischen Sammlungen und mit drei Kupfertafeln erkläret von P. Ignaz Lojola Kuttenpeitscher, aus der ehemaligen Gesellschaft Jesu (o. O. 1783). Die satir. Wirkung des literar. »Bestiariums« als Travestie resultiert aus dem scheinwissenschaftlichen, an Linné angelehnten Beschreibungs- u. Klassifikationsverfahren von Ordensmönchen (nach Aussehen, Verhalten,

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Born

Kleidung, Ess- u. Trinkgewohnheiten u. a.) – Wilhelm Haefs: I. v. B. (1742–91). Kurzbiogr. In: als vernunftlosen Tieren, formal aus der spe- Aufklärung 12.2 (2001), S. 335–338. Wilhelm Haefs zif. Kombination von Äquivalenzen u. Kontrasten; zusätzliche Kupfertafeln im Stil naturkundlicher Beschreibungswerke der Zeit, Born, Nicolas, * 31.12.1937 Duisburg, die zgl. Lavaters Physiognomik parodieren, † 7.12.1979 Hamburg; Grabstätte: Danverstärken den satir. Effekt. nenberg/Niedersachsen. – Lyriker, ProsaDer Ruf des Wiener Kardinals Migazzi nach ist, Hörspielautor. Zensur des Buches blieb anfangs wirkungslos, da Kaiser Joseph II. B. Rückendeckung Der Sohn eines Polizisten u. einer Hausfrau gab; allerdings wurde die deutschsprachige wuchs in Praest/Niederrhein u. in Essen auf. Fassung 1786 doch noch verboten (während Nach dem Besuch der gymnasialen Unterdie lat. Version in Umlauf blieb). Dennoch stufe arbeitete B. lange Zeit als Chemigraf; er konnte dies den Erfolg u. die weitere Ver- war zweimal verheiratet u. hatte zwei Kinder. breitung des Textes bis weit ins 19. Jh. hinein Nach ersten literar. Versuchen wurde B. (die letzte Auflage erschien 1875, darüber Ende 1963 zum Literarischen Colloquium hinaus erschienen Übersetzungen ins Polni- Berlin (Walter Höllerer) eingeladen; er versche, Italienische, Französische u. Englische) öffentlichte u. a. Beiträge in der Anthologie nicht verhindern. B.s »Monachologie« ist die Prosaschreiben (1964) u. war Mitautor des von schärfste antiklerikale Satire der Literatur des Walter Höllerer angeregten GemeinschaftsJosephinismus, ein bedeutendes, von der romans 15 junger Autoren, Das Gästehaus germanist. Forschung bislang kaum beach- (Bln. 1965). Sein erster eigener Roman Der tetes literar. Zeugnis katholischer Aufklä- zweite Tag (Köln 1965) gibt sinnl. Eindrücke rung. einer Reise wieder, die in Medienklischees Weitere Werke: (Hg.): Johann Jacob Ferber: gespiegelt u. unablässig von Fantasien u. ErBriefe aus Wälschland über natürl. Merkwürdig- innerungen ergänzt u. bearbeitet werden. keiten dieses Landes an den Herausgeber derselben. Diese Reflexivität, die immer wieder um unPrag 1773. – (an.): Der Klostergeist. Geschildert in terdrückte Wut u. beschämende »Wutferne« der Untersuchung der Hindernisse einer Verbesse- kreist, unterscheidet den Roman vom Neuen rung des Kirchenwesens überhaupt, insbes. der Realismus der Kölner Schule um Dieter WelOrdensstände. Wien 1781. lershoff, der B. zugerechnet worden ist. Literatur: Paul M. Hofer: I. v. B. Leben – LeisB. erhielt 1965 den Förderpreis des Landes tung – Wertung. Diss. Wien 1956. – Mikulàsˇ Teich: Nordrhein-Westfalen u. ging als freier I. v. B. als Organisator wiss. Bestrebungen in der Schriftsteller nach Berlin. Die in dieser Zeit Habsburger Monarchie. In: Wissenschaftspolitik in Mittel- u. Osteuropa. Hg. Erik Amburger u. a. Bln. entstandenen Erzählungen, gesammelt in 1976, S. 195–205. – Leslie Bodi: Tauwetter in Wien. Täterskizzen (Reinb. 1983. 1987. Frz. 1988), Zur Prosa der österr. Aufklärung 1781–95. Ffm. belegen den schwierigen Prozess seiner 1977. – Dolf Lindner: I. v. B. Meister der wahren Trennung vom Milieu des Ruhrgebiets, das Eintracht. Wiener Freimaurer im 18. Jh. Wien seine Wahrnehmung für Konventionen 1986. – László Molnár u. Alfred Weiß: I. E. v. B. u. (Harmoniedrill u. Wutverhaltung), für die die Societät der Bergbaukunde. Zum 200. Jahrestag Verstellung der Sinne u. die Bedrohung der der Gründung der Societät der Bergbaukunde. Lebenswelt entscheidend geprägt hat. Seine Wien 1986 (mit Bibliogr.). – Günter B. Fettweis u. Lyrik (Marktlage. Köln 1967) gibt MomentanGünther Hamann (Hg.): Über I. v. B. u. die Societät bilder des Alltags üblicher Verrichtungen, der Bergbaukunde. Wien 1989. – Helmut Reinalter medialer u. sozialer Regelungen, ist aber nie (Hg.): Die Aufklärung in Österr. I. v. B. u. seine Zeit. Zufallsprotokoll, sondern fragt: »Ist der GeFfm. u. a. 1991. – Markus Meumann: Zur Rezeption antiker Mysterien im Geheimbund der Illu- danke gut genug, ihn zu beschreiben?« Wie minaten: I. v. B. In: Aufklärung u. Esoterik. Hg. diese von der industrialisierten Umwelt Monika Neugebauer-Wölk. Hbg. 1999, S. 288–304. (Ruhrgebiet, Berlin) dominierten, emotional unbewegter scheinenden Gedichte zeigen sich auch seine Gedichte in Wo mir der Kopf

Born

steht (Köln 1970. Als Tonträger: 2 CDs, 2007) von B.s zwischenzeitlicher Politisierung weitgehend unberührt. Auf Einladung nahm B. 1969/70 am Writers’ Workshop der University of Iowa teil. Dort begegnete er Werken u. Autoren der amerikan. Beat-Generation (1976 übersetzte er Kenneth Koch). Nach seiner Rückkehr nach Berlin erschien die Gedichtsammlung Das Auge des Entdeckers (Reinb. 1972), nun im Rowohlt Verlag, der sein weiteres Werk herausbrachte u. für den B. ab 1973 Mitherausgeber des »Literaturmagazins« wurde. Durch den amerikan. Einfluss sind die Gedichte dieses Bandes »weiträumiger und expressiver« (Dieter Wellershoff), in den Stimmungen aufgehellter, obwohl auch sie um verfehltes, uneigentl., nichtgelebtes Leben kreisen: »Kunst heißt / das Leben mit Präzision verfehlen!« Dieser Thematik korrespondieren fragile Wunschbilder von Glück u. Nähe. In Essays u. Kritiken, postum gesammelt in Die Welt der Maschine (Reinb. 1983), umkreist B. immer wieder den Begriff der Utopie, fasst ihn in den Gedichten u. a. in Wendungen wie: »Aber eines Tages werden alle Bilder wahr« oder »Das Erscheinen eines jeden in der Menge« u. formuliert als Aufgabe für die Literatur, »Realität immer an unserer besten Vorstellung zu messen«. Die idiosynkrat. Beobachtung des Alltags, eingespannt zwischen dauernder Lebensverfehlung u. utop. Augenblicken jenseits aller Programmatik, hat seine Lyrik zum Ausdruck des Lebensgefühls der 1970er Jahre werden lassen. Dies trifft auch auf seine Romane zu. B. gilt neben Peter Handke u. Rolf Dieter Brinkmann als führender Vertreter einer Neuen Subjektivität. Die erdabgewandte Seite der Geschichte (Reinb. 1976 u. ö. Zuletzt 1987) erfuhr neben hohem Lob (Marcel Reich-Ranicki) z.T. heftige Kritik an einer Tendenz zu Innerlichkeit u. Irrationalismus. Der 1977 mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnete Roman hat »die Vernichtung der Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte einzelner« (in: B.s Dankrede zum Bremer Literaturpreis) zum Gegenstand: Die Annäherungsbewegungen eines Berliner Intellektuellen an ihm Nahestehende führen, je intensiver sie sind, desto mehr zu Auseinan-

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dersetzung u. Entfernung, zeigen privat wie politisch seine bloße »Anwartschaft auf Leben«. B. übersiedelte 1974/75 nach Dannenberg. Die dort entstandenen Gedichte, bes. Ein paar Notizen aus dem Elbholz (in: Gedichte 1967–1978. Reinb. 1978), verschränken in lakonischer Kürze noch einmal Todesahnung u. glückhafte Wunschvorstellungen nun in Auseinandersetzung mit der bedrohten Natur: »Wie schön das Ahnungslose, und ich bin / nicht ruhig, so wie ich eile durch Verluste.« B.s letztes Werk, der hoch gelobte Roman Die Fälschung (Reinb. 1979 u. ö. Zuletzt 1993) spielt im libanes. Bürgerkrieg u. handelt von der krit. Selbstwahrnehmung eines dt. Journalisten, der sich beruflich u. privat in einer Krise befindet. Der Roman endet mit seinem Entschluss, zu seiner Familie zurückzukehren u. seinen Beruf aufzugeben. Die Verfilmung dieser umfassenden Kritik am »europäischen Voyeurismus« (Friedrich Christian Delius) durch Volker Schlöndorff (1981) erlebte B. allerdings nicht mehr. Wenige Tage nach der Verleihung des Rainer-Maria-RilkePreises starb er an Lungenkrebs. Weitere Werke: Hörspiele: Schnee. WDR 1966. – Innenleben. WDR 1970. – Fremdsprache. WDR 1971. – Oton u. Iton. WDR 1973 (Science-FictionKinderbuch). Literatur: Christa Merkes: Wahrnehmungsstrukturen in Werken des Neuen Realismus. Ffm./ Bern 1982, S. 169–203. – Antonius B. Naaijkens: Lyrik u. Subjekt: Pluralisierung des lyr. Subjekts bei N. B., Rolf Dieter Brinkmann, Paul Celan, Ernst Meister. Diss. Utrecht 1986. – Hans Christoph Buch: Nicht versöhnt. Kein Nachruf auf N. B. In: Waldspaziergang. Unpolit. Betrachtungen zu Lit. u. Politik. Hg. ders. Ffm. 1987, S. 118–140. – Martin Lüdke u. Delf Schmidt (Hg.): Literaturmagazin 21. Reinb. 1988. – Martin Grzimek u. Wera Rohowski: N. B. In: KLG. – Jörg-Werner Kremp: Inmitten gehen wir nebenher. N. B. Biogr., Bibliogr., Interpr.en. Stgt. 1994. – Anja Saupe: ›Die erdabgewandte Seite der Geschichte‹. N. B.s Prosa. Würzb. 1996. – Walter Aue: Die Anspruch auf Glück. N. B. In: Auf eigene Faust. Hg. ders. Ffm. 2001, S. 134–148. – Jörg Eggerts: Langsam kehrten die Farben zurück. Zur Subjektivität im Romanwerk, im lyr. u. literaturtheoret. Werk N. B.s. Ffm. 2002. – Mats Almegård: ›Macht ist da, weil wir auch Macht im Auge haben‹. Untersuchungen zur Machtkritik bei N. B. Göteborg 2002. – Heinrich

97 Vormweg: N. B. In: LGL. – Paul Michael Lützeler: Erfahrung u. postkolonialer Blick. In: (Post-)Kolonialismus u. Dt. Lit. Hg. Axel Dunker. Bielef. 2005. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): N. B. text + kritik. Mchn. 2006. Erhard Schütz / Red.

Bornemann, (Johann) Wilhelm (Jakob), * 2.2.1766 Gardelegen/Altmark, † 23.5. 1851 Berlin. – Balladen- u. Liederdichter, Verfasser von Jagdgeschichten. Der niederdt. Schriftsteller B., Sohn eines Kaufmanns, studierte nach dem Besuch des Berliner Gymnasiums zum grauen Kloster Theologie in Halle u. arbeitete später als Lotteriesekretär, schließlich als Generallotteriedirektor in Berlin. B. verfasste v. a. Lyrik in Altmärker Mundart. 1810 erschien in Berlin u. d. T. Plattdeutsche Gedichte sein Hauptwerk (mehrere Aufl.n bis 1891; seit 1816 – um zahlreiche Gedichte erweitert – in 2 Bdn.). Naturgedichte, Jagdgeschichten sowie Anekdoten über Landschaft u. Bewohner seiner Heimat prägen das Werk. Einige Balladen u. volkstüml. Lieder in Platt-, aber auch in Hochdeutsch, wie z.B. Im Wald und auf der Heide, fanden weite Verbreitung. Im Übrigen konnte B. nur regionale Bedeutung erlangen. B. zählt zu den wenigen Autoren des beginnenden 19. Jh., die sich des Plattdeutschen als Literatursprache bedienten. Als humorvoller niederdt. Schriftsteller ist er zu den Vorläufern Fritz Reuters zu rechnen. Weitere Werke: Über die gymnast. Übungen in der Hasenheide. Bln. 1811. – B.s Lehrbuch für die allg. Verbreitung der v. Friedrich Ludwig Jahn wieder erweckten Gymnastik. Bln. 1814. Neudr. mit einem Nachw. v. Henning Eichberg u. Wilhelm Hopf. Münster 1981. – Natur- u. Jagdgemälde, mit natur- u. jagdgeschichtl. Bemerkungen. Lpz. 1827. Literatur: Gerhard Cordes: W. B. In: NDB. – Heinrich-Detlof v. Kalben: Über J. W. J. B. In: Aus der Altmark 69 (1992), S. 92–98. – Gunter Pengel: W. B.: Mundartdichter. In: Altmarkblätter 12 (2001), S. 164. Jörg Schilling / Red.

Bornhauser

Bornhauser, Thomas, * 26.5.1799 Weinfelden, † 9.3.1856 Müllheim/Kt. Thurgau; Grabstätte: ebd., Friedhof. – Dramatiker, Lyriker u. politischer Publizist. Staatliche Stipendien ermöglichten dem aus einfachen Verhältnissen stammenden B. eine theolog. Ausbildung. Obwohl er vom Zürcher Carolinum relegiert wurde, ordinierte ihn sein Heimatkanton 1822 zum reformierten Pfarrer. 1824 wurde B. Pfarrer in Matzingen, 1831 in Arbon, 1849 in Müllheim. Beachtung fand B. zuerst als Redner u. polit. Publizist (Mitarbeit an liberalen Zeitungen u. Zeitschriften, mehrere Arbeiten zur Verfassungsfrage). Eine von ihm unter dem Eindruck der Julirevolution auf den 22.10.1830 nach Weinfelden einberufene Volksversammlung bildete den Auftakt zum liberalen Umschwung in mehreren Kantonen. Als Schriftsteller war B. geistig von der frz. Aufklärung, stilistisch anfänglich vom Sturm u. Drang beeinflusst. Seine polit. Gedichte in Mundart u. Schriftsprache nehmen Metaphorik u. Ton der Vormärzlyrik vorweg; die Liebes- u. Naturgedichte sind eher epigonal (Lieder. Trogen 1832). Populär wurden B.s Bearbeitungen von Sagenstoffen, z.B. das Trauerspiel Gemma von Art, das die Gründung der Eidgenossenschaft zum Thema hat (Trogen 1829), u. sein politisches Lehrgespräch über Wesen u. Organisation des republikanisch-demokrat. Staates, Andreas Schweizerbart und Treuherz (St. Gallen 1834. 31835). Weitere Werke: Heinz v. Stein oder die Schlacht an der Schwarzach. Zürich 1836 (Ep.). – Ida v. Tockenburg. Zürich 1838 (R.). – Der hl. Gallus. Eine Festg. Weinfelden 1842. – Hzg. Johann oder Königsmord u. Blutrache. St. Gallen 1844 (R.). – Rudolf v. Werdenberg im Freiheitskampf der Appenzeller. Frauenfeld 1853 (Ep.). – Selbstbiogr. In: Weinfelder Heimatbl. Beilage zur Thurgauer Ztg. Nr. 5, 1941. Literatur: Jakob Christinger: T. B. Frauenfeld 1875. – Otto Frei: Die geistige Welt T. B.s. In: Thurgauische Beiträge zur Vaterland. Gesch. 86 (1949), S. 1–85 (mit Bibliogr.). – Markus Schär: T. B. In: HLS. Rémy Charbon / Red.

Bornmann

Bornmann, Christian, * 1639 Brehna bei Halle, † 1714 Mitau. – Epigrammatiker, Verfasser von geistlicher Dichtung; Rektor.

98 raphim: Notizen die Familie Bornmann betreffend u. Stammtafel der Familie Bornmann. In: Sitzungsber.e der Kurländ. Gesellsch. für. Lit. u. Kunst 1891 (1892), S. 61–66. – Nicolai v. Denffer: C. B. Schicksal u. Werk eines vergessenen balt. Dichters. In: Sitzungsber.e der Kurzemer (Kurländ.) Gesellsch. für Lit. u. Kunst 1935/36 (1937), S. 11–34. – Flood, Poets Laureate, Bd. 1, S. 221 f. – Klaus Garber: Schatzhäuser des Geistes. Alte Bibl.en u. Bücherslg.en im Baltikum. Köln/Weimar/ Wien 2007, S. 319–329, S. 417 f. (Bibliogr.).

B. entstammte einer Pfarrersfamilie im Hallischen, besuchte die Schule in Delitzsch u. das Gymnasium in Wittenberg, wo Konrad Caseus u. der Rektor Johann Peisker auf ihn Einfluss nahmen. Ein Universitätsbesuch in Wittenberg ist nicht bezeugt, wohl aber in Klaus Garber Leipzig. Aus den Händen Kaiser Leopolds empfing er während ausgedehnter Reisen die Würde eines gekrönten Dichters. In Mitau Bornmeister, Simon, * 31.5.1632 Nürnwirkte er seit 1685 als Rektor der großen berg, † 7.12.1688 Nürnberg. – Verfasser Stadtschule. Die Stiftung der später bedeu- von geistlichen Liedern, Schuldramen u. tenden Bibliothek durch Herzog Kasimir, die historiografischen Werken. im Zweiten Weltkrieg zerstreut wurde, hat er Der Sohn des Silberarbeiters Marx Bornnoch erlebt; er arbeitete dort zeitweilig als meister studierte in Altdorf (Magister 1654) Bibliothekar. In der Residenzstadt, deren u. war später Lehrer an verschiedenen Nürngroße Zeit in das 18. u. frühe 19. Jh. fiel, berger Schulen, zuletzt Professor der Genahm er die Rolle eines Hofdichters ein. Sein schichte am Egidiengymnasium. 1668 wurde Lebensraum u. seine persönl. wie amtl. Kon- er von Sigmund von Birken zum Dichter getakte sind über sein ausgebreitetes Epi- krönt u. als »Fontano II.« in den Pegnesigrammwerk zu rekonstruieren. »Er freuete schen Blumenorden aufgenommen. B. beteisich, daß er der erste Epigrammatist in dieser ligte sich mit zahlreichen Beiträgen an GeleGegend war. Ich glaube er sey auch der letzte genheitsschriften der Pegnitzschäfer u. vergewesen« (Gadebusch). Jeweils rd. 500 Bei- fasste Schuldramen zur Erinnerung an die träge umfassen seine beiden äußerst seltenen Friedensfeierlichkeiten von 1649 (Der verSammlungen aus den Jahren 1691 u. 1705. bannte Polemophilus. Nürnb. 1679) u. über 80 Auch die Anagramm-Dichtung wurde ge- geistl. Lieder zu verschiedenen Anlässen, die pflegt (Mitau 1694). Über einen Sermo Augus- in mehreren Sammlungen veröffentlicht talis (Mitau 1699) erfolgte der Brückenschlag wurden (Poetischer Andacht-Klang. Nürnb. zum Polen August II. Selbst die geistl. Dich- 1673. Rauch-Opffer geistlicher Lieder Andacht. tung blieb in der von Opitz, Fleming u. Dach Nürnb. 1674. Geistlicher Lieder Blumenstrauß. 2 vorgegebenen Façon in Kraft, wie B.s Leidender Nürnb. 1685. 1686). Bes. bekannt wurden Jesus (1690. 21713) belegt. Seiner Wahlheimat seine Kinderbegräbnislieder. Als Historiograf beschäftigte sich B. v. a. Mitau setzte er in einem gleichnamigen Gedicht ein Denkmal (1686. 2. Aufl. o. J.). Sie mit der Geschichte der Monarchie. Weit verbreitet war sein im Auftrag des Verlegers Joging im Zweiten Weltkrieg unter. hann Hoffmann verfasster Schau-Platz der RöWeitere Werke: Flemmingus in arena et lauris. misch- und Teutschen Kaiser (Nürnb. 1669. Mitau 1700. 2 1672. Erw. 1678. 21685), eine mit Kupfern Ausgabe: Mitau. Ein histor. Gedicht aus dem 17. geschmückte Zusammenstellung kaiserlicher Jh. Neue, mit Anmerkungen vers. Ausg., hg. u. Lebensläufe von Caesar bis zu Leopold I. Für annotiert v. Johann Friedrich Recke. Mitau 1802. die gelehrte Welt bestimmt waren B.s ArbeiLiteratur: Friedrich Konrad Gadebusch: Livten zur Geografie (Pharus geographica Hispaländ. Bibl. Bd. 1, Riga 1777. Nachdr. Hann. 1973, S. 86–94. – Johann Friedrich v. Recke u. Karl Edu- niae, Galliae, Italiae. Nürnb. 1672. Prosphonesis ard Napiersky: Allg. Schriftsteller- u. Gelehrtenle- ad Hungariam. Nürnb. 1686). xikon der Provinzen Livland, Esthland u. Kurland. Bd. 1, Mitau 1827, S. 226 f. – August Robert Se-

Weitere Werke: Caesareologia metrica. Nürnb. 1666. – Introductio in hist. univ. monarchicam.

99 Nürnb. 1669. – Histor. Fürstellung der Zeiten des Alten u. Neuen Testaments. Nürnb. 1670. – Plausus votivus de Muhamede. Nürnb. 1686. – Herausgeber: Kaspar Brusch: Chronologia Monasteriorum Germaniae. Nürnb. 1682 Literatur: Johann Herdegen: Histor. Nachricht v. deß löbl. Hirten- u. Blumen-Ordens an der Pegnitz [...]. Nürnb. 1744, S. 343–345. – Georg A. Will u. Christian K. Nopitsch: Nürnberg. Gelehrten-Lexikon. Nürnb. 1755–1808: Bd. 1, S. 136–138, Bd. 5, S. 114. – Koch 3, S. 493 f. – P. Pressel: B. In: ADB. – Fischer-Tümpel 5, S. 108–122. – Adalbert Elschenbroich: B. In: NDB. – Heiduk/Neumeister, S. 16 f., 146, 299 f. – Stadtlexikon Nürnberg. Nürnb. 1999, S. 152. – Renate Jürgensen: Melos conspirant singuli in unum. Wiesb. 2006, S. 302–317. – Flood, Poets Laureate, Bd. 1, S. 222–225. Renate Jürgensen

Bornschein, (Johann) Ernst (Daniel), auch: Johann Friedrich Kessler, Christian Friedrich Möller, * 20.7.1774 Prettin bei Merseburg, † 1.4.1838 Gera. – Dramatiker u. Romanautor. Schon während des Studiums in Leipzig u. Wittenberg (1793–1797) betätigte sich B. als Unterhaltungsschriftsteller. 1799 versuchte er sich als Buchhändler in Leipzig, danach als Korrektor in verschiedenen Druckereien. Seit 1802 war er Inhaber einer Kunsthandlung in Gera u. Herausgeber der dortigen Zeitung. Sein Werk umfasst zum einen populärhistor. Schriften meistenteils zeitgeschichtl. Inhalts. Dazu zählt u. a. eine frühe NapoleonBiografie, die er einen Landgeistlichen seiner interessierten Gemeinde vortragen lässt (Leben und Thaten des General Bonaparte. Gera/Lpz. 1802). Zum andern schrieb B. zahlreiche Schauspiele u. Romane (komisch-satirische sowie Schauerromane), die den Geschmack der Leihbibliothekenbenutzer trafen, bei der Kritik jedoch durchgängig auf harsche Ablehnung stießen. Als der fruchtbarste unter den frühen Räuberroman-Autoren schuf B. mit Antonia della Roccini, die Seeräuber-Königin (Braunschw. 1801. 31838), ein weibliches Gegenstück zu Vulpius’ Rinaldo Rinaldini (1799), das seinem Vorbild weder an Heldentaten noch an Liebesabenteuern nachsteht. Weitere Werke: Karl v. Strahlenberg. Lpz. 1793 (D.). – Abentheuer u. merkwürdige Reisen des ge-

Bornstedt strengen Herrn v. Lümmel auf Lümmelsdorf. 2 Tle., Lpz. 1798 (R.). – Das Nordhäus. Wundermädchen, ein weibl. Rinaldini. 3 Tle., Gera/Lpz. 1802. – Der Seeräuberkönig. Regensb. 1803 (D.). – Der Hundssattler oder Scenen aus dem Leben eines Bösewichts. Eisenberg 1805 (R.). – Der TodtenWirth, eine Räubergesch. Erfurt 1806 (R.). Literatur: NND 1840, S. 1102–1104. – Manfred W. Heiderich: The German Novel of 1800. Bern/ Ffm. 1982. Holger Dainat / Red.

Bornstedt, Louise Freifräulein von, * 11.12.1807 Potsdam, † 3.9.1870 Bad Rehme. – Autorin religiös-erbaulicher Schriften. Die Großnichte von Alexander u. Wilhelm von Humboldt war Tochter eines Offiziers, der bei Waterloo gekämpft hatte (vgl. Das Gefecht bei Wawre [...]. Bln. 1858). 1830 zum Katholizismus konvertiert, war sie Mitgl. des westfäl. Dichterkreises u. nahm an den sonntägl. Treffen der »Heckenschriftstellergesellschaft« (Mitgl. war u. a. Levin Schücking) teil, die Elise von Hohenhausen 1838 gegründet hatte. Schwärmerisch veranlagt u. Gemütsschwankungen unterworfen, war sie der Droste eine eher lästige Freundin (in dem Lustspiel Perdu! oder Dichter, Verleger und Blaustrümpfe in der Figur der Claudine Briesen karikiert). B.s Hauptwerk ist dem kath. Erbauungsschrifttum zuzuordnen; Görres schrieb das Vorwort zu ihrer legendarischen Darstellung des Lebens der hl. Katharina (Münster 1838). Pilgerklänge einer Heimatlosen (Bln. 1838) ist in seiner Darstellung der Schicksale armer Frauen exemplarisch für das christlich geprägte soziale Interesse der Zeit. Ihre Gedichte. Gebetbuch zu Herzen Jesu und Mariä (Bln. 1853) stehen im Zeichen der Frömmigkeit des nachmärzl. Katholizismus. In ihrem Konvertiteneifer suchte sie noch 1858 Heine zum Christentum zu bekehren. B. starb in geistiger Umnachtung. Weitere Werke: Die gebannte Seele, eine religiöse Idylle. Münster 1838. – Legende v. der hl. Büßerin Maria Magdalena u. ihrer Schwester Martha. Luzern 1845. Literatur: Wilhelm Heinrich Velthaus: L. v. B. Ein Frauenbild aus dem Kreise Annette v. DrosteHülshoffs. Bückeburg 1917. – B. Plachta: ›Le papier

Bosch ne rougit pas‹. Gefühl u. Kalkül in Briefen an Annette v. Droste-Hülshoff. In: EG 14 (1991), S. 141–160. – Westf. Autorenlex. Eda Sagarra / Red.

Bosch, Manfred, * 16.10.1947 Bad Dürrheim/Schwarzwald. – Erzähler, Lyriker, Essayist, Verfasser politischer, zeitkritischer u. literaturgeschichtlicher Schriften, Herausgeber. B. ist ein Hauptvertreter der zeit- u. gesellschaftskritischen alemann. Mundartliteratur. In vier Gedichtbänden (Uf den Dag wart i. Grunertshofen 1976. Mir hond no gnueg am Aalte. Grunertshofen 1978. Ihr sind mir e schäne Gsellschaft. Rheinfelden 1980. Wa sollet au d Leit denke. Rheinfelden 1983) nimmt B. in konziser, oft lakonisch verknappter Diktion Zeiterscheinungen u. menschl. Schwächen aufs Korn. Einmontierte Zitate aus der Alltagssprache entlarven in neuem Sinnzusammenhang die Bedenkenlosigkeit des übl. Sprachgebrauchs. B.s hochdt. Gedichte (lauter helden. westerngedichte. Henstedt 1971. mordio & cetera. Mchn. 1971. lautere helden. neue westerngedichte. Bln./Erlangen 1975. Zeit-Gedichte. Mchn. 1980) befassen sich ebenfalls kritisch, oft satirisch mit Kino, Kirche, Kommerzkunst u. Politik. Nach Versuchen als Erzähler (Der Zugang. In: Geschichten aus der Provinz. Mchn. 1978; autobiogr. R. Zu Gast bei unseren Feinden. Köln 1986; UdSSR-Reiseber.) sowie einer Auseinandersetzung mit Franz Josef Strauß (Der Kandidat. Mchn. 1980) tritt, parallel zur Herausgabe der Zeitschrift »Allmende«, die Beschäftigung mit regionalen Themen in den Vordergrund. Bezeichnend sind dafür Sachdarstellungen wie Als die Freiheit unterging. Dokumentation über Verweigerung, Widerstand und Verfolgung im 3. Reich in Südbaden (Konstanz 1985) u. Der Neubeginn. Aus deutscher Nachkriegszeit. Südbaden 1945–1950 (Konstanz 1988). B.s außerordentlich gründliche u. zuverlässige, dabei auch stilistisch gut geschriebene Arbeiten zu zeit- u. literaturgeschichtl. Gegenständen werden regelmäßig zu Kompendien, die den Rang von Standardwerken erreichen, von der Presse auch entsprechend gewürdigt wurden u. ihm mehrere bedeu-

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tende Auszeichnungen eintrugen (u. a. den Hebel-Preis u. zweimal den Bodensee-Literaturpreis der Stadt Überlingen). Herausragend: Der Johann Peter Hebel-Preis 1936–1988 (Waldkirch 1988), Kindheitsspuren. Literarische Zeugnisse aus dem Südwesten (Karlsr. 1991), Bohème am Bodensee. Literarisches Leben am See von 1900 bis 1950 (Lengwil 1997), Alemannisches Judentum. Spuren einer verlorenen Kultur (Eggingen 2001), KulturLand. Die Entwicklung von Kunst und Kultur im 20. Jahrhundert in BadenWürttemberg und seinen Vorgängerstaaten (Eggingen 2001, Allmende Bde. 64/65 u. 66/67), Dichterleben am Bodensee (Frauenfeld/Stgt./ Wien 2002, Kat. des Bodman-Hauses 3) u. Schwabenspiegel. Literatur vom Neckar bis zum Bodensee 1800 bis 1950. Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung. Hg. zus. mit Ulrich Gaier u. Wolfgang Rapp. 4 Bde.: Kat., Autorenlexikon, Aufsätze (Ulm 2006). Neben eigenen Werken, z.B. Hiergeblieben oder Heimat und andere Einbildungen. Essays, Porträts, Aufsätze und Reden aus 20 Jahren (Eggingen 1997) widmete sich B. v. a. Anthologien, z.B. Warum brüllt Frau Bichler Frau Kirkowski so an? Literarische Texte aus dem Raum Lörrach (Lörrach 2000), Unser aller Weg führt übern Bodensee. Eine Landschaft und ihre Menschen in der Literatur des 20. Jahrhunderts (Eggingen 2000), sowie, in zahlreichen Publikationen u. Herausgaben, der Wiederentdeckung zu Unrecht vergessener Autoren: Sepp Mahler, Max Picard, Max Barth, Erich Schairer, Franz Schneller, Jacob Picard, Will Schaber, Otto Ehinger, Eduard Reinacher, Käthe Vordtriede, Moritz Lederer, Tami Oelfken, Curt Weller, Robert Reitzel, Hans Leip u. a. Literatur: Daniel Drascek: M. B. In: LGL. – Hannes Schwenger: M. B. In: KLG. Armin Ayren

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Bosetzky, Horst (Otto Oskar), auch: -ky, John Taylor, John Drake, * 1.2.1938 Berlin-Köpenick. – Sozialwissenschaftler; Verfasser von sozialkritischen Kriminalromanen (Sozio-Krimis), bellestristischen Werken, Jugendbüchern, Anthologien, Hörspielen, Film- u. Fernsehdrehbüchern. B. enstammt einer Berliner Beamten-, Handwerker- u. Kohlenhändlerfamilie. Er ging in Zieko/Sachsen-Anhalt u. Berlin-Neukölln zur Schule. Nach dem Abitur machte B. eine Lehre als Industriekaufmann bei Siemens (1957–1960). Anschliebend studierte er an der FU Berlin Soziologie, Betriebswirtschaft, Volkswirtschaft u. Psychologie (1960–1966). 1969 promovierte B. mit einer Arbeit zum Thema Grundzüge einer Soziologie der Industrieverwaltung (Stgt. 1970) u. arbeitete eine Zeitlang als Assistent von Renate Mayntz, der »groben Dame der europäischen Organisationssoziologie«, bevor er eine Anstellung bei der Kommission für Verwaltungsreform des Bremer Senats annahm. Seit 1973 war B. Professor für Soziologie an der Fachhochschule für Verwaltung u. Rechtspflege (FHSVR) in Berlin, bis er im Jahre 2000 emeritiert wurde. B.s wiss. Interesse gilt der Organisationssoziologie u. Bürokratieforschung sowie den Fragen der Integration u. Resozialisierung von gesellschaftl. Randgruppen, ein Thema, das des Öfteren in seinen Kriminalromanen aufgegriffen wurde. Von den zahlreichen Romanen (Heften) u. Hörspielen, die B. während seiner Lehr- u. Studienzeit schrieb, wurden ungefähr 15 unter den Pseudonymen John Drake oder John Taylor veröffentlicht. 1971 debütierte B. unter dem Pseudonym -ky mit seinem ersten Kriminalroman (Zu einem Mord gehören zwei. Reinb.), dem in rascher Folge zahlreiche weitere Kriminalromane u. Hörspiele folgten. Insg. hat B. bis heute über 30 Kriminalromane u. zahlreiche Hörspiele u. Drehbücher für Funk u. Fernsehen verfasst. Seit Stör die feinen Leute nicht (Reinb. 1973) mischte B. seinen Kriminalromanen in zunehmenden Mabe sozialkrit. Züge bei u. verhalf somit dem dt. Kriminalroman zu ei-

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ner neuen »Erkenntnisfunktion«; er avancierte damit zum Begründer des dt. Soziokriminalromans. Die neue Funktion umfasste einen Aufklärungsprozess in zweifacher Hinsicht, wobei das Hauptgewicht auf gesellschaftlicher u. polit. Aufklärung des Lesepublikums lag u. nicht länger im Ermittlungsverfahren. Es geht B. darum, die gesellschaftlichen, wirtschaftl. u. polit. Zustände, die für die Verbrechen verantwortlich sind, zu durchleuchten, mit der Absicht, beim Leser einen Denkprozess auszulösen. Mit seinen Kriminalromanen taucht B. absichtlich in eine andere Welt ein, eine Fantasiewelt, welche die wirkl. Welt nach seiner Erfahrung widerspiegelt, jedoch nie mit dieser identisch sein kann, noch soll. B.s Kriminalwelt bleibt in einer immer erkennbaren Realität. Seine Wiedergabe von Realität ist, nach -ky, notwendigerweise beschönigt: »Es bleibt ja immer eine Phantasie, und die gebe ich herüber. [...] Die Scheinwelt muss eigentlich besser sein als die wirkliche Welt.« Dem Leser kommen die behandelten Themen aus dem eigenen Erfahrungsbereich bekannt vor, ohne dass B. auf einen spezifischen, wirklichen Vorfall eingeht. Jedoch gibt es zwischen seinen fiktiven Darstellungen u. der Realität zu viele Gemeinsamkeiten, als dass es sich um eine zufällige Anhäufung von Spekulationen handeln könnte. In Kein Reihenhaus für Robin Hood (Reinb. 1979), während dessen Filmpremiere er das Geheimnis hinter dem Pseudonym -ky lüftete, greift B. das Thema Terrorismus auf, welches Deutschland in den siebziger Jahren schwer belastete. B. beschäftigt sich aber auch mit Rassenhass (Feuer für den großen Drachen. Reinb. 1982), Mobbing (Ein Toter führt Regie. Reinb. 1974), Sanierungsskandale während der Wendezeit (Unfassbar für uns alle. Reinb. 1995) oder mit dem Problem der zunehmenden Verarmung gewisser Bevölkerungsschichten (Ich wollte, es wäre Nacht. Reinb. 1991). Verfolgt man Bs. kriminalschrifteller. Werdegang, erkennt man, dass er sich zunehmend von den einschränkenden, traditionellen Regeln des Krimigenres entfernt u. sich auf soziolog. (Krimi-)Studien konzentriert. In diesen soziolog. Studien rückt das Sozio- u. Psychogramm einzelner Menschen

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vor dem Hintergrund des Verbrechens in den Mittelpunkt. Spannung u. Verbrechen dienen nunmehr als Trägerelemente, um mittels dieser Maske ein Abbild gesellschaftlicher Zustände zu geben. B. geht es darum, die inhumanen Züge der westlichen kapitalist. Gesellschaft aufzudecken u. die Folgeerscheinungen dieses Gesellschaftssystems für die allgemeine Bevölkerung zu durchleuchten. Ein wesentliches Merkmal von B.s Soziokriminalroman besteht weiter darin, dass die beiden Begriffe Opfer u. Täter relativiert werden, d.h. dass das Opfer als Täter, u. der Täter als Opfer entdeckt werden kann. B. gibt seiner Opfer/Täter-Umstellung eine weitere Dimension bei, indem er zwischen ethischen u. jurist. Verbrechen/Taten unterscheidet (Es reicht doch, wenn nur einer stirbt. Reinb. 1975). Somit gibt es in B.s Kriminalromanen Opfer im ethischen Sinne, aber Verbrecher im juristischen, u. die de jure-Opfer, die vom ethischen Standpunkt aus gesehen Täter sind. Berlin u. die fiktive Kleinstadt Bramme dienen B. in seinen Krimis als dt. Gesellschaftsmodelle. Während (West-)Berlins äubere Eingeengtheit (Enklave vor der Wendezeit) wie ein Katalysator für Aggressivität u. Stress wirkt, ist es die innere, psych. Einengung, die die kriminelle Struktur Brammes prägt u. dort einen Kreislauf nichtender Gewalt bedingt. B. wurde verschiedentlich für sein Schaffen ausgezeichnet. 1980 erhielt er den Preis für den besten deutschsprachigen Kriminalroman, 1988 den Prix Mystère de la Critique für den besten ausländ. Kriminalroman in frz. Sprache, 1991 den Kultur-Bären der BZ, 1992 den Ehren-Glauser des SYNDIKATS für das Gesamtwerk u. die Verdienste um den deutschsprachigen Kriminalroman, 1995 den Berliner Krimi-Fuchs. Ab Mitte der 1990er Jahre begann sich B. vermehrt anderen Literaturrichtungen zu widmen. Hervorzuheben sind v. a. seine Romane der Familiensaga, in denen sich autobiogr. Elemente mit der allgemeinen, aber hauptsächlich der Berliner, Zeitgeschichte verbinden (Brennholz für Kartoffelschalen. Bln. 1995). Seine Verbundenheit mit Berlin u. seine Kenntnisse der Berliner Verkehrsmittel

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sind Gegenstand weiterer Romane, so wie Berliner Bahnen (Mchn. 2000), Das Berlin-Lexikon (zus. mit Jan Eik. Bln. 1998). Nicht erwähnt sind hier die zahllosen wiss. Arbeiten, die B. während seiner Zeit an der FHSVR als Professor der Soziologie veröffentlichte. Weitere Werke: Kriminalromane: Einer will’s gewesen sein. Reinb. 1978. – Friedrich der Grobe rettet Oberkommissar Mannhardt. Reinb. 1985. – Älteres Ehepaar jagt Oberregierungsrat K. Reinb. 1987. – Ich lege Rosen auf mein Grab. Reinb. 1988. – Da hilft nur noch beten. Reinb. 1988. – Nieswand kennt Tag u. Stunde. Reinb. 1990. – Ein Deal zu viel. Reinb. 1992. – Mit dem Tod auf du u. du. Bln. 1993. – Blut will der Dämon. Reinb. 1993. – Der Satansbraten. Stgt. 1994. – Fendt hört mit. Bln. 1994. – Wie ein Tier – Der S-Bahn Mörder. Bln. 1995. – Ein Mann fürs Grobe. Reinb. 1996. – Einer muss es tun. Reinb. 1998. – Alle meine Mörder. Reinb. 2001. – Das Double des Bankiers. Reinb. 2002. – Lieber Sport als Mord. Mchn. 2002. – Spreekiller. Bln. 2002. – Der kalte Engel. Bln. 2002. – In Bramme geht die Bombe hoch. Leer 2004. – Die Bestie vom Schlesischen Bahnhof. Bln. 2004. – Das Wandern ist des Mörders Lust. Mchn. 2004. – In Bramme fliebt Dozentenblut. Leer 2006. – Familiensaga: Capri u. Kartoffelpuffer. Bln. 1997. – Champagner u. Kartoffelchips. Bln. 1998. – Tamsel. Bln. 1999. – Quetschkartoffeln u. Karriere. Bln. 2000. – Zwischen Kahn u. Kohlenkeller. Bln. 2001. – Zwischen Barrikade u. Brotsuppe. Bln. 2003. – Küsse am Kartoffelfeuer. Bln. 2004. – Die schönsten Jahre zwischen Wedding u. Neukölln. Bln. 2006. – Nachschlagwerke u. Anthologien: Mord u. Totschlag bei Fontane. Bln. 1998. – (Hg.) Berliner Zehn-Minuten Gesch.n. Bln. 2003. – Das Wandern ist des Müllers Lust. Mchn. 2004. – Haste schon jehört? Berliner Merk- u. Denkwürdigkeiten (mit Jan Eik). Bln. 2005. – (Hg.) Neue Berliner Zehn-Minuten Gesch.n, Berlin wies es lacht u. lästert. Bln. 2005. – Mannhardts rätselhafte Fälle. Bln. 2005. – WestBerlin. Bln. 2006. – Andere Romane: Aus der Traum. Mchn. 1983. – Geh doch wieder rüber. Reinb. 1986. – Ich glaub mich tritt ein Schimmel. Reinb. 1986. – Dich reitet wohl der Schimmel. Reinb. 1987. – Der letzte Askanier. Bln. 1997. – Kante Krümmel Kracher. Bln. 2004. – Das Duell des Herrn Silberstein. Bln. 2005. – Die Liebesprüfung. Mchn. 2006. Literatur: Ulrich Schulz-Buschhaus: Formen u. Ideologien des Kriminalromans. Ein gattungsgeschichtl. Essay. Ffm. 1975. – -ky in: Lexikon der dt. Krimi-Autoren. Bochum 1992. – Karin Tantow u. Lutz Tantow: H. B. In: KLG. – Jürg Brönnimann:

103 Der Soziokrimi: ein neues Genre oder ein soziolog. Experiment. Wuppertal 2004. Jürg Brönnimann

Bosper, Albert, * 16.3.1913 Lindau/Bodensee. – Erzähler u. Dramatiker. Nach dem frühen Tod seiner Eltern absolvierte B. zunächst eine kaufmännische Lehre. Später arbeitete er u. a. als Filmkomparse, Schauspieler u. Bankangestellter. Im Zweiten Weltkrieg war er Soldat im Osten u. Südosten. Nach 1945 betätigte B. sich als Tiefbauarbeiter, Straßenbahnschaffner, Eisenbahnpolizist u. war daneben auch freier Mitarbeiter bei Presse u. Funk. Bekannt wurde er als Dramatiker u. Erzähler. Die Themen seiner Werke sind meist sozialkritischer u. polit. Art. Beispielsweise schildert B. die Armut der Bewohner eines kleinen Dorfes in Rumänien u. die dort herrschende soziale Ungerechtigkeit in seinem Roman Die schiefen Häuser (Mchn. 1952). B.s Erzählweise ist humorvoll, teilweise auch in ironisch-bissigem Ton gehalten. Am bekanntesten wurde sein Kriegsroman Der Hiwi Borowitsch (Stgt. 1958. Wien [1962]). Er berichtet vom Schicksal eines jener zahlreichen Sowjet-Soldaten im Zweiten Weltkrieg, die sich aus existentieller Not »freiwillig« zur dt. Wehrmacht meldeten. B. veröffentlichte auch Theaterstücke, Hörspiele, Funkprosa, Feuilletons u. Satiren. Weitere Werke: Der Onkel u. die Bande. Gütersloh 1955 (E.). – Kein Dtschld. ohne Ferdinand. Stgt. 1959 (R.). – Belinda oder das große Rennen. Stgt. 1960 (R.). Heino Freiberg / Red.

Boßdorf, Hermann, * 29.10.1877 Wiesenburg bei Belzig, † 24.9.1921 Hamburg; Grabstätte: ebd., Ohlsdorfer Friedhof. – Niederdeutscher Dramatiker.

Bosse

Strindberg, dessen Werke er teilweise ins Niederdeutsche übertrug. Naturalistisch sind seine 1918/19 in Hamburg uraufgeführten Dramen De Fährkrog u. Bahnmeister Dood (beide Hbg. 1919), eine Ehebruchtragödie, die bereits mit dem Titel an Hauptmanns Erzählung Bahnwärter Thiel erinnert. Die Verwendung des Plattdeutschen dient B. auch zur sozialen Charakterisierung seiner Helden, die ihrem ungünstigen sozialen Milieu nicht entfliehen können u. häufig an psych. Deformationen leiden. Dies ist der Hintergrund ihrer kriminellen Handlungen. In der niederdt. Literatur ungewöhnliche erot. Anspielungen finden sich in B.s tragischer Komödie De rode Ünnerrock (Hbg. 1921). In einer Auftragsarbeit für die Niederdeutsche Bühne Richard Ohnsorgs in Hamburg, der Komödie Kramer Kray (Urauff. Hamburg 17.1.1920), kam B. dem Geschmack eines breiten Publikums entgegen. Ehehändel, plumpe Situationskomik u. Typisierung der handelnden Personen erweisen sich hier als geeignete Mittel, um das plattdt. Theaterpublikum seiner Zeit zu begeistern. Bis heute steht das Stück auf vielen Spielplänen niederdt. Bühnen, während B.s erste Dramen sehr viel seltener aufgeführt werden. B.s theoret. Schriften über Aufgaben u. Möglichkeiten eines niederdt. Theaterschriftstellers sind kaum rezipiert worden. Weitere Werke: H. B. Ges. Werke. Hg. Willy Krogmann. 11 Bde., Hbg. 1952–55. Literatur: Albrecht Janssen: H. B. Der Mensch – Das Werk – Der Dichter. Hbg./Bln./Lpz. 1927. – Heinrich Detjen: H. B. als Dramatiker. Diss. Hbg. 1936. – Walther Niekerken: H. B. In: NDB. – Joachim Arp: Der Mensch in der niederdt. Kom. Stavenhagen, B., Schurek, Ehrke. Neumünster 1964. – Friedrich W. Michelsen (Hg.): Ndt. Tage in Hamburg. H. B., 1877–1921. Hbg. 1977. Jörg Schilling / Red.

B., Sohn eines Briefträgers, arbeitete bis zu seinem frühen Tod als Post- u. TelegrafenBosse, Friedrich, auch: Heinrich Friedrich, beamter in Hamburg. Seine ersten Prosawer* 14.1.1848 Hessen bei Wolfenbüttel, ke verfasste er in hochdt. Sprache, begann † 28.10.1909 Leipzig. – Sozialistischer aber während des Ersten Weltkriegs einige Dramatiker u. Publizist. Dramen in Plattdeutsch zu schreiben. Neben Fritz Stavenhagen zählt er zu den Begrün- 1874 ließ sich der Stellmachersohn B. als dern der ernsten neuniederdt. Bühnenlitera- Malermeister in Leipzig nieder u. war tur. Anregungen erhielt er v. a. von August 1879–1904 Vorsitzender des Fortbildungs-

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vereins für Arbeiter, den er als »Pflanzstätte der Sozialdemokratie für ganz Deutschland« verstand. Durch Zeitschriften (»Sturmglocken«, 1894–95 u. »Der freie Bund«, 1899–1902), v. a. aber als Autor des proletar. Laientheaters suchte er sozialistisches Gedankengut zu propagieren. B.s dramat. Werk umfasst allegor. Festspiele in Versform, deklamatorisch u. ohne durchgehende Handlungslinie (Die Alten und die Neuen. Lpz. 1888), dramatisierte Streitgespräche (Die Arbeiter und die Kunst. Lpz. 1897), Komödien (Eine Frau mit Vorurteilen. Lpz. 1893). Bühnengemäßer war sein Sozialdrama Im Kampf (Lpz. o. J. [1892]): Die dramat. Handlung erhält Eigengewicht gegenüber der agitator. Didaxe. Unter Einsatz melodramatischer Mittel (Mord, verschmähte Liebe), jedoch differenziert in der Figurenzeichnung, wird eine im Streik endende Konfrontation zwischen Kapital u. Proletariat dargestellt. Trotz deutlicher Reminiszenz an Schillers Kabale und Liebe – Schleicher, der die dramat. Intrige in Gang setzt, ist als Verräter seiner Klasse ein Artverwandter Wurms – lenkt B. die Handlung einem optimist. Abschluss zu: Der Intrigant wird von den Rechtsnormen eingeholt; die Arbeiterklasse aber – voran der Streikführer Fels – bleibt sich über die erreichte Interessenvertretung hinaus ihres höheren Ziels bewusst. Neuausgabe: F. B.: Frühes Leipziger Arbeitertheater. Hg. Gustav Schroeder. Bln. 1972. Literatur: Gustav Schröder: Das sozialist. Drama [...]. Habil.-Schr. Potsdam 1965. – Michael Pehlke: Ein Exemplar proletar. Dramatik. Bemerkungen zu F. B.s Streikdrama ›Im Kampf‹. In: Literaturwiss. u. Sozialwiss.en. Stgt. 1971, S. 400–434. – Frank Trommler: Sozialist. Lit. in Dtschld. Stgt. 1976. Arno Matschiner / Red.

Bossert, Rolf, * 16.12.1952 Reschitza/Rumänien, † 17.2.1986 Frankfurt/M. (Freitod). – Lyriker. B. studierte nach dem Abitur Deutsch u. Englisch an der Universität Bukarest, arbeitete anschließend vier Jahre als Deutschlehrer in Bus¸teni u. ab 1981 als Verlagslektor in Bukarest. Nach seinem Ausreiseantrag 1984 verlor B. seine Arbeitsstelle; sein Name ver-

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schwand aus den Annalen der rumäniendt. Literatur. Noch kurz vor seiner Ausreise in die Bundesrepublik (Dez. 1985) wurden bei einer Hausdurchsuchung sämtl. Manuskripte beschlagnahmt. Die Umstände von B.s Tod in einem Frankfurter Asylantenheim konnten nie vollständig geklärt werden. Der Lyrikband siebensachen (Bukarest 1979), mit dem B. debütierte, erschien in Rumänien mit großer Verzögerung. Diese frühen Gedichte stehen deutlich unter dem Einfluss der »Aktionsgruppe Banat«, einer linksoppositionellen Gruppierung deutschsprachiger Schriftsteller in Rumänien, die um 1971 unter Berufung auf Bertolt Brecht eine auf operative Funktionen u. poet. Kommunikativität verpflichtete Literatur zur Maxime erhoben hatte. B.s Gedichtband Neuntöter (Cluj Napoca 1984) lässt eine Neuorientierung in seiner Lyrik erkennen: B. bettet traditionelle lyr. Bilder in ungewohnte Kontexte ein, konfrontiert disparate Ausdrucksweisen, provoziert poet. Brüche u. Negationen. In einem poetolog. Aufsatz (in: Die wollen meine Haut, meine Wörter, s. u.) nennt B. als prägende Vorbilder die Lyrik der Expressionisten u. der frz. Surrealisten. Neben Gedichten, die mit den Mitteln der krypt. Anspielung u. einer hermet. Bildlichkeit arbeiten, finden sich bei B. auch liedhafte Formen: böse Idyllen, zornige Balladen u. »verletzte Lieder«, in denen der aggressive Ton der Vagantendichtung François Villons u. der grimmige Spott Heines oder Brechts mitschwingen. In den späteren Gedichten treten gebundene Formen zurück, die Texte zersplittern immer mehr. Auf jede direkte Benennung der Gewaltverhältnisse im autoritären rumän. Sozialismus wird verzichtet zugunsten der evokativen Kraft dicht gefügter poet. Bilder: Gedichte als zerfetzter Gesang. B. erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Lyrikpreis des Verbandes der Kommunistischen Jugend Rumäniens (1979), den Übersetzerpreis des Rumänischen Schriftstellerverbandes (1982) u. den Adam-MüllerGuttenbrunn-Literaturpreis (1983). Weitere Werke: Mi u. Mo u. Balthasar. Bukarest 1980 (Kinderbuch). – Der Zirkus. Bukarest 1982 (Kinderbuch). – Auf der Milchstraße wieder kein Licht. Bln. 1986 (L.). – Die wollen meine Haut,

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105 meine Wörter. Lyrik, Prosa u. eine Mitt. aus der Praxis. Bremerhaven 1987. – So entstand ein Gedicht. Eine Mitt. aus der Praxis. Geschrieben 1983. In: Die Horen 32 (1987), 3, S. 35–41. Ausgabe: Ich steh auf den Treppen des Winds. Ges. Gedichte 1972–85. Hg. Gerhardt Csejka. Ffm. 2006. Literatur: Gerhard Mahlberg: Tönender Biß in der Kehle des Tags, den sie züchten. Über R. B. In: Die Horen 32 (1987), 3, S. 42–64. – Werner Söllner: R. B. In: KLG. – Thomas Kraft: R. B. In: LGL. – Astrid Schau: Leben ohne Grund. Konstruktion kultureller Identität bei Werner Söllner, R. B. u. Herta Müller. Bielef. 2003. – Diana Schuster: Die Banater Autorengruppe. Selbstdarstellung u. Rezeption in Rumänien u. Dtschld. Konstanz 2004. Michael Braun / Red.

Bosshart, Jakob, * 7.8.1862 Stürzikon bei Winterthur, † 18.2.1924 Clavadel bei Davos; Grabstätte: Stürzikon, auf dem väterlichen Hof. – Lehrer, Erzähler, Romanautor. Der Bauernsohn aus dem Zürcher Mittelland kam erst 1885 zur Aufnahme eines wiss. Studiums an der Universität Zürich, wo er 1887 mit einer sprachwiss. Arbeit zum Dr. phil. promovierte. Nach einem Englandaufenthalt u. verschiedenen Aushilfsstellen begann er ab 1890 am Zürcher Gymnasium zu unterrichten, wo er neuartige Methoden des Französischunterrichts einführte u. 1899 zum Rektor gewählt wurde. Ein Jahr zuvor hatte er mit dem Band Im Nebel (Lpz. 1898) als Schriftsteller debütiert. Mit den düsteren Texten, die vom aussichtslosen Kampf bäuerlicher Menschen gegen ihr Schicksal handeln, entsprach B. zwar nur oberflächlich den Erwartungen des dt. Lesepublikums an einen »Schweizer Dichter«, sie genügten aber, um ihn auf das alpine, touristisch-relevante Bizarr-Schweizerische festzulegen, dem er dann mit seinen weiteren Büchern mehr oder weniger entsprach. Das Bergdorf (Lpz. 1900) u. Die Barettlitochter (Lpz. 1902) gestalten in historischem Gewand das Schicksal von eigenwilligen, innerlich unabhängigen Frauen. Beide Erzählungen spielen im von Jeremias Gotthelf literarisch erschlossenen Gebiet des alten Bern. Im bäuerl. Milieu sind fast immer auch die Erzählungen

angesiedelt, die B. 1903 u. 1910 in den beiden Novellenbänden Durch Schmerzen empor u. Früh vollendet bei Haessel in Leipzig publizieren ließ. Es sind »erschütternde ländliche Alltagstragödien« (Fritz Hunziker), die zwar die Bilder u. Motive der damals modischen Heimatliteratur verwenden, in ihrer künstler. Durchformung u. im überzeitl. Gehalt aber weit über die Werke von Jakob Christoph Heer oder Ernst Zahn hinausragen; im Band Durch Schmerzen empor ist mit der Novelle Die alte Salome übrigens ein Kabinettstück von B.s Menschendarstellung enthalten. Nicht nur die berufl. Tätigkeit – ab 1916 musste er sich allmählich vom Schuldienst zurückziehen –, auch das schriftstellerische Schaffen wurde stark in Mitleidenschaft gezogen, als B. ab 1903 an Tuberkulose erkrankte u. von diesem Leiden trotz häufigem u. in den letzten Lebensjahren ständigem Aufenthalt in einem Höhensanatorium nie mehr loskam. Zunächst verstärkte sich aus der Erfahrung des körperl. Verfalls B.s Neigung zum Erdhaften, Bäuerlich-Bodenständigen nochmals: Die Novellen in den Bänden Erdschollen (Lpz. 1913) u. Opfer (Lpz. 1920) legen dafür beredtes Zeugnis ab. Unter dem Eindruck der Streikbewegung u. der sozialen Kämpfe im Zürich der Vorkriegszeit, v. a. aber durch den als gesellschaftl. Katastrophe empfundenen Ersten Weltkrieg wurde der ständig zwischen Leben u. Tod hin- u. hergerissene Dichter zu einer radikalen Umkehr u. Rückbesinnung auf eine literarisch-polit. Richtung bewogen, die er schon 1892 mit dem unveröffentlichten Drama Der Arbeiterführer eigentlich hatte einschlagen wollen: das kämpferische Aufbegehren gegen die niederschmetternden sozialen Konsequenzen der Industrialisierung u. der kapitalistischen, das Recht des Stärkeren postulierenden Wirtschaftsordnung. Deutlichen Ausdruck fand dieser Wandel in einer Reihe von anklägerischen, sozialkrit. Novellen, die in der Sammlung Neben der Heerstrasse (Zürich 1923; illustriert v. Ernst Ludwig Kirchner) publiziert wurden; bes. bemerkenswert die beiden Erzählungen Wie Josua Grübler seinen Weg fand u. Der Friedensapostel. Ihren Höhepunkt fand B.s neue Tendenz im künstlerisch nicht restlos gelungenen, zeitgeschichtlich u. von der

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Idee her aber überzeugenden Roman Ein Rufer in der Wüste (Zürich 1921. Neu hg. v. Charles Linsmayer in: Edition »Frühling der Gegenwart«. Zürich 1982). Das Buch sollte den Anfang einer – nicht mehr zustande gekommenen – Trilogie bilden (zum zweiten Teil, Der Jugendbund, existiert ein längerer Entwurf) u. stellt den zum Scheitern verurteilten Versuch des Industriellensohns Reinhart Stapfer dar, am Vorabend des Ersten Weltkriegs die sozialen u. polit. Gegensätze innerhalb der schweizerischen Gesellschaft zu versöhnen. Stapfer, der alle zeitgenöss. Lösungsversuche der Reihe nach prüft u. schließlich die Rückkehr zu bäuerl. Einfachheit fordert, bleibt ein einsamer Rufer in der Wüste u. stirbt nach einem durch den sozialist. Jugendfreund David verübten Attentat auf dem Bauerngut seiner Vorfahren just in dem Moment, als die Welt in den Schmelzofen des Krieges hineingerät. Die Hoffnung aber geht auf den neuen Menschen über, der in derselben Stunde auf dem Golsterhof zur Welt kommt. Im Gegensatz zu Meinrad Inglin, der in seinem Roman Schweizerspiegel (1938) die gleiche Epoche der schweizerischen Geschichte darstellte, vermied es B., über die Hoffnungen u. Ideen der Zeit aus bürgerlicher Sicht ein Urteil zu fällen. Ausgaben: Erzählungen. 5 Bde., Lpz. 1913. – Erzählungen. 6 Bde., Lpz. 1919–21. – Der Grenzjäger. Verbrechensgesch.n. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Hans Joachim Kruse. Bln. 1983. – Werke in 6 Bdn. Frauenfeld 1950/51. Neudr. Zürich 1988. Literatur: Max Konzelmann: J. B. Eine Biogr. Erlenbach/Lpz. 1919. – Berta Huber-Bindschedler: J. B. In: Die Schweiz im dt. Geistesleben. Frauenfeld 1929. – Fritz Hunziker: J. B. Nachw. zu den Werken in 6 Bdn. Frauenfeld 1951. – Martin Stern: J. B. Nachw. zu ›Ein Rufer in der Wüste‹. In: Ed. ›Frühling der Gegenwart‹, a. a. O. – Karl Fehr: J. B. In: Küsnachter Jahresblätter (1986). – François Comment: Der Erzähler J. B. Bern u. a. 1990. Charles Linsmayer / Red.

Bostel, Lukas von, * 11.10.1649 Hamburg, † 15.7.1716 Hamburg. – Jurist u. Politiker; Librettist. Der Sohn eines Hamburger Seidenkrämers u. Ratsherren studierte seit 1670 Jura in Hei-

delberg, später in Leiden, wo er 1674 den Doktorgrad erwarb. Noch im selben Jahr brach er zu einer mehrjährigen Bildungsreise durch fast ganz Europa auf. Nach seiner Heimkehr 1679 schloss er sich der aristokrat. Ratspartei an, um von nun an am polit. Leben Hamburgs mitzuwirken. 1682/83 war B. Vorsitzender des Niedergerichts, u. nach überstandener Belagerung durch die Dänen wurde er 1686 zum Stadtsyndikus gewählt. Wiederholt stellte er sein diplomatisches Geschick als Gesandter der Hansestädte unter Beweis. So erreichte er, dass diese in den Frieden einbezogen wurden, den Frankreich u. die übrigen europ. Mächte 1697 im niederländ. Rijswijck miteinander schlossen. 1709 wurde B. zum Bürgermeister gewählt. Am Zustandekommen des Verfassungswerks aus den Jahren 1710–1712, das weit über Hamburgs Grenzen hinaus Beachtung fand, war er als Mitautor maßgeblich beteiligt. Erfolgreich war B. als Verfasser einiger Singspiel- u. Opernlibretti, für die ihm ital. u. frz. Texte als Vorlage dienten. Erwähnenswert ist v. a. die von Johann Wolfgang Franck vertonte u. 1686 an zwei Tagen in Hamburg erstmals aufgeführte Doppeloper Cara Mustapha oder Belagerung von Wien bzw. Der glückliche und unglückliche Cara Mustapha nebst dem erfreulichen Entsatz von Wien. Ungewöhnlich sind nicht nur die sehr kurzen Verszeilen, mit denen B. die Ausdruckskraft des Textes enorm zu steigern vermochte, sondern auch die in Dialekt verfassten Coupleteinlagen, die dem Hamburger Publikum gänzlich neu waren u. dem Werk zu seinem durchschlagenden Erfolg verhalfen. Neben seinem Schaffen für die Hamburger Oper übertrug B. auch die Satiren des frz. Historiografen u. Poeten Nicolas Boileau-Despréaux ins Plattdeutsche u. blieb bis ins Alter Gönner u. Förderer junger literar. Talente. Weitere Werke: Diocletianus. Musik v. Johann Wolfgang Franck. Hbg. 1682 (Singsp.). – Vespasianus. Musik v. J. W. Franck. Hbg. 1683 (Singsp.). – Theseus. Musik v. Nicolaus Adam Strunck. Hbg. 1684. – Croesus. Musik v. Johann Philipp Förtsch. Hbg. 1684. Ausgaben: Der hochmütige, gestürzte u. wieder erhabene Croesus. Oper in drei Akten. Hg. Peter Scheibe. Halle 1989. – Das unmöglichste Ding. In

Bote

107 einem Sing-Spiel vorgestellet. Hbg. 1684 (Komp.: Johann Philipp Förtsch). Internet-Ed.: http:// diglib.hab.de/drucke/textb-sbd-7-5/start.htm. Literatur: Frank-Rutger Hausmann: Bibliogr. der dt. Übers.en aus dem Italienischen v. den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 1 (2 Teilbde.), Tüb. 1992, Nr. 0313, 0317. – Alberto Martino: Die ital. Lit. im dt. Sprachraum. Ergänzungen u. Berichtigungen zu F.-R. Hausmanns Bibliogr. Amsterd./ Atlanta 1994, S. 13, 196 f. – Weitere Titel: Karl T. Gaederts: Das niederdt. Drama v. den Anfängen bis zur Franzosenzeit. o. O. 1894. – Heinrich Reincke: L. v. B. In: NDB. – Hellmuth Christian Wolff: Die Barockoper in Hamburg. Bd. 1, Wolfenb. 1957. – Utz Maas: Niederdt. Sozialkritik in der Hamburgischen Barock-Oper? In: Korrespondenzblatt des Vereins für Niederdt. Sprachforsch. 93 (1986), S. 5–7. – Werner Braun: Vom Remter zum Gänsemarkt. Aus der Frühgesch. der alten Hamburger Oper (1677–97). Saarbr. 1987. – Hans Joachim Marx u. Dorothea Schröder: Die Hamburger Gänsemarkt-Oper. Kat. der Textbücher (1678–1748). Laaber 1995. – Sarah Colvin: The rhetorical feminine. Gender and Orient on the german stage. 1647–1742. Oxford 1999. – George J. Buelow in: The New Grove 2. Aufl. Bd. 4, S. 69 f. Rainer Wolf / Red.

Bostel, Nicolaus von, * 6.10.1670 Stade, † 13.1.1704 Stade. – Verfasser lateinischer, deutscher u. niederdeutscher Gedichte; Übersetzer. B. besuchte das Athenaeum in Stade, studierte Jura an der Leipziger Universität (Immatrikulation Sommersemester 1688) u. ab 1690 in Frankfurt/O., trat eine längere Auslandsreise an u. kehrte im letzten Jahrzehnt des 17. Jh. nach Stade zurück, wo er Ratsherr u. 1700 Praetor, d.h. Stadtrichter, wurde. B. starb unverheiratet im Alter von 33 Jahren. Bekannt wurde B. der Nachwelt durch die postum von einem ungenannten Freund veröffentlichte Auswahl seiner deutschen, niederdt. u. lat. Gedichte sowie seiner Gedichtübersetzungen aus mehreren Sprachen. Sein anfänglich Hoffmannswaldau, später auch Christian Weise verpflichtetes Werk zeichnet sich durch einen Hang zur Satire aus u. wurde von dem zeitgenöss. Dichter u. Rezensenten Christoph Woltereck lobend hervorgehoben wegen der plattdt. Gedichte, de-

ren eines 1688 das ganze April-Stück der Thomasius’schen »Monatsgespräche« füllte. Werk: Poëtische Neben-Wercke, bestehend in teutschen u. lat. geistl., Moral- Trauer- vermischten- u. übersetzten Gedichten. Hbg. 1708. Ausgabe: Fischer/Tümpel 4, S. 530. Literatur: Christian Friedrich Weichmann: Vorrede zu Christian Heinrich Postel: Der grosse Wittekind. Hbg. 1724. – Redlich: N. v. B. In: NDB. – Kurt Schreinert: Der Stader Dichter N. v. B. In: Stader Jb. 1954, S. 176–195. – Alberto Martino: Die ital. Lit. im dt. Sprachraum. Ergänzungen u. Berichtigungen zu F.-R. Hausmanns Bibliogr. Amsterd./Atlanta 1994, S. 431. Jürgen Rathje / Red.

Bote, Hermann, * vor 1467 (wohl um 1450) Braunschweig, † 1520 (oder später) Braunschweig (?). – Stadtschreiber, Autor von Fachprosa, Chroniken, gnomischer u. didaktischer Literatur, politischen Liedern u. einem Schwankroman. Das früheste gesicherte Datum aus dem Leben des Braunschweiger Zoll- u. Steuereinnehmers B., Sohn des Schmiedemeisters u. Ratsherrn Arnd Bote, ist der 6. (7.?) 2.1488. An diesem Tag forderte eine Gruppe aufrührerischer Gildenmitglieder vom Rat der Stadt Braunschweig u. a., dass der Zollschreiber B. gemaßregelt werden solle. Am 24.6.1488 wurde B. unter Hausarrest gestellt u. damit praktisch seines Amtes enthoben. Da ein Minderjähriger kein städt. Amt innehaben konnte, muss B. allerspätestens 1467 geboren sein. Dass die Erwähnung eines Hermann Bote in einem Braunschweiger Steuerregister 1471 bereits den nachmaligen Zollschreiber H. B. meint, ist nicht unwahrscheinlich. B. wäre dann bereits um 1450 geboren. B. wurde von der innerstädt. Opposition 1488 aus dem Amt entfernt, weil er in diesem Jahr ein »Schandlied« in der literar. Form der Testamentsparodie verfasst hatte (Vermachung der Körperteile einer Katze an die einzelnen Gilden), das den Anführer der gildischen Opposition, Ludeke Holland, verunglimpfte: nach Lage der Überlieferung B.s literar. Debüt. Diesem Spottlied folgten bis 1491/92 zwei weitere nach, ebenfalls aus Anlass der »Schicht« Hollands von 1488 ff. geschrieben (Hg. Herbert Blume. In: Braun-

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schweig. Jb. 66, 1985, S. 57–77). Von den »Schichten«, d.h. den Unruhen u. Aufruhrereignissen in der Stadt Braunschweig zwischen 1293 u. 1513/14, berichtet B. in seinem Schichtboick (Schichtbuch, erstmals abgeschlossen 1510, Nachträge bis 1513/14. Hg. Ludwig Hänselmann. Lpz. 1880. Neudr. Gött. 1962). In farbiger, meist am Stil mündl. Erzählens orientierter Prosa zeigt B. seinen (wohl patrizischen) Lesern, wohin es führen kann, wenn in den Hansestädten »twidracht« zwischen den Ständen herrscht: Das gemeine Wohl nimmt Schaden, u. die innerlich zerstrittenen Städte fallen wehrlos den politisch aufstrebenden Territorialfürsten in die Hände. B. ist hier – u. auch sonst in seinem Werk – Wortführer des bestehenden sozialen Ordo, u. er schreibt aus der Perspektive des hanseatisch-braunschweigischen Ratsbediensteten. Diese Sicht prägt auch die Schriften B.s, die in die Schichtbuch-Handschrift inkorporiert sind: Repertorien der Wappen (v. a.) der hansischen Welt, der Braunschweiger Münzu. Währungsgeschichte, der Kirchen u. Klöster in Braunschweig. Nach seiner Amtsenthebung wirkte B. mit großer Wahrscheinlichkeit als Gogräfe (Dorfrichter u. Einnehmer von Steuern u. Abgaben) im cellischen Amt Papenteich im Dorf Rötgesbüttel (zwischen Braunschweig u. Gifhorn), vermutlich bis zum offenen Ausbruch der »Großen Stadtfehde« 1492, in der die Braunschweiger Herzöge u. die Stadt einander feindlich gegenüberstanden. Von 1493 an ist B. wieder in Braunschweiger städt. Dienst nachzuweisen, zunächst nur auf nachgeordnetem Posten: als Bierschenk im städt. (Altstadt-)Ratskeller. In den Jahren des Rötgesbütteler Exils dürfte B.s Boek van veleme rade (Buch von mancherlei Rad/Rat. Druck Lübeck um 1492/93. Hg. Herman Brandes. In: Nd. Jb. 16, 1890, S. 1–41. Faks. hg. v. Werner Wunderlich. Göpp. 1985) entstanden sein: ein in Reimversen verfasstes Lehrgedicht, in dem das harmon. Miteinander der gesellschaftl. Stände in der Allegorie des reibungslos funktionierenden Räderwerks einer Mühle dargestellt wird. 1497–1513 wird B. wiederum in Braunschweiger Kämmereibüchern als Zollschreiber, d.h. als einer der sechs Stadtschreiber, geführt.

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Mit der Rückkehr in die Stadt 1492/93 setzte die literarisch fruchtbarste Periode in B.s Leben ein. Etwa 1493 begann er mit der Niederschrift der sog. Braunschweiger Weltchronik (früher: Hetlingische Weltchronik, Halberstädter Weltchronik), brach die Arbeit daran jedoch um 1502 ab u. setzte im selben Jahr zu einem neuen Werk eben dieser Gattung an, der sog. Hannoverschen Weltchronik (Auszüge aus beiden Chroniken sind hg. v. Gerhard Cordes: Auswahl aus den Werken H. B.s. Wolfenb./Hann. 1948), an der er bis etwa 1518 arbeitete. 1502/03 verfasste B. im Auftrag des Rates das Tollenboyk (Zollbuch) der Stadt Braunschweig; Nachträge von seiner Hand finden sich bis 1507. Im Zollbuch sind insbes. die Zolltarife sowie die Dienstanweisungen für den Zollschreiber u. die ihm zuarbeitenden städt. Bediensteten niedergelegt. Das bereits erwähnte Schichtbuch muss in seinen wesentl. Teilen ebenfalls im ersten Jahrzehnt des 16. Jh. entstanden sein. Seit Anfang der 1970er Jahre gilt B. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch als Autor (d.h. Bearbeiter) des bis dahin als anonym angesehenen »Volksbuchs« Ein kurtzweilig Lesen von Dyl Vlenspiegel, dessen älteste nachweisbare Druckfassung 1510/11 hochdeutsch erschienen ist (Hg. Wolfgang Lindow. Stgt. 1966; nach der Aufl. Straßb. 1515. Faks. dieser Aufl. hg. v. Edward Schröder. Lpz. 1911. Danach das Faks. v. W. Wunderlich. Göpp. 1982). Eine Vielzahl sicherer Indizien spricht jedoch dafür, dass B. den Ulenspiegel ursprünglich, wie alle seine übrigen Werke, auf Niederdeutsch verfasst hat u. dass die Straßburger Frühdrucke Produkt einer dortigen Übersetzung ins Hochdeutsche sind. Für die vereinzelt geäußerte These, das Eulenspiegelbuch sei ein hochdeutsches, in Straßburg entstandenes Originalprodukt, gibt es keine tragfähigen Argumente. Der Ulenspiegel steht in den Traditionen mehrerer literar. Gattungen des MA zugleich: v. a. der des Schwankzyklus (zum Schwankroman sich verfestigend) u. der (ständekrit.) Satire. An der Oberfläche ist B.s Ulenspiegel derb u. burlesk bis zur Unflätigkeit; auf den zweiten Blick wird auch hier vieles von B.s konservativer, moralist. Sozialkritik sichtbar.

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Am 5.6.1513 wurde B. neuerlich von aufrührerischen Braunschweiger Bürgern aus dem Amt gejagt: ein Akt des Protestes gegen die schwer auf der Bevölkerung lastende Steuerpolitik des Rats. Von 1516 bis Juni 1520 ist B. als Verwalter der städt. Ziegelei urkundlich nachzuweisen, dann schweigen die Quellen. In diesem letzten Abschnitt seines Lebens meldete B. sich nochmals (1519, zu Beginn der sog. »Hildesheimer Stiftsfehde«) als Autor politisch-polemischer Lieder zu Wort (Rochus von Liliencron: Die historischen Volkslieder der Deutschen. Lpz. 1865–69. Bd. 2, S. 315–320. Bd. 3, S. 280–283, 287–291). Schließlich stammt aus dieser Epoche B.s Köker (um 1520 entstanden, ältester Druck 1711. Ausg.: Gerhard Cordes. Tüb. 1963), eine in Hakenreimversen abgefasste Spruchsammlung: überwiegend in bitter-ironischem, manchmal sarkastischem Ton formulierte Lebensweisheiten, deren der Leser sich bedienen soll, so wie man Pfeile aus einem Köcher (Köker) nimmt. Ob die sprachlich wie inhaltlich B.s chronistischem Schaffen nahe stehende, 1492 in Mainz von Peter Schöffer gedruckte Cronecken der Sassen, die (unsicher) meist einem Namensvetter B.s, Cord Bot(h)e, zugeschrieben wird, ebenfalls ein Werk von B. sein kann, ist bislang nicht zu entscheiden gewesen. Unwahrscheinlich jedoch ist die vereinzelt geäußerte Vermutung, B. sei auch Bearbeiter oder gar Autor der Lübecker Frühdrucke Dat Narrenschyp (1497) u. Reynke de Vos (1498) gewesen, wie es im Übrigen auch für einen manchmal postulierten Aufenthalt B.s in Lübeck (zwischen 1488 u. 1493 oder 1497) keine zwingenden Argumente gibt. Da B. sich in seinen Schriften (Ausnahme: Zollbuch) nie unverschlüsselt als Verfasser nennt, ist er jahrhundertelang unerkannt u. unbekannt geblieben. Erst seit 1880 (Hänselmanns Schichtbuch-Ausgabe) wird B.s Identität schrittweise von der Wissenschaft freigelegt. Seine Schriften jedoch, nicht nur die chronistischen, sind seit dem 16. Jh., ohne dass man ihren Autor kannte, immer wieder abgeschrieben, umgestaltet, (teil-)ediert u. zitiert worden, so von Andreas Schoppius, Caspar Abel, Gottfried Wilhelm Leibniz, Julius Philipp Rehtmeier, Friedrich August

Bote

Hackmann, Karl Friedrich Arend Scheller, August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Rochus von Liliencron u. a. Hänselmann verwendet in seiner Novelle Hans Dilien der Türmer (1881) Passagen aus B.s Schichtbuch. Der Ulenspiegel u. sein Stoff haben in vielerlei Wandlungen eine weltliterar. Wirkung entfaltet, die bis zum heutigen Tag ungebrochen ist. Literatur: Christoph Walther: Zur Gesch. des Volksbuchs vom Eulenspiegel. In: Nd. Jb. 19 (1893), S. 1–79. – Gerhard Cordes: Die Weltchroniken v. H. B. In: Braunschweig. Jb. 33 (1952), S.75–101. – Peter Honegger: Ulenspiegel. Ein Beitr. zur Druckgesch. u. zur Verfasserfrage. Neumünster 1973. – Bernd Ulrich Hucker: Eine neuentdeckte Erstausg. des Eulenspiegel v. 1510/11. In: Philobiblon 20 (1976), S. 78–120. – G. Cordes: H. B. In: VL. – Herbert Blume u. Werner Wunderlich (Hg.): H. B. Bilanz u. Perspektiven der Forschung. Göpp. 1982 (Bibliogr. S. 133–154). – Eberhard Rohse: Poiesis u. Tradition. Poetolog. Fragen zum Werk H. B.s. Ebd., S. 73–91. – Werner Wunderlich: ›Till Eulenspiegel‹. Mchn. 1984. – Martin Kintzinger: ›H. B. to scrivende‹. In: Korrespondenzbl. des Vereins für niederdt. Sprachforsch. 92 (1985), S. 58–66. – Georg Bollenbeck: Till Eulenspiegel. Der dauerhafte Schwankheld. Stgt. 1985. – H. Blume: H. B.s Ludeke-Holland-Lieder u. ihre Überlieferung. In: Braunschweig. Jb. 66 (1985), S. 57–77. – Detlev Schöttker u. W. Wunderlich (Hg.): H. B. Braunschweiger Autor zwischen MA u. Neuzeit. Wiesb. 1987 (Bibliogr. S. 245–255). – H. Blume: H. B. ›tollenschriver‹ in Braunschweig u. ›hogrefe‹ aus dem Papenteich? Ebd., S. 159–177. – John L. Flood: Probleme um B.s ›Cronecken der Sassen‹. Ebd., S. 179–194. – H. Blume u. E. Rohse (Hg.): H. B. Städtisch-hansischer Autor in Braunschw. 1488–1988. Tüb. 1991 (Bibliogr. S. 365–371). – H. Blume: H. B. In: Füssel, Dt. Dichter, S. 217–234. – Ders.: H. B. – Autor des Eulenspiegelbuchs? In: Eulenspiegel-Jb. 34 (1994), S. 11–32. – E. Rohse: ›Gy erliken stede‹. Stadtbürgerlichhans. Welt am Beispiel v. H. B.s Radbuch. In: Hanse, Städte, Bünde. Die sächs. Städte zwischen Elbe u. Weser um 1500. Ausstellungskat. Magdeburg. Hg. Matthias Puhle. Magdeb. 1996, S. 575–602. – Paul Derks: Der Name H. B.s. In: Eulenspiegel-Jb. 35 (1996), S. 37–88. – H. Blume: Das Weiterleben v. H. B.s Schichtbuch in der Braunschweiger Stadtchronistik der frühen Neuzeit. In: Jb. der Oswald v. Wolkenstein-Gesellsch. 10 (1998), S. 67–79. – E. Rohse: Im Vorfeld der B.Forsch.: ›Van veleme rade‹ als ›Findling‹ des Ger-

Bothe manisten Hoffmann v. Fallersleben. In: Vulpis Adolatio. FS Hubertus Menke. Hg. Robert Peters, Horst P. Pütz u. Ulrich Weber. Heidelb. 2001, S. 603–623. – Ulrich Seelbach: Vier Alphabete u. (k)ein Autor? Ist der ›Ulenspiegel‹ signiert? In: Nd. Jb. 128 (2005), S. 77–114. Herbert Blume

Bothe, Friedrich Heinrich, * 1771 Magdeburg, † 9.7.1855 Reudnitz bei Leipzig. – Altphilologe; Übersetzer, Erzähler u. Satiriker. Das Geburtsdatum ist nicht gesichert; schon 1883 beklagt sich Conrad Bursian in seiner Geschichte der classischen Philologie in Deutschland (Bd. 19, 2, Mchn./Lpz. 1883, S. 709) über »das Wenige, was sich über B.s Lebensumstände ermitteln läßt«. B. studierte in Halle Philologie u. wurde Mitgl. des Vereins für gelehrte Schulen in Berlin. Er war Privatgelehrter in Berlin, Heidelberg, Mannheim, Konstanz u. Leipzig. B. tat sich hauptsächlich als Herausgeber u. Übersetzer lat. u. griech. Klassiker hervor (Homer, Pindar, Aischylos, Aristophanes, Xenophon, Sophokles, Euripides, Horaz, Terenz, Ovid, Phaedrus, Rudens, Pseudolus, Truculentus, Seneca, Plautus u. a.). Bursian erhob gegen B. den »Vorwurf der Fabrikarbeit« (ebd., S. 710), seine altphilolog. Arbeiten, Ausgaben, Übersetzungen, Kommentare u. Nachdichtungen hielten zeitgenössischen krit. Maßstäben nicht stand, B. habe die Texte mit »maßloser Willkür« (S. 711) behandelt. B.s Vielschreiberei ist dadurch zu erklären, dass er ohne feste Anstellung war u. vom Erlös seiner Schriften leben musste. Am 30.3.1833 schrieb er an Friedrich Thiersch, er wünsche sich »manchmal ein kleines festes Einkommen als Bibliothekar [...], besonders da ich nicht allein stehe, sondern Hand in Hand mit meiner Gattin und Tochter durchs Leben pilgere. Allein Niemand nahm je auf mein Verhältniß Rücksicht« (zitiert nach ADB). B.s literar. Arbeiten sind heute vergessen, viele Texte schwer zugänglich. Seine Sammlung von Volksliedern hat die »große Absicht des Volksdichters: den moralischen Sinn zu schärfen und zu veredeln« (Volkslieder, nebst untermischten andern Stücken. Bln. 1795, S. II).

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Die Sammlung enthält vorwiegend Übersetzungen englischer, von Thomas Percy herausgegebener Volkslieder. Die Vermischten satirischen Schriften (Lpz. 1803) enthalten Aufsätze u. Spottgedichte, die B. als Kenner »im satyrischen Fache« (Aloys Hirt an Goethe am 2.12.1797) ausweisen. Rosaura (Bln. 1807) ist ein Sammelband mit teils zuvor erschienenen Erzählungen: Mein Großoheim und seine Erzählungen; Graf Montgomery; Franz usw. von Lauenstein, oder der blinde Vormund; Männerbescheidenheit und Weibergröße; Gautier; Der Gewissensfall. Auch diese Erzählungen sind Zeugnisse des herrschenden Zeitgeschmacks. Einen eigenen Weg versuchte B. mit dem Lyrikband Antikgemessene Gedichte. Eine ächtdeutsche Erfindung (Bln./Stettin 1812) zu gehen: »Wenn ich die Anwendung prosodischer Regeln, wie Griechen und Lateiner sie ausübten, auf die Sprache Hermanns eine ächtdeutsche Erfindung nenne: so geschieht es darum, weil keine der neueren Sprachen so ganz ihrer selbst mächtig ist, daß sie aus ihrer Wurzel herauf neue Zweige treibe« (S. v). Zu jedem Gedicht gab B. das Silbenmaß an (teils grafisch), nach dem die Verse zu lesen sind. Die Opuscula critica et poëtica in his Philoctetis Euripideae principium ex Dione Chrysostomo restitutum (Bln. 1816) enthalten u. a. B.s Übertragungen ins Lateinische (Carmina Latina) einiger Gedichte von Bürger, Gleim, Goethe, Herder, Klopstock, Opitz, Schiller, Weckherlin u. a. Die Neueren Schauspiele und Kantaten (2 Bde., Halberst. 1824) verstand B. als »schönwissenschaftliche Werke« zur »Erholung von ernsteren Geschäften« (S. v). Hervorzuheben ist B.s Versuch, die Kantate als eigenständige dramat. Form zu etablieren, ihre traditionelle Zuordnung zur Ode aufzuheben. Die Kantate stelle »statt bloßer Betrachtungen über die Handlung diese selbst [dar]« (S. 249). Auch die Zeitschrift »Janus. Geschichte, Literatur und Kunst« (Zürich 1837) diente »zu allgemeiner Unterhaltung« (S. v). Die meisten Beiträge stammen von B. selbst. Bemerkenswert ist die Veröffentlichung einiger Gedichte aus Friedrich (Maler) Müllers Nachlass sowie der Aufsatz Was fehlt der deutschen Literatur?, in dem die literarischen u. gesellschaftl. Veränderungen des Jahrzehnts als Chance begriffen werden, eine literarhistor. Kontinuität her-

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zustellen: »Philosophen, Dichter, Redner, denen jetzt neue Schranken geöffnet sind, schaffet eifrig, und mehrt durch eure Schätze unser geistiges Erbe aus der Vorzeit!« (S. 38). Weitere Werke: De metro iambico dissertatio quam pro stipendio regio obtinendo conscriptam cum per valetudinem non possem publice defendere tamen ut debebam edidi F. H. B. Magdeburgicus. o. O. 1795. – Emma, Rosauras Schwester. Vom Verf. der Rosaura. Bln. 1808. – Grundzüge der Metrik. Nebst einer Beurtheilung der Seidlerischen Schrift De versibus dochmiacis. Bln./Lpz. 1816. – Annotationes ad Horatium a Carolo Fea editum Romae accedunt Johannis Georgii Graevii Scholia in Horatii odarum libros duo priores nunc primum edita. 2 Bde., Heidelb. 1820/21. – Polybiana, sive annotationes ad Polybii historiarum libros decem priores. Lpz. 1844. – Die griech. Komiker. Eine Beurtheilung der neuesten Ausg. ihrer Fragmente. Lpz. 1844. – Übersetzungen: Probe einer Verteutschung v. Popens Versuch über den Menschen, nebst einer Übers. der Kriegslieder des Tyrtaeus. Bln. 1793. – Über das griech. Epigramm. Ein Versuch v. Eduard Romeo Grafen v. Vargas, aus dem Ital. übers. Bln./Stettin 1798. – Euripides Werke, verdeutscht v. F. H. B. Bln./Stettin 1800–03. – Der Rüstsaal. Ein Fragment des Alkäus. An einigen Stellen verbessert u. übers. In: Berlin. Monatsschr. (Juli 1807), S. 17–22. – Pindars olymp. Oden in ihr Sylbenmaass verdeutscht. 2 Tle., Bln. 1808. – Herausgeber: Frühlings-Almanach. Bln. 1804. Literatur: Matthias Luserke: F. H. B. In: Kleines Archiv des 18. Jh. Hg. Christoph Weiß. H. 5 (1989). Matthias Luserke-Jaqui / Red.

Bouterwek, Friedrich (Ludewig), auch: Bajocco Romano, Ferdinand Adrianow, * 15.4.1766 Oker/Harz, † 9.8.1828 Göttingen; Grabstätte: ebd., BartholomäiFriedhof. – Romanautor, Philosoph u. Literaturhistoriker. B.s Vater, der im Berg- u. Hüttenwesen tätig war, ließ den Sohn erst an der Stadtschule in Goslar, dann durch Hauslehrer unterrichten. Bes. beeinflusst wurde B. von der Mutter, die ihn mit der neueren dt. Literatur (Gellert, Klopstock) bekannt machte. Nach dem Tod des Vaters u. gleichzeitigen finanziellen Einbußen (Verlust der Häuser beim Brand Goslars) besuchte B. 1780 zunächst die Martinsschule u. später das berühmte »Collegium Carolinum« in Braunschweig. Nachhaltig

Bouterwek

von den dort unterrichtenden Johann Arnold Ebert, Karl Christian Gärtner u. Johann Joachim Eschenburg beeinflusst, nahm sein Interesse polyhistor. Züge an. Aus Broterwerbsgründen nahm der vorher lange unentschlossene B. 1784 das Studium der Rechte in Göttingen auf. Bereits während seiner Studienzeit hatte sich B. aber auch eingehend mit Philologie (er hörte bei Christian Gottlob Heyne) u. Philosophie (Georg Heinrich Feder) beschäftigt u. war wechselweise (noch sehr schwankend) für Religion, Willensfreiheit u. Materialismus eingetreten. Gleichzeitig begann seine poet. Produktivität (Gedichte in: »Göttinger Musenalmanach«), die in Graf Donamar (3 Bde., Gött. 1791–93. Neudr. Ffm. 1971), einem pathetisch-heroischen Briefroman, der zur Zeit des Siebenjährigen Kriegs spielt, ihren Höhepunkt fand. Da B. als Dichter keinen Erfolg hatte, orientierte er sich erneut zur Philosophie hin u. studierte Kant. In Göttingen suchte er in Vorlesungen (seit 1789) sowie in dem philosoph. Dialog Paulus Septimus oder das letzte Geheimniß des eleusinischen Priesters (2 Bde., Halle 1795) die kantische Philosophie zu popularisieren. 1797 wurde B. in Göttingen zum Professor berufen. Er wirkte dort bis zu seinem Tod. B. schloss sich bald enger an die philosoph. Lehre Friedrich Heinrich Jacobis an; ihr gemeinsames Ziel lag in der Widerlegung des Skeptizismus (vgl. B.s gegen Fichte gerichtete Idee einer allgemeinen Apodiktik. 2 Bde., Halle 1799. Neudr.e Brüssel 1968 u. Hildesh. 2006) u. in der Neudiskussion u. letztl. Bejahung von Metaphysik (Anfangsgründe der speculativen Philosophie. Gött. 1800. Neudr. Brüssel 1968. Lehrbuch der philosophischen Wissenschaften. 2 Bde., Gött. 1813. Religion der Vernunft. Gött. 1824). Daneben hielt B. Vorlesungen über Ästhetik u. schrieb eine Theorie des Schönen (Ästhetik. 2 Bde., Lpz. 1806. Neudr. Hildesh. 1976), der er die Ideen zur Metaphysik des Schönen (Lpz. 1807) folgen ließ. Berühmt geworden ist B. (Mitgl. der Akademien von Lissabon 1806; Göttingen, Livorno 1811; Berlin 1812; Madrid, Amsterdam 1813) durch seine Mitarbeit am Göttinger Projekt einer Geschichte der Künste und Wissenschaften seit der Wiederherstellung derselben

Bouwinghausen von Wallmerode

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bis an das Ende des 18. Jahrhunderts, das von Bouwinghausen von Wallmerode, Johann Gottfried Eichhorn geleitet wurde. B. Margareta Maria, * 7.9.1629 Stuttgart, übernahm es, die Geschichte der Poesie und Be- † nach 1679. – Übersetzerin. redsamkeit seit dem Ende des 13. Jahrhunderts (12 Die Tochter des in württemberg. Diensten Bde., Gött. 1801–19) zu skizzieren. Sie stellt stehenden Offiziers u. Diplomaten Benjamin das wichtigste Beispiel einer sich allmählich Bouwinghausen von Wallmerode († 1635) aus der überkommenen »Litterärhistorie« genoss eine sorgfältige Erziehung u. interes(historia literaria) ausgliedernden Poesiegesierte sich früh für Dichtung, Philosophie u. schichte dar. B. behandelte die ital., span. u. Sprachen (Französisch, Latein). Prägenden portugies., dann die frz., engl. u. schließlich Einfluss auf ihre geistige Entwicklung nahm die dt. Literatur. Dabei wird die Abfolge dieihr väterlicher Freund Johann Valentin Anser Literaturen als ein Wandern u. zgl. als dreae. Über ihre Lebensumstände ist wenig Zunahme des Geschmacks verstanden; der bekannt. Sie lebte zunächst in Stuttgart u. Höhepunkt liege bei der dt. Literatur, die alle siedelte gegen 1660 nach Wien über. Ihr Toübrigen Literaturen voraussetze u. deren nadesdatum ist unbekannt, aber briefl. Zeugtionaler Kern damit zgl. Universalität beannisse setzen sie noch 1679 als in Wien lebend spruche. Auf diese Weise wird in die ansonsvoraus. Sie blieb unverheiratet. ten literarhistorisch unverbundene Reihung Von besonderer Bedeutung war ihre enge ein innerer Zusammenhang gebracht, der die alte Form der »historia literaria« in die neue Freundschaft mit dem Übersetzer Johann Gattung »Literaturgeschichte« übergehen Wilhelm von Stubenberg. Sowohl von ihrem Briefwechsel mit Stubenberg als auch ihren lässt. Briefwechseln mit Georg Philipp Harsdörffer Weitere Werke: Gustav u. seine Brüder. Eine u. Sigmund von Birken haben sich nur SpuGesch. in Briefen. 2 Bde., Halle 1795. – Gedichte. Hg. Karl Reinhard. Gött. 1802. – Immanuel Kant. ren u. geringfügige Reste erhalten. In den Ein Denkmal. Hbg. 1805. Neudr. Brüssel 1969. – 1670er Jahren stand sie auch mit der österr. Lehrbuch der philosoph. Vorkenntnisse. Gött. Dichterin Catharina Regina von Greiffenberg in Verbindung. 1810. Neben einigen Gelegenheitsdichtungen u. Literatur: Kleine Schr.en philosoph., ästhet. u. litterar. Inhalts. Gött. 1818. Neudr. Hildesh. 1975, einer Todesbetrachtung schuf sie zwei beS. 1–50 (Autobiogr.). – Walter August Schönbrunn: deutende Übersetzungen, mit denen sie sich Die Romantiker als Literaturhistoriker u. ihre einen Platz in der Literaturgeschichte sicherVorläufer. Diss. Greifsw. 1911. – Fritz Jurczok: F. B. te. Gefördert durch Andreae übersetzte sie als Ästhetiker. Diss. Halle 1949. – M. W. Heiderich: 1652 das Erbauungsbuch Heaven upon Earth Fictive Sanctification: Forerunners of Ottilie in the (1606) von Joseph Hall auf der Grundlage der Popular Novel. In: Crisis and Commitment. Hg. frz. Ausgabe von Urbain Chevreau. Mit ihrer John Whiton. Waterloo 1983, S. 69–77. – Jürgen Fohrmann: Das Projekt der dt. Literaturgesch. 1668 anonym im Druck erschienenen ÜberBielef. 1987. – Michel Espagne: F. B. Krit. Gesch. setzung von Pierre Charrons De la sagesse der Philosophie: Ein Pariser Ms. In: Archiv für (1601) wollte B. ein in Gelehrtenkreisen umGesch. der Philosophie 70 (1988), S. 280–304. – strittenes Werk noch bekannter machen. Andrea Albrecht: Kosmopolit. Ideale: Das weltbürgerl. Engagement des Göttinger Literarhistorikers F. B. In: Wissenschaftsmagazin der GeorgAugust-Univ. Göttingen 3 (2004), S. 80–85. – Tommaso Pierini: Hegels Auseinandersetzung mit F. B. In: Die freie Seite der Philosophie. Hg. Brady Bowman u. Klaus Vieweg. Würzb. 2006, S. 171–185. Jürgen Fohrmann / Red.

Werke: Joseph Hall: Waarer u. großmütiger Christen Krieg- Sieg- u. Frieden-Spiegel. Tüb. 1652. – Pierre Charron: Das Liecht der Weißheit/ zu Erforsch. deß Ursprungs u. wahrer Eigenschafften aller Dinge den Weg zeigend. Ulm 1668. – Was war doch wol die Welt/ in dreymal zehen Jahren. In: Johann Christoph Wagenseil: Pera librorum juvenilium. Nürnb. 1695, S. 699–701. Literatur: Martin Bircher: Johann Wilhelm v. Stubenberg (1619–63) u. sein Freundeskreis. Studien zur österr. Barocklit. protestant. Edelleute. Bln. 1968, S. 87–97, 207–212 u. passim. – Sabine

113 Koloch u. Martin Mulsow: Die erste dt. Übers. v. Pierre Charrons ›De la sagesse‹: Ein unbekanntes Werk der intellektuellen Außenseiterin M. M. B. v. W. (1629-nach 1679). In: Wolfenbütteler BarockNachrichten 33 (2006), S. 119–150. Hermann Ehmer / Sabine Koloch

Boveri, Margret, * 14.8.1900 Würzburg, † 6.7.1975 Berlin. – Publizistin.

Boy-Ed

ihr wichtigstes Buch ist Der Verrat im XX. Jahrhundert (4 Bde., Hbg. 1956–60. Reinb. 1976). Im Dez. 1968 lernte sie Uwe Johnson kennen, mit dem sie in den Jahren bis zu ihrem Tod eine enge Freundschaft verband. Auf Johnsons Drängen (»Frau Boveri wußte zu viel«) entstanden die autobiogr. Aufzeichnungen Verzweigungen (Mchn. 1977. Ffm. 1996), die aus ihrem Nachlass (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin) herausgegeben wurden.

B. wuchs als Tochter eines deutschamerikan. Zoologenehepaars in Würzburg zweisprachig Weitere Werke: Das Weltgeschehen am Mitauf. Sie studierte seit 1920 Geschichtswis- telmeer. Ein Buch über Inseln u. Küsten, Politik u. senschaft in Würzburg, seit 1925 in Mün- Strategie, Völker u. Imperien. Zürich 1936. – Vom chen. 1929 ging sie als Studentin an die Minarett zum Bohrturm. Eine polit. Biogr. VorHochschule für Politik in Berlin, wo sie 1932 derasiens. Zürich/Lpz. 1938. – Ein Auto, Wüsten, promovierte (Sir Edward Grey und das Foreign blaue Perlen. Ber. über eine Fahrt durch Vorderasien. Lpz. 1939. – Tage des Überlebens. Bln. 1945. Office. Bln. 1933). Mchn. 1968. Bln. 2004. – 16 Fenster u. 8 Türen. Aus einem Gefühl der Loyalität zu ihrem Bln. 1953. – Die Deutschen u. der Status Quo Heimatland traf sie nach der Machtübernah- (Aufsätze 1948–73). Mchn. 1974. me der Nationalsozialisten bewusst die EntLiteratur: Inge Meidinger-Geise (Hg.): Frauscheidung zu bleiben. Ihre Informationsfrei- engestalten in Franken. Eine Slg. v. Lebensbildern, heit bewahrte sie sich, indem sie ihr eigenes Würzb. 1985. – Roland Berbig: ›Havin learned my außenpolit. Archiv aufzubauen begann. Sie lesson‹. M. B.s Autobiogr. ›Verzweigungen‹ u. ihre wurde 1934 außenpolit. Redakteurin einer Hg. E. u. U. Johnson. In: DVjs 70 (1996), 1, der verbliebenen liberalen Zeitungen, des S. 138–170. – Ralf Breslau u. Arnulf Baring: M. B. »Berliner Tageblatts« unter Paul Scheffer. (1900–75). Eine dt. Journalistin. In: Mitt.en 9 Über den keineswegs unproblemat. Balance- (2000), 2, S. 244–266. – Ingrid Belke: Auswandern akt der Redaktion, »Gegenarbeit in der Mit- oder bleiben? Die Publizistin M. B. (1900–75) im Dritten Reich. In: ZfG 53 (2005), 2, S. 118–137. – arbeit« zu leisten, u. den »Versuch, so viele im Heike B. Görtemaker: Ein dt. Leben. Die Gesch. der Dritten Reich unerwünschte Tatsachen und M. B. Mchn. 2005. Peter König / Red. Meinungen wie möglich offen oder zwischen den Zeilen zu drucken«, berichtete sie später ausführlich in ihrem Buch Wir lügen alle. Eine Boy-Ed, Ida (Cornelia Ernestine), * 17.4. Hauptstadtzeitung unter Hitler (Olten/Freib. i. 1852 Bergedorf bei Hamburg, † 13.5.1928 Br. 1965). Im Auftrag des Tageblatts unterTravemünde; Grabstätte: Lübeck, Burgnahm sie in den folgenden Jahren verschietor-Friedhof. – Publizistin u. Erzählerin. dene Reisen nach Griechenland, Malta, Ägypten u. in den Sudan. 1936 wurde sie Ihr Vater Christoph Marquard Ed, ReichsKorrespondentin in Rom, später in Stock- tagsabgeordneter, Büchereibesitzer u. Jourholm, New York u. Lissabon. Neben Lilly nalist, war Mitarbeiter an den Cottaschen Abegg u. Irene Seligo galt sie bald als eine der Blättern u. Gründer der »Eisenbahn-Zeiwenigen überragenden weibl. Journalisten tung«. B.s gutes Verhältnis zum Vater half ihr der Zeit. in ihrer schwierigen Ehe mit dem Lübecker Nach 1945 lebte B. als freie Publizistin. Sie Großkaufmann Karl Johann Boy, den sie nach war bekannt für Detailkenntnisse u. Unab- der Geburt von vier Kindern verließ, um mit hängigkeit ihres polit. Urteils. Neben Zei- dem ältesten Sohn für über ein Jahr nach tungsartikeln zur Tagespolitik u. Aufsätzen Berlin zu gehen u. sich ganz dem Schreiben zur Politik im Zweiten Weltkrieg u. im Kalten (u. a. für das »Berliner Tageblatt«) zu widKrieg (v. a. im »Merkur«) veröffentlichte sie men. Dort hungerte sie sich durch, machte eine Reihe von Büchern zur Zeitgeschichte; aber die Bekanntschaft führender Literaten

Bozner Spiele

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der Zeit, wie Fritz Mauthner u. Paul Lindau. da ist nichts mehr, wie die Natur es gewollt. Hg. Ihre ungewöhnl. Entschlossenheit zur Britta Jürgs. Bln. u. a. 2001, S. 193–215. – Grazyna Selbstbehauptung, die ihre autobiogr. Ro- B. Szewcyk: I. B.: Aus Tantalus Geschlecht. In: Lemane (Dornenkronen. Bln. 1886. »Ich«. Stgt. xikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schnei1888. Fanny Förster. Stgt. 1889) anschaulich der u. Gaby Pailer. Tüb. 2006, S. 55 f. – Caroline dokumentieren, eine Eigenschaft, die einzel- Bland: I. B.: Die Schwestern. Ebd., S. 56–58; Nicht ne, meist ältere Frauenfiguren ihrer Romane im Geleise, S. 56 f. Eda Sagarra verkörpern wie beispielsweise Aus Tantalus Geschlecht (Lpz. 1891), verhalf B. bald zu einem aufgeschlossenen Publikum. Legendär Bozner Spiele ! Raber, Vigil; ! Tiroler war die Geschwindigkeit, mit der sie ihre Spiele Werke produzierte, die das Zeitgeschehen, wenn auch meist nur schematisch, mitre- Braak, Ivo, * 12.9.1906 Marne/Dithmarflektiert. Sie veröffentlichte insg. mehr als 70 schen, † 10.8.1991 Kiel. – Verfasser nieRomane u. Erzählbände, Biografien (u. a. Das derdeutscher Schauspiele. Martyrium der Charlotte von Stein. Stgt. 1916) u. Die Mundart seiner Heimat wurde für B. Dorfgeschichten bei angesehenen Verlagen wissenschaftliches Arbeitsfeld u. künstleriwie Cotta u. zu hohem Honorar; daneben sches Medium. Er studierte dt. u. niederdt. publizierte sie auch zahlreiche Aufsätze. Philologie in Hamburg, Wien u. Kiel, proDas Niveau ihrer literar. Produktion – bes. movierte 1930 u. wurde 1949 zum Professor der Frühzeit – ist unterschiedlich: »Ich habe ernannt. Bis zur Emeritierung 1973 lehrte er mein Talent oft prostituieren müssen«, be- an den Pädagogischen Hochschulen in kannte sie. Ihr Einfühlungsvermögen in die Flensburg u. Kiel. 1934–1945 war er Leiter seelische u. soziale Lage der Frau in ver- des Niederdeutschen Bühnenbundes, schiedenen Epochen, ihre Erfindungsgabe u. 1973–1979 Vorsitzender des von ihm mitgeanalyt. Kraft – die Thomas Mann insbes. bei gründeten Bremer Instituts für Niederdeutihren Biografien hervorhob – sind jedoch sche Sprache. B. ist Herausgeber der Werke stets präsent. Nach dem Tod ihres Vaters von Klaus Groth. In seinen eigenen niederdt. (1885) gab B. u. a. durch Theaterkritiken der Schauspielen griff er die Tradition Fritz Sta»Eisenbahn-Zeitung« ihr geistiges Gepräge; venhagens u. Hermann Boßdorfs auf u. setzhier erschienen die ersten Arbeiten von Tho- te, etwa in Driewsand (Verden 1953), Motive mas Mann, für den sie später eine wichtige des Schicksalsdramas gegen die genretypiMittlerrolle in der Aussöhnung mit seiner sche Beschränkung auf den Schwank. Geburtsstadt spielte. Ihr Erfolg wuchs nach Weitere Werke: Sluderie. Verden 1929 (D.). – der Jahrhundertwende, als sie durch den Tod De Schörtenjäger. Verden 1941 (D.). – Poetik in ihres Mannes (1904) von psych. Druck befreit Stichworten. Literaturwiss. Grundbegriffe. Kiel war. Sie unterhielt einen Salon u. holte 1965. Stgt. 82001. – Gattungsgesch. deutschspraFurtwängler nach Lübeck. Zu ihren Freunden chiger Dichtung in Stichworten. Kiel 1975. – Tiezählten u. a. Richard Strauss u. Bruno Walter. den. Husum 1986 (R.). Weitere Werke: Die große Stimme. Stgt. 1893 (N.n). – Werde zum Weib. 2 Bde., Dresden/Lpz. 1894 (R.). – Ein kgl. Kaufmann. Stgt. 1910 (R.). – Die Opferschale. Bln. 1916 (R.). Ausgabe: Eine Ausw. Hg. Peter de Mendelssohn. Lübeck 1975. Literatur: Thomas Mann: Briefe an Otto Grautoff 1894–1901 u. I. B. 1903–28. Hg. Peter de Mendelssohn. Ffm. 1975. – Peter de Mendelssohn: Vorw. In: Eine Ausw. a. a. O., S. 7–23. – Gabriele Wagner-Zereini: Die Frau am Fenster. Diss. Ffm. 1999. – Cornelia Saxe: I. B. (1852–1928). In: Denn

Literatur: Gerhard Cordes: I. B. In: KlausGroth-Gesellsch. Jahresgabe 10 (1966). – I. B. In: Claus Schuppenhauer: Lexikon niederdt. Autoren. Bremen o. J. Volker Busch / Red.

Brachmann, (Karoline) Louise, auch: L. Klarfeld, Sternheim, * 9.2.1777 Rochlitz/ Sachsen, † 17.9.1822 Halle (Freitod). – Lyrikerin, Erzählerin. Als Tochter des Kreissekretärs Christian Paul Brachmann u. dessen Ehefrau Friederike

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Literatur: Marie Franzen: Landschaft u. Louise, geborene Vollhard, musste Louise Brachmann, bedingt durch den Beruf des Mensch in den Novellen L. B. Diss. Halle 1947. – Vaters, in ihrer Kindheit mehrmals den Gisela Brinkler-Gabler: Dt. Dichterinnnen vom 16. Wohnort wechseln. Dabei unterrichtete die Jh. bis zur Gegenwart. Ffm. 1978, S. 153–157. – Sigrid Lange: L. B.: Das Militär. In: Dt. Erzählprosa Mutter, eine gebildete Pastorentochter, ihre der frühen Restaurationszeit. Hg. Bernd Leistner. Kinder selber. 1787 zog die Familie nach Tüb. 1995, S. 145–167. – Bernhard Buschendorf: Weißenfels, wo Louise die Geschwister Sido- Die Germanisierung v. Tassos Zauberin. Die Arnie u. Friedrich von Hardenberg (Novalis) mida-Rinaldo-Episode in der dt. Kunstballade: kennenlernte. Sidonie wurde ihre engste Ludwig Hölty, L. B. u. Joseph v. Eichendorff. In: Freundin, während Novalis sie Friedrich Torquato Tasso in Dtschld. Seine Wirkung in Lit., Schiller empfahl, der mehrere ihrer Gedichte Kunst u. Musik seit der Mitte des 18. Jh. Hg. Achim in den »Horen« u. im »Musenalmanach« (für Aurnhammer. Bln./New York 1995, S. 443–470. – Martin A. Völker: ›Gebunden sind die Flügel der 1798 u. 1799) veröffentlichte. Doch ihr Leben war geprägt von ihrer psy- Gedanken‹. L. B. (1777–1822). Lewiston 2006. Helene M. Kastinger Riley / Katrin Korch chischen Instabilität. So unternahm sie im Alter von 23 Jahren wegen einer Ehrverletzung einen ersten Suizidversuch. Als wenige Brachvogel, Albert Emil, * 29.4.1824 Jahre darauf zunächst ihre Mutter (1803) u. Breslau, † 27.11.1878 Berlin; Grabstätte: dann ihr Vater (1804) verstarben, geriet sie ebd., Domfriedhof, – Dramatiker, Rozusätzlich in finanzielle Not. Denn obwohl manautor u. Journalist. ihre Gedichte u. Erzählungen zu Lebzeiten in über 30 Zeitschriften, Almanachen u. Ta- Nach harter Jugend u. jeweils abgebrochener schenbüchern verbreitet wurden (darunter in Buchhändler-, Graveur- u. BildhauerausbilCottas »Morgenblatt für gebildete Stände«, dung unternahm der Kaufmannssohn B. der »Zeitung für die elegante Welt« u. dem 1845 einen erfolglosen Versuch als Schau»Taschenbuch zum geselligen Vergnügen«), spieler in Wien. Er besuchte die Kunstakablieb ihr die materielle Absicherung durch demie in Berlin, studierte 1847 in Breslau einen angesehenen Verleger verwehrt. Dane- Geschichte, Literaturgeschichte, Ästhetik u. ben veranlassten sie mehrere persönl. Ent- Philosophie. 1848 nahm er an der Revolution täuschungen wie unerwiderte Lieben u. ge- teil. Nach Abbruch des Studiums begann er löste Verlobungen zu wiederholten Suizid- Operntexte zu schreiben. Durch Heirat 1852 versuchen. Ihre Selbststilisierung zur »deut- Besitzer eines kleinen schles. Landguts geschen Sappho« wurde daher auch schon zu worden, wirkte er nach dem Verlust seines Lebzeiten von Kritikern aufgenommen u. Vermögens als Sekretär am Kroll-Theater in verbreitet. Nach ihrem Freitod, den sie durch Berlin (1854/55), war dann Journalist im Ertränken in der Saale bei Halle herbeiführte, Wolff’schen Telegraphenbureau u. zuletzt wurde gar ein Felsen in der Nähe von Giebi- freier Schriftsteller. chenstein nach ihr benannt (»BrachmannfelB. schrieb über 20 Bühnenstücke, 24 Rosen«), von dem man fälschlicherweise an- mane, acht Bände Novellen, acht Biografien, nahm, B. habe sich dort in die Saale gestürzt. eine Geschichte des Königlichen Theaters zu Berlin Werke: Gedichte. Dessau 1808. – Einige Züge (2 Bde., Bln. 1877–78), Erzählungen u. aus meinem Leben, in Beziehung auf Novalis. In: episch-lyr. Dichtungen. Erfolgreich waren Die Harfe. Hg. Friedrich Kind. Bd. 2., Lpz. 1815, nur das an Gutzkows Thesenstücke anknüpS. 291–310. – Romant. Blüthen (Gedichte). Wien fende u. auf Diderots Rameaus Neffe stofflich 1817. – Das Gottesurteil. Rittergedicht in fünf Ge- aufbauende Drama Narciss (Lpz. 1857) u. sängen. Lpz. 1818. – Novellen. Lpz. 1819. – Schil- Friedemann Bach (3 Bde., Lpz. 1858), eine derungen aus der Wirklichkeit. Lpz. 1820 (E.n). – sentimentale Romanbiografie mit eindrucksNovellen u. kleine Romane. Nürnb. 1822. – Ausvoller Zeitschilderung, die auch im 20. Jh. erlesene Dichtungen. Bd. 1–6, Lpz. 1824–26 (mit noch mehrfach aufgelegt wurde. Narciss steht Biogr. im 1. Bd.). an der Spitze der Aufführungsstatistik für das 19. Jh. u. wurde zehnmal so oft gespielt wie

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Ausgabe: Ges. Romane, Novellen u. Dramen. alle Stücke Hebbels zusammengenommen. Paradigmatisch belegt dies die zeitgenöss. Hg. Max Ring. 10 Bde., Jena 1879–83. Literatur: A. M. B. (1824–1878). ›Friedemann Hochschätzung des Dramas als Leitform im System der Künste. Bürgerliche Rezeption Bach‹ (Roman). In: KindlerNeu. – Goedeke Forts. – der Dramatik der Klassik als Nationalliteratur Dirk Heißerer: König Ludwig II. liebte B.s ›Narciß‹. u. postrevolutionäre Stimmung sind dabei In: Lit. in Bayern 78 (2004), S. 43–47. Christian Schwarz / Red. miteinander verknüpft. Überhöhte Sprache, klass. Fünf-Akte-Form u. Historisierung ergaben den »praktischen Klassizismus« dieser Bräker, Ulrich, * 22.12.1735 Wattwil/Kt. Jahre. B.s Narciss entspricht dieser Tendenz St. Gallen, beerdigt am 11.9.1798 Wattweitgehend. Der histor. Stoff wird durch wil/Kt. St. Gallen. – Verfasser einer AutoHerausarbeiten der sensationell-pikanten sibiografie u. Tagebuchschreiber (von 1768 tuativen Momente geschickt theatergängig bis 1798). gemacht. Außerdem enthält das Stück Identifikationsangebote durch Berücksichtigung B. kann noch immer als Sonderfall in der Limehrerer Faktoren der postrevolutionären teratur des 18. Jh. gelten, auch wenn in den Stimmung. Narciss, ein Held ohne jegl. Ak- letzten zwei Jahrzehnten vermehrt autotivität, wird von B. aus der Schmeichler-Rolle biogr. Texte von Autoren aus der Untervon Rameaus Neffen in die des ursprünglich schicht zugänglich gemacht wurden; denrevolutionären, jetzt aber zynischen Aufklä- noch stellt sein Tagebuch eine einmalige rers u. Räsonneurs versetzt. Er hasst seine Dokumentation der Lebenswelt der überehemalige Gattin Madame Pompadour, die wiegend stumm gebliebenen Mehrheit der Mätresse Ludwigs XV., als Inbild der Deka- damaligen Bevölkerung dar. Der Sohn eines denz des Ancien Régime. In der viel bewun- Taglöhners, Kleinbauern u. Salpetersieders derten Höhepunkt-Szene (IV, 2) endet Nar- wurde von früh an wie seine neun Geciss’ Dialog mit einer chines. Puppe, die alles schwister zu den typischen Kindertätigkeiten bejaht, damit, dass er sie wegen ihrer »Cha- herangezogen: Ziegen hüten, später Feld- u. rakterlosigkeit« zerschmettert. In dieser be- Stallarbeit. Dennoch trug die kümmerl. reits von Diderot u. Hegel (Phänomenologie des Wirtschaft so wenig ein, dass die Familie Geistes) verwendeten theatral. Chiffre u. im dreimal den Wohnsitz wechseln u. einmal Zynismus des Antihelden ist Ohnmacht ge- den Konkurs erklären musste. Für B.s Schulgenüber dem erneut siegreichen restaurati- besuch blieben im Winter sechsmal einige ven Regime ebenso enthalten wie resignative wenige Wochen; doch der Knabe lernte mit Anpassung. Neuerdings wird auf die nur größter Begierde. Im Hause herrschte eine notdürftig überkleidete Episodenhaftigkeit pietist. Frömmigkeit, u. der junge B. träumte des Narciss als Vorstufe moderner Dramen- davon, Prediger zu werden. Die heimatl. Enge u. eine Neugier auf die struktur hingewiesen (Schanze). Welt, die ihn lebenslang auszeichnete, trieDie übrigen Stücke B.s verlieren sich im ben ihn 1755 von zu Hause fort. Er geriet als Anekdotischen; dies gilt auch für die meisten seiner histor. Romane. Die Anpassung an die Söldner ins preuß. Heer; der strenge Drill u. neuen Verhältnisse kommt in den nach der die kärgl. Nahrung passten dem freiheitslieReichsgründung serienmäßig verfassten Bio- benden Jungen wenig, u. er quittierte den grafien zum Ausdruck (Die Männer der neuen Dienst bei der ersten sich bietenden Gelegenheit: Während der Schlacht bei Lobositz deutschen Zeit. 20 Bde., Hann. 1872–75). (1.10.1756) gelang es ihm, sich davonzumaWeitere Werke: Friedemann Bach. 3 Bde., Bln. chen. 1858 (R.). – Histor. Novellen. 4 Bde., Lpz. 1863/64. Zu Hause in Wattwil zog B. 1759 einen – Theatral. Studien. Lpz. 1863. – Beaumarchais. 4 Bde., Jena 1865 (histor. R.). – Hamlet. 3 Bde., Bln. bescheidenen Baumwollhandel auf. Um seine 1866 (R.). – Der fliegende Holländer. 4. Bde., Bln. ausgeprägte Sinnlichkeit in Schranken zu 1871 (R.). – Die Harfenschule u. a. dramat. Werke. halten, verheiratete er sich, doch nach der Bln. 1874. Hochzeit (1761) blieb das erträumte Glück

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aus, denn seine Frau Salome erwies sich als streng. Überdies verschuldete er sich mit dem Bau eines eigenen Hauses stark: Geschäft u. Ehe taumelten von Krise zu Krise, u. als 1762 sein Vater starb, hatte er überdies vier kleine Geschwister mitzuernähren. In solcher Bedrängnis boten ihm einzig das Lesen u. – zunehmend – das eigene Schreiben einen gewissen Trost, wenngleich seine Familie u. seine Umgebung diese Tätigkeiten mehr u. mehr missbilligten. Brachten sie auch zunächst noch Verständnis auf für B.s Lektüre von Bibel u. geistlicher Erbauungsliteratur, so konnten sie seine wachsende Vorliebe für die sog. »schöne« Literatur nicht mehr gutheißen. Insbes. seine Frau kritisierte zu Recht, dass er deswegen seinen Beruf u. damit das Wohl der Familie vernachlässigte. Während der großen Hungersnot von 1770 begann B. regelmäßig Tagebuch zu führen, was er bis einen Monat vor seinem Tod fortsetzte. Erneute Schulden wurden unabwendbar, Krankheiten suchten die Familie heim, B. verlor zwei vom Hunger geschwächte Kinder an der Bakterienruhr. Einen Lichtblick in diese trostlose Situation brachte ihm 1776 die Aufnahme in die Moralische Gesellschaft Lichtenstein, die ihm den Zugang zu ihrer umfangreichen Bücherei eröffnete u. ihn in Kontakt mit gebildeten Männern brachte. Zweimal gewann er sogar mit kleinen Abhandlungen den von der Gesellschaft ausgesetzten Preis, sodass man allmählich auf das verborgene Talent aufmerksam wurde. 1780–1783 druckte der Wattwiler Lehrer Johann Ludwig Ambühl in seiner Zeitschrift »Die Brieftasche aus den Alpen« erstmals drei kleine Texte des Autodidakten. Der Pfarrer Martin Imhof, der eigentl. »Entdecker« B.s, schickte Proben an den Verleger Johann Heinrich Füssli in Zürich, der ab 1788 in dem von ihm herausgegebenen »Schweitzerschen Museum« die Lebensgeschichte veröffentlichte u. sie dann 1789 als Buch herausbrachte. Der unerwartet große Erfolg öffnete B. nicht nur den Zugang zu weiteren Berühmtheiten der näheren Umgebung (Johann Caspar Lavater, Hans Caspar Hirzel, Johann Gottfried Ebel u. a.), sondern bewog Füssli, 1792 einen zweiten Band mit Tagebuchauszügen zu veröffentlichen. Als dieser

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nicht mehr den gleichen Erfolg erzielte, brach er die Publikation trotz B.s Bitten um Fortsetzung ab. Infolge günstigerer wirtschaftl. Bedingungen u. stimuliert durch den Umgang mit gebildeten Männern, lebte B. auf u. unternahm ab 1782 jährlich längere Fußreisen, die ihn durch die ganze Ostschweiz, in die Zentralschweiz u. bis nach Bern führten. Auf der anderen Seite jedoch entfremdete er sich seinen Nachbarn immer stärker u. geriet in eine gesellschaftl. Zwischenposition, war er doch kein Bauer mehr, aber auch kein vollwertiger Bürger, weder Autor noch richtiger Baumwollgewerbler, sondern alles ein bisschen u. nichts ganz. Sein Schreiben brachte ihm nie so viel ein, dass er davon hätte seinen Lebensunterhalt bestreiten können, die wirtschaftl. Sorgen wichen v. a. in den folgenden Krisenjahren nicht, der missglückte Versuch, mit seinem Schwiegersohn eine Stoffdruckerei zu betreiben, zwang ihn in den Konkurs. 1798 erklärte er den Bankrott (das Soll überwog um etwa 600 Gulden). Die ständigen Streitigkeiten mit seiner Frau – Ausdruck der komplizierten Suche nach einer neuen Rolle für Mann u. Frau am Übergang von einer agrarischen zu einer industriellen Gesellschaft – zehrten an seinen Kräften. Auch die Kinder bereiteten ihm zeitweise schwere Sorgen. Die Ereignisse im revolutionären Frankreich verfolgte er mit Skepsis, ebenso die Befreiung Toggenburgs von der Herrschaft des Fürstabts von St. Gallen, denn B. stellte die Einrichtungen des Ancien Régime nie grundsätzlich in Frage. Als dann 1798 die Franzosen durchs Toggenburg marschierten, dominierten im Tagebuch bereits die Gedanken an den Tod. Die letzte Eintragung vom 14. Aug. betraf noch einmal leidige Geldsachen. Am 11. Sept. wurde er in Wattwil begraben. Sein Tagebuch verzeichnet auf über 3000 Seiten mit ungewöhnlicher Akribie (u. einer wildwüchsigen Schreibweise) die Tagesabläufe, dokumentiert B.s Euphorien u. Depressionen, die religiösen Skrupel wie die Lesefreuden u. die immer wieder enttäuschten Hoffnungen auf eine Verbesserung seiner Lage. Die ursprünglich pietistisch orientierte Selbstanalyse macht zunehmend einer um-

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fassenden Darstellung seines Alltags Platz. Imhof). – Etwas über William Shakespeares Häusliche Zwistigkeiten u. Dorfklatsch, Schausp.e. Hg. Walter Muschg. Basel 1942. – Leben polit. Machenschaften u. Wetterbeobachtun- u. Schr.en U. B.s, des Armen Mannes im Tockengen wechseln ab mit Lektürekommentaren, burg. Hg. Samuel Voellmy. 3 Bde., Basel 1945. – Räisonierendes Baurengespräch über das BücherReiseberichten u. Selbstbetrachtungen. Dalesen u. den üsserl. Gottesdienst. 2 Bde., St. Gallen mit stellt B.s Tagebuch in seiner Ausführ- 1985 (Faks. der Hs. u. Transkription. Hg. Alois lichkeit u. Anschaulichkeit ein Dokument Stadler u. Peter Wegelin). – Die Gerichtsnacht oder von einzigartigem Rang dar, nicht zuletzt Was ihr wollt. 2 Bde., St. Gallen 1987 (Faks. der Hs. auch deshalb, weil es einen einzigartigen u. Transkription. Hg. A. Stadler u. P. Wegelin). – Einblick in den Prozess der Umwandlung von Etwas über William Shakespears Schausp.e. 2 Bde., Biografischem in Literatur gewährt. Bedrängt St. Gallen 1998 (Faks. der Hs. u. Transkription. Hg. von seiner Umgebung u. vom eigenen A. Stadler). – Sämtl. Schr.en. Hg. Andreas Bürgi, schlechten Gewissen wirft B. sich vor, mit Heinz Graber, Christian Holliger, Claudia HolligerWiesmann, Alfred Messerli, A. Stadler. 5 Bde., Lesen u. Schreiben seine Zeit zu verschwenMchn./Bern 1998–2008. den; auf der anderen Seite bezeugen die Literatur: Samuel Voellmy: U. B., der Arme sorgfältig kalligrafierten Titelblätter der TaMann im Tockenburg. Zürich 1923. – Ders.: Daniel gebücher am Jahresbeginn seine ursprüngl. Girtanner v. St. Gallen, U. B. aus dem Toggenburg Freude am Akt des Schreibens u. dokumen- u. ihr Freundeskreis. St. Gallen 1928. – Holger tieren die hoch entwickelte Schreibtradition Böning: U. B. Der Arme Mann aus dem Toggenim ostschweizerischen Voralpenraum. B.s burg. Leben, Werk u. Zeitgesch. Ffm. 1985 (BiAutobiografie hat dank ihrer Lebendigkeit u. bliogr. S. 221–228). – U. B. u. seine Zeit. 5 Vorträge Fülle des Berichteten immer wieder die Leser zum 250. Geburtstag. Toggenburger Bl. für Heientzückt u. bildet die Grundlage seines matkunde 36 (1985). – Christian Holliger u. a. Ruhms. Erstaunlich bleibt die wohl von sei- (Hg.): Chronik U. B. Auf der Grundlage der Tagebücher 1770–98. Bern 1985 (Bibliogr. S. 471–475). nen belesenen Freunden angeregte Entde– Alois Stadler u. Wolfgang Göldi: ›Heriemini – ckung Shakespeares, den er als den größten welch eine Freyheit!‹. U. B. über ›Himmel, Erde Dichter u. als Seelenverwandten bezeichnet, und Hölle‹. Illustriert mit Bildern aus seiner Zeit. wobei für ihn der Hamlet den Gipfelpunkt Zürich 1988. – Schreibsucht. Autobiogr. Schr.en darstellt. Sein eigener Versuch, sich in dessen des Pietisten U. B. (1735–98). Hg. Alfred Messerli u. Nachfolge am Drama zu versuchen (Die Ge- Adolf Muschg. Gött. 2004. – Susanne Hoffmann: richtsnacht) misslang, obwohl er die Handlung Gesundheit u. Krankheit bei U. B. (1735–98). Diein dem ihm vertrauten Toggenburger Bau- tikon 2005. Christoph Siegrist / Andreas Bürgi ernalltag ansiedelte. (Eine Aufführung fand erst 1977 statt.) B.s Schreiben blieb weitgehend auf den Bräunig, Werner, * 12.5.1934 Chemnitz, persönl. Erfahrungsbereich beschränkt; doch † 14.8.1976 Halle. – Lyriker u. Erzähler. gerade in dessen Wiedergabe entfaltet es seine Qualitäten. Es dokumentiert in unge- Der Sohn eines Hilfsarbeiters schlug sich zuwöhnlich intensiver Weise einen unter nächst mit Gelegenheitsarbeiten in West- u. schwierigsten Bedingungen sich abspielen- Ostdeutschland durch u. war nach dem Krieg in der DDR wegen Schmuggelei zwei Jahre den Entwicklungsprozess u. vermag diesen inhaftiert. Diese halbkriminelle Karriere zum beeindruckenden literar. Dokument wurde allerdings durch schriftsteller. Erfolg aufzuwerten. als Erzähler u. Lyriker abgelöst: Von 1956 an Ausgaben: Lebensgesch. u. Natürl. Ebentheuer machte B. als schreibender Arbeiter, als des Armen Mannes im Tockenburg. Hg. Hans Volkskorrespondent der Leipziger »VolksHeinrich Füssli ( = Sämtl. Schr.en [...] Erster Theil [...]). Zürich 1789. – Tgb. des Armen Mannes im stimme« auf sich aufmerksam, was ihm erTockenburg. Hg. ders. ( = Sämtl. Schr.en [...] möglichte, von 1958 an in Leipzig am JoZweyter Theil [...]). Zürich 1792. – Der Arme Mann hannes R. Becher-Literaturinstitut zu studieim Tockenburg. Hg. Leo Weisz. In: Raschers Mo- ren, wo er keine zwei Jahre später bereits natsh.e 1. Zürich 1930 (19 Briefe B.s an Füssli u. Dozent wurde.

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B.s Gedichte aus dieser Zeit preisen überschwänglich den technischen u. gesellschaftl. Fortschritt in der DDR (Für eine Minute. Zus. mit Horst Salomon. Lpz. 1960). In den Kreis der Lesebuchautoren aufgenommen, beteiligte sich B. an der ersten Bitterfelder Konferenz, deren Aufruf Greif zur Feder, Kumpel! er verfasste (in: »Neues Deutschland«, 24.4. 1959). Offenbar von uneingeschränkter Hingabe für den sozialist. Aufbau, überraschte B. 1963 mit seinem Roman Der eiserne Vorhang (auch: Rummelplatz; unter diesem Titel zuletzt ersch. Bln. 2007), der – unter verschiedenen Titeln – über Vorabdrucke im »Sonntag« u. der »Neuen Deutschen Literatur« zunächst nicht hinauskam. Eine 1965 entfachte rüde Pressekampagne gegen diesen Roman der orientierungslosen, wenig vorbildlichen, aber typischen Helden des DDR-Alltags hinderte B. – in den letzten, wenig produktiven Jahren vom Alkoholismus gezeichnet –, den zweiten Band zu verwirklichen. Weitere Werke: Luftbilder aus der DDR (zus. mit Lothar Willmann). Lpz. 1960. – Prosa schreiben. Halle 1968 (Ess.s). – Städte machen Leute. Reportage über Halle-Neustadt. (Mitautor). Halle 1969. – Ein Kranich am Himmel. Halle 1981 (mit Bibliogr.). Literatur: Manfred Behn-Liebherz: W. B. In: KLG. – Rüdiger Bernhardt: W. B.s ›Gewöhnliche Leute‹. In: WB 31 (1985), S. 97–112. – Martin Straub: ›Rummelplatz‹ u. das 11. Plenum 1965. Zu W. B.s Romanfragment. In: Verbrannt u. verkannt. Hg. Ulrich Kaufmann. Jena 1992, S. 16–28. Johannes Schulz / Red.

Brahm, Otto, auch: O. Anders, eigentl.: O. Abrahamsohn, * 5.2.1856 Hamburg, † 28.11.1912 Berlin. – Kritiker u. Theaterleiter. Als erster Sohn des Kaufmanns Julius Abrahamsohn u. seiner Ehefrau Emilie machte B. nach dem Realschulbesuch (1869–1871) eine dreijährige Lehre als Bankkaufmann, bevor er 1876 in Berlin das Studium der Germanistik aufnahm. Nach einem Semester in Heidelberg, wo er Freundschaft mit Paul Schlenther schloss, kehrte er nach Berlin zurück, um bei Wilhelm Scherer seine Doktorarbeit zu beginnen. Wegen fehlenden Abiturs setzte B.

das Studium zunächst in Straßburg bei Erich Schmidt, dann in Jena fort, wo er bei Eduard Sievers über Das deutsche Ritterdrama des 18. Jahrhunderts (Straßb. 1880) promovierte. Der Einstieg in den journalist. Beruf wurde B. durch Scherers Unterstützung erleichtert. Ab 1878 erschienen Aufsätze u. Kritiken von ihm, u. a. in der »Augsburger Allgemeinen Zeitung«, im »Deutschen Montagsblatt«, seit 1881 unter dem mit Rücksicht auf den herrschenden Antisemitismus gewählten Pseudonym Brahm. In den frühen Aufsätzen Paul Heyse (in: »Westermanns Monatshefte«, Nov. 1882) u. Gottfried Keller. Ein literarischer Essay (Bln. 1883) ist der Einfluss der positivist. Germanistik Scherers zu spüren. 1881–1885 war B. festangestellter Theaterkritiker (an der Seite Theodor Fontanes) bei der »Vossischen Zeitung«; 1886 ging er zur Wochenschrift »Die Nation«. Durch treffsichere u. strenge Kritik erlangte B. früh Anerkennung; zgl. trat er für eine Reform des dt. Theaters in Repertoire, Inszenierungsstil u. Schauspielkunst ein. B.s Stellungnahme zum neu gegründeten Deutschen Theater Berlin (1883/84), seine Aufnahme der Gastspiele der Meininger (1884 u. 1887) u. sein Einsatz für das Drama Ibsens verraten schon den Anspruch auf aktive Mitgestaltung des Theaterlebens. Auch seine biogr. Werke galten führenden Dramatikern: 1884 erschien die preisgekrönte, wiederholt aufgelegte Studie Heinrich von Kleist (Bln.); danach folgte eine (nicht abgeschlossene) Schiller-Monografie (2 Bde., Bln. 1888–92). Als Wegbereiter Ibsens stand B. dem Naturalismus nahe; dank seiner organisator. Fähigkeiten u. krit. Potenz verlagerte sich der Schwerpunkt der naturalist. Bewegung gegen Ende der 1880er Jahre von München nach Berlin. Bei der Begründung der Freien Bühne (1889) wurde B. von den zehn Gründungsmitgliedern (darunter Schlenther, die Brüder Hart, der Verleger Samuel Fischer) zum Ersten Vorsitzenden ernannt. B. machte es sich zur Aufgabe, der naturalist. Moderne ein – wenn auch zahlenmäßig begrenztes – Theaterpublikum zu gewinnen (zur Umgehung der Zensur wurden geschlossene Vorstellungen gegeben). Trotz Kritik an seiner diktator. Amtsführung u. mancher Anfeindungen (u. a.

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durch Conrad Alberti) gelang es B. schon in der ersten Spielzeit, mit der Aufführung von Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889) dem Naturalismus zu einem bahnbrechenden Erfolg zu verhelfen. Zum Programm der Freien Bühne gehörten Werke der europ. Naturalisten (Ibsen, Tolstoi, Bjørnson, Strindberg, Henri François Becque, die Brüder Goncourt, Zola) ebenso wie der von ihnen beeinflussten Autoren des »Jüngsten Deutschland« (Holz u. Schlaf, Hartleben, Georg Hirschfeld u. a.). 1890 folgte die Gründung der Zeitschrift »Freie Bühne für modernes Leben« (ab 1894 »Neue deutsche Rundschau«, ab 1904 »Die neue Rundschau«) im S. Fischer Verlag, die B. zwei Jahre lang herausgab u. mit dem programmat. Artikel Zum Beginn eröffnete. Die darin anklingenden Differenzen zu Hermann Bahrs subjektiver Moderne-Konzeption eskalierten während dessen kurzzeitiger Mitarbeit (1890). Das Ende der Zusammenarbeit mit Fischer (1891), der über den ausbleibenden finanziellen Erfolg besorgt war, bedeutete im Wesentlichen auch das Ende der publizist. Tätigkeit B.s; von nun an widmete er sich fast ausschließlich der Theaterpraxis. Schon nach zwei Spielzeiten war trotz der gegen Hauptmanns Weber gerichteten Zensurmaßnahmen die breite Anerkennung des naturalist. Dramas gesichert. Der nächste Schritt, das Hervortreten des Theaterdirektors B. an einem öffentl. Theater, erfolgte 1894 mit der Übernahme des Deutschen Theaters von seinem Mitbegründer Adolph L’Arronge. B. leitete es zehn Jahre mit wachsendem Erfolg; nach der Verweigerung einer zweiten Pachtverlängerung durch L’Arronge ging B. 1904 zum Lessing-Theater, das er bis zu seinem frühen Tod führte. Nach dem misslungenen Versuch, das klass. Drama (Kabale und Liebe, 1894) mit realist. Bühnenmitteln zu inszenieren, konzentrierte sich B. auf die naturalist. Moderne. Sein Repertoire basierte auf den Dramen Ibsens u. Hauptmanns, mit dem ihn eine enge Freundschaft verband; auch Schnitzler, Hofmannsthal, Shaw u. Maeterlinck wurden gespielt, aber B. verzichtete auf das Spätwerk Strindbergs u. die Dramen Wedekinds, was ihm den Vorwurf der Einseitigkeit eintrug. B. bezeichnete sich nicht als Regisseur, obgleich

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er in der Entwicklung des naturalist. Stils seiner Theater die maßgebl. Rolle spielte. Kennzeichnend waren das Ensemblespiel, die unpathet. Sprechweise u. eine detailgetreue, aber nüchterne Bühnenausstattung. Zu seinem Ensemble gehörten die bedeutendsten Schauspieler der realist. Schule: Emanuel Reicher, Else Lehmann, Rose Bertens, Rudolf Rittner, Oskar Sauer. Wie Josef Kainz war auch Max Reinhardt (als Schauspieler) zeitweise Mitgl. der B.’schen Truppe, er verließ sie aber 1902, da er sich durch den nicht mehr entwicklungsfähigen Brahmstil künstlerisch eingeengt fühlte. Trotz bedeutender Leistungen des Lessing-Theaters unter B. markiert die Übernahme des Deutschen Theaters durch Reinhardt (1905, nach einjährigem Interregnum) eine neue Epoche in der Theatergeschichte Deutschlands. B. blieb es nicht erspart, in den letzten Jahren die innere Abwendung seines »Hausautors« Hauptmann u. die ersten Schritte seiner Ensemblemitglieder zur Gründung eines eigenen Theaters (Deutsche Künstlersozietät) zu erleben. Weitere Werke: Karl Stauffer-Bern. Sein Leben, seine Briefe, seine Gedichte. Stgt. 1892. – Kainz. Gesehenes u. Gelebtes. Bln. 1910. – Krit. Schr.en über Drama u. Theater. Hg. Paul Schlenther. 2 Bde., Bln. 1913–15. Ausgaben: Der Briefw. Arthur Schnitzler – O. B. Hg. Oskar Seidlin. Vollst. Ausg. Tüb. 1975. – O. B. / Gerhart Hauptmann. Briefw. Hg. Peter Sprengel. Tüb. 1985. Literatur: Willi Simon (Hg.): O. B. Kundgebungen zu seinem Gedenken. Bln 1913. – Georg Hirschfeld: O. B. Briefe u. Erinnerungen. Bln. 1925. – Herbert Henze: O. B. u. das Dt. Theater in Berlin. Diss. Bln. 1930. – Paul Schlenther: Theater im 19. Jh. Bln. 1930. – Oskar Koplowitz (später: O. Seidlin): O. B. als Theaterkritiker. Zürich/Lpz. 1936. Bonn. 21978. – Werner Buth: Das Lessingtheater in Berlin unter der Direktion v. O. B. Diss. Bln. 1965. – Gernot Schley: Die Freie Bühne in Berlin. Bln. 1967. – Horst Claus: The Theatre Director O. B. Ann Arbor 1981. – Norbert Jaron u. a. (Hg.): Berlin – Theater der Jahrhundertwende. Tüb. 1986. – Samuel u. Hedwig Fischer: Briefw. mit Autoren. Hg. Dierk Rodewald u. Corinna Fiedler. Ffm. 1986. – Peter Sprengel u. Gregor Streim: Berliner u. Wiener Moderne. Wien u. a. 1998. John Osborne / Peter Sprengel

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Brambach, Rainer, * 22.1.1917 Basel, † 14.8.1983 Basel; Grabstätte: ebd., Friedhof Hörnli. – Lyriker, Verfasser von Kurzprosa.

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kurzen Reflexion zur Naturlyrik, der B. seine eigenen Gedichte zurechnet, heißt es: »[...] die alte Erde dauert. Aber neben der Tanne steht die Antenne als Nachbar und dem Himmel entlang zieht das Flugzeug.«

B. übte verschiedene, meist handwerkl. BeWeitere Werke: Marco Polos Koffer (zus. mit rufe aus, war wiederholt arbeitslos u. arbeiJörg Federspiel). Zürich 1968. Frauenfeld 1998 (L.). tete schließlich als Gärtner. Die Person des – Ich fand keinen Namen dafür. Zürich 1969 (L.). »dichtenden Gärtners« gab Stoff zu LegenAusgaben: Zeit wär’s. Gedichte u. Prosa aus dem den. B. lebte seit Anfang der 1960er Jahre als Nachl. Karlsr. 1985 (darin auch die 1947 im Prifreier Schriftsteller. Während seines ganzen vatdruck ersch. ›Sieben Gedichte‹). – Heiterkeit im Lebens wohnte er in Basel. Von der Stadt Garten. Das gesamte Werk. Hg. u. mit einem wurde B. 1965 u. 1977 mit der Ehrengabe u. Nachw. v. Frank Geerk. Zürich 1989. – R. B. Briefe 1955–83. Hg. Hans Georg Schwark. Mainz 1997. – 1982 mit dem Kunstpreis ausgezeichnet. Das schmale Werk – gut 100 Gedichte u. Ges. Gedichte. Mit einem Nachw. v. Hans Bender. zwei Bände Kurzprosa (Wahrnehmungen. Zü- Zürich 2003. Literatur: Michael Bielefeld: R. B. In: KLG. – rich 1961. Für sechs Tassen Kaffee und andere Geschichten. Zürich 1972) – bezeugt, wie Frank Geerk: R. B. (1917–83). Die Kneipe, die die Welt bedeutet. In: Grenzfall Lit. Die Sinnfrage in wichtig Landschaft, Garten u. die Arbeit im der modernen Lit. der viersprachigen Schweiz. Hg. Freien für B. gewesen sind. Immer wieder ist Joseph Blättig u. Stephan Leimgruber. Freiburg/ von handwerklicher Arbeit die Rede, vom Schweiz 1993, S. 252–265. – Petra Ernst: R. B. In: Tagwerk, so der Titel der ersten Gedicht- LGL. – Theo Breuner: R. B. In. Aus den Hinterland. sammlung (Zürich 1959). Mit gleicher Lyrik nach 2000. Hg. ders. Sistig 2005. Selbstverständlichkeit thematisiert B. aber Dominik Müller / Red. auch die Arbeit des Schreibens. Dabei kommt wiederholt zum Ausdruck, wie sehr er sich bei aller Eigenständigkeit u. der ihm eigenen Brandan. – Legendarischer Stoffkomplex, Bescheidenheit den großen Dichtern ver- etwa 10. Jh. bis Spätmittelalter. pflichtet fühlt. Viele ihrer Gedichte wusste B. Mit dem Namen des irischen Klostergründers auswendig; Günter Eich, der Freund u. För- St. Brandan (Brendan, ir. Brenaind; † 577/ derer, sprach von B.s »Gedichtnis«. Die zus. 583 n. Chr.) verbindet sich ein Stoff, der in mit Frank Geerk verfassten Kneipenlieder (Zü- unterschiedl. Traditionen mit jeweils stark rich 1974. Erw. Ausg. 1982) berichten vom variierenden Fassungen vorliegt. alltägl. Besuch im Wirtshaus: voll heiterer Eine in Irland entstandene, nicht sicher Melancholie mit einer verschmitzten, bei B. datierbare Vita S. Brendani (sieben lat. Fashäufigen Neigung zu Kalauer u. Pointe. sungen) verbindet das Wirken des Predigers B.s Werk stößt bei Liebhabern wie Spezia- u. Klostergründers mit Berichten von seinen listen durch die Verbindung von Volkstüm- Reisen. Querverbindungen bestehen zu der lichem u. Ausgefallenem, Unscheinbarem ins 9. Jh. zurückgehenden lat. Navigatio S. mit Hochverehrtem, Heiterem u. Ernstem auf Brendani. Sprachliche Eigenheiten bezeugen eine außergewöhnlich einhellige Zustim- deren irischen Ursprung, die Überlieferung mung. B.s Sprache ist unprätentiös u. knapp. auf dem Kontinent geht von Lothringen aus In den Gesammelten Gedichten (Wirf eine Münze (10. Jh.; über 130 Textzeugen bis ins 15. Jh.). auf. Zürich 1977) gibt es kein Gedicht, das Eine als siebenfacher Jahresrundweg angenicht auf einer Buchseite Platz fände, u. die- legte Seereise führt den Heiligen auf der Suser Lakonismus steigert sich in B.s letzter, che nach einem Verheißenen Land mit seinen nach längerer Schaffenspause kurz vor dem Mönchen übers Meer zu sagenhaft fernen Tod entstandenen Gedichtsammlung Auch im bzw. jenseitigen Orten, die stoffgeschichtlich April (Zürich 1983). Souverän kombiniert B. teils auf orientalische u. antike Quellen zuWörter aus dem alten Dichtervokabular mit rückgehen (z.B. Riesenfisch, der eine Insel Vokabeln der modernen Sprache. In einer vortäuscht). Anderes stammt aus der Legen-

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den- u. Visionsliteratur (Fegefeuer, Paradies, neutrale Engel, der büßende Judas). Einwirkung des Imram, eines Typus altirischer Jenseitsreisen, liegt nahe. Auch wurde frühes Wissen von überseeischer Geografie vermutet; umgekehrt wurden die real geglaubten Brandan-Inseln bis ins 18. Jh. in Expeditionen gesucht. Die Navigatio machte Namen u. Verehrung Brandans über Europa hin bekannt u. wurde in zahlreiche Volkssprachen übersetzt. Um 1457 übertrug sie der Münchner Arzt Johann Hartlieb u. um 1473 der Südtiroler Karthäusermönch Heinrich Haller ins Hochdeutsche. Ab 1478 wurde sie in Drucken der Legendensammlung Der Heiligen Leben mehrfach niederdeutsch herausgebracht, weitere Bearbeitungen folgten (bes. Gabriel Rollenhagen in den Vier Büchern [...] Indianischer Reysen. Magdeb. 1603). Eine differierende Anordnung u. Ausgestaltung der Episoden brachte die sog. »Reisefassung« (wenn abhängig vom Alexanderroman, nach 1170), die mit der Navigatio etwa die Hälfte der Episoden gemeinsam hat, aber den Aufbruch neu motiviert. Brandan verbrennt ungläubig ein Buch, das von den Wundern Gottes berichtet, u. wird zur Buße von einem Engel auf die Reise geschickt, um diese Wunder selbst zu erfahren u. erneut aufzuschreiben. Überliefert ist die Fassung später in unterschiedl. Versbearbeitungen (mittelniederländisch Anfang 13. Jh., mitteldeutsch um 1300, mittelniederdeutsch 15. Jh.) u. in einer oberdt. Prosaauflösung (15. Jh.). Es wurde erörtert, wieweit sich hier Zweifel am christl. Wunderglauben, schließlich aber dessen Bestätigung durch Erfahrungswissen niederschlagen. Eine entscheidende Rolle spielt die Glaubwürdigkeit der Tradierung in Schrift- bzw. Buchform im Gegensatz zur Augenzeugenschaft. Die Aufwertung des Buchwissens wurde auch als Rechtfertigung fiktionaler Erfahrung gelesen, wie sie in der schriftliterar. Erzählliteratur der Zeit vordringt (literarhistorischer Kontext: Alexanderroman, Spielmanns- bzw. Brautwerbungsepik, höf. Roman). Gattungsgeschichtlich liegt die Erzählung zwischen Legende, Roman, Reisebericht, Jenseitsvision. Spuren der Reisefassung finden sich bei Wolfram von Eschenbach u. in dem Streitge-

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dicht in Sangspruchstrophen Der Wartburgkrieg. Ausgaben: Navigatio: Navigatio Sancti Brendani abbatis from Early Latin Manuscripts. Hg. Carl Selmer. Notre Dame/Indiana 1959. Neudr. Dublin 1989. – Sankt Brandan. Zwei frühneuhochdeutsche Prosafassungen. Der erste Augsburger Druck v. Anton Sorg (um 1476) [Reisefassung] u. die Brandan-Legende aus Gabriel Rollenhagens ›Vier Büchern Indianischer Reisen‹ [Navigatiofassung]. Hg. Rolf D. Fay. Stgt. 1985. – Reisefassung: St. Brandans wundersame Seefahrt. Nach der Heidelberger Hs. Cod.Pal.Germ. 60. Hg., übertragen u. erl. v. Gerhard E. Sollbach. Ffm. 1987. – Brandan. Die mitteldt. ›Reise‹-Fassung. Hg. Reinhard Hahn u. Christoph Fasbender. Heidelb. 2002. – Navigatio: Sankt Brandans Meerfahrt. Ein lat. Text u. seine drei dt. Übertragungen aus dem 15. Jh. Hg. Karl A. Zaenker. Stgt. 1987. – Verschiedene Fassungen: The Voyage of Saint Brendan. Representative Versions of the Legend in English Translation with Indexes of Themes and Motifs from the Stories. Hg. W. R. J. Barron u. Glyn S. Burgess. University of Exeter Press 2002. Literatur: Carl Selmer: The vernacular Translations of the ›Navigatio [...]‹. A Bibliographical Study. In: Medieval Studies 18 (1956), S. 145–157. – Walter Haug: Brandans Meerfahrt. In: VL. – Werner Röcke: Die Wahrheit der Wunder. Abenteuer der Erfahrung u. des Erzählens im ›Brandan‹u. ›Apollonius‹-Roman. In: Wege in die Neuzeit. Hg. Thomas Cramer. Mchn. 1988, S. 252–269. – Hannes Kästner: Der zweifelnde Abt u. die mirabilia descripta. Buchwissen, Erfahrung u. Inspiration in den Reiseversionen der B.-Legende. In: Reisen u. Reiselit. im MA u. in der Frühen Neuzeit. Hg. Xenja v. Ertzdorff. Amsterd. u. a. 1992, S. 389–416. – Josef Semmler: Navigatio Brendani. In: Reisen in reale u. myth. Ferne. Reiselit. in MA u. Früher Neuzeit. Hg. Peter Wunderli. Düsseld. 1993, S. 103–123. – Clara Strijbosch: De bronnen van De reis van Sint Brandaan. Hilversum 1995. – Peter Strohschneider: Der Abt, die Schrift u. die Welt. Buchwissen, Erfahrungswissen u. Erzählstrukturen in der B.-Legende. In: Scientia poetica 1 (1997), S. 1–34. – Walter Haug: Brandans Meerfahrt u. das Wunder Gottes. In: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des MA zwischen Orient u. Okzident. Hg. Laetitia Rimpau u. Peter Ihring. Bln. 2005, S. 37–55. Christoph Huber

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Brandenburg, Hans, * 18.10.1885 Barmen, † 8.5.1968 Bingen. – Lyriker, Erzähler; Tanz- u. Theatertheoretiker.

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B.s episches Hauptwerk Vater Öllendahl (Stgt. 1938) ist in seiner westdt. Heimat angesiedelt u. spiegelt das bürgerlich-pietist. Milieu seiner Jugend wider. Von historischem, kultur- u. zeitgeschichtl. Interesse sind seine Erinnerungsbücher über die Stadt München (München leuchtete. Mchn. 1953. Im Feuer unserer Liebe. Erlebtes Schicksal einer Stadt. Mchn. 1956). 1967 wurde B. mit dem Schwabinger Kunstpreis ausgezeichnet. Sein Nachlass befindet sich in der Münchner Stadtbibliothek.

B. wuchs in einer von pietistischem Gedankengut geprägten Kaufmannsfamilie auf. Nach dem Abitur 1903 ging er nach München, das seine Wahlheimat werden sollte, u. wurde Dozent an der Volkshochschule. 1911 heiratete B. die Malerin Dora Polster, die viele seiner Bücher illustrierte. Wanderungen u. Reisen führten ihn in den folgenden Jahren durch mehrere europ. Länder. Weitere Werke: Einsamkeiten. Mchn. 1906. – B.s frühe Lyrik zeigt ihn noch in der Ab- Gesang über den Saaten. Mchn. 1912. – Ital. Elehängigkeit Detlev von Liliencrons u. trägt gien. Mchn. 1913 (L.). – Joseph v. Eichendorff. inhaltlich u. stilistisch impressionistische Mchn. 1922 (Biogr.). – Pankraz der Hirtenbub. Lpz. Züge. Seine ersten Gedichtbände wie In Jugend 1924. Literatur: Ludwig Gorm: H. B. In: Die Lit. 33 und Sonne (Mchn. 1904) wurden in Schwabinger Künstlerkreisen begeistert aufgenom- (1930/31), S. 138–140. – Jörg Petzel: H. B. In: Der Bamberger Dichterkreis 1936–43. Hg. Wulf Segemen. brecht. Ffm. 1987, S. 118–129. – Hansjörg LobenVor dem Ersten Weltkrieg begann B. sich tanzer: H. B. (1885–1968). Ein Dichter in seiner für das zeitgenöss. Theater u. insbes. für den Zeit. Leben, Werke, Würdigung. Diss. Mchn. 1997. Ausdruckstanz zu engagieren (Der moderne Elisabeth Willnat / Red. Tanz. Mchn. 1913). Gemeinsam mit den Tänzern u. Tanztheoretikern Mary Wigman Brandenburg, Michael Christoph, * um u. Rudolf von Laban, dem Schöpfer des Aus- 1694 Boizenburg/Mecklenburg, † 12.5. druckstanzes, studierte er 1914 das »tragi- 1766 Sandesneben. – Lyriker u. Librettist. sche Wort- und Tanzspiel« Der Sieg des Opfers (Heilbr. 1921) in der Absicht ein, Körper u. B. wurde im April 1714 an der Universität Raum auf einer neuen kultischen Bühne Rostock immatrikuliert u. ging als Theologiestudent im Sommersemster 1718 nach rhythmisch-chorisch miteinander zu verbinLeipzig. 1722 wurde er Pastor in Sterley bei den. B. fasste seine dramaturg. Vorstellungen Mölln, 1735 in Grönau bei Ratzeburg, 1744 später in dem Buch Das neue Theater (Lpz. Assessor des herzoglich Lauenburgischen 1926) zusammen, wobei er die gesamte EntKonsistoriums u. 1753 Pastor in Sandesneben wicklung des Theaters seiner Zeit zu bezwischen Mölln u. Bad Oldesloe. Die Hamrücksichtigen suchte. burger Patriotische Gesellschaft von 1724 B.s Ideen zur Innovation des Theaters nahm ihn als einziges auswärtiges Mitgl. auf. wurden später von den Nationalsozialisten Am 1.1.1744 ernannte ihn die Deutsche Gemissbraucht. Sie versuchten, ihn als Wegbe- sellschaft in Göttingen zu ihrem Ehrenmitreiter ihrer Thingspiele zu vereinnahmen. glied. Verheiratet war B. mit einer Tochter Doch schon 1925 hatte B. in einer literatur- des Pastors von Hitzacker, Carl Heinrich theoret. Kontroverse mit Hans Reiser u. Jo- Tusch, der Arete seiner Gedichte. hannes R. Becher seine an der klass. Dichtung Mit 54 z.T. groß angelegten Gedichten ist orientierte Auffassung deutlich gemacht, B. in Christian Friedrich Weichmanns Poesie dass für ihn Dichtung »an nichts Zeitlichem der Nieder-Sachsen (Hbg. 1721–38. Neudr. hg. zu messen und mit nichts Zeitlichem zu v. Jürgen Stenzel. Mchn. 1980) vertreten. Er richten oder zu entschuldigen« sei. Seine war zu Beginn seiner dichter. Laufbahn der unpolit. Haltung ermöglichte es ihm, die Zeit niederdt., zumal hamburgischen Opern- u. des Dritten Reichs unangefochten zu über- Kantatendichtung verpflichtet, in deren Tradition seine Oratorien, die Lübecker Abendstehen.

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musiken Gideon (Erstauff. 1716) u. Jephthah (Erstauff. 1717) stehen. Gideon wurde mit der Musik des Buxtehude-Nachfolgers Johann Christian Schieferdecker aufgeführt. Während des Leipziger Studienaufenthalts löste sich B. von seinen norddt. Vorbildern Barthold Heinrich Brockes u. Michael Richey u. wandte sich der Dichtung Johann Christian Günthers zu. Später kamen zu seinen in Anlehnung an Günther entstandenen Gedichten wieder Serenaden u. kürzere Oratorien im hamburgischen Stil. Zu ihnen gehört die von Johann Paul Kunzen vertonte Lübecker Abendmusik Belsatzar (Erstauff. 1739). Kunzen komponierte auch die Musik zu B.s Sieg des Glaubens an dem Exempel der drei jüdischen Männer in dem glühenden Ofen zu Babel (Erstauff. 1743) u. Der gläubigen Seele wehmüthigen Beherzung des bittern aber heilbringenden Leidens u. Sterbens Jesu Christi (Erstauff. 1750). Als sicher gilt, dass B. Aufsätze für den »Patrioten« (Hbg. 1724–26. Krit. Neuausg. v. Wolfgang Martens. 4 Bde., Bln. 1969–84) verfasst hat. Zugeschrieben wurden ihm die Stücke Nr. 60, 118 u. 131. In Leipzig war B. zum engen Vertrauten Günthers geworden, der ihn sogar zum Erben seines dichter. Nachlasses bestimmte. Eine postum von B. besorgte Ausgabe der Gedichte Günthers hat es gleichwohl nicht gegeben. Zu Weichmann bestanden schon freundschaftl. Beziehungen, bevor diesem die Redaktionsgeschäfte des »Patrioten« anvertraut wurden. Der Patriotischen Gesellschaft war B. so eng verbunden, dass er von einem »vollkommenen Mitgliede« sich lediglich durch seine Abwesenheit unterschied, wie Richey schrieb, der wie Johann Albert Fabricius, Johann Adolf Hoffmann u. Brockes diesem Freundeskreis angehörte. Günther rühmte B. als einen Dichter, der in der Lage sei, sein (Günthers) poetisches Werk in den eigenen Gedichten zu vollenden. Der ebenfalls zum Leipziger Freundeskreis gehörende Daniel Wilhelm Triller sah in ihm einen der »fürnehmsten teutschen Poeten«. In den 1720er Jahren war B. als Dichter des Hamburger Kreises allg. bekannt. Weichmann stellte ihn als Zeugen für die »Göttlichkeit deutscher Dichtung« in eine Reihe mit Johann von Besser, Brockes, Richey, Jo-

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hann Ulrich von König, Matthäus Arnold Wilckens u. Johann Valentin Pietsch. 1738 widmete Johann Peter Kohl B. den fünften Band der Poesie der Niedersachsen u. rühmte im Widmungsgedicht dessen Verdienste um die dt. Dichtung, die Vereinigung von Maß u. Vernunft mit einem reinen u. lebendigen Stil, mit Natürlichkeit u. Größe. Für Günthers Biografen, den Gottsched-Gegner Christian Ernst Steinbach, ist B. Autorität in dichter. Fragen. Von der Kanzel allerdings musste B. sich 1739 verunglimpfende, gegen seinen Belsatzar gerichtete Urteile gefallen lassen: Eine als zu leichtfertig befundene Arie hatte Anstoß erregt. Immerhin bezeugte Heinrich Philipp Conrad Henke noch drei Jahre nach B.s Tod, dass dessen späte Lübecker Abendmusiken großen Erfolg hatten. Ihren Autor bezeichnete er als Poeten ungefähr von Günthers Schlage, aber von unbescholtener Sittlichkeit. B. habe in der Literaturgeschichte indessen keinen Platz erhalten, stellte 1860 der Günther-Forscher Otto Roquette fest. Der Philosoph, Altertumsforscher u. Dichter Otto Friedrich Gruppe schrieb 1864 über B., der Name eines solchen Dichters verdiene wohl eine Rettung aus dem Strom der Zeiten, er stehe ungleich höher als Günther. Gruppe rühmt an B.s Werken Fülle, Feuer, Pracht, Frische, Naivität u. wahre dichter. Begabung, Wärme, Fantasie u. Schönheit. Dieser Rehabilitierungsversuch verhinderte indessen nicht, dass B. in Vergessenheit geriet. Weitere Werke: Crit. Beantwortungen einiger ihm v. den Hg. vorgelegten Fragen, über einige Stellen des Virgils. In: Johann Peter Kohl: Hamburgische vermischte Bibl. [...]. Bd. 1, Hbg. 1743, S. 480 ff. Literatur: Heinrich Philipp Conrad Henke (Hg.): Archiv für die neueste Kirchengesch. 1795–99. Bd. 2, Weimar 1796, S. 499. – Wolfram Suchier: Die Mitgl.er der Dt. Gesellsch. zu Göttingen v. 1738 bis Anfang 1755. In: Ztschr. des histor. Vereins für Niedersachsen 81 (1916), S. 63. – Jörg Scheibe: Der ›Patriot‹ u. sein Publikum. Göpp. 1973, S. 53. – Wilhelm Krämer: Das Leben des schles. Dichters Johann Christian Günther 1695–1723. 2., verm. Aufl. (mit Reiner Bölhoff). Stgt. 1980, bes. S. 401–410. – Christian Friedrich Weichmanns Poesie der Nieder-Sachsen. Hbg. 1721–38. Neuausg. hg. v. Christoph Perels, Jürgen

125 Rathje u. Jürgen Stenzel. Nachweise u. Register. Wolfenb. 1983, S. 59–66. Jürgen Rathje / Red.

Brandes, Johann Christian, * 15.11.1735 Stettin, † 10.11.1799 Berlin. – Dramatiker u. Schauspieler.

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großen Erfolg mit seinen Lustspielen Der Graf von Olsbach (Urauff. 1768) u. Der geadelte Kaufmann (Urauff. 1769). Seine Autobiografie Meine Lebensgeschichte (3 Bde., Bln. 1799–1800) ist ein lesenswertes Zeitdokument. Weitere Werke: Die Folgen der Großmut u. Redlichkeit in der Lebensgesch. des Herrn B.s. Breslau/Lpz. 1762 (R.). – Miß Fanny oder Der Schiffbruch. Urauff. 1767 (Schausp.). – Trau, schau, wem. Braunschw. 1769 (Lustsp.). – Die Komödianten in Quirlequitsch. Urauff. 1770 (Kom.). – Die Mediceer. Bln. 1776 (Schausp.). – Die Erbschaft oder Der junge Geizige. Urauff. 1780 (Lustsp.). – Rahel oder Die schöne Jüdin. Urauff. 1790 (Trauersp.). Ausgabe: Sämmtl. dramat. Schr.en. 8 Bde., Lpz. 1790/91. Literatur: Johannes Kopfleisch (Pseud.: Johannes Klaudius): J. C. B., ein Angehöriger der dt. Bühne zur Zeit Lessings. Halle 1906. – Hermann Ulbrich-Hannibal: Dt. Theaterleben im 18. Jh. Zu der Autobiogr. v. J. C. B. In: Theater der Zeit 3,9 (1948), S. 22 f. – Karl-Heinz Borchardt: ›Wenn nun aber ein Schauspieler diesen Gesang ergriff ...‹ J. C. B. u. Herder. In: Herders Idee der Humanität, Grundkategorie menschl. Denkens, Dichtens u. Seins. Hg. Jan Watrak u. Rolf Bräuer. Stettin 1995, S. 25–37. – Günther Heeg: Der Faden der ›Ariadne‹. Ursprung u. Bedeutung des Malerischen in der theatralen Darstellung des 18. Jh. In: Theater im Kulturwandel des 18. Jh. Hg. Erika Fischer-Lichte u. Jörg Schönert. Gött. 1999, S. 361–383. – Hermann Kappelhoff: Das Privattheater der Hysterikerin u. die Szene der melodramat. Heroine. Zur ›psychischen Infektion‹ des weinenden Publikums. In: Ansteckung: Zur Körperlichkeit eines ästhet. Prinzips. Hg. Mirjam Schaub u. a. Mchn. 2005, S. 187–197. Walter Hettche / Red.

B. stammte aus zerrütteten Familienverhältnissen; sein Vater hatte sein Vermögen in Spekulationen verloren u. die Familie verlassen. Nach einem abgebrochenen Studium ergriff er den Kaufmannsberuf, scheiterte aber wegen einer Veruntreuung. Er schlug sich mit einer Vielzahl von Gelegenheitsarbeiten durch u. schloss sich nach Aufenthalten in Stettin u. Berlin der Schönemann’schen Schauspieltruppe an, mit der er erstmals 1756 in Hamburg auftrat. Die Truppe löste sich 1757 auf, B. arbeitete zeitweise als Schreiber u. als Bediensteter bei einem dän. General, bis er nach Hamburg zurückkehrte u. erneut bei einer Schauspieltruppe Arbeit fand. Nach weiteren Misserfolgen wurde B. schließlich beim Schuch’schen Theater in Stettin angestellt, mit dem er bald nach Berlin ging. Hier entdeckte er sein schriftstellerisches Talent, das er an einigen Prologen u. Epilogen erprobte (Die Entführung. Die geprüfte Treue. Beide 1761 uraufg.). Bei einem Gastspiel in Breslau lernte er Lessing kennen, der ihm freundschaftlich zugetan war u. ihn nach Kräften förderte. B.’ Tochter Wilhelmine aus der Ehe mit Esther Charlotte Koch wurde Lessings Patentochter, die man ihm zu Ehren »Minna« nannte. Lessing vermittelte auch B.’ Bekanntschaft mit Moses Mendelssohn. Nach seiner Trennung von der Schuch’schen Gesellschaft war B. bei den Bühnen in Brandes, Wilhelm, * 21.7.1854 Braunlage/ München, Leipzig u. Hamburg angestellt, bis Harz, † 6.2.1928 Wolfenbüttel. – Gymer schließlich Direktor des Dresdener Hofnasialdirektor u. Oberschulrat, Schrifttheaters wurde. Danach ging er nach Mannsteller, Begründer der Wilhelm-Raabeheim u. leitete später das Hamburger TheaGesellschaft, Raabe-Editor. ter. Nach dem Tod seiner Tochter 1788 gab B. den Schauspielerberuf auf u. ging zurück B., Sohn eines Oberförsters, studierte – nach nach Stettin. Die Hoffnung auf eine Anstel- Kindheitsjahren in einer noch vorindustrielllung in Berlin zerschlug sich, sodass er von ländl. Welt (Forsthaus von Danndorf, Kreis seinen schriftsteller. Arbeiten leben musste. Helmstedt) u. Gymnasialbesuch in BraunB. war einer der beliebtesten Theaterdich- schweig – von 1872 an klass. Philologie in ter seiner Zeit; Ariadne auf Naxos (Gotha 1775) Göttingen u. Leipzig. Er promovierte dort mit der Musik von Georg Benda gilt als das 1875 mit einer Diss. über den spätlat. Dichter erste deutschsprachige Melodram. Er hatte Ausonius. Von 1875 bis 1919 war B. mit den

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Literatur: Constantin Bauer: Schr.en v. W. B. Fächern Griechisch, Latein u. Deutsch im Schuldienst tätig, zunächst in Braunschweig, (Bibliogr.). In: W. B.: Vor fünfzig Jahren in einem von 1893 an als Gymnasialdirektor in Wol- braunschweig. Forsthause. Wolfenb. 1924 (Anfenbüttel. Zudem übte er seit 1895 das Amt hang). – Horst Denkler: Panier aufwerfen für Raabe. Zur Gesch. der ›Raabe-Pflege‹ im Bannkreis der eines herzogl. (Ober-)Schulrats aus u. war Raabe-Gesellsch. In: Jb. der Raabe-Gesellsch. 1987, überdies 1889–1895 als »Dozent für deutsche S. 11–23. – Herbert Blume: Blaugelb u. SchwarzLiteratur« an der TH Braunschweig tätig. weißrot. W. B. als Schriftsteller. In: Von Wilhelm 1882 lernte er im Braunschweiger literarisch- Raabe u. anderen. Vorträge aus dem Braunschweigeselligen Zirkel der »Kleiderseller« Wilhelm ger Raabe-Haus. Hg. ders. Bielef. 2001, S. 95–129. Raabe kennen, der seit 1870 der Vereinigung Herbert Blume angehörte. Die Begegnung mit Raabe, von B. als eine Brandmüller, Johannes, auch: J. Dader »größten Glücks- und Gnadengaben« lomylius, * 2.2.1593 Basel, † 13.9.1664 seines Lebens eingeschätzt, hat seine weitere Mülhausen (Mulhouse). – Evangelischer Entwicklung entscheidend geprägt. Raabe Pfarrer; Verfasser von heroisch-historiwurde im Lauf der Jahrzehnte zu B.’ väterl. schenVersepen. Freund. Darüber hinaus machte B. sich in Reden u. Aufsätzen zum Propagator des dt. B. war Sohn eines Schneiders, stammte aber aus einer Basler Theologen- u. Gelehrtenfa(aus seiner Sicht) »Lebenskämpfers«, »Semilie. Sein Großvater Johann(es) Brandmüller hers« u. »Führers« Raabe, der ihm wesentli(† 1596), Theologieprofessor in Basel, war aus cher war als der Schriftsteller. Von solchen dem oberschwäb. Biberach eingewandert. Raabe verkennenden Überzeugungen ist Nach seinem Studium ab 1607 in Basel war B. lange auch das Selbstverständnis der 1911 Pfarrer im Toggenburg (1613), in Langenvon B. gegründeten Gesellschaft der Freunde bruck (ab 1615) u. von 1621 bis zu seinem Wilhelm Raabes (seit 1948 Raabe-GesellTod im elsässischen, damals noch zur Eidgeschaft) bestimmt gewesen, die sich deshalb nossenschaft gehörenden Mülhausen/Mulerst seit den 1950er Jahren erfolgreich zu ei- house (seit 1645 Oberpfarrer). ner wiss. Gesellschaft hat entwickeln können. Außer dt. Gelegenheitsdichtungen in antiB.’ literar. Arbeiten (Balladen. Wolfenb. ken Versmaßen von 1621 u. 1624 u. Lei1891. 41927. Vor fünfzig Jahren in einem braun- chenpredigten veröffentlichte B. nichts im schweigischen Forsthause. Wolfenb. 1924; Dra- Druck. Als Autograf (1658) größtenteils ermen für Schulaufführungen; Kleiderseller- halten ist jedoch seine große heroisch-histor. Gelegenheitslyrik u. a. m.), z.T. an Vorbildern Versdichtung, das Poema Rauricum oder Rauwie Strachwitz u. Schiller orientiert, zeichnen rachisches Versgedicht, das nicht nur den ersten sich durch mühelose Beherrschung der Form Versuch einer Epik in dt. Hexametern daru. hohe Sprachsensibilität aus, zgl. wird an stellt, sondern im Grunde auch neben Wolf vielen Stellen aber sichtbar, welches die poe- Helmhard von Hohbergs Habsburgischem Ottologisch-polit. Standpunkte B.’ waren: Er tobert (1664) die heroisch-epische Gattungsschätzte das Konzept der Heimatkunstbewe- form für das 17. Jh. in der Volkssprache origung, verachtete den Naturalismus, besang ginell vertritt. die wilhelmin. Kolonial- u. Flottenpolitik. Das Epos B.s gliedert sich in einen Vortrab Um Raabe als Schriftsteller hat B. sich durch (WLB Stuttgart, Hs. 135 Donaueschingen) u. Quellenstudien zu einzelnen Romanen, v. a. einen Haupttext, der die zwei Teile Sequania aber durch die Edition seiner Werke in 18 (UB Basel, Hs A.G. II, 12) u. Germania (verBdn. (Bln. 1913–16. 21920. 31923) verdient schollen) mit je sechs Büchern umfasst. Die Entstehung des etwa 29.000 Verse umfasgemacht. Weitere Werke: Braunschweigs Anteil an der senden Textes gehört in den Zusammenhang Entwicklung der dt. Lit. Wolfenb. 1924. – Aus dem der schweizer. Bestrebung nach Unabhänalten Land Braunschweig. Hg. Herbert Blume. gigkeit vom Deutschen Reich im Umfeld der Westfälischen Friedensverhandlungen von Braunschw. 1998.

Brandstetter

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1646 bis 1648 am Ende des Dreißigjährigen Kriegs. Das in der Spätantike des 4. Jh. nach Chr. angesiedelte, christlich ausgerichtete Epos, das kulturell aber zeitgenöss. Lebensformen abbildet, zielt thematisch auf die repräsentative Selbstdarstellung Basels (Raurica) u. Mülhausens, um deren urbane Souveränitätsansprüche u. polit. Identität es geht. Die verschlungene, personenreiche Handlung um das Heldenpaar Fidamor u. Eumela verarbeitet zwar auch historiograf. Quellen (v. a. Ammianus Marcellinus), ist aber ansonsten frei erfunden. Einflüsse des höf. Ritter- u. Schäferromans sowie des Amadis auf das schwerfällig erzählte Werk sind nicht zu übersehen, das aber auch in seiner lokalen wie überregionalen Germanenreferenz humanistisches Geschichtsbewusstsein reflektiert. Humanistischen Anregungen des 16. Jh. folgen auch die dt. Hexameter B.s, die mangels geklärter Metrik häufig noch stark tonbeugend sind. Die am Bibeldeutsch geschulte, wortschatzreiche Sprache ist weitgehend frei von Regionalismen. Die Darstellung, die auch Sagenstoffe u. Märchen einarbeitet, hat einen soziokulturellen Aussagewert zu Lebensverhältnissen u. Mentalitäten im oberrhein. Entstehungsraum des 17. Jh. Ausgabe: Raurachisches Versgedicht. Vortrab (Praeludia Poematis Raurici). Hg. Erich Kleinschmidt. Bern 1982. Literatur: Johann Georg Salathe: Christl. Leich-predigt. Basel 1664. – Ernst Martin: Verse in antiken Maßen zur Zeit v. Opitz’ Auftreten. In: Vjs. für Litteraturgesch. 1 (1888), S. 98–111. – Erich Kleinschmidt: Stadtbürgertum u. späthumanist. Gelehrtenkultur. In: JbDSG 22 (1978), S. 1–55 (mit Inhaltsübersicht des Gesamtwerks, S. 46–55). Erich Kleinschmidt

Brandstetter, Alois, * 5.12.1938 Aichmühl bei Pichl/Oberösterreich. – Verfasser von Erzählungen u. Romanen. B., Sohn eines Müllers, studierte nach dem Besuch des bischöfl. Knabenseminars in LinzUrfahr u. des Gymnasiums in Wels Germanistik u. Geschichte an der Universität Wien. Nach der Promotion 1962 (Laut- und bedeutungskundliche Untersuchungen an der Mundart von Pichl bei Wels) habilitierte er sich 1970 in

Saarbrücken mit einer Arbeit über Prosaauflösung. Studien zur Rezeption der höfischen Epik im frühneuhochdeutschen Prosaroman (Ffm. 1971). Er lehrte an den Universitäten Salzburg u. Saarbrücken u. war 1974–2007 Ordinarius für Deutsche Philologie an der Universität Klagenfurt. Im Mittelpunkt seiner ironisch-krit. »Heimatgeschichten« stehen oft Käuze u. Naive, von Frömmelei u. Volkstümelei Geängstigte, aus deren Blickwinkel erzählt wird. Die scheinbar affirmative Haltung wird mit Sprachwitz unterlaufen, der Provinzialismus sprachspielerisch ironisiert. Indem B., der mit den Prosatexten Überwindung der Blitzangst (Salzb. 1971) u. den »Natur- und Kunstgeschichten« Ausfälle (Salzb. 1972) bekannt wurde, grotesk übertreibend öffentl. Ärgernisse u. »Vorkommnisse« beleuchtet u. Redensarten parodiert, zeigt er im Lächerlichen das Schreckliche, in der Idylle das Chaos u. zerstört so das Klischee vom heiteren Landleben. In zahlreichen Geschichten u. Romanen, darunter Zu Lasten der Briefträger (Salzb. 1974), Die Abtei (Salzb. 1977), Die Mühle (Salzb./Wien 1981), Altenehrung (Salzb./Wien 1983), Die Burg (Salzb./Wien 1986), So wahr ich Feuerbach heiße (Salzb./Wien 1988), Hier kocht der Wirt (Salzb./Wien 1995) u. Groß in Fahrt (Salzb./Wien 1998), formuliert ein humanistisch gebildeter (Ich-)Erzähler – meist »monologomanisch« u. schwadronierend u. unter geschickter Verwendung von Umgangssprache u. Mundart – auf verschiedenen Sprachebenen traditionsbewusste Zivilisationskritik (»selektives Lob von Gewesenem«). Die Romane Vom Manne aus Eicha (Salzb./Wien 1991) u. Der geborene Gärtner (Mchn. 2005) führen in die Zeit um 1800 bzw. ins 13. Jh. zurück. B.s viel gelesene Texte sind jeweils auf eine Pointe, eine überraschende Umwendung des Gesagten hin angelegt; dennoch erzeugt der Autor mit seiner Zeitkritik Betroffenheit. Zu seinen »Erinnerungsbüchern« zählen Vom Schnee der vergangenen Jahre (Salzb./Wien 1979) u. Über den grünen Klee der Kindheit (Salzb./ Wien 1982). B. erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter 1980 den Kulturpreis des Landes Oberösterreich für Literatur, 1983 den Rauriser Bürgerpreis, 1984 den Wilhelm-Raabe-

Branstner

Preis der Stadt Braunschweig, 1991 den Kulturpreis des Landes Kärnten für Literatur, 1994 den Heinrich-Gleißner-Preis u. 2005 den Großen Kulturpreis des Landes Oberösterreich (Adalbert-Stifter-Preis). Weitere Werke: Gewissenserforsch. Pforzheim 1969 (P.). – Über Untermieter. Pforzheim 1970 (P.). – Stille Größe. Pforzheim 1971 (P.). – Der Leumund des Löwen. Gesch.n v. großen Tieren u. Menschen. Salzb. 1976. – Von den Halbschuhen der Flachländer u. der Majestät der Alpen. Frühe Prosa. Salzb./ Wien 1980. – Landessäure. Starke Stücke u. schöne Gesch.n. Stgt. 1986. – Kleine Menschenkunde. Salzb./Wien 1987 (P.). – Romulus u. Wörthersee. Ein poet. Wörterbuch. Salzb./Wien 1989. – Vom HörenSagen. Eine poet. Akustik. Salzb./Wien 1992. – Almträume. Salzb./Wien 1993 (E.). – Schönschreiben. Salzb./Wien 1997 (P.). – Meine besten Gesch.n. Salzb./Wien 1999. – Die Zärtlichkeit des Eisenkeils. Salzb./Wien 2000 (R.). – Ein Vandale ist kein Hunne. St. Pölten/Salzb. 2007 (R.). Literatur: Siegmund Geisler. Der Erzähler A. B. St. Ingbert 1992. – A. B. Linz 1998 (Die Rampe). – Egyd Gstättner (Hg.): Vom Manne aus Pichl. Über A. B. Salzb./Wien 1998. – Georg Patzer: A. B. In: LGL. – Johann Strunz u. Gerhard Zeilinger: A. B. In: KLG. Kristina Pfoser-Schewig / Bruno Jahn

Branstner, Gerhard, * 25.5.1927 Blankenhain/Thüringen. – Erzähler, Verfasser von Aphorismen, Anekdoten u. szenischen Texten, Essayist, Theoretiker.

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grobianischer Prosa (Plebejade. Bln. 1974), stets begleitet von der theoret. Reflektion (die Disputation Kantine u. die Theatertheorie Das eigentliche Theater in: Heitere Poetik. Halle/Lpz. 1987). Dem stilsicher agierenden Autor ist dabei in allen Genres eine Neigung zur Pointierung, Verkürzung, auch zu apodiktischer Diktion u. Provokation eigen. Das erklärt einerseits die Affinität zu literar. Kurzformen (Aphorismen, Anekdoten, Sprüche, Tierfabeln; etwa: Der Esel als Amtmann. Tierfabeln. Bln. 41980; Spruchsäckel. Gütersloh u. Bln. 1982; Die Ochsenwette. Anekdoten in der oriental. Manier. Rostock 1980), ist andererseits zuständig für B.s respektlosen Anspruch, komplizierte u. globale philosoph. Sachverhalte in Kurzform gültig darzustellen (Die Welt in Kurzfassung. Bln. 2000; Die neue Weltofferte. Schkeuditz 2002). Nach einer Schreibpause Ende der 1980er Jahre, als das literar. Lebenskonzept absolviert schien, sah sich B. durch die Wende in Deutschland veranlasst, sich mit politischphilosoph. Streitschriften in die nat. Gestaltungsfragen einzumischen. Sein Credo lautet: »Die konsequenteste Kritik des Marxismus ist seine Fortsetzung« (Revolution auf Knien. Politische Philosophie. Bln. 1997. Marxismus der Beletage. Schkeuditz 2000. Gegenwelt. Bln. 2002). Ausgabe: Werkausw. G. B. in 10 Bdn. Bln. 2003 ff.

Der studierte Philosoph promovierte mit eiLiteratur: Peter Reichel: Der Autor als Spielner Dissertation über Die Kunst des Humors meister. Zum Schaffen G. B.s. In: WB 33 (1987), (Halle 1980), war dann Hochschullehrer, S. 785–802. – Interview mit P. Reichel. Ebd., später Cheflektor des Berliner Eulenspiegel S. 773–784. Peter Reichel Verlages; seit 1968 freischaffender Autor, lebt in Berlin. Im Jahre 2000 gescheitertes Brant, Sebastian, latinisiert: Titio, * 31.8. Parteiausschlussverfahren (PDS); Gründer 1457 Straßburg, † 10.5.1521 Straßburg. – der Internet-Zeitschrift »Die Hornisse« Editor, Übersetzer u. Verfasser von juris(»Philosophische Streitschrift: Die führende tischem u. historiografischem FachTheorie des wirklichen Sozialismus«; inzwischrifttum, von moralphilosophisch-satischen eingestellt). rischen Dichtungen, GelegenheitsgedichDer Gegenstand seiner Dissertation beten u. politischer Publizistik. stimmte von Anfang an B.s literarisches Schaffen – als Thema u. als Methode. Die B. war der älteste der drei Söhne von Diebold »Technik der heiteren Verstellung«, die B. als Brant, der aus einer angesehenen Straßburger »systemsprengende Heiterkeit« versteht, Ratsherrnfamilie stammte u. Gastwirt der veranlasste ihn zum ständigen Rollenwechsel stattlichen »Großen Herberge zum Goldenen zwischen Lügengeschichten, komisch-satiri- Löwen« daselbst war, u. seiner Frau Barbara. scher Dramatik (Nestroy, Majakowskij) u. Als wahrscheinlich gilt eine externe Schüler-

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schaft B.s an Ludwig Dringenbergs Lateinschule zu Schlettstadt, als sicher die anschließende Ausbildung am Kollegiatsstift in Baden. Im Herbst 1475 bezog er die Universität zu Basel, studierte nach der üblichen Artes-Ausbildung, in deren Verlauf er auch mit dem Studium der griech. Sprache begann, ab 1476 Jurisprudenz (Bakkalaureat 1477/78, Lizentiat 1484) u. lehrte bereits als Bakkalaureus kanon. Recht. 1485 heiratete er Elisabeth Bürgi, Tochter des angesehenen u. begüterten Basler Messerschmieds Heinrich Bürgi; aus dieser Ehe gingen sieben Kinder hervor. 1489 promovierte er – für diese Zeit noch ungewöhnlich – in beiden Rechten u. legte in der Folge auf den Titel »Dr. utriusque iuris« bes. Wert. Nach der Promotion wurde er a. o. Prof. der jurist. Fakultät, las nun auch über ziviles Recht – ein Novum in Basel; spätestens ab 1487 bis 1495/96 las er außerdem bei den Artisten über Poesie. 1492 wurde er Dekan der jurist. Fakultät, 1496 Ordinarius für kanon. Recht; daneben war er als Gutachter, Berater, Advokat u. Richter auch in der jurist. Praxis tätig u. als Berater, Lektor, Kommentator, Übersetzer u. Autor den Basler Verlegern Amerbach, Froben, Petri, Bergmann von Olpe u. Furter eng verbunden. Neben personellen Querelen u. wirtschaftl. Erwägungen war mit Sicherheit die bevorstehende Loslösung Basels vom Reich der Hauptgrund für die Rückkehr des reichstreuen B. nach Straßburg im Jahre 1500; dort wurde er im Aug. ins Amt des Reichskonsulenten des Rates gewählt, das er im Jan. 1501 antrat. Maximilian I. ernannte ihn im Jahre 1502 zum kaiserl. Rat u. berief ihn später zum Beisitzer des Hofgerichts. Von 1503 bis zu seinem Tod wirkte B. als Stadtschreiber u. hatte somit eine Schlüsselposition im Verkehr zwischen Reichsstadt u. Kaiser inne. Darüber hinaus machte er sich verdient um die Überarbeitung u. Kodifizierung des Straßburger Rechts u. setzte – mit den durch das Amt gegebenen Einschränkungen – seine Tätigkeit als Editor fort. B.s vielseitiges Werk, in dem sich dichterische, publizist., übersetzerische u. editor. Beschäftigung mit den verschiedensten literar. Bereichen vereint, sollte nicht zur Konstruktion einer multiplen Autorperson füh-

Brant

ren. Einheit stiftendes Prinzip ist zunächst die Kommunikatorrolle, die sich unter den Bedingungen der »Gutenberg-Galaxis« herauszubilden begann. In B.s humanistischem Gelehrtenkreis, dessen Mittelpunkt mit der Persönlichkeit Johannes Heynlins vom Stein die Basler Kartause war, hatte man die Möglichkeiten des neuen Mediums schnell wahrgenommen u. im umfassenden Sinne der Tradierung u. Konstitution von Wissen u. Handlungsorientierung zu nutzen gesucht. Diesem Prinzip der öffentlichkeitswirksamen Verknüpfung von literarischer u. sozial pragmat. Kompetenz (»litterae et mores«) ordnen sich die einzelnen Bereiche von B.s Werk auf jeweils spezifische Weise zu. In den Bereich der Wissenstradierung gehört seine Tätigkeit als Editor, Übersetzer, Lektor u. Korrektor antiker u. mittelalterl. Dichtungen u. Schriften, die eine Tendenz zur Kanonbildung erkennen lassen. Im Bereich des jurist. Schrifttums handelt es sich um Werke, die röm. u. kanon. Rechtstraditionen bereits tendenziell verbinden (Decretum Gratiani. ed. Basel 1493. Dekretalen Gregors IX. ed. Basel 1494), im Bereich der Dichtung um antike u. mittelalterl. Dichtungen, die über die Epochen hinweg als handlungsanweisende Texte kontinuierlich Bestandteil schulischer Lektüre geblieben waren u. somit als im christl. Kontext bewährt gelten konnten (Antike: Vergil-Ausgabe. Straßb. 1502. Terenz-Ausgabe. Straßb. 1503. Spätantike u. Mittelalter: Thesmophagia. ed. u. übers. Basel 1490. Facetus. ed. u. übers. Basel 1496. Disticha Catonis. ed. u. übers. Basel 1498. Moretus. ed. u. übers. Basel 1499, sowie darüber hinaus der Aesopus. lat. ed. Basel 1501 u. der Freidank. ed. Straßb. 1508). B. nimmt in diesen Textausgaben die Rolle des Wissensvermittlers auch explizit an, indem er ihnen zumeist Paratexte in Gestalt eigener Gedichte enkomischen oder »gebrauchsanweisenden« Charakters beigibt oder eine Leserichtung durch Ergänzung von inhaltlich verwandten Texten benachbarter Gattungen mitbestimmt (Aesopus-Additiones), hinsichtlich des lat. Fachschrifttums selbständige Kommentare verfasst (z.B. Expositiones sive declarationes omnium titulorum iuris. Basel 1490) u. auch in eigenen Werken (Richterlich Clagspiegel.

Brant

Straßb. 1516) oder kommentierten Editionen (Ulrich Tenglers Layenspiegel. Augsb. 1509) für die volkssprachige Verbreitung dieses Wissens bzw. überhaupt erst für dessen schriftliche Kodifizierung sorgt (Straßburger Freiheiten um 1520). B. tradiert u. kommentiert also das in Texten manifeste Handlungswissen früherer Epochen, wobei sich neben den hybriden römisch-kanon. Rechtstexten ein Korpus gnomischer Klugheitsliteratur profiliert. Wie in allen Umbruchszeiten, so vollzieht sich auch hier Selbstvergewisserung im Rückgriff auf diese Klugheitsliteratur als vermeintl. Garant gelingenden Lebens, u. B. ist ihr frühneuzeitlicher Schrittmacher in Deutschland. Als Schlüsselfigur seines histor. wie dichter. Selbstverständnisses ist Petrarca zu sehen, dessen Werke B. auf der Grundlage der Basler Kartäuser-Bibliothek gleich mehrfach editorisch befördert, zunächst in lateinischer (Opera latina. Basel 1496), dann in dt. Sprache (Von der Artzney bayder Glück. um 1520. ed. Augsb. 1532). Parallelen sind im Konzept der Einheit von Philosophie, Theologie, Politik u. Dichtung zu erkennen, die eine Verbindung von Poesie u. Wissen nahelegt. Diese Verbindung wurde möglich durch die frühhumanist. Akzentuierung eines induktiven Wissensbegriffs auf der Grundlage selbstevidenter Erfahrungszusammenhänge, der gegen den log. Formalismus u. die Autoritätenfixiertheit des scholast. Lehrbetriebs geltend gemacht wurde u. an welchem auch die Poesie mit der ihr eigenen Erkenntnisleistung teilhaben konnte. Denn die »litterae« konnten auf einen alternativen rationalen Prozess rekurrieren, der von der produktiven Aufhebung erfahrener Vergangenheit die Anwendungskompetenz für Gegenwart u. Zukunft herleitete. Die Erinnerung wird somit zur entscheidenden Grundlage aktueller Kontingenzbewältigung. So wie Petrarcas Werk von den Rerum memorandarum libri bis zu De remediis utriusque fortunae reicht, so konstituiert auch B. – in Gestalt literarisch kodifizierter Erfahrung – ein kanonisches Korpus der Memoria als leitende Quelle der Ausschreitung gegenwärtiger Entscheidungs- u. Handlungsspielräume. Dass in diesem Korpus auch christl. Literatur aufscheint, bedeutet keinen Widerspruch zum humanist.

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Konzept, da auch die Bibel, die Schriften der Kirchenväter u. selbst die Heiligenviten in den Status von Wissensliteratur mit exempelmethod. Beweiskraft rücken. Diese Synthese zeigt sich am deutlichsten in B.s tagespolitischer Publizistik v. a. der 1490er Jahre, als er in zumeist dt.-lat. Gedichten im damaligen journalist. Medium des illustrierten Einblattdrucks zu etwa 20 politischen, sozialen u. Naturereignissen deutend Stellung nimmt, dabei aber jede magische Prophetenrolle explizit abweist, sondern sich immer wieder auf Wissen, auf Rationalität beruft. Hierin trifft er sich mit dem entsprechenden historischen, d.h. auf der Legitimationsbasis der kulturellen Memoria basierenden Selbstverständnis Maximilians I. Nicht zuletzt deswegen stellt dieser für B. auch die alternativlose reichspolit. Führungspersönlichkeit dar, der er beratend zur Seite steht. In diesen Kontext handlungsleitender Memoria gehören auch die an Maximilian (Jerusalem. Basel 1495) u. Karl V. (Titus, Vespasian u. Trajan. Straßb. 1520) gerichteten historiograf. Werke B.s u. sein Projekt einer Straßburger Stadtchronik (Fragment, Straßb. 1539). Als Dichter trat B. auch außerhalb des Bereichs reiner Gelegenheitsdichtung auf, wobei hier mit den Carmina auf Heilige (Basel 1493 u. 1494), u. den beiden Sammlungen Carmina in laudem Mariae (Basel 1494) u. Varia carmina (Basel 1498) die lat. Dichtung klar dominiert. B. verwendete hier die in der klass. Literatur gepflegten Strophen u. Versmaße, insbes. das elegische Distichon u. bes. häufig die sapphische Strophe. Nur etwa ein Viertel seiner kleineren Dichtungen sind in dt. Sprache verfasst. Es handelt sich dabei um Nachdichtungen teils eigener lat. Vorlagen, zumeist aber um eigene Epigramme. Der dichter. Ruhm B.s wurde jedoch durch sein Hauptwerk begründet: die satir. Versdichtung Das Narrenschiff (Basel 1494). In 112 Kapiteln versucht B. die Krise seines Zeitalters aus der Summe vieler einzelner Erscheinungsformen menschl. Fehlverhaltens zu bestimmen, die als Narrheiten gedeutet werden u. somit v. a. Zustände intellektueller Defizienz markieren sollen. In diesem Werk gelangen alle benannten Tendenzen zur Synthese. Die an der Weisheitsliteratur stu-

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dierte u. am aktuellen Gegenstand ausgebildete auktoriale Sprechhaltung verbindet sich mit der bimedialen Publikationstechnik der Flugblätter, die hier in Serie geht, sowie mit der beschriebenen, an den »litterae« orientierten humanist. Erkenntnis- u. Handlungslehre. Letztere bestätigt sich hier ex negativo, indem ihre Nichtbefolgung hundertfaches Scheitern zur Folge hat. Negative Haltung zu Einsicht u. Erkenntnis ist es, die in der Gestalt des Narren den zeittypisch übermächtigen Gegenspieler der Weisheit erstehen lässt. Die Reformulierung antik-satirischer Topik der Zeitklage in der Narrenidee sowie der Akt, das Narrenkollektiv bildlich auf dem aus der christl. Allegorese stammenden Schiff des Lebens zu versammeln, werden von B. als originäre »inventio« beansprucht u. von Zeitgenossen wie Nachfahren anerkannt. Ihren bes. Reiz gewinnt diese Idee durch die zusätzliche semant. Doppelbesetzung der Schiffsmetapher, die im Bereich der antiken Literatur für den Vorgang des Dichtens (Vergil, Georgica II 41), im Bereich der Patristik für den Vorgang des Interpretierens (Hieronymus PL 25, 903 D) steht. Die Einheit des Werks besteht jedoch nicht allein in dieser Grundidee. Eine äußere Kohärenz stellt sich durch den wiederkehrenden Kapitelaufbau Motto – Bild – Text her, der mit allen Konsequenzen hinsichtlich der Vielfalt möglicher Sinnkonstitution auf epigrammat. Traditionen zurück- u. auf emblemat. Bauformen vorausweist. Die innere Kohärenz ergibt sich durch eine spezielle Methode literarisch-hermeneut. Vernetzung. Die eine Komponente dieses Netzwerks wird durch den Rückgriff auf den an den Schultexten studierten gnomischen Literaturtypus gewonnen, der die Kontingenz menschl. Seins durch additive Listen von Vermeidungs- bzw. Strebe-Geboten bannen u. somit quasi summarisch gelingendes Handeln garantieren sollte. Tatsächlich behandeln 91 der 112 Kapitel des Narrenschiffs in elaborierter Form Themen der Disticha Catonis. Aber die gnomische Form wird offenbar für sich allein genommen als prekär empfunden, so dass ihr eine hermeneut. Stütze in Gestalt teils aus der geistl. Allegorese, teils aus der Rhetorik (ratiocinatio) entlehnter interpretatorischer

Brant

Verfahren beigegeben wird. Hierdurch legt sich über die amorphe Masse gnomischer Einzelthesen das Paradigma einer verbindenden Sinnstiftung. Dieses integrative Konzept, verbunden mit den Möglichkeiten des neuen Mediums, nicht zuletzt auch die Mitwirkung des jungen Albrecht Dürer (über 70 Holzschnitte) bescherten dieser ersten humanist. Summe menschl. Handlungswissens in dt. Sprache ihren einzigartigen Erfolg. B. selbst betreute bis 1512 sechs Auflagen, der Wildwuchs an Nachdrucken u. Bearbeitungen (z.B. Das nüv schiff von Narragonia), gegen den B. energisch seine Autorrechte geltend machte, setzte bereits 1494 ein. Durch die von B. kontrollierte lat. Übersetzung seines Schülers Jakob Locher (Stultifera navis. Basel 1497) wurde das Werk in Europa bekannt u. in der Folge in mehrere europ. Nationalsprachen übersetzt. Im Schriftstellerkatalog des Johannes Trithemius von 1494 erscheint das Narrenschiff als einziges zeitgenöss. dt. Buch u. sein Autor zus. mit Conrad Celtis, Johannes Reuchlin u. Hartmann Schedel als einer der wenigen nennenswerten dt. Autoren. Erasmus von Rotterdam lobt B. dafür, seine (dt.) Heimat sowie die »litterae« berühmt gemacht zu haben. Erasmus’ Lob der Torheit gehört neben den Narrensatiren Thomas Murners, den Straßburger Predigten Johannes Geilers von Kaysersberg zu den ersten Zeugnissen literar. Nachwirkung B.s, die dann mit Hans Sachs, Johann Fischart, Friedrich Dedekind (Grobianus, 1549) über Moscherosch u. Grimmelshausen u. Wahrmund Jocoserius’ (Ps.) Wolgeschliffenen Narren-Spiegel in eine bis in die Medien der Neuzeit (Stanley Cramer, Erasure) ungebrochene Tradition der Narrenliteratur mündet. Ausgaben: Narrenschiff (im Folgenden NSch.): Friedrich Zarncke (Hg.): Das NSch. Lpz. 1854. Neudr. Hildesh. 1961 (mit teilweiser Übers.). – S. B.: NSch. Faks. der Erstausg. v. 1494. Nachw. v. Franz Schultz. Straßb. 1913. Neudr. mit Vorw. Hg. Dieter Wuttke. Baden-Baden 1994. – Wolfgang Virmond (Hg.): S. B.: NSch. Fotomechan. Repr. der Erstausg. v. 1494. Bln. 1979. – Manfred Lemmer (Hg.): S. B.: NSch. nach der Erstausg. (Basel 1494) mit den Zusätzen der Ausg.n v. 1495 u. 1499. Tüb. 4 2004. – Joachim Knape (Hg.): S. B.: NSch. Stu-

Brasch dienausg. Stgt. 2005. – Nina Hartl (Hg.): Die Stultifera navis. Jakob Lochers Übertragung v. S. B.s NSch. Bd. 2 (Teiled. u. Übers.). Münster u. a. 2001. – Carmina: Zarncke, a. a. O., S. 174–199 (Teilabdr.). – Flugblätter: Paul Heitz (Hg.): Flugbl. des S. B. Straßb. 1915. – Thomas Wilhelmi (Hg.): S. B. Kleine Texte. 3. Tle., Stgt.-Bad Cannstatt 1998. – Aesopus Additiones: S. B.: Fabeln. Hg., übers. u. mit einem Nachw. vers. v. Bernd Schneider. Stgt.-Bad Cannstatt 1999. Übersetzungen: S. B.: NSch. Nhd. Übers. v. Elvira Pradel. Einl. v. Claus Träger. Lpz. 1979 (nhd.). – S. B.: NSch. Nhd. Übers. v. H. A. Junghans, neu hg. v. Hans Joachim Mähl. Stgt. 2002 (nhd.). – Edwin H. Zeydel (Hg.): The Ship of Fools by S. B. Columbia Univ. Pr. 1944. Neudr. New York 1962 (engl.). – Raffaele Disanto: NSch. – La nave dei folli. Fasano 1989 (Textausg. mit ital. Übers.). – Francesco Saba Sardi: La nave dei folli. Mailand 2002 (ital.).– Antonio Regales Serna: La nave de los necios. Madrid 1998 (span.). Literatur: Bibliografien: Joachim Knape u. Dieter Wuttke: S. B.-Bibliogr. Forschungslit. v. 1800 bis 1985. Tüb. 1990. – Thomas Wilhelmi: S. B.-Bibliogr. Bern u. a. 1990. – J. Knape u. T. Wilhelmi: S. B.-Bibliogr. (in Vorbereitung). – Weitere Titel: Ulrich Gaier: Studien zu S. B.s ›NSch.‹. Tüb. 1966. – Klaus Manger: Das ›NSch.‹. Entstehung, Wirkung u. Deutung. Darmst. 1983. – Sabine Heimann: Zur Kohärenz des ›NSch.s‹ v. S. B. In: FS Wolfgang Spiewok. Hg. Danielle Buschinger. Amiens 1988, S. 189–195. – J. Knape: Dichtung, Recht u. Freiheit. Studien zu Leben u. Werk S. B.s 1457–1521. BadenBaden 1992. – John van Cleve: S. B.s ›The Ship of Fools‹ in Critical Perspective 1800–1991. Columbia/Ohio 1993. – Gonthier-Louis Fink (Hg.): Sébastien Brant, son époque et ›La Nef des fols‹. Straßb. 1995. – Harry Vredeveld: Materials for a New Commentary to S. B.s ›NSch.‹. In: Daphnis 26 (1997) S. 553–651 u. 29 (2000) S. 709–713. – T. Wilhelmi: Zu Leben u. Werk S. B.s. In: S. B. Forschungsbeiträge zu seinem Leben, zum ›NSch.‹ u. zum übrigen Werk. Hg. ders. Basel 2002, S. 7–35. – J. Knape u. T. Wilhelmi: Zum Stand der Arbeiten am S. B.-Schr.en-Zensus. In: ZfdA 133 (2004) S. 198–209. – J. Knape: S. B. In: VL Dt. Hum. (mit Bibliogr.). – Ders.: Einl. zu S. B. In: NSch. Studienausg. (s. o.), S. 11–99. Sabine Seelbach

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Brasch, Thomas, * 19.2.1945 Westow/ Yorkshire, † 3.11.2001 Berlin. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker, Filmemacher, Hörspielproduzent u. Übersetzer. B. wurde als Sohn jüdischer Emigranten aus Deutschland in England geboren. 1947 kehrte die Familie in die Sowjetisch Besetzte Zone zurück. Sein Vater Horst Brasch avancierte zum hohen Parteifunktionär, zeitweise zum stellvertretenden Minister für Kultur der DDR. Bis 1956 besuchte B. die Oberschule Cottbus, anschließend die Kadettenschule der Nationalen Volksarmee in Naumburg, ab 1960 dann das Gymnasium in Berlin-Friedrichshagen. Er studierte nach einem Jahr in der Produktion 1964/65 Journalistik in Leipzig u. arbeitete nach seiner Exmatrikulation wegen »existentialistischer Anschauungen« wieder in verschiedenen Berufen. 1966–1968 studierte B. Dramaturgie an der Filmhochschule Babelsberg. 1968 wurde er wegen des Verteilens von Flugblättern gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die CˇSSR zu zwei Jahren u. drei Monaten Gefängnis verurteilt. Nach der Haftentlassung auf Bewährung arbeitete er wieder in der Produktion, 1971/72 dann auf Vermittlung Helene Weigels im Brecht-Archiv, anschließend als freier Schriftsteller u. Produzent v. Kinderhörspielen. 1975 erschien in der Reihe Poesiealbum eine erste Sammlung von Gedichten B.s., nachdem mehrere Theaterstücke gar nicht erst zur Aufführung gelangt oder nach wenigen Vorstellungen abgesetzt worden waren. Im Dez. 1976 übersiedelte B. in der Folge der Ereignisse nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns zus. mit der Schauspielerin Katharina Thalbach nach Westberlin. 1977 erschien im Westberliner Rotbuch Verlag der bereits vor der Ausreise fertiggestellte Prosaband Vor den Vätern sterben die Söhne, der B. sogleich berühmt machte u. bei Kritik u. Publikum begeistert aufgenommen wurde. Die pessimist. Tendenz, die der einprägsame Titel andeutet, wird v. a. in der längsten Erzählung des Bandes, Und über uns schließt sich ein Himmel aus Stahl, in einer Weise ausgestaltet, die dem Text paradigmat. Bedeutung für das Lebensgefühl der Nachkriegsgenera-

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tion in der DDR verleiht. Robert, der bei einem Fluchtversuch an der Mauer erschossen wird, der Ich-Erzähler, der während eines Verhörs die zurückliegenden Ereignisse Revue passieren lässt, u. die gemeinsame Geliebte Sophie repräsentieren Varianten einer Jugend- u. Außenseiterkultur, die sich, mit geringem Erfolg, der Macht, der Herrschaft des polit. Apparats zu entziehen versucht. Motive, die auch aus der westl. Protestliteratur der 1970er Jahre vertraut sind (das Motorrad, das Blueskonzert, die Flucht ans Meer), stehen thematisch einer (nur bedingt DDR-spezifischen) Leistungsgesellschaft gegenüber, die von Entfremdung geprägt ist. Realistische Erzählungen wie diese kontrastieren mit höchst artifiziellen Parabeln, die, wie in der DDR-Literatur – nicht nur bei Heiner Müller – recht häufig, antike Stoffe neu interpretieren. Nach dem plötzl. Erfolg des RotbuchBändchens verließ der Autor das Verlagskollektiv u. ging zu Suhrkamp. Noch 1977 erschien u. d. T. KARGO. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen (Ffm.) eine Collage von erzählenden, lyr. u. dramat. Texten, die B. mitgebracht hatte, darunter das Stück Lovely Rita, das 1976 bereits vom Berliner Ensemble geprobt u. dann vor der Premiere abgesetzt worden war. B. adaptiert Verfahren der Moderne, zitiert Trivialformen, verknappt bisweilen bis zu Aphoristischem, Skizzenhaftem. 1978 schlossen sich die um Materialien bereicherte Buchausgabe des 1977 in Stuttgart uraufgeführten Stückes Rotter (auch Ffm. 1989), 1980 der Gedichtband Der schöne 27. September an. Die in den folgenden Jahren entstandenen Filme Engel aus Eisen (1981, Script Ffm.), Domino (1982, Script Ffm.) u. Der Passagier. Welcome to Germany (1988) komplementierten das Repertoire an Gattungen, mit denen sich B. befasste. Nachdem 1983 mit den Dramen Mercedes (1985 verfilmt für das niederländ. Fernsehen), Frauen. Krieg. Lustspiel (1988, auch Ffm. 1989) u. der 1990 uraufgeführten Romeo-undJulia-Bearbeitung Liebe Macht Tod (auch Ffm. 2002) zunächst weitere Theaterarbeiten B.s erschienen, verstummte der Autor nach dem Fall der Berliner Mauer zunehmend. Versu-

Brasch

che, einen histor. Kriminalfall aus dem Jahr 1906 in eine literar. Form zu bringen, ließen im Folgenden ein mehr als 14.000 Seiten umfassendes Manuskript entstehen. Doch erst 1999 markierte der Prosaband Mädchenmörder Brunke die literar. Rückkehr B.s. Formal nach dem musikal. Bauprinzip der Fuge gestaltet, beschreibt das rd. 90 Buchseiten umfassende Destillat der vorangegangenen Arbeit das persönliche u. berufl. Scheitern des Architekten D. H. im wiedervereinigten Berlin. Sein Versuch, das Ende einer partnerschaftl. Beziehung mittels der imaginierten Suche nach einer Liebesmaschine zu überwinden, erweist sich als fataler Irrweg: Das Gerät bleibt ebenso unauffindbar wie sein vermeintlicher Erfinder, der Banklehrling u. Mädchenmörder Karl Brunke. Erst im Moment des Todes realisiert der Architekt die Vergeblichkeit seines Ansinnens. Genau wie die in den folgenden Monaten inszenierten Dramen Stiefel muß sterben u. Die Trachinierinnen des Sophokles (nach Ezra Pound) zeichnet der Text das Bild einer traumlosen Gesellschaft, die dem Individuum keine Fluchträume mehr bietet. Am 3.11.2001 starb der u. a. mit dem ErnstReuter-Preis (1978), dem Bayerischen Filmpreis (1982) u. dem Kleist-Preis (1987) ausgezeichnete B. in der Berliner Charité an Herzversagen. Postum erschienen im folgenden Jahr der Stücke- u. Materialband LIEBE MACHT TOD u. die Lyriksammlung Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer (beide Ffm.). Wenngleich B. zuletzt weitgehend in Vergessenheit geraten war, zählt er dennoch zu den bedeutenden Schriftstellern seiner Generation. Einflüsse Brechts, Artauds, der sowjet. Avantgarde u. Heiner Müllers sind (im Laufe der Jahre in unterschiedlichem Ausmaß) wirksam, verhinderten aber nicht, dass B. frühzeitig zu einem eigenständigen Stil u. unverbrauchter Thematik fand, die gekennzeichnet sind durch asket. Rigidität, eine Tendenz zum Reduktionismus beim Personal u. in der Handlungsführung, durch sprachl. Vielfalt u. die Literarisierung von Historischem. Gemeinsam ist B.s szenischen Texten ein hoher Grad an formaler Anstrengung, die

Braschius

auch bei Gegenwartsthemen einem platten Realismus gegensteuert. Eigenwilligkeit kennzeichnet auch B.s Übersetzertätigkeit. Seine häufig gespielten Shakespeare- u. Tschechow-Übertragungen zeichnen sich durch den Versuch aus, die Aktualität der Stoffe sprachlich u. gestisch zu akzentuieren. Bereits unmittelbar nach seiner Ankunft im Westen hatte B. deutlich gemacht, dass er sich nicht in die Dissidenten-Ecke drängen lassen wollte. Folgerichtig verweigerte er zeitlebens die Vereinnahmung durch den Literaturbetrieb u. die Politik. Wenngleich am Kern der sozialist. Utopie festhaltend, thematisieren seine Texte das zwangsläufige Scheitern anarchischen Glücksstrebens an den Grenzen jedweder Staatlichkeit. Die Ästhetik der Kunst wird somit zum eigentl. Ort des Utopischen erhoben, welche sich dem Versuch einer ideolog. Inanspruchnahme rigoros widersetzt. Weitere Werke: Der Papiertiger. In: Spectaculum 26 (1977, Ffm.) (D.). Erste Fassung als Gedichtzyklus in: Poesiealbum 89 (1975, Bln./DDR). – Lieber Georg. In: Spectaculum 30 (1979). Neuaufl. Bln. 1988 (D.). – Anton Tschechows Stücke. Ffm. 1985. Neuaufl. Ffm. 2004 (Ü.). – ShakespeareÜbers.en. Ffm. u. Lpz. 2002. – Was ich mir wünsche. Ffm. 2007. Literatur: Margarete Häßel u. Richard Weber (Hg.): Arbeitsbuch T. B. Ffm. 1987 (mit Bibliogr.). – Antje Janssen-Zimmermann: Träume v. Angst u. Hoffnung. Ffm 1995. – Margrit Frölich: Between affluence and rebellion. New York 1996. – Jens Ponath: Spiel u. Dramaturgie im Werk T. B.s. Würzb. 1999. – Hanno Beth u. Michael Töteberg: T. B. In: KLG. – Norbert Otto Eke: T. B. In: Dt. Dramatiker des 20. Jh. Bln. 2000. – Thomas Martin: T. B. In: LGL. – Martina Hanf u. Kristin Schulz (Hg.): Das blanke Wesen. Bln. 2004. Thomas Rothschild / Christian Frankenfeld

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einem Netz von Beziehungen zu den Spitzen der dt. Gelehrtenrepublik der Zeit, wie eine große Zahl von Gedichten an u. von gelehrten Freunden u. Gönnern zeigt, darunter Paulus Melissus Schede, der B. am 8.9.1594 in Heidelberg zum Poeta laureatus krönte, Johannes Posthius, Friedrich Taubmann, Lorenz Wolf u. David Chytraeus, den B. als »Leuchte Sachsens« feierte. B. nimmt in seinem Werk die poet. u. orator. Gattungen des dt. Späthumanismus auf: Das Gratulationsgedicht Ad serenissimum [...] Jacobum VI. gratulatio (Rostock 1595) an Jakob VI. von Schottland feiert dessen Sieg über kath. Verschwörer in Distichen, die eine frühabsolutist. Auffassung des Königtums zeigen. Aus dem gleichen Jahr stammt eine Sammlung von Gedichten, die eine Reise zu berühmten Hochschulen Deutschlands thematisieren (Martini Braschii Carmina in itinere Germanico et ex eo nuper nata. Lpz. 1595). Den Hauptteil nimmt ein Reisegedicht ein, in dessen Zentrum der Preis der kurfürstlichsächs. Residenz Dresden steht. Heftige Konfessionspolemik des Lutheraners enthält eine Würdigung Herzog Georgs des Bärtigen von Sachsen. Dem Schulbetrieb entstammen Reden wie De gratitudine et ingratitudine (Rostock 1595). Unter den zahlreichen, z.T. erst postum veröffentlichten Gelegenheitsgedichten B.’ (in Janus Gruters Delitiae Poetarum Germanorum. Bd. 1, Ffm. 1612) ragen In natalem Christi u. ein Hymnus in Christum Salvatorem heraus. Weitere Werke: De literis M. B. oratio. Greifsw. 1592. – Classicum ad Germanos contra Turcos Musulmannos. Ffm. 1597. – Davidi Chytraeo [...] monumentum. Rostock 1600. Literatur: Index Aureliensis. – VD 16. – Hermann Wiegand: Hodoeporica. Baden-Baden 1984. – Flood, Poets Laureate, Bd. 1, S. 228–230. Hermann Wiegand

Braschius, Martin, * 1565 Grubenhagen/ Mecklenburg, † April 1601 Rostock. – Brassicanus, Johannes Alexander, * 1500 Humanistischer Lyriker u. Rhetoriker. Tübingen, † 25.11.1539 Wien. – Humanist; neulateinischer Dichter. Der Sohn des gleichnamigen Predigers studierte von 1580 an in Rostock, erwarb 1586 den Magistergrad, wurde danach Lateinschulrektor in Malchin u. 1593 Professor der Logik an der Universität Rostock. Er stand in

Der Sohn des Grammatikers Johannes Brassicanus (eigentl.: Köl) u. Bruder von Johannes Ludwig Brassicanus studierte in Tübingen (Immatrikulation 13.1.1514, Bacc. 13.6.1515,

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Magister 21.7.1517) u. wurde von Maximili- wichtige Quelle ist B.’ Bericht über die bean I. (vermutlich im Febr. 1518) zum Poeta rühmte Bibliotheca Corviniana in Buda, die laureatus gekrönt. 1522 wurde B. als Nach- kurz nach B.’ Besuch von den Türken zerstört folger Johannes Reuchlins Professor der wurde. Rechte in Ingolstadt u. Doktor beider Rechte, Literatur: VD 16, B 7136–7157 (Bibliogr., un1524 Professor der Rhetorik an der Universi- vollst.). – Weitere Titel: Klüpfel: J. A. B. In: ADB. – tät Wien, an der er auch Griechisch u. Zivil- Wenzel Hartl u. Karl Schrauf: Nachträge zum dritten Bande v. Joseph Ritter von Aschbach’s recht lehrte. B.’ poet. Produktion hält engen Anschluss Gesch. der Wiener Univ. Die Wiener Univ. u. ihre an die Dichtung des Hochhumanismus. Mit Gelehrten 1520–65. Bd. 1/1, Wien 1898, S. 43–101. – Ellinger 1, S. 441 f. – Hans Ankwicz v. Kleehoven einem Gegenstück zu Ulrich von Huttens (Hg.): Johann Cuspinians Briefw. Mchn. 1933, Nemo, dem satir. Erstling Pan Omnis (Hagenau S. 130 (Lit.). – Reinhold Rau: Die Tübinger Jahre 1519), stellt sich B. in die Tradition der iron. des Humanisten J. A. B. In: Ztschr. für WürttemEnkomia (Erasmus: Lob der Torheit): In eleg. berg. Landesgesch. 19 (1960), S. 89–127. – Ilse Distichen führt Herr Jedermann, sich selbst Guenther in: Contemporaries 1, S. 191 f. – Flood, lobend, einen umfassenden Tugend- u. Las- Poets Laureate, Bd. 1, S. 230–234. terkatalog vor; ein deutlicher Seitenhieb taHermann Wiegand / Red. delt die Tübinger, die die Verdienste der Brassicani missachten. Brassicanus, Johannes Ludwig, * 1509 Im gleichen Jahr beginnt die Reihe der Tübingen, † 3.6.1549 Wien. – Jurist, HuPreisgedichte auf das habsburgische Herrmanist; neulateinischer Dichter. scherhaus, dem B. zeitlebens verbunden bleibt, mit einem Idillion auf die Wahl Karls V. B. ging im Juni 1524 mit seinem Bruder Jozum röm. König (Mainz 1519; beigefügt sind hannes Alexander nach Wien. Von 1530 an Elegien u. Epigramme). Diese Linie setzt B. stand er im Dienste Johannes Fabris, der in u. a. fort mit einem Epinikion auf die Gefan- diesem Jahr Bischof von Wien wurde. 1532 gennahme Franz I. (Wien um 1525), einem studierte er Jura in Heidelberg u. wurde, nach von einer metr. Epistel der Germania beglei- einem Studium in Padua, am 7.8.1536 an der teten Dialog von Karl u. Franz (Augsb. 1529) Universität Ferrara zum Doktor beider u. einer Gratulationselegie auf den Einzug Rechte promoviert. 1537 wurde B. Professor Ferdinands I. in Stuttgart in der Auseinan- der Pandekten, 1538 des kanon. Rechts in dersetzung mit Ulrich von Württemberg Wien u. schließlich 1548 Rat der Königin (Stgt. 1522). B.’ Stellung zu den Zeitfragen Maria von Ungarn. wird deutlich aus einer Klage über Die unsinB. widmete sich in seinen schriftsteller. nigen Bestrebungen und Parteibildungen der Men- Werken ähnl. Themen wie sein Bruder: Neschen, die er einer Teilausgabe von Leonardo ben einer philolog. Arbeit (Kommentar zu Brunis Übersetzungen der Reden der Ilias den Nutricia des Angelo Poliziano. Nürnb. beigibt (Leonardi Aretini [...] tres orationes. 1538) u. einer Einführungsrede in das StudiNürnb. 1523): erasmisch werden die Christen um der Rechte (Wien 1540) veröffentlichte B. zur Eintracht aufgefordert. ein Gratulationsgedicht auf die Rückkehr Auch sonst orientiert sich B. an Erasmus, Ferdinands I. aus Böhmen (Wien 1527). Ein zu dessen Adagia er ein Supplement verfasst, Gedicht über eine Reise von Tübingen nach aus dem Kommentare zu Sprüchen des Py- Wien (wohl 1537) erschien zus. mit Reiseelethagoras herausragen (Proverbiorum Symmicta, gien von Joachim Camerarius (Straßb. 1541). quibus adiecta sunt Pythagorae Symbola. Wien Ganz nach dem Iter Brundisinum des Horaz 1529). In der Nachfolge des Erasmus gibt B. modelliert, zeigt es in fast 180 Hexametern auch Schriften von Kirchenvätern (Salvianus nicht nur genaue Kenntnis der horazischen von Marseille, Eucherius von Lyon) heraus Satiren, etwa in der Nachahmung des »qui(Basel 1531. Internet-Ed.: Slg. Hardenberg). dam« der Schwätzersatire, sondern auch die Dem Gebiet der Byzantinistik gehört eine Fähigkeit, kleine Zwischenfälle der Reise siAusgabe der Geoponica (Basel 1539) an. Eine tuationsgerecht darzustellen. Der junge Au-

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tor demonstriert als gelehrter Jurist nicht geringes Selbstvertrauen. In der Tradition der Horaz-Imitation steht auch ein Paean lyricus de victoria Caroli Augusti (gedr. in: Delitiae Poetarum Germanorum. Bd. 1, Ffm. 1612, S. 800–804. Internet-Ed.: CAMENA): Das Triumphlied auf den Sieg Karls V. u. Ferdinands I. über den Schmalkaldischen Bund versucht das höchste stilistische u. sprachl. Niveau der Augustuspanegyrik der Oden einzuhalten. Ein großes episches Trauergedicht auf den Tod von Ferdinands Gemahlin Anna (Phoenix sive luctus Austriae ob mortem incomparabilis heroinae d. Anna [...] reginae. Wien 1547) legt die Trauerklage der personifizierten Austria in den Mund u. gerät zu einem Lobpreis auf die Ahnen der Herrscherin aus dem ungar. Königshaus. Ausgabe: Carmen hodoiporikon Pannonicum. Internet-Ed.: CAMENA: Abt. Poemata bei Joachim Camerarius: Elegiae hodoiporikai. Straßb. 1541. – Weitere Gedichte: CAMENA: Abt. Poemata: Delitiae [...]. Bd. 1, S. 804–813. Literatur: VD 16, B 7158–7163. – Weitere Titel: Wenzel Hartl u. Karl Schrauf: Nachträge zum dritten Bande v. Joseph Ritter v. Aschbach’s Gesch. der Wiener Univ. Die Wiener Univ. u. ihre Gelehrten 1520–1565. 1. Bd. 1. H., Wien 1898, S. 101–128. – Ellinger 1, S. 443. – Reinhold Rau: Die Tübinger Jahre des Humanisten Johannes Alexander Brassicanus. In: Ztschr. für Württemberg. Landesgesch. 19 (1960), S. 93 f. – Richard Newald: J. L. B. In: NDB. – Hermann Wiegand: Hodoeporica. Baden-Baden 1984. Hermann Wiegand / Red.

Braun, Felix, * 4.11.1885 Wien, † 29.11. 1973 Klosterneuburg bei Wien; Grabstätte: Wien, Zentralfriedhof. – Lyriker, Dramatiker, Erzähler u. Essayist. B. studierte in Wien Kunstgeschichte u. Germanistik, erwarb 1908 den Doktortitel u. lehrte 1928–1938 als Privatdozent für dt. Sprache u. Literatur in Palermo u. Padua; 1939 ging er nach England ins Exil. Nach seiner Rückkehr 1951 war B. Dozent für Kunstgeschichte, Theater u. dramat. Kunst in Wien. 1951 wurde er mit dem Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur

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ausgezeichnet, 1965 mit dem GrillparzerPreis. Die griech. Antike, der kath. Humanismus u. das Bekenntnis zur österr. Kulturtradition bestimmen den Standort des Dichters. B. begann als Lyriker im Umkreis von Neoklassizismus, Neoromantik u. Wiener Impressionismus (Gedichte. Lpz. 1909); entscheidend für ihn war die Begegnung mit dem Werk Rilkes u. des mit ihm befreundeten Hofmannsthal. In seinen klassizist. Versdramen gestaltet B. antike Mythen (Tantalos. Lpz. 1917. Aischylos. Salzb. 1953), biblische Stoffe (Esther. Wien 1926. Die Tochter des Jairus. Wien 1950) u. histor. Themen (Kaiser Karl der Fünfte. Wien 1936. Rudolf der Stifter. Salzb. 1955). In seinem auflagenstärksten Roman Agnes Altkirchner (Lpz. 1927. Neuaufl. Olten 1957 u. d. T. Herbst des Reiches) zeichnet B. ein Bild Österreichs zwischen 1913 u. 1919, die Gestalten dieses lyrisch-symbolhaften Werks repräsentieren keine Einzelschicksale, sondern Lebenshaltungen von typischen Vertretern der Wiener Gesellschaft, die sich in neuen Ordnungen einzurichten suchen. Religiös-metaphysische Fragen wirft B. in dem Läuterungsroman Der Stachel in der Seele (Wien 1948) auf. Bekannt wurde B. auch als Herausgeber der Lyrik-Anthologien Der tausendjährige Rosenstrauch (Wien 1949 u. ö.) u. Die Lyra des Orpheus (Wien 1952). Weitere Werke: Novellen u. Legenden. Lpz. 1910. – Das neue Leben. Bln. 1913 (L.). – Die Taten des Herakles. Wien 1921 u. ö. (R.). – Der unsichtbare Gast. Bln. 1924. Wien 1928 (R.). – Dt. Geister. Wien 1925 (Ess.). – Ausgew. Gedichte. Wien 1936. – Das Licht der Welt. Wien 1949. 21962 (Autobiogr.). – Briefe in das Jenseits. Salzb. 1952 (E.). – Das musische Land. Innsbr. 1952 (Ess.). – Viola d’amore. Salzb. 1953 (L.). – Ausgew. Dramen. 2 Bde., Salzb. 1955. 1960. – Unerbittbar bleibt Vergangenheit. Ausw. Graz 1957. 21961. – Anrufe des Geistes. Graz 1965 (Ess.). Literatur: Georg Mühlberger: Das epische Werk B.s. Diss. Innsbr. 1971. – Klaus P. Dencker: Literar. Jugendstil im Drama. Studien zu B. Wien 1971 (mit Bibliogr.). – Silvia Aentres: Mythos als Darstellungsraum der Innerlichkeit. Studien zur Rezeption der Antike im dramat. Werk B.s. Diss. Wien 1974. – Donald G. Daviau: Literary and personal responses to the political events of the 1930s in Austria. Stefan Zweig, Raoul Auernheimer, and

137 F. B. In: Austria in the thirties. Hg. Kenneth Segar u. John Warren. Riverside 1991, S. 118–150. – Julia Danielczyk u. Hermann Böhm: Verzicht aufs Burgtheater. Akzeptanz u. Verweigerung am Beispiel F. B.s (1885–1973). In: Burgtheater. Mythos, Eros, Imago. Hg. Beate Hochholdinger-Reiterer. Wien 2004, S. 71–86. Ursula Weyrer / Red.

Braun, Georg Christian, * 25.10.1785 Weilburg, † 12.10.1834 Mainz. – Professor; Verfasser von Dramen, Gedichten, Versepen u. kunsthistorischen Schriften. Nach dem Studium der Theologie in Gießen u. Halle (v. a. bei Johann August Rösselt, Johann Severin Vater) wurde B. schon 1805 (1808?) als Rektor an das Gymnasium nach Wetzlar berufen, wo 1810 sein erstes histor. Trauerspiel entstand (Muhameds Tod, auf eigene Kosten; völlig umgearbeitet Wiesb. 1815). Sein frühes Interesse am Altertum u. an der Kunst wurde einerseits durch seine Lehrer, andererseits durch seinen Großvater, den Bildhauer Johann Ludwig (?) Braun, gefördert u. hat maßgeblich seine weiteren Studien bestimmt. In die Zeit als Professor für Rhetorik u. Ästhetik in Mainz, wo er seit 1813 bis zu seinem Tode wirkte, fallen B.s Hauptwerke. In seinem großen »vaterländischen« Versepos Hermann der Cherusker (Mainz 1819. 2 1821) knüpft B. v. a. an Lohensteins u. Justus Mösers patriotisch gefärbte Bearbeitung des Arminius-Stoffes an, verweist aber in der Vorrede deutlicher auf die Bedeutung des Germanenführers als Tugend-Exempel für die dt. Gegenwart. Das Epos soll die »Kenntnis des deutschen Alterthums« fördern u. liefert im Anhang daher Erläuterungen zur Historie u. eine Geschichte der Religion der alten Deutschen. Als Mitarbeiter des seit 1820 erscheinenden Schorn’schen »Kunstblattes« stand B. mit Gustav Friedrich Waagen, Carl Friedrich von Rumohr, Alfred von Reumont, Ernst Förster, Ludwig Schorn, Johann David Passavant u. a. in Kontakt u. hatte mit seinen Künstlerbiografien zu Raffael u. Leonardo (Raphaels Leben und Werke. Wiesb. 1815. 21819. Leonardo da Vincis Leben und Werke. Halle 1819) bedeutenden Anteil an der sich Anfang des 19. Jh.

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formierenden »historisch-kritischen« Kunstgeschichte. Gleichzeitig wollte B. der kritisch beurteilten zeitgenöss. Kunst Vorbilder an die Hand geben, was auch in seinen Künstlerdramen zum Ausdruck kommt (Raphael Sanzio von Urbino. Mainz 1819. Der Schmied von Antwerpen. Mainz 1824). B.s Versepos Die Rheinfahrt. Ein Natur- und Sittengemälde (Mainz 1824. Forts. Das Rheinthal. Mainz 1828) gehört zu dem umfangreichen Komplex einer kulturgeograf. Erschließung, die sich auch in zahlreichen anderen Textsorten wie Reisebeschreibungen u. Reisehandbüchern manifestiert. In der Anlage als Geschichts- u. Sagenlandschaft sowie von der geo- u. soziograf. Ausrichtung her orientiert sich das Epos am romant. Erbe etwa Brentanos oder auch an Goethes Rochusfest. Aus der Perspektive einer Schifffahrt zweier Freunde zieht die Rheinlandschaft vorbei, wobei der Verfasser durchaus auch eigene Akzente setzt: Im Mittelpunkt des zweiten Gesangs steht die Binger Geschichte, wo sich B. als scharfsinniger Schilderer des Volkes erweist. Ausführliche Erläuterungen im Anhang zu den histor. Ereignissen u. Personen lassen Schreibmotivation u. Anliegen, die Verweise auf Georg Forster u. Aloys Wilhelm Schreiber den intertextuellen Horizont erkennen. Die kunsthistor. Forschung schenkte B. zwar jüngst Beachtung, die literarhistor. Einordnung u. Interpretation des Werkes steht indessen noch aus. Weitere Werke: Aristodemus. Ein Trauersp. Altenburg/Lpz. 1821. – Der Sieg des Glaubens. Ein romant. Schausp. Mainz 1823. – Dramat. Werke, Bd. 1 (darin: Nero. Ein dramat. Charaktergemälde; Laokoon. Ein Trauersp.; Die Troerinnen des Seneka übers. u. erl.). Mainz 1824. – Geistl. Lieder. Wiesb. 1931. – Erwin v. Steinbach. Histor. Novelle. Mainz 1834. Literatur: Manfred Beller: Die Wiederentdeckung der Binger Gesch. in einem Gedicht der Spätromantik. In: Bingen u. die Rheinromantik. Hg. Matthias Schmandt. Bingen 2003, S. 79–93. – Karin Hellwig: Von der Vita zur Künstlerbiogr. Bln. 2005. Bernhard Walcher

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Braun, Isabella, * 12.12.1815 Jettingen/ Schwaben, † 2.5.1886 München; Grabstätte: ebd., Alter Südlicher Friedhof. – Jugendbuchautorin.

138 tingen. Jettingen-Scheppach 1986. – Hans Maier: Vor 100 Jahren starb I. B. In: Lit. in Bayern 1986, N. 4, S. 13–18. Eda Sagarra / Red.

Die heute zu Unrecht vergessene Pionierin Braun, Johann Adam, * 24.12.1753 Augsdes kath. Jugendbuchs lieferte mit ihren Er- burg. Sterbedatum u. -ort unbekannt. – zählungen, Dorfgeschichten, kleinen Roma- Verfasser von Briefromanen, Erzählunnen u. Kindertheater »zum Selbstaufführen« gen, Schauspielen. den Grundstock der kath. Mädchen- u. der B. veröffentlichte vornehmlich anonym. SeiVorleselektüre für Kleinkinder bis in die ne ersten Bücher erschienen in Augsburg: 1940er Jahre. B. wurde bei den Englischen 1777 Der Adler nach der Lilie [...] oder Josephs Fräulein in Augsburg zur Volksschullehrerin Reise nach Paris; 1778 die zahme Wertheriade ausgebildet u. unterrichtete 1837–1839 an Die Leiden der jungen Kunigunde. In Leipzig ereiner Schule in Neuburg/Donau. schien Die Herrlichkeit im Traume oder der Lyrant Durch ihre Gedichte zog B. die Aufmerk- als Fürst. Dieses zur Aufführung in Gasthöfen samkeit Christoph von Schmids auf sich. Er bestimmte »Originallustspiel« ist ein derbriet ihr, statt mit »100 in der Schulstube, mit komisches Possenspiel mit nebensächl. 1000 im weiten Vaterland« zu verkehren u. Handlungslogik. Einer Goethe gewidmeten schrieb das Vorwort zu ihrem ersten Buch Werther-Nachahmung, Joseph Cotardo und Bilder aus der Natur (Augsb. 1849). Es folgten Rosaura Bianki, eine rührende Erzehlung aus geBilder aus der Geschichte (Augsb. 1851) u. viele heimen Nachrichten von Venedig und Cadix geweitere Erzählbändchen. Ihr Erfolg gründete schildert in empfindsamen Briefen (Ffm./Lpz. in ihrem Verständnis der kindl. Psychologie, 1778), folgten weitere empfindsame Romane in der Förderung ihrer strikt kath. Werke von u. Erzählungen wie etwa: Lauron und Danel. kirchlicher Seite sowie in dem leserfreundl. Eine Waldgeschichte (Ffm./Lpz. 1780) mit idylFormat u. Preis. Die in Kinderhänden leicht lischen Elementen u. Das Grab der Freude oder zu haltenden Bändchen waren z.T. im Stil der Jardison und Juliane. Eine englische Geschichte damals populär werdenden Gebetbücher mit (Ffm./Lpz. 1780). Letztere ist ein Briefroman handkolorierten Lithografien illustriert, u. a. im Stil der engl. Vorbilder, der zeittyp. Thevon bekannten Künstlern wie Pocci u. Ferdi- men anspricht: Landleben versus Stadtleben, nand Rothbart, u. kosteten 10 bis 15 Neu- Ökonomie des Hauses, Gartenbau. Im Mitgroschen. telpunkt der Handlung steht ein Liebespaar, Als B.s wichtigste Leistung kann ihre dessen Tugendhaftigkeit geprüft wird. InGründung der (dann bis 1933 weitergeführ- haltlich ähnlich ist das empfindsame Schauten) »Jugend-Blätter für christliche Unter- spiel Albert und Luise Oder der Trommelschlag zur haltung und Belehrung« 1855 gelten, die sie Rebellion (Basel 1784), in dem es um Freundgemeinsam mit Freundinnen bis kurz vor schaft, Tugend, Menschenbildung u. militär. ihrem Tod edierte; eine Publikationsreihe, Tyrannei in einem wohlgeordneten Staat die in Zusammenhang gesehen werden muss unter einem aufgeklärten Fürsten geht. B.s mit der damals einsetzenden Organisation dichterisches Schaffen endete mit einem des Vereinslebens auf nationaler wie lokaler weiteren Briefroman: Heinrich von Eisenberg Ebene durch die kath. Kirche u. ihre Bemü- und Louise von Trautmannsfeld [...] (Ffm. 1787). hungen, gezielt ein weibliches u. jugendl. Über B.s Lebensgeschichte lassen sich keine Publikum anzusprechen, 1854 übersiedelte gesicherten Aussagen treffen, denn seine LeB. nach München. Ludwig II. zeichnete sie bensdaten wurden fortwährend mit denen mit der Ludwigsmedaille für Kunst u. Wis- eines 1765 in Mainz geborenen Mannes senschaft aus u. gewährte ihr eine Pension. gleichen Namens vermischt. So müssen B.s Ausgabe: Ges. E.en. 12 Bde., Donauwörth 1890. angebl. Promotion zum Arzt (Jena 1804) u. Literatur: Renate Miehle: Die braune Bill. Aus sein Aufenthalt in Russland (ab 1804) diesem dem Leben der Jugendschriftstellerin I. B. aus Jet- Mainzer Theologen u. Arzt zugeschrieben

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werden. Überliefert ist lediglich die Äußerung eines Zeitgenossen, wonach B. um 1780 in Halle ungebührlich aufgetreten sei (Joachim Christoph Friedrich Schulz: Almanach der Bellettristen und Bellettristinnen für’s Jahr 1782. Ulietea, recte Bln. 1781). Weitere Werke: Die drey Fakultisten im Weinkeller. Ffm./Lpz. 1777 (Lustsp.). – Die schöne Österreicherin [...]. Nürnb. 1779. – Gesch. des Ritters v. Charleville. Nürnb. 1780. – Andromeda u. Perseus; ein Duodrama. Halle 1780 (1783 im K. K. Nationaltheater in Wien aufgeführt). – Gespenst oder der Fanatismus; eine period. Schr. Nürnb. 1781. – Der Proceß auf dem Lande. Ffm./Lpz. 1781. – Kochems hypochondr. Stunden im Reiche der Todten. o. O.1782. – Die Spiele des Schicksals, oder Felix u. Sophie; eine Vaterlandsgesch. Basel 1784. Andrea Ehlert / Red.

Braun, Karl Johann Ritter von Braunthal, auch: Jean Charles, * 6.6.1802 Eger (heute: Cheb)/Böhmen, † 26.11.1866 Wien. – Lyriker, Dramatiker u. Epiker. Nach einer Jugend in ärml. Verhältnissen wurde B. 1826 Erzieher im gräflichen Haus Schaffgotsch in Breslau u. machte dort Bekanntschaft mit Henrik Steffens u. Hoffmann von Fallersleben; in Berlin trat er 1830 zum Protestantismus über. Im gleichen Jahr kam er nach Wien, wo er 1837 den » Österreichischen Musenalmanach« herausgab. 1845 wurde B. Archivar des Fürsten ColloredoMansfeld im böhm. Opocˇno, 1850 Bibliothekar der Wiener Polizei-Hofstelle. Seit 1855 war er freier Schriftsteller. Als Lyriker schrieb B. bevorzugt Lieder, Romanzen u. Balladen (Morgen, Tag und Nacht aus dem Leben eines Dichters. Lpz. 1843). Traditionelle romant. Sagenstoffe erzählt er in der einfachen Balladenstrophe, Natur- u. Liebesthematik behandelt er in gefühlsbetonten Romanzen, am häufigsten wählt er aber die Liedform in Anlehnung an das Volkslied. In den Abschnitten Wander- und Frühlingslieder und Bilder aus Italien wird eine stimmungsvolle Beschreibung der Natur u. des Menschen gegeben, ein heiterer, zärtlicher, auch nachdenkl. Ton herrscht in den zahlreichen Liebesliedern vor; Reflexionen über die Kunst, die Bestimmung in diesem Dasein u. allgemeingültige Lebenserfahrun-

gen u. -weisheiten beinhalten die Xenien. B.s Gedichte sind aufgrund ihrer empfindsamen Grundhaltung, der besonderen Vorliebe für Märchen- u. Sagenstoffe u. schließlich auch der poet. Verklärung der Natur der romantischen Dichtung verpflichtet. In seiner dramat. Bearbeitung des Fauststoffs (Faust. Lpz. 1835) erscheint Faust nicht als der gewissenlose Verführer u. Machtmensch, sondern als unglückliches, schwaches Opfer, das in der Selbsterkenntnis, in der Reue u. im Tod den Teufel überwindet u. so die göttl. Gnade erlangt; daneben erschienen eine Don Juan-Bearbeitung (Lpz. 1842) u. ein Drama Ritter Schakespeare (Lpz. 1836). Seine Sammlung humoristischer Sittenbilder Antithesen oder Herrn Humors Wanderungen durch Wien und Berlin (Wien 1834) skizziert mittels prägnanter Vergleiche eindringlich den jeweiligen Volkscharakter. Aufsehen erregte B. mit gesellschaftskrit. Romanen (u. a. Die Erbsünde. Lpz. 1848), in denen er schonungslos die Problematik des Geschlechterkampfs aufzeigte; in der Analyse des Adels u. des Bürgertums nähert sich B. den Positionen des »Jungen Deutschland«. Primär aus finanziellen Motiven begann B. später eine Vielzahl von histor. Romanen (z.B. Neuhof. 3 Bde., Wien/Bln. 1864) zu schreiben, in denen er eine ausführliche, dichterisch ausschmückende Darstellung der spezif. Zeitumstände mit sentimentalen Liebesgeschichten u. moralisch-eth. Betrachtungen über das Wesen der Liebe verband. Weitere Werke: Die Himmelsharfe. Wien 1826 (L.). – Loda. Wien 1826 (D.). – Graf Julian. Bln. 1831 (D.). – Phantasie- u. Tierstücke. Wien 1836 (L.). – Gedichte. Lpz. 1836. – Donna Quixote oder Leben u. Meinungen einer scharfsinnigen Edlen aus Jungdtschld. 2 Bde., Lpz. 1844 (R.). – Die Seherin v. Venedig. Wien 1845 (R.). – Napoleon I. in Wien. Wien 1860 (R.). – Napoleon II. Wien 1860 (R.). – Die Ritter vom Gelde. Wien 1860 (R.). – Der Jesuit im Frack. Wien 1862 (R.). Literatur: Anna Gauby: J. K. B. v. B. Diss. Wien 1950. – Giebisch/Gugitz, S. 38. Cornelia Fritsch / Red.

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Braun, Konrad, * um 1495 Kirchheim/ Neckar (?), † 20.6.1563 München; Grabstätte: Augsburg, Domkreuzgang. – Rechtsgelehrter, Theologe, katholischer Publizist. Ab 1510 an der Universität Tübingen in scholastisch-humanistischer Tradition ausgebildet, 1522 zum Dr. utr. iur. promoviert, Professor u. 1523/24 Rektor, durchlief B. die typische Karriere eines frühneuzeitl. »gelehrten Rates« in der Territorialverwaltung u. in der fürstl. Landes- u. Reichspolitik. 1526 trat B. in den Dienst des Würzburger Bischofs Konrad von Thüngen. 1535/36 war er fürstbischöfl. Kanzler. Auf Ständetagen u. Reichsversammlungen führte er die Politik seines Herrn, die bei kath. wie protestant. Fürsten jetzt, nach Ende der reformator. Bewegung im Bauernkrieg 1525, von der Suche nach Bündnissen bestimmt war. B. vertrat hier, wie auch als Assessor am Reichskammergericht 1533–1535, 1536–1540 u. 1540–1542 als Kammergerichtskanzleiverwalter, eine dezidiert antiirenische Haltung, die er mit dem Kirchenrecht begründete. Seine persönl. Einstellung zu den theologischen u. religionspolit. Auseinandersetzungen äußerte er damals erstmals öffentlich in zwei Flugschriften gegen Martin Bucer (Gesprech aines Hofraths mit zwaien Gelerten. Etliche Gesprech abermals), die 1539 u. 1540 im Druck erschienen. B. hielt die durch die Reformation ausgelöste Spaltung der Kirche für unumkehrbar. Die Unterschiede lagen aber weniger in den theolog. Lehrmeinungen als in der dogmat. u. jurist. Definition von Kirche. Daher konnten weder Religionsfriedensgespräche noch Kontroverstheologie etwas ausrichten. Es kam für die kath. Kirche darauf an, ihren Kirchenbegriff herauszustellen u. zu festigen. Dazu bedurfte es zunächst einer genaueren Begriffsklärung. Seinen Beitrag dazu leistete B. mit mehreren lat. Traktaten, die in seiner Zeit als Kanzler der bayer. Herzöge ab 1542 entstanden u. die 1548–50 mit Unterstützung des Kontroverstheologen Johannes Cochläus publiziert wurden. Als Jurist konzentrierte B. sich auf die äußeren Erscheinungsformen kath. Kirchenverständnisses: Liturgie u. Bilder (De cae-

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remoniis. De imaginibus. Beide Mainz 1548), v. a. aber auf die für ihn maßgebliche öffentlich-rechtliche, »politische« Dimension der Kirche (»politia ecclesia«). Dazu verfasste er mit De legationibus (Mainz 1548) eine Handreichung für kath. Vertreter auf Reichs- u. Ständetagen u. bei Religionsgesprächen. Für den Umgang mit den Protestanten im kirchl. wie im weltl. Bereich blieb er bei den alten kirchenrechtl. Bestimmungen von Häresie u. Schisma (De haereticis et schismaticis. Mainz 1549. De seditionibus. Mainz 1550). Weitere Werke waren geplant, sind aber nicht erschienen (De calumniis, de idolatria, de divinatione. De superstitionis observationibus). Über die Analyse des Ist-Zustandes hinaus entwickelte B. in allen Werken Reformgedanken, die ihn als kirchentreuen, aber zukunftsorientierten Konfessionisten ausweisen. Das zeigt auch der um 1546 entstandene dt. Katechismus, der unvollendet blieb, den zeitgleichen Werken bekannter Theologen (Gropper, Dietenberger, Nausea, Canisius) aber in nichts nachstand. 1554 gab er die Imitatio Christi des Thomas a Kempis in Deutsch heraus (Ein christelich hailsam Buechlin von der Nachfolgung Christi. Dillingen 1555. Mehrere Nachdr.e bis 1618). Neben seiner literar. u. kirchenpolit. Arbeit, u. a. für das seit 1545 tagende Konzil, war B. in der Reichspolitik tätig. Zus. mit dem Juristen Konrad Visch verfasste er 1548 eine neue Reichskammergerichtsordnung. Außerdem war er an der Landfriedens-Exekutionsordnung von 1555 beteiligt. In den Verhandlungen um den Augsburger Religionsfrieden vertrat B., von 1554 bis 1559 Kanzler des Augsburger Bischofs, Kardinal Otto Truchsess von Waldburg, eine restriktivunversöhnl. Haltung, die in einem »Protest« (Rechtsvorbehalt) gegen die Friedensverhandlungen gipfelte. In Wort u. Schrift betonte er auch nach 1555 die Autorität der kath. Kirche u. des Konzils, das allein ihre Gestalt bestimmen u. ihre Reform durchsetzten könne (Kürtzer Auszüg [...] von der hailigen Catholischen Kirchen Authoritet und gewalt. Dillingen 1559/69. De concilio universali, nur Inhaltsverz.). Daher widersetzte er sich auch als Erster der »neuen« protestant. Geschichtsdeutung der Magdeburger Centurien

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(Adversus novam historiam ecclesiasticam. Dillingen 1565). B.s Lebensweg u. Denken spiegelt anschaulich seine Bibliothek wider, die mit 442 Bänden, v. a. juristischer, theolog. u. histor. Literatur, in Salzburg, Dillingen u. München überliefert ist. Literatur: Anonym: De vita et scriptis clarissimi viri D. Conradi Bruni iurisconsulti. In: K. B.: Adversurs novam historiam ecclesiasticam [...] admonitio catholica. Dillingen 1565. – Steffenhagen: B. In: ADB. – Nikolaus Paulus: Dr. K. B. Ein kath. Rechtsgelehrter des 16. Jh. In: Histor. Jb. 14 (1893), S. 517–548. – Theobald Freudenberger: B. In: NDB. – Remigius Bäumer: K. B. In: Kath. Theologen der Reformationszeit. Bd. 5, Münster 1988, S. 117–136. – Maria Barbara Rößner: K. B. Ein kath. Jurist, Politiker, Kontroverstheologe u. Kirchenreformer im konfessionellen Zeitalter. Münster 1991 (mit Werkverz.). – Dies.: K. B. u. seine Bibl. In: Bibliotheksforum Bayern 21 (1993), S. 44–61. – Axel Gotthard: Der Augsburger Religionsfriede. Münster 2004. Maria Barbara Rößner-Richarz

Braun, Lily (Amelia Jenny Emilie Klothilde Johanna), geb. von Kretschman, verw. von Gizˇycki, * 2.7.1865 Halberstadt, † 9.8. 1916 Berlin. – Politikerin, Publizistin u. Romanautorin. B. entstammte einer Offiziersfamilie u. wuchs unter strikten Konventionen u. starren Standesvorurteilen auf. Eine Liebesheirat wurde ihr verwehrt. Wärme u. Verständnis für ihr soziales Empfinden fand sie nur bei der Großmutter Jenny von Gustedt, deren Andenken sie ihr erstes Buch Aus Goethes Freundeskreis (Braunschw. 1892) widmete. Durch die Begegnung mit dem Berliner Philosophieprofessor Georg von Gizˇycki (Heirat 1893) wurde sie mit sozialist. Theorien u. dem Werk von Marx u. Engels vertraut; sie wurde Mitherausgeberin seiner Zeitschrift »Ethische Kultur«. B. wandte sich v. a. der Frauenfrage zu u. entfaltete als Mitarbeiterin der Zeitschrift »Die Frauenbewegung« (Bln. 1895–1919) u. im Verein »Frauenwohl« ihre journalistische u. rhetor. Begabung. B.s offenes Bekenntnis zu den Gedanken der Sozialdemokratie u. des Klassenkampfs bedeutete den Bruch mit Herkunft u. Familie. Aber auch in der Partei stieß sie bald auf

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den Widerstand Clara Zetkins, der die Mitstreiterin nicht radikal genug war. Seit 1895 verwitwet, heiratete sie 1896 Heinrich Braun, der als Publizist u. sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter um den Brückenschlag zwischen Arbeiterbewegung u. geistiger Welt bemüht war. An seiner Seite trat B. für den Revisionismus Eduard Bernsteins ein. Am Widerstand der Parteimehrheit scheiterte 1903 u. 1907 der Versuch der Brauns, die Zeitschrift »Die neue Gesellschaft« (Bln.) als parteiinternes Diskussionsforum zu etablieren. In Aufsätzen u. Büchern kämpfte B. engagiert u. ideenreich für die Emanzipation der Frau: Mutterschaftsversicherung, gemeinschaftl. Kindererziehung, Befreiung von ehel. Zwängen, berufl. Unabhängigkeit waren einige ihrer Ziele. 1908 zeichnete sie mit der Zeitbiografie Im Schatten der Titanen (Braunschw.) ein lebendiges Bild des Biedermeier; der Erfolg des Buches befreite sie von ärgsten wirtschaftl. Sorgen. Mit dem autobiogr. Roman Memoiren einer Sozialistin (2 Bde., Mchn. 1909. 1911. Neuausg. Mchn. 1985) unterstrich sie ihren Rang als Chronistin, Vorkämpferin der Frauenrechtsbewegung u. Sozialistin, deren starke Emotionalität u. geistige Unabhängigkeit sich Doktrinen nur schwer unterordneten. Weitere Werke: Die Frauenfrage. Lpz. 1901 (Ess.). – Die Emanzipation der Kinder. Mchn. 1911. Neudr. Düsseld. 1981 (Ess.). – Liebesbriefe der Marquise. Mchn. 1912 (R.). – Lebenssucher. Mchn. 1915 (R.). Ausgabe: Ges. Werke. 5 Bde., Bln. 1923. Literatur: Günther Gärtler: L. B., eine Publizistin des Gefühls. Diss. Heidelb. 1935. – Inge Stolten: L. B. 1865–1916. In: Frauen. Porträts aus 2 Jh.en. Hg. Hans Jürgen Schultz. Stgt. 1981, S. 212–224. – Alfred G. Meyer: The feminism and socialism of L. B. Bloomington 1985. – Ute Speck: Ein mögl. Ich. Selbstreflexion in der Schreiberfahrung. Zur Autobiographik der Politikerinnen L. B., Hedwig Dohm u. Rosa Luxemburg. Ffm. 1997. – Ute Lischke: L. B. (1865–1916). German writer, feminist, socialist. Rochester 2000. Hans Peter Bleuel / Red.

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Braun, Marcus, * 28.11.1971 Bullay/Mosel. – Roman- und Theaterautor.

142 Weiteres Werk: Marcin Sendecki: Parzellen. Gedichte aus zehn Jahren. Mainz 1997 (Übers. aus dem Polnischen zus. mit Gregor Kahlau). Literatur: Thomas Kraft: M. B. In: LGL.

Bereits als 17-Jähriger zum Schriftstellerberuf entschlossen, begann B. nach dem Abitur Kathrin Klohs ein Studium der Germanistik, Philosophie u. Rechtswissenschaften in Mainz. Ab 1993 erhielt er erste Arbeitsstipendien, Einladungen Braun, Reinhold, eigentl.: Emil Paul R. B.zu Autorenworkshops u. wurde mit Preisen Eckelsbach, * 10.12.1879 Berlin, † 14.12. ausgezeichnet; in Zeitschriften u. Antholo- 1959 Freiburg i. Br. – Erzähler, Lyriker u. gien erschienen frühe Texte, u. a. das Thea- Verfasser von Biografien. terstück Zett – Neues vom Untergang des Abend- Der Sohn eines Polizeiwachtmeisters war als landes (Mainz 1994). Es folgte der Erzählband Gymnasiallehrer zunächst in Grabow bei Ohlem (Mainz 1995). Den Durchbruch brachte Landsberg/Warthe, ab 1904 in Weißensee bei 1997 eine Nominierung für den Ingeborg- Berlin u. ab 1906 in Berlin tätig. Wegen eines Bachmann-Preis: B. stellte in Klagenfurt sein körperl. Leidens war er jedoch bald gezwunRomandebüt vor, die Eifersuchtsstudie Na- gen, sein Amt aufzugeben. Ausgedehnte diana (Bln. 2000). Zuerst publizierte er jedoch Reisen führten ihn durch mehrere europ. den Agentenroman Delhi (Bln. 1999. 2002). In Länder u. nach Palästina. Seit 1945 lebte B. in der Folge unterbrach er sein Studium, seither Lochham. lebt er zurückgezogen in Berlin. Bald darauf Liebe zur Heimat, häusl. Zufriedenheit soerschien Hochzeitsvorbereitungen (Bln. 2003. wie tiefe Frömmigkeit sind die Wesenszüge 2005), ein Adoleszenz- und Provinzroman, seiner Gedichte, Erzählungen u. zahlreichen zuletzt der Kriminalroman Armor (Ffm. Vorträge. B. schrieb Andachts- u. Heimatbü2007). Parallel veröffentlichte B. eine Reihe cher (Das Morgenbuch. Bln. 1922. Deutsche Heidramatischer Stücke: Auf Väter Söhne Geister mat. Gotha 1918), pries die Ehe (Wenn zwei in (Ffm. 2000), ein »lyrische[s] Oratorium« einem Himmel sind. Chemnitz 1925), das Fa(FAZ), folgten die Revue Lernbericht (Ffm. milien- u. das Mutterglück (Das Heimglück2001), die Vierecksgeschichte Bilder von Män- buch. Herborn 1920. Mutter. Chemnitz 1926) nern und Frauen (Ffm. 2003) u. schließlich u. die Freundschaft (Das Freundschaftsbüchlein. Deutsche Oper (Ffm. 2005), die Geschichte ei- Bln. 1929). Er wollte Lebensfreude u. Frohnes Zusammenpralls von Nationalsozialis- sinn vermitteln (Fröhliche Lebenskunst. Hermus, Neonazismus und Kapitalismus. born 1927) u. in Kriegs- u. anderen schweren B.s Texte sind planvoll konstruiert, an- Zeiten aufmuntern u. Trost spenden (Das spielungsreich, durchdrungen von wissen- Trostbüchlein. Bln. 1929). B. widmete eine lischaftlichen, kulturkrit. u. philosoph. Dis- terar. Studie Heinrich von Kleist (Gotha 1911) u. kursen. Impression u. Reflexion des Augen- verfasste Biografien über Albert Schweitzer blicks haben Vorrang vor zielgerichteten (Konstanz 1956) u. Helen Keller (Konstanz Handlungen u. Entwicklungen; Spiegelun- 1957). gen, Halluzinationen u. Vexierspiele vor Literatur: Hans-Christoph Kaergel: R. B. In: Kausalitäten u. Sicherheiten. Das Feuilleton Der Türmer. Jg. 32, Bd. 1, 1929/30, S. 253–255. lobt B.s Eleganz, Raffinesse u. Leichtigkeit, Elisabeth Willnat / Red. sein intellektuelles Spiel, seinen elaborierten Blick auf Alltägliches. Kritisiert wird mitunBraun, Volker, * 7.5.1939 Dresden. – Lyter der Vorrang des Artistischen, Assoziativen riker, Dramatiker, Prosaautor, Dramau. Experimentellen vor der erzählten Geturg. schichte. Eingeordnet als Antipode zur Popu. Partyliteratur seiner Altersgenossen u. ge- »Keiner schreibt so aus der Mitte des Landes handelt als literarischer Enkel Nabokovs, gilt heraus, aus ihrem unaufgehobenen WiderB. als Vertreter eines »postrealistischen Rea- spruch«, heißt es in Fritz Rudolf Fries’ Laudatio auf B. anlässlich der Verleihung des lismus« (Alban Nikolai Herbst).

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Heinrich-Mann-Preises im Jahr 1980. Die Publikationsgeschichte seines Werks ist geprägt von Konflikten mit den Zensurinstanzen der DDR. Als geschickter Stratege im Literaturkampf hat es B. immer wieder verstanden, polit. Tabus gegen den Widerstand der Kulturfunktionäre literarisch zu gestalten. B. publizierte in Ost u. West, wo er jeweils mit renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. Unter dem Decknamen »OV Erbe« wurde B. von der Stasi observiert u. sah sich als einer der Initiatoren der Petition zugunsten Wolf Biermanns 1976 polit. Restriktionen ausgesetzt.. Während viele DDR-Autoren seiner Generation, darunter Freunde wie Bernd Jentzsch, Reiner Kunze u. Sarah Kirsch, resignierten u. nach Westdeutschland zogen, blieb B. im Land. Noch 1988 wurde ihm der Nationalpreis I. Klasse verliehen. Im selben Jahr schrieb er, den polit. Umbruch antizipierend, das Gedicht Die Wende (»Auf den Hacken / Dreht sich die Geschichte um«). B. gehört zu jener Generation, die von den Nachkriegs- u. Aufbaujahren geprägt wurde. Nach dem Abitur 1957 arbeitete er zunächst mehrere Jahre im Tagebau u. als Tiefbauarbeiter im Kombinat »Schwarze Pumpe«, bevor er das Philosophiestudium in Leipzig aufnehmen konnte. Seine frühen Gedichte (Provokation für mich. Halle 1965) werden von Revolutionspathos u. Optimismus getragen: »Der Hoffnung / Später Nachfahr: Die Zukunft!«. Frei von solchen Deklamationen ist der Band Gegen die symmetrische Welt (Halle u. Ffm. 1974), dessen programmatischer Titel auf Hölderlin anspielt. Hervorzuheben sind Formbewusstsein, Gestaltungsweise u. Traditionsbezug der Gedichte, in denen sich Kritik an den bestehenden Zuständen artikuliert, schwankend zwischen Enttäuschung, Skepsis u. zorniger Auflehnung. In den Lyriksammlungen Training des aufrechten Ganges (Halle 1979) u. Langsamer knirschender Morgen (Ffm. 1987) zeigt sich, dass für B. die Gewissheiten von einst erschüttert sind; allgemeine Erstarrung wird illusionslos konstatiert, zerbrochene Hoffnung spiegelt sich in den Gedichtzeilen, wenn es heißt: »Aus dem Zusammen Frohe Zukunft / Hang gerissen«, doch wird an der Utopie festgehalten.

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Ein Beispiel für die Schwierigkeiten B.s mit der Zensur liefert das Drama Die Kipper. Es dauerte fast zehn Jahre u. bedurfte mehrerer Überarbeitungen, bis das Stück 1972 in Leipzig uraufgeführt werden konnte. Held ist ein Arbeiter im Kohlebergbau, dessen Vitalität mit der Planwirtschaft zwangsläufig in Konflikt gerät u. dem die DDR als »das langweiligste Land der Erde« erscheint. Sind die frühen Stücke mit ihrem didaktisch-polit. Impetus einem operativem Theaterkonzept verpflichtet, versuchte B. später, Stoffen der antiken Mythologie, der Historie oder klass. Literatur geschichtsphilosoph. Fragestellungen u. Erkenntnisse für die gegenwärtige Realität abzugewinnen. Die geschlossene Fabel wurde aufgesprengt zugunsten einer offenen Dramaturgie; neben Heiner Müller u. Peter Hacks galt er als einer der wichtigsten Dramatiker der DDR. Heftige Kontroversen verursachte der Hinze-Kunze-Roman (Halle u. Ffm. 1985). Kunze ist Funktionär, Hinze sein Fahrer; B. variierte satirisch das Herr-u.-Knecht-Motiv u. versetzte Diderots »Jacques der Fatalist« in die DDR. Das ungleiche Paar liefert sich in grotesken Szenen u. Dialogen einen anspielungsreichen Disput, mit Raffinesse inszeniert u. virtuos geschrieben. Die Erzählung Unvollendete Geschichte (Ffm. 1977) schildert nach einem authent. Fall, wie die haltlose Verdächtigung, ein Junge plane die »Republikflucht«, das Leben eines Liebespaars beinahe zerstört. Nach Studium seiner StasiAkten sah sich B. zu einer doppelten Revision genötigt: Seine Informantin war selbst StasiZuträgerin u. beging später selbst »Republikflucht« (Die Unvollendete Geschichte und ihr Ende. Ffm. 1998). Steht sein literarischer Beginn im Kontext der sog. Aufbauliteratur, so bezeichnete er sich später als »Abrissarbeiter«. In dem Drama Die Übergangsgesellschaft (Urauff. Bremen 1987) postulierte B.: »Die Literatur hat nur einen Sinn, das wieder wegzureißen, was die Ideologien hinbauen.« Seine krit. Haltung zum sozialist. Staat machte B. nicht zum Dissidenten; er blieb Marxist. Der Zusammenbruch des Sozialismus, den er in der DDR nicht verwirklicht sah, bedeutete für B. einen Utopieverlust. In dem Prosastück Bodenloser

Braun-Prager

Satz (Ffm. 1990) bezeichnete er die dt. Wiedervereinigung als »Republikflucht der Utopien in die Messer der Konsumschlacht«. »Fortschrott. Eine Epoche vertan. Recht so«, heißt es apodiktisch in der Rede Himmelhoch, zutode (in: Wie es gekommen ist. Ffm. 2002). Die Konsequenz war aber weder Rückzug noch Verstummen. Ein angesichts des Epochenumbruchs verstörtes lyr. Ich artikuliert sich in kunstvoll hermet. Gedichten u. einer an Hebel, Kleist u. Büchner geschulten Prosa, in deren klassischer Diktion moderne Stil-Elemente, selbst Kalauer u. Mundart-Einsprengel ihren Platz finden. Im Jahr 2000 wurde B. der Büchner-Preis verliehen. Weitere Werke: Kipper Paul Bauch (D.). 1. Fassung in: Forum 18 (1966). 2. Fassung in: Dt. Theater der Gegenwart. Bd. 2, Ffm. 1967. 3. Fassung: Bln./Weimar 1972. 4. Fassung in: Stücke 1. Ffm. 1975. 5. Fassung: Ebd. Ffm. 21981. (3.-5. Fassung u. d. T. Die Kipper). – Hans Faust (Neufassung: Hinze u. Kunze). Urauff. Weimar 1968 (D.). – Lenins Tod. Bühnenms. 1970. SuF 1 (1988), S. 37–85. Urauff. Bln./DDR 1988 (D.). – Wir u. nicht sie. Halle u. Ffm. 1970 (L.). – Das ungezwungene Leben Kasts. Bln./DDR u. Ffm. 1972 (P). – Es genügt nicht die einfache Wahrheit. Lpz. 1975. Ffm. 1976 (Ess.). – Tinka. Urauff. Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) 1976 (D.). – Guevara oder Der Sonnenstaat. Urauff. Mannh. 1977 (D.). – Gedichte. Ffm. 1979. – Simplex Deutsch. Urauff. Bln./DDR 1980 (D.). – Stücke 2. Ffm. 1981. – Dmitri. Urauff. Karlsr. 1982 (D.). – Ber.e v. Hinze u. Kunze. Halle u. Ffm. 1983. – Siegfried Frauenprotokolle Deutscher Furor. Urauff. Weimar 1986 (D.). – Stücke 3. Ffm. 1987. – Transit Europa. Urauff. Bln./DDR 1988 (D.). – Verheerende Folgen mangelnden Anscheins innerbetriebl. Demokratie. Lpz. u. Ffm. 1988 (Ess.). – Lenins Tod. Urauff. Bln./DDR 1988 (D). – Texte in zeitl. Folge. 10 Bde., Halle 1989–93. – Der Stoff zum Leben 1–3. Ffm. 1990 (L.). – Böhmen am Meer. Urauff. Bln. 1992 (D.). – Die Zickzackbrücke. Halle 1992 (P.). – Iphigenie in Freiheit. Urauff. Ffm. 1992 (D.). – Der Wendehals. Ffm. 1995 (P.). – Lustgarten. Preußen. Ffm. 1996 (L.). – Die vier Werkzeugmacher. Ffm. 1996 (P.). – Wir befinden uns soweit wohl. Wir sind erst einmal am Ende. Ffm. 1998 (Ess.). – TUMULUS. Ffm. 1999 (L.). – Der Staub v. Brandenburg. Urauff. Cottbus 1999 (D.) – Die Verhältnisse zerbrechen. Ffm. 2000 (Ess.). – Das Wirklichgewollte. Ffm. 2000 (P.). – Limes. Mark Aurel. Urauff. Kassel 2002 (D.). – Das unbesetzte Gebiet. Im schwarzen Berg. Ffm. 2004 (P.). – Der

144 berüchtigte Christian Sporn. Ein anderer Woyzeck. Ffm. 2004 (P.). – Auf die schönen Possen. Ffm. 2005 (L.). – Was wollt ihr denn. Urauff. Senftenberg 2005 (D.). Literatur: Jay Rossellini: V. B. Mchn. 1983. – Christine Cosentino u. Wolfgang Ertl: Zur Lyrik V. B.s. Königst./Ts. 1984. – Ulrich Profitlich: V. B. Mchn. 1985. – Frank Hörnigk: V. B. Arbeitsbuch. Bln. 1999. – Verena Kirchner, Heinz-Peter Preußer u. Manfred Behn: V. B. In: KLG. – H.-P. Preußer: Mythos als Sinnkonstruktion. Köln 2000. – Peter Geist: V. B. In: LGL. – Rolf Jucker: ›Was werden wir die Freiheit nennen?‹. Würzb. 2004. – Ders. (Hg.): V.B. in Perspective. Amsterd. 2004. Michael Töteberg

Braun-Prager, Käthe, auch: Anna Maria Brandt, * 12.2.1888 Wien, † 18.6.1967 Wien. – Lyrikerin u. Malerin. Die Tochter eines Steuerexperten, Schwester von Felix u. Robert Braun, war u. a. als Lehrerin tätig. 1917 heiratete B. den Philosophen Hans Prager, ab 1920 arbeitete sie als Schriftstellerin, beeinflusst u. a. von der Frauenrechtskämpferin Rosa Mayreder. 1928 rief sie die »Literarische Frauenstunde« von Radio Wien (RAVAG) ins Leben, in der sie bis 1938 wöchentlich Vorträge über Dichterinnen u. Frauenfragen hielt. Ab 1930 leitete sie »Literarische Vortragsabende« in einem Wiener Hotel. 1939 ging B. ins Exil nach England u. betätigte sich dort u. a. als Malerin. Sie kehrte 1951 nach Österreich zurück u. war als freie Schriftstellerin u. Mitarbeiterin an in- u. ausländ. Zeitungen u. Zeitschriften tätig, ebenso in verschiedenen Vereinen, u. a. im Verein der Schriftstellerinnen u. Künstlerinnen Österreichs, im Wiener Frauenclub, im österr. u. engl. P.E.N.-Club, im Österreichischen Schriftstellerverband u. in der Grillparzer-Gesellschaft. B. erhielt 1958 den Theodor-Körner-Preis, als Malerin 1959 den Preis des Kunstfonds der Stadt Wien. Die Lyrik B.s zeichnet sich durch eine Vorliebe für einfache Formen aus: Vers u. Strophik, aber auch Sprache u. Bildlichkeit sind bewusst schlicht, geraten allerdings vielfach konventionell. Ansätze zur Naturbeobachtung werden überlagert von einem ausgeprägten Symbolismus, der sich auch in der Wahl der Motive geltend macht: Liebe u. Tod,

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Ehe, Mutterschaft, daneben auch dichter. Berufung gehören zu ihren bevorzugten Sujets. B. hat Übersetzungen aus verschiedenen Sprachen angefertigt, darunter aus dem Englischen die Charles Dickens-Biografie von Eleanor Graham (Wien 1954). Weitere Werke: Bei der Kerze. Darmst. 1929 (L.). – Große Frauen der Heimat. Wien 1936 (biogr. Ess.s). – Ahnung u. Einblick. Wien 1937 (Aphorismen). – Stern im Schnee. Wien 1949 (L.). – Reise in die Nähe. Aus einem engl. Tgb. Salzb. 1954. – Verwandelte Welt. Gedichte, Bilder, Gleichnisse. Innsbr. 1956. – Heimkehr. Wien 1958 (N.n). – Die Mondwolke. Wien 1963 (L.). – Das himml. Kartenhaus. Gedichte, Prosa u. Gedanken. Wien/Mchn. 1968. – Heimat in der Fremde. Erlebnisse u. E.en aus England. Nachw. v. Felix Braun. Wien 1968. – Ruhe in der Ferne. Dichtungen in Prosa. Hg. F. Braun. Wien 1972. – Die Stadt der Ewigen u. andere Novellen. Hg. u. mit einem Nachw. v. Tatjana Popovic. Klagenf. 2000. – Herausgeberin: Das Buch der Mütter (zus. mit F. Braun). Hbg./Wien. 1955. Ernst Fischer / Red.

Braunburg, Rudolf, * 19.7.1924 Landsberg/Warthe, † 21.2.1996 Waldbröl/ Oberbergischer Kreis. – Verfasser von Unterhaltungsromanen, Sachbuchautor u. Journalist. Der Sohn eines Schlossermeisters verbrachte seine Jugend in Holland, wurde 1942 zur Luftwaffe eingezogen u. als Jagd- u. Transportflieger eingesetzt. Nach dem Krieg studierte er Pädagogik u. unterrichtete anschließend an der Rudolf-Steiner-Schule in Hamburg. 1957 veröffentlichte er seinen ersten Roman Dem Himmel näher als der Erde (Hbg.). Danach schrieb er rd. 50 Bücher u. viele Beiträge für Zeitschriften u. Zeitungen. Seine Romane sind fast ausschließlich der Unterhaltungsliteratur zuzurechnen. Sie behandeln v. a. Themen aus dem Milieu der Luftfahrt: Zwischenlandung (Mchn. 1974), Nachtstart (Mchn. 1977. Hameln 1991) u. a. Vor dem Hintergrund spannender Geschichten geben B.s Romane aber häufig auch gesellschaftskrit. Anregungen zu Problemen des Umweltschutzes, denen viele seiner journalist. Arbeiten gewidmet sind. 1991 veröffentlichte er eine Monografie zur Geschichte der Lufthansa (Hbg.).

Weitere Werke: Bitte Anschnallen. Offenbach 1961 (R.). – Atlantikflug. Hbg. 1964 (R.). – Der Töter. Mchn. 1976 (R.). – Masurengold. Mchn. 1981 (R.). – Ein Leben auf Flügeln. Mchn. 1981 (Autobiogr.). – Taurus. Mchn. 1984 (R.). – Menschen am Himmel. Mchn. 1985 (R.). – Rauchende Brunnen. Mchn. 1986 (R.). – Musenküsse aus zweiter Hand. Mchn. 1987 (Parodien). – Der Abschuss. Hbg. 1987. Gütersloh 1991 (R.) – Als Fliegen noch ein Abenteuer war. Der Passagierflug von den Anfängen bis in die Nachkriegszeit. Dortm. 1988 (Bildbd.) – Hinter Mauern. Hbg. 1989 (R.). – Im Schatten der Flügel. Sgt. 1990 (R.). – Das Kranichopfer. Stgt. 1991 (E.). – Fliegerei u. Luftfahrt. Nürnb. 1993 (Kindersachbuch). – Abflug 9 Uhr 30. Stgt. 1994 (R.). – Der überfüllte Himmel. Mchn. 1994. Heino Freiberg / Red.

Braune, Rudolf, * 16.2.1907 Dresden, † 12.6.1932 Düsseldorf. – Erzähler u. Redakteur. Als Gymnasiast trat der Sohn eines Eisenbahnbeamten 1924 in die Kommunistische Jugend ein u. gab mit Mitschülern 1924/25 die Jugendzeitschrift »Mob« heraus. 1926 wurde er Buchhändler in Düsseldorf u. gehörte der Bezirksleitung der Kommunistischen Jugend als Leiter der Agitprop-Abteilung an. Ab 1928 war er Mitgl. der KPD u. zunächst Volontär, dann Redakteur ihrer Zeitung »Freiheit«. B. ertrank bei einem Sportunfall im Rhein. In seinen Romanen (Der Kampf auf der Kille. In: »Freiheit«, 1928 in Forts.en. Neuausg. Bln./DDR u. Mchn. 1978. Das Mädchen an der Orga Privat. Bln. 1930. Neuausg. Bln./DDR u. Mchn. 1975. Ffm. 2002. Junge Leute in der Stadt. Bln. 1932. Neuausg. Bln./DDR u. Mchn. 1975), in Erzählungen u. Reportagen (Der Kurier. In: Wieland Herzfelde: Neue Erzähler des neuen Deutschland. Bln. 1932. Neuausg. Lpz. u. Ffm. 1983. Expedition Ronsdorferstraße. Charkow 1933) schildert B. in sachlicher u. anschaulicher, um psycholog. Vertiefung bemühter Sprache das Alltagsleben v. a. junger Arbeiter u. Intellektueller zur Zeit der Weimarer Republik u. den Kampf der Kommunistischen Partei in der Illegalität. Er appelliert an solidarisches Engagement für soziale Veränderungen.

Braunschweigische Reimchronik

B. gilt als Mitbegründer eines sozialist. Realismus in der dt. Literatur u. als Repräsentant derjenigen Intellektuellen, die nicht der Arbeiterklasse entstammten, sich ihrem Kampf aber anschlossen. In der DDR wurden seine Werke »zu den wichtigen, literarisch herausragenden Beiträgen unserer proletarisch-revolutionären Literatur« (Ingeborg Ortloff) gezählt. Literatur: Otto Gotsche: R. B. In: ›Das Mädchen an der Orga Privat‹. Neuausg. a. a. O. – Ders.: R. B. In: ›Junge Leute in der Stadt‹. Neuausg. a. a. O. – Ingeborg Ortloff: Nachw. zu ›Das Mädchen an der Orga Privat‹. Neuausg. a. a. O. – Thorsten Unger: Klassenkampf mit einer Portion Erotik. R. B.s ›Junge Leute in der Stadt‹. In: Engagierte Lit. zwischen den Weltkriegen. Hg. Stefan Neuhaus. Würzb. 2002, S. 104–115. – Martin Hollender (Hg.): ›Eine gefährliche Unruhe im Blut ...‹. R. B. Schriftsteller u. Journalist (1907–32). Biogr. u. Bibliogr. Düsseld. 2004. Heinrich Detering / Red.

Braunschweigische Reimchronik, entstanden wahrscheinlich im letzten Viertel des 13. Jh. – Mittelniederdeutsche Fürstenchronik.

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stellt die Hamburger Handschrift sogar das Widmungsexemplar dar. Neben seiner erzieherischen Absicht bietet der Text eine groß angelegte u. panegyrisch verklärte Genealogie der Sachsenherzöge von Widukind bis Albrecht I. Allerdings beschränkt er sich nicht darauf, sondern berichtet auch über Reichs- u. Landesgeschichte, wenngleich immer aus dem Blickwinkel des Herzoghauses. Lediglich der Stadt Braunschweig gehört darüber hinaus das besondere Interesse des Autors, etwa bei der Schilderung ihrer Gründung u. späteren Entwicklung oder seiner Freude über die mit Hilfe des Stadtheiligen St. Auctor erfolgreich abgewehrte Belagerung durch Philipp von Schwaben im Jahr 1200. Für seine Darstellung stützt sich der Verfasser auf zahlreiche chronikalische u. hagiograf. Quellen, die nur zum Teil erhalten sind. Sein stilistisches Vorbild ist der Höfische Roman, von dem er die nicht immer konsequent umgesetzte Form (paargereimter epischer Vierheber) u. die Darstellung seiner Helden entlehnt, die für ein adelig-laikales Publikum mit höf. Attributen ausstaffiert werden.

Der Verfasser der Chronik ist unbekannt, Ausgaben: B. R. Hg. Ludwig Weiland. Hann. scheint aber in Braunschweig beheimatet ge- 1877 Neudr. Dublin/Zürich 1971 (MGH Dt. wesen zu sein, wie seine guten Ortskennt- Chron., Bd. 2, S. 430–585). nisse u. sein Lokalpatriotismus beweisen. Literatur: Wilfried Herdenhorst: Die B. R. als Vermutlich gehörte er zum Umkreis Herzog ritterlich-höf. Geschichtsdichtung. Diss. Gött. Albrechts I. (des Großen) (1252–1279), dessen 1964. Kurzfassung in: Niedersächs. Jb. für LiteraTod er beklagt u. den er mehrfach namentlich turgesch. 37 (1965), S. 1–34. – Thomas Sandfuchs: erwähnt, z.B. V. 7818–7820: »Dhe blome ist B. R. In: VL. – Joachim Bumke: Mäzene im MA. Mchn. 1979, S. 220 f. – Horst Wenzel: Höf. Gesch. an werdhe purpurvar, / ich meyne dhen uzBern/Ffm./Las Vegas 1980, S. 119–133. – Hanserwelthen vursten klar, / von Bruneswich Joachim Behr: Überlieferungen des Braunschweig. herzogen Albrechte«. Dass er sehr belesen Stadtnamens in mittelalterl. Zeit (in Vorb.). war, ist offenkundig; die Annahme, er sei Norbert H. Ott / Hans-Joachim Behr Kleriker am Hof des Herzogs (Weiland) oder am Stift St. Blasien (Bumke) gewesen, ist Brausewetter, Artur, auch: A. Sewett, nicht mit letzter Sicherheit zu belegen. Friedrich Leoni, * 27.3.1864 Stettin, Der Text, der in zwei Handschriften † 26.12.1946 Heidelberg. – Romancier u. (Hamburg, Wolfenbüttel) überliefert ist, Essayist. wurde – nach Gönnerverlust? – den Kindern Albrechts, v. a. dessen ältestem Sohn, Herzog Nach einem Theologie- u. PhilosophiestudiHeinrich I. dem Wunderlichen von Braun- um in Berlin u. Bonn wirkte der Kaufschweig-Grubenhagen († 1322), gewidmet u. mannssohn B. ab 1911 als Archidiakon in muss als eine Art Fürstenspiegel verstanden Danzig, 1934 in Zoppot. Seit 1945 lebte er in werden, der den Vater als Vorbild u. herr- Heidelberg. Zunächst mit dem an Raabes scherliches Ideal präsentiert. Möglicherweise Hungerpastor anklingenden »sozialen Roman«

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Der Armenpastor (Lpz. 1920) hervorgetreten, veröffentlichte B. später zahlreiche v. a. spannungsorientierte Unterhaltungsromane (u. a. Tore öffnen sich. Bln. 1936) u. polit. Schriften von nationalkonservativer Grundhaltung (Meine Fahrten an die West- und Ostfront. Bln. 1916. Danzig deutsch und treu. Lpz. 1933). Seine religiösen u. literaturhistor. Essays zielen auf eine Verbindung christlichen, patriot. u. freireligiösen Gedankenguts (etwa in Die Weltanschauung als Erlebnis. 5 H.e, Lpz. 1920). Daneben veröffentlichte der produktive Autor Sammlungen feuilletonistischer Betrachtungen u. Aphorismen (u. a. Mehr Liebe! Lpz. 1919 u. ö. Sonne ins Leben! Lpz. 1925). Weitere Werke: Wer die Liebe liebt wie Du. Braunschw. 1916 u. ö. (R.). – Eine neue Kirche. Lpz. 1933 (Ess.). – Der Ruf der Heimat. Bln. 1938 u. ö. (R.). Heinrich Detering / Red.

Brawe, Joachim Wilhelm von, * 4.2.1738 Weißenfels, † 7.4.1758 Dresden. – Dramatiker. B. war der älteste Sohn eines Beamten, der verschiedene Regierungspositionen im Herzogtum Sachsen-Weißenfels bekleidete, bevor er 1743 in kursächs. Dienste trat u. mit seiner Familie nach Dresden zog. B. besuchte ab 1750 die Fürstenschule Schulpforta u. begann 1755 ein Studium der Rechtswissenschaften in Leipzig. Er wurde dort mit Lessing, Christian Ewald von Kleist u. Christian Felix Weiße bekannt; Gellert gehörte zu seinen akadem. Lehrern. Kurz vor Studienabschluss erhielt B. die Zusage für eine Stelle als Regierungsrat in Merseburg, die er aber nicht mehr antreten konnte, denn er starb, kaum 20-jährig, während eines Besuches bei seiner Familie in Dresden. B. vollendete zwei Stücke, die aufgrund ihres Themas einen markanten Punkt innerhalb der literar. Aufklärung darstellen. Beide Male lässt er einen ausgeklügelten Racheplan exerzieren, dessen tragischer Ausgang jeweils zeigt, wie die bürgerliche bzw. republikan. Gesellschaft zugrunde geht, wenn sie nur dogmatisch agiert u. sich nicht auf die Logik ihrer vernunftwidrigen Feinde einlässt. In seinem Erstlingswerk, dem bürgerl. Trauerspiel Der Freygeist (entstanden 1756/57. Er-

Brawe

stdr. 1758 im Anhang zur Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Neuausg. Lpz./Weißenfels 2002), schließt B. mit der Prosaform an Lessings Miß Sara Sampson an. Er inkorporiert die zeitgenöss. Diskussion über die Freigeisterei, die er als ein Kommunikationsproblem zwischen dem ehemals tugendhaften Clerdon u. dessen bestem Freund Granville schildert, der ihn wieder zum bekennenden Christen machen will. Der gegen Clerdon intrigierende Rächer Henley sorgt mit gezielten Verleumdungen dafür, dass das argumentatorische Hin u. Her tragisch endet. Formal ganz neue Wege beschreitet B. in seinem zweiten u. letzten Werk, dem Brutus (entstanden 1757/58. Erstdr. 1768 in der von Karl Wilhelm Ramler u. Karl Gotthelf Lessing besorgten Ausgabe der Trauerspiele des Herrn J. W. v. B. Neuausg. Lpz./Weißenfels 2007). Das Stück ist eines der ersten deutschsprachigen Blankversdramen u. zgl. das erste deutschsprachige Brutus-Drama überhaupt. In den histor. Kern, die Schlacht bei Philippi 42 v. Chr., webt B. einen komplexen Vater-SohnKonflikt ein, der wieder durch einen über Jahre durchgehaltenen Racheplan ausgelöst wird. Der vielschichtige Bau des Stücks zeigt eine deutl. Entwicklung gegenüber dem Freygeist. Die überzeugende Verknüpfung historischer Topoi mit dramat. Effekten, die expressive metaphor. Sprache u. die dynam. Blankverse mit mehrzeiligen Enjambements markieren einen gewichtigen Schritt für die Etablierung des klass. dt. Bühnenverses. Dass B. seine Rächer stets triumphal sterben lässt, führte bei der zeitgenöss. Kritik zu einigem Unverständnis. Es kann jedoch als Vorstufe des Sturm u. Drang gewertet werden, dass sich der junge Autor am stärksten für den Furor seiner Intriganten interessierte, die er mit interessanten Motiven ausstattete. Richtungweisend sind die Stücke auch dadurch, dass sie sich nicht mehr an französischen, sondern an engl. Vorbildern orientieren (v. a. Youngs The Revenge, ferner Moores The Gamester u. Addisons Cato). Der Freygeist erlebte eine Vielzahl von Ausgaben, darunter Übersetzungen ins Russische (1771), Dänische (1772) u. Französische (1785), u. gehörte im 18. Jh. zum Repertoire vieler größerer

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Schauspieltruppen. Der Brutus wurde gleich nach seinem Erscheinen von der Wiener Nationaltheaterbewegung für sich entdeckt u. 1770 am Kärntnertortheater zur Uraufführung gebracht. Das Stück setzte sich letztlich jedoch nicht durch, hauptsächlich wohl aufgrund des damals noch ungewohnten Verses. Literatur: August Sauer: J. W. v. B., der Schüler Lessings. Straßb./London 1878. – Robert R. Heitner: German Tragedy in the Age of Enlightenment. Berkeley/Los Angeles 1963, S. 170–231. Frank Fischer / Jörg Riemer

Brechbühl, Beat, * 28.7.1939 Oppligen. – Schriftsetzer u. Verleger; Verfasser von Lyrik, Prosa u. Jugendbüchern; Grafiker. B. lebt als freier Schriftsteller u. Bildermacher in Pfyn/Kt. Thurgau. In den Jahren 1978–1985 leitete der gelernte Schriftsetzer (u. spätere Herstellungsleiter im Diogenes Verlag in Zürich) den Zytglogge Verlag in Bern. 1980 gründete er den Verlag im Waldgut. Seine Arbeiten zeichnen sich aus durch einen vielseitigen u. unbändigen kreativen Spieltrieb u. die »systemfreie Offenheit allem Begegnenden gegenüber« (Peter von Matt). War B.s lyrisches Debüt (Spiele um Pan. Egnach 1962) noch der in der Schweizer Lyrik der Zeit verbreitet zu beobachtenden Metaphorik aus Natur u. Mythos verhaftet, versuchte er in Lakonische Reden (Stierstadt 1965), Schweizer Postkarten (in: Auf der Suche nach den Enden des Regenbogens. Zürich 1970) u. Branchen-Buch (Köln 1974) an die knappe u. pointierte, sprachbewusste Diktion engagierter Lyriker der sechziger Jahre anzuknüpfen. Zu eigenständigen Tönen (Gesunde Predigt eines Dorfbewohners. Zürich 1966. Die Bilder und Ich. Zürich 1968) fand B. aber v. a. in Einlassungen auf das »lange Gedicht«. Er schlug damit ähnliche Wege ein, wie Walter Höllerer sie in den »Thesen zum langen Gedicht« (Akzente, 2/1965) für lyr. Entwicklungen in der Bundesrepublik beschrieben hatte. Ausgehend von der Autorperson fragt B. nach der Verantwortung u. den Möglichkeiten des Ich in einer konfliktreichen Welt. Das Verhältnis zur Sprache klärt sich auf eine selbstverständliche u. einfach erscheinende Weise: Kommunikationsfähigkeit ist entscheidend,

gegen tradierte Formen muss nicht mehr aufbegehrt werden; die Sprache ist eine alltägliche, gegenwärtige, kann als »Parlando« oder »Aussprache« bezeichnet werden. B. ist sich klar über die Einmaligkeit u. vergängl. Chance jedes Lebens, seine Angst betrifft die »Sorglosigkeit, mit der das Leben vorübergeht / an unseren Türen und Städten, an unseren Körpern, / Jahren und Wünschen«. Die Entfaltung des Reichtums des Individuums im zeitlich bemessenen Jetzt ist der Anspruch, mit dem er der Wirklichkeit begegnet; es geht ihm darum, die Spannung aus Erwartung u. Erfüllung gegen bloßes Vorhandensein zu setzen. Er propagiert unprätentiös die »Lust an der Wirklichkeit«. Der unbändige Lebensanspruch gerät notwendig in Konflikt mit dem gesellschaftl. Umfeld. Aus der Reibung entstehen Gedichte, die über das lyr. Subjekt hinausweisend gesellschaftl. Erscheinungsformen der Gegenwart wie Technokratie, Besitzstreben u. zerstörer. Anmaßungen der Zivilisation infrage stellen. Die vom Autor selbst getroffene Auswahl für den Band Traumhämmer (Zürich/Köln 1977) bietet einen repräsentativen Querschnitt der lyr. Produktion aus zehn Jahren. Der Band Temperatursturz (Bern 1984) enthält u. a. bemerkenswerte zeitkrit. Balladen. Mit seinem 2001 in Zürich erschienenen Gedichtband vom absägen der berge beweist B. nicht nur die Konstanz u. Kohärenz seiner poetischen u. menschl. Positionen, sondern er erobert sich im Umgang mit der Form der Psalmen wiederum neue Ausdrucksmittel u. setzt damit einen weiteren Höhepunkt in seiner umfangreichen lyr. Produktion. Bekannt wurde B. mit dem immer wieder aufgelegten gesellschaftskrit. Kriminalroman Kneuss (Zürich 1970; 1977 verfilmt). Es folgten die Romane Nora und der Kümmerer (Düsseld. 1974) u. Mörmann und die Ängste des Genies (Düsseld. 1976), die auf närrische Weise, anarchisch aufbegehrend u. mit erotischem Spiel gesellschaftl. Übereinkünfte in Frage stellen. Der Band Die Glasfrau und andere merkwürdige Geschichten (Zürich 1985) lässt in scheinbar alltägl. Begebenheiten surreale Momente aufblitzen, die Gewohntes zu Ungewohntem verfremden. Erfolgreich ist B.

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auch mit seinen Kinderbüchern: Den Geschichten vom Schnüff (Zürich/Köln 1976) folgten die Schnüff-Geschichten Dschingis, Bommel und Tobias (Zürich 1986). B. ist Mitgl. des Deutschschweizer PENZentrums, dem er 1993–1999 als Präsident vorstand. Er erhielt zahlreiche, v. a. Schweizer Literaturpreise. Weitere Werke: Die Litanei v. den Bremsklötzen. Bern 1969. – Der geschlagene Hund pisst an die Säulen des Tempels. Zürich 1972. – Meine Füße lauf ich ab bis an die Knie. Pforzheim 1973. – Der Schrittmacher. Sportgedichte. Pforzheim 1974. – Draußen ein ähnl. Mond wie in China. Pfaffenweiler 1975. – B. B. Ein Werkbuch. Zürich 1975 (Textausw. u. Collagen). – Das Plumpsfieber. Zürich 1978. – Lady raucht Gras u. betrachtet ihre Beine. Pforzheim 1979. – Ein verhängtes Aug. Pforzheim 1982. – Die Nacht voller Martinshörner. Haiku u. Senryu. Pforzheim 1984. – Katzenspur, hohe Pfote. Pforzheim 1988. – Josef u. Elisa. Gümligen u. a. 1991. – Liebes Ungeheuer Sara. Zürich u. a. 1991. – Das Wesen des Sommers mit Zuckerfrau. Pforzheim 1991. – Auf dem Rücken des Sees. Weinfelden 1997 (zus. mit Simone Kappeler). – Fußreise mit Adolf Dietrich. Zürich 1999. – Der du die Regenpfeifer gemacht hast: dichten gen Himmel. St. Gallen 2000. – Ameisen füttern. Pforzheim 2000. – Gedichte für Frauen u. Balsaminen. Frauenfeld 2006. Literatur: Elsbeth Pulver: Die siebziger Jahre: Eine neue Schriftstellergeneration. In: Die zeitgenöss. Lit. in der Schweiz 1, Kindlers Literaturgesch. der Gegenwart. Hg. Manfred Gsteiger. Ffm. 1984. – Bruno Weder: B. B. In: KLG. – Uta Rupprecht: B. B. In: LGL. – Schweizer Literaturgesch. Die deutschsprachige Lit. im 20. Jh. Hg. Klaus Pezold. Lpz. 2007. Birgit Lönne

Brecht, Bert(olt), eigentl.: Eugen Berthold Friedrich B., auch: Berthold Eugen, Kinjeh, * 10.2.1898 Augsburg, † 14.8.1956 Berlin/DDR; Grabstätte: Berlin, Dorotheenstädtischer Friedhof. »Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern«, stilisierte B. in dem Gedicht Vom armen B. B. seine Herkunft, um sich von seiner Geburtsstadt Augsburg zu distanzieren. Der Vater Berthold Friedrich Brecht stammte aus Achern/Schwarzwald, war kaufmänn. Angestellter in Augsburg u. stieg 1914 zum kaufmänn. Direktor der Haindl’schen Papierfa-

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brik auf. Die Mutter Sophie, geb. Brezing, kam aus Schwaben. B.s Geburtsort, der seinen Glanz als frühbürgerl. Handelsmetropole verloren hatte u. gegenüber München u. Nürnberg provinziell geworden war, galt als Hauptstadt des schwäb. Landesteils von Bayern. Die schwäb. Mundart setzte B. in seinem poet. Werk zeitlebens produktiv um. Das Kind wuchs zunächst in klein-, dann gutbürgerl. Verhältnissen auf, erhielt aber vom Elternhaus, in dem es nur wenige Bücher gab, kaum literar. Anregungen. Die übliche Schulausbildung absolvierte B. als durchschnittl. Schüler. 1922 schrieb er rückblickend: »Die Volksschule langweilte mich vier Jahre. Während meines neunjährigen Eingewecktseins an einem Augsburger Realgymnasium gelang es mir nicht, meine Lehrer wesentlich zu fördern. Mein Sinn für Muße und Unabhängigkeit wurde von ihnen unermüdlich hervorgehoben.« Die enge Bindung des Unterrichts an die christl. Erziehung machte B. früh mit der Lutherbibel vertraut, deren Lektüre nachhaltigen Eindruck hinterließ u. das literar. Interesse in ihm weckte. Der Lateinunterricht konfrontierte ihn mit dem antiken Rom, das in seinem Werk als römische Tradition lebendig bleiben sollte. Die lat. Syntax, später von B. bewusst angewendet (Partizipialkonstruktionen, v. a. das Partizip Präsens), prägte den Duktus seiner Sprache nachhaltig. Nach dem Abitur 1917 schrieb sich B. in München als Student der Medizin u. der Naturwissenschaften ein, ohne jedoch das Studium ernsthaft aufzunehmen (1921 exmatrikuliert). Er war fest entschlossen, seine dichter. Neigungen beruflich zu verfolgen, verfasste Theaterkritiken u. besuchte das Theaterseminar von Artur Kutscher, das ihn zu seinem ersten Drama Baal anregte. Es gelang ihm, mit verschiedenen Verlagen Verträge abzuschließen. Die Abenteuer-Erzählung Bargan läßt es sein (Mchn. 1921) machte B. erstmals überregional bekannt. Sein Drama Trommeln in der Nacht, 1922 in München uraufgeführt, brachte ihm im selben Jahr den Kleist-Preis ein. Der Kritiker Herbert Ihering schrieb in seiner Laudatio: »Der vierundzwanzigjährige Dichter Bert Brecht hat über Nacht das dichterische Antlitz Deutschlands

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verändert.« Ein Dramaturgenvertrag an den Münchner Kammerspielen folgte (bis 1924). B., dem München zu konservativ u. nationalistisch wurde (SA-Aufmärsche, Hitlerputsch), zog es in die Metropole Berlin. Seit 1921 suchte er Kontakte zu Berliner Theatern, 1924 übersiedelte er endgültig in die Hauptstadt. Dort erhielt er am Deutschen Theater (Leitung: Max Reinhardt) die Stelle eines Dramaturgen u. konnte auch eigene Stücke inszenieren (1924–1926). Die Erfahrung der Großstadt, ihrer Anonymität u. ihrer versachlicht-veräußerlichten Lebensweise bestimmte von da an sein poet. Werk. Freundschaften mit linksgerichteten Künstlern u. Publizisten (Arnolt Bronnen, George Grosz, Fritz Sternberg, Sergej Tretjakow u. a.) brachten ihn zunehmend in Opposition zur Weimarer Republik. Dabei erkannte er, dass die ökonom. Verhältnisse u. der rasante techn. Fortschritt, den er als revolutionär einschätzte, die entscheidenden Bedingungen für das menschl. Zusammenleben bildeten. Zunehmend begann er, sich für die gesellschaftl. Zusammenhänge zu interessieren u. sie in seinem Werk zur Sprache zu bringen. Er nannte dies: »wie die Wirklichkeit selber sprechen«. Dies führte Ende der 1920er Jahre zu einer zunehmenden Politisierung B.s, die ihn auch in die Nähe des Marxismus, von ihm verstanden als Theorie der gesellschaftl. Wirklichkeit, brachte u. sein Interesse an Marx weckte, dessen Werke er sich weitgehend mündlich vermitteln ließ, u. a. durch den Besuch von Vorlesungen, die Karl Korsch, der 1926 wegen »Revisionismus« aus der KPD ausgeschlossen worden war, in Berlin anbot. 1924 hatte B. drei Kinder mit drei Frauen: den Sohn Frank (1919) mit der Jugendliebe Paula Banholzer, deren Eltern sich einer Heirat widersetzten; die Tochter Hanne (1923) mit der Sängerin Marianne Zoff, die er 1922 geheiratet hatte (1927 geschieden) u. den Sohn Stefan (1924) mit der Schauspielerin Helene Weigel, mit der er 1929 die Ehe einging; das vierte Kind B.s, die Tochter Barbara, brachte Weigel 1930 zur Welt. Die Beziehung zu Frauen, mit deren Liebe B. stets ein intensives Arbeitsverhältnis verband, spielte für seine Produktivität eine entschei-

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dende Rolle. Neben vielen weiteren (wechselnden) Mitarbeitern benötigte er sie für seine Arbeitsweise im Kollektiv. Indem B. die Poesie als »Ausdrucksmittel« eines bürgerl. Individuums ablehnte, versuchte er – nach dem Vorbild der Theaterarbeit – die dichter. Produktion vom Einzelnen abzulösen u. zum »Bau gemeinsamer Werke« zu gelangen. Seine wichtigsten Mitarbeiterinnen wurden die Lehrerin Elisabeth Hauptmann (ab 1925), die eine Anstellung als Lektorin beim Kiepenheuer Verlag erhielt, die Arbeitertochter Margarete Steffin (1931–1941) sowie die dänische Schauspielerin Ruth Berlau (ab 1933). 1928 brachte ihm die Uraufführung der Dreigroschenoper den durchschlagenden Erfolg in Berlin, ein Erfolg, der zur Legende wurde u. B. als »Stückeschreiber«, wie er sich gern nannte, durchsetzte. Die Spielstätte der Uraufführung, das Theater am Schiffbauerdamm, stand ihm von da an (bis 1932) für seine Experimente zur Verfügung. Daneben schuf B. mit den Komponisten Kurt Weill u. Paul Hindemith zusammen einen neuen Spieltypus, das »Lehrstück« (ein Neologismus B.s), das 1929 bei der »Deutschen Kammermusik Baden-Baden« mit dem Lindberghflug u. dem Lehrstück (später: Badener Lehrstück vom Einverständnis) erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Es handelte sich um ein Genre der »Neuen Musik«, die unter dem Schlagwort »Gebrauchsmusik« stand u. eine neue Verbindung von Dichtung u. Komposition herstellte sowie darüber hinaus die Trennung von Darstellern u. Publikum aufheben u. zu einem künstler. Gemeinschaftserlebnis führen sollte. Die freundschaftl. Verbindung zu Hanns Eisler, die 1930 einsetzte, führte zur Fortführung des avantgardist. Experiments in Berlin mit Die Maßnahme, ein Lehrstück, durch das B. (bis heute) als Kommunist identifiziert worden ist, obwohl er ein scharfer Kritiker der KPD-Politik war u. die KPD ihrerseits das Stück als »revisionistisch« ablehnte. Am Tag nach dem Reichstagsbrand (27.2.1933) ging B. mit seiner Familie in die Emigration. Nach verschiedenen Stationen (Prag, die Schweiz, Paris) bezog er im Dez. 1933 ein Haus bei Svendborg auf der dän. Insel Fünen. Hier lebte er mit Unterbre-

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chungen bis 1939. 1935 wurde ihm die dt. Staatsbürgerschaft aberkannt. Vom Publikum u. von der prakt. Theaterarbeit abgeschnitten, begann eine von außen aufgezwungene, intensive Phase seiner poet. Produktion. Sie stand fast ausschließlich im Dienst des antifaschist. Kampfes, dem er sich zus. mit Walter Benjamin, Karl Korsch, Hanns Eisler u. a. widmete. An der Öffentlichkeitsarbeit beteiligte sich B. z.B. als Mitherausgeber der Moskauer Exilzeitschrift »Das Wort«, in der er auch einen Teil seiner Arbeiten publizierte. Über Schweden (1939) u. Finnland (1940/41) flüchtete er vor dem sich ausbreitenden Krieg in die USA (Santa Monica, 1941–1947). Obwohl ihn sein Fluchtweg über die Sowjetunion führte – er ließ dort seine todkranke Mitarbeiterin Steffin zurück –, vermied er es, anders als z.B. der kommunistisch orientierte Schriftsteller Johannes R. Becher, sie zum Land seines Exils zu wählen. Seine Haltung zu Stalin u. der Eskalation dessen Terrors war widersprüchlich u. herausfordernd: Einerseits verurteilte er zwar Stalins Politik gegenüber Freunden (Walter Benjamin), andererseits rechtfertigte er dessen »Säuberungsaktionen« angesichts des zunehmenden Hitlerterrors sowie der Erwartung, dass Hitler die Sowjetunion überfallen werde u. nur Stalin der Garant für eine wirksame Verteidigung sei. Obwohl er auch rechtfertigende Kommentare zur Ermordung seines Freundes Tretjakow (1938) u. zu den Moskauer Prozessen abgab, fühlte er sich in der Sowjetunion mit Recht persönlich gefährdet, wurde er doch vom sowjet. Geheimdienst als »Linksabweichler« überwacht. Hinzu kam, dass er durch die – bereits 1934 auf dem »Allunionskongreß« formulierte – Kunstdoktrin des »Sozialistischen Realismus« keine Möglichkeit sah, dort seine Anschauungen durchzusetzen u. frei zu arbeiten. Die kapitalistischen USA, auf die er mit zunehmender Verachtung reagierte, waren für ihn das kleinere Übel. B.s Versuche, sich den amerikan. Verhältnissen anzupassen u. in Hollywood als Drehbuchautor tätig zu werden, hatten nur mäßigen Erfolg oder wurden, wie im Fall von Fritz Langs Film Hangmen Also Die vorsätzlich sabotiert. Als Autor u. Stückeschreiber

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konnte er sich nicht etablieren, da sich die amerikan. Kulturindustrie für B.s Theater nicht interessierte. Die Theaterarbeit mit Charles Laughton am Leben des Galilei (1945–1947) blieb Episode u. hatte beim Publikum auch nur mäßigen Erfolg. Stattdessen setzte er seine schriftstellerische Arbeit – u. a. mit Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Eric Bentley, Hanns Eisler, Paul Dessau – im Hinblick auf das Kriegsende u. die Rückkehr nach Deutschland fort. Die Rückkehr erfolgte 1947 über die Schweiz, in der er – trotz aller Bemühungen – kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht erhielt. Auch seine Pläne, sich in Salzburg als Regisseur oder gar Direktor der Festspiele zu etablieren, scheiterten an polit. Vorurteilen gegenüber dem Dichter. Da er zudem Einreiseverbot in die Westzonen hatte, blieb ihm 1949 nur der Ostsektor von Berlin, das vor der Teilung noch Berlin-Mitte war u. wo die wichtigsten Spielstätten angesiedelt waren. Seine 1950 erworbene österr. Staatsbürgerschaft sollte ihn für das gesamte Deutschland, an dessen Zustandekommen er bis zuletzt geglaubt hatte, offen halten. B. setzte sich zwar für den Aufbau des Sozialismus in der DDR ein, war jedoch von Beginn an der heftigste Kritiker der Methoden. Er vertrat prinzipiell eine Revolutionierung »von unten« (auch poetisch z.B. mit Die Tage der Kommune. 1949. Urauff. Bln./DDR 1956), kritisierte die Etablierung des Funktionärsstaats, den er nach dem 17. Juni 1953 als »Naziapparat« qualifizierte, u. versuchte – z.T. unter erhebl. Schwierigkeiten – seine Kunstauffassung gegen die des offiziell vertretenen »Sozialistischen Realismus« durchzusetzen. Obwohl B. außergewöhnl. Arbeitsbedingungen erhielt, die freilich in ganzem Umfang erst ab März 1954 mit der Überlassung des Theaters am Schiffbauerdamm gegeben waren, u. obwohl er offiziell geehrt wurde, wurden seine Arbeiten von der DDRKultusbürokratie u. vom Politbüro des SED (insbes. von Walter Ulbrich) während seiner Lebenszeit offen u. im Geheimen angegriffen, boykottiert, bespitzelt u. als unkünstlerisch bzw. »primitiv« abgelehnt. 1949 gründete Helene Weigel das »Berliner Ensemble« (BE), das bis 1954 als Gast unter

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misslichen Bedingungen im Deutschen Theater arbeiten musste. Mit dem BE bot sich für B. die Möglichkeit, durch Modellinszenierungen seiner u. fremder Stücke seine Vorstellungen von einem neuen »epischen Theater« zu realisieren. 1950 wurde er Mitgl. der Deutschen Akademie der Künste in Berlin/DDR, 1951 erhielt er den Nationalpreis der DDR, 1954 den Stalin-Friedenspreis. Obwohl B.s Bedeutung u. Wirkung im Wesentlichen auf den Dramen beruhen, umfasst sein Werk auch alle anderen Gattungen der Literatur: Lyrik, Erzählung, Roman, Epos (Versifizierung des Kommunistischen Manifests von Marx u. Engels), Tagebuch (in Form von montierten Journalen), literatur-, dramentheoretische u. philosophisch-gesellschaftl. Schriften sowie die Medien, Hörfunk (Der Lindberghflug. Radiolehrstück) u. Film (Kuhle Wampe. 1931). Das poet. Werk präsentiert sich als Zeitdichtung. Viele seiner Dichtungen stellen Gegenentwürfe zu bereits Vorhandenem (Tradition) dar u. sind zgl. Auseinandersetzungen mit Ereignissen der Zeit. Ihre Gültigkeit u. damit ihre prinzipielle Abgeschlossenheit als autonome Kunstwerke bestritt B. dadurch, dass er sie als Versuche (Name der Publikationsreihe der Werke seit 1930) deklarierte. Er bearbeitete, veränderte u. aktualisierte bei allen sich bietenden Gelegenheiten, sodass viele seiner Texte, in erster Linie der Stücke, in mehreren – z.T. radikal veränderten – Fassungen vorliegen, womit der »Werk«-Begriff der bürgerl. Ästhetik endgültig verabschiedet wurde. Andere Arbeiten blieben Fragmente (Buch der Wendungen. Der Tuiroman. Der Messingkauf. 1937–55) u. gewinnen gerade dadurch ihre eigentl. Bedeutung. Auch die Lyrik arbeitete B. für Ausgaben oder Drucke um u. fasste sie teilweise neu. Veränderung u. Veränderbarkeit sind die grundlegenden Kategorien für B.s Werk u. seine Inhalte. Literarisch beeinflusst wurde er schon früh durch Knut Hamsun, Gerhart Hauptmann, Frank Wedekind u. v. a. durch François Villon u. die »poètes maudits« Arthur Rimbaud u. Paul Verlaine. Wedekind, der im Ruf eines unsittl. Dichters stand, war für ihn als Dramatiker u. Lyriker Vorbild für sein antibürgerl. u. provozierendes Auftreten, das er von

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Beginn an pflegte u. später politisierte. Mit den Franzosen, v. a. mit dem Vaganten Villon, mit dessen Leben in Freiheit u. Unmoral, identifizierte B. seine anarchist. Haltung, die zunächst die Loslösung von seiner bürgerl. Herkunft förderte u. von ihm dann in den 1920er Jahren gesellschaftskritisch gewendet wurde. Ihre nachhaltige Wirkung bleibt auch in seinen späten Werken spürbar. Durch den Komiker Karl Valentin, in dessen Kabarett B. auftrat, lernte er die Durchschlagskraft volkstümlich-populärer Kunst sowie Parodie u. Satire kennen. Noch der späte B. kennzeichnete sich mit Vorliebe als »satirischen Schriftsteller«. Schon der 15-Jährige übte sich systematisch im Handwerk der Dichtung (dokumentiert im Tagebuch No. 10) u. mied von vornherein die – bei angehenden Dichtern übliche – »Ausdruckskunst«, die durch die Wiedergabe von persönl. Gefühlen, Erlebnissen, Gedanken geprägt ist. Um publiziert zu werden, schloss er sich – mit dem Kopieren von zeitgenössischen Mustern – dem »deutschen Aufbruch« in den Ersten Weltkrieg öffentlich an, während er privat polit. Desinteresse praktizierte. Bereits im Baal (1. Fassung 1918. Urauff. Lpz. 1923), der einen Augsburger »poet maudite« gleichen Namens zum Vorbild hatte, gelang B. in der Figur des Bohemiens u. Vagabunden die Gestaltung eines neuen Menschentypus: Baal ist der »Lebensverbraucher«, der sich u. andere Menschen rigoros »auslebt«. Als Ungläubiger u. Materialist weist er alle metaphys. Beruhigung von sich, als zynischer Lebensbejaher kostet er sein Leben u. das der ihm begegnenden Menschen in vollen Zügen aus u. vernichtet es: »Laßt euch nicht verführen! / Zu Fron und Ausgezehr! / Was kann euch Angst noch rühren? / Ihr sterbt mit allen Tieren / Und es kommt nichts nachher.« Auch das Stück Trommeln in der Nacht (1919) stellt eine Herausforderung an die bürgerl. Gesellschaft seiner Zeit dar. In der Form des expressionist. Heimkehrerdramas entwirft B. ein krit. Bild des Bürgertums, das das Kriegsende u. die (verratene proletarische) Revolution von 1918/19 dazu benutzt, seine Pfründe erneut zu sichern. Die Novemberrevolution u. die Spartakusaufstände qualifiziert B. über die

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Legende vom toten Soldaten, die im Stück vorgetragen wird, als Fortführung des Kriegs, der sich der Kriegsheimkehrer Kragler, zur Vernunft gekommen, verweigert. Theatralisch endet das Drama mit der erstmals angewendeten Technik der Desillusionierung: »Es ist gewöhnliches Theater. Es sind Bretter und ein Papiermond und dahinter die Fleischbank, die allein ist leibhaftig.« In Mann ist Mann (1924–26. Urauff. 1926) konfrontierte B. seine Zeit mit dem von ihr geschaffenen Typus des auswechselbaren Individuums, dem »Gummimenschen«. Angesiedelt im scheinbar fernen Indien, zeigt das Stück den Verlust der Persönlichkeit, wie ihn die kapitalist. Industriegesellschaft durch Anonymität, Arbeitsteilung u. Kulturindustrie hervorgebracht hat. Die »Verwandlung« des Packers Galy Gay in die »menschliche Kampfmaschine« Jeraiah Jip beurteilte B. zunächst (1. Fassung 1926) positiv. Indem der Mensch seine Individualität aufgibt u. den gesellschaftl. »Tod« stirbt, geht er in der Anonymität der Masse auf u. gewinnt sich »in seiner kleinsten Größe« neu zurück. Als Massenmensch meistert er die menschenverachtenden Realitäten dadurch, dass er sie auf sie selbst anwendet. Später konfrontiert mit den brutalen Schlägertrupps der Nationalsozialisten, veränderte B. die Figur ins Negative, indem er die Schlussszenen des Stücks 1931 neu bearbeitete. Jeraiah Jip wird das willenlose, unmenschl. Werkzeug der neuen Barbarei. Als Gegenentwurf zu John Gays Beggar’s Opera (1728) entstand 1928 das satir. Spektakel Die Dreigroschenoper mit der Musik von Kurt Weill. Sie zeigt die bürgerl. Gesellschaft als ausbeuterisches Raubsystem, das sich hinter der Maske der Wohlanständigkeit versteckt. Der Protagonist, der Räuber u. Mörder Macheath, Mackie Messer genannt, entwickelt den Hang, sein verbrecherisches Treiben durch bürgerl. Verhalten zu veredeln. Die typisch banale Handlung ist als Nummernoper mit eingestreuten Liedeinlagen realisiert. Die Einsicht in die Auswechselbarkeit von Bürger u. Räuber rettet Macheath am Ende vor dem Galgen: Die Gesellschaft kann ihre »Repräsentanten« nicht fallen lassen. Der Erfolg der Oper hängt we-

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sentlich mit Kurt Weills Vertonungen zusammen. Die Moritat von Mackie Messer oder das Lied der Seeräuberjenny wurden Schlager. Die Absicht des satirisch-krit. Stücks kehrt die Rezeption in ihr Gegenteil um: Am Ende der »Goldenen Zwanziger« feiert das Weimarer Bürgertum das Huren- u. Gangstermilieu der Oper als laszives Gesellschaftsspiel. Gegen B.s Versuche nach dem Zweiten Weltkrieg, durch Neufassungen der Songs das Stück auch auf die NS-Zeit zu beziehen, setzte sich der Unterhaltungswert der Oper erneut durch u. leitete B.s Nachkriegswirkung bruchlos ein. Ende der 1920er Jahre entwickelte B. den Spieltypus der Lehrstücke, den er – auch angesichts des Erfolgs der Dreigroschenoper – dem kulinar. Schautheater der Zeit entgegensetzte. Es handelt sich um eine (fast) geschlossene Stückfolge: Zu Lindberghflug u. Lehrsstück kommen Der Jasager (Urauff. Bln. 1930), Der Jasager und der Neinsager (Urauff. Bln. 1930), Die Maßnahme (Urauff. 1930), Die Ausnahme und die Regel (1930. Urauff. Givat Chaim/Palästina 1938) sowie später noch Die Horatier und die Kuriatier (1934. Urauff. Halle/DDR 1958) hinzu. B. wollte mit den Stücken die gewohnte Konsumentenhaltung des Zuschauers aufbrechen, zunächst im Hinblick auf die Distributionsfunktion der neuen Medien (Rundfunk), die er wieder in Kommunikationsapparate verwandeln wollte, dann im Hinblick auf den Zuschauer selbst, der in einen Mitspieler verwandelt werden sollte – mit der Konsequenz, dass das Lehrstück auch ohne Publikum auskommen konnte. Verbunden damit ist die Theorie einer politischästhet. Erziehung, mit der die Darstellenden angehalten werden, indem sie in gezielt einfacher Handlung realisierte Experimentalsituationen durchspielen (meist Grenzsituationen), um Einsichten (damals »Lehren« genannt) in ihr eigenes Verhalten zu den gesellschaftl. Realitäten zu gewinnen. Die Lehrstücke mussten Episode bleiben, weil die polit. Zustände am Ende der Weimarer Republik eine angemessene prakt. Umsetzung der Stücke verhinderten. Ihre künstlerische wie spieler. Radikalität ist bis heute nicht eingeholt.

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Das erste Stück, das eine ökonom. Spekulation, die weder die Betroffenen noch die Akteure verstehen, zum eigentl. Helden der Handlung macht, ist Die heilige Johanna der Schlachthöfe (1929–31). Es basiert auf alten Plänen, die Hintergründe der kapitalist. Ausbeutung u. die Vorgänge an der Börse dramatisch zu veranschaulichen u. verband sie mit der Geschichte des Heilsarmee-Mädchens Johanna Dark. Johanna will die Ursachen für das Elend der Arbeitermassen in Chicago ergründen u. stößt dabei auf die menschenverachtenden Verhältnisse ihrer Gesellschaft. Ihr Entschluss, sich den streikenden Arbeitern anzuschließen, scheitert an ihrer Schwäche. Sie verrät den Streik u. kann dadurch von den Ausbeutern als Retterin des Systems glorifiziert u. heiliggesprochen werden. Ihre Einsicht, dass nur Gewalt hilft, wo Gewalt herrscht, kommt zu spät. Die heilige Johanna wurde am Ende der Weimarer Republik nicht mehr aufgeführt. Die späte Uraufführung durch Gustaf Gründgens 1959 in Hamburg jedoch setzte das Werk postum als »klassisches« Werk B.s durch. Gleichzeitig entwickelte B. mit der Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1929/30) seine sog. »Theorie vom epischen Theater«, die er freilich nicht systematisch ausführte u. bei der Theaterarbeit grundsätzlich nicht bemühte. Er stellte dem »Handelnden« der dramat. Form das »Erzählende« der epischen Form des Theaters gegenüber. Gegen die Verwicklung des Zuschauers in die Aktion setzte er dessen betrachtend distanzierte Haltung. Die Vermittlung des bloßen Erlebnisses ersetzte er durch die eines reflektierenden Beobachtens, das Gefühl durch die Ratio, freilich nicht ohne zu betonen, dass es sich nicht um nicht um starre Gegensätze, sondern um Akzentverschiebungen handle. In Die Mutter (1931. Urauff. Bln. 1932), einer Dramatisierung des Romans von Maxim Gorki (1907), wählte B. erstmals konsequent eine Dramaturgie, die die »Einfühlung« des Zuschauers in die dramat. Figur nicht ausschloss, jedoch durch Illusionsbrüche sowie erzählend-distanzierte Darstellungsweisen auch zu Kritik u. Reflexion führte. B. strebte keine Gefühllosigkeit oder bloß rationale Haltung an, sondern versuchte ein neues

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Gefühl zu provozieren, das die dargestellten Figuren u. Vorgänge nicht mehr bewusstlos hinnahm, das vielmehr aus reflektierter Einsicht u. bewusstem Verständnis zu Engagement u. Parteinahme herausforderte. Ab 1936 benutzte B. für die Beschreibung seines »epischen Theaters« den Begriff der »Verfremdung« bzw. (für die darstellerischen Mittel) den des »Verfremdungs-Effekts« (auch »V-Effekt« genannt). B.s Definition lautet: »Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden, heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen« (Über experimentelles Theater. 1939). Gemeint ist eine Absage an alle »Widerspiegelung«, die bloß abbildet, was ohnehin sichtbar ist. Durch bewusst eingesetzte ästhet. Mittel sollen vielmehr die »Vorgänge hinter den Vorgängen« veranschaulicht u. so als die eigentl. Wirkungskräfte von Realität ins künstler. Bild gebracht werden (Sichtbarmachung des gesellschaftlich Unsichtbaren). Da die »Verfremdung« zgl. den Kunstcharakter der Darstellung betont, konkret im Drama: das Spiel auf der Bühne als eingeübtes u. künstlerisch gestaltetes Spiel regelrecht ausstellt, haben die Verfremdungs-Effekte zgl. die Tendenz zum Komischen. Freilich meint Komik hier nicht traditionell das auf einem Missverhältnis von Sein u. Schein basierende Lachen, sondern die Darstellung von gegenwärtigen, noch wirksamen Verhältnissen vom Standpunkt einer »zukünftigen Epoche« aus, u. zwar so, dass ihr »Ernst«, den sie (noch) beanspruchen, als bereits vergangen u. deshalb als überholt bzw. als bloße Anmaßung denunziert wird. Was historisch überlebt ist, wirkt – erhebt es den Anspruch, noch gültig zu sein – zum Lachen bzw. lächerlich. B. prägte nach dem Krieg (1948) dafür den Begriff des »gesellschaftlich Komischen«. Die Theorie des »epischen Theaters« ist verbunden mit der Ausarbeitung eines eigenen Realismus-Konzepts, das B. v. a. während der Exilzeit u. in Auseinandersetzung mit der Position von Georg Lukács (sog. »Expressionismusdebatte«, 1938) entwickelte. Sein Leitsatz »Über literarische Formen muß man

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die Realität befragen, nicht die Ästhetik, auch nicht die des Realismus« wendet sich gegen die Propagierung innerliterarischer Vorbilder u. fordert die Ausbildung von künstler. Formen nach den jeweiligen realen Gegebenheiten u. Möglichkeiten der Zeit, u. zwar auch deren Technik u. Massenmedien (Stichwort »Technifizierung« der Künste). B. betonte: »Dazu ist aber Kunst nötig.« Bestimmend bleibt, dass Kunst in erster Linie Vergnügen (auch häufig »Spaß« genannt) bereiten muss: »Ein Theater, in dem man nicht lachen kann, ist ein Theater, über das man lachen soll.« B.s Exil-Stücke entstanden weitgehend ohne Kontakt zum Theater u. konnten dadurch, da B. meinte, dass erst die Bühne über den Abschluss eines Stücks entscheiden könnte, nicht fertiggestellt werden, sodass alle, von der traditionellen Forschung als die »großen epischen Dramen« eingeschätzten Stücke des Exils unerprobte Texte, d.h. unfertig, sind. »Das Wichtige war der Theaterabend, der Text hatte ihn lediglich zu ermöglichen; in der Aufführung fand der Verschleiß des Textes statt, er ging in ihr auf wie das Pulver im Feuerwerk!« (Aufbau einer Rolle. 1955). Theaterabende aber fanden im Exil nur in Ausnahmefällen statt. Mit Leben des Galilei (1. Fassung 1938/39. Urauff. Zürich 1943) kehrte B. mit der Form der dramat. Biografie teilweise zur traditionellen Dramatik zurück. Die histor. Größe der Titelfigur steht spannungsvoll gegen die Verurteilung ihres Verrats an der Wissenschaft. B. deutete Galileis Widerruf vor der Inquisition in der ersten Fassung als Selbstauslöschung des Wissenschaftlers. Galileis Erkenntnisse werden »enteignet«, die Wissenschaft muss sich ohne ihn durchsetzen. B.s damalige Annahme, dass sich die wiss. Wahrheit unabhängig von der Person, die sie entdeckt, verbreitet, wurde desillusioniert, als die neue Wissenschaft der Physik in Gestalt der Atombombe Weltgeschichte machte. Der Galilei der ersten Fassung wurde in der Neubearbeitung des Stücks mit Charles Laughton als Verbrecher u. Verräter seiner Wissenschaft gebrandmarkt. Er figuriert im histor. Fall den prinzipiellen »Sündenfall« der Physik: Die Wissenschaft verkauft sich an die Politik u. überlässt ihr die Anwendung.

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»Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschritt von der Menschheit weg sein. Die Kluft zwischen euch und ihr kann eines Tages so groß werden, daß euer Jubelschrei über irgendeine neue Errungenschaft von einem universalen Entsetzensschrei beantwortet werden könnte.« Mit Mutter Courage und ihre Kinder schrieb B. 1939 sein zum »Klassiker« gewordenes Antikriegsstück (Urauff. Zürich 1941). In der Übernahme einer Figur von Grimmelshausen zeichnete er den Weg der Marketenderin Anna Fierling durch den Dreißigjährigen Krieg nach u. mit ihm den Krieg als »Fortsetzung der Geschäfte mit anderen Mitteln«. Die Versuche der Courage, am Krieg »ihren Schnitt« zu machen, bezahlt sie mit dem Verlust ihrer drei Kinder u. ihrer Habe. Ohne Einsicht, dass sie mit ihrem Verhalten den Krieg unterstützt u. am »Leben« erhält, zieht sie am Ende allein weiter, Täterin u. Opfer zugleich. Das Stück wendet als »Chronik« die epische Technik konsequent an. Im Couragemodell 1949, der ersten Arbeit des BEs, hielt B. seine Vorstellung vom Stück musterhaft fest. Die Inszenierung von 1949, bei der B. selbst Regie führte, wurde der durchschlagende Publikumserfolg u. leitete die Weltgeltung des »epischen Theaters« ein (u. a. durch das Gastspiel 1954 in Paris). Von der DDR-Kritik freilich wurde Helene Weigels Spiel in der Titelrolle als »Niobetragödie« aufgenommen, ihre Verkörperung als »erschütternde Lebenskraft des Muttertiers« angesehen, was weder Weigels Darstellung noch dem Text entsprach. Das Schlussbild – die Courage spannt sich allein vor ihren Wagen u. zieht ihn mit schwerem Schritt im Kreis der Drehbühne – erlangte den Ruhm einer archetyp. Darstellung menschl. Leidens u. menschl. Ausweglosigkeit. Der gute Mensch von Sezuan (1939–41. Urauff. Zürich 1943) gestaltet die Handlung als gesellschaftswiss. Experiment, angesiedelt in einem scheinbar fernen, poet. China. Drei Götter kommen auf die Erde u. wollen ihre Welt als gute Einrichtung gerechtfertigt sehen, wenn auf ihr ein guter Mensch leben kann. Sie finden zwar in der Prostituierten Shen Te ihren guten Menschen, sie kann je-

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doch die Güte nur durch ihre Verwandlung in den bösen Vetter Shui Ta gesellschaftlich durchsetzen. Im Verlauf der Handlung dominiert die Maskierung des Shui Ta immer mehr, bis Shen Te hinter ihr ganz verschwindet. In einer abschließenden Gerichtsverhandlung entdecken die Götter in Shui Ta ihren guten Menschen, verschwinden in ihr Jenseits, überlassen Shen Te sich selbst u. ihrer gesellschaftl. Ächtung. Der Epilog überantwortet den (nur scheinbar) »offenen Schluß« den Zuschauern u. hält sie an, selbst das gute Ende zu finden, und zwar in ihrer eigenen sozialen Wirklichkeit. Theatralisch greift B. auf das Muster der Renaissance-Komödie u. der Hosenrolle zurück. Die Doppelrolle der Shen Te soll zeigen, dass in kapitalist. Verhältnissen der Mensch nur in der Rolle des Ausbeuters u. Menschenschinders überleben kann, die Frau folglich, will sie durchkommen, zum besten Mann werden muss (Kritik des traditionellen Patriarchats). Die Entrückung des Geschehens in die chines. Fremde sowie die Maskierung der Hauptfigur stellen die theatralisch anschaulichste Form der B.’schen »Verfremdungs-Theorie« dar. Eine weitere archetyp. Figur schuf B. in seiner Komödie Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940. Urauff. Zürich 1948), die im finnischen Exil entstand u. auf ein Erlebnis seiner Gastgeberin Hella Wuolijoki zurückging. Puntila, Besitzer eines Gutshofs, pflegt sich in betrunkenem Zustand mit seinem Gesinde »gemein« zu machen, um dann in den »Anfällen von Nüchternheit« seine bewusstlosen Entschlüsse wieder zurückzunehmen. Gegenspieler ist der – in feudalen Verhältnissen Finnlands – als Proletarier gezeichnete Knecht Matti, der Puntila durchschaut u. ihn am Ende verlässt. Obwohl B. Puntilas trunkene Kumpanei als das nur scheinbar menschl. Antlitz rücksichtsloser Willkürherrschaft entlarven wollte, hat sie im Gegenteil gerade als Ausdruck seiner eigentl. Freundlichkeit u. Menschlichkeit gewirkt. Als Gestaltung (angeblich) urwüchsiger volkstüml. Lebenskraft nahmen Kritik u. Publikum das Stück ab 1949 auf, das B. zu einem seiner nachhaltigsten Theatererfolge verhalf.

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Als Parabel einer mögl. Erneuerung der gesellschaftl. Verhältnisse im Nachkriegsdeutschland verfasste B. am Kriegsende den Kaukasischen Kreidekreis (1944. Urauff. Northfield/Minnesota 1948). In der Leidensgeschichte der Magd Grusche, die das Kind ihrer Herrschaft rettet u. als eigenes aufzieht, thematisiert das Stück das Besitzrecht der Arbeitenden u. Dienenden am »Produkt« ihrer Tätigkeiten. In der Kreidekreisprobe nach dem bibl. Muster Salomos erhält am Ende nicht die leibl. Mutter das Kind zugesprochen, sondern Grusche, die es aufgezogen u. damit zu »ihrem« Kind gemacht hat: »Daß da gehören soll, was da ist, denen, die für es gut sind, also / Die Kinder den Mütterlichen, damit sie gedeihen / Die Wagen den guten Fahrern, damit gut gefahren wird / Und das Tal den Bewässerern, damit es Frucht bringt.« Die dramat. Tätigkeit B.s nach dem Krieg war hauptsächlich von prakt. Theaterarbeit bestimmt, die sich in vielfältigen Bearbeitungen u. Modellinszenierungen fremder Stücke niederschlug: Die Antigone des Sophokles (1948. Urauff. Chur 1948), Der Hofmeister nach Lenz (1949. Urauff. Bln./DDR 1950), Coriolan nach Shakespeare (1950/51. Urauff. Bln./DDR 1962), Don Juan nach Molière (1952–54. Urauff. Rostock 1950) u. a. Die Arbeit galt in erster Linie der Wiederherstellung eines »Standards« in der Schauspielkunst. Diese sah B. in der »Ästhetisierung der Politik« durch das »Einfühlungs- und SuggestionsTheater«, das die Nationalsozialisten in der alltägl. Wirklichkeit mit aller Rücksichtslosigkeit gespielt hatten, als grundsätzlich korrumpiert an. Dieser Ästhetisierung der Politik stellte B. seine »Politisierung der Ästhetik« entgegen, die das Ziel haben sollte, nach der Erfahrung der Barbarei zu einem menschlicheren Zusammenleben zu kommen. Mit über 2300 Gedichten war B. der produktivste Lyriker seiner Zeit u. – nach Goethe – in der dt. Literaturgeschichte überhaupt. Obwohl er auch in der Lyrik den »Ausdruck« von Persönlichkeit mied, die übliche lyr. Gefühlshaftigkeit u. Stimmung missachtete u. keinen einheitlich gestimmten subjektiven Ton entwickelte, gewinnen seine Gedichte

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durch Vielfalt an Motiven, Bildern, Sprache u. durch themat. Reichtum ihre unverwechselbare Eigenart, ohne den lyr. Ton grundsätzl. zu verleugnen. So schrieb er Gedichte über Alltägliches, Frivoles, Obszönes u. PolitischBrisantes, nahm aber auch traditionelle Themen der Lyrik auf u. brachte sie in neue, überraschende u. provozierende Zusammenhänge. Satire u. Parodie gehören ebenso zum Erscheinungsbild von B.s Lyrik wie polit. u. humanes Engagement sowie die B. eigene Freundlichkeit. Das Besondere seiner Lyrik, v. a. der frühen, ist durch ihre Sprechbarkeit bzw. Sangbarkeit markiert. Die Texte entstanden vorwiegend zur Klampfe, häufig in geselliger Runde u. als spontane Erfindung oder auch als Parodie u. Satire. Selbst das berühmte »sentimentale« Gedicht Erinnerung an die Marie A. (in: Hauspostille. Bln. 1927) greift in Text u. Melodie auf einen populären Schlager der Zeit zurück u. parodiert ihn. B. wünschte sich seine Lyrik in den Köpfen, nicht auf dem Papier, u. förderte ihre produktive Weiterentwicklung, so als ob es sich um volkstüml. Liedgut handelte. Nur wer persönlich verschwinde, meinte B., der halte sich. B. erreichte dies – bis heute – dadurch, dass die Songs (mit Weill) u. die Kampflieder (mit Eisler) weltweit zum anonymen Liedgut, das in nicht wenigen Fällen auch weitergedichtet wurde, gehören. B. verfügte über alle wesentl. Formen der Lyrik: Er übernahm mit Hexametern u. Odenstrophen antike Metren (Das Manifest. 1945–55. Beim Lesen des Horaz), dichtete mit Kinderreimen u. Knittelversen in volkstüml. Liedformen (Kinderlieder. 1934 u. 1937, 1951), übernahm die klassisch-antike Epigrammatik (Kriegsfibel. Bln./DDR 1955), schuf mit Sonetten, Balladen klass. Gedichtformen (Augsburger Sonette. 1925–27. Ffm. 1960), schrieb »reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen« (Deutsche Satiren. In: Svendborger Gedichte. London 1939), freie epigrammat., wie Graffitis gestaltete Gedichte (Deutsche Kriegsfibel. 1937), Erzählgedichte (Legende von der Entstehung des Buches Taoteking. In: Svendborger Gedichte) bis hin zu Prosagedichten (Psalmen. In: Hauspostille), zu Gedichten in Zwei-Wort-Versen (Vergnügungen. Um 1954) u. zu Wandinschriften (Theater. Um 1955).

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Die Texte wurden in der Regel distanziert u. versachlicht präsentiert, indem B. die Strophen durchzählte u. im Vortrag die Strophenkennziffer als Ordinalzahl mitsprach. Viele seiner Gedichte publizierte B. als Lieder mit Noten. Wenn er sie nicht selbst vertonte, schrieb er sie häufig zur Vertonung durch andere oder regte Neuinstrumentierungen an; oder sie wurden auch unabhängig von ihm mit Kompositionen versehen, noch heute eine weltweit verbreitete Praxis (z.B. in Japan). Seine wichtigsten Komponisten waren Franz S. Bruinier (Erinnerung an die Marie A.), Kurt Weill (Das Lied vom Surabaya-Johnny), Hanns Eisler (Die Ballade vom Wasserrad), Paul Dessau (Der Mann-ist-Mann-Song) u. Rudolf Wagner-Régeny (Lied der Melinda). B.s polit. Lyrik, insbes. die der Exilzeit, hat die dt. Lyrik einschneidend verändert u. zgl. ihre Ausdrucksmöglichkeiten um neue Dimensionen erweitert. B. integrierte in ihr persönl. Betroffenheit, Zeitthematik, gesellschaftskrit. Engagement u. humane Anteilnahme (An die Nachgeborenen. In: Svendborger Gedichte). Diese Gedichte wurden Vorbild für die Politisierung der Lyrik in der Bundesrepublik der 1960er Jahre, die unter dem Schlagwort »Veränderung der Lyrik« stand. B. publizierte drei große Gedichtsammlungen: 1927 Bert Brechts Hauspostille, 1934, zus. mit Hanns Eisler, Lieder Gedichte Chöre (Paris) u. 1939 die Svendborger Gedichte. Die erste Sammlung parodiert das luth. Vorbild in Anordnung (Einteilung in »Lektionen« mit den Gedichten als »Kapiteln«) u. Thematik (vitalist. Grundhaltung). Mit ihr zog B. die Summe seines lyr. Frühwerks. Sie enthält – abgesehen von der späten Lyrik – seine lyrischsten Gedichte. Als antifaschist. Liederbuch machte die zweite Anthologie (auch) polit. Geschichte. Ihre Lieder, die z.T. bereits während der Weimarer Republik in der Arbeiterbewegung verbreitet waren, setzten sich als Massenlieder durch. Sie wurden u. a. im Spanischen Bürgerkrieg im alltägl. Kampf gesungen oder von Exilsendern gegen die Nationalsozialisten ausgestrahlt (z.B. Das Einheitsfrontlied). Die letzte Sammlung vereinigt die polit. Lyrik des skandinav. Exils. Der Wechsel der Formen (vom Epigramm bis zum Erzählgedicht), der themat. Reichtum (vom

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antiken Mythos bis zur polit. Zeitsatire) u. die Vielfalt des lyr. Gestus (von der engagiertbissigen Tonlage bis zum persönlich gestimmten Ton) bestimmen ihr Bild u. zeichnen sie als eine der wichtigsten Gedichtsammlungen des 20. Jh. aus. Die letzte Sammlung, die Buckower Elegien (1953), blieb ein Torso, da die (meisten) Gedichte zynische bzw. aggressive Kommentare zu den Ereignissen des 17. Juni 1953 formulierten u. B. sie aus polit. Gründen – er befürchtete, das Theater am Schiffbauerdamm nicht zu erhalten – zurückhielt, sodass die Sammlung, die ohne Anordnung blieb, erst in den 1980er Jahren in ihrem ganzen Umfang bekannt wurde. Obwohl der Prosaist B. hinter den Stückeschreiber u. Lyriker zurücktritt, liegt auch mit seinem Prosawerk ein wesentl. Beitrag zur Literatur des 20. Jh. vor. Ein charakterist. Merkmal ist die eigenartige Distanz des Erzählers zum Erzählten u. die stete Bewusstheit, dass erzählt wird (»vermittelndes Erzählen«), eine Erzählweise, die B. in der Weimarer Republik ausbildete u. mit der er einen großen Bekanntheitsgrad erzielte, weil er seine Geschichten fast ausnahmslos in auflagenstarken Zeitungen oder Magazinen publizierte. Der Eindruck, dass B. ein »unbekannter Erzähler« sei, konnte nur dadurch entstehen, dass die Weimarer Prosa erst ab 1965 wieder gedruckt vorlag. Die Prosasatire Dreigroschenroman (1933/34. Amsterd. 1934) verknüpft traditionelle Erzählmuster (Kriminalroman) mit »technifizierter« Prosa nach dem Vorbild des Films. Der Tuiroman (1930–42. Ffm. 1967) stellt eine Auseinandersetzung mit der Haltung der Intellektuellen (von B. »Tuis« genannt) in der Weimarer Republik u. während des Faschismus dar u. knüpft mit seiner satir. Darstellungsweise an Swift an. Als groß angelegtes Projekt sollte er die Gattungen Roman, Epos, Erzählung, Lyrik, Drama u. Aufsatz miteinander vereinen, blieb jedoch Fragment. Die Kalendergeschichten (Bln. 1949) gehören zu den bekanntesten Geschichten der Nachkriegszeit u. sind in den Lesestoff der Schulen eingegangen. In ihnen verband B. volkstüml. Tradition (Johann Peter Hebel) u. gesellschaftskrit. Zeitthematik. In den Geschichten dominiert die

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Darstellung menschl. Freundlichkeit in schwierigen Zeiten. Wie sein gesamtes Werk dokumentieren sie B.s Überzeugung, dass die Kunst nur einer Instanz zu dienen habe: der Lebenskunst. B. hat überdies ein umfangreiches, aber völlig ungeordnetes u. zufälliges theoret. Werk hinterlassen (weitgehend Arbeitsnotizen): Auseinandersetzungen mit Literatur u. Kunst, Schriften zur Philosophie u. Ästhetik sowie v. a. die Schriften zum Theater, die in ihren häufig apodiktischen Formulierungen das poet. Werk überdeckt haben u. in seinem spezifisch ästhet. Charakter verkennen ließen. Die theoret. Hauptschrift stellt das Kleine Organon für das Theater (1948. Erstdr. Bln./ DDR 1949) dar, eine an Francis Bacons Novum Organon (1621) orientierte Aphorismensammlung, die B.s »episches Theater« als »Theater des wissenschaftlichen Zeitalters« neu bestimmt u. gegen die bürgerl. Unterhaltungsindustrie abgrenzt (»Zweig des bourgeoisen Rauschgifthandels«). Da das Organon als ein Bekenntnis B.s zu einem »wissenschaftlichen«, gänzlich der Ratio verpflichteten Theaters missverstanden wurde, hätte er die Schrift am liebsten zurückgezogen. Fragment geblieben ist das groß angelegte Projekt des Messingkaufs, ein Streitgespräch auf dem Theater über das Theater mit eingestreuten Übungsszenen, Gedichten u. theoret. Aufsätzen. Intensive Auseinandersetzungen mit den modernen Medien (Rundfunk/Film) führte B. im Dreigroschenprozeß (Bln. 1931) sowie mit seiner Radiotheorie, die allerdings nicht zu Lebzeiten publiziert wurde. Wie er mit seinem Theater eine neue, dem wiss. Standard der Zeit entsprechende Ästhetik einführen wollte, die in erster Linie den Zuschauer aus seiner passiven Konsumentenhaltung befreien sollte, so prangerte er mit seinen medientheoret. Schriften den Einsatz der modernen Apparate zugunsten seichter Unterhaltung u. Ablenkung an; Ziel war es, die Distribution (Zerstreuung) wieder durch Kommunikation zu ersetzen u. zgl. die – noch im Beginn liegende – Funktion der Medien, Lebensersatz zu produzieren, aufzudecken. Die Schriften zur Ästhetik, die erst 1967 durch die Ausgabe der Gesammelten Werke bekannt wurden, wirkten

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im Kontext der Studentenrevolte (1968) in der Bundesrepublik als Ersatzphilosophie für eine – weitgehend fehlende – marxistische Theorie; die wichtigsten Schriften, geschrieben um 1938 in der Auseinandersetzung mit Georg Lukács, beeinflussten wesentlich den Realismusbegriff in der Kunst u. Literatur der damaligen Zeit u. führten dazu, B. in erster Linie als Theoretiker zu rezipieren, dessen Werk den eigenen Überzeugungen weitgehend nicht standzuhalten schien. Die Kampagne »Brecht ist tot«, die 1978 einsetzte u. B. der Vereinfachung sowie eines oberflächl. Verständnisses von Kunst (als Vehikel von Propaganda u. »Lehre« im Dienst einer zweifelhaften Ideologie) zu überführen meinte, basiert auf der dominanten Rezeption der – durchaus nicht marxistischen – Theorie (im Sinn einer Weltanschauung) sowie der aus ihr abgeleiteten Überzeugung, mit Kunst u. Literatur zur Veränderung der (realen) Verhältnisse beitragen zu können: Die Enttäuschungen, die die gesellschaftl. Entwicklung in Deutschland mit sich brachte, wurden dem (ehemaligen) Lehrmeister als »Fehler« angelastet. Es war u. ist das Verdienst der Theater (in aller Welt), die Spielfreude der B.’schen Stücke stets neu entdeckt u. damit auch für ein heutiges Publikum bewahrt zu haben. B. zählt zu den »modernen Klassikern« der dt. Literatur, stellt aber insofern einen Sonderfall dar, als er mit seiner Entscheidung, in der DDR zu leben, zu arbeiten u. am Aufbau des Sozialismus mitzuwirken, für eine Weile zum Streitfall der Politik geworden war. In der Bundesrepublik galt er offiziell lange Zeit als kommunistischer Dichter, der Propaganda für die Unmenschlichkeit des Sozialismus machte. 1953, nach dem 17. Juni, sowie 1961 nach dem Mauerbau gab es regelrechte AntiBrecht-Kampagnen. Dennoch setzten v. a. die Theater u. das Publikum das Werk B.s durch u. sorgten dafür, dass er auch zum Schulbuchautor wurde u. seitdem nicht mehr aus dem Literatur-Kanon von Schule u. Hochschule wegzudenken ist. Sein Werk wurde jedoch nicht in seinem Sinn als Zeitdichtung, sondern als Ausdruck allgemein-menschl. Problematik interpretiert. Die DDR dagegen beanspruchte B. nach seinem Tod als »Na-

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tionaldichter«, kanonisierte sein Werk, v. a. die politisch engagierten Stücke (insbes. Die Mutter u. Die Gewehre der Frau Carrar. Urauff. Paris 1937) sowie seine Kampflieder, u. sorgte mit der Fortführung der Modellinszenierungen am BE für eine bis zu ihrem Ende fast ungebrochene Kontinuität von B.s Theaterarbeit. Einrichtungen wie das »Brecht-Zentrum der DDR«, dem in der Bundesrepublik trotz der ungebrochenen Popularität B.s nichts Vergleichbares entgegenstand, sahen sich im Dienst einer weltweiten Verbreitung eines dichter. Werks, das in der Verbindung von hoher poetischer Bedeutung u. politischgesellschaftl. Kritik in der dt. Literatur als einzigartig gelten muss. Obwohl nach dem Ende des Sozialismus von den dt. Intellektuellen u. den Feuilletons auch das Ende des B.’schen Werks erwartet wurde, ist sein Publikumserfolg – und zwar in allen Sparten – bis heute ungebrochen. 2006, im Jahr des 50. Todestags, wurde in Hamburg die nachhaltig wirkende Parole »Brecht lebt« ausgegeben (Ebelin u. Gerd Bucerius-Stiftung, Patriotische Gesellschaft von 1765) u. nicht nur im BE oder in Augsburg (ABC-Festival = Augsburg Brecht Connected; 2007 fortgeführt) mit B.s Texten massenwirksam selbst auf den Straßen gefeiert. Auch die offizielle Politik hat – spätestens 2006 – erkannt, dass B. nach Goethe der zweite große Dichter der Deutschen ist. Daran wird auch der neue, theologisch orientierte Neomarxismus in der ehemaligen DDR nichts ändern, der B. gern noch einmal als den Retter eines immer noch beschworenen Sozialismus vereinnahmen möchte. Ausgaben: Sammelausgaben: Werke. Hg. Werner Hecht u. a. 30 Bde. (= Große komm. Berliner u. Frankfurter Ausg.), Bln./Weimar/Ffm. 1988–98 bzw. 2000 (Bd. 1–10: Stücke. 10 Bde. in 11 Tln., 1988–97. Bd. 11–15: Gedichte. 5 Bde., 1988–95. Bd. 16–20: Prosa. 5 Bde., 1990–97. Bd. 21–25: Schr.en. 5 Bde. in 6 Tln., 1992–94. Bd. 26–27: Journale. 2 Bde., 1994. Bd. 28–30: Briefe. 3 Bde., 1998. Registerbd. 2000). – Dies.: 30 Bde. in 32 Tln. u. ein Begleith. (= Sonderausg. Ffm. 2003). – Ausgew. Werke in sechs Bdn. Jubiläumsausg. Hg. W. Hecht u. a. Ffm. 1998. Als Tb. 22005. – Teilausgaben: Versuche 1–8. Bln. 1930–33. – Ges. Werke. 2 Bde., London 1938 (= Malik-Ausg.). – Hundert Gedichte. 1918–50. Hg. Wieland Herzfelde. Bln./Weimar

Brecht 1951. – Erste Stücke. 2 Bde., Bln./Weimar 1953. 2 1955 – Versuche 9–15. Bln. 1949–57. – B. B.s Gedichte u. Lieder. Hg. Peter Suhrkamp. Ffm. 1956. Literatur: Handbücher, Periodika, Bibliografien: Gerhard Seidel: Bibliogr. B. B. Titelverz. Bd. 1: Deutschsprachige Veröffentlichungen aus den Jahren 1913–72. Bln./Weimar 1975. – Dreigroschenh. Augsb. 1994 ff. – Jan Knopf (Hg.): B.-Hdb. In fünf dn. Bd. 1: Stücke. Bd. 2: Gedichte. Bd. 3: Prosa, Filme, Drehbücher. Bd. 4: Schr.en, Journale, Briefe. Bd. 5: Register, Chronik, Materialien. Stgt./Weimar 2001–03. – Die Bibl. B. B.s. Ein komm. Verz. Hg. vom B.-B.-Archiv. Bln./Ffm. 2007. – Erinnerungen: Hanns Otto Münsterer: B. B. Erinnerungen aus den Jahren 1917–22. Mit Photos, Briefen u. Faksimiles. Zürich 1963. – Fritz Sternberg: Der Dichter u. die Ratio. Erinnerungen an B. B. Gött. 1963. – Hans Bunge: Fragen Sie mehr über B. Hanns Eisler im Gespräch. Mchn. 1970. – Arnolt Bronnen: Tage mit B. B. Gesch. einer unvollendeten Freundschaft. Bln./DDR 1973. – Werner Frisch u. K.W. Obermeier: B. in Augsburg. Erinnerungen, Dokumente, Texte, Fotos. Bln./Weimar 1975. 2 1997. – Herbert Ihering: B. B. hat das dichter. Antlitz Dtschld.s verändert. Ges. Kritiken zum Theater B.s. Hg. Klaus Völker. Mchn. 1980. – Paula Banholzer: So viel wie eine Liebe. Der unbekannte B. Erinnerungen u. Gespräche. Hg. Axel Poldner u. Willibald Eser. Mchn. 1981. – Walter Brecht: Unser Leben in Augsburg, damals. Erinnerungen. Ffm. 1984. – Ruth Berlau: B.s Lai-tu. Erinnerungen u. Notate. Hg. Hans Bunge. Darmst. 1985. – Eric Bentley: Erinnerungen an B. Bln. 1995. – Egon Monk: Auf dem Platz neben B. Erinnerungen an die ersten Jahre des Berliner Ensembles. Hann. 1997. – Joachim Lang u. Jürgen Hillesheim (Hg.): Denken heißt verändern. Erinnerungen an B. Augsb. 1998. – Manfred Wekwerth: Erinnern ist Leben. Eine dramat. Autobiogr. Lpz. 2000. – J. Hillesheim: B. B.s Augsburger Gesch.n. Biogr. Skizzen u. Bilder. Augsb. 2004. – Übergreifende Darstellungen, Gesamtdarstellungen: Walter Benjamin: Versuche über B. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Rolf Tiedemann. Ffm. 1966. Erw. Ausg. 1978. – Agnes Hüfner: B. in Frankreich 1930–63. Verbreitung, Aufnahme, Wirkung. Stgt. 1968. – Harald Engberg: B. auf Fünen. Exil in Dänemark 1933–39. Wuppertal 1974. – Helmut Müssener: Exil in Schweden. Polit. u. kulturelle Emigration nach 1933. Mchn. 1974. – Helfried W. Seliger: Das Amerikabild B. B.s. Bonn 1974. – Wolfgang Gersch: Film bei B. B. B.s prakt. u.theoret. Auseinandersetzung mit dem Film. Bln./DDR 1975. Mchn. 1975. – Gottfried Wagner: Weill u. B. Das musikal. Zeittheater. Mit einem Vorw. v. Lotte Lenya. Mchn.

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Das Weltvertrauen B.s findet in geistvoll u. schön gefügten Gedichten seinen Ausdruck. Dass die Muttersprache »verloren« ist, lassen sich die Gedichte kaum anmerken, von denen ihr Autor behauptet, dass sie »Brachland« bleiben müssen (»rohbeackert«). B. weiß sich »mit gutem Grund « von der dt. Sprache entfernt, aber nicht getrennt; ihr Loblied endet in den Versen: »und eine Syntax, ausgehämmert in den Qualen / einer Schandgeschichte / in eine Bachsche / Klaviatur«.

Brecht, Stefan, * 3.11.1924 Berlin. – Theaterkritiker u. Lyriker.

Alexander von Bormann / Red.

1933 emigrierte B. mit den Eltern Bertolt Brecht u. Helene Weigel durch halb Europa in die USA, wo er seit 1941 lebt; 1944 erhielt er die amerikan. Staatsbürgerschaft. B. promovierte in Philosophie u. ist Literatur- u. Theaterkritiker. Als Schauspieler arbeitete er u. a. bei Charles Ludlam u. Robert Wilson. B. lebt in New York u. Paris. Die Theaterbücher B.s sind material- u. kenntnisreich gearbeitet u. vermitteln nicht nur eine genaue Beobachtung der nichtoffiziellen New Yorker Theater- u. Tanzszene, sondern auch – etwa nach dem Muster von Lessings Hamburgischer Dramaturgie – eine Vielzahl von Kategorien für ein neues Theater (The Original Theatre of the City of New York. From the mid-60s to the mid-70s. Mehrere Bde., nur zwei publiziert. Ffm. 1978). B. unterstellt, dass die Funktionen des traditionellen Theaters vom Film übernommen wurden, u. geht radikal vom Regietheater neuen Typs aus, das im beschriebenen Jahrzehnt eine Blütezeit erlebte. Die Gedichte (Bln./Weimar 1984) sind zunächst vom lakonischen Ton des späten Bert Brecht beeinflusst: »Was ich angreife, / gleitet fort, / wo ich hingehe, / ist nichts, / Durchsichtbares / sehe ich, / mein Ort / liegt hinter mir.« Die knappen Verse sind immer wieder auf Pointen zugespitzt u. führen das epigrammat. Gedicht weiter: »die Welt gefällt mir, aber / in meiner Haut ist mir unwohl«. Zgl. gilt: »Ich trauere um meinen Vater / und freue mich, daß ich kräftig bin.«

Weitere Werke: Poems. San Francisco 1977. – Texte in: The Best of American Poetry. New York 1988. – 8th Avenue Poems. New York 2006.

Breckling, Friedrich, Fridericus, auch: Fridericus Brecklingius, Fredrik Brekling, Friedrich Brecling, F. B., M. F. B. H., * 5.2.1629 Handewitt, † 16.3.1711 Den Haag. – Lutherischer Prediger, Spiritualist. B. entstammte väterlicher- u. mütterlicherseits Pfarrerfamilien. Die Studien (von 1646 bis 1656) führten ihn u. a. nach Königsberg, Helmstedt, Wittenberg, Gießen (dort Schüler des Mediziners u. Böhme-Anhängers Johannes Tacke), Hamburg, Straßburg u. Rostock. In Hamburg wies ihm ein Laienkreis den Weg eines »Jüngers der Kreuzschule«. Die Entdeckung Johann Valentin Andreaes in Straßburg bereitete die Begegnung mit Ludwig Friedrich Gifftheil, Petrus Serrarius, Christian Hoburg u. Hermann Jungius 1656 vor. 1659 wurde B. Helfer des Vaters in Handewitt, 1660 wegen seiner Kritik der Unredlichkeit u. Untreue der Geistlichen suspendiert, floh er nach Amsterdam zu Johann Amos Comenius. 1660 wurde er luth. Prediger in Zwolle; Kirchenkritik wie Lebensführung führten 1668 zur Absetzung. Trotz prominenter Gönner blieb er ohne Amt u. bestritt (seit 1672 in Amsterdam, seit 1690 in Den Haag) seinen Lebensunterhalt u. a. als Korrektor, wurde aber auch von wohlwollender Seite – z.B. Elisabeth von Herford immer wieder; im Testament zus. mit G. Gichtel – finanziell unterstützt. B. verfasste über 50 Schriften, in denen er den Abfall von den Gesetzen Gottes in der

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Kirche leidenschaftlich kritisierte. Die auf ihn masius [...]. Hg. Friedrich Vollhardt. Tüb. 1997, gekommenen Nachlässe Gifftheils u. Joachim S. 179–234. – Sigmund v. Birken: Werke u. KorreBetkes mit vielen Manuskripten auch frühe- spondenz. Bd. 12: Briefw. mit Catharina Regina v. rer Spiritualisten u. Johann Georg Gichtels Greiffenberg. Hg. Hartmut Laufhütte u. a. Tüb. 2005, S. 23 f., 444–447 u. ö. Dietrich Blaufuß prägten v. a. die Schriften der 1660er Jahre in ihrer scharfen Obrigkeits-, aber auch Kirchenu. Sozialkritik. In den 1680er Jahren musste Bredel, Willi, * 2.5.1901 Hamburg, B. sich gegen Heterodoxievorwürfe verteidi† 27.10.1964 Berlin/DDR; Grabstätte: gen (Anti-Calovius, 1688). Für viele »Zeugen Zentralfriedhof Berlin-Friedrichsfelde. – der Wahrheit«, die ihn um Hilfe angingen, Romanautor, Erzähler u. Publizist. trat er auch literarisch ein, so durch seinen Catalogus testium veritatis in Gottfried Arnolds Der Sohn eines Tabakarbeiters war MetallKirchen- und Ketzer-Historie (Teil 3/4, dreher auf Hamburger Werften, wurde 1919 S. 1089–1110). Seine Autobiografie gewährt KPD-Mitgl. u. beteiligte sich 1923 am Hamtiefen Einblick in sein einzigartig umfang- burger Aufstand unter der Führung des mit reiches Netzwerk durch Korrespondenzen ihm befreundeten Ernst Thälmann. Nach (auch mit Sigmund von Birken, Gottlieb Verurteilung u. Amnestie ging B. 1926 für Spizel, Christian Thomasius) u. persönl. einige Monate zur See u. begann als ArbeiKontakte. Die letzten Jahren ließen B.s Bin- terkorrespondent für die »Hamburger dungen an die luth. Kirche wieder stärker Volkszeitung« zu schreiben, das Parteiorgan werden. der Hamburger KPD, dessen Redakteur er B. wirkte v. a. als Vermittler kirchenkriti- bald darauf wurde. 1930 wegen »Vorbereischer Elemente an den frühen Pietismus tung zum literarischen Landes- und Hochverrat« aufgrund eines Berichts über geheime nach. Weitere Werke: Veritatis triumphus. Amsterd. Rüstungsproduktion im Draeger-Werk Lü1660. – Christus triumphans sub Cruce. Amsterd. beck zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt, 1661. – Mysterium Iniquitatis. o. O. 1662. – Biblia begann B. im Gerichtsgefängnis Bergedorf Pauperum, Evangelium der Armen. o. O. 1662 seine ersten Romane zu schreiben. Vor allem (Forts.). – Regina Pecunia, Mundi Politica et Anti- B.s erster, in kurze Episoden aus dem Archristi Theologia. Freystadt 1663. 1664. Nürnb. beitsalltag unterteilter Roman Maschinenfa1690. – Korrespondenz: Estermann/Bürger, Tl. 2, brik N. & K. (Bln. 1930) war noch der EnthülS. 169–175 [62 Briefpartner]. – Philipp Jakob lungstechnik der ArbeiterkorrespondentenSpener: Schr.en. In: Bd. 11–16: Korrespondenz, Hildesh. 1987–1999 (z.B. Bd. 15/2, S. 104–114, Bewegung verpflichtet. Der Roman griff nach B.s eigenem Bekunden zurück auf seine Erpassim). – Ders.: Briefe. Tüb. 1992 ff. (Reg.). Ausgabe: Autobiogr. Ein frühneuzeitl. Ego-Do- fahrungen bei der Maschinenfabrik Nagel & kument im Spannungsfeld v. Spiritualismus, radi- Kaemp. B.s zweiter während der Festungskalem Pietismus u. Theosophie. Hg. u. komm. v. haft geschriebener Roman Rosenhofstraße (Bln. Johann Anselm Steiger. Tüb. 2005 (Lit. S. 117–129). 1931) schildert Leben, Arbeit u. Kämpfe einer Literatur: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 2, Hamburger KPD-Straßenzelle zur Zeit der S. 759–786. – Dietrich Blaufuß: Beziehungen F. B.s Weltwirtschaftskrise. Die Sozialfaschismusnach Süddtschld. Ein Beitr. zum Einfluß des radi- these der KPD, die das Buch anhand von kalen Pietismus im 17. Jh. In: ZKG 87 (1976), Auseinandersetzungen mit SPD-Arbeitern u. S. 244–279 ([ohne Briefe an G. Spizel] auch in: des Einsatzes der von der SPD-StadtverwalDers.: Korrespondierender Pietismus. Ausgew. tung geführten Polizei an der Seite von SABeiträge. Lpz. 2003, S. 255–277). – John Bruckner: Schlägertrupps zu belegen suchte, hat B. in B. In: BLSHL (mit Lit.). – D. Blaufuß: B. In: TRE späteren Auflagen im Sinne eines revolutio(handschriftl. Quellen, Lit.). – Reinhard Breymayer: Die wiederentdeckte ›Optima Politica‹ [...] v. Her- nierenden Lernprozesses der sozialdemokrat. mann Jung. In: Pietismus-Forsch. Hg. D. Blaufuß. Arbeiter zurückgenommen. In einer Reihe von 1931/32 in der »LinksFfm. 1986, S. 385–513. – Wilhelm Kühlmann: Frühaufklärung u. chiliast. Spiritualismus – F. B.s kurve« erschienenen Artikeln kritisierte GeBriefe an Christian Thomasius. In: Christian Tho- org Lukács die Reportage-Romane Ernst

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Ottwalts u. B.s als typische Produkte der Ar- Gesellschaft – Schema des traditionellen Erbeiterkorrespondenten-Bewegung, die keine ziehungsromans – auf den revolutionären wirkl. Gestalten, sondern nur Chargen, kei- Teil der dt. Arbeiterklasse übertragen. Daran nen Prozess, sondern nur Resultate u. – ohne ist im ersten Band die sozial-realist. Darstelliterar. Gestaltungsmittel – nur ein entstelltes lung des Hamburger Arbeiterlebens um 1900 Bild des Lebens geben können. Vorwürfe, die interessant geblieben. Lukács mit der damals für die kommunist. Weitere Werke: Marat, der Volksfreund. Hbg. Bewegung übelsten Beschimpfung, B.s u. 1926. – Der Eigentumsparagraph. Russ. Moskau Ottwalts literar. Methoden seien »trotzkis- 1933. Bln./DDR 1961 (R.). – Der Spitzel u. andere tisch«, abschloss. Rückblickend bildete diese Erzählungen. London u. Moskau 1936. – Die VitaArtikelserie in Ton u. Stil den Auftakt zur lienbrüder. Schwerin 1950 (R.). – Ernst Thälmann – Expressionismus- u. Realismusdebatte, die Sohn seiner Klasse. Urauff. 1953 (Drehb.). – Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse. Urauff. 1955 Ende der 1930er Jahre in der von B. – ge(Drehb.). – Ein neues Kapitel. 3 Bde., Bln./Weimar meinsam mit Brecht u. Lion Feuchtwanger – 1959–64 (R.). – Unter Türmen u. Masten. Gesch. herausgegebenen, von Fritz Erpenbeck redi- einer Stadt in Gesch.n. Schwerin 1960. – Faust auf gierten dt. Emigrantenzeitschrift »Das Wort« der Reeperbahn. Gesch.n. v. u. über W. B. Bln./DDR (Moskau 1936–39. Neudr. 11 Bde., Hilver- 1976. sum u. Zürich 1969) geführt wurde. Ausgabe: Ges. Werke in Einzelausg. Bln./DDR Von den Nationalsozialisten für 13 Monate 1962–76. im Konzentrationslager Fuhlsbüttel interLiteratur: W. B. Dokumente seines Lebens. niert, emigrierte B. 1934 über die CˇSR nach Bln./DDR 1961. – SuF, Sonderh. W. B. 1965. – Lilli Moskau. Sein Roman Die Prüfung (London u. Bock: W. B. – Leben u. Werk. Bln./DDR 1969. – Rolf Moskau 1935, in 14 Sprachen übers.) war der Richter: W. B. Ein dt. Weg im 20. Jh. Rostock 1998. erste international beachtete Roman über den – Brigitte Nestler: Bibliogr. W. B. Ffm. 1999. Johannes Schulz / Brigitte Nestler Terror in den faschist. Konzentrationslagern. Von 1937 an war B. auf Reisen in Frankreich u. Spanien, wo er als Kriegskommissar der Brehm, Alfred (Edmund), * 2.2.1829 UnInternationalen Brigaden am Bürgerkrieg ter-Renthendorf bei Gera, † 11.11.1884 teilnahm, den er in Begegnung am Ebro beUnter-Renthendorf bei Gera; Grabstätte: schrieb (Paris u. Kiew 1939. Neudr. in: Spaebd., Friedhof. – Zoologe u. Forschungsnienkrieg II. Bln./Weimar 1977. Neufassung reisender. Bln. 1948). B. kehrte, von 1943 an Mitgl. im Nationalkomitee Freies Deutschland, 1945 Der Sohn des luth. Pfarrers u. Ornithologen nach Berlin zurück, war Mitbegründer des Christian Ludwig Brehm nahm nach dem Kulturbundes zur demokratischen Erneue- Abbruch des Architekturstudiums in Dresden rung Deutschlands, Herausgeber der Zeit- als wiss. Mitarbeiter an mehreren Forschrift »Heute und Morgen« u. Chefredak- schungsreisen, darunter an einer Afrikaexteur der »Neuen deutschen Literatur«, des pedition (1847–1852), teil. Seine Eindrücke Organs des Schriftstellerverbandes der DDR. verarbeitete er in den dreibändigen ReiseskizVon 1954 an Mitgl. des ZK der SED, wurde B. zen aus Nordafrika, erschienen 1855 in Jena, wo 1956 Vizepräsident, 1962 Präsident der Aka- er auch das Studium der Naturwissenschaften demie der Künste der DDR. mit der Promotion abschloss (1.5.1855). In Neben seiner Biografie Ernst Thälmann (Bln. Leipzig – hier hatte er 1861 seine Kusine 1948), die als Freundesgabe aufzufassen ist, Mathilde Reiz geheiratet – arbeitete B. ab vollendete B. seine während des Krieges be- 1861 als Gymnasiallehrer u. publizierte in der gonnene Romantrilogie Verwandte und Be- »Gartenlaube« mehrere populär gehaltene kannte (Bd. 1: Die Väter. Moskau 1943; Bd. 2: naturwiss. Abhandlungen. Seine anschauliDie Söhne. Bln./DDR 1949; Bd. 3: Die Enkel. chen, einfühlsamen Schilderungen der TierBln./DDR 1953). Mit dieser Familiensaga welt zeigen den Einfluss der Darwin’schen wollte B. den Gegensatz u. die schließliche Abstammungslehre. Auch in seinem HauptVersöhnung von bürgerlichem Individuum u. werk, dem illustrierten Thierleben (6 Bde.,

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Hildburghausen 1864–69; zahlreiche Aufl.n u. Bearbeitungen), gab er ein scharf beobachtetes Bild der Natur. Trotz inzwischen partiell überholter Forschungslage u. seiner anthropomorphisierenden Tendenzen ist es als zoologisches Handbuch unvermindert populär geblieben. B. war als Direktor des Hamburger Zoologischen Gartens (1863–1866) u. des Aquariums in Berlin (1867–1874) an deren Ausbau maßgeblich beteiligt. Teilweise von der Redaktion der »Gartenlaube« finanzierte Forschungs- u. Vortragsreisen führten ihn nach Lappland, Westsibirien, auf die Pyrenäenhalbinsel u. 1883 nach Nordamerika. Weiteres Werk: Kleine Schr.en. Lpz. 1921. Neuausgabe: Reise zu den Kirgisen. Aus dem Sibirientgb. 1876. Hg. Hans-Peter Gensichen. Lpz. 1982. – Brehms Tierleben. Die schönsten Tiergesch.n. Ausgew., eingel. u. mit einem Nachw. vers. v. Roger Willemsen. Ffm. 2006. Literatur: Siegfried Schmitz: Tiervater B.: seine Reisen, sein Leben, sein Werk. Mchn. 1984. – Lothar Dittrich: A. E. B. In: DBE. Reinhard Tenberg / Red.

Brehm, Bruno (von), auch: B. Clemens, * 23.7.1892 Laibach/Krain, † 5.6.1974 Altaussee/Steiermark. – Romanschriftsteller. Der Sohn eines aus dem Egerland stammenden k. u. k. Hauptmanns studierte nach Gefangenschaft u. Verwundung im Ersten Weltkrieg in Wien Kunstgeschichte, war dann als Universitätsassistent, später im Verlagswesen u. als freier Schriftsteller tätig. Seit den frühen 1930er Jahren Nationalsozialist, wurde er 1938 Herausgeber der Zeitschrift »Der getreue Eckart« (Jg. 16–20, Wien 1938–42) u. erhielt mehrfach Auszeichnungen. Nach 1945 als NS-belastet in Haft genommen, nahm er nach seiner Entlassung Wohnsitz in Altaussee. 1958 erhielt B. den Nordgau-Kulturpreis der Stadt Amberg, 1962 den Rosegger-Preis des Landes Steiermark, 1963 den Sudetendeutschen Kulturpreis. B.s literar. Anfänge standen im Zeichen leichtgewichtiger Unterhaltungsschriftstellerei; sein ihm gemäßes Genre fand er im (zeit)histor. Roman mit der dreibändigen

Darstellung vom Untergang der Österr. Monarchie: Apis und Este. Ein Franz-FerdinandRoman (Mchn. 1931); B. entwickelt aus der Gegenüberstellung des serb. Verschwörers Oberst Dragutin Dimitrijevic (Apis) mit dem Erzherzog Franz Ferdinand von Este Ursachen u. Anlass des Ersten Weltkriegs. Das war das Ende. Von Brest-Litowsk bis Versailles (Mchn. 1932) verfolgt akribisch genau die militärischen u. polit. Ereignisse zwischen den Friedensschlüssen von Brest-Litowsk u. Versailles, u. Weder Kaiser noch König. Der Untergang der habsburgischen Monarchie (Mchn. 1933) gilt der unglückl. Rolle Kaiser Karls beim Verlust der österreichischen wie der ungar. Krone. B.s Perspektive ist – neben einer Ehrenrettung des österr. Heeres – bestimmt von großdeutsch-antihabsburgischer Einstellung u. Frontkämpfertum. Obwohl die Trilogie ein kaum verhülltes literar. Bekenntnis zur deutschvölkischen Gesinnungsgemeinschaft nationalsozialistischer Prägung darstellte, wurde sie 1951 in überarbeiteter Form u. d. T. Die Throne stürzen (Mchn. 1951. 1992) wiederaufgelegt u. fand in mehr als einer halben Million Exemplaren Verbreitung. Anfang der 1960er Jahre unternahm B. den Versuch, in einer weiteren groß angelegten Romantrilogie Das zwölfjährige Reich (Der Trommler. Graz/Wien/Köln 1960. Der böhmische Gefreite. Ebd. 1960. Wehe den Besiegten alle. Ebd. 1961) die Ursachen für Hitlers erfolgreichen Griff nach der Macht aufzuzeigen. Die drei die »Kampfzeit« Hitlers bis 1926, die Errichtung u. Festigung des nationalsozialist. Regimes 1933–1939 sowie den Zweiten Weltkrieg bis zum Atombombenabwurf auf Hiroshima u. Nagasaki nachzeichnenden Bände gaben sich nach außen hin als vorurteilsfreier Beitrag zur Bewältigung der Vergangenheit. Die vorgeblich quellentreuen, tatsächlich aber pseudo-authent. Geschichtsbilder waren allerdings geeignet, die Faszination jener Bewegung noch einmal wachzurufen u. zgl. eine in ihrer verharmlosenden Tendenz bedenkl. Rechtfertigungsideologie in Umlauf zu setzen. Weitere Werke: Der Sturm auf den Verlag. Wien 1925 (Pseud. Bruno Clemens; Humoreske). – Der lachende Gott. Mchn. 1928. Neuausg. u. d. T. ›Der fremde Gott‹. Graz 1948 (humorist. R.). – Su-

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165 sanne u. Marie. Mchn. 1929. Neufassung u. d. T. ›Auf Wiedersehn, Susanne!‹ Mchn. 1939 (Mädchenr.). – Das gelbe Ahornblatt. Ein Leben in Gesch.n. Karlsbad 1931 (autobiogr. E.en). – Zu früh u. zu spät. Das große Vorspiel der Befreiungskriege. Mchn. 1936. Neudr. Salzb. 1958 (histor. R.). – Die weiße Adlerfeder. Gesch.n aus meinem Leben. Mchn. 1937. – Tag der Erfüllung. Wien 1939 (28 Reden, Aufsätze u. Tagebucheintragungen). – Am Rande des Abgrunds. Von Lenin bis Truman. Graz 1950. – Heimat in Böhmen. Salzb. 1951 (autobiogr. E.en). – Am Ende stand Königgrätz. Histor. Roman um Preußen u. Österr. Graz/Wien/Köln 1965. Literatur: Siegfried Arbter: B. B.s Trilogie vom Weltkrieg. Diss. Wien 1939. – Gerd Schattner: Der Traum vom Reich der Mitte: B. B. Eine monograph. Darstellung zum operationalen Charakter des histor. Romans nach den Weltkriegen. Ffm. 1996. – Leopold R. G. Decloedt: ›Weder Kaiser noch König – sondern der Führer‹. Die Funktionalisierung der Gesch. bei B. B. In: Dichtung im Dritten Reich? Hg. Christiane Caemmerer u. Walter Delabar. Opladen 1996, S. 205–213. – Abdulkerim Uzagan: Fiktionalität u. Realität in der Romantrilogie ›Die Throne stürzen‹ v. B. B. Diss. Bielef. 1999. – Reinhard Nachtigal: Rudolf J. Kreutz, B. B. u. Jaroslav Hasek: drei Kriegsgefangene in Russland u. ihr Werk zwischen dichter. Freiheit u. histor. Wahrheit. In: Österr. in Gesch. u. Lit. 49 (2005), H. 2, S. 98–123. Ernst Fischer / Red.

Brehme, Christian, auch: Der Beständige, * 26.4.1613 Leipzig, † 10.9.1667 Dresden. – Lyriker u. Romancier. Der früh verwaiste Sohn eines Leipziger Baumeisters begann um 1630 ein juristisches Studium in Wittenberg u. wechselte dann nach Leipzig, wo er sich dem Lyrikerkreis um Paul Fleming u. Gottfried Finckelthaus anschloss. 1633 ließ sich der Lutheraner als Soldat anwerben u. diente in verschiedenen Regimentern. Mit der Berufung zum Geheimen Kammerdiener 1639 u. der Einstellung als Bibliothekar 1640 gelangte B. an den Dresdner Hof. Die Hofstellung u. seine zweite Ehe mit der Tochter des Dresdner Bürgermeisters Schäffer verschafften ihm Zugang in den Dresdner Stadtrat. Von seinen Pflichten als Hofbibliothekar 1654 entbunden – sein Nachfolger wurde David Schirmer –, avancierte B. als mehrmaliger Bürgermeister 1660 zum Kurfürstlichen Rat.

B.s Lyrik steht in enger Verbindung mit dem frühen Leipziger Dichterkreis, einem lose zusammengefügten Zirkel in der Nachfolge von Martin Opitz. Formal an Opitz orientiert, erlaubten sich die Leipziger, bes. B. u. Finckelthaus, größere Freiheiten. In z.T. volksliednahen, burschikosen Trink- u. Liebesliedern, die immer wieder zum vollen Sinnengenuss auffordern, geht B. über konventionelle Motive hinaus. Vornehmlich die Sammlung Allerhandt Lustige/ Trawrige/ und nach gelegenheit der Zeit vorgekommene Gedichte (Lpz. 1637. Nachdr. hg. v. Anthony J. Harper. Tüb. 1994) zeugt vom frischen u. z.T. frechen Ton des studentischen Freundeskreises. Eher für Eingeweihte schuf B., der sich gelegentlich als »der Beständige« titulierte, einen vierteiligen Schäferroman. Im Landadel angesiedelt, behandeln Die vier Tage Einer Newen und Lustigen Schäfferey, von der Schönen Coelinden Und Deroselben ergebenen Schäffer Corimbo (Dresden 1647. Tl. 1, Lpz. 1636 u. d. T. WinterTages Schäfferey) dessen (reale) Liebesabenteuer in pastoraler Verkleidung (vgl. Garber). Später veröffentlichte B. die dreiteiligen Christlichen Unterredungen (Dresden 1659/60). Die darin enthaltenen »Zwölff Geistlichen Gespräche« lassen, streng auf religiöse Erbauung gerichtet, von der früheren Lyrik nichts mehr erkennen. Weitere Werke: Art u. Weise Kurtze Brieflein zu schreiben [...] dazu kommen Etl. Geist- u. Weltl. Dichtereyen. Dresden/Lpz. 1640 (Teildr., Gedichte, in: Allerhand [...] Gedichte. Nachdr. Tüb. 1994). Literatur: Leichenpredigt v. Christopher Bulaeo. Dresden 1667. – Georg Beutel: Bürgermeister C. B. In: Dresdner Geschichtsbl. 2 (1900), S. 270–284. – Heinrich Meyer: Der dt. Schäferroman des 17. Jh. Dorpat 1928. – Arnold Hirsch: Bürgertum u. Barock im dt. Roman. Ffm. 1934. Köln/Wien 21957. – Klaus Garber: Der locus amoenus u. der locus terribilis. Köln/Wien 1974. – Anthony J. Harper: Leipzig poetry after Paul Fleming – a reasessment. In: Daphnis 5 (1976), S. 145–170. – Ders.: Schr.en zur Lyrik Leipzigs. 1620–70. Stgt. 1985. – Ders.: A man of many parts. Some thoughts on the career of C. B.: student, soldier, courtier, librarian, burghermaster, poet. In: The German book, 1450–1750. Hg. John L. Flood u. William A. Kelly. London 1995, S. 203–212. – Ders.: German secular song-books of the mid-seventeenth century. An examination of the texts in

Breicha collections of songs published in the germanlanguage area between 1624 and 1660. Aldershot/ Burlington 2003, S. 115 ff. – Bernd Prätorius: ›Liebe hat es so befohlen‹. Die Liebe im Lied der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 2004. Bernd Prätorius / Klaus Garber

Breicha, Otto, * 26.7.1932 Wien, † 27.12. 2003 Wien; Grabstätte: Brunn am Gebirge/Niederösterreich. – Publizist, Herausgeber; Museumsdirektor.

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nigung) u. Mitgl. der IKT (Internationale Kunstausstellungsleitertagung). 1969–1974 war er im programmgestaltenden Direktorium des »steirischen herbst« tätig. Der vielseitige Anreger u. Kommentator des österr. Kulturgeschehens ist auch mit eigenen Beiträgen zur bildenden Kunst u. Literatur hervorgetreten, seine Publikationen über die Künstler Richard Gerstl, Fritz Wotruba, Arnulf Rainer sowie zur österr. Kunst der Nachkriegszeit (Finale und Auftakt. Salzb. 1964. Aufforderung zum Misstrauen. Salzb. 1967. Österreich zum Beispiel. Salzb. u. a. 1982) waren bahnbrechende Veröffentlichungen zur Phänomenologie der bildenden Kunst in Österreich. Ausgezeichnet wurde B. 1981 mit dem Preis der Stadt Wien für Publizistik u. 1981/82 mit dem Alfred-Kerr-Preis des dt. Buchhandels für die »protokolle«.

B. studierte 1950–1954 in Wien zuerst Rechtswissenschaften, dann Theaterwissenschaft, Germanistik u. Kunstgeschichte (Dissertation: Idee und Verwirklichung des Dramatischen bei Raimund Berger. Wien 1961). 1962–1972 war er Mitarbeiter u. stellvertretender Leiter der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, daneben Literatur- u. Margit Zuckriegl Kunstkritiker u. a. bei der österr. Tageszeitung »Kurier«, der »Frankfurter Rundschau« Breitbach, Joseph, auch: Jean-Charlot Sau. der »Stuttgarter Zeitung« (bis 1971). 1963 leck, * 20.9.1903 Koblenz-Ehrenbreitedierte er zus. mit Andreas Okopenko postum stein, † 9.5.1980 München; Grabstätte: das lyr. Werk, Tagebücher u. Skizzen von ebd., Friedhof Bogenhausen. – Autor von Hertha Kräftner. Von 1966 bis zu ihrer EinRomanen u. Theaterstücken, politischer stellung 1997 war B. Herausgeber der »proJournalist. tokolle« (gemeinsam mit Gerhard Fritsch bis zu dessen Tod 1969), einer Halbjahresschrift Als Sohn des Ehrenbreitsteiner Rektors in für Literatur u. Kunst. Zus. mit Hilde Spiel u. kath. Elternhaus im Rheinland zweisprachig Georg Eisler arbeitete er 1969–1974 als Her- (französisch u. deutsch) aufgewachsen, verausgeber u. Redakteur der innerhalb dieses ließ B. 1921 das Gymnasium vor dem Abitur Zeitraums jährlich erschienenen Hefte für u. arbeitete bei einer Zeitung. In den folgenKunst u. Literatur, »ver sacrum«. 1972 über- den Jahren unterhielt er erste Kontakte zur nahm B. die Leitung des Ausstellungshauses Literaturzeitschrift »Nouvelle Revue Fran»Kulturhaus der Stadt Graz«, die er bis zur çaise« (NRF). Seit 1924 war B. Buchhändler Einstellung des Ausstellungsbetriebes im im Warenhaus, zunächst in Koblenz, dann bis Jahr 2000 innehatte; 1980 wurde er als Di- 1928 in Augsburg. Er wandte sich dem Marrektor der Salzburger Landessammlungen u. xismus zu, von dem er sich jedoch 1929 weModernen Galerie Rupertinum (heute: Mu- gen dessen »Verbraucherfeindlichkeit« löste, seum der Moderne Salzburg – Rupertinum) wie er später sagte. In dieser Zeit verfasste er berufen u. hatte die Leitung von der Eröff- erste Erzählungen u. Beiträge für Zeitschrifnung im Jahr 1983 bis zu seiner Pensionie- ten. rung im Jahr 1997 inne. B. war Initiator u. Ab Ende 1931 lebte B. ständig in Paris. Im Theoretiker der österr. Fotoszene u. etablierte Kreis um die NRF, bes. aber durch seine am Rupertinum die »Österreichische Foto- Freundschaft mit Jean Schlumberger gewann galerie«, die nat. Sammlung zeitgenössischer B. genauen Einblick in die polit. Verhältnisse. österr. Fotografie. Mit ihm zus. schrieb er über polit. Themen B. war Gründungsmitgl. der Grazer Auto- für den »Figaro«. 1939 meldete sich B. freirenversammlung, Mitgl. der österr. Sektion willig zur frz. Armee, arbeitete für deren der AICA (Internationale Kunstkritikerverei- Nachrichtendienst u. lebte später versteckt in

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Frankreich. 1945 wurde er frz. Staatsbürger; er setzte sich für die dt. Kriegsgefangenen ein u. widmete sich der polit. Arbeit, der Verständigung mit Deutschland u. insbes. auch der Vermittlung zwischen den beiden Kulturen auf literarischer Ebene. 1948–1951 schrieb er für die »Zeit« Berichte über frz. Politik u. das literar. Leben, meist unter Pseudonym. Diese Artikel zeigen B.s scharfen Blick für polit. Zusammenhänge u. Hintergründe. Ab 1961 lebte B. in München u. Paris. 1962 erschien sein Hauptwerk Bericht über Bruno (Ffm., zuletzt 1999), 1965 die von ihm selbst geschriebene frz. Version Rapport sur Bruno, für die er den »Prix Combat« erhielt. Bruno gilt als einer der wichtigsten polit. Romane der Nachkriegszeit. Er handelt von einem Generationskonflikt, der zum Kampf um die Macht im Staat führt u. mit dem Sturz des Großvaters u. Ministers durch dessen Enkel Bruno endet. Es gelingt B., die Machtstrukturen u. die Rolle der Moral im polit. Alltag vor dem Hintergrund menschlicher Leidenschaften u. persönl. Motive aufzuzeigen. Mit seiner strengen Erzähltechnik, der indirekten Rede u. strikten Einhaltung der Erzähloptik verfolgt er seine Absicht, verborgene Motive zu entlarven. »Das Warum und die Tendenz meines Schaffens lassen sich in einem Wort ausdrücken: Entlarven« (in: »Die Kolonne«, 1929). Es geht ihm weniger darum, individuelle psycholog. Voraussetzungen zu ergründen, als zu zeigen, dass das Streben nach Macht u. Einfluss, unabhängig vom jeweiligen polit. System, das Handeln der Menschen immer bestimmt. Illusionslos u. realistisch schildert er die Dominanz der Eigeninteressen. »Der Mensch bietet, so wenig wie das Tier eine Grundgarantie für Moral und Gerechtigkeit und für den ganzen Wunschkatalog der Utopisten« (in: Das blaue Bidet oder Das eigentliche Leben. Ffm. 1978). Diesen letzten Roman, einen Schelmenroman, schrieb B. mit Verve u. Lust an der Provokation. Er trägt autobiogr. Züge, ist von Selbstironie geprägt u. stellt zwei Generationen in oft grotesken Situationen einander gegenüber. Der Widerstreit zwischen politischem Engagement, persönl. Interessen u. moral. Überzeugungen ist ebenfalls Thema seiner

Breitbach

der Neuen Sachlichkeit zuzuordnenden Erzählungen, gesammelt u. d. T. Rot gegen Rot (Stgt. 1929). Ihr Schauplatz ist die Arbeitswelt der Angestellten im Warenhaus. Clemens, ein Romanmanuskript mit 1200 Seiten, laut Schlumberger »ein leichter zu fassender, Gestalt gewordener Ausdruck des Kierkegaard’schen ›Entweder-Oder‹«, wurde 1940 in Paris beschlagnahmt u. ging bis auf ein Kapitel verloren. Dieses Thema bearbeitete B. neu in dem 1971 uraufgeführten Drama Requiem für die Kirche (Augsb.). Religion, Marxismus u. deren Rolle im Leben »einfacher Menschen«, denen B.s große Sympathie gilt, sind Gegenstand seiner Theaterwerke. Seine Skepsis gegen die engagierten Intellektuellen der Neuen Linken teilt sich am stärksten in seiner Komödie Hinter den Kulissen oder Genosse Veygond (Urauff. Ffm. 1970) mit. Hier kritisiert B. nicht die Ideologie, sondern das Verhalten ihrer Vertreter. 1956 wurde B. Ritter der Ehrenlegion, 1975 erhielt er den Kunstpreis von Rheinland-Pfalz u. die Goethe-Medaille. Er war Mitgl. der Deutschen u. der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. 2006 erschienen im Wallstein Verlag die ersten beiden Bände der B.-Werkausgabe, sein 1933 verbotener Roman Die Wandlung der Susanne Dasseldorf mit Ich muss das Buch schreiben, Briefe u. Dokumente zur Dasseldorf, herausgegeben von Alexandra Plettenberg-Serban u. Wolfgang Mettmann. 2003 ehrte das Deutsche Literaturarchiv Marbach B. zu seinem 100. Geburtstag mit einer von Jochen Meyer konzipierten Ausstellung; im Internationalen Künstlerhaus Bamberg fand ein B.-Symposium statt. Seit 1998 verleihen die Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur u. die Stiftung Joseph Breitbach den Joseph-BreitbachPreis. Die Preisverleihung findet in Koblenz statt. Literatur zu fördern, war für B. schon zu Lebzeiten eine Herzensangelegenheit. Weitere Werke: Die Wandlung der Susanne Dasseldorf. Bln. 1932. Frz.: Rival et Rivale. Paris 1936 Ital.: Susanna Dasseldorf. Rom 1945 (R.). – Clemens. Romanfragment. Ffm. 1963. – Die Jubilarin. Genosse Veygond. Requiem für die Kirche. Ffm. 1972 (Dramen). – Die Rabenschlacht. Ffm. 1973 (E.en). – Feuilletons. Zu Lit. u. Politik. Hg.

Breitenbauch

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Wolfgang Mettmann. Pfullingen 1978. – Zweierlei Helden. Maschinenschriftl. Manuskript, fertiggestellt in Paris 1980 (D.). Literatur: Manfred Durzak: Gespräche über den Roman. Ffm. 1976. – J. Hellmut Freund u. Wolfgang Mettmann (Hg.): Wechselrede. FS J. B. zum 75. Geburtstag. Ffm. 1978. – Fritz J. Raddatz: Zeit-Gespräche. Zehn Dialoge. Ffm. 1978. – Ausstellung zur Erinnerung an J. B. Kat. zur Ausstellung anläßlich des 80. Geburtstages. Hg. W. Mettmann. Koblenz 1983 (mit ausführl. Bibliogr.). – Gisela Ullrich: J. B. In: KLG. – Eine Stiftung stellt sich u. ihren Stifter vor. Mainzer Akademie. Mainz 1998. – J. B. oder die Höflichkeit des Erzählers. Kat. zur B.-Ausstellung 2003. Bearb. v. Jochen Meyer. Marbach 2003. – Achim Bonte: J. B. u. Ernst Robert Curtius. Eine Momentaufnahme aus der Heidelberger Bibliotheks- u. Geistesgesch. In: Theke (Univ.-Bibl. Heidelb.) 2003, S. 45–49. – Michael Schmitt: J. B. In: LGL. – J.-B.-Symposium 2003. Hg. Bernd Goldmann u. Wulf Segebrecht. Bamb. 2004. – Gilles Ortlieb: Des orphelins. Paris 2007 (enth. sieben Autorenporträts, darunter B.). Wolfgang Mettmann

Von da aus wandte er sich der Geschichte u. Geografie des Vorderen Orients, Asiens u. Afrikas zu, wobei er auch neuzeitl. Entwicklungen verfolgte (Schilderungen berühmter Gegenden des Althertums und neuerer Zeiten. Lpz. 1763). B. war im aufklärer. Sinn didaktischenzyklopädisch ausgerichtet. Sein ausgeprägtes geschichtl. Interesse, bes. an der Antike u. am MA, schlug sich im Abfassen von Zeittafeln der allg. Geschichte, synchronist. Übersichten u. Anleitungen zum Geschichtsstudium nieder. Daneben übersetzte er Pindar, Horaz u. Statius u. gab 1772 einen »Poetischen Kalender« heraus. 1804 erschien in Leipzig ein Verzeichnis von B.s Schriften »nebst einer Anzeige ihres Inhalts«. Weitere Werke: Bukol. Erzählungen u. vermischte Gedichte. Ffm./Lpz. 1763. – Jüd. Schäfergedichte. Altenburg 1765. – Neue Slg. vermischter Gedichte. Altenburg 1767. – Die Oden des Horaz in teutschen Versen. Lpz. 1769. – Lebensgesch. der Kaiserin Adelheid. Lpz. 1788. Christian Schwarz / Red.

Breitenbauch, Georg August von, * 28.8. 1731 Wilsdruff bei Dresden, † 15.9.1817 Bucha/Thüringen. – Verfasser von Schä- Breitinger, Johann Jacob, * 1. oder 15.3. ferpoesie, geografischen u. historiografi- 1701 Zürich, † 14.12.1776 Zürich. – schen Schriften; Übersetzer. Theologe, Herausgeber u. Dichtungstheoretiker. B. wurde zunächst privat unterrichtet, studierte dann an der Universität Jena (1749–1753), wo er sein Interesse für Kunst u. Literatur ausbildete, u. unternahm anschließend eine ausgedehnte Bildungsreise durch Frankreich. 1754 besuchte er Berlin, wo er in den Kreisen um Lessing, der B. als melancholisch beschreibt, Johann Georg Sulzer u. Mendelssohn verkehrte, mit denen er später auch korrespondierte. Gezwungen, das verwaiste elterl. Hofgut zu bewirtschaften, war B. ab 1754 bis zu seinem Lebensende Landwirt u. Gerichtsherr auf Bucha. Daneben wirkte er als Privatgelehrter, Schriftsteller u. Übersetzer. 1757 heiratete er Juliane Henriette Christine von Thüna. Seit 1782 (oder 1792) durfte er den Titel Weimarischer Kammerrat führen, um den er bei Herzog Carl August von Weimar angesucht hatte. Seine schriftsteller. Laufbahn begann B. mit Dichtungen in Rokoko-Manier, wodurch er u. a. zur oriental. Dichtung geführt wurde.

B.s Vater, Franz Caspar Breitinger, dessen Beruf mit Zuckerbäcker, gelegentlich auch mit Knopfmacher angegeben wird, war zeitweilig Geheimsekretär beim Herzog von Württemberg-Mömpelgard, dann Major der Zürcher Bürgermiliz. Nach einer Grundausbildung am Collegium Humanitatis wurde B. 1715 Schüler des Collegium Carolinum. Die Ordination für das geistl. Lehramt erfolgte 1720. Seit 1735 war er mit Esther Schinz verheiratet. Zwei Töchter gingen aus der Ehe hervor. Beide genannten Kollegien beriefen B. 1731 als Professor für Hebräisch. Ab 1740 lehrte er auch die Disziplinen Logik u. Rhetorik, von 1745 an am Carolinum auch griech. Philologie. B. hatte das Amt eines Chorherrn des Stifts zum Großmünster in Zürich inne. Rühmend wird von den Zeitgenossen sein Eintreten für eine Revision des akadem. Unterrichts u. für die Überwindung einer kaum

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noch lebensfähigen Orthodoxie hervorgehoben. Auch als Gelehrter sah B. sich zur aktiven Teilnahme am gesellschaftl. Leben aufgerufen. Vor diesem Hintergrund ist die von ihm angeregte Gründung der »Asketischen Gesellschaft« zu sehen (1768), in der sich jüngere Anwärter auf Pfarrstellen u. ältere Pfarrer begegneten. Für seinen regen wiss. Austausch zeugt B.s Korrespondenz u. a. mit Isaak Iselin (Basel), Johann Georg Altmann (Bern), Jean Bouhier (Dijon), Jacob Vernet (Genf), Johann August Ernesti (Leipzig) u. Kardinal Quirini (Rom). Verpflichtungen als Kirchen- u. Schulrat sowie als Stiftsbibliothekar ließen den Rückzug in eine Idylle nicht zu. Johann Jacob Steinbrüchel, der klass. Philologe, Herausgeber der Sammlung Das tragische Theater der Griechen (1763), war sein bedeutendster Schüler u. Nachfolger am Carolinum. Sowohl seine politisch-historischen als auch seine dichtungstheoret. Intentionen verwirklichte B. im regen Austausch mit Johann Jacob Bodmer. Der Aufarbeitung histor. Dokumente u. gleichzeitigen Festigung republikan. Gesinnung diente die von beiden herausgegebene Helvetische Bibliothek (6 Stücke, Zürich 1735–41), deren wichtigstes Dokument die Abhandlung über den Richtbriev der Burger von Zürich (Zürich 1738) ist. Stets bleibt der Blick auf die Gegenwart gerichtet. Bezeugt ist B.s aktive Teilnahme an der von Bodmer 1762 gegründeten Historisch-politischen Gesellschaft. Es folgten Historische und Critische Beyträge zu der Historie der Eidsgenossen (4 Tle., Zürich 1739), deutlich geprägt vom Geist der frz. Aufklärung. Seitdem B. zum engsten Kreis der 1720 von Bodmer ins Leben gerufenen »Gesellschaft der Mahler« gehörte, begann er an der poetolog. Diskussion seiner Zeit über eine mehr vernunfts- oder gefühlsbetonte Dichtungsauffassung entscheidend Anteil zu nehmen. Die aus 94 Nummern bestehenden »Discourse der Mahlern« (1721–23. Neuausg.n: Teildr. 1891. Neudr. 1969), für die Joseph Addisons »Spectator« (1711/12, 1714) vorbildhaft war, dürften als gemeinschaftl. Unternehmen der beiden Zürcher gelten. Weniger die auch in anderen Moralischen Wochenschriften abgehandelten Themen als

Breitinger

vielmehr die ästhetisch-poetolog. Diskurse machen den Rang dieser Publikation aus (z.B. 1, 19: Zur poetischen Imagination. 1, 20: Zum Problem der imitatio naturae in der Kunst. 2, 7: Zur Frage des Reims). Inwieweit B. an der Neuauflage der »Discourse«, der in »Blätter« gegliederten Sammlung Der Mahler der Sitten (2 Bde., Zürich 1746. Neudr. Hildesh. 1972), aktiv beteiligt war, kann nicht mit Sicherheit entschieden werden. Das gilt auch für die mhd. Forschungen u. Textausgaben Bodmers. Das eindrucksvollste Denkmal gemeinschaftl. Bemühungen um die Editionen neuerer dt. Texte liegt in der von B. u. Bodmer veranstalteten Opitz-Ausgabe vor: Martin Opitzens Von Boberfeld Gedichte. Von J. J. B. u. J. J. B. besorget. Erster Theil (Zürich 1745). Geplant waren mehrere Teile. Die hier erstmals getroffene Unterscheidung zwischen Überlieferungs- u. Entstehungsvarianten, das chronolog. Einteilungsprinzip, die Intention der Herausgeber, die Genese der Texte erkennbar zu machen: Dies sichert der Ausgabe ihren wissenschaftsgeschichtl. Rang. Dem Werk war indes kein Verkaufserfolg beschieden; die Opitz-Ausgabe des Gottsched-Adepten Daniel Wilhelm Triller (1746) erwies sich als ein Hindernis. Es war Lessing, der die Folgen klar erkannte: »Daß die vortreffliche Schweitzerische Ausgabe des Opitz durch die Dazwischenkunft der elenden Trillerschen ins Stecken geraten, ist ein wahrer Verlust für die deutsche Literatur«. Auch B.s Satire Der Gemißhandelte Opitz in der Trillerschen Ausfertigung seiner Gedichte (Zürich 1747) vermochte daran nichts mehr zu ändern. In Gemeinschaft mit Bodmer gab B. die Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften, Zur Verbesserung des Urtheils und des Witzes in den Wercken der Wolredenheit und der Poesie (Stücke 1–12, Zürich 1741–44) heraus. Eine Sonderstellung innerhalb dieser Sammlung nimmt B.s Beitrag Echo des deutschen Witzes (Stücke 4 u. 6; Pseud.: Wolfgang Erlenbach) ein, eine Folge von Aufsätzen zur »schweitzerischen« u. »sächsischen Sprache«, zu Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst u. Milton-Rezeption, B.s ästhet. Hauptschriften von 1740 wurden hier ergänzt.

Breitinger

Ebenfalls gemeinsam entwickelten beide Zürcher Mitte der 1720er Jahre ein dichtungstheoret. Konzept, das sie in der »Vorrede« zum Traktat Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft (Zürich 1727) niederlegten. »Se. Excellentz, Herrn Christian Wolffen« gewidmet, ist dieser nur »Theil von dem gantzen Wercke; welchem noch vier andere Bücher folgen« sollten, u. a. eine Analyse des Tractats des Longinus (Peri Hypsous, Über das Erhabene). Als partielle Verwirklichung des Plans sind die Schriften von 1740/ 41 anzusehen. B.s gegründetstes u. für die Dichtungsauffassung des mittleren u. späteren 18. Jh. folgenreichstes Werk liegt vor in seiner Critischen Dichtkunst Worinnen die Poetische Mahlerey in Absicht auf die Erfindung im Grunde untersuchet [...] wird (2 Bde., Zürich 1740. Neudr. Stgt. 1966). Das Titelblatt des zweiten Bandes weist abweichend den Wortlaut auf: [...] in Absicht auf den Ausdruck und die Farben abgehandelt wird. Bodmer verfasste die Vorrede. In produktiver Weise hat B. das neuere westeurop. kunsttheoret. Schrifttum integriert. Jean-Baptiste Dubos’ wirkungsmächtige Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture (1719) gehören dazu ebenso wie Ludovico Muratoris Schrift Della perfetta poesia italiana (1706). Dennoch ist selbst bei großer Textnähe Zurückhaltung angebracht; denn Übereinstimmungen können auch das Resultat der Benutzung gemeinsamer Quellen sein: B., Dubos u. Muratori berufen sich – gleich anderen Zeitgenossen – auf antike u. spätantike Autoritäten wie Cicero, Horaz, Quintilian u. Pseudo-Longin. Bereits die Titelblätter signalisieren mit ihren Begriffen wie »Erfindung«, »Ausdruck« u. »Farben« die Nähe zur Rhetorik (»inventio«- u. »elocutio«-Lehre). Mit dem Blick auf Homer, Vergil, Milton, Tasso u. Dante gelangt B. schließlich zu einer Erweiterung des Weltbegriffs u. einem neuen Dichtungsverständnis, das ihm den Protest Gottscheds eintrug. »Ich sehe den Poeten an als einen weisen Schöpfer einer neuen idealischen Welt«, so heißt es in B.s Critischer Dichtkunst [...] (2 Bde., Zürich 1740). Auf die Affinität dieser Vorstellung zum Weltmodell Leibniz’ (Theodizee) wurde hingewiesen. Bemerkenswert ist B.s Nähe zur Ästhetik Alexander Gottlieb

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Baumgartens (Meditationes. 1735. Aestethica. 1750), in der die oberen Erkenntnisvermögen (»facultates cognoscitivae superiores«) von den unteren, »sinnlichen« (»facultates cognoscitivae inferiores«) streng getrennt werden, wobei die ästhet. Erkenntnisweise dem Bereich des »Sinnlichen« zugeordnet wird. So verschränken sich in B.s Critischer Dichtkunst Aspekte Leibniz-Wolff’scher Provenienz mit rhetor. Tradition u. dem Neuansatz Baumgartens. Dezidiert nimmt B. in der »Vorrede« zum zweiten Band der Critischen Dichtkunst Stellung zum Thema Sprachnorm u. regionale Abweichung. Hier wendet er sich bei aller Anerkennung der »Meißnischen Mundart« gegen deren beanspruchte Vorherrschaft über alle »Provinzen Deutschlands« u. tritt entschieden für ein Eigenrecht der Spache der »allemannischen Nation« ein. Im europ. Kontext ist auch seine Critische Abhandlung von der Natur, den Absichten u. dem Gebrauche der Gleichnisse (Zürich 1740. Neudr. Stgt. 1967) zu sehen, in der die kühne Metaphorik Miltons gerechtfertigt wird. Dichterisch wirksam wurden B.s ästhetisch-poetolog. Reflexionen in der Lyrik eines Immanuel Jakob Pyra, des Göttinger Hainbunds, der »Bremer Beiträger«, v. a. in der Dichtung Klopstocks, dessen Überlegungen zur Sprache u. Aufgabe der Poesie (z.B. Von der heiligen Poesie. 1760) sich mit denen B.s in auffallender Weise berühren. Noch einmal nahm B. Stellung zu Vorwürfen seitens des Gottsched-Kreises in der kleinen Schrift Vertheidigung der Schweitzerischen Muse, Hrn. D. Albrecht Hallers (Zürich 1744). Ausdrücklich verweist er hier auf die Lehre Baumgartens u. gibt zu bedenken, dass »aus der Natur eines Gedichtes erhellet, daß sich deutliche, vollständige, ausführliche [...] Begriffe für eines solches gar nicht schicken, sondern daß der Poet sich an dem Wahrscheinlichen, welches aus dunklen und undeutlich klaren Begriffen entstehet sättigen muß« (S. 13 f.). Als wirksam erwies sich auch B.s Fabeltheorie, deren Grundzüge er im ersten Band der Critischen Dichtkunst (Kap. 7) entwarf. Die Fabel, nach seiner Ansicht »ein lehrreiches Wunderbares«, zeichne sich durch das Spannungsverhältnis von »cörperlichem und

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geistlichem Theil« aus. Die Entdeckung dieses Verhältnisses von moralischem Kern u. »künstlerischer Verkleidung« mache den eigentl. Reiz aus. In seinen Abhandlungen über die Fabel (1759) hat sich Lessing gegen diese Art intellektuellen Vergnügens ausgesprochen. Weitere Werke: Diatribe historico-litteraria in versus obscurissimos a Persio Satira prima citatos. Zürich 1723. – Luculenta commentatio in antiqua monumenta in agro Tigurino nuper eruta. In: Johann Georg Schelhorn: Amoenitates litterariae. Bd. 7, Lpz. 1727, S. 1–74. – Vetus Testamentum ex versione septuaginta interpretum. 4 Bde., Zürich 1730–32. Literatur: Hermann Bodmer: J. J. B., 1701–76. Sein Leben u. seine literar. Bedeutung. Zürich 1887. – Jakob Baechtold: Gesch. der dt. Lit. in der Schweiz. Frauenfeld 1892. Neudr. 1919. – Herbert Schöffler: Das literar. Zürich 1700–50. Frauenfeld/ Lpz. o. J. [1925]. – Max Wehrli: J. J. B. aus Zürich 1701–76. In: Große Schweizer Forscher. Hg. Eduard Fueter. Zürich 1939, S. 113 f. – Nicola Accolti Gil Vitale: Verso la critica letteraria. Gottsched, Bodmer e B., Lessing. Varese 1952. – Allessandro Pellegrini: Gottsched, Bodmer, B. e la poetica dell’Aufklärung. Catania 1952. – Hans Peter Herrmann: Naturnachahmung u. Einbildungskraft. Zur Entwicklung der dt. Poetik v. 1670–1740. Bad Homburg v. d. H. u. a. 1970. – Wolfgang Bender: J. J. Bodmer u. J. J. B. Stgt. 1973 (mit Bibliogr.). – Helga Brandes: Von den ›Discoursen der Mahlern‹ (1721–23) zum ›Mahler der Sitten‹ (1746). Ein Beitr. zur Publizistik der Aufklärung. Bremen 1974. – W. Bender: Rhetor. Tradition u. Ästhetik im 18. Jh.: Baumgarten, Meier u. B. In: ZfdPh 99 (1980), S. 481–506. – Angelika Wetterer: Publikumsbezug u. Wahrheitsanspruch. Der Widerspruch zwischen rhetor. Ansatz u. philosoph. Anspruch bei Gottsched u. den Schweizern. Tüb. 1981. – Horst-Michael Schmidt: Sinnlichkeit u. Verstand. Zur philosoph. u. poetolog. Begründung v. Erfahrung u. Urteil in der dt. Aufklärung (Leibniz, Wolff, Gottsched, Bodmer u. B., Baumgarten). Mchn. 1982. – Uwe Möller: Rhetor. Überlieferung u. Dichtungstheorie im frühen 18. Jh. Studien zu Gottsched, B. u. Georg Friedrich Meier. Mchn. 1983. – Jürgen Wilke: Der dt.-schweizer. Literaturstreit. In: Kontroversen, alte u. neue Akten des 7. Internat. Germanisten-Kongresses. Hg. Albrecht Schöne. Bd. 2, Tüb. 1986, S. 140–151. – Horst Dieter Schlosser: Sprachnorm u. regionale Differenz im Rahmen der Kontroverse zwischen Gottsched u. Bodmer/B. In: Mehrsprachigkeit in der dt. Aufklärung. Hg. Dieter Kimpel. Würzb. 1986, S. 52–68. – Hans Otto Horch u. Georg-Mi-

Breitkopf chael Schulz: Das Wunderbare u. die Poetik der Frühaufklärung. Gottsched u. die Schweizer. Darmst. 1988. – Felix Leibrock: Das Interesse an der Barocklit. bei Gottsched u. den Schweizern. In: Europ. Barock-Rezeption. Hg. Klaus Garber. Wiesb. 1991, S. 327–335. – Thomas Sprecher: Das geistige Zürich um 1750. In: Stätten dt. Lit. Studien zur literar. Zentrenbildung 1750–1815. Hg. Wolfgang Stellmacher. Ffm. 1998, S. 97–124. – Helga Brandes: Frühe Diskurse der Aufklärung. Über Bodmer u. B. In: Literar. Zusammenarbeit. Hg. Bodo Plachta. Tüb. 2001, S. 17–23. Wolfgang F. Bender

Breitkopf, Johann Gottlob (Immanuel), * 23.11.1719 Leipzig, † 28.1.1794 Leipzig; Grabstätte: ebd., Alter Johannisfriedhof. – Verleger; Historiker des Buchwesens. Der Sohn des Verlagsgründers Bernhard Christoph Breitkopf erlernte das Druckerhandwerk u. betrieb gleichzeitig humanist. Studien bei bedeutenden Leipziger Gelehrten (Johann Joachim Schwabe, Johann Friedrich Christ, Gottsched u. a.). Zeitlebens hat B. seine Tätigkeiten in Setzerei, Druckerei u. Buchhandel zgl. mit seiner wiss. Arbeit ausüben können, wie seine vielseitigen Aktivitäten u. Publikationen zeigen: Er entwarf zukunftweisende Techniken für den Druck von Musiknoten (Nachricht von einer neuen Art Noten zu drucken. Lpz. 1755. Neudr. Lpz. 1918), von Landkarten, Bildnissen, chines. Schriftzeichen u. mathemat. Figuren u. schuf die nach ihm benannte Fraktur; er plante eine große Geschichte des Buchdrucks, deren Entwurf Ueber die Geschichte der Erfindung der Buchdruckerkunst 1779 in Leipzig erschien; er unterstützte tatkräftig die von Philipp Erasmus Reich initiierten Reformen des dt. Buchhandels u. wandte sich gegen veraltete Bräuche der Druckerinnung; er ließ zahlreiche literar. Zeitschriften in seinem Verlag erscheinen u. sammelte Inkunabeln u. a. wertvolle Drucke zu einer Bibliothek von fast 20.000 Bänden, die u. a. von Goethe in seiner Leipziger Studienzeit benutzt wurde. Seine ebenso rastlose wie vielseitige Tätigkeit brachte B. in Kontakt mit vielen Dichtern, Komponisten u. Gelehrten (u. a. Lessing, Carl Philipp Emanuel Bach, Winckelmann).

Breler

Als Verleger förderte er insbes. die sprachwiss. Forschungen Johann Christoph Adelungs. Weitere Werke: Versuch, den Ursprung der Spielkarten, die Einf. des Leinenpapieres, u. den Anfang der Holzschneidekunst in Europa zu erforschen. Lpz. 1784. Neudr. Mchn. 1985. – Ueber Buchdruckerey u. Buchhandel in Leipzig. Lpz. 1793. Neudr. Lpz. 1964. – Briefe: Briefe v. Carl Philipp Emanuel Bach an J. G. I. B. u. Johann Nikolaus Forkel. Hg. Ernst Suchalla. Tutzing 1985. Literatur: Karl G. Hausius: Biogr. Herrn J. G. I. B.s. Lpz. 1794. – Oskar v. Hase: Breitkopf & Härtel. Bd. 1, Lpz. 41917, S. 83–114. – Hans Lülfling: J. G. I. B. als Historiker des Buchwesens. In: Beiträge zur Gesch. des Buches (1974), S. 126–145. – George B. Stauffer (Hg.): J. S. Bach, the B.s, and eighteenthcentury music trade. Lincoln 1996. – Erich Loest: Typenerfinder, Drucker, Verleger. J. G. I. B. In: Börsenblatt für den dt. Buchhandel 163 (1996), S. 32–34. Felix Leibrock / Red.

Breler, Melchior, auch: Rupertus Meldenius, Napellus Caerulleus, * wohl 1589 Fulda (?), getauft am 5.12.1589 in Fulda, † 1627. – Arzt; Verfasser medizinischer u. religiös-theosophischer Schriften. B. studierte in Marburg/L. (1607) u. Helmstedt (1614); Promotion zum Dr. med.; Leibarzt u. Rat in Diensten Herzog Augusts d.J. von Braunschweig-Lüneburg (Bestallung dokumentiert für 1623). Zu seinen Freunden u. Bekannten zählten Johannes Angelius Werdenhagen, Johann Valentin Andreae, Michael Maier, Joachim Morsius u. Hermann Rahtmann; enge Freundschaft verband B. mit Johann Arndt, dem umstrittenen Generalsuperintendenten des Herzogtums Braunschweig-Lüneburg. B. mehrte das chemiatr. Schrifttum mit einer Ausgabe zweier Trinkgoldmonografien des engl. Chemiaters Francis Anthony (Panacea aurea. Hbg. 1618) u. beteiligte sich an der Rosenkreuzerpublizistik (Echo Buccinae Iubilaei ultimi nuper e Scanzia in Germaniam a F.R.C. missae. Hann., LB, Ms. IV 431, Bl. 740–772). Im Lehrstreit um Johann Arndts Vom Wahren Christentum nahm B. unter den Apologeten eine führende Stellung ein u. brach einer religiösen Idolisierung Arndts mächtig Bahn. Er führte schwere Angriffe gegen alles

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»Maulchristentum« u. die luth. Orthodoxie (Mysterium iniquitatis pseudoevangelicae. Goslar 1621. Vindiciae pro mysterio iniquitates pseudoevangelicae. Goslar 1622) u. ergänzte diese scharfen Kampfschriften mit einem aus Arndts Nachlass herausgebenen Informatorium biblicum (Lüneb. 1623), einer lat. Vom Wahren Christentum-Übersetzung (J. Arndt: De Vero Christianismo. Lüneb. 1625), einem Wahrhafftigen [...] Bericht von den vier Büchern vom Wahren Christenthumb (Lüneb. 1625. Auch u. d. T. Apologetica Arndiana. Hg. Christian Günther. Lpz. 1706 u. in: J. Arndt: Geistreiche Schrifften. Lpz. 1736, S. 1021–1068) sowie einer Paraenesis votiva pro pace ecclesiae (Rothenburg o. d. Tauber o. J. [1626]). Seine Schriften zeichnen sich durch »eine überaus treffende, kontrastreiche, mitreißende, ja überschäumende Sprache aus« (Seebaß 1996, S. 165). Sie schufen B. manchen Gegner (Jacob Wehrenberg/Werenbergius: Vindiciae ecclesiae Lutheranae. Hbg. 1622); Radikalpietisten hingegen haben sie geschätzt (Christian Hoburg) u. in ihrem Verfasser einen »Zeugen der Wahrheit« gefeiert (F. Breckling). Heute wird in B. gewöhnlich der »Begründer des linken, kirchenkritischen Flügels der Arndtschule« erblickt (Wallmann 1980, S. 28). Weitere Werke: Lobgedichte. In: Gustavus Selenus (Herzog August): Cryptomenytices et Cryptographiae libri IX. Lüneb. 1624. Adrian v. Mynsicht: Thesaurus medico-chymicus. Hbg. 1631. – Rezept. In: Hamburg, SuB, Cod. alch. 668, Bl. 56v57r. Literatur: Friedrich Lücke: Über das Alter, den Verfasser, die ursprüngl. Form u. den wahren Sinn des kirchl. Friedensspruches ›In necessariis unitas, in non necessariis libertas, in utrisque charitas!‹ Eine litterarhistor. theolog. Studie. Gött. 1850 (mit ›Paraenesis‹-Abdr.). – Wilhelm Koepp: Johann Arndt. Eine Untersuchung über die Mystik im Luthertum. Bln. 1912, S. 104–110, 123 f., 127–131, 313. – Johannes Wallmann: Herzog August zu Braunschw. u. Lüneb. als Gestalt der Kirchengesch. Unter bes. Berücksichtigung seines Verhältnisses zu Johann Arndt. In: PuN 6 (1980), S. 9–32, hier S. 24–28. – Frieder Seebaß: Die Schr. ›Paraenesis votiva pro pace ecclesiae‹ (1626) u. ihr Verf. Ein Beitr. zu den Arndtschen Streitigkeiten. In: PuN 22 (1996), S. 124–173. Joachim Telle

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Bremberger-Ballade, entstanden nach 1330 u. vor 1450. – Minnesänger-Ballade.

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Entstehungszeit u. -ort der B. können nicht exakt angegeben werden, jedoch ist aufgrund der Rezeption, insbes. der Bezüge zu den Liedern Nr. 68 u. 69 des Königssteiner Liederbuches, eine Entstehung spätestens um 1450 anzusetzen. Wenn ikonograf. Details im Autorenbild Reinmars von Brennenberg in der Großen Heidelberger Liederhandschrift C zus. mit Motiven aus seinem dort überlieferten Œuvre den Ausgangspunkt für die balladenhafte Ausgestaltung zu einer Sängerbiografie gaben, kann die B. erst nach deren Abschluss (ca. 1330) entstanden sein. Die zeitl. Abfolge sowie der Zusammenhang der verschiedenen Ausformungen des Stoffes sind unsicher. Hanno Rüther führt neben der Chronologie der Überlieferungsträger weitere Indizien dafür an, dass vermutlich die Ballade im Hofton den Ausgangspunkt bildete: Nur hier ist die Geschichte zu einem Exempel für die Kraft der wahren Liebe ausgestaltet. Außerdem wird nur hier über die einleitenden Verse u. die Verwendung des Tones der Bezug zum Minnesänger Reinmar plausibel. Der Minnesänger als Hauptperson sowie die Biografisierung der Ich-Rolle verbinden die B. mit der Moringer- u. der Thannhäuserballade.

Im Mittelpunkt der Ballade steht ein Mann mit Namen Bremberger (»Bruinenburch« in der niederländischen, »Brunnenberch« in der niederdt. Fassung), bei dem es sich nach allgemeiner Auffassung um den Minnesänger Reinmar von Brennenberg handelt. Von dem Text gibt es verschiedene Fassungen: Eine in Reinmars Hofton ist in sechs Drucken, deren frühester im Jahre 1500 entstand, überliefert. Außerdem existieren, handschriftlich u. in Drucken tradiert, weitere Fassungen: eine niederländische in einer Handschrift von ca. 1540 (A) u. einem Druck von 1544 (B), eine hochdeutsche in einem Druck aus der zweiten Hälfte des 16. Jh. (C) u. eine niederdeutsche in einer Handschrift um 1600 (D). Gemeinsam ist allen Fassungen, dass Bremberger wegen seiner Verehrung für eine hochgestellte Frau bei deren Mann verleumdet u. von diesem in einem Turm gefangengesetzt wird. Der weitere Handlungsverlauf divergiert: In A wird die Frau von einem Ritter beobachtet, als sie den gefangenen Bremberger besucht; dieser wird zum zweiten Mal verleumdet u. dann gehängt. Die übrigen Fassungen enden mit Ausgaben: Artur Kopp (Hg.): B.-Gedichte. Wien dem weit verbreiteten Motiv des gegessenen Herzens, allg. als Herzmäre bezeichnet, wie 1908 (Nr. XI ). – John Meier (Hg.): Dt. Volkslieder mit ihren Melodien. Bd. 1, Bln. 1935 (Nr. 16, 1–3). es sich z.B. in Konrad von Würzburgs Herz– Paul Sappler (Hg.): Das Königsteiner Liederbuch. mære findet: Bremberger wird nach sieben- Mchn. 1970 (Nr. 68 u. 69). – Hanno Rüther (Hg.): jähriger Gefangenschaft das Herz aus dem Der Mythos v. den Minnesängern. Die Entstehung Leib geschnitten u. der Frau als Speise vor- der ›Moringer‹-, ›Thannhäuser‹- u. ›B.-Ballade‹. gesetzt; als sie erfährt, was sie gegessen hat, Köln/Weimar 2007, S. 279–284, S. 287–292. Literatur: John Meier: Drei alte dt. Balladen. stirbt sie. Unklar ist die Herkunft des Stoffes: Möglich ist, dass die Verbindung Reinmars In: Jb. für das Volkslied 4 (1934), S. 56–65. – Fritz mit dieser Figur durch das Bild in der Großen Rostock: Mhd. Dichterheldensagen. Halle 1925, Heidelberger Liederhandschrift C (Manessische S. 16–18. – Paul Sappler: B. In: VL. – Rüther 2007 (s. o.), bes. S. 251–301. Elisabeth Wunderle Liederhs.) angeregt worden ist, wo dargestellt ist, wie er ungerüstet von vier bewaffneten Männern getötet wird. Ein loser Zusammenhang mit Motiven aus seinen Liedern ist da- Bremer, Claus, * 11.7.1924 Hamburg, bei denkbar. Hervorgehoben wird in der † 15.5.1996 Forch bei Zürich. – DramaForschung immer wieder der mögl. Einfluss turg, Übersetzer u. Verfasser von Gedichhistorischer Begebenheiten, nämlich der ge- ten. waltsame Tod des Bruders des Regensburger Nach dem Besuch des Gymnasiums u. einer Domherren Bruno von Brennenberg in Re- zweijährigen Dienstzeit bei der Kriegsmarine gensburg 1276 u. die Hinrichtung einer studierte B. 1945–1949 Altphilologie, Philosophie, Literatur- u. Kunstgeschichte in Helke von Brennenberg 1256.

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Freiburg i. Br. Neben dem Studium arbeitete wenden versucht. 1984 erhielt er die Ehrener als Regieassistent u. ließ sich 1947–1949 gabe des Kt. Zürich. als Schauspieler ausbilden. Zus. mit Rainer Weitere Werke: poesie. Karlsr. 1954 (L.). – taM. Gerhardt gab er 1948–1954 die »interna- bellen u. variationen. Frauenfeld 1960 (L.). – tionale revue für moderne dichtung: frag- Theater ohne Vorhang. St. Gallen/Stgt. 1962 (Ess.). mente« heraus, in der er auch seine ersten – ideogramme. Frauenfeld 1964 (L.). – Hände weg »Montage-Gedichte« veröffentlichte. 1952 von meinem Ferrari. Zürich 1967. 1994 (D.). – Texte u. Komm.e. Steinbach 1968. – Thema Theaging B. nach Darmstadt, wo er unter Gustav ter. Ffm. 1969 (Ess.). – Hier wird Geld verdient. Rudolf Sellner Regieassistent, dann Regis- Stgt. 1977 (Hörsp.). seur, schließlich 1956–1961 Chefdramaturg Literatur: Eugen Gomringer: konkrete Poesie. war. deutschsprachige autoren. Stgt. 1972. – Hanspeter 1957–1959 war B. Mitarbeiter bei der von Gansner: C. B. Radio Basel 1985. – Heidrun KerDaniel Spoerri herausgegebenen Literatur- stein: C. B. In: KLG. – Philippe Buschinger: bewezeitschrift »material« sowie Redakteur der gen u. beweglich sein. In: Allemagne d’aujourd’hui Darmstädter Theaterzeitschrift »Neues Fo- 138 (1996), S. 118–137. Peter König / Red. rum«. Zum Mitbegründer der Konkreten Poesie wurde er mit seinen während dieser Bremer, Jan Peter, * 16.2.1965 Berlin. – Zeit entstandenen »Gedichten in Tabellen- Verfasser von Kurztexten u. -romanen. form« (Eugen Gomringer), die – als »Dichtpartituren« konzipiert – der schöpferischen 1970 zog B., Sohn des Künstlers Uwe Bremer, Mitbestimmung des Lesers offenstehen u. mit seinen Eltern aufs Land im Kreis LüchowDannenberg u. besuchte dort Realschule u. dadurch einen Beitrag zur »DemokratisieGymnasium. Nach dem Abitur kehrte er nach rung der Poesie« leisten sollen. In den 1960er Berlin zurück u. arbeitet dort seit 1988 als u. 1970er Jahren war B. v. a. am Theater tätig, freier Schriftsteller. 1960–1962 in Bern, 1962–1966 in Ulm (bis B. schreibt verdichtete »Zwergromane« 1965 auch Dozent an der Hochschule für mit surrealen Elementen, die häufig zum Gestaltung), 1970–1978 in Zürich. Als DraGrotesken tendieren. Als literar. Vorbilder maturg u. Regisseur setzte er sich für künstgelten ihm Franz Kafka u. Robert Walser. ler. Formen ein, die den Zuschauer aus seiner Nach seinem Debüt, dem Kurztextband In die passiven Rolle befreien, zum Mitspielen aniWeite (Bln. 1987), folgen die drei in Stil, Ton mieren u. schließlich einen Prozess der u. ihrer Machart ähnl. Kurzromane Einer, der »Selbstfindung« einleiten sollten. So reali- einzog, das Leben zu ordnen (Bln. 1991), Der Pasierte er u. a. 1964 Wolf Vostells erstes dt. last im Koffer (Bln. 1992) u. Der Fürst spricht »Happening«. Neben Stücken von diversen (Ffm. 1996). Für Letztgenannten erhält B. modernen Autoren wie Jacques Audiberti, 1996 den Klagenfurter Ingeborg-BachmannArmand Gatti u. Eugène Ionesco brachte er Preis. Der Fürst spricht behandelt eine bipolare eine Reihe von klass. Stücken in eigenen, sehr Herr-Knecht-Relation, die B. in einer bewusst umstrittenen umgangssprachl. Übersetzun- offen gehaltenen Symbolik gestaltet. Das gen zur Aufführung (Aristophanes, Sopho- Verhältnis zeichnet sich durch einen Willen kles, Shakespeare). zur Macht, Verfolgungswahn, Abhängigkeit, Ab 1981 war B. Herausgeber der Schweizer homosexuelle Anziehung, innere Isolation u. Literaturzeitschrift »orte«. Seinen »Weg Ohnmacht aus. Das Verständnis erschwerend durch die Konkrete Poesie« beschrieb er 1983 kommt B.s Wille hinzu, komisch-befremin dem krit. Essay Farbe bekennen (Zürich). dend zu wirken. 1984 erschien der Gedichtband Man trägt keine Der Roman Feuersalamander (Bln. 2000) Mützen nach Athen (Zürich), in dem B., auf der entwirft die Wirklichkeitsflucht eines Suche nach Alternativen zur Formsprache der Schriftstellers, dessen inneres Zwangsbild es Konkreten Poesie, poet. Verfahrensweisen ist, in seinem Schreiben der Idee eines trag. beispielsweise von Ezra Pound, den Surrea- Menschen nicht gerecht zu werden. Vor der listen u. den altjapan. Dichtern neu anzu- vermeintlich außen liegenden Ursache der

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Störung flüchtend, gelangt er in ein einsames Herrliberg in einer Reimchronik fest, die im Bergdorf. Hier, in diesem unwirklich-arran- Turmknopf aufbewahrt wurde. Die Manugierten Szenario, einer gleichsam episch rea- skripte seiner Schriften befinden sich in der lisierten Innenwelt des Protagonisten, wird er Zentralbibliothek Zürich. selbst zur trag. Figur. Weitere Werke: Altschweizer. Sprüche u. Nach mehrjährigem Verstummen, für das Schwänke. Aus einer Hs. des Schweizer. Idiotikons. B. als Grund nun selbst eine Schreibblockade Hg. Mitgl.er der Redaktion. Frauenfeld 1941. angibt, erscheint 2006 der Briefroman Still Literatur: Adrian Corrodi-Sulzer: Diakon H. U. Leben (Bln.), in dem ein egomaner Ich-Erzäh- B., 1620–92. In: Zürcher Tb. auf das Jahr 1944. ler einem ominösen »lieben Freund« von N. F. 64 (1943), S. 36–47. Hellmut Thomke / Red. zunehmender innerer Einsamkeit in seinem abgelegenen Haus auf einem Berg berichtet, Brentano, Bernard von, * 15.10.1901 Ofdas er mit seiner vierköpfigen Familie kürzfenbach/M., † 29.12.1964 Wiesbaden; lich bezogen hat. Wie in den anderen Werken Grabstätte: Wiesbaden-Sonnenberg. – auch führt B. hier das Scheitern seiner als Romanautor u. Essayist. Zwangscharakter gestalteten Figur vor. Trotz zahlreicher Preise u. Stipendien gilt Der Sohn eines hess. Ministers u. NachkomB. noch als unentdeckter Autor. me der berühmten Dichterfamilie ließ sich Literatur: Thomas Kraft: J. P. B. In: LGL. – nach dem Studium in Freiburg i. Br., MünKathleen Condray: Language and Power, Homo- chen u. Frankfurt/M. als freier Schriftsteller eroticism and Illness: A Reading of J. P. B.’s ›Der in Berlin nieder. Durch die enge Freundschaft Fürst spricht‹. In: Monatshefte 96 (2004), H. 4, mit Joseph Roth kam er zum Journalismus. S. 521–534. Raffaele Louis Auf Roths Vorschlag trat er in die Berliner Redaktion der »Frankfurter Zeitung« ein, wechselte 1930 allerdings zum »Berliner TaBrennwald, Hans Ulrich, * 28.2.1620 Zügeblatt« u. schrieb auch noch für andere rich, † 9.4.1692 Kilchberg bei Zürich. – Berliner Zeitungen. So veröffentlichte er LiPfarrer; Satiriker u. Lokalchronist. teratur- u. Filmkritiken, AusstellungsbeDer Sohn eines Gürtlers u. Urenkel des sprechungen u. kleinere Arbeiten über das schweizerischen Chronisten Heinrich Brenn- städt. Leben in Berlin. In großen Artikelfolwald wurde am Collegium Alumnorum beim gen berichtete er über seine Reise nach WarFraumünster in Zürich zum Pfarrer ausge- schau (1927). B. engagierte sich in den 1920er bildet. 1644 wurde er Pfarrvikar. Noch im Jahren politisch für die Linke; er betonte den gleichen Jahr kam er als reformierter Predi- Gebrauchswert von Literatur u. schrieb im kant in die parität. Gemeinde Henau-Nie- Stil der Neuen Sachlichkeit. 1930 hatte B. eine ausgedehnte Reise nach derglatt im Toggenburg. 1651 überwarf er sich mit dem Landes- Polen u. in die Sowjetunion bis nach Moskau herrn, dem Fürstabt von St. Gallen, u. verlor unternommen, 1932 reiste er wieder dorthin. die Stelle. 1652 wurde B. Pfarrer in der Die Reisen führten zu einer veränderten BeSpanweid u. Ende desselben Jahres Diakon u. urteilung des Sozialismus durch die Erfahrung der Gewalt u. Korruption im StalinisSchulmeister in Kilchberg. Seine beiläufig verfassten Schriften ließ B. mus. Hatte B. mit den Lyrikbändchen Gedichte nicht drucken. Er setzte die Chronik des Zürchers Bernhard Wyß fort, verfasste zur (Freib. i. Br. 1923) u. Gedichte an Ophelia (PaZeit seines Streits mit dem Fürstabt Schimpf- derb. 1925) sowie der Komödie Geld (Freib. i. und Glimpfreden, schrieb Haussprüche u. Epi- Br. 1924) als Schriftsteller debütiert, ohne gramme, ferner Anekdoten über kath. Geist- nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen, so liche, deren Sammlung er 1681 abschloss. erregte er erstmals Aufsehen mit den Essays Außerdem begann er 1680 ein geistliches unter dem etwas reißerischen Titel KapitalisPfründenbuch zusammenzustellen u. hielt mus und schöne Literatur (Bln. 1930) u. v. a. mit 1687 die Geschichte des Kirchenbaus von dem Buch Der Beginn der Barbarei in Deutschland

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(Bln. 1932), das auch im europ. Ausland an- seine Rechtfertigung für die Zeit, die er auerkennende Beachtung fand. Er beschreibt ßerhalb Deutschlands verbracht hatte. B. war Mitgl. der Deutschen Akademie für darin politische u. soziale Fragen der Gegenwart in nüchterner, distanzierter Reportage Sprache u. Dichtung u. der Akademie der wie z.B. Die Bedrohung des Privateigentums, Über Wissenschaften und der Literatur zu Mainz. die Lage der Landwirte oder Der Umgang mit Ar- Als »revolutionärer Patriot«, als »streitbarer Homme de Lettres«, als Lyriker, Dramatiker, beitern. 1933 verlegte B., ohne zu diesem Zeit- Erzähler, Essayist u. Journalist war er geachpunkt unmittelbar bedroht zu sein, seinen tet u. anerkannt. Weitere Werke: Über den Ernst des Lebens. Wohnsitz in die Schweiz; zuerst nach Zürich, dann nach Küsnacht. Schon 1935 fanden sich Bln. 1929. – Phädra. Zürich 1939 (Schausp.). – die meisten seiner Titel auf der Liste des August Wilhelm Schlegel. Gesch. eines romant. »schädlichen und unerwünschten Schrift- Geistes. Stgt. 1943. Ffm. 1986. – Tgb. mit Büchern. Zürich 1943. – Streifzüge. Tgb. mit Büchern neue tums«. Folge. Zürich 1947. – Sophie Charlotte u. DankelWährend der Emigration entwickelte sich man. Eine preuß. Historie. Wiesb. 1949. – Dass ich der polit. Journalist zum Schriftsteller, des- eins u. doppelt bin. Marianne v. Willemer u. Goesen überragende Leistung der Roman Theodor the. 2., neu bearb. u. erg. Aufl. Wiesb. 1961. – Drei Chindler (Zürich 1936. Neuausg. Ffm. 2001) Prälaten. Wiesb. 1974 (Ess.s). – Wo in Europa ist war, ein Familienbild, das häufig mit Thomas Berlin? Bilder aus den 20er Jahren. Ffm. 1981. Manns Buddenbrooks verglichen wurde. Mit 1993. Literatur: Ulrike Hessler: B. v. B. – Ein dt. dem Konflikt einer großen Familie wird der Umbruch vom Kaiserreich zur Weimarer Re- Schriftsteller ohne Dtschld. Tendenzen des Romans zwischen Weimarer Republik u. Exil. Diss. Ffm. publik u. das Kräftespiel zwischen Kirche, 1984. – Hans-Christian Oeser: ›Die Dunkelkammer Staat u. Militär brillant dargestellt. Theodor der Despotie‹. B. v. B.s ›Prozeß ohne Richter‹ im Chindler sollte der erste Band einer Trilogie Zwielicht. In: Exilforsch. 7 (1989), S. 226–247. – Roman einer deutschen Familie sein. Kurz vor Bernd Goldmann: B. v. B. Texte u. Bibliogr. Mainz Ausbruch des Krieges erschien eine frz. 1992. – Ulrike Hessler: B. v. B. (1901–64). Ein dt. Übersetzung; 1939 wurde das Buch in Lon- Schriftsteller ohne Dtschld. In: Geist u. Macht. Die don mit dem Internationalen Länderpreis für Brentanos. Hg. Bernd Heidenreich. Wiesb. 2000, das beste europ. Buch ausgezeichnet. Der S. 197–323. Bernd Goldmann / Red. zweite Band u. d. T. Franziska Scheler erschien 1945 (Zürich). Brentano, Christian, * 24.1.1784 Frank† 27.10.1851 Frankfurt/M.; Im Exil veröffentlichte B. noch Berliner No- furt/M., vellen (Zürich 1934), Prozeß ohne Richter Grabstätte: Aschaffenburg, Altstadtfried(Amsterd. 1937), Die ewigen Gefühle (Amsterd. hof. – Religiöser Publizist, Lustspielautor 1939. Zuletzt Ffm. 1984) u. Die Schwestern u. Herausgeber. Usedom (Zürich 1948). Nach einer unruhigen Jugend studierte der 1949 kehrte B. nach Deutschland zurück u. früh verwaiste Bruder von Clemens u. Bettine wohnte bis zu seinem Tod in Wiesbaden. Er Brentano 1803–1808 in Marburg u. Jena konnte in dieser Zeit neben kleineren Arbei- Medizin. Bis 1815 bewirtschaftete er das Faten in Presse u. Rundfunk nur noch zwei miliengut Bukowan in Böhmen, wo er auf umfangreiche Werke veröffentlichen: ge- Clemens’ Anregung einen (unveröffentlichsammelte Essays u. d. T. Schöne Literatur und ten) Zyklus von sechs Lustspielen über die öffentliche Meinung (Wiesb. 1962), die sich für ständ. Weltordnung begann. Nach Frankfurt ein besser verstandenes Selbstbewusstsein des zurückgekehrt, schrieb er 1816 für eine AufSchriftstellers u. der Literatur einsetzen, u. führung im Familienkreis sein Schattenspiel Du Land der Liebe (Tüb./Stgt. 1952), das zu Der unglückliche Franzose oder Der Deutschen seinen am meisten beachteten Werken ge- Freiheit Himmelfahrt (Aschaffenburg 1850. hört. In der bekannten Form der Collage vereint es Tagebuch, Bericht u. Essay; es war

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Neuausg. Mchn. 1923), das mit sprühendem Witz den Franzosenhass karikiert. Unter dem Einfluss Johann Michael Sailers wandte sich B. dem dogmat. Katholizismus zu u. kämpfte nach seinem Rom-Aufenthalt (1823–1827) u. a. in der Zeitschrift »Katholik« für die vom Staat unabhängige hierarch. Gewalt der Kirche. Er wies seinen Bruder auf die stigmatisierte Nonne Anna Katharina Emmerick in Dülmen hin; ihre von Clemens u. d. T. Leben der hl. Jungfrau Maria beschriebene Vita ließ er 1852 in München erscheinen. Außerdem gab er seines Bruders Gesammelte Schriften (7 Bde., Ffm. 1852–55) erstmals heraus. B.s eigene religiöse Publizistik (Nachgelassene religiöse Schriften. 2 Bde., Mchn. 1854) blieb weitgehend unbeachtet. Literatur: Ewald Reinhard: Die B.s in Aschaffenburg. Aschaffenburg 1928. – Bernhard Gajek (Hg.): Clemens u. C. B.s Bibl.en. Beih.e zum Euph. 6 (1974). – Brigitte Schad (Hg.): Die Aschaffenburger B.s. Beitr. zur Gesch. der Familie aus unbekanntem Nachl.-Material. Aschaffenburg 1984. – Klaus Günzel: Bauer u. Nachlaßverwalter – C. B. In: Ders.: Die Brentanos. Eine dt. Familiengesch. Zürich 1993, S. 124–127. – Brigitte Schad, C. B., Vater der Aschaffenburger Brentanos. In: Geist u. Macht: Die Brentanos. Wiesb. 2000, S. 93–116 – Alexander Loichinger: Sailer, Diepenbrock, C. u. Clemens B. In: Münchener theolog. Ztschr. 52 (2001), S. 304–322. – Hartwig Schultz: C. B. In: Ders.: Die Frankfurter Brentanos. Stgt. 2001, S. 220–242. Hans Sarkowicz / Red.

Brentano, Clemens (Maria Wenzeslaus), auch: Maria, * 9.9.1778 Ehrenbreitstein, † 28.7.1842 Aschaffenburg; Grabstätte: ebd., Altstadtfriedhof. – Lyriker, Erzähler u. Dramatiker. B. wurde als Sohn des Frankfurter Kaufmanns Peter Anton Brentano u. dessen zweiter Frau Maximiliane im Haus der Großeltern Georg u. Sophie von La Roche geboren. Wieland u. Goethe, beide mit der Familie des Kanzlers La Roche im Kurfürstentum Trier befreundet, standen gleichsam an seiner Wiege. Taufpate war Clemens Wenzeslaus, der 1803 depossedierte Kurfürst u. Erzbischof von Trier, Herzog zu Sachsen u. Bischof von Augsburg. In »strenger und unmütterlicher Zucht« wuchs B. auf, u. das Bild der früh

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(1793) gestorbenen Mutter wurde zum Sehnsuchtsbild einer lebenslangen Suche nach Einheit u. Geborgenheit. Das frühe Ende der Kindheit (seit 1794 wurde er im Haus seiner Tante Möhn in Koblenz erzogen) hat er zeitlebens als die Vertreibung aus einem Paradies empfunden, sodass er den zentralen romant. Motivkomplex des verlorenen u. wiederzugewinnenden Paradieses in der geheimen, »heiligeren Geschichte« seines Inneren gespiegelt fand u. zum Mittelpunkt eines Werks von stark symbolistischer u. autobiogr. Prägung machte. Das Bild der Mutter suchte er in zweien seiner Schwestern: in der zwei Jahre älteren Sophie, die 1800 auf Wielands Gut Oßmannstedt starb (u. der er in der Hymne An S. ein Denkmal setzte), u. in der sieben Jahre jüngeren Bettine, die 1811 seinen Freund u. »Herzbruder« Achim von Arnim heiratete. Auch in Sophie Mereau, die B. am 29.11.1803 in Marburg heiratete u. schon am 31.10.1806, bei der Totgeburt seines dritten (u. ihres fünften) Kindes, wieder verlor, sah er »ganz, körperlich und geistig das Bild unsrer verstorbenen Mutter«. Derlei Fixierung auf die Mutterfigur zieht sich vom Roman Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter (2 Bde., Bremen 1801) bis zum 1842 druckfertigen, aber erst postum erschienenen Leben der heiligen Jungfrau Maria. Nach den Betrachtungen der gottseligen Anna Katharina Emmerich (Mchn. 1852) durch B.s Werk. In Jena hatte B. 1798 Sophie Mereau im Salon von Caroline Schlegel kennengelernt. Schon kurz nach seiner Immatrikulation als Student der Medizin war er dort in den Kreis der Frühromantiker aufgenommen worden u. avancierte durch sein satirisches Temperament rasch zum »Tieck des Tieck« (Dorothea Schlegel). Den reformer. Universitätsideen der Romantiker blieb B. auch in Heidelberg (1804–1808), Landshut (1808/09), Berlin (1809–1811) u. München (1833–1842) verbunden, wo er jeweils über seine Freunde – z.B. über Achim von Arnim, Joseph Görres, Adam Müller, Johann Nepomuk Ringseis, Karl Friedrich von Savigny – meist vergeblich Einfluss auf die Besetzung der Lehrstühle zu nehmen versuchte. Schon aus Heidelberg aber wurde B. nicht so sehr durch die Niederlage der Romantiker im Kampf mit der

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»Vossischen Partei« vertrieben als durch die ständige Öffentlichkeit seines Ehekonflikts mit seiner zweiten Frau Auguste Bußmann (kath. Eheschließung am 21.8.1807 in Fritzlar). Auguste stilisierte Liebe u. Ehe nach den Mustern des zeitgenöss. Popularromans. Dessen stereotype Themen – wie Verführung, Entführung, Flucht, Verfolgung, Selbstmordversuch, Rettung in letzter Minute, unversiegbare erot. Lust – suchte sie in Realität umzusetzen, sodass sich B. seit Herbst 1807 der überreizten Atmosphäre dieses Eheromans zunehmend entzog (Trennung von Auguste 1809, Scheidung 1814). In der Geschichte des Chevalier des Grieux u. der Manon Lescaut hat B. den Inbegriff erotisierender Lektüre gesehen u. mit der poet. Verfluchung dieses Buchs (Wohlan! so bin ich deiner los. Gedicht um 1811) wie in seinem Gegenentwurf, dem postum erschienenen Romanfragment Der schiffbrüchige Galeerensklave vom toten Meer (Hg. Walther Rehm. Bln. 1949), Schmerz u. Elend der literaturgeleiteten Existenz verdeutlicht. B.s Leben demonstriert exemplarisch die von Niklas Luhmann behauptete »Asymmetrie der Geschlechter« in der Zeit der Romantik: »Der Mann liebt das Lieben, die Frau liebt den Mann [...]. Was die Romantik als Einheit postuliert, bleibt damit Erfahrung des Mannes, obwohl und gerade weil die Frau die primär Liebende ist und ihm das Lieben ermöglicht.« Da Liebe u. Freundschaft für B. in der Ehe mit Auguste als Medien der Selbstfindung verdächtig geworden waren, versuchte er in der Kunst zu finden, was er in der Realität verloren glaubte. In Hölderlin, Beethoven u. Philipp Otto Runge sah er das Morgenrot eines inbrünstig ersehnten Kunstzeitalters heraufdämmern. Als sich dieses Morgenrot (mit dem Beginn der Restauration in Europa) als die Abendröte des Zeitalters der Autonomieästhetik erwies, gab sich B. ebenso leidenschaftlich dem neu erwachten religiösen Gefühl hin, das nach den Napoleonischen Kriegen im Europa der Erweckungsbewegungen um sich griff. Im Kreis der Berliner Neupietisten lernte er 1816 Luise Hensel kennen; er verband die Werbung um die 18 Jahre alte Linumer Pfarrerstochter mit psychisch-poet. Pressionen um deren Konversion u. ver-

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stärkte dieses Drängen nach seiner Generalbeichte (am 27.2.1817). Die verspätete Nachricht von Luise Hensels (1818) »eigenmächtig« vollzogenem Übertritt zum Katholizismus stürzte B. in dämon. Ausbrüche der Eifersucht, wie sie jene schwarze Romantik kennzeichnen, die B. seit Sept. 1818 im westfäl. Dülmen, am Bett der stigmatisierten Anna Katharina Emmerick, zu bändigen suchte. Die säkularisierte Nonne wurde ihm in ihren Ekstasen zu einem »Werkzeug der Erkundigung« für alles Übersinnliche u. schließlich für ein Tag um Tag zu rekonstruierendes Leben Jesu, dessen romanartiger Ausarbeitung er, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um rationalistische u. liberale Leben-Jesu-Forschung, seine ganze Kraft widmen wollte. Die hierognostischen, mystizistischen u. magnetisch-psycholog. Experimente mit der schwer leidenden Anna Katharina Emmerick, an deren Körper er zu seiner Bestürzung die Liebeswunden bluten sah, von denen er unsichtbar stigmatisiert zu sein glaubte, überlagern (bis zur Anstiftung der widerrechtl. Exhumierung der Leiche Anna Katharina Emmericks u. zu fetischist. Versuchen) den Arbeitsplan eines großen religiösen Weltepos, von dem er seinen Erben rd. 16.000 handschriftl. Folioseiten hinterlassen hat. Nach dem Tod der Dülmener Nonne (am 9.2.1824) wieder ruhelos durch Deutschland u. Frankreich wandernd u. zeitweilig eifrig um die kath. Bewegung bemüht, sah sich B. in München (seit 1833) noch einmal mit seiner einstigen Berliner Lebenssituation konfrontiert. In den vielstrophigen, oft wie im Fieber sich selbst weiterschreibenden Liebesgedichten an die aus Basel stammende Malerin u. Kunstsammlerin Emilie Linder hat er nochmals Liebes- u. Konversionswunsch so innig miteinander verschmolzen, dass sich die Geliebte zu seinen Lebzeiten beiden Wünschen entzog. Im München Ludwigs I. u. seines leitenden Ministers Carl von Abel waren diese Gedichte im engen Kreis der eingeweihten Freunde z.T. bekannt. In der Öffentlichkeit galt B., seit der Publikation des zur Bekämpfung der Cholera geschriebenen Buchs Die Barmherzigen Schwestern in Bezug auf Armen- und Krankenpflege (Koblenz 1831) u. seit

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dem Erscheinen eines ersten Teils seiner Emmerick-Schriften Das bittere Leiden unsers Herrn Jesu Christi. Nach den Betrachtungen der gottseligen Anna Katharina Emmerich (Sulzbach 1833), als ein »korrespondierendes Mitglied der katholischen Propaganda« (Heinrich Heine), als ein Autor der geistl. Restauration. Gelegentlich wurde er dabei mit seinem tatsächlich dieser Strömung zuzurechnenden Bruder Christian verwechselt, in dessen Haus er 1842 starb. Die dominant lyr. Prägung von B.s Werk ist nicht zu verkennen. Viele der rd. 1000 Gedichte u. Gedichtentwürfe (darunter etwa 250 bis heute unveröffentlichte, die – wie die veröffentlichten – von höchst unterschiedlicher Qualität sind) wurden jedoch in Kontexte (das heißt in Romane, Märchen, Deklamationsdramen, Erzählungen u. Briefe) verflochten, aus denen sie ohne erhebl. Bedeutungsverschiebungen nicht gelöst werden können. Die von Bettine von Arnim begonnene u. von den Herausgebern der Gesammelten Schriften (9 Bde., Ffm. 1852–55) weitergeführte Freisetzung der Gedichte B.s hat zu dem historisch nicht belegbaren Bild des genialen Improvisators, des Dichters reiner Wort- u. Klangspiele geführt, der zum Vorläufer von Symbolismus, Dadaismus u. Surrealismus geworden ist. Doch ohne Zweifel spricht hier »ein lyrischer Dichter ersten Ranges, er spricht mit Kunstverstand« (Walther Killy). Im Kern ist B.s Lyrik Liebeslyrik, deren »eigentümliche Periodizität« (Friedrich Wilhelm Wollenberg) nicht etwa den Lebensphasen folgt, sondern diese vorgibt. Die leidenschaftlich-poet. Vorwegnahme erstrebter Lebensziele, die Erschöpfung des Werks im Plan begründet den grundlegend fragmentar. Charakter von B.s Werk, hat aber auch die Verwirklichung solcher Ziele im Leben stets verhindert. Mit »großer Erbosung«, auch mit Erstaunen u. Bewunderung hat sich B. in Lord Roquairol aus Jean Pauls Titan porträtiert geglaubt, in einer Figur also, welche »die Empfindungen antizipiert und ›alle herrliche Zustände der Menschheit, alle Bewegungen, in welche die Liebe und die Freundschaft und die Natur das Herz erheben [...], früher in Gedichten als im Leben durchging‹« (Emil Staiger). Nicht »Antizipa-

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tion«, sondern bewusste Projektion aber ist das Stichwort für einen literarisch-poet. Lebensentwurf, in dem die empir. Realität nur als Beiwerk eines aus Liebeslust, Liebesleid, Liebespoesie u. Liebesbindung (im Sinne von religio) gebildeten Kerns erfahren wurde. Dieser literar. Lebensentwurf speist sich stärker aus kultureller (künstlerisch-literarischer) als aus fakt. Realität u. folgt somit wie alle Poesie B.s dem romantisch-iron. Prinzip der Potenzierung. Daher sind die Momente der Depotenzierung, d.h. der satir. Vernichtung selbst gebauter Kunstwelten, im Fortgang seines Werks häufiger zu beobachten. Die Inspirations- u. Lebenskrisen wurden in der Folge der nahezu entwicklungslos sich ablösenden, jeweils in sich geschlossenen Werkgruppen zunehmend einschneidender, bis die heftigste dieser Krisen, an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter der Zweckliteratur (um 1815/17), zu einer Prosawende auch im Werk B.s führte. Die Jugendlyrik (in vollem Ton etwa 1798/ 99 einsetzend u. bis 1803/04 reichend) ist charakterisiert durch die Form- u. Sprachexperimente des Schlegelkreises, dessen schwärmerische Goethe- u. Novalisnachfolge, Stanzenwut u. Sonettenglut. Als die u. a. durch Tieck angeleitete Entdeckung altdt. Poesie den Zustrom romanischer Strophen- u. Versformen beendete, konstruierte B. mit Achim von Arnim während der Sammlung u. der Restaurierung alter dt. Lieder jenen artist. Volksliedton, der durch die Sammlung Des Knaben Wunderhorn (mit Arnim, 3 Bde., Heidelb. 1806–08) zum vorherrschenden Ton in der deutschsprachigen Lyrik des 19. Jh. wurde. Dem Wunderhorn voran gingen Lieder wie Der Spinnerin Nachtlied (1802), Es ging verirrt im Walde (1802), Es stehet im Abendglanze (1803), in denen der Ton älterer Vorlagen so kunstvoll adaptiert ist, dass erst jetzt der ganze Reichtum des MA u. der frühen Neuzeit für die moderne Poesie gewonnen war. Mit der Ballade von der Lureley (um 1800) hat B. nicht nur den um den Loreleifelsen bis heute sich rankenden Rheinmythos begründet, sondern auch jenen Typus todestrauriger weibl. Schönheit geschaffen, der über die Venus-Madonnen des Jahrhunderts auch den

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Typus der Femme fatale (u. a. bei Wedekind u. Brecht) prägte. Die Luisen-Lyrik ist nach dem »Assonanzenwunder« der fragmentarisch hinterlassenen (u. wohl 1810 abgebrochenen) Romanzen vom Rosenkranz u. den auf die andrängende Sprachskepsis u. die Poesieverfluchung weisenden Dirnengedichten (z.B. Ich träumte hinab. 1812), die zweite Gruppe großer Liebesgedichte B.s. Sie fand in der Aneignung Zinzendorf’scher Blutmystik (Frühlingsschrei eines Knechtes aus der Tiefe. 1816), pietistischer Erweckungslieder, barocker geistl. Poesie (Friedrich von Spee, Angelus Silesius) u. der neupietist. Gebetslyrik Luise Hensels einen neuen innigen Ton des Trostes u. des Schutzes (Die Gottesmauer. 1816). Mit der Methode der Kontrafaktur, die er bereits bei der Restaurierung der Lieder aus Des Knaben Wunderhorn benutzt hatte, bearbeitete B. jetzt auch eigene Lieder, indem er das gleiche Verskorpus einmal auf die Liebe zu Luise Hensel u. dann auf die Liebe zu Jesus bezog. Weltliche u. geistl. Gehalte sind in diesen von Bibelmetaphorik durchdrungenen Liedern so lange austauschbar, bis mit der Abreise nach Dülmen ein kruder, dogmatisch-konfessionalist. Ton von den wenigen Gedichten zwischen 1819 u. 1833 Besitz ergriff (Die sonntäglichen Evangelien. 1826/27). Erst mit der im Jan. 1834 einsetzenden Emilien-Lyrik, die z.T. das Korpus der Briefgedichte für Luise Hensel auf Emilie Linder umlenkte, fand B. aus seinem schweren Tagewerk, der Sichtung, Ordnung u. Bearbeitung der Emmerick-Papiere, den Weg zurück zu Lyrik u. Märchen. Gibt in den Gedichten an Luise die geistl. Lyrik der frühen Neuzeit die Folie für die neupietist. Erweckungs- u. Liebeslyrik B.s ab, so sind es jetzt erot. Sujets barocker Gedichte (Venus- u. Cupidobeschreibungen, Körperteilallegorien), welche bei den wenigen, die diese Gedichte zu Gesicht bekamen, Entrüstung u. Bewunderung zgl. hervorriefen. In der Spätlyrik also bewies sich B. erneut als das »erotische Genie«, als das ihn Hans Magnus Enzensberger gekennzeichnet hat. Weit weniger als mit Lyrik u. Prosa hat B. durch seine Dramen gewirkt. Das von E. T. A. Hoffmann vertonte Singspiel Die lustigen Mu-

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sikanten (Ffm. 1803) hatte bei der Uraufführung (in Warschau am 6.4.1805) nur geringen Erfolg, u. das melanchol. Lustspiel Ponce de Leon ist in einer patriotisch aufgeputzten Fassung (u. d. T.: Valeria oder Vaterlist. Hg. Reinhold Steig. Bln. 1901) am 18.2.1814 im Wiener Burgtheater durchgefallen. Immerhin ist Georg Büchners Komödie Leonce und Lena (1836) ohne das Vorbild von B.s Ponce de Leon nicht zu denken. 1815 hat B. dann in dem »historisch-romantischen Drama« Die Gründung Prags (Pesth 1815) ein Stück geschrieben, das nicht für das Theater, sondern als romantischer Deklamationstext gedacht war, wobei der Dichter in den Salons der Zeit als ein gefeierter u. witziger Deklamator u. Vorleser bekannt u. gesucht war. Die Erfolglosigkeit seiner Dramen hat den Autor wohl dazu veranlasst, die zahlreichen im Nachlass erhaltenen dramat. Bruchstücke u. Entwürfe nicht weiterzuführen oder zumindest nicht zu publizieren. Unter ihnen ist auch das abgeschlossene, in der zweiten Fassung auf den Konflikt mit Rahel u. Karl August Varnhagen von Ense bezogene Trauerspiel Aloys und Imelde (Hg. Agnes Harnack. Mchn. u. Lpz. 1912). Auch wenn die durch eine antijüd. Entgleisung B.s ausgelöste Auseinandersetzung mit den Varnhagens rasch beigelegt wurde, hat Rahel Varnhagen doch später Jakob Friedrich Fries, Friedrich Rühs, Arnim u. B. zu den intellektuellen Urhebern jener HepHep-Bewegung gerechnet, die 1819 die dt. Juden erschreckte. Sie bezog sich dabei wohl auf die frauen- u. judenfeindl. Tendenzen der Berliner Christlich-Teutschen Tischgesellschaft, in der B. 1811, unter dem Jubel der Anwesenden, Philister u. Juden in einer Tischrede miteinander identifiziert u. diese Satire – im aufgeregten Preußen kurz vor dem Emanzipationsedikt von 1812 – auch gedruckt hat (Der Philister vor, in und nach der Geschichte. Aufgestellt, begleitet und bespiegelt aus göttlichen und weltlichen Schriften und eignen Beobachtungen. Scherzhafte Abhandlung. Bln. 1811). Die B.s Prosa durchziehenden Bildfelder belegen, dass es zwischen dem frühen u. dem späten Werk des Dichters nur einen Wandel der Perspektive, kaum einen Stilwandel, geschweige denn jene »Wende« zum Unpoetischen gegeben hat, von der die Literaturge-

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schichtsschreibung des 19. Jh. ausgegangen ist. Die Bilder der Wunde u. der Versteinerung, des Denkmals u. der Schwelle treffen sich in der poet. Sprach- u. Poesiereflexion, die B. schon früh zum Problem geworden ist. Dabei ist die Wunde Bild sexueller Verführung ebenso wie Bild des Todes, das körperlich sichtbare Zeichen verströmenden u. gefährdeten Lebens. B.s Lust am körperl. Liebeszeichen, an der offenen Wunde, am weibl. Schoß, am blutenden Stigma, in den »wilden« Reden des Godwi sowohl wie bei der Beschreibung der Kokotte Perdita im Schiffbrüchigen Galeerensklaven u. in der minutiösen Beobachtung der Wundmale Anna Katharina Emmericks, ist in der Tat anstößig u. sogar grausam, in jener autonomen Vorstellungswelt angesiedelt, in der eine anarch. Fantasie in die Realität einbricht u. das Leben als ein Kunstprodukt zu etablieren strebt. Mit moral. Kategorien lässt sich dieses Bildfeld deshalb nicht fassen, weil die poet. Rede die Wunde nicht bedeutet, sondern selbst »die blutende und blühende Wunde« ist, »in der Schönheit und Schrecken zusammenfallen« (Marlies Janz). Als eine sinnlich-erot. Verführung u. zgl. wie die Qualen des Sterbens hat B. die Versuchung durch die Poesie erfahren (vgl. die Fassungen des Sonetts Verzweiflung an der Liebe in der Liebe), von der er sich mehrfach u. immer vergeblich abzuwenden versuchte. Von den Erzählungen B.s hat allein die Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl wegen der Thematisierung des Kampfs um ständische, bürgerl., menschl. u. geschlechtsspezif. Ehre Aufsehen erregt. B. habe, so meinte Ferdinand Freiligrath, »aus grauer Bücherwolke / den prächt’gen Blitz« geschleudert: »die Leidenschaft im Volke«. Eine »moralisierende Kalendergeschichte« u. eine »bänkel-sängerische Moritat« (Richard Alewyn) werden hier in einer Rahmenerzählung miteinander vermittelt, in der – angesichts des sozialen u. psych. Elends einer elternlosen Generation – die Berechtigung des Kunstwerks u. der Beruf des Schriftstellers (außerhalb sozialer Zweckbestimmung) infrage gestellt sind. In einer Erzählung also, welche den poet. Prozess selbst zum Thema hat, wird die unsichere Welt der Moderne

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(der Enkel) mit der im Glauben an Standesehre u. Menschenwürde noch fest gegründeten Welt des Ancien Régime (der uralten Großmutter) konfrontiert; dem Schreiber, der einen Dichter zu nennen sich scheut, wird nochmals (ehe der Sprachzweifel in Sprachverzweiflung umschlägt) die Aufgabe zugewiesen, die von der explosionsartigen Beschleunigung des Erfahrungswandels begründeten Ängste der Menschen aufzufangen, in Sprache u. Poesie einen Ausgleich zwischen vorrevolutionärem u. revolutionärem Denken zu schaffen. An seinen Märchen für Kinder hat B. seit 1808 geschrieben, die Arbeit an den Rheinmärchen u. den (nach der Vorlage Giambattista Basiles Il Pentamerone so genannten) ital. Märchen aber um 1816 beendet u. erst um 1825 zögernd wieder aufgenommen. Zu seinen Lebzeiten hat er nur die zu einem Arabeskenroman ausgestaltete Spätfassung des Märchens von Gockel, Hinkel und Gackeleia (Ffm. 1838) veröffentlicht, während die anderen Märchentexte postum durch Guido Görres herausgegeben wurden (Die Märchen des Clemens Brentano. 2 Bde., Stgt./Tüb. 1846 u. 1847). Die – von den Zeitgenossen gerügten – satir. Passagen dieser Märchen sind meist Sprachsatiren, u. im Märchen von Gockel, Hinkel und Gackeleia ist in der Bildlichkeit von Katze u. Mäusen der Kampf zwischen guter u. böser Poesie gestaltet, der Kampf um ein Paradies, in dem man Ruhe finden, aber auch sich verlieren kann. Damit sind die krisenhaften Bruchstellen in Leben u. Werk B.s als Sprachkrisen kenntlich, die seither unverrückbar zu einer Symptomatologie des Poetischen gehören u. in der Erfahrung der Wort-Ding-Spaltung auf die Chandos-Krise Hugo von Hofmannsthals u. die Spracherfahrung der expressionist. Generation vorausweisen. In der Sprachkrise seit 1815 hat B. am visionär beglaubigten Wort den Weg zur Sprache zurückgefunden u. die eigene Person ganz hinter der Anna Katharina Emmericks verborgen; sie lebte in ihren Ekstasen für ihn in jenem Paradies, von dem seine Poesie nur einen schwachen Abglanz vermitteln konnte. So hat er, bei aller Leidenschaft seiner apokryphen Interessen, im Bitteren Leiden der für ihn unantastbaren u. auch von der Sprache

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der Poesie nicht erfassbaren Person Jesu fast ausschließlich die kanonisierten Worte der Hl. Schrift zugeordnet u. sie in einen Raum heiligen Schweigens gestellt. Er hat Jesus (den Christus), durch die Aufnahme mystischer Sprachbilder, als die Verkörperung des ewigen Worts (des Logos) dargestellt, von dem auch das prophetisch-menschl. Sprechen nur stammelnd künden kann. B. hat so im Spätwerk eine Fülle nazarenischer Andachts- u. Meditationsbilder geschaffen u. den Kosmos mittelalterlicher u. frühneuzeitl. Frömmigkeit an die Moderne vermittelt. Der Nachruhm B.s ist gespalten. Sein religiöses Werk, bes. die aus dem Leben der heiligen Jungfrau Maria, dem postum von Karl Erhard Schmöger herausgegebenen Leben unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi (3 Bde., Regensb. 1858–60) u. dem Bitteren Leiden gefügte Trilogie eines Lebens Jesu, ist in alle Weltsprachen übersetzt worden u. gilt zumal in den Ländern der Romania bis heute als ein Klassiker christlicher Andachts- u. Meditationsliteratur. Das Bildungsbürgertum des 19. Jh. aber feierte den Sprachmusiker B., den Vorläufer von Heine, Nietzsche u. Apollinaire. Nicht zufällig komponiert Adrian Leverkühn in Thomas Manns Doktor Faustus Brentano-Gesänge. In ihnen meint Serenus Zeitblom einen »kristallenen Engelschor« zu vernehmen, eine myst. Musik, »die in diesen Versen in so leisem Schlummer liegt, daß die leiseste Berührung von berufener Hand genügt, sie zu erwecken«. Weitere Werke: Satiren u. poet. Spiele v. Maria. Erstes Bändchen. Gustav Wasa. Lpz. 1800. – Gesch. v. Bogs dem Uhrmacher. Heidelb. 1807. – Rheinübergang Kriegsrundgesang. Wien 1814. – Die Schachtel mit der Friedenspuppe. Eine Erzählung. In: Friedensbl. Eine Ztschr. für Leben, Lit. u. Kunst. 2. Jahr. Wien 1815. – Victoria u. ihre Geschwister mit fliegenden Fahnen u. brennender Lunte. Ein klingendes Spiel. Bln. 1817. – Die drei Nüsse. Erzählung. In: Der Gesellschafter oder Bl. für Geist u. Herz. 1. Jg., Bln. 1817. – Die mehreren Wehmüller u. ungar. Nationalgesichter. In: Der Gesellschafter 1. Jg., Bln. 1817. – Aus der Chronika eines fahrenden Schülers. In: Sängerfahrt. Eine Neujahrsgabe für Freunde der Dichtkunst u. Malerei. Bln. 1818. – Das Mosel-Eisgangs-Lied. Ffm. 1830. – Legende v. der hl. Marina, ein Gedicht. Mchn. 1841.

182 Ausgaben: Gesamtausgaben: Ges. Schr.en. Hg. Christian Brentano [zus. mit Emilie Brentano u. Joseph Merkel]. 9 Bde., Ffm. 1852–55. – C. B. Werke. Hg. Wolfgang Frühwald u. Friedhelm Kemp (Bd. 1: Hg. Bernhard Gajek, W. Frühwald u. F. Kemp). 4 Bde., Mchn. 1963–68. 21978. – Hist.krit. Ausgabe: Sämtl. Werke u. Briefe. Hg. Jürgen Behrens, Konrad Feilchenfeldt, W. Frühwald, (Detlev Lüders), Christoph Perels u. Hartwig Schultz. Ca. 42 Bde., Stgt. u. a. 1975 ff. (= Frankfurter B.-Ausg. Bis 2007: 38 Bde.). – Teilausgaben: Gedichte. Hg. W. Frühwald. Reinb. 1968. – Briefe an Emilie Linder. Hg. ders. Bad Homburg v. d. H. 1969. – Gedichte. Hg. H. Schultz. Aschaffenb. 1979. – Sämtl. Erzählungen. Hg. Gerhard Schaub. Mchn. 1984. – Der andere B. Nie veröffentlichte Gedichte. Hg. Henning Boëtius. Ffm. 1985. Literatur: Bibliografien: Otto Mallon: B.-Bibliogr. (C. B., 1778–1842). Bln. 1926. Reprograf. Neudr. Hildesh. 1965. – Bernhard Gajek in: Werke. Bd. 1, Mchn. 21978, S. 1249–1289. – Joachim Ruth: Bibliogr. In: C. B. Hg. Hartwig Schultz. Bern/Bln. 1993, S. 267–341. – Forschungsberichte: John Fetzer: Old and New Directions in C. B. Research (1931–68). In: LitJb N. F. 2 (1970), S. 87–119. N. F. 12 (1971), S. 113–203. – Ders.: Recent Trends in C. B. Research (1968–70). In: LitJb N. F. 13 (1972), S. 217–232. – Wolfgang Frühwald: Stationen der B.-Forsch. 1924–72. In: DVjs 47 (1973), Sonderh., S. 182–269. – B. Gajek: Die B.-Lit. 1973–78. In: Euph. 72 (1978), S. 439–502. – Handbücher: René Guignard: Chronologie des poésies de C. B. Avec un choix de variantes. Paris 1933. – Detlev Lüders (Hg.): C. B. Kat. der Ausstellung im Freien Dt. Hochstift. Bad Homburg 1970. – Werner Vordtriede (Hg.; zus. mit Gabriele Bartenschlager): Dichter über ihre Dichtungen. C. B. Mchn. 1970. – B. Gajek (Hg.): C. u. Christian B.s Bibl.en. Die Versteigerungskat.e v. 1819 u. 1853. Heidelb. 1974. – Konrad Feilchenfeldt: B. Chronik. Daten zu Leben u. Werk. Mchn. 1978. – D. Lüders (Hg.): C. B. 1778–1842. Kat. der Ausstellung im Freien Dt. Hochstift. Ffm. 1978. – Kristina Hasenpflug u. H. Schultz (Hg.): C. B. u. Achim v. Arnim: Eine Dichterfreundschaft der Romantik. Ein Leitfaden zu Ausstellung u. Briefw. FDH, Frankfurter GoetheMuseum. Ffm. 1998. – Gesamtdarstellungen: Johannes Baptista Diel S. J. u. Wilhelm Kreiten S. J.: C. B. Ein Lebensbild nach gedr. u. ungedr. Quellen. 2 Bde., Freib. i. Br. 1877/78. – W. Frühwald: C. B. In: Dt. Dichter der Romantik. Hg. Benno v. Wiese. Bln. 1971, S. 280–309. 21983, S. 344–376. – B. Gajek: Homo Poeta. Zur Kontinuität der Problematik bei C. B. Ffm. 1971. – Erika Tunner: C. B. 1778–1842. Imagination et sentiment religieux. 2 Bde., Paris

183 1977. – W. Frühwald: Das Spätwerk C. B.s (1815–42). Romantik im Zeitalter der Metternich’schen Restauration. Tüb. 1977. – John F. Fetzer: C. B. Boston 1981. – Helene M. Kastinger Riley: C. B. Stgt. 1985. – H. Schultz: C. B. Stgt. 1999. – Weitere Titel: Walther Killy: Gemüterregungskunst. C. B. In: Ders.: Wandlungen des lyr. Bildes. Gött. 1956. 41964, S. 53–72. – Joseph Adam S. C. J.: C. B.s Emmerick-Erlebnis. Bindung u. Abenteuer. Freib. i. Br. 1956. – Richard Alewyn: B.s ›Gesch. vom braven Kasperl u. dem schönen Annerl‹. Eine Formanalyse. In: Gestaltprobleme der Dichtung. FS Günther Müller. Bonn 1957, S. 143–180. – W. Frühwald: Das verlorene Paradies. Zur Deutung v. C. B.s ›Herzlicher Zueigung‹ des Märchens ›Gockel, Hinkel u. Gackeleia‹ (1838). In: LitJB N. F. 3 (1962), S. 113–192. – Hans Magnus Enzensberger: B.s Poetik. Mchn. 1961. – Friedrich Wilhelm Wollenberg: B.s Jugendlyrik. Studien zur Struktur seiner dichter. Persönlichkeit. Hbg. 1964. – Luciano Zagari: ›Paradiso‹ artificiale e ›sguardo elegiaco sui flutti‹. La lirica religiosa di B. e la periodizzazione del romanticismo. Rom 1971. – Gerhard Schaub: Le Génie Enfant. Die Kategorie des Kindlichen bei C. B. Bln./New York 1973. – Gerhard Kluge: C. B. ›Gesch. vom braven Kasperl u. dem schönen Annerl‹. Texte, Materialien, Komm. Mchn. 1979. – Oskar Seidlin: Von erwachendem Bewußtsein u. vom Sündenfall. B. – Schiller, Kleist, Goethe. Stgt. 1979. – D. Lüders (Hg.): C. B. Beiträge des Kolloquiums im FDH 1978. Tüb. 1980. – Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung v. Intimität. Ffm. 1982. 21983. – Ursula Matthias: Kontextprobleme der Lyrik C. B.s. Ffm./Bern 1982. – Clemens Engling u. a. (Hg.): Emmerick u. B. Dokumentation eines Symposions der Bischöfl. Kommission ›Anna Katharina Emmerick‹ Münster 1982. Dülmen 1983. – Gabriele Brandstetter: Erotik u. Religiosität. Eine Studie zur Lyrik C. B.s. Mchn. 1986. – Marlies Janz: Marmorbilder. Weiblichkeit u. Tod bei C. B. u. Hugo v. Hofmannsthal. Königst./Ts. 1986. – H. M. Enzensberger: Requiem für eine romant. Frau. Die Gesch. v. Auguste Bussmann u. C. B. Bln. 1988. – Lawrence O. Frye: Poetic wreaths: art, death and narration in the Märchen of C. B. Heidelb. 1989. – G. Schaub: C. B. ›Gesch. vom braven Kasperl u. dem schönen Annerl‹. Erläuterungen u. Dokumente. Stgt. 1990. – Bernd Reifenberg: Die ›schöne Ordnung‹ in C. B.s ›Godwi‹ u. ›Ponce de Leon‹. Gött. 1990. – H. Schultz (Hg.): C. B. 1778–1842. Zum 150. Todestag. Bern/Bln. 1993. – Barbara Knauer: Allegor. Texturen. Studien zum Prosawerk C. B.s. Tüb. 1995. – Heinz Rölleke: Die histor. Ballade in Achim v. Arnims u. C. B.s Liedersammlung ›Des Knaben Wunderhorn‹. In: Ballade u. Historismus. Hg.

Brentano Winfried Woesler. Heidelb. 2000, S. 246–262. – Sabine Claudia Gruber: C. B. u. das geistl. Lied. Tüb. 2002. – Julia Augart: Eine romant. Liebe in Briefen. Zur Liebeskonzeption im Briefw. v. Sophie Mereau u. C. B. Würzb. 2006. Wolfgang Frühwald / Marcel Krings

Brentano, Franz Clemens Honoratus Hermann Josef, * 16.1.1838 Marienberg/ Boppard, † 17.3.1917 Zürich; Grabstätte: Aschaffenburg, Friedhof. – Philosoph. B.s Vater Christian Brentano, der kath. Schriftsteller u. Herausgeber der Werke von Clemens Brentano – des Onkels von B. –, wurde wegen seiner Parteinahme im Kölner Bischofsstreit aus Preußen verwiesen u. zog 1838 nach Aschaffenburg. Dort besuchte B. das Lyzeum. Er studierte 1856–1860 in München, Würzburg, Berlin u. Münster Philosophie, Theologie, Mathematik u. Naturwissenschaften: »In einer Zeit kläglichsten Verfalls der Philosophie geboren schloß ich mich als Lehrling an Aristoteles an, zu dessen besserem Verständnis mir oft Thomas von Aquin dienen mußte.« Weitere Einflüsse kamen von John Stuart Mill u. Auguste Comte. B. habilitierte sich in Würzburg mit einer Schrift über Die Psychologie des Aristoteles (Mainz 1867). In der Habilitationsdisputation verteidigte er u. a. die These Vera philosophiae methodus nulla alia nisi scientiae naturalis est. Aufgrund seines Beitrags Geschichte der kirchlichen Wissenschaften für Johann Adam Möhlers Kirchengeschichte (2. Bd., Regensb. 1868) u. seines wachsenden Rufs als scharfsinniger Exeget wurde B. mit der Erstellung eines Gutachtens über die päpstl. Unfehlbarkeit beauftragt. Es unterbaute 1869 die in dieser Frage krit. Haltung der dt. Bischöfe. Sich auf biblische, patrist. u. histor. Daten stützend, argumentierte B. gegen die Stichhaltigkeit der für das Dogma angeführten Beweise u. gegen dessen »Opportunität«. Zu Meinungsänderungen weder hier noch in der Philosophie geneigt, entfremdete sich B. nach der Dogmatisierung der Infallibilität von der Kirche. Seit 1864 Priester, vollzog er 1873 die Trennung vom Priestertum, ging 1874 als Ordinarius nach Wien u. heiratete 1880 Ida Lieben. Um eine sachl. Klärung der Legiti-

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mität seiner Ehe zu ermöglichen, gab B. auch die Wiener Professur auf. Doch erfolgte weder die Klärung der Rechtslage noch die versprochene Wiedereinsetzung. 1895 verließ B. erbittert Wien. Er zog nach Florenz u. nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs nach Zürich. Nach B. durchläuft die Philosophie in jeder Epoche eine wissenschaftliche, sachorientierte Phase, dann eine skeptische, eine dogmatische u. endlich eine unwissenschaftlichschwärmerische. Die moderne Philosophie trat mit Kant, Schelling, Hegel in ihre letzte Phase. B. sah sich als Neubeginn der wiss. Untersuchung ewiger philosophischer Probleme (Die vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand. Stgt. 1895). B.s bekanntestes Werk ist die Psychologie vom empirischen Standpunkt (Bd. 1, Lpz. 1874. Revidiert u. erw. 1911. Bde. 2 u. 3, 1924–28). »Psychologie« – B. nennt sie auch phänomenale Psychologie u. Phänomenologie – wird hier als philosoph. Grundwissenschaft verstanden. Nach ihr zeichnen sich psych. Phänomene wie Vorstellen, Urteilen, aber auch Wollen u. Lieben im Gegensatz zu phys. Phänomenen wie Farben u. Gestalten dadurch aus, dass sie immer einen Gegenstand haben: Jedes Vorstellen, Wollen usw. ist Vorstellen, Wollen usw. von etwas. B. nennt dies die »Intentionalität« der psych. Phänomene u. das diesen Akten inhärierende Vorgestellte, Gewollte usw. »Intentionale Gegenstände«. Die Wirklichkeit dieser Gegenstände ist im Vorstellungsakt selbst nicht »unmittelbar evident« – es kann sich um Illusionen oder Fantasiegebilde handeln. Dagegen ist die Wirklichkeit des Akts der Vorstellung immer unzweifelhaft. Intentionale Gegenstände können (a) einfach vorgestellt, (b) angenommen oder verworfen oder (c) vorgezogen oder zurückgestellt werden. Nach B. ist Logik die Theorie des Annehmens u. Verwerfens, Ethik die des Vorziehens u. Zurückstellens, des Liebens u. Hassens (Vom Ursprung Sittlicher Erkenntnis. Lpz. 1889). Wie es richtiges u. falsches Annehmen u. Verwerfen gibt, so auch richtiges u. falsches Lieben. Etwas ist gut, wenn die Liebe zu ihm unmöglich falsch sein kann; so etwa Erkenntnis, Freude u. die Liebe des

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Guten selbst. Hier wie überall stellt sich B. gegen Relativismus u. Subjektivismus. Die intentionalen Gegenstände umfassen nicht nur konkrete Einzeldinge, sondern auch Abstrakta wie Zahlen sowie andere mathemat. Gegenstände, Urteilsinhalte – wie etwa das Unsterblichsein der Seele – u. Kollektive. Vor der sog. Reismuskrise um 1905 hielt B. diese Abstrakta für so wirklich wie die handgreiflichsten Dinge. Sein später Reismus erlaubte ihnen nur den Status von »entia rationis«, die den Schein ihrer Existenz einer Sprachverwirrung verdanken, B. postulierte einen rigorosen Determinismus als notwendige Bedingung der Willensfreiheit. B. war wichtiger Anreger der deskriptiven Psychologie u. der phänomenolog. Bewegung. Sein aus der Scholastik übernommener Begriff der Intentionalität erlangte durch Husserls Wiederaufnahme u. Uminterpretation zentrale Bedeutung in der Philosophie des 20. Jh. Zu seinen Schülern gehörten Carl Stumpf, Anton Marty, Alexius von Meinong, Christian von Ehrenfels, Franz Hillebrand, der Begründer der poln. Logikerschule Kasimierz Twardowski, der erste tschech. Staatspräsident Tomásˇ G. Masaryk u. Edmund Husserl. Sigmund Freud hörte seine Vorlesungen. Später wurde B. durch Roderick M. Chisholm in den USA einflussreich. In neuerer Zeit wendet sich daher die analyt. Philosophie verstärkt dem Werk B.s zu, in dessen sprachlog. Analysen sie vieles von den sie heute bewegenden Fragestellungen vorweggenommen findet. B.s Nachlass, 1938 von Prag nach England u. dann in die USA gebracht, liegt in der Houghton Library, Harvard University in Cambridge/Massachusetts. Die Brentano Foundation (Direktor: Roderick Chisholm, Brown University, Providence/Rhode Island) hat die Aufgabe seiner Herausgabe u. Übersetzung. B.s Handbibliothek, Kopien der Houghton-Bestände u. weitere Materialien befinden sich in Graz. Weitere Werke: Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles. Freib. i. Br. 1862. Neudr. Darmst. 1960. – Untersuchungen zur Sinnespsychologie. Lpz. 1907. – Aristoteles Lehre vom Ursprung des menschl. Geistes. Lpz. 1911. – Aristoteles u. seine Weltanschauung. Lpz. 1911. –

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185 Wahrheit u. Evidenz. Lpz. 1930. – Kategorienlehre. Lpz. 1933. – Das F. B. Gutachten über die päpstl. Infallibilität. In: Archiv für mittelrhein. Kirchengesch. 7 (1955), S. 301–330 (mit Komm.). – Philosoph. Untersuchungen zu Raum, Zeit u. Kontinuum. Hbg. 1976. – Deskriptive Psychologie. Hbg. 1982. – Über Aristoteles. Hbg. 1986. Literatur: Oskar Kraus: F. B. Mchn. 1919. – Ders.: Die Werttheorien. Brünn 1937. – Alfred Kastil: Die Philosophie F. B.s. Bern 1951. – Linda L. McAlister (Hg.): The Philosophy of B. London 1976 (mit Bibliogr.). – Roderick M. Chisholm: B. and Intrinsic Value. Cambridge 1986. – Josef M. Werle: F. B. u. die Zukunft der Philosophie. Amsterd. 1989 – Liliana Albertazzi (Hg.): B. in Italia. Mailand 1993. – Eberhard Tiefensee: Philosophie u. Religion bei F. B. Tüb./Basel 1998. – Dale Jacquette (Hg.): The Cambridge Companion to B. Cambridge 2004. Rolf George / Red.

Brentano, Sophie Friederike, auch: Serafine, geb. Schubart, gesch. Mereau, verh. mit Clemens Brentano, * 28.3.1770 Altenburg, † 31.10.1806 Heidelberg. – Lyrikerin, Epikerin, Essayistin, Übersetzerin u. Herausgeberin. Die Tochter eines Obersteuerbuchhalters war seit 1793 mit Friedrich Ernst Karl Mereau (seit 1795 Professor der Philosophie, seit 1800 der Rechte in Jena) verheiratet, von dem sie 1801 geschieden wurde. Ihre Werke erschienen vorwiegend unter dem Namen Mereau: Der Roman Das Blüthenalter der Empfindung (Gotha 1794. Neudr. Stgt. 1982. MikroficheEd. Mchn. u. a. 1990–94), Gedichte (2 Bde., Bln. 1800 u. 1802), die Zeitschrift »Kalathiskos« (2 Bde., Bln. 1801/02. Neudr. Heidelb. 1968. Mikrofiche-Ed. Mchn. u. a. 1990–94) sowie Amanda und Eduard. Ein Roman in Briefen (Ffm. 1803. Neudr. Freib. i. Br. 1993. Mikrofiche-Ed. Bonn 1990). Nach ihrer Heirat mit Clemens Brentano (1803) war B. als Herausgeberin u. Übersetzerin tätig. Gemeinsam mit ihrem Mann edierte sie Spanische und Italienische Novellen (2 Bde., Penig 1804 u. 1806). Außerdem übersetzte sie Die Prinzessin von Cleves (in: »RomanKalender für das Jahr 1799«) u. hinterließ als letztes Werk – sie starb im Wochenbett – die Übersetzung von Boccaccios Fiammetta (Bln.

1806. Neudr. Ffm. 1964. Zürich 1991. Zuletzt Eschborn 1998). Zunächst unter Einfluss Wielands u. Schillers (Beiträge B.s u. a. in Schillers »Thalia« u. den »Horen«), der v. a. die Klarheit u. Leichtigkeit ihrer Lyrik rühmte, entwickelte sich B. von einer attizistisch-klassizistischen zu einer romant. Dichterin. Sie betrieb altdt. Studien u. unterstützte ihren Mann bei der Durchführung seiner literar. Pläne. Ihre literarhistor. Wirkung als Herausgeberin u. Übersetzerin dürfte ihrer poet. Wirkung gleichkommen. Weitere Werke: Übersetzungen: Die Margarethenhöhle. 3 Tle., Bln. 1803 (E.). – Sapho u. Phaon. Aschaffenburg 1806 (R.). Ausgaben: Werkausgabe: Liebe u. allenthalben Liebe. Werke u. autobiogr. Schr.en. Hg. u. komm. v. Katharina v. Hammerstein. Bd. 1: Das Blütenalter der Empfindung. Amanda u. Eduard. Romane. Bd. 2: Ein Glück, das keine Wirklichkeit umspannt. Gedichte u. E.en. Bd. 3: Wie sehn’ ich mich hinaus in die freie Welt. Tgb., Betrachtungen u. Vermischte Prosa. Mchn. 1997 (mit Bibliogr.). – Briefwechsel: Robert Boxberger: Schillers Briefw. mit der Dichterin S. Mereau. In: Die Frau im gemeinnützigen Leben. 4. Jg. (1889), S. 123–131. – Heinz Amelung (Hg.): Briefe Friedrich Schlegels an Clemens Brentano u. S. Mereau. In: Ztschr. für Bücherfreunde N. F. 5.1 (1913), H. 5/6, S. 183–192. – Walther Migge (Hg.): Briefw. zwischen Achim v. Arnim u. S. Mereau. Ein Beitr. zur Charakteristik Clemens Brentanos. In: FS Eduard Behrend. Hg. Hans Werner Seiffert u. Bernhard Zeller. Weimar 1958, S. 384–407. – Dagmar v. Gersdorff (Hg.): Lebe der Liebe u. liebe das Leben: Der Briefw. v. Clemens Brentano u. S. Mereau. Ffm. 1981. 21983. Literatur: Adelheid Hang: S. Mereau in ihren Beziehungen zur Romantik. Diss. Ffm. 1934. – Dagmar v. Gersdorff: Dich zu lieben kann ich nicht verlernen. Das Leben der S. Mereau. Ffm. 1984. 1990. Ffm. 2006. – Helene M. Kastinger-Riley: Saat u. Ernte. S. Mereaus Forderung geschlechtl. Gleichberechtigung. In: Die weibl. Muse. Sechs Ess.s über künstlerisch schaffende Frauen der Goethezeit. Hg. dies. Columbia 1986, S. 54–88. – Uta Fleischmann: Zwischen Aufbruch u. Anpassung: Untersuchungen zu Werk u. Leben der S. Mereau. Ffm. 1989. – Gisela Schwarz: Literar. Leben u. Sozialstrukturen um 1800: Zur Situation v. Schriftstellerinnen am Beispiel v. S. B.-Mereau, geb. Schubart. Ffm. 1991. – Herta Schwarz: Poesie u. Poesiekritik im Briefw. zwischen Clemens Brentano u. S. Mereau. In: Die Frau im Dialog. Studien

Brentano zur Theorie u. Gesch. des Briefes. Hg. Anita Runge u. Liselotte Steinbrügge. Stgt. 1991, S. 33–50. – Katharina v. Hammerstein: S. Mereau-B. Freiheit – Liebe – Weiblichkeit: Trikolore sozialer u. individueller Selbstbestimmung um 1800. Heidelb. 1994. – Anja Dechant: ›Harmonie stiftete unsere Liebe, Phantasie erhob sie zur Begeisterung und Vernunft heiligt sie mit dem Siegel der Wahrheit‹. Der Briefw. zwischen S. Mereau u. Johann Heinrich Kipp. Ffm. 1996. – Daniel Purdy: S. Mereau’s Authorial Masquerades and the Subversion of Romantic ›Poesie‹. In: Women in German Yearbook 13 (1997), S. 29–48. – K. v. Hammerstein: ›Eine Erndte will ich haben, wie das Jahr‹. Schreiben als Beruf(ung). S. Mereau. In: Gesch. der Berufsschriftstellerin im 18. u. 19. Jh. Hg. Karin Tebben. Gött. 1998, S. 132–159. – Inge Stephan: Inszenierte Weiblichkeit. Codierung der Geschlechter in der Lit. des 18. Jh. Köln/Weimar/Wien 2004. – Britta Hannemann: Weltlit. für Bürgertöchter. Die Übersetzerin u. Herausgeberin S. Mereau-B. Gött. 2005. – Julia Frindte: S. Mereau, Johanna Schopenhauer u. Henriette v. Egloffstein. Handlungsspielräume v. Frauen in Weimar-Jena um 1800. Diss. Jena 2005. – Julia Augart: Eine romant. Liebe in Briefen. Zur Liebeskonzeption im Briefw. v. S. Mereau u. Clemens Brentano. Würzb. 2006. – K. v. Hammerstein u. Katrin Horn (Hg.): S. B., gesch. Mereau. Verbindungslinien um 1800. Heidelb. 2007 (mit Bibliogr.). Klaus Manger

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kennen. Wieland nannte B. seine »Seelentochter«. Die Lais seines Aristipp (1800/01) ist nicht – wie öfter angenommen – ihr Porträt. Doch übertrug er Züge B.s auf die weibl. Hauptgestalt seines Briefromans. Weitere Werke: Bernhard Seuffert (Hg.): Reliquien v. S. B. In: Dt. Rundschau 52 (1887), S. 199–214. – Siegfried Sudhof (Hg.): S. B. / Christoph Martin Wieland: Briefw. 1799/1800. Ffm. 1980. – Karen Schenck zu Schweinsberg (Hg.): Meine Seele ist bey euch geblieben: Briefe S. B.s an Henriette v. Arnstein. Weinheim 1985. – Otto Drude (Hg.): Christoph Martin Wieland / S. B.: Briefw. Weinheim 1989. Literatur: Siegfried Sudhof: Wieland u. S. B. In: Studien zur Goethezeit. FS Lieselotte Blumenthal. Weimar 1968, S. 413–437. – Helga Döhn: S. B. Ein Lebensbild nach Briefen im Nachl. Savigny u. anderen Quellen. [Lpz.] 1986. – Christoph Perels: ›Empfindsam‹ oder ›romantisch‹? Zu S. B.s Lebensspuren. In: Die Brentano. Eine europ. Familie. Hg. Konrad Feilchenfeldt u. Luciano Zagari. Tüb. 1992, S. 172–182. – Klaus Günzel: Die Brentanos. Zürich 1993 (31998), S. 92–101. – Armin Strohmeyr: Die Frauen der Brentanos. Bln. 2006, S. 61–73. Klaus Manger

Brenz, Johannes, * 24.6.1499 Weil der Stadt, † 11.9.1570 Stuttgart; Grabstätte: ebd., Stiftskirche. – Reformator u. lutheBrentano, Sophie Marie Therese, * 15.8. rischer Theologe. 1776 Ehrenbreitstein, † 19.9.1800 Gut B.’ Vater war Schultheiß der Reichsstadt Weil Oßmannstedt/Weimar; Grabstätte: ebd., der Stadt. Sein Studium in Heidelberg oriPark. – Briefpartnerin Wielands, Henrientierte sich am humanist. Ideal des »homo ette von Arnsteins u. anderer Zeitgenostrilinguis«. Zu den Gefährten seiner Studisen. Das zweite Kind von Peter Anton Brentano aus dessen zweiter Ehe (1774) mit Maximiliane La Roche wuchs gemeinsam mit dem Bruder Clemens Brentano u. a. in Koblenz auf. Durch ihre Briefe hat sich B. einen Platz in der Literaturgeschichte gesichert. Ihr Briefwechsel mit Henriette von Arnstein, v. a. aber mit Wieland ist ein bedeutendes Zeugnis ihrer Zeit. B. weilte im Sommer 1799 mit ihrer Großmutter Sophie von La Roche (Wielands Jugendliebe) in Weimar u. Oßmannstedt, wohin sie im Jahr darauf zurückkehrte. Neben Wieland lernte sie u. a. auch Goethe, Schiller, Herder u. Johann Wilhelm Ritter

enzeit gehörten Johannes Oecolampadius, Martin Bucer u. a. spätere südwestdt. Reformatoren. 1518 begegnete er in Heidelberg erstmals Luther, der B. für sich gewann. 1522–1548 war B. Prediger in Schwäbisch Hall. Von dort durch das Interim vertrieben, wurde er 1553 als Propst in Stuttgart der führende Geistliche des Herzogtums Württemberg. B. war einer der bedeutendsten Vertreter der luth. Reformation in Südwestdeutschland u. theologisch einer der treuesten Schüler Luthers. Dies zeigt sich z.B. an seiner Christologie oder an seiner die symbol. Deutung ablehnenden Auffassung vom Wort. 1525 trat er als einer der Ersten im Abendmahlstreit

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dem Zwinglianismus entgegen u. brachte in ihm hervorgebrachte Literatur mitbedamit dessen Ausgreifen auf Südwest- stimmte. deutschland zum Stehen. Ebenso wandte er Ausgaben: J. B.: Opera. 8 Bde., Tüb. 1576–90. – sich gegen die Täufer, lehnte jedoch die An- Theodor Pressel: Anecdota Brentiana. Tüb. 1868 wendung der Todesstrafe gegen sie ab. Seine (Briefe). – Der Prediger Salomo. Hagenau 1528. Argumente gingen seit der Mitte des 16. Jh. Neudr. mit Einl. v. Martin Brecht. Stgt.-Bad in das Arsenal der Vertreter der Toleranz ein. Cannstatt 1970. – J. B.: Werke. Hg. M. Brecht u. Die Autorität der Obrigkeit stand für B. im- Gerhard Schäfer in Verb. mit Ernst Bizer. Tüb. 1970 ff. – Confessio Virtembergica. Holzgerlingen mer fest, ohne dass ihn dies an freimütiger 1999. – EKO XVI Herzogtum Württemberg. Tüb. Kritik gehindert hätte. Die Erhebungen der 2004. Bauern 1525 lehnte auch er ab, suchte aber Literatur: Bibliografie: Walther Köhler: Bibliodennoch nach einem Ausgleich der Interes- graphia Brentiana. Bln. 1904. 21963. – Weitere Titel: sen. Vor allem durch seine Mitarbeit an der Martin Brecht: Die frühe Theologie des J. B. Tüb. Brandenburgisch-Nürnbergischen Kirchen- 1966. – Ders.: B. In: TRE (mit Lit.). – Isabella Fehle ordnung von 1533 u. an der württembergi- (Hg.): J. B. 1499–1570 (Ausstellungskat.). Schwäschen von 1536 u. 1559 wurde B. einer der bisch Hall 1999. – BWKG 100 (2000), Gedenkbd. B. großen Architekten lutherischer obrigkeitl. – Matthias A. Deuschle: B. als Kontroverstheologe. Kirchenverfassung einschließlich des Ehe- Tüb. 2006. Martin Brecht rechts u. des Bildungswesens. Bis zu B.’ Tod waren bereits weit über 500 Bressand, Friedrich Christian, * um 1670 Drucke von ihm erschienen, darunter auch Durlach/Baden, † 4.4.1699 Wolfenbüttel. niederdt., frz., ital., engl. u. poln. Überset– Librettist u. Übersetzer. zungen. In der Mehrzahl handelte es sich um aus Predigten entstandene, meist lat. Bibel- B. war der Sohn des Mundkochs des Markauslegungen, nicht selten durchsetzt mit grafen von Baden-Durlach. Der Name spricht treffenden dt. Wendungen. Als einer der für eine frz. Abstammung. Aufgrund des großen evang. Exegeten wurde er bis ins 18. frühen Todes seiner Eltern u. nicht zuletzt Jh. geschätzt u. wirkte noch auf August Her- auch der Zerstörung seiner Heimatstadt im mann Francke u. Johann Albrecht Bengel. Pfälzischen Krieg 1689 verschlug es ihn noch B. schrieb neben Luther ein bes. verständ- im selben Jahr an den Hof des Herzogs Anton liches u. ausdrucksstarkes Deutsch, wie Ulrich von Braunschweig-Lüneburg, wo er überhaupt sein klares Urteil u. sein Sinn für bald das Amt eines Geheimen Kammerdas Einfache eines der Geheimnisse seines schreibers bekleidete. Wie sehr B. sich der großen Einflusses bei Hoch u. Nieder war; Gunst seines neuen u. überaus kunstsinnigen seine Flugschriften, Gutachten u. Briefe be- Herrn erfreute, ist v. a. daraus zu ersehen, legen dies. Der Katechismus von 1535 erlangte dass er sich bereits 1693 gegen den sehr beneben dem klass. Werk Luthers mit seiner gabten Kapellmeister Johann Sigismund prägnanten Kürze die weiteste Verbreitung Kusser (der auch als Komponist in Erscheiim Luthertum. Ähnliches gilt für das von B. nung trat) bei Hofe durchzusetzen vermochte 1526 geschaffene Gemeine Kirchengebet. Das – was diesen 1694 zum Weggang an die Württembergische Bekenntnis legte er 1552 dem Hamburger Oper veranlasste. B. übernahm Trienter Konzil vor u. wusste es danach nicht nur wichtige Funktionen am neuen, kontroverstheologisch zu verteidigen. 1690 eingeweihten Braunschweiger OpernDas deutsche evangelisch-humanistische theater, sondern man legte auch die OrganiSchulwesen u. die starke Stellung der geistl. sation u. Gestaltung sämtlicher höf. FestFührungsschicht Württembergs gehen auf B. lichkeiten in seine Hände. zurück. Durch sie wie durch die Eigenart Seine Vielseitigkeit bewies B. auch durch seiner Theologie prägte er die evang. Kirche, Übersetzungen aus dem Italienischen sowie Gesellschaft u. Kultur Württembergs nach- der frz. Klassiker Corneille u. Racine, die er haltig. So entstand ein besonderer geistiger auf diese Weise als einer der Ersten in Raum, der lange die Voraussetzungen für die Deutschland einführte. In erster Linie aber

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trat er als Dichter zahlreicher Singspiel- u. Operntexte hervor, die er für so unterschiedl. Komponisten wie Georg Bronner, Philipp Heinrich Erlebach, Reinhard Keiser, Johann Philipp Krieger, Johann Sigismund Kusser, Johann Mattheson u. Georg Caspar Schürmann verfasste, wobei er – wohl als Folge seiner Beschäftigung mit dem frz. rezitierenden Drama – den Alexandriner bevorzugte. Auch schrieb er einige der zur Hochbarock-Zeit beliebten Schäferspiele, Ballette u. Maskeraden. Von seinen Libretti ist das der Oper Erindo (Urauff. Hbg. 1693) vielleicht das bemerkenswerteste, weil B. hier ganz unter Verzicht auf das sonst übliche Intrigenspiel nur die einfachsten menschl. Empfindungen zum eigentl. Handlungsgegenstand machte. Wiederholt jedoch hat sein berühmterer Kollege u. Freund Christian Heinrich Postel seine in Hamburg aufgeführten Werke umgearbeitet, wenn sie ihm zu ernst erschienen. Dies geschah etwa dadurch, dass einem ausgesprochen trag. Stoff noch eine kom. Figur beigefügt wurde. Die wiederholten Eingriffe in B.s Werke dürfen allerdings nicht überbewertet werden, zumal sie keineswegs seine bemerkenswert vielseitigen künstler. Fähigkeiten in Frage stellen: weder seine Sprachgewandtheit u. Versiertheit in der Handhabung der verschiedensten Versmaße noch sein großes Geschick darin, seine Stoffe publikumswirksam in Szene zu setzen. Vor allem seine Libretti ließen durchaus nicht jenen Sinn fürs Dekorative, Allegorische, Affektgeladene u. betont Wirkungsvolle vermissen, der den allg. Kunstgeschmack des ausgehenden 17. Jh. charakterisiert. Wenn auch ihr Einfluss auf die noch junge dt. Oper – zumindest in Norddeutschland – nicht unerheblich war, so blieben sie doch, ebenso wie B.s übrige Werke, ohne nennenswerte Nachwirkung. Weitere Werke: Cleopatra. Wolfenb. 1691 (Singsp.). – Ariadne. Wolfenb. 1692 (Oper). – Jason. Helmstedt 1692 (Singsp.). – Die Plejades Oder das Sieben-Gestirne. Braunschw. 1693 (Singsp.). – Echo u. Narcissus. Wolfenb. 1693 (Oper). – Hercules unter denen Amazonen. Braunschw. 1693 (Singsp.). – Porus. Braunschw. 1693 (Singsp.). – Wettstreit der Treue. Braunschw. 1693 (Schäfersp.).

188 – Procris u. Cephalus. Braunschw. 1693 (Singsp.). – Die Wiedergefundenen Verliebten. Wolfenb. 1695 (Schäfersp.). – Türcken-Ballet u. Bauren- oder Hirten-Masquerade. Wolfenb. 1697. – Orpheus. Braunschw. 1690. 2 Tle., Braunschw. 1699. Tl. 1: Die sterbende Euridice. Tl. 2: Die verwandelte Leier des Orpheus (Singsp.). Ausgaben: Doppelte Freude der Musen (Wolfenb. 1695). In: Die Oper. Hg. Willi Flemming. Lpz. 1933, S. 180–197. – Salzthalischer Mäyen-Schluss [...]. Wolfenb. 1694. Neudr. hg. mit einer Einf. u. Komm.en v. Thomas Scheliga. Bln. 1994. – Zahlreiche Singspiele in: Wolfenbütteler Digitale Bibliothek, Abt.: Festkultur online (http:// www.hab.de/). Literatur: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, S. 795–815 (Bibliogr.). – Frank-Rutger Hausmann: Bibliogr. der dt. Übers.en aus dem Italienischen v. den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 1 (2 Teilbde.), Tüb. 1992, Nr. 0052, [0360], 0706, 0738, 0871, 0874. – Alberto Martino: Die ital. Lit. im dt. Sprachraum. Ergänzungen u. Berichtigungen zu F.-R. Hausmanns Bibliogr. Amsterd./Atlanta 1994 (Register). – Weitere Titel: Friedrich Chrysander: Gesch. der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Capelle. In: Jb. für musikal. Wiss. Bd. 1. o. O. 1863. – Hans Scholz: Johann Sigismund Kusser. Diss. Mchn. 1911. – Gustav Friedrich Schmidt: Die frühdt. Oper. 2 Bde., Regensb. 1933/34. – Heinz Degen: F. C. B. Ein Beitr. zur Braunschweig-Wolfenbütteler Theatergesch. Diss. Rostock 1934. – Ders.: F. C. B. In: Jb. des Braunschweig. Geschichtsvereins 1935, S. 73–136. – Hellmuth Christian Wolff: Die Barockoper in Hamburg. Bd. 1, Wolfenb. 1957. – Heinz Degen: F. C. B. In: NDB. – Heiduk/Neumeister, S. 18, 148 f., 303 f. – Sara Smart: Die Oper u. die Arie um 1700. Zu den Aufgaben des Librettisten u. zur Form u. Rolle der Arie am Beispiel der Braunschweiger u. Hamburger Oper. In: Studien zum dt. weltl. Kunstlied des 17. u. 18. Jh. Hg. Gudrun Busch u. Anthony J. Harper. Amsterd./Atlanta 1992, S. 183–212. – Hans Joachim Marx u. Dorothea Schröder: Die Hamburger Gänsemarkt-Oper. Kat. der Textbücher 1678–1748). Laaber 1995. – Hans Joachim Marx [Käte Lorenzen] in: MGG 2. Aufl. Bd. 3, Sp. 859–861. – George J. Buelow in: The New Grove 2. Aufl. Bd. 4, S. 327. – S. Smart: The ideal image. Studies in writing for the German Court 1616–1706. Bln. 2005. – Bernhard Jahn: Die Sinne u. die Oper. Sinnlichkeit u. das Problem ihrer Versprachlichung im Musiktheater des nord- u. mitteldt. Raumes (1680–1740). Tüb. 2005. Rainer Wolf / Red.

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Bretschneider, Heinrich Gottfried von, * 6.3.1739 Gera, † 1.11.1810 Schloss Krzimit bei Pilsen. – Satiriker, Parodist, Erzähler u. Herausgeber. Erzogen von Herrnhutern, besuchte B. in Gera das Gymnasium. 1753 trat er in ein sächsisches Regiment ein u. kämpfte im Siebenjährigen Krieg wechselnd auf sächsischer u. preuß. Seite. Auf Empfehlung Friedrich Karl von Mosers wurde er Landeshauptmann im hessisch-nassauischen Usingen. 1773 reiste er nach England u. Frankreich u. lebte nach der Rückkehr in Wien u. Berlin, wo er im aufklärerischen »Mittwochsclub« verkehrte. Mitte der 1770er Jahre trat B. in österr. Staatsdienste, 1778 wurde er Bibliothekar in Ofen u. Kaiserlicher Rat. In Wien traf er u. a. mit Josef von Sonnenfels, Gottfried van Swieten u. sogar mit Kaiser Joseph II. zusammen. Nach der Veröffentlichung von Nicolais Reisebericht über Österreich-Ungarn, zu dem er Material geliefert hatte, wurde er 1784 als Bibliothekar an die Lemberger Hochschule versetzt. Nach der Pensionierung 1801 lebte er in Wien, Wiesbaden u. Nürnberg, kurze Zeit auch in Erlangen in der Nachbarschaft seines Freundes Johann Georg Meusel, im letzten Lebensjahr auf Schloss Krzimitz bei Pilsen. B., in der Forschung bislang noch nicht gewürdigt, ist einer der bedeutendsten Aufklärer in der österr. Monarchie außerhalb Wiens. Als vielseitiger Literat versuchte er sich in den unterschiedlichsten literar. Genres. Er schrieb Satiren, publizierte eine der erfolgreichsten Parodien auf das Wertherfieber in der Form einer Bänkelsängerballade (Eine entsetzliche Mordgeschichte von dem jungen Werther, wie sich derselbe den 21. December durch einen Pistolenschuß eigenmächtig ums Leben gebracht [...]. o. O. o. J. [1776], zahlreiche Neudrucke) u. verfasste gesellschaftskrit. Fabeln (Fabeln, Romanzen u. Sinngedichte. Ffm./Lpz. 1781). Er lieferte freimaurerische Beiträge u. brachte einen antiklerikalen Almanach heraus (Almanach der Heiligen auf das Jahr 1788 [und: 1789]. o. O. [Lpz.] 1788/89); er stellte für das Jahr 1788 einen Lemberger Musen Almanach zusammen, der allerdings nur Dichtungen von ihm selbst enthielt, schrieb Texte zu

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kleinen Opern u. Singspielen u. verfasste zwei Romane: Familiengeschichte und Abentheuer Juncker Ferdinands von Thon (2 Bde., Nürnb. 1775/76) u. Georg Wallers Leben und Sitten, wahrhaft – oder doch wahrscheinlich – beschrieben, von ihm selbst (Kölln [recte: Bln.] 1793). Der zweite Roman ist ein autobiografisch gefärbter, von Sternes arabeskenhafter Erzählweise beeinflusster, antiempfindsamer Episodenroman, der hauptsächlich im mittleren u. mittelöstl. Teil Deutschlands vom Beginn der Gellert-Zeit bis etwa Mitte der 1770er Jahre spielt. Mit diesem literar. Text demonstrierte B. noch einmal, dass er sich in Ofen u. später in der galizischen Provinz in Lemberg als »Vorposten« der Berliner Aufklärung, in deren Kommunikationsnetzwerk er eingebunden war, verstand. Weitere Werke: Graf Esau. Ein Heldengedicht mit einer nützl. Vorrede eines alten Menschenfeindes. o. O. 1768 (Satire). – Papilloten. Ffm./Lpz. 1769 (Satire). – Die Religion aus der Natur u. Offenbarung, geprüfet mit philosoph. u. krit. Augen. Wien 1774 (Abb.). – Ankündigung u. Probe (Vorw.) einer neuen Ausg. mit Anmerkungen v. Johann Fischarts Übers. des ersten Buchs v. Rabelais ›Gargantua‹ [...]. Neue mit Anmerkungen vers. Aufl. Nürnb. 1775. – Catalogus nonnullorum rariorum, partimque varii idiomatis et argumenti librorum, quos una cum parva collectione imaginum eruditorum venum exponit H. G. a B. Pest 1781. – Hdb. zur Kirchen- u. Ketzer Geschichte für das Jahr 1781. Häresiopel (d. i. Züllichau) 1781 (zugeschrieben, s. auch Karl Friedrich Bahrdt). – (Hg.) Ernst Traugott v. Kortum: Beiträge zur philosoph. Gesch. der heutigen geheimen Gesellsch.en. o. O. [Lemberg] 1786. – Recension der Schrift: Charakter Friedrichs II., Königs v. Preußen, beschrieben v. Anton Friedrich Büsching. Wien/Lpz. 1789. – Antwort eines poln. Edelmannes in der Republik an seinen Freund in Galizien auf die Anfrage: was v. einer Vereinigung Galiziens mit Ungarn zu halten sei. Warschau 1790. – Die Spring-Wurzel oder Die böse Liesel. Eine kom. Oper. Nürnb. 1810. – Reise des Herrn v. B. nach London u. Paris nebst Auszügen aus seinen Briefen an Herrn Friedrich Nicolai. Hg. Leopold Friedrich Günther v. Goeckingk. Bln./ Stettin 1817. Literatur: Johann Georg Meusel: Vermischte Nachrichten u. Bemerkungen histor. u. litterar. Inhalts [...]. Erlangen 1816. – Ders.: Histor. u. litterar. Unterhaltungen [...]. Coburg 1818. – Friedrich Köppen: Vertraute Briefe über Bücher u. Welt.

Bretzner Lpz. 1820. – Karl Friedrich Linger (Hg.): Denkwürdigkeiten aus dem Leben des k. k. Hofraths H. G. v. B. 1739–1810. Wien/Lpz. 1892 (enth. komm. Selbstzeugnisse B.s). – Margit Szabó: H. G. v. B. budai tartózkodása, 1782-1784-ig. Fejezet a magyar felvilágosodás történetóból. Budapest 1942. – Wilhelm Haefs u. York-Gothart Mix: Der Musenhort in der Provinz. Literar. Almanache in den Kronländern der österr. Monarchie im ausgehenden 18. u. beginnenden 19. Jh. In: AGB 27 (1986), S. 171–194. Wilhelm Haefs

Bretzner, Christoph Friedrich, * 10.12. 1746 Leipzig, † 31.8.1807 Leipzig. – Dramatiker u. Epiker.

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stanze (Lpz. 1781) zu erwähnen. Es wurde die Vorlage für Gottlieb Stephanies Libretto zu Mozarts Die Entführung aus dem Serail (1782). Während B. allerdings sein Stück mit einem banalen Kniff zum guten Ende brachte – Selim Bassa entpuppt sich als Belmonts Vater –, arbeiteten Mozart u. Stephanie die humane Botschaft, die an Goethes Iphigenie erinnert, wesentlich stärker heraus. B. protestierte zunächst öffentlich in der »Leipziger Zeitung« dagegen, dass »ein gewisser Mensch, Namens Mozart in Wien« sich erdreistet habe, sein Stück ohne Erlaubnis zu bearbeiten, versöhnte sich schließlich aber insofern wieder mit dem Komponisten, als er 1794 »des unsterblichen Mozarts« Cosi fan tutte u. d. T. Weibertreue, oder die Mädchen sind von Flandern (Lpz.) bearbeitete.

Der Sohn des kurfürstlich-sächs. Hoftapezierers Johann Friedrich Bretzner war in seiner Heimatstadt als Kaufmann tätig. Nebenberuflich verfasste er Dramen u. Romane. ZwiWeitere Werke: Das Leben eines Lüderlichen. schen 1769 u. 1796 entstand eine große An- Ein moral.-satyr. Gemälde nach Chodowiecki u. zahl von Bühnenstücken, die durchwegs den Hogarth. Lpz. 1787 f. (R.). – Schausp.e. 2 Bde., Lpz. Geist der bürgerl. Aufklärung atmen: Parve- 1792–96. – Singsp.e. Lpz. 1796. – Schausp.e. 4 nühaftes Verhalten u. Adelsnachahmung Bde., Lpz. 1820. Literatur: K. Roesler: C. F. B. Diss. Heidelb. wird kritisiert (Die Erbschaft aus Ostindien. Lpz. 1781), scheinbar übernatürl. Phänomene 1919. – Karl Richter: C. F. B. In: NDB. Wynfrid Kriegleder stellen sich als Betrügereien heraus (Der Geisterbeschwörer. Lpz. 1790), tugendhafte Liebespaare setzen sich gegen die Unvernunft der Breuer, Hans, * 30.4.1883 Gröbers bei Umwelt durch. B.s klug gebaute u. geschickt Halle/Saale, † (gefallen) 20.4.1918 vor dialogisierte Dramen stehen unter dem EinVerdun; begraben in Mangiennes. – Arzt fluss Lessings; sie zeichnen sich durch große u. Herausgeber des ersten WandervogelLebendigkeit aus, wozu bes. die gezielte Liederbuchs Zupfgeigenhansl (1909). sprachl. Charakterisierung der Figuren (Dialekt) beiträgt. Die ungezwungene Einbin- B. war ab 1899 in Fahrtengruppen des Wandung zeitgenössischer Ereignisse erweist die dervogels, 1901 in Berlin-Steglitz, seit 1907 Stücke außerdem als interessante kulturge- in der »Heidelberger Pachantey« (dort stuschichtl. Quellen: So spielt in dem über viele dierte er Medizin), u. 1910/11 war er selbst Jahre populären Lustspiel Das Räuschchen Leiter des Jugendbundes »Wandervogel«. B. (Lpz. 1786. 2. Aufl. u. d. T. Das Räuschgen. Lpz. ist Herausgeber u. Bearbeiter des ersten u. 1790) der amerikan. Unabhängigkeitskrieg wohl populärsten Liederbuchs dieser frühen eine entscheidende Rolle; in der Posse Die Jugendbewegung. Der Zupfgeigenhansl (ZupfLuftbälle, oder: der Liebhaber à la Montgolfier geige ist die Gitarre, die »Klampfe« der Ju(Lpz. 1786) wird die gerade aktuelle Erschei- gendgruppen) erschien 1909 (Vorwort: Heinung der Ballonluftfahrt zum zentralen Mo- delberg Weihnachten 1908). tiv der Komödie; in dem Lustspiel Karl und Für den Inhalt, der anfangs in den verSophie oder die Physiognomie (Lpz. 1780) gilt der schiedenen Auflagen variiert, sind Lieder aus Spott der wertherischen Empfindsamkeit u. nachempfundener Minneromantik, Gesellden physiognom. Theorien Lavaters. schaftslieder des 16. Jh. (die als Lieder aus Unter den vielen Singspielen, die B. ver- dem »Mittelalter« entdeckt wurden, u. a. fasste, ist das 1781 für den Komponisten Jo- Landsknechtslieder), Lieder »im Volkston« hann André geschriebene Belmonte und Con- des 19. Jh. (populäre Lieder der Goethezeit u.

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Bre˘zan

des Biedermeier) u. geistliche Lieder charak- hansl. Diss. Ffm. 1932 (gedr. Gelnhausen 1934). – teristisch. In romantischer Weise werden die Hinrich Jantzen: Namen u. Werke [...] JugendbeQuellenangaben stilisiert u. sind grundsätz- wegung. Bd. 2, Ffm. 1974, S. 51–58. – Heinz Spielich unkritisch (ähnlich auch in Arnim-Bren- ser: H. B. – Wirken u. Wirkungen. Neuss 1977. – Wilhelm Scholz u. a.: Die dt. Jugendmusikbewetano, Des Knaben Wunderhorn, 1806/08, das für gung in Dokumenten [...] bis 1933. Wolfenb. 1980, viele Vorstellungen vom Volkslied als Vorbild S. 13 u. ö. – Wolfgang Kaschuba: Volkslied u. diente). B. übernahm Lieder aus verschiede- Volksmythos. In: Jb. für Volksliedforsch. 34 (1989), nen Sammlungen (u. a. Erk-Böhme 1893/94, S. 41–55. – MGG. Otto Holzapfel Kretzschmer-Zuccalmaglio 1840), notierte sie aber in der Form, wie sie in seiner Heidelberger Gruppe gesungen wurden. B. selbst Bre˘zan, Jurij, auch: Dusˇ an Sˇwik, * 9.6. sprach von der »Moralität u. der reinigenden 1916 Räckelwitz bei Kamenz/Oberlausitz, Kraft des Volkslieds« (1912). † 12.3.2006 Kamenz. – Sorbischer u. Die Sammlung von B. hatte überaus großen deutscher Erzähler, Lyriker u. DramatiErfolg. Bereits 1910 erschien die 4. Auflage, ker. jetzt in Leipzig im Verlag Hofmeister, die 19. Auflage 1914 u. die 24. Auflage 1915. Spätere B. war der bekannteste u. erfolgreichste LiAusgaben haben Gitarren- u. auch Klavier- terat der Lausitzer Sorben in der zweiten begleitung. Die 86. Auflage 1920 hat den Hälfte des 20. Jh.; er nannte sich selbst einen Zusatz »...unter Mitwirkung vieler Wander- »sorbischen Schriftsteller, der auch deutsch vögel«, u. tatsächlich spiegeln die Lieder schreibt« (1979). Der Sohn eines Kleinbauern, der von 1946 wechselnde Singpraxis in den Gruppen. Mit der 109. Auflage waren 623.000 Exemplare bis 1949 in Bautzen als sorbischer Jugend- u. gedruckt, eine 155. Auflage erschien 1930, Kulturfunktionär tätig war, wurde im Okt. also bereits in einer Zeit der nächsten Gene- 1949 freischaffend. Anfangs als Herausgeber ration der dt. Jugendbewegung, der Bündi- u. Übersetzer, danach vornehmlich als Roschen Jugend (mit einem völlig anderen mancier suchte er zwischen sorbischer Kultur Liedrepertoire). Noch 1940 erschien eine 164. u. ostdt. Realität zu vermitteln. Die eigenen Auflage mit dann insg. 903.000 gedruckten Erfahrungen mit der repressiven »WendenExemplaren. Die Lieder des »Zupf« blieben politik« der Nationalsozialisten (Relegation bei den Älteren u. in der pädagog. orientier- vom Gymnasium, Aufenthaltsverbot für die ten Jugendmusikbewegung populär. Von Lausitz) führten B., der dem sorbisch-kath. dort kamen manche Lieder in das Repertoire Milieu entstammte, nach 1945 zu marxist. Positionen. Mit operativer Lyrik sowie volksdes Schulmusikunterrichts. Eine neue Blüte erlebte der Buchtitel, als tüml. Szenen für das Amateurtheater rief der sich in den 1970er Jahren eine Singgruppe Heimkehrer aus US-amerikanischer Gefandes damals modernen dt. »Folk« nach B.s genschaft seine Landsleute zur Aussöhnung Sammlung »Zupfgeigenhansel« nannte (drei mit den Deutschen auf. In dem häufig ziLPs 1976–1978). Heute trägt die Deutsche tierten Langgedicht Wie ich mein Vaterland fand Hochschulgilde (eine Studentenverbindung (dt. u. sorb. 1950) bekannte er sich zur DDR aus der Jugendbewegung) in Heidelberg den als endlich gefundener Heimat der autochNamen von B., ebenso eine Jugendherberge thonen slaw. Minderheit in Sachsen u. Brandenburg. in Thüringen. B.s Band mit Erzählungen u. Gedichten Auf Weiteres Werk: Das Heidelberger Liederbuch. dem Rain wächst Korn war 1951 das erste Buch In: Wandervogel 3 (1909), S. 32–34 u. S. 57 f. eines sorb. Autors in einem dt. Verlag (Volk Neuere Ausgaben: Versch. Neudr.e: Der Zupfgeigenhansl. Mainz 1950 ff., 1981. – Neudr. der 10. und Welt. Bln./DDR), es begründete die literar. Zweisprachigkeit der Sorben. 1959 Aufl. 1913. Lpz. 1989. Literatur: Nachruf auf B. In: Singgemeinde 4 wurde in Bautzen sein wichtigstes Bühnen(1928), S. 76–78. – Albert Gutfleisch: Volkslied in stück Marja Jancˇ owa (1958) erstinszeniert, das der Jugendbewegung, betrachtet am Zupfgeigen- sich am epischen Drama Brechts orientierte.

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Zum bedeutendsten sorb. Gegenwarts- ler mit intellektueller Fantasie bewahrte sich schriftsteller wurde B. jedoch dank seiner oft eine kritische Weltsicht, bei Publikum u. groß angelegten Prosa. Nach mehreren No- Medien im In- u. Ausland blieb er bis ins hohe vellen veröffentlichte er 1953 den ersten Ro- Alter eine literar. Autorität. man 52 Wochen sind ein Jahr, der die VerändeWeitere Werke: (Auswahl deutschsprachiger rungen in den sorb. Dörfern beschrieb u. von Ausgaben): Hochzeitsreise in die Heimat. Dresden der DEFA verfilmt wurde. Mit der autobiogr. 1953 (R.). – Christa. Die Gesch. eines jungen MädFelix-Hanusch-Trilogie (Der Gymnasiast. Bln./ chens. Bln./DDR 1957 (E.). – Reise nach Krakau. DDR 1958. Semester der verlorenen Zeit. Bln./ Bln./DDR 1966 (E.). – Die Schwarze Mühle. Bln./ DDR 1960. Mannesjahre. Bln./DDR 1964) DDR 1968. Würzb. 1983 (E.). – Ansichten u. Einsichten. Aus der literar. Werkstatt. Bln./DDR 1976 stellte er sich in die Tradition des Erzie(Selbstzeugnisse). – Mein Stück Zeit. Bln./DDR hungsromans, lieferte aber zgl. ein Exempel 1989 (Erinnerungen). – Ohne Paß u. Zoll. Lpz. 1999 für sozialist. Realismus. Die farbige, anekdo- (Erinnerungen). – Die grüne Eidechse. Bln. 2001 tenreiche Handlung zeigt die Sozialisierung (R.). – Die Einladung. Bautzen 2003 (N.). – Die der Hauptfigur vom Ersten Weltkrieg bis Jungfrau, die nicht ins Bett wollte. Volksmärchen Ende der 1950er Jahre. der Sorben. Bautzen 2006. Mit dem Romanepos Krabat oder Die VerAusgabe: Ausgew. Werke in Einzelausg.n. wandlung der Welt (sorb. u. dt. 1976), seinem Bd. 1–8, Bln./DDR 1986–89. Hauptwerk, gelang ihm eine originelle InLiteratur: DBA II, III. – Hans Koch: Mannesterpretation des Oberlausitzer Sagenstoffs jahre. Bemerkungen über J. B. In: Weggenossen. vom guten Zauberer Krabat. Ohne Begren- Fünfzehn Schriftsteller der DDR. Hg. Klaus Jarzung durch Zeit u. Raum antizipiert ein all- matz u. Christel Berger. Lpz. 1975, S. 114–147. – wissender Erzähler den Sieg des (sorb.) Joachim Keil (Hg.): Betrachtungen zum Werk J. B.s. Knechts über den (dt.) Herrn, ein wichtiges Bautzen 1976. – Christine Gundlach: J. B. In: Lit. der DDR. Einzeldarstellungen. Hg. Hans Jürgen Nebenmotiv bilden Gefahren der modernen Geerdts. Bln./DDR 1976, S. 242–258. – Monika Genforschung. In der späteren Fortsetzung Schneikart: Traditionen der Volksdichtung im Krabat oder Die Bewahrung der Welt (sorb. 1994, Schaffen J. B.s. Diss. Greifsw. 1981. – Frank Stübdt. 1995) beschränkte sich B. auf die Hoff- ner: Die Erkundung der nat. Identität als Vorausnung, es komme zu einem weltweiten »Pakt setzung literar. Welt- u. Epochengestaltung. Diss. der Vernunft«. Großen Widerhall fand in der Lpz. 1988. – Lucija Hajnec: J. B. In: Prˇinosˇ ki k DDR der Roman Bild des Vaters (1982), in dem stawiznam serbskeho pismowstwa leˇt 1945–90 B. – nicht ohne Verklärung – die letzten zehn [Beiträge zur Gesch. des sorb. Schrifttums Lebenstage seines alten Vaters literarisch 1945–90]. Bautzen 1994, S. 32–54. – Dietrich schilderte. Mit dem satir. Anti-Treuhand- Scholze: Postmoderne Tendenzen in der sorb. Lit.? J. B.s ›Krabat‹-Romane. In: WB 45 (1999), 3, Roman Die Leute von Salow (dt. u. sorb. 1997), S. 423–431. – Ders.: Brechts ›Mutter Courage‹ der auch dramatisiert wurde, äußerte der (1939) u. B.s ›Marja Jancˇowa‹ (1958), in: WB 51 Autor nach der polit. Wende in Ostdeutsch- (2005), 3, S. 458–464. Dietrich Scholze land Zweifel an den Prinzipien der Marktwirtschaft. Zu B.s Werk zählt eine Anzahl von KinderBreznik, Melitta, * 1961 Kapfenberg/Steiu. Jugendbüchern, einige davon wurden von ermark. – Ärztin; Romanautorin u. Er1989 auch in Westdeutschland ediert. Insg. zählerin. liegen über 50 Buchausgaben in meist hohen bzw. mehreren Auflagen vor, die Prosa wurde B.s Romane u. Erzählungen sind geprägt von in ca. 25 Sprachen übertragen. Alle wesentl. ihren berufl. Erfahrungen als Oberärztin an Werke existieren in beiden Arbeitssprachen, einer psychiatr. Klinik im Schweizer Kanton verlegt jeweils in Berlin (bis 1989) bzw. Graubünden. Ihr viel beachtetes Erzähldebüt Bautzen. Für die Wahrung sorbischer Inter- Nachtdienst (Mchn. 1995) verwebt Bildfolgen essen setzte sich B. auch nach 1990 ein, als er des nächtl. Spitalalltags einer diensthabennatur- u. volksnah in seinem Heimatdorf den Ich-Erzählerin mit deren persönl. (Kindlebte u. arbeitete. Der bodenständige Erzäh- heits-)Erinnerungen an einen alkoholkran-

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ken Vater, der in der fiktionalen Gegenwart Gegenwartslit. Hg. Friedbert Aspetsberger. Innsbr. in einer anderen Klinik im Sterben liegt. 2003, S. 158–179. Raffaele Louis Kunstvoll spiegelt dieser Standort des Erzählens das spannungsreiche Verhältnis der Brincken, Gertrud von den, * 18.4.1892 Generationen, aber auch die Widersprüch- Gut Brinck-Pedwalen/Kurland, † 17.11. lichkeit der gegenwärtigen Anforderungen: 1982 Regensburg, – Lyrikerin u. Prosadie Gleichzeitigkeit von Nähe u. Distanz, von autorin. Abhängigkeit, Co-Abhängigkeit u. emotionaler Weite, gehetztem Berufsalltag u. teil- Nach ihrer Kindheit auf dem Familiengut Brinck-Pedwalen verbrachte B. ihre Schulzeit nehmendem Abschied. Die einfühlsame Darstellung von Einsam- in Mitau. Ab 1915 arbeitete sie in Tuckum als keit, Krankheit, Angst u. Tod verbindet die Krankenschwester u. Englischlehrerin. Ihr acht Erzählungen des zweiten Werkes Figuren erster Gedichtband Wer nicht das Dunkel kennt (Mchn. 1999) mit dem Erstling. Darüber (Riga) erschien 1911. 1925 heiratete sie den Österreicher Walther Schmied-Kowarzik († hinaus ermöglichen die jetzt kürzeren Er1958), damals Ordinarius für Philosophie an zählsegmente das Experimentieren mit Konder Universität Dorpat/Estland. In den stellationen. Der Zwiespalt zwischen »nack1930er Jahren lebte B. in Frankfurt/M. u. tem« Leben u. künstler. Aufarbeitung wird Friedberg/Hessen, bis sie 1939 nach Mödling hier stärker zugunsten der schriftsteller. bei Wien übersiedelte. B. besuchte in diesen Konstruktivität gelöst. Technisch zeigt dies Jahren immer wieder ihre baltische Heimat. u. a. der von Pulver überzeugend herausge1936–1940 entstanden die Romane März stellte Bezug der Erzählung Spinnen auf Elias (Wien 1937), Herbst auf Herrenhöfen (Bielef. Canettis Die Blendung. 1939) u. Unsterbliche Wälder (Stgt. 1941), die in In B.s Roman Das Umstellformat (Mchn. den 1940er Jahren mehrfach aufgelegt wur2002) reist eine Ich-Erzählerin in Begleitung den. Nach Flüchtlingsjahren in Unterbruck/ ihrer Mutter auf den Spuren der Großmutter, Oberpfalz lebte B. von 1950 an in Regensdie in einer psychiatr. Anstalt der National- burg. sozialisten ums Leben kam, durch DeutschIm Mittelpunkt ihres Werks stehen histor. land. Diese Reise gerät der Ich-Erzählerin Ereignisse u. persönl. Erinnerungen an ihre schließlich zur Autopsie, zur unangenehmen balt. Heimat. Ihre autobiogr. AufzeichnunAhnung, als Ärztin Instrument einer Gesell- gen Land unter (Darmst. 1977) geben Zeugnis schaft zu sein, die einer, dem Einzelnen in vom polit. Schicksal der Balten während u. seiner Lebensgeschichte nicht angemessenen, zwischen beiden Weltkriegen. Die für sie hermet. Grenzziehung zwischen Wahnsinn leidvollen Folgen wechselnder deutscher u. u. Normalität bedarf. Leitmotivisch durch- russ. Hoheitsansprüche wurden für die Auzieht B.s Dichtung die Todesnähe all ihrer torin Ausgangspunkt für immer wieder neu Figuren – auch die der Erzähler –, was die formulierte Sinnfragen. Auch in ihrem letzAutorin bereits in Nachtdienst antizipiert u. ten Roman Nächte (Kassel 1980) verknüpft B. dort in der Formel »Pepetuum mobile in den Einzelschicksale mit histor. Geschehnissen Tod« ausdrückt. Die Rezensenten heben insg. im Baltikum der Jahre 1925 bis 1944. Ihr lobend B.s distanziert-recherchierten, aber einfacher u. direkter Erzählstil ist unsentidennoch behutsam beobachtenden, vom mental u. verleiht gerade den dramatisch Modus des Erinnerns geprägten Stil hervor. gestalteten Passagen epische Ausdruckskraft. In B.s zahlreichen Gedichtbänden stehen Literatur: Elsbeth Pulver: Gesch.n aus der Helle der Nacht. In: Drehpunkt 32 (2000), H. 106, Sinn- u. Glaubensfragen vor dem HinterS.115–117. – Thomas Kraft: M. B. In: LGL. – Da- grund persönl. Erlebens. Qualen u. Trauma niela Strigl: Lauter Fälle – nicht nur für die Lite- der Judenvernichtung durch die Nationalsoraturwiss. Über den Hang zum Medizinischen zum zialisten thematisiert das Schauspiel Wasser Beispiel bei Paulus Hochgatterer, M. B. u. Thomas der Wüste (Hörspielfassung 1959). Ein ÜberRaab. In: Neues. Trends u. Motive in der (österr.) lebender des Warschauer Ghettos versucht

Brinckman

sich in Israel eine neue Existenz aufzubauen. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Frage nach dem Motiv für seinen Verzicht auf Vergeltung. B. hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter die Albertus-Magnus-Medaille der Stadt Regensburg u. das Bundesverdienstkreuz. Sie gilt neben Frank Thiess u. Werner Bergengruen als eine der bedeutendsten Schriftstellerpersönlichkeiten des Baltikums. Weitere Werke: Heimwehbuch. Bln. 1926 (L.). – Stimme im Dunkel. Mchn. 1949 (L.). – Judas Ischarioth. Ein lyr. Zyklus. Darmst. 1974. – Daß wir uns trennen mußten. Darmst. 1975 (L.). – Die Sintflut steigt. Darmst. 1977 (D.). – Eine Handvoll Alltäglichkeiten. St. Michael/Österr. 1980 (E.en). – Gezeiten u. Ausklang. Gedichte aus dem Nachl. Köln 1992. Literatur: Doro Radke: Die balt. Dichterin G. v. d. B. In: Geschichtsbewußtsein groß geschrieben. Hg. Heinz Radke u. Hans-Ulrich Engel. Mchn./ New York/London/Paris 1984, S. 137 ff. – Michael Garleff: Verlorene Welt u. geistiges Erbe. Geschichtsdeutung dt.-balt. Schriftsteller. Siegfried v. Vegesack u. G. v. d. B. In: Unerkannt u. (un)bekannt. Hg. Carola L. Gottzmann. Tüb. 1991, S. 299–322. – C. L. Gottzmann: Die ewige Suche nach dem Ratschluss Gottes. Analyse einiger Werke G. v. d. B.s. In: Vergessene Lit. Hg. Petra Hörner. Ffm. 2001, S. 87–114. Andrea Stoll / Red.

Brinckman, Brinckmann, John, * 3.7.1814 Rostock, † 20.9.1870 Güstrow; Grabstätte: ebd., Städtischer Friedhof St. Gertruden. – Erzähler u. Lyriker. Der Sohn eines Kapitäns u. Schiffseigners studierte in seiner Heimatstadt zunächst Jura, dann neuere Sprachen, Literatur u. Geschichte. Als Burschenschaftler wegen polit. Umtriebe verurteilt, brach er das Studium ab. Um den drückenden sozialen Verhältnissen in seiner Heimat zu entfliehen, wanderte er 1839 nach Amerika aus. Hier verdingte er sich als Journalist, Übersetzer u. Gesandtschaftssekretär. 1842 kehrte er enttäuscht zurück. Zunächst Hauslehrer bei Adelsfamilien, dann Inhaber einer Privatschule, war B. ab 1849 in Güstrow als Realschullehrer tätig. Der Aufenthalt in Amerika ließ B. die Sprache u. Kultur seiner engeren Heimat in neuem Licht erscheinen. Er schrieb nun

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plattdt. Gedichte u. kurze Erzählungen, die er zunächst in Lokalblättern veröffentlichte. Zahlreiche kurze Episodenerzählungen über den fiktiven Rostocker Kapitän Pött kamen in Buchform u. d. T. Kasper-Ohm un ick heraus (Güstrow 1855. 2. Tl. von Aus dem Volk für das Volk. Plattdeutsche Stadt- und Dorfgeschichten. Stark erw. Separatausg. Rostock 21868). Die derb-humorist. Texte in niederdt. Mundart, oft nur durch den bramarbasierend sein »Schiemannsgoorn« spinnenden KasperOhm miteinander verbunden, schildern in oft grotesker Manier das Alltagsleben in Rostock. In späteren Prosawerken wandte sich B., auch in hochdt. Sprache, Märchenstoffen u. der Tierdichtung zu, konnte damit aber nicht an die Erfolge seines plattdt. Erstlingswerks anknüpfen. B. veröffentlichte seine humorvolle plattdt. Prosa einige Jahre vor den großen Romanen seines Landsmanns Fritz Reuter, in dessen Schatten er dennoch bis heute steht. Der literar. Durchbruch blieb ihm versagt. Dies gilt auch für seine lyr. Produktion. Seine 1859 in Güstrow publizierte Gedichtsammlung Vagel Grip vereinigt plattdt. Liebes-, Kinder- u. Naturgedichte, die z.T. mit realistischer Offenheit die sozialen u. polit. Missstände im Mecklenburg des 19. Jh. zur Sprache bringen. Das revolutionäre Gedankengut des Burschenschaftlers u. Anhängers der Revolution von 1848 hat in B.s Spätwerk jedoch keinen Niederschlag gefunden. Weitere Werke: Peter Lurenz bi Abukir. Rostock 1869 (E.). – Uns’ Herrgott up Reisen. Rostock 1870 (R.). Ausgaben: Sämtl. Werke. Hg. Otto Weltzien. 5 Bde., Lpz. 1903. – J. B. Werke. Hg. Kurt Batt. Rostock 1964. 41976. – Briefe, Dokumente, Texte. Hg. Wolfgang Müns. Bd. 1 (1834–45); Bd. 2 (1846–70) Leer 2002–04. Literatur: Albrecht Römer: J. B. Werden u. Wesen. Bln. 1907. – Erwin Schulz: Der volkskundl. Gehalt der plattdt. Werke J. B.s. Diss. Rostock 1937. – Jürgen Borchert: B. in Amerika. In: NDL 29 (1981), S. 75–83. – Wolfgang Siegmund: J. B. Neubrandenburg 1991. – Goedeke Forts. – Claus Schuppenhauer (Hg.): Plattdeutsch in Lit. u. Gesellsch. Eine Tagung zum 130. Todestag v. J. B. Leer 2001. Jörg Schilling / Red.

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Brinitzer, Carl, auch: Usikota, * 30.1.1907 Riga, † 24.10.1974 London. – Verfasser von literatur- u. kulturgeschichtlichen Werken, Biografien u. Rundfunkbeiträgen.

Brinkmann

des Verlegers Julius Campe. Hbg. 1962) u. über den Illustrator Daniel Chodowiecki (Die Geschichte des Daniel Ch.: ein Sittenbild des 18. Jh. Stgt. 1973). Weitere Werke: Zulu in Germany. London 1938 (Satire). – German versus Hun. London 1941. – Cassel’s War and Post-War German Dictionary. Kassel/Toronto 1945. – Wo die Queen regiert. Mchn. 1956 (Anth.). – Lichtenberg. Tüb. 1956. Mchn. 1979 (Biogr.). – Heinrich Heine. Hbg. 1960 (Biogr.). – Dt. Dichter führen nach Italien. Mainz/ Bln. 1964 (Reisebuch). – Liebeskunst ganz prosaisch. Reinb. 1966. 1974 (Kulturgesch.). – Bacchus, Gambrinus u. Co.: eine nüchterne Gesch. des menschl./unmenschl. Durstes. Ffm. 1972 (Kulturgesch. des Alkohols). – Herausgeber: Zwei Löffel Goethe, eine Prise Shaw. Kulinarisches literarisch. Reinb. 1969.

In Genf, Berlin, München, Hamburg u. Kiel studierte der später zum Dr. jur. promovierte B. Rechtswissenschaften. Erste, den literar. Vorbildern oft stilistisch nachempfundene Aufsätze u. Glossen (etwa über François Villon) erschienen bereits in den späten 1920er Jahren im »Kritiker« u. im »Sturm«. 1933 emigrierte B. zunächst nach Italien, drei Jahre später nach England. Von 1938 bis 1967 war er als Leiter der Ansager- u. Übersetzungsabteilung, später Programmleiter im deutschsprachigen Dienst bei der BBC. Literatur: Luc Jochimsen: C. B. In: Rundfunk 1938 wurde B. von der BBC als einer der u. Fernsehen 16 (1968). Frank Raepke / Red. ersten dt. Mitarbeiter für die projektierte Rundfunkpropaganda in dt. Sprache engagiert; mit der von ihm übersetzten Rede Brinkmann, Brinckman(n), Carl Gustav Chamberlains zum »Münchener Abkom- von (Frhr. seit 1835) auch: Selmar, * 24.2. men« eröffnete die BBC im Sept. 1938 den 1764 Gut Nacka bei Stockholm, † 24.12. »Propagandakrieg« gegen das nationalsozia- 1847 Stockholm. – Schwedischer Diplolist. Deutschland, wobei B. für Organisation mat; Lyriker. u. Redaktion in zunehmendem Maße ver- B. besuchte 1782–1785 das Pädagogium der antwortlich war. Seine 1969 veröffentlichte Herrnhuter Brüdergemeine in Niesky u. Dokumentation Hier spricht London. Von einem schloss dort Freundschaft mit Schleiermader dabei war (Hbg.) enthält neben autobiogr. cher, der ihm seine Reden über die Religion Schilderungen wichtiges, zumeist unbe- (1799) widmete. Nach dem Philosophie- u. kanntes Material dieser Zeit (z.B. den Wort- Jurastudium in Halle (1787–1789) u. ersten laut von Propagandasendungen der BBC). Erfolgen als Dichter (Beiträge zu Wielands Allerdings wirkt sich in diesem zeitge- »Merkur« u. zum »Vossischen Musenalmaschichtlich wohl bedeutsamsten Werk B.s nach«) trat er in den diplomat. Dienst seines sein um Eingängigkeit u. Unterhaltung be- Landes ein. Zwischen 1792 u. 1805 war er – mühter Stil nachteilig aus, da er Anekdoti- unterbrochen nur von einem dreijährigen sches u. Belangloses dem Faktischen bei- Aufenthalt in Paris (1798–1801) – als schwemischt u. oft auch für eine gesuchte Pointe ins discher Legationssekretär in Berlin tätig u. Skurrile abgleitet. folgte dem preuß. Hof 1807/08 als Gesandter Nach dem Krieg war B. für Sendungen der nach Memel u. Königsberg. BBC in die sowjetisch besetzten Gebiete zuDie Freundschaft mit Wilhelm von Humständig. Seine letzten Lebensjahre verbrachte boldt empfahl ihn bei Goethe u. Schiller, in er als freier Schriftsteller in Kensington. Zu dessen »Musenalmanach für das Jahr 1798« seinen wichtigen literatur- u. kulturge- er mit einem Gedicht vertreten ist. In den schichtl. Arbeiten, die bei aller Materialfülle Berliner Salons hatte er Umgang mit den liu. dokumentarischen Genauigkeit in eine lo- terarisch-philosophischen Berühmtheiten ckere Erzählform gebracht sind, gehören ne- der Jahrhundertwende u. stand insbes. mit ben Monografien über Heinrich Heine u. Fichte, den Gebrüdern Schlegel, Tieck, später Georg Christoph Lichtenberg Arbeiten über mit Adam Müller, Friedrich Gentz u. Johanden Verleger Julius Campe (Das streitbare Leben nes von Müller in enger Verbindung.

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1808–1810 war er Gesandter in London u. lebte ab 1811 in Stockholm, wo er hohe polit. Ämter übernahm u. weiterhin literarisch tätig war. Neben seiner Lyrik in klassizistischer Form hinterließ B. einen umfangreichen Briefwechsel, der ein bedeutendes Zeugnis seiner Epoche darstellt. Weitere Werke (in dt. Sprache): Gedichte v. Selmar. 2 Tle., Lpz. 1789. – Elegien. Paris 1799. – Gedichte. Bln. 1804. – Philosoph. Ansichten. Bln. 1806. – Briefe: Briefw. mit Friedrich v. Gentz. In: Briefe v. u. an F. v. Gentz. Bd. 2, Mchn./Bln. 1910. – Briefe v. K. G. v. B. an Friedrich Schleiermacher. Hg. Heinrich Meisner u. Erich Schmidt. Bln. 1912. – Friederike Liman, Briefw. mit Rahel Levin Varnhagen u. K. G. v. B sowie Aufzeichnungen v. R. L. Varnhagen u. Karl August Varnhagen Hg. Birgit Anna Bosold. Diss. Hbg. 1997. Literatur: Ernst Rudolf Meyer: Schleiermachers u. C. G. v. B.s Gang durch die Brüdergemeinde. Lpz. 1905. – Franz Seidl: K. G. v. B. während seiner geistigen Entwicklung u. Reife in Dtschld. Diss. Wien 1912. – Hilma Borelius: C. G. v. B. 2 Bde., Stockholm 1916–18. – Otto Fiebiger: Ein Brief C. G. v. B.s an Ludwig Tieck. In: Das Literar. Echo 19 (1916/17), Sp. 527–538. – Ders.: Ein Brief Ludwig Tiecks an C. G. v. B. In: Euph. 13, Ergänzungsh. (1921), S. 61–74. – Silvia Noceti: Esercitazioni di spirito nelle lettere di Rahel Levin Varnhagen e K. G. v. B. In: Configurazioni dell’aforisma 1 (2000), S. 157–173. – Ursula Isselstein: ›Rein erhabenes Monument‹ oder ›vollständige Ausgabe‹? Zur Mediendiskussion zwischen K. G. v. B. u. Karl August Varnhagen um ›Rahel‹. In: Makkaroni u. Geistesspeise. Hg. Nikolaus Gatter u. a. Bln. 2002, S. 187–207. Jochen Fried / Red.

Brinkmann, Hans, * 26.12.1956 Freiberg. – Lyriker. Nach dem Armeedienst studierte B. Museologie in Leipzig u. wurde Museologe in Schloss Hinterglauchau, dann Mitarbeiter an der Städtischen Bibliothek in Chemnitz. 1992 erhielt er ein Stipendium der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo. B.s Gedichte, die seit 1976 in verschiedenen Zeitungen u. Zeitschriften der DDR erschienen, gehen vom »ernsten Sprachspiel« (Fried, Jandl) aus. B. häuft u. verschiebt Redewendungen, bis ihr anderer Sinn hervortritt, den die Pointe wiederum verkehrt. Gegenstände

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sind die Natur, einfache Leute, Geschichte u. Revolution, die Liebe, das Wetter, die Dichtung. Freilich verschränken B.s oft lakon. Verse die Themen. Ein Wetterbericht handelt im Grunde von den Dichtern, die halten den Regen »nicht auf und nicht ab«. Als Sturmvogel kommt der Poet nur zitatweise u. ironisch vor, »lachend wie irre / gegen den clever gedrehten Wind«. Eher beschreibt die Rechtfertigung des Wetterhahns seine Position: »bin zwar ein Vogel, aber eisern / bleib ich auf dem Posten, steh / auf der Windrose, nicht ohne Sehnsucht. / Doch die Richtungen sind mein Kreuz.« B.s Bilder sind oft emblematisch gefügt. Sie nehmen Traditionsvorgaben auf u. reichen von der Alltagskultur bis zu Mythos u. Märchen. Sie machen sich ein eigenes Bild (pictura), das mit Um- u. Nachschriften (Subscriptio) versehen wird, sodass die Bedeutungen kippen. Auf Sebastian Brant u. auf den Volksmund bezieht sich das Gedicht Narrenschiff. Den Freunden: »Schifflein ist gebracht aufs Trockne, / auf den Sand gebaut, der sei uns / feste Bank, daß wir nicht beläppert / in See stechen, sondern in den Wind / Das Mäntelchen, sichres Segel, setzen [...].« Die Bedeutungswechsel per Zeilensprung denunzieren auch das Vermögen der Poesie, Perspektiven zu bilden. Brechts Gedicht An die Nachgeborenen dient als Folie für das bittere Schlussbild des Textes, das die Immobilität der Verhältnisse anklagt: »und die Flut, aus der wir aufgestiegen, / fällt nicht mehr und steigt auch nicht.« Weitere Werke: Poesiealbum 170. Bln./DDR 1981. – Wasserstände u. Tauchtiefen. Bln./DDR 1985 (G.e). – Federn u. Federn lassen. Bln./DDR 1988 (G.e). – Außer Trost. Gedichte u. Prosa. Bln. 1992. – Schlummernde Hunde. Chemnitz 2006 (G.e). Literatur: Richard Pietraß: Die Hoffnung, übern Berg zu kommen. In: Lesarten. Texte zu Gedichten. Hg. Christian Löser. Bln./Weimar 1982, S. 295 ff. Alexander von Bormann / Red.

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Brinkmann, Rolf Dieter, * 16.4.1940 Vechta, † 23.4.1975 London; Grabstätte: Vechta. – Lyriker, Übermittler der amerikanischen Pop- u. Underground-Literatur, Hörspielautor u. Verfasser eines Romans. Nach Besuch des Gymnasiums in Vechta, nach begonnener Ausbildung zum Verwaltungsangestellten beim Finanzamt Oldenburg u. einer Buchhändlerlehre in Essen zog B. 1962 nach Köln. Dort begann er 1963 ein Studium an der Pädagogischen Hochschule u. heiratete 1964. Seit 1966 widmete er sich ausschließlich seiner schriftsteller. Arbeit. 1962–1968 war B., trotz einiger Lyrikbände u. an den frz. »nouveau roman« angelehnten Erzählungen, kaum bekannt. Der Durchbruch gelang ihm mit seinem ersten u. einzigen Roman Keiner weiß mehr (Köln/Bln. 1968), der eng mit der eigenen Situation verknüpften Geschichte eines jungen Mannes, der mit Frau u. Kind in einer Kölner Mietwohnung zusammenlebt. B. beschreibt provokativ-schonungslos ihre Schwierigkeiten im Alltag, in der Kommunikation, beim Sex. Detailliert schildert er eine Fülle von Beobachtungen aus der Perspektive des Mannes: Berichte, Impressionen, Surrogate der Popkultur, Erinnerungen u. Wunschvorstellungen werden vermengt. Die Literaturkritik sah in B. den hoffnungsvollen Vertreter einer neuen Prosa. Neben Autoren wie Nicolas Born, Günter Herburger u. einigen anderen, die sich um den damaligen Lektor Dieter Wellershoff versammelt hatten, wurde B. der »Kölner Schule des Neuen Realismus« zugeordnet. In dieser produktiven Phase wurde für B. zgl. die am amerikan. Beat-Autor Jack Kerouac angelehnte Idee vom »Film in Worten« immer prägender. 1969 stellte B. die beiden Anthologien ACID (mit Ralf-Rainer Rygulla. Darmst. 1969) u. Silver Screen (Köln 1969) zusammen. In ihnen brachte er als einer der Ersten den dt. Lesern die Literatur der amerikan. Subkultur mit ihrer Verbindung zu »Sex & Drugs & Rock’n’Roll«, zum Underground-Film, zu Comic u. Reklame nahe. B. gab die Lunch Poems (Köln 1969) seines amerikan. Vorbilds Frank O’Hara u. die Gedich-

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tesammlung Ted Berrigans Guillaume Apollinaire ist tot (Darmst. 1970) heraus. Unter dem Einfluss der jungen amerikan. Schriftsteller sowie des Literaturwissenschaftlers Leslie A. Fiedler, dessen Theorie der Postmoderne ihm wesentl. Impulse gab, schrieb B. zeitweise im Stil seiner Vorbilder. Die Lyrikbände Godzilla (Köln 1968), Die Piloten (Köln 1968) – die wohl gelungenste Adaption amerikanischer Poplyrik –, Standphotos (Duisburg 1969) u. Gras (Köln 1970) weisen ihn unter den dt. Schriftstellern als den bis dahin der amerikan. Literatur am nächsten stehenden aus. Seine Gedichte in dieser Phase sind einfach: Momentaufnahmen, »snap-shots«, nicht ohne spielerische Fantasie. B. übernimmt, auch in seinen Essays, Versatzstücke einer glamourösen Bilder- u. Medienwelt mit all ihrer augenfälligen Oberflächlichkeit. Neben dem Schreiben begann er zu fotografieren, arbeitete an eigenen 8-mm-Filmen, zu denen er multimediale Lesungen veranstaltete, u. experimentierte mit Rauschmitteln. Anfang der 1970er Jahre unterzog B. seine bisherige literar. Arbeit einer eingehenden Revision. Hatte er in den 1960er Jahren mit seinen Texten einer »neuen Sensibilität« den Weg bereiten wollen u. mit ihr der individuellen u. polit. Befreiung des Individuums, so gab er nun die Hoffnung auf, durch die Sprengkraft der Pop-(Sub-)Kultur Veränderungen in Literatur u. Gesellschaft zu erreichen. Hinzu kamen verstärkte Zweifel an der Brauchbarkeit der Sprache als literar. Mittel u. die damit verbundene Suche nach erweiterten Ausdrucksformen. Wiederum ist für B. u. a. ein amerikan. Autor maßgeblich: William S. Burroughs u. seine literar. Technik des »cut up«, des Zerschneidens u. Neuarrangierens von Textelementen. 1971–1975 publizierte B. kaum Schriftliches. Lediglich 1973 erschien in kleiner Auflage World’s End (Rom 1973), eine apokalypt. Untergangsvision, die auf seine postum veröffentlichten Brief- bzw. Collagebände vorausweist. 1971–1974 wurden von B. im WDR die drei Hörspiele Auf der Schwelle, Der Tierplanet u. Besuch in einer sterbenden Stadt sowie das Selbstporträt Die Wörter sind böse gesendet. Die Bilder des Verfalls, der Verwesung, der Todesterritorien u. der Apokalypse werden ver-

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ständlich vor dem Hintergrund der Beschäftigung mit der vom Krieg geprägten Vergangenheit u. der eigenen, nicht nur aktuell katastrophalen materiellen Situation. Durch Stipendien u. Gastvorträge an verschiedenen Universitäten verdiente B. für sich u. seine Familie kaum das Lebensnotwendige: 1971 war er Stipendiat des Landes NordrheinWestfalen, 1972/73 Stipendiat der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom, 1974 Gastlektor am German Department der Universität Austin/Texas. Auf der Rückreise von seiner Lesung beim Cambridge Poetry Festival wurde er 1975 beim Überqueren einer Straße in London von einem Auto erfasst u. getötet. Kurz nach seinem Tod erschien der Gedichtband Westwärts 1 & 2 (Reinb. 1975), der wochenlang auf Platz 1 der Bestenliste des SWF stand u. 2005 in seiner ursprünglich geplanten Form zus. mit dem Essay Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten neu herausgegeben wurde. Darin unterzieht B. sein Leben einer Bestandsaufnahme, indem er seine Kindheit in Vechta, sein Leben in Köln u. seine Reisen nach Italien, England u. in die USA reflektiert. Innere Monologe, Fetzen eines imaginären Tagebuchs, sind Ausdruck seiner Desillusionierung, seines Scheiterns an der abgelehnten Realität. Seine Gedichte sind zerrissen, nicht mehr kurzzeilig, sondern lang, mehrspaltig u. mit Zitaten u. Hinweisen auf die Umstände der Niederschrift durchwirkt. 1975 erhielt B. postum den erstmalig vergebenen Petrarca-Preis. Wie weit B. sich vor seinem Tod von dem ihm unerträglich gewordenen Literaturbetrieb zurückgezogen hat, belegt die 1972/73 während seines Aufenthalts an der Villa Massimo entstandene Briefsammlung Rom, Blicke (Reinb. 1979). In Briefen, die ergänzt werden durch Tagebuchnotizen, eigene Fotografien, Collagen, Quittungen, Fundmaterialien, Kopien von Stadtplänen u. Lektüreauszügen, protokolliert er akribisch seinen Alltag, geißelt zumeist hasserfüllt u. unversöhnlich die Arbeit seiner Kollegen u. den seiner Meinung nach unaufhaltsam voranschreitenden Verfall abendländischer Kultur u. Zivilisation. 1971–1973 entstand das Tagebuch Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen

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Aufstand: Reise Zeit Magazin (Reinb. 1987). Es enthält neben persönl. Reflexionen umfangreich montiertes Text- u. Bildmaterial, vermutlich für einen zweiten Roman, an dem B. seit Anfang der 1970er Jahre gearbeitet hatte. Schnitte (Reinb. 1988) ist der dritte u. letzte seiner Text-/Bildbände, entstanden 1973. In Verbindung mit der Tonbandedition Wörter Sex Schnitt (5 CDs. Erding 2005. Aufnahmezeit: 1973) entsteht das Bild eines zwar von der Massengesellschaft u. ihrem Literaturbetrieb enttäuschten, aber höchst eigenwilligen u. vitalen Autors. Ständig auf der Suche nach zeitgemäßen Ausdrucksmöglichkeiten, wird Montage bzw. Collage für ihn in den verschiedenen literar. Formen zur prägenden Technik. Seine direkte Herangehensweise an das Schreiben von Gedichten in den 1960er u. sein vielfältiger Umgang mit literar. Formen in den 1970er Jahren dient insbes. neueren Strömungen sog. Pop-Literatur u. Spoken Word-Poetry immer wieder als Vorbild. Weitere Werke: Standphotos. Reinb. 1970 (enthält alle Lyrikbände bis 1970). – Der Film in Worten. Prosa, E.en, Ess.s, Hörsp.e, Fotos, Collagen 1965–74. Reinb. 1982. – Erzählungen: In der Grube / Die Bootsfahrt / Die Umarmung / Raupenbahn / Was unter Dornen fiel. Reinb. 1985. – Eiswasser an der Guadelupe Str. Reinb. 1985. – Briefe an Hartmut. Reinb. 1999. – The Last One. Erding 2005 (CD). Literatur: R. D. B. Text + Kritik 71 (1981). – Burglind Urbe: Lyrik, Fotografie u. Massenkultur bei R. D. B. Ffm. u. a. 1985. – Sibylle Späth: R. D. B. Stgt. 1989. – Otto F. Riewoldt: R. D. B. In: KLG. – Gunter Geduldig u. Marco Sagurna: too much. Das lange Leben des R. D. B. Aachen 1994. – Maleen Brinkmann (Hg.): R. D. B. Reinb. 1995. – Jörgen Schäfer: Pop-Lit. R. D. B. u. das Verhältnis zur Populärkultur in der Lit. der sechziger Jahre. Stgt. 1998. – Karsten Herrmann: Bewußtseinserkundungen im Angst- u. Todesuniversum. R. D. B.s. Collagebücher. Bielef. 1999. – Olaf Selg: Essay, Erzählung, Roman u. Hörspiel – Prosaformen bei R. D. B. Aachen 2001. – Gudrun Schulz u. Martin Kagel (Hg.): R. D. B.: Blicke ostwärts – westwärts. Beiträge des 1. Internat. Symposions zu Leben u. Werk R. D. B.s. Vechta 2001. – Michael Braun: R. D. B. In: LGL. – Eckhard Schumacher: R. D. B.s Poetologie. In: Ders.: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Ffm. 2003. Bodo Rinz / Olaf Selg

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Britting, (Josef) Georg, * 17.2.1891 Regensburg, † 27.4.1964 München; Grabstätte: ebd., Neuer Nordfriedhof. – Lyriker u. Prosaist. Der Sohn eines städt. Beamten in Regensburg studierte nach dem Besuch der Volks- u. Oberrealschule an der Bayerischen Akademie für Landwirtschaft u. Brauerei in Weihenstephan, 1913/14 war er für kurze Zeit in Nationalökonomie an der Technischen Hochschule in München immatrikuliert. Schon 1911 volontierte er bei den »Regensburger neuesten Nachrichten«, für die er bis 1914 Buch- u. Theaterkritiken u. kleinere Prosatexte schrieb. 1914 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger, war Leutnant u. Kompanieführer u. erhielt mehrere Auszeichnungen; 1915 erstmals verwundet, war er aufgrund einer 1918 erlittenen schweren Verletzung kriegsversehrt. Nach Kriegsende wirkte er im revolutionären Arbeiter- u. Soldatenrat in Regensburg mit u. war als Theaterkritiker für die sozialist. »Neue Donau Post« tätig. 1919–1921 gab er mit dem Maler u. Grafiker Josef Achmann die spätexpressionist. Literatur- u. Kunstzeitschrift »Die Sichel« heraus. 1921 übersiedelte B. nach München. Schon bald avancierte er zum literar. Mitarbeiter zahlreicher kleiner u. großer Zeitungen u. Zeitschriften (u. a. der »Frankfurter« u. der »Kölnischen Zeitung«), 1928 erhielt er einen Hauptpreis im Novellen-Wettbewerb der »Berliner Illustrirten« u. ein Stipendium des Ullstein Verlags. Seine Erfahrungen auf einer Reise durch Bosnien, Slowenien, Kroatien, Montenegro u. Albanien im Jahr 1930 verarbeitete er in einer Reihe von Erzählungen. B.s Freunde in den 1930er Jahren, vornehmlich im Umkreis des Münchner Dichterstammtisches »Unter den Fischen«, waren u. a. Paul Alverdes, Curt Hohoff, Ernst Penzoldt u. Eugen Roth, die Künstler Josef Achmann u. Max Unold sowie der Verleger Carl Hanser. B. galt bereits Mitte der 1930er Jahre als bedeutendster Münchner Dichter; 1936 erhielt er den Literaturpreis der Stadt für 1935 verliehen. Er publizierte regelmäßig in der in München verlegten führenden Zeitschrift der sog. Inneren Emigration, »Das Innere Reich«.

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1948 wurde B., der im selben Jahr die Schauspielerin Ingeborg Fröhlich heiratete, (Gründungs-)Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, 1958 der Berliner Akademie der Künste zugewählt. In den 1950er u. 1960er Jahren erhielt er eine Reihe von Auszeichnungen: 1953 den ImmermannPreis der Stadt Düsseldorf, 1958 den Großen Preis des Kulturkreises im Bundesverband der Industrie, 1959 das Bundesverdienstkreuz, 1961 den Bayerischen Verdienstorden u. den Großen Preis von Nordrhein-Westfalen. B. begründete seinen literar. Ruhm als Lyriker u. Prosaist, seine Dramen u. Dramenversuche aus den 1920er Jahren (u. a. die Komödien Das Storchennest, Die Stubenfliege [Urauff. München 1923] u. Paula und Bianka [Urauff. Dresden 1928]) fanden keine größere Resonanz in der Öffentlichkeit. Nach Anfängen mit expressionist. Prosatexten (Der verlachte Hiob. Traisa-Darmst. 1921) entwickelte B. im Laufe der 1920er u. bis in die 1930er Jahre hinein einen spezifisch nachexpressionist. Prosastil. Vor allem die in Michael und das Fräulein (Ffm. 1927) publizierten, noch Unsicherheiten in der Durchführung der Themen u. der sprachl. Gestaltung verratenden Texte, kamen in den 1930er Jahren in teils stark überarbeiteten u. geglätteten Fassungen heraus. Die größte Resonanz erzielte B. zunächst mit der schmalen Sammlung Die kleine Welt am Strom (Mchn. 1933. Neuausg. Aachen 2006), programmatisches Lob der Donaustadt Regensburg u. der ländl. Umgebung in literarisierten Kindheitserinnerungen, in fiktiven Geschichten u. in Gedichten; Das treue Eheweib (Mchn. 1933), Der bekränzte Weiher (Mchn. 1937) u. Das gerettete Bild (Mchn. 1938) enthalten dann die wichtigsten Erzählungen dieser Stilphase. B. zeigt sich in seinen Erzählungen rhetorischen u. bildl. Elementen des Spätexpressionismus, der Prosa Kleists sowie bildkünstlerischen Prinzipien der spätmittelalterl. »Donauschule« (v. a. Albrecht Altdorfer) verpflichtet. Die Darstellung von Personen, Personenbeziehungen u. des gesellschaftl. Umfelds wird auf elementare Konfliktsituationen fokussiert, auf Kampf u. Krieg, Leben u. Tod, Liebe u. Ehebruch; die erzählerische

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Dramaturgie baut auf der spannungsreichen Parallelisierung von archaischer Natur u. zivilisator. Kultur auf. In der Zeit des Nationalsozialismus blieben ideolog. Position u. literarischer Stil B.s nicht unumstritten: Er wurde mehrfach angegriffen, weil er sich dem völkisch-heroischen Sprachduktus ästhetisch widersetzte u. auf einer kulturkonservativen, zeitweise von einem anthropolog. Skeptizismus geprägten Position des vorgeblich »Unpolitischen« insistierte, die er schon in der Weimarer Republik bezogen hatte. Mit dem Band Der Schneckenweg (Mchn. 1941) vollzog er schließlich die sich seit Mitte der 1930er Jahre andeutende stilist. Wende zu einem traditionalistischen, »klassischen« Erzählduktus unter dem Einfluss v. a. Adalbert Stifters. Eine Sonderstellung im Prosawerk nimmt der eigenwillige, auch ins Französische, Niederländische u. Polnische übersetzte HamletRoman ein (Lebenslauf eines dicken Mannes, der Hamlet hiess. Mchn. 1932 u. ö.), der die Shakespeare’sche Vorlage frei gestaltet. In diesem Hauptwerk nachexpressionistischer Prosa in Deutschland wird Landschaft zum histor. Sinnbild. Der Versuch des Menschen, sich von Natur zu emanzipieren, wird als ein Stück »Dialektik der Aufklärung« im Kontext einer pessimist. Geschichtsphilosophie vorgeführt. Bilder u. Bildketten, eine überbordende Metaphorik, nicht aber Handlungssequenzen, sind konstitutiv für die Prosastruktur. B. gilt auch als bedeutender Lyriker, mit prägender Wirkung auf eine nachfolgende Dichtergeneration (u. a. Walter Höllerer, Heinz Piontek, Albert von Schirnding, Cyrus Atabay). Nach einer ersten schmalen Sammlung (Gedichte. Dresden 1930) gelang ihm mit den Bänden Der irdische Tag (Mchn. 1935) u. Rabe, Roß und Hahn (Mchn. 1939) der Durchbruch in der literar. Öffentlichkeit als eigenständiger »naturmagischer« Lyriker neben Wilhelm Lehmann. In seinen das menschl. Subjekt zurückdrängenden Gedichten steht die mit vielen wirkungssteigernden rhetor. Mitteln arbeitende Naturbeschreibung im Vordergrund; dabei ist B. auch »bildzeigender Lyriker«, der im konkreten Naturbild ein Sinnbild gestaltet.

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Seit etwa 1940 kommen neue Motivkomplexe hinzu, es erscheinen zwei Sammlungen mit Wein- u. Totentanzgedichten (Lob des Weines. Hbg. 1944, 3., erw. Aufl. Mchn. 1950. Die Begegnung. Mchn. 1947). Bedeutender aber sind die vornehmlich in klassisch-antiken Odenformen verfassten Gedichte (teils in Unter hohen Bäumen. Mchn. 1951). Den Höhepunkt des lyr. Werks verkörpern die späten, in der literar. Öffentlichkeit jedoch kaum mehr beachteten Gedichte des Bandes Der unverstörte Kalender (postum Mchn. 1965), die, in formaler Weiterentwicklung, die lyr. Summe einer gereiften Lebensphilosophie bieten. War B. seit den 1940er Jahren ein kanonischer Autor, dessen Gedichte u. Erzählungen (etwa: Brudermord im Altwasser) in zahlreichen Anthologien abgedruckt wurden u. Eingang in viele Schullesebücher gefunden hatten, so haben die Intensität der Rezeption u. der Wirkung seit den 1970er Jahren spürbar nachgelassen. Weitere Werke: Der Mann im Mond. Ein Schattenspiel. Heidelb. 1920. – Das Storchennest. Traisa-Darmst. 1922 (Kom.). – Anfang u. Ende. Hbg. 1944 (L.). – Afrikan. Elegie. Mchn. 1953 (E.). – Süßer Trug. Hundert Gedichte. Hg. Ingeborg Schuldt-Britting. Ebenhausen 2000. – G. B. als Theaterkritiker in Regensburg. 1912–14 u. 1918–21. Eine Dokumentation. Hg. dies. u. Michael Herrschel. Ffm. u. a. 2002. – Aus goldenem Becher. Briefe v. G. B. an Alex Wetzlar. 1939 u. 1945–57. Hg. I. Schuldt-Britting. Ffm. u. a. 2004. – Briefe v. G. B. an Georg Jung 1943–63. Hg. dies. Bad Feilnbach 2005. Ausgaben: Gesamtausg. in Einzelbdn. 8 Bde., Mchn. 1957–67. – Sämtl. Werke. Komm. Ausg. nach den Erstdr.en. 5 Bde. in 6. Bd. 1–4 Hg. Walter Schmitz (Bd. 3/2 Hg. Wilhelm Haefs), Bd. 5–6 Hg. Ingeborg Schuldt-Britting. Mchn. 1987–96. Literatur: Dietrich Bode: G. B. Gesch. seines Werkes. Stgt. 1962. – Dietrich Schug: Die Naturlyrik G. B.s u. Wilhelm Lehmanns. Diss. Erlangen 1963. – G. B. Der Dichter u. sein Werk. Bearb. v. Karl Dachs u. a. Mchn. 1967 (Ausstellungs-Kat.). – Rupert Hirschenauer u. Albrecht Weber (Hg.): Interpr.en zu G. B. Beiträge eines Arbeitskreises. Mchn. 1974. – Curt Hohoff: Unter den Fischen. Erinnerungen an Männer, Mädchen u. Bücher 1934–39. Wiesb./Mchn. 1982. – Albert v. Schirnding: ›Ein Mann begegnet seinem Tod‹. Zu G. B.s Gedicht ›Was hat, Achill‹. In: Vom Naturalismus

201 bis zur Jahrhundertmitte. Gedichte u. Interpr.en 5. Hg. Harald Hartung. Stgt. 1983, S. 394–404. – Walter Schmitz: ›Die kleine Welt am Strom‹. G. B., ein Dichter aus Regensburg. In: Hdb. der Lit. in Bayern. Hg. Albrecht Weber. Regensb. 1987, S. 493–501. – G. B. 1891–1964. Zum Erscheinen einer neuen fünfbändigen Werkausg., hg. v. W. Schmitz. Mchn. 1987. – Wilhelm Haefs u. W. Schmitz: Mag. Poetologie. G. B. u. die Malerei der Donauschule / Poetologie der Inneren Emigration. G. B. u. Adalbert Stifter. In: Lit. in Bayern 13 (1988), S. 23–29 u. 15 (1989), S. 32–34. – Herbert Schneidler u. W. Schmitz (Hg.): Expressionismus in Regensburg. Texte u. Studien. Regensb. 1991. – Bernhard Gajek u. W. Schmitz (Hg.): G. B. (1891–1966). Vorträge des Regensburger Kolloquiums 1991. Ffm. u. a./Regensb. 1993. – Daniel Hoffmann: Die Wiederkunft des Heiligen. Lit. u. Religion zwischen den Weltkriegen. Paderb. u. a. 1998, bes. S. 241–300. – Ingeborg Schuldt-Britting: Sankt-Anna-Platz 10. Erinnerungen an G. B. u. seinen Münchner Freundeskreis. Mchn. 1999. – Stephan Landshuter: Spuren einer epochalen Sinnkrise. ›Tod‹ u. metaphor. ›Wiedergeburt‹ in Erzähltexten G. B.s. In: Norm – Grenze – Abweichung. Kultursemiot. Studien zu Lit., Medien u. Wirtschaft. Michael Titzmann zum 60. Geburtstag. Hg. Gustav Frank u. Wolfgang Lukas. Passau 2004, S. 239–264. Wilhelm Haefs

Broch, Hermann, * 1.11.1886 Wien, † 30.5.1951 New Haven/Connecticut; Grabstätte: Killingworth/Connecticut. – Romancier u. Essayist. Als erstgeborener Sohn des jüd. Textilgroßhändlers Josef Broch u. seiner Frau Johanna sollte B. in die väterl. Fußstapfen treten, das Textilfach erlernen, später das Familienunternehmen leiten u. zu einem Konzern ausbauen. B., der sich für Kaufmännisches wenig interessierte, absolvierte dennoch zunächst ein Ingenieurstudium, trat als Assistenzdirektor in den väterl. Betrieb ein u. leitete ihn ab 1915 als Verwaltungsrat. Erst 1927 konnte er die gehasste Textilfabrik verkaufen. Bereits 1925 hatte er ein Studium der Philosophie u. Mathematik an der Universität Wien begonnen. Vom Neopositivismus des Wiener Kreises wandte er sich aber nach drei Jahren ab, da er die Frage nach dem Sinn menschl. Existenz nicht beantwortet fand. Diesen philosophischen Grundproblemen wollte B., der sein

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literar. Talent mit einigen Erzählungen schon erprobt hatte, in einem groß angelegten Roman nachgehen. Bei der Enscheidung für den Beruf des Freien Schriftstellers, des Romanciers, waren die Unterstützung durch seinen Freund Franz Blei u. durch seine damalige Lebensgefährtin Ea von Allesch entscheidend. Was ebenfalls half, war die Psychotherapie, in die B. sich bei der Freud-Schülerin Hedwig Schaxel-Hoffer begeben hatte. Zwischen 1928 u. 1932 schrieb er die Trilogie Die Schlafwandler. In keinem anderen erzählerischen Werk B.s scheint die Folie der philosoph. Konzeption so stark durch wie in diesem Buch; B. fügte in den dritten Teil dieses Romanzyklus sogar eine Kurzfassung seines seit Jahren geplanten kulturkritisch-philosoph. Werks über den »Zerfall der Werte« ein. Die Titel der Trilogie, 1888. Pasenow oder die Romantik u. 1903. Esch oder die Anarchie (beide Mchn./Zürich 1931) sowie 1918. Huguenau oder die Sachlichkeit (Mchn./Zürich 1932), markieren die Stationen eines kulturellen Zerfalls. B. exemplifizierte diesen Vorgang in Figuren aus der Wilhelminischen Ära: im preuß. Junker Pasenow, im rheinischen Kleinbürger Esch u. im elsäss. Geschäftemacher Huguenau. B.s Werttheorie ist als neukantian. Erbe – im Gegensatz zu Schelers materialer Wertphilosophie – formal bestimmt u. reflektiert die Dynamik sich verselbständigender Lebensbereiche, stellt damit eine frühe Form der Systemtheorie dar. Pasenow, Esch u. Huguenau versteht B. als repräsentative Epochenfiguren, die unterschiedlichen, in sich geschlossenen Wertesystemen verhaftet sind. Das Ziel des Autors ist es, typische Reaktionen auf die Moderne zu verdeutlichen: Der preuß. Junker Pasenow will sich den Herausforderungen der Moderne mit ihren sozialen Emanzipationsbewegungen nicht stellen u. flieht in eine konservative Haltung, die als weltfremd erscheint. Der kaufmänn. Angestellte Esch taumelt in seiner anarchisch-ideolog. Ortlosigkeit von einer pseudo-religiösen Position in die nächste, u. Huguenau verkörpert die Prinzipien, die im kommerziellen Wertesystem gelten: die Durchsetzung des Profitdenkens um jeden Preis. Er ist als »wertfreier Mensch« äußerlich

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gesehen der Sieger im Wettstreit der Wertesysteme um Dominanz im Gesamtsystem. Literarisch schulte sich B. damals an Romanciers wie André Gide, John Dos Passos, Alfred Döblin u. James Joyce, zu dessen 50. Geburtstag B. im Frühjahr 1932 in Wien die Rede James Joyce und die Gegenwart (Wien 1936) hielt. In seinem traditionelle u. avantgardist. Erzählmuster verbindenden Romanstil war B. allerdings immer eigenständig. In jedem seiner Romane wandelt sich die Form entsprechend der sich ändernden Intention u. Thematik. In Die Schlafwandler passte er sie jeweils den in den Titeln genannten Epochencharakteristika Romantik, Anarchie u. Sachlichkeit an. Kennzeichen des Bauern- u. Heimatromans weist Die Verzauberung (postum Zürich 1953) auf. In dem Roman Der Tod des Vergil (New York 1945, ersch. gleichzeitig dt. u. engl.) wird der Stil durch Traumvisionen u. Todesreflexionen in der Form des inneren Monologs bestimmt, u. in Die Schuldlosen (Mchn. u. Zürich 1950) werden in der Form der Novelle verfasste Texte sogar zu einem Romanganzen zusammengefügt. 1933 wurde B.s schriftsteller. Existenz durch die Machtübernahme Hitlers gefährdet. Wie viele antifaschist. Autoren versuchte B. mit den Mitteln der Literatur gegen die Verantwortungslosigkeit der NS-Politik zu kämpfen. Im Aufsatz Das Böse im Wertsystem der Kunst (Bln. 1933) u. im Vortrag Das Weltbild des Romans (Zürich 1930) entwarf B. eine ethisch argumentierende Kitschtheorie, die über eine ästhet. Stilkritik hinausgreift u. den Kitsch als soziales u. polit. Phänomen bewertet. Der »Kitsch-Mensch« par excellence war für B. Adolf Hitler. Zwischen 1934 u. 1936 schrieb B. den Roman Die Verzauberung, ein Anti-Hitler-Buch u. eine literar. Parabel zum Massenwahn, zur Hörigkeit der Masse gegenüber einem Diktator. Die Handlung spielt in einem Alpendorf um 1930. Der Hitler-Figur Marius Ratti wird die Person der Heilkundlerin Mutter Gisson, Verkörperung der Humanität, entgegengesetzt. Der Erzähler des Romans, ein alternder Landarzt, schwankt vorübergehend zwischen den Positionen von Ratti u. Mutter Gisson, entscheidet sich aber schließlich gegen die Partei Rattis. Im Mittelpunkt steht

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die Darstellung der seel. Wandlung u. des Erkenntnisprozesses des erzählenden Landarztes, an dessen Entwicklung der Leser teilhaben u. zu ähnl. Einsichten gelangen soll. Seit 1936 erschien es B. angesichts der Hitler’schen Politik immer sinnloser, als Romanautor einen Beitrag zum Kampf gegen den Faschismus leisten zu wollen. Von jetzt an standen im Mittelpunkt von B.s Schaffen die polit. Theorie u. publizist. Arbeiten: Erstes Ergebnis seiner Neuorientierung war die umfangreiche »Völkerbund-Resolution« von 1936/37. Darin attackierte B. die Verbannung ins Exil, die Menschenrechtsverletzungen u. die Kriegstreiberei der faschist. Staaten. Vom Völkerbund erwartete er Maßnahmen, die der Aggression jener Länder – gemeint sind v. a. Deutschland u. Italien – Widerstand leisten sollten. Er korrespondierte hierüber mit zahlreichen Intellektuellen, u. a. mit Thomas Mann u. Albert Einstein. Mit deren Hilfe suchte er, allerdings ohne Erfolg, die wichtigsten internat. Friedensorganisationen für eine Unterschrift unter die Resolution zu gewinnen. In dem Augenblick, als er die Vergeblichkeit seiner Bemühungen um die »Völkerbund-Resolution« erkannte, kehrte B. an seinen Dichterschreibtisch zurück. Ab 1937 schrieb er an dem Roman Der Tod des Vergil. B. projizierte seine resignative Haltung auf das Werk u. die Intentionen Vergils u. sah in ihm einen Geistesverwandten, der sich aus ethischen Gründen gegen die Dichtung gewandt hatte. Hinzu kam, dass er Parallelen zwischen seiner eigenen Epoche u. der Zeit des Vergil entdeckte. Die mittelalterl. Vergil-Rezeption hatte – wegen der vermeintl. Ankündigung des Erlösers in der vierten Ekloge – den röm. Autor zu einem christl. Propheten stilisiert. Hauptfigur der Eklogen des histor. Vergil ist jener Knabe, dessen Geburt als unmittelbar bevorstehendes Heilsereignis vorausgesagt wird. Diese Geburt markiert den Augenblick der Weltwende: Ein von Not, Angst u. Zwietracht erfülltes Heute schlägt um in sein Gegenteil, in eine Segenszeit, die alle Zeichen der goldenen Urzeit trägt, in der Überfluss, Glückseligkeit u. vor allem Frieden herrschen. Der Anbruch des neuen Heils ist verbürgt durch das Lächeln, mit dem der Knabe

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nach der Geburt die Mutter begrüßt. B. erkannte, dass Vergils Werk getragen war von der Idee der Grenzsituation zwischen den Welten, der Wende vom Schlechten zum Guten. Diese Einsicht stimmte mit B.s Analyse vom »Zerfall der Werte« in der Gegenwart überein, seiner Hoffnung auf einen kulturellen Neubeginn nach dem Gang durch das Nichts. Das Inferno des Epochenumbruchs verlegt B. in die Psyche Vergils: In seinen Sterbestunden ahnt Vergil die Vergeblichkeit der dichter. Anstrengung, die Krise des Millenniums zu bewältigen. Es bleiben die Bilder u. Metaphern von Figuren der Hoffnung wie dem Kind u. der Plotia, die B.s eigene positive Zukunftserwartungen zum Ausdruck bringen. Nach dem »Anschluss« Österreichs im Frühjahr 1938 gelang es B. unter größten Mühen, ein Visum nach England zu erhalten. Dabei war James Joyce behilflich. B. wohnte zwei Monate in St. Andrews/Schottland bei dem Schriftstellerehepaar Edwin u. Willa Muir, die Die Schlafwandler ins Englische übersetzt hatten. Albert Einstein u. Thomas Mann verhalfen ihm zu einem US-Visum, u. Anfang Okt. 1938 traf er in New York ein, wo er bis 1942 wohnte. Dann zog er nach Princeton in das Haus eines Freundes, des Kulturphilosophen Erich von Kahler. Die meiste Arbeit investierte B. jetzt in seine antifaschistischen u. demokratietheoret. Projekte. 1939 schloss er sich einer Gruppe amerikanischer Intellektueller der Ostküste u. exilierter europ. Schriftsteller an, die unter Federführung von Antonio Giuseppe Borgese ein Buch mit dem Titel The City of Man. A Declaration on World Democracy (New York 1940) vorbereiteten. Die Publikation richtete sich gegen das globale Unterwerfungs-, Versklavungs- u. Kriegskonzept Hitler-Deutschlands u. der übrigen faschist. Diktaturen u. entwarf die Vision einer Weltdemokratie, die sich auf den Menschenrechten u. der Idee des Friedens zu gründen habe. B. konzentrierte sich dabei auf die ökonom. Aspekte. Er plädierte für eine Mischung aus freier u. geplanter Wirtschaft u. setzte sich für das Menschenrecht auf Arbeit ein. Im Hinblick auf eine Organisation Vereinter Nationen arbeitete B. während der Kriegsjahre an einer

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Theorie des Internationalen Menschenrechts u. an einem umfangreichen Buch mit dem Titel Massenwahntheorie (postum Ffm. 1979), in dem es um die Bekehrung der faschist. Länder zur Demokratie ging. Für die UNESCO verfasste B. eine Denkschrift über die Erziehung der Jugend zur Internationalität u. Humanität, für das Nachkriegsdeutschland eine Resolution zur »Re-education«. Während der Arbeit an der Massenwahntheorie diskutierte er (persönlich u. in Briefen) die menschenrechtl. Teile mit Hannah Arendt. Erst zwei Jahre nach dem Krieg arbeitete B. wieder an literar. Themen. Ab 1947 entstand die groß angelegte kulturhistor. Studie Hofmannsthal und seine Zeit (postum Zürich 1955). Mit ihr sah B. eine Möglichkeit, sich mit der Zeit seiner eigenen Jugend, der Epoche des Fin de siècle in Wien, auseinanderzusetzen. So trägt die Studie auch autobiogr. Züge. Bei der Skizzierung des europ. Kulturpanoramas hatte B. vornehmlich jene soziale Schicht im Auge, der er seiner Herkunft nach am nächsten stand: das Bürgertum. Von den Kunstrichtungen werden ausführlicher die Oper (Wagner), der Symbolismus in der Dichtung (Baudelaire) u. der Impressionismus in der Malerei (Cézanne) analysiert. Aus seiner Abneigung gegen das Bürgertum u. dessen Kultur macht B. in dieser Studie kein Hehl. Die letzten Dekaden im Wien des 19. Jh. erschienen B. im Rückblick als die Zeit der »fröhlichen Apokalypse«; dieser Begriff ist in die internat. Kulturgeschichtsschreibung eingegangen. Dabei dachte B. in den Kategorien seiner Wertphilosophie, u. Wien, das hier stellvertretend für Europa steht, erscheint als Inkarnation des »Wert-Vakuums der Epoche«. 1933 hatte B. einige Novellen veröffentlicht: Die bekanntesten, Die Heimkehr u. Eine leichte Enttäuschung, waren in der »Neuen Rundschau« (Bln.) erschienen. Schon damals trug er sich mit dem Gedanken, das halbe Dutzend Kurzgeschichten zu einem Romanganzen zusammenzufügen, er konnte aber für das Buch keinen Verlag gewinnen u. führte deshalb seinen Plan nicht aus. Im Frühjahr 1949 wollte ein Verleger die Novellen publizieren, u. nun entschloss sich B., das inzwischen vergessene Buchprojekt aus-

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zuführen. Es entstand innerhalb eines Jahres der Roman mit dem iron. Titel Die Schuldlosen, in den die Novellen in überarbeiteter Form integriert wurden. Enttäuscht von der Entwicklung im Nachkriegsdeutschland, in dem er Besinnung, Wandlung u. Sühne vermisste, wollte er den Deutschen einen Spiegel vorhalten. B. ging es um den Nachweis des Zusammenhangs von individuell-ethischer u. kollektiv-polit. Schuld. In Deutschland verlief nach Kriegsende die Rezeption von B.s Werk ganz anders als in den USA. Während in Amerika Der Tod des Vergil große Beachtung fand, blieb das Echo auf diesen Roman in Deutschland aus. Auch Die Schuldlosen wurden 1950 bei ihrem Erscheinen nicht beachtet. Während man in den USA den polit. Theoretiker B. kaum zur Kenntnis nahm, wurde man auf diesen 1950 in Deutschland aufmerksam, als Anfang des Jahres sein Aufsatz Trotzdem: Humane Politik. Verwirklichung einer Utopie (Ffm.) erschien. Hier fasste B. seine demokratietheoretischen u. menschenrechtl. Überlegungen zusammen. An den Kongress für kulturelle Freiheit (Bln. 1950) schickte B. einen Beitrag mit dem Titel Die Intellektuellen und der Kampf um die Menschenrechte, in dem er die Aufgaben des kritischen, für die Menschenrechte engagierten u. parteilich ungebundenen Intellektuellen umriss. Die Schuldlosen hatte B. in New Haven/ Connecticut geschrieben. Dorthin war er nach einem Krankenhausaufenthalt im Frühjahr 1949 übergesiedelt. Die Yale University hatte ihn zum Lektor für Deutsche Literatur – allerdings ohne Gehalt – ernannt. Durch den zehnmonatigen Krankenhausaufenthalt sehr geschwächt, starb B. an Herzversagen im Alter von 64 Jahren. Der viel zitierte »Tod der Moderne« am Ende des bürgerl. Zeitalters, der Zusammenbruch einer totalisierenden Vernunft, die das gesellschaftl. Leben organisierte, der Prozess des wachsenden Sinnverlusts, die Zerstörungs- u. Auflösungssymptome, wie sie seit Nietzsche in immer neuen Ansätzen diagnostiziert u. analysiert werden, deuten sich im Werk B.s an. Wie kaum ein anderes dichterisches u. denkerisches Œuvre aus der ersten Hälfte des 20. Jh. eignet es sich zur Do-

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kumentation der anhaltenden Krise der Moderne. Mit den Schlafwandlern hatte sich B. noch an einer der grundlegenden Studien zur modernen Ästhetik, an Georg Lukács’ Theorie des Romans, orientiert. Der in Die Schlafwandler integrierte Essay Zerfall der Werte ist eine von Max Weber inspirierte (u. heute von Niklas Luhmann fortgeführte) Theorie der Differenzierung u. Autonomisierung partialer gesellschaftl. Systeme. Im »Epilog« dieser Trilogie inauguriert B. – damit über die Diagnose des Zerfalls hinausstrebend – das, was Lukács als Aufgabe des modernen Romans postuliert hatte: im Zeitalter der »transzendentalen Obdachlosigkeit« die Konturen einer neuen Kosmologie auszumachen. Aber dieses ästhet. Ziel wird in den Erzählteilen der Schlafwandler bereits unterlaufen. Es zeigt sich nämlich, dass die drei Teile des Buchs als Satire auf jene Typologie angelegt sind, wie Lukács sie in der Theorie des Romans beschreibt. Der in den Schlafwandlern dichterisch gestalteten u. theoretisch reflektierten gesellschaftl. u. geistigen Desintegration, Dekonstruktion u. Detotalisation steht am Ende der Trilogie B.s Versuch entgegen, Möglichkeiten des Neuen im Sinne von Integration, Konstruktion u. Totalität zu erkunden. B. scheint mit diesem Werk noch in der Tradition der Moderne zu stehen, d.h., er nimmt die Aufgabe des Künstlers ernst, nach dem Verlust übergreifender Deutungsmuster mittels Dichtung Sinnbildung zu ermöglichen. Gleichzeitig aber beschreibt er nicht nur die Desintegration der Partialwertsysteme, sondern er beteiligt sich an der Dekonstruktion der modernen Ästhetik, indem er Lukács’ Theorie satirisch ad absurdum führt. Bei der Arbeit an seinem zweiten wichtigen Roman Die Verzauberung tritt B. die Problematik der Avantgarde noch deutlicher entgegen. Er erkannte, wie schwierig, ja unmöglich in der antifaschist. Literatur die beabsichtigte Wirkung, die »Überführung von Kunst in Lebenspraxis« (Peter Bürger) wird, u. glaubte, mit diesem Romanprojekt in eine Sackgasse geraten zu sein: Er gab das Romanschreiben auf u. wandte sich vorläufig der polit. Theorie zu.

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In Der Tod des Vergil geht es B. weder darum, Briefe an Paul Federn (1939–49). Hg. P. M. Lützedie Umrisse einer neuen Kosmologie bzw. ler. Ffm. 2007. Literatur: Bibliografien: Klaus W. Jonas: Biblioeines neuen Mythos oder einer neuen Religion auszumachen, noch ist er auf eine unmit- gr. der Sekundärlit. In: H. B. – Daniel Brody. telbare polit. Wirkung bedacht. Das eigentl. Briefw. Ebd., S. 1105–1168. – Forts. in: Paul Michael Lützeler (Hg.): H. B. Ffm. 1986, S. 333–357. – Thema des Buchs ist der Tod, die Grenze von Biografie: P. M. Lützeler: H. B. Eine Biogr. Ffm. Leben u. Tod, von Ausdrückbarem u. nur 1985. 31987. Engl. Ausg. London 1987, span. Ausg. Erahnbarem, die Zwischenbereiche von 1989, japan. Ausg. 2003. – H. B. 1886–1951. Eine Diesseits u. Jenseits. Mit dieser Dichtung will Chronik. Bearb. v. P. M. Lützeler. Marbacher MaB. sich dem nähern, was »jenseits der Spra- gazin 2001. – Weitere Titel: Manfred Durzak (Hg.): che« liegt. Er sucht, vergleichbar dem, was H. B. Perspektiven der Forsch. Mchn. 1972. – JoDerrida als »differance« bezeichnet, das seph Strelka (Hg.): B. heute. Bern/Mchn. 1978. – Nichts zu erfassen, das alles in Gang setzt. Er Richard Thieberger (Hg.): H. B. u. seine Zeit. Bern 1980. – H. B. In: MAL, Sonderh. 13/4 (1980). – P. M. bemüht sich um das, was von der Philosophie Lützeler (Hg.): H. B. Ffm. 1986. – Michael Kessler u. »ungedacht« bleibt, da es rational nicht »be- P. M. Lützeler (Hg.): H. B. Das dichter. Werk. Tüb. griffen« u. »kontrolliert« werden kann. Bei 1987. – P. M. Lützeler u. M. Kessler (Hg.): B.s diesem Versuch, die Grenzen des modernen theoret. Werk. Ffm. 1988. – Steven D. Dowden Romans zu überschreiten, schuf er eine bei- (Hg.): H. B.: Literature, Philosophy, Politics. Cospiellose Form des »lyrischen Romans« mit lumbia/South Carolina 1988. – M. Kessler u. a. einer eigenwilligen Syntax, wobei ihm Werke (Hg.): H. B. Neue Studien. FS für P. M. Lützeler wie der Ulysses von James Joyce nicht mehr als zum 60. Geburtstag. Tüb. 2003. – P. M. Lützeler u. a. (Hg.): H. B., Visionary in Exile. The 2001 Yale Vorbilder dienen konnten. Symposium. Rochester/New York 2003. – Thomas B.s Die Schuldlosen kann als Fortsetzung der Eicher, P. M. Lützeler u. Hartmut Steinecke (Hg.): in Der Tod des Vergil eingeschlagenen Richtung H. B. Politik, Menschenrechte – u. Lit.? Oberhausen betrachtet werden. Die Parabel, die Stimmen 2005. Paul Michael Lützeler u. die Erzählungen sind kunstvoll komponiert, aber sie haben sämtlich fragmentar. Charakter u. ergeben als Ganzes keine »To- Brock, Bazon, * 2.6.1936 Stolp/Pommern. – Verfasser von Lyrik, Kurzprosa, Essays, talität« mehr. Wenn Autoren wie Milan Kundera, Carlos Hörspielen, kunst- u. kulturtheoretischen Fuentes, Villy Sørensen, Susan Sontag oder Schriften; Aktionskünstler. Barbara Frischmuth u. Doron Rabinovici in Nach Flucht u. Internierungslager (von 1945 ihrem essayistischen u. dichter. Werk B. pro- bis 1947) besuchte B. das Gymnasium in Itduktiv rezipierten, liegt das an der noch im- zehoe. Den von einem Lehrer stammenden mer inspirierenden Aktualität der großen Schmähnamen »Bazon« (»Schwätzer«, von Romane B.s. griechisch »bazo«) legte sich B. als neuen VorAusgaben: Ges. Werke. 10 Bde., Zürich u. Ehrennamen zu. Er studierte bei Adorno, 1952–61. – Komm. Werkausg. Hg. Paul Michael Horkheimer u. Carlo Schmid in Frankfurt/ Lützeler. 13 (in 17) Bdn., Ffm. 1974–81 (Bd. 13, M., war 1960/61 Chefdramaturg bei Horst 1–3: Briefe). – Psych. Selbstbiogr. Hg. P. M. Lüt- Gnekow in Luzern u. setzte danach sein Stuzeler. Ffm. 1999. – Das Teesdorfer Tgb. für Ea v. dium in Frankfurt/M. fort. Seit 1980 lehrt er Allesch. Hg. P. M. Lützeler. Ffm. 1995. – Briefe: H. als Professor für Kunst u. Ästhetik an der B. – Daniel Brody. Briefw. 1930–51. Hg. Bertold Bergischen Universität Wuppertal. Hack u. Marietta Kleiss. Ffm. 1971. – Hannah Seinem ersten Lyrikband Bazon Phönix Arendt – H. B. Briefw. 1946–51. Hg. P. M. Lützeler. Phlebas Brock – Kotflügel, Kotflügel (Itzehoe Ffm. 1996. – Der Tod im Exil. H. B. – Annemarie Meier-Graefe. Briefw. 1950/51. Hg. P. M. Lützeler. 1957), der seine Zugehörigkeit zur Konkreten Ffm. 2001. – Freundschaft im Exil. Thomas Mann Poesie u. zum Neodadaismus andeutet, folgu. H. B. Hg. P. M. Lützeler. Ffm. 2004. – H. B. u. ten zahlreiche Essays zu Literatur, Kunst u. Ruth Norden. Transatlant. Korrespondenz. Hg. P. Theater, poet. Texte u. Manifeste. B.s ArM. Lützeler. Ffm. 2005. – ›Frauengeschichten‹. Die beitsweise ist multimedial. Er verknüpft sei-

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ne »Demonstrations-Vorträge« (»Action-Tea- wollen Gott! Aus dem Unterhaltungsprogramm für ching«), Film- u. Ausstellungsprojekte oft die Hölle – erste theatral. Demonstration mit B. B., mit künstler. Aktionen. Dazu zählt u. a. der Robert Hunger-Bühler, Thomas Weber-Schallauer. zwischen 1959 u. 1966 zum eigenen Mar- Köln 1985 (Video-Kassette) – Die Re-Dekade. Kunst u. Kultur der 80er Jahre. Mchn. 1990. – Lock-Buch kenzeichen ausgebildete Kopfstand. Mit seiB. B., gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stünen literar. Aktionen u. Objekten wie Das Ei- cken. Köln 2000. – Bildersturm u. stramme Halsenbahnpoem (1960), Die Satzmaschine (1960) tung. Texte 1968 bis 1996. Dresden 2002. oder Das Blätterbuch. 22.000 leere Seiten (1962) Literatur: Nicole Stratmann: Der Selbstfesseantizipierte er Arbeiten der späteren Concept- lungskünstler B. B. Eine Einf. in die Ästhetik des art. Als Begründer des »Agit-pop« war er zus. Unterlassens. Weimar 1995. – Heiner Mühlmann: mit Joseph Beuys, Wolf Vostell, Daniel Spo- Kunst u. Krieg. Das säuische Behagen in der Kunst. erri u. a. an spektakulären Aktionen der Flu- Über B. B. Köln 1998. – Gisela Ullrich: B. B. In: xus- u. Happeningbewegung beteiligt. Im KLG. Ulrich Giersch / Roman Luckscheiter Mittelpunkt seiner Arbeit steht das Konzept einer »Ästhetik der Vermittlung«. SchöpferiBrockes, Barthold Heinrich, * 22.9.1680 sches Wahrnehmen u. DifferenzierungsverHamburg, † 16.1.1747 Hamburg. – Lyrimögen sollen durch die Rezeption von Kunst ker, Übersetzer, Kunstsammler u. -mäausgebildet werden. zen. B.s Literaturverständnis nach soll ein Kunstwerk als »Nichtwerk« zur Aufhebung Mit zahlreichen Gelegenheitsgedichten u. der Distanz zwischen Kunst u. Leben beitra- dem neunbändigen Werk Irdisches Vergnügen in gen. Seine Textbeiträge in dem Band Ästhetik Gott (Hbg. 1721–48. Neudr. Bern 1970; zus. als Vermittlung. Arbeitsbiographie eines Genera- 5675 S.) schuf B. das umfangreichste lyr. listen (Köln 1977) verwerfen Stil als Täu- Werk des 18. Jh. u. erwarb sich den Ruhm schung u. dekonstruieren vermeintl. Wahr- eines »Vaters der deutschen Naturpoesie«. heiten, feststehende Begriffe, Pathos u. Tief- Zgl. führt sein Werk aspektreich in die sosinn. Der zweite Band seiner Schriften er- zialen, religiösen, wiss. u. künstler. Proschien 1986 in Köln u. d. T. Ästhetik gegen er- blemkonstellationen der Frühaufklärung ein. zwungene Unmittelbarkeit. Dabei stehen Ana- Aus ihnen erwächst seine deskriptive Form u. lyse u. Kritik zeitgenössischer Strömungen u. lehrhafte Funktion. Mit Person u. Werk steht B. für den ÜberThemen (Totalitarismus, Erlösungssehnsüchte usw.) im Vordergrund. Im dritten Teil gang von der barocken Repräsentations-Kulder gesammelten Schriften (Der Barbar als tur des Adels zu einer frühbürgerl. Kultur, Kulturheld. Köln 2002) nimmt B. Phänomene die das Künstliche in der Kunst durch Streben der Werbung u. der Alltagskultur zum An- nach Lebensunmittelbarkeit, Natürlichkeit u. lass, um in Essays u. Interviews über die Nützlichkeit zu ersetzen suchte. Als Sohn eines vermögenden HandelsBarbarisierung der Kultur u. die Möglichkeiten von Kunst, Wissenschaft u. Politik, zu kaufmanns († 1684) wurde B. im Hamburger ihrer Zivilisierung beizutragen, zu reflektie- Patriziermilieu zunächst privat erzogen u. besuchte seit 1706 das Gymnasium Johanneren. Ausstellungs- u. Dokumentationsbände zu um, wo ihn u. a. sein späterer Freund Johann gesellschaftl. Fragen wie etwa zur Macht des Albert Fabricius unterrichtete. In seiner AuAlters (Köln 1998), zum Verhältnis von Ethik tobiografie (Selbstbeschreibung des Senators B. H. u. Ästhetik oder von Krieg und Kunst (Mchn. B. 1847) beschreibt B. seine jugendl. »Adels2002) sind ein wesentlicher Bestandteil von sucht«: den Umgang mit Aristokraten u. das B.s Werk, dessen provokante Thesen u. iron. Erlernen höfischer Fertigkeiten (frz. Sprache, Argumentationsstrategien in der öffentl. Musik, Tanzen, Fechten, Reiten), das er während seines Jura-Studiums in Halle Wahrnehmung oft umstritten waren. Weitere Werke: B. B., was machen Sie jetzt so? (1700–1702) bei Christian Thomasius, dem Darmst. 1968. – Besucherschule. Die Häßlichkeit Propagator des »galanten Menschen«, fortdes Schönen. Zur Documenta 7. Kassel 1982. – Wir setzte. Nach einem Praktikum am Reichs-

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kammergericht Wetzlar (1702) führten ihn Bildungsreisen durch Deutschland, Italien, die Schweiz, Frankreich, Belgien u. die Niederlande (von 1702 bis 1704). In Leiden erwarb er den Titel eines Licentiats der Rechte. Die Weiterreise nach England u. die Absicht, »mein Fortun bey Hofe zu suchen«, wurden durch die nach dem Tod der Schwester (1704) erforderl. Rückkehr nach Hamburg vereitelt. Hier lebte B. ein Jahrzehnt vom väterl. Erbe höfisch-galant auf großem Fuß, gab wöchentlich ein Hauskonzert, übte sich in der Malerei, sammelte eine Gemäldegalerie u. Bibliothek (beide kürzlich rekonstruiert), legte sich einen großen Barock-Garten an u. strebte nach einer reichen Partie. Letztere wurde ihm mit Anna Ilsabe Lehmann 1714 zuteil; sie gebar ihm zwölf Kinder, aus denen er sich ein Haus-Orchester formte. Der aristokratisch-galanten Lebensplanung diente auch B.’ dichter. Jugendwerk. Brisant waren seine im Auftrag des Rates verfassten Dank-Serenaden zur durch kaiserl. Mithilfe erfolgten Wiederherstellung der polit. Ordnung nach Bürgerunruhen in der Hansestadt (1709/10). Mit weiteren Gelegenheitsgedichten auf hochgestellte Persönlichkeiten im Reich erstrebte B. (zunächst vergeblich) den Adelstitel (erst 1730 wurde er Kaiserl. Pfalzgraf). Dem höfisch-galanten Zeitgeschmack entsprach B.’ – von Johann Ulrich König 1715 edierte – Alexandriner-Übersetzung von Giambattista Marinos Epos La Strage degli Innocenti (Verteutschter Bethlehemitischer KinderMord des Ritters MARINO), deren weiteren fünf Auflagen B. eine wachsende Zahl seiner Gelegenheitsgedichte anfügte. 1712 erfolgte vor 500 Gästen in B.’ Haus die Uraufführung seines ebenfalls im »marinistischen« Stil verfassten Passionsoratoriums (Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende JESUS [...]). Dieses mehrfach übersetzte Werk (30 Aufl.n bis 1730. Neudr. Darmst. 1965), das nach Reinhard Keiser u. a. Georg Friedrich Händel, Georg Philipp Telemann u. Johann Mattheson vertonten, markierte für B. den Schlusspunkt seiner galanten Karriere. Fortan wandte er sich der Naturbetrachtung zu u. fühlte sich mit seinen kulturellen u. berufl. Aktivitäten dem bürgerl. Gemeinwohl verpflichtet. So gründete er 1715 u. a. mit Fa-

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bricius, König u. Michael Richey die »Teutsch-übende Gesellschaft zur Pflege der deutschen Sprache und Literatur« (bis 1717), mit weiteren Personen aus Politik u. Kultur 1724 die »Patriotische Gesellschaft« u. beteiligte sich mit 23 Beiträgen an deren moral. Wochenschrift »Der Patriot« (1724–26. Nachdr. Bln. 1969–84), um vorurteilsfreies Denken zu fördern u. den Gemeinsinn zu aktivieren. Überdies unterstützte er das damals im Reich führende Hamburger Musikleben, arbeitete mit Mattheson, dem Director musices am Dom, zusammen u. schrieb viele, oft vertonte Kantaten (1741 hg. u. d. T. Harmonische Himmels-Lust im Irdischen oder auserlesene [...] musicalische Gedichte u. Cantaten). 1720 erfuhr er bei der Aufführung eines »Sing-Gedichtes« von seiner Berufung in den Senat. Als Ratsherr sorgte er sogleich für die Wahl Telemanns zum städt. Musikdirektor u. setzte sich gegen fromme Vorbehalte für die Oper am Gänsemarkt ein. 1721 gehörte er einer Delegation an, die in Wien – u. a. mit einem Huldigungsgedicht von B. – den Kaiser vom Entzug von Handelsprivilegien u. der Eigenstaatlichkeit abhalten konnte, die dieser als Strafe für die Zerstörung einer kath. Kapelle auf kaiserl. Gesandtschaftsgelände Hamburgs durch einen von der luth. Orthodoxie aufgehetzten Mob angedroht hatte. Die Spannungen zwischen dem intoleranten Geistl. Ministerium u. dem Rat zeigen auch in den nachfolgenden Jahren deutl. Spuren in B.’ literarischem Werk. Mit dem Irdischen Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten verfolgte B. wissenschaftlich-lebenskundliche, religiös-weltanschaul. u. ästhet. Absichten. Seine Erfindung des naturbeschreibenden u. zgl. belehrenden Gedichts öffnete die rhetor. Tradition der »ekphrasis« für die zeitgenöss. Wissenschaften, die ihre Sachgebiete (wie die Botanik) u. Experimente zu beschreiben u. die Wissensfülle zu durchdringen u. zu ordnen suchten. Auch B.’ Deskriptionen erfolgen in der Reflexion auf rationalistische (Wolff) u. empiristische (Locke) Verfahren der Erkenntnisgewinnung, u. in seine Lehrgedichte arbeitete er in teils dialogischer Form Grundprobleme der Zeit (Leib-Seele-Problematik, Monadenlehre, Korrektur der aristotel. Ele-

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mentenlehre) mit z.T. unausgewiesener Übersetzung aus bedeutenden wiss. Werken der Zeit zur Information seiner Leser ein. Zwar ordnete er sich der Modeerscheinung der »Physikotheologie« zu, die – zwischen Bibel u. »new science« vermittelnd – aus der Betrachtung der Ordnung der Natur aposteriorisch auf einen noch theistisch zu verstehenden Schöpfer schloss, doch brachte B. schon mit seiner Wissensvermittlung dieses Harmonietheorem ins Wanken. Als Fabricius ihm seine Übersetzung (1728) von William Derhams berühmter Astro-Theology widmete, verwies er damit auf B.’ Leistung, als erster dt. Lyriker den Schock der Pluralität der Welten thematisiert zu haben. Von daher ließ sich Gott für B. auch nicht mehr im bibl. Sinne personhaft denken. Als Schöpfer eines grenzenlosen Universums konnte er auch nicht in einem transzendenten Jenseits, sondern nur als dynamisch wirkende Kraft in seiner Schöpfung gedacht werden. Alle ihre Manifestationen – Das Firmament u. Ein kleines Tröpfgen, Der gestirnte Himmel u. Die kleine Fliege – waren Zeichen göttl. Nähe u. Liebe, zgl. Spiegel göttl. Schönheit. Die Natur war deshalb nicht im cartesianisch-mechanist. Sinne »tot«, sondern ein lebendiger Organismus, u. B. plausibilisierte im weltanschaul. Streit der Positionen eklektisch die anticartesianische u. zgl. paracelsisch-hermet. Ansicht, die Welt sei erfüllt von unsichtbaren Kräften u. Lebens-Geistern, Gott habe allem Körperlichen die Fähigkeit zur Vergeistigung u. damit zur Vervollkommnung der Schöpfung verliehen. Deren Schätze u. Gaben durfte der Mensch als göttl. Geschenke dankbar genießen. Heilslehre u. Kirchenjahr den Theologen überlassend, berief sich B. auf den ersten Glaubensartikel u. entwickelte auch mit geistl. Gedichten, Kantaten u. Gebeten im Rhythmus der Jahreszeiten als Gliederungsprinzip der Bände einen konfessions- u. religionsübergreifenden, erfahrungsnahen, »adamitisch«-natürl. Gottesdienst. In dessen Zentrum stand die poet. »Betrachtung« u. »Bewunderung« göttl. Ordnung, Schönheit u. Liebe in der Natur, wodurch sich die Seele selbst erheben u. veredeln sollte. B. verlangte deshalb der Sprache ein Äußerstes an sinnl. Präsenz ab, verband die »ut pictura poesis«-

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Tradition mit Techniken des (von ihm mit Vorliebe gesammelten) niederländ. Stillebens u. nutzte die Musik für synästhet. Effekte, in denen die göttlich-schöne Natur zur medialen Selbstanschauung gelangen sollte. Dabei schlug das Höchstmaß an detailverliebter Referentialität häufig in den Selbstgenuss der Sprache u. in Selbstbezüglichkeit um, u. in der Aneignung von Newtons Opticks erblickte das lyr. Ich sich bereits als Schöpfer der Farben u. als Erfinder in der »imitatio naturae«. Vor allem mit den ersten Bänden hatte B. großen Erfolg (Bd. 1: 1721. 71744. Bd. 2: 1727. 51767. Bd. 3: 1728. 41747. Bd. 4: 1732. 3 1745. Bd. 5: 1736. 21740). Mit der »Hamburger« konkurrierte eine »Tübinger Ausgabe« (Bde. 1–7, 1739–46), u. 1738 gab Friedrich von Hagedorn einen Auszug aus den ersten fünf Bänden heraus (Nachdr. Stgt. 1965). Zgl. meldeten sich poet. Schüler zu Wort (so u. a. Daniel Wilhelm Triller, Johann Just Ebeling u. Albrecht Jacob Zell). B.’ Ansehen wuchs auch im Rat (ab 1728 war er Stadt- u. Landrichter mit Aufsicht über die Bürgerwache, seit 1743 über die Schulbehörde). Deshalb wagte die misstrauische Geistlichkeit keinen offenen Protest. Von 1735 bis 1741 residierte B. in Hamburgs Außenposten Ritzebüttel (Cuxhaven). Hier war Hermann Samuel Reimarus für einige Monate sein Gast, dessen deistisches Hauptwerk Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes durch Lessings anonyme Teilpublikation 1774/77 zum »Fragmentenstreit« mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze führte. In den Ritzebütteler Bänden 6 (1739) u. 7 (mit dem Untertitel Landleben in Ritzebüttel, 1743), ferner in Bd. 8 (1746) nahmen die anthropologischen u. religionsphilosoph. Gedichte ebenso zu wie der Ton gegen die »Zancksucht« der Geistlichen. Der letzte Band (9, 1748) überraschte mit B.’ – von Herausgeber Barthold Heinrich Zinck aus Geschmacksgründen auf 310 Seiten gekürztem – heiml. Hauptwerk, dem Lehrgedicht-Fragment über die Drey Reiche der Natur, woran B. schon seit 1713 u. verstärkt seit 1735 gearbeitet hatte. Die gesamte Stein-, Pflanzen- u. Tierwelt wollte er in einem wahren »Buch der Natur« zur Ehre Gottes erschreiben.

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Brockmann

Von Gottsched, Bodmer u. Breitinger we- Helmut Schmidt. Hbg. 2003. – Barbara Hunfeld: gen seiner »Schilderungssucht« kritisiert, Der Blick ins All: Reflexionen des Kosmos der entfachte B. mit seinem – u. a. vom jungen Zeichen bei B., Jean Paul, Goethe u. Stifter. Tüb. Wieland u. Matthias Claudius beerbten – 2004. – Heinz Drügh: Ästhetik d. Beschreibung. Poetische u. kulturelle Energie deskriptiver Texte Weltbild Diskussionen, seit der als Spinoza(1700–2000). Tüb. 2006. Hans-Georg Kemper Adept verketzerte Johann Christian Edelmann in seiner Selbstbiografie 1749–52 (Neudr. 1976) bekundete, B.’ Gedanken glichen den seinigen wie ein Ei dem anderen. Brockmann, Reiner, * 28.4.1609 Schwan/ Diese Debatte hält bis heute an u. schärft zgl. Mecklenburg, † 29.11.1647 Wirland/Estland. – Lyriker u. Übersetzer. das Profil der Epoche. Weitere Werke: Aus dem Engl. übers. Versuch B. ist vergessen. Und doch war der Freund vom Menschen des Herrn Alexander Pope, Esq. Flemings die Seele der neuen Dichtung auf Hbg. 1740. Neudr. Rüsselsheim 1995. – Aus dem dem nordöstl. Vorposten des dt. Sprachraums Engl. übers. Jahreszeiten des Herrn Thomson. Hbg. in Reval (Tallinn). B. hatte Schulen in Rostock 1744. Neudr. New York/London 1972. u. Wismar besucht sowie auf dem Hamburger Ausgabe: Ird. Vergnügen in Gott. Naturlyrik u. Gymnasium u. in Rostock studiert, bevor er Lehrdichtung. Ausgew. u. hg. v. Hans-Georg 1634 auf die Professur für griech. Sprache an Kemper. Stgt. 1999. dem soeben von Gustav Adolf gegründeten Literatur: Uwe-K. Ketelsen: Die Naturpoesie Revaler Gymnasium berufen wurde, die er im der norddt. Frühaufklärung. Poesie als Sprache der Juni desselben Jahres antrat. Im Jan. 1635 Versöhnung: Alter Universalismus u. neues Weltkam Fleming auf dem Weg nach Moskau u. bild. Stgt. 1974. – Georg Guntermann: B. H. B.’ Persien hinzu. In den 15 Monaten seiner ›Irdisches Vergnügen in Gott‹ u. die Gesch. seiner Rezeption in der dt. Germanistik. Bonn 1980. – Anwesenheit entstand um Schule und Kirche Hans-Dieter Loose (Hg.): B. H. B. (1680–1747). ein reiches Gelegenheitsschrifttum, in dem Dichter u. Ratsherr in Hamburg. Hbg. 1980. – B.s Namen selten fehlte. Bald setzte sich B. in Hans-Georg Kemper: Gottebenbildlichkeit u. Na- einer Opitz-Paraphrase auch für eine estn. turnachahmung im Säkularisierungsprozeß. Pro- Literatur ein: »Andre mögn ein anders treiblemgeschichtl. Studien zur dt. Lyrik in Barock u. ben; / Ich hab wollen Esthnisch schreiben. / Aufklärung. 2 Bde., Tüb. 1981. – Harold P. Fry: Esthnisch redet man im Lande, / Esthnisch Physics, classics, and the Bible. Elements of the redet man am Strande«. So entstehen polysecular and sacred in B. H. B.’s ›Irdisches Vergnü- glotte griech.-lat.-dt.-estn. Gedichte, in denen gen in Gott‹, 1721. New York u. a. 1990. – H.-G. die kulturelle Symbiose an den Grenzen des Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 5/1: dt. Sprachraums sinnfällig wird. B. ging 1639 Frühaufklärung. Tüb. 1991. – Günter Peters: Die Kunst der Natur. Ästhet. Reflexion in Blumenge- als Pastor nach St. Katharinen in Wirland u. dichten v. B., Goethe u. Gautier. Mchn. 1993. – wurde 1643 Propst. Er leitete seit 1645 die Martina Wagner-Egelhaaf: Gott u. die Welt im estn. Übersetzung des NT u. übertrug KirPerspektiv der Poeten. Zur Medialität der Wahr- chenlieder für das estn. Gesangbuch. Mit nehmung am Beispiel B. H. B.’. In: DVjs 71 (1997), seinen wenigen estn. Gelegenheitsgedichten H. 2, S. 183–216. – Ernst Fischer: B.’ didakt. Poesie gilt er heute als Begründer der estn. Kunstals Medium der Orthodoxiekritik, oder Ursprünge lyrik; mit seinen dt. Gedichten gehörte er zu der Aufklärung in Dtschld. In: Beiträge zu Kom- den Begündern der dt. Dichtkunst in Estland. paratistik u. Sozialgesch. der Lit. Amsterd. 1997, Eines der schönsten Schäfergedichte FleS. 657–681. – H.-G. Kemper, U.-K. Ketelsen u. mings ist der Hochzeit B.s mit Dorothea Carsten Zelle (Hg.): B. H. B. (1680–1747) im Spiegel seiner Bibl. u. Bildergalerie. 2 Bde., Wiesb. 1998. – Temme gewidmet (1635). Wolfram Mauser: ›Irdisches Vergnügen in Gott‹ – u. am Gewinn. In: Ders.: Konzepte aufgeklärter Lebensführung. Würzb. 2000, S. 50–79. – Michael Scheffel (Hg.): Erschriebene Natur. Internat. Perspektiven auf Texte des 18. Jh. Bern u. a. 2001. – Eckart Kleßmann: B. H. B. Mit einem Vorw. v.

Werkausgabe: Teosed/Werke. Hg. Endel Priidel. Tartu 2000. Literatur: Johann F. Recke u. Karl E. Napiersky: Allg. Schriftsteller- u. Gelehrten-Lexikon der Provinzen Livland, Esthland u. Kurland. 1827. Neudr. Bln. 1966. Bd. 1, S. 267 f. Bd. 5, S. 88,

Brod Nachträge S. 10. – Kaja Altof: R. B. Tallinnas ja ›Lasnamäe lamburid‹. In: Looming 2 (1987), S. 1556–1562. – Marju Lepajoe: R. B. A Neo-Latin or an Estonian Poet? In: Acta Conventus Neo-Latini Hafniensis. Binghamton u. a. 1994, S. 597–606. – Dies.: R. B. Ich hab’ wollen Estnisch schreiben. In: Jb. der Akadem. Gesellsch. für Deutschbalt. Kultur in Tartu (Dorpat) 1 (1996), S. 45–52. – Dies.: R. B. u. die Anfänge der estn. Kunstpoesie. In: Kulturgesch. der balt. Länder in der Frühen Neuzeit. Hg. Klaus Garber u. Martin Klöker. Tüb. 2003, S. 319–355. – K. Garber: Das Erbe Opitzens im hohen Norden. Paul Flemings Revaler Pastoralgedicht. Ebd., S. 303–317. – M. Klöker: Literar. Leben in Reval in der ersten Hälfte des 17. Jh. (1600–57). Tl. 1, Tüb. 2005, S. 300–314 u. ö. – Cornelius Hasselblatt: Gesch. der estn. Lit. Bln./New York 2006, bes. S. 116–121. Klaus Garber / Martin Klöker

Brod, Max, * 27.5.1884 Prag, † 20.12.1968 Tel Aviv; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof in der Trumpeldor Street. – Romancier u. Kulturphilosoph. B. hinterließ ein umfangreiches (81 Bücher, zahlreiche Artikel in Zeitschriften u. Tageszeitungen) u. vielseitiges Werk. Er schrieb – Irrtümer bei der Zählung u. Einordnung sind nicht auszuschließen – 22 Romane, zehn Schauspiele (hinzu kommen die dramat. Bearbeitung der Abenteuer des braven Soldaten Schweijk, den er zunächst übersetzt u. berühmt gemacht hatte, u. von Kafkas Roman Das Schloss), sechs Bände Lyrik, sieben Bände Erzählungen bzw. Novellen, sieben Bände Essays bzw. Abhandlungen u. sieben Monografien. Weiterhin übersetzte er Opernlibretti (vornehmlich die Hauptwerke von Leosˇ Janácˇek, der durch B.s publizist. Tätigkeit in Deutschland u. dadurch in der tschechoslowak. Republik erst bekannt wurde) aus dem Tschechischen u. komponierte selbst (38 Kompositionen; er spielte ausgezeichnet Klavier u. musizierte mit Albert Einstein). Schließlich gab er nach 1926, was zunächst sehr schwierig war, die Werke des bis dahin weitgehend unbekannten Franz Kafka heraus. Trotz oder wegen der innigen Freundschaft erfüllte B. den Wunsch Kafkas nicht, dessen später weltberühmt gewordene Hauptwerke zu vernichten.

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Der österr. Staatsbürger jüdischer Herkunft u. dt. Kulturzugehörigkeit studierte Jura u. promovierte 1907 an der Deutschen Universität in Prag, wurde Beamter bei der dortigen Oberpostdirektion u. ab 1924 im Pressedepartement des Ministerpräsidenten der Tschecho-Slowakischen Republik. Von 1928 bis zu seiner Emigration im Jahre 1938 war er Theater- u. Musikkritiker für das »Prager Tagblatt«. Inzwischen war er – Mittelpunkt des engen »Prager Kreises« mit Beziehungen zu weiteren literar. Kreisen Prags (z.B. Egon Erwin Kisch, Paul Kornfeld, Ernst Weiß oder Louis Fürnberg) sowie der literar. Welt Österreichs u. Deutschlands – berühmt geworden. 1930 erhielt der Mitbegründer des Jüdischen Nationalrates der CˇSR für seinen 1925 erschienenen Roman Rëubeni, Fürst der Juden (Mchn. Neuausg. Ffm. 1979) den tschechoslowakischen Staatspreis. Im März 1938 emigrierte er nach Palästina, wurde kurz darauf Dramaturg bei der »Habimah«, einem ostjüd. Theater in Tel Aviv u. lernte Iwrit. B. schrieb in seinen Romanen, Gedichten, Dramen u. Erzählungen stets frei u. modern über Sex, Eros, Liebe u. Ehe. Zudem war sein »Universalhumanismus« das Maß seiner Interpretation des modernen plural-demokrat. Verfassungsstaates u. des Zionismus. In diesem Sinne suchte er immer die Haltungen, Entscheidungen u. Handlungen mit ethischmoralischen Reflexionen zu verknüpfen. Mit seinen frühen Erzählungen aus den Jahren 1906 (Tod den Toten) u. 1907 (Experimente) sowie dem Roman Schloss Nornepygge. Roman eines Indifferenten (Bln. 1908) wurde er in Berliner Kreisen (Ludwig Rubiner, Franz Pfemfert, der junge Kurt Hiller) begeistert anerkannt. Noch in dieser Phase verfasste er die Abhandlung Über die Schönheit häßlicher Bilder (Lpz. 1913. Wien 1967. Bln. 1982 u. ö., mit Beiträgen über Möbel, Panoramabilder, aber auch Robert Walser). In der resoluten Negation des »moralischen Indifferentismus« Schopenhauers u. Affirmation der ethischen sowie noetischen Tugenden (mit seinem Freund Felix Weltsch verfasste er die 1912 publizierte Monografie Anschauung und Begriff. Grundzüge eines Systems der Begriffsbildung. Lpz.) schrieb er seinen berühmt gewordenen Ro-

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man Tycho Brahes Weg zu Gott (Bln. 1915 u. ö. Neuausg., mit einem Nachw. v. Stefan Zweig, Ffm. 1978. 21984). Tycho Brahe, der berühmte Mathematiker am Hofe Rudolf II., entscheidet sich unter dem Einfluss eines Rabbiners dazu, die Gefährdung seines Konkurrenten Johannes Kepler abzuwenden. Das Thema der Wahrheit im Konflikt zwischen Vernunft, Glaube u. Ethik ist auch das Thema der Romane Rëubeni, Fürst der Juden u. Galilei in der Gefangenschaft (Winterthur 1948), weshalb sie als Trilogie gelten. Ideologische Strömungen der Gegenwart werden u. a. in den Romanen Das große Wagnis (Lpz. 1918) u. Die Frau, die nicht enttäuscht (Amsterd. 1933) behandelt. Der Roman Das große Wagnis – formal folgt B. dem Stil literarischer Utopien – ist ein Werk mit dem Gehalt einer Dys-Topie. In dem Staat namens »Liberia« wird die Freiheit durch totalitäre Maßnahmen zum Zwecke der Institutionalisierung eines materialistisch legitimierten Sozialismus radikal unterdrückt. In dem Roman Die Frau, die nicht enttäuscht, der die Zeit zwischen Juli 1932 u. Febr. 1933 umfasst, wirkt in die Liebesgeschichte zwischen dem jüd. Dichter Justus Spira u. der »Arierin« Carola Weber der nationalsozialist. Antisemitismus hinein. Spira bestimmt sein Verhältnis zum »Deutschtum« mit dem Topos »Distanzliebe« (Distanz wegen der antisemit. Tradition der Deutschen, Liebe wegen deren kultureller Tradition). Diese Haltung zu den Deutschen hat B. in seiner Biografie Streitbares Leben (Mchn. 1960. Vom Autor überarb. u. erw. Neuausg. 1969. Ffm. 1979) wiederholt. In beiden Romanen werden starke Frauen nicht weniger intelligent als empathisch vergegenwärtigt, wie in den Dramen Die Retterin (Lpz. 1914) u. Eine Königin Esther (Lpz. 1918) sowie in Erlöserin. Ein Hetärengespräch (Bln. 1921). Viele Kenner des B.’schen Werks schätzen bes. den 1931 erschienenen Roman Stefan Rott oder Das Jahr der Entscheidung (Bln. Durchges. Ffm. 1973). Der Schüler Rott muss sich – B. verlagert das Geschehen in das Jahr 1914 – für die Wahrheit zwischen zwei ideolog. Positionen entscheiden: dem thomist. Christentum seines kleinbürgerl. Lehrers u. dem materialist. Sozialismus seines großbürgerl. Freundes, in dessen Mutter Rott verliebt ist. Die laszive

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Schönheit wiederum unterliegt beinahe den Begierden des physischen u. psych. Krüppels Dr. Urban, der, wie auch sie, ein Typus der Genussbourgeoisie ist. Die Entscheidung gelingt mithilfe sokratisch-platonischen Philosophierens. Positionen von B.s religionsphilosoph. Monografien, nämlich Heidentum, Judentum, Christentum (2 Bde., Mchn. 1921) u. der im Rückblick auf den Zweiten Weltkrieg u. Auschwitz geschriebenen u. 1947 publizierten Bände von Diesseits und Jenseits (Bd. 1: Von der Krise der Seele und dem Weltbild der Naturwissenschaft; Bd. 2: Von der Unsterblichkeit der Seele, der Gerechtigkeit Gottes und einer neuen Politik; die Überarbeitung des Bandes 1 erschien 1968 u. d. T. Das Unzerstörbare, Bd. 2 postum 1956 u. d. T. Die Unsterblichkeit der Seele) sind in dem Roman Der Meister (Gütersloh 1952 u. ö. Ffm. 1981) erkennbar. Erzählt aus der Perspektive des hoch gebildeten hellenisierten Juden »Meleagros«, ist der »Meister«, der erst am Ende des vierten von insg. sieben Kapiteln eingeführt wird, »Jeschua« aus Nazareth. Der Roman kann nicht als christologisch konzipiert u. als »Christusroman« charakterisiert werden. Jeschua/Jesus wird zwar mit Respekt präsentiert, ist aber nur eine Person innerhalb des Pluralismus jüdisch-religiöser Bewegungen. Ein Hauptkonflikt besteht in der Differenz zwischen Jeschua u. Jehuda (Judas is Kariot), der die Ziele seines gnost. Messianismus durch den kriegerischen Kampf gegen die Römer u. ihre jüd. Helfer erreichen will. Jehuda/Judas liebt indes Jeschua/Jesus, ist aber wegen dessen Gewaltverzichtes tief enttäuscht. B. stellt Jehuda/Judas nicht als Verräter dar (der Verrat ist eine Propagandalüge der Römer). Es geht hier nicht um eine jüdisch-christl. Symbiose, sondern um den Versuch einer Versöhnung zwischen Athen (die Vernunft des platonischen Sokrates) u. Jerusalem (der Glaube des Moses). Gemeinsam sind Griechen u. Juden, das betrifft einen weiteren Hauptkonflikt, Objekte der gewalttätigen Politik des röm. Imperiums. In den 1950er Jahren hat B. noch kleine Romane über seine Jugend in Prag geschrieben sowie Johannes Reuchlin und sein Kampf. Eine historische Monographie (Stgt. 1965. Neuaufl. Wiesb. [1989]) verfasst.

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Abschließend soll auf die religionsphilosoph. Hauptwerke B.s eingegangen werden. Im Hinblick auf die früher sehr bekannte Schrift Heidentum, Judentum, Christentum (1921) ist hier die Unterscheidung zwischen »Edlem« u. »Unedlem Unglück« von Interesse. Ein Unglück ist »edel«, wenn es die Menschen durch eth. Taten nicht verhindern können. Die Menschen sind in diesem Fall ohne Schuld. Die Erbsünde wird abgelehnt. An dieses Thema knüpft B. wegen der »Attacken erlebter Ungerechtigkeit« durch Krieg u. Genozid in seinem religionsphilosoph. Hauptwerk Diesseits und Jenseits an. In der Kausalstruktur der Natur liegt nach B. die Ursache des Unrechts u. der Zerstörung der Güter des Lebens u. des Lebens selbst. Deshalb entwickelt er die Lehre von der »Zersprengung des Kausalgefüges« bzw. der »Durchbrechung des Kausalzusammenhanges« der Natur. Der »Verzicht auf Stärke aus Stärke« sei durch die »freie Tat«, »Liebe« sowie »Eros«, »Wissenschaft« u. das »religiöse Erlebnis« im Hinblick auf das unendl. Sein möglich. Voraussetzung dafür seien die »Unsterblichkeit der Seele« u. Gott als »Sein und Werden«. Darüber hinaus begründet B., sich von philosophischer Theodizee u. christl. Religion distanzierend, das Theologem »Gott will leiden«. Dies geschehe nicht für die Menschen, sondern sei so wie es ist. Weitere Werke: Die Erziehung zur Hetäre. Ausflüge ins Dunkelrote. Bln./Stgt./Lpz. 1909. – Ein tschech. Dienstmädchen. Bln./Stgt./Lpz. 1909 (R.). – Tgb. in Versen. 86 Gedichte. Bln. 1910. – Abschied v. der Jugend. Ein romant. Lustspiel in 3 Akten. Bln. 1912. – Richard u. Samuel. Zus. mit Franz Kafka, erstes Kap. des geplanten Buches. In: Hender-Blätter 1911/12. Faksimileausg. Hbg. 1962. – Sozialismus im Zionismus. Wien/Bln. 1920. – Das Buch der Liebe. Mchn. 1921 (G.e). – Prozeß Buntebart. Schausp. dieser Zeit in 3 Akten. Mchn. 1924. – Die Abenteuer des braven Soldaten Schweijk. Kom. nach Jaroslav Hasˇ ek. Wien 1928. – Heinrich Heine. Amsterd. 1934 (Monogr.). – Annerl. Amsterd. 1936 (R.). – Unambo. Roman aus dem jüdisch-arab. Krieg. Zürich 1949. – Die Musik Israels. Tel Aviv 1951 (Noten). – Ein Abenteuer Napoleons u. andere Novellen. Ausw. aus früher geschriebenen Novellen. Zürich 1954. – Armer Cicero. Bln. 1955 (R.). – Jugend im Nebel. Witten 1959 (R.). – Gustav Mahler. Beispiel einer dt.-jüd.

212 Symbiose. Ffm. 1961. – Der Prager Kreis. Stgt. 1966. – Opernlibretti: Der Burgkobold, aus dem Tschechischen v. V. Novak. Wien 1915. – Schwanda, der Dudelsackpfeifer, aus dem Tschechischen v. Jaromir Weinberger. Wien 1928. – Übersetzungen: Gaius Valerius Catullus: Gedichte. Vollst. Ausg. Deutsch v. M. B., z.T. mit Benützung der Übertragung v. Karl Wilhelm Ramler. Mchn./Lpz. 1914. – Salomon, Das Lied der Lieder. Neu übertragen aus dem Hebräischen v. M. B. Mchn. 1920. – Arno Dvora˘k. Der Volkskönig. Lpz. 1914. – Werke über Franz Kafka: Franz Kafka. Eine Biogr. Erinnerungen u. Dokumente. Prag 1937. New York 21946. Bln. 3 1954 u. ö. – Franz Kafkas Glauben u. Lehre. Kafka u. Tolstoi. Eine Studie. Winterthur 1948. – Franz Kafka als wegweisende Gestalt. St. Gallen 1951. – Verzweiflung u. Erlösung im Werk Franz Kafkas. Ffm. 1959. – Über Franz Kafka. Ffm. 1966. 1993 u. ö. (verschiedene Texte u. Dokumente zu Kafka). Literatur: Bibliografie: Werner Kayser u. Horst Gronemeyer: M. B. Hamburger Bibliogr.n. Bd. 12, Hbg. 1972 (ca. 800 Titel). – Weitere Titel: Felix Weltsch (Hg.): Dichter, Denker, Helfer. M. B. zum 50. Geburtstag. Mährisch-Ostrau 1934. – Ernst F. Taussig (Hg.): Ein Kampf um Wahrheit. M. B. zum 65. Geburtstag. Tel Aviv 1949. – Hugo Gold (Hg.): M. B. Ein Gedenkbuch. 1884–1968. Tel Aviv 1969. – Bernd Wilhelm Wessling: M. B. Ein Portrait. Stgt. 1969. – Margarita Pazi: M. B., Werk u. Persönlichkeit. Bonn 1970. – Yehuda Walter Cohen: M. B. Die Musik Israels. Kassel 1976. – M. Pazi (Hg.): M. B., 1884–1984. Untersuchungen zu M. B.s literar. u. philosoph. Schr.en. New York 1987. – ClausEkkehard Bärsch: M. B. im ›Kampf um das Judentum‹. Zum Leben u. Werk eines dt.-jüd. Dichters aus Prag. Wien 1992. – Arno A. Gassmann: Lieber Vater, lieber Gott? Der Vater-Sohn-Konflikt bei den Autoren des engeren Prager Kreises (M. B. – Franz Kafka – Oskar Baum – Ludwig Winder). Hg. Dieter Sudhoff. Oldenb. 2002 (zgl. Diss. Karlsr. 2001). – M. Pazi: M. B. In: DBE. – Pavel Dolezal: Tomás G. Masaryk, M. B. u. das Prager Tageblatt (1918–38): dt.-tschech. Annäherung als publizist. Aufgabe. Ffm. u. a. 2004. – Paul Raabe: Zu Gast bei M. B.: Eindrücke in Israel 1965. In leicht veränderter Form am 23.5.2003 in der Niedersächs. Landesbibl. als Vortrag gehalten. Hameln 2004. – Jürgen Kreft: Theorie u. Praxis der intentionalist. Interpretation: Brecht – Lessing – M. B. – Werner Jansen. Ffm. u. a. 2006. Claus-Ekkehard Bärsch

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Brodnitz, Käthe, verh. Froehlich, * 10.3. 1884 Berlin, † 16.3.1971 St. Petersburg/ Florida. – Verfasserin von Prosa, Lyrik u. Dramen. Die Tochter eines Maschinenfabrikanten studierte Germanistik u. Philosophie in Freiburg i. Br. u. München (Promotion 1912). In München gehörte sie zum Kreis um Artur Kutscher u. war befreundet mit Ricarda Huch u. den frühexpressionist. Dichtern Hans Leybold, Klabund u. Hugo Ball, die sie finanziell unterstützte. 1938 musste sie wegen ihrer jüd. Herkunft in die USA fliehen, wo sie bis zu ihrem Tod als Sprachlehrerin u. Universitätsdozentin arbeitete. Ihre Familie kam im nationalsozialist. Deutschland um. B.s Bedeutung liegt v. a. in ihren engen u. anregenden Freundschaften mit expressionistischen Autoren. Ihr eigenes literar. Werk war wenig erfolgreich. Die vor dem Ersten Weltkrieg entstandene, neuromantisch bestimmte Prosa u. Lyrik fanden ebenso wenig Beachtung wie die Theaterstücke der 1920er u. 1930er Jahre, von denen lediglich das in expressionistischer Nachfolge stehende Drama Mysterien veröffentlicht wurde (Bln. 1931). Weitere Werke: Ich bin dir treu! Bln. 1911 (N.). – Der junge Tieck u. seine Märchenkom.n. Diss. Mchn. 1912. – Nazarener u. Romantiker. Bln. 1914 (kunsthistor. Studie). Eckhard Faul / Red.

Bröger, Karl, * 10.3.1886 Nürnberg, † 4.5. 1944 Nürnberg; Grabstätte: ebd., Westfriedhof. – Arbeiterdichter, Kinderbuchautor, Redakteur. Als unehelicher Sohn eines Schuhmachers u. einer Textilarbeiterin in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, verließ B. vorzeitig die Realschule u. arbeitete als Kaufmannsgehilfe u. als Tagelöhner auf dem Bau u. in Fabriken. Er schloss sich der Arbeiterbewegung an u. begann Gedichte zu schreiben, die zu einer Prosperierung seiner wirtschaftl. Situation führten. Erste literar. Arbeiten veröffentlichte er 1910 in den »Süddeutschen Monatsheften«. 1912 wurde er Redakteur bei der Nürnberger Arbeiterzeitung »Fränkische Hauspost«, bei der er, 1919 zum Leiter des Feuilletons aufgestiegen, bis 1933 blieb. Seit

Bröger

1924 schrieb er für die Zeitung des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold u. andere sozialdemokrat. Periodika. In seinen frühen Gedichtbänden (Gedichte. Mchn. 1912. Die singende Stadt. Nürnb. 1914) thematisiert B. den Wandel der zeitgenöss. Industrie- u. Stadtlandschaft. Während des Ersten Weltkriegs folgen pathetische, zunächst durchweg affirmative Kriegsgedichte (darunter das berühmt gewordene, 1915 im »Simplizissimus« erschienene Gedicht Bekenntnis), ehe die anfängl. Begeisterung der Dokumentation des Leidens weicht u. neben der techn. Seite des Krieges die Frage nach seiner ökonom. Bedingtheit in den Vordergrund tritt (z.B. in Kreuzesabnahme, 1920). Seine Gedichtsammlungen (Aus meiner Kriegszeit. Nürnb. 1915. Kamerad als wir marschierten. Jena 1916. Soldaten der Erde. Jena 1918) fanden insbes. unter der Arbeiterschaft Verbreitung u. erzielten hohe Auflagen. Im Tenor eines proletar. Nationalismus stellte B. die Opferbereitschaft des arbeitenden »Volkes« für die Verteidigung »Deutschlands« heraus u. appellierte zgl. an die Dankbarkeit des »Vaterlandes«. Neben Heinrich Lersch, Gerrit Engelke u. Max Barthel gehört B. zu den wichtigsten Repräsentanten der Arbeiterdichtung der Weimarer Republik. B. engagierte sich als Sozialdemokrat politisch. Sein lyrisches Bekenntnis zum Sozialismus: »Es ist, weil es wird / und es wird, weil es sein muß, / daß wir aufsteigen / zum Sinn unserer Sendung« (Deutsches Gedicht. 1927), seine Betonung des kollektiven Schöpfertums u. die kultische Sprache mancher seiner Gedichte boten sich jedoch auch der faschist. Ideologie an, von deren Trägern er ebenso wie Lersch vereinnahmt wurde. Im Juni 1933 wurde B. im KZ Dachau inhaftiert, nachdem er sich als gewählter Rat der Stadt Nürnberg geweigert hatte, der NSDAP beizutreten. Nach seiner Entlassung im Sept. 1933 u. dem Verlust seines Redakteurspostens schrieb B. zur Sicherung seines Lebensunterhalts v. a. Kinderbücher (Reta und Marie. Lpz. 1934. Die Ferienmühle. Köln 1936. Die Benzinschule. Lpz. 1936). Obwohl die Nationalsozialisten seine Gedichte u. Lieder des »Kriegssängers« für ihre Propaganda in Anspruch nahmen – sie sind in zahlreichen An-

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thologien u. sogar in Schulbüchern vertreten – u. auch um sein persönl. Engagement warben, blieb B.s Bekenntnis zum NS-Staat eher zurückhaltend u. hinsichtlich seiner wahren Motive schwer zu durchschauen. Als er 1944 starb, bereiteten ihm die Nationalsozialisten ähnlich wie 1936 schon Lersch ein pompöses Staatsbegräbnis. Als Kollaborateur verschrien, geriet B., von einzelnen Versuchen seiner Rehabilitation abgesehen, nach 1945 in Vergessenheit.

deutschen Bühne. Amsterd. u. Lpz. 1785); darin neigt B. zur routiniert-verflachenden Umsetzung engl. Vorbilder (Stücke von Shakespeare, Lillo u. a.) in rührende Lustspiele u. grobe Possen. Dennoch erhielten B.s Stücke mehrere Theaterpreise zuerkannt (Der Adjutant. Hbg. 1780); selbst einen Theaterskandal vermochte B. auszulösen (Aufführungsverbot in Hamburg von Gerechtigkeit und Rache. Wien 1783). Am negativen Urteil der Nachwelt änderten diese Tatbestände allerdings wenig.

Weitere Werke: Vom neuen Sinn der Arbeit. Jena 1919 (Ess.). – Der Held im Schatten. Jena 1919 (Autobiogr.). – Flamme. Jena 1920 (L.). – Phallos. Gesänge um den Mann. Jena 1920 (L.). – Der Vierkindermann. Ein Sang v. Sommer, Sonne u. Söhnen. Bln.-Zehlendorf 1922 (L.). – Phantasie u. Erziehung. Lpz. 1923 (Ess.). – Der blühende Hammer. Bln. 1924 (L.). – Dt. Republik. Betrachtungen u. Bekenntnisse zum Werk v. Weimar. Bln. 1926. – Das Buch vom Eppele. Eine Schelmen- u. Räuberchronik aus Franken. Bln. 1926 (R.). – Rote Erde. Bln. 1928 (L.). – Volk, ich leb aus Dir. Jena 1936 (L). – Schicksal aus dem Hut. Gesch.n aus dem Volk für das Volk. Bayreuth 1941 (E.). – Sturz u. Erhebung. Gesamtausg. der Gedichte. Jena 1943. – Bekenntnis. Eine Ausw. der Gedichte. Nürnb. 1954.

Weitere Werke: Die Verlobung. Wien 1780 (D.). – Wilmot u. Agnes. Lpz. 1784 (D.). Adrian Hummel / Red.

Literatur: Walter Georg Oschilewski: Über K. B. Bln.-Grunewald 1961. – Gudrun Heinsen-Becker: K. B. u. die Arbeiterdichtung seiner Zeit. Nürnb. 1977. – Gerhard Müller: Für Vaterland u. Republik: Monogr. des Nürnberger Schriftstellers K. B. Pfaffenweiler 1986. Peter König / Ralf Georg Czapla

Brömel, Wilhelm Heinrich, * 21.4.1754 Loburg bei Magdeburg, † 28.11.1808 Berlin. – Unterhaltungsschriftsteller. Leider geben nur wenige Quellen Auskunft über die näheren Lebensumstände B.s. Möglicherweise begann sein berufl. Werdegang mit einer Anstellung beim Hamburger Theater. Darauf scheinen Tätigkeiten als preuß. Forstwirtschaftsbeamter in Hamburg (1780–1786) u. Berlin (1786–1808) gefolgt zu sein. B. übersetzte beliebte Familienromane (Der Dechant von Killerine. Familiengeschichte. 2 Tle., Bln. 1792). Seine kurzfristigen literar. Erfolge verdankte der Autor jedoch häufig aufgelegten, mehrfach übersetzten u. bühnenwirksam komponierten Komödien (Beytrag zur

Bromme, Moritz Theodor William, * 15.7. 1873 Leipzig, † 19.2.1926 Lübeck. – Autobiograf u. Verfasser eines Lustspiels. Der Sohn eines sozialdemokrat. Bahnarbeiters arbeitete von früher Jugend an in unterschiedlichsten Berufen u. erwarb sich als Autodidakt umfangreiche literar. Kenntnisse. Als Frühinvalide schrieb er 1903 in einem Lungensanatorium bei Weimar seine Lebensgeschichte eines modernen Arbeiters (Jena 1905. Neuausg. mit einem Nachw. v. Bernd Neumann. Ffm. 1971). Das Wort »modern« ersetzte nach dem Willen des ersten Herausgebers Paul Göhre das als anstößig empfundene »sozialdemokratisch«). 1904 verfasste B. das Lustspiel Unter dem Tannenbaum (Greifsw.). Ab 1906 arbeitete er als Redakteur in Leipzig u. Altenburg; 1909 wurde er Parteisekretär der Lübecker SPD. B.s Lebensgeschichte ist neben den Erinnerungen Karl Fischers die erste Autobiografie eines Industriearbeiters in der dt. Literatur. Trotz gelegentl. Orientierung an trivialen Vorbildern gelang ihm eine realist. Darstellung u. eine unpathetische soziale Anklage. Das Fragment einer Fortsetzung ging verloren. Literatur: Bernd Neumann: Nachw. zur ›Lebensgeschichte‹, a. a. O. – Franz Mehring: B. In: Ges. Schr.en. Bd. 11, Bln. 21976. – Bruno Schonig (Hg.): Arbeiterkindheit. Kindheit u. Schulzeit in Arbeiterlebenserinnerungen. Bensheim 1979. – Alf Ludtke: Eigen-Sinn: Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen u. Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus. Hbg. 1993. Heinrich Detering / Red.

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Bronnen, Arnolt, eigentl.: A. Bronner, * 19.8.1895 Wien, † 12.10.1959 Berlin/ DDR; Ehrengrabstätte: Berlin, Dorotheenstädtischer Friedhof, Chausseestraße. – Dramatiker, Romancier u. Erzähler. Als Sohn des Schriftstellers Ferdinand Bronner in Wien geboren, studierte B. Jura u. Philosophie, nahm als Offizier am Ersten Weltkrieg teil u. lebte dann in Berlin. Mit dem expressionistisch wirkenden Drama Vatermord (Bln. 1920. Urauff. Schauspielhaus Frankfurt/M. 1922) gelangte er zu erstem Ruhm, der in heftig umstrittenen Theaterexperimenten mit Brecht ausgebaut wurde. Um die Mitte der 1920er Jahre galt B. als die größte Hoffnung der dt. Dramatik. Seine Stücke wurden von den wichtigsten Bühnen gespielt. Zu Beginn der 1930er Jahre stellte er sich auf die Seite der Nationalsozialisten u. war als Dramaturg der Reichsfunkgesellschaft tätig. Doch überwarf er sich bald mit Goebbels, bekam Berufsverbot u. schloss sich 1943 der österr. Widerstandsbewegung an. Nach kurzem Intermezzo in seiner Heimat als Dramaturg an der Wiener Scala übersiedelte B. 1955 nach Ostberlin. Erst seit den 1970er Jahren berücksichtigt die Kritik wieder die außergewöhnliche dramat. Begabung dieses Autors u. nicht mehr nur seinen zweifachen ideolog. Frontenwechsel. B. war einer der ersten dt. Dramatiker, die Techniken des Films u. des Hörfunks in ihren Stücken gekonnt verarbeiteten u. kontinuierlich Dialekt u. derbe Volkssprache als Gestaltungsmittel einsetzten. Schon in B.s ersten Stücken waren Haltung u. Themen festgelegt; die anarchist. Rebellion bis hin zu nationalistischen, antisemit. Tiraden (Die Exzesse. Bln. 1921. Urauff. Wuppertaler Staatstheater 1973. Rheinische Rebellen. Bln. 1924. Urauff. Staatliches Schauspielhaus Berlin 1925), das immer wiederkehrende Thema Sexualität, die Verherrlichung von Macht aus einer dynam. Lebensphilosophie heraus (unter dem Einfluss Nietzsches u. Chamberlains), das ekstat. Lebensgefühl des Expressionismus. B.s Anfälligkeit zu extremer polit. Radikalität ist hier immanent.

Bronnen

Die gemeinsame Arbeit mit Brecht 1922–1926 (im Wesentlichen Inszenierungen) war, obwohl Literaturverständnis u. Weltbild divergierten, eine Zeit gegenseitiger Inspiration. Brecht schrieb seine ersten Stücke bewusst gegen das expressionist. Menschheitsbild u. setzte gezielt Distanz als dramaturgisches Mittel ein. Vatermord z.B. war in erster Linie persönl. Abrechnung mit dem verhassten Vater, auch wenn B. damit das Lebensgefühl einer ganzen Generation zum Ausdruck brachte. Mit Brecht verbanden ihn das anarchisch-oppositionelle Lebensgefühl u. das Interesse an neuen dramat. Formen. Seine Unzufriedenheit mit der polit. Entwicklung Deutschlands unter den Voraussetzungen des Friedens von Versailles bewog B. dazu, einen Roman über die umstrittene Abtrennung Oberschlesiens zu schreiben (O. S. Bln. 1929). Damit gelang B. ein Werk, das als modern u. zgl. nationalistisch wahrgenommen wurde u. große Aufmerksamkeit erregte; sein Erscheinen im eher linken RowohltVerlag wurde als Indiz für die zunehmende Akzeptanz nationalistischer Positionen auch in der intellektuellen Sphäre gewertet. Nach dem Krieg folgte B. – nun Mitgl. der Kommunistischen Partei Österreichs – dem Ruf Johannes R. Bechers in die DDR. Er arbeitete als Theaterkritiker für die »Berliner Zeitung« in der Hoffnung auf eine literar. Rehabilitation. Doch seine Autobiografie A. B. gibt zu Protokoll (Hbg. 1954) erhielt in der Zeit des Kalten Kriegs nur vernichtende Kritiken, u. seine Stücke verschwanden für fast 20 Jahre von den dt. Bühnen. Mit der Wuppertaler Uraufführung des Lustspiels Die Exzesse u. der fünfbändigen Werkausgabe (Klagenf. 1990) begann eine neue Rezeption, die nicht mehr durch ideolog. Verwerfungen gekennzeichnet ist, sondern durch den Versuch, B.s Leben u. Werk in seiner geschichtl. Bedingtheit u. Symptomatik zu verstehen. Weitere Werke: Die Geburt der Jugend. Bln. 1924 (D.). – Die Septembernovelle. Bln. 1923. – Reparationen. Bln. 1928 (Lustsp.). – Film u. Leben. Barbara La Marr. Bln. 1928 (R.). – Michael Kohlhaas. Bln. 1929 (D., Hörsp.). – Kampf mit dem Äther oder die Unsichtbaren (Pseud.: A. H. SchelleNoetzel). Bln. 1935 (R.). – Gloriana. Bln. 1941 (D). –

Bronnen Dtschld. Kein Wintermärchen. Eine Entdeckungsfahrt durch die DDR. Bln./DDR 1956 (Ess.). – Tage mit Bertolt Brecht. Gesch. einer unvollendeten Freundschaft. Mchn./Wien 1960. Neudr. Darmst. 1976. – Begegnungen mit Schauspielern. Zwanzig Portraits aus dem Nachl. Bln. 1977. Ausgabe: Stücke (Vatermord; Die Exzesse; Ostpolzug; Gloriana; Die Kette Kolin). Nachw. v. Hans Mayer. Kronberg/Ts. 1977. Literatur: Jürgen Rühle: Beispiele einer polit. Neurose. In: Ders.: Lit. u. Revolution. Die Schriftsteller u. der Kommunismus. Bln./Köln 1960, S. 308–313. – Jürgen Schröder: A. B. (zu seinen Dramen). In: Expressionismus in der Lit. Bern 1969, S. 585–594. – Edwin Klingner: A. B. Werk u. Wirkung. Eine Personalbibliogr. Hildesh. 1974. – Hans Mayer: In Sachen A. B. In: A. B. gibt zu Protokoll. Kronberg/Ts. 1978, S. 467–478. – Friedbert Aspetsberger: A. B. Wien 1995 (Biogr.). – Kurt Klinger: Die graue Brille. Erinnerungen an A. B. In: Die Rampe (2002), H. 2, S. 7–31. – Helmut Kreutzer: Krieg im Radio. Streiflichter auf dt. Hör- u. Sendespiele um 1930. In: Ders.: Deutschsprachige Hörspiele 1924–33. Ffm. 2003, S. 57–75. Jutta Freund / Red.

Bronnen, Barbara, * 19.8.1938 Berlin. – Verfasserin von Romanen, Hörfeatures, Hörspielen, Sachbüchern u. Jugendbüchern, Herausgeberin von Anthologien u. Dokumentarbüchern. Die Tochter des Schriftstellers Arnolt Bronnen wuchs in Bad Goisern u. Linz auf, studierte Germanistik in München u. wurde 1965 mit einer Arbeit über Fritz von Herzmanovsky-Orlando promoviert. Seit 1965 arbeitete sie als Redakteurin für Kindlers Literatur-Lexikon, seit 1968 als Lektorin u. Journalistin. Sie publizierte zunächst Anthologien über Themen wie Jugend, Pubertät, Ehe, Sexualität u. die deutsche Teilung. Seit 1975 lebt B. als freie Schriftstellerin, Filmautorin u. Journalistin in München. 1977 erschien ihr erster Film, Frauen und ihre Ärzte, 1978 folgte der Film Dichter und ihre Richter – »Die Gruppe 47«. Im selben Jahr begann B. mit den Recherchen zum Dokumentarfilm Auf der suche nach A. B. (1979), der ersten Auseinandersetzung mit dem »Schatten« des Vaters. In Die Tochter (Mchn. 1980. Überarb. Ausg. Mchn. 1995), B.s erstem Roman, wurde die Auseinandersetzung weiter-

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geführt. Die Ich-Erzählerin, eine 40-jährige Journalistin, begibt sich auf Spurensuche u. leitet eine »Wiederaufnahme des Verfahrens« ein, indem sie an die ehemaligen Wohnorte des Vaters reist, mit dessen Freunden spricht u. den Nachlass liest. Am Ende erkennt sie den Menschen hinter den polit. Verirrungen u. erlangt ein reiferes Urteil über ihren Vater. Mit dem Hörfeature Die beiden Fasolte. Die unvollendete Freundschaft zwischen Arnolt Bronnen und Bertolt Brecht (1998) u. dem Roman Das Monokel (Mchn. 2000) findet das Thema der Vatersuche seinen Abschluss. Zgl. wird Arnolt Bronnens eigener Vaterkomplex aufgearbeitet, seine lebenslange Verleugnung des jüd. Vaters Ferdinand Bronnen. B.s Romane Die Diebin (Mchn. 1982. 1996), Liebe um Liebe (Mchn. 1989. Überarb. Ausg. Mchn. 1995) u. Leas siebter Brief (Mchn. 1998) behandeln die Themen Ehe u. Sexualität aus Sicht der Frau. Der teils dokumentarische, teils fiktionale Stil ist typisch für ihr Gesamtwerk. In den Romanen Die Überzählige (Mchn. 1984), Du brauchst viele Jahre, um jung zu werden (Mchn. 2004) u. in dem Briefroman Am Ende ein Anfang (Zürich 2006) behandelt B. das Thema des Älterwerdens u. der Liebe im Alter. Weitere Werke: Pubertät. 22 Autoren zu einem Thema. Mchn. 1968. – Die Ehe. Der moderne Mensch in Lit. u. Wiss. Mchn. 1968. – Dtschld. deine Führer. Mchn. 1969. – Ich bin Bürger der DDR u. lebe in der Bundesrepublik. Mchn. 1970. – Marmorengel. Bln. 1986. – Alt am Morgen u. am Abend jung. Gesch.n vom Alter. Mchn. 1992. – Die Todesarten der Inge Müller. Ein Leben zwischen Gedichten, dt. Gesch. u. Heiner Müller. Bln. 1998. – Gesch.n vom Überleben. Frauentagebücher aus der NS-Zeit. Mchn. 1998. – Gebrauchsanweisung für die Toskana. Mchn. 2004. Literatur: Carna Zacharias u. B. B.: ›Ich glaube an die ungreifbare Wirkung der Bücher‹. In: Börsenblatt für den dt. Buchhandel 45 (1989), H. 21, S. 902–904. – Thomas Kraft: B. B. In: LGL. Sandra Kluwe

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Bronner, Franz Xaver, * 23.12.1758 Höchstädt/Donau, † 11.8.1850 Aarau/ Schweiz. – Idyllendichter, Redakteur, Historiker.

Bruck-Angermundt

des Ministeriums der Künste und Wissenschaften ernannt. Gleichzeitig betreute er als Herausgeber das »Helvetische Tagblatt« u. danach den »Freyheitsfreund«. 1804 erhielt er eine Professur für Mathematik u. Naturwissenschaften an der Kantonsschule Aarau, wo er die »Schweizerische Minerva« redigierte. 1810 folgte er einer schon länger vorbereiteten Berufung zum o. Prof. für Physik an die Universität Kasan. Von Russland kehrte er 1817 an die Kantonsschule Aarau zurück. 1820 wurde er deren Rektor, wechselte zum protestant. Glauben über, erwarb das Schweizer Bürgerrecht u. heiratete eine Lehrerstochter. 1827 ernannte ihn die Aargauer Regierung zum Kantonsbibliothekar, 1829 zum Staatsarchivar. 1844 veröffentlichte er eine zweibändige kenntnisreiche u. vielseitige Beschreibung seiner Wahlheimat: Der Kanton Aargau, historisch, geographisch, statistisch geschildert (St. Gallen/Bern). Fast blind geworden, starb er 92-jährig in Aarau. B.s umfangreicher handschriftl. Nachlass liegt im Staatsarchiv des Kt. Aargau, Aarau.

Der reich talentierte Sohn eines armen bayr. Ziegelbrenners wurde in der barocken Welt eines Jesuiteninternats erzogen, trat – eher wider Willen, aber von Familie u. Pfarrer gedrängt – als Mönch ins Benediktinerkloster Heiligenkreuz in Donauwörth ein u. empfing 1783 die Priesterweihe. Unter dem Einfluss der Illuminaten seiner unüberwindl. Weltlichkeit innewerdend, entsagte B. 1785 der geistl. Laufbahn u. floh auf abenteuerl. Weise nach Zürich, wo sich Johann Heinrich Füssli u. Salomon Gessner seiner in freundschaftl. Fürsorge annahmen. B.s Fischergedichte und Erzählungen, 1787 bei Orell, Gessner, Füssli u. Comp. in Zürich erschienen, stehen gänzlich unter dem Einfluss Gessners, der in seinem Vorwort die Talente des Verfassers, dessen »schüchterne Bescheidenheit« u. »das feinste Gefühl für alles Edle und Gute« lobte. Im Gegensatz zu seinem Mentor rücken bei seiLiteratur: Johannes Widmer: F. X. B. Ein Beitr. nen Schriften allerdings sozialkrit. Elemente zur dt. Lit. in der Schweiz. Frauenfeld 1901. – Hans stärker in den Vordergrund. 1789 war B. be- Radspieler: F. X. B. Leben u. Werk. 2 Bde., Aarau reits in der von Pater Anton Drexl herausge- 1963–67. – Carl Amery: F. X. B. oder: Das unabgebenen Raccolta di scelte prose alemanne ver- waschbare Zeichen. In: Ders.: Leb wohl geliebtes treten, zus. mit Haller, Goethe, Gessner, Volk der Bayern. Mchn. 1980, S. 56–60. – Anton Wieland u. a. Nach Gessners Tod gedachte B. Gälli: Fluchtreise des F. X. B. v. Augsburg über den seines »unvergeßlichen Freundes und Wohl- Bodensee durch Berg u. Tal in das Land der Freyheit anno 1793. Mchn. 2006. täters« im Vorwort seiner Schriften (Zürich Peter Walser-Wilhelm / Anton Gälli 1794) sowie in seiner Elegie Klagen bey S. Gessners Tode (»Der Teutsche Merkur«, Okt. Bruck-Angermundt, Jakob von, * um 1788). Nach einer mehr familiär als religiös be- 1580 Tarnau, † nach 1645. – Emblematidingten Rückkehr in den Priesterstand in ker, Verfasser von Werken zur politischen Augsburg, einer neuen Flucht 1793 u. einem Theorie. misslungenen Versuch, im revolutionären B. entstammte einer Breslauer PatrizierfamiFrankreich als Maschinenbauer oder Geistli- lie. Als Hofmeister junger schles. Adliger cher Fuß zu fassen, kehrte B. 1794 nach Zü- führte ihn eine akadem. Reise 1615–1618 u. a. rich zurück u. trat in die Redaktion der nach Straßburg. 1620 arbeitete er als ge»Zürcher Zeitung« ein. Schon 1796 erschien schworener Advokat beim Breslauer Rat, in Zürich der erste Band (von später drei) später als Inspektor u. Kassierer der Kamseines aufsehenerregenden Leben, von ihm mergüter in Cosel. selbst beschrieben, das als bedeutsames Zeitbild Mit seinen als Autograf u. im Druck überzu gelten hat. lieferten Decades duae Anagrammatvm et EmbleNach dem polit. Umsturz in der Schweiz matum (Straßb. 1615), die er seinem Gönner wurde B. 1799 vom helvet. Unterrichtsmi- Andreas von Kochtitzky widmete, kombinister Philipp Albert Stapfer zum Kanzleichef nierte B. erstmalig Anagramm u. Emblem u.

Bruckbräu

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schuf das älteste panegyr. Emblembuch. Seine Emblemata moralia et bellica (Straßb. 1615) versammeln allg. Lebensregeln sowie polit. u. militär. Handlungsanweisungen. Die lat. Epigramme wurden auch ins Französische u. Deutsche übertragen. Die Kaiser Matthias gewidmeten Emblemata politica (Straßb./Köln 1618. Neudr. hg. v. Carsten-Peter Warncke. Hildesh. 2004) gehören zu den am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges unternommenen Bemühungen späthumanistischer Gelehrter, zwischen den Parteien im Reich einen polit. Ausgleich herbeizuführen. Da das Werk bereits 1612 im Manuskript vorlag, kann es als das früheste polit. Emblembuch gelten. Weitere Werke: Epigrammata. Görlitz 1607. – Oratio de studio juris. o. O. [Heidelb.?] 1608. – Ars et Mars. Brieg 1612. Straßb. 21616. – Princeps Plinianus. Straßb. 1616. – Acclamationes votivae. Breslau 1622. Literatur: Arthur Henkel u. Albrecht Schöne (Hg.): Emblemata. Stgt. 21978. – Franz Heiduk: Oberschles. Lit.-Lexikon. Bln. 1990–2000. Bd. 1, S. 47; Bd. 3, S. 256 f. – Michael Schilling: J. v. B. u. seine Emblembücher. In: Die oberschles. Literaturlandschaft im 17. Jh. Hg. Gerhard Kosellek. Bielef. 2001, S. 135–156. – Ders.: Handschrift u. Druck, Anagramm u. Emblem. In: Polyvalenz u. Multifunktionalität der Emblematik. Hg. Wolfgang Harms u. Dietmar Peil. Bd. 2, Ffm. u. a. 2002, S. 753–772 (mit Angabe der älteren Lit.).

übersetzte er u. a. George Sand u. Alexandre Dumas. B.s selbständige literar. Produktion war äußerst vielseitig, reichte aber über reine Brotarbeit nicht hinaus. Neben einem Gebetbuch (Der Geist des heiligen Paulus. Sulzbach 1825), Dramen, Gelegenheitsgedichten u. humorist. Erzählungen publizierte er v. a. schlüpfrig-erot. Romane (u. a. Rosa’s Gardinenseufzer, nachgehaucht. 2 Bde., Mchn. 1832) im Stil des frz. Rokoko, die von den Zeitgenossen durchwegs abfällig aufgenommen wurden. Auch als Herausgeber u. Publizist trat B. hervor: 1824–1828 war er Redakteur der »Eos. Blätter für Literatur und Kunst« u. gründete 1829 den »Bayerischen Beobachter« sowie das »Münchner Konversationsblatt«. Weitere Werke: Mittheilungen aus den geheimen Memoiren einer dt. Sängerin. 2 Bde., Stgt. 1829 (R.). – Der Papst im Unterrocke (zum PäpstinJohanna-Motiv). 2 Bde., Mchn. 1832. – Eichenkrone. Mchn. 1833/34. 2. Aufl. u. d. T. Erzählungen, Novellen u. Sardellen. Mchn. 1838. – Burg Schwaneck u. Meister Schwanthaler (zus. mit Ludwig v. Schwanthaler). Augsb. 1853 (N.). Literatur: Carl-Ludwig Reichert: ›Für Völkerglück glühet mein Herz ...‹: F. W. B. u. sein Münchener Conversations-Blatt 1832. Mchn. 1989. Bernhard Graßl / Red.

Michael Schilling

Brucker, Johann Jakob, Jacob, * 22.1.1696 Augsburg, † 26.11.1770 Augsburg. – Bruckbräu, Friedrich Wilhelm, auch: BaHistoriker der Philosophie. ron Belial, * 14.4.1792 München, † 23.12. 1874 München; Grabstätte: ebd., Alter B. ist der wichtigste Historiker der PhilosoSüdlicher Friedhof. – Übersetzer, Her- phie im 18. Jh. Er stammte aus kleinen Verausgeber, Publizist u. Erzähler. hältnissen in Augsburg u. studierte von 1715 Nach einem Philosophiestudium in Landshut schlug B. 1810 – wie schon sein Vater – eine Zollamtslaufbahn ein, auf der er es 1833 bis zum Hauptzollamtsverwalter in Burghausen brachte. 1843 kehrte er als Pensionist nach München zurück. Bedeutung erlangte B. v. a. als Übersetzer der Canzonen u. Sonette Petrarcas (Sämmtliche italienischen Gedichte. 4 Bde., Mchn. 1827) sowie von Miltons Verlorenem Paradies (6 Bde., Mchn. 1828). Als Herausgeber der Sammlung Das belletristische Europa (Mchn. 1844 ff.)

bis 1720 an der Universität Jena Theologie. Dort wurde er von Johann Franz Budde in die Philosophie- u. Theologiegeschichte eingeführt. 1720–1724 widmete er sich in Augsburg histor. Studien, ehe er 1724 Pfarrer in Kaufbeuren wurde. Nach 20 Jahren Pfarramt in Kaufbeuren kehrte B. nach Augsburg zurück, war zunächst Pfarrer an der evang. Kirche zum Heiligen Kreuz, von 1757 bis zu seinem Tode im Jahre 1770 Pfarrer an St. Ulrich. B. war seit 1731 Mitgl. der Berliner Akademie der Wissenschaften, seit 1736 von Gottscheds »Deutscher Gesellschaft« in Leipzig, seit 1743 der lat. Gesellschaft in Jena.

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1742 lehnte er einen Ruf Friedrichs II. an die Universität Halle ab. B. schrieb, Augsburger Patriot, der er war, u. a. Artikel über die Geschichte des Buchdrucks in Augsburg, die Geschichten verschiedener Augsburger Kirchen u. edierte die Autobiografie des Augsburger Philologen Hieronymus Wolf. In den letzten Jahren seines Lebens gab er die Bände 12–19 eines großen annotierten Bibelwerkes heraus: Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nebst einer vollständigen Erklärung derselben (19 Bde., Lpz. 1757–70). Er starb, auch hierin typisch für einen Polyhistor, infolge eines Sturzes von der Leiter seiner Bibliothek. B.s erstes großes philosophiehistor. Werk, Historia Doctrinae de Ideis (Augsb. 1723), steht noch ganz in der unmittelbaren Tradition des Jenenser Eklektizismus. Hier legte er die Grundlagen zu seinen späteren philosophiehistor. Arbeiten u. sprengte den seit der Renaissance kanon. Zusammenhang von Plato u. antikem Neuplatonismus endgültig u. nachhaltig. Die Kurtzen Fragen aus der philosophischen Historie, die in Ulm zwischen 1731 u. 1737 in sieben Bänden erschienen, bilden die Vorlage der späteren lat. Philosophiegeschichte. Von diesem Werk erschien alsbald ein Auszug aus den kurtzen Fragen zur philosophischen Historie (zuerst Ulm 1736). Auf Drängen der gelehrten Welt, wie er selbst schreibt, übersetzte u. bearbeitete er seine ausführl. Kurtzen Fragen in lat. Sprache. Die Historia Critica Philosophiae wurde die umfassendste Philosophiegeschichte des 18. Jh. Das Werk erschien in Leipzig zuerst 1742–1744 in fünf Quartbänden u. wurde 1767 neu aufgelegt. (Nachdr. Hildesh. 1975). Die Historia fasste die philosophiegeschichtl. Kenntnisse ihrer Zeit zusammen u. zeigt eindrucksvoll die Gelehrsamkeit der eklekt. Schule. Ihr Konzept war durchaus doppeldeutig: Sie betrachtete die verschiedenen philosoph. Systeme u. Entwürfe als histor. »Meinungen«, deren Wahrheitswert mit ihrer Geschichtlichkeit vergehe. Die eigentl. Wahrheit finde sich in der Hl. Schrift; die vergängl. Meinungen der Philosophen seien Gegenstand der Geschichtsschreibung. Deshalb verstand sich B. hier als Historiker, nicht als Philosoph u. schon gar nicht als Theologe;

Brucker

Aufgabe der Philosophiegeschichte war für ihn die treue Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte der Philosophie. B.s Historia wirkte kanonbildend; z.B. wurde Giordano Bruno erst durch B. in seine heutige philosophiehistor. Position gerückt. Auch die Lücken sind bezeichnend für die protestant. Gelehrsamkeit des 18. Jh.: Das MA u. die Scholastik sind stiefmütterlich behandelt, dasselbe gilt verstärkt für die kath. Schulphilosophie des 17. u. 18. Jh. Auch die Historia erschien bald in Kurzform: Als Institutiones historiae philosophiae (1747. 1756. 1790) wurde sie das maßgebliche philosophiegeschichtl. Lehrbuch im 18. Jh. Die Wirkung der Historia ist beträchtlich. Die philosoph. Artikel in Zedlers Universallexikon sind B. verpflichtet. Diderot hat B. für seine philosophiegeschichtl. Artikel in der Encyclopédie benutzt. Ohne B. sind die spekulativen Philosophiegeschichten des Idealismus von Tennemann bis Hegel nicht denkbar, das gilt gerade dann, wenn sie sich von ihm kritisch absetzen. Der Pantheismusstreit um Spinoza u. Bruno zwischen Jacobi u. Schelling ist mit Zitaten aus B. geführt worden. B. hat mit seinem philosophiegeschichtl. Konzept die Rolle der Philosophiegeschichte bis heute kategorial u. institutionell geprägt. Literatur: Bibliografie: Helmut Zäh. Verz. der Schr.en J. B.s. In: Schmidt-Biggemann/Stammen 1998 (s. u.), S. 259–355. – Weitere Titel: Lucien Braun: Histoire de l’Histoire de la Philosophie. Zuerst Paris 1973. Dt.: Gesch. der Philosophiegesch. Übers. v. Franz Wimmer. Mit einer neuen Einl. des Autors. Bearb. u. mit einem Nachw. vers. v. Ulrich Johannes Schneider. Darmst. 1990. – Mario Longo: Storia Critica Della Filosofia e primo Illuminismo. Jakob B. In: Storia delle storie generali della Filosofia. Hg. Giovanni Santinello. Bd. 2, Brescia 1979, S. 527–635. – Ders.: Historia philosophiae philosophica. Teorie e metodi della storia della filosofia tra seicento e settecento. Mailand 1986. – Wilhelm Schmidt-Biggemann u. Theo Stammen (Hg.): J. B. (1696–1770), Philosoph u. Historiker der europ. Aufklärung. Bln. 1998. Wilhelm Schmidt-Biggemann

Bruckner

Bruckner, Ferdinand, eigentl.: Theodor Tagger, * 26.8.1891 Sofia/Bulgarien, † 5.12.1958 Berlin/West; Grabstätte: Berlin, Friedhof Heerstraße. – Dramatiker, Theaterleiter. Der Fabrikantensohn B. studierte 1909–1912 in Paris u. Wien ohne Abschluss Musik, Philologie, Medizin u. Jura. Seit 1911 publizierte er unter seinem Geburtsnamen Theodor Tagger in expressionist. Zeitschriften u. Verlagen, arbeitete als Lektor in Berlin u. gab 1917/18 die Zeitschrift »Marsyas« heraus. Seit 1920 Dramaturg, gründete er 1923 das Berliner Renaissance-Theater. 1927 übernahm er die Leitung des Theaters am Kurfürstendamm. Unter dem Pseudonym Ferdinand Bruckner, das er erst 1930 auflöste, feierte er seit 1928 große Bühnenerfolge. 1933 kehrte B. nach Österreich zurück, ging noch im selben Jahr nach Frankreich ins Exil, 1936 in die USA. 1938 übernahm er gemeinsam mit Oskar Maria Graf den Vorsitz der German American Writers Association, 1941 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des European PEN in America, Ende 1944 rief er mit Wieland Herzfelde u. a. den Aurora-Verlag ins Leben. 1951 kehrte er nach Berlin zurück u. war seit 1953 Dramaturg am Schiller-Theater u. am Schlosspark-Theater. Sein Nachlass befindet sich im Literaturarchiv der Akademie der Künste in Berlin. B. gehört als Autor zeitdiagnostischer Dramen u. durch die Anwendung neuer szen. Techniken zu den bedeutendsten Bühnenschriftstellern der Weimarer Republik u. des Exils. In Krankheit der Jugend (Urauff. Hamburg 1926. Ersch. Bln. 1928. Zuletzt Wien [1977]) gibt er ein Psychogramm der jungen Generation, die nach dem Zusammenbruch bürgerlicher Wertvorstellungen im Ersten Weltkrieg in eine existentielle Krise u. Verunsicherung geraten war; die Flucht aus der Realität führt zu sexualpathologischem Verhalten oder Selbstdestruktion. Dem zwischen grell-naturalist. Effekten u. Melodramatik schwankenden, im Ganzen aber formkonventionellen Stück folgte mit Die Verbrecher (Urauff. Dt. Theater Berlin 1928. Ersch. Bln. 1929) das erste der Dramen, in denen B. von einer Simultanbühne Gebrauch machte u.

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zudem auch filmdramaturg. Mittel für das Theater adaptierte: In mehreren parallellen, auf die Bewohner eines Berliner Mietshauses zentrierten Handlungssträngen wird die Willkür der Justiz nach dem Ersten Weltkrieg angeprangert. Bereits im Exil entstand Die Rassen (Urauff. Schauspielhaus Zürich 1933. Ersch. ebd. 1934), eine wieder im student. Milieu angesiedelte Anklage gegen den rassenideolog. Terror. Seit Beginn der 1930er Jahre verfasste B. neben Zeitstücken auch histor. Dramen: In dem Welterfolg Elisabeth von England (Urauff. Dt. Theater Berlin 1930. Ersch. ebd. 1930. Stgt. 1983) zeichnete er eine psychoanalytisch fundierte Charakteristik der Titelfigur u. arbeitete den Antagonismus zwischen ihr u. Philipp von Spanien durch die Simultantechnik heraus. Die im Exil entstandenen, formal weniger ambitionierten, von politischer Wirkungsabsicht bestimmten Geschichtsdramen Napoleon I. (Urauff. Prag 1937. Ersch. Basel 1937) u. Simon Bolivar (New York 1945) setzen sich überwiegend mit durch den Nationalsozialismus aufgeworfenen Fragen von politischer Macht u. gesellschaftl. Freiheit auseinander. Der Versuch B.s, nach Ende des Zweiten Weltkriegs das Konzept einer psychologischgesellschaftsanalyt. Zeitdramatik weiterzuführen (Früchte des Nichts. Unveröffentlicht, entstanden 1949–51), fand keine Resonanz, ebenso wenig sein Rückzug auf klassizist. Formstrenge im Spätwerk. Weitere Werke: Der Herr in den Nebeln. Bln. 1917 (L.). – Die Vollendung eines Herzens. Bln. 1917. Bergisch Gladbach 1988 (N.). – Das neue Geschlecht. Programmschr. gegen die Metapher. Bln. 1917. – Der zerstörte Tasso. Lpz. 1918 (L.). – 1920 oder die Kom. vom Untergang der Welt. Ein Zyklus. Bln. 1920 (D.). – Mussia. Erzählung eines frühen Lebens. Amsterd. 1935. Ffm. 1981. – Dramen unserer Zeit (Die Befreiten. Denn seine Zeit ist kurz). Zürich 1945. – Des Sheriffs Hunde. Negersongs aus Amerika. Hg. u. Nachw. v. Walther Huder. Bln. 1970. – Übersetzungen: Psalmen Davids. Bln. 1918. – Blaise Pascal: Größe u. Nichtigkeit des Menschen. Mchn. 1918. Zürich 1990. Ausgaben: Wissenschaftliche Ausgabe: Werke, Tagebücher, Briefe. Bln. 2003 ff. – Auswahlausgabe: Dramat. Werke. 2 Bde., Wien 1947/48. – Schausp.e. Nach histor. Stoffen. Köln/Bln. 1956.

221 Literatur: Christiane Lehfeldt: Der Dramatiker F. B. Göpp. 1975. – Doris Engelhardt: F. B. als Kritiker seiner Zeit. Standortsuche eines Autors. Diss. Aachen 1984. – Karin Hörner: Möglichkeiten u. Grenzen der Simultandramatik unter bes. Berücksichtigung der Simultandramen F. B.s. Ffm. 1999. – Ingrid Reul: Aktualität u. Tradition. Studien zu F. B.s Werk bis 1930. Hbg. 1999. Ernst Fischer / Ralf Georg Czapla

Bruckner, Karl, * 9.1.1906 Wien, † 25.10. 1982 Wien; Ehrengrabstätte: ebd., Zentralfriedhof. – Autor von Kinder- u. Jugendbüchern. Ohne Schulabschluss, nach Gelegenheitsarbeiten, mehrjährigem Brasilienaufenthalt (1934–1936 oder 1938) u. wechselnden Tätigkeiten nahm B. als Meldefahrer am Zweiten Weltkrieg teil. In den ersten Nachkriegsjahren arbeitete B. zunächst als Nachtarbeiter in einer Druckerei, danach als Journalist für verschiedene Wiener Zeitungen, ab 1950 als freier Autor. Mit dem Jugendbuch Die Spatzenelf (Wien 1949. Neuausg. 2000) wurde B. zu einem der Begründer der modernen österr. Jugendliteratur. Lektüreerfahrungen (z.B. in freien Nacherzählungen Tom Sawyers lustige Streiche u. Huckleberry Finn), Autobiografisches u. aktuelle Themen (z.B. Literarisierung der Schmutz- u. Schund-Debatte in den ScarleyBänden) fanden Eingang in seine von Friedenswillen u. sozialem Engagement getragenen Jugendromane. International bekannt wurde sein pazifistisches Kinderbuch Sadako will leben (Wien 1961. 151994. Würzb. 2006), das in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde u. 2000 erstmals in Japan erschienen ist. Neben romanhaft aufbereiteten zeitgeschichtl. Konflikten – z.B. in Tuan im Feuer (Wien 1977) – entwickelte B. einen neuen Typus dokumentarisch-erzählender Jugendsachbücher, zu dem auch Der goldene Pharao (Wien 1957. Wien/Mchn. [1978]) zählt. Für seine ungefähr 30 Kinder- u. Jugendbücher wurde B. vielfach ausgezeichnet (u. a. mit dem Österreichischen Staatspreis 1956 u. 1961 u. dem Goldenen Ehrenzeichen für die Verdienste um die Republik Österreich 1982). Weitere Werke: Giovanna u. der Sumpf. Wien 1953 (R.). – Der Weltmeister. Wien 1956. – Lale, die

Bruder Rausch Türkin. Wien 1958. – Viva Mexiko. Wien 1959. – Mann ohne Waffen. Wien 1967. – Yossi u. Assad. Wien 1971. – Der Sieger. Wien 1973. Literatur: Richard Bamberger (Hg.): K. B. Leben u. Werk. Wien 1966. – K. B. In: Jugendschriftsteller dt. Sprache. Hg. R. Bamberger. Wien 1980. – Ernst Seibert: K. B. Wiederentdeckung eines Klassikers. In: Tausend u. ein Buch 3 (1993), S. 28 f. – Hermann Schreiber: Über K. B. In: Lit. u. Kritik H. 351/352, 3 (2001), S. 103–110. – Sabine Fuchs u. Peter Schneck (Hg.): Der vergessene Klassiker. Leben u. Werk K. B.s. Wien 2002. – Katrin Wexberg: Verschriftlichte Heimat? K. B. – ein österr. Kinder- u. Jugendbuchautor im Spannungsfeld zwischen Lit. u. Gesellsch. Wien 2007. Birgit Dankert / Sabine Fuchs

Bruder Hans ! Hans, Bruder Bruder Hermann ! Hermann, Bruder Bruder Philipp ! Philipp, Bruder Bruder Rausch, Erstdruck um 1488. – Spätmittelalterliche Teufelserzählung. Der Verfasser der urspr. niederdeutschen (Erstdruck: Joachim Westfal von Stendal), seit dem frühen 16. Jh. auch in zahlreichen hochdt. Drucken sowie einem niederländ. Druck verbreiteten Dichtung ist nicht bekannt. Sie geht auf ein Exemplum in dem wohl zisterziensischen Prosatraktat Die heilige Regel für ein vollkommenes Leben aus der zweiten Hälfte des 13. Jh. zurück, das vom unheilvollen Wirken des Teufels in einem Kloster erzählt: Er verdingt sich als Klosterkoch, zerstört den klösterl. Frieden, verführt die Mönche zur Missachtung ihrer Fastengebote u. ihrer Regeln, bis es dann doch noch gelingt, ihn zu entlarven u. zu vertreiben. Im B. R. ist der Aufbau des Exemplum bewahrt, wird jedoch durch verschiedene Zusätze erweitert, die ihn einer Schwankerzählung annähern: Die Mönche werden nicht nur generell zum Bösen, sondern gezielt zur Unzucht verführt. Bruder Rausch macht sich bei Abt u. Mönchen v. a. durch seine guten Dienste beliebt, ihnen »vrowelin fin« zur Befriedigung ihrer Lust zuzuführen. Die traditionelle Rolle des Teufels als »Zwietrachtstifter« (= diabolus) tritt hier bes. deutlich

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zutage; er schürt den wechselseitigen Neid log. Tätigkeit hinaus wurde er mit seiner der Mönche, hetzt sie aufeinander u. ver- Übersetzung von Francis Bacons theoretischafft ihnen auch noch die Knüppel zum schem Hauptwerk Novum organum scientiarium Kampf. Die burleske Szene ist im Ulenspiegel- (1620) u. d. T. Neues Organ (Lpz. 1830. Neudr. Buch (Historie 89) aufgenommen u. modifi- Darmst. 1963) bekannt. Daneben schrieb er Artikel über Themen allgemeinen Interesses ziert worden. Die Fortsetzung des Exemplum verwendet wie Das Alter u. Lachen und Weinen u. verfasste Motive der Zeno-Legende: Der Teufel wird eine Reihe biografischer Artikel, u. a. über entmachtet, u. Bruder Rausch wandelt sich Goethe u. Shakespeare. In diesen sowie in den zum starken Helfer des Abts, der einen riesi- Balneologischen Aphorismen (Osnabr. 1863) ergen Haufen Blei zum Decken des Kloster- weist sich B. als Typus des belesenen Schriftdachs im Fluge befördert, auch den Abt selbst stellers, der seine Inhalte stets in die Form von England ins »Sassen lant« trägt usw. Der einlenkender Besinnung zu bringen wusste. Erzähltypus vom Teufel als Koch u. als eifriWeiteres Werk: Wiederkehr. Lpz. 1876 (L.). ger, allerdings recht tölpelhafter, MuskelLiteratur: August Hirsch: A. T. B. In: Biogr. protz wirkt ebenso komisch wie bedrohlich. Lexikon der hervorragendsten Ärzte aller Zeiten u. Das lebhafte Interesse am B. R. im 16./17. Jh. Völker. Bd. 2, Bln./Wien 1929. ist wohl auf diese Verschränkung unterWolfgang Leierseder / Red. schiedlicher Erzählformen u. -zwecke zurückzuführen. Brück, Christa Anita, eigentl.: Christa Ausgaben: B. R. In: Felix Bobertag (Hg.): Narrenbuch. Bln./Stgt. 1884, S. 368–381. – B. R. Faks.Ausg. des ältesten niederdt. Druckes (A). Eingel. u. mit einer Bibliogr. vers. v. Robert Priebsch. Zwickau 1919. Literatur: Johannes Bolte: Der Teufel in der Kirche. In: Ztschr. für vergleichende Literaturgesch. N. F. 11 (1897), S. 249–260. – Heinrich Anz: Broder Rusche. In: Nd. Jb. 24 (1898), S. 76–112. – Dieter Harmening: B. R. In: VL. – Werner Röcke: Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des dt. Schwankromans im SpätMA. Mchn. 1987, S. 143–153. – Willy Diercks: Niederdt.-dän.schwed. Übersetzungslit. Ein linguist. Strukturvergleich anhand der Schwankgesch. vom ›B. R.‹. In: Niederdeutsch in Skandinavien IV. Hg. Hubertus Menke u. a. Bln. 1993, S. 68–90. – Johannes Melters: ›ein frölich gemüt zu machen in schweren zeiten ...‹ Der Schwankroman in MA u. Früher Neuzeit. Bln. 2004, S. 140–148, passim. Werner Röcke / Red.

Brück, Anton (Theobald), * 29.9.1798 Osnabrück, † 22.7.1885 Osnabrück. – Übersetzer u. Gelegenheitsschriftsteller. Nach dem Studium der Medizin u. Reisen nach Russland u. Dänemark wurde B. 1828 Dozent in Göttingen. 1829 erhielt er den einträgl. Posten eines Brunnenarztes in Driburg, den er bis ins hohe Alter innehatte. Über seine in Fachkreisen beachtete balneo-

Jaab, später: Christa Ladisch, * 9.6.1899 Liegnitz, † 22.2.1958 Königstein/Taunus. – Verfasserin von Angestelltenromanen. Über den Lebensweg von B. ist nicht viel bekannt. Die Tochter eines Postbeamten absolvierte eine kaufmännische Ausbildung u. arbeitete anschließend als Stenotypistin u. Sekretärin in Berlin. Anfang der 1930er Jahre trat sie erstmals als Schriftstellerin in Erscheinung. In ihrem Roman Schicksale hinter Schreibmaschinen, der 1930 in Berlin erschien u. als einer der meistgelesenen Romane des Jahres rasch eine Neuauflage erlebte, schilderte sie die Geschichte einer um berufl. Aufstieg u. Anerkennung kämpfenden weibl. Angestellten. Kurt Tucholsky, der das Buch 1930 in der »Weltbühne« rezensierte, verwies in seiner Besprechung auf die Untersuchungen, die Siegfried Kracauer ein Jahr zuvor zur Bewusstseinslage der Angestellten veröffentlicht hatte, u. schrieb: »Diese Angestelltengeschichte ist ein Schmarrn. Aber es ist gut, die Nase in so etwas hineinzustecken – man lernt viel. Ein Hilfsmittelchen, die Seele der Angestellten zu erkennen.« Nach 1933 gehörte B.s Roman zu den Büchern, die bei der »Säuberung der Volksbüchereien« offiziell entfernt wurden.

223 Weitere Werke: Ein Mädchen mit Prokura. Hbg. 1932. – Der Richter v. Memel. Bln. 1933. – Die Lawine. Bln. 1941. Peter König / Red.

Brückner, Christine, geb. Emde, * 10.12. 1921 Schmillinghausen/Waldeck, † 21.12. 1996 Kassel. – Verfasserin von Romanen, Erzählungen u. Theaterstücken insbes. zu Frauenthemen. Die Pfarrerstochter besuchte das Gymnasium in Arolsen u. Kassel (Abitur 1943). Während der Kriegsjahre wurde sie u. a. in einem Generalkommando in Kassel u. als Buchhalterin in einem Flugzeugwerk in Halle dienstverpflichtet. Nach dem Krieg legte sie in Stuttgart ihr Examen als Diplombibliothekarin ab. Sie studierte Germanistik, Kunstgeschichte u. Psychologie in Marburg u. schrieb für die »Frauenwelt« in Nürnberg. Seit 1960 lebte sie in Kassel, ab 1967 zus. mit ihrem zweiten Mann u. Schriftstellerkollegen Otto Heinrich Kühner, mit dem sie auch mehrere gemeinsame Werke verfasste. Das Paar gründete 1984 die Stiftung Brückner-Kühner, die seit 1985 den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor vergibt u. heute als Literaturzentrum u. a. den Nachlass der Autorin zugänglich macht. B. gehört zu den erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Bundesrepublik Deutschland. Etliche ihrer Bücher erzielten Millionenauflagen. Das ihr häufig mit negativem Beigeschmack zugewiesene Etikett der Unterhaltungsliteratur trifft nur bedingt zu. Vielmehr sind Sinnstiftung, Moral u. auch Trost in der durchaus auch unterhaltsamen Behandlung elementarer menschl. Themen insbes. aus der Frauenperspektive zentrale Anliegen. Sie gründen im protestant. Weltbild der Autorin. Gleich der erste Roman Ehe die Spuren vergehen (Gütersloh 1954) wurde ein großer Erfolg, der B. in den folgenden Jahren die Existenz einer freien Schriftstellerin ermöglichte. Das Manuskript gewann einen von Bertelsmann ausgelobten Wettbewerb, erzielte bereits im ersten Jahr eine Auflage von 376.000 u. wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Erzählt wird die Bewältigung der Lebenskrise eines Mannes, der ohne eigenes Verschulden in den Unfalltod einer jungen

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Frau verwickelt wird. Danach veröffentlichte B. eine Reihe weiterer Romane, die aus der Perspektive der Frau v. a. Probleme von Liebe, Ehe u. Partnerschaft thematisieren u. Möglichkeiten der weibl. Selbstverwirklichung durchspielen. 1975 erschien ihr ebenfalls sehr erfolgreicher Roman Jauche und Levkojen (Ffm./Bln. Zuletzt Bln. 292005), der mit seinen Fortsetzungen Nirgendwo ist Poenichen (Ffm./Bln. 1977. Bln. 252006) u. Die Quints (Ffm./Bln. 1985. Bln. 152006) zur sog. Poenichen-Trilogie gehört. Auf annähernd 1000 Seiten wird in einem deutlich an Fontane geschulten Stil die Lebensgeschichte der Maximiliane von Quindt erzählt, die 1918 als Enkelin eines landadligen Gutsbesitzers in Hinterpommern zur Welt kam. Der Erfolg bes. der ersten beiden Bände lässt sich u. a. damit erklären, dass hier im Rückgriff auf bekannte Erzählschemata Geschichte u. Leistung der Frauengeneration gestaltet werden, die sich unter den Bedingungen von Krieg, Vertreibung u. Wiederaufbau zu bewähren hatte. Selbstverständlich hat auch die Verfilmung in einer Vorabendserie des WDR erheblich zur Popularität beigetragen. Die Monologe Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen (Hbg. 1983. Bln. 22005) erzielen nicht nur ebenfalls hohe Auflagen u. erfahren Übersetzungen in zahlreiche Sprachen; sie begründen auch B.s Erfolg als Theaterautorin, da sie zu den meistgespielten zeitgenöss. Theaterstücken gehören. In ernstem bis heiterem Ton sprechen sich hier historische u. fiktive Frauengestalten der abendländ. Kulturgeschichte aus – von Klytämnestra über Christiane von Goethe bis Gudrun Ensslin. Neben ihrem Erzählwerk veröffentlichte B. auch autobiogr. Aufzeichnungen, Hörspiele u. Kinderbücher. Im Ullstein-Verlag ist eine 20-bändige Werkausgabe erschienen. Weitere Werke: Katharina u. der Zaungast. Gütersloh 1957 (R.). – Die Zeit danach. Ffm./Bln. 1961. Mchn. 2000 (R.). – Letztes Jahr auf Ischia. Ffm./Bln. 1964 Bln. 1997 (R.). – Das glückl. Buch der a. p. Ffm./Bln. 1970. Ffm. 1996 (R.). – Überlebensgesch.n. Ffm./Bln. 1973 (E.). – Das eine sein, das andere lieben. Ffm./Bln. 1981. Bln. 1998 (R.). – Mein schwarzes Sofa. Aufzeichnungen. Ffm./Bln. 1981. – Die letzte Strophe. Ffm./Bln. 1989. Bln.

Brückner 1999 (R). – Die Stunde des Rebhuhns. Aufzeichnungen. Ffm./Bln. 1991. – Lieber alter Freund. Briefe. Stgt. 1992. – Früher oder später. Ffm./Bln. 1994. Mchn. 2000 (R). Literatur: Gunter Tietz (Hg.): Über C. B. Ffm./ Bln. 1988. – C. B. Leben u. Werk. Ffm./Bln. 1994. – Karin Müller: ›Das Leben hält sich oft eng an die Literatur‹. Die Archetypen in den Poenichen-Romanen C. B.s. Glienicke/Bln. 2000. – Friedrich W. Block (Hg.): ›Der einzige funktionierende Autorenverband‹. C. B. u. Otto Heinrich Kühner. Kassel 2007. Peter König / Friedrich W. Block

Brückner, Ernst Theodor Johann, * 13.9. 1746 Neetzka/Mecklenburg-Strelitz, † 29.5.1805 Neubrandenburg. – Evangelischer Geistlicher; Lyriker u. Dramatiker. Der Sohn des Pfarrers Christoph Adam Brückner u. der Sophia Brückner, Tochter des Superintendenten Trendelenburg in Neubrandenburg, wuchs in Neetzka, später in Golm u. Kublank auf. Das Pfarrhaus prägte früh die Neigung des Kindes »fürs Geistliche«. Seit 1752 erhielt B. mit seinem Bruder in Kublank Privatunterricht, 1760–1763 besuchte er die Lateinschule in Neubrandenburg, danach bis 1765 das Joachimsthalsche Gymnasium in Berlin. Im Sept. 1765 schrieb er sich in Halle als Theologiestudent ein. 1770 war er zunächst Hofmeister u. Pfarrvertreter in Wesenberg; im Frühjahr 1771 wurde er zum Pfarrer in Groß-Vielen gewählt, wo er die Tochter seines Amtsvorgängers heiratete. 1789 wurde er Pastor in Neubrandenburg, 1801 Hauptpastor. 1772 veröffentlichte B. anonym ein bürgerl. Trauerspiel (Emilie Blondville) u. zwei Nachspiele (Kalliste, Der Enterbte). Die Tugendempfindsamkeit Richardsons u. das rührende Lustspiel von Gellert u. Weiße waren Vorbilder der Stücke. Vom Schreiben weiterer Dramen brachte Heinrich Christian Boie B. durch scharfe Kritik ab. B.s Gedichte, Epigramme u. Idyllen wurden seit 1773 v. a. im »Göttinger Musenalmanach« u. im »Vossischen Musenalmanach« veröffentlicht; in der 1803 viel zu spät erschienenen Sammlung Gedichte (Neubrandenburg) fehlen viele in den 1770er Jahren publizierte Gedichte; was aufgenommen wurde, war meist überarbeitet worden.

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Durch seine Predigtbücher, die B. als Anhänger der neolog. Aufklärungstheologen Johann Salomo Semler (dessen Schüler er in Halle gewesen war), August Heinrich Wilhelm Sack, Wilhelm Abraham Teller u. Johann Joachim Spalding ausweisen, wurde er nicht nur beim Mecklenburger Laienpublikum beliebt. Seine populären Predigten, die mehrere Auflagen erreichten, wurden mit Johann Martin Millers Predigten für das Landvolk verglichen. B. arbeitete auch an Campes Erziehungsschriften (1778) sowie an dessen Kleiner Kinderbibliothek (1779) mit u. setzte sich für die Pädagogik der Philanthropen ein. B.s bescheidenes literar. Ansehen beruhte v. a. auf seiner Zugehörigkeit zum Göttinger Hainbund, der ihn auf Voß’ Antrag im Nov. 1772 aufnahm. Sein Bundesname war »Mannobard« oder »Cilyn«. Voß war 1769 als Hauslehrer der Familie von Oertzen nach Ankershagen gekommen. Im nahe gelegenen Groß-Vielen lernte er 1771 B. kennen. Ihre Freundschaft hielt zeit ihres Lebens. Die Göttinger Briefe des Studenten Voß an B. sind bedeutende Zeugnisse der Geschichte des Hainbundes. War zunächst der ältere B. der Gebende u. Voß der Nehmende, so kehrte sich das Verhältnis später um. Als »korrespondierendes Mitglied« versuchte B. das poet. Programm des Bundes in Mecklenburg zu verbreiten. Klopstocks Messias (1748–73) auf der einen Seite, die Sozialkritik des Bundes auf der anderen bestimmten seine Gedichte. In seinen Patriarchalischen Idyllen u. den Kinderidyllen (In: Gedichte. Neubrandenburg 1803) übernahm er Motive u. Schäferkolorit von Gessner – religiöse Hymnik u. moral. Tendenz traten hinzu. B. lehnte die Esoterik der Klopstock-Ode ab. In »natürlicher Sprache« wollte er eine wirksame Poesie schreiben. Sein gutes Einvernehmen mit Nicolai erweist ihn trotz der Bundes-Mitgliedschaft als Aufklärer. Weitere Werke: Etwas für die teutsche Schaubühne. Brandenburg 1772. – Predigten für Ungelehrte. Neubrandenburg 1778/79. 21783. – Predigten über die gewöhnl. Evangelien der Sonn- u. Festtage des ganzen Jahres. Lpz. 1786. 31795. – Predigten über die Sonn- u. Festtags-Episteln. Schwerin u. Wismar 1792/93.

225 Literatur: Gustav Lampe: E. T. J. B. (1746–1805) u. der Göttinger Dichterbund. In: Mecklenburg-Strelitzer Geschichtsbl. 5 (1929), S. 39–105. – Ernst Metelmann: E. T. J. B. u. der Göttinger Dichterbund. Ungedr. Briefe u. Hss. In: Euph. 33 (1932), S. 341–420. Neudr.: Zur Gesch. des Göttinger Dichterbundes 1772–74. Stgt. 1965. – Peter Maubach: E. T. J. B. (1746–1805). In: Mecklenburg-Strelitz. Beiträge zur Gesch. einer Region. Bd. 2, Friedland 2002, S. 434–438. – Paul Kahl: Das Bundesbuch des Göttinger Hains. Ed. – Histor. Untersuchung – Komm. Tüb. 2006, S. 388–390. Gerhard Sauder

Brückner, Johann Jakob, * 20.9.1762 Leipzig, † 22.1.1811 Leipzig. – Jurist, Verfasser von Ritter- u. Schauerromanen.

Brües

lender. Zumindest ein Jahr war er Redakteur des Merseburger Wochenblattes »Orpheolyra« (1. Jg., 1808). Eingehende Untersuchungen zu B.s Leben u. Werk fehlen, von beiläufigen Bemerkungen in Werken zur Ritter-, Räuber- u. Schauerromantik abgesehen. Weitere Werke: Kabalen des Schicksals. 6 Bde., Lpz. 1798–1806 (E.). – Der Bastard [...]. 2 Bde., Fürth 1799 (R.). – Meine Reisen durch die Palläste der Freude u. Gemächer des Wohlseyns. 2 Bde., Lpz. 1799. 31830 (R.). – Gedichte. Lpz. 1805. – Graf Robert u. sein Freund St. Michel. 2 Bde., Lpz. 1800. Literatur: Johann Wilhelm Appell: Die Ritter-, Räuber- u. Schauerromantik. Lpz. 1859. – Gustav Sichelschmidt: Liebe, Mord u. Abenteuer. Bln. 1969. Wolfgang Griep / Red.

B.s Biografie ist noch kaum erforscht. Den engeren Umkreis seiner Heimat scheint er Brües, Otto, * 1.5.1897 Krefeld, † 18.4. kaum verlassen zu haben: Er studierte in 1967 Krefeld; Grabstätte: ebd., Alter Leipzig Jura u. praktizierte dort bis zu seinem Friedhof. – Erzähler u. Lyriker, DramatiTode als Anwalt u. Notar. Eine Reise, die er ker. mit dem Dresdner Landschaftsmaler Christian August Günther 1797 durch die Sächsische Nach der Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg Schweiz unternahm, beschrieb er in emp- studierte der Sohn eines Redakteurs Germafindsamer Manier in den heftweise heraus- nistik u. Kunstgeschichte in Bonn. Er wurde gegebenen Naturschönheiten sächsischer Gegen- 1922 Feuilletonredakteur beim »Stadt-Anden, für die Günther die Kupferstiche lieferte zeiger« in Köln, später bei der »Kölnischen (2 H.e, Lpz. 1798/99. Erw. Neuausg. in 4 H.en Zeitung«. Nach 1955 lebte B. als freier u. d. T. Pittoreske Reise durch Sachsen. Ebd. Schriftsteller in Krefeld. 1800–06). Wichtige Impulse gaben ihm Heimatkunst Um die Jahrhundertwende begann er, die u. Jugendbewegung. Liebe zur niederrheinidamalige Konjunktur des Genres nutzend, schen Landschaft u. Kultur, Lebensbejahung mit der Produktion von Ritter-, Räuber-, aus christlich-humanist. Glauben, besinnl. Schauer- u. erot. Abenteuerromanen, die oft Humor u. Heiterkeit kennzeichnen B.’ Dichschon im Titel verkaufsfördernd auf be- tung (Rheinische Sonette. Ffm. 1924. Gedichte. rühmte literar. Vorbilder, z.B. von Schiller, Bln. 1926. Die Brunnenstube. Gütersloh 1948). Christian August Vulpius, Carl Gottlob Cra- Aus B.’ Neigung zum Theater entstanden mer oder Christian Heinrich Spieß (Dianora, neben Dramen die Biografie Louise Dumont Gräfin von Martagno, Rinaldo Rinaldinis Geliebte. (Emsdetten 1956) u. Gut gebrüllt Löwe. Eine Lpz. 1799) verwiesen. Allein 1799 erschienen Fibel der Theaterkritik (Emsdetten 1967). sieben dieser Romane, u. bis zu seinem Tod Als Romancier zeigt B. eine Vorliebe für wurden es knapp zwanzig. Obwohl sie von Geschichtsdichtungen. In dem legendenhafder zeitgenöss. Kritik zu Recht als triviale ten Roman Die Wiederkehr (Bln. 1932) wird die Produkte voll verbrauchter Klischees, platter Geburtsgeschichte Christi in die Zeit des BaCharaktere u. unwahrscheinlichster Hand- rock u. in die rheinische Landschaft verlegt. lungselemente verurteilt wurden, waren sie B.’ erzählerisches Hauptwerk, der autobiogeschäftl. Erfolge u. wurden z.T. mehrfach grafisch geprägte Roman Der Silberkelch (2 neu aufgelegt. Bde., Kempen 1948), ist seiner Heimatstadt Daneben verfasste B. auch Gedichte u. re- Krefeld gewidmet. Ein Silberkelch, als Zeidigierte 1799–1802 den Leipziger Taschenka- chen eines Jugendbundes gestiftet, bildet das

Brügel

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Leitmotiv der epischen Handlung, die die Einzelschicksale dieses Bundes nachzeichnet u. die Zeit der Jahrhundertwende widerspiegelt. B. wurde 1942 mit dem Rheinischen Literaturpreis ausgezeichnet. Weitere Werke: Heilandsflur. Bln. 1923. (D.). – Die Füchse Gottes. Bln. 1923 (D.). – Stab u. Stein. Ffm. 1923 (D.). – Jupp Brand. Bln. 1927 (R.). – Fliegt der Blaufuß? Bln. 1935 (R.). – Marie im neuen Land. Hann. 1938 (R.). – Mutter Annens Sohn. Gütersloh 1948 (R.). – Simon im Glück. Gütersloh 1949 (R.). – Das vergessene Lied. Hann. 1957 (R.). Literatur: Johannes Cladders: O. B. Diss. Bonn 1955. – Eva Brües: O. B. In: Rhein. Heimatpflege N. F. 24 (1987), S. 117–121. – Franz Janssen: Bewahrendes u. progressives Wertebewusstsein. Der rhein. Feuilletonist u. Erzähler O. B. Diss. Düsseld. 1992. – Helge Drafz: Konvention oder Kollaboration? Zur Langlebigkeit bildungsbürgerl. Kulturideale am Beispiel der Schr.en v. O. B. In: Dichtung im Dritten Reich? Hg. Christiane Caemmerer u. Walter Delabar. Opladen 1996, S. 277–291.

Produktionen, zu denen auch Songs, v. a. aber Essays gehörten, auf polit. Ereignisse reagiert (Februar-Ballade. Prag 1935. Wien 1946). Weitere Werke: Nachdichtungen v. vier Dramen des Aischylos. Konstanz 1923–27. – Aus den Anfängen der dt. sozialist. Presse. Wien 1929. Nachdr. Glashütten 1972 (Ess.). – Klage um Adonis. Wien 1931 (L.). – Führung u. Verführung. Antwort auf Rudolf Borchardt. Wien 1931 (Ess.). – Der Weg der Internationale. Wien 1931 (Ess.). – Der dt. Sozialismus v. Ludwig Gall bis Karl Marx. Wien 1931. – Die Hauptsache ist... 1932 (Songs. Pseud. Wenzel Sladek). – Gedichte aus Europa. Zürich/New York 1937. 2[1950]. – Dt. Freiheit an der Wolga. 1937 (Ess.). – Herausgeber: Ruchlosigkeit der Schrift: Dies Buch gehört dem König. Wien 1926. – Neujahrsalmanach für Untertanen u. Knechte. Wien 1928. Walter Ruprechter / Red.

Brühl, Friedrich Aloys(ius) Reichsgraf von, * 31.7.1739 Dresden, † 31.1.1793 Berlin; Grabstätte: ebd., Hedwigskirche. – Staatsmann u. UnterhaltungsschriftstelElisabeth Willnat / Red. ler.

Brügel, Fritz, auch: Wenzel Sladek, Dr. Dubski, * 13.2.1897 Wien, † 4.7.1955 London. – Lyriker u. Essayist. Der Sohn jüdischer Eltern arbeitete nach einem abgeschlossenen Geschichtsstudium als Bibliothekar in Wien. Er engagierte sich, wie schon sein Vater, der Publizist Ludwig Brügel, für die Sozialdemokratische Partei im Bildungswesen. Die Gedichte, die er als 20Jähriger schrieb, erschienen in der spätexpressionist. Anthologie Die Botschaft. Neue Gedichte aus Österreich. (Hg. Emil A. Rheinhardt. Wien/Prag/Lpz. 1920) sowie 1923 in einer eigenen Publikation (Zueignung von... Lpz./ Zürich). Seit dem gescheiterten Februaraufstand 1934 war B. auf der Flucht u. im Exil. Vom Zufluchtsland Tschechoslowakei, wo er als Legationsrat im Außendienst tätig war, floh er 1938 zunächst nach Frankreich, von dort 1941 über Spanien u. Portugal nach England, wo er – mit Unterbrechungen – bis zu seinem Tod lebte. Während B.s frühe Gedichte expressionist. Gesten zelebrieren, hat er in seinen späteren

Als ältester Sohn des einflussreichen sächs. Premierministers Heinrich Reichsgraf von Brühl erhielt B. eine gründl. Ausbildung an den Universitäten von Leipzig u. Leiden. Infolgedessen avancierte er bereits 1758 zum poln. Krongeneralfeldzeugmeister; allerdings brachten der Tod des Vaters (1763) u. die Aufdeckung finanzieller Unregelmäßigkeiten seiner Amtsführung auch den Sohn um beträchtl. Besitzungen. Nur mit Mühe gelang B. die Aussöhnung mit dem neuen poln. König; dieser erhob ihn aber schließlich doch zum Gouverneur von Warschau (1764). Seine letzten Lebensjahre (1785–1793) verbrachte B. auf Gut Pförten in der Niederlausitz u. widmete sich dort kulturellen Interessen. Gesellschaftliche Position, materielle Sicherheit u. umfassende Kenntnisse erlaubten B. vielfache Betätigungen wissenschaftlicher u. künstler. Art: Mathematik, Ballistik, Malerei u. Musik (er beherrschte mehrere Musikinstrumente); auch als Anhänger u. Mäzen der Freimaurerei machte er von sich reden. B.s große Leidenschaft aber galt der Verfertigung von Komödien für sein Privattheater in Pförten. Seine zahllosen Lustspiele (Theatrali-

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sche Belustigungen. 5 Bde., Dresden 1785–90) sind an frz. Vorbildern orientiert u. enthalten höchst heterogene Versatzstücke der übl. Schauspiel- u. Komödienproduktion. Selbst seine eigene Lebensgeschichte konnte der prunk- u. repräsentationsbedürftige Autor darin persiflieren (Die Brandschatzung. In: Theatralische Belustigungen. Bd. 1). Einige Lustspiele B.s wurden sogar ins Holländische übersetzt (Amsterd. 1789. 1801); dennoch fanden sie aufgrund ihrer zu geringen Eigenständigkeit bei den Zeitgenossen u. der Nachwelt nur geringe Resonanz. Józef Ignacy Kraszewskis historischer Roman Starosta warszawski (Warschau 1929), der B.s Leben literarisiert, wurde neuerdings ins Deutsche übersetzt (Der Gouverneur von Warschau. Bln. 2003). Weitere Werke: Die Ankunft des Herrn (poln. Übers.: Przyjazd Pana). Warschau 1775 (D.). – Den ganzen Kram u. das Mädchen dazu. Wien 1787 (D.). – Der neue Herr oder die höfl. Bauern. Breslau u. Hirschberg 1788 (Singsp.). – Der Harfner. Erfurt 1795 (D.). Adrian Hummel / Red.

Brülow, Brülovius, Caspar, * 18.9.1585 Falkenhagen bei Pyritz/Pommern, † 14.7. 1627 Straßburg. – Dramatiker. B. zählte zu den fruchtbarsten Dramenschreibern des Straßburger Akademietheaters am Kreuzungspunkt humanistisch antikisierender Formtraditionen u. reformatorischbürgerl. Moraldidaxe. Seit Längerem war das Straßburger Theater nicht nur repräsentative Institution des Schulbetriebs, sondern trug auch wesentlich zur kulturellen u. politischkonfessionellen Integration der Stadtgesellschaft bei. Neben auswärtigen Stücken wurden zahlreiche Vorlagen oberrheinischer Autoren gespielt, unter denen – neben B. – bes. Georg Calaminus, Johann Paul Crusius u. Theodor Rhodius zu nennen sind. Die meisten dieser Stücke wurden sehr bald ins Deutsche übersetzt, u. a. von Isaac Fröreisen u. Wolfhart Spangenberg. B. lebte seit 1609 in Straßburg (Studium, Magistertitel 1611, Gymnasiallehrer seit 1612). Vorher hatte er sich u. a. in Frankfurt/O. (1599/1600), Bautzen (1605–1607) u. Speyer aufgehalten. 1615 wurde er zum Professor für Poesie, 1626 zum

Brülow

Professor für Geschichte ernannt; 1616 war er zum poeta laureatus gekrönt worden. B. hinterließ sieben Dramen, die alle in Straßburg, teilweise auch in anderen Städten aufgeführt wurden u. durch dt. Übersetzungen ein weiteres Publikum erreichten. Bereits in seiner Andromeda (aufgef. 1611. Gedr. Straßb. 1612. Dt. v. Isaac Fröreisen) verwendete er neuartige Schaueffekte, Waffenkämpfe, Wunderwerke u. Volksszenen. Mit dem Danielstoff in streng biblisch-didakt. Ausrichtung (Nebucadnezar. Aufgef. u. gedr. Straßb. 1615. Dt. v. Johann Christoph Stipitz) versuchte er, den moralist. Vorstellungen der Schulaufseher entgegenzukommen. Der Prophet Daniel erscheint als ein pflichtgetreuer Student, der sich am babylon. Hof einem Schulexamen unterziehen muss. Von größerem polit. Gewicht ist sein Julius Caesar (Straßb. 1616. Dt. v. Jacob Gerson). Der Held ist ein Idealbild des Fürsten, zgl. Ahnherr des dt. Kaisers. Caesar erscheint als tugendhaft, seine Ermordung als Ergebnis schicksalhafter Verhängnisse; Brutus wandelt sich – anders als bei Shakespeare – zum gewissenlosen Bösewicht. Auch das Lob der alten Germanen wird eingeflochten. Der Weg zum histor. Schauspiel des 17. Jh. wird hier gebahnt, ohne dass die staatlich-polit. Konfliktsituationen als Momente einer trag. Bedeutungskonstellation erkennbar würden. Bevor im Dreißigjährigen Krieg die Theateraufführungen in Straßburg eingestellt wurden, schrieb B. für die Erhebung der Akademie zur Universität noch das Festspiel Moses (aufgef. 1621. Gedr. Ulm 1641. Dt. v. Johann Conrad Merck). In der locker-epischen Fügung treten oratorienhafte Züge hervor. Nicht zuletzt in der Rivalität zur nahe gelegenen kath. Hochschule von Molsheim wertete B. den Stoff auch konfessionspolemisch aus. Pharao verkörpert den Papst u. sein Hofstaat die römische Kirche mit ihrer weltl. Macht u. Größe. Die Worte Moses’ an das israelische Volk verstehen sich als Appell an die Straßburger Bürgergemeinde: »Hac ergo rupe stemus immota Dei, / Tutasque subeamus latebras Ecclesiae [...]« (So wollen wir auf diesem unverrückten Felsen Gottes stehen / und die sichere Zuflucht der Kirche suchen [...]). Die Vielgötterei der Ägypter dient als warnendes

Brüning

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Modell der kath. Heiligenverehrung. Auch in Brüning, Elfriede, auch: E. Barckhausen, diesem Drama wurden wie sonst bei den lat. Elke Klent, * 8.11.1910 Berlin. – VerfasAufführungen visuelle Effekte eingesetzt, um serin von Romanen, Erzählungen, Ferndie zentralen Aussagen sinnfällig zu machen sehspielen u. Reportagen. (Tanz um das Goldene Kalb – kath. KnieDie Tochter eines Tischlers wurde nach abbeugen). Neben seiner Dramenproduktion sind von gebrochenem Oberschulbesuch RedaktionsB. zahlreiche Kasualgedichte, eine Auslegung sekretärin des »Berliner Tageblatts« u. verder Bibel sowie Texte zu Flugblättern erhal- öffentlichte während dieser Zeit erste eigene Texte. Geprägt vom kommunist. Elternhaus, ten. trat sie 1930 der KPD u. 1932 dem Bund Weitere Werke: Elias. Aufgef. u. gedr. Straßb. 1613. Dt. v. Johann Georg Wolkenstein. – Chariclia. Proletarischer Revolutionärer Schriftsteller Aufgef. u. gedr. Straßb. 1614. Dt. v. A. Bertram. – bei; ihre illegale Arbeit in antifaschist. ZirMitarbeit: Carmen Exegetico-Dramaticum De S. keln tarnte sie – nach kurzer Gestapo-Haft 1935 – durch die Veröffentlichung unpolitiPropheta Jona. Aufgef. 1627. Ausgaben: Mieczyslaw Grzesiowski: M. Gaspara scher Unterhaltungsliteratur. Nach 1945 arBrülowa Tragedia O G. Juliuszu Cesarze (Ausg. des beitete sie als Reporterin u. Redakteurin u. a. Cäsar-Dramas mit Erläuterungen). In: Meander beim »Sonntag«, seit 1950 ist sie freischaf(Warschau) 11/12 (1991), S. 420–487; 1/2 (1992), fende Schriftstellerin; sie lebt in Berlin. S. 63–102; 3/4 (1992), S. 170–206. B.s mehr als 20 Romane handeln meist vom Literatur: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 2, Alltag kleiner Leute u. von FrauenschicksaS. 839–854. – Dr. Janke: Über den gekrönten len. Charakteristisch sind – bes. beim Thema Straßburger Dichter C. B. aus Pyritz. Programm der alleinerziehenden, berufstätigen Frau – Pyritz 1880. – August Jundt: Die dramat. Auff.en autobiogr. Bezüge. Populär wurde B. mit ihim Gymnasium zu Straßburg. Programm Straßb. 1881. – Adolf Schmidt: Zur Straßburger Schulko- ren Romanen über den antifaschist. Widermödie. In: Euph. 5 (1898/99). S. 48–58. – Martin stand (... damit du weiterlebst. Bln./DDR 1949. 15 Sommerfeld: Das Straßburger Akademietheater u. Halle 1985. Stgt. 1992) u. über die Emandie Wende v. der Renaissance zum Barock. In: El- zipationsbemühungen einer Frau zwischen saß-Lothring. Jb. 12 (1933), S. 109–134. – Günter Haushalt u. Beruf (Regine Haberkorn. Bln./DDR Skopnik: Das Straßburger Schultheater, sein 1955). B.s Report über Fürsorgezöglinge Spielplan u. seine Bühne. Diss. Bln. 1934. – Hil- (Kinder ohne Eltern. Halle 1969) ist ein frühes degard Schaefer: Hof. Spuren im Protestant. Beispiel für dokumentar. Schreiben in der Schuldrama um 1600. C. B. Diss. Münster 1935. – DDR. Edith Weber: La musique mesurée à l’antique en B. gehört zu den meistgelesenen AutorinAllemagne. Bd. 2, Paris 1974. – Barbara Lafond: Drama u. Theater im Dienste des bürgerl. Protes- nen der ehemaligen DDR, in der Literaturtant. Humanismus. Straßb. 1979. – Dies.: Die reli- kritik ist sie wegen ihrer eingängigen giöse Polemik im ›Moses‹ v. C. B. In: Daphnis 9 Schreibweise jedoch umstritten. (1980), S. 711–718 – Jean-Marie Valentin: B. In: NDA. – Ders.: Humanisme chrétien et baroquisation de la scène à Strasbourg (1581–1626): C. B., le théâtre et la ville. In: Das Berliner Modell der Mittleren Dt. Lit. Hg. Christine Caemmerer u. a. Amsterd./Atlanta 2000, S. 175–189. – Flood, Poets Laureate, Bd. 1, S. 243–245. Wilhelm Kühlmann

Weitere Werke: Auf schmalem Land. Lpz. 1938. – Ein Kind für mich allein. Lpz. 1950. – Sonntag, der Dreizehnte. Bln./DDR 1960. – Septemberreise. Halle 1974. – Partnerinnen. Halle 1978. Ffm. 1982. – Altweiberspiele. Halle 1986. – Lästige Zeugen? Halle 1990. – Kinder im Kreidekreis. Bln. 1992. – Und außerdem war es mein Leben. Aufzeichnungen einer Schriftstellerin. Bln. 1994. Überarb. Ausg. Mchn. 2004. – Jeder lebt für sich allein. Bln. 1999. – Spätlese. Bln. 2000 (E.en). – Ein Mädchen u. zwei Romane. Rostock 2002. – Zeit-Besichtigung. Feuilletons u. Reportagen aus sieben Jahrzehnten (1926–2002). Wilhelmshorst 2003. – Gefährtinnen. Porträts vergessener Frauen. Bln. 2004. – Gedankensplitter. Bln. 2006.

229 Literatur: Patricia Herminghouse: Wunschbild, Vorbild oder Porträt? In: Lit. u. Literaturtheorie in der DDR. Ffm. 1976, S. 281–334. – Stephan Bock: Lit. Gesellsch. Nation. Stgt. 1980, S. 155–165. – Ruth Eberlein: Untersuchungen zur Darstellung der Persönlichkeitsentwicklung u. des Ringens um Gleichberechtigung der Frau in Büchern E. B.s u. zu deren Aufnahme durch die Literaturkritik u. die Leser der DDR 1950–1983. Magdeb. 1985. Hannes Krauss / Red.

Brun von Schönebeck. – Verfasser geistlicher u. weltlicher Dichtungen des 13. Jh.

Brun

Expositio in Canticum Canticorum (Auslegung des Hohen Liedes) des Honorius Augustodunensis; in theolog. Einzelfragen stand ihm offensichtlich der Magdeburger Lesemeister Heinrich von Höxter beratend zur Seite (vgl. v. 12.458). Aus der volkssprachl. Literatur kannte B. Wolframs Parzival u. Willehalm. Vom Ave Maria B.s, in das, wie in das Hohe Lied, die Theophiluslegende eingearbeitet ist, ist kaum mehr als der Anfang erhalten. Weitere Bruchstücke katechetischer Dichtung sind schwer einzuordnen. Einige zus. mit dem Hohen Lied überlieferte kleine Reimstücke zeigen sich auch inhaltlich mit diesem verbunden.

Von B. sind nur spärliche biogr. Daten bekannt. Angehörige seiner Familie finden sich Ausgaben: Arwed Fischer (Hg.): B. v. S. Tüb. in Magdeburg im 13. u. 14. Jh. urkundlich 1893. Neudr. 1977. – F. Breucker (Hg.): Gedichte belegt. An seinem Hohen Lied hat B. nach ei- B.s v. S. In: Nd. Jb. 30 (1904), S. 81–146. – W. gener Angabe (vv. 12.533–12.536) 1275/76 Norlind (Hg.): Neuaufgefundene Bruchstücke des geschrieben, dabei wohl schon in vorgerück- ›Ave Maria‹ B.s v. S. In: Nd. Jb. 53 (1927). S. 59–87. tem Alter stehend (vgl. v. 33, 917, 2443). Aus – Peter Karstedt u. Herbert Wegener (Hg.): Ein neues Bruchstück des B. v. S. In: Nd. Jb. 63/64 der Magdeburger Schöppenchronik geht hervor, (1937/38), S. 53–58. dass B. Konstabler war u. somit zu den beLiteratur: Arwed Fischer: Das Hohe Lied des B. deutendsten Geschlechtern Magdeburgs gev. S. Breslau 1886. – Annemarie Hübner: Das Hohe hörte. Für ein Ritterspiel seiner Standesge- Lied des B. v. S. u. seine Quelle. In: FS Ulrich nossen schrieb er ein Gral betiteltes Stück, Pretzel. Bln. 1963, S. 43–54. – Ludwig Wolff: B. v. dazu Einladungsbriefe an Kaufleute benach- S. In: VL. – Albrecht Hagenlocher: Littera Meretrix: barter Städte; beides ist verloren. Als weitere B. v. S. u. die Schrift im MA. In: ZfdA 118 (1989), Werke B.s werden in der Chronik sein Hohes S. 131–163. – Andrea Seidel: B. v. S. u. das Hohe Lied. In: Dô tagte ez. Dt. Lit. des MA in SachsenLied, ein Ave Maria u. Gedichte genannt. Das mit 12.719 Versen fast vollständig er- Anhalt. Hg. dies. u. Hans-Joachim Solms. Dössel haltene Hohe Lied ist B.s wichtigstes Werk; es 2003, S. 127–136. Elisabeth Wunderle / Red. gliedert sich in drei Hauptteile: Zunächst werden die Vorzüge Salomons (Weisheit, Brun, (Sophie Christiane) Friederike, geb. Schönheit, Reichtum) beschrieben. Es folgt Münter, * 3.6.1765 Gräfentonna/Thürineine Erzählung über dessen Liebe zur Tochter gen, † 25.3.1835 Kopenhagen. – VerfasPharaos u. schließlich ab Vers 1055 eine serin von Reise- u. autobiografischen Auslegung des bibl. Hohen Liedes gemäß dem Schriften, Literatur- u. Kunstkritikerin, mehrfachen Schriftsinn: Als erstes wird der Lyrikerin u. Leiterin eines literarischen Bräutigam Salomon mit Christus, die Braut Salons. mit Maria verglichen. Die zweite Auslegung sieht im Bräutigam Gott, in der Braut die B. wurde 1765 in Gräfentonna bei Gotha geSeele. Zuletzt wird das Gespräch zwischen boren u. wuchs in Kopenhagen auf, wo ihr Bräutigam u. Braut auf die Geschichte der Vater Balthasar Münter Hauptpastor der dt. Kirche hin gedeutet. Den Schluss bildet eine St. Petri-Gemeinde wurde. Im Hause Münter nach derselben Quelle wie die mittelfränk. verkehrten zahlreiche Gelehrte u. Künstler, Rede von den 15 Graden gestaltete Beschreibung hauptsächlich Angehörige des sog. dt. Kreises des Aufstiegs der Seele zu Gott. in Kopenhagen. Schon früh wurde B. mit der B., der neben der Bibel Bernhard von zeitgenöss. Literatur u. Kunst vertraut. In Clairvaux, Augustinus, Horaz u. Ovid zitiert, ihrer Autobiografie Wahrheit aus Morgenträustützte sich bei seiner Auslegung v. a. auf die men (Aarau 1824) beschreibt sie diesen frühen

Brun

Kontakt zum Kopenhagener Kreis als einen wesentl. Auslöser für ihre eigenen künstler. Ambitionen. 1783 heiratete sie den wohlhabenden Kaufmann Constantin Brun. Mit ihm hatte sie insg. fünf Kinder. Aufgrund gesundheitlicher Probleme, u. a. ihrer starken Schwerhörigkeit, unterzog sie sich im Laufe ihres Lebens zahlreichen Heilkuren. Über die Reisen in die Bade- u. Kurorte berichtet sie ausführlich in ihren Reisebeschreibungen u. -briefen. So begab sie sich 1789 zus. mit dem dänisch-dt. Dichter Jens Baggesen nach Pyrmont. Die Jahre 1790 u. 1791 verbrachte sie mit ihrer Familie in Frankreich u. der Schweiz. Während dieses Aufenthaltes traf sie den empfindsamen Lyriker Friedrich Matthison, der sie mit dem Schweizer Schriftsteller Karl Victor von Bonstetten bekannt machte. Mit beiden verbanden B. fortan eine enge Freundschaft u. wechselseitige literar. Inspirationen; insbes. zu Bonstetten wurde das Verhältnis immer vertrauter. Sie unternahmen zahlreiche Kur- u. Bildungsreisen. 1805 begab sich B. auf die letzte große Reise in den Süden u. kehrte zwei Jahre später endgültig nach Kopenhagen zurück. Auf ihrem nur unweit der Hauptstadt gelegenen Landsitz Sophienholm unterhielt B. bis zu ihrem Lebensende im Jahr 1835 einen bedeutenden literar. Salon, in dem namhafte Künstler u. Intellektuelle aus ganz Europa verkehrten. In dieser Rolle als Leiterin des berühmten Salons hat sie auch international Aufsehen erregt. Die Bekanntschaft mit namhaften Autoren, Künstlern u. Wissenschaftlern ihrer Zeit, Goethe, Klopstock, Baggesen, Ingemann, Ewald, Thorvaldsen, Alexander u. Wilhelm von Humboldt u. vielen anderen, die in ihren Schriften eine große Rolle spielt, hat sie dort z.T. wieder aufleben lassen. Schließlich ist sie auch als leibl. Mutter u. künstler. Schöpferin ihrer Tochter Ida in die Kulturgeschichte eingegangen: eine Frau, die ihre Tochter in den Salons als »tableau vivant« vorführte, als Tänzerin u. Sängerin. Den größten Teil von B.s literarischer Produktion nehmen ihre Reisebeschreibungen u. ihre Korrespondenz ein, u. a. das Tagebuch über Rom, das 1800 in Zürich herauskam, u. die Reisebriefe Sitten- und Landschaftsstudien von

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Neapel und seinen Umgebungen in Briefen und Zuschriften entworfen in den Jahren 1809–1810 nebst späteren Zusätzen, die 1818 in Leipzig erschienen. In allen diesen Reiseberichten dominiert die literar. Gestaltung der Fremde, die Beobachtung der ital. Kultur u. Gesellschaft u. die Vergleichbarkeit der in der Ferne vorgefundenen Bedingungen u. Verhältnisse mit denen, welche die Erzählerin im deutschsprachigen u. dän. Kontext erfahren hat: die Verbindung zwischen den in Italien vorgefundenen Monumenten der Vergangenheit mit der Kultur ihrer unmittelbaren Gegenwart. Die Bekanntschaft mit anderen Bildkünstlerinnen (Angelika Kauffmann) u. Schriftstellerinnen ihrer Zeit (Madame de Staël) spiegelt sich in ihrem Selbstbewusstsein als schreibende Frau, die sich auch nicht scheut, ihre körperl. Gebrechen u. Leiden zu thematisieren. Unabhängigkeit u. die Verpflichtung allein gegenüber den eigenen Regeln prägen auch ihre Rolle als Leiterin ihres Salons. Als Lyrikerin ist B. v. a. mit dem Gedicht Ich denke dein bekannt geworden, das von Zelter vertont wurde u. von Goethe in Nähe des Geliebten umgedichtet wurde. B.s lyrischem Ausdruck ist ebenso wie ihrem Prosastil die Beschäftigung mit Klopstocks Dichtung, der Empfindsamkeit ebenso wie der Klassik anzumerken: Er schwankt zwischen einem überbordenden Reichtum an Adjektiven u. – im Kontrast dazu – einer sehr klaren Alltagssprache, die sich um Einfachheit u. Verständlichkeit bemüht. Weitere Werke: Cyane u. Amandor. Hbg. 1792 (R.). – Prosaische Schr.en. 4 Tle., Zürich 1797–1801. – Der Rigiberg. Kopenhagen 1899. – Episoden aus Reisen durch das südl. Dtschld., die westl. Schweiz, Genf u. Italien in den Jahren 1801, 1802, 1803. 3 Bde., Zürich 1806–16. – Neue Gedichte. Darmst. 1812. – Briefe aus Rom, geschrieben 1808–10. Über die Verfolgung, Gefangenschaft u. Entführung des Papstes Pius VII. Dresden 1816. – Neueste Gedichte. Bonn 1820. – Röm. Leben. 2 Tle., Lpz. 1833. – Ilse Fœrst-Crato (Hg.): Frauen zur Goethezeit. Ein Briefw. Caroline v. Humboldt – F. B. Düsseld. 1975. – Zeitgebirge. K. V. v. B., Mme de Staël, Friederike Brun, geb. Münter. Zwei Briefgespräche, 1811–13. Hg. Doris u. Peter Walser-Wilhelm. Gött. 2005 ff. (auch in frz. Ausg.).

231 Literatur: Rosa Olbrich: Die dän.-dt. Dichterin F. B., ein Beitr. zur empfindsam-klass. Stilperiode. Breslau 1932. – Inge Lise Rasmussen: F. B. En dansk-tysk forfattaerindes liv. Kopenh. 1992. – Annegret Heitmann: Muses, Myths and Mascarades. The Scandinavian Salons in the early 19th century. In: Scandinavica 1996, S. 5–28. – Karin Hoff: Die Entdeckung der Zwischenräume. Gött. 2003, S. 211–270. Karin Hoff

Brunfels, Otto, * 1489 oder 1490 Mainz, † 23.11.1534 Bern. – Prediger, Lehrer, Arzt; Verfasser theologischer, pädagogischer u. medizinischer Schriften. Nach Erlangen der Magisterwürde in Mainz lebte B. im Straßburger Kartäuserkloster, bis er unter Impulsen des oberrhein. Reformhumanismus mit seinem Orden brach u. unter Beistand Ulrich von Huttens aus der Kartause floh (1521). Hutten verschaffte ihm eine Pfarrei in Steinau bei Schlüchtern, doch musste B. 1522 vor altgläubigen Gegnern nach Frankfurt/M. fliehen. Dann wirkte B. als luth. Prediger in Neuenburg/Breisgau. Hier erneut in konfessionelle Kontroversen verwickelt, begab er sich ins reformierte Straßburg, wo er 1524 das Bürgerrecht erwarb u. eine Lateinschule einrichtete. Nach seiner Promotion zum Dr. med. in Basel (1532/33) lebte B. bis zu seinem Tod als Stadtarzt in Bern. B. stand mit zahlreichen Humanisten, Reformatoren u. Medizinern in brieflicher Verbindung oder mündlichem Austausch (Martin Bucer, Wolfgang Capito, Heinrich von Eppendorf, Theobald Fettich, Lorenz Fries, Nikolaus Gerbel, Kaspar Hedio, Michael Herr, Hutten, Johann Indagine, Andreas von Bodenstein, Luther, Johann Munter, Nikolaus Pruckner, Beatus Rhenanus, Erasmus von Rotterdam, Johannes Sapidus, Lorenz Schenckbecher, Johann Schott, Gereon Seyler, Jakob Wimpfeling, Zwingli). Während seines Aufenthalts in Hornbach (1533) veranlasste er Hieronymus Bock zur Veröffentlichung seines Kreütter Bu8 chs. In seinen theologisch-polit. Schriften verfocht B. den Vorrang der Predigt vor der Messe, wies den Vorwurf zurück, die Evangelischen zielten nach Art des Bundschuhs

Brunfels

auf einen Umsturz (Von dem Evangelischen Anstoß. Straßb. 1523), bestritt die Rechtmäßigkeit des Kirchenzehnten (De ratione decimarum bzw. Von dem Pfaffen Zehenden. Straßb. 1524) u. vertrat manchmal ultraluth. Positionen. Er verfasste ferner eine Schrift zur Türkenfrage (Ad principes [...] oratio. 1523) u. verteidigte Hutten gegen Angriffe des Erasmus (Ad Erasmi [...] Spongiam Responsio. 1523). Pädagogische Schriften weisen B. als einen Anhänger Rudolph Agricolas u. des Erasmus aus. Sein medizinisch-pharmazeut. Werk umfasst u. a. einen Catalogus illustrium medicorum (Straßb. 1529) u. ein Onomastikon medicinae (Straßb. 1534); es zeigt B. sowohl im Licht eines Tradenten der scholastisch-mittelalterl. Medizin arabistischer Prägung als auch eines humanist. Reformers. Die rege editorische Tätigkeit B.’ galt kirchl. Reformschriften (John Wiclif, Jan Hus) u. bes. medizin. Werken (Alessandro Benedetti, Dioskurides, Paul von Aigina, Rhazes, Serapion, Georg Tannstetter, Niccolò Bertruccio, Girolamo Savonarola, Montagnana). Zwar bediente sich B. hauptsächlich des Lateins, u. ist sein sprachlicher Anteil an zwei deutschsprachigen Werken ungeklärt (Weiber vnd KinderApoteck, Von Apoteckischen Confectionen); doch förderten seine Lanfrank-Übersetzung (Kleine Wundartzney. Straßb. 1528), die Ausgabe des Spiegels der artzney von Lorenz Fries (Straßb. 1529) u. die dt. Eicones-Fassung (Contrafayt Kreüterbu8 ch. 2 Tle., Straßb. 1532 u. 1537. Neudr. Mchn. 1964. Grünwald 1977) den Aufstieg des Deutschen zur Sprache der akadem. Medizin u. Naturwissenschaften. B.’ Bettbüchlin (1528 u. ö.), Pandect Büchlin (1528 u. ö.), Der Christen Practica (1545 u. ö.) u. a. Theologica wurden in der Neuzeit kaum beachtet. Aufgrund seiner Herbarum vivae eicones (3 Tle., Straßb. 1530, 1532 u. 1536) rühmte man in B. einen »Deutschen Vater der Botanik« u. gab einer Nachtschattengattung seinen Namen (Brunfelsia). Doch beruht der pflanzenkundlich bedeutende Rang der Eicones nur zum geringsten Teil auf den aus Dioskurides, Plinius, Theophrast u. Galen geschöpften Pflanzenbeschreibungen, sondern hauptsächlich auf den Pflanzenabbildungen des Dürerschülers Hans Weiditz, deren ungewöhnl. Naturtreue eine Wende in

Brunner

der Geschichte der botan. Buchillustration markiert. B.’ Klagen über mangelhafte Zusammenarbeit mit den Bildkünstlern, deren »wilkür« seine Beschreibungen (»rhapsodiae«) zerstört u. eine »satte ordnunge« der Eicones vereitelt habe, zeigen, dass B. an der Entstehung der qualitätsvollen Abbildungen kaum beteiligt gewesen ist. Ausgaben: Flugschr.en der Bauernkriegszeit. Hg. Adolf Laube u. Hans Werner Seiffert. Bln./DDR 1975, S. 156–177, 587–589: Vom Pfaffenzehnten (um 1523). – Flugschr.en der frühen Reformationsbewegung (1518–1524). Hg. A. Laube u. a. Bd. 1, Bln./DDR 1983, S. 294–315: Vom evang. Anstoß. – Pädagogik u. Reformation v. Luther bis Paracelsus. Zeitgenöss. Schr.en u. Dokumente eingel., ausgew. u. erl. v. Franz Hofmann. Bln. 1983, S. 184–191: De disciplina et institutione puerorum (Paris 1549) in dt. Übers. – L’Alsace au siècle de la Réforme (1482–1621). Textes et Documents. Hg. Jean Lebeau u. Jean-Marie Valentin. Nancy 1985, S. 253–257, 290–293: Textproben. – Onomastikon medicinae (Straßb. 1534). Mit einer Einf. v. Michael Stolberg. Erlangen 1994 (Microfiche-Ausg.). Literatur: Bibliografie: Friedrich Wilhelm Emil Roth: Die Schr.en des O. B. 1519–36. In: Jb. für Gesch., Sprache u. Litt. Elsass-Lothringens 16 (1900), S. 257–288. – VD 16, B 8462–8578. – Weitere Titel: Julius Hartmann d.J. u. Engler: B. In: ADB. – Friedrich Anton Flückiger: O. B., Fragment zur Gesch. der Botanik u. Pharmacie. In: Archiv der Pharmacie, Jg. 57 (1878), S. 493–514. – Karl Hartfelder: O. B. als Verteidiger Huttens. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins N.F. 8 (1893), S. 565–578. – F. W. E. Roth: O. B. Nach seinem Leben u. litterar. Wirken geschildert. Ebd. N. F. 9 (1894), S. 284–320. – Ders.: O. B. 1489–1534. Ein dt. Botaniker. In: Botan. Ztg. 58 (1900), S. 191–232. – Erich Sanwald: O. B. 1488–1534. Ein Beitr. zur Gesch. des Humanismus u. der Reformation. I. Hälfte 1488–1524. Bottrop 1932 (Diss. München). – Walther Rytz: Pflanzenaquarelle des Hans Weiditz aus dem Jahre 1529. Die Originale zu den Holzschnitten im B.’schen Kräuterbuch. Bern 1936. – Heinrich Grimm: B. In: NDB. – Jerry Stannard: B. In: DSB, Bd. 2 (1970), S. 535–538. – Carlo Ginzburg: II nicodemismo. Simulazione e dissimulazione religiosa nell’Europa del ’500. Turin 1970. – Jean-Claude Margolin: O. B. dans le milieu évangélique rhénan. In: Strasbourg au cœur religieux du XVIe siècle. Hg. Georges Livet u. Francis Rapp. Straßb. 1977, S. 111–141. – Gerhard Baader: MA u. Neuzeit im Werk v. O. B. In: Daphnis 7 (1978), S. 107–128. – Peter Dilg: Die ›Reformation

232 der Apotecken‹ (1536) des Berner Stadtarztes O. B. In: Gesnerus 36 (1979), S. 181–205. – Georgiette Krieg: B. In: NDA. – Miriam U. Chrisman: B. In: Contemporaries. – Sylvia Weigelt: O. B. Seine Wirksamkeit in der frühbürgerl. Revolution unter bes. Berücksichtigung seiner Flugschr. ›Vom Pfaffenzehnten‹. Stgt. 1986. – Marc Lienhard: Prier au XVIe siècle. Regards sur le ›Biblisch Bettbüchlin‹ du Strasbourgeois Othon B. In: Revue d’Histoire et de Philosophie Religieuses 66 (1986), S. 43–55. – Heike Talkenberger: Sintflut. Prophetie u. Zeitgeschehen in Texten u. Holzschnitten astrolog. Flugschr.en 1488–1528. Tüb. 1990, S. 354–360. – Friedrich Wilhelm Bautz: B. In: Bautz. – Michael Giesecke: Sinnenwandel. Sprachwandel. Kulturwandel. Studien zur Vorgesch. der Informationsgesellsch. Ffm. 1992, s. v. – P. Dilg: B. In: DBE. – Wolf-Dieter Müller-Jahncke: B. In: Ärztelexikon. Von der Antike bis zum 20. Jh. Hg. Wolfgang U. Eckart u. Christoph Gradmann. Mchn. 1995, S. 81. – Marc Lienhard: Un inclassable du XVIe siècle strasbourgeois: O. B. In: EG 50 (1995), S. 435–446. – Mechthild Habermann: Dt. Fachtexte der frühen Neuzeit. Naturkundlich-medizin. Wissensvermittlung im Spannungsfeld v. Latein u. Volkssprache. Bln./New York 2001, s. v. – Heinrich Zoller: B. In: HLS. Joachim Telle

Brunner, Andreas, * 30.11.1589 Hall/Tirol, † 20.4.1650 Innsbruck. – Dramatiker, Prediger u. Historiker aus dem Jesuitenorden. Nach dem Besuch des Gymnasiums trat B. am 23.10.1605 in Landsberg/Lech in den Jesuitenorden ein u. legte am 28.10.1607 seine ersten Gelübde ab. 1608–1611 studierte er in Ingolstadt Philosophie, 1614–1618 Theologie in Innsbruck u. lehrte zgl. die Humaniora. In diese Zeit, in der er als Prediger hervortrat, fällt auch seine intensive Beschäftigung mit dem Theater. Am 9.6.1618 wurde er in Eichstätt zum Priester geweiht. 1619–1621 war er Professor für Ethik in Dillingen u. Freiburg i. Br. 1622 beauftragte ihn Kurfürst Maximilian I., als »scriptor historiae Bavaraiae« – zunächst als Assistent von Matthäus Rader SJ – in München die bayer. Landeschronik fortzusetzen. Während des Einfalls der Schweden unter Gustav Adolf lebte er von 1632 bis 1635 als Geisel in Augsburg. Nach 1637 wirkte B. als Prediger u. Beichtvater in Innsbruck.

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B.s Annales Virtutis et Fortunae Boiorum (3 anzuregen. Der Intention des Jesuitendramas Bde., Mchn. 1626–37) sind eines der wich- folgend u. dennoch im Gegensatz zur getigsten Zeugnisse der bayer. Hofhistoriogra- lehrten Tradition, geht es ihm – wie bei der fie von 600 bis 1314 in der Zeit des Frühab- Predigt – um Breitenwirkung, u. zwar beim solutismus. Mehr als allen anderen Fürsten- einfachen Volk. häusern des Reichs diente den Wittelsbachern Weitere Werke: Fasti Mariani cum divorum eine mit zuvor nicht gekanntem Aufwand elogiis. Antwerpen 21623 u. ö. (auch dt., fläm. u. betriebene Geschichtsschreibung als Mittel ungar.). – Demonstratio divinae Misericordiae [...]. zur Legitimation ihres Herrschaftsanspruchs. Octo dramatibus. 1637. – Excubiae tutelares LX Geschichte erscheint anders als in den auch Heroum, qui [...] Theodorem in Principatu Boiariae landes- u. volkskundlich orientierten Werken secuti. Mchn. 1637. Erw. Mchn. 1680. Dt. Nürnb. 1681. – Dramata sacra. Salzb. 1684. Sammelbd. der der Humanisten, etwa Aventins, v. a. als Dy24 v. 1644 bis 1646 in der Innsbrucker Jesuitennastiegeschichte. Nicht anders als für die kirche in dt. Sprache aufgef. religiösen Dramen. Humanisten jedoch ist für B. Geschichts- Nachdr. mit einem krit. Nachw. v. Jean-Marie Vaschreibung eine Gattung der Literatur. Vor- lentin. Amsterd. 1986. bilder für die Personencharakterisierung Literatur: Bernhard Duhr: Der bayer. Histo(etwa mittels fingierter Reden) fand er v. a. im riograph A. B. In: Histor.-polit. Bl. 141 (1908), Jesuitendrama. Die Vorliebe für entlegene S. 62–83. – Georg Ellinger: Die Dramata sacra des Vokabeln u. komplizierte syntakt. Konstruk- A. B. In: Ztschr. für vergleichende Literaturgesch. tionen machte sein Latein bereits vielen sei- N. F. 5 (1892), S. 75–80. – Eberhard Dünninger: A. ner Zeitgenossen schwer verständlich. Wie B. In: Bayer. Literaturgesch. in ausgew. Beispielen. sein Vorgänger u. Lehrer Matthäus Rader Hg. ders. u. Dorothee Kiesselbach. Bd. 2 (Neuzeit), scheiterte B. an der Aufgabe, das Interesse des Mchn. 1967, S. 111–123. – Alois Schmid: Geschichtsschreibung am Hofe Kurfürst Maximilians Auftraggebers an einer apologet. Darstellung I. In: Wittelsbach u. Bayern. Hg. Hubert Glaser. des mit dem Kirchenbann belegten Ludwig Bd. 2/1, Mchn. 1980, S. 330–340 (Kat. mit Lit.). des Bayern mit den Auflagen des Ordens zu Franz Günter Sieveke versöhnen; der mit dessen Regierungsantritt 1314 beginnende letzte Teil der Annales pasBrunner, Sebastian, auch: Max Veitl sierte die Ordenszensur nicht. Die FortsetStern, * 10.12.1814 Wien, † 26. (27.?) zung wurde nacheinander Nikolaus Burgun11.1893 Währing bei Wien; Grabstätte: dus, Jacob Balde SJ, Johann Bisselius SJ u. Maria-Enzersdorf bei Wien. – Publizist, schließlich Johannes Vervaux SJ übertragen. Erzähler u. Lyriker. Die Schriften der Hofhistoriker Maximilians u. namentlich B.s galten bis ins 18. Jh. hinein Der Sohn eines Seidenzeugfabrikanten stuals Muster der Historiografie. Leibniz, der B.s dierte in Wien seit 1834 Theologie u. empfing histor. Arbeiten sehr positiv beurteilte, 1838 die Priesterweihe. Nach mehrjähriger edierte die Annales erneut 1710 in Ffm. Arbeit als Kaplan u. Pfarrer im Raum Wien Die Dramata sacra (Salzb. 1684), eine vom promovierte er 1845 zum Dr. phil. 1846 Verleger Johann Baptist Mayr vorgenommene entsandte ihn Metternich in diplomatischer Auswahl der zwischen 1644 u. 1646 aufge- Mission nach Frankreich u. Deutschland, um führten Stücke, bieten zwar ein unvollstän- Gesandtschaftsberichte über religiöse u. sodiges Bild von B.s dramatischem Schaffen, ziale Bewegungen überprüfen zu lassen. 1848 präsentieren aber das theologisch u. litera- promovierte B. in Freiburg i. Br. zum Dr. risch Bedeutsamste. Sie stellen in ihrem theol. u. gründete die einflussreiche »Wiener dreiteiligen Aufbau das Kreuz u. die Be- Kirchenzeitung«, die er bis 1865 als Redaktrachtung des Leidens Jesu aus verschiedenen teur leitete. 1853–1857 war B. in Wien UniPerspektiven – verkörpert durch die Mutter versitätsprediger; 1865 ernannte ihn Pius IX. Jesu, Petrus u. v. a. Maria Magdalena – in den zum päpstl. Hausprälaten, 1875 zum erzbiMittelpunkt mit dem Zweck, über die hier- schöfl. Konsistorialrat in Wien. Einen Überdurch erlangte Erlösung des sündigen Men- blick über sein Leben gibt seine Autobiografie schen zu reflektieren u. zu Mitleid u. Reue Woher? Wohin? Geschichten, Gedanken, Bilder aus

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meinem Leben (2 Bde., Wien 1855. 21865 in 5 Bdn.). Anfänglich Verfasser von geistl. Gedichten (Jesus mein Leben. Wien 1842. 51878) u. Erbauungsbüchern, pflegte B. später unter dem Einfluss Jean Pauls die Satire (Des Genies Malheur und Glück. 2 Bde., Lpz. 1843); formal u. stilistisch weisen seine Romane eine grobe Vermischung verschiedenster Elemente auf: spätbarocker Satzbau, Dialekteinschübe, teils derbe Komik, Anlehnung an Romanformen des 18. Jh. Sein umfangreiches polit., literatur- u. kulturgeschichtl. Werk ist bestimmt durch seine polem. Ausfälle gegen die dt. Aufklärung u. Klassik, den Liberalismus, das Junge Deutschland u. das Judentum. B. ist dem antisemit. Katholizismus zuzurechnen. Weitere Werke: Hau- u. Bausteine zu einer Literaturgesch. der Deutschen. 6 H.e, Wien 1885. – Allerhand Tugendbolde aus der Aufklärungsgilde. Paderb. 1888. – Die Hofschranzen des Dichterfürsten. Der Goethekult u. dessen Tempeldiener. Würzb./Wien 1889. – Ges. Erzählungen u. poet. Schr.en. 18 Bde., Regensb. 1864–73. Literatur: Konrad Kienesberger: S. B.s Stellung zu Lessing, Goethe u. Schiller. Ein österr. Beitr. zur antiliberalen Kritik an der dt. Klassik im späten 19. Jh. Kremsmünster 1965. – Goedeke Forts. – Werner M. Bauer: Geniekritik u. Restauration. Die Künstlerromane S. B.s u. ihre Bedeutung in der österr. Lit. des Vormärz. In: Ders.: Aus dem Windschatten. Innsbr. 2004, S. 151–186. Andreas Schumann / Red.

Brunner, Thomas, * etwa 1535 Landshut, † 28.10.1571 Steyr. – Verfasser biblischer Dramen. B. studierte in Wittenberg. Von 1558 bis zu seinem Tod war er Lateinlehrer im oberösterr. Steyr. Immer wieder klagte B. über Kränklichkeit u. geringe Bezahlung; die starke Wirksamkeit der Wiedertäufer in Oberösterreich scheint seine Lage erschwert zu haben. Mehrfach wollte er sein Amt niederlegen; durch Vertröstung u. Gehaltserhöhung hielt ihn die Stadt weiter. Worin »der unglückselig, Erenbrüchige Unfal mit meinem gewesnen Weib« bestand, der B.s Leben 1568 erschütterte, ist nicht bekannt. Nur ein für eine Schulaufführung geschriebenes bibl. Drama B.s hat sich erhalten;

zwei weitere erhaltene Stücke führten Schüler bei Hochzeiten auf. Sie alle folgen dem Typus des Wittenberger Schuldramas: Man benutzte bibl. Themen, meist aus dem AT. Der bibl. Text wurde kaum ausgeschmückt, denn im Gegensatz zu den Schweizer Bürgermassendramen waren Aufführungsdauer, Personenzahl u. Aufwand begrenzt. Dramaturgisch zeigen B.s Dramen ein eigenes Gesicht: Eine Zweiortbühne stellt zwei voneinander weit entfernte Schauplätze dar. Ein Vorhang kann eine der Örtlichkeiten verschließen. Ortswechsel vollziehen sich nicht wie auf der Simultanbühne unter den Augen der Zuschauer; Abtritte u. Wiederauftritte deuten den Abstand der Schauplätze an. In seinem ersten Drama Die schöne biblische Historia von dem heiligen Patriarchen Jacob, und seinen zwölff Sönen (Wittenb. 1566) führte B. die Handlung von Josephs Auszug zu den Brüdern bis zur glorreichen Wiedervereinigung. Hier wie auch in den anderen Dramen setzte er emsige Teufelsfiguren als komisches Element ein. Auch auf ein publikumswirksames Bankett der Darsteller verzichtete B. nie. Der Einfluss des Joseph Jacob Ruffs wurde in der Forschung (von Weilen) übertrieben. Für sein zweites Drama wählte B. den von Luther empfohlenen, recht undramat. Stoff des Tobias: Die schöne geistliche Geschicht oder Historia, von dem fromen und gottesfürchtigen Tobia (Wittenb. 1569). Das für eine Hochzeit geschriebene Stück betont v. a. die Hochzeit Sarahs mit Tobias u. ihre Erlösung von dem furchtbaren Teufelsfluch. Ein dramat. Vorbild gab es nicht; später erweiterte Georg Rollenhagen das Stück für seinen Tobias. Nur der Anlass erklärt die Wahl des völlig undramat. Themas des dritten Dramas Die schöne und kurtzweilige Historia, von der heirat Isaacs und seiner lieben Rebecca (Wittenb. 1569). Ausgaben: Jacob u. seine zwölf Söhne. Ein evang. Schulspiel aus Steyr. Hg. Robert Stumpfl. Halle 1928. – Tobias. Neudr. hg. v. Wolfgang F. Michael u. Dona Reeves. Bern u. a. 1978. – Isaac u. Rebecca. Neudr. hg. v. W. F. Michael u. Hubert Heinen. Bern u. a. 1983. Literatur: VD 16, B 8639–8641. – Weitere Titel: Alexander v. Weilen: Der ägypt. Joseph im Drama des 16. Jh. Wien 1887. – August Wick: ›Tobias‹ in der dramat. Lit. Dtschlds. Heidelb. 1899. – Anton

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235 Rolleder: Die Schulen der Stadt Steyr in der Reformationszeit. In: Beiträge zur österr. Erziehungsu. Schulgesch. 18 (1918), S. 1–50. – Robert Stumpfl: Das alte Schultheater in Steyr. Linz 1933. – Hellmut Rosenfeld: T. B. In: NDB. – Wolfgang F. Michael: Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern 1984. Wolfgang F. Michael † / Red.

Brunngraber, Rudolf, * 20.9.1901 Wien, † 5.4.1960 Wien. – Romanschriftsteller, Verfasser von Erzählungen u. Essays.

der literar. Montage verwandten formexperimentellen Technik als österr. Beitrag zur Literatur der »Neuen Sachlichkeit« gelten kann, führt an der Lebensgeschichte eines Arbeitslosen vor, wie der Einzelne von der zutiefst inhumanen Tendenz der Zeit zu ökonomisch-technischer Rationalisierung zerrieben wird. Dass B. damit nicht einer globalen Fortschrittsfeindlichkeit das Wort redete, zeigen die nachfolgenden, meist in hohen Auflagen u. zahlreichen Übersetzungen erschienenen Sachromane (Radium. Roman eines Elements. Bln. 1936. Der tönende Erdkreis. Roman der Funktechnik. Hbg. 1951). B. kann als Begründer einer »gesellschaftskritischen Dimension des Sachromans« (Thomas Lange) gelten. Nach 1945 verschob sich allerdings der Akzent zunehmend auf eine kulturpessimist. Kritik der Übertechnisierung; parallel dazu erfolgte seine Wendung zu mythisierend-allegor. Schreibweisen (Die Schlange im Paradies. Mchn./Wien/Basel 1958).

Der Sohn eines Arbeiters absolvierte 1920 die Lehrerbildungsanstalt, besuchte 1926–1930 die Akademie für angewandte Kunst u. arbeitete als Gebrauchsgrafiker. Im Rahmen der sozialist. »Bildungszentrale« hielt er Vorträge u. gehörte 1933 zu den Begründern der »Vereinigung sozialistischer Schriftsteller Österreichs«. Der Arbeiteraufstand 1934 fand bei B. literar. Niederschlag in der deutlich autobiografisch gefärbten Erzählung Der Weg durch das Labyrinth (Wien 1949). Nach Ende Weitere Werke: Die Engel in Atlantis. Bln. des Zweiten Weltkriegs trat B. mit einer in 1938 (R.). – Opiumkrieg. Bln. 1939 (R.). – Zucker über 400.000 Exemplaren verbreiteten sozi- aus Cuba. Roman eines Geldrausches. Stgt./Bln. alpsycholog. Analyse des Nationalsozialismus 1941. – Was zu kommen hat. Von Nietzsche zur hervor (Wie es kam. Psychologie des Dritten Rei- Technokratie. Wien 1947 (Ess.s). – Überwindung ches. Wien 1946). B., der sich nach 1945 auch des Nihilismus. Betrachtungen eines Aktivisten. Wien 1949. (Ess.s) – Heroin. Roman der Rauschdem Film widmete u. Drehbücher für die gifte. Wien 1951. – Der Mann im Mond. Aus dem Regisseure Georg Wilhelm Pabst (Der Prozeß. Nachl. hg. v. Karl Ziak. Wien 1972 (autobiogr. R.). 1947. Ersch. u. d. T. Prozeß auf Tod und Leben. Literatur: Gerhard Kaldewei: ›Karl und das 20. Wien 1948) u. Wolfgang Liebeneiner (1. April Jahrhundert‹. Ein Roman v. R. B. (1932) als epische 2000. 1952) schrieb, wurde mit dem Litera- Form der statistisch-pädagog. Denkweise Otto turpreis der Stadt Wien 1950 u. mit der Auf- Neuraths. In: Österr. in Gesch. u. Lit. mit Geogranahme in die Deutsche Akademie für Sprache phie 36 (1992), H. 2, S. 82–92. – Wendelin Schmidtund Dichtung ausgezeichnet. Dengler: Statistik u. Roman. Über Otto Neurath u. B.s schriftstellerische Bedeutung beruht R. B. In: Ders.: Ohne Nostalgie. Wien 2002, auf einer Darstellungsweise, in der ökono- S. 82–91. – Wolfgang Lukas: Individuelles misch-gesellschaftl. Mechanismen mit den ›Schicksal‹ u. überindividuelles ›Leben‹. Zur Existenzbedingungen des Individuums auf Funktion v. ›Wissen‹ in Alfred Döblins ›Berlin Alexanderplatz‹ u. R. B.s ›Karl u. das 20. Jahrhunkonkrete Weise verknüpft erscheinen. So dert‹. In Lit. u. Wissen(schaften). Stgt. 2002, spiegelt der erste u. zgl. beachtenswerteste S. 247–277. Ernst Fischer / Red. seiner Romane Karl und das 20. Jahrhundert (Ffm. 1932. Neudr. mit Vorw. v. Thomas Lange u. Nachw. v. Karl Ziak. Kronberg 1978. Bruns, Marianne, * 31.8.1897 Leipzig, Nördlingen 1988. Gött. 1999), für den B. im † 1.1.1994 Dresden. – Erzählerin, Kindergleichen Jahr den Julius-Reich-Preis erhielt, u. Jugendbuchautorin. die Einsichten austromarxistischer Gesellschafts- u. Geschichtsanalyse, wie sie B. im Nach einem Gesangstudium in Breslau geKreis um Otto Neurath kennengelernt hatte. lang es in den 1920er Jahren der Tochter eines Der »soziologische Roman«, der mit seiner wohlhabenden Kaufmanns, erste Gedichte in

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der von Wolfgang Schumann herausgegebenen Zeitschrift »Der Kunstwart« unterzubringen. In den folgenden 20 Jahren war sie Schumann u. dessen Frau in einer – B. politisch u. literarisch bestimmenden – engen Freundschaft verbunden. 1945 zog B. nach Freital bei Dresden. B. veröffentlichte – auch während des Dritten Reiches – über 30 Romane u. einige Gedichtbände. In der DDR bekannt wurde sie mit ihrem Frauenroman Uns hebt die Flut (Halle 1952), dessen Fabel die psycholog. Gestaltung historischer Frauenpersönlichkeiten wie Clara Zetkin, Lily Braun u. Käthe Kollwitz gestattete. Nun als Frauenschriftstellerin apostrophiert, blieb dies jedoch B.’ einziger literar. Versuch dieser Art. Ihre Stärken liegen nach eigener Aussage in unterhaltend geschriebener Jugendliteratur, die sich um einen historisch genau geschilderten Hintergrund bemüht, u. in der psycholog. Durchdringung der nach B.’ Worten geheimnisvoll gebliebenen Künstlerpersönlichkeiten, beispielsweise des Veit Stoß im Roman Der neunte Sohn des Veit Stoß (Halle 1967. 4 1988). Seit den 1980er Jahren macht B. verstärkt den Umweltschutz u. die Erhaltung des Weltfriedens zum Anliegen ihrer Bücher. Weitere Werke: Seliger Kreislauf. Mchn. 1925 (L.). – Über meinen grünen Gärten fliegen die Schwalben. Potsdam 1940 (R.). – Die Spur des namenlosen Malers. Bln./DDR 1975 (R.). – Der Fall Lot. Bln./DDR 1986 (R.). – Wiedersehen. Halle 1987 (R.). – Ungewöhnl. Liebeserklärung. Gedichte aus sieben Jahrzehnten. Halle 1990. – Fremder Sohn. Königst./Ts. 1997 (R.). – Die Schattenspielerin. Königst./Ts. 2001 (R.). Literatur: Anne Kellner: Innere Autorität als Gegenstand psychoanalyt. Textanalyse untersucht am Beispiel aus der DDR-Lit. Rostock 2000. Johannes Schulz / Red.

Bruns, Max, * 13.7.1876 Minden/Westfalen, † 23.7.1945 Minden/Westfalen. – Lyriker, Romanautor, Übersetzer u. Verleger. Im Anschluss an eine Ausbildung zum Buchdrucker übernahm B. 1896 die Literaturabteilung des vom Vater Gustav Bruns geführten J. C. C. Bruns Verlags in Minden. Eigenen Neigungen zum Symbolischen u.

Fantastischen folgend, gab er hier von der Jahrhundertwende an als einer der Ersten in Deutschland Barbey d’Aurevilly, Alfred Mombert, Paul Scheerbart u. in mehrbändigen Ausgaben Edgar Allan Poe sowie (von B. selbst übersetzt) Charles Baudelaire heraus u. beschäftigte die bedeutendsten Buchkünstler der Zeit (Fritz Helmuth Ehmke, Marcus Behmer, Walter Tiemann). Trotz verlegerischer Erfolge sah er sich Ende der 1920er Jahre gezwungen, aus finanziellen Gründen Buchbestände u. Rechte an andere Verlage abzutreten u. sich fortan auf die Leitung der zum Verlag gehörenden Druckerei zu beschränken. Wenige Tage nach der Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 wurde B., der sich während der nationalsozialist. Gewaltherrschaft als Gegner des Antisemitismus wie des Krieges öffentlicher Bekundungen für das Regime fast gänzlich enthalten hatte, Opfer eines Raubüberfalls u. starb kurze Zeit später. B. trat in erster Linie als Lyriker hervor. Seine im Aufsatz Lyrisches Schöpfertum (Minden 1926) programmatisch formulierte Unterscheidung von Kunst u. Literatur gilt für alle seine Gedichte – von der frühen Sammlung Aus meinem Blut (Minden 1897) bis zu den späten Gedichtzyklen Garten der Ghaselen (Minden 1925) u. Selige Reise. Ein Terzinenkreis durch Raum und Zeit (Minden 1926). Im Gegensatz zur Literatur, so heißt es dort, könne es niemals »Zweck der Kunst« sein, etwas »auszusagen«; vielmehr habe die Kunst einzig die Aufgabe, das Geschehen dieser Welt in gebundene, dem alltägl. Sprechen enthobene Rede, in »Melodie« zu bringen. B.’ Lyrik, die von Zeitgenossen mit der Rilkes oder Georges verglichen wurde, ist daher ein stark musikalisches Element eigen. Metrisch u. reimtechnisch anspruchsvolle Strophenformen wie Sonett, Ghasele u. Terzine werden in ihrem sprachmelod. Charakter durch den ausgiebigen Gebrauch von Alliteration u. Anapher noch verstärkt. Der Abneigung gegen alles Konkrete u. Zweckbestimmte in der Kunst korrespondiert B.’ auffällige Vorliebe für Reflexionen über Liebe, Schönheit u. Tod oder über Motive aus Religion u. Mythologie. In den Prosawerken Feuer. Die Geschichte eines Verbrechens (Minden 1913. 51925) u. Die Arche. Von den Nächten der Flut, der Vernichtung

Brunschwig

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und des Traumes (Minden 1920) ist – B.’ programmatischem Anspruch entsprechend – die Handlung bis zur Unkenntlichkeit zugunsten eines metaphor. Sprechens zurückgedrängt, das sich im Variieren zentraler Bilder ergeht. Weitere Werke: Lenz. Ein Buch v. Kraft u. Schönheit. Bln./Lpz. 1899 (L.). – Gedichte (1893–1908). Minden 1908. – Die Lieder des Abends. Minden 1916 (L.). – Über den Humor, seine Wege u. sein Ziel. Minden 1921 (Ess.). – Durchwallte Welten. Minden 1936 (L.). Ausgabe: Paul Scheerbart: Briefw. mit M. B. 1898 u. 1903. Ffm. u. a. 1990. Literatur: Heinz Sarkowski: J. C. C. Bruns in Minden. Hinweis auf einen fast vergessenen Verlag. In: Imprimatur N. F. 6 (1969), S. 121–131. – Hans Gressel: M. B. als Kritiker seiner Zeit. In: Land u. Leuten dienen. Zum 450jährigen Bestehen des Ratsgymnasiums der Stadt Minden. Hg. Friedhelm Sundergeld. Minden 1980, S. 1–48. Jens Haustein / Red.

Brunschwig, Hieronymus, * um 1450 Straßburg, † 1512/13 Straßburg. – Wundarzt; Verfasser medizinischer Fachschriften. B. entspross der Straßburger Familie Saulern, wuchs zum Wundarztgesellen heran u. war nach seiner Wanderschaft durch den süddt. Raum bis zu seinem Tod in Straßburg wundärztlich tätig. Zu seinen Bekannten zählten Straßburger Kartäuser u. Johann Geiler von Kaysersberg. Seinen literarischer Erstling, das Buch der Cirurgia. Hantwirckung der wund artzny (Straßb. 1497), richtete B. hauptsächlich an Lehrlinge u. Gesellen seiner Zunft, aber auch an Meister, denen es an mündlichem Erfahrungsaustausch mit Zunftgenossen mangelte; ferner an chirurgisch tätige Laien. Er widmete sich einleitend der wundärztl. Standeslehre u. Deontologie, informierte dann über Hauptaufgaben eines Chirurgen u. machte abschließend mit einer wundärztl. Heilmittellehre vertraut. Der Handwerkerautor schuf mit seiner Cirurgia eine der ältesten in dt. Sprache gedruckten Wundarzneien, aber auch ein Werk, dessen bei Johann Grüninger erschienene Erstausgabe zu den buchkünst-

lerisch schönsten medizin. Drucken um 1500 zählt. B. trat dann mit einer Heinrich Steinhöwel verpflichteten Pestschrift hervor (Liber pestilentialis. Straßb. 1500) u. verfasste zwei Destillierbücher. Im »Kleinen Destillierbuch« (Liber de arte distillandi de simplicibus. Straßb. 1500), der ersten gedruckten Summa der Destillationskunst überhaupt, beschrieb er Geräte u. Methoden der Destillation u. belehrte ausführlich über die Indikationen der aus pflanzl. u. tierischen Substanzen destillierten Wässer. Das »Große Destillierbuch« (Liber de arte distillandi de compositis. Straßb. 1512) widmete B. der Zubereitung u. dem Gebrauch von Composita (Aurum potabile, Aqua vitae, Balsame, Quintessenzen); von Philipp Ulstad wurde es bald lateinisch gefasst (Coelum philosophorum. o. O. [Basel?] o. J. [1525]). Die beiden reich illustrierten Schriften übten auf die Urheber frühneuzeitlicher Destillierbücher starke Einflüsse aus. Das reiche Gedanken- u. Erfahrungsgut der spätmittelalterl. Destillatoren der Neuzeit vermittelt zu haben, gehört zu B.s Hauptverdiensten. Schließlich schuf B. unter Rücksichtnahme auf die Lebensbedingungen »armer«, »nithabender« Menschen mit dem Buch V des »Großen Destillierbuchs« ein umfangreiches Arzneibuch für medizin. Laien (Micarium medicine, auch: Thesaurus pauperum), dem B.s sozialethisches Konzept den Rang einer Frühform ökonomisch-sozial bestimmter Sachschriften sicherte. Sowohl in seiner ursprüngl. Gestalt als auch im Gewand von häufig gedruckten Derivatformen – der Apotheke für den gemeinen Mann (gedr. seit 1529), des Thesaurus pauperum (auch: Hausapotheke. Gedr. seit 1537) u. des Hausarzneibüchleins (auch: Hausarmenschatz. Gedr. seit 1567) – hinterließ das Micarium in der frühneuzeitl. Selbsthilfeliteratur für den »gemeinen Mann« eine breite Spur. Allerorten begegnet im Werk B.s der deutschsprachig gebundene Typus eines gelehrten Ungelehrten: Zwar führt gelegentlich ein Mann der Praxis u. kein Buchgelehrter die Feder; hauptsächlich aber hatte B. Fremdtexte »vff geclubt«, wird bereits literarisch fixiertes Lehrgut tradiert; am kompilativen Grundcharakter der Schrif-

Brupbacher

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ten B.s kann kein Zweifel sein. B. gehört zu Brupbacher, Fritz, * 30.6.1874 Zürich, den wenigen von Paracelsus namentlich ge- † 1.1.1945 Zürich; Grabstätte: Auf dem nannten Zeitgenossen. Seine frühneuzeitl. Hönggerberg bei Zürich. – Arzt, politiWirkmächtigkeit auf medizinisch-pharma- scher Schriftsteller u. Vortragsredner. zeut. Gebieten dokumentieren zahlreiche Als Sohn vermögender Eltern studierte B. in Ausgaben u. Übersetzungen. Zürich u. Genf Medizin u. legte 1898 das Ausgaben: Karl Sudhoff: B.s Anatomie. In: Sudhoffs Archiv 1 (1908), S. 41–66, 141–156, medizin. Staatsexamen ab. Die erstrebte 391 f., hier S. 144–156: Von der Anathomi. – Das akadem. Karriere verbaute er sich durch seine Buch der Cirurgia. Straßb. 1497. Neudr.e: Mchn. öffentl. Stellungnahme gegen einen Gynäko1911. Hg. Gustav Klein. Mailand 1923. Hg. Henry logieprofessor, dem er wesentl. Fehler nachE. Sigerist. Gertenbach 1967. Hg. Christian Probst. weisen konnte. Nach einer psychiatr. Zu– Liber de arte distillandi de compositis. Straßb. satzausbildung lebte B. bis zu seinem Tod als 1512. Neudr. Lpz. 1972. – The vertuose boke Of Allgemeinmediziner im Zürcher ArbeiterDistyllacyon. London 1527. Neudr. Amsterd./New quartier Aussersihl. York 1973. – Book of distillation. London ca. 1530. Durch russ. Emigranten war er früh mit Neudr., hg. v. Harold J. Abrahams. New York/ kommunistischem u. anarchist. GedankenLondon 1971. – The noble experyence of the vertuous handywarke of surgeri. London 1525. Neudr. gut in Berührung gekommen u. entwickelte Amsterd./New York 1973. sich – obwohl er immer wieder Versuche unLiteratur: Bibliografie: Josef Benzing: Bibliogr. ternahm, sich in einer sozialistischen oder der Schr.en H. B.s. In: Philobiblon 12 (1968), kommunist. Partei zu integrieren – zu einem S. 113–141. – VD 16, B 8677–8751. – Weitere Titel: allen Doktrinen u. Ideologien abholden VerKrause: B. In: ADB. – Friedrich Wilhelm Emil fechter eines gewaltfreien individuellen AnRoth: H. B. u. Walther Ryff. In: Ztschr. für Naturarchismus Bakunin’scher Prägung, aber mit wiss.en 75 (1902), S. 102–123. – Gerhard Eis: B. In: starker sozial-humanitärer u. teilweise auch NDB. – Rudolf Schmitz: B. In: DSB. – Wolfgang Schneider: Gesch. der pharmazeut. Chemie. Wein- hedonist. Ausprägung. Der Befürworter von heim 1972, S. 46–48. – Jan Frederiksen: B. In: VL. – Frauenemanzipation, von Abtreibung u. Gundolf Keil u. Peter Dilg: B. In: LexMA. – Pierre freier Liebe war berühmt als hinreißender Bachoffner u. Théodore Vetter: B. In: NDA. – Jo- Vortragsredner; seine Broschüren wie Kinderhanna Belkin: Ein frühes Zeugnis des Urheber- segen – und kein Ende? (Zürich 1903) erreichten schutzgedankens in H. Brunschwyg, Liber de arte z.T. sehr hohe Auflagen. B. gründete u. leitete distillandi [...] v. 1500. In: Gutenberg-Jb. 61 (1986), darüber hinaus mehrere anarchist. ZeitS. 180–200. – Michael Giesecke: Sinnenwandel. schriften (darunter »Der Vorposten«, »Der Sprachwandel. Kulturwandel. Studien zur Vorgesch. der Informationsgesellsch. Ffm. 1992, s. v. – Revoluzzer«, beide in Zürich erschienen), war P. Bachoffner: Jérome Brunschwig, chirurgien et lange Zeit viel gelesener Kolumnist des Zürapothicaire strasbourgeois, portraituré en 1512. In: cher »Volksrechts« u. schuf mit seiner AutoRevue d’Histoire de la Pharmacie 40 (1993), biografie 60 Jahre Ketzer (Zürich 1935. Neudr. S. 269–278. – Mechthild Habermann: Dt. Fach- 1973) ein gleichermaßen literarisch wie politexte der frühen Neuzeit. Naturkundlich-medizin. tisch u. historisch interessantes Werk. Wissensvermittlung im Spannungsfeld v. Latein u. Volkssprache. Bln./New York 2001, s. v. – Joachim Telle: Ein Traumgesicht v. H. B. (1512). Zur ikonograph. Autorpräsenz im dt. Frühdruck. In: BücherGänge. Miszellen zu Buchkunst, Leselust u. Bibliotheksgesch. Hommage an Dieter Klein. Hg. Annette Hoffmann, Frank Martin u. Gerhard Wolf. Heidelb. 2006, S. 67–74. Joachim Telle

Weitere Werke: Marx u. Bakunin. Ein Beitr. zur Gesch. der internat. Arbeiterassoziation. Mchn. 1913. Neuausg. Bln./West 1976. – Um die Moral herum. Hbg. 1922 (Ess.s). – Erinnerungen eines Revoluzzers. Zürich 1927. – Seelenhygiene für gesunde Heiden. Zürich 1943 (Ess.s). – Der Sinn des Lebens. Zürich 1946 (Ess.s). – Hingabe an die Wahrheit... Bln./West 1979 (Ess.s aus ›Seelenhygiene‹ u. ›Der Sinn des Lebens‹). Literatur: Karl Lang: Kritiker, Ketzer, Kämpfer. Das Leben des Arbeiterarztes F. B. Zürich 1975. 2 1983. – Karin Huser: Eine revolutionäre Ehe in

239 Briefen. Lidija Petrowna Kotschetkowa u. der Anarchist F. B. Zürich 2003. Charles Linsmayer

Brus, Günter, * 27.9.1938 Ardning/Steiermark. – Aktionskünstler, Maler u. Schriftsteller.

Brusch

Friedrich Achleitner, Diether Roth, Gerhard Rühm u. Oswald Wiener teilnahm. Einen Abriss seines konfliktreichen Schaffens bieten die autobiografisch angelegten Prosabände Die gute alte Zeit (Salzb./Wien 2002) u. Das gute alte Wien (Salzb./Wien 2007). Diese Arbeiten vermitteln einen Einblick in alltägl. Begebenheiten, vermischt mit der Darstellung von künstlerischer Produktivität u. einschneidenden Erlebnissen wie etwa einem Krankenhausaufenthalt, in dem sich auch die ganze Sprache des Aktionismus mit seiner oft schmerzhaften Metaphorik des Schneidens u. Reißens wiederfindet, wohl auch als eine Möglichkeit, der permanenten Fremdbestimmung des Körpers durch die Gesellschaft u. ihre Institutionen – das Krankenhausbeispiel aus Die gute alte Zeit dokumentiert es – entgehen zu können. Somit ist B. trotz des Abschieds von Performances einer Art von Körpersprache treu geblieben. Die literaturwiss. Forschung hat sich in den letzten Jahren verstärkt der Frage nach den Text-/Bild-Beziehungen im Werk von G. B. angenommen.

B. besuchte 1953–1957 die Kunstgewerbeschule in Graz; ein anschließendes Studium an der Wiener Akademie für angewandte Kunst brach er vorzeitig ab. Er gehörte 1964 mit Otto Muehl, Hermann Nitsch u. Rudolf Schwarzkogler zu den Begründern des »Wiener Aktionismus«. Seit der »documenta 5« 1972 war B. an zahlreichen internat. Kunstausstellungen beteiligt. Als Aktionist hatte B. aus Opposition zum traditionellen Kunstverständnis den menschl. Körper in Selbstbemalung u. Selbstverletzung bzw. Selbstverstümmelung zum künstlerischen Objekt gemacht, wodurch er u. a. auch in Schwierigkeiten mit der österr. Justiz geriet. Die Grundintention, Wahrnehmungskonventionen zu durchbrechen, wahrte B. auch nach der um 1970 beginnenden Rückwendung – nach seiner letzten Weitere Werke: Stillstand der Sonnenuhr. körperbetonten Aktion Zerreissprobe – zu Dichtungen, Bilddichtungen u. Imprimaturen. In: konventioneller Zeichen- u. Malpraxis in protokolle 2 (1983). – De Lyrium. 17 Bild-Dichseinen »Bild-Dichtungen«, entschiedener tungen. Köln 2003. – Spiralnebulose Gedanken. noch aber in seiner schriftstellerischen Arbeit, Köln 2004. – 22 Interviews. Ffm. 2005. Literatur: Der Überblick. Hg. Museum modie auf eine Emanzipation der Fantasie von der empir. Welt zielt. Dazu dient bereits die derner Kunst, Wien, Hildegund Amanshauser u. 1971 erschienene Arbeit Irrwisch (Ffm. Faksi- Dieter Ronte. Salzb. 1986 (mit Bibliogr.). – Franziska Meifert: ›Zweimal Geborene‹ – Der ›Wiener mile-Ausg. Klagenf. u. a. 2000), wo B. mit Aktionismus‹ im Spiegel v. Mythen, Riten u. neuen Möglichkeiten einer Verknüpfung von Gesch.n. In: protokolle 1 (1990). – Arnuf Meifert: dichterischer Prosa u. bildender Kunst expe- G. B. In: Hdb. der dt. Gegenwartslit. seit 1946. Hg. rimentiert. Der Roman Die Geheimnisträger D. R. Moser. Stgt. 1990. – Bernd Vinke: Ein Ver(Salzb./Wien 1984. Nachdr. 2007) verfolgt in gleich zwischen aktionist. u. dichter. Werk bei G. B. verschiedenartigen Formen die Reise einer Bielef. 1996 (Magisterarbeit). – Johanna SchwanGruppe in ein Land, dessen Realität aus exo- berg: G. B. Bild-Dichtungen. Wien/New York 2003. tisch-märchenhaften Bildern u. Vorgängen – Dies.: G. B. In: LGL. Ernst Fischer / Torsten Voß entsteht. Paradoxie, Alogik, Neologismen sind hier u. ähnlich auch in den novellistisch pointierten Kürzestgeschichten Amor und Brusch, Bruschius, Kaspar, * 19.8.1518 Amok (Salzb./Wien 1987. Nachdr. 2007) Schlaggenwald bei Eger, † 20.11.1557 Merkmale eines suggestiven Fabulierens, das Steinach bei Rothenburg. – Neulateiniseine Abbildfunktion fast vollständig verliert. scher Lyriker u. Geschichtsschreiber. Zu seinen literar. Tätigkeiten ist auch die 1972 erfolgte Redaktion des ersten, stark in- Der Sohn eines Schuhmachermeisters betermedial ausgerichteten Berliner Dichter- suchte die Lateinschulen in Eger u. Hof. Er Workshops zu nennen, an dem B. zus. mit studierte in Wittenberg (seit 1531, Baccalau-

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Literatur: Bibliografie: Irmgard Bezzel: K. B. reus 1533) u. Tübingen (1536). 1539 wurde er Kantor in Ulm; am 13.4.1541 krönte ihn [...]. Seine Bibliothek, seine Schr.en. In: AGB 23 Kaiser Karl V. zum Poeta laureatus. Ein un- (1982), Sp. 389–480. – Weitere Titel: Adalbert Hostetes Wanderleben führte B., der in eine rawitz: C. B. Prag/Wien 1874. – Wolfgang Gerlach: Das ›Iter Bavaricum‹ des C. B. [1553]. In: ARG 32 Fehde mit Johannes Eck verwickelt wurde, (1935), S. 94–99. – Illuminatus Wagner: Gesch. der 1542 zunächst nach Wittenberg u. Leipzig; Landgrafen v. Leuchtenberg. 4. Tle., Kallmünz 1544 wurde er für kurze Zeit Rektor in Arn- 1953, S. 213–214. – Erwin Herrmann: Der Humastadt, hielt sich 1545/46 in Schmalkalden auf nist K. B. u. sein Hodoeporikon Pfreymbdense. In: u. trat 1546 erneut eine Rektorstelle in Bohemia. Jb. des Collegium Carolinum 7. Mchn. Lindau an, die er 1547 wieder aufgab. Nach 1966, S. 110–127. – Beat R. Jenny: Der Poeta laumehreren Deutschlandreisen arbeitete er seit reatus C. B. in Basel. In: Acta Conventus Neo-Latini 1553 bei dem Buchdrucker Johannes Opori- Turonensis. Paris 1980, S. 1093–1104. – Ders. (Hg.): Die Amerbachkorrespondenz. Bd. 9, Basel nus in Basel, um schließlich luth. Pfarrstellen 1982, S. 105–109. – Caritas Pirckheimer. Kat., hg. in Pettendorf bei Regensburg (1555) u. in der v. Lotte Kurras u. Franz Machilek. Mchn. 1982, Nr. Nähe von Rothenburg/Tauber (1557) anzu- 166 (Lit.). – Hermann Wiegand: Hodoeporica. Batreten. Noch im selben Jahr wurde er von den-Baden 1984. – Alois Schmid: K. B. als Pfarrer in Pettendorf. In. Jb. für fränk. Landesgesch. 60 Adligen ermordet. In seiner Lebensweise u. den Sujets seiner (2000), S. 135–157. – B. R. Jenny: Der Historiker Dichtung erinnert B. an die wandernden Gaspar B. (1518–57) u. seine Beziehungen zur Frühhumanisten. Sein Werk spiegelt eine Schweiz. In: Aus der Werkstatt der Amerbach-Ed. Hg. Ueli Dill u. ders. Basel 2000, S. 93–397. – recht zwiespältige Persönlichkeit der ÜberWalther Ludwig: Gaspar B. als Historiograph dt. gangszeit vor der festen Ausprägung der Klöster u. seine Rezeption. Gött. 2002. – Flood, Konfessionskirchen: In zahlreichen Reisege- Poets Laureate, Bd. 1, S. 249–256. dichten erscheint er einerseits als engagierter Hermann Wiegand Kritiker der Klöster der alten Kirche, mit deren Äbten er gleichwohl verkehrt (z.B. Hodoiporikon [...] Pfreymbdense. 1554), andererseits Brussig, Thomas, auch: Cordt Bernebursammelt er z.T. heute noch unentbehrliches ger, * 19.12.1965 Berlin/DDR. – SchriftMaterial zur Geschichte der dt. Bistümer steller u. Drehbuchautor. (Magni operis de omnibus Germaniae Episcopatibus Als einer der erfolgreichsten Vertreter der Epitomes: Tomus primus. Continens Annales Ar- sog. »Wende«-Literatur setzt B. sich in seichiepiscopatus Moguntini. Nürnb. 1549. Dt. nem literar. Werk mit der Agoniephase des Ffm. 1551) u. zu seinem Hauptwerk, einer ostdt. Gemeinwesens in den achtziger Jahren Geschichte der wichtigsten Klöster Deutsch- u. dessen Untergang 1989/90 auseinander. lands ([Chronologia] Monasteriorum Germaniae Sein Schreiben besteht dabei, eigenem Bepraeciporum [...]. Zuerst Ingolst. 1551. Erw. kunden nach, in der »Außerkraftsetzung Sulzbach 1682). Mit diesen Werken beginnen dessen [...], was von Staats wegen Thema sein die neuzeitl. Bemühungen um ein Erfassen sollte« (Wie es leuchtet). Im Ostteil Berlins der »Germania sacra«. Durch nicht wenige aufgewachsen (1971–1981 Schulbesuch, Arbeiten leistete B. einen beachtl. Beitrag zur 1981–1984 Ausbildung zum Baufacharbeiter topografischen (Des Vichtelbergs in der alten u. Abitur), ging B. in den Jahren bis 1990 Nariscen land gelegen [...] gruendliche beschrei- wechselnden Tätigkeiten als Museumspförtbung. Zuerst Nürnb. 1552) u. poet. Erschlie- ner, Tellerwäscher, Reiseleiter, Hotelportier, ßung seiner engeren Heimat (Encomia Hubae Fabrikarbeiter u. Fremdenführer nach. ZuSlaccenwaldensis. Wittenb. 1542). Der Lobred- dem leistete er Wehrdienst bei der Nationalen ner Martin Luthers ist zgl. ein treuer An- Volksarmee. Nach dem Zusammenbruch der hänger des habsburgischen Hauses, der Karl DDR nahm er 1991 ein Soziologiestudium an V. u. Ferdinand I. einen begeisterten Pane- der Freien Universität Berlin auf, das er jegyricus widmet (In divorum Caroli v. [...] & doch 1993 zugunsten eines (2000 mit Diplom Ferdinandi [...] Schediasmata. Augsb. 1548). abgeschlossenen) Studiengangs Film- u.

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Fernsehdramaturgie an der Filmhochschule »Konrad Wolf« in Potsdam-Babelsberg abbrach. 1995 gelang B. mit seinem zweiten, in hoher Auflage erschienenen, in zahlreiche Sprachen übersetzten, für das Theater bearbeiteten u. 1999 unter der Regie von Sebastian Peterson verfilmten Roman Helden wie wir (Bln.) der literar. Durchbruch, in dessen Sog auch sein 1991 in der Erstauflage unter dem Pseudonym Cordt Berneburger veröffentlichter Roman Wasserfarben (Bln./Weimar) die Beachtung des Literaturbetriebs fand. Helden wie wir wurde bei seinem Erscheinen von der Kritik als der lang ersehnte »Wende«Roman gefeiert. Der Erfolg gestattete es dem Autor, fortan als freiberufl. Schriftsteller in Berlin zu leben. Seither hat B. weitere von Kritik u. Publikum ebenfalls viel beachtete literar. Arbeiten vorgelegt. Parallel zum Drehbuch Sonnenallee (1999), das er gemeinsam mit dem Regisseur Leander Haußmann erarbeitete, entstand der Roman Am kürzeren Ende der Sonnenallee (Bln. 1999); 2001 folgte der noch im gleichen Jahr an den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin unter der Regie von Peter Ensikat uraufgeführte Monolog Leben bis Männer (Ffm.). Für den Film Sonnenallee wurde B. (zus. mit L. Haußmann) 1999 der Drehbuchpreis der dt. Bundesregierung verliehen; 2000 erhielt er den Hans-Fallada-Preis der Stadt Neumünster; bereits 1996 kürte ihn die Zeitschrift »Theater heute« zum Nachwuchsautor des Jahres. Die Arbeit als Drehbuchautor hat er für den Film NVA (2005, Regie: L. Haußmann) u. die ARD-Reihe Heimat 3 – Chronik einer Zeitenwende (2004, zus. mit Edgar Reiz) fortgesetzt. Sein bislang letzter Roman Wie es leuchtet ist im Jahr 2004 in Frankfurt/M. erschienen. Entwirft der Monolog Leben bis Männer die Figur eines nicht mehr ganz jungen Fußballtrainers, dessen systemkonforme DDRBiografie im Zuge des Vereinigungsprozesses eine nahezu vollständige Entwertung erfahren hat, so stehen im Zentrum von B.s Romanen fast ausnahmslos jugendl. Protagonisten. Im Falle des Adoleszenzromans Wasserfarben konstruiert B. die Figur des Ich-Erzählers Anton Glienicke, der sich an die Monate vor dem Abitur an einer Ostberliner

Brussig

Oberschule erinnert. In Helden wie wir ist es der in der Tradition literarischer Schelmenfiguren entworfene, gleichfalls adoleszente Ich-Erzähler Klaus Uhltzscht, der seine Jugend in der DDR der achtziger Jahre sowie die in der Grenzöffnung kulminierenden Ereignisse des Herbstes 1989 in Form einer »phallischen Groteske« (Magenau) erzählt u. damit die bereits im Verlauf der polit. Ereignisse einsetzende Fixierung einer »Wende«Legende (»Wir sind das Volk!«) satirisch unterminiert. Am kürzeren Ende der Sonnenallee fokussiert unter scheinbarem Verzicht auf eine polit. Perspektivierung des Themas den Alltag einer Ostberliner Freundesgruppe, die im unmittelbaren Schatten der Mauer heranwächst. B.s Texte erzielen ihre wichtigsten literar. Effekte indes durch die spezifische Weise, in der sie das persönl. Leben der jugendl. Figuren u. die Ebene der großen Politik miteinander verbinden. Dies geschieht in stetiger satir. Auseinandersetzung mit den Konzepten der DDR-Literatur, die das persönl. Leben des Individuums im unmittelbaren Bezug auf die polit. Programmatik des DDR-Staates bezogen hatte. So wird in Helden wie wir Christa Wolf in metonymischer Stellvertretung für die krit. DDR-Schriftsteller dem beißenden Spott preisgegeben. Auch darf B.s Roman als Kontrafaktur zu Wolfgang Hilbigs »Ich«-Roman gelesen werden (Baßler). Gegenüber seinen früheren Romanen erreicht B. in Wie es leuchtet einen deutlich höheren Komplexitätsgrad. Thematisch ebenfalls um den Kollaps der DDR kreisend, zeichnet er hier erstmals auch Figuren, über welche die westdt. Sicht auf diese Ereignisse einbezogen wird. Literarisch interessant sind B.s Texte schließlich dadurch, dass sie die Medialität der Literatur u. deren Effekte poetologisch reflektieren. Im Falle von Helden wie wir ist es die Konstruktion einer Interviewsituation, welche die Narration motiviert. In Wasserfarben werden Erzählerfigur u. Autorinstanz kontaminiert, indem das dem Leser vorliegende Buch in der fingierten paratextuellen u. im Regelfall vom Autor zu verantwortenden Widmung als der Rede der Erzählerfigur Anton Glienicke zugehörig ausgegeben wird.

Brust

In Wie es leuchtet wird das Spiel mit der pseudonymen Besetzung der Autorfunktion thematisiert, was ein verändertes Licht auf die pseudonyme Erstveröffentlichung von Wasserfarben wirft. Literatur: Heide Hollmer: T. B. In: KLG. – Jörg Magenau: Kindheitsmuster. T. B. oder Die ewige Jugend der DDR. In: aufgerissen. Zur Lit. der 90er Jahre. Hg. Thomas Kraft. Mchn./Zürich 2000, S. 39–52. – Moritz Baßler: Der dt. Pop-Roman. Die neuen Archivisten. Mchn. 2002, S. 46–68. – T. Kraft: T. B. In: LGL. Franz-Josef Deiters

Brust, Alfred, * 15.6.1891 Insterburg/Ostpreußen, † 18.9.1934 Königsberg/Ostpreußen. – Dramatiker, Lyriker u. Romancier. Der Sohn eines Gastwirts wurde zunächst Kaufmannsgehilfe u. trat 1911 ein Volontariat bei der »Tilsiter Zeitung« an. 1916–1918 war er Soldat in der Presseabteilung beim Oberbefehlshaber Ost in Kowno in Litauen. Die ethnische Vielfalt dieses Landes gewann großen Einfluss auf sein Werk. Hier traf er u. a. den Maler Karl Schmidt-Rottluff u. den Dichter Richard Dehmel. 1918/19 war er Delegierter im Rigaer Soldatenrat, danach lebte er als freier Schriftsteller in Cranz, Heydekrug u. Königsberg (alle Ostpreußen). Obwohl seine Dramen gelegentlich auch in Berlin, Prag u. Wien Erfolg hatten (hier trotz eines Verrisses durch Robert Musil), musste er stets mit materieller Not kämpfen u. starb an einer unzureichend behandelten Lungentuberkulose. B.s Werke spielen zu verschiedenen Zeiten, handeln aber alle vom Konflikt zwischen dem urtümlichen, von slawischen, jüd. u. balt. Mythen bestimmten Leben östlich der Weichsel u. der modernen, von Westen kommenden Zivilisation. In seelischen wie in zwischenmenschl. Konflikten stellt B. magische, teilweise noch vorchristl. Religiosität u. Aufklärung, Natur u. Technik, spontane Lebendigkeit u. abstrakte Intellektualität einander gegenüber. Sein größter Bühnenerfolg, die Trilogie Tolkening (Mchn. 1924), zeigt am Beispiel der weibl. Sexualität den zerstörenden Sieg der ungebändigten Lebenskräfte über den zivilisierten, schwachen Menschen.

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Von seinen 38 Stücken wurden weder alle aufgeführt noch gedruckt. Vom Beginn der 1920er Jahre an wandte sich das Theaterpublikum zunehmend vom Expressionismus ab, dessen Stil B. aufnahm. Seine manchmal nur einaktigen »Spiele« (z.B. Das Spiel Christa vom Schmerz der Schönheit des Weibes. Bln. 1918. Mit Holzschnitten von Karl Schmidt-Rottluff) gestalten keine individuellen Personen u. Handlungen, sondern Typen, die in sprunghaft wechselnden Bildern u. mit eruptiven Gesten Ideen u. magische Lebenskräfte verkörpern. Um seine große Familie zu ernähren, wandte sich B. von 1924 an der Prosa zu. Für Die verlorene Erde (Lpz. 1926) erhielt er den Kleist-Preis. Der Roman handelt von der Ausrottung der Pruzzen durch den Deutschen Orden, ist aber nicht als historischer Roman zu verstehen, sondern wiederum als Parabel auf den tiefenpsycholog. West-OstKonflikt. Dieser ist auch der Hintergrund für die Erzählung Jutt und Jula. Geschichte einer jungen Liebe (Bln. 1928). Walter Benjamin hat sie im selben Jahr u. d. T. Eine neue gnostische Liebesdichtung in einer auf große Teile von B.s Werk zutreffenden Weise fasziniert u. kritisch rezensiert, voll »Widerwillen gegen die Welt, mit der der Autor hier [...] sich einließ«. Er sieht in der Erzählung ein für seine Gegenwart höchst bedeutsames »jüngstes Zeugnis des alten Ringens zwischen der christlichen und der germanischen Lebenserfahrung und Lebenslehre«. In der Reinheitsprüfung, die die Braut in der Erzählung zu bestehen hat, gähne »der Abgrund blutiger Barbarei« (Walter Benjamin: Ges. Schr.en. Bd. 3, Ffm. 1972). B.s zweiter u. letzter Roman Eisbrand (Bln. 1933) zeigt am Beispiel des Titelhelden die Rückkehr eines Menschen aus der modernen Arbeitswelt in Westeuropa zum ursprüngl. Leben im Osten. Weitere Werke: Der ewige Mensch. Mchn. 1920 (D.). – Die Schlacht der Heilande. Mchn. 1920 (D.). – Ich bin. Lpz. 1929 (L.). – Dramen 1917–24. Mchn. 1971. Literatur: Horst Denkler: Nachw. zu: A. B. Dramen 1917–24. Mchn. 1971. – Simone Dannenfeld: Der (expressionist.) Gottsucher A. B. (1891–1934). Eine Untersuchung seines dramat.

243 Werks. In: Dt. Lit. im frühen Preußen u. im Baltikum. Hg. Peter Zimmermann. Dresden 2001, S. 178–186. – Sigita Barniskiene: Moral u. Sexualität in den Dramen A. B.s. In: Triangulum 10 (2003/04), S. 86–99. Walther Kummerow / Red.

Brusto, Max, eigentl.: Motek Brustowiecki, * 15.10.1906 Kolno/Masuren, † 25.2. 1998 Paris. – Erzähler u. Journalist. B. lebte ab 1915 zunächst in Magdeburg, dann in Hamburg; er arbeitete für verschiedene Zeitschriften u. Magazine u. für den Rundfunk. Aufgrund seiner Veröffentlichungen in einigen jüd. Zeitungen musste er 1933 nach Frankreich emigrieren. In Paris u. Nizza schrieb er für die »Pariser Tageszeitung« u. das »Grüne Journal«. Während des Zweiten Weltkriegs flüchtete B. aus dem besetzten Frankreich in die Schweiz. Nachdem er in verschiedenen Emigrantenlagern festgehalten worden war, wurde er privat interniert. Seine Erfahrungen aus dieser Zeit u. seine Beschreibung der Exilsituation in der Schweiz finden sich in seinem Roman Ich bin ein Flüchtling (Zürich 1945) u. in der Dokumentation Im Schweizer Rettungsboot (Mchn. 1967). 1946 kehrte B. nach Frankreich zurück, wo er zuletzt als freier Schriftsteller u. Anzeigenmanager arbeitete. Weitere Werke: Die letzten Vier. Basel 1940 (D.). – Drei Franzosen. Das Hohelied der Kameradschaft. Zürich 1945 (R.). – Das Volksschauspiel v. Dr. Faust in 4 Aufzügen. Luzern 1948 (D.). – Atelier Jim. Bln. 1950; entstanden 1936 (R.). – Im Schweizer Rettungsboot. Mchn. 1967 (Dokumentation). – Ein Kellner namens Aristide. Darmst. 1977 (R.). – Visum oder Tod. Auf der Flucht vor den Nazis. Wiesb. 1982 (E.en). Frank Raepke / Red.

Bruyn, Günter de, * 1.11.1926 Berlin. – Verfasser von Romanen, Erzählungen, Essays. Von 1943 an Luftwaffenhelfer u. Soldat, arbeitete B. 1945 nach kurzer Kriegsgefangenschaft als Landarbeiter in Westdeutschland. 1946 besuchte er in Potsdam einen Neulehrerkurs, bis 1949 war er in einem märk. Dorf als Lehrer tätig. Nach dem Besuch einer Bibliothekarsschule arbeitete B. 1953–1961 als wiss. Mitarbeiter am Zentralinstitut für Bi-

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bliothekswesen der DDR in Ostberlin. Seit 1961 lebt er abwechselnd in Berlin u. in der Nähe von Beeskow als freier Schriftsteller. 1978 wurde er Mitgl. der Ostberliner Akademie der Künste. Von 1974 bis 1982 war er Präsidiumsmitgl. im PEN-Zentrum der DDR, 1991 wechselte er zum PEN-Zentrum der Bundesrepublik Deutschland. B.s Geschichten, seine Erzählungen u. Romane sind realistisch angelegt, wobei er die Entwicklung seiner Figuren mit psycholog. Mitteln gestaltet. Der Raum, in dem sie sich bewegen, ist eng umgrenzt: die Mark Brandenburg. Eine kleine Welt, die doch nie den Verdacht von Heimatliteratur aufkommen lässt. Viele von B.s Figuren bewegen sich im Alltag der DDR, mit den Nöten u. Hoffnungen, die einmal mit dem Aufbau des Sozialismus verbunden waren, manche zgl. in der Literaturgeschichte. Sie transportieren also den Anspruch einer literar. Tradition – etwa Jean Pauls oder Theodor Fontanes – in die Gegenwart. Aus der Differenz zwischen diesem literar. Anspruch u. der alltägl. Realität entwickelte B. den Konflikt; so in dem Roman Preisverleihung (Halle 1972. 71987. Mchn. 1974. Ffm. 1993), so auch in Märkische Forschungen, einer Erzählung für Freunde der Literaturgeschichte (Halle 1978. Ffm. 1979). Die erstarrte, verdinglichte Tradition, die in der DDR »kulturelles Erbe« hieß, gewann bei B. ihre Lebendigkeit zurück u. wurde zum Maßstab des gegenwärtigen Lebens. Der in der Honecker-Ära gepflegten Vorspiegelung sozialer Zufriedenheit u. Harmonie widersprach B. mit seinem Werk vielfach u. nachdrücklich. Einer der frühen Romane B.s, Buridans Esel (Halle 1968. Mchn. 1969. Ffm. 1999), erzählt die bekannte Fabel jenes Tieres, das sich zwischen zwei gleich großen Heubündeln nicht entscheiden kann u. darum verhungert. Aber darüber hinaus erzählt dieser Roman die Geschichte eines privaten Dreieckskonflikts eines Mannes zwischen zwei Frauen. Es geht nicht um die Steigerung der Produktivität, es geht nicht gegen den Klassenfeind, es geht nicht um den Aufbau des Sozialismus, es geht einzig u. allein um das individuelle Glücksverlangen eines Einzelnen, allerdings

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eingelassen in die sozialen Verhältnisse der DDR. Dank genauer Beobachtungen u. oft nur leicht iron. Beschreibung entwickeln zuweilen selbst kleine Nebenszenen beträchtl. Sprengkraft: So konfrontiert B. im Roman Neue Herrlichkeit (Mchn. 1984. Halle 1985. Ffm. 1991) mehrfach Anspruch u. Wirklichkeit miteinander. Im staatl. Heim »Neue Herrlichkeit« sitzen der Held Viktor, eine unscheinbare Gestalt, u. sein Vater, der hohe Staatsrepräsentant Kösling. Unterdessen lassen die DDR-Fernsehnachrichten – entgegen ihrer im Titel »Das Neueste aus aller Welt« proklamierten Universalität – Agronomen aus Buckow zu Wort kommen. Hauptgegenstand dieses mit realist. Mitteln dargestellten Provinzalltags ist aber eine behutsame u. zärtlich entfaltete Liebesgeschichte zwischen Viktor u. Thilde, einem Mädchen aus einfachsten Verhältnissen. Was als psycholog. Charakterstudie eines Opportunisten angelegt ist, der sich allen Gegebenheiten reibungslos anpasst, erweist sich auch als Beschreibung der Verhältnisse im real existierenden Sozialismus. Der Alltag märkischer Provinzialität wird szenisch entfaltet, liebevoll ausgemalt, ironisch u. zuweilen auch sarkastisch durchsetzt, bes. dort, wo märk. Provinz mit preußischer Mentalität im realen Sozialismus auf eine verquere Weise zusammentreffen. An vielen Details dieses Romans wird sichtbar, wie sorgfältig B.s Arbeiten komponiert sind u. wie B. mit versteckten Anspielungen u. Verweisen versucht, die Differenz zwischen Anspruch u. Realität des Lebens in der DDR auszumessen. Das hat ihm – wenn er in Nebenbemerkungen Versorgungsmängel in der staatl. Alterspflege verzeichnet – auch Ärger eingetragen. B. erzählt dabei im beiläufigen Plauderton Fontanes, u. er zeichnet mit Fontanes Sinn für Gerechtigkeit seine Figuren. Noch der unsympathischste Funktionär, dem jede Form der Menschlichkeit unter »Punkt 3, Beschluß 79 Strich 13 des Rates der Gemeinde Görtz« verloren gegangen ist, wird nicht nur als Täter, sondern auch als Opfer erkennbar. B.s eigenem Zeugnis zufolge hat ihn als Kind Karl May zur Literatur gebracht. Als

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Bibliothekar u. Leser ist er zum Schriftsteller geworden. Welche Rolle Jean Paul dabei gespielt hat, lässt sich an seinem Buch Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter (Halle 1975. Ffm. 1976. 1993) ablesen, einer Biografie, die über das Leben zum Werk, über die gesellschaftlichen u. histor. Bedingungen zur Literatur führt. Zus. mit Gerhard Wolf gab B. die Reihe »Märkischer Dichtergarten« heraus mit Werken von Friedrich Nicolai, Friedrich de la Motte Fouqué, Ludwig Tieck, Achim von Arnim, Schmidt von Werneuchen. Hatte B. 1989 die Annahme des Nationalpreises der DDR 1989 abgelehnt, folgten in den folgenden Jahren neben zwei Ehrendoktorwürden der Universitäten Freiburg (1991) u. Berlin (1999) zahlreiche Auszeichnungen, u. a. 1989 der Thomas-Mann-Preis, 1993 der Große Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, 1994 der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland, 1996 der Literaturpreis der KonradAdenauer-Stiftung u. 2006 der Jacob-GrimmPreis Deutsche Sprache. In den 1990er Jahren publizierte B. ein umfangreiches essayist. u. autobiogr. Werk, in dem er sich mit der jüngeren dt. Geschichte, mit der preuß. Vergangenheit u. mit den gegenwärtigen dt. Zuständen auseinandersetzt. Insbes. die autobiogr. Bücher fanden als differenzierte Darstellung eines dt. Lebens im Dritten Reich u. in der DDR sowohl bei der Kritik als auch beim Publikum ein großes u. positives Echo. Weitere Werke: Der Hohlweg. Halle 1963 (R.). – Ein schwarzer, abgrundtiefer See. Halle 1963 (E.en). – Maskeraden. Parodien. Halle 1966. – Tristan u. Isolde. Nach Gottfried v. Straßburg neu erzählt. Bln./DDR u. Mchn. 1975. Ffm. 2000. – Babylon. Lpz. 1977. Ffm. 1986. 1993 (E.en). – Frauendienst. Halle 1986 (E.en u. Ess.s. Ausw. der Ess.s u. d. T. Lesefreuden. Ffm. 1986. 1995). – Jubelschreie, Trauergesänge. Dt. Befindlichkeiten. Ffm. 1991. 1994. – Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin. Ffm. 1992. 51995 (Autobiogr.). – Mein Brandenburg. Ffm. 1993. 2006. – Das erzählte Ich. Über Wahrheit u. Dichtung in der Autobiogr. Ffm. 1995. – Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht. Ffm. 1996. 2002 (Autobiogr.). – Die Finckensteins. Eine Familie im Dienste Preußens. Bln. 1999. Mchn. 2004. – Dt. Zustände. Ffm. 1999 (Dokumentation).

245 – Preußens Luise. Vom Entstehen u. Vergehen einer Legende. Bln. 2001. Mchn. 2004. – Unzeitgemäßes. Ffm. 2001. – Unter den Linden. Bln. 2003. Mchn. 2004. Literatur: Karin Hirdina: G. B. Leben u. Werk. Bln. 1983. – Magda Grams: Das künstler. Wirklichkeitsverhältnis G. B.s Dargestellt an Figurenwahl, Konfliktgestaltung u. Erzählweise seiner ausgew. Prosawerke. Lpz. 1988. – Frank Hafner: ›Heimat‹ in der sozialist. Gesellsch. Der Wandel des DDR-Bildes im Werk G. B.s. Ffm. 1992. – Anja Kreutzer: Untersuchungen zur Poetik G. B.s. Ffm. 1995. – Hugo Dittberner: G. B. Mchn. 1995 (Text + Kritik 127). – Owen Evans: Ein Training im IchSagen. Personal authenticity in the prose of G. B. Bern 1996. – Michael Braun: Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit. G. Bs. literar. Auseinandersetzung mit der Diktatur. In: Lit. in der Diktatur. Hg. Günther Rüther. Paderb. 1997, S. 391–403. – Dennis Tate: G. B. in perspective. Amsterd. 1999. – Bernd Allenstein, Harald Kern, Michael Töteberg u. Hans-Michael Bock: G. B. In: KLG. – York-Gothart Mix: G. B. In: LGL. Martin Lüdke / Red.

Buber, Martin, * 8.2.1878 Wien, † 13.6. 1965 Jerusalem; Grabstätte: ebd., Friedhof Har Hemenuchoth. – Religions- u. Sozialphilosoph. B. wuchs bei den Großeltern im galizischen Lemberg auf. Sein Großvater Salomon B., ein berühmter Herausgeber von Midraschtexten, prägte seine jüd. Sozialisation. Zgl. besuchte B. das poln. Gymnasium. 1896–1904 studierte er in Wien, Berlin, Leipzig u. Zürich Philosophie, Kunstgeschichte, Germanistik, Psychologie u. Psychiatrie. Gleichzeitig entfaltete er eine lebhafte zionist. Tätigkeit: als Gründer des »Bundes jüdischer Studenten« in Leipzig (1898), als Redakteur der Zeitschrift »Die Welt« (1901) u. 1902 als Mitbegründer des Jüdischen Verlags in Berlin. Mit seiner an der bibl. Gottesvolk-Vorstellung orientierten Forderung nach moralischer u. geistiger Erneuerung des Judentums stand er jedoch bald im Widerspruch zu Theodor Herzls politischem Zionismus. 1899 heiratete B. die Schriftstellerin Paula Winkler (Pseud. Georg Munk). B.s Denken ist in dieser Zeit von seinen Studien der westlichen u. v. a. der ostjüd. Mystik geprägt: Von 1906 (Die Geschichten des Rabbi Nachman. Ffm.) an erschienen B.s chas-

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sid. Schriften, in denen er die literar. Zeugnisse der ostjüd. Lebens- u. Frömmigkeitsform zuerst erzählend, später deutend für die Nachwelt aufbereitete (Die chassidischen Bücher. Hellerau 1928). 1906–1916 lebte B. in Berlin, bis 1938 in Heppenheim. Als Verlagslektor von Rütten & Loening (ab 1905) gab B. 40 Bände der Sammlung sozialpsychologischer Monografien Die Gesellschaft heraus u. wirkte 1916–1930 auch publizistisch in der von ihm gegründeten dt.-jüd. Zeitschrift »Der Jude« u. als Mitherausgeber der überkonfessionellen Vierteljahresschrift »Die Kreatur«. Mit der, religions- u. philosophiegeschichtlich gesehen, bis heute einflussreichen Schrift Ich und Du (Lpz. 1923. Neuausg. Heidelb. 1958. 121994. Stgt. 1995 u. ö.) wird eine neue Richtung in B.s Denken sichtbar: die Umformung seines pantheist. Mystizismus in eine Philosophie des Dialogs, die ihn mit Denkern wie Ferdinand Ebner u. Gabriel Marcel verbindet (Die Schriften über das dialogische Prinzip. Heidelb. 1954). In Anlehnung an Ludwig Feuerbach teilt B. alle Erfahrungen in Ich-Es- u. Ich-Du-Beziehungen. Während bei jenen das Ich ein Gegenüber nur als Objekt gelten lässt, anerkennt es bei diesen ein personales Gegenüber (»Mensch sein heißt, das gegenüber seiende Wesen sein«), mit dem es – Sprechen als existentielle Handlung – in ein »wirkliches Gespräch« tritt. Höhepunkt des personal-dialogischen Daseinsverständnisses ist die Zwiesprache des Menschen mit Gott. Eine lebensbestimmende Freundschaft verband B. mit dem jüd. Philosophen u. Theologen Franz Rosenzweig; gemeinsam gründeten sie 1920 das Jüdische Lehrhaus in Frankfurt/M. u. schufen ein sprachschöpferisches Werk von hohem theologischen, literar. u. philolog. Rang: eine dt. Übersetzung des AT (Die Schrift. 14 Bde., Bln. 1925–35. Neubearb. Ausg. 4 Bde., Köln 1954–62). Dabei ging es B. u. Rosenzweig nicht zuletzt darum, der vornehmlich leise gelesenen Bibel ihre »Stimme« u. das »Gesprochenwerden des Worts« in deutscher Sprache zurückzugeben. Daneben legte B. weitere, ein neues Bibelverständnis erschließende Werke vor wie Königtum Gottes (Bln. 1932) oder Der

Buber-Neumann

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Glaube der Propheten (Zürich 1950). Bis 1933 1982. – Jochanan Bloch u. Haim Gordon (Hg.): B. lehrte B. jüd. Religionswissenschaft u. Ethik Bilanz seines Denkens. Freib. i. Br. 1983. – Werner in Frankfurt/M. u. arbeitete mit dem Histo- Licharz (Hg.): B.s Erbe für unsere Zeit. Bd. 1, Ffm. riker u. Pädagogen Ernst Simon am Aufbau 1985. – Michael Zank (Hg.): New Perspectives on M. B. Tüb. 2006. einer »Mittelstelle für jüdische ErwachseUrsula Weyrer / Alfred Bodenheimer nenbildung«. Nach seiner Emigration 1938 wirkte er als Professor für Sozialphilosophie an der Hebräischen Universität Jerusalem u. Buber-Neumann, Margarete, eigentl.: begründete 1949 ein Seminar für ErwachseM. Faust, geb. Thüring, * 21.10.1901 nenbildung. Von Anbeginn kämpfte B., von Potsdam, † 6.11.1989 Frankfurt/M. – Punur wenigen Gleichgesinnten unterstützt, für blizistin. die jüdisch-arab. Verständigung (Ein Land und zwei Völker. Hg. Paul R. Mendes-Flohr. Ffm. B. begann erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu schreiben. Sie wurde weltbekannt mit 1983). Nach 1945 fand das Werk des Denkers, Schilderungen ihres vom Kommunismus geBibelexegeten u. Interpreten jüdischer Spiri- prägten, von ihr später als »Irrweg« betualität bes. in Westeuropa u. den USA große zeichneten Lebenswegs, der sie in russische u. Resonanz. Im Sinne einer Versöhnung zwi- dt. Arbeits- u. Konzentrationslager geführt schen Juden u. Deutschen besuchte B. bereits hatte. Im bürgerl. Milieu aufgewachsen, stand sie Anfang der fünfziger Jahre erstmals früh unter dem Einfluss der gegen die »verDeutschland u. war dort über Jahrzehnte der meistgelesene jüd. Denker der Nachkriegs- logene Moral« der Elterngeneration proteszeit. Er erhielt u. a. 1953 den Friedenspreis tierenden Jugendbewegung. Nach dem Bedes Deutschen Buchhandels u. 1963 den nie- such des Lyzeums begann sie, dem sozialen u. derländ. Erasmus-Preis. Sein sozialethisches pädagog. Ethos der Jugendbewegung folDenken (Pfade in Utopia. Heidelb. 1950. Neu- gend, im Berliner Pestalozzi-Fröbel-Haus ausg. u. d. T. Der utopische Sozialismus. Köln eine Ausbildung als Kindergärtnerin. Wäh1967) ist Saint-Simon, Proudhon, Kropotkin rend dieser Zeit lernte sie das Elend der Beru. Gustav Landauer verpflichtet; sein reli- liner Arbeiter kennen u. wurde Sozialistin. 1921 trat B. in den Kommunistischen Jugiöser Existentialismus verbindet die Kulturkritik des 19. Jh. (Kierkegaard, Nietzsche) gendverband ein, wurde 1926 Mitgl. der KPD mit dem modernen existentialist. Denken u. arbeitete fortan aktiv in einer Potsdamer Parteizelle. 1929 lernte sie Heinz Neumann Martin Heideggers u. Jean-Paul Sartres. Ausgaben: Werkausg. 21 Bde., Gütersloh kennen, der damals Mitgl. des Politbüros der 2001 ff. – Ausgabe letzter Hand: Werke. 3 Bde., KPD war, u. wurde dessen Lebensgefährtin. Heidelb. 1962–64. – Briefe: Briefw. aus sieben 1931 kam es zwischen Neumann u. der Jahrzehnten. Hg. Grete Schaeder. 3 Bde., Heidelb. Moskauer Kominternzentrale zu ersten 1972–75. – B. u. Ludwig Strauss. Hg. Tuvia Rübner. schweren Auseinandersetzungen über den Heidelb. 1978. innenpolit. Kurs der KPD. Nach 1933 folgte für B. u. Neumann die Literatur: Bibliografien: Moshe Catanne: A Bibliography of B.’s Works (1895–1957). Jerusalem Emigration zunächst nach Spanien, dann in 1961. – B. A Bibliography of his Writings die Schweiz, schließlich auf abenteuerl. Um1897–1978. Compiled by Margot Cohn u. Rafael weg in die UdSSR. Dort wurde B. Zeugin der Buber. Mchn. 1980. – Biografien: Hans Kohn: B. Sein Anfänge des stalinist. Terrors. 1937 wurde Werk u. seine Zeit. Hellerau 1930. Neuaufl. Köln Heinz Neumann in Moskau wegen seiner 1961. Wiesb. 1979. – Maurice Friedman: B.’s Live Opposition zu Stalin verhaftet u. verschwand and Work. 3 Bde., New York 1981–83. – Gerhard Wehr: B. Leben Werk Wirkung, Zürich 1991. – spurlos. Ein Jahr später kam auch B. wegen Hans-Joachim Werner: B. Ffm. 1994. – Weitere Titel: angeblicher konterrevolutionärer Agitation Arthur Schlipp u. Maurice Friedman (Hg.): B. Stgt. gegen den Sowjetstaat in Haft. Ursprünglich 1963. – Wolfgang Zink (Hg.): B. 1878/1978. Bonn zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt, wur1978. – Werner Licharz (Hg.): Dialog mit B. Ffm. de sie 1940 aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts

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von der Sowjetunion an die Gestapo ausgeliefert. In den folgenden fünf Jahren war sie im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück. Dort begegnete sie Milena Jesenská, einer Freundin Franz Kafkas. Nach ihrer Befreiung 1945 schrieb B. die autobiogr. Berichte Als Gefangene bei Stalin und Hitler (Mchn. 1949. 2002. Zahlreiche Übers.en, neue ital. u. span. Ausg. 2005) u. Von Potsdam nach Moskau (Stgt. 1957. Neuausg. Mchn. 2002), in denen sie die Abwendung vom Kommunismus rechtfertigte u. zgl. anschaul. Berichte über die aus nächster Nähe erlebte Entwicklung der kommunist. Bewegung in Deutschland u. in der Sowjetunion lieferte. Weitere Werke: Kafkas Freundin Milena. Mchn. 1963. U.d.T. Milena, Kafkas Freundin. Mchn. 1979. 42000. – Die erloschene Flamme. Schicksale meiner Zeit. Mchn. 1976. Ffm. 1989. – Freiheit, du bist wieder mein [...]. Mchn. 1978. Literatur: Margrid Bircken (Hg.): Von Potsdam nach Moskau u. zurück. Schkeuditz 2002. – Gisela Rassow: ›Weil ich meine Erfahrungen nicht begraben konnte‹: M. B. Bln. 2004. Peter König / Red.

Bucer, Butzer, Martin, * 11.11.1491 Schlettstadt/Elsass, † 1.3.1551 Cambridge; Grabstätte: ebd. – Theologe u. Reformator. B. wurde in ärml. Verhältnissen geboren. Er besuchte die Schlettstädter Lateinschule u. trat 15-jährig in das dortige Dominikanerkloster ein, wo er nach Studienbestimmungen dieses Ordens ausgebildet wurde. Wohl 1515 kam er als Dominikaner nach Heidelberg, wo er 1517 an der Universität immatrikuliert wurde. Im April 1518 begegnete er hier Luther. 1518 oder Anfang 1519 wurde er Magister u. Baccalaureus biblicus. 1521 erreichten einflussreiche Freunde, dass er vom Ordensgelübde entbunden wurde. Als Weltpriester ging er nach Landstuhl; dort heiratete er im Sommer 1522 die frühere Nonne Elisabeth Silbereisen. Franz von Sickingen setzte ihm ein Stipendium für Wittenberg aus. Auf dem Weg dorthin bat ihn der Rat von Weißenburg im November 1522, als evang. Prediger zu bleiben; aus polit. Gründen mussten er als soeben gebannter Priester u.

Bucer

der Stadtpfarrer die Stadt im Mai 1523 verlassen. In Straßburg begann B. im Mai 1523 mit bibl. Vorträgen; im Frühjahr 1524 wurde er zum Pfarrer der Vorstadtgemeinde St. Aurelien gewählt. Er übte bald starken Einfluss auf die Bürgerschaft aus, arbeitete eng mit Wolfgang Capito, Kaspar Hedio u. Matthias Zell zusammen u. veröffentlichte Streitschriften, Bibelkommentare etc. Schon in seinen ersten Schriften Daß yhm selbs niemand leben soll (Straßb. 1523) u. Grund und ursach (Straßb. 1524) kam es ihm allein darauf an, den christl. Glauben biblisch getreu u. unvoreingenommen darzustellen. In dieser Beziehung hatte er sich von Luther bestimmen lassen, ohne ihm in allem zu folgen. Für Straßburg verfasste er die Kirchenordnung u. die Katechismen (1534/43) u. setzte sich in einer Reihe von Traktaten nicht nur mit den Altgläubigen, sondern auch mit den Spiritualisten u. Täufern auseinander, die 1534 Straßburg verlassen mussten. B. entwickelte seine eigene theolog. Richtung, die sich in einigen oberdt. Städten durchsetzte. Von Zwinglis Ansichten grenzte er sich ab. Seit dem Marburger Religionsgespräch (1529) setzte sich B. für die Verständigung der Wittenberger mit den Schweizern ein. Auf dem Augsburger Reichstag (1530) legte er das Bekenntnis der vier oberdt. Städte Straßburg, Lindau, Memmingen u. Ulm (»Tetrapolitana«) vor u. unterstützte auch in den folgenden Jahren die Einigungsbestrebungen. Einigungsverhandlungen konnten auch unter kaiserl. Einfluss in Worms u. Regensburg (1540/41) keine greifbaren Ergebnisse bringen, da die Kompromissformeln weder im Vatikan noch in Wittenberg anerkannt wurden. Dennoch konnte die von B. begründete Straßburger Richtung in der Wittenberger Konkordie (1536) u. auch in den 1540er Jahren noch wirksam werden. Mit seinem Werk Von der waren Seelsorge (Straßb. 1538) legte er eine grundlegende Zusammenfassung vor, die für das Gemeindeleben wesentlich wurde. Auf Bitten des Kölner Erzbischofs Hermann von Wied verfasste er eine Reformationsordnung (Einfältiges Bedenken. Bonn 1543) für die von diesem geplante Kölner Reformation.

Buch der Könige alter ê und niuwer ê

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B. nahm an den verschiedenen Religions- M. B. Correspondance. Bde. 1–6, Leiden gesprächen teil u. befasste sich auch in seinen 1979–2006. Literatur: Bibliografie: Holger Pils u. a.: M. B. zahlreichen lat. u. dt. Schriften mit den brennenden kirchenpolit. Fragen seiner Zeit. Bibliogr. Gütersloh 2005. Weitere Titel: Gustav AnAls publizistisch begabter Theologe verfasste rich: M. B. Straßb. 1914. – Johann Müller: M. B.s er darüber Berichte u. behandelte Tagesfra- Hermeneutik. Gütersloh 1965. – Friedhelm Krüger: B. u. Erasmus. Wiesb. 1970. – Martin Greschat: gen wie die über die Verwendung der KirM. B. Mchn. 1990. – M. B. Strasbourg et l’Europe. chengüter u. die über das Eherecht. Exposition à l’Occasion du 500e Anniversaire du Nach der Niederlage der Protestanten im Réformateur Strasbourgeois M. B. 1491–1991. Schmalkaldischen Krieg zeigte B. seinen auf- Straßb. 1991. – David F. Wright (Hg.): M. B. Rerechten Charakter. Der Aufforderung des forming church and community. Cambridge 1994. Kaisers, seine Maßnahmen durch Ausarbei- – Albert de Lange: M. B. Auf der Suche nach Wietung des Interim (1548) zu unterstützen, derherstellung der Einheit. Ubstadt-Weiher 2001. – entzog er sich u. lud den Zorn Karls V. auf Jean Rott: B. In: NDA. Robert Stupperich † / Thomas Wilhelmi sich. Noch einmal verteidigte er seine Überzeugung in der Schrift Summarischer Vergriff der christlichen Lehre (1548), dann wurde er Buch der Könige alter ê und niuwer ê. vom Kaiser gezwungen, Straßburg bei Nacht – Geschichtsdichtung aus der zweiten u. Nebel zu verlassen. Hälfte des 13. Jh. B. ging nach England, wo er mit Ehren empfangen wurde. In Cambridge wirkte er Das Werk besteht aus zwei Teilen, dem Buch als kgl. Lektor. Dort wurde er durch sein Buch der Könige (alter ê) (BdK) u. der ProsakaiserchroDe regno Christi, das stark auf die Kirche von nik (auch Buch der Könige niuwer ê, Pkchr.), die, England wirkte, u. durch seine Mitarbeit am sowohl einzeln als auch gemeinsam, fast Common prayer book bekannt. 1551 starb er in ausnahmslos als Vorspann zu Rechtsspiegeln Cambridge. 1556, im Zuge von Königin Ma- überliefert werden. In sechs der sieben rias Rekatholisierungspolitik, entlud sich an Handschriften, in denen sie gemeinsam traihm der Hass. Er wurde aus dem Grab gezerrt diert sind, leiten sie den Schwabenspiegel u. mit seinen Büchern öffentlich verbrannt. ein; das BdK allein (58 Handschriften) steht Erst 1560, auf Veranlassung von Königin einmal dem Spiegel deutscher Leute u. 53-mal Elisabeth I., wurde das ihm angetane Unrecht dem Schwabenspiegel voran; in zwei von vier Handschriften geht die Pkchr. dem Schwagesühnt. Auf scharfe Ausprägung seines theolog. benspiegel voraus. Das BdK, in sachlicher Prosa verfasst, entStandpunkts verzichtete B. in der Hoffnung, alle Protestanten zur Einheit bringen zu stand zwischen 1274/75 (Deutschenspiegel) u. können. Diese konziliante Haltung brachte 1282 (Verkehrsform des Schwabenspiegels) im ihn um größere Wirkung. Immerhin hat er Umkreis der Augsburger Franziskaner. Als dem Luthertum in Süddeutschland den Bo- Quelle diente außer dem AT die Historia den bereitet, während andererseits Calvin scholastica des Petrus Comestor. Neben einer sich an seinem Werk in Straßburg gebildet u. sog. Deutschenspiegel-Fassung lassen sich fünf B.s Auffassung wiederholt hat (Rechtferti- sog. Schwabenspiegel-Fassungen von jeweils gung, Kirchenbegriff u. a.). B.s Ausdrucks- anderem Umfang unterscheiden (bis Naweise ist lebendig, zuweilen aber auch etwas buchodonosor u. Absalom oder bis Esther u. langfädig. Infolge seiner überregionalen Tä- Judith reichend). Die Pkchr., ebenfalls in Augsburg kurz tigkeiten verlor seine Sprache allmählich ihr alemann. Kolorit u. glich sich mehr dem allg. nach dem BdK, jedoch nicht vom selben Autor verfasst, liegt in nur einer Fassung vor. Sie gebräuchlichen oberdt. Idiom an. Ausgaben: M. B.s Dt. Schr.en. Hg. Robert führt, eng der Kaiserchronik folgend, röm. Stupperich u. Gottfried Seebaß. Bde. 1–9,1; Herrschergeschichte u. Reichsgeschichte bis 10–11,3; 17, Gütersloh 1960–2006. – Opera latina. zu Konrad III. fort, schöpft aber auch aus Bd. 15, Paris 1955; Bde. 1–5, Leiden 1982–2000. – anderen, nicht in jedem Falle zu bestim-

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menden Quellen, u. a. aus Einhards Vita Karoli. Den Rechtsspiegeln als histor. Einleitung vorangestellt, führen BdK u. Pkchr. Erzählungen positiv oder negativ beispielhafter Herrscher- u. Richterfiguren zur Ermahnung der am Rechtsfindungsprozess Beteiligten vor. Der narrative Geschichtstext wird exemplarisch auf den pragmat. Rechtstext projiziert: Erst der Bezug auf die (Heils-)Geschichte verleiht dem Recht seine Legitimation. Ausgaben: Karl A. Eckardt (Hg.): Urschwabenspiegel. Aalen 1975, S. 174–353. Literatur: Eduard Klebel: Studien zu den Fassungen u. Hss. des Schwabenspiegels. In: MIÖG 44 (1930), S. 129–164. – Alfred Hübner: Vorstudien zur Ausg. des Buchs der Könige in der Deutschenspiegelfassung u. sämtl. Schwabenspiegelfassungen. Gött. 1932. – Hubert Herkommer: BdK. In: VL. – Ulrich-Dieter Oppitz: Dt. Rechtsbücher des MA. Bd. 1: Beschreibung der Rechtsbücher. Köln/ Wien 1990. – Gisela Kornrumpf: Das BdK. Eine Exempelslg. als Historienbibel. In: FS Walter Haug u. Burghart Wachinger. Hg. Johannes Janota u. a. Bd. 1, Tüb. 1992, S. 505–527. – Joachim Heinzle: Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 2/2: Wandlungen u. Neuansätze im 13. Jh. Tüb. 1994, S. 76 f. u. S. 171. Norbert H. Ott / Elisabeth Wunderle

Buch der Liebe. – Sammlung von 13 frühneuzeitlichen »Historien« bzw. »Prosaromanen«, gedruckt 1578 in Frankfurt/M. bei Sigmund Feyerabend. Das B. existiert in einer einzigen belegbaren Auflage (Ffm. 1587). Sein Verleger Sigmund Feyerabend zählt zu den bedeutendsten Verlegern der zweiten Hälfte des 16. Jh. Neben zahlreichen lateinischsprachigen jurist. Texten finden sich in Feyerabends Verlagsproduktion auch Drucke von Prosaromanen (»Historien«) u. zahlreiche Sammelbände, u. a. der Amadis, das Heldenbuch, das Reißbuch des heyligen Lands u. die sog. Teufelbücher. Zurzeit sind 12 Exemplare des B. bekannt, davon insg. fünf, die eine »Vorred« mit Widmung an die hess. Landgräfin Hedwig enthalten (vgl. Flood, Veitschegger). Die Auflagenhöhe ist nicht bekannt; eine Zahl von 900 für den Amadis (Weddige) u. ca. 1000

Buch der Liebe

für das B. (Veitschegger) scheint denkbar zu sein. Es besteht ein deutl. Zusammenhang zwischen drucktechnischer Anlage u. Konzeption des B. u. der schon davor von Feyerabend verlegten Amadis-Romane. Dies zeigen u. a. typograf. Gestaltung u. Inhalt der Titelblätter u. Vorreden, die Ausrichtung auf ein adliges Publikum bzw. das städt. Patriziat, die Verwendung z.T. gleicher Holzschnitte (vgl. Flood), die Orientierung an einem weibl. Kundenkreis u. – so Flood – auch die Aufnahme von 13 Romanen, vergleichbar den 13 Büchern des Amadis. Mit einer Ausnahme (Oktavian) sind alle anderen Werke zuvor in Frankfurt als Separatdrucke erschienen, was jedoch nicht ausschließt, dass Feyerabend auch andere Drucke als Vorlagen heranziehen konnte (vgl. Flood, Veitschegger). Aufgenommen wurden folgende Werke: Kaiser Oktavian, Die schöne Magelone, Galmy, Tristrand, Camillus und Emilia, Florio und Bianceffora, Theagenes und Chariclia, Gabriotto und Reinhart, Melusine, Der Ritter vom Thurn, Pontus und Sidonia, Herpin u. Wigoleis. Die Romane wurden von Feyerabend durchgehend »anonymisiert«, d.h. auch dann, wenn die Autoren/Bearbeiter bekannt sind – etwa Wilhelm Saltzmann, Elisabeth von Nassau-Saarbrücken, Jörg Wickram, Thüring von Ringoltingen, Marquart von Stein etc. –, erscheinen ihre Namen im Kontext des B. nicht. Ein inhaltl. Konzept hinter der Zusammenstellung lässt sich nicht erkennen, außer vielleicht der Anspruch, die beliebtesten u. »modernsten« Romane der Frühen Neuzeit unter dem Aspekt der »Liebesgeschichten« mit gutem u. schlechtem Ausgang zu vereinen. So finden sich neben Prosafizierungen mhd. Versromane (Tristrand, Wigoleis), dt. Übersetzungen frz. »chansons de geste« (Kaiser Oktavian, Herpin), zwei Romane von Jörg Wickram (Galmy, Gabriotto und Reinhart), internationale zeitgenöss. »Bestseller« wie Melusine, der spätantike Liebesroman (Theagenes und Chariclia als dt. Heliodor-Bearbeitung) oder aber eine didakt. Exempelsammlung zur Unterweisung junger Frauen – Marquarts von Stein Ritter vom Thurn –, die sich auch inhaltlich deutlich von den übrigen Texten im B. absetzt. Von bes. Qualität sind –

Buch der Märtyrer

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wie in allen Feyerabend’schen Drucken – die Kunst u. Lit. Hg. Helga Sciurie u. Hans-Jürgen Bachorski. Trier 1996, S. 343–360. Illustrationen (u. a. von Jost Amman). Ingrid Bennewitz Feyerabends Gedanke, den Spielarten der Liebe einen Sammelband mit unterschiedl. Texten zu widmen, wurde in der Folge von Buch der Märtyrer, auch: Märterbuch. – vielen Autoren aufgegriffen, z.T. unter ausOberdeutsche Legendensammlung in drücklicher Berufung auf Feyerabend (von Versen aus der zweiten Hälfte des 13. Jh. der Hagen/Büsching 1809, Paul Ernst 1911 etc.). Der Verfasser, der das voluminöse Werk im Literatur: GW. – VD 16. – Paul Ernst (Hg.): Das Auftrag einer nicht eindeutig identifizierbaB. Mchn. u. a. Bd. 1 (1911); Bd. 2 (1914). – Ders. u. ren Gräfin von Rosenberg anfertigte, war Friedrich Ritter: Versuch einer Zusammenstellung wohl Geistlicher. Ein Geschlecht von Rosender dt. Volksbücher des 15. u. 16. Jh. nebst deren berg ist sowohl im Niederschwäbisch-Fränspäteren Ausg.n u. Lit. Straßb. 1924. – Hilkert kischen wie im Ostfränkischen u. SüdböhWeddige: Die ›Historien vom Amadis auss misch-Österreichischen belegt. Die ÜberlieFranckreich‹. Dokumentar. Grundlegung zur Entferung spricht allerdings für den südöstl. stehung u. Rezeption. Wiesb. 1975. – Hans Joachim Sprachraum. Kreutzer: Der Mythos vom Volksbuch. Studien zur Ursprünglich enthielt das Legendar 103 Wirkungsgesch. des frühen dt. Romans seit der Romantik. Stgt. 1977. – John L. Flood: The Survival nach dem Kirchenkalender geordnete Versleof German ›Volksbücher‹. Three Studies in Bib- genden von z.T. sehr unterschiedl. Länge liography. 2 Bde., Diss. (masch.) London 1980. – (zwischen 32 u. 902 Versen; von der ThomasJoachim Knape: ›Historie‹ in MA u. Früher Neu- Legende sind nur sechs Verse erhalten) zu den zeit. Begriffs- u. gattungsgeschichtl. Untersuchun- Marien-, Kreuz- u. Heiligenfesten sowie eine gen im interdisziplinären Kontext. Baden-Baden vor Mariä Empfängnis eingeschobene Mari1984. – H. J. Kreutzer: Buchmarkt u. Roman in der enklage. In seiner unvollständigen ÜberlieFrühdruckzeit. In: Lit. u. Laienbildung im SpätMA ferung umfasst das Werk 28.450 Verse; u. in der Reformationszeit. Symposium Wolfenquellenmäßig geht es hauptsächlich (77 Lebüttel 1981. Hg. Ludger Grenzmann u. Karl Stackmann. Stgt. 1984, S. 197–211. – Jan-Dirk genden) auf eine Sammlung kurzer lat. LeMüller: Volksbuch/Prosaroman im 15./16. Jh. – genden zurück. Die lat. Quellen der restl. Perspektiven der Forsch. In: IASL 1, Sonderh. For- Texte sind nur z.T. identifiziert worden. Dem schungsreferate. Tüb. 1985, S. 1–123. – J. L. Flood: mittelalterl. Gebrauch entsprechend bedeutet Sigmund Feyerabends ›B.‹ (1587). In: Liebe in der der Titel Buch der Märtyrer keineswegs, dass es dt. Lit. des MA. St. Andrews-Colloquium 1986. Hg. sich um eine Sammlung von MärtyrerlegenJeffrey Ashcroft, Dietrich Huschenbett u. William den handelt. Er entspricht etwa dem lat. BeHenry Jackson. Tüb. 1987, S. 204–220. – J.-D. griff »passionale«, der schlichtweg Legendar Müller (Hg.): Romane des 15. u. 16. Jh. Nach den bedeutet. Erstdr.en mit sämtl. Holzschnitten. Ffm. 1990. – Die Legendenauswahl richtet sich stark Bodo Gotzkowsky: Volksbücher: Prosaromane, nach dem lat. Kurzlegendar; es werden kaum Renaissancenovellen, Versdichtungen u. Schwankbücher. Bibliogr. der dt. Drucke. Tl. 1: Drucke des auffällige Regionalheilige aufgenommen, die 15. u. 16. Jh. Baden-Baden 1991. – Thomas Veit- für die Lokalisierung des Werks Hinweise schegger: Das ›B.‹ (1587). Ein Beitr. zur Buch- u. bieten könnten. Von speziell dt. Heiligen sind Verlagsgesch. des 16. Jh. Mit einem bibliogr. An- nur Gallus, Afra u. Kilian vertreten. Urhang. Hbg. 1991 (zgl.: Gött. Diss., 1990/91). – Ilse sprünglich wird das Buch der Märtyrer mit JaO’Dell: Jost Ammans Buchschmuck-Holzschnitte nuar begonnen haben; einige Textzeugen für Sigmund Feyerabend. Zur Technik der Ver- gleichen sich aber dem Aufbau der Legenda wendung v. Bild-Holzstöcken in den Dr.en v. aurea des Jacobus de Voragine an u. beginnen 1563–99. Wiesb. 1993. – Ingrid Bennewitz: Liemit dem Advent. Was die Quellenbehandlung besimagination, Rollencharakteristik u. Textillustration im ›Prosaroman‹. In: Eros – Macht – Askese. betrifft, so weicht der Verfasser so wenig von Geschlechterspannungen als Dialogstruktur in der lat. Vorlage ab, dass man eigentlich von einer Versübersetzung sprechen kann. Das vermag den mitunter unbeholfen wirkenden

Buch der Rügen

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Stil zu erklären. An nur wenigen Stellen setzt der Autor eigene Akzente; z.B. kontrastiert er in einem Text die engagierten Lehrer der Frühkirche mit den trägen der Gegenwart. Sein Vergleich zwischen der Barmherzigkeit Gottes u. den Höllenqualen ist argumentativ schlicht angelegt u. auf ein adliges Publikum zugeschnitten. Obwohl das Werk bis in die Mitte des 15. Jh. tradiert wurde, war ihm nie besonderer Erfolg beschieden. Bereits sehr früh wurde es vom Konkurrenzlegendar, dem Passional, verdrängt. Um 1400 wurden zwar 62 Legenden des Buchs der Märtyrer in Prosa umgeformt u. in das bedeutendste dt. Legendar des MA, Der Heiligen Leben, aufgenommen, aber auch hier fanden nur Legenden u. Mirakel Berücksichtigung, die im Passional kein stoffliches Äquivalent hatten. Ausgaben: Das Märtyrerbuch. Die Klosterneuburger Hs. 713. Hg. Erich Gierach. Bln. 1928. Literatur: Konrad Kunze: Die Hauptquelle des Märterbuchs. In: ZfdPh 88 (1969), S. 45–57. – Ders.: Das Märterbuch. Grundlinien einer Interpr. In: ZfdPh 90 (1971), S. 429–499. – Ders.: B. d. M. In: VL. – Werner Williams-Krapp: Die dt. u. niederländ. Legendare des MA. Tüb. 1986, S. 23 f., 279–292, passim. – Edith Feistner: Histor. Typologie der dt. Heiligenlegende des MA v. der Mitte des 12. Jh. bis zur Reformation. Wiesb. 1995, S. 236–248, passim. Werner Williams-Krapp / Red.

Buch der Rügen, wohl um 1320. – Spätmittelalterliches Predigtlehrbuch. Das von seinem Herausgeber Karajan so betitelte B. d. R. ist ein 1656 Reimpaarverse umfassendes, auf nordbair. Sprachgebiet entstandenes Gedicht eines unbekannten Verfassers. Die Entstehungszeit ist aufgrund zeitgenössischer Anspielungen im Text ziemlich sicher zu ermitteln: Der in Vers 168 u. 257 erwähnte »bapst Johan« ist sehr wahrscheinlich Johannes XXII. (1316–1334). Diese Deutung weist dem Text auch einen Platz in der Auseinandersetzung zwischen Papst Johannes XXII. u. Kaiser Ludwig dem Bayern zu. Das Werk gibt sich als Predigtanweisung: Am Anfang wendet sich der Dichter an die Prediger u. fordert sie zur Unterweisung der

Christenheit auf. Bibelverkündigung soll sich dabei mit der Geißelung aktueller Missstände verbinden. Um diese besser darstellen zu können, werden den Predigern verschiedene geistliche (Papst, Kardinäle, Patriarchen, Bischöfe, Prälaten, Mönche, Ordensritter, Laienbrüder, Wandermönche, Weltpriester, Ärzte u. Juristen, Scholaren, Vaganten, Nonnen) u. weltliche (Kaiser, Könige, Fürsten zus. mit Grafen, Freien u. Dienstmannen, Ritter, Knappen u. Schildknechte, Bürger, Kaufleute, Krämer, Schergen, gute Bauern, hoffärtige Bauern, Frauen) Stände mit ihren Pflichten u. Lastern vor Augen geführt. Aufbau u. Reihenfolge hat das B. d. R. von seiner lat. Vorlage, den sermones nulli parcentes (»Predigten, die keinen schonen«), übernommen, die in der Berliner Handschrift Mgo 138 zus. mit dem B. d. R. überliefert sind. Der dt. Text geht jedoch inhaltlich verschiedentlich über den lateinischen hinaus u. tendiert zu einer weniger abstrakten, detailfreudigeren u. anschaulicheren Darstellungsweise. So wird bei der Darstellung des Ritterstandes durch das Wortspiel, dass die Ritter »scherære« (Scherer) statt »schermære« (Schirmer) sind, deren räuberisches Verhalten deutlicher hervorgehoben. In stärkerem Maße sind nun auch Zeitbezüge angestrebt: Der Papst wird namentlich genannt u. aufgefordert, sich nicht in den Kampf zwischen Guelfen (päpstl. Partei) u. Ghibellinen (kaiserl. Partei) einzumischen; auch die Zwei-Schwerter-Lehre ist erwähnt. Das Werk lehnt sich stilistisch an die Predigt an: Der Dichter wendet sich immer wieder an das Publikum, streut häufig kurze Fragen ein u. erreicht dadurch Abwechslung u. Lebendigkeit. Die gegenüber der lat. Vorlage veränderte Art der Darstellung ist auch dadurch bedingt, dass das Bezugssystem, nämlich antike Literatur, Bibel u. Liturgie, auf das die lat. Dichtung in Zitaten u. Anspielungen selbstverständlich zurückgreifen kann, in deutschsprachiger Literatur der Zeit noch nicht vorausgesetzt werden kann; aber auch die Möglichkeit des Rückbezuges auf eine volkssprachliche Tradition satirischer Dichtung ist vor 1500 noch nicht gegeben. Ausgaben: B. d. R. Hg. Theodor G. v. Karajan. In: ZfdA 3 (1843), S. 6–92. – Eine Neuausg. durch Nikolaus Henkel ist in Vorb.

Buch von Bern

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Literatur: Wolfgang Heinemann: Zur Ständedidaxe in der dt. Lit. des 13.-15. Jh. In: Beiträge (Halle) 89 (1968), S. 309–315. – Anke Ehlers: Des Teufels Netz. Bln./Köln/Mainz 1973, S. 120–123. – Karin Schneider: B. d. R. In: VL (vgl. auch Nachträge u. Korrekturen). – Nikolaus Henkel: Weiteres zu ›Verbleib unbekannt‹. In: ZfdA 101 (1981), S. 23–27. – Ders.: Sermones nulli parcentes u. B. d. R. In: Zur dt. Lit. u. Sprache des 14. Jh. Hg. Walter Haug u. a. Heidelb. 1983, S. 113–140. – Winfried Frey: wie lange wil dû schuolær sîn? In: triuwe. Studien zur Sprachgesch. u. Literaturwiss. Gedächtnisbuch für Elfriede Stutz. Hg. Karl-Friedrich Kraft, Eva-Maria Lill u. Ute Schwab. Heidelb. 1992, S. 243–262. – N. Henkel: Gesellschaftssatire im SpätMA. Formen u. Verfahren satir. Schreibweise in der Sermones nulli parcentes (Walther 6881), im Carmen satiricum des Nicolaus v. Bibra, in der Ständekritik v. Viri fratres servi dei (Walther 20575) u. im B. d. R. In: ... Satire im MA u. der Frühen Neuzeit. Hg. Thomas Haye (in Vorb.). Elisabeth Wunderle

Buch von Bern ! Dietrichs Flucht und Rabenschlacht Buch von geistlicher Armut, entstanden um 1350. – Spätmittelalterliche mystische Schrift eines unbekannten Verfassers. Das B. v. g. A., von dem bis jetzt etwa 20 Handschriften vom Ende des 14. bis zum Beginn des 16. Jh. bekannt sind, ist ein myst. Traktat über äußere u. innere, d.h. geistl. Armut. Entstanden ist das Werk um 1350. Marquard von Lindau († 1392) zitiert es in seiner Dekalogerklärung u. in seinen Predigten. Die frühere Zuschreibung an Johannes Tauler wurde zwar widerlegt, aber die Frage nach dem Autor wird bis heute in der Forschung diskutiert. Der Text gliedert sich in zwei Teile: Der erste Teil beginnt mit Definitionen von Armut u. Gott. Das Wesen wahrer Armut wird als Form der Gleichheit mit Gott charakterisiert. Gott wird als »abgescheiden wesen von allen creaturen«, als »fries vermügen« u. »luters wirken« gekennzeichnet. Da Armut als Gleichheit mit Gott gekennzeichnet ist, muss sie ebenfalls diese drei Definitionsmerkmale enthalten, die zgl. Ziele menschl. Strebens sind. Auch die »natürlichen«,

»gnadelichen« u. »göttlichen« Anlagen im Menschen sollen so genutzt werden, dass sie zur Armut führen. Diese stark theoretisch angelegten Überlegungen u. die Verwendung eines Syllogismus sprechen für einen gelehrten Verfasser. Der Gedanke der absoluten Loslösung verweist auf Meister Eckhart, der verschiedentlich zitiert wird. Im eher praktisch ausgerichteten zweiten Teil werden vier Wege gezeigt, wie man zum vollkommenen armen Leben gelangt; zwei davon werden bes. hervorgehoben, nämlich die Nachfolge Christi u. das auf »contemplatio« ausgerichtete Leben. »Nachfolge Christi« meint dabei Abtötung der Sünde, Entfernung von allen Kreaturen, Aufgabe der leibl. Wollust u. Vermeidung geistigen u. leibl. Trostes. Der Gedanke, dass, ebenso wie die kontemplative Schau, die radikale Nachfolge Christi ein Weg ist, der zur Einheit des Menschen mit Gott führt, zeigt große Nähe zu Tauler. An die Stelle der abwertenden Beurteilung, die das Werk durch seinen Herausgeber Denifle erfahren hat, ist heute seine Einschätzung als beachtenswerter Traktat der dt. Mystik getreten. Das Werk ist, vermutlich von dem Tegernseer Mönch Bernhard von Waging, ins Lateinische übersetzt worden u. bildet den zweiten Teil von dessen Werk De spiritualibus sentimentis et perfectione spirituali. Ausgaben: Daniel Sudermann (Hg.): Doctor Johan Taulers Nachfolgung des Armen Lebens Christi. Ffm. 1621. Neuaufl. (mit veränderter Paragrafeneinteilung u. Glossar) Ffm. 1833. – Das B. v. g. A. Hg. Heinrich S. Denifle OP. Mchn. 1877. Übersetzung: Niklaus Largier: Das B. v. der geistigen A. Eine mittelalterl. Unterweisung zum vollkommenen Leben. Aus dem Mhd. übertragen u. mit einem Nachw. u. Anmerkungen vers. Zürich/ Mchn. 1989. Literatur: Joseph Hartinger: Der Traktat ›de paupertate‹ v. Marquard v. Lindau. Diss. Würzb. 1965, S. 161–168. – Johannes Auer: B. v. g. A. In: VL. – A. Louis Cognet: Gottes Geburt in der Seele. Einf. in die dt. Mystik. Freib. i. Br./Basel/Wien 1980, S. 182–187 (frz. 1968). – Luise Abramowski: Bemerkungen zur ›Theologia deutsch‹ u. zum ›B. v. g. A.‹. In: ZKG 97 (1986), S. 85–104. – Kurt Ruh: Gesch. der abendländ. Mystik. Bd. 3, Mchn. 1996, S. 517–525. – Christian Bauer: Geistl. Prosa im Kloster Tegernsee. Tüb. 1996, S. 137–145. – Johannes Janota: Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen

253 bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 3/1: Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit. Tüb. 2004, S. 95 f. Elisabeth Wunderle

Buch von Troja, überliefert Ende 14. bis Anfang 16. Jh. – Notname für die spätmittelalterlichen Erzählungen vom Trojanischen Krieg, die gattungstypologisch (gegen zunehmende Bedenken) als »Trojaromane« oder einfach als »Trojaprosen« bezeichnet werden u. wegen ihrer anonymen Überlieferung zeitweise durchgezählt wurden. Das Wissen über den Trojanischen Krieg wurde dem MA vornehmlich durch zwei spätantike Pseudepigrafen übermittelt: die Ephemeris (Tagebuch) des angebl. Dictys Cretensis (Ephemeris belli Troiani) u. die acta diurna (tägl. Geschehensberichte) des Dares Phrygius (De excidio Troiae historia). Vom griech. Original des Dictys sind zwei Papyrusfragmente erhalten, für die lat. Version nennt sich ein Lucius Septimius als Verfasser; der DaresText ist nur lat. überliefert, gibt sich aber als Übersetzung aus dem Griechischen aus. Auf der Grundlage dieser beiden fiktiven Augenzeugenberichte schuf um 1165 der Kleriker Benoît de Sainte-Maure, wohl am Hof des engl. Königs Heinrich II., nach dem Muster anderer Antikenromane (Roman d’Alexandre, Roman de Thèbes, Roman d’Enéas) in 30.105 Versen seinen Roman de Troie als erste repräsentative mittelalterl. Darstellung des Stoffes im Sinne des Selbstverständnisses der höf. Gesellschaft. Über 100 Jahre später wird Benoîts Werk, ohne Nennung seines Autors, aber unter Berufung auf Dares u. Dictys, fast gleichzeitig zweimal übertragen: erstens in lat. Prosa durch Guido de Columnis, laut seinem Vorwort Richter von Messana, dem sizilian. Messina, der seine Darstellung durch zahlreiche gelehrte Exkurse u. moralisierende Betrachtungen sowie durch Hinweise auf unterschiedl. Überlieferung bestimmter Erzählmotive erweitert (Historia destructionis Troiae, vollendet 1287), u. zweitens in dt. Reimpaarverse durch Konrad von Würzburg in Basel, der auch Troja-Motive aus Ovid (Heroiden, Metamorphosen) u. Statius (Achilleis) »in wol gebluomter rede« in sein hochambi-

Buch von Troja

tioniertes »getihte« einfließen lässt, »wie die Wasser in das Meer strömen« (V. 234–239); seine Darstellung endet mit Vers 40.424 vor dem Tod Hektors (Der trojanische Krieg, wohl in Konrads Todesjahr 1287 abgebrochen). Beider Wirkung beherrschte das MA u. reichte darüber hinaus. I) Das Elsässische Trojabuch (Buch von Troja I) ist überliefert in 14 Handschriften (vom Ende des 14. Jh. bis 1506) u. einem Fragment, mit einem deutl. Schwerpunkt im alemannischschwäb. Sprachraum. Durch die Benutzung in der (Straßburger) Chronik des Jakob Twinger von Königshofen ergibt sich für die Entstehung 1386 als terminus ante quem. Es handelt sich im größeren ersten Teil (bis Kap. 38) um eine »Prosaauflösung« von Konrads Verstext, im zweiten (Kap. 39–87) um eine Nacherzählung der Historia Guidos, mehrfach unter direktem Rückgriff auf Dares; der Konrad-Teil enthält, etwa bei der Beschreibung des nach der ersten Zerstörung erbauten neuen Troja, einige Ergänzungen aus Guido, während andererseits im GuidoTeil der Autor eine Reihe von Episoden ausgelassen hat, die er nicht mit der Darstellung nach Konrad harmonisieren konnte. Insg. ist Konrads virtuos ausgestaltendes, rhetorisch reich orchestriertes u. Guidos weitschweifiges, zuweilen pedant. Erzählen in gleicher Weise durch Kürzungen verändert; das Interesse des Autors u. seines Publikums gilt offenkundig dem im Sinne historischer Faktizität für wahr gehaltenen Erzählgeschehen, nicht dessen kunst- u. fantasievoller Ausmalung. Das schließt nicht aus, dass einzelne Stellen, bis zu den Reimen, wörtlich wiedergegeben werden u. die Darstellung durch direkte Reden verlebendigt wird. Aber im Extremfall lassen die Kürzungen bloße Resümees der jeweiligen Vorlage übrig, wenn etwa ganze Schlachten in fünf Zeilen zusammengefasst werden (Kap. 43 oder Kap. 52). Der Autor begründet seine Art der Wiedergabe ausdrücklich: »der yeglichen strit alleine solte beschriben von worte zu worte, als e ich gelesen han, der es denn läse, der mohte virdrúczig werden« (Kap. 84). Zur Wirkungsgeschichte: Die von 1474 bis 1482 jeweils mit mehreren Folge-Auflagen in Augsburg u. Straßburg erschienenen drei dt. Tro-

Buch von Troja

ja-Drucke enthalten drei unterschiedliche, nicht immer log. Kompilationen aus dem Elsässischen Trojabuch u. der Guido-Nacherzählung des Hans Mair (s. u.). II) Das Bairische Buch von Troja (Buch von Troja II) ist überliefert in sechs Handschriften u. einem Fragment (Schriftproben) aus der zweiten Hälfte des 15. Jh. (Datierungen: 1464, 1466, 1467) mit einem deutl. Schwerpunkt im bair. Sprachraum. Hinweise auf Autor u. terminus post quem fehlen; Wortschatz u. vereinzelte Ergänzungen könnten auf Entstehung in einer größeren Stadt hinweisen. Wie beim Elsässischen Trojabuch handelt es sich im ersten Teil (bis Kap. 149) um eine »Prosaauflösung« von Konrads Verstext, im zweiten (Kap. 150–196) um eine Nacherzählung der Historia Guidos, die aber hier übergeht in eine solche des Excidium Troiae, eines frühmittelalterl. Textes, der v. a. auf Vergils Aeneis zurückgreift; dessen Darstellung der Vor- u. Frühgeschichte Roms wird ergänzt durch spezif. Angaben aus der auf Hieronymus basierenden Weltchronik-Tradition. Auch dieser Autor muss kürzen, aber sein Werk ist das bei Weitem umfangreichste unter den spätmittelalterl. Trojabüchern. Konrad ist sein stilistisches Vorbild, nicht in der Rhetorisierung u. in der Ausführlichkeit seiner descriptiones, aber in der Buntheit u. Lebendigkeit seiner Darstellung, auch in der Freude an Reden. Die Wiedergabe der Reime wird sorgfältig vermieden, aber ansonsten ist vielfach der Wortlaut so genau übernommen, dass an den Abweichungen sprachgeschichtl. Entwicklungen ablesbar sind. Dieser Autor u. sein Publikum sind nicht nur an der summa facti interessiert, sondern legen Wert auf das Wie des Erzählens. Das gilt auch für den auf lat. Vorlagen zurückgehenden Teil; allerdings werden, v. a. in der Nachgeschichte des Trojanischen Krieges, die Kürzungen erheblicher. Bezeichnend aber ist, dass der brevitasTopos geradezu verkehrt werden kann: »durich chürcz willen« zählt der Autor die Namen von 17 Heerführern auf, die neben anderen auf Seiten der Trojaner in den Kampf ziehen (Kap. 136). Zur Wirkungsgeschichte: Ulrich Füetrer verwendet das Bairische Buch von Troja als Vorlage für die Darstellung des

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Trojanischen Krieges im Rahmen seines Buchs der Abenteuer. III) Buch von Troja nach Guido de Columnis (Buch von Troja III) ist ein Sammelname. Die literar. Wirkung der Historia Guidos spiegelt sich auch in der Zahl der Versuche, sie als Ganzes im Deutschen nachzuerzählen. Die erfolgreichste dieser »Übersetzungen« ist die des Hans Mair, Ratsherr u. Amtsträger in Nördlingen, wohl um 1402. Mit Namen nennt sich auch Heinrich Gutevrunt von dem Brunswick als Autor eines mitteldt. Trojabuchs, das nur in einer Handschrift von 1436 erhalten ist. Die übrigen Texte sind anonym: (1) eine mitteldt. Nacherzählung in einer Wiener Handschrift, deren Schreiber dadurch auffällt, dass er nach fast jedem Kapitel seinen Wunsch nach einer Erfrischung zu Papier bringt, wobei er Bier bevorzugt; der Autor, der sich hinter »ich Guido von Koluna Messana« versteckt, ist bes. an den Kampfhandlungen interessiert u. bewertet die handelnden Personen energisch unter moral. Aspekten; (2) eine ostmitteldt. Nacherzählung, die vollständig in einer Prager, fragmentarisch in einer Berliner Handschrift erhalten ist; der stärker als alle anderen kürzende Autor löst sich häufig von den Formulierungen Guidos, gibt dessen Reflexionen aber gerne in einem latinisierenden, als rhetorisch kunstvoll geltenden Stil wieder u. fasst seine Meinung häufig in Merksprüchen moralischen Inhalts zusammen; (3) eine niederdt. Nacherzählung, in einem Lübecker (um 1478) u. einem Magdeburger Druck (um 1495) erhalten; sie ist im ersten Teil (Argonautenfahrt u. erste Zerstörung Trojas) selbständig, benutzt dann aber bis zum Schluss den hier unter (2) genannten ostmitteldt. Text als Vorlage; (4) eine bair. Nacherzählung, erhalten in einem mit 334 farbigen Illustrationen des Regensburger Buchmalers Martinus Opifex ausgestatteten Wiener Pergament-Kodex u. wahrscheinlich für diese Prachthandschrift von 1445 verfasst; der Autor strebt nach dem verbum-adverbum-Prinzip größtmögl. Entsprechung zu Wortlaut u. Syntax der lat. Vorlage an; (5) eine ostmitteldt. Nacherzählung, von der nur 26 Fragmente in Berlin erhalten sind; der Text zeigt eine Tendenz zu parataktischer Vereinfachung der lat. Vorlage; (6) eine mit-

Buch

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teldt. Nacherzählung, deren einziger bekannter Textzeuge in Breslau seit dem letzten Weltkrieg verschollen ist. Ausgaben: I: Christoph Witzel (Hg.): Das Elsässische Trojabuch. Wiesb. 1995. – II: Gerhard P. Knapp (Hg.): Hystoria Troyana. Diss. Bln. 1970. – Eine neue Ausg. v. Heribert A. Hilgers u. Heinz Thoelen ist in Vorb. – III: (2) Hildegard Boková u. Václav Bok (Hg.): Eine an. dt. Übers. des ›Buches von Troja nach Guido de Columnis‹. Bln. 1990. – (3) Gunvor Krogerus (Hg.): Historia van der vorstorynge der stat Troye. Helsingfors 1951. – Die übrigen sind unediert, einzelne Textproben bei Wolfgang Stammler: Spätlese des MA. Bln. 1963, sowie bei Krogerus 1951 (s. o.) u. Schneider 1968 (s. u.). Literatur: Emil Thiede: Studien über daz buoch von Troja. Diss. Greifsw. 1906. – Karin Schneider: Der ›Trojanische Krieg‹ im späten MA Bln. 1968. – Dies.: B. v. T. In: VL. – Horst Brunner (Hg.): Die dt. Trojalit. des MA u. der Frühen Neuzeit. Wiesb. 1990. Heribert A. Hilgers / Heinz Thoelen

Buch, Hans Christoph, * 13.4.1944 Wetzlar. – Schriftsteller u. Essayist, Verfasser von Romanen, Erzählungen u. Reportagen. B. ist Sohn eines Diplomaten u. wuchs in Wiesbaden, Bonn u. Marseille auf. Sein Großvater hatte sich auf Haiti niedergelassen u. eine Einheimische geheiratet, was B.s Interesse für die Antilleninsel begründet. Seine literar. Anfänge reichen ins Jahr 1963 zurück, als der Abiturient erstmals vor der Gruppe 47 vorlas u. von Walter Höllerer ans Literarische Colloquium Berlin geholt wurde. Er promovierte später auch bei Höllerer zum Thema Ut Pictura Poesis. Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker von Lessing bis Lukács (Mchn. 1972). B.s erste Veröffentlichung war der 1966 bei Suhrkamp erschienene Erzählungsband Unerhörte Begebenheiten, der von Kritikern der literar. Groteske zugeordnet wurde. In den folgenden Jahren machte B. sich einen Namen als Literaturkritiker u. Herausgeber literaturtheoretischer Schriften u. Anthologien. Sein Hauptanliegen war zunächst die Kritik einer blutleeren u. theoretisch überfrachteten »linken« Literatur sowie die Polemik gegen die ästhet. Borniertheit der aus der

Studentenrevolte hervorgegangenen Gruppierungen (vgl. den Essayband Kritische Wälder. Reinb. 1972, sowie das Gorleben-Tagebuch Bericht aus dem Inneren der Unruhe. Ffm. 1979). Nach 1971 war B. als Lektor für den Rowohlt Verlag tätig, begründete dort die Zeitschrift »Literaturmagazin« u. übernahm viele Lehraufträge, zunächst in Bremen u. Essen, später in Austin/Texas u. an der New York University sowie in Buenos Aires, Havanna u. Hongkong. In den 1980er Jahren wandte B. sein literarisches Interesse der Dritten Welt, speziell der Karibik zu, womit er sich als Erzähler von Rang etablierte. 1984 erschien bei Suhrkamp sein von der Kritik hochgelobter Roman Die Hochzeit von Port auf Prince, der in engem Bezug zur Geschichte Haitis u. zur Geschichte seiner Familie steht. In zwei weiteren Romanen, Haiti Chérie (Ffm. 1990) u. Rede des toten Kolumbus am Tag des jüngsten Gerichts (Ffm. 1992) baute er das Debüt zur Romantrilogie aus u. avancierte damit zu einem der tonangebenden Autoren der Bundesrepublik. 1990 hielt B. eine viel beachtete Frankfurter Poetikvorlesung zum Thema Die Nähe und die Ferne – Bausteine zu einer Poetik des kolonialen Blicks (Ffm. 1991). Auf die »Wende« von 1989 reagierte er mit dem Roman Der Burgwart der Wartburg (Ffm. 1994), einer Geschichte über 500 Jahre Verrat u. Spitzelwesen, in deren Zentrum Luther, Goethe u. Brecht stehen. Zgl. reiste B. für die Wochenzeitung »Die Zeit« in Kriegs- u. Krisengebiete der Dritten Welt u. publizierte in rascher Folge literar. Reportagen u. polit. Analysen der Zustände in Bosnien u. Tschetschenien, Ruanda u. Burundi, Liberia, Kuba u. Haiti, die er später in Sammelbänden herausgab oder zu Romanen, Erzählungen und Essays verarbeitete. Zwischen 1996 u. 2006 erscheinen mehr als ein Dutzend Titel im Suhrkamp, Eichborn u. im »Zu Klampen« Verlag sowie bei Volk & Welt, in denen B. das Trauma von Krieg u. Völkermord entfaltet. Auch politisch ist B. bis heute aktiv. Er diskutierte mit Bundeskanzler Schröder öffentlich über dessen Verhältnis zur Literatur u. begleitete Bundespräsident Köhler nach Afrika.

Buchebner

Entscheidend für B.s Stil ist die Form der literar. Groteske, sowie die von Höllerer entlehnte Formel der »Beschreibungsliteratur«. B. schlägt stets den Bogen zwischen Geschichte u. Einzelereignis, zwischen politischer u. privater Situation. Er verzichtet weitgehend auf moral. Schlüsse u. hält die Schwebe zwischen dem Aufzeigen positiver Lebensmöglichkeit u. der permanenten Verfehlung dieser Möglichkeiten. Das Spätwerk neigt zunehmend zur pessimist. Perspektive u. thematisiert das schier auswegslos erscheinende Leiden der Dritten u. Vierten Welt vor dem Hintergrund westlicher Ignoranz u. Verantwortungslosigkeit. B. wurde 1984 durch das frz. Kulturministerium zum »Chevalier des Arts et de la Littérature« ernannt, war 1993 Écrivain en Résidence in La Rochelle u. 2004 in SaintNazaire, 1980 Writer in Residence an der Universität Essen u. 1989 in Austin/Texas 1989. Seit 1972 war B. Mitgl. im VS u. PEN, trat später aus Protest jedoch aus beiden Organisationen aus. 2005 erhielt er den Preis der Frankfurter Anthologie. Weitere Werke: Aus der Neuen Welt. Bln. 1975 (E.). – Die Scheidung v. San Domingo. Bln. 1976. – Zumwalds Beschwerden. Mchn. u. a. 1980 (E.). – Karib. Kaltluft. Ffm. 1985. – Herbst des großen Kommunikators. Ffm. 1986. – Trop. Früchte: Afroamerikan. Impressionen. Ffm. 1993. – An alle: Reden, Ess.s u. Briefe zur Lage der Nation. Ffm. 1994. – Die neue Weltunordnung, Reportagen. Ffm. 1996. – Kain u. Abel in Afrika. Bln. 2001 (R.). – Blut im Schuh, Schlächter u. Voyeure an den Fronten des Weltbürgerkriegs. Ffm. 2001. – Wie Karl May Adolf Hitler traf u. andere wahre Gesch.n. Ffm. 2003 (E.). – Tanzende Schatten oder der Zombie bin ich. Ffm. 2004 (R.). – Standort Bananenrepublik. Springe 2004 (Ess.). – Black Box Afrika: Ein Kontinent driftet ab. Springe 2006. – Tod in Habana. Ffm. 2007 (E.). Literatur: Thomas Reschke u. Michael Töteberg: H. C. B. In: KLG. – Tanja Langer: H. C. B. In: LGL. Reinhard Knodt

Buchebner, Walter, * 9.9.1929 Mürzzuschlag/Steiermark, † 4.9.1964 Wien (Freitod). – Lyriker, Maler u. Zeichner. 1939–1947 besuchte B. das Realgymnasium in Bruck an der Mur, wo er auch seine Matura

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ablegte. Er studierte 1948–1953 Germanistik u. Geografie an der Universität Wien. Während u. nach seinem Studium war er in verschiedenen Berufen tätig. Durch den Einfluss des Schriftstellers u. Referenten für Lyrik beim Österreichischen Rundfunk Rudolf Felmayer erhielt er 1957 eine Anstellung als Leiter einer Wiener Städtischen Bücherei, die er bis zu seinem Tod innehatte. Zahlreiche Reisen führten ihn nach Berlin, Paris, Prag, Rom u. Neapel. In seinen letzten Lebensjahren zeichnete u. malte er in der Kunstrichtung des Informel. B. gehörte ab 1951 dem Kreis des Wiener Lyrikers Hermann Hakel an, der auch erstmals einige Gedichte B.s im »Österreichischen Tagebuch« (Wien 1951) publizierte. 1956–1963 veröffentlichte B. vereinzelt Lyrik in Zeitungen (»Arbeiterzeitung«, »Wiener Zeitung«, »Jüdisches Echo«) u. in den Zeitschriften »Neue Wege« (1951–1962), »Wort in der Zeit« (1963/64). Beeinflusst wurde er in seiner literar. Arbeit durch Baudelaire, zeitgenössische anglo-armerikan. Literatur u. Autoren des frz. Surrealismus, die in der Zeitschrift »Plan«, von Otto Basil herausgegeben, in Österreich nach 1945 vorgestellt wurden. B.s aggressiv-radikale Gedichte verknüpfen Erfahrungen subjektiven Leidens mit wütendem Protest gegen eine zerstörerische, mechanisierte Großstadtwelt. Der prophetisch-messian. Impetus seiner Vernichtungsmonologe verschärfte sich dabei zu einem Individualanarchismus mit sozialkritischem Anspruch. Er verstand seine »hiobische Existenz« (B.) als repräsentativ für die verlorene Generation nach dem Zweiten Weltkrieg u. näherte sich in seinem Engagement sowohl dem Christentum an als auch einer kommunist. Mystifizierung der Arbeitswelt u. dem Existentialismus. Ziel seiner literar. Bemühungen war eine »aktive Poesie«, die das »Empfindungselement« mit »aggressiver Zeitkritik« verbinden wollte u. Außersprachliches intendiert. 1960 erhielt B. einen Förderpreis des Wiener Kunstfonds u. 1962 den Theodor-Körner-Preis. Weitere Werke: Zeit aus Zellulose. Hg. Alois Vogel. Wien/Mchn. 1969. 2. erw. Aufl. mit einem Nachw. v. Daniela Strigl. Graz/Wien/Köln 1994 (L.).

Bucher

257 – Die weiße Wildnis. Gedichte u. Tagebücher. Hg. ders. Graz/Wien/Köln 1974. Literatur: Ursula Rosenbichler: W. B. (1929–64): Dichter einer verlorenen Generation? In: Lit. in Österr. v. 1950–65. Hg. Wendelin Schmidt-Dengler. Mürzzuschlag 1985, S. 8–20. – Daniela Strigl: Zwischen Hölderlin u. Kerouac. W. B.s Via dolorosa zur ›aktiven Poesie‹. In: Einschließung u. Abweisung der Tradition. Österr. Lyrik 1945 bis 1995. Hg. Johann Holzner u. Dragutin Horvat. Zagreb 1996, S. 73–83. Eva Weisz / Red.

Bucher, (Leonhard) Anton von (geadelt 1745), auch: P. F. Fabianus, Sebastian Brandl, * 11.1.1746 München, † 8.1.1817 München; Grabstätte: ebd., Südfriedhof. – Satiriker. B. entstammte einer alteingesessenen Münchner Bürgerfamilie, der Vater war Wappen- u. Diplommaler. Mitschüler auf dem Jesuitengymnasium (1757–1763) waren u. a. Lorenz Westenrieder u. Andreas Zaupser sowie Johann Baptist Strobl, später der wichtigste Verleger der Aufklärung in München, der auch B.s Schriften herausbrachte. Nach der Priesterweihe 1768 wurde B. Kaplan, 1771 Volksschulkommissar, 1772 Rektor der Münchner Volksschulen, 1773 auch der Gymnasien. Er setzte sich für Schulreformen ein, geriet aber in Konflikt mit Altbayerns bedeutendstem Aufklärungspädagogen Heinrich Braun. Dessen Neuhumanismus u. B.s Bemühungen um den Ausbau der bürgerlich-gewerbl. Erziehung, speziell um die Realschule, standen sich unversöhnlich gegenüber. Da sich B. beim Kurfürsten nicht durchsetzen konnte, ließ er sich 1778 in die Pfarrei Engelbrechtsmünster versetzen. 1783 wurde er als außerordentliches Mitgl. der »Belletristischen Klasse« der Akademie zugewählt, nachdem er für seine Antwort auf die Preisfrage der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, »Warum hat Deutschland noch kein Nationaltheater«, den 2. Preis erhalten hatte (der erste ging an Johann Karl Wezel). 1784 zum Inspektor der umliegenden Dekanate u. Geistlicher Rat im Schuldirektorium befördert, wurde der Illuminat B. 1785, nach der Verfolgung des geheimen Ordens, wieder entlassen. Um 1800 unterstützte er

die »Patrioten-Partei«, die eine republikan. Umwälzung in Bayern anstrebte. 1813 kehrte er in die Pfarrei St. Peter in München zurück. B. veröffentlichte überwiegend Satiren – die besten zwischen 1782 u. 1784 (alle anonym oder pseudonym) – u. verfasste später (um 1800) zwei satirische aufklärer. Bildungsromane, die zu Lebzeiten nicht verlegt wurden (Pangraz, Geschichte eines Bürgersohnes u. Eine andere Geschichte von einem Schmidsohne). Satirisch-spielerisch angegriffen werden in den Satiren Erscheinungsformen der Volksfrömmigkeit u. des Barockkatholizismus wie die Karfreitagsprozessionen (Entwurf einer ländlichen Charfreytagsprocession samt einem gar lustigen und geistlichen Vorspiel zur Passionsaction. o. O. [Mchn.] 1782), die Ablassbräuche (Seraphische Jagdlust, das ist, vollständiges Porziunkulabüchlein von P. Martin Cochem. Mchn. 1784), die Kontroverspredigt (in Predigtsatiren) u. die kath. Erbauungsbücher des 17. u. 18. Jh., das Mönchswesen (Auserlesenes Delieberierbüchlein oder geistliches Suchverlohren. o. O. [Mchn.] 1784), die Jesuiten u. Exjesuiten u. die jesuitische ars rhetorica sowie der traditionelle Dorfschulunterricht (in der sogar im Goethe-Kreis gelesenen Kinderlehre auf dem Lande. Mchn. 1780. 41782). Die Satiren B.s zeichnen sich durch die Verbindung einer bildkräftigen, bisweilen derben Sprache, die Dialekt u. Umgangs- sowie Bildungs-, Gelehrten-, Theologen- u. Predigersprache integriert, mit Sinn für Handlungskomik u. einer realitätsnahen Darstellung eigenwilliger Charaktere aus. Originalität, Witz u. Wirkung der Satiren verdanken sich dabei auch der guten Kenntnis kath. Kontroversliteratur u. ihrer gelungenen Ironisierung, Parodierung u. Travestierung, teils in der literar. Form der Kontrafaktur. B., ein literarischer kath. Aufklärer par excellence, konstruiert im souveränen Spiel mit Traditionen u. Formen der kath. oberdt. Literatur des 17. u. 18. Jh. ein kleines »bayerisches Welttheater«. Ausgaben: A. v. B.s sämmtl. Werke. Ges. u. hg. v. Joseph v. Klessing. 6 Bde., Mchn. 1819–22. – Bair. Sinnenlust. Bestehend in welt- u. geistl. Comödien, Exempeln u. Satiren. Mit einem Nachw. hg. v. Reinhard Wittmann. Mchn. 1980.

Bucher Literatur: Heinrich Klüglein: A. v. B. Sein Leben u. die erste Gruppe seiner literarhistorisch wichtigen Schr.en. Diss. Mchn. 1922. – Ludwig Hammermayer: Gesch. der Bayer. Akademie der Wiss.en 1759–1807. Bd. 2: Zwischen Stagnation, Aufschwung u. Illuminatenkrise 1769–86. Mchn. 1983. – Joseph Kiermeier-Debre: Eine Kom. u. auch keine. Theater als Stoff u. Thema des Theaters v. Harsdörffer bis Handke. Stgt. 1989, S. 96–110 u. 298–300. – Goedeke Forts. – Wilhelm Haefs: Aufklärung in Altbayern. Leben, Werk u. Wirkung Lorenz Westenrieders. Neuried 1998, passim. – Ders.: ›Warum hat Deutschland kein Nationaltheater?‹ Der Satiriker A. v. B. u. die Preisfrage der Belletrist. Kl. der Bayer. Akademie der Wiss.en v. 1781/82. In: Buchkulturen. Beiträge zur Gesch. d. Literaturvermittlung. FS Reinhard Wittmann. Hg. Monika Estermann u. a. Wiesb. 2005, S. 283–295. Wilhelm Haefs

258 Ffm. 1977 (R.). – Die Wende. Aarau/Ffm. 1978 (R.). – Noch allerhand zu erledigen. Zürich 1980 (L.). – Schweizer Schriftsteller im Gespräch (zus. mit Georg Ammann). 2 Bde., Basel 1970/71. – Was ist mit Lazarus? Bern 1990 (R.). – Wenn der Zechpreller gewinnt. Zürich 1997 (L.). – Unruhen. Herisau 1998 (R.). – Im Schatten des Campanile. Herisau 2000 (R.). – Weitere Stürme sind angesagt. Nachrichten aus dem Vorland etc. Herisau 2002 (L.). – Den Fröschen zuhören, den toten Vätern. Gedichte u. buchersche Elegien. Zürich 2005. – Gedichte. Frauenfeld 2007. Literatur: Walter Huber: Von der Bedeutung der West- u. Südschweiz in der neueren Deutschschweizer Lit. Eine Untersuchung unter bes. Berücksichtigung v. Walter Matthias Diggelmann, Laure Wyss, W. B. Saint-Blaise 1985. Dominik Müller / Red.

Bucher, Werner, * 19.8.1938 Zürich. – Buchheim, Lothar-Günther, * 6.2.1918 Weimar, † 22.2.2007 Starnberg. – Maler, Verfasser von Lyrik u. Prosa. Fotograf, Verleger, Kunstbuch- u. RoAufgewachsen in Zürich u. Ebikon/Kt. Lumanautor; Sammler, Museumsgründer. zern, war B. in verschiedenen Berufen tätig, bevor er sich dem Journalismus zuwandte (Ressorts: Sport, Kultur, Inland). Seit 1974 ist er Herausgeber der Literaturzeitschrift »Orte« u. Verleger. B. lebt in Oberegg/Kt. Appenzell. Der Titel von B.s erster Gedichtsammlung Nicht solche Ängste, du... (Darmst. 1974) verrät schon den unprätentiösen, freundschaftl. Ton seiner Gedichte. Sie berichten von Menschen, deren Ansichten u. Lebensalltag. Die Nöte der Außenseiter, Ärger über Borniertheit der Erfolgreichen, Freude u. Frustrationen in Liebesbeziehungen werden mit bitterem, traurigem oder selbstiron. Lächeln zur Sprache gebracht. Erst durch das Stakkato der Zeilenbrüche werden die Texte in ihrem prosanahen Duktus auf sichtbare Weise zu Gedichten. Der Übergang zur Prosa bleibt fließend. In behutsamen Schritten nähert sich B. in Ein anderes Leben (Zürich 1981) dem verstorbenen Vater; ihn redet er hier, wieder im Bemühen um Solidarität, mit Du an u. formuliert sanft, aber bestimmt den Protest gegen die Not u. die Demütigungen, welche dieses Leben zeichneten. Weitere Werke: Eigentlich wunderbar, das Leben... Zürich/Stgt. 1976 (L.). – & jetzt das Glas, der Beton. Zürich 1976 (L.). – Tour de Suisse. Aarau/

Der Sohn der Malerin Charlotte Buchheim u. des Staatsbeamten Kurt Böhme wuchs in Chemnitz (1924–1929 u. 1932–1936) u. Rochlitz/Sachsen (1930/31) auf u. trat bereits mit 14 Jahren mit Linolschnitten u. Texten an die Öffentlichkeit (»Leipziger Illustrierte«, 1933). 1935 erschien über ihn das Bändchen Lothar-Günther Buchheim. Ein ganz junger Künstler (Chemnitz). Mit 17 Jahren erhielt B. einen öffentl. Auftrag der Stadt Chemnitz. Ab 1936 studierte er an der Dresdener Kunstakademie, 1939/40 an der Kunstakademie in München bei Hermann Kaspar. 1938 fuhr er mit einem Einmannfaltboot die Donau hinunter von Passau bis zum Schwarzen Meer. Ertrag dieser Reise war sein literarischer Erstling Tage und Nächte steigen aus dem Strom (Bln. 1941. Zahlreiche Neuaufl.n, zuletzt Mchn. 2001). Nachdem B. mehreren Gestellungsbefehlen entgehen konnte, meldete er sich 1940 bei der Kriegsmarine, wurde Kriegsberichter, Maler u. Zeichner u. als solcher in der Bretagne einer Unterseebootflottille zugeteilt. Während des Krieges entstanden zahlreiche Aquarelle, Zeichnungen, Fotografien u. Manuskripte. 1943 erschien die von Peter Suhrkamp angeregte Bild-TextReportage Jäger im Weltmeer mit B.s Fotogra-

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fien u. Texten (Bln.). 1945 gründete B. die kunsthandwerkl. Werkstätten in Feldafing. Ende der 1940er Jahre malte er Aquarelle u. Pastelle der Landschaft um Feldafing. Erste Ehe mit Gwen Militon. Zwischen 1949 u. 1951 unterhielt B. eine Galerie in Frankfurt/ M. Unter anderem zeigte er Ausstellungen mit Arbeiten von Paul Klee, Georges Braque sowie von Pablo Picasso u. schrieb Texte für die Kataloge, die ersten Publikationen des 1951 in Frankfurt gegründeten Buchheim Verlags. Ab 1949 begann B. seine Sammlung dt. Expressionisten zusammenzutragen (ursprünglich gedacht als Vorlagensammlung für geplante Kunstbücher), die heute zu den bedeutendsten Privatsammlungen auf diesem Gebiet gehört u. seit Mai 2001 im Buchheim-Museum in Bernried am Starnberger See zu sehen ist. 1951 kehrte B. nach Feldafing zurück, wo er seit 1939 eine Bleibe hatte. Hier entstanden in der Folgezeit kunsthistor. Publikationen im eigenen Verlag. Diese gelten als Standardwerke zum dt. Expressionismus: Die Künstlergemeinschaft Brücke (1956); Der Blaue Reiter und die Neue Künstler Vereinigung München (1958); Graphik des deutschen Expressionismus (1959); Max Beckmann (1959); Otto Mueller (1963). Darüber hinaus gab der heute noch existierende Verlag eine Vielzahl weiterer Kunstbücher heraus, aber auch Humor- u. Kinderbücher sowie Kunstpostkarten u. Kalender. Dazu veröffentlichte B. Kunstbücher in anderen Verlagen: Knaurs Lexikon der modernen Kunst (Hg. Mchn. 1955, mehrere Neuaufl.n; Texte zu Fernand Léger, Marc Chagall, Raoul Dufy); Pablo Picasso. Eine Bildbiographie (Kindler Verlag 1958). Ab 1955 zweite Ehe mit Diethild Wickboldt. Ab 1965 unternahm B. Malreisen nach Frankreich u. Italien, 1970 nach Spanien. Auch in späteren Jahren führten ihn ausgedehnte Malreisen wiederholt ins Ausland, u. a. nach New York, San Francisco u. in die Südsee sowie nach Mexiko. 1968 erschienen B.s die Pop-Art persiflierende PiPaPop-Poster. Seit Ende der 1960er Jahre arbeitete B. an einem Manuskript über U-Boot-Unternehmungen. 1971/72 entstand die Endfassung des Romans Das Boot, der 1973 in München erschien, inzwischen zahlreiche Auflagen er-

Buchheim

lebte, in rd. 25 Sprachen übersetzt u. 1981 von Wolfgang Petersen verfilmt wurde. Eine Reihe von Foto-Publikationen schloss sich an: U-Boot-Krieg (Mchn. 1976); Staatsgala (Mchn. 1977); Mein Paris (Mchn. 1977. 1991); Staatszirkus – mit der Queen durch Deutschland (Mchn. 1978); Die Tropen von Feldafing (Mchn. 1978. 1988). 1979–1982 entstand neben mehreren Büchern wieder Malerei. 1995 erschien der Roman Die Festung (Hbg. Zuletzt Mchn. 2005), 2000 folgte der Roman Der Abschied (Mchn. 22002). Zahlreiche internat. Ausstellungen der Expressionisten-Sammlung folgten, u. a. in Madrid, New York, Boston, Minneapolis, Chicago, Tel Aviv, Helsinki, Humlebæk, Philadelphia. Für sein Werk wurden B. zahlreiche Ehrungen zuteil: 1983 wurde ihm durch das Land NRW eine Ehrenprofessur verliehen, 1985 wurde er zum Dr. h. c. der Universität Duisburg ernannt. 1986 erhielt er das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, 1988 den Bayerischen Verdienstorden, 1993 den ErnstHofrichter-Preis München, 1996 das Große Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, 1998 den Maximiliansorden, 1999 den Max-Pechstein-Preis der Stadt Zwickau u. 2002 den Ehrenring des Landreises Weilheim-Schongau. 1992 machte ihn die Stadt Chemnitz zu ihrem Ehrenbürger. B.s vielschichtiges literar. Œuvre ist Teil eines außergewöhnlich facettenreichen Lebenswerks. Die von ihm bevorzugte Form ist die Reportage. Dabei bildet subjektiv Erlebtes die Grundlage seiner Werke. B. analysiert nicht, er beschreibt. Sichtweise u. Sprache werden vom Auge des Malers geprägt, aber auch von dem des Sammlers, den sprachlicher Reichtum u. Differenzierung ebenso faszinieren wie die soziale u. zeitgeschichtl. Dimension von Sprache. B.s zentrales Werk Das Boot, das bei seinem Erscheinen ungewöhnlich heftig u. kontrovers diskutiert wurde, wird in einigen Sequenzen, auch im deskriptiven Duktus, durch Jäger im Weltmeer vorbereitet. Mit dem Boot u. seiner Melange von Literatur, Geschichte u. authentischem Erleben hat B. ein »allgemeingültiges Symbol vieler Erfahrungen vieler Menschen« ge-

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schaffen, das seit den 1970er Jahren die Vergangenheitsbewältigung auf breiter Basis in Gang setzte u. als »allgemeingültige Aussage zum Phänomen des Krieges, besser: zum Phänomen der Menschen, der Massen im Krieg« (Salewski) wirkt. Weitere Werke: Der Luxusliner: ein Logbuch. Mchn. 1982. – Das Museum in den Wolken: zum Fall Duisburg. Mchn. u. a. 1986. – Zu Tode gesiegt. Der Untergang der U-Boote. Mchn. 1988. 21998 u. ö. Literatur: Ingeborg Drewitz: Das Boot. L.-G. B.s See-Erfahrungen. In: Dies.: Die zerstörte Kontinuität. Wien 1981, S. 182–184. – Michael Salewski: Von der Wirklichkeit des Krieges: Analysen u. Kontroversen zu B.s ›Das Boot‹. Mchn. 1985. – L.G. B. Kaleidoskop. FS zum 70. Geburtstag. Mit Illustrationen v. Max Klinger. Mchn. 1988. – Mirko Wittwar: Das Bild vom Krieg. Zu den Romanen ›Das Boot‹ u. ›Die Festung‹ v. L.-G. B. Univ. Diss. Bln. 2002. Clelia Segieth

Buchka, Johann Simon, * 27.4.1705 Arzberg/Fichtelgebirge, † 25.3.1752 Hof. – Liederdichter. Nach seinem Studium der Theologie in Jena u. Leipzig (Immatrikulation am 5.10.1726) wurde B. Lehrer am Pädagogium zu Kloster Bergen u. erhielt am 21.5.1731 für seine Ode Das Lob der Regentinnen den Preis der Poesie der Deutschen Gesellschaft zu Leipzig, deren Mitgl. er wurde. 1734 erhielt er die Stelle eines Konrektors in Hof, 1739 wurde er hier Subdiakon u. Hilfsprediger, 1745 Syndiakonus u. Freitagsprediger. B. schrieb anlässlich der Magister-Promotion des Johann Friedrich Wilhelm von Jerusalem ein satirisches Gedicht in Alexandrinern (Recht so, Geehrter Freund! Laß dich Magister nennen), das dann u. d. T. Muffel, der neue Heilige [...] erschien (o. O. 1731. Basel 21737). 1737 revozierte B. in seinen Evangelischen BUSS-Thränen über die Sünden seiner Jugend, Und besonders Über eine Schrift, Die man Muffel der Neue Heilige betitult. Mit Poetischer Feder entworffen, von dem Verfasser des sogenannten Muffels, oder besser M. Vufle (Lpz. u. Bayreuth). Die Lieder erschienen postum in der von Johann Michael Purrucker edierten Sammlung Auserlesene Gedichte [...] (Hof/Bayreuth 1755). Zwei der hierin enthaltenen Lieder sind

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geistl. Inhalts, von denen eines, Steh, armer Mensch, besinne dich, in mehrere Gesangbücher aufgenommen wurde. Literatur: Koch 4, S. 467 f. – Goedeke 3, S. 356 (§ 198, Nr. 39). – DBA 156,263–281. – Detlef Döring: Die Gesch. der Dt. Gesellsch. in Leipzig. Von der Gründung bis in die ersten Jahre des Seniorats Johann Christoph Gottscheds. Tüb. 2002. Heimo Reinitzer / Red.

Buchner, Augustus, * 2.11.1591 Dresden, † 12.2.1661 Pollensdorf bei Wittenberg. – Akademischer Lehrer u. Dichtungstheoretiker. Der Sohn eines sächs. Bau- u. Oberzeugmeisters besuchte die Schule in Dresden sowie das Landesgymnasium zu Pforta. Während des Studiums in Wittenberg (Magisterwürde 1616) lernte er auch den klass. Philologen u. nlat. Dichter Friedrich Taubmann kennen, in dessen Person sich die in Wittenberg bis zur Epoche Melanchthons zurückreichende Tradition humanistischer Verskunst verkörperte. B. führte diese Linie weiter, übertrug jedoch den ästhet. Anspruch der lat. Eleganz nunmehr auf die muttersprachl. Dichtung. Noch als junger Magister (1616) wurde B. in Wittenberg zum Professor für Poesie, 1632 auch zum Professor für Rhetorik ernannt; bald gehörte er zu den maßgebl. Autoritäten der jungen dt. Kunstpoesie. B. wirkte weniger durch seine verstreuten lat. u. dt. Gelegenheitsgedichte als durch die Praxis seines Poetikunterrichts. Neben der Exegese der antiken Theoretiker (z.B. der Ars poetica des Horaz) trug er hier – v. a. im Privatunterricht – das im Anschluss an Martin Opitz entwickelte Regelsystem der zeitgenöss. Lyrik vor. Zu seinem engeren u. weiteren Schülerkreis zählte eine Reihe wichtiger Autoren, u. a. Simon Dach, Paul Fleming, Johann Klaj, Michael Schirmer, Andreas Tscherning, Philipp von Zesen. Mit dem Beinamen »Der Genossene« gehörte B. seit 1641 auch der Fruchtbringenden Gesellschaft an. B.s Poetik zirkulierte seit 1638 in handschriftl. Form als Vorlesungsnachschrift. Erst nach seinem Tod erschien zunächst ein knapper Abriss (Kurzer Weg-Weiser zur Deut-

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schen Tichtkunst. Hg. Georg Göze. Jena 1663. Figur des »discreto« verkörperten Kunst der Neudr. Lpz. 1977), bald darauf eine von B.s Konversation auseinander. Von Zesen ins Schwiegersohn Otto Prätorius herausgegebe- Deutsche übersetzt wurde B.s fiktives Pläne, verbesserte u. ergänzte Fassung (Anleitung doyer für den hingerichteten Karl I. von zur Deutschen Poeterey. Wittenb. 1665. Neudr. England (Quid Carolus I. [...] loqui potuerit, lata Tüb. 1966). B. benutzte das Gliederungs- in se ferali sententia. o. O. u. J. [1648?]). In schema der rhetor. Tradition (»inventio«, personengeschichtlicher, stiltheoret. u. lite»dispositio«, »elocutio«), verwies in Einzel- raturgeschichtl. Hinsicht gleichermaßen beheiten auch immer wieder auf Julius Cäsar achtenswert ist B.s postum gesammelte KorScaliger, die klass. Autorität der europ. Spät- respondenz (Epistolae. Dresden 1679 u. ö.). renaissance (Poetices Libri septem. 1561). Vor Weitere Werke: Dissertationum Academicaallem unter wirkungspsycholog. Gesichts- rum [...]. Vol. I-II. Wittenb. 1650. – De commutata punkten wollte B. die stilist. Freiheit des ratione dicendi libri duo. Wittenb. 1664. – Poemata Dichters gegenüber den diskursiven Äuße- Selectiora. Lpz. 1694. Ausgaben: Briefe der Fruchtbringenden Gesellrungsformen des Prosaschrifttums u. gegenüber dem Erkenntnisanspruch des Philoso- sch. u. Beilagen: Die Zeit Fürst Ludwigs v. Anhaltphen verteidigen: »[...] da hingegen der Poet Köthen. Hg. Klaus Conermann. 1. Bd.: 1617–26, ausstreicht / sich in die Höhe schwingt / die Tüb. 1992. – Internet-Ed. der lat. Gedichte u. der Briefe in: CAMENA. gemeine Art zu reden unter sich trit / und Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. alles höher / kühner / verblümter und fröliBd. 2, S. 855–910. – Weitere Titel: Wilhelm Buchner: cher setzt / daß was er vorbringt neu / ungeA. B. Sein Leben u. Wirken. Hann. 1863. – Hans wohnt / mit einer sonderbahren Majestät Heinrich Borcherdt: A. B. u. seine Bedeutung für vermischt / und mehr einem Göttlichen die dt. Lit. des 17. Jh. Mchn. 1919. – Joachim Dyck: Ausspruch oder Orakel [...] als einer Men- Philosoph, Historiker, Orator u. Poet. In: Arcadia 4 schen-Stimme gleich scheine.« Formge- (1969), S. 1–15. – Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenschichtlich erweiterte er die Spannweite der republik u. Fürstenstaat. Tüb. 1982. – Judith P. dt. Lyrik, indem er, über Opitz hinausge- Aikin: A. B.s ›Bußfertige Magdalena‹ (1636). In: hend, auch die Verwendung des Daktylus u. Daphnis 22 (1993), S. 1–26. – Dietmar Schubert: des Anapäst für einen variablen Bau des Ver- ›Der Genossene‹: A. B. u. die ›Fruchtbringende ses empfahl u. damit bes. bei Zesen u. den Gesellsch.‹. In: Gelehrte Gesellsch.en im mitteldt. Raum (1650–1820). Tl. 3, Stgt. 2002, S. 23–31. – Nürnberger Dichtern zur Vorliebe für polyConermann FG. – Jaumann Hdb. metr. Verssysteme (Ode, Madrigal) beitrug. Wilhelm Kühlmann Für den befreundeten Komponisten Johann Heinrich Schütz schrieb B. den Text zur Ballettoper Von dem Orpheo und der Eurydice Bucholtz, Buch(h)ol(t)z, Andreas Heinrich (aufgef. am Dresdener Hof, veröffentlicht von (oder A. Henricus, A. Henrich), * 25.11. Hoffmann von Fallersleben in: Weimar. Jb. 2, 1607 Schöningen bei Braunschweig, 1855, S. 13–39), die einen wichtigen Platz in † 20.5.1671 Braunschweig. – Evangelider Frühgeschichte des dt. Musiktheaters scher Theologe; Verfasser von Heldenroeinnimmt. Als Gelehrter machte sich B. einen manen, geistlichen Gedichten, ErbauNamen durch die Edition antiker Autoren ungsschriften u. Übersetzungen. (Plautus, Plinius u. a.) sowie durch seine akadem. Reden, die postum in mehreren, jeweils B.s Vorfahren gehörten seit Generationen zur erweiterten Auflagen gesammelt erschienen bürgerl. Oberschicht. Sein Vater war als (u. a. Orationum Academicarum Volumina Tria. Geistlicher in Schöningen tätig, dann in Ffm./Lpz. 1705): panegyr. Deklamationen, Greene/Leine u. schließlich als SuperintenNachrufe auf Gelehrte, darunter auch zahl- dent in Hameln. reiche Universitätskollegen, nicht zuletzt Bis zu seinem elften Lebensjahr erzogen Festansprachen u. wiss. Redetraktate über li- Privatlehrer B. gemeinsam mit seinem Zwilterar. u. kulturelle Themen. In De prudentia lingsbruder Joachim. Selbst nach der Eintemporum z.B. setzte B. sich mit der von der schulung in die Hamelner Stadtschule wurde

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die Privaterziehung fortgesetzt. Nach dem Tod des Vaters (1622) zogen die Knaben zunächst nach Brandenburg/Havel (bis 1624), wo die verwitwete Großmutter Praetorius, beraten vom Superintendenten der Stadt, ihre Enkel betreute. Neben dem Besuch der öffentl. Schule wurde der Privatunterricht fortgesetzt. Nach dem Tod der Großmutter wurde B. für vier Monate in Magdeburg eingeschult u. besuchte dann das angesehene Herforder Gymnasium (bis 1627). Nach dreijährigem Studium der Philosophie u. Theologie in Wittenberg promovierte B. im Herbst 1630 zum Magister. Im Jan. 1631 unterbrach er wegen finanzieller Schwierigkeiten seinen Universitätsaufenthalt u. widmete sich in Hameln privaten Studien. Von 1632 an war er Konrektor an der Hamelner Stadtschule, entschloss sich aber im Herbst 1634, das Studium der Theologie in Rostock fortzusetzen, wo er gleichzeitig einen Lehrauftrag an der Universität erhielt. In dieser Zeit arbeitete er an seinem philosoph. Hauptwerk Philosophiae practicae pars communis sive ethica (Rinteln 1641). Trotz Aussicht auf Beförderung verließ B. Rostock im Frühjahr 1636 u. übernahm im folgenden Jahr die Leitung des Lemgoer Gymnasiums. Aus Lemgo durch das Kriegsgeschehen vertrieben, ließ er sich 1639 in Rinteln/Weser nieder, wo sich ihm an der Universität Aufstiegsmöglichkeiten boten. 1641 wurde er Professor für Moralphilosophie u. Dichtung, 1645 a. o. Prof. der Theologie. Am 14.11.1646 heiratete er die Hannoveranische Patriziertochter Margarete von Windtheimb; im folgenden Jahr zog er nach Braunschweig, wo er bis an sein Lebensende zunächst als Koadjutor der Kirchen u. seit 1663 als Superintendent der Kirchen u. Schulen tätig war. Relativ spät, im ersten Jahr seines Rintelner Aufenthalts, trat B. erstmals mit dt. Publikationen hervor: den kommentierten HorazÜbersetzungen Poetereykunst sowie Erstes verdeutschtes Odenbuch des [...] Q. Horatius Flaccus (beide Rinteln 1639). Unter den Vertretern der opitzianischen Kunstdichtung scheint B. der Erste gewesen zu sein, der größere Teile des röm. Dichters verdeutschte. Horaz-Übersetzungen ins Französische gehen bis 1540

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zurück, ins Italienische u. Spanische bis in die zweite Hälfte des 16. Jh. Im Vorwort zum Odenbuch vertrat B. mit Nachdruck einen kulturpatriot. Standpunkt im Sinne Opitz’ u. der Fruchtbringenden Gesellschaft: Er plädierte für Sprachreinheit u. versuchte, die alten Vorurteile gegen das Deutsche als Literatursprache abzubauen. Seine eigene poet. Tätigkeit beschränkte sich fast ganz auf religiöse Dichtungen, die von Weihnachtspoesien (Andächtige Hertzens Brunst und poetische Weyhnacht Freude. Braunschw. 1639) u. Psalmenübersetzungen (Rinteln 1640) bis zu einer versifizierten Kirchengeschichte (Rinteln 1642) reichten. Gesammelt u. z.T. überarbeitet legte er sie als Geistliche teutsche Poëmata (Gött. 1651) vor. Als Kirchenlieddichter war B. noch im 18. Jh. bekannt. Umfangreiche Erbauungsschriften (Christliche gottselige Hauß-Andachten. Braunschw. 1663. Häußliche Sabbaths-Andachten. Braunschw. 1665) gingen aus seiner Tätigkeit als Seelsorger hervor. Diese in bewusst einfacher Sprache verfassten Werke richteten sich v. a. an Kinder u. Gesinde u. waren, wie B. selbst hervorhebt, als Ergänzung zu Johann Arndts Schriften konzipiert. Anonym erschienen die beiden Romane, denen B. seinen beträchtl. Nachruhm verdankt: Christlicher teutscher Herkules u. Herkuliskus. Ihre Entstehung fällt nach B.’ eigenen Angaben in die Jahre seiner Rintelner Lehrtätigkeit, in eine Zeit, als der dt. Romanleser noch ganz auf Werke ausländischer Autoren angewiesen war. Selbst 20 Jahre später, zur Zeit der ersten Drucklegung des Herkules (Des christlichen teutschen Groß-Fürsten Herkules und der böhmischen königlichen Fräulein Valiska Wunder-Geschichte. 2 Tle., Braunschw. 1659/ 60), gehörte dieses Werk zu den wenigen eigenständigen dt. Romanen. Ihr Autor sah sein Erzählwerk in der Tradition von Barclays Argenis, Sidneys Arcadia u. Desmarets Ariana, bei denen er freilich ein streng christliches Ethos vermisste. Mit sicherem Spürsinn für den Geschmack seiner Leserschaft wählte B. ein Handlungsschema, das sich in ausländ. Romanen bewährt hatte u. das er mit Geschick seinen literar. Absichten dienstbar machte. Im Herku-

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les wie im späteren Herkuliskus (Der christlichen differenzierteren Anton Ulrich von Braunköniglichen Fürsten Herkuliskus und Herkuladisla schweig oder dem viel bewunderten Lohenauch ihrer Hochfürstlichen Gesellschafft anmuhtige stein war ein derartiger Erfolg beschieden. Wunder-Geschichte. Braunschw. 1665. 1676. Ausgaben: Fischer-Tümpel 2, S. 360–372. – Des Ffm./Lpz. 1713) dient der abenteuerl. Zug in [...] teutschen Herkules [...] Wunder-Gesch. Neudr. den Orient dazu, die Titelhelden als uner- hg. u. eingel. v. Ulrich Maché. Bern/Ffm. schrockene Streiter für Tugend, Recht u. 1973–1979. – Herkuliskus [...] Wundergesch. ritterl. Ehre auszuweisen. Ihre glorreichen Neudr. hg. u. eingel. v. U. Maché. Bern/Ffm. 1982. Literatur: Monika Hueck: GelegenheitsgeSiege auf Turnieren u. Schlachtfeldern tragen den dt. Namen ruhmreich in die fernsten dichte auf Herzog August v. Braunschweig-LüneLänder u. zielen bewusst darauf, das im burg u. seine Familie (1579–1666). Ein bibliogr. Verz. der Drucke u. Hss. in der HAB Wolfenbüttel. Dreißigjährigen Krieg geschwächte NatioWolfenb. 1982. – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, nalgefühl des dt. Lesers zu stärken. Gleich- S. 911–940 (Bibliogr.). – Weitere Titel: Leo Cholezeitig sieht B. seine Titelhelden, die sich vius: Die bedeutendsten Romane des 17. Jh. Lpz. durch erstaunl. Wissen, künstler. Fähigkeiten 1864. Neudr. Darmst. 1965. – Friedrich Stöffler: u. vorbildliches christl. Verhalten auszeich- Die Romane des A. H. B. Marburg 1918. – Frels, nen, als Gegenfiguren zu den moralisch S. 40. – Willi Flemming: A. H. B. In: NDB. – John fragwürdigen Protagonisten der immer noch Kenneth Sowden: The ›Herkules‹ novel of A. H. B. beliebten Amadis-Romane. Entwicklungsge- Diss. Leicester 1962. – Ezra Frederick Gearhart: schichtlich steht sein Erzählwerk im Über- The treatment of the Jew in works of B., Grimgang vom Ritterroman des 16. Jh. zum »hö- melshausen, and Happel. Diss. Bloomingten (Indiana) 1965. – Ulrich Maché: Die Überwindung des fisch-historischen« Roman des Barock. Amadisromans durch A. H. B. In: ZfdPh (1966), Die literar. Wirkung der Romane war S. 542–559. – Ingeborg Springer-Strand: Barocküberraschend u. nachhaltig. Symptomatisch roman u. Erbauungslit. Studien zum Herkulesrofür die künftige Rezeption ist bereits Justus man v. A. H. B. Bern/Ffm. 1975. – Dies.: Der Georg Schottelius’ frühe Würdigung des Übersetzer als ›Außleger‹. Zu A. H. B.’ ÜbertraHerkules in Ausführliche Arbeit von der teutschen gung der Oden des Horaz. In: MLN 92 (1977), Haupt Sprache (Braunschw. 1663. Nachdr. hg. S. 458–468. – Heiduk/Neumeister, S. 19, 149, v. Wolfgang Hecht. Tüb. 1967. 1995). Trotz 304 f. – Giles R. Hoyt: The Baroque ›Adels-Schule‹: seines erhebl. Umfangs erlebte B.’ Herkules Two Perspectives. In: Monatshefte (1984), vier weitere Auflagen (Braunschw. 1666. S. 192–200. – U. Maché: A. H. B. In: German Baroque Writers, 1661–1730. Hg. James Hardin. De1676. 1693. 1728) u. später zwei Bearbeituntroit 1996, S. 73–83. – Estermann/Bürger 2, S. 178 gen durch anonyme Autoren. Die eine er- (Verz. gedr. Briefe). – Martin Disselkamp: Barockschien im Zeitalter der Aufklärung (Braun- heroismus. Konzeptionen ›politischer‹ Größe in schw. 1744) u. weist eine drast. Kürzung der Lit. u. Traktatistik des 17. Jh. Tüb. 2002. – Andreas christlich-erbaul. Passagen auf; die andere, Lindner: A. H. B. Herkules-Roman 1659/60. Zur stark modernisiert u. sichtbar vom Geist des Synthese v. Erbauungs- u. zeitgenöss. UnterhalSturm u. Drang geprägt, erschien 1781–1783 tungslit. im Barock. Bln. 2006. in Leipzig u. d. T. Die teutschen Fürsten aus dem Ulrich Maché / Red. dritten Jahrhundert. Ein Original Ritter-Roman. Goethes »Schöne Seele«, die sich im Sechsten Buck, Mich(a)el (Richard), * 26.9.1832 ErBuch des Wilhelm Meister v. a. von den austingen am Bussen, † 15.9.1888 Ehingen/ führl. Gebeten des Teutschen Herkules rühren Donau. – Dialektdichter u. Kulturhistou. inspirieren ließ, hat das Werk offensichtriker. lich in seiner ursprüngl. Fassung gelesen. Die Wirkung von B.’ Romanen beruhte Der aus altem schwäb. Bauerngeschlecht weniger auf ihren künstler. Qualitäten als auf stammende B. zeigte schon als Gymnasiast der Anziehung, die Nationalstolz u. christl. Interesse an der Germanistik u. verkehrte Erbauung auf den Leser des 17. u. 18. Jh. während des Medizinstudiums (in München ausübten. Weder dem sprachlich überlegenen u. Tübingen) mit Scheffel u. Uhland, später Philipp von Zesen noch dem psychologisch mit Friedrich Theodor Vischer. Als Arzt war

Budapester Liederhandschrift

er in Aulendorf u. Ehingen tätig. In den Nebenstunden widmete er sich der Sammlung von volkskundl. Dokumenten (Volksthümliches aus Schwaben. Sagen, Märchen, Volksglauben. Zus. mit Anton Birlinger. Freib. i. Br. 1861 ff.) u. der Namenkunde, als deren Pionier er gilt. Einzelstudien folgte 1880 Das Oberdeutsche Flurnamenbuch (Stgt.), ein damals bahnbrechendes Werk. Als Sprachforscher wandte B. sich gegen die zeitgenöss. Vorliebe für Ableitungen aus dem Keltischen. In seine Studien bezog er den Alpenraum ein, wobei er bes. ladin. Dialekte erforschte. Er publizierte in den meisten germanistischen, romanistischen u. histor. Zeitschriften seiner Zeit. Sein kulturgeschichtl. Hauptwerk ist die kulturgeografische Monografie Auf dem Bussen (Stgt. 1886). In seiner Dialektdichtung (Bagenga. Hg. Friedrich Pressel. Stgt. 1892, mit autobiogr. Einl.) zeigte er sich als Kenner u. souveräner Sprecher der schwäb. Mundart, der sich von den »Salonschwaben« abhebt u. an Bedeutung Sebastian Sailer gleichkommt. Neuausgabe: Bagenga’. Sämtl. Dialektdichtungen. Hg. u. komm. v. Helmuth Mojem. Konstanz 2005. Literatur: Heinz-Eugen Schramm: Die Mundartgedichte des Oberschwaben M. B. Diss. Tüb. 1952. – Dr. M. B. E. Biogr. Zusammengestellt v. Walter Bleiche. Ertingen 1982. Christian Schwarz / Red.

Budapester Liederhandschrift, um 1300. – Bebilderte Minnesängersammlung bairisch-österreichischer Provenienz. Von der B. L. sind erst 1985 in Budapest drei Blätter ans Licht gekommen. In ihrer Anlage ähnelt sie verblüffend der Großen Heidelberger u. bes. der Weingartner Liederhandschrift (beide etwas jünger, alemannisch): Sie bietet Liedtexte ohne Melodien, geordnet nach Autoren; jedes Autorkorpus wird durch den Namen mit der Standesbezeichnung u. ein ganzseitiges Bild mit Wappen u. Helmzier in der oberen Zone eingeleitet. In der reichen Trobador- u. Trouvère-Überlieferung findet sich zu diesem Typ der Minnesängersammlung kein Pendant.

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Die drei erhaltenen Bilder (unvollendet) stellen den Kürenberger u. den »vogt von Rotenburch«, d.i. Rudolf von Rotenburg, mit ihrer Dame sowie den Burggrafen von Regensburg auf dem Ausritt zur Falkenjagd dar. Die Strophen sind alle auch anderwärts bezeugt, z.T. allerdings in abweichender Fassung u. unter anderen Namen (Burggraf von Rietenburg; Reinmar, Friedrich von Hausen). Ob die B. L. ausschließlich Minnelieder aufgenommen u. adlige Sänger bevorzugt hat, muss offen bleiben. Trotz ihres fragmentar. Zustands erlaubt die B. L. neue Einblicke in die Frühzeit der umfassenderen Kodifizierung des Minnesangs. Die wichtigsten Minnesängerhandschriften stammen alle aus dem Südwesten; u. dort ist wohl auch jene verlorene Sammlung entstanden, auf die – über Zwischenglieder – die Große Heidelberger u. die Weingartner Handschrift zurückgehen. Die B. L. macht nun die Existenz einer noch älteren Vorstufe (um oder vor 1250) wahrscheinlich. Möglicherweise ist nicht nur die B. L., sondern schon die erste bebilderte Minnesängersammlung im bairisch-österr. Sprachgebiet zu lokalisieren, aus dem man bisher nur Œuvre- u. Streuüberlieferungen kannte (Neidhart, Ulrich von Liechtenstein; Carmina Burana). Ausgaben: Faksimileausgabe: Codex Manesse. Hg. Elmar Mittler u. Wilfried Werner. Heidelb. 1988, S. 551–556. – Transkription: Vizkelety, 1988 (s. Lit.). – Transkription: András Vizkelety: Das Budapester Fragment. In: Minnesangs Frühling, Bd. 1 (381988), S. 460–468 (mit Abb.). Literatur: András Vizkelety u. Karl-A. Wirth: Funde zum Minnesang. Bl. aus einer bebilderten Liederhandschrift. In: PBB 107 (1985), S. 366–375 (mit Abb.). – Ellen J. Beer: Die Bilderzyklen mhd. Hss. In: Regensburger Buchmalerei (Ausstellungskat.). Mchn. 1987, S. 69–78, hier S. 73 f., 77 f. (dazu Gerhard Schmidt in: Kunstchronik 40, 1987, S. 508). – Lothar Voetz: Überlieferungsformen mhd. Lyrik. In: Codex Manesse, a. a. O., S. 224–274, hier S. 246–249. – Lieselotte E. Saurma-Jeltsch: Das stilist. Umfeld der Miniaturen. Ebd., S. 302–349, hier S. 338 f. – A. Vizkelety: Die B. L. Der Text. In: PBB 110 (1988), S. 387–407 (mit Abb.). – Johannes Janota: ›Der vogt von Rotenburch‹ im B. Fragment. In: ABäG 38/39 (1994), S. 213–222. – Franz Josef Worstbrock: Der Über-

265 lieferungsrang der B. Minnesang-Fragmente. In: Wolfram-Studien 15 (1998), S. 114–142. – Albrecht Hausmann: Reinmar der Alte als Autor. Bern 1999, bes. S. 323–338. – Anton Schwob u. A. Vizkelety (Hg.): Entstehung u. Typen mittelalterl. Lyrikhss. Bern 2001. – Gisela Kornrumpf: B. L. In: VL (Nachträge u. Korrekturen). – Dies.: Vom Codex Manesse zur Kolmarer Liederhs. Tüb. 2007, hier S. 32–53. Gisela Kornrumpf / Red.

Buddensieg 1926. – Max Wundt: Die dt. Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. Tüb. 1945, S. 63–75. – Eberhard H. Pältz: J. F. B. In: TRE. – Friederike Nüssel: Bund u. Versöhnung. Zur Begründung der Dogmatik bei J. F. B. Gött. 1996. – Hinrich Rüping in: Ueberweg, Bd. 4/2, S. 1204–1209. Michael Albrecht

Buddensieg, Hermann, * 3.6.1893 Eisenach, † 12.12.1976 Heidelberg. – ÜberBudde, Buddeus, Johann Franz, * 25.6.1667 setzer, Essayist, Lyriker. Anklam, † 19.11.1729 Gotha. – Philosoph Der Sohn eines Drogeriebesitzers studierte u. Theologe. Nachdem er Philosophie u. Theologie in Wittenberg studiert hatte, lehrte B. zunächst in Jena. 1693 wurde er als Professor der Moralphilosophie an die neu zu gründende Universität Halle berufen. In den Jahren 1697–1703 entstand hier das dreibändige philosoph. System. Noch in Halle erwarb B. den theolog. Doktorgrad. 1705 wurde er als Professor der Theologie nach Jena berufen. Bereits das philosoph. Werk ist von einem christl. Menschenbild geprägt: Der verdorbene Wille ist das Haupthindernis, das der Glückseligkeit des Menschen im Wege steht. Hier u. auch sonst steht B. unter dem Einfluss von Christian Thomasius. Von ihm stammt auch das Bekenntnis zum eklekt. Philosophieren, verstanden als selbständige, nicht von Autoritäten abhängige Untersuchung der Sachen selbst. Auch in der Theologie gibt der Wille den Ausschlag, nicht der Intellekt. Nicht ihm verdankt sich das religiöse Erkennen, sondern – wie im Pietismus – der Wiedergeburt als Christ. Trotz all ihrer Gelehrsamkeit kann B.s Philosophie u. Theologie damit als frühaufklärerisch eingeordnet werden. Werke: Elementa Philosophiae Practicae. Halle 1697 u. ö. – Elementa Philosophiae Instrumentalis. Halle 1703 u. ö. – Elementa Philosophiae Theoreticae. Halle 1703 u. ö. – Institutiones theologiae moralis. Lpz. 1711. – Theses Theologicae De Atheismo et Superstitione. Jena 1717. – Institutiones theologiae dogmaticae. Lpz. 1723. – Isagoge historico-theologica. Lpz. 1727. – Compendium historiae philosophicae. Halle 1731. Werkausgabe: Ges. Werke. Hildesh. 1999 ff. Literatur: Arnold F. Stolzenburg: Die Theologie des J. F. B. u. des Christoph Matthäus Pfaff. Bln.

vor u. nach dem Ersten Weltkrieg in München, Jena u. Heidelberg Rechts- u. Staatswissenschaft u. promovierte 1920 mit der ersten sozialgeschichtl. Monografie über den »Handwerksburschen-Kommunisten« Wilhelm Weitling [...] (2., umgearbeitete Ausg. Heidelb. 1924). Nach Abschluss seines Studiums widmete er sich histor. Studien über Goethe, den dt. Idealismus, Marx u. den Frühsozialismus sowie seiner publizist. Tätigkeit. Schon als Gymnasiast hatte B. sich der Freideutschen Jugendbewegung angeschlossen, für deren Nachfolgebewegungen er tätig blieb, bis die Nationalsozialisten dies unmöglich machten. 1924–1926 gab er die Zeitschrift »Der Rufer zur Wende« heraus, 1925 die Schrift Vom Geist und Beruf der Freideutschen Jugendbewegung (Hbg.). 1931 wurde er Schriftleiter der Zeitschrift »Die Kommende Gemeinde«. Bis 1934 hielt er Vorträge im Eucken-Bund u. für die 1933 von Wilhelm Hauer u. Graf Ernst zu Reventlow gegründete Deutsche Glaubensbewegung. Während diese sich grundsätzlich zum Nationalsozialismus bekannte, ohne von ihm anerkannt zu werden, ging es B., der dem Neoidealismus Euckens nahestand, mehr um eine Erneuerung Deutschlands aus dem Geist Goethes u. Fichtes. 1938 erhielt er Berufsverbot als Schriftsteller. 1938 begann B., als Briefmarkenhändler in Hamburg lebend, seine dichterische Tätigkeit mit den über 14.000 Versen seiner Hymnen an die Götter Griechenlands (Heidelb. 1947). Beigebunden ist Die Götter und der Dichter. Ein Brief an die Freunde zu den ›Hymnen an die Götter Griechenlands‹ (Heidelb. 1948). Hier erklärt B.

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Entstehung, Inhalt u. Intention der Hymnen. Sie seien »aus der lebendigen Erfahrung der Theophanie geboren« u. sollten in ihrer Form wie im Inhalt unmittelbar, aber nicht epigonal an Goethe u. Hölderlin, v. a. dessen späte Hymnen, anschließen, Die antiken Götter sind für B. die »Grund-Gestalten des Wirklichen«, die er auch denen, die sich ihnen nicht »dankbar erschließen«, wieder »schaubar machen« will. Geehrt wurde B. v. a. für seine Übersetzungen aus dem Polnischen u. Litauischen. Zahlreiche Reisen vertieften seit 1955 seine Kenntnis dieser Kultur, die er als Soldat im Ersten Weltkrieg kennengelernt hatte. 1955 wurde er Vorsitzender des Mickiewicz-Gremiums der Bundesrepublik Deutschland, von 1956 an gab er die »Mickiewicz-Blätter« heraus. 1963 erschien seine gerühmte Übersetzung des poln. Nationalepos Pan Tadeusz von Adam Mickiewicz (Mchn.). Für seine Vermittlungsdienste zwischen Polen u. Deutschen erhielt B. 1968 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland, die Ehrendoktorwürde der Universität Poznan´, den poln. Orden Pour le mérite sowie die Ehrenmitgliedschaften in der poln. Adam-Mickiewicz-Gesellschaft u. in der poln. Akademie der Wissenschaften. Weitere Werke: Die Kultur des dt. Proletariats im Zeitalter des Frühkapitalismus u. ihre Bedeutung für die Kulturidee des Sozialismus. Lauenburg 1923. – Neckar. Heidelb. 1946 u. 1963 (L.). – Morbus sacer. Leiden u. Schicksalsmeisterung. Heidelb. 1948 (autobiogr. Ber. über seine Krankheit, eine hirntraumat. Epilepsie). – Den Nymphen. Heidelb. 1950 (L.). – Spiel der Welt. Heidelb. 1950 (L.). Literatur: Lothar Franke (Hg.): In honorem H. B. Heidelb. 1968 (mit Curriculum vitae).

B. hegte große Bewunderung für Kurt Tucholsky. Schon früh entdeckte er seine Liebe zum Kabarett, dessen dt. Geschichte er als Autor u. als Herausgeber umfassend dokumentierte. Hier wie auch in seinen satir. Werken nimmt B. einen an Tucholsky orientierten, entschieden kritisch-pazifist. Standpunkt ein; zentrales Thema seiner Revuen ist der Irrsinn des Krieges. Inhaltlich u. formal stellt B. sein Werk in die Tradition des polit. Kabaretts der 1920er u. frühen 1930er Jahre in Berlin. Die Grundhaltung eines eigentlich desillusionierten, aber dennoch kampfbereiten Moralismus verbindet er mit scharfer Conferencier-Rhetorik. Häufig nutzt B. die Collagentechnik: Polit. Reden, histor. Texte, alte Schlager u. a. Zeitzeugnisse entlarven den militarist. Geist vergangener u. heutiger Tage. Durch die häufige Verwendung historischer Dokumente verliert B. jedoch gelegentlich den intendierten aktuellen Zeitbezug. Überregional bekannt wurde B. durch seine Veröffentlichungen zur Geschichte des Kabaretts. Werke: Die Muse mit der scharfen Zunge. Vom Cabaret zum Kabarett. Mchn. 1961. – Hurra – wir sterben. Entstanden 1965. Urauff. Lübeck 1976 (satir. Revue). – Pfeffer ins Getriebe – So ist u. wurde das Kabarett. Mchn. 1982. – Wenn wir wüßten, was der Adolf mit uns vorhat. Urauff. Mchn. 1983 (satir. Revue). – Das Kabarett. 100 Jahre literar. Zeitkritik – gesprochen, gesungen, gespielt. Düsseld. 1985. – Wer lacht denn da? Kabarett v. 1945 bis heute. Braunschw. 1989. – Der Riss durchs Ganze. Kolportage einer gestörten Deutschwerdung. Bln. 1993. – (Hg. zus. mit Reinhard Hippen) Metzler Kabarett-Lexikon. Stgt./Weimar 1996. – Darf ich das mitschreiben? Kurze Begegnungen mit großen Leuten. Mchn. 1997. Matthias Heinzel / Red.

Walther Kummerow † / Red.

Budzinski, Klaus, * 6.12.1921 Berlin. – Journalist, Regisseur, Dolmetscher, Kabarettist u. Satiriker. B. arbeitete 1942–1944 in einer Berliner Speditionsfirma; von 1944 bis Kriegsende musste er Zwangsarbeit leisten. 1946/47 studierte er Geschichte u. Germanistik an der Humboldt-Universität Berlin. Seit Ende 1948 lebt er in München.

Büchlein (= II. Büchlein), zwischen 1220 u. 1250. – Minnedidaktische Schrift. Das Gedicht von 826 Versen, das einzig in dem für Kaiser Maximilian I. geschriebenen Ambraser Heldenbuch überliefert ist, wurde geraume Zeit für ein Werk Hartmanns von Aue gehalten (als eine Art Analogon zu dessen Klage), sprachliche u. stilist. Gründe widersprechen dieser Zuordnung jedoch eindeutig. Aufgrund guter Kenntnis des Autors von

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klassischer u. auch schon nachklass. höf. Lit. Göpp. 1995, S. 71–94. – Wolfgang Achnitz: Minwird man eine Entstehung zwischen 1220 u. nereden. In: Forschungsber.e zur Internat. Germanistik. Germanist. Mediävistik. Hg. Hans-Jo1250 annehmen dürfen. Das B. trägt monologisch die Klage eines chen Schiewer. Bd. 2, Bern u. a. 2003, S. 197–255. Christian Kiening / Red. Ritters vor, der wegen der Wachsamkeit der Gesellschaft, der »übelen huote«, von der Angebeteten getrennt bleiben muss. Bewirkt Büchner, (Karl) Georg, * 17.10.1813 Godist dadurch maßloses Leid, das nur im Tod delau bei Darmstadt, † 19.2.1837 Zürich; Auflösung findet, ein Zustand der Sinnenlo- Grabstätte: ebd., Germania-Hügel. – sigkeit zwischen Weisheit u. Torheit, zwi- Dramatiker u. Erzähler. schen Erkenntnis u. Verzweiflung, die auch den Gotteszweifel einschließt. Keinen Trost Seine Kindheit u. Schulzeit verlebte B., Sohn vermag der Ritter bei anderen Frauen zu des Assessors am großherzogl. Medizinalfinden, auch der Satz »Aus den Augen, aus kolleg, in der Residenzstadt Darmstadt, die dem Sinn« (»daz ûz ougen, daz ûz muote«; v. sich dank der Kunstsinnigkeit des Großher673) trifft für ihn nicht zu. Die einzige zogs Ludwig I. nach den Befreiungskriegen Hoffnung liegt darin, dass »triuwe« u. den Ruf einer Theater- u. Kulturstadt erwarb. »staete« schließlich doch siegen mögen u. die Durch Elternhaus u. Schule erfuhr B. nicht Geliebte seine Beständigkeit erkenne – sollte nur eine breite u. vielseitige Bildung in Litesich dies erfüllen, wäre ein gemeinsames Le- ratur u. Naturkunde; bezeugt sind auch entben garantiert (»sô müez wir sament alten«; schiedene polit. Interessen des Schülers. v. 810). Einige Geleitverse an das Büchlein, »Darmstadt und Gießen waren seit der Redas nun die Kommunikation zwischen Dame stauration bekannte Herde des vaterländiu. Ritter tragen soll, schließen den Text ab. schen Freisinns«, der »von der Universität Das Geflecht von Klage u. Reflexion, das aus auch in die Schulen eindrang«, berichtet sich auf knappem Raum entfaltet, stützt sich der nur wenige Jahre ältere Georg Gottfried Gervinus in seiner Autobiografie (Lpz. 1893). auf komplexe antithet. Begrifflichkeit: Liebe Die überlieferten Aufsätze u. Reden B.s aus u. Leid, Glück u. Unglück, Reichtum u. Arder Gymnasialzeit geben Einblick in eine an mut werden immer wieder dialektisch (fast antiken Vorbildern orientierte Rhetorikschuscholastisch) gegeneinander gesetzt, mit entlung, deren Freiheitspathos, wie schon in der fernten Anklängen an die Minnekasuistik des Französischen Revolution, politisch aktualiAndreas Capellanus. Gleichzeitig erhält das siert werden konnte. In der familiären IntiWechselspiel zwischen den Extremen analog mität einer feminin geprägten Lesekultur zum Jahreskreislauf fast naturhaft kausale vertiefte er seine z.T. durch die Schule verZüge u. zykl. Charakter (vv. 429 ff.); auch mittelte Lektüre der griech. Literatur, der dt. Klage, die in neues Glück münden wird, erAufklärer u. Klassiker, der Romantiker, der scheint damit als konstitutiv für jede LiebesVolkspoesie sowie der engl., span. u. frz. Libeziehung. teratur. Ausgabe: Ludwig Wolff (Hg.): Das KlagebüchIm Spätherbst 1831 ging B. auf Wunsch lein Hartmanns v. Aue u. das II. ›Büchlein‹. Mchn. seines Vaters zum Medizinstudium nach 1972. Straßburg, um in diesem »kleinen Paris« die Literatur: Carl v. Kraus: Das sog. II. ›Büchlein‹ gesellige Urbanität u. empir. Wissenschaftsu. Hartmanns Werke. In: FS Richard Heinzel. Halle methode der Franzosen kennenzulernen. 1898, S. 111–172. – Ingeborg Glier: Artes amandi. Straßburg war seit je eine Stadt frz. u. dt. Mchn. 1971, S. 46–49. – Herta Zutt: Das B. In: VL. – Kulturbegegnung; nach der Julirevolution Rüdiger Schnell: Causa amoris. Liebeskonzeption u. Liebesdarstellung in der mittelalterl. Lit. Bern/ von 1830 wurde sie ein Umschlagplatz neuer Mchn. 1985, S. 275 f. – Klaus Hufeland: Das ›So- polit. Ideen, Treffpunkt republikan. Deutgenannte zweite Büchlein‹. In: Bickelwort u. wildiu scher, Quartier dt. Flüchtlinge. Neben B.s maere. FS Eberhard Nellmann. Hg. Dorothee Lin- Universitätsstudien traten die philosophisch, demann, Berndt Volkmann u. Klaus-Peter Wegera. theologisch u. literarisch interessierte Gesel-

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ligkeit der Theologenverbindung »Eugenia« auf der einen, höchstwahrscheinlich die Mitgliedschaft in der Straßburger Sektion der revolutionären »Gesellschaft der Menschenrechte« auf der anderen Seite. Im Frühjahr 1832 verlobte er sich heimlich mit der Pfarrerstochter Minna Jaeglé. Durch die HessenDarmstädtischen Landesgesetze genötigt, setzte B. sein Studium ab Okt. 1833 an der Landesuniversität in der von ihm als beengend empfundenen Kleinstadt Gießen fort. Die Briefe an die Eltern u. die Geliebte sprechen von Krankheit, Melancholie, einer zurückgezogenen Lebensweise, vom Studium der Philosophie u. Geschichte der Französischen Revolution u., im sog. Fatalismusbrief (an die Braut, nach dem 10.3.1834), vom Einblick in den »gräßlichen Fatalismus« der Geschichte. Die Briefe verschweigen B.s Antwort auf diese Erkenntnisse: seine polit. Aktivitäten, die im März 1834 zur Gründung der Gießener »Gesellschaft der Menschenrechte« u. zum Entwurf der dann von dem Butzbacher Rektor Friedrich Ludwig Weidig überarbeiteten u. mit »Der Hessische Landbote« betitelten Flugschrift führten. Dass der erst 21-jährige B. innerhalb kürzester Zeit eine weichenstellende Position in der polit. Oppositionsbewegung einnehmen konnte, erklärt sich z.T. aus der Lücke, die das Scheitern des Frankfurter Wachensturms vom April 1833 durch die Flucht verschiedener Gießener Teilnehmer hinterlassen hatte. Mit den aus Straßburg mitgebrachten Erkenntnissen über revolutionäre Formen polit. u. sozialer Veränderung wirkte B. für eine Schwerpunktverlagerung des oberhess. Widerstands von liberal-demokrat. Opposition zu sozialrevolutionärer Agitation. Diskutiert wurden »egalitaristische und frühkommunistische Gesellschaftstheorien« (Thomas M. Mayer). Nach der Verhaftung Ludwig Minnigerodes, der am 1.8.1834 mit 139 Exemplaren des »Landboten« abgefangen wurde, nach strapaziösen Tagesmärschen B.s, um die Beteiligten zu warnen, u. einer mit beispielloser Unerschrockenheit vorgetragenen Verteidigung vor dem Universitätsrichter Georgi beorderte ihn der Vater im Sept. 1834 nach Darmstadt zurück.

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Dort schrieb er, während er gleichzeitig die Darmstädter »Gesellschaft der Menschenrechte« reorganisierte u. geheime Vorbereitungen zur Gefangenenbefreiung unternahm, »in höchstens fünf Wochen« das Drama Danton’s Tod, das weder als melanchol. Rückzug vom revolutionären Handeln noch als Parteistück missdeutet werden darf. Es ist ein Drama der Verabschiedung von Illusionen. Im Ineinanderspiegeln der Situation von 1794 u. der von 1834 gestaltet es die »babylonische Verwirrung« revolutionärer Politik. B. wählt einen auf sechs Tage komprimierten Zeitraum aus der Niedergangsphase jakobin. Herrschaft; er greift, gestützt auf präzise histor. Kenntnisse, eine bis in die eigene Zeit strittige, affektisch, moralisch u. parteilich besetzte geschichtl. Konstellation heraus. Rücksichtslos enthüllt das Drama den ideolog. Selbstbetrug u. die Handlungshemmung der verschiedenen Akteure angesichts des Machbarkeitsanspruchs von Revolution u. der Unkorrigierbarkeit des revolutionären Gewaltprozesses. B. vermeidet »persuasive Textstrategien«, selbst »die sich im Zuge der Textentwicklung aufbauenden Sinnmöglichkeiten« werden zerstört (Werner). Nicht nur polit. Phrasen, abstraktes Pathos, revolutionäre Attitüden u. stoische Gesten werden durchsichtig, auch der durch die Kunst verstellte Blick auf die Wirklichkeit. Der große Weltriss der Französischen Revolution steigert sich zum »Riß in der Schöpfung« angesichts des allgegenwärtigen Leids. Danton’s Tod verschärft beides: das Bewusstsein für das unveränderte soziale Elend u. für den individuellen Schmerz. Das dramentheoret. Mitleidspostulat wird ebenso hinfällig wie das sozialethische u. theologische. Das Drama stellt die Französische Revolution als eine von Menschen zu verantwortende, gottlose u. unmenschl. Geschichte bloß, die selbst ihre Akteure entmächtigt. Ehe noch – durch Vermittlung Karl Gutzkows – ein gekürzter Vorabdruck von Danton’s Tod im Hauptblatt des Frankfurter »Phönix« Ende März 1835 zu erscheinen begann, floh B. von Darmstadt nach Straßburg. Der um den 10.7.1835 erschienene Buchdruck passierte nach Gutzkows vorzensierender Redaktionsarbeit u. mit dem re-

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zeptionssteuernden, verharmlosenden Untertitel Dramatische Bilder aus Frankreichs Schreckensherrschaft unbehelligt die Zensur. Die ständige Sorge um seine in Gefangenschaft geratenen Freunde u. um die eigene Sicherheit belasteten sein Leben in Straßburg u. später in Zürich. B. verwarf die Existenzmöglichkeit des freien Schriftstellers. Die ihm von Gutzkow angebotene Mitarbeit an der »Deutschen Revue«, vor dem Verbot des Jungen Deutschland noch attraktiv, akzeptierte er nur als Nebentätigkeit – aus Rücksicht auf die Eltern, aber auch aus Skepsis gegenüber dem begrenzten Wirkungsradius der Jungdeutschen (»Sie werden nie über den Riß zwischen der gebildeten und ungebildeten Gesellschaft hinauskommen.«). B. unterwarf sich einer extremen Doppelbelastung. Mit ausdrückl. Verweis auf sein Vorbild Shakespeare, der »den Tag über« Schreiber war u. des »Nachts dichten« musste, widmete er sich tagsüber dem Studium der Medizin, Naturwissenschaften (vgl. seine Abhandlung Sur le système nerveux du barbeau. Straßb. 1836) u. Philosophie, nachts der poet. Produktion. Entsprechend lassen sich sowohl naturwiss. Argumentationsfiguren in den poet. Produktionen als auch poetolog. Verfahren in den medizin. Schriften nachweisen (Ludwig, Müller-Sievers). B. erlebte nur noch den Druck (Ffm. 1835) der übersetzerischen Brotarbeiten Lucretia Borgia u. Maria Tudor nach Victor Hugo. Der zufällige Entstehungsanlass des Lustspiels Leonce und Lena, ein Preisausschreiben der Cotta’schen Verlagsbuchhandlung, führte bisweilen dazu, es innerhalb des Œuvres herabzusetzen als Gelegenheitsarbeit, geprägt durch Anpassungszwänge an die Gattungsvorgaben. Verharmlost zu einem »romantisch-ironischen Zwischenspiel« (Hans Mayer), erschien es als spätromant. Abweichung von der Linie des Frührealisten B. In der neueren Forschung wird dagegen der krit. Gehalt akzentuiert: als Literatur-Komödie getarnte Satire, als Überbietungsform romant. Ironie u. – mit Blick auf die Gattungsgeschichte der Komödie – als histor. Wendepunkt, mit dem erstmals massiv die Gattung ihre eigenen Voraussetzungen aufs Spiel setzt (Greiner). Martin Walser pries die

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»geniale Genauigkeit«, Walter Jens die anatom. Präzision von B.s Sprache; das gilt v. a. für Woyzeck u. Lenz. Leonce und Lena hingegen prägt eine »zynische Kraftausdrücke« nicht scheuende, »fast noch knabenhaft plaudernde Verbalität, die Einfälle in der Luft entstehen läßt« (Robert Musil). Den spielerisch-artist. Charakter des Lustspiels verstärken die Rollenhaftigkeit seiner Figuren u. die Fülle literar. Anspielungen u. Zitate. Das Stück lebt von den Zwei- u. Mehrdeutigkeiten in Witz, Wortspiel u. Anspielung ebenso wie von dem Zusammenwirken von Märchenhaftem u. Satirischem, literar. u. polit. Anspielung, Kritik des Ästhetischen u. des Gesellschaftlichen. So verleihen die kindl. Verkleinerung des Reichs Peters von Popo zu einem DuodezKönigtum, die kindersprachl. Herabsetzung der Herrscherfamiliennamen von Popo u. von Pipi sowie die Naivität des Wünschens dem Stück Züge des Märchens. Gleichwohl ist satir. Schmälerung unverkennbar, so in der Aufnahme der Tradition des »Dreckprinzen«, in der Ironisierung der dt. Kleinstaaterei, am Ende in der Decouvrierung der Sozialutopie als gattungsgerechter Scheinlösung. Satirisch bloß gelegt wird die höf. Inszenierungskunst des gesellschaftl. Lebens u. der Politik in der Ästhetik des Zeremoniells. Doch als Leonce u. Lena, ohne voneinander zu wissen, auf die Nachricht von ihrer bevorstehenden Verheiratung nach Italien, d.h. ins klassische literar. Land individueller Selbstbefreiung, fliehen, wechseln sie nur in eine andere ästhet. Scheinwelt hinüber, die sozialutopische wie gesellschaftskrit. »Gegenwelt« Arkadiens. Auf die Wirklichkeitsverfehlung der höfisch illiteraten Ästhetik folgt die Ästhetisierung des Lebens durch Literatur. Zur Gesellschaftssatire hinzu tritt die Literatursatire. Die »Treibhauswärme der damaligen Bildungsperiode« Darmstadts (Gervinus) hatte Leonce und Lena satir. Relief gegeben. Straßburg regte den Plan an, »den gestrandeten Poeten« Jakob Michael Reinhold Lenz zum Vorwurf einer »Novelle Lenz« (Gutzkow) zu machen. Der vorästhetische, tagebuchartige Rechtfertigungsbericht des Pfarrers Oberlin über Lenz’ Aufenthalt im Steintal u. dessen Abschiebung von dort vermittelte B. die

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Etappen der psych. Erkrankung eines Menschen, an der das im Pietismus wurzelnde mitleidige Sozialverhalten des Pfarrers scheiterte. Aus Goethes hochliterar. Konfessionsschrift Dichtung und Wahrheit trat ihm hingegen der Sturm-u.-Drang-Literat Lenz entgegen, ein mutwilliges, kränkelndes Genie, verfallen der Ästhetik u. »Zeitgesinnung« der Empfindsamkeit, welche Goethe mit seiner »Schilderung Werthers abgeschlossen« wissen wollte. B. folgte der Erwägung Goethes, Lenz »anschaulich« »schildernd« zu behandeln, verweigerte sich aber Goethes Gleichsetzung von Lebens- u. Literaturgeschichte. Er schilderte nicht den Lebensweg des Literaten, sondern den Menschen Lenz von der Zeit ab, wo er aus dem »Horizont der deutschen Literatur [...] verschwand [...], ohne im Leben eine Spur zurückzulassen« (Goethe). In Auseinandersetzung mit literar. Vorläufern wie dem Werther u. gestützt auf authent. Material, entwarf der Spezialist auf dem Gebiet medizinischer Nervenforschung in kompetenter Nähe u. krit. Distanz zum zeitgenössischen psychiatr. Wissen (Reuchlein, Seling-Dietz) eine »Anatomie der Lebens- und Gemütsstörung« (Gutzkow). Lenz’ innerseel. Kämpfe, Ängste u. Schrecken u. ihre theolog. Implikationen werden gespiegelt in seiner Landschaftserfahrung. Seine Kunstreflexionen im sog. Kunstmonolog betreffen die antiklassizistische Wende der Literatur am Ende der Kunstperiode, die B.s Text im Ganzen u. im Detail vollzieht. Arnold Zweig sah in ihm den Beginn der modernen europ. Prosa. Lenz überschreitet die Grenze von der Ästhetik zur Pathologie, vom Idealismus zum Realismus, vom Mitleid zum Leid (Schings). Wie im Ästhetischen, so übertritt er auch im Theologischen Grenzen. Lenz fordert einen Gott der Tat. Mit dem Zweifel an Gottes Mitleid u. Allmacht rückt das Fragment den »Tod Gottes« in Aussicht, mit der titanenhaften Selbstermächtigung des Menschen den Atheismus ins Zentrum. Nicht verschwiegen werden jedoch die mit dieser aktuellen religionskrit. Anklage – Lenz als »polizeigerechtes Gegenstück« (Sengle) zu Gutzkows Wally, die Zweiflerin – involvierten subjektiven Risiken, die seel. Belastung u. Selbstgefährdung:

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Lenz befragt den Atheismus auf seine existentielle Lebbarkeit. Mit Woyzeck, so Elias Canetti, sei B. »der vollkommenste Umsturz in der Literatur gelungen: die Entdeckung des Geringen«. In der Figur Woyzecks betritt der Arme, der als Soldat u. Bediensteter zu wiss. Demonstrationen missbraucht wird, u. der Kranke, von Wahnvorstellungen Gehetzte, die Bühne. Zgl. wird die hochliterar. Schriftsprachigkeit der Figurenrede aufgelöst. »In der gleichzeitigen stilistischen und inhaltlichen Revolution liegt die absolute Einmaligkeit des Woyzeck-Fragments« (Sengle). Wie die Figuren in Danton’s Tod, wie Lenz, geht auch die Kunstgestalt Woyzeck zurück auf eine histor. Person. Johann Franz Woyzeck war ein arbeitsloser Pauper u. psychisch Kranker, der wegen Mordes an seiner Geliebten 1824 hingerichtet wurde, nachdem ihn psychiatr. Gutachten für zurechnungsfähig erklärt hatten. Die Instanz der Kunst eröffnet eine eigene Wahrnehmung des Geringen: der Arbeitshetze, der Demütigungen durch Vorgesetzte u. Geliebte, des körperl. Verfalls u. der seel. Verstörungen. Dantons Überlegung »Was ist das, was in uns hurt [...] und mordet!« impliziert eine fatalist. Lösung des Problems der Willensfreiheit. B.s Dramenfragment spitzt diese Fragestellung zu u. führt zur Infragestellung der Moral, Wissenschaft u. der sozialen Verhältnisse, die Woyzeck zugrunde richten. Das Stück macht mit der Kritik an der Rhetorik in Danton’s Tod u. der Skepsis gegen die Literatursprache in Leonce und Lena Ernst. B. filtert die überkommene literar. Schriftsprachlichkeit, bis sie der gesprochenen Sprache nahekommt – als Sprache des Geringen u. als eine krit. Auseinandersetzung mit der juristisch-psychiatr. Gutachtertätigkeit im Zusammenhang mit der zeitgenössisch forciert diskutierten Frage der Zurechnungsfähigkeit (Campe). Er erhöht die Aussagekraft nichtsprachl. Zeichen, von Stimmungen, Ahnungen, Körperwahrnehmungen u. -reaktionen. Entsprechend schwindet der dialog. Bezug der Dramenpersonen, sie vereinzeln, vereinsamen, verstummen: Auch die Sprache wird zu einer fremden, nicht verfügbaren Macht. B.s unvergleichl. »Keuschheit fürs Geringe« (Ca-

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netti) mag sich der Einsicht in eine Gewalt von Sprache verdanken, der sich die Dichtung begeben muss, wenn sie ihre Figuren nicht überwältigen, sondern sich »in das Leben des Geringsten« senken u. es wiedergeben will »in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel«, wie es B.s Lenz fordert. Prägend für die Frühphase der B.-Rezeption (durch Gutzkow, Hebbel, Herwegh u. a.) ist das Lob der unverbrauchten Darstellungskraft eines jungen, früh verstorbenen Genies. Parallel dazu versuchten schon Wilhelm Schulz u. B.s Bruder Ludwig, seine politisch-revolutionäre Bedeutung zu dokumentieren. Die Kritik an B. konzentrierte sich, neben dem Vorwurf der Formlosigkeit, auf die zuweilen als »empörend« (Hermann Marggrafl) empfundene »Kühnheit« moralischer u. ästhet. Grenzüberschreitungen. Das »Triviale« u. die »Cynismen« bewogen sogar Ludwig Büchner, den Woyzeck nicht in B.s Nachgelassene Schriften (Ffm. 1850) aufzunehmen. Nach dem Rezeptionsschub, den die Publikation der B.’schen Sämmtlichen Werke – darin erstmals das aufgrund eines Lesefehlers als Wozzeck betitelte Dramenfragment – durch Karl Emil Franzos (Ffm. 1879) auslöste, wurde die Zustimmung einhellig. Die Naturalisten um Hauptmann, aber auch Wedekind begannen einen B.-Kult. Hinzu kam die um die Jahrhundertwende einsetzende Theaterrezeption. Die unterschiedlichsten Avantgardebewegungen beriefen sich fortan auf B. Die Uraufführung von Alban Bergs Wozzeck in der Berliner Staatsoper im Dez. 1925 machte Epoche in der Geschichte der Musikdramatik. B.s nachhaltige Wirkung überdauerte auch den Faschismus. Dank des (mit einer Unterbrechung während der nationalsozialist. Herrschaft) seit 1923 verliehenen GeorgBüchner-Preises vertiefte sich auch die öffentl. Auseinandersetzung mit B. Gerade die Künstlerreden belegen jedoch, dass bis auf den heutigen Tag B.s Wirkung nicht in der Wirkungsgeschichte seiner Werke aufgeht. Ausgaben: Gesamtausgaben: Ges. Werke u. Briefe. Hg. Fritz Bergemann. Lpz. 1922. Ffm. 111977. – Sämtl. Werke u. Briefe. Hg. Werner R. Lehmann. 2 Bde., Hbg. 1967 u. 1971. – Sämtl. Werke, Briefe u. Dokumente in zwei Bänden. Hg. Henri Poschmann

Büchner unter Mitarb. v. Rosemarie Poschmann. Ffm. 1992–98. – Sämtl. Werke u. Schr.en. Hist.-krit. Ausg. mit Quellendokumentation u. Komm. (Marburger Ausg.). Darmst. 2000 ff. – Einzelwerke, Erstausgaben: Erstdr.e u. Erstausg.n in Faks.s. Hg. Thomas M. Mayer. 10 Bde., Ffm. 1987. – Einzelwerke, spätere Ausgaben: Woyzeck. Nach den Hss. Hg. H. Poschmann. Ffm. 1985. – Woyzeck. Faksimile, Transkription, Emendation u. Lesetext. Buch- u. CD-ROM-Ausg. Hg. Enrico de Angelis. 2. verb. Ausg. Mchn. u. a. 2003. – Lenz. Studienausg. Hg. Hubert Gersch. Stgt. 1984. – Danton’s Tod. Entwurf einer Studienausg. Hg. T. M. Mayer. In: G. B.: Dantons Tod. Hg. Peter v. Becker. Ffm. 1985, S. 7–74. – Leonce u. Lena. Krit. Studienausg. Hg. T. M. Mayer. In: G. B.: Leonce u. Lena. Hg. Burghard Dedner. Ffm. 1987, S. 7–87. – Briefw. Krit. Studienausg. Hg. Jan-Christoph Hauschild. Basel u. a. 1994. Literatur: Realien, Kommentare: Walter Hinderer: B.-Komm. zum dichter. Werk. Mchn. 1977. – Gerhard P. Knapp: G. B. Stgt. 1977. 21984. 32000. – Burghard Dedner: Quellendokumentation u. Komm. zu B.s Geschichtsdrama ›Danton’s Tod‹: Versuch einer sachl. Klärung u. begriffl. Vereinfachung. In: Editio 7 (1993), S. 194–210. – Goedeke Forts. – Susanne Lehmann: G. B.s Schulzeit: Ausgew. Schülerschr.en u. ihre Quellen. Tüb. 2005. – B. Dedner: Die Ordnung der Varianten: erörtert aufgrund v. B.-Texten. In: Editio 19 (2005), S. 43–66. – Gesamtdarstellungen: Hans Mayer: G. B. u. seine Zeit. Wiesb. 1946. Ffm. 1972. – Gerhard Jancke: G. B. Genese u. Aktualität seines Werkes. Kronberg 1975. – Raimar St. Zons: G. B., Dialektik der Grenze. Bonn 1976. – Maurice B. Benn: The Drama of Revolt. Cambridge 1976. – Friedrich Sengle: G. B. (1813–37). In: Ders.: Biedermeierzeit. Bd. 3, Stgt. 1980, S. 265–331. – Reinhold Grimm: Love, lust and rebellion. New approaches to G. B. Madison 1985. – Jan-Christoph Hauschild: G. B. Stgt./Weimar 1993. Überarb. Ausg. Bln. 1997. Reinb. 2004. – Wirkungen: Dietmar Goltschnigg (Hg.): Materialien zur Rezeptions- u. Wirkungsgesch. G. B.s. Kronberg 1974. – J.-C. Hauschild: G. B. Studien u. neue Quellen zu Leben, Werk u. Wirkung. Königst./Ts. 1985. – D. Goltschnigg (Hg.): G. B. u. die Moderne. Texte, Analysen, Komm. Bd. 1: 1875–1945, Bln. 2001. Bd. 2: 1945–80, Bln. 2002. Bd. 3: 1980–2002, Bln. 2004. – Bernhard J. Dotzler: Benns ›Woyzeck‹. In: DVjs 78 (2004), H. 3, S. 482–498. – Einzeltitel: Elias Canetti: G. B. In: Ders.: Das Gewissen der Worte. Mchn. 1975, S. 211–221. – Hans-Jürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids v. Lessing bis B. Mchn. 1980. – Ingrid Oesterle: Verbale Präsenz u. poet.

Büchner Rücknahme des literar. Schauens [zum ›Woyzeck‹]. In: G.-B.-Jb. 3 (1983), S. 168–199. – Günter Oesterle: Das Komischwerden der Philosophie in der Poesie [zum ›Woyzeck‹]. Ebd., S. 200–239. – Alfons Glück: Der ›ökonomische Tod‹: Armut u. Arbeit in G. B.s ›Woyzeck‹. In: G.-B.-Jb. 4 (1984), S. 167–226. – B. Dedner: Legitimationen des Schreckens in B.s Revolutionsdrama. In: JbDSG 29 (1985), S. 343–380. – Hans-Georg Werner: ›Dantons Tod‹. Im Zwang der Gesch. In: Studien zu G. B. Hg. ders. Bln. 1988, S. 7–85. – Friedrich Vollhardt: Straßburger Gottesbeweise. Adolph Stoebers ›Idées sur les rapports de Dieu à la Nature et specialement sur la Révélation de Dieu dans la Nature‹ [1834] als Quelle der Religionskritik G. B.s. In: G.-B.-Jb. 7 (1988/89), S. 46–82. – Ders.: ›Unmittelbare Wahrheit‹. Zum literar. u. ästhet. Kontext v. G. B.s Descartes-Studien. In: JbDSG 35 (1991), S. 196–212. – Wolfram Malte Fues: Die Entdeckung der Langeweile: G. B.s Kom. ›Leonce und Lena‹. In: DVjs 66 (1992), H. 4, S. 686–696. – Bernhard Greiner: Die Kom. Eine theatral. Sendung. Grundlagen u. Interpr.en. Tüb. 1992. 22006, S. 282–298. – Ders.: ›Des vers‹: Wurmfraß u. Verse der Revolution. B.s Weg zur Dichtung in ›Dantons Tod‹. In: Tanz u. Tod in Kunst u. Lit. Hg. Franz Link. Bln. 1993, S. 213–225. – Caroline Seling-Dietz: B.s. Lenz als Rekonstruktion eines Falls ›religiöser Melancholie‹. In: G.-B.-Jb. 9 (1995/99), S. 188–236. – Thomas Michael Mayer: Zur Datierung v. G. B.s philosoph. Skripten u. ›Woyzeck‹ H3,1. Ebd. (1995/99), S. 281–329. – Rodney F. Taylor: B.’s ›Danton‹ and the metaphysics of atheism. In: DVjs 69 (1995), H. 2, S. 231–246. – Georg Reuchlein: ›...als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm‹. Zur Geschichtlichkeit v. G. B.s Modernität. Eine Archäologie der Darstellung seel. Leidens im ›Lenz‹. In: Jb. Internat. Germanistik 28/1 (1996), S. 59–111. – Rüdiger Campe: Johann Franz Woyzeck. Der Fall im Drama. In: Unzurechnungsfähigkeiten. Diskursivierungen unfreier Bewußtseinszustände seit dem 18. Jh. Hg. Michael Niehaus u. Hans-Walter Schmidt-Hannisa. Ffm. u. a. 1998, S. 209–236. – Gideon Stiening: ›Der Spinozismus ist der Enthusiasmus der Mathematik‹. Anmerkungen zu G. B.s Spinoza-Rezeption. In: G.-B.-Jb. 19 (2000–04), S. 302–339. – Jochen Bertheau: Studien zu den frz. Quellen v. G. B.s Werk. Ffm. u. a. 2004. – Naturwissenschaft: Otto Döhner: G. B.s Naturauffassung. Diss. Marburg 1967. – Wolfgang Proß: Die Kategorie der ›Natur‹ im Werk G. B.s. In: Aurora 40 (1980), S. 172–188. – Udo Roth: G. B.s ›Woyzeck‹ als medizinhistor. Dokument. In: G.-B.-Jb. 9 (1995/99), S. 503–519. – Peter Ludwig: ›Es gibt eine Revolution in der Wiss.‹. Naturwiss. u. Dichtung bei G. B. St. Ingbert 1998. – Helmut Müller-Sievers: Desorientierung.

272 Anatomie u. Dichtung bei G. B. Gött. 2003. – U. Roth: G. B.s naturwiss. Schr.en: Ein Beitr. zur Gesch. der Wiss.en vom Lebendigen in der ersten Hälfte des 19. Jh. Diss. Univ. Marburg. Tüb. 2004. – Holger Steinberg u. Sebastian Schmideler: Eine wiederentdeckte Quelle zu B.s Vorlage zum ›Woyzeck‹: das Gutachten der Medizin. Fakultät der Univ. Leipzig. In: ZfG 16 (2006), H. 2, S. 339–366. – Sammlungen: Wolfgang Martens (Hg.): G. B. Darmst. 1965. 31973. 1988. – Heinz L. Arnold (Hg.): G. B. 3 Bde., Mchn. 1979 u. 1981. – Wege zu G. B. Hg. Henri Poschmann unter Mitarb. v. Christine Malende. Bln. 1992. – DU, H. 6 (2002): Themenh. G. B. – Kataloge: T. M. Mayer (Bearb.): G. B. Leben, Werk, Zeit. Marburg 1985. – G. B.: 1813–37. Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler. Basel/Ffm. 1987. Günter Oesterle / Ingrid Oesterle

Büchner, (Friedrich Karl Christian) Ludwig, auch: Karl Ludwig, * 28.3.1824 Darmstadt, † 1.5.1899 Darmstadt; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof. – Publizist u. philosophischer Schriftsteller. B. promovierte 1848 in Gießen mit einer neurolog. Untersuchung u. habilitierte sich 1854 in Tübingen. Er vereinigte, ähnlich wie sein Bruder Georg, dessen Nachgelassene Schriften er 1850 herausgab, naturwiss. Arbeit, literarisches Talent u. polit. Engagement. Der Schwerpunkt seiner schriftsteller. Tätigkeit lag im Journalismus (Mitarbeit an Vormärzblättern wie der Darmstädter »Neuen Deutschen Zeitung«), der Popularisierung der Naturwissenschaft u. der Populärphilosophie. Seine belletrist. Versuche kamen gesammelt u. d. T. Der neue Hamlet. Poesie und Prosa aus den Papieren eines verstorbenen Pessimisten (Gießen 1885) unter Pseudonym heraus. B.s Erstlings- u. Hauptwerk Kraft und Stoff (Ffm. 1855. 211904; übers. in 15 Sprachen) fand außerordentl. Verbreitung u. entfachte heftige Kontroversen, durch die er seine venia legendi verlor, worauf er sich als praktischer Arzt in Darmstadt niederließ. B. verarbeitete in diesem Werk die naturwiss. Errungenschaften des 19. Jh. – in der ersten Auflage stand der Energieerhaltungssatz im Vordergrund – u. versuchte, sie in eine moderne, fortschrittl. Weltanschauung umzusetzen. Er vertrat einen radikalen Naturalismus – wo-

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Büchner

nach alles, auch geistig-kulturelle Phänome- Myriam Gerhard u. Walter Jaeschke (Hg.): Weltanne, aus Natur entsteht – u. materialist. Mo- schauung, Philosophie u. Naturwiss. im 19. Jh. nismus: Kraft (oder Energie) u. Stoff sind nur Bd. 1: Der Materialismus-Streit. Hbg. 2007. Gernot Böhme / Gideon Stiening zwei Aspekte derselben Sache. Mit Carl Vogt u. Jacob Moleschott bildete er das sog. materialist. Triumvirat. Alle drei traten mit Vehe- Büchner, Luise, eigentl.: Elisabeth Emma menz für Darwins Theorie ein, B. mit seinen Louise Büchner, auch: L. B., L. Büchner, Sechs Vorlesungen über die Darwinsche Theorie * 12.6.1821 Darmstadt, † 28.11.1877 Darmstadt; Grabstätte: ebd., Alter Fried(Lpz. 1868. 21890). Seine Werke wurden in den Arbeiterbil- hof. – Verfasserin erzieherischer Schriften dungsvereinen viel gelesen u. aufgrund ihrer für Mädchen u. belletristischer Werke; aufklärerisch-materialist. Tendenz als Wi- Frauenrechtlerin. derlegung der Ideologie herrschender Klas- Nach Abschluss ihrer Schulbildung eignete sen rezipiert. Eine umfangreiche Vortragstä- sich B. autodidaktisch Kenntnisse in Fremdtigkeit zu populären naturwiss. Themen u. sprachen, Literatur u. Geschichte an. Als Juweltanschaul. Konsequenzen des Materialis- gendliche verfasste sie Gelegenheitsgedichte, mus, die ihn 1872/73 gar in die USA führte, was ihr den Titel »Hauspoet« eintrug. Durch verstärkte die außerordentl. Popularität B.s ihre Bekanntschaft mit Karl Gutzkow, der das in der zweiten Hälfte des 19. Jh. B. gehörte Talent ihres heutzutage berühmtesten Bruder Ersten Internationalen an u. war Dele- ders Georg gefördert hatte, lernte sie weitere gierter auf deren Kongress in Lausanne 1867, Schriftsteller kennen. Im Okt. 1855 erschien B.s erstes Buch Die später Abgeordneter im Hessischen Landtag. B. gründete zahlreiche Vereine, so 1881 den Frauen und ihr Beruf anonym in Frankfurt u. lange Zeit einflussreichen »Deutschen Frei- war so erfolgreich, dass es bereits drei Monate später mit Nennung ihres Namens neu erdenkerbund«. 2 Weitere Werke: Natur u. Geist. Ffm. 1857. schien ( 1856). Darin fordert B. eine bessere 3 1874. – Die Stellung des Menschen in der Natur in Erziehung der Mädchen des Mittelstandes, Vergangenheit, Gegenwart u. Zukunft. Lpz. 1869. durchgängige Allgemeinbildung, berufl. 3 1889. – Der Gottesbegriff u. seine Bedeutung in Ausbildung u. Erwerbsfähigkeit für unverder Gegenwart. Lpz. 1874. 31897. – Aus dem Geis- heiratete Frauen. In den erweiterten Auflagen tesleben der Tiere. Bln. 1876. 31880. – Im Dienste (Ffm. 31860. Lpz. 41872) nahm B. neue Asder Wahrheit. Gießen 1891. 21900 (mit Biogr. pekte des Lebens von Frauen u. Berufszweige Ludwigs v. seinem Bruder Alexander). – Darwinis- in ihre Diskussion auf u. verfasste Was willst mus u. Sozialismus. Lpz. 1894. 31910. – Am Sterdu werden? (Darmst. 1872), einen Ratgeber für belager des Jahrhunderts. Gießen 1898. 21900. Mädchen, die auf Ausbildungs- u. ArbeitssuAusgaben: Schr.en zum kleinbürgerl. Materia- che sind. lismus in Dtschld. Hg. Dieter Wittich. 2 Bde., Bln. 1860–1876 vermittelte B. Mädchen u. 1971. – Briefw. zwischen Carl Vogt, Jacaob MolleFrauen dt. u. europ. Geschichte in Vortragsschott, Ludwig Büchner u. Ernst Haeckel. Hg. reihen, um deren mangelnden GeschichtsChristoph Kockerbeck. Marburg 1999. kenntnissen entgegenzuwirken. Deutsche GeLiteratur: Frederic Gregory: Scientific Mateschichte von 1815–1870 (Lpz. 1875) umfasst eirialism in Nineteenth Century Germany. Dordrecht/Boston 1977, v. a. S. 100–122. – Gernot Böh- nen dieser jährl. Zyklen, die B. im Alice-Lyme: L. B. In: Georg Büchner. Revolutionär, Dichter, zeum (gegr. 1870) fortsetzte. Mit dem Beginn der bürgerl. FrauenbeweWissenschaftler. Der Kat. [zur] Ausstellung Mathildenhöhe, Darmst., 2.8.-27.9.1987. Basel u. Ffm. gung wirkte B. als Frauenrechtlerin, indem 1987, S. 384–388. – Annette Wittkau-Horgby: sie z.T. durch Reisen im In- u. Ausland über Materialismus. Entstehung u. Wirkung in den ähnl. Bestrebungen in Periodika berichtete. Wiss.en. Gött. 1998 – Susanne Speckenbach: Wiss. Sie wurde 1865 Ausschussmitgl. des die u. Weltanschauung. Wissenschaftspopularisierung Selbsthilfe von Frauen fordernden u. förim 19. Jh. – eine linguist. Untersuchung v. L. B.s ›Kraft und Stoff‹. Bremen 1999. – Kurt Bayertz,

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dernden Allgemeinen Deutschen Frauenver- ohne gelehrt zu sein‹. Ess.s, Ber.e u. Briefe v. L. B. zur Gesch. ihrer Zeit. Hg. Margarete Dierks. eins (ADF; gegr. in Leipzig). In Darmstadt gründeten Prinzessin Alice Darmst. 1991. Übersetzung: Women and Their Vocation von Hessen-Darmstadt, B. sowie Frauen u. 3 Männer des Mittel- u. Adelsstandes ( 1860). Übers. Susan L. Piepke. New York 1999. Literatur: Ruth-Ellen B. Joeres: Ein Dichter. An 1867–1875 verschiedene Vereine für Frauen aller Stände, um ihnen bessere Bildungs-, Introduction to the World of L. B. In: GQ 49.1 berufl. Ausbildungs- u. Erwerbsmöglichkei- (1979), S. 32–49. – Margarete Dierks: L. B. In: Sie gingen voran. Darmst. [1990], S. 82–143. – Goeten zu bieten. 1869 schlossen sie sich dem deke Forts. – Cordelia Scharpf: L. B. (1821–77). The Verband Deutscher Frauenbildungs- u. Er- Life and Work of an Evolutionary Feminist. Diss. werbsvereine (Lette-Verband; gegr. in Berlin) Ann Arbor 2003. – ›Feder u. Wort sind euch gegean, dessen Mitgliedsvereine zumeist struk- ben so gut wie dem Manne!‹. Studien zum Leben u. turell u. programmatisch ähnliche Ziele ver- Werk L. B.s (Briefe, Zeittafel, Bibliogr.). Hg. Elke folgten. Als Vertreterin dieses Verbands er- Hausberg u. Agnes Schmidt. Darmst. 2004. reichte B. 1876/77 die Kooperation mit dem Cordelia Scharpf ADF. B.s literarisches Werk umfasst alle GattunBührer, (Hans) Jakob, * 8.11.1882 Zürich, gen. Sie gab Dichterstimmen aus Heimat u. † 22.11.1975 Locarno; Grabstätte: Ver5 Fremde (Ffm. 1859. Halle 1876) mit deutschscio/Tessin. – Journalist, Romanautor u. sprachigen Gedichten u. Übersetzungen aus Dramatiker. dem Englischen u. Französischen heraus. Ihr 2 Gedichtband Frauenherz (Hamm 1862. 1864) Der Sohn eines Buchdruckers u. einer Bauenthält neben Gelegenheitsgedichten auch erntochter wuchs in der »Armeleutegasse« Balladen mit Motiven der Minne u. bedeu- von Schaffhausen auf, wohin die Eltern kurz tenden ital. Persönlichkeiten. B.s belletristi- nach seiner Geburt gezogen waren. Nach dem sche Prosa bezieht oft genau beobachtete Le- Besuch der Primar- u. Realschule absolvierte bensumstände u. histor. Kenntnis der er eine kaufmänn. Lehre, schrieb aber bereits Schweiz, Normandie u. Niederlande in die Theaterkritiken u. Erzählungen für LokalHandlung ein. Vor allem der Novellenband zeitungen. 1901 besuchte er an einem privaAus dem Leben (Lpz. 1861. Lpz. 2007) u. der ten Berliner Institut einen Journalistenkurs Roman Das Schloss zu Wimmis (Lpz. 1864) re- u. schrieb sich ab 1902 als freier Hörer an der flektieren ihre Überzeugung einer notwen- Universität Zürich ein. Zwischen 1904 u. digen besseren Bildung von Frauen. Die 1917 war B., der 1912 auch zu den MitbeWeihnachtsmärchen (Glogau 1867) erzählen gründern des Schweizerischen Schriftstellerden Kindern ihres Bruders Ludwig von den Vereins gehörte, Redakteur verschiedener verflochtenen germanischen u. christl. Glau- Zeitungen in Wädenswil, Münsingen u. Bern. 1910 erschien in Bern sein erstes Buch, das bensvorstellungen u. Bräuchen des Odenwaldes (Glogau 21882. Darmst. 1938. 1981. die Erfahrungen der armseligen Kindheit in Riedst. 1997. Lpz. 2006). Biografische Por- der Schaffhauser Webergasse spiegelt: Kleine träts – z.B. Charlotte Corday (1865) u. Clara Skizzen von kleinen Leuten. B. setzte sich in der Dettin (Lpz. 1873) – zeigen die Umstände, die Folge theoretisch, organisatorisch u. als AuMenschen zum Handeln bringen, ohne dabei tor von Bühnenstücken für die Schaffung eidiejenigen zu verurteilen, die gefehlt haben. nes eigenständigen, national orientierten Ihr Fragment Ein Dichter (1878. Darmst. 1965. schweizer. Theaterwesens ein. 1914 führte er Ital. Übers. Rom 1988) gilt in der Georg- auf der Schweizerischen Landesausstellung in Büchner-Forschung als Schlüsselroman, der Bern mit einer Laienspielgruppe seinen Einakter Die Nase auf, das erste Stück des späteren das frühe familiäre Leben darstellt. Weitere Werke: Die Frau. Hg. Ludwig Büch- Kabarettprogramms Das Volk der Hirten (Züner. Ffm. 1878. – Nachgelassene belletrist. u. ver- rich 1925. 1935), mit dem B. u. sein Tourmischte Schr.en. Hg. L. Büchner. Halle 1878. – Hg.: neetheater »Freie Bühne« 1917–1923 lang Die Frauen u. ihr Beruf. Lpz. 51884. – ›Gebildet anhaltenden Erfolg hatten. Unterdessen von

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Bern nach Zürich übergesiedelt, gab B. im Auftrag der Neuen Helvetischen Gesellschaft eine weit verbreitete Sonntagsbeilage für Tageszeitungen heraus. 1917 erschien bei Francke in Bern sein erster Roman Aus Konrad Sulzers Tagebuch (rev. Ausg. mit einem Nachw. v. Dieter Zeller. Zürich 1982). Er darf als B.s geschlossenste u. literarisch gelungenste Arbeit gelten u. beschreibt, unverkennbar autobiografisch, wie ein Proletarierkind sich bürgerl. Bildung u. eine Stimme als Publizist u. Schriftsteller erkämpft, ohne seinen Idealismus u. seinen klassenkämpferischen Impetus preiszugeben. Nach dem Scheitern der »Freien Bühne« nahm B., der seit 1923 in zweiter Ehe mit der Basler Schriftstellerin Elisabeth Thommen verheiratet war, eine Stelle als Propagandachef für den Kurort Davos an. 1926/27 versuchte er sich mit Thomas Brack, der Gehilfe des Sternenfliegers u. Andrina Orsetta (beide Werke erschienen nur als Fortsetzungsromane) mit wenig Glück als Verfasser von utop. Romanen. Einigen Erfolg brachte ihm hingegen 1927 die Uraufführung seines Neuen Tellenspiels (Uster 1923. Zürich 1987) am Schauspielhaus Zürich. Nach einer Amerikareise u. einer dreimonatigen Tätigkeit als Zeitungskorrespondent in London ließ sich B. 1930 mit Mitteln eines Mäzens in Feldmeilen am Zürichsee nieder. Mit den drei Romanen Man kann nicht ... (Zürich 1930. 2. Aufl. der Neuausg. Basel 1986 in: Werkausgabe, Bd. 6), Sturm über Stifflis (Zürich 1934. Neuausg. Basel 1977 in: Werkausgabe, Bd. 7) u. Das letzte Wort (Zürich 1935. Neuausg. Basel 1979 in: Werkausgabe, Bd. 8) setzte sich B. engagiert mit der aktuellen wirtschaftl., sozialen u. polit. Lage der damaligen Schweiz auseinander u. stellte sich v. a. in Sturm über Stifflis entschieden gegen den schweizer. Frontismus. Bereits 1932 war B., nachdem in Genf 13 demonstrierende Arbeiter von der Armee niedergeschossen worden waren, öffentlich zur Sozialistischen Partei übergetreten u. hatte damit seine Arbeitsmöglichkeiten bei den bürgerl. Zeitungen eingebüßt. In der Folge beschränkte sich seine journalist. Tätigkeit auf die sozialist. Parteipresse, während sein literarisches Werk praktisch ausschließlich bei der parteieigenen

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Büchergilde Gutenberg erschien, für die er auch als Lektor u. Übersetzer arbeitete. Seit 1936 lebte B. mit seiner dritten Frau Emmy in Verscio bei Locarno, wo er sich stärker als bisher der Epik zuwandte. Im Tessin entstand 1936–1951 B.s erzählerisches Hauptwerk, die Trilogie Im roten Feld (Am Vorabend. Zürich 1938. Morgendämmerung. Zürich 1944. Die Ankunft. Zürich 1951. Das Fragment eines vierten, unvollendeten Teils wurde in der Werkausgabe 1987 in Bd. 12 veröffentlicht). B. will darin die Einwirkungen der Französischen Revolution auf die Schweiz aufzeigen u. Geschichte romanhaft »von unten her« beschreiben, aus der Sicht der Proletarier u. Zukurzgekommenen. Das Werk ist allerdings von sehr unterschiedlicher literar. Qualität u. leidet v. a. im zweiten u. dritten Band unter erheblichen kompositorischen u. stilist. Mängeln, die das ambitiöse Unternehmen als Ganzes in Frage stellen. In der Zeit des Kalten Krieges geriet B., der seine politischen u. ideolog. Ansprüche von jeher über die literarischen gestellt hatte, zunehmend ins Abseits u. fand mit seinen Arbeiten kaum mehr Echo. Er erlebte es aber noch, dass seine Werke im Zuge der sog. 68erBewegung ihrer gesellschaftskrit. Positionen wegen wiederentdeckt wurden u. dass namhafte Autoren wie Max Frisch u. Adolf Muschg für ihn eintraten. Weitere Werke: Landrat Broller. Bern 1912 (D.). – Die Steinhauer Marie u. a. E.en aus Kriegs- u. Friedenszeiten. Bern 1916. Zürich 1940. 1987. – Brich auf! Bern 1921. Neu hg. v. Charles Linsmayer in Ed. ›Frühling der Gegenwart‹. Bd. 21, Zürich 1982 (R.). – Kilian. Zürich 1922 (R.). – Die sieben Liebhaber der Eveline Breitinger. Zürich 1924 (R.). – Der Kaufmann v. Zürich. Zürich 1928 (D.). – Galileo Galilei. Zürich 1933 (D.). – Judas Ischariot. Zürich 1945 (D.). – Der Mann im Sumpf. Basel 1946 (D.). – Die rote Mimmi. Elgg 1947 (D.). – Die drei Gesch.n des Dschingis-Khan. Zürich 1949 (D.). – Gotthard. Zürich 1952 (D.). – Yolandas Vermächtnis. Zürich 1957 (R.). – Kommt dann nicht der Tag? Gerlafingen 1962 (L.). – Eines tut not. Bern 1965 (L.). – Der Anarchist. Basel 1978 (E.en). Ausgabe: Lesebuch. Hg. Robert Bussmann u. Dieter Zeller. Basel 1977. 21980. – Werkausg. J. B. Hg. Dieter Zeller u. Christoph Siegrist. Basel 1975 ff. (bis 1987 ersch. 9 v. 25 geplanten Bdn.).

Bührlen Literatur: Dieter Zeller (Hg.): J. B. zu Ehren. Eine Dokumentation. Basel 1975. – Ders.: J. B. Nachw. zu Charles Linsmayer (Hg.): Aus Konrad Sulzers Tgb./Brich auf! Zürich 1982. – Peter Stadler: Robert Faesi (1883–1972) u. J. B. (1882–1975). Kulturpolit. Doppelprofil zweier literar. Zeitgenossen. Zürich 1994. – Ulrich Niederer: Gesch. des Schweizer. Schriftstellerverbandes. Kulturpolitik u. individuelle Förderung. J. B. als Beispiel. Tüb. 1994. Charles Linsmayer / Red.

Bührlen, Friedrich Ludwig, auch: F. von Büren, * 10.9.1777 Ulm, † 9.5.1850 Stuttgart. – Erzähler u. Epiker.

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gehobeneren Schichten weit verbreitet (Papas Zahnschmerzen. Stgt. 1885). Ihre Darbietung in Dialogform u. einfacher, humorist. Erzählhaltung ließ sie zu beliebten Vorlesetexten werden, die auch leicht in die Form eines Lustspiels umzusetzen waren. Zur Aufführung bei festl. Anlässen im Verwandtenkreis prädestiniert waren B.s Schwänke (u. a. Geburtstagsfreuden. Breslau 1884). Weitere Werke: Berlin-Ostende mit zehntägigem Retourbillett u. a. Humoresken. Dresden 1886. – Theorie u. Praxis. Lpz. 1890 (Lustsp.). – Lustige Gesch.n. Stgt. 1890. 61908. Literatur: Karl Gustav Heinrich Berner (Hg.):

B. entstammte einer Ulmer Wirtsfamilie. Schles. Landsleute. Lpz. 1901, S. 281. – Kosch. Eda Sagarra / Red. 1804–1807 studierte er in Würzburg Rechtswissenschaft; 1809 trat er in den bayerischen, 1811 in den württemberg. Staatsdienst ein u. Bülow, Bernhard von, Graf (1899), Fürst avancierte 1817 zum Kanzleirat der Stutt- (1905), * 3.5.1849 Kleinflottbek bei Hamgarter Oberrechnungskammer. B. war zeitle- burg, † 28.10.1929 Rom. – Politiker. bens ein leidenschaftl. Gemäldesammler. In seinen populärwiss. Schriften u. Reise- Der Sohn des evang. Staatssekretärs des Ausberichten äußerte sich B. aus konservativem wärtigen Amts trat nach dem Jurastudium in Blickwinkel zu philosophischen, ästhet. u. Lausanne, Berlin u. Leipzig in den diplomat. gesellschaftspolit. Fragen der Zeit. B.s hu- Dienst u. stieg ebenfalls zum Staatssekretär moristisch gefärbte Erzählungen (u. a. Erzäh- des Auswärtigen Amts auf. B. war ein humalungen und Miszellen. 2 Bde., Tüb. 1818–20) nistisch gebildeter, gewandter Weltmann, scheinen Tieck nachempfunden; seine Ro- der das Vertrauen Kaiser Wilhelms II. zu ermane (u. a. Die Prima Donna. Stgt. 1844) tragen ringen verstand u. 1900 als Nachfolger des autobiogr. Züge u. sind dem Werk Goethes Fürsten von Hohenlohe Reichskanzler u. verpflichtet. Literaturwissenschaftliche Be- preußischer Ministerpräsident wurde. Vom russisch-engl. Weltgegensatz überzeugt, beachtung hat B.s Werk nicht gefunden. Weitere Werke: Neue Erzählungen. 2 Bde., anspruchte B. für das Deutsche Reich die Ffm. 1823–25. – Neueste Erzählungen. Stgt. 1830. Gleichberechtigung im Kreis der imperialis– Der Enthusiast. Stgt. 1832 (R.). – Der Flüchtling. tischen Großmächte. Allerdings betrieb er die »Politik der freien Hand« ziemlich ungeLpz. 1836 (R.). – Polit. Xenien. Stgt. 1849. Literatur: Hermann Fischer: Klassizismus u. schickt, so durch seine Zustimmung zum Romantik in Schwaben. Tüb. 1889. – Ders.: F. L. B. Flottenbauprogramm. Sein Rücktritt im Juli In: Literar. Beilage des Staats-Anzeigers für Würt- 1909 wurde unvermeidlich, weil Konservatitemberg 1912, S. 25–32. Adrian Hummel / Red. ve u. Zentrum in der Erbschaftssteuerfrage ihm nicht folgten u. er das Vertrauen des Kaisers bereits seit der »Daily-Telegraph-AfBülow, Babette von, eigentl.: Bertha von färe« (Ende 1908) nicht mehr besaß. Seine B., auch: Hans Arnold, * 30.9.1850 BresReden, 1897–1909 (3 Bde., Bln. 1903–09) dolau, † 8.3.1927 Arendsee/Mecklenburg. – kumentieren den glänzenden Rhetor zumal Autorin von Novellen u. Lustspielen. im Reichstag. Auch nach dem Ende der Die Tochter des Parlamentariers Felix Eberty Monarchie fanden sie viele Leser im dt. Bilwar seit 1876 mit einem Offizier verheiratet, dungsbürgertum u. prägten deren Bild vom mit dem sie lange Zeit ein Leben in Garniso- Kaiserreich. B.s Denkwürdigkeiten (4 Bde., Bln. nen teilte. Um die Jahrhundertwende waren 1930/31) verschleiern die wirkl. Motive seiner B.s Novellen aus dem häusl. Umkreis in den Politik u. sind ein mit Recht kritisiertes

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Zeugnis seiner Selbstgerechtigkeit u. Eitelkeit. Weitere Werke: Dt. Politik. Bln. 1916. – Dt. Politik. Komm. Text. Hg. Peter Winzen. Bonn/Bln. 1992. Literatur: Friedrich Frhr. Hiller v. Gaertringen: Fürst B.s ›Denkwürdigkeiten‹. Tüb. 1956. – Dirk Stegmann: Die Erben Bismarcks. Köln 1970. – Peter Winzen: B.s Weltmachtkonzept. Boppard 1977. – Michael Behnen: Rüstung – Bündnis – Sichereit. Dreibund u. informeller Imperialismus 1900–08. Tüb. 1985. – Gerd Fesser: Reichskanzler Fürst v. B. Architekt der dt. Weltpolitik. Lpz. 2003.

Weitere Werke: Das neue Novellenbuch. Braunschw. 1841. – Herausgeber: Heinrich v. Kleists Leben u. Briefe. Bln. 1848. – Griech. Gedichte. Ausw. der besten dt. Übers.en. Heidelb. 1850. – Alemann. Gedichte. Zürich 1851. Literatur: Wulf Segebrecht: Ludwig Tieck an E. v. B. Dreiundzwanzig Briefe. In: JbFDH 1966, S. 384–456. – Enrica Yvonne Dilk: E. v. B. and Hans v. Bülow in Stuttgart: ›Heute las Tieck unvergleichlich schön ...‹. Marbach 2001. – Dies.: E. v. B.s Korrespondenz mit dem Stuttgarter Cotta-Verlag. In: Université du Luxembourg 21 (2006), S. 19–49. Cornelia Lutz / Red.

Michael Behnen / Red.

Bülow, (Karl) Eduard von, * 17.11.1803 Bülow, Frieda Friederike Sophie Luise Schloss Berg bei Eilenburg/Sachsen, Freiin von, * 12.10.1857 Berlin, † 12.3. † 16.9.1853 Schloss Oelishausen/Thur- 1909 Jena. – Begründerin der deutschen gau. – Übersetzer, Herausgeber, Erzähler. Kolonialliteratur, Autorin frauenemanzipatorischer Belletristik, LiteraturrezenAuf Wunsch seines Vaters, eines kgl. sächs. sentin. Majors, absolvierte B. zunächst eine kaufmänn. Lehre, bevor er 1826 mit dem Studium der Altphilologie in Leipzig begann. 1828 übersiedelte er nach Dresden. Hier lernte er Ludwig Tieck kennen, dem er zeitlebens freundschaftlich verbunden blieb. Zu seinem engeren Bekanntenkreis zählten u. a. auch Wolf Graf Baudissin u. Carl Gustav Carus. 1832 erhielt B. (dessen Sohn Hans als Dirigent berühmt wurde) den Titel eines anhaltdessauischen Kammerherrn, trat jedoch nie eine Stelle im Staatsdienst an. Nach dem Scheitern der 48er-Revolution zog er sich enttäuscht in die Schweiz zurück, legte seinen Adelstitel nieder, um seine Gemeinschaft mit den Demokraten zu bekunden, u. widmete sich ganz seinen altphilolog. u. literar. Studien. Unter Tiecks Einfluss entstanden B.s erste u. bedeutendste Werke: Neubearbeitungen der Abenteuer des Simplicissimus (Lpz. 1836) u. von 100 ausgewählten Novellen der Weltliteratur u. d. T. Novellenbuch (4 Bde., Lpz. 1834–36). Hinzu kamen zahlreiche Übersetzungen (Manzoni, Abbé Prévost u. a.) u. Editionen (Bd. 3 von Novalis’ Schriften, zus. mit Tieck). Von den Zeitgenossen nicht immer mit Wohlwollen bedacht, kommt B. das Verdienst zu, Tieck in dessen letzter Schaffensperiode als Vermittler u. Anreger tatkräftig zur Seite gestanden zu sein.

Als älteste Tochter des Legionsrats Hugo Freiherr von Bülow u. seiner Frau Clothilde, geb. Freiin von Münchhausen, wuchs B. mit vier Geschwistern in Berlin, Smyrna u. Neudietendorf/Thüringen auf. Ab Mitte der 1880er Jahre für die dt. Kolonialisierung aktiv, dabei Carl Peters mehr als freundschaftlich verbunden, besuchte sie 1887 u. 1893 Afrika. Rechtliche u. gesundheitl. Probleme zwangen jeweils zur Rückkehr nach Deutschland, wo sich B. auf literar. Propaganda für die »Kolonialsache« (Hoechstetter) verlegte. Hier verbinden sich autobiogr. Erfahrungen mit aristokratischer Unterhaltungsliteratur u. naturalist. Schreibweise. Zwar zeichnen die Texte kein klischeehaftes, präkolonial-exotistisches Afrikabild, im Zentrum steht jedoch stets das Gesellschaftsleben der europ. Eroberer. Ureinwohner u. Kolonialkriege werden allenfalls randständig thematisiert. Nach dem Bruch mit Peters wandte sich B. der neuen »Frauenliteratur« zu. Erneut eigenen Erlebnissen folgend, porträtierte sie in Frauenfiguren prominente Zeitgenossinnen u. deren polit. Anliegen, so Helene Lange, Sophia Goudstikker oder die enge Freundin Lou Andreas-Salomé. Eingang in die Texte fand ferner der progressive Typus einer berufstätigen, Rad fahrenden, kurzhaarigen

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Frau mit homoerot. Neigungen, was um 1900 skandalös anmutete. Werke: Kolonialromane: Am andern Ende der Welt. Bln. 1890. – Der Konsul. Bln. 1891. – Margarethe u. Ludwig. Stgt. 1894. – Tropenkoller. Bln. 1896. – Im Lande der Verheissung. Dresden/Lpz. 1899. – Weitere Kolonialliteratur: Reisescizzen u. Tagebuchblätter aus Deutsch-Ostafrika. Bln. 1889. Mikrofiche-Ausg. Ann Arbor/London 1980. – Dt.ostafrikan. Novellen. Bln. 1892. – Ludwig v. Rosen Bln. 1892 (E.). – Das Portugiesenschloß. Bln./Lpz. 1907 (E.). – Frauenromane: Kara. Stgt. 1897. – Anna Stern. Dresden/Lpz. 1898. – Abendkinder. Dresden 1900. Mikrofiche-Ausg. Weimar 1999. – Im Hexenring. Stgt. 1901. – Hüter der Schwelle. Dresden 1902. – Allein ich will. Dresden 1903. – Im Zeichen der Ernte. Dresden 1904. – Die Tochter. Dresden 1906. – Wenn Männer schwach sind. Bln. 1908. – Die Schwestern. Dresden 1909. – Weitere Frauenliteratur: Einsame Frauen. Bln. 1897 (N.). – Wir v. heute. Dresden/Lpz. 1898 (E.). – Die stilisierte Frau. Dresden 1904. – Ird. Liebe. Dresden 1905. – Freie Liebe. Dresden 1909 (N.). Literatur: Sophie Hoechstetter: F. Freiin v. B.: ein Lebensbild. Dresden 1910 (Biogr.). – Joachim Warmbold: Germania in Afrika. F. Freiin v. B., ›Schöpferin des deutschen Kolonialromans‹. In: Jb. des Instituts für Dt. Gesch. 15 (1986), S. 309–336. – Sabina Streiter: Nachw. In: Die schönsten Novellen der F. v. B. über Lou Andreas-Salomé u. andere Frauen. Hg. dies. Ffm./Bln. 1990, S. 236–252. – Edelgard Biedermann: ›Es ist mir immer, als lebte ich in einem phantastischen Roman‹: F. v. B.s Kolonialromane als Spiegelungen dt. kolonialer Kulturgesch. In: Akten des 10. Internat. Germanistenkongresses. Bd. 9: Literaturwiss. als Kulturwiss. Hg. Ortrud Gutjahr. Bern u. a. 2003, S. 63–69. – Maria Teresa Delgado Mingocho: Frauen schreiben über Frauen. Das Beispiel F. v. B. In: Gender u. Macht in der deutschsprachigen Lit. Hg. Montserrat Bascoy u. a. Ffm. u. a. 2007, S. 117–127. Kathrin Klohs

Bülow, Margarethe Freiin von, * 23.2.1860 Berlin, † 2.1.1884 Berlin. – Roman- u. Novellenautorin. Die Tochter eines preuß. Konsuls wuchs zunächst in Smyrna auf, wo sie die Kaiserswerther Diakonissenschule besuchte u. unter anderem Neugriechisch lernte, später auf dem elterl. Gut bei Neudietendorf in Thüringen. 1876/77 verbrachte sie mit ihrer Schwester Frieda in England u. zog dann

nach Berlin; sie starb bei einem missglückten Rettungsversuch. B.s Werke erschienen sämtlich postum. Ihre Novellen (Lpz. 1886; mit einem Vorw. v. Julian Schmidt) schildern psychologisch einfühlsam Alltagsschicksale. Die Romane Jonas Briccius (Lpz. 1886) u. Aus der Chronik derer von Riffelshausen (Lpz. 1887; von B. trotz 445 Seiten Umfangs »Erzählung« genannt), stellen, ähnlich wie bei Louise von François, heimatl. Verwurzelung in histor. Landschaft dar u. weisen auf den späteren Heimatroman voraus; zgl. ist ihre Thematisierung des zeitgenöss. Berlin ein Beitrag zum Spätrealismus. Literatur: Ludwig Fränkel: M. v. B. In: ADB. – Guido Karl Brand: M. v. B. In: Ders.: Die Frühvollendeten. Bln. 1929. – Paul Lindenberg: Es lohnt sich, gelebt zu haben. Bln. 1941. Eda Sagarra / Red.

Bünderlin, Bynderlin, Bünderlius, Wynnderl, Wunderle, Johannes, auch: Hans Fischer oder Vischer, * um 1500 St. Peter bei Linz/ Oberösterreich, † nach 1539. – Verfasser populärer religiöser Schriften in deutscher Sprache. Geboren als Sohn eines Fischers, studierte B. 1515–1519 in Wien bis zum Grad eines Baccalaureus artium u. war dann vermutlich Geistlicher in seiner Heimat. Er stand 1526 im Dienst des luth. Adeligen B. von Starhemberg, hielt sich seit 1527 einige Zeit bei dem täuferisch gesinnten L. von Liechtenstein auf, war dann als Vereinzelter unterwegs. Entscheidend beeinflusst wurde B. durch Johannes Denck; Sebastian Franck u. Caspar von Schwenckfeld stand er zeitweise nahe; Martin Bucer u. Pilgram Marpeck schrieben gegen ihn. Sein Wanderleben, das ihn u. a. nach Straßburg, Konstanz, Augsburg u. Ulm, aber auch nach Mähren, Schlesien u. Ostpreußen führte, kann nicht mehr genau erfasst werden; nach 1539 verschwindet er. Die vier überlieferten Schriften B.s wurden in Anbetracht der sonst überall strengeren Zensur in Straßburg gedruckt: Ein gemeyne berechnung uber der heyligen schrifft innhalt; Ausz was ursach sich Gott in die nyder gelassen und in Christo vermenschet ist; Ein gemayne einlayttung in den aygentlichen verstand Mosi, und der Pro-

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pheten (alle 1529) u. Erklerung durch vergleichung der Biblischen geschrifft, das der wassertauff [...] in der Apostolischen kirchen geübet (1530). Reihenfolge der Entstehung u. Zusammenhang mit anderen Werken sind unklar. Die Schriften lassen eine Naherwartung des Endes erkennen; sie richten sich an ein allgemeines Publikum, das sie zur richtigen, nämlich spirituellen Lektüre der Bibel anleiten wollen. Inhaltlich unterscheiden sie sich kaum voneinander: B. lehnt jede äußerl. Kirche – seit der Zeit der Apostel sei sie ohnehin verdorben – ebenso ab wie jede schriftl. Autorität; dagegen behauptet er, dass jeder Christ unmittelbar durch den Heiligen Geist verstehen u. in Gottes Sinn verwandelt werden könne. Unter großen Anstrengungen versucht B. nachzuweisen, dass die Inkarnation u. die gesamte allegor. Geschichte Israels u. der Kirche dennoch notwendig u. sinnvoll gewesen seien. Literatur: VD 16, B 9141–9144. – Weitere Titel: Alexander Nicoladoni: J. B. v. Linz u. seine Stellung zu den Wiedertäufern. Linz 1888. – Ders.: J. B. v. Linz u. die oberösterr. Täufergemeinden in den Jahren 1525–31. Bln. 1893. – Eberhard Teufel: J. B. In: NDB. – Claude R. Forster: J. B. Diss. Philadelphia 1963. – Ulrich Gäbler: Zum Problem des Spiritualismus im 16. Jh. Das Glaubensverständnis bei J. B v. Linz. In: Theolog. Ztschr. 29 (1973), S. 334–344. – Ders.: J. B. v. Linz: In: Jb. der Gesellsch. für die Gesch. des Protestantismus in Österr. 96 (1980). – Ders.: J. B. In: Bibliotheca Dissidentium. Hg. André Séguenny. Bd. 3, Baden-Baden 1982. – Hellmut Zschoch: J. B. In: RGG 4. Aufl. Bd. 1, Sp. 1876. Christoph Dejung / Red.

Bünker, Bernhard Christian, * 14.8.1948 Leoben/Steiermark. – Verfasser von Dialektlyrik. In Kärnten aufgewachsen, studierte B. Philosophie, Geschichte u. Kunstgeschichte in Wien, wo er als Autor u. evang. Religionslehrer lebt. B. ist Mitgl. der Grazer Autorenversammlung u. des Internationalen Dialect Instituts (Wien); er erhielt 1979 den TheodorKörner-Preis für Literatur u. ist Mitherausgeber der Dialekt-Anthologie 1970–1980 (Wien 1982). Seine literar. Produktion umfasst Gedichte, Balladen, Drehbücher, Satiren u. Erzählun-

Bünker

gen, meist in Kärntner Mundart, in denen er sich v. a. gegen die Verunstaltung der heimischen Landschaft u. die Zerstörung der gewachsenen regionalen Strukturen durch den Massentourismus wendet. Dialekt u. Mundart, Umgangssprache u. Slang sind für B. authent. Ausdruck regionaler Kultur. 1975 wurde in Wien das Internationale Dialektinstitut (IDI) gegründet, das alle Dialektautoren erfasst, die sich in der Nachfolge H. C. Artmanns u. des sog. Sprachexperiments in den 1950er u. 1960er Jahren kritisch mit der Sprache auseinandersetz(t)en. Eine Reihe dieser Dialektdichter sind in einem oder mehreren Werken der Mundartliterarischen Reihe (MLR) vorgestellt. Sie erschien zuerst in Rothenburg ob der Tauber, danach in Krefeld, wie ein Band B.s aus dem Jahre 1988 (Lei nit lafn onfongen: Texte im Kärntner Dialekt). Autoren dieser literar. Strömung wurden zuerst in Fernand Hoffmanns u. Josef Berlingers Die neue deutsche Mundartdichtung: Tendenzen und Autoren – dargestellt am Beispiel der Lyrik (Hildesh. u. a. 1978) eingehend besprochen. Ihr wesentlicher Unterschied zur traditionellen Dialektdichtung erklärt sich aus dem genannten sprachkrit. Ursprung nach dem Zweiten Weltkrieg, verwandt dem Dadaismus im frühen 20. Jh. Sprache wird von den Dichtern zunächst als zu gestaltendes Element im Rahmen von Sprachspielen verstanden, wie dies in hochsprachl. Vorbildern nach Ernst Jandl oder den Vertretern der Wiener Gruppe, hier auch z.T. dialektsprachlich (H. C. Artmann) zu finden ist. In Interviews vom 1.12. bzw. 3.12.1978 (CDs im Internationalen Mundartarchiv Ludwig Soumagne, Zons/Rhein) bekennt sich B. zu diesen Vorbildern u. wendet sich somit gegen gewachsene Dialektliteratur. So tritt er gegen das Vorbild seines eigenen Vaters, des traditionellen Kärntner Mundartdichters Otto Bünker († 2001), der zwischen 1962 u. 1996 ebenfalls etwa zehn Dialektwerke, meist in Klagenfurt, herausbrachte. Eher orientiert sich B. an H. C. Artmanns 1958 veröffentlichtem Erfolgswerk med ana schwoazzn dintn. Die Gestaltung dieses Werkes wie der aller nachfolgenden dieser Art zeichnet sich durch die ironische, satir. Note aus.

Bürde

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Dennoch gewinnen die meisten neuen Dia- Bürde, Samuel Gottlieb, auch: Londy, lektautoren ihrem jeweiligen Dialekt ein * 7.12.1753 Breslau, † 28.4.1831 Breslau. ernstes Moment ab, das durch die Verisimi- – Jurist; Lyriker, Dramatiker, Librettist u. lität, also die Echtheit des gesprochenen Übersetzer. (Dialekt-)Wortes besticht u. diese regionalen Der von Johann Christian Günther beeinSprachformen des Deutschen zu Kunst- u. flusste Schüler des Breslauer Gymnasiums Hochsprachen erhebt. In einem meist mono»Elisabetan« widmete sich dem Rechtsstudilogartigen Stil dieser Lyrik, worin Selbsterum in Halle, wurde 1778 Sekretär des spätefahrung des Autors u. poetisches Ich verren preuß. Staatsministers Heinrich Christian quickt erscheinen, entfalten manche dieser Karl Graf von Haugwitz, 1781 Kammerseneuen Dialektautoren literar. Meisterleistunkretär in Breslau, 1795 Geheimer Sekretär am gen, die sich gegenüber der Tradition mit Schlesischen Finanzministerium, 1806 Kamniederdeutscher Hochdichtung oder mit mer- u. Kanzleidirektor u. 1815 Königlicher mittelalterl. Dichtung vergleichen lassen. Hofrat. Diesen hohen Anspruch an psychischer Im Drama, etwa dem Lustspiel Die EntfühAussagekraft u. metaphernreicher, zuweilen rung (Breslau 1778) u. dem Trauerspiel Der schwierig deutbarer Symbolik spricht HoffHochzeitstag (Breslau 1779), blieb B. wirmann in seinen oben genannten Ausführunkungslos. In seiner geistl. Lyrik, Geistliche gen diesem Dichter in einer zehn Seiten lanPoesieen (Breslau 1787. Halberst. 21794) oder gen Auseinandersetzung mit dessen Werk Geistliche Gedichte (Breslau 1817), lässt B. den lobend zu (a. a. O.: Die Österreicher, S. 142 ff.; Einfluss der Aufklärung erkennen. In seinen bes. S. 175–85). Im genannten Interview wie Verserzählungen ist er v. a. Gellert u. Wieland auf einer CD im Band der Krefelder MLR liest verpflichtet, an dessen »Teutschem Merkur« B. aus seinen Werken u. belegt die Kraft seiwie u. a. auch an Schillers »Horen« er mitarner von prosod. Melos u. scharfer Zunge bebeitete. stimmten Dichtung, die jenseits des Niveaus Gewisse Bedeutung hat B. als Verfasser u. des schlichten Lokaldichters anzusiedeln ist Bearbeiter von Libretti zu Singspielen u. u. B. einen gleichrangigen Platz mit hochOpern. So verfasste er Don Sylvio von Rosalva sprachl. Lyrikern in der deutschsprachigen (Königsb. 1795; nach Wielands Roman), Der Dichtung des späteren 20. Jh. zuweist. Taucher (1810; nach Schillers Ballade) sowie Weitere Werke: De ausvakafte Hamat. Feldaacht weitere ungedruckte Opern. Der Spielfing 1975 (L.). – An Heabst fia di. Klagenf. 1976 (L.). – Ongst vua da Ongst. Klagenf. 1978 (M.). – Vom plan des Breslauer Theaters verzeichnet 101 Schteabn u. Traurigsein. Wien 1979 (Tonkassette Aufführungen von B.s Opern. Einigen Rang beansprucht B. als Übersetmit Texth.). – Wals die Hamat is. Spittal/Drau 1979 (Dokumentation). – Des Schtickl gea i allan. Kla- zer. Neben zahlreichen Übersetzungen aus genf. 1980 (L.). – Wonns goa is. Klagenf. 1984 (L.). – dem Englischen u. Französischen fand v. a. Satiren. Wien 1990. – Dazöhl (nix) von daham: die in fünffüßigen Jamben gehaltene ÜberTexte u. Erzählungen im Kärntner Dialekt. Kla- setzung von John Miltons Verlornem Paradies (2 genf./Wien 1991. – Karntn is lei a Grobschtan: ›De Bde., Bln. 1793) bei den Zeitgenossen großen hom ollwal fest en Bluus kobt...‹. Klagenf. 1992 Beifall. (L.). – Schwoazze Blia fia di. Klagenf. 1993 (L.).

Ausgabe: zommengetrogn: Werksausw. Mit einem Nachw. v. Hans Haid. Klagenf. 1995 (L.). Ursula Weyrer / Peter Pabisch

Weitere Werke: Der Zobtenberg. Breslau 1788 (P.). – Vermischte Gedichte. Breslau 1789. – Die Feuersbrunst. Ein poet. Gemälde. Breslau 1791. – Die Regata zu Venedig. Breslau 1794 (Arien u. Gesänge). – Lieder u. Singstücke. 1795. – Operetten. Königsb. 1795. – Erzählungen. Königsb. 1796. Bln. 2 1796. – Poet. Schr.en. 2 Tle., Breslau u. Lpz. 1803 u. 1805. Literatur: Hans G. Schulze: Miltons Verlorenes Paradies in dt. Gewand. Diss. Bonn 1928. – Gerhard Gitschmann: S. G. B. Diss. Breslau 1941. – Walter

Bürger

281 Kunze: S. G. B. In: NDB. – Günter Schulz: S. G. B. u. die Dichter seiner Zeit. In: Jb. der Schles. Friedrich-Wilhelm-Universität zu Breslau 9 (1964), S. 141–186. – Anna Koziol: Zur Lichtmetaphorik der Aufklärung – am Beispiel der Dichtung v. Matthias Claudius u. S. B. In: Aufklärung in Schlesien im europ. Spannungsfeld II. Aufgeklärter Sensualismus. Hg. Wojciech Kunicki. Warschau 1998, S. 129–137. Klaus Manger / Christine Martin

Bürger, Gottfried August, auch: Jocosus Hilarius, * 31.12.1747 Molmerswende bei Quedlinburg, † 8.6.1794 Göttingen; Grabstätte: ebd., Bartholomäi-Friedhof (Gedenkstein). – Balladendichter, Lyriker. In Molmerswende, einem abgelegenen Dorf am Ostharz, hatte B. keine Möglichkeit zu geistigem Fortkommen, denn sein Vater, Pfarrer des Ortes, selbstgenügsam u. bequem, kümmerte sich wenig um die Ausbildung seines Sohnes. Auf Initiative des Großvaters Jakob Philipp Bauer kam B. 1760–1763 in das Pädagogium in Halle u. anschließend für drei Jahre auf die dortige Universität zum Studium der Theologie. Im Umgang mit Christian Adolph Klotz erwachte bei ihm das Interesse an klass. Studien u. poet. Versuchen, die von Johann Wilhelm Ludwig Gleim gefördert wurden. Diesen Neigungen blieb er während seines Jurastudiums in Göttingen (seit 1768) treu, wo er Heinrich Christian Boie, den langjährigen Freund u. poet. Berater, kennenlernte u. auf Ludwig Christoph Heinrich Hölty, Johann Anton Leisewitz, Johann Heinrich Voß, die Brüder Stolberg u. a. Mitglieder des 1772 gegründeten Göttinger Hainbundes stieß. 1772 wurde B. Amtmann in der Gerichtshalterstelle zu Alten-Gleichen mit Sitz in Gelliehausen bei Göttingen, die der Familie von Uslar gehörte. Die Gerichtsbarkeit befand sich in desolatem Zustand, u. B. wurde das Opfer der in sich zerstrittenen u. intrigierenden Familie von Uslar. Die Stelle brachte finanziell weniger als erwartet ein u. raubte ihm die für seine dichterische u. philolog. Tätigkeit erforderl. Muße. Seine Versuche, sich aus dem Sumpf der ihn zermürbenden Sorgen u. der Monotonie des abgelegenen Gerichtsortes zu befreien – sei es durch Lotteriespiel oder durch die

Gründung einer Verlagsanstalt mit seinem Freund Leopold Friedrich Günther Goeckingk, durch Auswanderung oder durch die Pacht eines Landgutes –, sollten misslingen. Ebenso zerschlugen sich Hoffnungen auf andere Stellen, da er bei der Hannoverschen Regierung als Amtmann keinen guten Ruf hatte. Mehrfach stand sein Renommee als »Schöngeist« der Übernahme eines Amtes im Weg. Zu dieser Situation vieler Autoren im 18. Jh. auf dem Weg zum »freien« Schriftsteller kam bei B. eine persönl. Misere: Kurz nach der Heirat mit Dorette Leonhart, 1774, verliebte er sich leidenschaftlich in deren Schwester Auguste, die »Molly« seiner Gedichte. Nachdem Dorette nach zehn unglückl. Ehejahren, in denen zeitweilig eine Ehe zu dritt geführt wurde, 1784 an den Folgen einer Geburt gestorben war u. B. im Jahr darauf endlich die Heißbegehrte geheiratet hatte, ereilte diese nach nur siebenmonatiger Ehe dasselbe Schicksal. Der erniedrigenden Behandlung im Amt überdrüssig, gelang es B. dank der Förderung durch Christian Gottlob Heyne, Abraham Gotthelf Kästner u. Georg Christoph Lichtenberg, 1784 Privatdozent an der Universität Göttingen zu werden, wo er bis zu seinem Tod Vorlesungen u. prakt. Übungen über Ästhetik, Stilistik, dt. Sprache u. Philosophie hielt. Obwohl 1787 zum Dr. h. c. u. 1789 zum a. o. Prof. ernannt, führte er weiterhin ein kummervolles Leben: Ohne feste Anstellung musste er »gratis et frustra« lesen u. war gezwungen, sich anzupassen u. unterzuordnen. Seine Schulden wuchsen, er wurde krank, eine Bittschrift an die Hannoversche Regierung um Gehalt wurde ihm abgeschlagen. Seine dritte Frau, das »Schwabenmädchen« Elise Hahn, die ihm öffentlich eine poet. Liebeserklärung gemacht hatte, ließ ihn, als er noch einmal auf Lebensglück u. Mut hoffte, durch ihr ehebrecherisches Verhalten zum Spott in der Göttinger Gesellschaft werden. In ausgesetzter Lage, fast ohne Freunde, von Schulden belastet, von Elise geschieden (März 1792), siechte B. dahin u. starb 1794 im Alter von 46 Jahren an Schwindsucht. In Göttingen verachtet, war B. in der geistig-literar. Welt längst kein Unbekannter mehr. Schon zu Beginn der 1770er Jahre war

Bürger

er mit Proben einer jambischen Ilias-Übersetzung in bekannten Zeitschriften aufgetreten u. hatte das Interesse Wielands, Goethes, von Knebels u. des Weimarer Musenhofes erweckt, wo man ihn im Namen Goethes begeistert um Vollendung der Ilias-Übersetzung bat u. ein ansehnl. Honorar bereitstellte. Trotz solchen Lobs zögerte B. mit der Einhaltung seines Versprechens: Die Amtspflichten verhinderten ein Unternehmen dieses Ausmaßes, gleichzeitig wurde er durch die Erfolge der hexametr. Homer-Übersetzungen von Friedrich Leopold zu Stolberg u. Voß unsicher, verwarf endlich seine einst verteidigte Jambeneindeutschung als »erste Jugendidee« u. veröffentlichte die ersten vier Gesänge der Ilias jetzt ebenfalls in Hexametern, ohne jedoch die Energie aufzubringen, das Werk zu vollenden. Die Weimaraner reagierten befremdet, Goethe nahm eine distanzierte Haltung ein. Auch viele andere Projekte führte B. nicht aus: Von mehreren erwogenen ShakespeareÜbersetzungen erschien nur Macbeth (Gött. 1783); ein großes volkstüml. Nationalepos nahm er nicht in Angriff, Erzählungen u. ein Roman blieben Idee, von den geplanten ausführl. Arbeiten über Volkspoesie erschienen nur Bruchstücke, die Neubearbeitung von Tausend und einer Nacht blieb Ankündigung, Pläne zu Dramen u. Trauerspielen im Wetteifer mit Jakob Michael Reinhold Lenz u. Heinrich Leopold Wagner scheiterten. Weniger Phlegma u. Unstetigkeit als die Isolation B.s in Göttingen, Mangel an Erfahrung u. geistigem Austausch waren hierfür die Ursache. U.d.T. Wunderbare Reisen zu Wasser und Lande, Feldzüge und lustige Abentheuer des Freiherrn von Münchhausen (London, recte Gött. 1786) veröffentlichte B. anonym seine Übersetzung u. Erweiterung von Rudolf Erich Raspes Baron Munchhausen’s Narrative of his Marvellous Travels and Campaigns in Russia (1786). (Zu B.s eigenständigen Zusätzen s. Werke, S. 1280.) Raspes Buch ging auf anonym in Deutschland veröffentlichte Lügen-Erzählungen zurück, die dem Freiherrn Hieronymus Karl Friedrich von Münchhausen zugeschrieben wurden. Zu seinen Lebzeiten wusste man nicht, dass B.

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der Verfasser dieser überaus populären Übersetzung war. Dass er über die Grenzen Göttingens hinaus so bekannt wurde, verdankte er seinen Gedichten u. Balladen, die er ab 1771 im Göttinger »Musenalmanach«, dessen Redaktion er 1778–1794 innehatte, veröffentlichte. 1778 u. 1789 stellte er diese Lyrik in eigenen Gedichtausgaben zusammen. Eine erste Gruppe bilden Gedichte, die noch der Anakreontik Gleims u. Ramlers verpflichtet sind. Im Anschluss an Herders Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker u. dessen »Shakespeare«-Aufsatz (in: Von deutscher Art und Kunst. 1773) sowie animiert durch Thomas Percys Reliques entstanden die Balladen als zweite Gruppe seiner Gedichte. Debütiert von der Lenore 1773, umfasste sie so bekannte Stücke wie Der wilde Jäger, Des Pfarrers Tochter von Taubenhain, Des armen Suschens Traum u. Der Raubgraf, die bei aller Verschiedenheit u. unterschiedl. Qualität im Einzelnen unter dem poet. Glaubensbekenntnis der »Popularität« eine Einheit bilden. Die bis dahin ganz unbekannte Darstellungsweise der Spontaneität u. Lebendigkeit, der Leidenschaft u. Stärke – die Lenore bedeutet für die Gattung Ballade, was Götz von Berlichingen für diejenige des Dramas ist – darf nicht als Ergebnis spontanen Dichtens missverstanden werden. B. kämpfte zwar gegen die bis dahin dominierende gelehrte Poesie mit ihren festen Regeln u. Konventionen an, arbeitete aber in der Praxis mit eben der Akribie wie seine Vorgänger. Allerdings wollte er erzielen, was diese vermieden: den Eindruck von Unmittelbarkeit u. Volkstümlichkeit. Wenn B. Elemente der Volksdichtung aufnimmt, auf den »Natur-Katechismus« rekurriert u. Ursprünglichkeit anstrebt, darf er dennoch nicht als »Volksdichter« in dem Sinne angesehen werden, dass er nur die unteren sozialen Schichten als Rezipienten ansprechen wollte. Dieses verbreitete Missverständnis konnte durch einige Formulierungen B.s entstehen, die er später revidierte. Im Herzensausguß über Volkspoesie (in: Aus Daniel Wunderlichs Buch. 1776) verspricht er dem Dichter, der das Buch der Natur u. das Volk im Ganzen kennt, »daß sein Gesang den verfeinerten Weisen eben so sehr, als den ro-

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hen Bewohner des Waldes, die Dame am Putztisch wie die Tochter der Natur hinter dem Spinnrocken und auf der Bleiche, entzücken werde« (Werke, S. 689). In der Vorrede zu seiner Gedichtausgabe von 1778 differenzierte er bereits, unter »Volk« »mitnichten den Pöbel allein« zu verstehen (Werke, S. 717). Und in der Vorrede zu seiner endgültigen Gedichtausgabe von 1789 gilt zwar weiter seine Maxime: »Popularität eines poetischen Werkes ist das Siegel seiner Vollkommenheit«; aber unter »Popularität« versteht er Anschaulichkeit u. Leben »für unser ganzes gebildetes Volk! – Volk! Nicht Pöbel!« Denn: »In den Begriff des Volkes aber müssen nur diejenigen Merkmale aufgenommen werden, worin ungefähr alle, oder doch die ansehnlichsten Klassen übereinkommen« (Werke, S. 14). So ist »Popularität« für B. in erster Linie ein Stil- u. Ausdrucksmittel, mit dem er die erstarrte, regelverhaftete, rationalist. Dichtung überwinden will. Er möchte Poesie neu mit Leben, Gefühl u. Leidenschaft, auch subjektiver Leidenschaft, füllen. Dass er dabei inhaltlich häufig die Rechte der Unterdrückten gegenüber den Regenten u. der Obrigkeit vertritt, sich zum Anwalt des »Volkes« macht, ist zu betonen, sollte aber von einer naiven Bezeichnung B.s als »Volksdichter« unterschieden werden. Die Subskriptionsverzeichnisse seiner Gedichtausgaben u. der Briefwechsel zeigen, dass die Verbreitung seiner Gedichte in erster Linie durch Schriftsteller, Studenten u. Akademiker erfolgte. Eine dritte Gruppe seiner Gedichte thematisiert persönl. Leid, v. a. in den sinnlicherot. Liedern an Molly. Häufig sind sie in einer den Balladen vergleichbaren Intensität, Drastik u. Direktheit subjektiven Empfindens gestaltet. Dass auch hier Spontaneität bewusster Formung nicht entgegensteht, zeigt sich bes. augenfällig an der von B. erneuerten Kunstform des Sonetts, die zeigt, dass B. nicht nur der Sturm u. Drang-Dichter ist. Eine vierte Gruppe in seinem Gedichtwerk bilden die polit. u. krit. Texte. Seit dem bekannten provokativen Gedicht Der Bauer. An seinen Durchlauchtigen Tyrannen von 1773 bis zu den sich häufenden Stellungnahmen zur

Bürger

Französischen Revolution im Göttinger »Musenalmanach auf das Jahr 1793« bildet die polit. Dichtung eine Konstante in B.s Schaffen. Sie wird ergänzt durch manche Polemik auf persönl. Gegner u. auf den Literaturbetrieb. Bes. die barsche Kritik Schillers animierte B. zu bissigen Erwiderungen. Die vielen positiven Stimmen zu B.s Lyrik von Wieland, Voß, Friedrich Leopold zu Stolberg, vom jungen Goethe, von August Wilhelm Schlegel oder Friedrich von Hardenberg wurden übertönt durch die für B. verhängnisvolle Kritik Schillers in der »Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung« 1791. Nicht uneigennützig u. von einem B. inadäquaten Maßstab ausgehend, sein klass. Konzept präludierend, bemängelte Schiller bei B. fehlende Idealisierung, Veredelung u. Harmonie, kritisierte die Distanzlosigkeit des Dichters zu seinen Gegenständen u. warf ihm vor, sich der »Fassungskraft des großen Haufens« angepasst, statt um den »Beifall der gebildeten Klasse« gerungen zu haben (Werke, S. 1143). Schiller tadelte genau das, was B.s Stärke ausmachte. Mehr noch, die Zentren der B.’schen Dichtung, die Balladen u. zeitkrit. Gedichte, blieben von Schiller unerwähnt, obwohl seine Rezension in ihrer Apodiktik vorgab, B.s ganze Leistung anzugreifen. Die Autorität Schillers hat B. in Verruf u. Vergessenheit gebracht. Schon bald wandte sich Friedrich von Hardenberg von ihm ab, das Urteil August Wilhelm Schlegels wurde distanzierter. Die Leistungen der Klassiker u. Romantiker traten als Maßstäbe in den Vordergrund. B. wurde degradiert u. geriet aus dem Diskurs der tonangebenden literar. Geister. Erst später sollte Arthur Schopenhauer B. als »echtes Dichtergenie« bezeichnen, »dem vielleicht die erste Stelle nach Goethen unter den deutschen Dichtern gebührt« (Schopenhauer. Werke 2. Stgt./Ffm. 1960, S. 670). Heinrich Heine revidierte in der Romantischen Schule Schlegels abfällige Äußerungen über B.s Balladen u. kam zu dem bekannten Satz: »Der Name ›Bürger‹ ist im Deutschen gleichbedeutend mit dem Worte citoyen« (Heine. Schriften. Bd. 3, Mchn. 1971, S. 413). Kurz zuvor, in einem Brief an Karl Friedrich

Bürger

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Zelter vom 6.11.1830, scheint Goethe auf die Bürger, Marie Christiane Elisabet(h), gen. Seite B.s u. gegen Schiller gerückt zu sein, Elise, geb. Hahn, auch: Theodora, * 17.11. wenn er, obwohl er auch hier mit Kritik an B. 1769 Stuttgart, † 24.11.1833 Frankfurt/ nicht spart, äußert: »Schiller hielt ihm frei- M. – Schauspielerin, Lyrikerin, Dramatilich den ideellgeschliffenen Spiegel schroff kerin. entgegen, und in diesem Sinne kann man sich Bürgers annehmen«. Doch: »Bürgers Talent Die dritte Frau Gottfried August Bürgers, anzuerkennen kostete mich nichts, es war Tochter eines schwäb. Beamten, wurde für immer zu seiner Zeit bedeutend; auch hier die dt. Literaturgeschichte interessant, als sie gilt das Echte, Wahre daran noch immer und in der Wochenschrift »Beobachter« vom wird in der Geschichte der deutschen Litera- 8.9.1789 in einem Lob- u. Liebesgedicht tur mit Ehren genannt werden« (Goethes Bürger einen förml. Heiratsantrag machte. Die im Okt. 1790 geschlossene Ehe (ein Sohn: Briefe. Bd. 4, Hbg. 1967, S. 407). Weitere Werke: Gedichte. Gött. 1778. – Ge- Agathon) endete 1792 mit der Scheidung (vgl. dichte. 2 Bde., Gött. 1789. – Hauptmomente der Bürgers Brief an Elises Mutter vom 3.2.1792). Trotz des damit verbundenen Eklats u. des krit. Philosophie. Hg. u. eingel. v. Hans Detlef Feger. Bln. 1994. – Lehrbuch der Ästhetik. Neu hg., Verbots der Wiederverheiratung gelang B. der eingel. u. komm. v. Hans-Jürgen Ketzer. Bln. 1994. Einstieg in den Schauspielerberuf. Nach ihAusgaben: Gesamtausgabe: Sämtl. Werke. Hg. rem Debüt am Altonaer Nationaltheater u. Günter u. Hiltrud Häntzschel. Mchn. 1987 (hier Engagements in Bremen u. Hannover war sie zitiert als: Werke). – Briefe: Briefe v. u. an G. A. B. 1802–1807 Mitgl. des Dresdner Hoftheaters. Ein Beitr. zur Literaturgesch. seiner Zeit. Hg. Adolf 1807–1820 gastierte sie als anerkannte DeStrodtmann. 4 Bde., Bln. 1874. Neudr. Bern 1970. – klamatorin v. a. klassischer Werke der dt. LiAus dem Briefw. zwischen B. u. Goeckingk. Hg. August Sauer. In: Vjs. für Litteraturgesch. 3 (1890), teratur (u. a. Goethe, Schiller, Bürger) in S. 62–113; 416–476. – ›Mein scharmantes Geld- Deutschland, Österreich u. Frankreich. Zum männchen‹. G. A. B.s Briefw. mit seinem Verleger Repertoire B.s zählten auch die sog. »lebenden Bilder«, in denen bekannte Szenen aus Dieterich. Hg. Ulrich Joost. Gött. 1988. Literatur: Wolfgang v. Wurzbach: G. A. B. Sein der Literatur, antike Skulpturen u. Gemälde Leben u. seine Werke. Lpz. 1900. – Albrecht Schö- nachgestellt wurden. 1820 ließ sich B. in ne: Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studi- Frankfurt/M. nieder u. verdiente sich den en zur Dichtung dt. Pfarrerssöhne. Gött. 1958. Lebensunterhalt mit Schauspielunterricht u. 2 1968, S. 181–224. – Lore Kaim-Kloock: G. A. B. Gelegenheitsgedichten. Zum Problem der Volkstümlichkeit in der Lyrik. Ihre literar. Produktion war offensichtlich Bln. 1963. – William Alfred Little: G. A. B. New York 1974. – Gerhard Kluge: G. A. B. In: Dt. reine Brotarbeit. Sie umfasst 16 Dramen Dichter des 18. Jh. Hg. Benno v. Wiese. Bln. 1977, (Sämmtliche theatralische Werke. Hann. 1801), S. 594–618. – Günter Häntzschel: G. A. B. Mchn. Novellen, Lieder u. Reiseberichte. In ihrem 1988. – Wolfgang Beutin u. Thomas Bützow (Hg.): erfolgreichsten Bühnenwerk, dem RitterG. A. B. (1747–94). Ffm. u. a. 1994. – Guntram schauspiel Adelheid Gräfin von Teck (1799), Vesper: Galeere meiner Sklaverei: zu G. A. B. in zeigt B. zeittyp. Seelenkonflikte, die mittels Göttingen. Gött. 1994. – Helmut Scherer: G. A. B.: Kostümierung u. Bühnenbild in histor. Ferne der Dichter des Münchhausen. Eine Biogr. Bln. gerückt werden. In ihrem Gesamtwerk über1995. – Hans-Joachim Kertscher: G. A. B. u. J. W. L. wiegen religiöse u. patriot. Themen. Gleim. Tüb. 1996. Günter Häntzschel

Weitere Werke: Irrgänge des weibl. Herzens. Hbg. u. Altona 1799 (R.). – Über meinen Aufenthalt in Hannover. Gegen den ungenannten Verf. der Schicksale einer Abentheuerinn. Altona 1801. – Mein Taschenbuch; erwachsenen Mädchen u. Frauen gewidmet. 2 Bde., Dresden 1804. – Gedichte. Hbg. 1812. Literatur: Gottfried August Bürgers Ehestandsgesch. Bln./Lpz. 1812. Neudr. Bln. 1912 (an.).

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– Karin A. Wurst: Spurensicherung. In: Goethe Yearbook 8 (1996), S. 210–237. – Michael Rüppel: ›Was sagen Sie von Mme Bürger?‹. In: G. A. Bürger u. J. W. L. Gleim. Hg. Hans-Joachim Kertscher. Tüb. 1996, S. 224–238. – Magdalene Heuser: E. B. ›Adelheit Gräfin von Teck‹. Ritter-Schausp. in 5 Aufzügen (1799); ›Die antike Statue aus Florenz‹. Scherzsp. (1929); ›Irrgaenge des weibl. Herzens‹ (1799). In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb. 2006, S. 74–77. Eda Sagarra

Bürklin’s auserlesene Gedichte zum Besten der verunglückten Schweizer. Bern 1800. – Sämtl. Gedichte. Bern 1802. – Herausgeber: Schweitzerische Blumenlese 3. Zürich u. Winterthur 1793. – Neue Schweizerische Blumenlese. St. Gallen 1798. Literatur: Gerold Meyer v. Knonau. B. In: ADB. – Hermann Schollenberger: Gesch. der dt.-schweizer. Dichtung. Bd. 1, Dresden 1919, S. 25 f. (mit Werkverz.). Christoph Siegrist / Red.

B. entstammte einem der führenden Zürcher Patriziergeschlechter u. nahm daher mehrere (sehr schlecht bezahlte) Ämter in seiner Vaterstadt wahr: 1773–1780 amtierte er als Beisitzer des Stadtgerichts, 1783–1798 als Zunftmeister u. Mitgl. der obersten polit. Behörde, des Kleinen Rates, 1783/1784 verwaltete er die Obervogtei Rümlang, 1784–1794 diejenige in Erlenbach. Er war ein geschätztes Mitgl. patriotischer u. gemeinnütziger Gesellschaften (etwa der Helvetischen Gesellschaft). 1798 setzte er sich für die Linderung der Not der durch die frz. Eroberung verwüsteten Innerschweiz ein. Während der Kriegsereignisse musste er 1798 Zürich für einige Zeit verlassen u. sich nach Bern zurückziehen. Einer verbreiteten Gewohnheit im Zürich Bodmers folgend, huldigte er der Muse, was ihm indessen mehr als modischen Zeitvertreib bedeutete, da er vom Dichten eine Linderung seiner melanchol. Zustände erhoffte. Neben seinen eigenen Gedichtsammlungen, die meist anonym erschienen, u. einer erbaulich-erzieherischen Schrift Tropheen des schönen Geschlechts (Tüb. 1791; an.) gab B. auch mehrere Anthologien heraus. Er vermochte aus dem empfindsamen Stil nicht auszubrechen u. besang, Lavaters Vorbild folgend, hauptsächlich Freundschaft, Liebe u. Vaterland.

tionen vor. Er verweilte zeit seines Lebens in Leipzig u. nahm als Privatgelehrter am dortigen literar. Leben regen Anteil. Außerdem scheint B. (ab 1799) mehrere Jahre die Position eines Regimentsquartiermeisters der kursächs. Armee bekleidet zu haben. B.s publizist. Tätigkeit zeugt von einer erstaunlichen Interessenvielfalt. So fertigte er eine Übersetzung der Türkengeschichte des namhaften ital. Historikers Francesco Becattini an (Gründliche Geschichte der Türken [...]. Lpz. 1792). Sie diente ebenso wie B.s Reisebeschreibung (Neue Reisen eines Teutschen nach und in England im Jahre 1783. Ein Pendant zu des Herrn Professor Moriz Reisen. Bln. 1784) der Befriedigung des Informationsbedürfnisses breiter bürgerl. Leserschichten. B.s Reisebeschreibung ist in fingierten Briefen verfasst u. unverkennbar anglophil gestimmt; sie bietet ein Panoptikum engl. Lebenswirklichkeit u. erlaubt dem Autor aus diesem Blickwinkel offene Kritik an dt. Missständen. Anders als seine konventionellen Trauerspiele (Schauspiele für die teutsche Bühne. Lpz. 1780) enthält B.s Erzählwerk (u. a. Wild oder das Kind der Freude. Bln. 1781. Launige Gemählde. Lpz. 1795) ebenfalls radikalreformerische Tendenzen; allerdings werden diese einer provokant-anakreont. Motivik untergeordnet. Vor allem die anonym erschienenen Kanthariden (Rom 1788) bergen krasseste Erotik u. derbe Zoten neben rückhaltloser Obrigkeits-, Vernunft-, Moral- u. Kirchenkritik. Angesichts seiner eher mäßigen Gestaltungskraft hat diese explosive Mischung

Büschel, Johann Gabriel Bernhard, * 1758 Leipzig, † 7.3.1813 Leipzig. – Publizist, Bürkli, Johannes, * 26.10.1745 Zürich, Übersetzer, Dramatiker u. Epiker. † 2.9.1804 Zürich. – Lyriker u. Herausge- Über den Bildungsgang u. die näheren Leber. bensumstände B.s liegen nur spärl. Informa-

Weitere Werke: Amors Reisen nebst einigen Fragmenten, aus seinem Tgb. gezogen. Bern 1776. – Meine Phantasien u. Rhapsodien. Zürich 1785. – Kom. Reisen eines kleinen Amors. Zürich 1792. –

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dem Nachruhm des Autors sehr geschadet. Alltag. In: Dt. Volksztg. 1 (1971). – Westf. AutoDennoch schätzt die moderne Literaturwis- renlex. (komplette Bibliogr.). Heinrich Detering / Red. senschaft B.s krit. Auseinandersetzung mit dem Kulturbetrieb seiner Zeit (Über die Charlatanerie der Gelehrten seit Menken. Lpz. 1791. Büsching, Anton Friedrich, * 27.9.1724 Nachdr. Mchn. 1981) als sozialgeschichtl. Stadthagen/Schaumburg-Lippe, † 28.5. Quelle zur Entstehung u. Entwicklung des 1793 Berlin. – Geograf, Theologe, Pädaliterar. Markts im 18. Jh. Weitere Werke: Die Zöglinge der Natur. 3 Bde., Prag 1793/94. Adrian Hummel / Red.

Büscher, Josef, * 10.3.1918 Sterkrade bei Oberhausen, † 19.9.1983 Gelsenkirchen. – Arbeiterschriftsteller. Der Bergmannssohn B. arbeitete nach dem Studium als Bergmann, dann als Verwaltungsangestellter. Er war Gründungsmitgl. der Dortmunder »Gruppe 61«. Als Wortführer der schreibenden Arbeiter, deren Interessen ihm vernachlässigt schienen, verließ er die Gruppe im Jahr 1966 unter Protest u. engagierte sich in der Leitung des »Werkkreises Literatur der Arbeitswelt« sowie in den »Literaturwerkstätten« Gelsenkirchen u. Marl. Als Vertreter einer »neuen Industriedichtung«, behandelt B. in politischer Absicht Erfahrungen der Arbeitswelt. In den früheren Texten noch deutlich von der expressionist. Arbeiterdichtung bestimmt (Auf allen Straßen. Gedichte. Mchn. 1964. Gedichte. Recklinghausen 1965), entwickelte er in seinen späteren Bänden eine unpathetisch-aphorist. Schreibweise (Stechkarten. Texte für Betriebsarbeiter. Oberhausen 1971. 21974). Sein Bericht aus einer Stadt an der Ruhr (in der Sammlung Aus der Welt der Arbeit. Hg. Fritz Hüser u. Max von der Grün. Neuwied/Bln. 1966) schildert den Widerstand von Bergleuten gegen eine Zechenstilllegung. Das Schauspiel Sie erkannten ihre Macht (Oberhausen 1976) zeigt Voraussetzungen u. Verlauf eines histor. Bergarbeiterstreiks. Weitere Werke: Zwischen Tackenberg u. Rothebusch. Gesch.n aus dem Kohlenpott. Oberhausen 1978. Literatur: Fritz Hüser u. Walter Köpping (Hg.): Texte, Texte. Prosa u. Gedichte der Gruppe 61. Recklinghausen 1969. – Peter Schütt: Worte zum

goge.

Der Vater Ernst Friedrich B., Advokat in Stadthagen, war ein strenger, gewissenhafter, zgl. jähzorniger u. hemmungsloser Mann. B. erhielt nach Besuch der Lateinschule kostenlosen Privatunterricht des Superintendenten u. Oberpredigers in Stadthagen, des Theologen u. Geografen Eberhard David Hauber. Das nicht immer positive Vorbild des Vaters u. die uneigennützige Haltung Haubers prägten früh B.s Grundsätze von Nüchternheit, arbeitsamer Pflichterfüllung u. sittl. Lebensführung. 1744–1747 studierte B. in Halle Theologie. Sein Studium finanzierte er als Lehrer an den Franckeschen Lehranstalten. 1748 übernahm B. eine Hauslehrerstelle beim Grafen Friedrich Rochus zu Lynar, der 1749 als dän. Gesandter nach St. Petersburg ging. B. begleitete ihn mit seinem Zögling. In Petersburg knüpfte er Kontakte zur Akademie u. zu den dt. Kirchengemeinden. Auf dieser Reise registrierte er die Unzulänglichkeit der vorhandenen Karten u. Landesbeschreibungen u. beschloss, eine bessere Darstellung zu erarbeiten. Nach Beendigung der Hauslehrerzeit lebte B. anderthalb Jahre bei Hauber, inzwischen Hofprediger in Kopenhagen, dessen reichhaltige Bibliothek er nutzen konnte. Hier erarbeitete er die beiden ersten Teile der Neuen Erdbeschreibung (Hbg. 1754). Außerdem gab er Nachrichten von dem Zustande der Wissenschaften und Künste in den dänischen Reichen (2 Bde., Kopenhagen 1754/56) heraus. 1754 kehrte B. nach Deutschland zurück, im gleichen Jahr erhielt er einen Ruf nach Göttingen. 1756 wurde er Doktor der Theologie, aber seine Dissertation (ein von allen scholast. Sachen u. Worten gereinigter Auszug aus der Hl. Schrift) führte zu Auseinandersetzungen mit orthodoxen Theologen, die seine Berufung an die theolog. Fakultät verhinderten.

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Büsching

1759 wurde er Professor an der philosoph. aktuelle Bedeutung, die hohe Zuverlässigkeit Fakultät. Seit 1749 verlobt, heiratete B. 1755 der Angaben sichert ihm jedoch histor. in Stadthagen Polyxene Christiane Auguste Quellenwert. Als Theologe wird B. zu den Neologen geDilthey, die Schwester seines Jugendfreundes; von den sieben Kindern erreichten Wil- rechnet, die im Sinne der Aufklärung eine helm David (Preußischer Geheimer Obertri- rationale Interpretation der Bibel anstrebten bunalrat) u. Johann Stephan Gottfried (Allgemeine Anmerkungen über die symbolischen (1813–1832 gewählter Oberbürgermeister Bücher der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Hbg. von Berlin) das Erwachsenenalter. Nach dem 1770. 21771). Als Pädagoge verfasste er die in Tod seiner ersten Gattin heiratete B. 1777 vielen Auflagen u. Nachdrucken verbreitete Margarethe Catharina Eleonore, die Tochter Schrift Unterricht für Informatoren und Hofmeisdes Berliner Probstes Johann Gustav Rein- ter (Altona/Lübeck 1760 u. ö.) sowie Lehrbübeck. Von sechs Kindern aus dieser Ehe cher u. Schulprogramme. Seine Auseinanüberlebte Johann Gustav Gottlieb, später dersetzungen mit August Ludwig Schlözer zu Kunst- u. Altertumsforscher u. Professor in Problemen der russ. Geschichte lenkten in Breslau. Deutschland die Aufmerksamkeit auf russ1760 nahm B. die Berufung als zweiter landkundliche Themen. B.s Autobiografie Prediger u. Schulleiter nach St. Petersburg an. erschien als sechster Band seiner Beyträge zu Die Reform der Schule bei der evang. Peters- der Lebensgeschichte denkwürdiger Personen, ingemeinde nach Francke’schem Vorbild sonderheit gelehrter Männer (6 Bde., Halle brachte ihm Anerkennung. Auseinanderset- 1783–89). zungen mit dem Präses der Petersgemeinde, Weitere Werke: Magazin für die neue Historie dem Feldmarschall Burchard Christoph von u. Geographie. 22 Bde., Hbg./Halle 1767–88. – Münnich, veranlassten ihn jedoch, 1765 nach Wöchentl. Nachrichten v. neuen Landcharten u. Deutschland zurückzukehren. 1766 wurde er geograph., statist. u. histor. Büchern u. Schr.en. 15 Direktor des »Vereinigten Berlinischen und Jg., Bln. 1773–87. – Peter Hoffmann u. Valerij Cöllnischen Gymnasiums« u. Oberkonsisto- Ivanovicˇ Osipov (Hg.): Geographie, Gesch. u. Bildungswesen in Russland u. Dtschld. Briefw. A. F. B. rialrat in Berlin. In diesem Amt blieb er bis zu – Gerhard Friedrich Müller 1751 bis 1783. Bln. seinem Tode. Bibliothek u. Landkarten- 1995. sammlung wurden nach dem Tod B.s von Literatur: Ruthard Oehme: Eberhard David Katharina II. angekauft, sie befinden sich Hauber (1695–1765). Ein schwäb. Gelehrtenleben. heute in den allgemeinen Bestand eingeord- Stgt. 1976 (über B. S. 227–244). – Michael Pantenet in der Russischen Nationalbibliothek in nius: A. F. B. (1724–93) u. Russland. Ein Beitr. zur Sankt Petersburg. Sein handschriftlicher dt. Russlandkunde im 18. Jh. Diss. Halle/S. 1984 Nachlass gilt als verschollen. (Maschinenschrift). – Friedrich Franz Mentzel: A. B. hat viele Bücher zu geografischen, his- F. B.s Schulschr.en des vereinigten Berlin. u. Kölln. tor., pädagog. u. theolog. Problemen verfasst. Gymnasiums in den Jahren 1767–93. In: Jb. für Bleibende Bedeutung erlangte er mit der Erziehungs- u. Schulgesch. 25 (1985), S. 155–173 – Neuen Erdbeschreibung (eine Übersicht ist kaum Peter Hoffmann: A. F. B. (1724–93). Ein Leben im Zeitalter der Aufklärung. Bln. 2000 (Bibliogr. möglich, da immer einzelne Teile neu aufS. 271–300). – Ders.: A. F. B. u. Russland. In: Die gelegt worden sind, Tl. 1 ab der 8. Aufl. 1787 Kenntnis Russlands im deutschsprachigen Raum Erdbeschreibung, in der letzten Fassung insg. im 18. Jh. Hg. Dittmar Dahlmann. Bonn 2006, 13 Tle.). B. gibt eine Beschreibung nach den S. 69–83. Peter Hoffmann polit. Strukturen, für das Deutsche Reich nach den bis 1806 bestehenden Reichskreisen. In deskriptiver Form bietet er statistiBüsching, Johann Gustav Gottlieb, * 19.9. sche, administrative u. wirtschaftl. Daten, die 1783 Berlin, † 4.5.1829 Breslau. – Prähisin der damaligen absolutist. Praxis als toriker u. Literaturhistoriker. Staatsgeheimnis galten. Mit den Veränderungen der europ. Landkarte durch die Poli- Der Sohn Anton Friedrich Büschings stutik Napoleons verlor dieses Werk zwar seine dierte die Rechte in Halle u. legte das Refe-

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rendarexamen ab. Unter dem Eindruck der brecher u. Anreger im Bereich der dt. AlterSchlacht von Jena (1806) schloss er sich jedoch tumswissenschaft sowohl auf dem germanisals freier Schriftsteller dem Kreis um seinen tischen wie auf dem histor. Sektor erworben. Freund Friedrich Heinrich von der Hagen an. Weitere Werke: Die heidn. Altertümer SchleDen Ideen der Romantik verpflichtet, war es siens. 4 H.e, Lpz. 1820–24. – Ritterzeit u. Ritternun sein Ziel, durch Beschäftigung mit dt. wesen. Vorlesungen. 2 Bde., Lpz. 1823. – HerausVergangenheit Nationalbewusstsein im Volk geber: Das Lied der Nibelungen. Altenburg/Lpz. 1815. – Hans Sachs. Werke. 3 Bde., Nürnb. zu wecken. Gemeinsam mit von der Hagen gab B. eine 1816–24. – Die Urkunden des Klosters Leubus. Breslau 1821. Reihe literar. Sammlungen heraus, u. a. die Literatur: Karl Gabriel Nowack: Schles. Sammlung deutscher Volkslieder (Bln. 1807), Schriftsteller-Lexikon. 3. H., Breslau 1838, S. 8–11 Deutsche Gedichte des Mittelalters (Bln. 1808), (mit Werkverz.). – Hans Jessen: B. In: Schles. Ledas Buch der Liebe (Bln. 1809) sowie – auch in bensbilder. Bd. 4, Breslau 1931. Sigmaringen Gemeinschaft mit Bernhard Joseph Docen – 21985, S. 288–301 (mit Porträt). – Marek Halub: J. das »Museum für Altdeutsche Literatur und G. G. B. Ein Beitr. zur Begründung der schles. Kunst« (2 Bde., Bln. 1809–11). Im Anschluss Kulturgesch. Breslau 1997. an diese Arbeit entstand der Literarische Michael R. Gerber / Red. Grundriß zur Geschichte der deutschen Poesie von der ältesten Zeit bis ins sechzehnte Jahrhundert Bütow, Hans, auch: Peter Squenz, Osric, (Bln. 1812). Zus. mit Ludwig Kannegießer * 27.11.1900 Osnabrück, † 11.10.1991 redigierte er die Zeitschrift »Pantheon« Hamburg. – Journalist, Essayist u. Er(1810), die u. a. Beiträge von Fichte, Fouqué, zähler. Goethe, Friedrich von Raumer u. Ludwig Uhland enthielt. Nach den Jugendjahren in Osnabrück u. Au1810 ging B. zur Neuorganisation des rich war B. in den 1920er Jahren Buchhändschles. Bibliotheks- u. Archivwesens im Zuge ler. Bis 1934 studierte er Kunstgeschichte, der Säkularisation der schles. Klöster nach Archäologie u. Anglistik. 1935–1943 war er Breslau. An dem von ihm begründeten außenpolit. Redakteur der »Frankfurter ZeiSchlesischen Provinzialarchiv fand B. tung«, dann bis Sept. 1944 beim »Illustrier1811–1825 als Archivar Anstellung. Daneben ten Blatt«. Später setzte er sich als Mitarbeiter wirkte er nach seiner Habilitation (1816) als der Hamburger Forschungsstelle für die Gea. o. (1817) bzw. o. (1823) Prof. der histor. schichte des Nationalsozialismus kritisch mit Hilfswissenschaften u. der dt. Altertums- dieser Zeit auseinander. Nach dem Krieg kunde an der Universität Breslau. Dort hielt wurde er Feuilletonchef der »Allgemeinen er auch germanist. Kollegien in Ergänzung Zeitung« in Mainz u. der »Frankfurter Neuen zu den Veranstaltungen des ebenfalls in Presse«. Seit 1954 lebte er in Hamburg. B. Breslau lehrenden von der Hagen. In seiner übte verschiedene öffentl. Funktionen aus, Breslauer Zeit veröffentlichte B. neben ger- u. a. als Direktor der Staatlichen Pressestelle, manist. Werken zahlreiche Aufsätze u. Mo- später als Referent des Bürgermeisters Max nografien zur schles. Kunst- u. Frühge- Brauer. schichte, edierte erzählende wie urkundl. B.s Essays u. Erzählungen unterhalten Quellen zur schles. Geschichte, gründete ei- durch die interkulturelle Vielfalt weltstädtinen Verein für schles. Geschichte u. richtete scher, exotischer oder auch mondäner Figuein Museum schles. Altertümer ein. Außer- ren u. Schauplätze. Die Erzählweise ist dem war B. 1824–1829 Herausgeber der re- stringent, ohne Pathos u. Ironie, stilistisch an nommierten »Schlesischen Provinzialblät- den Short Storys seines Vorbilds Somerset ter«. Maugham orientiert. In umfangreicheren Obwohl die Ausrichtung seiner gesamten Werken wie in seinem erfolgreichsten Roman Tätigkeit auf das Ziel der Volkserneuerung Alle Träume dieser Welt (Ffm. 1969. Bergisch häufig zu Lasten der wiss. Methodik ging, hat Gladbach 1981) griff B. Stoffe der engl.-dt. sich B. unbestreitbare Verdienste als Bahn- Geschichte auf.

289 Weitere Werke: Aus dem Tgb. eines Reservisten. Hbg. 1940. – Herzklopfen. Ffm. 1942 (E.). – Schlafende Gorgo. Freib. i. Br. 1948 (E.). – Spur v. Erdentagen. Ffm. 1958 (Ess.). – Hände über die See. Ffm. 1961 (Ess.). – Rede, mein Gedächtnis, rede. Aufzeichnungen eines alten Mannes. Hbg. 1977. – Imaginäre Interviews. Hbg. 1987. – Das Mädchen mit dem Männerhut. Hbg. 1987 (E.en). Volker Busch / Red.

Büttner, Bütner, Wolfgang, auch: Wolff, * 1522 wahrscheinlich in Oelsnitz/Vogtland, † vor 1596. – Verfasser von Schriften zur praktischen Theologie u. Logik sowie von moraldidaktischen Erzählsammlungen. Wie aus seinen Werken hervorgeht, stammte B. wohl aus Oelsnitz, besuchte die Schulen in Eger u. Magdeburg (bei G. Major), studierte Theologie wohl in Wittenberg, wurde in Weimar ordiniert u. war seit ca. 1548 Pfarrer in Umpferstedt bei Weimar. Bei der dortigen Kirchenvisitation 1554/55 wurde er laut Protokoll einerseits gelobt – wegen seiner Lateinkenntnisse u. Rechtgläubigkeit –, andererseits getadelt – wegen seiner Trinkfreudigkeit. Im Juli 1563 erwarb er in Jena (laut Matrikel) den Magistergrad, im Dez. 1563 berief man ihn (laut Visitationsakten) zum Pfarrer in Wolferstedt im weimar. Amt Allstedt. Vor 1596 muss er gestorben sein, da im Titel der 1596 erschienenen Neubearbeitung seiner Epitome von ihm als »weyland Pfarherrn [...]« die Rede ist. B. erscheint in seinen Werken als ein typischer Vertreter des orthodoxen Luthertums, zgl. als überaus kenntnisreicher u. fleißiger Gelehrter mit weitgespannten, ja ungewöhnl. Interessen. Dabei sind nicht einmal alle seine Schriften erhalten: So erwähnt er mehrfach ein »libellum infantis mei« oder auch seine »grosse Deutsche Coß« (d.h. Rechenkunst), doch sind beide Texte heute – auch bibliografisch – nicht mehr nachweisbar. Die Reihe der erhaltenen Werke beginnt mit einer (nur noch in einem Exemplar vorliegenden) Auslegung des 37. Psalms; er verfasste sie wohl nicht zufällig, als er »fast 37 [!] Jar alt« war, u. sie erschien 1559 (sodass B. demnach wohl 1522 geboren wurde) in Erfurt. Er bedient sich darin des damals be-

Büttner

liebten Katechismus-Schemas von Frage u. Antwort u. interpretiert u. aktualisiert den Psalmtext völlig im Sinne der orthodox-luth. Dogmatik, Ethik u. Soziallehre u. in scharfer Frontstellung gegen alle anderen Konfessionen, wobei er als rhetor. Argumente reichlich »Exempel« aus der Geschichte, insbes. den Glaubenskämpfen seiner Zeit, heranzieht. B. betätigte sich auch als geistlicher Poet: 1572 erschien in Eisleben – wohl schon als Neuauflage (ein in der Vorrede erwähnter früherer Druck ist verloren): Der Kleine Catechismus / in kurtze vnd Christliche Lieder für die Wanderleute/ auff der Strasse / vnd Handwercks Gesellen auff der Werckstat / gesetzt / vnd zu singen [...], also eine Versbearbeitung des Katechismus (!), damit dieser »desto vleissiger getrieben möchte werden«. Ungleich anspruchsvoller ist aber B.s Dialectica deutsch [...] von 1574 (Eisleben. 2. Aufl. Lpz. 1576), die das älteste Lehrbuch der formalen Logik in dt. Sprache (!) darstellt. In enger Anlehnung an Melanchthons lat. Dialektik werden ausführlich die log. Schlussverfahren u. bes. alle Arten von Fehlschlüssen besprochen u. exemplifiziert, wobei – u. das ist originell u. zukunftsweisend – bestimmte formallogische mit mathemat. Regeln in Analogie gesetzt werden. Schon zwei Jahre später veröffentlichte B. eine umfangreiche, pastoraltheologisch intendierte u. strukturierte Exempelsammlung: Epitome Historiarum [...] (o. O. Neubearbeitung Lpz. 1596 durch G. Steinhart). In diesem kultur- u. literaturgeschichtlich überaus ergiebigen Werk sind zu jedem der Zehn Gebote u. jeder Bitte des Vaterunsers ganz verschiedenartige Geschichten aus Vergangenheit u. Gegenwart zusammengestellt, die die Gebote u. Bitten »illuminieren«, zu deren besserem Verständnis dienen sollen. Ein Exempelbuch ist auch B.s weitaus erfolgreichstes Werk, seine Sechs hundert / sieben vnd zwantzig Historien / von Claus Narren [...] von 1572 (Eisleben. Nachdr. Hildesh. 2006). B. hat hier die bis dahin meist mündlich überlieferten Geschichten des weithin berühmten kursächs. Hofnarren (ca. 1430–1515), in denen dieser als Possenreißer, Dümmling oder als Weiser im Narrenkleid auftritt, zu einem 16-teiligen Erzählzyklus gestaltet, hat sie meisterhaft knapp u. an-

Bugenhagen

schaulich nacherzählt u. ausnahmslos mit theologischen, bes. moraltheolog. Lehren versehen, als deren Exempel die Geschichten aufgefasst werden sollen. Die Historien wurden bis um 1800 immer wieder nachgedruckt u. bearbeitet (insg. 29 z.T. gekürzte u. zensierte Ausgaben) u. waren damit eines der beliebtesten dt. »Volksbücher«. Literatur: Franz Schnorr v. Carolsfeld: Über Klaus Narr u. M. W. B. In: AfLg 6 (1877), S. 277–328. – Wilhelm Britzelmayr: Über die älteste formale Logik in dt. Sprache. In: Ztschr. für philosoph. Forsch. 2 (1947), S. 46–68. – ErnstHeinrich Rehermann: B. In: EM. – Werner Röcke: ›Der XXXVII Psalm [...]‹: Eine unbekannte Auslegung des 37. Psalms v. W. B. In: Daphnis 15,1 (1986), S. 31–52. – Heinz-Günter Schmitz: W. B.s Volksbuch v. Claus Narr. Hildesh./Zürich/New York 1990. – W. B.: [...] Von Claus Narren. Erstausg. 1572. Mit einem Vorw. v. H.-G. Schmitz u. einem Glossar v. Erika Schmitz. Hildesh./Zürich/ New York 2006. Heinz-Günter Schmitz

Bugenhagen, Johannes, auch: Pomeranus, Dr. Pommer, * 24.6.1485 Wollin/ Pommern, † 20.4.1558 Wittenberg; Grabstätte: ebd., Stadtkirche. – Theologe u. Reformator. Nach der Schulzeit in Wollin nahm B. 1502 sein Studium in Greifswald auf. 1504 erfolgte seine Berufung zum Rektor der Stadtschule in Treptow. Ohne theologisch gebildet zu sein, empfing er 1509 die Priesterweihe u. wurde 1517, nachdem ihn humanistisches Interesse zur Beschäftigung mit den Kirchenvätern, der Bibel u. den Schriften des Erasmus geführt hatte, Lektor für die Heilige Schrift u. die Schriften der Väter an der Klosterschule Belbuck. Aus dieser Zeit stammen B.s Pomerania, ein von Herzog Bogislaw X. veranlasstes Auftragswerk zur Geschichte Pommerns (Erstdr., hg. v. Jacob Heinrich Balthasar. Greifsw. 1721), u. erste Arbeiten zu einer Passionsharmonie, die erst ab 1524 überarbeitet in zahlreichen Editionen im Druck vorlag u. zu einer der meistgelesenen Schriften der Reformationszeit wurde (Erstdr. Nürnb. 1524. Erste von B. veranstaltete Ausg. Basel 1524. Dt. zuerst Wittenb. 1526). Sie ging später sogar in Gesangbuchanhänge ein. Wohl durch die Lektüre von Martin Lu-

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thers De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium wurde B. nach anfängl. Zögern zum Anhänger der Reformation. 1521 zog er nach Wittenberg, wo er rasch die Freundschaft Philipp Melanchthons gewann. Im selben Jahr begann er mit Psalmenauslegungen, die 1524 in Basel gedruckt erschienen. Weitere exeget. Arbeiten folgten. Am 23.10.1522 heiratete er. Die Übernahme des Stadtpfarramts in Wittenberg (1523) band ihn trotz zahlreicher Beurlaubungen bis an sein Lebensende an die Stadt u. festigte seine Freundschaft mit Luther, der ihn als Vertrauten u. geistl. Beistand sehr schätzte u. dessen Grabrede B. 1546 hielt. B.s theolog. Nähe zu Luther zeigte sich deutlich, als er in den beginnenden Abendmahlsauseinandersetzungen in seinem Sendbrieff widder den newen yrrthumb bey dem Sacrament des leybs vnd blutts [...] Christi (Wittenb. 1525) gegen Zwingli u. Karlstadt Stellung bezog u. sich genötigt sah, eine Verfälschung seiner Abendmahlslehre in Martin Bucers dt. Übersetzung seines Psalmenkommentars abzuwehren. Die Jahre 1528 bis 1546 füllte eine ausgedehnte auswärtige Wirksamkeit, unterbrochen nur durch B.s Doktorpromotion sowie seine offizielle Aufnahme in die theolog. Fakultät Wittenberg (1535) u. seine Ernennung zum Superintendenten des rechtselbischen Kurkreises (1536). Sie führte ihn u. a. nach Braunschweig, Hamburg u. Lübeck, wo die sog. Bugenhagen-Bibel, eine Übersetzung ins Niederdeutsche, erschien (1533. Rev. Wittenb. 1541), sowie nach Pommern, Dänemark, Hildesheim u. Braunschweig-Wolfenbüttel. Stadträte u. Landesherren übertrugen B. die Aufgabe, der reformator. Theologie eine für Leben u. Lehre der Gemeinden anwendbare Form zu geben. Zahlreiche Kirchenordnungen, die allseits vorbildhaft herangezogen wurden, bilden neben der Schriftauslegung den zweiten Schwerpunkt in B.s literarischem Werk. Das Bestreben, die neu gewonnene Lehre von der Rechtfertigung des Sünders u. dem Priestertum aller Gläubigen in den Lebensvollzug umzusetzen, verdichtet sich hier zu evang. kirchenrechtl. Normgebung, die – neben der finanziellen Neuordnung – rechte Lehre, rechte Zeremo-

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nien u. die Erziehung zum mündigen Christen in den Vordergrund stellt, stets unter Berücksichtigung der städtisch bzw. territorial unterschiedl. Verhältnisse. Als der Kaiser nach dem Ausgang des Schmalkaldischen Kriegs 1548 das Augsburger Interim für die evang. Stände verbindlich machte, nahm B. neben Melanchthon u. a. an den Beratungen zu einem Kompromissvorschlag teil, der dem Leipziger Landtag vorgelegt u. von Matthias Flacius als »Leipziger Interim« gebrandmarkt wurde. Dies brachte ihn in den Augen vieler in Misskredit. Sein 1550 in Wittenberg erschienener Jona-Kommentar kann als aus dieser Situation erwachsene Rechtfertigungsschrift gelesen werden. B.s zahlreiche auch ins Dänische, Isländische u. Polnische übersetzte Schriften u. sein weitgespanntes kirchenorganisator. Wirken weisen ihn neben Luther u. Melanchthon als den dritten für die von Wittenberg ausgehende Reformation maßgebenden Theologen aus. Ausgaben: Werkausg. Hg. Wolf-Dieter Hauschild u. Anneliese Bieber (in Vorb.). – Einzel- und Teilausgaben: Dr. J. B.s Briefw. Hg. Otto Vogt. Stettin 1888–99. Gotha 1910. Neudr. Hildesh. 1966. – Pomerania. Hg. Otto Heinemann. Stettin 1900. Neudr., hg. v. Roderich Schmidt. Köln u. a. 1986. – J. B.s Katechismuspredigten, gehalten 1525 u. 1532. Hg. Georg Buchwald. Lpz. 1910. – J. B. Ausgew. u. übers. v. Joachim Rogge. Bln. 1962. – Christl. Vermahnung an die Böhmen. Hg. Gerhard Messler. Kirnbach 1971. – Historia Des Lydendes unde Upstandige unses Heren Jesu Christi: uth den veer Euangelisten. Neudr. nach der Barther Ausg. v. 1586. Hg. Norbert Buske. Bln./Altenb. 1985 (niederdt. Passionsharmonie). – Kirchenordnungen: Evang. Kirchenordnungen des 16. Jh. Lpz. 1902 ff. Tüb. 1955 ff. – Braunschweiger Kirchenordnung 1528. Hg. Hans Lietzmann. Bonn 1912. – Der ehrbaren Stadt Hamburg christl. Ordnung 1529 – De ordeninge Pomerani. Hg. u. übers. v. Hans Wenn unter Mitarb. v. Annemarie Hübner. Hbg. 1976. – Lübecker Kirchenordnung v. J. B. 1531. Hg. W.-D. Hauschild. Lübeck 1981. – Die pommersche Kirchenordnung v. J. B. 1535. Neudr., hg. v. N. Buske. Bln. 1985. Literatur: Bibliografie: Georg Geisenhof: Bibliotheca Bugenhagiana. Lpz. 1908. Neudr. Nieuwkoop 1963. – Weitere Titel: Hans Hermann Holfelder: B. In: TRE. – Hans-Günter Leder (Hg.): J. B. Bln. 1984. – Ders. u. Norbert Buske: Reform u. Ordnung aus dem Wort. J. B. u. die Reformation im

Buhl Hzgt. Pommern. Bln. 1985. – Karlheinz Stoll (Hg.): Kirchenreform als Gottesdienst. Der Reformator J. B. 1485–1558. Hann. 1985. – Ernst Koch: J. B.s Anteil am Abendmahlsstreit 1525 u. 1532. In: Theolog. Literaturztg. III (1986), S. 705–730. – Martin Schwarz-Lausten: J. B. u. das Leipziger Interim. Ein bisher unbekannter Brief des Reformators an Nicolaus Buscoducensis in Bremen (1549). In: Bremisches Jb. 67 (1989), S. 141–147. – A. Bieber: J. B. zwischen Reform u. Reformation. Die Entwicklung seiner frühen Theologie anhand des Matthäuskomm.s u. der Passions- u. Auferstehungsharmonie. Gött. 1993. – Volker Gummelt: Lex et Evangelium. Untersuchungen zur JesajaVorlesung v. J. B. Bln. u. a. 1994. – Ralf Kötter: J. B.s Rechtfertigungslehre u. der röm. Katholizismus. Studien zum Sendbrief an die Hamburger (1525). Gött. 1994. – Hans-Günter Leder: ›Pomerania‹ – Humanist. Einflüsse auf die frühe Landesgeschichtsschreibung in Pommern. In: Pommern in der Frühen Neuzeit. Hg. Wilhelm Kühlmann u. Horst Langer. Tüb. 1994, S. 77–99. – Ders.: J. B. Pomeranus – vom Reformer zum Reformator. Studien zur Biogr. Hg. V. Gummelt. Ffm. 2002. – Anneliese Sprengler-Ruppenthal: Ges. Aufsätze zu den Kirchenordnungen des 16. Jh. Tüb. 2004. Irene Dingel

Buhl, Wolfgang, * 15.4.1925 Reinsdorf/ Sachsen. – Journalist, Sachbuchautor u. Verfasser von Parodien u. Hörbildern. B. nahm 1946 an der Universität Erlangen das Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft, Geschichte u. Philosophie auf u. promovierte 1950 mit der Arbeit Der Selbstmord im deutschen Drama vom Mittelalter bis zur Klassik (o. O. 1951). Anschließend war er 1953–1963 Feuilletonredakteur bei den »Nürnberger Nachrichten«. 1963 kam B. zum Bayerischen Rundfunk, dessen Nürnberger Studio er von 1978 bis 1990 leitete. Hier wurden viele seiner Hörbilder zur Kulturgeschichte Frankens gesendet. Gleichzeitig war er als Honorarprofessor für Publizistik an der Universität Erlangen tätig. Er hat zahlreiche Bücher über die fränkische Geschichte u. Lebensart herausgegeben (Poetisches Franken. Würzb. 1971. Fränkische Klassiker. Eine Literaturgeschichte in Einzeldarstellungen. Nürnb. 1971). Viel beachtet wurden auch seine liebevoll-bissigen Schriftstellerporträts

Buhlschaft auf dem Baume

Äpfel des Pegasus. Parodien (Bln. 1953) u. Pflaumen des Pegasus (Mchn. 1985). B. lebt u. arbeitet in Nürnberg. Weitere Werke: Franken, eine dt. Miniatur. Würzb. 1978. – Lob der Provinz. Würzb. 1984. – Überall ist Franken – Miniaturen, Essays, Reisebilder. Hof 1989. – Karfreitagskind. Cadolzburg 1999 (R.). – Requiem für einen Chefredakteur. Cadolzburg 2002. Heino Freiberg / Red.

Die Buhlschaft auf dem Baume, vermutlich Mitte des 15. Jh. – Schwankhafte Versnovelle.

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Gott, möchte er sich an der Frau rächen, doch Gott mahnt zur Sündenvergebung. Da von Reue oder gar Buße bei der Ehebrecherin nicht die Rede sein kann, nimmt sich Gottes Gnadenurteil am Schluss seltsam unmotiviert aus – hier ist der Redaktor der A-Fassung über die anderen europ. Versionen hinausgegangen, die überdies bereits mit der Ausrede der Frau schließen u. Petrus nicht als selbst agierende Schwankfigur zeigen. Ausgaben: Hanns Fischer (Hg.): Die dt. Märendichtung des 15. Jh. Mchn. 1966, S. 485–495. – Klaus Grubmüller (Hg.): Novellistik des MA. Märendichung. Ffm. 1996, S. 244–259 (Fass. A, mit nhd. Übers.) (zit.). Literatur: Jürgen Meier: D. B. a. d. B. In: VL. – Grubmüller 1996 (s. o.), S. 1114–1120 (Komm., Lit.). – Alwine Slenczka: Mhd. Verserzählungen mit Gästen aus Himmel u. Hölle. Münster u. a. 2004, S. 138–159. Corinna Laude

Die in zwei Fassungen anonym überlieferte Märendichtung (A in nur einer Handschrift, B nur fragmentarisch auf Mittelniederdeutsch) ist wohl um die Mitte des 15. Jh. im nordbairisch-ostfränk. Raum entstanden. In rd. 250 Versen wird erzählt, wie ein eifersüchtiger blinder Mann von seiner Frau betrogen wird, doch dies nicht nur, dem europ. Bukofzer, Werner, auch: W. Brücken, Schwankmotiv der vorgebl. Sinnestäuschung * 22.4.1903 Berlin, † 15.10.1985 Zichrongemäß, in seiner Gegenwart, sondern auch Yacob/Israel. – Verfasser von Gedichten u. unter den Augen Gottes u. Petri. kurzen Prosatexten. Der Liebhaber, ein Student, ist auf einen vermeintl. Apfelbaum (tatsächlich eine Linde) Zunächst Kaufmann, dann Schauspieler u. geklettert u. hat die Dame in Begleitung ihres Rezitator (Max-Reinhardt-Schule), wirkte B. Ehemannes dorthin bestellt. Sie äußert den 1924/25 beim Rundfunk u. nach 1933 beim Wunsch, von den Äpfeln zu essen. Als der Jüdischen Kulturbund sowie am Theater der Blinde mit seinem Stock gegen den Baum jüd. Schulen. Sein erstes Buch erschien noch schlägt, wirft der junge Mann mitgebrachte in Deutschland (Dank an Oskar Loerke. 1934); Äpfel herab, doch nicht genug: Die Dame will 1939 emigrierte B. nach Palästina. Ab 1940 selbst auf den Baum u. die Ernte vorantrei- lebte er in Tel Aviv, wo er 1948–1970 als Reben. Zeuge ihres Liebesspiels im Baum wer- gierungsbeamter beschäftigt war. Seine Gedichte u. zumeist kurzen Prosaden der vorbeispazierende liebe Gott u. Petrus. Der Heilige ereifert sich ob des Tuns der texte sind gesammelt in den Bänden Der Frau u. erwirkt bei Gott, dass der Blinde Wanderer Namenlos. Eine Auswahl der Gedichte plötzlich sehen kann. Gott warnt aber, der aus Palästina 1040–48 (Bln. 1949) u. Splitter. Frau werde gewiss auch jetzt noch eine Aus- Prosa der Begegnungen (Neuwied/Bln. 1968). Sie rede einfallen; u. tatsächlich: gerade als der kreisen in behutsam-nüchterner Diktion, oft nunmehr sehende Ehemann seine Frau um- unter Einbeziehung traumhafter Elemente, bringen will, besänftigt sie ihn mit der Aus- um die Erfahrung von Gewalt v. a. in jüdikunft, was sie mit dem Studenten auf dem scher Geschichte u. Gegenwart u. appellieren Baum triebe, diene nur seiner Heilung. Als an geschichtsbewusste Humanität. Weitere Werke: Der verspätete Aufschrei. In: Petrus in großem Ärger der Frau droht, er werde ihrem Mann die Wahrheit sagen, ver- Nachrichten aus Israel. Hg. Margarita Pazi. Hilleumdet sie den Heiligen als Liebhaber, der desh./New York 1981. Literatur: Alice Schwarz: Die Einsamkeit der die Heilung habe vereiteln wollen. Vom erzürnten Ehemann wird er nun mit einem deutschsprachigen Schriftsteller in Israel. In: LuK Messer in die Flucht getrieben. Wieder bei 105 (1976), S. 302. Heinrich Detering / Red.

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Bukowski, Oliver, * 6.10.1961 Cottbus. – Dramatiker. B. lebt u. arbeitet in Berlin. Bevor er sich als freischaffender Autor ganz dem Schreiben widmete, studierte er nach dem Abitur von 1985 bis 1990 Philosophie, ab 1987 mit sozialpsychologischer Ausrichtung. Das anschließende Promotionsstudium im Bereich der Sozialwissenschaften an der HumboldtUniversität Berlin gab er 1991 zugunsten des 1989 begonnenen Schreibens auf. Sein erstes Theaterstück Die Halbwertzeit der Kanarienvögel (ein Klischee) wurde 1991 in Schwedt uraufgeführt. Seither hat B. weitere zwanzig Stücke geschrieben, mehrere Hörspiele (u. a. SCHNITTPUNKTODERDASGÄHNENFRÖSTELNSCHWEIGEN. WDR 1993. MONIS MÄNNER. DeutschlandRadio Berlin 1995) u. Filmdrehbücher (u. a. BIS ZUM HORIZONT. 1999) verfasst. 1999 gründete er die »hendel bukowski Filmproduktion«, 2001 die »IT WORKS! FILMPRODUKTION«. B. wird den Autoren zugerechnet, die im Wesentlichen für eine spürbare Wiederkehr des polit. Theaters in den 1990er Jahren verantwortlich sind. Seine Stücke zeigen eine Nähe zum Sozialdrama u. krit. Volksstück, allerdings in »hybriden Formen« (Schößler). Nicht zuletzt die Vorliebe für Genre bezeichnende Untertitel verweist auf B.s bewusstes Spiel mit Deutungsmustern. Er will seine Stücke durchaus traditionell als »Tragödie« (Gäste. Urauff. 1999), »Komödie« (Burnout, die Verweigerung des hohen Cehs. Urauff. 1992) oder »Weihnachtsmärchen« (Goodbye Lucy Hello Lucy. Urauff. 1996) gelesen wissen, aber eben auch als »Hardcoreschwank« (Londn-L.Ä.-Lübbenau. Urauff. 1993), »zeitgenössische Hanswurstiade« (Intercity. Urauff. 1994) oder ein »groteskes Panorama zum Ende der Schonzeit« (Allerseelen Rot. Urauff. 2001). Dabei bereitet es ihm offensichtlich Vergnügen, wie er selbst sagt, »falsche Fährte(n)« zu legen (Wille 1996). Unberechenbarkeit in der Handlungsführung zählt als dramaturgisches Element zu einem wesentl. Charakteristikum seiner Texte. Deshalb findet man sie neutraler als »Zeitstücke« benannt u. nach Gemeinsamkeiten beispielsweise in »Lausitz-Stücke« (u. a. La-

Bukowski

koma. Urauff. 1996. Hinter den Linien. Urauff. 1998), »Beckett-Stücke« (Inszenierung eines Kusses. Urauff. 1992. Die Elche, die Antilopen. Urauff. 1995. Bis Denver. Urauff. 1996), »Looser-Stücke« (u. a. Nichts Schöneres. Urauff. 1998) u. »Ehe-Szenarien« (Das Lachen und das Streicheln des Kopfes. Urauff. 1992. Nature & Friends. Urauff. 2001) gruppiert (Mihan). B.s Interesse gilt den Auflösungserscheinungen u. Eruptionen der (in Ost u. West gespaltenen) Gesellschaft, wobei seine Sympathie den »Outcasts« gehört. Seine Schreibhaltung entspringt u. a. der Faszination darüber, wie sie »wunderschöne Sachen« in assoziativen Sprüngen oder mit »großer Leichtigkeit furchtbare Sachen« erzählen (Wille 1997). Dies führt in seinen Texten zur Zeichnung skurriler Figuren, die er in zugespitzten Situationen übertrieben agieren u. deren Geschichten er grotesk wie tragisch enden lässt. So stirbt etwa ein Ehepaar in der Lausitz nach vergebl. Versuchen, nach der »Wende« in der eigenen Garage einen florierenden Getränkemarkt zu etablieren, im Moment des Lottogewinns, weil »SIE« vergessen hat, nach dem Kochen das Gas abzustellen (Londn-L.Ä.-Lübbenau). B. verwendet unter Einschub von Regieanweisungen von fast »prosaischer Dimension« (Thiemann) dafür eine Sprache, die pointiert u. stark stilisiert an die sprachl. Merkwürdigkeiten der Herkunft oder Lebensweise seiner Figuren angelehnt ist – »[k]ein Dialekt!, in Rhythmus und Struktureigenart jedoch aus dem Mundartlichen gewonnen« (Gäste). »Die Sprache trägt sich durch das rollende ›R‹ des Görlitzer Raumes« (Londn-L.Ä.-Lübbenau). Angesiedelt sind die Geschichten seiner Texte in den »Hinterhöfen« dieser Welt, wörtlich (Allerseelen Rot) wie metaphorisch: »Ein durch Rezession verödeter Landstrich, dörflich« (Gäste). Hervorgehoben wird, dass B.s Texten, bei aller Kritik an den sozialen Verhältnissen, eine gewisse Selbstironie zu eigen ist. Für deren generelle Wertschätzung spricht, dass sie alle aufgeführt wurden. Allein bis zur Spielzeit 2004/05 sind 97 Theaterinszenierungen verzeichnet (Wer spielte was?, s. u.). Darüber hinaus erhielt B. u. a. 1994 den Gerhart-Hauptmann-Preis, 1996 für Ob so oder so (Urauff. 1994) den Deutschen Jugend-

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theaterpreis, 1998 für Nichts Schöneres den Stücke-Förderpreis des Goethe-Institutes, 1999 für Gäste den Mühlheimer Dramatikerpreis u. 2001 den Lessing-Förderpreis des Freistaates Sachsen. Selbst mehrmals für sein Schreiben geehrt, engagiert sich B. spätestens als Mitbegründer des 1998 ins Leben gerufenen »Uraufführungstheater« (UAT) am Staatsschauspiel Dresden für die Förderung von Autoren. Dazu gehört, dass er, u. a. an der Universität der Künste, auch »Szenisches Schreiben« lehrt. Weitere Werke: It works! Urauff. 2001. – Stand by. Urauff. 2004. – Steinkes Rettung. Urauff. 2005. – Nach dem Kuss. Urauff. 2006. – Bowling Alone. Urauff. 2007. Literatur: Franz Wille: ›Klar bin ich Ostler‹. Ein Portrait des Dramatikers O. B. In: Theater heute H. 9 (1996), S. 37–40. – Iliane Thiemann: B. – ›Inkocknito‹. Ein Hardcoreinterview. In: StückWerk. Deutschsprachige Dramatik der 90er Jahre. Arbeitsbuch. Bln. 1997, S. 11–15. – F. Wille: REDEN SIE MAL MIT EINEM PENNER... Drei Fragen an O. B. In: Theater heute H. 10 (1997), S. 38. – Jörg Mihan: Zehn Sätze u. zwei Notate. O. B. In: Stück-Werk 2. Deutschsprachige Autoren des Kinder- u. Jugendtheaters. Arbeitsbuch. Bln. 1998, S. 16–19. – Ders.: B.-Zeit-Stücke. In: Stück-Werk 3. Neue deutschsprachige Dramatik. Arbeitsbuch. Hg. Christel Weiler u. Harald Müller. Bln. 2001, S. 20–24. – Stephan Hilpold: O. B. In: LGL. – Birgit Haas: Theater der Wende – Wendetheater. Würzb. 2004. – Franziska Schößler: Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit u. Gesch. in Dramen der neunziger Jahre. Tüb. 2004. – Wer spielte was? Werkstatistik des Dt. Bühnenvereins. Bundesverband Dt. Theater. Köln. André Barz

Bulla, Hans Georg, * 20.6.1949 Dülmen/ Westfalen. – Schriftsteller, Lektor u. Herausgeber. Im Anschluss an seine Schulzeit in Münster studierte B. Anglistik, Germanistik u. Pädagogik in Münster u. Konstanz u. promovierte 1981 zum Dr. rer. soc. Nach einer Zeit als freier Autor u. Kritiker in Allensbach/Bodensee lebt er heute in Mellendorf/Niedersachsen u. arbeitet seit 1987 als Kulturpädagoge in der Erwachsenenbildung in Hannover. Neben anderen Auszeichnungen u. Stipendien erhielt B. 1978 den Kurzgeschich-

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tenpreis der Stadt Osnabrück, 1982 den Marburger Förderpreis für Literatur, 1983 den Förderpreis der Stadt Konstanz, 1985 den Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis der Stadt Münster, 1988/89 das Stipendium des Deutschen Studienzentrums in Venedig, 1990 das Niedersächsische Künstlerstipendium u. 1996 den Kurt-Morawietz-Literaturpreis der Stadt Hannover. B. veröffentlichte Erzählungen, Essays, Kritiken u. vor allem zahlreiche Gedichtbände. Seit 1984 ist B auch als Lektor u. Herausgeber von Lyrik u. Prosa zeitgenössischer Autoren bei verschiedenen Verlagen tätig, v. a. für den niederländ. Kleinverlag Eric van der Wal. Nach einer Anfangsphase, in der er neben Lyrik auch Kurzprosa schrieb, konzentriert sich B. auf die kleine Form des Gedichts. Poetische Bilder als präzise skizzierte Momentaufnahmen aus dem Alltag basieren auf Erfahrungen, Erinnerungen, Beobachtungen u. Erlebnissen, deren Assoziationshorizonte keineswegs beliebig, sondern durch reflektorische Brechung gesteuert sind. Themen sind u. a. Erinnerungen an Vater u. Mutter, Kindheit u. Schule, Erfahrungen von Liebe, Trennung, Abschied u. Tod sowie Beobachtungen von Natur u. Landleben. Zunehmend nimmt B. Einfluss auf die Buchgestalt seiner oft bei verschiedenen bibliophilen Pressen erscheinenden Lyrikbände. Einige sind vom Handpressendrucker u. Büchermacher Eric van der Wal illustriert, andere enthalten Radierungen von Rolf Escher, Peter Marggraf u. Karl-Georg Hirsch oder Holzschnitte von Burkhart Beyerle. Die bibliophile Kombination von Lyrik u. Grafik wird bes. deutlich im repräsentativen Band Doppel (Bergen 1995), wo jeweils zwei unterschiedliche graf. Gestaltungen desselben Gedichts neue Bezüge zwischen Form u. Inhalt schaffen. B.s Gedichte sind treffend als »fein ziselierte Wortschmiedewerke eines sprachbesessenen und stilbewußt operierenden Wortstellers« (Tammen 1997, S. 132) bezeichnet worden, deren Sprache ihren Reiz aus betont einfachen, genauen Worten u. Satzfragmenten erhält, die in kaum noch zu übertreffender Verknappung rhythmisch mit Zeilenbrechungen komponiert werden u. durch Dis-

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tanzierung von dargestellter Subjektivität neue Interpretationsspielräume eröffnen. Weitere Werke: Kleinigkeiten. Bergen 1975 (L.). – Rückwärts einparken – friedl. Gesch.n. Münster 1977 (Kurzp.). – Landschaft mit langen Schatten. Aarau/Ffm. 1978 (L.). – Fallen. Bergen 1979 (L.). – Weitergehen. Ffm. 1980 (L.). – Ferner Ort zu zwein. Bergen 1982 (L.). – Der Schwimmer. Ffm. 1982 (L.). – Nachtaugen. Bergen 1983 (L.). – Kindheit u. Kreide. Ffm. 1986 (L.). – Verzögerte Abreise. Marburg 1986 (L.). – Vogels. Bergen 1987 (L.). – Alter Schuhschrank. Marburg 1986 (L.). – Die Bücher, die Bilder, die Stimmen. Bergen 1989 (L.). – Katzentage. Bergen 1990 (L.). – Verlorene Gegenden. Pfaffenweiler 1990 (L.). – Über Land. Lpz. 1993 (L.). – Flügel über der Landschaft. Neustadt/ Rübenberge u. a. 1997 (L.). – Nachtgeviert. Hann. 1997 (L.). – Stürzen. Bergen 2000 (L.). – Was kommen wird. Neustadt/Rübenberge 2001 (L.). – Mit der Hand auf der Schulter. Bergen 2006 (L.). Literatur: Nachschlagewerk (mit Bibliografie): Gerhard Kolter: H. G. B. In: KLG. – Weitere Titel: Detlef Horster: Politik als Ästhetik. Kleiner Versuch über den Lyriker H. G. B. In: Ders.: Politik als Pflicht. Studien zur polit. Philosophie. Ffm. 1993, S. 211–216. – Gerhard Rademacher: H. G. B. In: Ders.: Von Eichendorff bis Bienek. Schlesien als offene literar. ›Provinz‹. Wiesb. 1993, S. 334 ff. – Johann P. Tammen: Bilder vom Abschied oder: Was geschieht, ist aufgezeichnet. Laudatio auf H. G. B. In: die horen 2 (1997), Nr. 186, S. 131–140 – Volker Langeheine: Vielleicht entspricht die kleine Form des Gedichts am ehesten meinem literar. Temperament. Interview. In: Focus on Literature (Cincinnati) 5 (1998), Nr. 1, S. 61–68. – Peter Piontek: Das Lesen mit dem Bleistift. Seit 20 Jahren ist H. G. B. der Lektor Eric van der Wals. In: die horen 4 (2004), Nr. 216, S. 237–242. – G. Kolter: Der Lektor als Entdecker u. Förderer. Ebd., S. 243–244. Volker Langeheine

Bullinger, Heinrich, * 4.7.1504 Bremgarten, † 17.9.1575 Zürich. – Pfarrer u. Reformator. Nach dem Besuch der Grundschule in Bremgarten kam B. 1516 nach Emmerich/Niederrhein u. 1519 nach Köln (Baccalaureus 1520, Magister artium 1522). In diese Zeit intensiver humanistischer u. theolog. Studien (ohne formalen Abschluss) fiel sein Bruch mit Rom, angeregt durch die Streitigkeiten um Luthers Lehre, inhaltlich stark geprägt durch eigenständige Lektüre der Kirchenväter u. v. a. der

Bibel. Zurückgekehrt, war B. zunächst Lehrer am Zisterzienserkloster Kappel bei Zürich, wo er bereits vor der Eröffnung der Zürcher »Prophezei« öffentliche exeget. Vorlesungen hielt. 1529–1531 Pfarrer in Bremgarten, wurde er Ende 1531 zum Nachfolger Zwinglis am Zürcher Großmünster ernannt. Er blieb dies bis zu seinem Tod. In Zürich galt es, die 1523 von Zwingli begonnene Reformation von Kirche u. (christlicher) Gesellschaft weiterzuführen u. zu konsolidieren. B. gelang dies durch eine ausgewogene, auch pragmat. Verhältnisbestimmung von politisch-christlicher Obrigkeit u. Kirche mit ihrem prophetisch-mahnenden Öffentlichkeitsauftrag. Zudem ging es um Sicherung u. Ausbau der schon von Zwingli reformierten Institutionen: der »Prophezei« (der ältesten reformierten Akademie), der Fürsorgeeinrichtungen, des Eheu. Sittengerichts. Mit der Prediger- und Synodalordnung (Zürich 1532) u. der Kirchenordnung (Zürich 1535) prägte B. nicht nur die Zürcher Kirche bis heute, sondern schuf auch ein vielfach nachgeahmtes Modell. Als Pfarrer (»Prophet«) war B. zunächst Prediger. Wie Tausende von Predigtkonzepten, rd. 600 gedruckte Predigten, v. a. aber Kommentare zu allen Schriften des NT belegen, bediente er sich dabei konsequent der rhetor. Methode der Humanisten. Sie erlaubte ihm nicht nur, den Sinn der Schrift in ihrer kerygmatischen, paränetischen u. pastoralen Dimension herauszuarbeiten (De scripturae sanctae autoritate. Zürich 1538), sondern auch den Stoff der Theologie nach der »Loci«-Methode zu ordnen. B. entwarf nicht ein System wie die mittelalterl. Scholastik oder die protestant. Orthodoxie. Seine einflussreichsten theolog. Werke – die Dekaden genannten fünf Gruppen zu je zehn Predigten (Zürich 1549/51. Erste vollständige Ausgabe 1552) u. das Zweite Helvetische Bekenntnis (Zürich 1566) – gliederten die Loci in der Regel, wenn auch immer wieder neu, nach dem Schema der traditionellen Katechismusstücke. Das gab B. die Möglichkeit, den Horizont der altkirchl. Tradition stets gegenwärtig zu halten u. zgl. die reformierten Positionen in den Lehren von Schrift, Gesetz u. Evangelium, Heili-

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gung, Kirche u. Abendmahl (»Consensus Tigurinus«) bes. zu prägen bzw. zu betonen. All dies mit irenischer Intention bes. im innerprotestant. Bereich, wobei er dem Weg gegenseitiger Anerkennung trotz (nicht fundamentaler) Lehrdifferenzen demjenigen einer verwässernden Kompromissformel den Vorzug gab. Wohl vom polit. Umfeld (Staatskirche, Eidgenossenschaft) u. von theolog. Überlegungen der Einheit des Werkes u. Willens Gottes bestimmt, konnte B. den Begriff des einen, die hebräische wie die griech. Bibel umfassenden Gnadenbundes als hermeneutische Grundkategorie betonen (De Testamento seu foedere Dei unico et aeterno. Zürich 1534), ohne daraus ein systemat. Prinzip zu konstruieren. Letztlich ist Theologie bei B. in nuce stets Christologie (Mt 17,5 als Motto auf dem Titelblatt seiner Schriften). In der Sakramentsdiskussion vertrat er das Erbe des (späten) Zwingli (u. Oekolampads). Er wandte sich deutlich gegen das tridentin. Rom (De conciliis. Zürich 1561) sowie gegen Täufer (literarisch scharf, prakt. Eintreten für Milde), Spiritualisten u. Antitrinitarier. Die im allg. lateinischen exeget. u. systemat. Arbeiten B.s wurden sofort in die wichtigsten Nationalsprachen (Deutsch, Französisch, Holländisch, Englisch) übersetzt. B. verfasste aber auch dt. Schriften: für die Seelsorge (Bericht der Kranken. Zürich 1535. Der christliche Ehestand. Zürich 1540), gegen Rom (Der alte Glaube. Zürich 1537. Gegensatz und kurzer Begriff der evangelischen und päpstlichen Lehre. Zürich 1551. Von der schweren Verfolgung. Zürich 1573) u. gegen die Täufer (Frevel. Zürich 1531. Der Wiedertäufer Ursprung. Zürich 1560). Von den ausgeprägten histor. Interessen B.s zeugen sein Diarium (eine Privatchronik in Form von Annalen, gedr. Basel 1904), das Spiel von Lucrezia und Tarquinius (Basel 1533), eine dreibändige Reformationsgeschichte (gedr. Basel 1838–40), eine Tigurinerchronik (1572–74) sowie zahlreiche weitere gedruckte u. ungedruckt gebliebene Werke. Mit dem Zürcher Modell einer reformierten Kirche wie mit seinem theolog. Œuvre (rd. 130 Titel gedruckter Werke) wirkte B. weit über die Zürcher u. eidgenöss. Heimat

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hinaus. Nicht zuletzt aber durch seinen immensen Briefwechsel – mit rd. 12.000 Nummern bei Weitem der umfangreichste unter allen Reformatoren – beeinflusste er die konfessionelle u. theolog., damit auch die polit. Entwicklung aller von der Reformation erfassten Länder. Dies nicht nur in Europa, sondern durch holländ. u. engl. Vermittlung auch in Übersee. Ausgaben: Werkausgabe: H. B.: Werke. Hg. vom Zwingliverein Zürich unter Mitwirkung des Instituts für Schweizer. Reformationsgesch. Zürich 1972 ff. Bisher ersch.: 1. Abt. Bibliogr. Bd. 1: Beschreibendes Verz. der gedr. Werke H. B.s. Bd. 2: Beschreibendes Verz. der Lit. über B. Bd. 3: H. B.s Privatbibl. 2. Abt. Briefw. Bde. 1–11 (1524–41). 3. Abt. Theolog. Schr.en. Bd. 1: Exeget. Schr.en (1525–27). Bd. 2: Unveröffentlichte Werke der Kappeler Zeit. Sonderbd. Studiorum ratio – Studienanleitung. Hg. Peter Stotz. 2 Bde., Zürich 1987. – Microfiche-Ausg. Reformed Protestantism. 1. Switzerland. A) H. B. and the Zurich Reformation + Suppl. 1. Hg. Fritz Büsser. Interdocumentation Company Zug/Leiden (enthält die gedr. Werke B.s einschließlich wichtiger Übers.en). – H. B. Schr.en. Bde. 1–7. Hg. Emidio Campi, Detlef Roth u. P. Stotz. Zürich 2004–07 (dt. Übers. wichtiger Schr.en inkl. ›Dekaden‹). Literatur: Aufsatzsammlungen: Joachim Staedtke (Hg.): Glauben u. Bekennen. 400 Jahre Confessio Helvetica Posterior. Zürich 1966. – Ulrich Gäbler u. Erland Herkenrath (Hg.): H. B. 1504–75. 2 Bde., Zürich 1975. – U. Gäbler u. Endre Zsindely (Hg.): B.-Tagung 1975. Zürich 1977. – Bruce Gordon u. Emidio Campi: H. B. Architect of Reformation. Grand Rapids (MI) 2004. – E. Campi (Hg.): H. B. u. seine Zeit. Zürich 2004. – Zum 500. Geburtstag v. H. B. Evang. Theologie 64/2 (2004). – E. Campi u. Peter Opitz: H. B. Life, Thought and Influence. 2 Bde., Zürich 2007 (internat. B.-Kongress 2004; mit umfassender Bibliogr.). – Weitere Titel: Joseph W. Baker: B. and the Covenant. Ohio 1980. – Hans Ulrich Bächtold: H. B. vor dem Rat. Zürich 1982. – Fritz Büsser: B. In: TRE. – André Bouvier: Un père de l’église réformée: Henri B. Genf 1987. – Pamela Biel: Doorkeepers at the House of Righteousness. Bern 1991. – Aurelio A. Garcia: The Theology of History and Apologetic Historiography in H. B. San Francisco 1992. – Rémy Charbon: Lucretia Tigurina. H. B.s ›Spiel von Lucretia und Brutus‹ (1526). In: Antiquitates Renatae. FS Renate Böschenstein. Würzb. 1998, S. 35–47. – Andreas Mühling: H. B. europ. Kirchenpolitik. Bern u. a. 2001. – P. Opitz: H. B. als Theologe. Zürich 2004. – F. Büsser: H. B.

297 Leben, Werk u. Wirkung. 2 Bde., Zürich 2004/05. – Carrie Euler: Couriers of the Gospel: England and Zurich 1531–58. Zürich 2006. Fritz Büsser / Peter Opitz

Bulthaupt, Heinrich (Alfred), auch: Capobulto, * 26.10.1849 Bremen, † 20.8.1905 Bremen; Grabstätte: ebd., Riensberger Friedhof. – Dramatiker, Erzähler, Lyriker u. Kritiker. B. entstammte einer Bremer Lehrerfamilie. Nach dem Gymnasialbesuch studierte er 1868–1872 wider eigene Neigung Jura in Würzburg, Göttingen, Berlin u. Leipzig. Nach der Promotion war B. im Winter 1872/ 73 Hauslehrer in Kiew. 1873 bereiste er die Türkei, Griechenland, Italien u. Nordafrika. Nach Ableistung des Militärdienstes in Leipzig kehrte B. in seine Vaterstadt zurück u. praktizierte dort ab 1875 als Rechtsanwalt. Den ungeliebten Juristenberuf vertauschte er 1879 bereitwillig mit der Stellung des Bremer Stadtbibliothekars, die ihm hinreichend Zeit für seine literar. Ambitionen ließ. 1878–1888 war B. Vorsitzender der Bremer Literarischen Gesellschaft, 1890 wurde er Präsident des Bremer Künstlervereins. B. versuchte sich in diversen Genres wie Lyrik, Novellistik, Literaturkritik. Seine bes. Neigung galt jedoch der Bühne, für die er Trauer- u. Lustspiele, Opernlibretti (darunter ca. 1885 auch zu Kleists Käthchen von Heilbronn) u. Klassikerbearbeitungen lieferte. Einem Stilideal verpflichtet, das »die platte Werktagswelt unter sich lässt, [...] das Tägliche zum Ewigen, das Individuelle zum Allgemeinen emporhebt«, bekannte er sich zur klass. dt. Schauspieltradition (Lessing, Goethe, Schiller). Entsprechend entschieden war seine Absage an das zeitgenössische naturalist. Drama, dessen Gesellschaftskritik u. Alltagstrivialität seiner klassizistisch beeinflussten Ästhetik entgegenstand. Zwar hatte B. selbst mit dem Schauspiel Die Arbeiter (Bremen 1877) eines der ersten dt. Sozialdramen verfasst, jedoch mit entpolitisierender Tendenz u. Personalisierung der sozialen Konflikte. Ähnlich verfuhr B. in Gerold Wendel (Oldenb. 1884), einem Drama, dem der dt. Bauernkrieg von 1525 lediglich als Folie, als

Bulthaupt

Panorama für die Entfaltung seiner trag. Charaktere diente. B.s Vorliebe für histor. Stoffe belegt auch Eine neue Welt (Oldenb. 1886). In diesem in Spanien um 1500 spielenden Drama versuchte B. – vor dem Hintergrund des Kulturkampfes – die zerstörer. Wirkung von religiösem Fanatismus u. geistiger Intoleranz darzustellen. Trotz des nicht unbeachtl. Publikumserfolgs galt B. vielen Zeitgenossen als rein epigonaler Dichter, der allzusehr auf den Spuren seines großen literar. Vorbilds Schiller (für B. »der größte dramatische Baumeister, den es je gegeben«) wandelte. In seinen späteren Lebensjahren betätigte sich B. als – gefragter – Vortragsreisender u. verfasste eine vierbändige Dramaturgie des Schauspiels (Oldenb. 1881–1901), die aus seiner Tätigkeit als Theaterkritiker für den »Bremer Courier« u. die »Weser-Zeitung« hervorgegangen war. Sein Ziel war »die Aufspürung der Gesetze, nach denen das Drama als Gattung sich gestaltet«. Indem er die dramat. Gestaltungsformen von Shakespeare bis Gerhart Hauptmann Revue passieren ließ, suchte er das Bleibende, das »Wertbeständige« von der Vergänglichkeit der literar. Moden zu sondern u. die Maximen der »wahren« Dichtkunst jenseits ihrer jeweiligen Tagesaktualität zu ermitteln – eine Absicht, die den Bedürfnissen des wilhelmin. Bildungsbürgertums entgegenkam u. B.s dramaturg. Werk bis zum Ersten Weltkrieg hohe Auflagen verschaffte. Weitere Werke: Durch Frost u. Gluthen. Breslau 1876 (L.). – Dramaturgie der Oper. 2 Bde., Lpz. 1887. Nachdr. Walluf bei Wiesb. 1984. – Vier Novellen. Dresden/Lpz. 1888. – Timon v. Athen. Bln. 1892 (D. nach Shakespeare). Literatur: Edmund Ruete: H. B. In: Bremische Biogr. des 19. Jh. Bremen 1912, S. 79–91. – Heinrich Kraeger (Hg.): Briefe v. u. an H. B. Oldenb./Lpz. 1912, S. I-XVIII (Einf.) – Woldemar Becker-Glauch: H. B. als Dramaturg. Ein Beitr. zum Problem des Epigonentums. Emsdetten 1938. – Marlies Hassmann: H. B. Eine Personalbibliogr. Bremen 1969. – Das Neue Ullstein Lexikon der Musik. Ffm. u. a. 1993. – Goedeke Forts. Walter Weber / Red.

Bultmann

Bultmann, Rudolf Karl, * 20.8.1884 Wiefelstede bei Oldenburg, † 30.7.1976 Marburg; Grabstätte: ebd., Hauptfriedhof. – Protestantischer Theologe. Der Sohn eines Pfarrers u. evang. Kirchenrats besuchte wie Karl Jaspers das humanist. Alte Gymnasium in Oldenburg u. studierte Theologie in Tübingen, Berlin u. Marburg. 1907 wurde B. Repetent in Marburg u. habilitierte sich 1912 bei Adolf Jülicher. Während seiner Studienzeit übten die Theologen Karl Müller, Hermann Gunkel, Adolf Jülicher, Johannes Weiß u. insbes. Wilhelm Herrmann nachhaltigen Einfluss auf ihn aus. B. wurde 1912 Privatdozent in Marburg, 1916–1920 a. o. Prof. in Breslau, 1920 Ordinarius in Gießen; 1921 kehrte er nach Marburg zurück. Eine theolog. Neubesinnung 1920/21 führte ihn von der liberalen zur dialekt. Theologie. Als Heidegger 1923 nach Marburg berufen wurde, versammelte er um sich einen Schüler- u. Freundeskreis, zu dem auch B. gehörte. B. war Mitarbeiter bei der von Karl Barth herausgegebenen Zeitschrift »Zwischen den Zeiten« u. während des NS-Regimes aktives Mitgl. der Bekennenden Kirche. Mit seinen Werken Geschichte der synoptischen Tradition (Gött. 1921. 10., erg. Aufl. 1995), Jesus (Tüb. 1926. 1988), Glauben und Verstehen (Bd. 1, Tüb. 1933. Alle 4 Bde. zuletzt ersch. Tüb. 1993) u. Evangelium des Johannes (Gött. 1941. 211986) begründete B. seinen wiss. Ruf. Berühmt aber wurde er durch einen Aufsatz, der eine lebhafte, später internat. Diskussion entfachte: Neues Testament und Mythologie (in: Beiträge zur evang. Theologie. Mchn. 1941, S. 27–60). In diesem Aufsatz setzt B. voraus, dass das Weltbild des NT mythisch sei, wobei er Mythos als Rede, Erzählung vom göttl. Geschehen verstand. Die Erde gilt B. als »Schauplatz des Wirkens übernatürlicher Mächte«, der Himmel als Wohnung Gottes u. die Unterwelt als Ort der Qual. Das Programm der Entmythologisierung intendiert nicht, wie der Terminus vermuten lässt, eine Eliminierung des myth. Erzählstoffs, sondern es zielt auf eine »existentiale Interpretation« des bibl. Textes, die dann – so

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B. – sachgemäß sei, wenn der Exeget sich dadurch in die Entscheidung rufen ließe. Nur so werde dem modernen Menschen ein Zugang zur Verkündigung des NT ermöglicht. Gedankliche Konzeption u. Terminologie B.s sind ohne die Philosophie des frühen Heidegger nicht denkbar. B.s Entmythologisierung, seine Destruktion der neutestamentl. Mythologie, entspricht Heideggers »Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Ontologie«, die keineswegs den negativen Zweck einer »Abschüttelung« der Tradition haben soll. B. übernimmt in seiner existentialen Interpretation, die von den Strukturen des menschl. Seins ausgeht, einen Begriff Heideggers u. dessen hermeneut. Methode. Sie soll den myth. Sinn auf die Existenzbeziehung zwischen Gott u. Mensch zurückführen. Die für B.s Theologie prinzipielle Bedeutung des nicht objektivierbaren Augenblicks ist mit Heideggers Gedanken einer aus der Zukunft konzipierten Existenz vergleichbar. B.s teilweise schroff u. provokativ formulierte Schrift wurde zu einer der am meisten diskutierten theolog. Arbeiten des 20. Jh. Weitere Werke: Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen. Zürich 1949. Zuletzt Düsseld. 61998. – Theologie des NT. Tüb. 1953. 9 1984. – History and Eschatology. Cambridge 1957. Dt. Tüb. 1958. 31979. – Theolog. Enzyklopädie. Tüb. 1984. Ausgabe: Briefw. 1921–67. R. B. – Friedrich Gogarten. Hg. Hermann Götz Göckeritz. Tüb. 2002. Literatur: Hans-Werner Bartsch (Hg.): Kerygma u. Mythos. 5 Bde., Hbg. 1948 ff. – Günther Bornkamm u. Walter Klaas: Mythologie u. Evangelium. Mchn. 1951. – Heinrich Ott: Gesch. u. Heilsgesch. in der Theologie R. B.s. Tüb. 1955. – René Marlé: B. et l’interprétation du Nouveau Testament. Paris 1956. Dt. Paderb. 1959. 21967. – Walter Schmithals: Die Theologie R. B.s. Eine Einf. Tüb. 1966. – Hartwig Thysen u. a.: R. B. 100 Jahre. Oldenb. 1984. – Bernd Jaspert (Hg.): R. B.s Werk u. Wirkung. Darmst. 1987. – Martin Evang: R. B. in seiner Frühzeit. Tüb. 1988. – Ernst Baasland: Theologie u. Methode. Eine historiograph. Analyse der Frühschr.en R. B.s. Wuppertal 1992. – Ulrich H. J. Körtner (Hg.): Jesus im 21. Jh. B.s Jesusbuch u. die heutige Jesusforsch. Neukirchen 2002. – Werner Raupp: R. K. B. In: Bautz. – Karsten Jung: Homilet.

299 Hermeneutik. R. B.s Beitr. für ein fröhl. Christentum. Waltrop 2004. Martin Oesch / Red.

Bunge, Hans Joachim, * 3.12.1919 bei Dresden, † 27.5.1990 Berlin. – Regisseur, Dramaturg u. Journalist.

Bunge

nold Schönberg, die amerikan. Emigration, über Marxismus u. Kunst u. Über die Dummheit in der Musik, der vier Kapitel gewidmet sind, zu bewegen. Darüber hinaus gelang es B. durch den stetigen Wechsel der Dialogpositionen, seine Interviews mit Hanns Eisler der Form des Essays anzunähern. Für sein Buch Brechts Lai-tu. Erinnerungen und Notate von Ruth Berlau (Darmst. 1985. Bln./ DDR 1988) konnte B. die dän. Schauspielerin Ruth Berlau – neben Helene Weigel wohl die wichtigste Lebensgefährtin Brechts – bewegen, über bedeutende Ereignisse ihres Lebens zu berichten. Hervorzuheben ist das Geschick B.s, während des Gesprächs kaum in Erscheinung zu treten. Er sah offenbar seine Aufgabe mit der Herausgabe u. Kommentierung der von ihm geordneten Erinnerungen Ruth Berlaus erfüllt.

Der Sohn eines 1929 verstorbenen Zahnarztes – der Stiefvater war Polizeioffizier – war 1934–1938 Mitgl. der HJ, von 1938 an der NSDAP u. wurde 1939 nach dem Abitur Soldat. Nach sechsjähriger russ. Kriegsgefangenschaft wurde B. Ende 1949 zu seinen Eltern nach Westdeutschland entlassen. Bald zog er jedoch in die DDR, um dort seine Jugendliebe zu heiraten. Er studierte Germanistik u. Theaterwissenschaften in Greifswald u. promovierte 1957 über Brecht. Von 1953 an arbeitete er als Regie- u. Dramaturgieassistent beim Berliner Ensemble. Nach Brechts Weitere Werke: H. J. B., Werner Hecht u. Käthe Tod leitete B. das Bert-Brecht-Archiv bis zum Rülicke-Weiler (Hg.): Bertolt Brecht. Sein Leben u. Zerwürfnis mit Helene Weigel 1962. Als Werk. Bln./DDR 1969. Bln./West 1971. 21976. – Die Mitarbeiter der Deutschen Akademie der Debatte um Hanns Eislers ›Johann Faustus‹. Eine Künste setzte er seine Arbeit über Brecht zu- Dokumentation. Hg. vom Brecht-Zentrum. Bln. nächst fort mit der Vorbereitung der hist.- 1991. Literatur: Deborah Vietor-Engländer: Die Dekrit. Ausgabe der Schriften Brechts, dann batte um Hanns Eislers ›Johann Faustus‹. In: WB wechselte er in die Redaktion der Sonderhefte 38 (1992), H. 2, S. 308/314. Verena Dohrn / Red. von »Sinn und Form«. 1965 wurde B. ohne Angabe von Gründen fristlos aus der Akademie entlassen. Anfang 1968 stellte ihn das Bunge, Rudolf, auch: Bruno Rudolph, Volkstheater Rostock unter Hanns Anselm * 27.3.1836 Köthen, † 5.5.1907 Halle. – Perten als Dramaturg u. Regisseur ein, später Lyriker u. Dramatiker. das Deutsche Theater Berlin. Neben zahlreichen Aufsätzen über Brecht Statt Chemie zu studieren, wie von seinem u. das Theater, Tonbandprotokollen u. Fern- Vater, einem Industriellen, gewünscht, hörte sehsendungen veröffentlichte B. 14 Gesprä- B. seit 1856 Geschichte u. Literatur an der che mit Hanns Eisler, die er zwischen 1958 u. Sorbonne u. dem Collège de France. Für 1962 mit dem Komponisten geführt hatte. Kunststudien unternahm er ausgedehnte Diese Gespräche erschienen zunächst 1964 in Reisen in die Schweiz u. nach Italien. Nach zwei Sonderheften von »Sinn und Form«, Hause zurückgekehrt, übernahm er 1862 die wurden 1965–1967 als Hörfolge im DDR- väterl. Fabrik, die er jedoch bald seinem Rundfunk gesendet (1967 vom WDR über- jüngeren Bruder überließ, um sich ganz seinommen) u. zuletzt als Buch veröffentlicht: nen literar. Interessen zu widmen. B. lebte Fragen Sie mehr über Brecht – Hanns Eisler im abwechselnd in Köthen u. in Ungarn. Gespräch (Mchn. 1970. Darmst. 1986). Alle B. schrieb einige Opernlibretti (Der TromGespräche B.s mit Eisler in chronologischer peter von Säckingen. Lpz. 1884), Gedichte Folge liegen vor in: Hanns Eisler: Gesammelte (Deutschlands Erwachen. Köthen 1861), sowie Werke (Serie III, Bd. 7, Lpz. 1975. Darmst. Lust- u. Trauerspiele; er bearbeitete klass. 1986). B.s Kunst besteht darin, den scharf- Dramen in Melodram-Manier (Die Jungfrau sinnigen Denker Eisler im Gespräch zu Er- von Orleans. o. O. 1862). Auf größere Resonanz innerungen, Reflexionen über Brecht u. Ar- stieß jedoch nur sein patriotisches Trauer-

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Literatur: K. B. In: Dieter Paul Meier-Lenz u. spiel Der Herzog von Kurland (Lpz. 1868), das bei seiner Uraufführung 1870 der anti-frz. Kurt Morawietz (Hg.): Niedersachsen literarisch. Stimmung entgegenkam. B. betrieb außer- 100 Autorenportraits. Bremerhaven 1981. Volker Busch / Red. dem lokalgeschichtl. Studien u. war ein gesuchter Redner für literaturgeschichtl. Themen. Burckhard, Max (Eugen), * 14.7.1854 Literatur: Goedeke Forts. – Bernd Gerhard Ulbrich (Hg.): Dichter in Anhalt. Halle 2002, S. 137–140. Kunigunde Malnieks / Red.

Bunje, Karl, * 8.11.1897 Neuenburg bei Oldenburg, † 6.4.1985 Oldenburg. – Verfasser niederdeutscher Mundartstücke. B. trat 1914 eine Laufbahn in der Finanzverwaltung an, bevor er 1916 als Soldat in den Krieg gegen Frankreich geschickt wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg war er Mitinitiator der Niederdeutschen Bühne in Brake/ Weser. Den Beruf als Steuerinspektor gab B. 1937 auf u. lebte als Schriftsteller in Cloppenburg, seit 1953 in Sandkrug, zuletzt am Zwischenahner Meer u. in Oldenburg. In seinem ersten niederdt. Schauspiel Desertörs (Verden 1934) stilisiert B. im histor. Stoff der napoleon. Ära drei seiner Vorfahren (Berend, Dirk u. Harm Bunje) zu Freiheitskämpfern gegen Franzosen u. dt. »Verräter«. De Etappenhas (Verden 1935), B.s bekanntestes Stück, ist eine Verwechslungskomödie um einen Hasenbraten im Szenarium eines Versorgungslagers der dt. Westfront. Dieses »lustig Spill ut de Kriegstid« fügte sich ins nationalsozialist. Kulturprogramm u. wurde 1936 auch über das niederdt. Provinztheater hinaus auf über 100 Bühnen zum Publikumserfolg, in bayerischen u. kölnischen Dialekt übertragen u. verfilmt. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb B. mit seinen Beiträgen für Bühne, Rundfunk u. Fernsehen ein populärer Autor niederdt. Mundartdichtung. 1971 wurde ihm der Fritz-Stavenhagen-Preis verliehen. Weitere Werke: Spektakel in Kleinhörn. Verden 1936. – Familjenansluß. Verden 1938. – De Jungfernkrieg. Verden 1939. – Der Horcher an der Wand. Bln. 1941. – Peper un Solt. Verden 1944. – De reine Wahrheit. Bln. 1949. – In’n Mahlgang. Weinheim 1953. – Dat Hörrohr. Weinheim 1955. Verden 2000. – Gesch.n u. Gedichte. Ges. u. hg. v. Hans Bunje. Oldenb. 1997.

Korneuburg bei Wien, † 16.3.1912 Wien; Grabstätte: Korneuburg. – Komödienautor, Kritiker u. Erzähler. B. schlug nach einer Gymnasialausbildung am Stift Kremsmünster u. der Promotion in Jura an der Universität Wien die Verwaltungslaufbahn ein. 1890 zum Direktor des Hofburgtheaters ernannt, pflegte B. bes. das zeitgenöss. Drama (Anzengruber, Ibsen, Hauptmann, Schnitzler). Aus sozialpolit. Engagement setzte er sich für eine Revision des Theaterrechts ein (u. a. Das Recht der Schauspieler. Stgt. 1896). Aufgrund einer Intrige wurde B. 1898 entlassen u. als Hofrat an den Verwaltungsgerichtshof berufen. In der Folgezeit verfasste er Theaterkritiken, v. a. für die »Neue Freie Presse«, sowie Volksstücke, Komödien u. Romane. Dem Naturalismus nicht nur in der Stilhaltung (Dialektgebrauch, Milieuschilderungen), sondern auch im sozialkrit. Impetus verpflichtet, griff B. Missstände v. a. der zeitgenöss. Rechtspflege auf (vgl. den Roman Simon Thums. Stgt. 1897). Weitere Werke: Ästhetik u. Sozialwiss. Stgt. 1895 (Ess.). – Die Bürgermeisterwahl. Wien 1898 (Kom.). – S’Katherl. Wien 1898 (Volksstück). – Wahre Gesch. n. Wien 1904 (N.). – Zur Reform des Irrenrechts. Wien 1904. – Rat Schrimpf. Bln. 1905 (Kom.). – Theater, Kritiken, Vorträge u. Aufsätze. Wien 1905. – Die Insel der Seligen. Bln. 1909 (R.). Literatur: Hermann Bahr: Wiener Theater. Wien 1899, S. 170–201. – Berta Wolf: M. B. Diss. Wien 1929. – Franz Herterich: Das Burgtheater u. seine Sendung. Wien 1946. – Doris Dey: Die Wiener Moderne u. M. B. Diss. Wien 1989. Irmgard Lindner / Red.

Burckhardt, Carl Jacob, * 10.9.1891 Basel, † 3.3.1974 Vinzel/Waadt; Grabstätte: ebd. – Politiker u. Historiker. Aus alter Basler Familie stammend, besuchte B. das Landerziehungsheim Glarisegg im Thurgau. Nach der Maturität 1911 studierte er Geschichte in Basel, Zürich, München,

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Weitere Werke: Gestalten u. Mächte. Mchn. Göttingen u. Paris – u. a. bei Arnold Wölfflin, Karl Brandi u. Edmund Husserl. Nach der 1941. – Reden u. Aufzeichnungen. Zürich 1952. – Promotion trat er in den diplomat. Dienst der Begegnungen. Zürich 1952. – Bildnisse. Ffm. 1958. Schweiz ein u. widmete sich in der Folge über – Zum Begriff der Macht. Zürich 1972. – Zu Hugo v. Hofmannsthal. Ffm. 1974. Jahrzehnte wechselnd der Diplomatie u. der Ausgaben: Ges. Werke. 6 Bde., Bern 1971. – Wissenschaft. In seine Wiener Zeit von 1918 Briefwechsel: Hugo v. Hofmannsthal u. C. J. B. bis 1922 fällt die prägende Begegnung mit Briefw. Hg. C. J. B. Bln. 21957. Erw. u. überarb. Hugo von Hofmannsthal, aus der eine le- Neuausg. Ffm. 1991. – C. J. B. u. Max Rychner: benslange Freundschaft entstand. Sie ist do- Briefe 1926–65. Ffm. 1970. – Briefe 1908–74. Ffm. kumentiert in B.s Erinnerungen an Hofmanns- 1986. – Carl Zuckmayer – C. J. B.: Briefw. In: thal und Briefe des Dichters (Basel 1943). Nach Zuckmayer-Jb. 3 (2000), S. 9–243. der Habilitation 1927 wirkte er bis 1932 als Literatur: Otto Heuschele: C. J. B. Humanist u. Professor für neuere Geschichte in Zürich, Staatsmann. Zürich 1966. – Fredy Gsteiger: Tödl. dann in Genf. Schweigen am Genfer See. In: Die Zeit, 23.10.1988. Nachdem B. bereits 1933 Mitgl. des IKRK – Paul Stauffer: Zwischen Hofmannsthal u. Hitler: (Internationales Kommitee des Roten Kreu- C. J. B., Facetten einer außergewöhnl. Existenz. zes) geworden war, übernahm er 1937 die Zürich 1991. – Karl Pestalozzi: C. J. B. als SchriftAufgabe eines Hochkommissars in Danzig. steller. In: Schweizer Monatsh.e 72 (1992), S. 317–324. – Hans Mayer: Erinnerung an C. J. B. Seine Rechenschaftsberichte Rapport de M. Carl In: Ders: Zeitgenossen. Ffm. 1998, S. 100–110. – P. Burckhardt (Genf u. Paris 1940) u. Meine Dan- Stauffer: ›Sechs fruchtbare Jahre‹. Auf den Spuren ziger Mission (Mchn. 1960) sind bemerkens- C. J. B.s durch den Zweiten Weltkrieg. Zürich 1998. werte Zeugnisse zur Vorgeschichte des Zwei- – Lionel Gossman: Basel in the age of B. A study in ten Weltkriegs. B.s Rolle während des Krieges unseasonable ideas. Chicago 2000. – Joachim Lilla: wird wegen seiner Passivität gegenüber dem C. J. B. u. Thomas Mann. In: Thomas-Mann-Jb. 17 dt. Widerstand u. der Vernichtung der Juden (2004), S. 163–181. Quirinus Reichen / Red. kritisch gesehen. Nach Kriegsbeginn in die Schweiz zurückgekehrt, leitete B. 1944–1949 das IKRK als Präsident; 1945–1949 war er Burckhardt, Jacob Christoph, auch: EmiSchweizer Botschafter in Paris. Hier gelang es nus, * 25.5.1818 Basel, † 8.8.1897 Basel. – ihm, beim Neuaufbau der Beziehungen zwiKunst- u. Kulturhistoriker, Verfasser liteschen Deutschland u. Frankreich mitzuwirrarischer Schriften. ken. Durch seine Heirat mit Elisabeth de Reynold, Tochter des konservativen Schwei- B. war Sohn des Basler Münsterpfarrers u. zer Romanisten Gonzague de Reynold, u. entstammte einer Familie, die in seiner Heidurch seine Genfer Mutter eng mit der matstadt gemeinhin zum »Daig« gezählt Westschweizer Kultur verbunden, lebte er wird, die also der im 19. Jh. die Geschicke der nach seinem Rückzug aus den öffentl. Äm- Stadt noch weithin bestimmenden kleinen tern am Genfer See. bürgerl. Oberschicht angehörte. Dieser soB.s wissenschaftliches u. literar. Werk ist ziale Hintergrund reichte allerdings nicht seit seiner Dissertation 1918 über den Berner aus, um B. einen Platz in der ersten Reihe der Schultheissen Charles Neuhaus (Frauenfeld Basler Gesellschaft zu sichern. Denn im Ver1925) stark dem Biografischen verpflichtet u. gleich zu dem in Handel u. Bankwesen tätiweist gelegentlich auch autobiogr. Züge auf. gen städt. Großbürgertum war die finanzielle 1935 erschien der erste Band seiner monu- Situation in B.s Elternhaus bescheiden. B.s mentalen Biografie über Kardinal Richelieu Verhältnis zu Basel blieb vielleicht auch des(Bde. 2–4, Mchn. 1965–67. Gesamtausg. in 1 halb zeit seines Lebens ambivalent: Er kritiBd. Mchn. 21988). In seinem ersten dichter. sierte es einerseits als Ort der »KrähwinkelProsawerk, der Kleinasiatischen Reise (Mchn. ei«, kehrte andererseits jedoch immer wieder 1925), spiegelt sich die Rückführung der dorthin zurück u. verzichtete später zugunsgriech. Gefangenen aus der Türkei, die er ten seiner Heimatstadt u. a. auf Lehrstühle in Heidelberg u. in Berlin. 1923 im Auftrag des IKRK begleitete.

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Eine entscheidende Prägung erfuhr B.s akadem. Laufbahn nach dem Abbruch seines Theologiestudiums in Basel durch den Wechsel an die Berliner Universität 1839. Seine wichtigsten Lehrer wurden der Historiker Leopold Ranke u. der Kunsthistoriker Franz Kugler. Vor allem der intellektuelle Einfluss im Hause Kuglers hinterließ bereits in B.s frühen Arbeiten Spuren. In seiner Reisebeschreibung Die Kunstwerke der belgischen Städte (Düsseld. 1842) plädiert B. gemäß Kuglers Programm für eine Einbettung der Kunstgeschichte in die allg. Kulturgeschichte; in seinem Bericht von der Berliner Kunstausstellung (1843) tritt B. für Kuglers Ideal einer dramat. Historienmalerei ein, u. in seinem Conrad von Hochstaden (Bonn 1843) verbindet B. Kunst- u. Kulturgeschichte in einer dramatisch angelegten Geschichtsschreibung. B. fasste in diesen Jahren den Plan, nicht für die Wissenschaft im engeren Sinne, sondern für ein breiteres Publikum in einem »lesbaren Stil« zu schreiben. Er hoffte auf diese Weise, zum nat. Fortschritt u. der »Entwicklung des Geistes zur Freiheit« in einer von ihm als Übergangszeit aufgefassten Gegenwart beizutragen. Der damit benannte Stellenwert seiner literar. Interessen äußerte sich später u. a. auch noch in seinen Gedichtbänden Ferien. Eine Herbstgabe (Basel 1849) u. E Hämpfeli Lieder (Basel 1853). Allerdings verlor B. zunehmend seinen optimist. Blick auf die Zukunft. Seine Briefe belegen, wie er u. a. im Zuge seiner Tätigkeit als Redakteur der »Basler Zeitung« 1844/45 liberale Überzeugungen zu hinterfragen begann. In der Folge verlagerte B. die Suche nach historischer u. ästhet. Orientierung in den Süden. Auf seinen Reisen 1846, 1847/48 u. 1853/54 verfestigte sich seine Sicht auf Italien als einem kulturgeschichtl. Nährboden für freie künstler. Entfaltung. B. verarbeitete diesen Eindruck in seiner Neufassung zweier kunsthistor. Handbücher von Kugler (1848), indem er die ital. Kunst der Renaissance als Produkt einer schöpferischen, von Rücksichten auf gesellschaftl. Konventionen befreiten Individualität vorstellte. B.s erste größere kulturhistor. Darstellung, Die Zeit Constantins des Großen (Basel 1853), befasste

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sich mit der späten röm. Kaiserzeit in ihrer »Eigenschaft als Übergangsepoche«. Das Werk war Teil des Plans, eine »Bibliothek der Culturgeschichte« teils zu schreiben, teils herauszugeben, deren Höhepunkt ein Band zum »Zeitalter Raphaels« werden sollte. Nachdem B. seine Stelle an Pädagogium u. Universität in Basel 1852 verloren hatte, schrieb er zunächst den Cicerone (Basel 1855), eine Geschichte der Kunst in Italien, mit der er seinen Ruhm als Kunsthistoriker begründete. Nach seiner Berufung auf einen kunsthistor. Lehrstuhl am Polytechnikum in Zürich (1855) arbeitete B. an einer Zusammenführung der Kunst- u. Kulturgeschichte in einer übergreifenden Darstellung der ital. Renaissance. Aufgrund veränderter histor. u. ästhet. Ansichten zweifelte B. jedoch zunehmend an seiner Konzeption u. publizierte schließlich allein den kulturgeschichtl. Teil seiner Arbeit. Die Cultur der Renaissance in Italien (Basel 1860) kündigt einen zweiten, kunsthistor. Band zwar noch an, B. sah sich jedoch genötigt, sein verbleibendes Material gänzlich neu zu strukturieren. Trotz der vom ursprüngl. Vorhaben abweichenden Form bietet die Cultur der Renaissance die erste umfassende Darstellung des Übergangs vom MA in die Moderne auf dem Boden Italiens. B.s Schilderungen zeichnen das Bild einer »entfesselten Subjectivität«, ermöglicht durch das Zurücktreten der disziplinierenden Autorität von Papst u. Kaiser. Die ital. Fürsten u. Tyrannen sind so in der Lage, sich unabhängig von sittlichen, rechtl. oder religiösen Normen auf die Aneignung u. den Erhalt von Herrschaft zu konzentrieren u. ihren Staat in diesem Sinne als Kunstwerk zu gestalten. Auch die Humanisten verkörpern eine von traditionellen Beschränkungen gelöste Form der Individualität, die sich in Ruhmsucht, Spottlust u. moralischer Indifferenz äußert. B. schränkt die Bedeutung der Rezeption des Altertums stark ein u. lässt das neue Ideal der individuellen Allseitigkeit u. Kreativität stattdessen aus einer Welt der Bindungs- u. Rechtlosigkeit entstehen. Nach der Publikation der Cultur der Renaissance zog sich B. ganz auf sein Amt als Geschichtsprofessor in Basel (seit 1858) zurück,

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hielt Vorlesungen u. Vorträge an der Universität u. vor Basler Stadtpublikum u. veröffentlichte bis zu seinem Tod keine weiteren Schriften mehr. Allerdings verfasste er weiterhin Abhandlungen zu kunst- u. kulturhistor. Themen. Dabei ist bes. in der Kunstgeschichte B.s Bemühen um eine neue Konzeption spürbar. Hatte der Cicerone die Kunst noch nach Regionen u. Städten behandelt, begann B. nunmehr, eine Ordnung der Kunstgeschichte aus dem Wandel von »Sachen und Aufgaben« abzuleiten. In einer Vorlesungsreihe Zur Einleitung in die Ästhetik der bildenden Kunst (1863–72) präsentierte B. einen Überblick über die kunsthistor. Gattungen, indem er die ihnen zugrunde liegenden Aufgaben zu Prämissen von Kunst erklärte, die das künstler. Schaffen bedingten. Die Kunstgeschichte nach Aufgaben sollte die kunsthistor. Fixierung auf die Persönlichkeiten der Künstler aufbrechen. B.s erste Anläufe einer Ausarbeitung befriedigten ihn indes nicht, sodass er seine Studien zu Architektur u. Dekoration der Renaissance nur als Arbeitsvorlage für den vierten Band der Geschichte der Baukunst des kurz zuvor verstorbenen Kugler zur Verfügung stellte. Wilhelm Lübke veröffentlichte das Manuskript dann (gegen B.s Wunsch) ohne wesentl. Änderungen (1867). Der Versuch einer Zusammenfassung u. Neuformulierung von B.s histor. Auffassungen wird bes. in dem später u. d. T. Weltgeschichtliche Betrachtungen bekannt gewordenen Vorlesungsmanuskript Über das Studium der Geschichte (1868–73) deutlich. B. erklärt hier sein Verständnis historischer Veränderungen. Demnach entstehen Übergangs- oder Krisenzeiten der Geschichte durch die Emanzipation der Potenz der Kultur von den beiden stabilisierenden Potenzen Staat u. Religion. Der Begriff der Kultur bezeichnet dabei die geistigen Vermögen des Menschen, die sich auf eine Welt jenseits bekannter Erfahrungsräume richten u. dadurch bestehende Zustände auflösen. Statt nach dem Ziel historischer Entwicklungen zu fragen, betont B. durch sein Schema der Potenzen die Typik historischer Krisen im Verlauf der abendländ. Geschichte.

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Historiografisch setzte B. diese Konzeption in der Griechischen Kulturgeschichte (4 Bde., Bln./Stgt. 1898–1902) um, die wie die Weltgeschichtlichen Betrachtungen aus einer Vorlesung entstand, die er vor seinem Tod aber z.T. noch als Buchvorlage ausarbeitete. Die ersten drei Teile behandeln das griech. Staatsleben, die Religion u. die Kultur; der vierte bietet einen diachronen Überblick über verschiedene Typen des antiken Menschen. Gegen die neuhumanist. Verklärungen des Griechentums setzt B. ein grimmiges Bild von der »Staatsknechtschaft«, in die die antike Polis den Einzelnen zwingt. Erst durch den Dienst am Allgemeinen werden die Griechen zu individuellen Kulturleistungen getrieben, die dann ihrerseits die Auflösung der Poliswelt herbeiführen. Immer wieder schaltet B. dabei Verweise auf parallele Entwicklungen seiner Gegenwart ein. B. deutete das 19. Jh. nun als »Revolutionszeitalter«, in dem die Religion ihre Bindungskraft verloren hatte u. der Demos den Staat für seine Zwecke in den Dienst zu nehmen drohte. In seiner Vorlesung über das Revolutionszeitalter (1859–82) begriff er die Französische Revolution demgemäß als typ. Krisis, in der die Bedeutung »geistiger Causalitäten und deren sichtbares Umschlagen in materielle Folgen« deutlich wurde. 1874 übernahm B. neben der Geschichtsprofessur auch die Aufgaben eines Professors für Kunstgeschichte an der Basler Universität. Während er die Lehre der Geschichte nach 1885 abgab, führte er seine kunsthistor. Vorlesungen bis 1893 weiter u. verfasste nach dem Ende seiner Lehrtätigkeit noch zwei bedeutende kunstgeschichtl. Schriften. In den Beiträgen zur Kunstgeschichte von Italien (Basel 1898) entwickelt B. sein Konzept einer Kunstgeschichte nach Aufgaben noch einmal an der Kunst der Renaissance. In den Erinnerungen aus Rubens (Basel 1898) betont er ein formales Prinzip in Rubens’ Malerei, demzufolge jede dramat. Bewegung durch kompositorische »Äquivalentien« ausgeglichen wird. B. starb am 8.8.1897 in Basel. Während die letzten beiden Schriften B.s druckfertig vorlagen, wurden die Weltgeschichtlichen Betrachtungen u. die Griechische Kulturgeschichte erst in

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der Bearbeitung durch Jacob Oeri bekannt. wartskunst. In: Historisierung u. gesellschaftl. Die Weltgeschichtlichen Betrachtungen entfalte- Wandel in Dtschld. im 19. Jh. Hg. Ulrich Muhlack. ten aufgrund der darin ausgemachten ge- Bln. 2003, S. 113–133. – Lionel Gossman: Basel in schichtspessimist. Zeitdiagnose eine einzig- der Zeit J. B.s. Basel 2005. – Dieter Jähnig: Maßstäbe der Kunst- u. Geschichtsbetrachtung J. B.s. artige Wirkung, die nach dem Ersten WeltBasel 2006. Philipp Müller krieg einsetzte u. sich nach dem Zweiten Weltkrieg weiter intensivierte. Die Cultur der Renaissance diente in einer von Ludwig Geiger Burg, Paul, eigentl.: P. Schaumburg, stark vermehrten Fassung zunächst als Pro* 12.12.1884 Hedersleben bei Magdejektionsfläche in der Fin de Siècle-Modeströburg, † 12.12.1948 Wedderstedt. – Namung des Renaissancismus. In der Folge tionalsozialistischer Heimatdichter u. wurde wiederholt B.s zeitweilige Verbindung Historiograf. zu Friedrich Nietzsche diskutiert. Als fruchtbar erwiesen sich Anregungen B.s u. a. Der Journalist u. Jurist lebte in Halle u. in der Renaissancedeutung von Aby Warburg. Leipzig, wo er den Professorentitel erwarb. Die erste Gesamtausgabe seines Werks Später hielt er sich zunächst in Berlin auf u. (1929–34) u. die umfassende Edition der war dann Stadtarchivar in Magdeburg, bis die Briefe (1949–94) trugen zu einer weiteren Stadt 1943 bombardiert wurde. Danach zog Differenzierung der Sicht auf B. bei. Die er sich nach Wedderstedt zurück. B. begann seine schriftstellerische LaufNeuedition der Werke (seit 2000), die auch bahn als Heimatdichter mit histor. Bauerngroße Teile des bislang unpublizierten Nachlasses aufnimmt, erweitert das bisherige romanen (Die Wetterstädter. Lpz. 1911), die bereits in den 1920er Jahren seine völkischBild B.s noch einmal beträchtlich. Gesamtausgaben: J. B. Gesamtausg. Hg. Emil faschistoide Haltung zeigen. In historiograf. Dürr, Werner Kaegi u. a. 14 Bde., Stgt./Bln./Lpz. Werken der 1930er u. 1940er Jahre präsen1929–34. – J. B. Werke. Mchn./Basel 2000 ff. (27 tierte er sich als Apologet der nationalsozialist. Rassenideologie. Nach 1945 verstummte Bde. geplant). Literatur: Werner Kaegi: J. B. Eine Biogr. 7 B. u. wurde vergessen. Bde., Basel/Stgt. 1947–82. – Wolfgang Hardtwig: Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa u. moderner Welt. J. B. in seiner Zeit. Mchn. 1974. – Wilhelm Schlink: J. B. u. die Kunsterwartung im Vormärz. Wiesb. 1982. – Ernst Schulin: B.s Potenzen- u. Sturmlehre. Zu seiner Vorlesung über das Studium der Gesch. (den Weltgeschichtl. Betrachtungen). Heidelb. 1983. – Peter Ganz: J. B.s ›Kultur der Renaissance in Italien‹ u. die Kulturgesch. In: Saeculum 40 (1989), S. 193–212. – Felix Gilbert: History. Politics or Culture? Reflections on Ranke and B. Princeton 1990. – Maurizio Ghelardi: La Scoperta del Rinascimento. L’Età di Raffaelo di J. B. Turin 1991. – Nikolaus Meier: Kunstgesch. u. Kulturgesch. oder Kunstgesch. nach Aufgaben. In: Kunst u. Kunsttheorie 1400–1900. Hg. P. Ganz u. a. Wiesb. 1991, S. 415–437. – Hans Rudolf Guggisberg (Hg.): Umgang mit J. B. Zwölf Studien. Basel 1994. – Goedeke Forts. – Christine Tauber: J. B.s ›Cicerone‹. Eine Aufgabe zum Genießen. Tüb. 2000. – Stefan Bauer: Polisbild u. Demokratieverständnis in J. B.s ›Griechischer Kulturgeschichte‹. Basel 2001. – Aram Mattioli: J. B. u. die Grenzen der Humanität. Wien 2001. – Philipp Müller: Der junge J. B. im Kontext. Geschichtswiss. als Gegen-

Weitere Werke: Da ist Heimat. Lpz. 1907 (R.). – Die hl. Scholle. Lpz. 1922 (R.). – Tausendjähriges Reich. Lpz. 1927 (R.). – Schlagt das Geld tot! Lpz. 1932 (R.). – Volk in Flammen! Lpz. 1932 (R.). – Neue Gesch. des Dt. Reiches. Lpz. 1933 (Historiografie). – Waffenschmiede dt. Freiheit. Bln. 1935 (Biogr.). – Das gepanzerte Herz. Bln. 1942 (Biogr.). Literatur: Peter Zimmermann: Der Bauernroman. Antifeudalismus – Konservatismus – Faschismus. Stgt. 1975. Volker Busch / Red.

Burger, Hermann, * 10.7.1942 Menziken/ Kt. Aargau, † 28.2.1989 Brunegg/Aargau (Freitod). – Romanschriftsteller, Verfasser von Erzählungen, Gedichten u. Essays. B. entstammt einer Familie von Tabak- u. Textilfabrikanten. Er studierte Architektur, dann Germanistik u. Kunstgeschichte in Zürich, schrieb eine Dissertation über Paul Celan u. habilitierte sich über Schweizer Gegenwartsliteratur. Zuletzt lebte er auf dem Schlossgut Brunegg/Aargau. Er erhielt u. a.

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den Hölderlin-Preis 1983 u. den IngeborgBachmann-Preis 1985. Bereits im Prosaband Bork. Prosastücke (Zürich/Stgt. 1970) wurden Themen exponiert, die B. später weiterentwickelte. Da ist z.B. der von Bildungsblässe angekränkelte Sohn aus reichem Hause, der fasziniert u. doch voll Berührungsangst den Gartenarbeiter Bork, einen nur halb gezähmten Vagabunden, beobachtet u. von dessen Tod berichtet: ein voyeuristisches Ich, lebensfremd u. sprachmächtig, solidarisiert sich nachträglich mit dem verstummten Außenseiter. Die Leser auf der Stör stellt satirisch den Umgang des Bildungsbürgers mit seinen Büchern dar; im Prosastück Der Büchernarr werden Bücher dagegen als Vampire entlarvt, die dem Leser das Leben entziehen. Damit ist das zentrale Thema B.s angeschnitten: hinter aller sprachl. Virtuosität lauert die Sprachangst, die zgl. Todesangst ist, genauer: Angst vor dem Scheintod, vor dem Nicht-Leben bei Lebzeiten. Die schleichende Okkupation des Lebens durch den Tod ist Thema des Romans Schilten. Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz (Zürich/Mchn. 1976. Ffm. 2002). Das Schulhaus von Schilten steht in unmittelbarer Nähe des Friedhofs; die Turnhalle wird als Abdankungshalle verwendet. Der Lehrer Armin Schildknecht erforscht die verzweigten Begleiterscheinungen dieses Umstands u. zieht Konsequenzen. Die übl. Schulfächer ersetzt er durch das Universalfach Todeskunde u. erweitert dieses zu einer Enzyklopädie. Was als Abwehrdispositiv gegen das Vorrücken des Friedhofs in den Schul- u. Lebensbereich angelegt ist, erweist sich als das Gegenteil. Anhand der Zweideutigkeit des Worts »Präparieren«, das sowohl das Ausstopfen von Vogelleichen wie die Unterrichtsvorbereitungen des Lehrers bezeichnet, formuliert Schildknecht eine fulminante Kritik der Lehrerexistenz. Doch vermag ihm dies nicht mehr zu helfen. Nach vorzeitiger Pensionierung verfällt er der »Verschollenheit« in der Depression. Die Erzählform dieses Romans ist »Rollenprosa zweiten Grades« (Gerda Zeltner), denn Schildknecht erfindet für seinen Rechenschaftsbericht eine Kunstsprache. Er wendet sich an eine höhere In-

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stanz, häufig enden seine Sätze mit der Anrede »Herr Inspektor!«. Ankläger u. Verteidiger zgl., spricht er von sich selbst aus der Ich-, bald aus der Er-Perspektive. Diese Erzählsituation erlaubt es B., die ganze Palette seiner manierist. Schreibtechnik aus der literar. Figur heraus zu motivieren. Dazu gehört der Hang zu Wortschatzorgien, zur anspielungsreichen literar. Parodie u. zur Entgrenzung fester Verhältnisse in Zeit u. Raum. B. hat eine diabol. Lust daran, Realitäten, die er in präzisen, doch nie erläuterten Fachsprachen darstellt, unmerklich in Irrealitäten übergehen zu lassen. »Schleifende Schnitte zwischen dem Realen und dem Irrealen« nannte er dieses Verfahren. Weitere Werke B.s umkreisen Möglichkeiten, die aller Artistik zugrunde liegende Neurose zu therapieren. Der Roman Die Künstliche Mutter (Ffm. 1982. 1993) fingiert, in Anlehnung an ein in Bad Gastein übliches Verfahren, die »Stollentherapie« für den an einem »Muttermal« u. an »Unterleibsmigräne« leidenden Privatdozenten für dt. Literatur u. Glaziologie Schöllkopf. Die unterirdische Heißluftklinik im Innern des Gotthardmassivs ist vorwiegend von Männerfantasien bevölkert: Die Krankheit soll, so scheint es, an ihren Produkten genesen. Die Therapie, auch der zunächst vielversprechende Schwesternschaftsvertrag mit einer Fernsehsprecherin, misslingt jedoch, weil sie Depression in tödl. Grandiosität umwandelt. Zwei weitere literar. Publikationen deuten darauf hin, dass B. die Hoffnung auf »glückliche« Lösungen der Artistenproblematik aufgegeben hat. Der Schuß auf die Kanzel (Zürich 1988) ist eine bitterböse Autobiografie u. Fiktion verschleifende Erzählung um die Entstehung des Romans Schilten. Im Tractatus logico-suicidalis (Ffm. 1988) formuliert u. paraphrasiert ein Autor Hermann Burger alias Amandus Conte Castello Ferrari Gedanken sehr unterschiedl. Dignität über die Selbsttötung. 1046 Aphorismen umkreisen die Frage: »Gegeben ist der Tod, bitte finden Sie die Lebensursache heraus.« Mit einer Artisten-Metaphysik Nietzsche’schen Zuschnitts kehrt hier auch die elitäre Attitüde zurück.

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Es liegt durchaus in der Logik der von literaturwiss. Verstandes zu schützen verRealien u. Wortmaterial ausgehenden mag. Dass B. auch als Literaturkritiker HerSchreibweise B.s, dass bedeutende Werke ihm vorragendes leistete, zeigen u. a. die Essays zu dann gelangen, wenn er neue Stoff- u. Hermann Hesse oder der Aufsatz Max Frisch Sprachbereiche zu erschließen vermochte. als Architekt im Sammelband Als Autor auf der War es in Schilten das »Cimiterische«, ist es im Stör (Ffm. 1987). ersten Band der Tetralogie Brenner (Ffm. Weitere Werke: Rauchsignale. Zürich 1967 (L.). 1989. 1992) das »Cigarrische«, das die Sub- – Diabelli. Prestidigitateur. Eine Abschiedsvolte für stanz eines literar. Meisterwerks ausmacht. Baron Kesselring. Ffm. 1979 (E.en). – Kirchberger Hermann Arbogast Brenner, der hier seine Idyllen. Ffm. 1980. – Ein Mann aus Wörtern. Ffm. Autobiografie vorlegt, ist eine weitere Maske 1983 (E.en u. Ess.s). – Blankenburg. Ffm. 1986 des Autors B., der Roman kann gewiss in (E.en). – Aus meinen Tabakblättern. Lenzburg 1988. – Der Puck. Stgt. 1989 (E.en). – Der Orchesvielem als Schlüsselroman des kulturellen u. terdiener. Ein Bewerbungsschreiben. Diepflingen wirtschaftl. Lebens des Aargaus gelesen wer- 1998. den. Doch hat B. auch hier von seiner Technik Literatur: Gerda Zeltner: Das Ich ohne Gewähr. der »schleifenden Schnitte« Gebrauch ge- Ffm. 1980. – Elsbeth Pulver: H. B. In: KLG. – Momacht. Er verwendet die Namen der Tabak- nika Grosspietsch: Zwischen Arena u. Totenacker: sorten u. ihrer Herkunftsorte, das ganze »ci- Kunst u. Selbstverlust im Leben u. Werk H. B.s. garrische« Wissen u. Vokabular, um beim Diss. Würzb. 1994. – Claudia Storz: B.s Kindheiten. Leser jenen Sprachrausch zu erzeugen, den Zürich 1996. – Christian Schön: H. B. Schreiben als das Rauchen einer Zigarre beim Autor auslö- Therapie. Stgt. 1997. – Marie-Luise Wünsche: sen mag u. in dessen Atmosphäre Inseln der BriefCollagen u. Dekonstruktionen. Diss. Bielef. Erinnerung auftauchen können. Aber wie das 2000. – Stefan Iglhaut: H. B. In: LGL. Rudolf Käser / Red. genussreiche Rauchen eine sorgfältige Herstellung der Zigarre voraussetzt, muss auch ein Buch handwerklich gefertigt werden: Die Burghart, Christoph Gottehr, auch: C. G. Fabrikation von Zigarren wird auf verblüf- Timotheus B., * 2.8.1682 Prauß bei fend vielschichtige Weise zur Metapher des Nimptsch, † 14.2.1745 Reichenbach. – Schreibens. Die poetolog. Selbstreflexion des Mediziner; Lyriker. Textes, die zudem in langen, meisterhaft ge- Der aus einem Pfarrhaus stammende B. stustalteten Konversationen Brenners mit dem dierte – nach sorgfältiger Ausbildung in Schlossbesitzer Jérôme von Castelmur-Bon- Breslau u. Halle – 1701–1704 in Wittenberg do, dem Literaturkritiker Adam Nautilus u. promovierte dort als Mediziner. Während Rauch u. vielen anderen betrieben wird, führt seiner Studienjahre war er gut befreundet mit dazu, dass der Text sich gegen mögliche krit. Christian Hölmann, der etliche Eklogen, Einwände fortlaufend abdichtet. Dies wie- Sinn- u. Gelegenheitsgedichte B.s – gekennderum vermittelt dem Leser den rechthabe- zeichnet durch die Initialen C. G. B. – in die rischen Charakter Brenners, der sich zuneh- von ihm edierten Bände 4 u. 5 der Neumend in monolog. Klagen u. Anklagen ein- kirch’schen Anthologie aufnahm (Neukirch, Tl. kapselt, bevor er einem weiteren Schub seiner IV, passim; Tl. V, S. 138–141). 1704 begann B. Depression erliegt. seine Tätigkeit als praktischer Arzt u. heiraB. hat anlässlich der Frankfurter Poetik- tete am 29.9.1704 die Breslauer KaufmannsVorlesung Die allmähliche Verfertigung der Idee tochter Anna Rosine Bischof, wohl die »Libeim Schreiben (Ffm. 1986) Einblick in seine sette«, »Lisillis«, »Elise« der Gedichte. EinArbeitsweise gewährt. B.s Aussagen sind von ziger Sohn war Gottfried Heinrich, der wie seltener Luzidität, wenn er als Architekt sei- sein Vater als angesehener Mediziner u. ner Texte spricht. Er gibt Auskunft über Schriftsteller wirkte. B., der später BürgerKonstruktionsprobleme u. berichtet, wie er meister von Reichenbach wurde, veröffentdurch Versenkung in den latenten Assoziati- lichte auch zahlreiche medizin. Schriften in onsreichtum sprachl. Materials die eigene Produktivität vor der hemmenden Kritik des

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lat. Sprache. Als lyrischer Dichter war er schon 1704 verstummt. Virtuoser Wortreichtum u. verspielte Tändelei, aber auch Knappheit u. eine in wissenschaftlichem Denken begründete Genauigkeit im Detail charakterisieren B.s Verse. In seinen Liebesgedichten, die v. a. den Einfluss Lohensteins verraten, stilisierte er sich gern als »Saladin«, um dem sinnenfreudigen Ton mehr Gewicht zu verleihen. Weitere Werke: De malo sic dicto hypochondriaco [...] pro licentia [...] in medicina [...] disserit C. G. B. (Praes.: Christian Vater). Wittenb. 1703. Ausgaben: Christian Hölmann: Galante Gedichte mit C. G. B.s Gedichten. Hg. Franz Heiduk. Mchn. 1969 (auch Darmst. 1969). Literatur: Walter Dimter: Zwei schles. Dichter der Galanten Zeit identifiziert. Christian Hölmann u. C. G. B. In: Schlesien 14 (1969), S. 196–200. – Franz Heiduk: Die Dichter der galanten Lyrik. Bern/Mchn. 1971. Erika A. Metzger / Red.

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räumungsarbeiten des Geistes« zu leisten. Insbes. »Die Fähre« erinnerte nach 1945 an Autoren wie Hermann Broch, Franz Blei, Hans Henny Jahnn u. Robert Musil, die durch Exil u. »Bücherverbrennung« in Vergessenheit geraten waren. Sie machte auch James Joyce u. Paul Valéry in Deutschland erneut bekannt. In dem von B. herausgegebenen Band Zur Klärung der Begriffe (Mchn. 1947) versuchte er mit Autoren wie Dolf Sternberger, Axel Eggebrecht u. Ernst Niekisch Begriffe einer durch den Nationalsozialismus korrumpierten Sprache wieder diskursfähig zu machen. Seit 1953 war B. Generalsekretär des PEN u. als Filmautor tätig. Weitere Werke: Die Trauminsel. 1948 (R.). – Anfang u. Tradition. 1948 (Ess.). – Die Musen darben. Lebensbild Albert Lortzings. Bln. 1955/ DDR. 41958. Düsseld. 1956 (Szenarium u. Hörsp.). – Das große Rennen. 1956 (Film). – Münchhausen hat nicht gelogen. 1956 (Film). Frank Raepke / Red.

Burgmüller, Herbert, * 4.9.1913 Mülheim/Ruhr, † 28.4.1970 Nürnberg. – Buri, Christian Karl (Ernst Wilhelm), * 25.2.1758 Birstein, † 28.7.1817 HomProsaist, Rundfunk- u. Filmautor. burg v. d. H. – Jurist, Lyriker, Epiker. Der ausgebildete Bibliothekar studierte in Wien Literaturgeschichte u. machte sich v. a. als kulturpolitischer Essayist einen Namen. Er war Mitarbeiter am Düsseldorfer Stadttheater (1945) u. Mitherausgeber der Zeitschrift »Die Fähre« (1948). Zeitweilig war er Mitgl. der um Ernst Niekisch lose organisierten Widerstandsgruppe »Widerstand«, die aus einer rechtskonservativen u. am Nationalbolschewismus orientierten Position heraus schon früh Front gegen den Nationalsozialismus machte. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten vertrieb B. nach Österreich, wo er 1936 die Zeitschrift »Das Silberboot« herausgab. Seine Novelle Gang in den Herbst (Bln. 1938. Neuaufl. Düsseld. 1956) wurde wegen ihrer pessimist. Tendenz, die in der Trauer um die verfehlten Möglichkeiten einer bürgerlich-liberalen Haltung zum Ausdruck kam, von den Nationalsozialisten boykottiert, ihr Autor jedoch nicht weiter verfolgt. Als Mitherausgeber der Zeitschrift »Die Fähre« u. der »Literarischen Revue« bemühte sich B. nach der Niederschlagung des Dritten Reichs, »Auf-

Nach dem Studium der Rechte in Marburg u. Gießen ließ sich B. als Anwalt in Offenbach nieder. Bis 1807 stand er als Hofgerichts-Advokat in Fürstlich-Isenburgischen Diensten u. gehörte zum Kreis um Sophie von La Roche. Von Landgraf Friedrich v. von HessenHomburg wurde er 1811 zunächst zum Hofrat berufen u. führte ab 1816 den Titel eines Regierungsrats. Als Schriftsteller konnte B. sich nicht von seinen Vorbildern lösen. Während seine v. a. religiösen Gedichte bes. von Klopstocks Lyrik beeinflusst sind – ohne deren Ausdruckskraft zu erreichen –, orientieren sich seine Erzählungen u. Fabeln u. a. an Sophie von La Roche, Gellert u. Hagedorn. Mit seinem gegen Napoleon gerichteten Heldenepos Der Sieg über den Welttyrannen [...] (Ffm. 1815) errang er sich die Anerkennung des preuß. Königs u. Blüchers. Obwohl B. auch für Almanache u. Zeitschriften, v. a. für Wielands »Teutschen Merkur« (1807–1810), schrieb sowie zahlreiche Kalender u. Taschenbücher (1797–1817) selbst herausgab, fanden seine moralisieren-

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den u. oft langatmigen Dichtungen nur ein kleines Publikum. Weitere Werke: Gedichte. Offenbach 1791 (2. Slg. Offenbach 1797). – Skizzen u. kleine Gemälde. Offenbach 1792. – Harfenklänge einer religiösen Muse. Hanau 1814 (2. Slg. Ffm. 1817). Literatur: Wilhelm Rüdiger: C. C. E. W. B. In: Archiv für hess. Gesch. u. Altertumskunde N. F. 4 (1918), S. 423–442. – Otto Renkhoff: Nassauische Biogr. Kurzbiogr.n aus 13 Jahrhunderten. Wiesb. 1985, S. 49 f. Hans Sarkowicz / Red.

Burkart, Erika, * 8.2.1922 Aarau. – Lyrikerin u. Erzählerin. Von wenigen Unterbrechungen abgesehen, lebt B. seit über acht Jahrzehnten im ehemaligen Äbtehaus des Klosters Muri im schweizerischen Aargau. Seine exponierte ländl. Lage auf einer Moräne mit weiten Horizonten hat ihr Werk nachhaltig geprägt. Auf die landschaftl. Verwurzelung ihrer Existenz u. ihres Schreibens hat B. immer wieder hingewiesen, doch wäre nichts missverständlicher, als sie als eine Vertreterin von Heimatdichtung zu bezeichnen. Ihrem Blick auf die Landschaft eignet nichts Folkloristisches, vielmehr geht es ihr darum, das Empfinden einer Ganzheit von Ich u. Natur ästhetisch zu vermitteln. Das Frühwerk entstand noch aus der Überzeugung, über eine dichter. Sprache, wie sie etwa Wilhelm Lehmanns naturmag. Lyrik repräsentiert, verfügen zu können, die diese Partizipation an einer quasi kosmischen Einheit gestaltet. Doch bereits in ihrem Gedichtband Bann und Flug (St. Gallen 1956) wird B. diese Sprechhaltung problematisch, u. 1958 konstatiert sie in ihrer Droste-Preisrede die erlittene Vertreibung aus »den ganzheitlichen Gründen der Praeexistenz«, die zur Erkenntnis eines »Schöpfungsrisses« geführt habe. Dieser Paradigmawechsel hat Konsequenzen für die dichter. Sprache, insofern die Reflexion auf die Begrenztheit der ästhet. Vermittlung von paradiesischer Ganzheit zum integralen Bestandteil des Gedichts wird. Das lyr. Ich erlegt sich selbst den Bann auf, »wortarm zu sein / im Wissen, es könnte ein Wort / die Sprache Edens verwirren« (Die Transparenz der Scherben. Zürich/

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Köln 1973). Poetologisch hat dies zur Folge, dass an die Stelle des gleichsam selbstverständl. Verfügens über Worte das Hörbarmachen eines Schweigens tritt. B. hat für diese Dichtungskonzeption mit ihrem Gedicht Dazwischen aus dem Band Ich lebe (Zürich/Stgt. 1964) eine klass. Formulierung gefunden: »Ich suche das Wort / das mich fände. // Jedes Wort / ist ein Maß für Distanzen / die ich mit Worten / nicht überwinde. // Wortlos lerne ich lauschen. / Lauschen ist ein Gespräch mit dem Schweigen. // Gedichte sind Grade des Schweigens.« Der utop. Fluchtraum von B.s Dichtung ist ein tönendes Schweigen, das die transzendenten Dimensionen der Welt erklingen lässt u. den Menschen mit der verlorenen natürl. Ganzheit rückverbindet. In ihrem Prosaband Grundwasserstrom (Zürich 2000) charakterisiert B. ihre Schreibintention als den Versuch, »Aspekte des Sichtbaren [zu] zeigen, die das Unsichtbare erkennen lassen.« Es geht um eine Sensibilisierung der Wahrnehmung, die zu der Erfahrung führen möchte, dass das so genannte Übernatürliche sich momenthaft in der Natur selbst zeigt. Die Voraussetzung dafür bildet B.s Vorstellung von einem Durchdrungensein der Landschaft mit numinosen Komponenten, die sich in nicht voraussehbaren Augenblicken einem aufmerksamen »Schauen« offenbaren. In Grundwasserstrom nennt sie das überzeitlich latente Vorhandensein dieser Sphäre – mit einem Begriff Pavel Florenskijs – »Anwesenheit«. Die Gewährung einer solchen momenthaften Apperzeption des Numinosen stellt die Dichtung vor die Aufgabe, dem flüchtigen Eindruck eine bleibende ästhet. Gestalt zu verleihen. Dazu dienen Passwörter, die quasi als sprachl. Kristallisationen dieser epiphanen Augenblicke vorzustellen sind. Die sprachl. Fantasie u. die sympathet. Naturempfindung greifen in dem Bemühen ineinander, mittels poetischer »Passwörter« eine ästhet. Vergegenwärtigung dieser Erfahrung zu leisten. In B.s poetischem Zeichensystem fungieren der Schnee, das Licht u. die Farbe Weiß als Chiffren für diese Transzendenz. Ihre gemeinsame Qualität besteht in einer spezif. Monochromie, die sie als Statthalter

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einer Ungeschiedenheit, einer Zeit vor allen schmerzbehafteten Trennungserfahrungen erscheinen lässt. Eine ähnl. Funktion erfüllen unter thematischem Aspekt Liebe u. Kindheit. Letztere erscheint in romantischer Tradition mit ihrer Offenheit für Fantasie u. Märchen als gewissermaßen dichter. Lebensstufe. Die Reflexion auf den »Schöpfungsriss« lässt die Präsenz des Märchens in B.s Werk allerdings nicht unbetroffen. Das eindrucksvolle Gedicht Das Märchen vom 20. Jahrhundert aus dem Band Langsamer Satz (Zürich 2002) operiert mit einer Aneinanderreihung von Märchenmotiven, die alle im Zeichen der Inversion stehen. Mit den Verkehrungen, die das Märchen vom 20. Jh. zum Verständnis des histor. Geschehens anbietet, stellt sich B. in die Tradition des Antimärchens, wie es von Georg Büchners Woyzeck seinen Ausgang nimmt. An solchen Stellen zeigt sich, dass die Dichtung B.s bei aller Konzentration auf die poet. Evokation der Natur auch über einen histor. Index verfügt. In Grundwasserstrom hat B. dieses Apriori ihres Schreibens in Anlehnung an das viel berufene Interdikt Adornos formuliert: »Es gibt noch Dichtung nach Auschwitz, aber der Resonanzraum ist ein grundlegend anderer. Kein Wort bedeutet dasselbe wie einst, und jeder Farbe ist ein fahles caput mortuum beigemischt.« Mit diesem venezianischen Rot ist für B. alles um Wahrheit ringende Schreiben seither imprägniert. Die Verschränkung von B.s Blick auf Natur u. Geschichte kommt in exemplarischer Weise in dem Gedicht Die Bäume der Dichter aus Langsamer Satz zum Ausdruck. »Freunde ohne Arg, / Begleiter, als kein andrer / mehr mitkam; sie fielen: / Rilkes Pappel, Hölderlins Eichen, / die Nussbäume Werthers, / Joseph Roths Weiden im Sumpf. // Die Rauchbäume Celans / kann man nicht fällen. / Länderweit blieben sie stehn. / In den Himmel sind sie gewachsen, / wachsen – / er sah sie, damit wir sie sehn.« Das Besondere an diesem Gedicht ist, dass es Bäume von prinzipiell unterschiedenem Status als Einheit auffasst. Es widmet den rein literar. Nussbäumen Werthers ebenso sein Andenken wie den wirkl. Dichterbäumen u. den Rauchbäu-

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men, von denen Celan schreibt u. die Metapher eines alle Vorstellung übersteigenden Verbrechens sind. In dieser wie selbstverständlich erfolgenden Zusammenstellung liegt aber das Wesentliche. Sie leistet die Verknüpfung von Baumfrevel u. Massenvernichtung aus der Überzeugung heraus, dass beide Ausbund desselben Ungeistes sind. Umgekehrt stehen für B. das Gespräch mit den Bäumen u. die soziale Sensibilität nicht in einem Verhältnis der Konkurrenz, sondern der gegenseitigen Bedingung. Erst die Suspendierung alles Subjekt-Objekt-Denkens kann zu einem Naturverhältnis führen, das die Voraussetzung für das Überleben der eigenen Gattung erfüllt. B.s Denken u. Dichten ist in diesem Sinne nicht ökologisch, sondern ontologisch u. naturphilosophisch fundiert. B.s Werk ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, darunter mit dem Droste-Preis der Stadt Meersburg (1958), dem Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis (1961), dem Ida-Dehmel-Literaturpreis (1971), dem Johann-Peter-Hebel-Preis (1978), dem Aargauer Literaturpreis (1980), dem Wolfgang-Amadeus-Mozart-Preis (1990), dem GottfriedKeller-Preis (1992), dem Joseph-BreitbachPreis (2002) u. dem Großen Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung (2005). Weitere Werke: Der dunkle Vogel. St. Gallen 1953 (L.). – Sterngefährten. St. Gallen 1955 (L.). – Geist der Fluren. St. Gallen 1958 (L.). – Die gerettete Erde. St. Gallen 1960 (L.). – Mit den Augen der Kore. St. Gallen 1962 (L.). – Die weichenden Ufer. Zürich/Stgt. 1967 (L.). – Moräne. Olten. Freib. i. Br. 1970 (R.). – Rufweite. Zürich/Mchn. 1975 (P.). – Das Licht im Kahlschlag. Zürich/Mchn. 1977 (L.). – Der Weg zu den Schafen. Zürich/Mchn. 1979 (R.). – Die Freiheit der Nacht. Zürich/Mchn. 1981 (L.). – Sternbild des Kindes. Zürich/Mchn. 1984 (L.). – Die Spiele der Erkenntnis. Zürich/Mchn. 1985 (R.). – Schweigeminute. Zürich/Mchn. 1988 (L.). – Ich suche den blauen Mohn. Basel 1989 (L.). – Die Zärtlichkeit der Schatten. Zürich 1991 (L.). – Das Schimmern der Flügel. Zürich 1994 (P.). – Stille fernster Rückruf. Zürich 1997 (L.). – Ortlose Nähe. Zürich 2005 (L.). – Die Vikarin. Zürich 2006 (P.). Literatur: Frieda Vogt-Baumann: Von der Landschaft zur Sprache. Die Lyrik v. E. B. Zürich 1977. – Rosemarie Zeller: E. B. In: Die dt. Lyrik seit 1945. Hg. Klaus Weissenberger. Düsseld. 1981, S. 141–152. – Jürgen Egyptien: Schweigesprache u.

Burkhard von Hohenfels Schneewehpoem. Zum lyr. Werk v. E. B. u. Sarah Kirsch. In: Dt. Lyrik nach 1945. Hg. Dieter Breuer. Ffm. 1988, S. 321–353. – Zygmunt Mielczarek: Sprache u. Natur in der Lyrik v. E. B. In: Germanist. Studien zur Sprache u. Lit. Hg. Norbert Honsza. Kattowitz 1990, S. 37–45. – J. Egyptien: Die Dichterin des tönenden Schweigens. In: NZZ, 7./ 8.12.1991. – Pirmin Meier: E. B. In: Grenzfall Lit. Hg. Joseph Bättig u. Stephan Leimgruber. Fribourg 1993, S. 327–342. – J. Egyptien: E. B. In: KLG. – Petra Ernst: E. B. In: LGL. – J. Egyptien: Schreiben auf der Schwelle zum Numinosen. Zum Spätwerk v. E. B. In: Castrum Peregrini 53 (2004), 263, S. 54–72. Jürgen Egyptien

Burkhard von Hohenfels. – Minnesänger aus der ersten (?) Hälfte des 13. Jh. Der Sänger führt seinen Namen nach der heute noch als Ruine erhaltenen Burg Hohenfels bei Sipplingen/Bodensee. Die Forschung ist bislang davon ausgegangen, dass es sich um den einzigen in der ersten Hälfte des 13. Jh. bezeugten Träger des Namens Burkhard in der Familie, dem zwischen 1212 u. 1242 häufig erwähnten Ministerialen Burkhard, handelt. Wachinger (2006, S. 685) hat jedoch darauf hingewiesen, dass es sich angesichts der in einem Lied bekundeten gelehrten Bildung (KLD, Lied XI, in der Zählung von Wachingers Auswahl Lied 5) auch um einen von 1263–1292 bekundeten »clericus« u. »scolasticus« Burkhard von Hohenfels handeln könnte. Die Große Heidelberger Liederhandschrift, die das einzige Überlieferungszeugnis von B.s Schaffen darstellt, enthält jedoch eine Miniatur, die den Sänger als weltl. Herrn in Gesellschaft einer höf. Dame abbildet. Entscheidet man sich also dafür, den älteren B. als unseren Sänger anzusehen, so lassen sich folgende Lebensdaten festmachen: Am 25.7.1216 ist er bei Friedrich II. in Ulm bezeugt, seit 1222 urkundet er wiederholt in der Umgebung König Heinrichs VII. Die letzte Erwähnung findet B. 1242 in einer Urkunde des Bischofs von Konstanz. Das Wappen in der Dichterminiatur der Großen Heidelberger Liederhandschrift stimmt im Wesentlichen mit dem der Hohenfelser am Bodensee überein. Die 18 von B. überlieferten Minnelieder (81 Strophen) sind drei- bzw. fünfstrophig u.

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weisen mit Ausnahme der Szenen- u. Gespielengesprächslieder Kanzonenform auf. B. bevorzugt alternierende Vierheber. In den Liedern VII u. XI setzt er Refrain ein, den er insbes. in VII zur inhaltl. Pointierung nutzt. Die Lieder markieren einen Wendepunkt in der hochhöf. Minnelyrik. Neben den erst seit Neidhart üblichen (u. damit diesen sehr früh rezipierenden) Liedtypen im »genre objectif« wie szenisches Tanzlied (I) u. Gespielengesprächslied (VII, XV) pflegt B. die Minnekanzone traditioneller Prägung, die er allerdings v. a. in der Metaphorik der Affektdarstellung um neuartige Züge erweitert. Ob B. allerdings als Erster systematisch den »geblümten Stil« verwendet, wie die ältere Forschung (z.B. Kuhn, VL) behauptet hat, ist mit guten Gründen bestritten worden (Hübner 2000, S. 301–310). Vieles war vorgeprägt, sodass B. an zahlreiche Vorbilder anknüpfen konnte. Gleichwohl findet er für die Darstellung der »minne« überraschende Vergleiche, Metaphern u. Allegorien. Bevorzugt benutzt er Bilder aus dem Bereich von Garten u. Wachstum (IV, V, VI, XIII, XIV, XV), von Vogelflug u. Beizjagd (III, VIII, X, XII, XIV, XVIII) u. auch des Tierreiches (v. a. in II, einem wahren Minne-Bestiarium). Grundthema der meisten Lieder ist der Lobpreis der Dame, insbes. das »lop mezzen« (IV), überhaupt die vergleichende Hervorhebung der Eigenschaften der Minnepartnerin (IV, VIII, X, XVII). Mit den Bildbereichen Jagd (Falkenbeiz: X, XII, XVIII; Jagd mit der Meute: IX), Belagerung (XVI), Belehnung (XVII) u. Gerichtsstreit (XVII) greift B. Themen auf, die sich noch in den späteren dt. Minneallegorien des 14. u. 15. Jh. großer Beliebtheit erfreuen werden. Es wäre falsch, in diesem Zusammenhang von Originalität zu sprechen, doch führt bei der Allgemeinheit von B.s Bildern auch eine Suche nach direkten Vorbildern oder Nachahmern nicht weiter. Die stilist. Ausprägung seiner Lieder kann noch am ehesten im Zusammenhang mit der Dichtung Wolframs von Eschenbach, Gottfrieds von Straßburg u. der Lyrik Konrads von Würzburg gesehen werden. Das prägnante Bild von der Ehe zwischen Luft u. Erde im Frühlingstanzlied XI findet sich bereits in der antiken Dichtung; die Vorstellung von der

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schwangeren Erde ist sowohl den Vaganten Modelle v. Männlichkeit in der Lit. des 13. Jh. Hg. Martin Baisch u. a. Gött. 2003, S. 77–100. als auch späteren Minnesängern bekannt. Claudia Händl / Jens Pfeiffer B. steht trotz der Kühnheit seiner Bildsprache inhaltlich wie formal in der Tradition des klass. hohen Minnesangs, dessen FormelBurmeister, Brigitte, auch: Franziska von u. Motivschatz er souverän beherrscht. AlSaalburg, Liv Morton, * 25.9.1940 Posen. lerdings fehlt seiner vom Grundton der – Freie Schriftstellerin, Verfasserin von Freude geprägten Minnelyrik die ethische Romanen u. Erzählungen, Übersetzerin. Komponente des hochhöf. Minnesangs weitgehend, während die artistische Seite stärker B. studierte 1960–1965 Romanistik in Leipin den Vordergrund tritt. Dies verbindet ihn zig u. promovierte 1973 mit einem Thema (die Korrektheit der Datierung vorausgesetzt) über die polit. Theorien der frz. Aufklärung. mit seinen Zeitgenossen Gottfried von Neifen Von 1967 bis 1982 war sie wiss. Mitarbeiterin u. Ulrich von Winterstetten. Die gemeinsame an der Akademie der Wissenschaften der Grundtendenz, die diese Dichter im Künst- DDR, zunächst mit Forschung zur frz. Auflerischen verbindet u. von den Zeitgenossen klärung, dann zur neueren frz. Literatur u. abhebt, ihr bewusst eingesetztes formales Literaturtheorie mit Schwerpunkt auf dem Können, ist evident. B. als der früheste u. Nouveau Roman. B. ist Mitgl. des P.E.N.vielleicht eigenwilligste Vertreter dieser Zentrum Deutschland, dort im Präsidium Gruppe leitet die Wende der hochhöf. Min- 1998–2000, engagiert im Writers-in-Prisonnelyrik zu ihrer späthöf. Ausprägung im 13. Committee. Seit 2001 ist sie Vorstandsmitgl. Jh. ein. des Deutschen Literaturfonds e.V. in DarmAusgaben: KLD, Bd. 1 (21978), S. 33–51. – stadt u. 2002–2007 Vorsitzende des TrägerBurghart Wachinger: Dt. Lyrik des späten MA. vereins des Literaturforums im Brecht-Haus Ffm. 2006, S. 96–113 (Texte u. Übers.en der Lieder in Berlin. 1994 erhielt sie im Rahmen des I, II, V, XI, XVI, XVIII), S. 685–693 (Komm.). Kranichsteiner Literaturpreises ein New Literatur: (in Auswahl): Max Sydow: B. v. H. u. York-Stipendium, 1995 wurde sie mit dem seine Lieder. Bln. 1901. – Hugo Kuhn: Minnesangs Kritikerpreis der dt. Vereinigung für Kritiker Wende. Tüb. 21967, S. 7–43 u. ö. – Helke Jaehrling: ausgezeichnet. B. lebt in Berlin. Die Gedichte B.s v. H. Diss. Hbg. 1970. – KLD, Bd. 2 Nach wiss. Publikationen zur frz. Literatur (21978). Besorgt v. Hugo Kuhn, S. 31–52. – H. veröffentlichte B. 1987 ihren ersten Roman Kuhn: B. v. H. In: VL (auch: Nachträge u. KorrekAnders oder vom Aufenthalt in der Fremde (Bln./ turen). – Thomas Cramer: Sô sint doch gedanke frî. Zur Lieddichtung B.s v. H. u. Gottfrieds v. Neifen. DDR. 1988 auch in Darmst.), der durch seine In: FS Peter Wapnewski. Mchn. 1983, S. 47–61. – (bes. im Rahmen der DDR-Literatur) ungeRosmarie T. Morewedge: From Game to Celebra- wöhnl. Struktur u. das Romankonzept, vom tion. In: From Symbol to Mimesis. Hg. Franz H. Nouveau Roman beeinflusst, auf ÜberraBäuml. Göpp. 1984, S. 208–230. – Dirk Joschko: schung u. lebhaftes Echo in Ost- u. WestDrei Lyriker an der Schwelle des SpätMA: B. v. H., deutschland stieß. David Anders, im Rahmen Gottfried v. Neifen, Ulrich v. Winterstetten. In: Dt. seiner Tätigkeit als Angestellter einer nicht Lit. des SpätMA. Greifsw. 1986, S. 104–122. – präzisierten Behörde aus der Provinz in die Claudia Händl: Rollen u. pragmat. Einbindung. Großstadt (Ostberlin) versetzt, die ihm als die Analysen zur Wandlung des Minnesangs nach »Fremde« begegnet, macht einen EntwickWalther v. der Vogelweide. Göpp. 1987, S. 228–257 u. ö. – Susanne Staar: B. v. H.: ›Ich will mîn ge- lungsprozess durch, der, in seinen Briefaufmüete erjetten‹. In: Gedichte u. Interpr.en. MA. zeichnungen »an die Lieben daheim« festgeHg. Helmut Tervooren. Stgt. 1993, S. 233–250. – halten, den Hauptstrang der Handlung des Gert Hübner: Lobblumen. Studien zur Genese u. ansonsten handlungsarmen Romans bildet. Funktion der ›Geblümten Rede‹. Tüb./Basel 2000, Anders – sein Name ist Metapher für seine bes. S. 301–310. – Marcus Stock: Männlichkeit in Entwicklung – ist eingebunden in ein nicht der Lyrik B.s v. H. In: Aventiuren des Geschlechts. näher bestimmtes System des Beobachtens (»mit dem Leben habe ich nur Blickkontakte«) u. Protokollierens. Er durchläuft in der

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Konfrontation mit zwei aus dem Rahmen der gewohnten Ordnung herausfallenden Personen, D. u. seiner Frau, eine Verwandlung, die auch ihn aus den geordneten, überlebten Bahnen in utop. Wirklichkeiten führt, die von Fantasie u. ungewohnter neuer Lebenssicht geprägt sind. Entscheidend ist aber auch, dass dieses »Anderssein« nicht nur auf Anders selbst u. seine Freunde zutrifft, sondern ebenso auf den Roman als solchen, denn die theoret. Diskussionen über die Ästhetik haben darin einen ebenso wichtigen Platz wie die Umsetzung des Andersseins in neue literar. Strukturen u. Ausdrucksformen. Während in Anders die realen polit. u. sozialen Zeitumstände nicht thematisiert werden u. nur den unausgesprochen gegenwärtigen u. teilweise auch persiflierten Hintergrund für die Romanhandlung bilden, stellt der Roman Unter dem Namen Norma (Stgt. 1994), der im Sommer 1992 spielt, ausdrücklich die gesellschaftl. Umbrüche der Wendezeit dar, sodass er auch als der bedeutendste Roman über die dt. Wende angesehen wurde. Marianne Arends, die Ich-Erzählerin, lebt in einem alten Mietshaus in Ostberlin im Bezirk Mitte u. beobachtet sehr bewusst die Veränderungen in ihrer Umgebung, spiegelt v. a. das Bewusstsein u. die ganz unterschiedl. Befindlichkeiten der von den Umwandlungen direkt Betroffenen im Mikrokosmos des Mietshauses. Die aktuellen Zustandsbeschreibungen werden immer wieder unterbrochen von Rückblenden in Erinnerungen, Träumen u. früheren Aufzeichnungen sowie durch die Gegenüberstellung mit den Ereignissen der Französischen Revolution, die der Ich-Erzählerin vertraut sind durch ihre Übersetzung einer Saint-Just-Biografie. Die konflikt- u. spannungsgeladenen Ereignisse der dt. Vereinigung finden für Marianne ihren Höhe- u. Wendepunkt, als sie ihren inzwischen in den Westen übergesiedelten u. dort integrierten Mann Johannes besucht u. dabei auf einer Party ein (erfundenes) Bekenntnis über ihre angebliche Vergangenheit als Stasi-IM (»Unter dem Namen Norma«) macht, durch das sie westl. Klischeevorstellungen über Ost-Vergangenheit zu bestätigen u. ad absurdum zu führen meint. Endgültige Trennung von ihrem Mann u. Entscheidung

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für definitive Rückkehr in die alte Heimat sind die Konsequenzen aus der verworrenen Situation. Ein versöhnliches Ende wird durch einen Freundschaftspakt mit der realen Norma herbeigeführt, sodass der Roman mit dem Wunsche enden kann, »anscheinend sei mir doch noch zu helfen«. Werke: Streit um den Nouveau Roman. Eine andere Lit. u. ihre Leser. Bln./DDR 1983. – Das Angebot. Kriminalr. (unter Pseud. Liv Morten). Bln. 1990. – Wir haben ein Berührungstabu. Zwei dt. Seelen – einander fremd geworden. Zus. mit Margarete Mitscherlich. Hbg. 1991. – Schriftsteller in gewendeten Verhältnissen. In: SuF 1994, H. 4, S. 648–654. – Herbstfeste. Stgt. 1995 (E.n). – Pollok u. die Attentäterin. Stgt. 1999 (R.). – Übersetzungen: Bernard Vinot: Saint-Just (unter Pseud. Franziska v. Saalburg). Stgt. 1989. – Pierre Bergounioux: Das rosa Haus. Bln. 1991 (R.). – Alain Corbin: Das Dorf der Kannibalen. Stgt. 1992. – Alain Nadaud: Der andere Tod. Stgt. 2000 (R.). – Ders.: Eisschmelze. Stgt. 2003 (R.). Literatur: Dieter Schlenstedt: B. B.: Anders oder Vom Aufenthalt in der Fremde. In: WB (1989), 4, S. 637–645. – Antonella Gargano: Ein visueller Flaneur: B. B.s ›Aufenthalt in der Fremde‹. In: Annali. Studi Tedeschi (1990), 3, S. 103–118. – James Henderson Reid: What is different and who is Anders? Some thoughts on B. B. and forty years of GDR Literature. In: London German Studies (1993), 5, S. 157–171. – Volker Wehdeking: Neue Freiheit, neue Risiken, neue Identitätssuche: Der späte literar. Durchbruch v. B. B. u. die Debüt-Romane v. Kerstin Jentzsch u. Kerstin Hensel. In: Ders.: Die dt. Einheit u. die Schriftsteller. Stgt. 1995, S. 76–89 (zu: ›Norma‹). – Christine Cosentino: Ostdt. Autoren Mitte der neunziger Jahre: Volker Braun, B. B. u. Reinhard Jirgl. In: GR (1996), 1, S. 177–194. – Steffen Richter: B. B. In: KLG. – Mirjam Gebauer: Vom ›Abenteuer des Berichtens‹ zum ›Bericht eines Abenteuers‹. Eine poetolog. ›Wende‹ im Schreiben v. B. B. In: WB (1998), 4, S. 538–553. – Holly Liu: B.B. In: The GQ 73 (2000), 3, S. 287–293. – Hannes Krauss (Hg.): Die Wiederentdeckung des Erzählens. Neue Beispiele der Wendelit. In: Lit. im Zeugenstand. FS Hubert Orlowski. Ffm./Bln./Bern 2002, S. 639–653. – Blé Richard Lourou: ›Erinnerung entsteht auf eine neue Weise‹. Wende u. Vereinigung in der dt. Romanlit. (Diss. Kiel 2002). Kiel 2003, S. 65–166. – Thomas Kraft: B. B. In: LGL. – Henk Harbers: Die leere Mitte. Identität, Offenheit u. selbstreflexives Er-

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313 zählen in B. B.s Roman ›Unter dem Namen Norma‹. In: WB (2004), 2, S. 227–241. Irmgard Ackermann

Burmeister, Joachim, * um 1564 Lüneburg, † 5.5.1629 Rostock. – Musiktheoretiker u. Komponist. B. stammte aus dem Haus eines Perlstickers, dessen fünf Söhne alle im Berufsfeld des Organisten, Kantors u. Pfarrers nachweisbar sind. B. besuchte das Lüneburger Johanneum u. studierte ab 1586 an der Universität Rostock. 1589 war er in Rostock ein halbes Jahr Kantor der Nikolaikirche, anschließend Cantor primarius an der Rats- u. Universitätskirche St. Marien. Nachdem er 1593 den Magistergrad erworben hatte, wurde er im Herbst desselben Jahres zum Praeceptor classicus der Rostocker Lateinschule ernannt. In seiner Lebensstellung als Lehrer der klass. Sprachen an dieser von humanistischem Geist erfüllten Schule veröffentlichte B. eine Reihe von Schriften über die Musik, die die traditionellen Zweige der Musica practica u. theoretica behandeln u. – alle lateinisch verfasst – einen betont wiss. Charakter haben. Für den Gesangsunterricht ist die Musicae practicae sive artis canendi ratio (Rostock 1601) bestimmt, die neben der musikal. Elementarlehre unter dem antiken Leitgedanken der moderatio auch Fragen der Chorleitung behandelt. Drei Traktate widmete B. der Kompositionslehre, für die im 16. Jh. der Name Musica poetica aufgekommen war. Das Hypomnematum musicae poeticae (Rostock 1599) u. die Musica autoschediastike (Rostock 1601) sind Vorstufen seines Hauptwerks, der Musica poetica (Rostock 1606). Orientiert an der Musik Orlando di Lassos u. am Wissenschaftsgeist des protestant. Humanismus, wurde B. zum Begründer der systemat. Lehre der musikalisch-rhetor. Figuren, indem er typisierte musikal. Bildungen mit Figurennamen aus der antiken Rhetorik bezeichnete u. von dieser Benennung her definierte. Seine »Analysis« von Lassos Motette In me transierunt signalisiert den Beginn musikanalytischer Methoden. Auch seine Lehre von der »Imitatio« (der kompositor. Nachahmung musterhafter Vorbilder) u. von den

»Genera Carminum« sind von der Rhetorik her konzipiert. Zur quadrivialen Musiktheorie trug er durch eine ausführliche kommentierte Edition der Musica theorica (Rostock 1609) des Flamen Heinrich Brucaeus (1593) bei, der diesen Text als Musica mathematica für seine Rostocker Mathematik-Vorlesungen geschrieben hatte. Als Komponist ist B. nur mit schlichten vierstimmigen Geistlichen Psalmen (2 Tle., Rostock 1601) hervorgetreten. Weiteres Werk: Der geoffenbarte Christus. Comoedia oder geistl. Reimen Gedicht [...]. Rostock 1605. Ausgaben: Musica poetica. Rostock 1606. Nachdr. mit einem Nachw. hg. v. Martin Ruhnke. Kassel/Basel 1955. – Musica poetica (Rostock 1606). Hg. u. mit einer Einf. v. Rainer Bayreuther. Laaber 2004. Übersetzungen: Musical poetics. Translation, with introduction and notes by Benito V. Rivera. New Haven u. a. 1993. – Musica poetica (Rostock 1606). Hg. Rainer Bayreuther 2004 (s. o.) (Übers. v. Philipp Kallenberger). Literatur: Heinz Brandes: Studien zur musikal. Figurenlehre. Bln. 1935. – Martin Ruhnke: J. B., ein Beitr. zur Musiklehre um 1600. Kassel/Basel 1955. – Hans-Heinrich Unger: J. B. In: NDB. – Klaus Wolfgang Niemöller: Die musikal. Rhetorik u. ihre Genese in Musik u. Musikanschauung der Renaissance. In: Renaissance-Rhetorik. Hg. Heinrich F. Plett. Bln. 1993, S. 285–315. – Werner Braun: Dt. Musiktheorie des 15. bis 17. Jh. Von Calvisius bis Mattheson. Darmst. 1994, passim. – B. McD. Wilson: ›Ut oratoria musica‹ in the writings of Renaissance music theorists. In: Festa musicologica. Essays in honor of George J. Buelow. Hg. Thomas J. Mathiesen. Stuyvesant/New York 1995, S. 341–368. – Hans Jürgen Daebeler in: Biogr. Lexikon für Mecklenburg. Bd. 1. Hg. Sabine Pettke. Rostock 1995, S. 45–47. – Siegfried Oechsle: Musica poetica u. Kontrapunkt. Zu den musiktheoret. Funktionen der Figurenlehre bei B. u. Bernhard. In: Schütz-Jb. 20 (1998), S. 7–25. – M. Ruhnke in: MGG 2. Aufl. Bd. 3, Sp. 1313–1316. – Benito V. Rivera u. M. Ruhnke in: The New Grove 2. Aufl. Bd. 4, S. 635–637. Hans Heinrich Eggebrecht † / Red.

Burren

Burren, Ernst, * 20.11.1944 Oberdorf/Kt. Solothurn. – Verfasser von Mundartgedichten u. -erzählungen.

314 Floränz. Mundarttexte. Bern u. a. 1994. – Dr guudig Ring. Gümligen 1997. Literatur: Roland Ris: Arrangement u. Rekonstruktion. Zum Werk des Mundartdichters E. B. 1976–87. In: Schweizer Monatsh.e (für Politik, Wirtschaft, Kultur) 67 (1987), S. 733–743.

B. lebt in Oberdorf u. arbeitet als Lehrer. Er verfasst Gedichte u. Erzählungen in Solothurner Mundart. 1981 erhielt er den Ersten Rudolf Käser / Red. Alemannischen Literaturpreis, 1984 den Kunstpreis des Kantons Solothurn, 1997 den Burte, Hermann, eigentl. H. Strübe, Preis der Schweizerischen Schillerstiftung für * 15.2.1879 Maulburg, † 21.3.1960 Maulsein Gesamtwerk sowie 2003 den Buchpreis burg; Grabstätte: ebd., Friedhof. – Verdes Kantons Bern. fasser von Blut-u.-Boden-Romanen, aleB. schaut den Menschen seiner Umgebung mannischer Heimatdichter. »aufs Maul«, ohne ihnen ins Wort zu fallen u. Der Sohn des Buchhalters u. Dialektdichters ohne ihnen nach dem Mund zu reden. In Friedrich Strübe lebte nach dem Besuch der seinen Gedichten verarbeitet er das WortmaOberrealschule in Freiburg i. Br., nach der terial zu Klangmustern u. pointierten HandKunstgewerbeschule u. der Akademie der lungssequenzen (derfür und derwider / um jede Bildenden Künste in Karlsruhe u. einige Jahre priis / s chürzere bei. Mundartgedichte. 1970–77. als Maler in Oxford, London u. Paris. Nach Sonderausg. Gümligen 1981. Bern 1991). Deutschland zurückgekehrt, etablierte er sich Erzählungen gestaltet er meist als assoziativ als Schriftsteller u. veröffentlichte von 1907 verzweigte innere Monologe von Frauen u. an eine Anzahl von Dramen, Gedichten u. Männern, die ihren alltägl. Nöten u. Ängsten Romanen. nachhängen, ihr »ganzes« Leben u. oft die Bekannt wurde B. durch Sonette im Stil »ganze« Welt, wie sie vom Fernsehen an sie Shakespeares (Patricia. Lpz. 1910), v. a. aber herangetragen wird, Revue passieren lassen. durch seinen völkisch-nationalist. HeimatroMundart ist hier alles andere als heimelige man Wiltfeber der ewige Deutsche. Die Geschichte Ursprünglichkeit. In den von Sprachlosigkeit eines Heimatsuchers (Lpz. 1912), der ein durchlöcherten, von Trivialität überwucher- Schlüsselwerk der Jugendbewegung war u. ten Sätzen macht B. das Unsagbare so genau zgl. wesentl. Elemente der nationalsozialist. hörbar, dass der Leser sich betroffen fühlt. Ideologie (Rassismus, Führermythos) vorNie gibt B. seine Personen der Lächerlichkeit wegnahm. Erfolg hatte B. auch mit dem preis, aber er hat auch dort noch genau hin- Preußendrama Katte (Lpz. 1914) u. mit seinen gehört, wo ihre seelische Verhärtung, die ih- Gedichten in alemann. Mundart (Madlee. Lpz. nen das Überleben ermöglicht, sich offenbart 1923. Unveränderte Neuaufl. Binzen 1993). u. wo ihr Hass auf alles Andersartige sich Dem nationalsozialist. Regime diente B. als unversehens ausspricht. Dr. Sammgascht willkommener geistiger Repräsentant. Er (Gümligen 1976) gibt auf diese beklemmende übernahm willig die Rolle eines PropaganWeise die Gesinnung eines latent faschist. dadichters u. wurde bald schon als »Seher des Kleinbürgers wieder, Begonie und Schtifmüet- Großdeutschen Reiches« gefeiert. In seinem terli (Gümligen 1980) ist dazu das weibl. völkischen Eifer beschränkte er sich nicht Pendant. Was die geistige Lage der schwei- darauf, Hitler als »heldenhaftes Ideal« zu eigenden Mehrheit in der Schweiz betrifft, so nem Mann von faustischem Format zu verist B. einer ihrer unbestechlichsten Ohren- klären. Er fand auch Worte zur Rechtfertizeugen. gung der Judenverfolgung: »Ungerecht bin Weitere Werke: Scho wider Sunndig / I Waud ich / einseitig denke ich / schaudernd erkenne go Fahne schwinge / Dr Zang im Pfirsich. Mund- ich / Leben ist Raub! / Mord hält am Leben! / artgesch.n (1974–79). Sonderausg. Gümligen 1981. Schaue Natur an / Fraß oder Fresser, / Volk Dr Zang im Pfirsich auf CD: Bern 2006. – Näs- mußt du sein!« chtwermi. Gümligen 1984 (E.). – Schneewauzer. Mundarterzählung. Gümligen 1990. – Dr. Löi vo

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Nach dem Krieg wurde B. unter völliger Ausblendung seines nationalsozialist. Engagements v. a. in seiner süddt. Heimat als Schöpfer alemannischer Mundartdichtung geschätzt. Er erhielt viele Auszeichnungen: u. a. den Kleist-Preis 1912, die Goethe-Medaille 1939 u. die Jean-Paul-Medaille 1957. Weitere Werke: Drei Einakter. Lpz. 1907 (D.). – Die Flügelspielerin. Lpz. 1913 (L.). – Simson. Lpz. 1917 (D.). – Ursula. Lpz. 1930 (L.). – Krist vor Gericht. Lpz. 1930 (D.). – Prometheus. Lpz. 1932. (D.). – Sieben Reden. Straßb. 1943 (Ess.). – H. B. gegen John Masefield (Dt. Antwort auf engl. Verse). Freib. i. Br. 1944 (L.). – Das Heil im Geiste. Offenburg 1953 (L.). – Psalter um Krist. Lahr/Schwarzwald 1953. Erw. Neuaufl. Weil/Rhein 1986 (L.). – Stirn unter Sternen. Offenburg 1957 (L.). Literatur: Franz Burda (Hg.): H. B. 80 Jahre. Offenburg 1959. – Günter Hartung: Dt.-völk. Religiosität in der Belletristik vor dem Ersten Weltkrieg. In: Ders: Deutschfaschist. Lit. u. Ästhetik. Lpz. 2001, S. 43–59. – Chris Walton: ›Von Blut rein und gut‹: H. B. u. ›Das Schloß Dürande‹. In: Ders: Othmar Schoek u. seine Zeitgenossen. Winterthur 2002, S. 135–161 Peter König / Red.

Busant ! Bussard Busch, (Heinrich Christian) Wilhelm, * 15.4.1832 Wiedensahl bei Hannover, † 9.1.1908 Mechtshausen bei Seesen; Grabstätte: ebd., Dorffriedhof. – Zeichner, Maler u. Dichter. Für den ältesten Sohn – von sieben Kindern – eines Krämers wurde es 1841 zu Hause zu eng, er kam zur Erziehung zum Bruder der Mutter, dem Dorfpastor u. Bienenzüchter Georg Kleine, nach Ebergötzen bei Göttingen (seit 1846 Lüthorst). Dem Wunsch des Vaters folgend, immatrikulierte sich B. 1847 an der Polytechnischen Hochschule Hannover (Maschinenbau), verließ sie aber 1851 u. ging nach Düsseldorf zur Kunstakademie, 1852 zur weiteren Ausbildung nach Antwerpen an die Königliche Akademie der Schönen Künste. Die Begegnung mit den niederländ. Malern des 17. Jh. geriet zum Schlüsselerlebnis: Sie wurden zu seinen unerreichbaren Vorbildern. Ende 1853 erkrankte er schwer an Typhus u. kehrte heim. Dort begann er Märchen, Sagen, Volkslieder u. Sprüche zu sam-

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meln, die aber erst 1910 nach seinem Tod als Ut ôler Welt (Mchn.) erschienen. 1854 ging B. nach München u. wurde in die techn. Malklasse der Königlichen Akademie der Künste aufgenommen, war aber von der Historienmalerei enttäuscht. Trotzdem malte u. zeichnete er – neben seinen Bildergeschichten – überwiegend abseits der Öffentlichkeit bis ungefähr 1895. Heute gilt er mit seinen fast 1000 erhaltenen, meist kleinformatigen Ölgemälden als eigenständiger Vorläufer der Moderne. Er blieb bis 1868 mit großen Unterbrechungen in München. 1869 verlegte er seinen Wohnsitz nach Frankfurt/M.; hier entwickelte sich eine mehr als mäzenat. Freundschaft mit der Bankiersgattin Johanna Keßler. Die Gründe für die plötzl. Auflösung seines Frankfurter Haushalts u. den Rückzug nach Wiedensahl, zunächst ins Elternhaus, dann ins Pfarrhaus zu seinem Schwager, Pastor Hermann Nöldeke, sind nicht genau erkennbar. Seit 1879 lebte er mit seiner Schwester Fanny im Pfarrwitwenhaus. Reisen führten ihn u. a. auch nach Belgien, Holland, Florenz u. Rom. Die Brieffreundschaft mit der holländ. Schriftstellerin Maria Andersen zerbrach nach der persönl. Begegnung der beiden, doch gehören B.s Briefe an sie mit ihrer Diskussion von u. a. Schopenhauer’schen Gedanken zu seinen wichtigsten. In der Künstlergesellschaft »Allotria« bildete sich seit 1876 eine enge Freundschaft mit den Malern Franz von Lenbach u. Friedrich von Kaulbach, dem Bildhauer Lorenz Gedon, dem Schriftsteller Paul Lindau u. dem Wagnerdirigenten Hermann Levi. B. richtete sich sogar 1877 ein eigenes Atelier in München ein, reiste aber nach einem Eklat im Frühjahr 1880 nie wieder dorthin. 1898 übersiedelte er mit seiner Schwester ins Pfarrhaus seines Neffen Otto Nöldeke nach Mechtshausen. B.s Weg zur Bildergeschichte ist nicht denkbar ohne sein Scheitern als Maler. In München begann 1858 die »Karriere« dieser künstler. Doppelbegabung: Für den Künstlerverein »Jung-München« zeichnete er Karikaturen, der Verleger u. Holzschneider Kaspar Braun entdeckte ihn dort 1858 für die humorist. Zeitschrift »Fliegende Blätter«. 1859 erschienen dort u. in den »Münchner Bilderbogen« – ebenfalls bei Braun – seine

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ersten illustrierten Witze, Karikaturen, Moritaten-Parodien u. Bildergeschichten (bis 1871). Obwohl er bei diesen an Vorbilder wie die populären Bilderbogen u. die Moritatentradition anknüpfen konnte u. oft das Muster der – meist parodierten – Beispielgeschichte durchschimmert, entwickelte er einen eigenen Stil der Bildergeschichte, der die Tradition des kom. Epos aufnahm u. die Gattung des Comicstrips direkt beeinflussen sollte. Mit Max und Moritz (Mchn. 1865) kündigt sich die Zeit der großen Bildergeschichten (1868–1884) an. Hier präludiert B. sein zentrales Thema, die Unterdrückung u. Vernichtung »natürlicher« Bosheit (dahinter verbirgt sich die säkularisierte Auffassung der protestant. Erbsündelehre), die er bes. bei Kindern, Bauern u. Tieren sieht, im Namen von Vernunft u. gesellschaftl. Nützlichkeit. In Die Fromme Helene (Heidelb. 1872) demonstriert er erstmals, fast gleichzeitig mit der Bearbeitung u. Illustrierung von Karl Arnold Kortums kom. Epos Jobsiade (Bilder zur Jobsiade. Heidelb. 1872), an einem ganzen Lebenslauf die Konstanz des »bösen« Charakters in Form eines satir. Sittenbilds des heuchlerischen Bürgertums der Gründerzeit. Zus. mit Werken wie der Satire gegen kath. Heiligenverehrung Der heilige Antonius von Padua (Lahr 1870) u. der den dt. Michel verklärenden polit. Satire Pater Filucius (Heidelb. 1872) begründeten sie B.s Ruhm im neuen, preußisch geführten Deutschland während des Kulturkampfs. Doch soll im Bürger u. Bauern seiner Zeit der Mensch schlechthin getroffen werden; die vielen Lebensläufe in absteigender Linie zeigen B.s generelle Skepsis: Das leere Leben Tobias Knopps (Die Abenteuer eines Junggesellen. Herr und Frau Knopp. Julchen. Heidelb. 1875–77) hat seinen Zweck erfüllt, sobald die Tocher unter der Haube ist, Balduin Bählamm, der verhinderte Dichter (Mchn. 1883), geht wie ehedem in sein Büro, u. aus dem hoffnungsvollen Kunststudenten (Maler Klecksel. Mchn. 1884) wird der biedere Schimmelwirt. B.s Bildergeschichten gehören nur z.T. zur Literaturgeschichte; doch geht die Wirkung gerade von dem meist kom. Kontrast zwischen Text u. Zeichnung aus, wobei die oft virtuos bewegten Bilder meist den konkreten

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anschaul. Fall, die pointiert witzigen Verse die kühle Abstraktion liefern. Auch B.s Lyrik (Kritik des Herzens. Heidelb. 1874. Zu guter Letzt. Mchn. 1904. Schein und Sein. Mchn. 1909), durchaus von Heine u. dessen alltagssprachl. Pointen nicht unbeeinflusst, zeigt sprachl. Virtuosität. Die Jahre nach den Bildergeschichten (1886–1895) bringen autobiografische u. die weniger bekannte poet. Prosa: Die drei Fassungen seiner extrem kurzen Selbstbiografie (Was mich betrifft. In: »Frankfurter Zeitung«, 10.10. u. 2.12.1886. Von mir über mich. In: Die fromme Helene. Jubiläumsausg. Mchn. 1893. Überarb. in: Pater Filucius. 36.-39. Tsd. Mchn. 1894) bringen mehr Bilder zu seinem Leben, als dass sie Aufschluss über Geschehenes gäben. Eduards Traum (Mchn. 1891), eine bittere Satire auf alle Sinngebungsmöglichkeiten, u. Der Schmetterling (Mchn. 1895), eine symbolische u. allegor. märchenhafte Erzählung, Gleichnis für die grundsätzl. Unmöglichkeit eines sinnvollen Lebens, Ausdruck eines nicht nur durch Nietzsche geförderten Zeitgefühls am Ende des Jahrhunderts u. persönl. Erfahrungen B.s, sind eine Art Fazit seines Werks. Oft drast. Mittel der Darstellung, v. a. in den Bildergeschichten, sind B.s viel diskutierte »komische Grausamkeiten«; seine mitleidlose Welt ist ein Grenzfall der Komik, die allerdings wohl keinem latenten Sadismus entspringt, sondern die menschl. Bosheit entlarvt. Doch befreit die Komik auch vom Verlachten, u. die zeichnerische Virtuosität verhüllt mit den oft liebevollen Genre- u. Detailstudien die pessimist. Grundtendenz. So konnte B. als heiterer Haushumorist der Deutschen rezipiert werden, mit deren Mehrheit er die Bismarckverehrung u. den polit. Konservatismus teilte, nicht aber den Antisemitismus – hier hat die Ironie B.s zu Missdeutungen geführt; auch die krit. Teile seines Werks wurden verharmlost: Opfer ihrer beispiellosen Popularität u. der Tendenz, kom. Literatur nicht so ernst zu nehmen, wie sie es verdient. Dabei sieht Gottfried Willems in B. zu Recht einen Mitbegründer der ästhet. Moderne. 1930 wurde die Wilhelm-Busch-Gesellschaft gegründet, 1937 das Wilhelm-BuschMuseum (heute: Wilhelm-Busch-Museum,

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Deutsches Museum für Karikatur und kritische Grafik), beide mit Sitz in Hannover. Weitere Werke: Einzeltitel. Erstausgaben: Bilderpossen. Dresden 1864. – Schnurrdiburr oder Die Bienen. Mchn. 1869 (Bildergesch.n). – Die Haarbeutel. Heidelb. 1878 (Gedichte u. Bildergesch.n). – Fips der Affe. Mchn. 1879 (Bildergesch.n). – Hernach. Mchn. 1908 (Zeichnungen u. Verse). Ausgaben: Gesamtausgaben: Sämtl. Werke. Hg. Otto Nöldeke. 8 Bde., Mchn. 1943. – Hist.-krit. Gesamtausg. Hg. Friedrich Bohne. 4 Bde., Hbg. u. a. 1959. – Sämtl. Werke. Hg. Rolf Hochhuth. 2 Bde., Gütersloh 1959. – Ges. Werke. Bln. 2002 (Digitale Bibliothek 74. 1 CD-ROM). – Briefe: Sämtl. Briefe. Hg. Friedrich Bohne. 2 Bde., Hann. 1968/ 69. – Bildergeschichten: Die Bildergesch.n. Hist.-krit. Gesamtausg. in 3 Bdn. Bearb. v. Hans Ries unter Mitarb. v. Ingrid Haberland. Bd. 1: Frühwerk. Bd. 2: Reifezeit. Bd. 3: Spätwerk. Hann. 2002. – B. als Maler u. Zeichner: Hans Georg Gmelin: W. B. als Maler. Mit einem vollst. Werkverz. Bln. 1981. Literatur: Bibliografien: Albert Vanselow: Die Erstdr.e u. Erstausg.n der Werke v. W. B. Lpz. 1913. – Krit. Auswahlbibliogr. in: Pape 1977 (s. u.). – Mitt.en der W. B. Gesellsch. 1932 ff. (seit 1949: Jb. Seit 1998: Satire. Mitt.en der W.-B.-Gesellsch.) (laufende, aber unvollst. Hinweise auf Lit.). – Weitere Titel: Adolf Hermann u. Otto Nöldeke: W. B. Mchn. 1909. – Otto Felix Volkmann: W. B. der Poet. Lpz. 1910. – Hanns Cremer: Die Bildergesch.n W. B.s. Düsseld. 1937. – Fritz Novotny: W. B. als Zeichner u. Maler. Wien 1949. – Friedrich Bohne: W. B. Zürich 1958. – Josef Ehrlich: W. B., der Pessimist. Sein Verhältnis zu Schopenhauer. Bern/Mchn. 1962. – Joseph Kraus: W. B. Reinb. 1970. – Peter Bonati: Die Darstellung des Bösen im Werk W. B.s. Bern 1973. – Walter Pape: W. B. Stgt. 1977. – Gert Ueding: W. B. Ffm. 1977. – Dieter Lotze: W. B. Boston 1979. – W. Pape: Der mißverstandene Satiriker. In: Ders.: Das literar. Kinderbuch. Bln./New York 1981, S. 303–368. – W. B. 1832–1908. Ausstellungskat. 3 Bde., Bln. 1982. – Ulrich Mihr: W. B.: der Protestant der trotzdem lacht. Tüb. 1983. – Michael Vogt (Hg.): Die boshafte Heiterkeit des W. B. Bielef. 1988. – Michael H. Schwibbe: Das Bild der Frau bei W. B. Ein inhaltsanalyt. Vergleich zu Bilderromanen, Schwänken, Märchen u. Sagen. Gött. 1988. – Eberhard Rohse: Hominisation als Humanisation? Die Figur des Affen als anthropolog. Herausforderung in Werken der Lit. seit Darwin [...]. In: Vorträge zum Thema Mensch u. Tier. Bd. 6, Hann. 1989, S. 22–56. – Michael Hetzner: Gestörtes Glück im Innenraum. Über Ehe u. Familie bei W. B. Bielef. 1991. – Gustav Sichelschmidt: W. B. Der Humorist der entzau-

Buschan berten Welt. Eine Biogr. Düsseld. 1992. – Karsten Imm: Absurd u. Grotesk. Zum Erzählwerk v. W. B. u. Kurt Schwitters. Bielef. 1994. – Goedeke Forts. – Gottfried Willems: Abschied vom Wahren – Schönen – Guten. W. B. u. die Anfänge der ästhet. Moderne. Heidelb. 1998. – Frank Pietzcker: Symbol u. Wirklichkeit im Werk W. B.s. Die versteckten Aussagen seiner Bildergesch.n. Ffm. 2002. – Astrid Lange-Kirchheim: Zur Präsenz v. W. B.s Bildergesch.n in Franz Kafkas Texten. In: Textverkehr. Kafka u. die Tradition. Hg. Claudia Liebrand u. Franziska Schößler. Würzb. 2004, S. 161–204. – Michaela Diers: W. B. Leben u. Werk. Mchn. 2007. Walter Pape

Buschan, Georg Hermann Theodor, * 14.4.1863 Frankfurt/O., † 6.11.1942 Stettin. – Anthropologe, Mediziner u. Schriftsteller. Die Tätigkeit als Marinearzt (1887–1892) u. seine Reisen (Kamerun 1914, Ostasien 1925/ 26) lenkten B.s Interesse auf Kultur u. Lebensweise der sog. Naturvölker. Er veröffentlichte eine Vielzahl medizinischer u. kulturhistor. Aufsätze u. war Herausgeber u. Mitherausgeber zahlreicher wiss. Zeitschriften, u. a. des »Zentralblattes für Anthropologie« (1896–1913) u. des »Ethnologischen Anzeigers« (seit 1926). Großer Erfolg war seinen populären, in mehreren Auflagen erschienenen Abhandlungen beschieden, in denen er es sich zur Aufgabe gemacht hatte, das Verständnis für außereurop. Kulturen zu fördern. Dieses Anliegen wird auch deutlich an den Werken Illustrierte Völkerkunde (Stgt. 1909. 2. u. 3. Aufl.: 3 Bde., Stgt. 1922–26) u. Die Sitten der Völker (3 Bde., Stgt. 1914–20), die er zus. mit führenden Fachwissenschaftlern erarbeitete; ergänzend erschien als vierter Band Das Leben des deutschen Volkes (Stgt. 1922). B.s feuilletonistisch gehaltene Darstellungen waren moralisch wertend u. geprägt von einer äußerst konservativen polit. Haltung. Dass er dennoch, im Gegensatz zu vielen Autoren seiner Zeit, nationalsozialistischem Gedankengut nicht anhing, beweist u. a. sein Werk Altgermanische Überlieferungen (Mchn. 1936). Weitere Werke: Menschenkunde. Stgt. 1909. – Die Bulgaren. Stgt. 1917. – Im Anfang war das Weib. 3 Bde., Dresden 1927. – Kulturgesch. Japans.

Busche Lpz. 1938. – Über Medizinzauber u. Heilkunst im Leben der Völker. Bln. 1941. Literatur: Alma Kreuter: Deutschsprachige Neurologen u. Psychiater. Ein biogr.-bibliogr. Lexikon v. den Vorläufern bis zur Mitte des 20. Jh. Mchn. 1996. Wolfgang Stein / Red.

Busche, Hermann von dem, auch: Hermannus Buschius (meist mit dem Beinamen: Pasiphilus), * um 1468 Sassenberg bei Warendorf/Westfalen, † April 1534 Dülmen/Westfalen. – Humanistischer Lyriker u. akademischer Lehrer. Der nachgeborene Sohn eines schaumburgischen Adelsgeschlechts kam schon während seiner Schulzeit mit führenden Vertretern des frühen Humanismus in Berührung: mit Rudolf von Langen in Münster, mit Alexander Hegius in Deventer u. mit Rudolf Agricola, dem B. nach Heidelberg folgte (1484/85). Die anschließende Bildungsreise nach Italien – das zentrale Ereignis in B.s Werdegang – führte ihn in den Kreis der röm. Akademie (Umgang mit Pomponius Laetus) u. nach Bologna (Kontakte mit Beroaldus d.Ä.). Nach kurzem Aufenthalt am Hof des Bischofs von Münster entschloss sich B. zum Studium der Jurisprudenz u. ließ sich in Köln einschreiben (1495–1500). In Vorlesungen über Poetik widmete sich B. hier wie in der Folgezeit der Vermittlung der wiederentdeckten antiken Literatur. B.s in den Augen der Zeitgenossen wenig konformer Lebensstil, auch die mangelnde Verankerung der humanist. Fächer im gelehrten Bildungssystem trugen dazu bei, dass B. von nun an ein unruhiges Wanderleben führte. Stationen waren u. a. die Universitäten Rostock, Greifswald u. Leipzig (Vorlesungen über Cicero, Vergil, Ovid u. Juvenal). Mehrfach verwickelte sich der Außenseiter in persönl. Fehden, die er ähnlich wie Ulrich von Hutten literarisch verarbeitete (gegen den Rostocker Rektor Tilman Heuerling die Epigrammsammlung Oestrum, d.h. »Roßbremse«. Lpz. 1506). Bei der Neueröffnung der Wittenberger Universität hielt B. die Festrede (1502) u. wurde im folgenden Jahr Professor für Poetik u. Eloquenz in Leipzig, wo er sich auch zum »Baccalaureus legum« promovieren ließ.

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Nach neuen Konflikten kehrte er jedoch 1507 nach Köln zurück, wo er in dem Patrizier Hermann von Neuenahr einen bildungsbegeisterten Förderer fand. Die Stadt feierte er in einem ehrgeizigen, zum musikal. Vortrag gedachten Preisgedicht (Flora [...] urbis Coloniae laus. Köln 1508. 1550. Abdr. in: Humanismus und Renaissance in den deutschen Städten und an den Universitäten. Hg. Hans Rupprich. Lpz. 1935. Neudr. Darmst. 1964, S. 140–149. Vgl. Stohlmann 1980). Nach kurzem Schwanken nahm B. Partei gegen die aus humanist. Sicht bildungsfeindl. Dominikaner u. stellte sich im Streit zwischen Pfefferkorn u. Reuchlin auf die Seite des schwäb. Humanisten. Zum literar. Großangriff auf die Ordensscholastik u. den kulturellen Monopolanspruch der Kirche, d.h. zu den von Ulrich von Hutten u. Crotus Rubeanus mitverfassten Dunkelmännerbriefen (Epistolae Obscurorum Virorum. 1515–17) lieferte B. wichtige Informationen. Einige dieser satir. Briefe werden ihm wohl mit Recht zugeschrieben. Das eigene Bildungsprogramm trug B. alsbald in einem ausgreifenden protreptischen Traktat vor, der den aktuellen Leitbegriff der humanist. Bewegung zu bestimmen suchte (Vallum Humanitatis. Köln 1518. Hg. Jacob Burckhard. Ffm. 1719). Verarbeitet werden hier ital. Vorbilder, doch hält sich B. noch an die scholast. Quaestionenform. Er polemisiert gegen veraltete Lehrpraktiken (spätmittelalterl. Grammatik) u. verteidigt in Anlehnung v. a. an Äußerungen der Kirchenväter (u. a. Ambrosius) die Beschäftigung mit paganer Literatur, Poetik u. Rhetorik; den Sinn für die ästhet. Dimension von Sprache verankert er im Rahmen eines christl. Erziehungssystems. Für den Anhänger Reuchlins u. Verehrer des Erasmus wurde die Stellung in Köln unhaltbar. Über Emmerich wich B. nach Wesel aus (Schulleiter 1516/17). In den kommenden reformator. Kämpfen stand er auf der Seite Luthers. Einem Ruf an die Universität Heidelberg (1523) folgte eine Professur in Marburg (1527). Bei einem Glaubensgespräch in Münster (1533, kurz vor den Täuferunruhen) vertrat B. die Sache der Lutheraner. Neben zerstreut publizierten Gedichten umfasst sein vielgestaltiges Werk v. a. Schriften aus

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dem engeren Zusammenhang des akadem. Unterrichts (Textausgaben, Erläuterungen, Kommentare). Weitere Werke: Epigrammaton. Köln 1498. – Lipsica. Lpz. 1504, 1521. – Prelectio in Ethicam Aristotelis. Köln 1512/13. – Sermo Coloniae [...] ad Clerum dictus. Köln 1513. – In [...] Ioannis Murmellii [...] obitum [...] Epicedion. Köln 1517. – Decimationum Plautinarum [...] opus. Köln 1518 u. ö. – De singulari auctoritate Veteris et Novi Testamenti. Marburg 1529. – Herausgeber: Silius Italicus. Lpz. 1504 u. ö. – Spicilegium XXXV. illustrium philosophorum auctoritates [...] continens. Deventer 1505. Magdeb. 1507. – A. Persii [...] Satyrae (nach einer Vorlage des Murmellius). Köln 1522. Ausgaben: Textausw. in: CAMENA. Literatur: Ludwig Geiger: H. v. dem Busch. In: ADB. – Hermann Hammelmann: Vita Hermanni Buschii (1584). In: Ders.: Geschichtl. Werke. Hg. Heinrich Detmer u. Karl Hosius. Bd. 1, H. 2, Münster 1905, S. 35–107. – Hermann Joseph Liessem: H. v. B. Sein Leben u. seine Schr.en. Programm Köln 1884–1908. Neudr. Nieuwkoop 1965 (mit Bibliogr.). – Aloys Börner (Hg.): Epistolae Obscurorum Virorum. Bd. 1, Heidelb. 1924, S. 52–57, 93–100 (Einl.). – Ellinger 1, S. 419–427. – Aloys Bömer: B. In: Westfäl. Lebensbilder. Bd. 1, Münster 1930, S. 50–56. – Winfried Trusen: H. v. dem Busch. In: NDB. – Jürgen Stohlmann: Zum Lobe Kölns. Die Stadtansicht v. 1531 u. die ›Flora‹ des H. v. B. In: Jb. des Köln. Geschichtsvereins 51 (1980), S. 1–56. – Wilhelm Kühlmann: H. Buschius. In: VL Dt. Hum. – Jaumann Hdb. – Flood, Poets Laureate, Bd. 1, S. 267–272. Wilhelm Kühlmann

Buselmeier, Michael, * 25.10.1938 Berlin. – Lyriker, Essayist u. Erzähler. B. wuchs in Heidelberg auf u. studierte dort nach einer Ausbildung als Schauspieler Germanistik u. Kunstgeschichte. Nach dem Examen 1967 arbeitete er vorübergehend als Regieassistent in Wiesbaden u. veröffentlichte nach dem Aufbruch der Studentenbewegung als Mitbegründer des »Arbeitskreises Kulturrevolution« seine ersten medien- u. literaturkrit. Essays. In mehreren autobiogr. Essays u. im Roman Der Untergang von Heidelberg (Ffm. 1981) beschreibt B. seinen für viele seiner Zeitgenossen exemplarischen Lebensweg: von der kulturrevolutionären Negation jeglicher Kunst zur demonstrativen Rehabilitierung

Buselmeier

der Literatur als eines Mediums der Utopie. Die in den Bänden Nichts soll sich ändern (Heidelb. 1978) u. Die Rückkehr der Schwäne (Heidelb. 1980) gesammelten Gedichte bevorzugen die assoziative Reihung sinnl. Wahrnehmungen, polit. Reflexionen, privater Erinnerungen u. Traumbilder. Auch im Roman Der Untergang von Heidelberg wählte B. eine offene, frei assoziative Form, in der »Wahrnehmungen, Erinnerungen und Reflexionen durcheinanderfallen«: Der Ich-Erzähler bewegt sich an einem heißen Sommertag des Jahres 1978 mit dem Fahrrad u. zu Fuß durch seine Heimatstadt u. registriert dort die fortschreitende Zerstörung historisch gewachsener Lebensräume, immer wieder unterbrochen von Reflexionen auf das Scheitern der Studentenrevolte. Die innige romant. Verbindung von Gehen u. Wahrnehmen durchzieht das ganze Werk B.s: Stets agiert ein alle Kollektive verachtender Einzelgänger, der sich vom Getriebe der Welt ausgeschlossen fühlt auf Lebenszeit. Als Vorbildfigur wird zunehmend die konservative Natur-Utopie Adalbert Stifters beschworen, v. a. im »Heimatroman« Schoppe (Heidelb. 1989). Ein einsamer Wanderer zieht hier traumverloren durch das Haardtgebirge im dt. Südwesten, er geht auf dem »leuchtenden Pfad« der Kindheit, er verirrt sich im Wald, wo er die wispernden Stimmen der Toten hört u. den »Ausgestoßenen dieser Welt« begegnet. Fern aller Neigungen, sich mit dem politisch motivierten Alltagsgedicht direkt ins Handgemenge zu stürzen, besinnt sich B. nun der ästhet. Widerstandsversuche tragisch gescheiterter Unglücksgestalten aus der Literaturgeschichte. Todesmotive rücken ins Zentrum der Gedichte. Der Gedichtband Lichtaxt (Heidelb. 2006) besichtigt die Trümmerlandschaften der Nachkriegszeit u. darin die »Kriegsgrube«, in der die Bestialitäten der Spezies Mensch sichtbar werden: Schädelknochen gefolterter Kriegsgefangener, rostige Waffen im Feuerlöschteich. Weitere Werke: Das glückl. Bewußtsein. Anleitungen zur materialist. Medienkritik. Darmst. 1974. – Radfahrt gegen Ende des Winters. Ffm. 1982 (L.). – Monologe über das Glück. Essen 1984 (P.). – Auf auf, Lenau! Essen 1986 (L.). – Literar. Führungen durch Heidelberg. Heidelb. 1991 u. ö. –

Bussard

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Erdunter. Heidelb. 1992 (L.). – Spruchkammer. Heidelb. 1994. (E.). – Ich rühm dich Heidelberg. Poem. Heidelb. 1996. – Ode an die Sportler. Heidelb. 1998. (L.). – Die Hunde v. Plovdiv. Heidelb. 1999 (P.). – Erlebte Gesch. erzählt. Gespräche 1994–97 u. 1998–2003. Heidelb. 2000 u. 2003. – Amsterdam. Leidseplein. Heidelb. 2003 (R.). – Herausgeber: Heidelberger Reportagen (zus. mit Emmanuel Bohn). Heidelb. 1984. – HeidelbergLesebuch. Stadtbilder v. 1800 bis heute. Ffm. 1986. – Der Knabe singts im Wunderhorn. Romantik heute. Heidelb. 2006. Literatur: Wilhelm Heinrich Pott: M. B. In: KLG. – Thomas Kraft: M. B. In: LGL. Michael Braun

Bussard, Busant, Anfang 14. Jh. – Märe mit Handlungszügen eines höfischen Romans. Der Verfasser des B. ist nicht bekannt. Das wohl im Elsass entstandene Märe (1074 Verse) handelt von der heiml. Liebe zwischen einem jungen engl. Prinzen, der in Paris gelehrt erzogen wird, u. einer frz. Prinzessin. Am Tag, an dem das Mädchen mit dem König von Marokko verheiratet werden soll, erscheint der Prinz, als Spielmann verkleidet, zum Fest u. entführt seine Geliebte. Bei einer Rast in einer paradiesischen Waldlichtung schläft sie in seinem Schoß ein. Als er ihr zwei Ringe von der Hand zieht, um sie zu betrachten, stürzt ein Bussard (mhd. »bûsant«) vom Himmel herab u. raubt den einen. Der Prinz verfolgt das Tier erfolglos u. wird wahnsinnig. Das Mädchen findet aufgrund seiner höf. Fertigkeiten Zuflucht bei einem Müller u. später bei einem Herzogspaar. Die Jäger des Herzogs entdecken im Wald einen verwilderten Wahnsinnigen, der, vor den Frauen verborgen, gesund gepflegt wird. Auf einer höf. Jagd hetzt er den Falken des Herzogs auf einen Bussard, beißt dem toten Vogel den Kopf ab u. zerstückelt ihn. Doch der vermeintl. Rückfall erweist sich lediglich als gleichsam rituelle Austreibung des Wahnsinns, denn augenblicklich zeigt der Prinz als formvollendeter Jäger, dass er seine Selbstkontrolle wiedererlangt hat. Am Hof erzählt er seine Geschichte u. wird daran von seiner Geliebten erkannt; der Herzog erweist sich als Onkel

des Helden. Er schickt nach den Eltern der Liebenden u. arrangiert die glückl. Hochzeit. Das zentrale Motiv (ein Raubvogel stiehlt einem Liebespaar einen wertvollen Gegenstand, der zgl. als dinglicher Stellvertreter der Frau verstanden werden kann) ist im Spätmittelalter weit verbreitet (Jehan Renart: L’escoufle, Anfang 13. Jh. Die gute Frau, Mitte 13. Jh. Die schöne Magelone, frz. Mitte 15. Jh., dt. v. Veit Warbeck, 1527. Vgl. auch die Geschichte des Prinzen Kamr essaman mit Bedur aus Tausendundeine Nacht). Der B. teilt mit vielen spätmittelalterl. Liebes- u. Abenteuerromanen des 13. u. 14. Jh. das Thema der Kinderminne, die zunächst mit den gesellschaftl. Instanzen kollidiert, letztlich aber doch – nach langer Trennung des Paars – mit ihnen versöhnt werden kann (Konrad Fleck: Flore und Blanscheflur. Rudolf von Ems: Willehalm von Orlens. Der Pleier: Tandareis und Flordibel. Konrad von Würzburg: Partonopier und Meliur. Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich). Ritterliche Bewährung spielt im B. allerdings keine Rolle. Im Vordergrund steht hier die Opposition zwischen der affektkontrollierten höf. Kultur u. dem Naturhaften, Triebhaften, Animalischen, Sexuellen. Dieses Spannungsverhältnis prägt die Handlung u. die z.T. hochkomplexe Bildlichkeit. Eigentliche u. uneigentl. Rede gehen laufend ineinander über, sodass Elemente der dargestellten Welt auch uneigentlich verstanden werden können. Auf diese Weise umspielt der B. einen sexuellen Übergriff des Prinzen gegenüber dem Mädchen, welcher durch den Wahnsinn bestraft wird. Dementsprechend wird der Text von der neueren Forschung nicht mehr als minderes Epigonenwerk, sondern als eine subtile Variation über Verlust u. Wiedererlangen höfischer »zuht« verstanden. Zwei elsäss. Wandteppiche des späten 15. Jh. zeigen mehrere Motive aus dem B. Literarische Nachwirkung hingegen ist im Spätmittelalter nicht nachweisbar. Peter Bichsels Gegenwartserzählung Der Busant. Eine solothurnische Operette (in: Der Busant. Darmst./ Neuwied 1985) betreibt das ironische Spiel mit Motiven u. Namen aus der Schönen Magelone u. lässt dabei einen Herrn Busant auftreten.

321 Ausgaben: Friedrich H. v. d. Hagen (Hg.): Gesammtabenteuer. Bd. 1, Stgt./Tüb. 1850. Neudr. Darmst. 1961 (Nr. 16), S. 337–366. Literatur: Betty Kurth: Die dt. Bildteppiche des MA. Wien 1926. Bd. 1, S. 131 f., 240 f.; Bd. 2, Tafel 142–150. – Hans-Friedrich Rosenfeld: Der B. In: VL. – Hans-Joachim Ziegeler: Erzählen im SpätMA. Mchn. 1985, S. 239–287, passim. – Dirk Matejovski: Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterl. Dichtung. Ffm. 1996, S. 184–196. – Armin Schulz: ›Dem bûsant er daz houbt abe beiz‹. Eine anthropologisch-poetolog. Lektüre des ›Busant‹. In: PBB 122 (2000), S. 432–454. – Klaus Grubmüller: Die Ordnung, der Witz u. das Chaos. Tüb. 2006, S. 157, 169 f. Armin Schulz

Busse, Carl, auch: Fritz Döring, * 12.11. 1872 Lindenstadt bei Birnbaum/Posen, † 3.12.1918 Berlin. – Literaturkritiker u. Verfasser von Lyrik u. Prosa. Der Sohn eines Gerichtssekretärs besuchte das Gymnasium in Wongrowitz u. das Militärpädagogium in Berlin. 1891/92 arbeitete B. als Journalist in Augsburg, danach kehrte er wieder nach Berlin zurück. Mit Hilfe von Arno Holz veröffentlichte er 1892 zwei Bände mit Gedichten u. Novellen, die im Ton von Liliencron u. Storm gehalten waren u. begeistert aufgenommen wurden (Gedichte. Großenhain 1892. In junger Sonne. Mchn. 1892). 1894–1898 studierte er Philologie, Geschichte u. Philosophie in Berlin u. Rostock. Während dieser Zeit lebte er von erschriebenen Honoraren. 1898 promovierte B. bei Wolfgang Golther in Rostock mit einer Dissertation über Novalis’ Lyrik. 1898 wurde er Mitherausgeber der Zeitschrift für nat. Politik, für Kunst u. Literatur »Deutsches Wochenblatt«. In den folgenden Jahren war er als freier Schriftsteller u. Literaturkritiker in Berlin tätig. Neben einer großen Anzahl von Gedichtbänden u. Romanen sowie zahlreichen Erzählungen veröffentlichte er auch literaturgeschichtl. Werke (u. a. Geschichte der deutschen Literatur im neunzehnten Jahrhundert. Bln. 1900). Weitere Werke: Ich weiß es nicht. Gesch. einer Jugend. Großenhain/Lpz. 1892. – Die Schüler v. Polajewo. Stgt. 1901 (E.). – Gesch. der Weltlit. 2 Bde., Bielef./Lpz. 1909–12. – Im Spiegel. In: Literar. Echo 12 (1909/10) (Autobiogr.).

Busse Literatur: Thedel v. Wallmoden: Porträt des Künstlers als junger Mann: Über einen unveröffentlichten Brief Gottfried Benns (an C. B.). In: DVjs 62 (1988), S. 570–580. – Renate Schipke: Hermann Hesse u. C. B.: Genese eines frühen Gedichtbandes (1902). In: Editio 15 (2001), S. 187–190. Peter König / Red.

Busse, Hermann Eris, * 3.9.1891 Freiburg i. Br., † 15.8.1947 Freiburg i. Br. – Verfasser von Romanen u. volkskundlichen Schriften. Der Sohn eines Schreinermeisters wurde zunächst zum Volksschullehrer ausgebildet. Nach längeren Reisen nahm er am Ersten Weltkrieg teil. Danach erwarb er sich als Geschäftsführer des »Landesvereins Badische Heimat« durch einige Veröffentlichungen einen Ruf als Heimatkundler u. als Komponist. In den frühen 1920er Jahren veröffentlichte B. seine ersten Romane. Zu seinem größten Erfolg wurde Bauernadel. Romantrilogie aus dem Schwarzwald (Lpz. 1933. Zuerst erschienen u. d. T. Das schlafende Feuer. Lpz. 1929 bzw. Markus und Sixta. Lpz. 1929 bzw. Der letzte Bauer. Lpz. 1930). Die Bauernsaga, für die B. 1930 den Schünemann-Preis erhielt, erzählt die Geschichte zweier Höfe u. ihrer Bewohner über drei Generationen hinweg. B.s Romane spielen vorwiegend im Hochschwarzwald u. im oberrheinischen Gebiet. Charakteristisch ist eine durch B.s eigene Biografie inspirierte Figur: ein in der Jugend rastloser, künstlerisch ambitionierter Sucher u. Wanderer, der später in der bäuerl. Heimat seinen Frieden findet. B.s Werk steht mit seinen antizivilisatorischen, die Bodenständigkeit des Bauerntums idealisierenden Tendenzen der Ideologie des nationalsozialist. Bauernschrifttums nahe. Typisch hierfür ist auch die Verquickung christlicher u. heidn. Vorstellungen, bes. auffällig im Roman Erdgeist (Lpz. 1939). Weitere Werke: Peter Brunnkant. Lpz. 1927. Neuaufl. Freib. i. Br. 1985 (R.). – Tulipan u. die Frauen. Lpz. 1927. Bln./Darmst. 1952 (R.). – Hans Fram, das dt. Gesicht. Lpz. 1932 (R.). – Fegefeuer. Stgt. 1936 (R.). – Glorian u. die Frevlerin. Bln. 1938 (N.). – Der Tauträger. Lpz. 1938 (R.). – Das Elsass. Karlsr. 1940. – Baden. Text u. Bilderslg. Weimar 2 1942. – Gesch.n aus Knitzingen. Freib. i. Br. 1997.

Busson

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Literatur: Marga Schenkel: Der alemann. Mensch in den Romanen H. E. B.s. Diss. Münster 1943. – Friedrich Franz v. Unruh: Wo aber Gefahr ist. Bodman/Bodensee 1965. – Angelika Ott: H. E. B. Ein Leben für Baden u. die Bad. Heimat. In: Bad. Heimat 87. Jg. (2007), H. 3, S. 403–411. Matthias Heinzel / Red.

Busson, Paul, * 9.7.1873 Innsbruck, † 5.7. 1924 Wien. – Verfasser von Romanen, Novellen, Balladen u. Essays. B. war Berufsoffizier, dann Schriftleiter am »Neuen Wiener Tagblatt«. Sein Werk steht in der Tradition des österr. Geschichtsromans (Enrica von Handel-Mazzetti, Peter Rosegger) u. der fantastisch-myst. Literatur (Leo Perutz, Gustav Meyrink, Alfred Kubin). Die Konzentration auf das Übernatürliche, Wunderbare lässt ihn v. a. zu histor. Stoffen wie den Hexenprozessen u. Glaubenskämpfen greifen, die die »andere Seite« von Wirklichkeit darstellen sollen. In seinem Hauptwerk Die Wiedergeburt des Melchior Dronte (Wien 1921) versucht B. sprachlich u. thematisch an Traditionen des Barock anzuschließen. Der Roman beschäftigt sich mit der Vorstellung von Wiedergeburt als Weg zur Vollendung. Im Mittelpunkt steht die Figur des Doubles Ewli, in der sich christliche u. oriental. Glaubens- u. Jenseitskonzepte vereinen. Die Erschaffung einer spirituellen Gegenwelt fingiert die Restauration des Adels. Sehnsucht nach den Wundern der Seele spiegelt die Tragik einer gesellschaftl. Klasse, die ihren Einfluss verloren hat. Weitere Werke: Ruhmlose Helden: vier dramat. Balladen mit einem Vorspiel. Bln. 1903. – Aschermittwoch. Mchn. 1903 (N.n). – Wiener Stimmungen. Wien 1913 (Ess.s). – Aus der Jugendzeit. Erinnerungen u. Träume aus alten Tagen. Mchn. 1920. – F. A. E. Wien/Bln. 1920 (R.). Literatur: Ada Koellner-Ther: P. B. als Erzähler. Diss. Wien 1941. Sabine Scholl / Red.

Busta, Christine, eigentl.: C. Dimt, * 24.4. 1915 Wien, † 3.12.1987 Wien; Ehrengrabstätte: ebd., Ottakringer Friedhof. – Lyrikerin u. Kinderbuchautorin. Nachdem sie ihre Kindheit u. Jugend in großer Armut verbracht hatte, begann B. 1933 das Studium der Germanistik u. Anglistik, das sie aus finanziellen Gründen u. wegen einer schweren Erkrankung wieder abbrechen musste. Sie arbeitete anschließend als Hauslehrerin u. Hilfsarbeiterin; während des Zweiten Weltkriegs verlor sie ihren Ehemann, den Musiker Maximilian Dimt. Nach 1945 war B. als Dolmetscherin u. Angestellte der brit. Besatzungsarmee tätig, 1950–1975 als Bibliothekarin an den Wiener Städtischen Büchereien. Die in ihren Anfängen von Gerhard Fritsch geförderte B. veröffentlichte ihre Gedichte nach Aufgabe des selbstauferlegten Schweigens erst ab 1946 in Zeitungen, Zeitschriften u. Anthologien; 1947 erstmals in der kath. Wochenschrift »Furche« u. in der von Otto Basil herausgegebenen Zeitschrift »Plan«, die neue Ansätze der Literatur nach 1945 vorstellte. Ihre Franziskuslegende Das Fischwunder erhielt den »Preis der Furche 1947«. 1954 wurde ihr der Georg-Trakl-Preis zuerkannt, es folgten u. a. 1963 der Meersburger DrostePreis u. 1969 der Große Österreichische Staatspreis. B. knüpfte nicht, wie der Großteil der Lyrik nach 1945, an Expressionismus u. Surrealismus an. Sie vermied Formexperimente u. konzentrierte sich auf die Darstellung des beschädigten Lebens mit dem Wunsch, Katharsis zu bewirken. »Mein Grundthema ist die Verwandlung der Furcht, des Schreckens und der Schuld in Freude, Liebe und Erlösung.« Ihre lyr. Themen – auch Not, Krieg, Einsamkeit – kreisen immer wieder um das Geheimnis Leben, dem sie als undogmat. Katholikin dichter. Ausdruck gibt. Zunehmend wandte sie sich zeitbezogenen Themen zu, schrieb aber auch heiter-poetische Kinderbücher. Von einer subjektiven Erlebnisdichtung mit anfänglich formstrengem Ästhetizismus – in Anlehnung an Josef Weinheber u. auch Rainer Maria Rilke (Der Regenbaum. Salzb.

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Butenschoen

1951) – fand B. zu einer sparsamen, herben, deutungsarsenals der Natur u. gestaltete mit sinnbildreichen Sprachgestaltung, gelocker- solaren, myst. u. christl. Motiven, in unglatten Rhythmen u. immer häufigerem Verzicht ten Rhythmen, Verse der Anbetung des Geauf Reime (Lampe und Delphin. Salzb. 1955). liebten. Ein Band nachgelassener Legenden Die Zurücknahme des Subjekts zugunsten erschien 1988 u. d. T. Der Regenengel (Salzb.). B.s Verse für Kinder erinnern in ihrer meder ihren eigenen Sinn enthüllenden Dingwelt führte zu einer Verknappung der Form lodischen Einfachheit an Matthias Claudius; u. zur Reduktion der sprachl. Ausdrucks- sie knüpfen sich an kleine, unscheinbare Simittel auf das geläufige Vokabular, ohne dass tuationen u. Begebenheiten geheimnisvoll dabei Realitätsmuster in einem neuen Kon- wie in Die Sternenmühle (Salzb. 1959) oder text vernetzt oder in ihrem Wahrheitsgehalt auch grotesk-humorvoll in Die Zauberin Frau angezweifelt würden, so in Die Scheune der Zappelzeh. Gereimtes und Ungereimtes (Salzb. Vögel (Salzb. 1958). Den Sinngehalt ihrer Ge- 1979). dichte bestimmt die trotz ihrer Variationen Weitere Werke: Jahr um Jahr. Salzb. 1950 (L.). einheitl. Bildlichkeit. Die lyr. Motive lassen – Die Bethlehemische Legende. Salzb. 1954. – Undabei ihre Beziehungsstruktur weniger in veröffentlichte Gedichte. Salzb. 1965. – Konfiguden rhythmischen, leicht verständl. Versen rationen. Salzb. 1972 (L.). – Der Himmel im Kasselbst erkennen, als innerhalb der themat. tanienbaum. Ges. u. hg. v. Franz Peter Künzel. Gedichtgruppen. Mit ihrem Abschreiten des Salzb. 1989 (L.). – Der Atem des Wortes. Aus dem Nachl. hg. v. Anton Gruber. Salzb. 1995 (L.). äußeren Raums von Frankreich, der Türkei u. Literatur: Gerhard Fritsch: Die Welt ist schön Westfalen in Unterwegs zu älteren Feuern (Salzb. u. schrecklich. Bemerkungen zu den Gedichten C. 2 1965. 1978) versucht sie beispielhaft die B.s. In: Wort in der Zeit 5 (1959). – Ilona HatzenTopografie des Innenraums u. die Transfor- bichler: Motive u. Themen in der Lyrik C. B.s. Diss. mation der realen Welt nach persönl. Ge- Graz 1979. – Wolfgang Wiesmüller: Das Gedicht fühlswerten in Symbole zu übertragen. als Predigt. Produktions- u. rezeptionsästhet. AsOft bearbeitete B. bibl. Stoffe. »Randfigu- pekte bibl. Motivik in Gedichten v. C. B. In: ren« der »Heilsgeschichte« werden bedeut- Sprachkunst 20 (1989), S. 199–226. – Yon-Suk sam, indem das Geschehen aus ihrer Per- Chae: Untersuchung zur Lyrik C. B.s. Diss. Wien spektive entwickelt wird. In den ausgewähl- 1991 (Mikrofiche-Ausg.). – W. Wiesmüller: C. B. im ten Erzählungen u. Gedichten Das andere Schaf Briefw. mit Ludwig Ficker. In: Mitt.en aus dem (Salzb. 1959) nimmt sie den Topos der nicht Brenner-Archiv 10 (1991), S. 39–71. – Susanne Gillmayr-Bucher: Zur Rezeption bibl. Texte in der geretteten, leidenden Menschen auf u. entLyrik C. B.s. In: Religion – Lit. – Künste. Hg. Peter faltet ihr dennoch positives Seinsverständnis Tschuggnall. Anif/Salzb. 1998, S. 302–315. – Kurt wie ihren Glauben an eine Veränderung zum Adel: C. B.s Lyrik. Untersuchung auf statist. Guten durch Annahme der Gnade. Die in Grundlage. In: Ders.: Von Sprache u. Dichtung. Salzgärten (Salzb. 1975. 21978) aufgenomme- Bd. 2, Ffm. 2004, S. 177–207. Eva Weisz / Red. nen Gedichte zeigen am deutlichsten B.s Ablösung von subjektivem Erfahrungspathos; Butenschoen, Johann Friedrich, * 14.6. die reflexiven, mit »Aufruf«, »Laudatio«, 1764 Bramstedt/Holstein, † 16.5.1842 »Randglosse«, »Konfrontation« u. a. überSpeyer. – Schriftsteller u. Redakteur. schriebenen Gedichte besitzen Appell-Charakter u. geben resümierend Selbsterkennt- Nach Studien in Jena u. Kiel ging B. 1786 als nisse sowie Imaginationen erinnerter Land- Lehrer für alte Sprachen an die Militärschule schaften u. Menschen mit Anklängen an Gottlieb Konrad Pfeffels in Colmar. Durch Günter Eich u. Paul Celan wieder. In ihren Johannes von Müllers Geschichten Schweizerispäten Gedichten Wenn Du das Wappen der Liebe scher Eidgenossenschaft inspiriert, unternahm er malst (Salzb. 1981) griff sie Bedrängnisse u. 1789 eine Reise in die Schweiz. Bei einem Probleme der Gegenwart auf, sich selbst be- Zwischenaufenthalt in Straßburg kam er spiegelnd, Alltägliches registrierend; in ihren erstmals mit revolutionären Schriften in BeLiebesgedichten Inmitten aller Vergänglichkeit rührung. Nach zweijähriger Tätigkeit als (Salzb. 1981. 21998) bediente sie sich des Be- Hauslehrer in Stuttgart ging B. 1792 über

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Jena, wo er Schiller kennenlernte, nach Übersetzung beigefügte literarhistor. AbStraßburg. Dort begegnete er dem Jakobiner handlung von einer intensiven AuseinanderEulogius Schneider, der ihn 1793 für die setzung mit der in B.s Augen subversiv reMitarbeit an der Revolutionszeitung »Argos« volutionären span. Literatur. Seine histori(Straßb. 1792–94) gewann, trat dem Jakobi- schen u. fiktiven Schriften wurden von den nerklub bei u. übernahm die Redaktion der Zeitgenossen wenig beachtet oder, wie seine gemäßigten Tageszeitung »Der Weltbote«. Schiller gewidmeten Petrarca-NachdichtunEnde 1973 wurde B. verhaftet, weil er im gen (Petrarca. Ein Denkmal edler Liebe und Hu»Argos« Kritik an den Exzessen der Jakobi- manität. Lpz. 1796), von der literar. Welt nener-Diktatur geübt hatte, 1794 nach Paris in gativ aufgenommen. Als Zeitdokumente bedie Conciergerie gebracht u. erst nach dem deutsam sind seine zahlreichen Artikel im Sturz Robespierres entlassen. Von der Revo- »Argos« u. der »Neuen Speyerer Zeitung« lution enttäuscht, ging B. nach Zürich, wo er sowie die Berichte Bruchstücke über das Leben sich vorwiegend literarisch betätigte. 1796 und die Hinrichtung des Revolutionairs Eulogius wurde er Professor für Geschichte u. Geo- Schneider (an. in: »Klio. Eine Monatsschrift für grafie an der École centrale du Haut-Rhin in die französische Zeitgeschichte«, Lpz. 1795/ Colmar, ging aber 1797 wieder nach Straß- 96) u. Meine Erfahrungen in den fürchterlichsten burg, wo er neben seiner Tätigkeit als Ver- Tagen der fränkischen Revolution (ebd. 1796). waltungssekretär die »Strasburger Neue ZeiWeitere Werke: Caesar, Cato u. Friedrich v. tung« herausgab. 1798 kehrte B. nach Colmar Preussen, ein histor. Lesebuch. Heidelb. 1789. – zurück. 1803 ging er ans kaiserl. Lyzeum in Alexander der Eroberer. Zürich/Lpz. 1791. – RoMainz, dessen Rektor er 1812 wurde. Anfangs mant., kom., rührende u. moral. Unterhaltungen. noch Mitherausgeber der Archives littéraires de St. Gallen 1791. – Reise-Schilderungen, Fluchtl’Europe ou Mélange de Littérature, d’Histoire et de Abentheuer u. Robinsons-Sagen, zur Stärkung u. Richtung des jugendl. Muths. Heidelb. u. Speyer Philosophie (Paris/Tüb. 1804), musste B. wegen 1826. seiner Karriere im Schulwesen seine literar. Literatur: Hermann Schreibmüller: Der Pfälz. Aktivitäten einschränken. 1814 wurde er zum Konsistorial- u. Kreisschulrat F. B. (1764–1842). Inspektor des öffentl. Unterrichts, 1816 in Ein Lebensbild aus der Zeit der Frz. Revolution u. Speyer Regierungsrat für das gesamte Schul- der pfälz. protestant. Unionsgründung. Kaisersreferat der bayr. Rheinprovinz u. Konsistori- lautern 1917. – Friedrich Herbert Müller: J. F. B. u. alrat am protestant. Konsistorium. die ›Neue Speyerer Zeitung‹ (1816–21). Zur dt. 1816–1821 war B. zudem Redakteur der li- Publizistik zwischen Frz. Revolution u. Restauraberalen »Neuen Speyerer Zeitung«, die von tion in Dtschld. Speyer 1986. – Hellmut G. Haasis: Anfang an Schwierigkeiten mit der Zensur Gebt der Freiheit Flügel. Die Zeit der dt. Jakobiner hatte, unter den polit. Organen des damali- 1789–1805. Bd. 2, Reinb. 1988, S. 521–529. – Ulgen Deutschland aber eine Vorrangstellung rike Hönsch: Das dt. Spanienbild in literaturhistor. Abhandlungen des 18. Jh.: Christian Heinrich einnahm. Nach seinem erzwungenen AusSchmids ›Theorie der Poesie‹ (1767) u. J. F. B.s scheiden konzentrierte sich B. auf die Arbeit ›Versuche über die spanische schöne Litteratur‹ an der pfälzischen protestant. Unionskirche, (1789). In: Spanien u. Portugal im Zeitalter der deren Katechismus er mitverfasste. 1825 Aufklärung. Hg. Christoph Franck u. Sylvaine wurde er als Schulrat u. 1833 als Konsistori- Hänsel. Ffm. 2002, S. 147–162. alrat pensioniert. Karin Vorderstemann B. literarisches Schaffen ist weniger bedeutend als sein publizistisches. BemerkensButschky und Rutinfeld, Samuel von, wert ist nur seine 1789 erschienene Überset* 1612 Namslau, † 13.3.1678 Breslau. – zung Leiden zweier edler Liebenden nach dem Verfasser von Briefstellern u. Herausgeber Spanischen des Don Miguel de Cervantes Saavedra, von Florilegien. nebst dem merkwürdigen Leben dieses berühmten Spaniers und einem Versuche über die spanische B.s Vater war polnisch-protestant. Prediger in Literatur (Heidelb. 1789). Obwohl »Teil einer Namslau, später in Breslau. 1632–1637 stureinen Brotarbeit« (Hönsch), zeugt die der dierte B. Jura in Wittenberg. Nach Reisen

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wirkte er als Notar u. Buchhändler in Breslau. Wi auch seinen andern Schr.en, gezogen. Lpz. 1654 konvertierte er zum Katholizismus u. 1661. Ausgaben: Der hóchdeutsche Schlüszel, zur erhielt im gleichen Jahr von Ferdinand III. den Adelsbrief. 1673 wurde er Königlicher Schreibrichtigkeit oder Rechtschreibung [...]. Manngerichts- u. Landesältester des Fürs- Breslau/Lpz. 1648. Nachdr. hg. v. Claudine Moulin. Hildesh. 2007. tentums Breslau. Literatur: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 2, Die Zeitgenossen schätzten v. a. seine S. 941–948 (Bibliogr.). – William Jervis Jones: Briefsteller. Dazu zählen u. a.: Hochdeutsche German lexicography in the european context. A Venus-Kantzeley (Schweidnitz 1644), Erweiterte descriptive bibliography of printed dictionaries and hochdeutsche Kanzelley (Breslau 1660) mit »al- word lists containing german language lerhand Besuch- Beehr- Bitt- Beantwort- Be- (1600–1700). Bln./New York 2000, S. 128–131, Nr. förderungs- Dinst- Dank- Glaub- Trost- 230–234. – Weitere Titel: Heinrich Hoffmann v. Schelt- Scherz- Kaufmanns- Wechsel- Libes- Fallersleben: Monatsschr. v. u. für Schlesien (1829), Hochzeit- Bünde- Gefatter- Begräbniß«- S. 321–336, 369–393. Auch in: Ders.: Spenden zur dt. Literaturgesch. Bd. 2, Lpz. 1844. – Räß, ConBriefen u. schließlich eine Erweiterte, und ververtiten 7, S. 574–583. – Palm: S. v. B. u. R. In: bässerte Hoch-Deutsche Kanzelley in vier Teilen ADB. – Karl Günther Seiler: S. v. B. u. die höf. (Breslau 1666). Die Briefbücher B.s, die nur Geisteshaltung. Breslau 1937. kurze formale Anweisungen bringen, sind, Marian Szyrocki † / Red. wie ihre Titel bezeugen, inhaltl. Muster des höf. u. galanten Stils. Butzbach, Johannes, auch: Piemontanus, B.s Vorbild waren v. a. Antonio de Guevaras * 1477 Miltenberg, † 29.12.1516 Maria Epistolas familiares (1539–42), die Aegidius Laach/Eifel. – Benediktinischer SchriftAlbertinus ins Deutsche übersetzte. B. ahmte steller u. Humanist. auch die Briefe von Jean Puget de la Serre Sein Leben bis zum Eintritt in das Kloster nach u. schöpfte aus Senecas Ad Lucilium episMaria Laach am 18.12.1500 beschrieb B. in tolae morales, die er ins Deutsche übertrug. seiner 1506 abgefassten, kulturgeschichtlich Seit 1666 gab B. kurze, aus über 100 Auu. volkskundlich wertvollen Autobiografie toren zusammengetragene Texte heraus, die Odeporicon (J. B.: Odeporicon. Zweisprachige sich einzig der Form nach von den Briefen Ausg. Einl., Übers. u. Komm. v. Andreas Beunterscheiden. So enthält der Band Pathmos riger. Weinheim 1991. J. B.: Odeporicon. Wan(Lpz. 1677) 675 »Betrachtungen allerhand derbüchlein. Aus dem Lat. übertragen u. mit Curioser [...] Hoff-Welt und Staats-Sachen«, einem Nachw. vers. v. A. Beriger. Zürich wobei das Höfische aufs Engste mit der 1993): Nach sechs Jahren als fahrender Schüchristl. Ethik u. dem Stoizismus verbunden ler in Süddeutschland u. in Böhmen ist. Über den Inhalt informiert ein etwa 100 (1488–1494) wurde er in Aschaffenburg 16Seiten zählendes Register. B. entwarf auch jährig in eine Schneiderlehre gegeben u. trat nach den Sprachlehren von Johann Rudolf 1496 in das Benediktinerkloster JohannisSattler, Schottelius u. Zesen eine Vereinfa- berg im Rheingau ein. Nach Studien in Dechung anstrebende Neue Rechtsreibung. venter bei Alexander Hegius wechselte er in Die Prosa des Katholiken B. fand erst wie- das Eifelkloster Maria Laach, wo er als Prior der im 19. Jh. wegen ihrer Sachlichkeit u. (seit 1507) u. bedeutendster Vertreter des »Vernünftigkeit« bei Gervinus, Hoffmann rheinischen Klosterhumanismus in der von Fallersleben u. Koberstein Lob. Nachfolge seines Vorbilds Johannes TritheWeitere Werke: Hochdeutscher Schreiben u. mius in lat. Sprache eine Reihe von (etwa 33) Réden, I. u. II. Teil: mit der neuen Réchts´reibung; ungedruckt gebliebenen literaturgeschichtl. einem Anhange v. Brifen. Schweidniz 1654. – Eu- (Auctarium de scriptoribus ecclesiasticis. Hg. Karl thymia. Von einem stillen u. ruhigen Gemütte, [...] Rühl. Bonn 1937), kunstgeschichtl. (Von den aus dem Seneka. Breslau 1656. – Senecae Flores. berühmten Malern. 1505. Hg. u. übers. v. Otto Des Seneka Weisheit-Lehr- u. Tugend Blumen: Aus 125 an den Lucilium ergangenen Sendschreiben;

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Pelka. Heidelb. 1925) u. monast. Schriften verfasste. Literatur: Maßgeblich zur Biografie: Andreas Beriger: Odeporicon. Zweisprachige Ausg. (wie

326 oben), S. 5–43; ebd. Bibliogr. S. 441–487. – Klaus Arnold: J. B. (1477–1516). In: Fränk. Lebensbilder 16 (1996), S. 49–56. Klaus Arnold

C Caesar, Joachim, auch: Aeschacius Major Dobreboranus, C. von Jo(a)chimsthal, C. de Salis valle Joachimici, Pahsch Bastel von der Sohle, * etwa 1580/1585 Halle, † 1648. – Jurist; Übersetzer französischer, italienischer u. spanischer Literatur; Verfasser von Gelegenheitsdichtungen. Der Sohn des Hallenser Rektors M. Christoph Caesar wurde bereits im Sommer 1588, wohl pro forma, in Leipzig immatrikuliert, desgleichen honoris causa 1595 mit seinem Vater u. einem Bruder in Jena. Erst 1604 durfte er in Leipzig, 1605 in Jena den akadem. Eid leisten. Um 1617 bereiste er Frankreich, Italien u. Spanien. Unterwegs lernte er Spanisch bei Joaquín Vicente Soler. 1622 hielt er sich wieder in Halle auf. Später soll er Hof- u. Justizrat in Magdeburg gewesen sein. Vielleicht stand er 1628 in oldenburgischen Diensten. Vermutlich gab es zudem Beziehungen nach Köthen. Schon früh trat C. mit lat. Epithalamia hervor. Nach den frz. Fassungen von Pierre Boisteau u. François de Belleforest übertrug er 1612 u. 1615 Novellen des Italieners Matteo Bandello (Rationis et adpetitus pugna. Hoc est De amore Edoardi III. regis Angliae et Elipsiae, Comitissae Salbericensis historia [...]. Halle 1612. Glücks und Liebes-Kampff. Gantz klegliche Tragoedi, in fünff Liebes Historien eingetheilet [...]. Lpz. 1615). Später ging er unmittelbar von ital. Vorlagen aus, wie Thrasonum fastus (Halle 1624) u. Regier Kunst (Lpz. 1628), die Verdeutschung von Fulvio Paccianis Arte di governare i popoli, bestätigen. Nachhaltig bekannt geblieben ist C. durch seine Vermittlung zweier span. Werke. 1622 legte er Juan Huartes »Berufsberater« Examen de ingenios para las sciencias in einer lat. Fassung vor (Scrutinium ingeniorum pro iis, qui excellere cup-

iunt [...]. Lpz. 1622. o. O. [Jena] 21637. Jena 3 1663), die noch Lessing 1752, wenn er sie auch negativ bewertete, für seine dt. Übersetzung heranzog. C.s Hauptverdienst ist seine Teilübertragung, die erste dt. überhaupt, von Cervantes’ Don Quijote (Kap. 1–23), die, obwohl schon 1621 u. 1624 angekündigt, erst 1648, vielleicht postum, unter dem Pseud. Pahsch Bastel von der Sohle erschien (Don Kichote de la Mantzscha, das ist: Juncker Harnisch auß Fleckenland. Ffm. 1648. Nachdr. Glückstadt/Hbg. 1928. Ffm. 21669). 1933 gelang es Hermann Tiemann, C.s Verfasserschaft nachzuweisen. C.s Don Kichote, der noch heute durch seine klare Sprache besticht, hat späteren Übersetzern, so dem anonymen der Stuttgarter Ausgabe von 1837 u. Ludwig Braunfels, gelegentl. Anregungen vermittelt. Die ausführlichen übersetzungstechn. Überlegungen C.s in der Vorrede stellen einen wichtigen Beitrag zur Übersetzungstheorie des 17. Jh. dar. Weitere Werke: In honorem nuptiarum [...] Chr. Forsteri. Halle 1599. – Euphemiai gamikai in solennitatem nuptiarum [...] Fr. Titeli. Halle 1603. – Disputatio de testamentis [...] exercitii gratia [...] defendit J. C. (Praes.: Martin Benckendorff). Jena 1605. – Disputatio de L. Aquila, injuriis et impropriis delictis (Praes.: M. Benckendorff). Jena 1605. Literatur: Frank-Rutger Hausmann: Bibliogr. der dt. Übers.en aus dem Italienischen v. den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 1 (2 Teilbde.), Tüb. 1992, Nr. 0835. – Alberto Martino: Die ital. Lit. im dt. Sprachraum. Ergänzungen u. Berichtigungen zu F.-R. Hausmanns Bibliogr. Amsterd./Atlanta 1994, S. 48 f. – Weitere Titel: Hermann Tiemann: Zur ältesten dt. Don Quijote-Übers. Nachw. zum Neudr. 1928, S. 401–418. – Richard Alewyn: Die ersten dt. Übers.en des ›Don Quixote‹ u. des ›Lazarillo de Torres‹. In: ZfdPh 54 (1929), S. 203–216. – H. Tiemann: Der dt. Don Kichote v. 1648 u. der Übersetzer Aeschacius Major. In: ZfdPh 58 (1933),

Caesarius von Heisterbach S. 232–265. – Ders.: Das span. Schrifttum in Dtschld. v. der Renaissance bis zur Romantik. Hbg. 1936. – Christian F. Melz: An evaluation of the earliest german translation of ›Don Quixote‹. Berkeley 1945. – Martin Franzbach: Lessings HuarteÜbers. Hbg. 1965. – Germán Colón: Die ersten roman. u. german. Übers.en des ›Don Quijote‹ (1. Tl. 16. Kap.). Bern 1974. – DBA 7,407 u. 173,233–235. – Theo in der Smitten: Don Quixote (der ›richtige‹ u. der ›falsche‹) u. sieben dt. Leser. Rezeptionsästhet. leseaktorientierte vergleichende Analysen an span. Ur-Quixote-Ausg.n v. 1604/5 bis 1615 u. sechs dt. Übers.en v. 1648 bis 1883. Bern u. a. 1986. – Ursula Delhougne: Intertextualität u. Übers. am Beispiel des dt. Don Quijote. Gött. 1991. – Dies.: Zur Komik des ›Don Quijote‹ in einigen dt. Übers.en. In: Differente Lachkulturen? Fremde Komik u. ihre Übers. Hg. Thorsten Unger u. a. Tüb. 1995, S. 87–100. Guillaume van Gemert / Red.

Caesarius von Heisterbach, * um 1180, † um 1240. – Verfasser von theologischen u. historischen Werken sowie Exempelsammlungen. C. erhielt seine Ausbildung in Köln, zuerst an der Schule des Andreasstifts, später an der Domschule. In seinen Werken bezieht er sich wiederholt auf diese Zeit. 1199 trat er in das Zisterzienserkloster Heisterbach ein, wo er bis an sein Lebensende wirkte. Er bekleidete das Amt des Novizenmeisters u. später (frühestens ab 1227) dasjenige des Priors. Im Auftrag des Ordens unternahm er mehrere Reisen. Mit seiner Tätigkeit hingen die schriftsteller. Arbeiten eng zusammen. Die theolog. Werke sind hauptsächlich Predigten u. traktatartig betrachtende Homilien, meist an ein monastisches Publikum gerichtet. In der Geschichte der Predigt steht C. am Übergang zum logisch disponierenden Typus der Scholastik. Neu ist die planmäßige Verwendung von Exempeln. Eine weitere Werkgruppe bilden histor. Schriften. Die bedeutendste Leistung des C. liegt auf dem Gebiet der Exempelliteratur. Sein erfolgreichstes Werk ist der Dialogus Miraculorum (1219–23). Es ist als Dialog zwischen einem fragenden Novizen u. einem antwortenden Mönch angelegt. Die 746 Kapitel sind in »Codices«, zwei Teile zu je sechs Distinctionen, gegliedert. Den themat. Rahmen bil-

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den die Bekehrung zum Klosterleben (Umkehr, Reue, Beichte, Versuchung usw.) u. das rechte Sterben. Dazwischen sind diverse Themen eingelassen, z.B. Marienexempel (Buch VII mit über 60 Erzählungen), Eucharistie (Buch IX) u. Wunder (Buch X). Fragment blieb die 1225/26 verfasste Exempelsammlung der Libri miraculorum. Die Beispielerzählungen, von denen C. eine ganze Reihe in seinen Homilien selbst verwendet, bieten ein buntes Bild. Sie sind oft zeitlich (ab 1190) u. räumlich (z.B. in Köln, Heisterbach etc.) festgelegt u. streifen, vom Kaiser abwärts, alle Stände. In der Dokumentation des Alltagslebens u. der Mentalität der Zeit liegt ihr besonderer kulturgeschichtl. Wert. Sie behandeln weltliterar. Motive wie die Polycrates- u. Theophilussage u. stützen sich auf mündliche wie schriftl. Traditionen. Die breite Wirkung dieser Sammlungen, die nachhaltig die lat. u. dt. Literatur beeinflusst haben, ist an Überlieferung u. Bearbeitung abzulesen. Um 1460 übersetzte den zweiten Teil des Dialogus (Buch 7–12) Johann Hartlieb aus München. Dazu kommen mehrere niederländ. Übertragungen des 15. Jh. Die breite Streuüberlieferung einzelner Mirakel ist noch nicht zu überblicken. In der Gegenreformation kamen die Schriften des C. erneut zur Geltung. Weitere Werke: Dialogus Miraculorum. Hg. Joseph Strange. Köln/Bonn/Brüssel 1851. Index 1857. Neudr. 1966. – Johann Hartliebs Übers. des ›Dialogus Miraculorum‹ v. C. v. H. Hg. Karl Drescher. Bln. 1929 (frühnhd. Übers.). – Neuhochdeutsche Übersetzungen: Ernst Müller-Holm. Bln. 1910. – Lambert Hoevel. Köln 1910. Neudr. 1968. Literatur: Karl Langosch: C. v. H. In: VL. – Fritz Wagner: C. In: LexMA. – Jacques Berlioz: ›Tuez-les tous, Dieu reconnâitra les siens‹. Le massacre de Béziers (22 juillet 1209) et la croisade contre les Albigeois vus par Césaire de Heisterbach. Portet-sur-Garonne 1994. – Ludger Tewes: Der ›Dialogus Miraculorum‹ des C. v. H. Beobachtungen zum Gliederungs- u. Werkcharakter. In: AKG 79 (1997), S. 13–30. Christoph Huber

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Cahlen, Friedrich, * 20.11.1613 Lauch- Calagius, Andreas, * 30.11.1549 Breslau, städt, † 23.12.1663 Hof. – Evangelischer † 21.11.1609 Breslau. – SpäthumanistiTheologe, Schulrektor, Herausgeber. scher Gelehrter u. Dichter. Der Sohn eines Richters u. einer luth. Pfarrerstochter studierte ab 1633 Philosophie u. Theologie in Jena. 1637 durch den Krieg mittellos geworden, nahm C. eine Stelle als Hauslehrer an. Im Jahre 1639 (oder 1640) krönte ihn der Magdeburger Kanzler Simon Malsius von Malschen zum Poeta laureatus. 1640 wurde er Konrektor, 1652 Rektor des Halleschen Gymnasiums, 1660 Rektor des Gymnasiums in Hof. C. verfasste zahlreiche Trauergedichte u. -reden. Literaturgeschichtliche Bedeutung erlangte er als Anreger u. Herausgeber einer Gemeinschaftsleistung seiner Halleschen Schüler, der dt. Übersetzung der Eklogen Vergils. Die Zehen auserlesene Hirten-Lieder des [...] Poeten Marons, in deutsche Reime übersetzt (Halle 1647. 21648) versah C. mit ausführl. Kommentaren. Das Dietrich von dem Werder, einem Mitgl. der Fruchtbringenden Gesellschaft, gewidmete Werk versteht sich als Beitrag zu den sprachreinigenden Bemühungen dieser Sozietät. Weitere Werke: Idea boni doctoris scholastici [...] oratione auspicali [...] 1640 exhibita. Halle (Ex. UB Greifswald Ersch.-Jahr weggeschnitten). – Friedens-Herold. Halle 1648. – Schreiber Lob. Halle 1651. – Sabbatum poeticum sive Epigrammata dominicalia [...] Poet. Fest- u. Sontags-Ruhe. Halle 1653. – Genuinae ac elegantioris latinitatis comparandae ratio [...]. Halle 1658. – Dissertatio de studiorum liberalium praestantia. [Halle] 1658. – Medulla moralis Aristotelica: sive exercitationes ethicae XII. ad libros X. Arist. ad Nicomachum. Lpz. 2 1662 (Exercit. prooemialis de praecognitis ethices. Resp.: Michael Albinus. Halle 1655; Exerc. XI. Halle 1659). Literatur: Leichenpredigt v. Thomas Zobel. Halle/Hof 1664. – Horst Gronemeyer: Untersuchungen zur Gesch. der dt. Vergil-Übertragung. Diss. Hbg. 1963. – Heiduk/Neumeister, S. 21, 152, 306. – DBA 173,370–372. – Ralf Georg Czapla: ›Wie man recht verteutschen soll‹. Der Traktat des Justus Georg Schottelius als Paradigma einer Übersetzungstheorie in der Frühen Neuzeit. Mit einem Exkurs zur Vergil-Übers. im 16. bis 19. Jh. In: Morgen-Glantz 8 (1998), S. 197–226. – Flood, Poets Laureate, Bd. 1, S. 279–281. Bernd Prätorius / Red.

C. war zunächst Schulrektor im poln. Wieruszów u. wirkte dann am Breslauer Magdalenen- u. Elisabethen-Gymnasium (1576 bzw. 1579). Von Kaiser Rudolf II. wurde er zum Dichter gekrönt (spätestens 1597). »Aus erheblichen Ursachen«, wohl aufgrund seiner krypto-calvinist. Einstellung, verlor er 1591 sein Amt, doch unterstützte ihn der Stadtrat noch mit gelegentl. Zuwendungen. C.’ vielgestaltiges Werk führt in die Blütezeit des schles. Späthumanismus, zu dessen namhaften Repräsentanten C. enge Kontakte unterhielt (u. a. Gedicht auf den berühmten Garten des Laurentius Scholz, 1592). Neben zahlreichen Kasualpoemen schrieb C. lyr. Werke über bibl. u. histor. Themen, veröffentlichte eine Sammlung von Epigrammen (Epigrammatum [...] centuriae sex. Frankf./O. 1602), Lehrbücher u. historisch-biogr. Studien (Natales illustrium virorum. Frankf./O. 1609). In Erinnerung an Schulaufführungen des Terenz in Breslau bemühte sich C. auch um das moderne Drama des Späthumanismus, indem er Nicodemus Frischlins Rebecca u. Susanna ins Deutsche übersetzte u. mit seinen Schülern auf die Bühne brachte (gedr. Liegnitz 1599 bzw. Lpz. 1604). Dabei bewies er ein feines Gespür für die Erfordernisse der muttersprachl. Prosodie. Weitere Werke: Divo Rudolpho II [...] primum Vratislaviam ingresso. Breslau 1577. – Terrae motus passim in Silesia animadversus. Görlitz 1590. – Duo epithetorum tomi [...] ex antiquioribus [...] poetis [...] selectorum. Breslau 1590. – Biblidos sive miraculorum [...] seria biblica [...] libri decem. Liegnitz 1595–1600. – De Varadino Hungariae propugnaculo. Liegnitz 1599. – Tetrasticha textum diebus dominicis [...] receptorum [...] Kurtze Summarien der Evangelien durchs ganze Jahr, verß und reimweise. Liegnitz 1602. – Davidis Psalterium metrice in VI decades distributum. o. O. u. J. – D. D. Theologorum in corruptam Evangelii doctrinam Vratislaviae sonantium symbola [...] octostichis explicata [...]. Liegnitz 1603. Literatur: Hermann Palm: C. In: ADB. – Gustav Bauch: Gesch. des Breslauer Schulwesens in der Zeit der Reformation. Breslau 1911 (passim). – Manfred P. Fleischer: Späthumanismus in Schlesi-

Calaminus en. Mchn. 1984, S. 107–110 u. ö. – Ders.: Der schles. Späthumanismus. In: Quellenbuch zur Gesch. der evang. Kirche in Schlesien. Hg. Gustav Adolf Benrath u. a. Mchn. 1992, bes. S. 62 u. S. 89 f. – Peter Wörster: Vier Briefe des schles. Dichters A. C. (1549–1609). In: FS Hans-Bernd Harder. Hg. Klaus Harer u. Helmut Schaller. Mchn. 1995, 557–567. – Flood, Poets Laureate, Bd. 1, S. 282–284. Wilhelm Kühlmann

Calaminus, Georg(ius), latinisiert aus: Röhrich(t), * 23.4.1549 Silberberg/Schlesien, † 29.11.1595 Wien. – Späthumanistischer Dramatiker.

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gelehrter Quellennähe durch fiktive Gespräche u. Monologe dramaturgisch wirkungsvoll zu gestalten. Das eingelegte Chorlied zum Preis Österreichs inspirierte vielleicht noch Franz Grillparzer. Rudolph II. belohnte den Autor mit dem Poetenlorbeer (1595). Weitere Werke: Vita [...] Joannis Guintherii Andernaci Medici [...] heroico carmine conscripta. Straßb. 1575. – Phoenissae Euripidis Tragoedia Latine metro versa. Straßb. 1577. – Daphnis seu Christus patiens Ecloga. Straßb. 1580. – Liber, vel Epistola Mnemosyne ad Eugeniam, de literarum Origine et Propagatione. Straßb. 1583. – Helis, tragoedia sacra [...] De casu nuptiali Freidenkiano Austriaco Libri duo. Straßb. 1591. – (Briefw. mit Hugo Blotius in der Österr. Nationalbibl. Wien; mit Georg Mauritius sen. in der Herzog August Bibl. Wolfenbüttel.)

C. wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf u. erlernte das väterl. Handwerk des Seifensieders. Dann gelang es ihm, zunächst die Ausgaben: Sämtl. Werke (lat.-dt.). Hg., übers., Schule in Glatz (1566), anschließend das Eli- komm. u. mit einem Nachw. vers. v. Robert Hinsabethen-Gymnasium zu Breslau zu besu- terndorfer. Bd. 1–4, Wien 1998. – Textausw. in: chen. Seit etwa 1572 fand er seinen Unterhalt CAMENA. als Privatlehrer adeliger Schüler in Straßburg, Literatur: Adolf Schimmelpfennig: A. C. In: wo er 1575 den Magistertitel erwarb. Durch ADB. – Johannes Crüger: Zur Straßburger Schullat. Werke gewann er die Gunst des Akade- komödie. In: FS zur Feier des 350jährigen Bestemiedirektors Johann Sturm u. des ihm ver- hens des protestant. Gymnasiums zu Straßburg. bundenen Gelehrtenkreises. Neben Kasual- Straßb. 1888, S. 305–354. – Conrad Schiffmann: G. C. In: Beiträge zur österr. Erziehungs- u. Schulgegedichten feierte C. in einem heroischen sch. 2 (1899), S. 91–114. – Hans Hurch (Hg.): Versgemälde das Leben u. die Leistungen des Christoph v. Schallenberg. Stgt. 1910 (darin GeMediziners Johann Winther von Andernach. dichte auf C.). – Richard Doll: Das lat. Epos des [...] Sein Krippenspiel Carmius, sive Messias in C. über [...] Johann Winter v. Andernach. Diss. praesepi [...] Ecloga (Straßb. 1576. Abdr. bei Würzb. 1937. – Helmut Slaby: G. C. u. seine draCrüger: S. 342 ff.) knüpfte im Dialog der mat. Dichtung Rudolphottokarus. Diss. Wien 1955. – Ders.: Magister G. C. u. sein Freundeskreis. In: Hirten an die Form der geistl. Bukolik an. Empfehlungen des Straßburger Literaten- Histor. Jb. der Stadt Linz 1958, S. 73–139. – Rikreises verdankte C. die Berufung zum Kon- chard Newald: A. C. In: NDB. – Robert Hinternrektor der Landschaftsschule zu Linz/Ober- dorfer: C.’ ›Rudolphis‹ u. Richard Streins Freidegg. In: Jb. für Landeskunde für Niederösterr. N. F. 57/ österreich (Dienstantritt 21.9.1578). In Brie58 (1991/92), S. 1–69 u. 273–286. – Flood, Poets fen u. Gedichten hielt C. in der Folge Kontakt Laureate, Bd. 1, S. 284–287. Wilhelm Kühlmann u. a. zu dem kaiserl. Leibarzt Crato von Kraftheim, dem Wiener Hofbibliothekar Hugo Blotius u. dem Lyriker Hieronymus Calé, Walter, * 8.12.1881 Berlin, † 3.11. Arconatus. Aus der engeren Umgebung 1904 Berlin (Freitod). – Verfasser neurostanden ihm nahe Christoph von Schallenmantischer Lyrik. berg u. der in Steyr wirkende Schuldramatiker Georg Mauritius sen. In dieser Zeit ar- Der Kaufmannssohn begann nach dem Abbeitete C. mit großem Ehrgeiz an einem itur in Berlin u. Freiburg i. Br. Jura zu stuepisch ausgefalteten Geschichtsdrama über dieren. Vor dem ersten jurist. Examen brach die Kämpfe zwischen Rudolf I. von Habsburg er jedoch das Studium ab u. wandte sich der u. Ottokar von Böhmen (Rudolphottokarus. Philosophie zu. 1904 nahm er sich ohne einen Austriaca tragoedia. Straßb. 1594). Den auch in erkennbaren Anlass das Leben. Zuvor hatte er der Folgezeit beliebten Stoff suchte C. trotz den größten Teil seines dichter. Werks (dar-

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unter einen mehrbändigen »psychologi- kolik; dies wohl auch durch den Kontakt mit schen« Roman) sowie umfangreiche philo- den Mitgliedern des Nürnberger Dichtersoph. u. philolog. Arbeiten vernichtet. Im kreises (briefl. Austausch mit Sigmund von Berliner Fischer Verlag erschien 1907 eine Birken u. Johann Klaj). Seit der Studienzeit Sammlung seiner Nachgelassenen Schriften stand C. wohl auch in lockerer Verbindung zu (Bln.) (Gedichte, Dramen, Romanfragmente, Rompler von Löwenhalt. Tagebuchnotizen), aus dem Nachlass von Weitere Werke: Heiliger Sonntags-Übungen, Freunden herausgegeben u. mit einem Erste Außg. Stgt. 1654. – Kloridans v. Wohlau auß wohlwollenden Vorwort des Literaturhisto- Elisien Blauer Kornblumen oder einfältiger Hirtenrikers Fritz Mauthner versehen. Sie stieß auf Gesänge Dreifaches Bündlein. Ulm 1655. – Aneine überraschende Resonanz u. erlebte bis dächtige Haus-Kirche. Nürnb. 1676. Literatur: Paul Pressel: J. H. C. In: ADB. – 1920 sechs Auflagen. C.s Dichtung weist wenig originelle Züge Heiduk/Neumeister, S. 307. – Baden-Württemauf. Seine Gedichte erinnern in Ton u. The- berg. Pfarrerbuch. Bearb. v. Otto Haug. 2. Tl., Stgt. 1981, S. 210–211, Nr. 1232. Wilhelm Kühlmann matik an den jungen Hofmannsthal, seine Prosaarbeiten stehen ganz unter dem Einfluss von Gottfried Keller u. E. T. A. Hoffmann. Calixt, Georg, eigentl.: G. Kallisen, Was die Nachwelt an C. interessierte, war * 14.12.1586 Medelby bei Flensburg, nicht so sehr der literar. Gehalt seines Werks, † 19.3.1656 Helmstedt. – Lutherischer als vielmehr der Typus der »alten Jugend«, Theologe. der »Décadence«, der »vollendeten Hoffnungslosigkeit«, den er repräsentierte (Gus- Von seinem Vater, einem Schüler Melantav Landauer. W. C. In: Das Blaubuch 2. 1907). chthons, im Geist eines milden humanist. Weitere Werke: Musik am Abend. Nachgelas- Luthertums erzogen, studierte C. seit April sene Gedichte. Lindau 1948. – Und keine Brücke ist 1603 Philosophie in Helmstedt. Die Späthuv. Mensch zu Mensch. Fulda 1985. Petersberg manisten Johannes Caselius u. Cornelius 2 1989. Martini wurden seine Lehrer. Am 14.5.1605 Literatur: Theodor Lessing: W. C. In: Der jüd. erlangte er den Magistergrad. Martini wurde Selbsthaß. Bln. 1930, S. 152–166. – Peter de Men- auch Mentor seines Theologiestudiums, das delssohn: Bildnis W. C. In: ensemble 11 (1980), er 1607 begann. Reisen führten ihn zu westS. 59–66. Peter König / Red. u. süddt. Universitäten u. Bibliotheken (1609/10), nach den Niederlanden, England u. Frankreich (1611–1613). Der in London Calisius, Johann Heinrich, auch: Kloridan geführten Gespräche mit Isaac Casaubonus, von Wohlau, eigentl.: J. H. Keulisch, dem Vermittler der erasmian. Friedensidee an * 1633 Wohlau/Schlesien, † 30.3.1697 das 17. Jh., erinnerte sich C. zeitlebens Gaildorf/Württemberg. – Verfasser geistdankbar. licher Lieder. In Helmstedt bekämpfte C. seit 1613 in C. studierte 1650 in Leipzig u. 1653 in philosoph. Kollegs den Ramismus; daneben Straßburg. Nach einer Hauslehrerzeit wirkte hielt er theolog. Privatkollegs. Ein früher er als luth. Geistlicher in Württemberg: als theolog. Gesamtentwurf (De praecipuis christiDiakon in Göppingen (1656), als Hofprediger anae religionis capitibus hodie controversis dispuin Sulzbach/Kocher (1669), schließlich von tationes XV. Helmstedt 1611. 21613. 31658) 1684 an als Konsistorialrat u. Superintendent lässt die Eigenart der theolog. Schriften C.s in Gaildorf. Hervorgetreten ist C. als Verfas- deutlich erkennen: präzises Erfassen des Geser geistlicher Lieder im Umkreis der Re- genstands durch log. Distinktion u. metaformorthodoxie. Seine Texte zielten auf die phys. Begrifflichkeit, dazu breites HeranziePraxis der häusl. Andacht ab u. schlossen sich hen rationaler Argumente u. histor. Exempel. formgeschichtlich zumeist an die Kirchen- Dass philosophischen u. histor. Argumenten liedtradition des 16. Jh. an. Daneben wirkten zu viel Platz vor dem bibl. Beleg eingeräumt auf ihn v. a. die Rollenfiguren der geistl. Bu- werde, kritisierte der Gießener orthodoxe

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Theologe Balthasar Mentzer bei der Begutachtung von C.s Abhandlung De immortalitate animae et resurrectione carnis (1616. Gedr. Helmstedt 1627). Lange musste sich C. gegen Verdächtigungen des Wolfenbütteler Konsistoriums wehren, er neige zum Calvinismus – auch nachdem er nach seinem glänzenden Auftritt bei der Religionsdisputation mit dem Hildesheimer Jesuiten Augustinus Turrianus auf der Hämelschenburg (1614) auf den Helmstedter Lehrstuhl für Kontroverstheologie berufen worden war, den er bis zu seinem Tod innehatte. Strenge Handhabung der Zensur ließ C. anfangs vor der Drucklegung seiner Arbeiten zurückschrecken. Die Epitome theologiae (Goslar 1619), ein nach der analyt. Methode entworfener Grundriss der christl. Heilslehre, gaben Schüler nach Vorlesungsnachschriften heraus. Tillys Einfall in die braunschweigischen Lande 1625 u. der Ausbruch der Pest ließen die Academia Julia veröden. Als 1628 der Lehrbetrieb wieder aufgenommen wurde, erwarb C. eine eigenen Druckerei, in der er sich auch selbst betätigte. C. druckte den Apparatus theologicus (Helmstedt 1628–56), eine theolog. Wissenschaftslehre, die im Gegensatz zur luth. Orthodoxie zwischen Theologie u. Glaube unterschied u. damit den modernen theolog. Wissenschaftsbegriff vorwegnahm. Auf der Grundlage seiner am Ideal der alten Kirche orientierten späthumanist. Theologie entwickelte C. seit dem zweiten Jahrzehnt des Dreißigjährigen Krieges Pläne zur Versöhnung u. Wiedervereinigung der christl. Konfessionen. Von der luth. Orthodoxie mehr u. mehr angefeindet, von kath. Theologen fast überall abgelehnt, hat er seine kirchl. Unionspläne zeitlebens hartnäckig verfochten. Er wurde damit zum bedeutendsten luth. Vertreter einer Wiedervereinigung der Kirchen im konfessionellen Zeitalter. In der Einleitung einer Edition von Augustins De doctrina christiana u. des Commonitorium des Vincenz von Lerinum (Helmstedt 1629) legte C. seine Vorschläge erstmals vor. Eine Überwindung der Konfessionsspaltung sei möglich auf der Grundlage des »consensus antiquitatis«, d.h. der Übereinstimmung der

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Konfessionen mit dem altkirchl. Fundament der Theologie der Kirchenväter u. der Konzilsbeschlüsse der ersten fünf Jahrhunderte. Die Chance, eine modellhafte Kirchenunion zwischen Protestanten u. Katholiken herbeizuführen, schien sich C. zu eröffnen, als er von Herzog Ernst von Gotha als Berater für die kirchl. Reorganisation in den besetzten kath. Teilen Süddeutschlands herangezogen wurde. In dem Discurs von der wahren christlichen Religion und Kirchen (um 1633. Gedr. Braunschw. 1652) leitete C. einerseits aus dem Prinzip des »consensus antiquitatis« die Forderungen nach Abschaffung von Papsttum, Zölibat, Kelchentzug beim Abendmahl usw. als unwesentl. Zutaten her, trat andererseits dafür ein, die kath. Religion, in der das altkirchl. Glaubensfundament enthalten sei, zu tolerieren. Die Niederlage der Protestanten in der Schlacht bei Nördlingen 1634 machte C.s Pläne zu Makulatur. Unbeirrt verfolgte er jedoch seine Unionsideen weiter. Im Anhang zu seiner Epitome theologiae moralis (Helmstedt 1634), der Fragment gebliebenen ersten protestant. Moraltheologie, appellierte C. an alle dem Papst ergebenen dt. Akademien, eine Einigung mit den Evangelischen auf der Grundlage von Bibel u. altkirchlicher Tradition zu suchen. Als Mittel dazu schlug C. die Wiederaufnahme der Religionsgespräche des 16. Jh. vor, für die er Regeln u. Methoden (strenge Bindung an die Regeln der Logik) entwarf. Als für die Mainzer theolog. Fakultät Vitus Erbermann S. J. in seiner Anatomia Calixtina (Mainz 1644) die Unterwerfung unter die päpstl. Autorität zur Vorbedingung jeder Unionsverhandlung erklärte, antwortete C. mit einem Responsum maledicis theologorum Moguntinorum (Helmstedt 1644/45), der umfassendsten Darlegung seiner Unionsideen. Große Hoffnungen setzte C. auf das von Wladislaus IV. einberufene Religionsgespräch von Thorn zwischen den röm. Katholiken u. den protestant. Konfessionen. C. steuerte eigene Vorschläge bei in Scriptae facientia ad colloquium a Ser. Poloninae Regis Vladilao IV Torunii indictum. Accessit G. Calixti consideratio et epicrisis (Helmstedt 1645). Vom großen Kurfürsten als theolog. Berater zum Thorner »Colloquium charitativum« einge-

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laden, wurde seine Aufnahme in die luth. Academiae Helmstadiensis. Bearb. v. Paul ZimFraktion vom Danziger orthodoxen Theolo- mermann. Bd. 1, Hann. 1926. Neudr. Nendeln gen Abraham Calov verhindert. C. fungierte 1980, S. 380–383 (Vita). – Hermann Schüssler: G. daraufhin als theolog. Ratgeber der Refor- C., Theologie u. Kirchenpolitik. Wiesb. 1961. – Johannes Wallmann: Der Theologiebegriff bei Jomierten. Das Scheitern des Religionsgehann Gerhard u. G. C. Tüb. 1961. – H. Schüssler: G. sprächs entmutigte ihn nicht. Er suchte auf C. In: NDB. – Inge Mager: G. C.s theolog. Ethik u. ein von Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels ihre Nachwirkungen. Gött. 1969. – Peter Engel: veranstaltetes Religionsgespräch Einfluss zu Die eine Wahrheit in der gespaltenen Christenheit. nehmen, das – schließlich ohne C.s Teilnah- Untersuchungen zur Theologie G. C.s. Gött. 1976. me – im Dez. 1651 erfolglos auf Schloss – J. Wallmann in: TRE. – I. Mager: G. C. In: GeRheinfels stattfand (Acta inter Ser. Princ. et Dm. stalten der Kirchengesch. Hg. Martin Greschat. Ernestum Hassiae Landgravium et G. Calixtum. Bd. 7: Orthodoxie u. Pietismus. Stgt. u. a. 1982, Hg. v. C.s Sohn Friedrich Ulrich Calixt. S. 137–148. – Rob J. M. van de Schoor: Reprints of Cassander’s and Witzel’s Irenica from Helmstedt. Helmstedt 1681). Mit dem Kapuziner ValeriThe meaning of the irenical tradition for G. C., us Magni wechselte C. mehrere Streitschrif- Hermann Conring and Johannes Latermann. In: ten über die päpstl. Unfehlbarkeit. Lias 20 (1993), S. 167–192. – I. Mager: Spiritualität Stieß C. bei den römisch-kath. Theologen u. Rationalität: Johann Arndt u. G. C. in Nordauf Ablehnung, so verwickelte er sich mit der dtschld. im 17. Jh. In: Beiträge zur oldenburg. lutherisch-orthodoxen Theologie in einen Kirchengesch. Hg. Reinhard Rittner. Oldenb. 1993, heftigen Kampf, als der brandenburgische S. 31–41. – Dies.: G. C. In: RGG 4. Aufl. Bd. 2, Sp. Kurfürst die privilegierte Stellung der luth. 12 f. – Christoph Böttigheimer: Zwischen Polemik Kirche in Ostpreußen beseitigen wollte u. u. Irenik. Die Theologie der einen Kirche bei G. C. Münster 1996. – Ders.: Die ökumen. Relevanz der deshalb C.-Anhänger ins Land zog. Die BeFundamentalartikellehre. In: Ökumen. Rundschau rufung von C.s Schüler Johann Latermann an 46 (1997), S. 312–321. – Ders.: Auf der Suche nach die Universität Königsberg führte zu den der ewig gültigen Lehre. Theolog. Grundlagenre»Latermann’schen Händeln« u. entzündete flexion im Dienste der Irenik bei G. C. In: Kerygma 1648 den das ganze protestant. Deutschland u. Dogma 44 (1998), S. 219–235. – Ueberweg, für Jahrzehnte erschütternden »Synkretisti- Bd. 4/1, S. 557–574 (u. Register). – Estermann/ schen Streit«. C. selbst griff mehrfach ein, am Bürger 1, S. 243 f.; 2, S. 187–192 (Verz. gedr. Brieumfassendsten in der gegen den Dresdner fe). – Andreas Merkt: Das patrist. Prinzip. Eine Oberhofprediger Jacob Weller u. den Leipzi- Studie zur theolog. Bedeutung der Kirchenväter. Johannes Wallmann / Red. ger Theologen Johann Hülsemann gerichte- Leiden u. a. 2001. ten Widerlegung der unchristlichen und unbilligen Verleumdungen (Helmstedt 1651), der einzigen Callenbach, Kallenbach, Franz, auch: Verin dt. Sprache verfassten größeren Schrift C.s. melius Wurmsam, * 10.1.1663 Dittwar Eng verbunden war C. mit Herzog August bei Tauberbischofsheim, † 3.2.1743 d.J. von Braunschweig u. Lüneburg, der C. Darmstadt. – Jesuit; Dramatiker u. Satigegenüber Angriffen schützte, dafür von riker. diesem in kirchl. Angelegenheiten u. beim Abfassen theologischer Werke beraten wurde Der Sohn eines Amtsschreibers besuchte das (vgl. C.s Vorrede zu Herzog Augusts Evange- Jesuitengymnasium in Würzburg. Mit 20 Jahren trat er 1683 in Mainz in den Jesuilienharmonie. Lüneb. 1640). tenorden ein. Die ordensübliche pädagog. Ausgaben: Werke in Ausw. Hg. v. Inge Mager. 8 Tätigkeit absolvierte er 1685–1690 in BamBde. (nur 4 Bde. ersch.), Gött. 1970–82. – InternetEd. diverser Texte in: The Digital Library of Classic berg u. setzte dann seine theolog. Studien in Protestant Texts (http://solomon.tcpt.alexander- Würzburg fort. 1694 beauftragte ihn der Orden als Prediger u. Lehrer mit der Erziehung street.com/). Literatur: Johannes Moller: Cimbria literata der Kinder der kath. Mitglieder des Reichs[...]. Bd. 3, Kopenhagen 1744, S. 121–210. – Ernst kammergerichts in Wetzlar. Abgesehen von L. T. Henke: G. Calixtus u. seine Zeit. 2 Bde., Halle kurzen Unterbrechungen – 1697 als Prin1853–60. – Wilhelm Gaß: G. C. In: ADB. – Album zenerzieher am hessisch-rotenburgischen

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Hof, 1698 als Lehrer in Bamberg u. 1702 als Missionar im elsäss. Hagenau – wirkte er dort bis 1721. Danach wurde er Rektor des Jesuitenkollegs in Würzburg. Von 1725 bis zu seinem Tod lebte er als Sekretär des Provinzials der oberdt. Ordensprovinz vorwiegend in Bamberg. Zeitgenössischer Beliebtheit erfreuten sich bes. C.s satir. Komödien, die von seinen Wetzlarer Schülern zur Karnevalszeit im Jan. aufgeführt wurden. Sprachlich setzten sie eine Entwicklung fort, die wir bereits bei dem Wiener Jesuitendramatiker Johann Baptist Adolph beobachten: die Einbeziehung dt. Texte bzw. die Vermischung von Latein u. Deutsch. Dieses Sprachgemisch mag sicherlich auch der Verballhornung der von Juristen zur Abgrenzung von der übrigen plebs gepflegten Verhunzung der Sprache gedient haben. Eigentliche Verbreitung aber fanden die Dramen in der anonymen u. meist ohne Ortsangabe versehenen Veröffentlichung nach 1714 als Lesedramen. Dass sie urspr. für die Bühne gedacht waren, beweisen die ausführl. Regieanweisungen. Bei vielen dieser Stücke überraschen die einzelnen Varianten, die in vielen Fällen auf einem durchgehenden Neusatz basieren, was die Vermutung nahelegt, dass an ihrer Verbreitung nicht nur der Nürnberger Georg Christoph Lochner, sondern mehrere Drucker beteiligt waren. Den Stoff lieferten die desolaten Zustände, die am Reichskammergericht herrschten u. die die beklagenswerte Situation des Reichs offenbarten. Diese mussten einen scharfen u. patriot. Beobachter zu einer krit. Stellungnahme herausfordern, die über den Wetzlarer Horizont hinausging. Schon in WURMATIA Wurmland / sub Tropico Canceri [...] exhibita (1714) werden in den einzelnen Dialogen die Missstände (»Würmer«) in einem Rechtsstreit satirisch behandelt, wobei Zusammenfassungen in Gedichtform die Vorführung auflockern. Auch mit »Belehrungen« für Richter u. Advokaten hinsichtlich der Prozessführung wird nicht gespart. Eine zur Belustigung reizende Satire über die Schwächen der zeitgenöss. Gesellschaft bietet die Komödie QUASI sive mundus-quasificatus: Das ist die quasifizierte Welt Sub Polis nisi et quasi (1714). UTI ANTE HAC auff die alte Hack olim autem non sic

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sive Revolutio Saeculorum in deteriora ruentium [...] (1714) lobt die gute alte Zeit u. attackiert auf satir. Weise das Alamode-Wesen u. die Adaption frz. Hofsitten. Ähnlich werden in ECLIPSES POLITICO-MORALES Sicht- und unsichtbare sittliche Staats-Finsternussen [...] (1714) die Heilversuche ausländischer Quacksalber am politisch kranken Deutschland gegeißelt. Gegen – v. a. – religiöse Heuchelei geht das Drama QUASI VERO. Der Hinckende Bott [...] (1715) vor. Der zu dieser Zeit aufkommende exzessive Tabak- u. Kaffeegenuss steht in Puer Centum Annorum (gedr.: Auf der jetzigen an Jahren ziemlich veralten, an sitten aber verjungten Welt-Kinder-Stuben. Im Jahr, da die Welt alt und Kindisch war [1741]) in der satir. Kritik. Aber auch gravierenderen Fehlentwicklungen im Reich – wie z.B. die Auflösung ständischer Ordnung durch den Kauf von Adelsbriefen, die Ämterpatronage u. Korruption, die Selbstherrlichkeit von Verwaltung u. Heer – gilt in den Dramen C.s die Satire. Konsequent ist daher das Fehlen der theolog. Begründung für die absolutist. Herrschaftsform in diesen Stücken. Da er sich des Oberdeutschen bediente u. seine Produktion in die wenig beachtete Zeit zwischen Barock u. Aufklärung fiel, fand C. nur geringe literaturwiss. Beachtung. Zudem entsprach der Aufbau seiner Dramen weder der bekannten barocken Form noch der Dramaturgie Gottscheds; C. reihte vielfach Einzelszenen in loser Form aneinander. Die Szenen selbst aber waren rhetorisch wirkungsvoll gestaltet. Wo C. von der Forschung berücksichtigt wurde, standen zumeist kulturhistor. Interessen – v. a. an C.s Kritik des absolutist. Systems – im Vordergrund. Das literaturwiss. Interesse stellte die Orientierung an Franz Langs »Dramenkonzept« sowie die Beeinflussung durch Jacob Baldes lat. Satiren heraus. Philologische Untersuchungen zur Textgeschichte konnten v. a. die Bedeutung der Zensur aufzeigen. Weitere Werke: GENEALOGIA NISIBITARUM NISI-Stamm-Baum Gebuhrts-Brieff. 1714. – Almanach Welt-Sitten-Staats-Marter-Calender. Gerichtet auff alle Schaltjahr. 1714. – Periochen zu: Mundus quasificatus (1710) u. Uti ante Hac (1712). Literatur: Bibliografien: Backer/Sommervogel 4, Sp. 900–902. – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1,

335 S. 949–968. – Weitere Titel: Jakob Franck: F. C. In: ADB. – Bernhard Duhr: Jesuiten-Fabeln. Freib. i. Br. (1899), S. 329 f. – Rudolf Dammert: F. C. u. seine satir. Kom.n. Diss. Freib. i. Br. 1903. – Kurt Schreinert: C. In: NDB. – Adolf Paulus: Kom.n aus Wetzlar [...]. Zum 300. Geburtstag v. F. C. In: Heimat an Lahn u. Dill 94 (1963), S. 1–2. – H. K. Hofmeier: F. C.s Kampf gegen Modethorheiten in seiner satir. Kom. ›Puer Centum Annorum‹. In: Medizin Heute 13 (1964), H. 5, S. 166 f. – Wolfgang Matthäus: Schauspiele u. Schauspieler in der Reichsstadt Wetzlar. In: Heimat an Lahn u. Dill 133 (1966), S. 1–2. – Doris Behrens: F. C.s ›Dramen‹ – satir. Absolutismuskritik zu Beginn des 18. Jh. im Kontext des Jesuitentheaters. Rheinfelden 1981. – Richard Brinkmann: ›Quasifizierte Welt‹. In: Theatrum Europaeum. FS Elida Maria Szarota. Hg. ders. u. a. Mchn. 1982, S. 409–427. Franz Günter Sieveke

Calov, Abraham, * 16.4.1612 Mohrungen/ Ostpreußen, † 25.2.1686 Wittenberg. – Lutherischer Theologe. Nach dem Besuch der Gymnasien in Thorn u. Danzig studierte C. in Königsberg (1632 Mag. phil.) u. Rostock (1637 Dr. theol.). In frühen philosoph. Schriften zeigt sich C. als Repräsentant der aristotel. Schulphilosophie. Seit 1637 wieder in Königsberg, wurde C. Adjunkt der theolog. Fakultät u. 1640 a. o. Professor. Seit dem glänzenden Bestehen in einer Disputation mit dem reformierten Hofprediger Johann Bergius galt C. als hervorragendster Verteidiger des orthodoxen Luthertums gegen die Toleranzpolitik des Großen Kurfürsten. C. ging 1643 als Rektor des akadem. Gymnasiums u. Pastor an der Trinitatiskirche nach Danzig, wo er für die Wiedererringung des luth. Konfessionsstandes eintrat. Auf dem Thorner Religionsgespräch (1645) bekämpfte C. jeden religiösen »Synkretismus« u. setzte den Ausschluss Georg Calixts aus der luth. Fraktion durch. Seit 1650 Professor in Wittenberg, im Nebenamt kursächs. Generalsuperintendent, seit 1660 als Professor primarius auf der »Cathedra Lutheri«, verhalf C. der Leucorea zu letzter Blüte. Kompromisslos auf der Wahrheit der luth. Lehre bestehend, kämpfte er gegen jede Politik der Toleranz u. des Kirchenfriedens zwischen den beiden protestant. Konfessionen, wie sie in Kurhessen u.

Calov

Brandenburg betrieben wurde. Im »Synkretistischen Streit« war er Wortführer des orthodoxen Luthertums gegen Georg Calixt u. den Helmstedter Synkretismus. C.s Versuch, durch einen Lehrentscheid (Consensus repetitus fidei. 1655. Gedr. zuerst in den – als Reaktion auf das Verbot des Studiums der Theologie u. Philosophie in Wittenberg durch den Großen Kurfürsten – von C. herausgegebenen Consilia theologica Witebergensia. Ffm. 1664) Calixt u. seine Anhänger aus der luth. Kirche auszuschließen, scheiterte am Widerstand der theolog. Fakultät Jena. In den letzten Jahren verlor C. die Unterstützung des kursächs. Hofs. Seine Historia Syncretistica, deren Erstauflage (Ffm. 1682) der sächs. Kurfürst konfiszieren ließ, konnte C. nur unter Mühen zum Druck bringen (Ratzeburg 1685). Neben den Reformierten galt C.s Kampf v. a. den Sozinianern (Sammlung seiner antisozinian. Schriften: Scripta anti-sociniana. Ulm 1684). Unter den dogmat. Werken C.s ragt das zwölfbändige Systema locorum theologicorum (Wittenb. 1655–77) hervor, eines der Hauptwerke lutherischer Orthodoxie. Mit seiner Biblia [...] illustrata (Ffm. 1672–76. 2 1719) kämpfte C. gegen Hugo Grotius u. die Anfänge der historisch-krit. Bibelauslegung. C. gab eine dt. Bibel, versehen mit Kommentaren aus den Schriften Luthers, heraus (Wittenb. 1681/82). Im Gedächtnis der Nachwelt lebt er als Prototyp des orthodoxen Streittheologen weiter. Weitere Werke: (Eine vollst. wiss. Bibliogr. fehlt.) – Scripta philosophica. Rostock 1650/51. – Theologia positiva. Wittenb. 1682. – Apodixis articulorum fidei. Lüneb. 1684. – Anti-Böhmius [...]. Wittenb. 1684. Ausgabe: Internet-Ed. diverser Texte in: The Digital Library of Classic Protestant Texts (http:// solomon.tcpt.alexanderstreet.com/). Literatur: VD 17. – http://www.forschungenengi.ch/projekte/koenigsberg.htm (Verz. der Königsb. Dissertationen). – Weitere Titel: Wilhelm Gaß: A. C. In: ADB. – Max Wundt: Die dt. Schulmetaphysik des 17. Jh. Tüb. 1939. – Hermann Schüssler: A. C. In: NDB. – Johannes Wallmann in: TRE. – Katharina Bethge: Epistolae theologicae. Eine Quelle zur Erforsch. v. Leben u. Werk A. C.s u. der luth. Orthodoxie. In: PuN 22 (1996), S. 12–69. – Kenneth G. Appold: A. C. als Vater der luth. Spätorthodoxie. In: Ernst Salomon Cyprian

Calvisius (1673–1745). Zwischen Orthodoxie, Pietismus u. Frühaufklärung. Hg. Ernst Koch. Gotha 1996, S. 49–58. – Ders.: A. C.’s doctrine of vocatio in its systematic context. Tüb. 1998. – Ders.: Das Melanchthonbild bei A. C. (1612–86). In: Melanchthonbild u. Melanchthonrezeption in der luth. Orthodoxie u. im Pietismus. Hg. Udo Sträter. Wittenb. 1999, S. 81–92. – Jörg Baur: A. C. In: RGG 4. Aufl. Bd. 2, Sp. 15 f. – Volker Jung: Das Ganze der Hl. Schr.: Hermeneutik u. Schriftauslegung bei A. C. Stgt. 1999. – Ueberweg, Bd. 4/1, S. 572–578 (u. Register). – Estermann/Bürger 1, S. 245; 2, S. 192–195 (Verz. gedr. Briefe). Johannes Wallmann / Red.

Calvisius, Sethus, eigentl.: Seth Kalwitz, * 21.2.1556 Gorsleben/Thüringen, † 24.11.1615 Leipzig. – Komponist, Musiktheoretiker, Chronologe u. Lexikograf.

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lung der Musikgeschichte) knüpfte C. an ital. Vorbilder (bes. Gioseffo Zarlino) an. Als Komponist widmete sich C. dem Kirchen- u. Schulgesang, für den er verschiedene Liedsammlungen zusammenstellte, die im 17. Jh. eine breite Rezeption fanden (Hymni sacri latini et germanici. Erfurt 1594. Harmonia Cantionum Ecclesiasticarum. Kirchengesenge und Geistliche Lieder D. Lutheri und anderer frommen Christen. Lpz. 1597). Von musikgeschichtlicher Bedeutung sind auch die vierstimmigen Sätze zum Psalter Davids gesangweis des mit C. befreundeten Cornelius Becker (Lpz. 1605. 3 1617). Sie dokumentieren die breite Wirkung dieser später auch von Heinrich Schütz vertonten konfessionell-lutherisch geprägten Übersetzung der Psalmen. Ausgaben: Paul Rubardt (Hg.): Tricina. Außerlesene Teutsche Lieder. Bln. 1949. – Albrecht Tunger (Hg.): Geistl. Chormusik/Das Chorwerk alter Meister. Reihe 4, Bd. 13, Stgt. 1965. – Exercitationes musicae duae. Im Anh. Exercitatio musica tertia. Hildesh./New York 1973. – Quellen: Teilnachl. in der UB Göttingen (Philos. 103). – J. Kepler: Ges. Werke. Bd. 5, Mchn. 1953, S. 227–287 (Briefw. mit C., weitere Briefe in den Bdn. 15 u. 16).

C., Sohn eines Taglöhners, erhielt 1572–1576 in Magdeburg eine Schulausbildung u. studierte in Helmstedt u. Leipzig. 1582 wurde er Kantor an der Fürstenschule Pforta. 1594 erhielt er die Berufung zum Kantor an der Leipziger Thomasschule. 1595 heiratete er Magdalena Junge. Aus der Ehe gingen vier Literatur: Rudolf Wustmann: Musikgesch. Kinder hervor. Leipzigs. Bd. 1, Lpz. u. Bln. 1909. – Werner Braun C.’ Ansehen unter den Zeitgenossen stützte u. Adam Adrio: C. In: MGG 2. Aufl., Personentl., 3. sich v. a. auf sein Wirken als Historiker. Im Bd. (2000), Sp. 1720–1725. – Theodor Göllner u. a.: Anschluss an Scaliger entwickelte er die Dt. Musiktheorie des 15. bis 17. Jh. Tl. 1: Von Chronologie unter Einbindung der Astrono- Paumann bis C. Darmst. 2003; W. Braun: Tl. 2: Von mie zur Wissenschaft (Opus Chronologicum. C. bis Mattheson. Ebd. 1994. – Detlef Döring: S. C. Lpz. 1605. Frankf./O. 51685) u. leistete damit als Chronologe. In: Ztschr. für histor. Forsch. 21 einen wichtigen Beitrag zur Herausbildung (1994), S. 171–202. – Gesine Schröder (Hg.): S. C. der historisch-krit. Methode in der Ge- Hildesh. 2007. Detlef Döring schichtswissenschaft. In diesem Kontext ist auch C. intensiver brieflicher u. publizist. Cambridger Lieder ! Carmina CantaGedankenaustausch mit Kepler zu sehen. brigiensia Außerdem beteiligte sich C. an der zeitgenöss. Diskussion um den Gregorianischen Camenzind, Josef Maria, * 27.2.1904 Kalender, den er kritisch bewertete (Elenchus Gersau/Kt. Schwyz, † 19.9.1984 ImmenCalendarii Gregoriani. Ffm. 1612). Einige Wersee/Kt. Schwyz; Grabstätte: ebd. – Erke entstanden im Zusammenhang mit C.’ zähler u. Romanautor. pädagogischem Wirken, das neben dem Musik- auch Sprachunterricht umfasste, der zum Nach frühen Erfahrungen als Fabrikarbeiter Aufgabenbereich eines Kantors gehörte (u. a. fand C. Aufnahme im Gymnasium der kath. Thesaurus Latini Sermonis. Lpz. 1610). Missionsgesellschaft Bethlehem in ImmenIn seinem musikpädagogischen u. -theore- see. 1931 zum Priester geweiht, widmete er tischen Schaffen (u. a. Melopoeia sive melodiae sich anschließend als Redakteur, Lehrer u. in condendae ratio. Erfurt 1592. Exercitationes mu- verschiedenen leitenden Funktionen den Besicae duae. Lpz. 1600, u. a. mit einer Darstel- langen dieser Organisation, ohne selbst Mis-

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sionar zu werden. 1934 debütierte er als Schriftsteller mit den Erzählungen Mein Dorf am See, die er 1940 mit Jugend am See fortsetzte u. 1950 mit Europa im Dorf (alle Freib. i. Br.) abrundete: gemütvolle, sozial empfindsame, christlich orientierte Geschichten um die Menschen des Dorfes Gersau, wie er sie als Jugendlicher erlebt hatte. C. wurde in der Tradition der Innerschweizer Heimatdichtung als Nachfolger Heinrich Federers angesehen, weist aber mit seinem Reiseroman Ein Stubenhocker fährt nach Asien (Freib. i. Br. 1939. Luzern 1986) u. dem mandschurischen Roman Da-Kai (Freib. i. Br. 1959) geografisch darüber hinaus. C.s Werk, das auch als Jugendliteratur betrachtet werden kann, erlebte durch den Herausgeber Jürgen Israel 1976 u. 1979 mit zwei Auswahlbänden in der DDR (Lpz.) eine überraschende Renaissance. Weitere Werke: Schiffmeister Balz. Freib. i. Br. 1941. Luzern 1985. Lpz. 1989 (R.). – Die Brüder Sagenmatt. Einsiedeln 1943 (R.). – Der Kurgast aus Berlin. Freib. i. Br. 1964 (E.en). Charles Linsmayer / Red.

Camerarius, Joachim, eigentl.: J. Kammermeister, * 12.4.1500 Bamberg, † 17.4. 1574 Leipzig. – Klassischer Philologe, Herausgeber, Übersetzer u. Kommentator antiker Texte, Biograf, Verfasser von Schriften zu diversen Wissensgebieten (u. a. Philologie, Geschichte, Philosophie, Pädagogik, Theologie, Pharmazie), Dichter. C. war ein Sohn des Bamberger Ratsherrn u. bischöfl. Erbkämmerers Johannes Kammermeister († 1527); seine Mutter, Martha K. († 1522), entstammte einer Schweinfurter Ratsfamilie. Im April 1513 begann C. ein Studium an der Leipziger Artistenfakultät; sein Mentor war der den humanist. Bestrebungen zugeneigte Magister Georg Helt aus Forchheim. Im Sommersemester 1514, gerade erst 14 Jahre alt, absolvierte C. das Bakkalaureatsexamen. Seit 1516 studierte er Griechisch bei dem in Leipzig lehrenden Engländer Richard Crocus (Kroke), nach dessen Weggang 1517 bei dem dt. Humanisten Petrus Mosellanus. Im Aug. 1518 wechselte C. an die Universität

Camerarius

Erfurt, wo er Mitgl. des bekannten Humanistenkreises um Eobanus Hessus wurde, den er schon im Herbst 1513 in Leipzig kennengelernt hatte. In Erfurt hielt er als Gräzist seine ersten eigenen Lehrveranstaltungen ab. Zu Anfang des Jahres 1521 wurde C. unter dem Rektorat des Crotus Rubeanus (Mitverfasser der berühmten Epistolae obscurorum virorum) zum Magister promoviert. Mit den tumultuarischen konfessionellen Auseinandersetzungen, die nach dem dreitägigen Zwischenaufenthalt Luthers in Erfurt (6.8.4.1521) auf seiner Reise zum Wormser Reichstag die Stadt heimsuchten, begann der Niedergang der Universität als humanistischer Bildungsstätte. Als im Sommer dieses Jahres auch die Pest ausbrach, verließ C. Erfurt u. ging nach Wittenberg – was, abgesehen von der wiss. Attraktivität, die diese Universität, namentlich in der Person Melanchthons, auf junge, humanistisch geprägte Gelehrte damals ausübte, auch ein endgültiges Bekenntnis zur Sache der Reformation bedeutete. Zu dieser Zeit begann die enge Freundschaft mit Melanchthon, die bis zu dessen Tod 1560 andauern sollte. Auf Fürsprache Melanchthons erhielt C. zum Sommersemester 1522 die Wittenberger Quintilian-Professur. Im April 1524 begleitete er Melanchthon auf seiner Reise in seine Geburtsstadt Bretten u. reiste von dort nach Basel weiter, um Erasmus einen Besuch abzustatten. Wohl aus familiären Gründen gab er im Okt. 1524 seine Wittenberger Professur auf u. kehrte zu seinem inzwischen verwitweten Vater nach Bamberg zurück. Nach dem Ende des Bauernkrieges, den er noch in seiner Heimat erlebte, unternahm C. eine Reise ins Herzogtum Preußen, über deren Veranlassung u. Verlauf nichts bekannt ist. Auf der Rückreise besuchte er im Okt. 1525 noch einmal Wittenberg. Die ihm dort angebotene Griechisch-Professur (es war die, die bis dahin Melanchthon selbst innegehabt hatte) lehnte er ab, vermutlich wieder aus familiären Gründen, mit Rücksicht auf seinen greisen Vater, der seine Hilfe brauchte. Als sich im nächsten Jahr die Gelegenheit bot, in seiner fränk. Heimat, in Nürnberg, an dem unter Melanchthons Mitwirkung vom Rat der Stadt gegründeten Gymnasium, eine Anstellung zu

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finden, sagte er zu. Seit Mai 1526 unterrichtete er dort das Fach Griechisch; Lateinlehrer war sein Freund Eobanus Hessus. 1527 heiratete C. Anna Truchseß († 1573), mit der er neun Kinder, fünf Söhne u. vier Töchter, hatte. Die Nürnberger Schule nahm nicht die vom Rat gewünschte positive Entwicklung, teils aufgrund geringer Akzeptanz u. einer ungeeigneten Schülerschaft, teils aber wohl auch aufgrund gewisser Mängel im Lehrerkollegium, das von Erasmus in einer Publikation des Jahres 1530 scharf gerügt wurde. Eobanus Hessus verließ die Schule 1533, um zunächst wieder an seine alte Wirkungsstätte Erfurt zurückzukehren. C. behielt sein Schulamt zwei Jahre länger. 1535 folgte er einem Ruf Herzog Ulrichs von Württemberg auf die Griechisch-Professur an der Universität Tübingen. Als herzogl. Kommissar spielte er dort eine wichtige Rolle bei der Reform der Artistenfakultät u. der Neufassung der Universitäts- u. Fakultätsstatuten. Nach sechsjähriger Tätigkeit in Tübingen übernahm C. auf Vermittlung Melanchthons die Professur für Latein u. Griechisch an der Universität Leipzig, hier ebenfalls verbunden mit dem Auftrag des Landesherrn (Herzog Moritz von Sachsen), an der Reform der Universität mitzuwirken (die Universität Leipzig war gegenüber der Konkurrentin Wittenberg stark zurückgefallen). Diese Aufgabe nahm er zus. mit Caspar Borner wahr, wobei dieser sich eher Fragen der Finanzierung u. der baul. Ausgestaltung widmete, während C.’ Hauptaufgabe der Neufassung der Universitäts- u. Fakultätsstatuten wie der Lehrpläne galt. Die Reorganisation der Universität war 1543 abgeschlossen. In den 33 Jahren von seiner Berufung nach Leipzig bis zu seinem Tode 1574 war C. nicht nur die führende Gelehrtenpersönlichkeit dieser Universität. Er wirkte auch weit über den engeren akadem. Bereich hinaus: als Visitator der sächs. Fürstenschulen (Pforta, Grimma u. Meißen), als Ratgeber u. Vertrauter seiner Landesherren (der Kurfürsten Moritz u. August von Sachsen) wie als Teilnehmer an Reichstagen u. Religionsgesprächen. Sein Ansehen als kluger u. besonnener Vermittler in Glaubensdingen war so groß, dass Kaiser Maximilian II. ihn 1568 nach Wien berief, um an der Konzeption ei-

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ner für Katholiken wie Protestanten annehmbaren Kirchenordnung in den kaiserl. Erblanden mitzuwirken (das Vorhaben verlief für C. aber enttäuschend, sodass er unverrichteter Dinge aus Wien abreiste). Seine letzten Lebensjahre waren getrübt durch Krankheit (ein Nierenleiden, an dem er schließlich starb) u. Armut (seine anfänglich sehr üppig bemessene Besoldung war nie erhöht worden u. sein Vermögen durch die standesgemäße Versorgung seiner vielen Kinder zusammengeschmolzen). Sein Tod bewahrte ihn davor, noch im Alter wie andere ihm kirchenpolitisch nahestehende Persönlichkeiten aus seinem Umfeld Opfer der scharfen Verfolgungen u. Maßregelungen von Kryptokalvinisten bzw. Philippisten zu werden, die Kurfürst August seit 1574 aus orthodox-luth. Haltung vorantrieb. Als Autor u. Herausgeber war C. von enormer Produktivität u. Vielseitigkeit. Das Schriftenverzeichnis von Baron/Shaw umfasst 165 Titel aus den Jahren 1524–1574, dazu 18 aus dem Nachlass herausgegebene Werke. Ein sehr großer Teil aller Publikationen gehört in die Geschichte der Klass. Philologie: Viele Werke antiker Autoren (mehr griechische als lateinische) hat C. herausgegeben, kommentiert u. übersetzt (aus dem Griechischen ins Lateinische). Dazu kommen diverse Lehrbücher u. Abhandlungen zu diesem Fachgebiet, z.B. zur Grammatik, zur Rhetorik, zur Verslehre oder zur Orthografie. Zu ihrer Zeit sehr nützl. Hilfsmittel dürften seine Vokabularien zu verschiedenen Sachgebieten gewesen sein. Einen gewichtigen u. von der Forschung bes. beachteten Block innerhalb seiner histor. Schriften bilden seine Biografien über Eobanus Hessus (1553), Philipp Melanchthon (1566) u. Fürst Georg von Anhalt (1555). Ein Ereignis der polit. Geschichte seiner Zeit beschrieb er in der postum, in Bd. 3 (1611) von Marquard Frehers Quellensammlung Germanicarum rerum scriptores varii gedruckten Geschichte des Schmalkaldischen Krieges (in griech. Sprache). Beiträge zur Kirchengeschichte lieferte er mit einer Geschichte Jesu Christi u. der Apostel (1566), einer Geschichte des Konzils von Nikäa (1552) u. der Geschichte der Böhmischen Brüder (1605). Innerhalb der dt.

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Kunstgeschichte setzte er sich ein Denkmal mit der in den Nürnberger Jahren entstandenen lat. Übersetzung von Albrecht Dürers Proportionenlehre (Buch I/II: De symmetria partium in rectis formis humanorum corporum. 1532, mit einer Biografie Dürers, der ihm persönlich bekannt war. Buch III/IV: De varietate figurarum et flexuris partium ac gestibus imaginum. 1534). Seine Beiträge zur Theologie sind vornehmlich katechet. Charakters: Capita pietatis et religionis Christianae. 1545 (die Hauptstücke des christl. Glaubens in griech. Hexametern), Katechesis tou christianismou. Ca. 1551/52 (in lat. Übers.: Catechesis seu initia doctrinae in ecclesia Christi. 1563). Ein für C. lebenslang zentrales Thema war die Erziehung der Jugend u. ihre Anleitung zu anständigen Sitten u. einer ehrbaren Lebensform; mehrere kleinere Schriften hierzu sind in der viel gedruckten Sammlung Praecepta morum ac vitae accommodata aetati puerili zusammengefasst. Auf seine diversen Beiträge zu sonstigen, unterschiedlichsten Fachgebieten (u. a. Mathematik, Pharmazie, Meteorologie, Astronomie, Numismatik) wie auf seine Gelegenheitsprosa (akadem. Reden, Disputationen, Leichenreden) kann hier nur allg. hingewiesen werden. Des C. vielfältige, weitgespannte Beziehungen zu Zeitgenossen sind dokumentiert in einem umfangreichen Briefwechsel, den er z.T. noch selbst herausgegeben hat. Da ein Vergleich der von ihm edierten Melanchthon-Briefe mit erhaltenen Originalen erhebliche sinnverändernde Eingriffe u. Interpolationen ans Licht gebracht hat, scheint Anlass zu genereller Vorsicht bei der Beurteilung des Quellenwertes der so überlieferten Brieftexte gegeben. C.’ dichter. Werk ist nicht groß, sieht man ab von versifizierten Lehrschriften u. den noch nirgendwo bibliografisch erfassten, sicher sehr zahlreichen lat. u. griech. Gedichten, die als Beigaben zu Sammelwerken u. Publikationen anderer Autoren oder auch innerhalb von Drucken eigener Werke verstreut erschienen sind. Vornehmlich sind hier zwei Titel zu nennen: der von seinem Sohn Ludwig herausgegebene Libellus continens eclogas et alia quaedam poëmatia (1568), mit den 18 lat. u. zwei griech. Eklogen, die den Hauptteil der Sammlung bilden, ein eindrucksvolles Do-

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kument der lebenslangen Liebe des Autors zur bukol. Dichtung, u. die Elegiae hodoiporikai (1541), vier poet. Reisebeschreibungen in elegischem Maß. Das Interesse der literarhistor. Forschung an C. ist bis heute nur schwach entwickelt – zweifellos eine Folge des großen Umfangs, der Komplexität u. der fachwiss. Vielfalt seines Gesamtwerkes. Editorisch ist sein Werk kaum erschlossen, u. die bislang vorliegenden Untersuchungen, vielfach eng begrenzte Spezialfragen behandelnd, verdanken ihr Entstehen eher zufälligen persönl. Interessen ihrer Urheber als systemat. Bemühen in institutionellem Rahmen oder den Bedürfnissen einer wiss. Zeitströmung. Während seine Nürnberger Jahre seit Langem relativ gut erforscht sind, fehlt es gänzlich an spezielleren Untersuchungen zu seiner Reformtätigkeit an der Universität Tübingen. Etwas besser steht es um die Erforschung der langen Periode seiner Zugehörigkeit zur Universität Leipzig. Allerdings mangelt es hier an quellenbezogenen präzisen Untersuchungen der Inhalte seiner bislang nur in Umrissen bekannten Funktionen u. Aktivitäten innerhalb der Universität. Gar nicht erforscht sind seine über den Rahmen seiner akadem. Verpflichtungen hinausgehenden diplomat. u. konfessions- bzw. kirchenpolit. Aktivitäten v. a. seit 1541. Aus der vorhandenen Literatur ist daher nur ein schattenhaftes, ungefähres Bild von der Persönlichkeit des C. zu gewinnen: das eines etwas spröden, wenig individuelles Profil zu erkennen gebenden Philologen u. Polyhistors, der in den konfessionellen u. polit. Kämpfen seiner Zeit ähnlich wie sein Freund Melanchthon eine vermittelnde, auf Wahrung des Friedens bedachte Haltung einnahm – was aber eine dezidierte, Gegner in beiden konfessionellen Lagern herausfordernde Polemik nicht immer ausschloss, wie aus verschiedenen scharfen Äußerungen gegen die alte Kirche u. ihre Vertreter ebenso zu ersehen ist wie aus der gegen Unduldsamkeit u. Selbstgerechtigkeit der Gnesiolutheraner gerichteten Querela Martini Luteri seu Somnium (an. 1554). Ausgaben: De vita Philippi Melanchthonis narratio. Recensuit, notas, documenta, bibliothecam librorum Melanchthonis aliaque addidit Ge.

Camerarius Theodor. Strobelius. Halle 1777. – Georg der Gottselige, Fürst zu Anhalt [ = Narratio de reverendiss. et illustriss. principe Georgio]. Eine Characterschilderung aus dem Zeitalter der Reformation [...]. Nach dem beigef. lat. Texte in dt. Sprache mit geschichtl. Anmerkungen u. Erläuterungen aus Fürst Georgs Schr.en. Hg. Wilhelm Schubert. Zerbst 1853. – Ilse Pialek (verh. Mayerhöfer): J. C. u. seine Eklogendichtung. Diss. (masch.) Wien 1970 (mit Ed. u. Übers. der Texte). – Historica narratio de fratrum orthodoxorum ecclesiis in Bohemia, Moravia et Polonia [Neudr. der Erstausg. Heidelb. 1605]. In: Quellen zur Geschichtsschreibung der Böhmischen Brüder. [...]. Mit einem Vorw. v. Erich Beyreuther [...]. Hildesh./New York 1980. – Narratio de Helio Eobano Hesso. [...] (1553). Das Leben des Dichters Helius Eobanus Hessus [...]. Lat. u. dt. Mit der Übers. v. Georg Burkard hg. u. erl. v. Georg Burkard u. Wilhelm Kühlmann. Heidelb. 2003. – Die Briefe an Christoph v. Karlowitz bis zum Jahr 1553. Ed., Übers. u. Komm. [v.] Torsten Woitkowitz. Stgt. 2003. – Eclogae / Die Eklogen. Mit Übers. u. Komm. hg. v. Lothar Mundt unter Mitwirkung v. Eckart Schäfer u. Christian Orth. Tüb. 2004. – Praecepta morum ac vitae accommodata aetati puerili. Lpz. 1544 [vielmehr 1576]. Neudr., im Selbstverlag hg. v. Anton F. W. Sommer. Wien 2006. – Opuscula quaedam moralia. Francofurti 1533 [vielmehr 1583: eine v. J. Camerarius d.J. edierte Slg., die hauptsächlich Schr.en seines Vaters enthält]. Neudr., im Selbstverlag hg. v. A. F. W. Sommer. Wien 2006. – Epistolae familiares. 1583. Neudr., im Selbstverlag hg. v. A. F. W. Sommer. 2 Bde., Wien 2006. Literatur: Bibliografien: [Georgius Summerus]: Catalogus continens enumerationem omnium librorum et scriptorum tam editorum quam edendorum [...] Ioachimi Camerarii. Danzig 1646; erg. Nachdr. in: Johannes Albertus Fabricius: Bibliotheca Graeca. Bd. 13, Hbg. 1746, S. 493–532. – Frank Baron u. Michael H. Shaw: The publications of J. C. In: J. C. (1500–74). Beiträge zur Gesch. des Humanismus im Zeitalter der Reformation. Hg. F. Baron. Mchn. 1978, S. 231–251. – Index Aureliensis. Prima pars. Tomus VI, Baden-Baden 1976, S. 315–335. – VD 16, C 340–557. – Karl Halm: Verzeichniss der handschriftl. Slg. der Camerarii in der k. Staatsbibl. zu München. Mchn. 1874. – Forschungsliteratur: Heinrich Wilhelm Heerwagen: Zur Gesch. der Nürnberger Gelehrtenschulen in dem Zeitraume v. 1485 bis 1526. Progr. Nürnb. 1860. – Ders.: Zur Gesch. der Nürnberger Gelehrtenschulen in dem Zeitraume v. 1526 bis 1535. 1. u. 2. Hälfte. Progr. Nürnb. 1867–1868. – Heinrich Julius Kämmel: J. C. in Nürnberg. Ein Beitr. zur Gesch.

340 der pädagog. Bestrebungen des 16. Jh. Progr. Zittau 1862. – [August] v. Druffel: Die Melanchthon-Hss. der Chigi-Bibliothek. In: Sitzungsber.e der philosophisch-philolog. u. histor. Classe der [...] Akademie der Wiss.en zu München. Jg. 1876. Mchn. 1876, S. 491–527. – Wilhelm Meyer: Ueber die Originale v. Melanchthons Briefen an C. u. Melanchthons Brief über Luthers Heirath. Ebd., S. 596–606. – Friedrich Ritschl: Bio-bibliographisches zu C.’ Plautus-Studien. In: Ders.: Opuscula philologica. Bd. 3, Lpz. 1877, S. 67–119. – Carl Krause: Helius Eobanus Hessus. Sein Leben u. seine Werke. Ein Beitr. zur Cultur- u. Gelehrtengesch. des 16. Jh. 2 Bde., Gotha 1879. Neudr. Nieuwkoop 1963. – Felix Seckt: Über einige theolog. Schr.en des J. C. In: Jahres-Ber. über das Kgl. FriedrichWilhelms-Gymnasium u. die Kgl. Vorschule zu Berlin. Ostern 1888. Bln. 1888 (= Programm Nr. 55), S. 3–31. – Georg Ellinger: Jakob Micyllus u. J. C. Zwei nlat. Dichter. In: Neue Jbb. für das klass. Altertum, Gesch. u. dt. Lit. u. für Pädagogik 24 (1909), S. 150–173. – Friedrich Stählin: Humanismus u. Reformation im bürgerl. Raum. Eine Untersuchung der biogr. Schr.en des J. C. Lpz. 1936. – Eva Mayer: Daniel Stiebar v. Buttenheim u. J. C. In: Herbipolis jubilans. 1200 Jahre Bistum Würzburg. Würzb. 1952, S. 485–499. – Hermann Wendorf: J. C. (1500–74). In: Herbergen der Christenheit 1 (1957), S. 34–87. – Gerhard Pfeiffer: J. C. d.Ä. In: Fränk. Lebensbilder. Bd. 7, Neustadt/Aisch 1977, S. 97–108. – J. C. (1500–74). Beiträge zur Gesch. des Humanismus im Zeitalter der Reformation. Hg. u. eingel. v. F. Baron. Mchn. 1978. – Eckart Schäfer: Bukolik u. Bauernkrieg. J. C. als Dichter. Ebd., S. 121–151. – Timothy J. Wengert: ›With friends like this ...‹ The biography of Philip Melanchthon by J. C. In: The rhetorics of life-writing in early modern Europe. Forms of biography from Cassandra Fedele to Louis XIV. Hg. Thomas F. Mayer u. D. R. Woolf. Ann Arbor 1995, S. 115–131. – Torsten Woitkowitz: Die Freundschaft zwischen Philipp Melanchthon u. J. C. In: Philipp Melanchthon u. Leipzig. Beiträge u. Kat. zur Ausstellung. Hg. Günther Wartenberg. Lpz. 1997, S. 29–39. – Carol Annette Staswick: J. C. and the republic of letters in the age of reformation. Ann Arbor 1998 [Mikrofiche]. – Stephan Kunkler: Zwischen Humanismus u. Reformation. Der Humanist J. C. (1500–74) im Wechselspiel v. pädagog. Pathos u. theolog. Ethos. Hildesh./Zürich/New York 2000. – Gerlinde Huber-Rebenich: Officium amicitiae. Beobachtungen zu den Kriterien frühneuzeitl. Briefslg.en am Beispiel der v. J. C. hg. Hessus-Korrespondenz. In: Mentis amore ligati. [...]. Hg. Boris Körkel u. a. Heidelb. 2001, S. 145–156. – Lothar Mundt: Die sizil. Musen in Wittenberg. Zur religiösen Funk-

341 tionalisierung der nlat. Bukolik im dt. Protestantismus des 16. Jh. In: Die Musen im Reformationszeitalter. Hg. Walther Ludwig. Lpz. 2001, S. 265–288. – J. C. Hg. Rainer Kößling u. Günther Wartenberg. Tüb. 2003. Lothar Mundt

Camerarius d.J., Joachim, * 6.11.1534 Nürnberg, † 11.10.1598 Nürnberg. – Arzt u. Botaniker. Der Sohn von Joachim Camerarius d.Ä. studierte nach dem Besuch des Gymnasiums von Schulpforta Medizin in Wittenberg u. Leipzig sowie – nach einem zweijährigen Aufenthalt bei Crato von Kraftheim in Breslau – in Padua u. Bologna (Dr. med. 27.7.1562). 1564 wurde er Stadtarzt in Nürnberg, wenig später auch Leibarzt des Bamberger Fürstbischofs Veit von Würtzburg. In Nürnberg setzte sich C. mit seinen Kollegen Volcher Coiter u. Georg Palma seit 1571 für eine Neuordnung des Gesundheitswesens ein, die 1592 in der Nürnberger Medizinalordnung ihren Abschluss fand. Im gleichen Jahr wählte man C., der sich mehrmals als Antiparacelsist gegen seinen Nürnberger Kollegen, den Paracelsusanhänger Heinrich Wolff, gestellt hatte, zum Dekan des neu gegründeten Collegium Medicum. Neben seiner medizin. Tätigkeit widmete sich C. vornehmlich botan. Studien. Er wechselte Briefe u. a. mit Jacques Daléchamps, Caspar Bauhin, Carolus Clusius, Konrad Gessner u. Johannes Posthius u. wirkte als botan. Berater Landgraf Wilhelms IV. von Hessen-Kassel. In Nürnberg kultivierte C. seit 1564 einen eigenen botan. Garten, den er aus dem Besitz des Apothekers Georg Öllinger übernommen hatte; vermutlich war dieser Garten Vorbild für sein Werk Hortus medicus et philosophicus (Ffm. 1588). Ob das sog. Camerarius-Florilegium (Blumenbuch), eine zwischen 1576 u. 1589 angelegte Sammlung von Pflanzenbildern, auf C. u. seinen Garten zurückzuführen ist, bleibt trotz der Studie von Vogellehner ungeklärt. Wirkmächtig waren v. a. seine lat. wie dt. Kommentare zu den Dioskurides-Ausgaben des ital. Arztes Pietro Andrea Mattioli, die er gemeinsam mit seinem Neffen Joachim Jungermann erarbeitete. 1586 erschien in

Camerarius d.J.

Frankfurt/M. De plantis Epitome utilissima zus. mit der dt. Übertragung Kreutterbuch, die den Text des Dioskurides auch Laienkreisen zugänglich machte (bis 1678 6 weitere Aufl.n). In beiden Werken veröffentlichte C. Vorzeichnungen aus dem von ihm 1580 aus dem Nachlass Gessners erworbenen Manuskript Historia plantarum; die restl. Abbildungen sind den Commentarii in libros sex Pedanii Dioskoridis de materia medica (1554) des Mattioli entnommen. Gleichfalls bedeutsam wurde das von 1590 (recte 1593) bis 1604 erschienene EmblemataWerk Symbolorum et emblematum [...] centuriae IIV (Neudr., hg. v. Wolfgang Harms u. UllaBritta Kuechen. Graz 1988). Es beschrieb die Sinnbilder der Pflanzen-, Tier-, Vogel- u. Wassertierwelt u. diente als Vorbild späterer Emblemata-Werke. Der Briefwechsel u. die Biografie des C. haben noch keine zusammenfassende Bearbeitung erfahren (s. CP I). Weitere Werke: [Übers. ins Lat.] Batholomaeus Maranta. De theriaca. Ffm. 1576. – Synopsis [...] commentariorum de peste. Nürnb. 1583. Literatur: Eleonore Schmidt-Herrling: Die Briefslg. des Nürnberger Arztes Christoph Jacob Trew (1695–1769). Erlangen 1940. – Klaus G. König: Der Nürnberger Stadtarzt Dr. Georg Palma. Stgt. 1961. – Claus Nissen: Die botan. Buchillustration. Stgt. 21961. – Pierre Jacquet: Les botanistes lyonnais du XVIème siècle. In: Bulletin Mensuel de la Société Linnéenne de Lyon 65, Suppl. 5 (1966), S. 1–85. – Gerhard Fichtner: Neues zu Leben u. Werk v. Leonhart Fuchs aus seinen Briefen an J. C. I. u. II. in der Trew-Slg. In: Gesnerus 25 (1968), S. 65–82. – John Landwehr: German Emblem Books 1531–1888. A Bibliography. Utrecht 1972, Nr. 162–176. – Karl Gröschel: Des C.’ Entwurf einer Nürnberger Medizinalordnung. Diss. Mchn. 1977. – Wolf-Dieter Müller-Jahncke: Der ›lathein. außgestrichene Matthiolus‹ Landgraf Wilhelms IV. v. Hessen-Kassel u. sein Schicksal. In: Pharmazeut. Ztg. 128 (1983), S. 357–361. – Ingrid Häpel: Emblem u. Sinnbild. Ffm. 1987. – Klaus Karrer: Johannes Posthius. Verz. der Briefe u. Werke mit Regesten u. Posthius-Bibliogr. Wiesb. 1993. – Konrad Wickert: Das C.-Florilegium. Erlangen 1993. – CP I. – Dieter Vogellehner [Einl.]: C.-Florilegium. 2004 (CD-ROM). – Christoph Friedrich u. W.-D. Müller-Jahncke: Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Eschborn 2005 (Gesch. der Pharmazie Bd. 2). Wolf-Dieter Müller-Jahncke

Camerarius

Camerarius, Philipp, * 16.5.1537 Tübingen, † 23.6.1624 Nürnberg. – Späthumanistischer Polyhistor.

342 Literatur: Johann G. Schelhorn: De vita, fatis ac meritis P. C. Nürnb. 1749. – Steffenhagen: C. In: ADB. – Harold Jantz: The Renaissance Essays of P. C. In: FS Hans-Gert Roloff. Bern 1983, S. 315–327. – Emilio Bonfatti: ›Noctes noricae‹. Joachim Camerarius d.J. u. Guido Pancirollis Raccolta Breve (1599). In: Nürnb. u. Italien. Begegnungen, Einflüsse u. Ideen. Hg. Volker Kapp u. Frank-Rutger Hausmann. Tüb. 1991, S. 195–211. – Wilhelm Kühlmann: Polyhistorie jenseits der Systeme. Zur funktionellen Pragmatik u. publizist. Typologie frühneuzeitl. Buntschriftstellerei. In: Erschließen u. Speichern v. Wissen in der Frühen Neuzeit. Formen u. Funktionen. Hg. Frank Grunert u. Anette Syndikus. Bln. 2007. Wilhelm Kühlmann

Der Sohn des berühmten Humanisten Joachim Camerarius besuchte die Landesschulen in Pforta u. Meißen u. studierte an den Universitäten von Leipzig, Tübingen (1559) u. Straßburg (1560–1562). Auf der anschließenden Bildungsreise nach Italien wurde er in Rom zeitweise von der Inquisition eingekerkert (1565), was großes Aufsehen bei den Zeitgenossen hervorrief. Nach der Promotion zum Dr. jur. (Basel 1569) wirkte C. in Nürnberg als Ratskonsulent u. von 1581 bis zu seinem Tod als erster Prokanzler der UniverCampe, Joachim Heinrich, * 29.6.1746 sität Altdorf. Deensen bei Holzminden, † 22.10.1818 Autobiografische Erinnerungen u. eigene Braunschweig; Grabstätte: ebd., Viewegs Hochschulreden nahm C. in ein Werk auf, das Garten. – Evangelischer Theologe, Pädaaus der lat. Fassung auch ins Deutsche, Enggoge, Verleger u. Jugendschriftsteller, lische u. Französische übersetzt wurde: OpeSprachforscher. rae Horarum Subcisivarum sive Meditationes Historicae (Centuria I-II, Ffm. 1591. Vermehrt An kaum einem anderen Menschen zeigen 1602–09, 1615–18 u. ö. Dt.: Historischer Lust- sich die vielfältigen, oft gegensätzl. Strögarten. 1625. Frz. Paris/Lyon 1608, 1610. mungen der Zeit vor u. nach 1800 deutlicher Engl. als The walking bzw. The living librarie. als an C.: Auseinandersetzungen zwischen London 1621, 1625). Typologisch schließt Adel u. Bürgertum, Ausrichtung auf frz. sich das Werk an die Tradition der antiken Sprache u. Kultur, Kosmopolitismus u. PaPolyhistorie (Gellius, Athenaeus) an u. gehört triotismus, religiöse Traditionen, aufgeklärzum Spektrum der mit der Spätrenaissance tes Denken u. Sehnsucht nach dem »einfaaufkommenden weit gefächerten Konversa- chen Leben«. Die Konflikte, die C.s Leben tionsliteratur. In topologischer, jedoch be- bestimmten, waren schon im Elternhaus angelegt: Sein Vater, der Kaufmann Burchard wusst um Abwechslung bemühter Ordnung Hilmar Campe, hatte auf den angestammten der Themen liefert C. kompilatorisch angeAdelstitel verzichtet u. gegen den Widerstand reicherte Essays in der Einheit von »historia seiner Verwandten eine bürgerl. Pfarrerscivilis« u. »historia naturalis«. Die Urteilstochter geheiratet. bildung des Publikums soll durch kompenNach dem Besuch der Klosterschule in dienhaft gesammelte »Fremderfahrung« mit Holzminden (1760–1765) studierte C. in den Exempeln, den Memorabilien u. dem Helmstedt (1765–1768) u. Halle (1768/69) akademischen wie außerakadem. Faktenwis- evang. Theologie u. Philosophie. Danach sen der Vergangenheit u. der Gegenwart un- konnte er sich viele Jahre nicht entscheiden, terstützt u. angeregt werden. Philosophisch- ob er eher Theologe oder Pädagoge werden systematische wie auch moralistisch-erbaul. sollte. Zunächst ging er als Hauslehrer Ziele treten zugunsten einer empirisch ori- (»Hofmeister«) ins Tegeler Schloss der entierten, in erzählten Exempeln verdichte- Humboldts (1769–1773). Dann war er Feldten Vermittlung von Kenntnissen zurück. prediger in Potsdam, hatte aber zunehmend Politische, histor., naturkundl. Ausführun- Schwierigkeiten mit seinem Amt (vgl. Philogen bildeten eine von vielen Zeitgenossen sophische Gespräche über die unmittelbare Behoch geschätzte »tragbare Bibliothek«. kanntmachung der Religion und über einige unzulängliche Beweisarten derselben. Bln. 1773). 1775 Ausgaben: Textausw. in: CAMENA.

343

gab er deshalb sein Predigeramt auf u. kehrte als Erzieher von Alexander u. Wilhelm von Humboldt nach Tegel zurück. 1776 wurde er wieder Prediger, diesmal an der Heiliggeistkirche in Potsdam, trat dann jedoch im neu errichteten Dessauer Philanthropinum, der damals bekanntesten Erziehungsanstalt Deutschlands, die Stelle eines »Educationsrathes« an. Ein Jahr später übernahm er die Leitung der Anstalt, verließ aber kurz darauf Dessau u. ging nach Hamburg. Hier gründete er eine eigene Erziehungsanstalt, arbeitete in ländl. Umgebung (Billwerder) nach Rousseau’schem Vorbild (Emile) als Erzieher reicher Kaufmannssöhne u. gab Jugend- u. Erziehungsschriften heraus, die ihn sehr bekannt machten. Sein Robinson der Jüngere (Hbg. 1779. Neu hg. nach dem Erstdr. v. Alwin Binder u. Heinrich Richartz. Stgt. 1981. 2000. Zuletzt Stgt. 2005), eine aufklärerische, pädagog. Ideale spiegelnde freie Bearbeitung von Daniel Defoes Robinson Crusoe, wurde ein Welterfolg. Schon wenige Jahre nach dem Erscheinen des Buchs lagen Übersetzungen in alle europ. Sprachen vor. Noch heute wird C.s Jugendroman immer wieder neu aufgelegt. Nach längeren Reisen durch Deutschland u. die Schweiz ging C. 1786 nach Braunschweig, um dort als »Hochfürstlicher Schulrath« im Dienste des Braunschweiger Herzogs das Erziehungswesen zu erneuern. Sein fortschrittl. Programm umfasste sechs Forderungen: Umwandlung der Volksschulen in Gewerbeschulen; eine an der tägl. Praxis orientierte Ausbildung der Landprediger; Duldung aller Religionen; Veränderung der polit. Führung des Volkes weg von Befehlen u. hin zur Einsicht; Einrichtung einer dezentralen patriot. Gesellschaft mit politisch beratender Funktion; angemessene Erziehung auch der Mädchen. Nach Schwierigkeiten mit den Kirchen- u. Schulbehörden, denen C.s Vorstellungen zu weit gingen, musste er seine Reformversuche aufgeben (seine Stelle als Schulrat behielt er bis 1805). Er übernahm die Leitung der Braunschweigischen Schulbuchhandlung, die er mit verlegerischem Geschick zu einem wirtschaftlich erfolgreichen Unternehmen machte.

Campe

Im Aug. 1789 reiste C. in Begleitung Wilhelm von Humboldts nach Paris, um »dem Leichenbegängniß des französischen Despotismus« (Briefe aus Paris, zur Zeit der Revolution geschrieben. Braunschw. 1790. Neudr. Hildesh. 1977, S. 4) aus nächster Nähe beizuwohnen. Er begeisterte sich für die Ideale der Revolution u. bekam von deren Repräsentanten (zus. mit Washington, Klopstock, Schiller u. Pestalozzi) den Ehrenbürgerbrief der frz. Republik verliehen. In Deutschland jedoch wurde er, trotz eines gemäßigten Vorwortes in der Buchaussage seiner Briefe aus Paris, als Vaterlandsverräter angefeindet. In der Folgezeit konzentrierte sich C. auf die »Reinigung« des Deutschen von fremdsprachl. Einflüssen (Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. 2 Bde., Braunschw. 1801. Neuausg. 1813. Zuletzt Hildesh. u. a. 2000), was ihm von einigen Zeitgenossen u. später auch von der Forschung als eine patriot. Wende ausgelegt wurde. 1807 wurde C. als Deputierter Braunschweigs in Kassel, der Hauptstadt des von Napoleon gegründeten Königreichs Westfalen, wieder politisch tätig. Danach zog er sich ganz ins Privatleben zurück; die Leitung der Braunschweigischen Schulbuchhandlung hatte er schon vorher an seinen Schwiegersohn Hans Friedrich Vieweg abgegeben. 1809 wurden ihm noch einmal theolog. Ehren zuteil: Die Universität Helmstedt ernannte ihn zum Ehrendoktor der Theologie. Eine erste Gesamtausgabe seiner Kinder- und Jugendschriften in 30 Bänden erschien 1806–1809 in Braunschweig. Nicht der Theologe C. wurde Zeitgenossen u. der Nachwelt bekannt, sondern der Pädagoge u. Jugendschriftsteller. Zunehmend wird auch der Sprachforscher u. -kritiker gewürdigt. Wie v. a. die Preisschrift Ueber die Reinigung und Bereicherung der deutschen Sprache (Braunschw. 1794) zeigt, verfolgte C. zunächst mit seinen Verdeutschungen das Ziel, Allgemeinverständlichkeit u. Öffentlichkeit durch die Schaffung eines durchsichtigen polit. Wortschatzes (vgl. z.B. die Verdeutschung »Alleinherrschaft« für Monarchie) herzustellen. Später strebte er danach, alle Fremdwörter zu ersetzen, was ihm den Vor-

Campe

wurf des Purismus eingebracht hat. In ihren Xenien haben Goethe u. Schiller ihn deshalb in mehreren Distichen verspottet, etwa unter der Überschrift Der Purist: »Sinnreich bist du, die Sprache von fremden Wörtern zu säubern, / Nun so sage doch, Freund, wie man Pedant uns verdeutscht.« C. antwortete darauf schlagfertig: »Gib, auf meine Gefahr, ihm deinen eigenen Namen; / Trifft er nicht jegliche Art, eine trifft er gewiß.« Von den ca. 11.000 Verdeutschungsvorschlägen C.s haben sich »nur« ca. 200 durchgesetzt. In erklärter Konkurrenz zu Adelung konzipierte C. sein großes Wörterbuch der deutschen Sprache (5 Bde., Braunschw. 1807–11). Es enthält zwar sehr viel mehr Einträge (141.277) als das von Adelung (55.181), ist aber nach heutiger wiss. Auffassung lexikografisch schlechter gearbeitet (vgl. Henne 1975). Gleichwohl stellt es, zus. mit den anderen Arbeiten C.s zur Sprache, insbes. auch denen zur Standardisierung des Deutschen, ein wichtiges zeit- u. sprachgeschichtl. Dokument dar. C. wirkte als Mitarbeiter u. Herausgeber einer großen Zahl pädagog. Werke. Die breit angelegte Schriftenreihe Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher (15 Tle., Hbg. 1785–91) war der erste Versuch einer krit. Bestandsaufnahme des gesamten pädagog. Wissens der damaligen Zeit. C.s pädagog. Lehren waren ganz auf vernünftiges u. nützl. Handeln zum Wohl der Gesellschaft ausgerichtet. So maß er der Einführung des Kartoffelanbaus größeren Wert bei als den Dichtungen Homers. Durch angenehme Unterhaltung suchte er seine jugendl. Leser zu vernünftigem Lebenswandel anzuhalten. Seine Beispiele nahm er aus der tägl. Lebenswelt der Kinder. Erziehungsziel war »der produktiv tätige, religiös denkende, nach sittlicher Vervollkommnung strebende und politisch verantwortungsbewusste Bürger: der neue Typus Mensch der Aufklärung« (Stach, 1978, S. 472). Weitere Werke: Die Empfindungs- u. Erkenntnißkraft der menschl. Seele. Lpz. 1776. – Sittenbüchlein für Kinder aus gesitteten Ständen. Dessau 1777. – Neue Methode, Kinder auf eine leichte u. angenehme Weise lesen zu lehren. Altona 1778. – Über Empfindsamkeit u. Empfindelei in

344 pädagog. Hinsicht. Hbg. 1779. – Versuch eines Leitfadens beim christl. Religionsunterricht für die sorgfältiger gebildete Jugend. Braunschw. 1780. – Kleine Seelenlehre für Kinder. Hbg. 1780. – Die Entdeckung v. Amerika. Ein angenehmes u. nützl. Lesebuch für Kinder u. junge Leute. 3 Tle., Hbg. 1781/82. – Theophron oder der erfahrene Rathgeber für die unerfahrene Jugend. Hbg. 1783. – Geograph. Kartenspiel v. Dtschld. Hbg. 1784. – Slg. interessanter u. zweckmäßig abgefaßter Reisebeschreibungen für die Jugend. 12 Bde., Hbg. 1785–93. – Über einige verkannte, wenigstens ungenützte Mittel zur Beförderung der Industrie, der Bevölkerung u. des öffentl. Wohlstandes. 2 Fragmente. Wolfenb. 1786. Neudr. Ffm. 1969. – Über das Zweckmäßige u. Unzweckmäßige in den Belohnungen u. Strafen. Braunschw. 1788. – Braunschweigisches Journal. Braunschweig 1788–91. – Väterl. Rat für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron. Ffm. u. Lpz. 1789. – Proben einiger Versuche v. dt. Sprachbereicherung. Braunschw. 1791. – Beiträge zur weiteren Ausbildung der dt. Sprache v. einer Gesellsch. v. Sprachfreunden. 3 Bde., Braunschw. 1795–97. – Versuch einer genauern Bestimmung u. Verdeutschung der für unsere Sprachlehre gehörigen Kunstwörter. Braunschw. 1804. – Abeze- u. Lesebuch. Braunschw. 1807. Ausgabe: Briefe v. u. an J. H. C. Bd. 1: Briefe v. 1766–88. Hg., eingel. u. komm. v. Hanno Schmitt. Wiesb. 1996. Bd. 2: Briefe v. 1789–1814. Hg., eingel. u. komm. v. H. Schmitt, Anke LindemannStark u. Christophe Losfeld. Wiesb. 2007. Literatur: Jakob Anton Leyser: J. H. C. Ein Lebensbild aus dem Zeitalter der Aufklärung. 2 Bde., Braunschw. 1877. – Carl Arnold: J. H. C. als Jugendschriftsteller. Diss. Lpz. 1905. – Reinhard Stach: Robinson d.J. als pädagogisch-didakt. Modell des philanthropist. Erziehungsdenkens. Ratingen 1970. – Helmut Henne: Einf. u. Bibliogr. zu J. H. C., Wörterbuch der dt. Sprache. In: Dt. Wörterbücher des 17. u. 18. Jh. Hg. ders. Hildesh. 1975, S. 143–168. – Ludwig Fertig: C.s polit. Erziehung. Eine Einf. in die Pädagogik der Aufklärung. Darmst. 1977. – Reinhard Stach: Nachw. zur Neuausg. v. ›Robinson d.J.‹. Ffm. 1978. – Hanno Schmitt: Schulreform im aufgeklärten Absolutismus. Leistungen, Widersprüche u. Grenzen philanthrop. Reformpraxis im Hzgt. BraunschweigWolfenbüttel 1785–1790. Weinheim/Basel 1979. – Franz Hebel: Grenzen der Aufklärung. Die zwiespältige Wirkung der Literarität in J. H. C.s ›Robinson d.J.‹. In: DU 36 (1984), S. 38–50. – Edeltraud Dobnig-Jülch: Von einem, der auszog die Sprache zu ändern. Ein erster Blick auf J. H. C.s

Canetti

345 Sprachveränderungsakte. In: Neuere Forsch.en zur Wortbildung u. Historiographie der Linguistik. Hg. Brigitte Asbach-Schnitker u. Johannes Roggenhofer. Tüb. 1987, S. 353–365. – Jürgen Schiewe: Sprachpurismus u. Emanzipation. J. H. C.s Verdeutschungsprogramm als Voraussetzung für Gesellschaftsveränderungen. Hildesh. 1988. – Visionäre Lebensklugheit. J. H. C. in seiner Zeit (1746–1818). Ausstellung u. Kat. v. H. Schmitt. Wiesb. 1996. – Sibylle Orgeldinger: Standardisierung u. Purismus bei J. H. C. Bln./New York 1999. Bernd Naumann / Jürgen Schiewe

Candidus, Pantaleon, eigentl.: P. Weiss, * 7.10.1540 Ybbs/Österreich, † 3.2.1608 Zweibrücken. – Reformierter Theologe; Verfasser neulateinischer historischer Epen u. Gedichte.

überführt er hier Fabeln der äsop. Tradition in einen lyr. Zyklus horazischer Oden, wobei er – vielleicht beeinflusst durch die vordringenden Emblembücher – die Gedichtgruppen nach Handlungsträgern ordnete. Weitere Werke: Catechesis doctrinae christianae carmine reddita. Wittenb. 1564 u. ö. – Elegiae precationum. Wittenb. 1570. – Christl. u. Nothwendige Erklärung deß Catechismi. Neustadt a. d. H. 1578. Nachdr. Zweibrücken o. J. [2000]. – Liber proverbiorum Salomonis. Straßb. 1588. – Epigrammatum sacrorum libri duodecim. Genf 1589. – Carminum sacrorum liber unus. Heidelb. 1589. – Epitaphia antiqua et recentia. Straßb. 1600. – Orationes funebres. Zweibrücken 1606. Ausgaben: Textausw. in: CAMENA. Literatur: Friedrich Butters: P. C. Ein Lebensbild. Programm Zweibrücken 1864/65. – Arthur Ludwig Stiefel: Die fabulae des P. C. u. ihre Quellen. In: Archiv 64, Bd. 125, Neue Serie Bd. 25 (1910), S. 102–127. – Georg Biundo: C. In: NDB. – Adalbert Elschenbroich: Sammeln u. Umgestalten aesop. Fabeln bei den Neulateinern des 16. Jh. In: Daphnis 14 (1985), bes. S. 51–56. Wilhelm Kühlmann

Bereits in jungen Jahren erlebte C. die Bedrängnis der von den Habsburgern unterdrückten Protestanten u. musste mit seinem Lehrer zeitweilig nach Ungarn u. in die Oberpfalz (Amberg) ausweichen. Während des Studiums in Wittenberg (immatrikuliert 1558, Magister 1564) schloss er sich bes. Melanchthon an. Seit 1565 wirkte C. in ZweiCanetti, Elias, * 25.7.1905 Rustschuk/Dobrücken, zunächst als Schullehrer, später als nau (heute: Russe, Rousse/Bulgarien), † Diakon u. Superintendent (1571). In dieser 14.8.1994 Zürich. – Romancier, DramatiZeit nahm er – manchmal in seiner dogmat. ker, Aphoristiker u. Anthropologe. Überzeugung schwankend – regen Anteil an den innerprotestant. Auseinandersetzungen. Nicht nur als Nobelpreisträger ein Autor der Er unterstützte die Übernahme eines gemä- Weltliteratur, hat es C. von Anfang an verßigten Calvinismus. C.’ Werk umfasst neben standen, seine Leser u. die Kritik auf sein stets histor. Arbeiten, Predigten, Kasuallyrik u. mit Entschiedenheit formuliertes Selbstbild religiöser Versdichtung auch zwei umfang- einzuschwören. Wie bei wenigen dt. Autoren, reiche histor. Epen. Mit beachtenswerten darin vielleicht nur Goethe vergleichbar, ist Exkursen u. in offenkundiger Spekulation seine Selbststilisierung derart erfolgreich geauf die Interessen des Kaiserhauses widmete wesen, dass sie die Publikumsreaktionen der er sich darin der Geschichte Böhmens (Bohe- Mit- wie der Nachwelt auch noch im Negatimais, hoc est de Ducibus bohemicis libro duo, de ven bestimmt u. vorhersehbar gemacht hat. regibus bohemicis libri quinque ad D. Rudolphum Aufgrund dieser fraglosen Selbstgewissheit II. Straßb. 1587) u. der Rolle der Westgoten in konnte daher auch sein durch die Katastroder Geschichte Spaniens (Gotiberis, hoc est de phen des Jahrhunderts verzögerter WelterGoticis per Hispaniam regibus e teutonica gente folg beinahe wie etwas Notwendiges, ja Unoriginem habentibus libri sex. Straßb. 1587). Be- ausweichliches erscheinen. Aber neben der merkenswerten artist. Ehrgeiz bewies C. in Konfiguration seiner »Grundbegriffe« – geseinen Centum et Quinquaginta Fabulae carmi- gen die Akzeptanz des Todes, der mit der nibus explicatae (Ffm. 1604. Abgedr. in Delitiae Macht u. den Machthabern verschwistert ist, Poetarum Germanorum. Hg. Janus Gruter. u. im Gegenzug für das Studium u. die Praxis Bd. 2, Ffm. 1612, S. 105–176). In geschickter der »Verwandlung«, um so die vom »Chaos Auswahl, den didakt. Gehalt akzentuierend, der Welt« schon immer bedrohte »Fluidität

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des Lebendigen« (Stieg 1988) zu retten – ist es die ungewöhnl. Herkunft, die diesen Autor u. sein Werk seit dem Erscheinen der Autobiografie für viele mit einem geradezu exot. Reiz ausgestattet hat. C.s Eltern Jacques u. Mathilde Canetti, geb. Arditti, waren Juden sephardischer Herkunft, »Spaniolen«, deren Vorfahren nach 1492 aus Spanien v. a. nach Südosteuropa eingewandert waren. Jacques Canetti wurde im türk. Edirne (Adrianopel) geboren. Inmitten des bulgarisch-türk. bzw. christlich-jüdisch-islamischen Milieus der Handelsstadt an der Donau, an der Grenze zu Rumänien, hielt die traditionsbewusste Kaufmannsfamilie streng u. nicht ohne Stolz auf ihre kulturelle Eigenart, u. diese prägte die Kindheit des Autors entscheidend mit, v. a. auch seine sprachl. Sozialisation. Deutsch war ausschließlich die »Zaubersprache« der Eltern, die in Wien zur Schule gegangen waren, mit den Kindern wurde in dem altspan. Idiom gesprochen, die Umgebung sprach bulgarisch u. jiddisch, auch rumänisch u. griechisch. Im Juni 1911 übersiedelte die Familie nach Manchester, wo C. die Schule besuchte. Nach dem plötzl. Tod des Vaters 1911 ging Mathilde Canetti mit Elias u. den beiden jüngeren Brüdern Georg u. Nissim 1913 nach Lausanne, wo sie dem Achtjährigen unter »Hohn und Qualen« die ersten Deutschkenntnisse vermittelte. Die Fremdsprache Deutsch wurde so in einem ganz wörtl. Sinn zu seiner Mutter-Sprache. Seit Herbst 1913 lebte die Familie in Wien, u. C. erlebte hier den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in einer Wiener Volksschule auch dessen propagandist. Begleitung. Während der strenge Großvater auf dem Besuch der Talmud-ThoraSchule bestand, um die Beziehung des Jungen zur jüd. Tradition u. Kultur zu festigen, war der literar. Einfluss der entschieden assimilierten Mutter wirksamer; er rückte die ausgedehnte Lektüre klass. Dichtung in den Mittelpunkt von C.s Interesse. Die verehrten Autoren der Mutter waren Shakespeare, Schiller u. Strindberg. Im Sommer 1916 zog die Familie auf der Flucht vor den Kriegsfolgen nach Zürich, wo C. ab 1917 das Realgymnasium der Kantonschule besuchte. Die »einzig vollkommen glücklichen Jahre« im

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Zürcher »Paradies« endeten im Herbst 1921, als man auf Drängen der Mutter nach Frankfurt/M. übersiedelte, wo die Familie in einer Pension wohnte u. der Schüler mit den Tumulten u. Unruhen der Nachkriegszeit konfrontiert wurde. 1924 legte er am Frankfurter Wöhler-Realgymnasium das Abitur ab, u. im Herbst begann er ein Studium an der Universität Wien mit dem Hauptfach Chemie. Entscheidend wurde in diesen Jahren C.s Begegnung mit Karl Kraus, den er 1924 zum ersten Mal bei einer Lesung gehört hatte u. als dessen »ergebener Sklave« er sich bald sah. Unter der auch rhetor. Führung dieser unbedingten Autorität rückten bereits während der Studienjahre zentrale Aspekte des späteren Werkes in den Blickpunkt, v. a. die Faszination, die von Phänomenen der »Masse« ausging. Zu einem Schlüsselerlebnis wurden der Brand des Wiener Justizpalastes am 15.7.1927 u. die damit verbundenen blutigen Zusammenstöße zwischen Polizei u. Demonstranten; zu den ersten Erlebnissen dieser Art hatten die große Demonstration aus Anlass der Ermordung Rathenaus, die der Schüler 1922 in Frankfurt beobachtete, aber auch die legendären Vortragsabende von Karl Kraus vor einem Massenpublikum in überfüllten Sälen gehört (»eine Hetzmasse aus Intellektuellen«); hinzu kam nicht zuletzt der tägl. Blick auf die Nervenheilanstalt Steinhof (»wo 6000 Irre lebten«) aus dem Fenster seines im April 1927 gemieteten Zimmers am Stadtrand in Hacking, Eindrücke, die entscheidend waren für den Schriftsteller C., der überhaupt nur aus solcher Anschauung heraus schrieb – ein Realist besonderer Art, der von einem Begriff wie »Realismus« kaum je Gebrauch machte. Der Student wohnte seit 1926 alleine in Wien, nachdem die Mutter mit den jüngeren Geschwistern nach Paris gezogen war. Bei Sommeraufenthalten in Berlin 1928 u. ein zweites Mal nach der Wiener Promotion zum Dr. phil. 1929 lernte C. eine Reihe von Künstlern u. Autoren wie George Grosz u. John Heartfield, Brecht, Isaak Babel u. den Rezitator Ludwig Hardt kennen, u. er erhielt von Herzfeldes Malik-Verlag den Auftrag, drei Romane des linken US-Erfolgsautors Upton

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Sinclair zu übersetzen: Leidweg der Liebe (Bln.) u. Das Geld schreibt (Bln.), ein Band mit Essays zur amerikan. Literatur, erschienen 1930, Alkohol (Bln.) 1932; Sinclair galt auch C.s erster gedruckter Text in der Zeitschrift »Der Querschnitt« von 1928. Um 1930/31 entstand daneben sein eigenes Romanprojekt, die Blendung. Es soll Hermann Broch gewesen sein, der ihm von dem ursprüngl. Titel Kant fängt Feuer abgeraten hat. C. lernte Broch um 1932 kennen, u. der bereits erfolgreiche Romancier hat den unbekannten jungen Autor u. Dramatiker in den letzten Wiener Jahren entscheidend gefördert. Von der besonderen Bedeutung, die die enge Beziehung zu dem jüd. Lyriker, Psychologen u. Philosophen Abraham Sonne für ihn hatte, erfuhr man erst 1985 im 3. Band der Autobiografie. Näher bekannt war C. um diese Zeit ferner mit Alban Berg, Robert Musil u. dem Bildhauer Fritz Wotruba. Dessen Schüler Alfred Hrdlicka gehörte seit den 1960er Jahren zu C.s Freunden. Im Febr. 1934 heiratete C. seine Freundin Veza (eigentl.: Venetiana) TaubnerCalderon, deren Familie aus dem gleichen spaniol. Milieu stammte wie die der Eltern, u. man zog in die Himmelstraße nach Grinzing; während der Bürgerkriegskämpfe kurz davor hatte der damalige Sozialdemokrat Ernst Fischer in C.s Wohnung Unterschlupf gefunden. Die Wiener Formationsjahre, die auch die leidenschaftl. Abwendung von Karl Kraus, dem geistigen »Machthaber«, wie auch von der Mutter gebracht hatten, die 1937 in Paris starb, endeten mit dem »Anschluss« Österreichs an Hitler-Deutschland: Im Nov. 1938 verließen C. u. seine Frau Wien u. gingen zunächst nach Paris; ab Jan. 1939 lebten sie in London im Stadtteil Hampstead, dem Künstler- u. Emigrantenviertel. In London widmete sich C. während zweier Jahrzehnte in erster Linie den anthropologischen u. ethnologisch-mythograf. Studien zur Problematik von »Masse und Macht«, nebenher begannen die Aufzeichnungen zu entstehen. C. unterhielt Beziehungen zu vielen österr. Emigranten wie Robert Neumann, Erich Fried u. Oskar Kokoschka, bes. aber zu der jungen Autorin Friedl Benedikt, zu der Malerin Marie-Louise von Motesiczky, beide aus Wien u. seine Geliebten in diesen Jahren,

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sowie zu Franz Baermann Steiner u. dem Soziologen Hans Günther Adler aus Prag, der Auschwitz überlebt hatte u. 1947 aus der Tschechoslowakei geflohen u. nach London emigriert war. Erst aus dem Nachtrag zur Autobiografie erfuhr man 1994 Genaueres über die Beziehungen des »Guru von Hampstead« (Hanuschek 2005) zu auch sehr prominenten engl. Freunden wie Iris Murdoch, der Philosophiedozentin in Oxford u. später berühmten Autorin von mehr als 20 Romanen, die ein paar Jahre zu seinen Geliebten zählte, zu T. S. Eliot u. Dylan Thomas, den Brüdern Aymer u. Gavin Maxwell, Bertrand Russell, Herbert Read u. dem Sinologen Arthur Waley. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb C. bis 1988 in London, wo er 1946 brit. Staatsbürger wurde u. allmählich Anerkennung fand als Autor, der zwischen die Katastrophen gefallen schien: zuerst international bes. durch die Übersetzung der Blendung ins Englische von Veronica Wedgwood (u. d. T. Auto da Fé. London 1946), der amerikanische (The Tower of Babel, 1947) u. frz. (La Tour de Babel, 1949) Versionen folgten, schon im Jahre 1936 war eine erste Übersetzung des Romans ins Tschechische erschienen (von Zdenka Münzrová); im dt. Sprachraum waren das Erscheinen von Masse und Macht (Hbg. 1960), sodann die erste, bescheidene Andeutung eines Werküberblicks in der Anthologie Welt im Kopf, einem Bändchen der Taschenbuchreihe des Grazer Stiasny-Verlages mit einer Einleitung, die nominell von Erich Fried, in Wahrheit aber von Veza Canetti verfasst wurde, sowie die Lesereise Anfang 1963 nach Wien die ersten Schritte, aber entscheidend war das Engagement des Hanser-Verlags in München. Nach der nahezu unbekannt gebliebenen zweiten Ausgabe der Blendung (1948 durch Willi Weismann in München) brachte Hanser 1963 eine dritte Ausgabe heraus u. betreut seither das Gesamtwerk. Mit den drei Bänden der Autobiografie erreichte der wachsende Ruhm um 1980 Bestseller-Ausmaße; vielen Preisen u. Ehrungen wie dem Georg-Büchner-Preis (1972) folgte 1981 der Nobelpreis für Literatur. 1963 war seine Frau gestorben, danach hielt sich C. häufig bei seinem Bruder Georg in Paris auf.

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1971 heiratete er Hera Buschor, 1972 wurde die Tochter Johanna geboren. Nach dem Tod seiner zweiten Frau übersiedelte C. nach Zürich, dem Lieblingsort seit der Kindheit, wo er auf dem Friedhof Fluntern neben James Joyce begraben ist, mit dem er als Schriftsteller eigentlich nichts gemein hat. Das Werk C.s hat sein Zentrum im frühen Roman Die Blendung (Wien 1936, recte 1935) u. in dem Großessay Masse und Macht (1960). Hinzu kommen die zwischenzeitlich u. danach entstandenen Aufzeichnungen, die bis 1993 reichen (in Bd. 5 der Ges. Werke. 2004), als Gattung vielgestaltig, vielleicht als »phantastische Aphorismen« (von Matt 2007) zu bezeichnen; die drei Dramen Hochzeit (1932, noch 1933 in Berlin gedr. Urauff. 1965 in Braunschweig), Komödie der Eitelkeit (1934. Urauff. 1965 in Braunschweig) u. Die Befristeten (1952. Urauff. auf Englisch, The Numbered, 1956 in Oxford. Dt. Urauff. 1967 in Wien); die Prosabücher Die Stimmen von Marrakesch (Mchn. 1968) u. Der Ohrenzeuge (Mchn. 1974) sowie die autobiogr. Werke Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend (Mchn. 1977), Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921–1931 (Mchn./Wien 1980) u. Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931–1937 (Mchn. 1985), die 2003 durch einen nachgetragenen Band Party im Blitz (Hg. Kristian Wachinger. Mit einem Nachw. v. Jeremy Adler. Mchn.) über »die englischen Jahre« ergänzt wurden. Die Blendung demonstriert Phänomene u. die Folgen wahnhafter Fixierungen für die Beziehungen zur Gesellschaft, zu den Dingen u. zu sich selbst an extrem negativen Beispielfiguren. In grotesker Überzeichnung (»Es interessiert mich nicht, einen Menschen präzis zu erfassen. Es interessiert mich nur, ihn präzis zu übertreiben«) erzählt C. von einer Welt der Obsessionen von Macht u. Vermehrung, in der es nur mehr Krüppel gibt, körperlich u. geistig Entstellte, auch Unmenschen, die sich gegenseitig belauern u. die Fähigkeit zur Kommunikation längst verloren oder nie besessen haben, eine Welt, die zielstrebig auf den Tod zusteuert. In drei dialektisch aufeinander bezogenen Kapiteln, Ein Kopf ohne Welt, Kopflose Welt u. Welt im Kopf, wird der verzweifelte Kampf des Sinologen Peter Kien gegen die Vertreter »weltlicher«

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Machtinstinkte geschildert. Mit der Aufnahme der dummdreisten, geldgierigen Haushälterin Therese hat der weltfremde Gelehrte zum ersten Mal die »Masse« in sein Haus gelassen, das nun Stück für Stück von dieser erobert wird. Kien, dem auch sein Bruder Georges, als Psychiater in Paris lebend, nicht mehr helfen kann, verbrennt schließlich sich selbst u. seine Bücher. Der Roman ist eine groß angelegte Metapher für die Selbstzerstörung einer missgebildeten Kultur u. Gesellschaft, deren Mitglieder den Sinn ihres Daseins: das Leben, »die Substanz des Lebens« in allen unendl. Möglichkeiten seiner geistig-sinnl. Totalität offen zu realisieren, verloren oder nie gekannt haben. »Das Leben lebt nicht«, lautet einer der Merksätze Adornos. Alle sind davon betroffen, von Grund auf, u. C. war weit davon entfernt, nach einzelnen Schuldigen zu suchen. Er wollte seine Diagnose, ähnlich wie Nietzsche, den er zeitlebens als Feind missverstand, sehr viel »tiefer« ansetzen als alle krit. Theorien, Philosophien, Religionen u. andere Tröstungen, die auf der Agenda des Zeitalters feilgeboten wurden u. die er eher als Teil des Problems ansah, deren genaueres Studium er sich aber – vielleicht mit der Ausnahme Freuds – zu ersparen gedachte. Daher auch die Rolle des Solitärs, in der dieser Autor u. sein Werk bis heute in der kulturellen Landschaft stehen; vielleicht vergleichbar mit Nietzsche. Aber C. benannte durchaus Ursachen für diese Lebensverfehlung: die Wissenschaft als Abwehr, nicht als Erkenntnis der Wirklichkeit, mit ihren abstrakten Methoden, ihrer erstarrten Begriffssprache, ihren Systemen u. Spezialisten, u. Aristoteles als Gründungsvater (bei Nietzsche ist es Sokrates); die Vernunft u. der Rationalismus mit ihrer Angst vor Kontrollverlust, als eine Form der »Blendung«, als »V er blendung«, in jedem Fall ein inadäquater Zugang zur Wirklichkeit; schließlich die Individualität, das Prinzip der Individuation, das radikal abgelehnt wird. Das freie Individuum panzert sich, den Begriffen der Wissenschaft ähnlich, gegen die Realisierung des Lebendigen, es ist eine Verzerrung des Menschlichen ins Irrsinnige, Groteske, nur der Irrsinnige ist ganz frei, das wahrhaft Humane ist das Überindividuelle.

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In Masse und Macht, aber auch in den Dramen u. den Ansätzen zu einer Dramentheorie (Feth 1980) werden die elementaren anthropolog. Konstanten der Menschennatur entfaltet, die schon immer die Wirklichkeitsverfehlung u. Selbstzerstörung des Menschen konstituierten, aber auch die Potentiale des wahrhaft Lebendigen, die schon immer gleichzeitig bereitlagen. C. denkt nicht in Kategorien eines Goldenen Zeitalters oder einer Utopie künftiger Befreiung, er denkt auch nicht historisch u. in Evolutionen, u. er hat mit »Aufklärung« wenig im Sinn – auch dies ein beständiger Anlass zu Missverständnissen, Unverständnis u. Ablehnung. Sein Gegenkonzept ist der Mythos, ein »Reservoir von Zweifellosigkeit«, u. die Mythen u. Riten der sog. Naturvölker bilden die Hauptquelle für die Veranschaulichung der Wahrheit des Menschlichen, »unserer prähistorischen Seele« (Bohrer 1975) in Masse und Macht. Mythen sind für C. Dokumente, Material zum Studium der realen Anlagen u. Möglichkeiten des Menschen zur Verwandlung, dem einzigen großen Ausweg, die Empathie u. Mitleiden einschließt, weshalb es keiner abstrakten philosoph. Ethik bedarf. Verwandlung: »Ihr Zentrum ist der Mensch, und ihre Wahrheit ist seine Wirklichkeit« (Knoll 1993: eine der besten Studien zum Gesamtwerk). C.s Anthropologie ist ahistorisch, areligiös u. nicht metaphysisch, sondern entschieden von dieser Welt. Vielleicht kann man sie »dichterisch« nennen; denn es ist die vornehmste Aufgabe der Dichtung u. der Dichter, den Reichtum des mythischen u. literar. Erbes der Menschheit zu »hüten«, weiterzutragen u. die Arbeit damit zgl. selbst zu praktizieren – die Dichtung als eine andere »Arbeit am Mythos« (Blumenberg). Obwohl C. ausdrücklich davon handelt, »wie ein Dichter wäre, wenn es einen gäbe«, hat man schon aus dem Titel der Münchner Rede von 1976 über den Beruf des Dichters mit ihrer Formel vom »Hüter der Verwandlungen« u. noch mehr aus ihrem Vokabular vorschnell auf ein altertümliches poeseolog. Konzept geschlossen. In der Tat ist, neben der krit. Abarbeitung an seinen Selbstkonzepten, die Herstellung von Anschließbarkeit, dabei die Präzisierung von Differenzen u. Unverträglich-

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keiten eingeschlossen, weiterhin die zentrale Aufgabe der Aneignung dieses durch seinen leidenschaftl. Humanismus noch lange faszinierenden Autors, der gerade wegen des Abweichungsgrades seiner Schreibweisen u. Denkfiguren der rasenden Abnutzung auf dem Medientheater weniger ausgesetzt sein könnte als andere. Weitere Werke: Upton Sinclair wird 50 Jahre alt. In: Der Querschnitt 1928, H. 10, S. 738. – Fritz Wotruba. Vorw. v. Klaus Demus. Wien 1955. – Dramen. Mchn. 1964. – Aufzeichnungen 1942–48. Mchn. 1965. – Der andere Prozeß. Kafkas Briefe an Felice. Mchn. 1969. – Alle vergeudete Verehrung. Aufzeichnungen 1949–60. Mchn. 1970. – E. C. – Rudolf Hartung. In: Selbstanzeige. Schriftsteller im Gespräch. Hg. Werner Koch. Ffm. 1971. – Die gespaltene Zukunft. Aufsätze u. Gespräche (mit Theodor W. Adorno, Horst Bienek, Joachim Schickel). Mchn. 1972. – Der Ohrenzeuge. Fünfzig Charaktere. Mchn. 1974. – Das Gewissen der Worte. Mchn. 1975 (Ess.s). 2., erw. Aufl. Mchn. 1976 (enthält u. a.: Der Beruf des Dichters). – Lebenslange Lehre. In: FAZ, 12.12.1981 (NobelpreisRede). Auch in: Nobelpreis für Lit. 1981. Zürich 1982. – In einem anderen Jahr. Tagebuchnotizen 1968–74. Mchn. 1982. – Das Geheimherz der Uhr. Aufzeichnungen 1973–85. Mchn. 1987. – Die Fliegenpein. Aufzeichnungen. Mchn. 1992. – Nachträge aus Hampstead. Aus den Aufzeichnungen 1954–71. Mchn. 1994. – Aufzeichnungen 1992–93. Mchn. 1996. – Walter Höllerer: Sind Tagebücher zeitgemäß? Gespräche mit E. C., Max Frisch, Lars Gustafsson, Uwe Johnson u. Barbara König [1972]. In: SuF 49 (1997), H. 6, S. 776–790. – Aufzeichnungen 1973–84. Mchn. 1999. – Über Tiere. Nachw. v. Brigitte Kronauer. Mchn. 2002. – Über den Tod. Nachw. v. Thomas Macho. Mchn. 2003. – Über die Dichter. Nachw. v. Peter v. Matt. Mchn. 2004. – Aufzeichnungen für Marie-Louise. Hg. aus dem Nachl. u. mit einem Nachw. v. Jeremy Adler. – Das Hörwerk 1953–91. 33 Stunden auf 2 MP3-CDs. Bln. 2005. – Veza u. E. C.: Briefe an Georges. Hg. Karen Lauer u. Kristian Wachinger. Mchn. 2006. Ausgaben: Werke in 10 Bdn. Mchn. 1992–2005. – Werke. 13 Bde. u. ein Begleitbd. Ffm. 1995 (Fischer Tb.-Kassetten). Literatur: Bibliografien: Irene Boose: Auswahlbibliogr. In: Text + Kritik 28: E. C. Neufassung 4 2005, S. 150–174. – Helmut Göbel: Bibliogr. In: Ders.: E. C. Reinb. 2005, S. 149–156. – Studien, Dokumente: Erich Fried [recte: Veza Canetti]: Einl. In: E. C. Welt im Kopf. Graz/Wien 1962, S. 5–22. – Iris

Canetti Murdoch: Masse, Macht u. Mythos. In: Wort in der Zeit 9 (1963), H. 1, S. 40–43. Engl. 1962. – Hans Magnus Enzensberger: Rez.: E. C.: ›Die Blendung‹. In: Der Spiegel, 7.8.1963, S. 48–49. – Robert Neumann: Ein leichtes Leben. Ber.e über mich selbst u. Zeitgenossen. Wien/Mchn. 1963, S. 110–113. – Ernst Fischer: Bemerkungen zu E. C.s ›Masse und Macht‹. In: LuK (1966), H. 7, S. 12–20. – C. lesen. Erfahrungen mit seinen Büchern. Hg. Herbert G. Göpfert. Mchn. 1975. Darin: Karl Heinz Bohrer: Der Stoiker u. unsere prähistor. Seele. Zu ›Masse u. Macht‹, S. 61–66. – Hans Feth: E. C.s Dramen. Ffm. 1980. – Susan Sontag: Geist als Leidenschaft. In: Dies.: Im Zeichen des Saturn. Mchn. 1981, S. 183–203. Engl. 1980. – Die Lesbarkeit der Welt. E. C.s Anthropologie u. Poetik. Hg. Stefan H. Kaszyn´ski. Poznan´ 1984. Mchn. 1985. – Marek Przybecki: Ein Augenblick entlarvter Macht. Zu C.s dramentheoret. Begrifflichkeit. Ebd., S. 117–133. – Lothar Henninghaus: Tod u. Verwandlung. E. C.s poet. Anthropologie aus der Kritik der Psychoanalyse. Ffm. 1984. – Edgar Piel: E. C. Mchn. 1984. – Friederike Eigler: Das autobiogr. Werk v. E. C. Identität – Verwandlung – Machtausübung. Tüb. 1988. – Internat. kulturanthropologisch-philosoph. C.-Symposien. Hg. John Pattillo-Hess. 5 Bde., Wien 1988–93. – Gerald Stieg: ›Masse und Macht‹ – das Werk eines ›verwildeten Gelehrten?‹ In: C.s ›Masse und Macht‹ oder Die Aufgabe des gegenwärtigen Denkens. C.-Symposion 1 (1988), S. 95–102. – E. Piel: Im Gehäuse der Hörigkeit läßt sich nicht leben – C.s ›Masse und Macht‹: Wiss. oder Mythos? Ebd., S. 52–65. – Serge Moscovici: Ist die Idee der Masse noch aktuell? Ebd., S. 66–73. – Axel Honneth: Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer krit. Gesellschaftstheorie. Ffm. 1989. – Heike Knoll: Das System C. Zur Rekonstruktion eines Wirklichkeitsentwurfes. Stgt. 1993. – Felicitas Kraus: Machtuniversalismus u. Machtkritik. Begriff u. Erscheinungsformen der Macht bei E. C. u. Michel Foucault. Diplomarbeit FU Bln. (Politikwiss.) 1994. – Mario Erdheim: C. u. Freud als Leser v. Schrebers ›Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken‹. In: Akzente 42 (1995), H. 2, S. 232–252. – Einladung zur Verwandlung. Ess.s zu E. C.s ›Masse und Macht‹. Hg. Michael Krüger. Mchn. 1995. – C. als Leser. Hg. Gerhard Neumann. Freib. i. Br. 1996. – Petra Kuhnau: Masse u. Macht in der Gesch. Zur Konzeption anthropolog. Konstanten in E. C.s Werk ›Masse und Macht‹. Würzb. 1996. – Susanna Engelmann: Babel – Bibel – Bibl. C.s Aphorismen zur Sprache. Würzb. 1997. – ›Ortlose Botschaft‹. Der Freundeskreis H. G. Adler, E. C. u. Franz Baermann Steiner im engl. Exil. Marbach 1998. – Peter Friedrich: Die Rebellion der Masse im Textsystem. Die Sprache der Gegenwiss.en in E. C.s

350 ›Masse und Macht‹. Mchn. 1999. – Steffen Pross: ›In London treffen wir uns wieder‹. Vier Spaziergänge durch ein vergessenes Kapitel dt. Kulturgesch. nach 1933. Bln. 2000. – I. Murdoch: Die Flucht vor dem Zauberer. Wien/Ffm. 2001. Engl.: The Flight from the Enchanter (1956). – Peter J. Conradi: Iris Murdoch. Ein Leben. Wien 2002. Ffm. 2004. Engl. 2001. – H. G. Adler. In: Text + Kritik 163 (2004). – Susanne Ovadia: Nachw. In: Anna Sebastian (d. i. Friedl Benedikt): Das Monster. Köln/ Wien 2004, S. 319–328 (R.). – A Companion to the Works of E. C. Hg. Dagmar C. G. Lorenz. Rochester 2004. – E. C. Bilder aus seinem Leben. Hg. Kristian Wachinger. Mchn. 2005. – C. in Zürich. Erinnerungen u. Gespräche. Hg. Werner Morlang. Mchn. 2005. – Sven Hanuschek: E. C. Biogr. Mchn. 2005. – Karoline Hornik: Mythoman u. Menschenfresser. Zum Mythos in E. C.s Dichterbild. Bielef. 2006. – Justizpalast in Flammen – ein brennender Dornbusch. Das Werk v. Manès Sperber, Heimito v. Doderer u. E. C. angesichts des 15. Juli 1927. Hg. Thomas Köhler u. Christian Mertens. Wien 2006. – Peter v. Matt: Der Entflammte. Über E. C. Mchn. 2007. – Reihe: Schriftenreihe der Internat. E.-C.Gesellsch. Hg. Penka Angelova u. a. St. Ingbert 1997 ff. Johannes Sachslehner / Herbert Jaumann

Canetti, Veza, geb. Veneziana TaubnerCalderon; auch: Veza Magd, Veronika Knecht, Martha (bzw. Martin u. Martina) Murner, * 21.11.1897 Wien, † 1.5.1963 London. – Erzählerin, Dramatikerin, Lektorin, Übersetzerin. C. wuchs in Wien als Tochter jüdischer Eltern auf. Nach dem Abitur brachte sie sich im Selbststudium Französisch u. Englisch bei. Sie besuchte Lesungen von Karl Kraus u. lernte dort 1924 den Schriftsteller Elias Canetti kennen, den sie 1934 heiratete. Ab 1932 publizierte C. unter verschiedenen Pseudonymen Erzählungen in Tageszeitungen, v. a. in der Wiener »Arbeiter-Zeitung«. Einige dieser Erzählungen fügte C. in den Roman Die gelbe Straße (Mchn./Wien 1990) ein, der in einem pointierten Erzählstil das groteske u. menschenverachtende Verhalten von Bewohnern u. Ladenbesitzern in der Wiener Leopoldstadt beschreibt. Die volksstückhaften Dramen Der Oger (Mchn./Wien 1991) u. Der Tiger (In: Der Fund. Erzählungen u. Stücke. Mit einem Nachw. v. Angelika Schedel. Mchn./ Wien 2001), die C. zwischen 1934 u. 1938 aus

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dem Stoff des Romans entwickelte, stellen den Kampf der Frauen um Unabhängigkeit u. Würde unter demütigenden Lebensverhältnissen in den Mittelpunkt. Aufgrund der polit. Situation nach 1933 blieb die Erzählung Geduld bringt Rosen in der Anthologie Dreißig neue Erzähler des neuen Deutschland. Junge deutsche Prosa (Hg. Wieland Herzfelde. Bln. 1932, S. 93–126) C.s einzige Buchveröffentlichung zu Lebzeiten. Im Roman Die Schildkröten (Mchn./Wien 1999) schildert sie auf eindringl. Weise die zunehmende Diskriminierung u. einsetzende Verfolgung der Juden nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland. Die Canettis flüchteten nach Paris u. lebten seit Jan. 1939 in London. Aus Mangel an Publikationsmöglichkeiten gab C. 1956 ihre schriftsteller. Tätigkeit auf. Die Aufdeckung des Pseudonyms »Veza Magd« durch den Germanisten Helmut Göbel veranlasste Elias Canetti 1988, ihm C.s literar. Nachlass zu zeigen, u. gab den Anstoß zur Veröffentlichung von C.s Werken u. ihrer (Wieder-)Entdeckung als Schriftstellerin. Weitere Werke: Geduld bringt Rosen. Mchn./ Wien 1992 (E.en). Ausgabe: V. u. Elias C.: Briefe an Georges. Hg. Karen Lauer u. Kristian Wachinger. Mchn. 2006. Literatur: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text + Kritik. V. C. (2002). – Angelika Schedel: V. C. In: LGL. – Ingrid Spörk u. Alexandra Strohmaier (Hg.): V. C. Graz/Wien 2005. – Julian Preece: The rediscovered writings of V. C.: out of the shadows of a husband. Rochester 2007 (Biogr.). Robert Steinborn

Canisius, Petrus, auch: P(i)eter Kani(j)s, * 8.5.1521 Nimwegen/Niederlande, † 21.12.1597 Freiburg/Schweiz; Grabstätte: ebd., Kollegskirche St. Michael. – Jesuit; Verfasser theologischer, katechetischer, homiletischer u. hagiografischer Schriften. C. entstammte einer angesehenen großbürgerl. Familie seiner Heimatstadt. Erzogen im Geiste der Devotio moderna, studierte er ab 1535 an der Universität Köln Philosophie (Mag. art. 1540) u. Theologie (Bacc. bibl. 1545). Beziehungen zur Kölner Kartause St.

Canisius

Barbara u. zum Kreis um Maria von Oisterwijk erschlossen ihm die Mystik des MA. Spirituelle Studienbegleitung im Sinne der Devotio moderna erhielt er v. Nikolaus van Essche. Nach Teilnahme an den ignatian. »Geistlichen Übungen« bei Peter Faber trat er 1543 in den Jesuitenorden ein. Im Auftrag des Klerus u. der Universität Köln beteiligte er sich 1545 unter Führung des Domherrn Johannes Gropper am Kampf um die Bewahrung Kölns im kath. Glauben, als Erzbischof Hermann von Wied die Reformation einführte. 1546 zum Priester geweiht, sandte ihn der Augsburger Bischof Otto Truchseß von Waldburg zur Bologneser Tagung des Konzils von Trient. Ignatius von Loyola holte ihn darauf nach Rom. In Messina gründete er das erste Jesuitenkolleg u. wirkte als Erzieher u. Seelsorger. Im Auftrag Papst Pauls III. kehrte er 1549 nach Deutschland zurück, nachdem er in Bologna zum Dr. theol. promoviert worden war. Er begann sein Wirken als Theologie-Professor u. Prediger für die kath. Reform. C. sorgte für die Reform der Universitäten Ingolstadt u. Wien u. übernahm die Universität Dillingen für den Jesuitenorden; zur Bildung einer neuen kath. Elite gründete er Jesuitenkollegien u. Gymnasien in Wien, Tyrnau, Prag u. Ingolstadt. C. wirkte als Seelsorger u. Prediger u. a. in Ingolstadt, Wien, Augsburg u. Innsbruck; über 12.000 Quartseiten Entwürfe sind archiviert. Den Aufbau des Jesuitenordens förderte er in Süddeutschland, Österreich, Böhmen u. Polen; 1556–1569 leitete er als 1. Jesuitenprovinzial die Oberdeutsche Provinz. Er unterstützte als theol. Berater Bischöfe u. kath. Fürsten, u. a. Ferdinand I., in Fragen der Kirchenreform u. trat auf Reichstagen u. Religionsgesprächen in Erscheinung. 1562 wirkte er in Trient bei den Konzilsberatungen u. -beschlüssen mit. 1580 wurde er nach Freiburg/Schweiz zur Gründung des Kollegs St. Michael beordert. Bis zu seinem Tod 1597 hielt er zu den von ihm gegründeten Kollegien regen Briefkontakt. C. war Vorkämpfer der kath. Reform im 16. Jh. u. erhielt den Ehrentitel »Zweiter Apostel Deutschlands« (Leo XIII.). 1925 wurde er heiliggesprochen u. zum Kirchenlehrer erklärt.

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Im Dienst der Erneuerung u. der Kirchen- Sprachen). Als Predigthilfe erschienen zwei reform steht C.’ reiche schriftsteller. Tätig- Bände Notae in evangelicas lectiones (Freib./ keit. Schon in Köln edierte er 1546 patristi- Schweiz 1591 u. 1592) mit Meditationen u. sche Texte des Kyrill von Alexandrien in drei Erklärungen zu den Sonn- u. FesttagsevanBänden u. einen Band mit Schriften Papst gelien. Leos I.; 1562 folgte ein Band mit Texten des Ausgaben: Beati Petri Canisii epistulae et acta. Hieronymus. Hg. Otto Braunsberger. 8 Bde., Freib. i. Br. Berühmt wurde C. über Deutschland hin- 1896–1923. – Catechismi latini et germanici. Hg. aus durch sein katechetisches Werk, das sich Friedrich Streicher. 2 Bde., Mchn. 1933 u. 1936. – an drei verschiedene Alters- bzw. Bildungs- Meditationes seu Notae in evangelicas lectiones. gruppen richtete. 1555 erschien anonym in Hg. ders. 2 Bde., Freib. i. Br. 1939. – Burkhart Schneider: P. C. Briefe. Salzb. 1958. – Das TestaWien der Große Katechismus für Geistliche, ment des P. C. Hg. Julius Oswald. Ffm. 1997. – Studenten u. gebildete Laien Summa Doctrinae Kurzer Unterricht vom kath. Glauben. Der Kleine christianae (Dt. Wien/Ingolst. 1556. Erw. Katechismus des P. C. Hg. Rita Haub. Ffm. 1998. – nachtrident. Aufl. Köln 1566), bereits 1556 in Der Große Katechismus. Hg. Hubert Filser u. SteIngolstadt der Kleinste Katechismus lateinisch phan Leimgruber. Regensb. 2003. – Internet-Ed. für die unterste Stufe des Gymnasiums bzw. diverser Texte in: The Digital Library of the Cadeutsch für das Volk u. den ersten Religi- tholic Reformation (http://solomon.dlcr.alexanonsunterricht. Für den Gebrauch an Latein- derstreet.com//). Literatur: Bibliografie: Streicher 1933 (s. o.), schulen verfasste er den Kleineren (oder mittleren) Katechismus (Lat. 1558. Dt. Köln 1560). Zu S. 19–37. – Oswald/Rummel 1996 (s. u.), seinen Lebzeiten erfuhren C.’ Katechismen, S. 317–340. – Berndt 2000 (s. u.), S. 423–487. – die den kath. Glauben positiv darstellten, 15 Biografien: Otto Braunsberger: P. C. Freib. i. Br. 1921. – Johannes Metzler: Der hl. P. C. u. die Übersetzungen u. 200 Auflagen. Bis ins 20. Neuerer seiner Zeit. Mchn. 1927. – James Brodrick: Jh. dienten diese »Bestseller« der religiösen Saint P. C. London 1936. Dt. 2 Bde., Wien 1950. – Literatur als Lehr- u. Schulbücher des kath. Anton Rohrbasser: Herold der Kirche. Freib./ Glaubens u. als Grundlage der Erziehung. Schweiz 1954. – Josef Bruhin (Hg.): P. Kanisius. Nicht gerecht werden konnte C. dem Freib./Schweiz 1980. – Rita Haub: P. C. – Botpäpstl. Auftrag einer Antwort auf die Magde- schafter Europas. Kevelaer 2004. – Festschriften u. burger Zenturien, einer von Flacius Illyricus Kongressbände: P. C. Er bewegte den Erdteil. Hg. gegen den Katholizismus u. den Papst ge- Diözese Innsbr. Innsbr. 1994. – Julius Oswald u. schriebenen Kirchengeschichte. C. verfasste Peter Rummel: P. C. – Reformer der Kirche. Augsb. kein Kirchengeschichtswerk, sondern eine an 1996. – P. C. 1597–1997. Hg. Musée d’art et d’histoire. Freib./Schweiz 1997. – P. C. Hg. Paul bibl. Gestalten orientierte Apologie des kath. Begheyn. Nimwegen 1997. – Rainer Berndt: P. C. Glaubens. U.d.T. Commentaria de Verbi Dei Humanist u. Europäer. Bln. 2000. – Monografie: corrupteliis erschienen 1571 u. 1577 in Dillin- Karlheinz Diez: Christus u. seine Kirche. Zum gen die ersten beiden Bände über Johannes Kirchenverständnis des P. C. Paderb. 1987. den Täufer u. Maria, die mit Schrift- u. VäJosef Stierli / Hubert Filser tertheologie die Thesen des Protestantismus widerlegten. Canitz, Friedrich Rudolph Ludwig von Nach dem Rückzug aus der Kirchen- u. (seit 1698 Frhr.), * 27.11.1654 Berlin, Ordenspolitik publizierte C. in Freiburg/ † 11.8.1699 Berlin; Grabstätte: ebd., MaSchweiz zwei Bände mit Schriften des Starienkirche. – Diplomat; Lyriker. nislaus Hosius. Er verfasste Viten der Schweizer Heiligen Nikolaus von Flüe, Unter den Lyrikern des ausgehenden 17. Jh. Meinrad, Beat, Fridolin u. Ida von Toggen- gilt C. als erster Exponent eines an der zeitburg sowie der Märtyrer der Thebäischen genöss. frz. Literatur orientierten KlassizisLegion (alle gedr. in Freib./Schweiz). 1585 mus. Sein Vater Ludwig von Canitz († 1654), veröffentlichte er das Gebets- u. Lebensbuch Hof- u. Kammergerichtsrat, entstammte der Manuale Catholicorum (Dt. Ingolstadt 1588. preuß. Linie eines ursprünglich meißnischen Frz. 1589. Über 40 Ausg.n in verschiedenen Adelsgeschlechts; seine Mutter Margaretha

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Catharina war die Tochter des brandenburgischen Staatsmanns Konrad von Burgsdorff. Da C.’ Mutter noch vor der Geburt ihres Sohnes Witwe wurde u. bald wieder heiratete, übernahm deren Mutter die Erziehung des Kindes. Von Privatlehrern vorbereitet, begann der Siebzehnjährige 1671 das Studium der Rechts- u. Staatswissenschaft in Leiden, das er im Sommersemester 1673 in Leipzig fortsetzte u. im darauffolgenden Jahr abschloss mit einer Dissertatio historico-politica de cautelis principum circa colloquia et congressus mutuos (Lpz. [1674]), der Jacob Thomasius präsidierte. Gefällige Umgangsformen, die sich mit Konzilianz u. ungewöhnl. Sicherheit im Auftreten verbanden, ließen früh den künftigen Diplomaten erkennen. Eine lange Bildungsreise (1675–1677) führte C. bis Neapel, Paris u. London. Er nutzte sie, um seine Sprach- u. Literaturkenntnisse zu bereichern, aber auch dazu, einflussreiche Gelehrte u. polit. Persönlichkeiten kennenzulernen. Zurückgekehrt trat er als Kammerjunker in den Dienst des Großen Kurfürsten u. wurde 1680 zum Hof- u. Legationsrat ernannt. Kurfürst Friedrich III. beförderte ihn 1688 zum Geheimen Rat u. 1697 zum Geheimen Staatsrat. In mehr als 20 diplomat. Missionen vertrat C. die Interessen seines Landes, insbes. im niederdt. Raum. Wiederholt wurde er nach Wien entsandt, wo er u. a. 1688/89 fünf Monate die Geschäfte des brandenburg. Gesandten übernahm. In Anerkennung seiner Verdienste erhob ihn Kaiser Leopold I. 1698 in den Freiherrnstand. Die Rezeption der literar. Werke C.’ setzte erst nach seinem Tod ein. Die Besorgung der ersten krit. Ausgabe seiner Schriften durch den Dresdener Hofdichter Johann Ulrich König, aber auch C.’ Umgang mit dem gleichaltrigen Berliner Hofpoeten Johann von Besser u. seine Stellung am kurfürstl. Hof haben zu der irrigen Vorstellung vom Hofdichter C. geführt. In der Tat wusste man am Berliner Hof von C.’ dichterischer Tätigkeit so gut wie nichts. Die erste Ausgabe seiner Gedichte, die postum u. anonym 1700 erschien, besorgte der Stiefbruder seiner Frau, Frhr. von Canstein, gemeinsam mit dem pietist. Publizisten Joachim Lange. Dass diese Edition bis 1719 neun Auflagen erzielen

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würde, hätte C., der von seinen poet. Talenten keine übertriebene Vorstellung hatte, schwerlich vorhersehen können. Zu Lebzeiten war von ihm lediglich die »Übersetzung der fünfften Satyre des Boileau« im zweiten Teil der Neukirch’schen Anthologie (Neukirch, S. 229–233) erschienen. C.’ an Boileau geschulte Klarheit der Gedankenführung, verbunden mit sprachl. Eleganz u. dem Verzicht auf entlegene Bilder, wirkte befreiend auf das literarisch aufgeschlossene Publikum der Frühaufklärung. In der Satire Von der Poesie lässt er Hoffmannswaldau u. Lohenstein zwar als bedeutende Dichter gelten, blickt aber mit Verachtung auf den Literaturbetrieb des ausgehenden Jahrhunderts. Mit seiner Kritik am Gebrauch grotesker Metaphern u. an der Wirklichkeitsfremdheit dichterischer Darstellung leitete er die Ablehnung barocken »Schwulstes« ein. Gegen die Auftragsdichter u. Casualpoeten wandte er sich – wie vor ihm Opitz u. Gottfried Wilhelm Sacer – mit Humor u. Sarkasmus: »Geht wo ein Schul-Regent in einem Flecken ab, / Mein GOtt! wie rasen nicht die Tichter um sein Grab; / Der Tod wird ausgefiltzt, daß er dem theuren Leben / Nicht eine längre Frist, als achtzig Jahr, gegeben [...] Mehr Götter sieht man offt auf solchem Zettel stehn, / Als Bürger in der That mit zu der Leiche gehn.« C.’ antihöf. Grundhaltung, seine Romantisierung des Landlebens u. der stark autobiogr. Zug seiner Dichtung trugen wesentlich zur Verbreitung seiner Lyrik im 18. Jh. bei. Bis in die Goethezeit blieb die Klag-Ode über den Tod seiner ersten Gemahlin (C.’ idealisierende Darstellung seiner Beziehung zu Dorothea von Arnimb) sein berühmtestes Gedicht. Zur Kultfigur wurde C. zu Beginn der 1720er Jahre im Kreise von Bodmer u. seinen »Mahlern«. Sie sahen in C. einen »gütigen Satyricus« u. »philosophischen Hofmann« u. verehrten ihn als einzigen großen dt. Dichter neben Opitz. Ihr Bemühen um eine zuverlässige Edition gaben sie 1725 auf, nachdem sich die Beschaffung des Quellenmaterials als zu schwierig erwiesen hatte u. Ulrich König eine erweiterte Ausgabe vorbereitete. Königs 1727 erschienene Ausgabe enthielt außer einer ausführl. Lebensbeschreibung eingehen-

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de Erläuterungen zu den Gedichten. Trotz Canstein, Carl Hildebrand Frhr. von, eigenmächtiger Eingriffe in den Text blieb sie * 4.8.1667 Lindenberg (Mark), † 19.8. für alle späteren Drucke verbindlich. 1719 Berlin; Grabstätte (mit GedenktaVon Kritikern u. Dichtern wie Bodmer, fel): ebd., Marienkirche. – Förderer des Weichmann, Hagedorn, Triller u. Gottsched Pietismus, Gründer der ersten Bibelanbemerkenswert günstig aufgenommen, stalt. wirkte C. stilbildend auf die Lyrik der Gottschedzeit. Erst in den 60er Jahren des 18. Der Stammsitz derer von C. war das Schloss in Canstein, heute Ortsteil von Marsberg in Jh. hatte sich seine Wirkung erschöpft. Westfalen. Der Vater Raban von Canstein († Ausgaben: Neben-Stunden unterschiedener Ge1680) ging 1655 in preuß. Dienste u. hatte dichte. Bln. 1700. – Des Freyherrn v. C. Gedichte. Hg. Johann Ulrich König. Lpz./Bln. 1727. – Des u. a. als Obermarschall eine angesehene StelFreyherrn v. C. Satyr. u. sämtl. übrige Gedichte. lung in Berlin. Der Sohn studierte 1684–1685 Hg. Johann Jacob Bodmer. Zürich 1737 (nach Kö- Jura in Frankfurt/O. u. legte eine Disputation nigs Lesarten). – Krit. Ausg.: Gedichte. Hg. Jürgen vor: De usu et autoritate juris romani in foris Stenzel. Tüb. 1982 (mit Wirkungsgesch. u. Biblio- Germaniae, Disp. Jur. (in: Samuel Stryk: Usus gr.). – Gedichte. In: Dt. Lit. v. Luther bis Tucholsky. moderni pandectarum ad libros V. Priores. Frankf./ Digitale Bibl. 125 (2005). CD-ROM. O./Wittenb. 1690 S. 1–38). Es schlossen sich Literatur: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, längere Reisen nach Westeuropa, Österreich, S. 969–976 (Bibliogr.). – Stenzel, a. a. O. – Weitere Italien u. Böhmen an. Der Tod des Großen Titel: Leichenpredigt: Philipp Jacob Spener: FreyKurfürsten führte C. 1688 wieder nach Berlin. Herrliches Canitzisches Ehrengedächtnis. Bln. Er wurde wahrscheinlich Kammerjunker am 1700. – Karl August Varnhagen v. Ense: Biogr. 2 Denkmale. Tl. 4, Bln. 1846, S. 191–278. – Adalbert Berliner Hof. 1692 beteiligte er sich am Elschenbroich: F. R. L. v. C. In: NDB. – Steven D. Feldzug gegen Frankreich. Als er in Brüssel Martinson: German Poetry in Transition: C., Besser schwer erkrankte, versprach er »Gott lebensand the early Aufklärer. In: Michigan Germanic lang zu dienen« u. ein Armenhaus zu grünStudies (1980), S. 40–57. – Klaus-Rüdiger Ziemer: den. Etwa in dieser Zeit führte ihn die LekGeistl. Lyrik zwischen Barock u. Aufklärung. F. R. türe einer kleinen Schrift von Philipp Jacob L. v. C.: ›Das neue Jahr‹. Interpr. Wiss. Ztschr. der Spener zur »lebendigen Erkenntnis seines Brandenburgischen Landeshochschule 35 (1991), teuersten Erlösers«, wie er später selbst S. 221–27. – Hans-Georg Kemper: Dt. Lyrik der schreiben sollte. Er lernte in Berlin den 1691 frühen Neuzeit. Bd. 5/2: Frühaufklärung, Tüb. 1991. – Wolfram Mauser: Von der Hofkritik zur nach Berlin gekommenen Propst Spener, den Fürstenschelte. Gottlieb Konrad Pfeffels Fabel ›Der Vater des Pietismus, persönlich kennen. In kranke Löwe‹ – mit einem Blick auf F. R. L. v. C.’ ihm fand er einen väterl. Freund u. sein Le›Der Hof‹. In: Lit. u. Kultur im dt. Südwesten bensvorbild. Spener setzte ihn als Vormund zwischen Renaissance u. Aufklärung. FS Walter E. seiner jüngeren Söhne u. als Erbe ein. Als Schäfer. Hg. Wilhelm Kühlmann. Amsterd. 1995, Ergebnis legte C. u. a. die Letzten Theologischen S. 417–444 (vollst. umgearbeitet in: Ders.: Kon- Bedencken und andere briefliche Antworten Spezepte aufgeklärter Lebensführung. Literar. Kultur ners vor (Halle 1711). Die längere Vorrede C.s im frühmodernen Dtschld. Würzb. 2000, war für ca. 100 Jahre die maßgebl. Biografie S. 80–102). – Ulrich Maché: F. R. L. v. C. In: German Baroque Writers, 1661–1730. Dictionary of Speners. Eine viel umfangreichere Biografie Literary Biography 168. Hg. James Hardin. Detroit Speners schrieb C. 1717–1719. Durch seinen 1996, S. 84–90. – Noack/Splett 2, S. 106–112 (mit plötzl. Tod ist dieses Werk unvollendet u. nur Werkverz.). – Estermann/Bürger 1, S. 256 (Verz. als Manuskript erhalten geblieben. gedr. Briefe). – Detlef Döring: Die Gesch. der Dt. Da C. kein öffentl. Amt anstrebte, steckte er Gesellsch. in Leipzig. Von der Gründung bis in die seine gesamte Arbeitskraft u. sein Vermögen ersten Jahre des Seniorats Johann Christoph in den Dienst verschiedener pietist. Anliegen. Gottscheds. Tüb. 2002 (Register). Seine Güter ermöglichten ihm ein Leben Ulrich Maché / Red. ohne berufl. Tätigkeit. 1696 erfuhr C. von August Hermann Franckes Bemühungen, in Glaucha bei Halle Waisenkinder zu unter-

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richten. Damit begann C.s aktive Unterstützung beim Aufbau der Franckeschen Stiftungen. 1698 gründete er in Halle statt des versprochenen Armenhauses ein Witwenhaus, das bis ins 20. Jh. hinein existierte. Er vermittelte Legate, setzte Stipendien aus, eröffnete eine Filiale des Halleschen Buchladens in seinem Haus in Berlin, vermittelte Medikamente der Halleschen Waisenhausapotheke u. v. a. Bes. wichtig war seine Vermittlung bei der Besetzung von Pfarrstellen, Hauslehrerstellen u. Ä. mit Absolventen aus Halle. Damit begann die Ausbreitung des Halleschen Pietismus in Brandenburg-Preußen. Er entlastete den alternden Spener in dieser Richtung je länger je mehr, sodass er nach dessen Tod (1705) der wichtigste Verbindungsmann Franckes am preuß. Hof wurde. Er war auch maßgeblich daran beteiligt, dass der zunächst sehr krit. Kronprinz nach der Übernahme der Regentschaft als Friedrich Wilhelm I. 1711 ein Freund u. Förderer Franckes wurde. 1707 heiratete C. Bartha Sophia von Krosigk, die ihn bei seiner Arbeit unterstützte. Die Ehe blieb kinderlos. Der Hallesche Buchhändler Heinrich Julius Elers hatte die Idee, Bibeln billiger u. druckfehlerfreier zu drucken, indem man einen stehenden Drucksatz für die gesamte Bibel anschaffte. C. verwirklichte diesen Vorschlag. Als Gründungsdatum der erst 1775 offiziell so genannten »Cansteinschen Bibelanstalt« gilt die Herausgabe seiner kleinen Schrift Ohnmaßgeblicher Vorschlag / Wie GOTTES Wort denen Armen zur Erbauung um einen geringen Preiß in die Hände zu bringen (Bln. 1710). Dieser Aufruf, für den stehenden Satz das nötige Geld zu spenden, hatte nur mäßigen Erfolg, sodass C. selbst viel Geld in das Bibelwerk stecken musste. Der Erfolg gab ihm recht. Die Bibel wurde wesentlich billiger. Das NT mit Psalmen kostete ab 1713 zwei Groschen. Von 1712 bis zu C.s Tod wurden so 100.000 Neue Testamente u. 80.000 Bibeln gedruckt u. verbreitet. C. leitete das Bibelwerk bis zu seinem Tod selbst. Alle mit dem Druck zusammenhängenden Fragen hat er mit entschieden. Er legte Wert darauf, dass der Text der Bibel der letzten Lutherbibel von 1545 entsprach. Die Canstein’sche Bibelanstalt, als erste in der Welt, blieb für 100 Jahre die ein-

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zige ihrer Art, bis dann zu Beginn der 19. Jh. verschiedene Bibelgesellschaften gegründet wurden. Die Canstein’sche blieb in Deutschland führend für die erste große Revision des Luthertextes Ende des 19. Jh. C. hatte auch theolog. Interessen. Er verfasste eine umfangreiche Harmonie und Auslegung der Heiligen vier Evangelisten (Halle 1718), eine Zusammenstellung vieler exegetischer u. zgl. erbaul. Kommentare des 17. Jh. In der Nachfolge Andreas Osianders wurden die meisten synopt. Erzählungen, die doppelt oder dreifach überliefert sind, auch als doppelt oder dreifach geschehen angesehen. Als Schwager von Friedrich Rudolph Ludwig von Canitz gab C. nach dessen Tod die Neben-Stunden Unterschiedener Gedichte (Bln. 1700) mit einer Vorrede heraus. Sie erschienen zunächst annonym, erst 1719 mit einer neuen Vorrede wurde C.s Name öffentlich. Es war folgerichtig, dass C. das Waisenhaus zum Universalerben seiner Besitzungen machte, was dem Waisenhaus allerdings jahrzehntelang gerichtl. Auseinandersetzungen mit seiner Verwandtschaft einbrachte. Weitere Werke: Die 2. Forts. Der wahrhaften u. umständl. Nachricht vom Waisenhaus u. übrigen Anstalten zu Glaucha. In: A. H. Francke: Fußstapfen des noch lebenden u. waltenden liebreichen u. getreuen Gottes. Halle 21708. – Umständl. Nachricht v. dem NT u. Bibeln. Halle 1714. – Briefe: Der Briefw. C. H. v. C.s mit A. H. Francke. Hg. Peter Schicketanz. Bln. 1972. Literatur: Carl Heinrich Christian Plath: C. H. Frhr. v. C. Halle 1861. – Julius August Wagenmann: Karl v. C. In: ADB. – Kurt Aland: Karl v. C. In: NDB. – Eva Hoffmann-Aleith: Die EvangelienHarmonie des Frhr. C. H. v. C. In: Dein Wort ist die Wahrheit. Bln. 1959, S. 39–66. – Dies.: Der Freiherr. Witten 1960 (R.). – Peter Schicketanz: C. H. v. C.s Beziehungen zu P. J. Spener. Witten 1967. – K. Aland: C. H. v. C. u. die von C.sche Bibelanstalt. Bielef. 1983. – Beate Köster: Die Lutherbibel im frühen Pietismus. Bielef. 1984. – P. Schicketanz: Eine kirchenrechtl. Kontroverse zwischen J. J. Breithaupt u. C. H. v. C.: Ein Beitr. zum Verständnis v. Obrigkeit im frühen Halleschen Pietismus. In: Aufklärung u. Erneuerung. Beiträge zur Gesch. der Univ. Halle im ersten Jahrhundert ihres Bestehens (1694–1806). Hg. Günter Jerouschek u. Arno Sames. Hanau/Halle 1994, S. 207–216. –

Canter Ders.: C. H. Frhr. v. C. Leben u. Denken in Quellendarstellungen. Tüb. 2002. Peter Schicketanz

Canter, Jacobus, * 24.2.1469 Groningen, † 31.3.1529 Groningen. – Humanist.

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Obwohl C. unter den Zeitgenossen einen Ruf als Dichter hatte u., ganz auf antike u. humanist. Quellen gestützt, an zentralen Diskursen des Renaissance-Humanismus teilnahm, blieben seine größeren Schriften, die jeweils unikal handschriftlich überliefert sind, ohne erkennbare Wirkung. Gedruckt wurden nur kleine Gedichte als Beiträge zu Werken von Zeitgenossen u. Einführungen zu Ausgaben, die C. besorgte (verzeichnet bei Worstbrock).

C. entstammte einer angesehenen Groninger Patrizierfamilie. Sein Vater, der Rechtsanwalt Johannes Canter d.Ä. († 1497), ließ seinen fünf Kindern, auch den Töchtern, eine umfassende lat. Bildung zukommen. C.s Brüder Andreas u. Johannes d.J. traten selbst literaAusgaben: Bohumil Ryba: Iacobus C. Frisius, risch hervor, Andreas († nach 1510) ließ eine Rosa Rosensis. Budapest 1938. – Bunna EbelsEpitoma grammatices (1491) drucken, war Hoving: J. C., Dialogus de Solitudine. Mchn. 1981. 1503–1509 besoldeter Poeta der Stadt Köln u. – Enenkel 1995 (s. u.). Literatur: Burkhard Kappelhoff: Ein Einkünfübersetzte 1510 eine dt. Schrift Johannes Pfefferkorns ins Lateinische. Johannes d.J. († teregister des Emder Vikars Dr. J. C. In: Studien zur nach 1527) führte den Titel eines »astrologus Sozialgesch. des MA u. der frühen Neuzeit. Hg. imperialis« u. stellte 1487 in dieser Funktion Franklin Kopitzsch. Hbg. 1977. – Karl A. E. Enenkel: Kulturoptimismus u. Kulturpessimismus in Konrad Celtis ein Horoskop zur Dichterkröder Renaissance. Studie zu J. C.s ›Dyalogus de sonung. Zwischen 1487 u. 1491 veröffentlichte litudine‹ mit krit. Textausg. u. dt. Übers. Ffm. er verschiedene Almanache u. Prognostiken 1995. – Franz Josef Worstbrock: J. C. In: VL Dt. u. lebte zuletzt als Arzt in Emden. Hum. – Flood, Poets Laureate, Bd. 1, S. 289–293. C. studierte seit 1487 die Rechte (ohne J. Klaus Kipf Abschluss) in Köln, war 1489 bereits Lehrer an der Lateinschule in Antwerpen. Hier beCanz, Wilhelmine (Friederike Gottliebe), sorgte er kleinere Ausgaben, darunter Fran* 27.2.1815 Hornberg/Schwarzwald, cesco Petrarcas Secretum. Ob eine 1489 ge† 15.1.1901 Großheppach/Remstal; Grabplante Reise nach Italien zur Ausführung stätte: ebd., Dorffriedhof. – Religiöse kam, ist unbekannt. 1491 war er in Augsburg, Schriftstellerin. 1492 wohl bei Celtis in Ingolstadt, 1493 in Linz. 1494 empfing er in Antwerpen die Die strenggläubige C. stammte aus einer Dichterkrönung aus der Hand des Königs württemberg. Theologenfamilie. Nach dem Maximilian I. u. wird im Krönungsdiplom Tod des Vaters, des Oberamtsarztes Gottlieb »liberalium artium doctor« genannt. Nach Canz, zog sie mit ihrer Mutter u. zwei älteren einem Aufenthalt in Mainz (1495/96) weilte Geschwistern 1824 nach Tübingen, wo sie er seit 1497 für längere Zeit in Krumau dank ihrer schul. Begabung trotz der einfa(Cˇesky´ Krumlov) am Hof der Adelsfamilie chen materiellen Verhältnisse eine umfasRosenberg, der er das bukolisch-komödiant. sende Bildung erhielt. Durch ihren Bruder Gedicht Rosa rosensis (über einen Kussraub) Karl, der Theologie studierte, kam sie mit widmete. 1500 u. erneut 1505 sind Aufent- universitären Zirkeln in Kontakt. Bes. behalte in Köln belegt. Undatiert (zwischen schäftigte sie zu dieser Zeit die Philosophie 1497 u. 1504?) ist sein Hauptwerk, der Dy- Hegels, vertreten durch die Professoren David alogus de solitudine, eine ergebnisoffene Dis- Friedrich Strauß u. Friedrich Theodor Vikussion um den Vorrang des einsamen oder scher. Von Beginn an lehnte sie deren Thesen geselligen Lebens. 1505 wurde er Vikar an der strikt ab u. wandte sich dem Pietismus zu. Als Großen Kirche in Emden u. Pfarrer im be- der Bruder eine Pfarrstelle zunächst in Bunachbarten Groß-Faldern. In Emden blieb er chenberg (Schwarzwald), später in Bischofbis Anfang 1529, als er sich kurz vor seinem fingen am Kaiserstuhl erhielt, folgten ihm Tod wegen der Reformation in die Geburts- Mutter u. Schwester jeweils ins Pfarrhaus. stadt Groningen zurückzog. Nach einem Erweckungserlebnis begann C.

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mit 35 Jahren die Arbeit an ihrem Roman Eritis sicut Deus (3 Bde., 1853 in Hamburg anonym veröffentlicht. 21855. Später auch ins Englische übersetzt). Darin richtet sie sich gegen die moderne hegelianische Philosophie u. beschreibt deren verderbl. Einfluss auf das Leben. Insbes. die Parallelen zwischen dem Protagonisten, dem Philosophieprofessor Dr. Robert Schärtel, u. Vischer hat scharfe Kritik hervorgerufen. In pietist. Kreisen fand der Roman hingegen breite Zustimmung. Als Antwort auf die Kritiken veröffentlichte C. im Jahr 1860 ebenfalls anonym Aufschlüsse über Eritis sicut Deus. Abgesehen von einigen Beiträgen in evang. Fachzeitschriften u. den 1897 veröffentlichten Erinnerungen (Giebt es einen lebendigen Gott?) war C. nicht mehr schriftstellerisch tätig. Sie widmete sich nach dem Tod der Mutter u. des Bruders seit 1855 ganz der Errichtung einer Kleinkinderschule u. eines Mutterhauses für Kinderschwestern im württemberg. Großheppach (Remstal). Noch heute besteht diese Einrichtung unter dem Dach des Diakonissenhauses Kaiserswerth fort. Literatur: Helmut Bornhak: W. C. Die Gründerin des Mutterhauses Großheppach. Stgt. 1966. – Carla Kramer: W. C. Schriftstellerin u. Gründerin der Großheppacher Schwesternschaft. 1815–1901. In: Lebensbilder aus Schwaben u. Franken. Hg. Robert Uhland. Stgt. 1980, S. 317–349. – Manfred Berger: Frauen in der Gesch. des Kindergartens: Mutter W. C. In: Kindergartenpädagogik. OnlineHdb. Hg. Martin R. Textor (www.kindergartenpaedagogik.de). – Goedeke Forts. Katrin Korch

Capito, Wolfgang Fabricius, * Dez. 1478 Hagenau/Elsass, † 4.11.1541 Basel. – Humanist, Theologe u. Reformator. Der Sohn des Hufschmieds Johannes Köpfel wuchs in Hagenau auf, besuchte die Lateinschule in Pforzheim u. studierte in Ingolstadt (Bacc. artium 1501), Heidelberg (1504/05) u. Freiburg i. Br. (1505–1512, dort Promotion zum Doktor der Rechte). In Freiburg lernte er spätere Kampfgenossen (Matthäus Zell, Jacques Sturm) sowie zukünftige Gegner (Johannes Eck) kennen. Als Prediger wirkte er in Bruchsal (1512–1515) u. in Basel (Münster-

Capito

predikant; Dr. Theol. 1515), wo er Umgang mit Erasmus hatte u. hebräische Studien trieb. Seine hebräische Grammatik (Straßb. 1518. 21525) wurde vielfach benutzt. 1518 begann er einen Briefwechsel mit Luther u. trat 1519 in die Dienste Kardinal Albrechts (Prediger im Mainzer Dom, Berater des Bischofs), um einen Ausgleich zwischen altem u. neuem Glauben zu erreichen. Zweimal fuhr er deshalb nach Wittenberg. Als er die Propstei an St. Thomas in Straßburg erhielt (1523) richtete er unter dem Einfluss Matthäus Zells an den Bischof eine Entschuldigung, warumb er Burger worden (Straßb. 1523). In Straßburg heiratete er 1524 Agnes Roettel u. nach deren Tod 1532 Wibrandis Rosenblatt, die Witwe Johannes Ökolampads. Trotz seines nachgiebigen Charakters gehörte C. bald zu den Führern der Reformation in der Reichsstadt: Er war Pfarrer in JungSt. Peter, der zweitgrößten evang. Gemeinde Straßburgs. Seine literar. Arbeit als Reformator begann mit einer Auseinandersetzung mit dem Augustiner-Provinzial Konrad Treger. Ab 1524 hielt er täglich Vorlesungen über das AT, ab 1538 dozierte er an der Hohen Schule der Stadt. C., von der rabbin. Exegese beeinflusst, vertrat nicht nur eine grammat. Auslegung der Hl. Schrift, sondern auch eine »Interpretatio mystica«. Auf die Bauernbewegung (1525) konnte er beschwichtigend einwirken; für den Rat der Dreizehn war er der Verhandlungspartner. Theologisch trat er hinter Martin Bucer zurück, war auch als Schriftsteller nicht so rührig wie dieser, arbeitete aber mit ihm am Aufbau der Gemeinde. In sein Haus nahm C. auch Spiritualisten u. Täufer auf, was Bucer missfiel. Nach dem Augsburger Reichstag (1530), auf dem er mit Bucer die Confessio Tetrapolitana entwarf, wurde C. strenger u. forderte die Obrigkeit auf, gegen Sektierer zu handeln. 1532 schrieb er größtenteils den Berner Synodus. Anfangs in der Abendmahlslehre an Zwingli u. den Schweizern orientiert, näherte er sich später wieder Luther u. nahm an der Wittenberger Konkordie (1536) teil. In den Einigungsbestrebungen ging er, obwohl von Erasmus kommend (er übersetzte dessen Werk De sarcienda Ecclesia concordia ins Deutsche), nicht so

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weit wie Bucer, beteiligte sich jedoch an den Religionsgesprächen von 1540/41. 1541 starb er an der Pest. Weitere Werke: Verwarnung der Diener des Worts zu Straßburg an die Brüder von landen u. stetten. o. O. [Straßb.] 1524. – Antwort auf Bruder Conrads Vermanung. Straßb. 1524. – Daß die Pfaffheit schuldig sey, bürgerl. Eyd zu thun. Straßb. 1524. – An gemeine stend, jetzund zu Speier versamlet. o. O. 1526. – Hosea, der Prophet [...] verteutscht. Straßb. 1527. – Kinderbericht [...] vom Glauben. Straßb. 1529. Ausgaben: Briefe: Olivier Millet: Correspondance de W. C. (Répertoire). Straßb. 1982. – Erika Rummel (Hg.): The Correspondance of W. C. Bd. 1: 1507–23. Toronto u. a. 2005 (engl. Übers. der Briefe). Literatur: Otto Erich Strasser: La pensée théologique de W. Capiton. Neuchâtel 1928. – Beate Stierle: C. als Humanist. Gütersloh 1974 (mit Bibliogr.). – James M. Kittelson: W. C. From Humanist to Reformer. Leiden 1975. – Marc Lienhard: Un temps, une ville, une Réforme. Aldershot 1990. – Olivier Millet: C. In: NDA. Robert Stupperich † / Matthieu Arnold

Capus, Alex, * 23.7.1961 Montagne-auPerche/Frankreich. – Prosaautor.

rückhaltung u. ohne stilistisches Blendwerk. Erzählerische Leichtigkeit kennzeichnet auch den Roman Glaubst du, daß es Liebe war? (Salzb. 2003) sowie zwei Sammlungen mit anekdotischen Porträts von eigenwilligen histor. Gründerfiguren. Geschichte u. Jugendträume verbinden sich in Reisen im Licht der Sterne (Mchn. 2005) zu einer Spurensuche nach dem realen Schatz des Schatzinsel-Autors Louis Stevenson. C. lüftet darin ein bisher ungelöstes Rätsel – doch der Untertitel des Buches, Eine Vermutung, deutet verschmitzt an, dass es vielleicht ganz anders gewesen ist. C. will keiner Rechthaberei erliegen, vielmehr zeichnet er sich auch in diesem Buch durch erzählerischen Charme u. Gelassenheit aus. Weitere Werke: Diese verfluchte Schwerkraft. Olten 1994 (E.en). – Eigermönchundjungfrau. Zürich 1998 (E.en). – Mein Studium ferner Welten. Salzb. u. a. 2001 (R.). – Was seither geschah. Tgb. eines Romans (Fast ein bißchen Frühling). Salzb. u. a. 2003 (P.). – 13 wahre Gesch.n. Wien/Ffm. 2004. Mchn. 2006 (E.en). – Patriarchen. Zehn Portraits. Mchn. 2006 (P.). – Übersetzungen: John Fante: Ich – Arturo Bandini. Mchn. 2003 (R.). – Ders.: Warte bis zum Frühling, Bandini. Mchn. 2004 (R.). – Ders.: Warten auf Wunder. Mchn. 2006 (R.) (alle aus dem Englischen). Literatur: Jochen Jung: Aus der Nähe so fern. In: Freitag, 13.7.2001. – Michael Adrian: In Olten aussteigen. In: Frankfurter Rundschau, 22.10.2003. – Thomas Kraft: A. C. In: LGL. – Wolfgang Schneider: Auf Spurensuche in der Südsee. In: NZZ, 5.1.2006. Beat Mazenauer

Der Sohn einer Schweizer Mutter u. eines frz. Vaters verbrachte die ersten Lebensjahre in Frankreich u. wuchs dann in Olten auf, wo er heute lebt. C. studierte Geschichte, Philosophie u. Ethnologie u. arbeitete einige Jahre als Journalist. Dieser Bildungs- u. Arbeitsweg drückt seinen Büchern den Stempel auf. Cardilucius, Johann Hiskia, * 1630 HoBereits das Romandebüt Munzinger Pascha henebra/Thüringen, begraben 4.10.1697 (Zürich 1997) zeichnet sich durch seine doin Nürnberg. – Verfasser u. Herausgeber kumentar. Fiktion aus. Indem C. einen Jourdeutschsprachiger Sachschriften. nalisten über den histor. Abenteurer Werner Munzinger recherchieren lässt, schafft er Sohn von Nicolaus Harprecht/Hartbrecht, eiRaum für ausgiebige Zitate aus dessen Ori- nes 1630 wegen Heterodoxie amtsenthobeginalbriefen. Ironisch gestaltet er darin einen nen Pfarrers, trug aber den Namen C. Er hielt Gegenentwurf zum biederen Schweizertum. sich in Schweden, Finnland u. um 1660/62 in Eine glückliche Findung hat C. auch zum London auf; hier persönl. Bekanntschaft mit Roman Fast ein bißchen Frühling (Salzb. u. a. Samuel Hartlib u. Kenelm Digby. Dann 2002) angestiftet. Der erwähnte Journalist führte den »Studiosus« sein Weg über die stößt bei Recherchen auf den Fall zweier dt. Niederlande (1663/64) nach Darmstadt (1666/ Deserteure, die 1933 mit Geld aus einem 67), Mainz (1671–1673) u. Frankfurt/M. Seit Banküberfall in die Schweiz flüchteten u. etwa 1673 praktizierte C. als Arzt u. Phardort über eine Liebesgeschichte stolperten. C. mazeut mit Unterbrechungen in Nürnberg, erzählt die trag. Geschichte mit feiner Zu- ohne jedoch Mitgl. des Nürnberger Collegi-

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um medicum zu sein. Spätestens seit 1680 war er »bestallter Fürstlich-Württembergischer Rat und Leibmedicus von Haus aus«. Sein Gönner Johann Christian von Boineburg verhalf ihm zur Würde eines »Comes palatinus« u. wohl auch eines »Doctor bullatus«. C. gehörte während der 1670er Jahre zum Bekanntenkreis von Gottfried Wilhelm Leibniz, geriet ins Blickfeld des Frankfurter Pietisten Johann Jakob Schütz u. stand mit den Ärzten Heinrich Screta (Schaffhausen) u. Septimus Andreas Fabricius (Nürnberg) in fachlichem Austausch. Andererseits erwuchsen ihm in den Nürnberger Ärzten Johann Paul Wurffbain u. Johann Georg Volkamer d.Ä. fachl. Gegner; wegen seiner Entscheidung, »Medicinalische Schrifften auf Teutsch« zu veröffentlichen, lud sich C. »vieler Medicorum Haß auf den Halß« (Stanislaus Reinhard Axtelmeier: Natur-Liecht. Tl. 2, Augsb. 1700, S. 165). C. entwickelte sich in Nürnberg zu einem außerordentlich regen Publizisten deutschsprachiger Fachschriften, der sich am dt.-lat. Sprachenstreit beteiligte u. in manchen Attacken auf die Lateiner den Gebrauch der »Teutschen Mutter-Sprache« zur Darlegung medizinisch-naturkundl. Wissens verteidigte. Im Anschluss an eine Sprachauffassung, wie sie im frühneuzeitl. Kampf um den Gebrauch des Deutschen in den Wissenschaften schon Wolfgang Ratke oder Johan Balthasar Schupp verfochten hatten, pochte C. auf den Werkzeugcharakter aller Sprachen u. bestritt einen wesenhaften Zusammenhang zwischen verba u. res. In den Bahnen älterer Sprachpatrioten u. humanist. Arztphilologen stellte er sich die Aufgabe, Herausgebern oder Druckern des 16. u. 17. Jh. »verfälschte« u. »verderbte« dt. Fachschriften zu restituieren, lat. Werke zu übersetzen u. dt. Schriften sprachlich zu überarbeiten, wobei C. sprachpflegerische Ziele beachtete u. sich mit dem Blick auf den »gemeinen Mann« um einen »wol vernemlichen einfältigen Styl« bemühte. Im Zentrum seiner publizist. Tätigkeit standen medizinisch-pharmazeut. Schriften (Hippokrates, Johann von Rupescissa, Bartholomäus Carrichter, Oswald Croll, Johann Hartmann, N. Le Fèvre, Raimund Minderer)

Cardilucius

u. Alchemica (G. Ripley, E. Philaletha), doch gab er auch Lazarus Erckers Aula subterranea (Ffm. 1672 u. ö.) heraus. Mit der Neuen Stadtund Landapotheck (Tle. 1–4, Nürnb. 1670–80 u. ö., dazu Anbau. Nürnb. 1683), die sich zu einem Fortsetzungswerk entwickelte, gelang C. ein kompendiöses Hauptwerk der medizin. Selbsthilfe- u. Aufklärungsliteratur für den »gemeinen Mann«. Seine Kommentare, unter denen Erläuterungen zu Schriften Hippokrates’ u. zu Carrichters Von den vier Materien (Ffm./Nürnb. 1670) u. Von der Harmonie [...] der Kräuter (Nürnb. 1686) hervorragen, wie auch seine Schriften zur Pestbekämpfung (Von der leidigen Seuche Der Pestilentz. Nürnb. 1679 u. ö., dazu Appendix. Nürnb. 1679 u. ö.) u. zum Bäderwesen zeigen C. im Licht eines durchaus eigenständigen Schriftstellers, dessen fachl. Leistungen freilich geringer wiegen dürften als seine sprachgeschichtl. Bedeutung. Dass er der chemiatr. Arzneikunst eines Johann Baptist van Helmont, der astromedizin. Pflanzenkunde Carrichters u. der paracels. Alchemia medica anhing, macht in C. einen Angehörigen des antigalenist. Medizinerlagers kenntlich. Weitere Werke: Magnalia medico-chymica, Oder Die höchste Artzney- u. Feuerkünstige Geheimnisse. Nürnb. 1676. Forts. Nürnb. 1680. 21710 (›Antrum naturae‹). – Heilsame Artzney-Kräffte des Nürnbergischen Wild-Bades. Nürnb. 1681. – Histor. Exempel/ Was auf die meisten Cometen [...] erfolget. Nürnb. 1681. – Bericht Von der [...] LagerSeuche vnd [...] der Rothen Ruhr. Nürnb. 1684. – Evang. Kunst- u. Wissenschafft-Schule der Natur. Bde. 1–4, Nürnb. 1685–1702. – Acht Briefe v. C. an S. A. Fabricius. Universitätsbibl. Erlangen, Briefslg. Trew. Ausgaben: Brief an Leibniz (Mainz 1671). In: Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtl. Schr.en u. Briefe. Reihe 1, Bd. 1, Bln. 1970, Nr. 148. – Vier religiöse Dichtungen. In: Marxer 2000 (s. u.), S. 231–239. – Briefe. Ebd., S. 222–229 (Regesten). Literatur: Georg Andreas Will: Nürnberg. Gelehrten-Lexikon. Tl. 1, Nürnb./Altdorf 1755, S. 184 f.; Tl. 5 (Forts. v. Christian Conrad Nopitsch, 1802), S. 153. – John Ferguson: Bibliotheca Chemica. Bd. 1, Glasgow 1906, S. 143 f. – Eleonore Schmidt-Herrling: Die Briefslg. des Nürnberger Arztes Christoph Jacob Trew (1695–1769) in der Universitätsbibl. Erlangen. Erlangen 1940, S. 98 f. – Norbert Marxer: Praxis statt Theorie! Leben u.

Carion Werk des Nürnberger Arztes, Alchemikers u. Fachschriftstellers J. H. C. (1630–97). Heidelb. 2000 (mit Werkverz.). Joachim Telle

Carion, Johannes, auch: J. N(a)egelin, * 22.3.1499 Bietigheim/Württemberg, † 2.2.1537 Magdeburg. – Verfasser astrologisch-prophetischer Schriften u. einer Weltchronik. C.s Herkunft liegt in weiten Teilen im Dunkeln, jedoch scheint sein Werdegang beispielhaft für die neuen Möglichkeiten sozialer Mobilität in der Frühen Neuzeit. Aus dem Hause eines Zimmermannes stammend, genoss C. die Bildung u. Erziehung der städt. Lateinschule, ehe er 1514 zum Studium – vorzüglich der Mathematik u. Astrologie – nach Tübingen zog. Dort lernte er Philipp Melanchthon kennen, mit dem ihn von da an eine lebenslange Freundschaft verband. Sein erstes bekanntes Werk, eine Prognostik auf das Jahr 1519, veröffentlichte C. bereits als Magister (Practica M. Joanis Naegelin von Buetighaim auff das 1519. jar. o. O. 1518). Diese Schrift entstand für C.s Gönner, Kurfürst Mgf. Joachim I. von Brandenburg, in dessen Dienst C. von nun an als Hofastrologe u. Mathematiker gestellt war; in dieser Funktion veröffentlichte er zahlreiche astrolog. Schriften. Zgl. gelang C. mit der Anstellung am Hof Joachims der Aufstieg zum einflussreichen Berater eines der wichtigsten Fürsten des Reiches, weit über die Funktion eines Sternkundigen hinaus. In der Rolle als Diplomat u. Gesandter seines Herrn bereiste C. zahlreiche Fürstenhöfe seiner Zeit (etwa den Mainzer Hof 1533). C. behielt diese Stellung auch nach dem Tod des Kurfürsten. Zgl. kam C. der Ruf eines hervorragenden Astrologen zu, wodurch er immer öfter um Geburtshoroskope, astrolog. Gutachten u. Expertisen gebeten wurde (so etwa für das Patenkind Albrecht Dürers oder für Fürst Georg von Anhalt). Diesem ausgezeichneten Ruf war es wohl auch zu verdanken, dass C. – mehr oder weniger geheim – zusätzlich, vermutlich seit 1527, in den Dienst Herzog Albrechts von Preußen trat, für den er ebenfalls diplomat. Aufträge übernahm. Somit diente C. gleichzeitig dem entschieden kath. Joachim von

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Brandenburg, wie auch dessen lutherisch gesinntem Bruder Albrecht von Preußen, für den er auch den Kontakt zu den Wittenberger Reformatoren um Melanchthon u. Luther herstellte u. aufrechterhielt. Gerade auch in diesem scheinbaren Widerspruch ist C. als exemplarische Person seiner Zeit erkennbar. Den seit Tübinger Tagen nie abgerissenen Kontakt zu Melanchthon pflegte C. durch Briefe, durch das Erstellen astrologischer Gutachten für den Wittenberger Reformator u. durch persönl. Besuche in Wittenberg. Melanchthon war es auch, der C.s aus heutiger Sicht wichtigstes Werk überarbeitete u. zum Druck brachte, eine knapp gehaltene Weltchronik in dt. Sprache (Chronica durch Magistru[m] Johan Carion/ vleissig zusamen gezogen/ meniglich nuetzlich zu lesen. Wittenb. 1532). Dieses Buch, gespeist aus mittelalterlichen u. zeitgenöss. Quellen, transportierte zum ersten Mal in kompakter, handl. Form ein luth.-protestantisches Geschichtsverständnis u. bediente damit offenbar ein zeitgenöss. Bedürfnis größeren Umfanges. Denn obgleich seine Chronologie mit gravierenden Mängeln versehen war, wurde das den nahen Weltuntergang voraussagende Werk zu einem der erfolgreichsten Drucke deutscher Sprache des 16. Jh. Bereits im Erscheinungsjahr erfuhr es fünf Auflagen an drei Orten, u. bis 1564 wurde es 26-mal – immer wieder mit Zusätzen versehen – auf Deutsch aufgelegt. Melanchthon nahm in den Jahren 1558–1560 eine neuerl. Überarbeitung vor, die von seinem Schwiegersohn Caspar Peucer 1565 vollendet wurde (erste Gesamtausg. Wittenb. 1572 u. d. T. Chronicon Carionis). Auch in dieser umfangreicheren Fassung firmierte das Werk unter dem Namen C.s im In- u. Ausland. C. selbst, der 1535 zum Dr. der Medizin promoviert worden war, konnte den Erfolg des Werkes nur kurze Zeit genießen, denn er starb bereits 1537, angeblich an übermäßigem Alkoholgenuss. Dennoch blieb er den Zeitgenossen durch seine Werke lange im Gedächtnis. Seine Chronik wurde bereits 1537 ins Lateinische übersetzt (Chronica Ioannis Carionis conuersa ex Germanico in Latinum. Schwäbisch Hall 1537) u. trat von da an einen beispiellosen Siegeszug durch ganz Europa

Carmen ad Deum

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an, wobei sie des Öfteren wiederum in die Carmen ad Deum, Ende 8./Anfang 9. Jh. jeweilige Volkssprache tradiert wurde (etwa – Frühmittelalterliches Reimgedicht. ins Spanische, Tschechische, Italienische u. Das 29 Verse umfassende C. a. D. (Gedicht an Französische). Insg. sind bis heute über 170 Gott) wurde vielleicht noch im 8. Jh. im iriAusgaben des Werkes in den verschiedenen schen oder angelsächs. Bereich geschrieben. Fassungen bekannt, was den Status der CariEs ist in acht Handschriften (u. a. der der onschronik als Standardwerk protestantiCarmina Cantabrigiensia) überliefert. Nur in scher Geschichtssicht der Frühen Neuzeit der Münchener Handschrift clm 19410 ist – dokumentiert. Auch als Prophet u. Sternnach einer nicht erhaltenen Vorlage, die wohl deuter blieb C. indes noch bis ins 17. Jh. um die Mitte des 9. Jh. entstand – eine ahd. hinein erfolgreich, seine Schriften wurden Übersetzung hinzugefügt worden. Darin immer wieder aufgelegt oder in andere Werke wird der lat. Text Wort für Wort übertragen; eingearbeitet (etwa in: Vaticinia postremi seculi ursprünglich handelte es sich wohl um eine Dvo. Darmst. 1610). Interlinearversion, bei der allerdings einiges Weitere Werke: Verschiedene Practicae auf von dem beschwörenden Klang u. Rhythmus verschiedene Jahre, i. d. R. o. O.: Prognosticatio vnd des lat. Gedichts verloren ging. Der Text beerklerung der grossen wesserung. o. O. 1521 u. ö. – Bedeütnus vnd offenbarung warer hyml. Influxion. ginnt mit der Anrufung Gottes, des mächtiWittenb. u. a. 1527 u. ö. – Ivdicivm Magistri Io- gen Schöpfers u. Herrschers der Welt, u. fährt hannis Carionis de Anno M.D.XXXIII. o. O. 1533. – fort mit der Bitte an Christus um Schutz vor Vom Cometen den man newlich jm M. D. XXXII. Sünde u. Unheil: Christus solle der Schild jar gesehen hat. Wittenb. 1533. – Ausslegung der sein, der die Geschosse des Widersachers abverborgenen Weissagung/ Doctor Johannis Cario- wehrt. Nicht geklärt ist, ob das Bild der Hand nis. o. O. 1546 u. ö. – Prognosticon, Oder Prophe- in der Schlusswendung auf Maria bezogen ceyung Johan Carionis. Mittelburg 1593. oder ob in ihm die wirkende Kraft Gottes Literatur: E. Menke-Glückert: Die Geschichts- angesprochen ist. schreibung der Reformation u. Gegenreformation. Bodin u. die Begründung der Geschichtsmethodologie durch Bartholomäus Keckermann. Neudr. v. 1912. Lpz. 1971. – G. Münch: Das Chronicon Carionis Phillippicum. Ein Beitr. zur Würdigung Melanchthons als Historiker. In: Sachsen u. Anhalt. Jb. der Histor. Kommission für Sachsen u. die Provinz Anhalt. Hg. R. Holtzmann u. W. Möllenberg. Magdeb. 1925, Bd. 1, S. 199–283. – H. F. W. Kuhlow: J. C. (1499–1537). Ein Wittenberger am Hofe Joachim I. In: Jb. für Berlin-Brandenburgische Kirchengesch. 54 (1983), S. 53–66. – Barbara Mahlmann-Bauer: Die Chronica Carionis v. 1532, Melanchthons u. Peucers Bearbeitung u. ihre Wirkungsgesch. In: Himmelszeichen u. Erdenwege. J. C. (1499–1537) u. Sebastian Hornmold (1500–81) in ihrer Zeit. Hg. vom Kultur- u. Sportamt der Stadt Bietigheim-Bissingen. Ubstadt-Weiher 1999, S. 203–246. – Frank Ulrich Prietz: Gesch. u. Reformation. Die dt. Chronica des J. C. als Erziehungsbuch u. Fürstenspiegel. In: Universitas. Die mittelalterl. u. frühneuzeitl. Univ. im Schnittpunkt wiss. Disziplinen. FS Georg Wieland. Hg. Oliver Auge u. Cora Dietl. Tüb. 2007, S. 153–165. Frank Ulrich Prietz

Ausgaben: Georg Baesecke (Hg.): Das lat.-dt. Reimgedicht (C. a. D.) u. das Rätsel vom Vogel federlos. Bln. 1948, S. 55 f. – Wilhelm Braune (Hg.): Ahd. Lesebuch. 15. Aufl. bearb. v. Ernst A. Ebbinghaus. Tüb. 1969, S. 37 f. – Hans Joachim Gernentz (Hg.): Ahd. Lit. Eine Ausw. Bln. 1979, S. 20 f. (mit Übers.). – Horst Dieter Schlosser (Hg.): Ahd. Lit. Bln. 1998, S. 54 f. (mit Übers.). Literatur: Baesecke 1948 (s. o.). – Stefan Sonderegger: Ahd. Sprache u. Lit. Bln./New York 1974. 2., durchges. u. erw. Aufl. 1987, S. 119. – Fidel Rädle: C. a. D. In: VL. – Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen MA (Bd. 1, Tl. 1 der Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit). Ffm. 1988, S. 269 f. Elisabeth Wunderle / Red.

Carmen Sylva

Carmen Sylva, eigentl.: Elisabeth (Pauline Ottilie Luise), Königin von Rumänien, auch: Dito und Idem, C. Wedi, * 29.12. 1843 Neuwied, † 2.3.1916 Arges¸ bei Bukarest; Grabstätte: Curtea de Arges¸ . – Lyrikerin, Erzählerin, Dramatikerin u. Übersetzerin.

362 Literatur: Mite Kremnitz: C. S. Breslau 1882. – Karl Peters: C. S. als Dichterin. Diss. Marburg 1925. – Eugen Wolbe: C. S. Lpz. 1933. – Hildegard Emille Schmidt: Elisabeth Königin v. Rumänien, Prinzessin zu Wied, C. S. Ihr Beitr. zur rumän. Musikkultur v. 1880 bis 1916 im Kulturaustausch zwischen Rumänien u. Westeuropa. Diss. Bonn 1991. – Roger Merle: C. S. L’extravagante Reine Élisabeth de Roumanie. Ittah 1999. – Kurt Roessler: Rheingedichte v. Guillaume Apollinaire u. C. S. Bornheim 2002. – Silvia Irina Zimmermann: Die dichtende Königin. Elisabeth, Prinzessin zu Wied, Königin v. Rumänien, C. S. (1843–1916). Selbstmythisierung u. prodynast. Öffentlichkeitsarbeit durch Lit. Diss. Marburg 2003. Helene M. Kastinger Riley / Red.

Die Tochter des Fürsten Hermann zu WiedNeuwied entstammte einer kunstsinnigen Familie. Ihre Urgroßmutter, Fürstin Marie zu Wied, war ebenfalls Dichterin u. mit Wieland, Arndt u. a. befreundet. Ihr Vater, Generalmajor u. bedeutender Maler, publizierte mehrere philosoph. Werke. 1869 heiratete C. S. Prinz Karl, seit 1881 König Carol I. von Rumänien. Hochgebildet u. vielseitig Carmina Burana. – Sammlung lateinibegabt, schrieb sie in allen Gattungen u. in scher u. deutscher Gedichte des 12. u. 13. mehreren Sprachen, übersetzte rumän. Lite- Jh., aufgezeichnet um 1230 (mit Nachratur (v. a. von Basil Alexandri) ins Deutsche trägen bis um 1300). u. dichtete das Schlachtlied Die Wacht an der Carmina Burana (Benediktbeurer Lieder) Donau, mit dem am 22.5.1877 die Rumänen nannte Johann A. Schmeller die von ihm 1847 in den Unabhängigkeitskrieg gegen die Tür- edierte lat. Liedersammlung einer 1803 aus ken zogen. Mit Mite Kremnitz, der Frau ihres der säkularisierten oberbayer. Abtei BeneLeibarztes u. späteren Biografin, verfasste sie diktbeuern nach München verbrachten unter dem Pseudonym Dito u. Idem auch Handschrift. Sie trägt heute die Signatur clm mehrere Romane (Astra. Feldpost. Beide Bonn 4660/4660a u. zählt zu den kostbarsten 1887), Novellen (u. a. In der Irre. Bonn 1890) u. Schätzen der Bayerischen Staatsbibliothek. das histor. Drama Anna Boleyn (Bonn 1886). C. Ihr Wert resultiert v. a. aus dem Umstand, S.s rumän. Dichtungen erschienen erst unter dass sie trotz des Verlustes von mindestens dem Pseudonym C. Wedi in »Gegenwart«, neun, wahrscheinlich jedoch von weit mehr 1878 auch im »Magazin für die Literatur des (24?) Blättern immer noch die größte mlat. Auslands«, gefolgt von vielen Erzählungen, Sammlung weltl. Lyrik bildet u. dass sie 149 Märchen, Balladen in dt. Übersetzung. nur hier überlieferte Stücke enthält. Die meist in Bukarest u. Castell Pelesch leEinem breiteren Publikum bekannt gebende Königin, Dr. phil. h. c. der Universitä- worden ist die Sammlung durch Carl Orffs ten Budapest u. St. Petersburg, schrieb auch szenische Kantate (1937), die freilich nur eizahlreiche Originalwerke. Darunter sind nen kleinen Ausschnitt aus dem sehr viel mehrere Theaterstücke (Frauenmuth. Bonn umfangreicheren Korpus vertont, das neben 1890. Meister Manole. Bonn 1892), viele Lieder, Liebeslyrik, Fortuna-, Trink- u. Spielerliedern Gedichte u. Idyllen (Handwerkerlieder. Hei- auch Gedichte moral. Inhalts, geistl. Spiele, math! Beide Bonn 1891. In der Lunca. Regensb. Prosastücke u. lehrhafte Verse enthält. Die 1904), zahlreiche Märchen (Märchen einer Kö- verschiedenen Texttypen sind – zumindest in nigin. Stgt. 1901), Novellen (Aus dem Leben. der ursprüngl. Sammlung (CB 1–228) – Lpz. 1912) u. Romane (Aus zwei Welten. Lpz./ planvoll angeordnet. Diese zerfällt in vier Bonn 1884. Deficit. Bonn 1890). Sie illustrierte Großabschnitte (moralisch-satir. Dichtung, ihre Dichtung Die Sphinx (mit Musik von Liebeslieder, Trink- u. Spielerlieder, geistl. Dramen), die ihrerseits wieder nach inhaltl. u. August Bungert. Bln. 1890) selbst. Ausgabe: Stephans des Großen Mutter. Rumän. formalen Gesichtspunkten gegliedert sind. Dichtungen. Lyrikanthologie. Hg. Matei Albastru. Im 1. Abschnitt, dessen Anfang verloren ist, geben sich folgende Kleingruppen zu erkenBukarest 32004.

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nen: Warnung vor Habgier u. Neid (CB 1–13), Fortuna (14–18), Tugendlehre (19–25), Bekehrung (26–32), Standeslehre für Prälaten, Mönche u. Priester (33–40), Romkritik (41–45), christl. Bewährung von Laien (46–52). Im 2. Abschnitt begegnet man einer Gruppe von Liedern der Liebesfreude u. des Liebesverlangens (56–88), Liedern der verkehrten Liebe (91–102), Liebesklagen (103–120), Klagen verschiedenen Inhalts (122–131), Liebesliedern mit Natureingang (135–160), Amor- u. Venusliedern (161–175) sowie Liebesliedern gemischten Inhalts (135–185); die Gedichte der drei zuletzt genannten Gruppen weisen fast durchgehend dt. Zusatzstrophen auf. Abschnitt 3 enthält Gedichte über Hof u. Höflinge (187–191), Trink- u. Spielerlieder (193–206, 211), die Spielermesse (215) sowie Vagantenlieder (216–226). Abschnitt 4 besteht aus dem Benediktbeurer Weihnachtsspiel (227) u. dem fragmentar. Ägyptenspiel (228). Die Kleingruppen werden, v. a. im 1. Abschnitt, häufig durch eingeschaltete »versus« lehrhaften Charakters voneinander geschieden. Auch die ersten vier Miniaturen der Handschrift stehen an markanten Einschnitten: nach CB 18 (Fortuna), CB 102 (verkehrte Liebe), CB 160 (Liebe u. Natur) u. CB 186 (Ende der Liebeslyrik). Sie beziehen sich jeweils auf die vorhergehende Gruppe. (Die restl. vier Bilder – Trink- u. Spielszenen – illustrieren die sie umgebenden Texte.) Innerhalb der Gruppen gleicher Thematik wird nach formalen Prinzipien geordnet: Sequenzen, Strophenlieder, Refrainlieder bilden unübersehbare Blöcke, allerdings nicht mit restloser Konsequenz. Die erkennbare Regel wird – in manchen Fällen wohl mit Absicht – von Stücken durchbrochen, die sich inhaltlich oder formal von ihrer Umgebung abheben. Ganz außerhalb des Programms stehen die sog. Nachträge (CB 1*-26*), die erst nach Abschluss der Grundsammlung in den Kodex eingetragen bzw. ihm beigebunden wurden. Sie lassen zwar noch eine bestimmte Interessenrichtung, aber nicht mehr die Hand des sammelnden u. bearbeitenden Redaktors erkennen. Sie sind vorwiegend geistlich orientiert: Andachtstexte, Hymnen u. Sequenzen, geistl. Spiele, dazu Zeitklagen u. der Preis

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eines Prälaten. Die drei Liebesgedichte 2* , 3* u. 8* nehmen sich dazwischen wie Fremdkörper aus. CB 7*-15* u. 26* sind auf sieben Blättern eingetragen, die im Verlauf der Überlieferung vom Kodex abgetrennt wurden (Sigle: 4660a). Die Sammlung kann nicht vor 1217/19 entstanden sein, da CB 168 eine Strophe von Neidharts Kreuzlied enthält, das in diese Zeit zu datieren ist. Schriftduktus u. formale Merkmale der Miniaturen schließen andererseits eine Entstehung nach 1250 aus. Wahrscheinlich ist aus paläografischen u. kunstgeschichtl. Gründen eine Datierung um 1230. Die Schreibformen verraten ital. Einfluss u. lassen darauf schließen, dass der Kodex an der Südgrenze des dt. Sprachraums (nicht in Benediktbeuern) geschaffen wurde. Lautgeografische Untersuchungen der dt. Texte legen Südtirol als Entstehungslandschaft nahe; der kunsthistor. Befund würde dazu passen. In jedem Fall muss die Handschrift einen vermögenden Auftraggeber gehabt haben (die Chorherren von Neustift bei Brixen? Kaiser Friedrich II.?) – das Liederbuch eines Vaganten kann sie nicht gewesen sein –, u. für ihre planvolle Anlage zeichnete ein kenntnisreicher (geistl.) Redaktor bzw. eine Redaktorengruppe verantwortlich. (Ob die beiden Hauptschreiber dazu zu zählen sind, ist umstritten.) Die Intention des Redaktors/der Redaktoren aus dem Werk zu erschließen, ist ebenso schwierig wie reizvoll, da die C. B. so viele, anscheinend gegensätzl. Aspekte umschließen: Warnungen vor Fleischeslust stehen neben Gedichten, in denen der Sprecher sich einer erfolgreichen Verführung rühmt, eine Messparodie neben dem feierlich-ernsten Weihnachtsspiel, Deutsches neben Lateinischem, mit Neumen (Notenzeichen) versehene Texte neben nicht neumierten. Man wird den Kodex daher weder einfach als Musikhandschrift noch als Buch weltl. Dichtung, weder als Lebens- noch als Liebeslehre bezeichnen können, obwohl er Elemente von all dem enthält. Der grundlegende Gesichtspunkt, von dem der Redaktor sich bei der Zusammenstellung so disparat erscheinender Texte leiten ließ, dürfte der eines ästhetisch orientierten, bewahrenden Sammelns gewe-

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sen sein. Die erwähnten Unstimmigkeiten der Untergruppen weisen in diese Richtung. Wo der Redaktor vor der Entscheidung stand, sein »System« zu durchbrechen oder einen vorhandenen Text wegzulassen, entschied er sich für das Erstere. Dass er sich tatsächlich für Dichtung als solche, für das sprachl. Kunstwerk interessierte, geht auch aus dem Umstand hervor, dass ein Teil der Lieder mit dt. Zusatzstrophen höchstwahrscheinlich im Umkreis des Redaktors bzw. des Auftraggebers entstanden ist. Weder Sammeleifer allein noch die Verehrung für das Lateinische könnten ein solches Vorgehen erklären: Man will Poesie schaffen, weil man Poesie liebt, u. man scheut sich auch als Kleriker, wahrscheinlich sogar als Ordenskleriker, nicht, Liebesgedichte zu schreiben, u. zwar auf Lateinisch u. Deutsch. So ist z.B. in den Liedern der sog. »Hebet sidus«-Gruppe (CB 151, 165, 167 f.) eine schon vorhandene dt. Strophe zum Anlass genommen worden, ein lat. Lied hinzuzudichten; in CB 136, 138, 142, 146, 170 wurde einem lat. Carmen eine dt. Strophe beigefügt, u. wieder andere Lieder, wie z.B. CB 141, dürften für die C. B.-Sammlung in der erwähnten Manier (lat. Korpus, dt. Schlussstrophe) angefertigt worden sein. Die in Verbindung mit der Redaktion des clm 4660 neu gedichteten lat. oder dt. Strophen verraten zum einen, dass man in diesen klerikalen Kreisen die dt. Sprache für literaturfähig hielt u. den Laien keine Exklusivrechte auf volkssprachl. Liebesdichtung zugestehen wollte, u. zum andern, dass man – verglichen mit den aus westl. Quellen gespeisten Liebesliedern (z.B. CB 59, 62, 65, 68, 70, 72, 75–77, 83 f., 86 f., 90, 103 f., 108, 121, 156, 158, 164, 167) – eine sanftere, zartere Form von Liebeslyrik bevorzugte. Die Mehrzahl der Lieder mit dt. Zusatzstrophe preist den Frühling u. die Natur, führt die Burschen u. Mädchen zum Tanz auf die Wiese, schildert erwachende Zuneigung u. scheue Liebessehnsucht (vgl. etwa CB 135–140, 142–146, 150–152, 165 f., 168–170, 173). Mit beiden Zügen stehen diese Dichtungen am Ende der mlat. Liebeslyrik. Die Kleriker des Redaktionskreises versuchten, auf ihre Weise jene Tradition fortzusetzen, in der sie groß geworden waren u. die ihnen so viel bedeutete.

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Von hier aus erklärt sich auch ihr Sammeleifer, ihr Wunsch, die mlat. Poesie der vergangenen 100 Jahre zu bewahren. Die Quellen, die sie für ihr Werk heranzogen, sind uns nicht erhalten. Ganz gewiss müssen neben Einzelliedern in mündl. Überlieferung auch kleinere oder größere Sammlungen inkorporiert worden sein, wie die Doppelung von CB 85 u. 159 beweist. Vor allem Handschriften westl. Herkunft (wie z.B. Florenz, Bibl. Med.-Laur., Laur. Pl. 29.1 oder Oxford, Bodleian Libr., Add. A 44) weisen so auffällige Parallelen im Liedbestand auf, dass man auf gemeinsame (Teil-)Vorlagen schließen kann. (Der Florentiner Kodex hat 18 Nummern mit dem clm 4660 gemeinsam, der Oxforder 15.) Kleinere Kollektionen einzelner Dichter (etwa Petrus von Blois oder Walter von Châtillon) mögen ebenfalls ausgewertet worden sein. Sicher ist, dass ein erhebl. Teil des Liedgutes aus dem Westen, v. a. aus Frankreich, stammte. (Dazu zählen – mit größerer oder geringerer Sicherheit – CB 1–37, 41 f., 47, 52, 56–77, 83–96, 98–106, 108–110, 112, 115–123, 131, 153[?], 155–160, 164, 167, 187, 189, 193, 195, 197[?], 202, 220a, 226.) Manche dieser Stücke werden kaum der Mentalität des Buranus-Kreises entsprochen haben: die Lieder wilder Leidenschaft u. freier Sinnlichkeit (z.B. CB 72, 84), die Messparodie (CB 215), manche Trink- u. Spielerlieder (s. o.). Man ließ sie trotzdem nicht beiseite, in erster Linie wohl wegen ihrer dichterischen Qualität. Doch dürfte der ästhet. Gesichtspunkt nicht der einzige gewesen sein, der für ihre Aufnahme in die Sammlung ausschlaggebend war. In all den Liedern, auch den ungebärdigen, steckt etwas von dem, was den »clericus«, den Universitätsstudenten u. -absolventen des 12. u. 13. Jh., im Innersten bewegte. Zusammengenommen könnte man die C. B. als Spiegel der Freuden u. Leiden, der Sorgen u. Hoffnungen der akadem. Jugend dieser Zeit bezeichnen. Da ist das Problem der Hab- u. Geldgier der Besitzenden, speziell der mit einer Pfründe versehenen Kleriker u. der geistl. Kurien (CB 1–11, 19 f., 33 f., 39–45, 89, 123, 131). Kontrastiv dazu die Armut der nach dem Studium herumziehenden (vagierenden) u. eine Stelle suchen-

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den »clerici« (CB 36, 129, 191a, 218, 220, 224–226), die, wenn ihre Suche erfolglos blieb, leicht zu sozialen Aussteigern, zu »Vaganten« im eigentl. Sinne werden konnten, denen dann Trunk u. Spiel zum Lebensinhalt wurden (CB 193–197, 199–203, 205–208, 211, 215, 219, 221 f.). Manche Kleriker kommen (z.B. als Sekretäre, Briefstilisten, Dichter) an einem Hof unter – u. müssen, um bleiben zu können, schmeicheln u. kriechen (CB 189–191). Das entscheidende Lebensproblem jedoch, das in immer neuen Varianten abgehandelt wird, ist das der Liebe u. Sexualität. Vieles von dem, was in den C. B. steht, ist zweifellos Spiel – Wortspiel, Gedankenspiel, »iocus« – u. steht im Zeichen des Irrealis. Doch schon die Intensität, mit der das Spiel betrieben wird, deutet an, dass sich dahinter Lebensrealität verbirgt. Sie wird ganz deutlich dort, wo das Verhältnis Liebe – Sünde, Triebverfallenheit – innere Freiheit thematisiert wird (CB 29–31, 63, 104, 108, 112). Bezeichnenderweise ist die Frau in diesen Liedern (ausgenommen CB 29, 31, 63) nicht der »Fallstrick des Bösen«, wie in der gleichzeitigen misogynen Literatur, aber auch nicht die unnahbare Herrin des höf. Minnesangs oder die elegante Dame der röm. Elegie, sondern das Mädchen in allen denkbaren Varianten. Die »puella« ist die überwältigend Schöne (z.B. CB 61, 67, 69, 146, 156, 165, 170), die schüchtern Spröde (z.B. CB 79), die selbstsicher Abweisende (z.B. CB 103 f.), die heimlich Liebende (z.B. CB 77), die Verführte (z.B. CB 70, 157, 172), die Vergewaltigte (z.B. CB 84, 158, 185), die Freundin (z.B. CB 65, 68, 83, 177, 183), die Treulose (z.B. CB 60, 118, 147), die Raffinierte (z.B. CB 121), die Prostituierte (z.B. CB 76), die Verlassene (z.B. CB 126). Dem korrespondiert eine Vielfalt männl. Verhaltensweisen wie anbetende Verehrung, Aufmunterung, Werbung usf., sodass sich eine bunte Fülle von Beziehungsvarianten auftut. Im Gegensatz zum Minnesang wird aber in den C. B. immer wieder auch die Frage gestellt, ob eine solche Beziehung überhaupt sein darf. Man weiß natürlich, dass der geweihte Kleriker zum Zölibat verpflichtet ist u. dass freie Liebe in jedem Fall der christl. Sexualmoral widerspricht. Dem kann man nur entgegensetzen,

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dass die Liebe den jungen Menschen einfach überwältigt. Daher ist so oft von der Macht der Natur, vom Zwang der Schönheit, von der Liebeskrankheit, von Venus’ u. Amors Gewalt die Rede – u. vom Beispiel der heidn. Götter. Geradezu heidnisch freizügig muten denn auch einige Lieder an, die alle Bedenken abgestreift zu haben scheinen u. den Eindruck erwecken könnten, als hätten ihre Dichter bewusst der kirchl. Tradition den Kampf angesagt, so etwa der Verfasser von CB 72. Doch ist gerade in diesem Fall der Autor, Petrus von Blois, bekannt, der in der Folgezeit nicht nur ein berühmter Prediger war, sondern sich, um Zusendung seiner Gedichte gebeten, weigerte, seine lasziveren Lieder (»lasciviores cantilene«) herauszurücken, weil sie »Versuchungen hervorrufen könnten« (epist. 57: PL 207, 172 C). Vieles in den C. B. ist Versuch, Experiment, in dem neue Formen des poet. Ausdrucks u. einer »weltlichen« Fantasie gewagt werden. Verglichen mit dem höf. Minnesang zeichnet sich diese Kunst durch weitaus größere Variabilität, Buntheit u. Weltoffenheit aus. Während die höf. Dichter mit ungeheurem Ernst zu Werke gehen, mit Nachdruck von ihrer Kunst sprechen u. ihre Lieder als persönl. Leistung gewertet wissen wollen (entsprechend werden die Lieder in den großen Sammelhandschriften auch unter ihrem Namen überliefert), sprechen die mlat. Lyriker kaum je von ihrer »ars«; ihre Gedichte – fast immer Jugendwerke – schreiben sie gewissermaßen mit der linken Hand, u. die Zuweisung an einzelne Autoren ist zum größten Teil nicht der Überlieferung, sondern der modernen Philologie zu verdanken. Auch der Codex Buranus sammelt keine Autoren, sondern Texte. Deshalb vermeidet es der Redaktor auch konsequent, Autoren zu nennen, obwohl er beim einen oder anderen Stück – etwa bei den Versen eines Horaz, Ovid, Otloh – gewiss den Urheber kannte. Bei anderen (Juvenal, Marbod, Gottfried von Winchester, Hugo Primas, Hilarius von Orléans, Archipoeta, Walter von Châtillon, Petrus von Blois, Gottfried von St. Victor, Philipp dem Kanzler) mag es zweifelhaft sein, doch ist dies unwichtig gegenüber der Tatsache, dass der Redaktor die Texte in ihrer Anonymität be-

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Ausgaben: Bernhard Bischoff (Hg.): C. B. Faks.lassen wollte, weil sie eben nicht als geistiges Eigentum dieses oder jenes schöpferischen Ausg. der Hs. clm 4660 u. clm 4660a. Mchn. 1967. – Individuums wichtig waren, sondern als Alfons Hilka, Otto Schumann u. B. Bischoff (Hg.): Tl. 2, Ausdruck des kollektiven Bewusstseins der 2C. B. 1. Bd.: Text. Tle. 1–3, Heidelb. 1930–70. 1971. 2. Bd.: Komm. Tl. 1, Heidelb. 1930. 21961. – »clerici« in dem Jahrhundert zwischen 1130 Carl Fischer, Hugo Kuhn u. Günter Bernt (Hg.): C. u. 1230. Der Redaktor der Sammlung, dem B. Die Gedichte des Codex Buranus lat. u. dt. Züdie in den »westlichen« Liedern sich mani- rich/Mchn. 1974 (als Tb. Mchn. 1979. 31985.) – festierenden stürmischen Jahrzehnte bereits Michael Korth (Hg.): C. B. Lat.-dt. Gesamtausg. der Vergangenheit waren, nahm zwar auch Stü- mittelalterl. Melodien mit den dazugehörigen cke auf, die seiner Mentalität fremd waren, Texten. Mchn. 1979. – Benedikt K. Vollmann (Hg.): entschärfte sie aber bisweilen durch Verse C. B. Texte u. Übers.en. Mit [...] einem Aufs. v. entgegengesetzter Tendenz (deutlich etwa im Peter u. Dorothee Diemer. Ffm. 1987. – Edoardo Vergleich von CB 211 mit CB 212–214). Fer- Bianchini (Hg.): C. B. Canti morali e satirici. Bd. 1, ner schob er Wissens- u. Bildungsgut ein, wie Mailand 2003. Literatur: Bibliografie: Hilka/Schumann/Bietwa anlässlich der Erwähnung von Herkules in CB 63 die Memorierverse über die zwölf schoff (s. o.). – Vollmann 1987 (s. o.). – Weitere Titel seit 1988: Olive Sayce: Plurilingualism in the C. B. Taten (CB 64), oder nach den lockeren SprüGöpp. 1992. – Tuomas M. S. Lehtonen: Fortuna, chen von Schachspielern in CB 209 die Money, and the Sublunar World. Helsinki 1995. – Schachspielanweisung CB 210. Ähnlich wer- Heike Sigrid Lammers: C. B. Musik u. Aufzeichden der Gruppe »Natur und Liebe« (CB nung. Mchn. 1997. – Fritz Peter Knapp: Die ›C. B.‹ 135–160) zwei Kataloggedichte über die Na- als Ergebnis europ. Kulturtransfers. In: Kultureller men der Vögel u. der Wildtiere vorgeschaltet Austausch u. Literaturgesch. im MA. Hg. Ingrid (CB 133 f.). Die entscheidende Relativierung Kasten u. a. Sigmaringen 1998, S. 283–301. – Joliegt jedoch vermutlich im Programm selbst. hannes Janota: Zum Refrain in den lat.-dt. LiebesAn der Anordnung der Gedichte lässt sich liedern des Codex Buranus. In: FS Horst Brunner. eine ethisch wertende Entwicklungslinie ab- Wiesb. 2000, S. 211–226. – Martin H. Jones (Hg.): The C. B.: Four Essays. London 2000. – Dieter lesen: weg von den sieben Hauptsünden Schaller: Gattungs- u. Formtypen in den ›C. B. (Habsucht, Neid, Unkeuschheit, Unmäßig- amatoria‹. In: Mlat. Jb. 36 (2001), 1, S. 77–93. – keit im Essen u. Trinken, geistl. Verdrossen- Johann Drumbl: Studien zum Codex Buranus. In: heit), hin zum Heilsereignis der Geburt Aevum 77 (2003), S. 323–356. Christi; innerhalb der »luxuria«-Lieder, also Benedikt K. Vollmann der Liebeslyrik, könnte man einen Dreischritt »bedenkliche Liebe« – »sündhafte Liebe« – Carmina Cantabrigiensia, zweites Vier»unverdorbene Liebe« erkennen. Ganz getel des 11. Jh. – Lateinische u. lateinischwiss wollten sich Auftraggeber u. Redaktor deutsche Sammlung von Bibel-, Liebes-, des Codex Buranus nicht schlechthin von der Preis-, Schwank- u. Zeitliedern mit Exweltl. Lyrik distanzieren, auch nicht von der zerpten aus antiken Werken. Liebeslyrik, wie die in ihrem Umkreis produzierten Lieder zeigen. Aber eine gewisse Die C. C. präsentieren sich als Sammelbecken Relativierung schien ihnen doch angebracht – unterschiedlicher Stoffe u. Themen. Formal vor sich selber u. vor den Außenstehenden. gemeinsam ist allen Texten die gebundene Noch in der Sammlung selbst kommt also Form. Die einzige bekannte Handschrift etwas von der Ambivalenz mittelalterlicher (Cambridge, UB, Gg 5.35, f. 432–441, 11. Jh., weltl. Klerikerdichtung zum Vorschein: die England) befand sich seit dem 12. Jh. im St. lebhaft empfundene, aber nicht geklärte (weil Augustinkloster in Canterbury. Dort wurden vielleicht nicht klärbare) Spannung von »ir- vier der sechs Liebeslieder entweder durch discher« u. »himmlischer« Liebe, von Welt- Rasur oder Schwärzung getilgt. freude u. Sorge um das Heil der Seele, von Die C. C. überliefern 49 Texte, in der Ausgeistl. Beruf u. ästhet. Kultur. gabe Ziolkowskis 83 Texte. Ziolkowski hat, angeregt durch den Fund eines neuen Blattes der Cambridger Handschrift, eine Neuaus-

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gabe (1998) veranstaltet, in der er das Korpus der Texte auf 83 Stücke erweitert. Die Nrn. 50–76 sind dabei ausschließlich Exzerpte aus Boethius’ De consolatione philosophiae. Im Normalkorpus (Nrn. 1–49) werden zwei ahd.-lat. Mischtexte überliefert. Es handelt sich dabei um das Lied auf einen Bayernherzog Heinrich De Heinrico (Nr. 19) u. ein erotisches Gedicht Nonne und Kleriker (Nr. 28), das geschwärzt wurde. Beide Texte decken unterschiedliche, aber sammlungsintern gewichtige Themenbereiche ab, Fürstenpreis u. Liebesdichtung, u. lassen sich aufgrund der Stellung in der Sammlung keinem gemeinsamen Überlieferungskontext zuordnen. Ihre Überlieferung ist unikal. Die Verwendung des Deutschen unterstreicht, dass die Entstehung der Sammlung im hochdt. Sprachraum anzusiedeln ist u. dass der/die Verfasser bei Vortragenden wie Rezipienten eine entsprechende Sprachkompetenz voraussetzen. Zu dieser Lokalisierung passen histor. Persönlichkeiten sowie Eigen- u. Ortsnamen, die in der Sammlung erwähnt werden. Die Preislieder u. Totenklagen beziehen sich auf: Otto I., Otto II., Otto III., Konrad II., Heinrich II., Heinrich III., Herzog Heinrich von Bayern, Herzog Wilhelm von Aquitanien, Erzbischof Heribert von Köln, Erzbischof Popo von Trier u. Erzbischof Heriger von Mainz. Die beiden Protagonisten einer Freundschaftserzählung heißen Lantfridus u. Cobbo, die Geschichte von der Eselin Alfrads, die von einem Wolf gefressen wird, spielt in einem Ort namens Homburg, die Geschichte vom Schneekind (ein Schwabe verkauft das »mit Schnee« gezeugte Kind seiner untreuen Frau im Orient) gehört zus. mit dem folgenden Lügenmärchen (ein Schwabe gewinnt durch ein Lügengedicht die Hand der Königstochter) nach Schwaben, präzis nach Konstanz. Eine gewisse Zäsur in der Abfolge bietet Wipos Totenklage auf Konrad II. (Nr. 33). Bezüge auf den deutschsprachigen Raum fehlen fortan (Nr. 34–49). Alle verwertbaren Angaben im zweiten Textbereich verweisen auf den romanischen Raum. Dieser Sachverhalt deutet darauf hin, dass die C. C. aus zwei Textkorpora zu bestehen scheinen, die aus dem deutschen (1–33) u. dem romanischen Raum (34–49) stammen.

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Die Abfolge der Texte unterliegt keiner erkennbaren Ordnung: Geistliches, Fürstenpreis, Totenklage, Weltliches, Liebeslied, Belehrendes, Antikes u. Musiktheoretisches wechseln sich in bunter Reihenfolge ab. Die Parallelüberlieferung einzelner Texte bietet kaum Strukturierungsmöglichkeiten. Das kleine Korpus einer Wolfenbütteler Handschrift des 11. Jh. (W = Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. 56.16 Aug. 88) bietet die Stücke 5, 15, 14, 11 mit Überschriften u. Neumierung. Es handelt sich dabei um ein Lied auf das Leben Jesu (Nr. 5 = Modus qui et Carelmanninc), ein Preislied auf die Ottonen (Nr. 11 = Modus Ottinc), das Schneekind (Nr. 14 = Modus Liebinc) u. das Lügenmärchen (Nr. 15 = Modus florum). Ein weiteres Zeugnis bieten die Sermones (um 1100) des Sextus Amarcius Gallus Piosistratus, der den Auftritt eines »iocolator« schildert, zu dessen Repertoire das Schneekind (Nr. 15), die Geschichte von Pythagoras (Nr. 12), das Lied der Nachtigall (Nr. 10) u. die Geschichte von David und Goliath (Nrn. 82 u. 83 nach Ziolkowski) gehören. Terminus post quem für die Entstehung der C. C. ist der 4.6.1039, der Todestag Konrads II. Die dt. Teilsammlung könnte mit Wipos Totenklage auf den Salier Konrad II. enden (Nr. 33). Als Gelenkstück folgt ein Exzerpt aus Vergils Aeneis. Die Nr. 35, Sacerdos et lupus, dürfte schon zur romanischen Teilsammlung gehören. Die Verortung der Sammlung am salischen Hof ist aufgrund der dichten u. unikalen Überlieferung von einschlägigen Totenklagen u. Preisliedern (s. o.) unbezweifelbar. Nur dort dürften die Texte in dieser Konzentration verfügbar gewesen sein. Die Entstehung der Sammlung ist am Hof Heinrichs III. anzusiedeln. Der bedeutsamste Text für die dt. Literaturgeschichte ist das Lied von Heinrich, De Heinrico, der C. C. Es ist bilingue überliefert: Langzeile mit lat. Anvers u. ahd. Abvers. Es beginnt mit einer Prologstrophe, einer Invocatio Christi u. der Vorstellung des Protagonisten: Es ist Herzog Heinrich von Bayern. In den folgenden 7 Strophen wird berichtet, wie ein Bote Kaiser Otto über die Ankunft Heinrichs informiert (2). Otto steht auf u. geht Heinrich mit großem Gefolge entgegen (3).

Carmina Cantabrigiensia

Otto begrüßt Heinrich als Erster u. einen Begleiter gleichen Namens (4). Heinrich erwidert den Gruß; sie geben sich die Hand u. gehen zus. in die Kirche (5). Nach gemeinsamen Gebeten führt Otto Heinrich in den Rat u. übergibt ihm die Leitung: »et omisit illi so waz so her thar hafode, / preter quod regale, thes thir Heinrih ni gerade.« – »Er überließ ihm alles, was er hatte, außer der Königswürde, die Heinrich auch nicht beanspruchte.« (6). Otto handelt nun ausschließlich nach Heinrichs Rat. (7). Adlige u. Freie, »nobilis ac liberis«, werden als Zeugen dafür aufgerufen, dass Heinrich jedem sein Recht widerfahren ließ (8). An dieser Stelle endet das Lied oder bricht ab. Es ist vollkommen aussichtslos, den konkreten histor. Anlass der Begegnung zu bestimmen. De Heinrico ist daher weniger ein Preis- als vielmehr ein Erzähllied, das einen Herzog Heinrich von Bayern in den Mittelpunkt stellt, dessen Aufnahme u. Aufstieg zum Spitzenberater am Hof eines Kaisers Otto schildert u. ausdrücklich betont, dass der Herzog keinen Anspruch auf das Königtum erhebt. Was am salischen Hof im Bewusstsein gewesen sein dürfte, war die mehr als fünfzigjährige Rivalität zwischen den Herzögen von Bayern u. den otton. Kaisern. Beobachtbar ist hier, wie histor. Anlässe zum exemplarischen Fall werden: Es ist nur möglich, einen Cluster von Namen, histor. Ereignissen, Ansprüchen u. Konflikten zu beschreiben, die sich in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben haben u. bestimmte Konstellationen geeignet erscheinen lassen, in ihrer Literarisierung Grundprobleme der Eliten anschaulich zu machen. Das, was historisch richtig ist, wird im Prozess der Literarisierung kontaminiert u. verschmolzen, konzentriert auf das, was im kulturellen Gedächtnis als bedeutungstragend verdichtet ist: Konkurrenzen u. rivalisierende Ansprüche am Hof. Die C. C. spiegeln einerseits das Interesse an gelehrtem Wissen u. antiker Literatur am kgl. Hof, u. andererseits sind Teile der C. C. ein Produkt der Latinisierung volkssprachiger Literatur des Frühmittelalters (z.B. Schneekind, Lügenmärchen). Die entstehungsgeschichtl. Situierung der Sammlung am Hof Heinrichs III. u. die hohe Zahl von 10 Liedern

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auf Kaiser, Könige, Herzöge u. Bischöfe erlaubt es, darin eine Sammlung von (salischer) Hofliteratur zu sehen. Vieles, was in den C. C. steht, ist volkssprachig möglich gewesen u. kann deshalb Anspruch darauf erheben, Gegenstand einer Geschichte der dt. Literatur im Frühmittelalter zu sein. Ausgaben: Karl Strecker (Hg.): Die Cambridger Liederslg. (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum 40). Hann. 1926. – The Cambridge Songs. Hg. u. übers. v. Jan M. Ziolkowski. Tempe 1998. – De Heinrico: Walter Haug u. B. Konrad Vollmann (Hg.): Frühe dt. Lit. u. lat. Lit. in Dtschld. 800–1150. Ffm. 1991, S. 294–296 (mhd./nhd.). – Faksimile: The Cambridge Songs. A Goliard’s Song Book of the XIth Century. Hg. Karl Breul. Cambridge 1915. Literatur: Karl Langosch: C. C. In: VL (vgl. auch: VL, Nachträge u. Korrekturen). – Werner Ross: Die Liebesgedichte im Cambridger Liederbuch (C. C.). Das Problem des ›Frauenliedes‹ im MA. In: Der altsprachl. Unterricht 20 (1977), S. 40–62. – B. Konrad Vollmann: ›O admirabile Veneris idolum‹ (C. C. 48) – ein Mädchenlied? In: FS Paul Klopsch. Hg. Udo Kindermann u. a. Göpp. 1982, S. 532–543. – Jürgen Kühnel: ›Modus Liebinc‹. Die Sequenz vom ›Schneekind‹. In: Diagonal 1991, S. 137–157. – Hans F. Häfele: Die Pythagoras-Sequenz. In: Dt. Archiv zur Erforsch. des MAs 49 (1993) S. 479–499. – Mechthild Pörnbacher: ›Vite dator, omnifactor‹. Eine neue Ed. v. Carmen 12 der Cambridger Liederslg. In: Mlat. Jb. 28 (1993), S. 1–15. – Johannes Fried: Mündlichkeit, Erinnerung u. Herrschaft. Zgl. zum Modus ›De Heinrico‹. In: Political Thought and the Realities of Power in the Middle Ages. Hg. J. Canning u. O. G. Oexle. Gött. 1998, S. 9–32. – Matthias Herweg: ›Ludwigslied‹, ›De Heinrico‹, ›Annolied‹. Die dt. Zeitdichtungen des frühen MAs im Spiegel ihrer wiss. Rezeption u. Erforsch. Wiesb. 2002, S. 181–270. – Hans-Jochen Schiewer: Ludwig, Otto, Heinrich u. das ›Schneekind‹. Hoflit. u. Klerikerkultur im literar. FrühMA. In: Lit. – Gesch. – Literaturgesch. FS Volker Honemann. Hg. Nine Miedema u. Rudolf Suntrup. Ffm. u. a. 2003, S. 73–88. – Jens Schneider: Latein u. Althochdeutsch in der Cambridger Liederslg. C. C. 19 u. 28. In: Volkssprachige lat. Mischtexte u. Textensembles. Hg. Rolf Bergmann. Heidelb. 2003, S. 297–314. Hans-Jochen Schiewer

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Carnap, Rudolf, * 18.5.1891 Ronsdorf bei Wuppertal, † 14.9.1970 Los Angeles. – Philosoph. Der Sohn eines Webers u. einer Lehrerin wuchs in einem pietist. Haus auf, entfernte sich während seiner Jugend jedoch vom Christentum u. von jegl. Art von Theismus. Er studierte 1910–1914 in Jena u. Freiburg i. Br. Mathematik, Physik u. Philosophie im Sinne des Neukantianismus u. hörte in Jena Vorlesungen bei Gottlob Frege. Während des Ersten Weltkriegs Soldat in Frankreich, begann er sich von 1917 an für sozialist. Ideen zu interessieren. C. wurde 1921 promoviert u. 1926 habilitiert, war bis 1931 Privatdozent in Wien, dann bis 1935 a. o. Professor für Naturphilosophie in Prag. 1936 emigrierte C. in die USA u. lehrte bis 1952 in Chicago, von 1952 bis 1954 in Princeton, von 1954 bis zu seiner Emeritierung 1961 an der University of California in Los Angeles. Als erster Philosoph wandte C. die moderne Logik auf die empir. Wissenschaften u. auf Probleme der Philosophie an. Angeregt durch die erkenntnistheoret. Schriften Ernst Machs u. insbes. Bertrand Russells, entwickelte er auf der Basis der Gestaltpsychologie in den Jahren nach 1921 ein System zur Konstituierung der empir. Begriffe auf der Grundlage des zweistelligen Begriffs der Ähnlichkeitserinnerung zwischen Elementarerlebnissen. Mit dieser erstmaligen Einlösung der These der epistemolog. Rückführbarkeit aller Erfahrungserkenntnisse auf das unmittelbar Gegebene (nach Comte: auf das Positive) mit den Mitteln der modernen Logik habilitierte er sich auf Vermittlung von Hans Reichenbach 1926 bei Moritz Schlick in Wien. Seine Habilitationsschrift Der logische Aufbau der Welt (Bln. 1928 u. ö. Zuletzt Hbg. 1998) machte ihn mit einem Schlag berühmt. Sehr deutlich sind darin allerdings noch sein neukantian. Standpunkt sowie sein Bestreben zu spüren, die herkömml. Philosophie mit den neuen Ansätzen im Umfeld der modernen Logik zur Symbiose zu bringen. In seinem ebenfalls 1928 erschienenen Büchlein Scheinprobleme der Philosophie (Bln. u. ö. Zuletzt in: Scheinprobleme in der Philosophie und andere metaphysikkritische Schriften. Hg.,

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eingel. u. mit Anmerkungen vers. v. Thomas Mormann. Hbg. 2004) vollzog er allerdings, wohl auch unter dem Einfluss des Sozialisten Otto Neurath, einen radikalen u. definitiven Bruch mit der traditionellen Art des Philosophierens, der er darin am Beispiel Martin Heideggers theoret. Sinnlosigkeit u. implizit auch prakt. Nutzlosigkeit vorwarf. Dem Thema nach erscheint diese Schrift als ein Prolegomenon zum Aufbau, wiewohl sie dem Inhalt nach C.s Hinkehr zum Positivismus markiert. Beide Schriften trugen dazu bei, dass er im Wiener Kreis um Moritz Schlick bald zur zentralen u. Integrationsfigur der neuen Bewegung des »Logischen Positivismus« wurde. Im Gegensatz zu Russell u. Neurath ist der Einfluss der Philosophie Ludwig Wittgensteins auf C., entgegen Wittgensteins eigener Meinung, vergleichsweise begrenzt. Insbes. auf Neuraths Einfluss hin entfernt er sich bereits 1929 – im Zusammenhang mit der Diskussion um die Protokollsätze als der erhofften Basis der wiss. Erkenntnis – vom Positivismus phänomenalistischer Ausrichtung. Anfang der 1930er Jahre begann er, diese neue Einstellung philosophisch zu untermauern, indem er ontolog. Behauptungen in syntakt. Aussagen über den Sprachgebrauch übersetzte. In seinem Buch Logische Syntax der Sprache (Wien 1934. 21968) arbeitete er diese Einstellung der Wende in der Philosophie, die philosoph. Scheinprobleme durch exakte Wiedergabe in sprachanalyt. Form zum Verschwinden bringt, systematisch aus. Philosophische Positionen schließen sich dann nicht mehr aus, sondern sind insg. zu entwickeln u. sodann auf ihre Leistungsfähigkeit bei der Bewältigung philosophischer Probleme zu beurteilen. Sein »Toleranzprinzip in der Philosophie« fasst diese Grundhaltung zusammen. In der Ausübung dieser theoret. Einsicht verließ er später auch die operationalistischpositivist. Richtung im Sinne Neuraths durch Einbeziehung der von Alfred Tarski für formale Sprachen entwickelten Semantik, die zu C.s neuem philosoph. Betätigungsfeld wurde. Dessen systemat. Ausarbeitung wurde sein drittes Hauptwerk Introduction to Semantics (Cambridge/Mass. 1942. Faksimile-Ausg.

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der Ausg. v. 1959: Ann Arbor 1993/94), mit Carnap. In: Der Monat, 224, 1967, S. 50–56) dem er den »Logischen Positivismus« (oder, selber von diesen Versuchen Abstand gein seiner moderateren Form: den »Logischen nommen u. darin einen relativ fließenden Empirismus«) in die »Analytische Philoso- Übergang von vor- u. frühwiss. zu wiss. phie« überführte. Dieses Werk wurde zur Theorien konzipiert; unwissenschaftlich alQuelle der verschiedensten sprachanalyt. lerdings blieben für ihn nach wie vor die Untersuchungen u. Konzeptionen, auch jener Werke Heideggers u. Hegels: Für ihn hatte analyt. Bemühungen, die sich in partiellem die Toleranz des logisch arbeitenden PhiloGegensatz zu C. sehen. Vorangegangen war sophen dort ihre Grenzen. dieser neuerl. Wende die u. a. durch seine Weitere Werke: Der Raum. Bln. 1922. – PhyEmigration in die USA im Jahr 1936 sowie sikal. Begriffsbildung. Karlsr. 1926. Darmst. 21966. durch die Ermordung von Moritz Schlick – Abriß der Logistik. Wien 1929. – Philosophy and bedingte Auflösung des Wiener Kreises u. das Logical Syntax. London 1935. – Testability and durch den Beginn des Zweiten Weltkriegs 2Meaning. In: Philosophy of Science, Bd. 3 (1936). 1954. – Formalization of Logic. Cambridge/Mass. erzwungene Ende der von ihm zus. mit Rei1943. – Meaning and Necessity. Chicago 1947. – chenbach herausgegebenen Zeitschrift »ErEinf. in die symbol. Logik. Wien 1954. – Mein Weg kenntnis«. in die Philosophie. Übers. u. mit einem Nachw. Die systemat. Entwicklung des semant. sowie einem Interview hg. v. Willy Hochkeppel. Vokabulars erlaubte es C. auch, Wittgensteins Stgt. 1993. 2. durchges. Aufl. 1999 (Autobiogr.). Begriff des log. Spielraums exakt darzustelLiteratur: Paul A. Schilp: The Philosophy of R. len u. Friedrich Waismanns Gedanken zu ei- C. Les Salles/Illinois 1963. – Alan Hausman u. a.: C. ner induktiven Logik auf der Ebene der Se- and Goodman. Two Formalists. Iowa City 1967. – mantik systematisch zu entwickeln. Abwei- Richard Butrick: C. on Meaning and Analyticity. chend von Waismann konzipierte er aller- Den Haag 1970. – Lothar Krauth: Die Philosophie dings in seinem vierten Hauptwerk Logical C.s. Wien 1970. – Philosophy of Science AssociaFoundations of Probability (Chicago 1950. Erw. tion, Biennial Meeting 1970: In Memory of R. C. 2 1962) nicht die einzige – der deduktiven Hingham/Mass. 1971. – Jaakko Hintikka (Hg.): R. C. – Logical Empiricist. Dordrecht 1975. – WolfLogik zur Seite zu stellende – induktive Logang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegengik, sondern ein unendl. Spektrum von sol- wartsphilosophie I (darin Kap. 9: Moderner Empichen induktiven Methoden. C. hatte diese rismus – R. C. u. der Wiener Kreis). Mchn. 61976. induktiven Methoden nie als die einzigen der 71989. – Rudolf Haller: Neopositivismus. Eine erfahrungswiss. Methodologie verstanden, histor. Einf. in die Philosophie des Wiener Kreises. wie insbes. sein fünftes Hauptwerk Philoso- Darmst. 1993. – Thomas Mormann: R. C. Mchn. phical Foundations of Physics (New York 1966. 2000. Wilhelm K. Essler / Red. Dt.: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaft. Mchn. 1969. 21974. Ffm. 1986) Carossa, Hans, * 15.12.1878 Bad Tölz, zeigt. Karl R. Popper allerdings unterstellte † 12.9.1956 Rittsteig (Passau); Grabstätte: ihm zeitlebens gerade dies u. hatte deshalb Friedhof Heining (Passau). – Erzähler, maßgebl. Anteil daran, das Bild C.s als eines Lyriker, Verfasser autobiografischer Induktivisten zu prägen. Schriften u. Arzt. Seit den Scheinproblemen gehörte die Frage der theoret. Abgrenzung der empirisch sinn- C.s Urgroßvater war mit napoleonischen vollen Begriffe u. Aussagen von den als Truppen aus dem Piemont an den Inn gesinnlos angesehenen Prädikanten u. Sätzen kommen. Der Vater war Arzt, die Mutter der Metaphysik zu C.s Hauptbeschäftigung. Lehrerin; sie stammte aus einer bayer. BeDa alle diese Versuche heute als gescheitert amten- u. Juristenfamilie. C. wuchs in der ihn gelten können, ist es folglich auch nie zu ei- prägenden niederbayer. Landschaft auf. Ab ner systemat. Darstellung derselben durch C. 1886 lebte die Familie im Markt Pilsting, gekommen. Kurz vor seinem Tod hat er in später in Seestetten an der Donau. Ab 1888 einem Rundfunkinterview (Andere Seiten des besuchte der kath. C. das humanist. GymnaDenkens. Willi Hochkeppel sprach mit Rudolf sium in Landshut. Dies sind wichtige Statio-

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nen seiner autobiogr. Werke Eine Kindheit (Lpz. 1922. Ffm. 1995) u. Verwandlungen einer Jugend (Lpz. 1928. Ffm. 1992). 1897 zog C. auf Wunsch der Eltern zum Studium der Medizin nach München, dargestellt in Das Jahr der schönen Täuschungen (Lpz. 1941. Ffm. 1992), u. gewann dort wichtige literar. Kontakte, u. a. zu Richard Dehmel, Karl Wolfskehl, Rainer Maria Rilke, Heinrich Lautensack, Frank Wedekind, Alfred Mombert sowie zum Kabarett »Die Elf Scharfrichter« u. zu Personen im Umkreis von Stefan George, ohne sich einer literar. Gruppe anzuschließen. Erste Gedichte wie Stella Mystica u. Der Morgengesang (1897/98) entstanden u. wurden ab 1902 in Zeitschriften veröffentlicht. Nach Fortsetzung des Medizinstudiums in Würzburg u. Abschluss mit Promotion in Leipzig (1903) versuchte C. mehrere Jahre eine Doppelexistenz als Schriftsteller u. Arzt für Herz- u. Lungenkrankheiten zu führen, zunächst in Fortsetzung der Praxis seines Vaters in Passau, seit 1914 v. a. in München. Doch führte die immense Arbeit auch zu starker gesundheitl. Belastung. Auf Vermittlung von Dehmel wurde Hugo von Hofmannsthal (1907) auf C. aufmerksam u. empfahl ihn dem Insel Verlag (Lpz.). Hier, wo er schnell zum geschätzten Hausautor wurde, erschien die erste Ausgabe der Gedichte (1910). Im Ersten Weltkrieg kam C. als Bataillonsarzt in Flandern u. Rumänien (1916–1918) zum Einsatz. In dieser Zeit entstanden der Anfang der Lebensbeschreibung u. die Notizen zur literar. Verarbeitung des Kriegserlebnisses im Rumänischen Tagebuch (Lpz. 1924. U. d. T. Tagebuch im Kriege. Lpz. 1934) sowie eine Anzahl von Gedichten. C. fühlte sich dem humanistisch-abendländ. Erbe verpflichtet, dem er auf Italienreisen in der Zeit zwischen 1913 u. 1942 näherkam, aber auch über Dantes Divina Commedia sowie in Kontakten mit Ludwig Curtius u. Karl Vossler. Seine Aufzeichnungen aus Italien (Olten 1946. Ffm. 1992) versammeln Reiseeindrücke u. Tagebuchblätter (1925–1943). C. verstand sein eigenes literar. Werk als in der Nachfolge Goethes stehend. Sein Stoff war fast ausschließlich die autobiogr. Erfahrung. Wie bei Robert Musil u. Hermann

Carossa

Hesse sind Kindheit u. schulische Eindrücke wichtige Themen in C.s Erzählzyklus Eine Kindheit, Verwandlungen einer Jugend u. Das Jahr der schönen Täuschungen, doch sind sie keineswegs als persönl. »Abrechnung« mit einem verhassten Erziehungssystem anzusehen. Die niederbayer. Dorfwelt (»Kading«), Passau (»Grenzburg«) als Stadtvision, die Donau als »der große fließende Magnet«, der Bayerische Wald als Landschaft der Einzelgänger wie der Schriftstellerin Emerenz Meier: Sie bestimmten nachhaltig C.s Erzählwerk, das in der Münchner Literatur der Prinzregentenzeit Gegenbild u. Ergänzung fand. C.s Existenz als Arzt spiegelt der Tagebuchroman Die Schicksale Doktor Bürgers (Lpz. Fassungen 1913–1930. Ffm. 1992), mit dem er auf Goethes Werther verglichen wurde. Er handelt vom Scheitern eines Arztes an dem Anspruch, rastloser u. idealer Heiler in einer Welt zu sein. Trotz aller Gefährdungen wird auch in Der Arzt Gion (Lpz. 1931. Ffm. 1992) die Welt als harmonisches Ganzes aufgefasst. C.s Interpretation der menschl. Existenz sowie die Darstellung einer bewahrten süddt. Natur- u. Lebenswelt fand breite Zustimmung im bürgerl. Publikum seiner Zeit, das auch die Anbindung an die klass. Literatur u. Bildung im Werk schätzte. Auch myst. Züge sind erkennbar. Selbst das Grauen der Weltkriege erscheint durch die aufopfernde Tätigkeit des Einzelnen »gebannt«: »Raube das Licht aus dem Rachen der Schlange!« geht als Motto dem Rumänischen Tagebuch voran. C. wollte »nicht ruhen, bis der bloße Stoff geradezu vernichtet und ein Symbol entstanden wäre, vor dem der Durchschnittsleser wie vor einem Rätsel stünde«. Diese Prosadichtungen müssten »den meisten tiefdunkel bleiben, aber den wenigen, die den Schlüssel finden, zu Offenbarungen werden« (an Hedwig Kerber, 6.8.1932). Die Lyrik zeigt v. a. naturmag. Anklänge in C.s Naturell, ein Erbe aus der Familie seiner Mutter, z.B. in Die Ahnfrau (1916). In den bekanntesten Gedichten wie Der alte Brunnen (1923) fanden die Leser vieldeutige, abgeklärte Weisheit, die auch gern als Lebenshilfe aufgenommen wurde u. große Verbreitung fand.

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Dem literar. Betrieb äußerst abgeneigt, zog Zweiten Weltkrieg noch lange ungebrochen sich C. schon Ende der 1920er Jahre zuneh- an den Bildungswerten des Bürgertums festmend aus München in das Seestettener El- hielt. Diese Geisteshaltung wurde auch in der ternhaus u. 1941 nach Rittsteig bei Passau Abendländischen Elegie (Wiesb. 1946, entstanzurück, wo er 1943 in zweiter Ehe Hedwig den 1943) beschworen. C. erhielt für sein Kerber heiratete. Dem Versuch der National- Werk u. a. den Münchner Dichterpreis (1928), sozialisten, den scheinbar bodenständigen den Gottfried-Keller-Preis (1931), den GoeDichter für ihre Zwecke zu vereinnahmen u. thepreis der Stadt Frankfurt (1938) u. das gegen die Berliner »Asphaltliteraten« auszu- Ehrendoktorat der Ludwig-Maximiliansspielen, entzog er sich, als er die Berufung in Universität München (1948). die Sektion für Dichtkunst an der PreußiAusgaben: Sämtl. Werke. 2 Bde., Ffm. 1962. – schen Akademie der Künste in Berlin (1933) Briefe. Hg. Eva Kampmann-Carossa. 3 Bde., Ffm. ablehnte. Eine Emigration schien ihm ver- 1978–81. 2., rev. u. erw. Ausg. 1997. – Tagebücher mutlich aus persönl. Gründen nicht möglich 1910–35. Hg. dies. 2 Bde., Ffm. 1986–93. – Vorzu sein, doch blieb C. u. a. mit Hermann spiele. Gesch. einer Kindheit. Ffm. 1984. – GeHesse in Kontakt. Für die in Zürich erschei- dichte. Hg. u. komm. v. E. Kampmann-Carossa. Ffm./Lpz. 1995. 2002. nende Zeitschrift »Corona« lieferte er weiLiteratur: August Langen: H. C. Weltbild u. terhin Beiträge. Mit zahlreichen AuslandsStil. Bln. u. a. 1955. – Ingrid Aichinger: Permanente reisen versuchte er sich der polit. EinvernahErinnerung. Zur Selbstdarstellung H. C.s. In: me zu entziehen, wurde aber 1941 zur Prä- JbFDH N. F. (1972), S. 377–409. – Volker Michels sidentschaft der von den Nazis errichteten (Hg.): Über H. C. Ffm. 1979. – Erich Zwicker: H. C. »Europäischen Schriftstellervereinigung« im Lichte seiner Zeit. Diss. Zürich 1986. – Albrecht gedrängt. Sein literar. Werk wurde auch in Weber: ›Grundfigur‹: H. C.s autobiogr. Projektiodieser Zeit international wahrgenommen u. nen auf Kindheit u. Jugend. In: Hdb. der Lit. in geschätzt, z.B. von Paul de Man (Antwerpen) Bayern. Hg. ders. Regensb. 1987, S. 423–436. – u. Anders Österling (Stockholm). In wenigen Hartmut Laufhütte (Hg.): H.C. Dreizehn Versuche öffentl. Reden, wie den Wirkungen Goethes in zu seinem Werk. Tüb. 1991. – Eva Kampmannder Gegenwart (Lpz. 1938), forderte C. im Na- Carossa (Hg.): H. C. Leben u. Werk in Bildern u. Texten. Ffm. 1993. – Hans Blumenberg: Die Vollmen des Weimarers »zur Schonung und zähligkeit der Sterne. Ffm. 1997. – Christine Duldung, zum Verzicht auf Gewalt« auf, da Greiner: Zwischen den Zeilen. H. C.s Schaffen »sich den Erdbewohnern ganz neue Aufga- während des Dritten Reiches. Diss. Passau 1999. – ben stellen könnten, riesige, unausweichli- Erich Unglaub: H. C.s ›Rumänisches Tagebuch‹ auf che, den ganzen Planeten in Anspruch neh- dem Weg vom realist. Dokument zur symbol. mende, für deren Erfüllung der Krieg nicht Überhöhung. In: Realist. Schreiben in der Weimanur ein höchst unzulängliches Mittel, son- rer Republik. Hg. Sabine Kyora u. Stefan Neuhaus. dern sogar das größte Hindernis wäre«. Füh- Würzb. 2006, S. 255–277. Erich Unglaub rung und Geleit (Lpz. 1933) ist mehr als ein persönl. Lebensgedenkbuch, denn C. zeigte Carové, Friedrich Wilhelm, * 20.6.1789 in ihm das Panorama einer literarischen u. Koblenz, † 18.3.1852 Heidelberg. – Litekünstler. Welt, die von inzwischen verfemten rat, Publizist u. Religionsphilosoph. Gestalten wie Thomas Mann, Alfred Mombert, Stefan Zweig, Ernst Barlach u. Alfred Nach einer Ausbildung zum Juristen an der Kubin geprägt war. Der Versuch, das eigene Koblenzer Rechtsfakultät (Licencié en droit Verhalten in den Jahren des Nationalsozia- 1809) u. verschiedenen Posten im frz. Verlismus zu erklären, ist Thema des Buchs Un- waltungsdienst studierte C. ab 1816 in Heigleiche Welten (Wiesb. 1951. Ffm. 1978): »So delberg Philosophie, wo er sich eng an Hegel musste der Dichter allein orakeln, wenn er anschloss. Auf dem Wartburgfest in Eisenach nicht seine Sprache verlieren und schließlich 1817 war er einer der Hauptredner u. Verganz verstummen wollte.« Letztlich erfolglos treter der Heidelberger Burschenschaft. 1818 mit seinen Warnungen, überdauerte der in Heidelberg zum Dr. phil. promoviert, Dichter in einer Lesergemeinde, die nach dem folgte er Hegel nach Berlin. Doch seine frei-

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heitl. Gesinnung verbaute ihm sowohl dort Carpzov, Benedikt, auch: Ludovicus de als auch in Breslau u. Heidelberg die ange- Montesperato, * 27.5.1595 Wittenberg, strebte Universitätslaufbahn als Philosoph. † 31.8.1666 Leipzig. – Jurist. Er lebte fortan als Privatgelehrter u. Publizist abwechselnd in Frankfurt/M. u. in Heidel- C. wurde in Wittenberg als Sohn des gleichberg. 1848 war er Mitgl. des Frankfurter namigen Juristen u. Rechtsprofessors geboren, studierte Jurisprudenz in Wittenberg, Vorparlaments. C. vertrat in seinen rd. 40 monograf. Leipzig u. Jena u. promovierte 1619 in WitSchriften u. zahlreichen Zeitschriftenartikeln tenberg. 1620 wurde er zum außerordentl. die Ideale der Humanität. Der Kosmopolit Beisitzer des Leipziger Schöppenstuhls. In engagierte sich in der internat. Friedensbe- Leipzig durchlief C. alle Stufen der richterl. wegung u. gegen die Sklaverei. Katholischer Laufbahn u. erreichte 1632 die Würde des Herkunft, setzte C. sich in religions- u. ge- Seniors oder Leiters des Kollegiums. 1639 schichtsphilosoph. Arbeiten kritisch mit dem erhielt er eine Ratsstelle im AppellationsgeMachtanspruch seiner Kirche auseinander, richt u. kam 1644 als kursächsischer Hofrat die er weder für unfehlbar noch alleinselig- nach Dresden. Nach einem Jahr kehrte er machend hielt. An ihre Stelle sollte eine auf nach Leipzig zurück, wo er die Leitung sochristl. Prinzipien gegründete Menschheits- wohl des Schöppenstuhls als auch des religion treten. Begeistert von altdt. Literatur Spruchausschusses der jurist. Fakultät inneu. Kunst, gab er gemeinsam mit dem Kölner hatte u. Vorlesungen hielt. 1657 wurde er Eberhard von Groote zu dieser Thematik ein zum zweiten Mal an den Dresdner Hof mit Taschenbuch auf das Jahr 1816 heraus. Für dem Titel eines Hofrats berufen. 1661 kam er die Brüder Grimm sammelte er Volkserzäh- wieder an den Leipziger Schöppenstuhl zulungen u. Bräuche aus dem Rheinland u. von rück, wo er bis zu seinem Tode als Senior der Mosel (1816. Aus dem Grimm-Nachl. hg. wirkte. Der wiss. Ruhm C.s gründet sich v. a. auf v. Leander Petzoldt 1997). Der romant. Poetik seine Arbeiten im Bereich des Strafrechts, mit sind seine Prosadichtungen in den Bänden Romantische Blätter (Eisenach 1818) u. Moos- denen er einerseits die Rechtsprechung des blüthen (Ffm. 1830) verpflichtet (beide liegen Leipziger Schöppenstuhls u. des Dresdner vor als Mikrofiche-Ed. Mchn. 1994). Das im Appellationsgerichts erschloss u. andererseits ersteren enthaltene Kunstmärchen Kinderleben die Systematik zu einer eigenständigen dt. oder das Mährchen ohne Ende wurde durch die Strafrechtslehre lieferte. Da nämlich den Übersetzung von Sarah Austin (The Story Entscheidungen der Kollegien präjudizielle without an End) im angloamerikan. Raum äu- Bedeutung zufiel, konnte man sie auf die rationalen Regeln der jurist. Argumentation ßerst populär. Literatur: Albert Schürmann: F. W. C. Sein zurückführen. 1635 erschien die Practica nova Werk als Beitr. zur Kritik an Staat u. Kirche im imperialis Saxonica rerum criminalium (Wittenb. 14 1758) u. 1638 der Peinliche Inquisitions- und frühliberalen Hegelianismus. Diss. Bochum 1971. – Christoph E. Schweitzer: F. W. C., Autor eines Achtprozeß (Ffm. 81733), die die Entwicklung einzigartigen Kunstmärchens. In: ABNG 31–33 der Strafrechtspflege bis in die Mitte des 18. (1991), S. 133–153. – Helge Dvorak: Biogr. Lexikon Jh. prägten u. von der prakt. Jurisprudenz der Dt. Burschenschaft. Bd. 1,1 (1996), S. 165. – fast in den Rang eines Gesetzbuchs erhoben Klaus Graf: F. W. C. (1789–1852): Ein Tag auf dem wurden. Beide Werke bieten eine SystematiStadtturm zu Andernach. In: Andernacher Annalen sierung der Leipziger Spruchpraxis auf der 4 (2001/02), S. 57–76. Klaus Graf Basis der Constitutio Criminalis Carolina (1532) u. des »ius commune« römisch-rechtl. Ursprungs, u. durch diesen ausgewogenen Kompromiss von Theorie u. Praxis, Lokalem u. Nationalem konnten sie die ältere, an ital. Vorbildern orientierte Doktrin verdrängen. Dementsprechend erkannte C. eine Vielzahl

Carrichter

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von Strafrechtsquellen an: den Gerichtsge- – Eberhard Schmidt: Einf. in die Gesch. der dt. brauch zuerst, aber dann auch die »lex divi- Strafrechtspflege (1947). Gött. 1983, S. 153–157. – na«, die Constitutio Criminalis Carolina u. die Joachim F. Heine: Zur Methode in B. C.s zivilrechtl. sächs. Landesrechte, welche aber in einer be- Werken. In: Ztschr. der Savignystiftung für Rechtsgesch. Romanist. Abt. 82 (1965), S. 227–301. stimmten Rangordnung standen. Die – Gerd Kleinheyer: B. C. In: Dt. u. europ. Juristen Hauptfrage bei jedem Fall war immer, ob es aus neun Jahrhunderten. Hg. ders. u. Jan Schröder. sich um eine ordentliche oder eine außeror- Heidelb. 41996, S. 87–92. Merio Scattola dentl. Strafe handelt; sie konnte aber nur in Bezug auf die gegebene Deliktart gelöst werden, indem man jede Verallgemeinerung Carrichter, Bartholomäus, * um 1510 Revermied u. stets im Sinne der jurist. Dialektik kingen/Kt. Aargau, † 2.11.1567 Wien. – argumentierte. Verfasser medizinischer Fachschriften. Auch im Bereich des protestant. Kirchenrechts lieferte C. eine erfolgreiche Systemati- Nach ärztl. Tätigkeit am Oberrhein lebte C. sierung durch seine Iurisprudentia ecclesiastica spätestens ab 1556 als Hofarzt von Kaiser seu consistorialis (Lpz. 1649. 111721), die erst zu Ferdinand I. in Wien; Maximilian II. erBeginn des 18. Jh. durch das Werk Justus nannte ihn zum »Hofgesindedoktor« (1564). Henning Böhmers abgelöst wurde. Auch sein Kurfürst August rief den »Kräuteldoctor« Processus iuris in foro Saxonico (Dresden 1657. mehrfach nach Sachsen. Auch Markgraf Jo8 1708) wurde als Muster des Prozessrechts hann von Neumark (Küstrin) setzte sich mit nicht nur in Sachsen, sondern auch in den C. in Verbindung. C. war mit Michael Toxites (Schütz) beanderen Territorien des Hl. Röm. Reiches anerkannt. Auch in diesem Fall erklärt sich kannt u. stand mit John Dee in Austausch; der Erfolg mit dem ausgewogenen Ansatz von seinen botan. Kenntnissen profitierte von C. Er betrachtete nämlich die sächs. Ju- Pietro Andrea Mattioli. Seinen ärztl. Zeitgerisprudenz als eine beispielhafte Anwendung nossen in Wien galt er jedoch als »Empiricus« des »ius commune« u. konnte ein Modell u. »Doctor Bacchus«; schärfster Gegner C.s anbieten, das allg. anerkannt war u. sich war Johann Crato von Kraftheim. C. schrieb eine ärztl. Practica (Straßb. 1575 durch eine gelungene Anwendung bewährt hatte. Durch den ständigen Bezug auf die u. ö.), drei astromedizin. Werke: das Kreutgemeinrechtl. Tradition u. die Betonung der terbu8 ch (Straßb. 1575 u. ö.; erschien seit 1597 theolog. Funktion der Rechtspflege für die als Kräuter- und Arzneibuch zus. mit der PractiErhaltung der göttl. Ordnung erweist sich die ca), Von den vier Materien der vier Geister (Ffm./ Rechtsauffassung C.s als eine konservierende, Nürnb. 1670 u. ö.) u. Von der Harmonie [...] der die keinen Sinn für den Entwurf neuer Sys- Kräuter, ferner den Traktat Von der Heilung teme hegte, sondern stets um den Erhalt des zauberischer Schäden (Straßb. 1608 u. ö. Seit Gegebenen bemüht war. Eine solche Idee 1609 im Kräuter- und Arzneibuch. Lat. von Gesollte freilich ins Kreuzfeuer der naturrecht- org Abraham Mercklin d.J. 1698), der, auch lichen, rationalist. u. aufgeklärten Rechts- Paracelsus zugeschrieben, bes. in der sympatheorien des 18. Jh. geraten, die tatsächlich in thetisch-mag. Medizinliteratur Spuren hinC. ein juristisches Ungeheuer sahen u. ihn der terließ. Handschriftlich blieben C.s Fallbeunmenschl. Härte u. aller religiösen Vorur- schreibungen (Liber iudiciorum urinarum. 1563). Alle Carrichteriana wurden erst posteile beschuldigten. tum gedruckt u. fanden in Toxites, BenedicWeitere Werke: Commentarius in legem regiam Germanorum sive Capitulationem Imperato- tus Figulus, Johann Hiskia Cardilucius, riam iuridico-historico-politicus. Lpz. 1640. 71695. Emanuel König, Johann von Muralt u. Eber– Iurisprudentia forensis Romano-Saxonica secun- hard Gockel namhafte Herausgeber. Ihre dum ordinem constitutionum d. Augusti electoris Wertschätzung bewirkte, dass seit 1606 das Saxoniae. Ffm. 1638. 111721. Pflanzenarzneibuch Horn des Heils von PhiLiteratur: Roderich Stintzing: Gesch. der Dt. lomusus Anonymus (1576), seit 1608 eine Rechtswiss. Abt. 2, Mchn. u. Lpz. 1884, S. 55–100. Clavis zum Kräuter- und Arzneibuch C.s, seit

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1610 die Speisekammer von Hieronymus Bock (1550) unter C.s Namen erschienen. Zwar erblickten manche Paracelsisten in C. einen der Ihren, doch kann von einer produktiven Assimilation Paracelsischer Lehren im Werk C.s keine Rede sein. Seine bis ins 18. Jh. gedruckten Werke fanden in England im Kreis Samuel Hartlibs Beachtung (engl. Kräuterbuch-Übersetzung). Durch ihren Erfolg als Unterrichtswerke für Nichtlateiner trugen sie zur Ausbildung des Deutschen als Sprache der akadem. Medizin bei. Ausgaben: Von der Heilung zauber. Schäden. In: Andreas Glorez: Eröffnetes Wunderbuch v. Waffensalben, s[o]g[enannten] zauber. Krankheiten, Wunderkuren. Regensb. u. Stadtamhof 1700. Nachdr. Freib. i. Br. 1979, S. 472–509. – Ps.-C.: Horn des heyls Menschlicher Blödigkeit. Oder/ Kreutterbuch. Straßb. 1606. Nachdr. Grünwald 1981: Eine C. zugeschriebene Schr. v. ›Philomosus Anonymus‹. – Ps.-C.: Clavis zu C.s Kräuter- u. Arzneibuch; Von der Heilung zauber. Schäden. In: Paracelsus: Kleine Wund-Artzney. Hg. Benedictus Figulus. Straßb. 1608. Nachdr. Lindau 1982, S. 87–157, 171–199. Literatur: August Hirsch: B. C. In: ADB. – Gerhard Eis: B. C. In: NDB. – Sylvia Walther: Der medizin. Fachschriftsteller B. C. Heidelb. 1987 (Magisterarbeit Heidelb., masch.). – J. Daum: B. In: Lexikon des gesamten Buchwesens. Bd. 2, Stgt. 2 1989, S. 71. – Joachim Telle: B. C. Zu Leben u. Werk eines dt. Fachschriftstellers des 16. Jh. Mit einem Werkverz. v. Julian Paulus. In: Daphnis 26 (1997), S. 715–751. – CP II, S. 335–341, 351–354. Joachim Telle

Carriere, Carrière, Philipp Moriz, * 5.3. 1817 Griedel bei Butzbach, † 18.1.1895 München. – Kulturphilosoph u. spätidealistischer Ästhetiker. C. entstammte einer Hugenottenfamilie, die nach der Aufhebung des Edikts von Nantes (1685) Zuflucht in Hessen gefunden hatte. Der Vater Wilhelm Gottlieb Carriere war Rentamtmann im Dienst der Fürsten von Solms in Griedel bei Butzbach, später Bücherrevisor. C. erhielt seinen ersten Unterricht in Butzbach beim Rektor der Lateinschule Friedrich Ludwig Weidig. Dieser legte die Grundlage für eine polit. Orientierung im Kontext der bürgerl. Emanzipationsbewegung des Vormärz. Das Gymnasium besuchte

Carriere

C. in Wetzlar, wo er lebenslange Freundschaft mit Karl Grün schloss, der als »wahrer Sozialist« in der Tradition Proudhons die heftige Kritik Karl Marx’ auf sich zog (»Deutsche Ideologie«, 1845/46). Nach dem Abitur (1835) begann C. ein Studium der Philosophie in Gießen, das er in Göttingen u. Berlin fortsetzte u. dort mit der Promotionsschrift Teleologiae Aristotelicae lineamenta (1838) abschloss. Bereits seine Studienzeit nutzte C. zu intensiven Kontakten zu prominenten Autoren u. Publizisten, die ihm den Weg zu einer journalistischen bzw. wiss. Laufbahn bahnen sollten, so etwa in Berlin zu Eduard Gans, Karl August Varnhagen van Ense u. Bettina von Arnim, bei der auch Jacob u. Wilhelm Grimm ein- u. ausgingen. Eine Reise nach Süddeutschland u. Italien (1839/40) eröffnete neue Horizonte in der Kunstgeschichte, nicht zuletzt aber weitere Bekanntschaften u. Beziehungen. Empfehlungen machten ihn u. a. mit Franz von Baader, Clemens Brentano u. Schelling bekannt. Schon in den 1840er Jahren war C. in wichtigen Publikationsorganen präsent, so etwa der Augsburger »Allgemeinen Zeitung«, der »Mannheimer Abendzeitung«, den Berliner »Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik«, Gutzkows »Telegraph für Deutschland« u. Lewalds »Europa«. 1838 erschien er im Mitarbeiterverzeichnis der von Arnold Ruge begründeten »Hallischen Jahrbücher«, dem wichtigsten Publikationsorgan der Junghegelianer. In der Auseinandersetzung mit Hegel u. in Anlehnung an dessen Vorlesungen über die Philosophie der Religion suchte C. eine Begründung für das Konzept einer christl. Philosophie, die »den Frieden zwischen Glauben und Wissen« schließen sollte. 1841 erschien sein Buch Die Religion in ihrem Begriff, ihrer weltgeschichtlichen Entwickelung und Vollendung (Weilburg). Dem Projekt einer christl. Philosophie blieb C. lebenslang verpflichtet. Seine akadem. Laufbahn schloss C. nach zwei gescheiterten Versuchen (in Berlin u. Heidelberg) 1843 mit der Habilitation in Gießen ab. Als Privatdozent u. später als unbesoldeter a. o. Professor hielt er dort Vorlesungen u. a. zur Logik, Religionsphilosophie, zur Allgemeinen Kunstgeschichte u. Ästhetik. Sie bildeten die Grundlagen für spätere

Carriere

Buchpublikationen. Im Vormärz exponierte C. sich in der konstitutionellen Bewegung. In Paris kontaktierte er 1846 Grün u. besuchte Heine sowie Georg Herwegh. Durch Verbindungen lernte er Proudhon, Lamartine, Lamennais u. Bakunin kennen. Sein Engagement im Lager der bürgerl. Demokraten gipfelte 1848 in der Mitgliedschaft im Frankfurter Vorparlament. Wie viele bürgerl. Intellektuelle seiner Generation resignierte er jedoch, weil er sich nicht auf einen Parteistandpunkt festlegen lassen wollte. Nach 1848 widmete C. sich ausschließlich seiner akadem. Karriere. Diese wurde durch die Bekanntschaft mit dem Chemiker Justus von Liebig, den C. in Gießen kennenlernte, sehr schnell befördert. Als Maximilian II. von Bayern den berühmten Naturwissenschaftler nach München berief, entschloss sich C., ihm dorthin zu folgen (1852). Liebig öffnete ihm die Türen zum Kreis um den Hofmaler u. Direktor der Kunstakademie Wilhelm Kaulbach. Nach anfängl. Schwierigkeiten erhielt C. eine Anstellung als Professor für Kunstgeschichte u. Sekretär an der Kunstakademie. Eine Berufung an die Universität allerdings erfolgte – nach langen Jahren einer Honorarprofessur (seit 1852) – erst 1865. Mit der Heirat der ältesten Tochter von Liebigs (1853) konsolidierte sich C. vollends u. fand Anschluss an das gehobene Bildungsbürgertum der Münchner Stadtkultur. Er wurde Mitgl. der »Gesellschaft der Krokodile« u. gehörte zum Kreis der »Symposiasten«, die zu den gelehrt-wiss. und poetisch-dilettierenden Abendunterhaltungen am Hof Maximilians II. zugelassen waren (seit 1854). In Fragen der Kunst kann C. als der Theoretiker des sog. »Münchner Dichterkreises« angesehen werden. 1854 erschien in Leipzig seine Abhandlung Die Poesie. Ihr Wesen und ihre Gesetze, 1859 seine zweibändige Ästhetik (Lpz., mit Neuaufl.n in den siebziger u. achtziger Jahren). Bis in die Gründerzeit hinein war seine wiss. u. publizist. Wirksamkeit in Zeitungen u. literar. Zeitschriften allgegenwärtig (etwa in der »Allgemeinen Zeitung«, im »Deutschen Museum«, der »Deutschen Rundschau«, »Nord und Süd« sowie »Westermann’s Monatsheften«). Eine Untersuchung seiner Wirkungsgeschichte steht aus.

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In seiner Epoche galt C. als Begründer des Idealrealismus u. Vertreter eines spekulativen Theismus. Sein philosoph. Denken zielte auf die Schaffung einer Einheitsphilosophie, die Idealismus u. Materialismus miteinander versöhnen u. den Bedürfnissen eines wiss. Zeitalters Rechnung tragen sollte. In seiner zusammenfassenden Programmschrift Die sittliche Weltordnung (Lpz. 1877) geht C. davon aus, dass es ein Geist sei, der in Natur wie Geschichte wirke u. als bestimmende Macht der Vernunft dem menschl. Denken zugänglich sei. Alles Erkennen vollziehe sich »in Gemeinschaft des Bewußtseins und der Gegenstände, der innern Formen und der äußern Eindrücke«. Der Mensch versteht die Welt, »weil Verstand in ihr ist«: in der Natur als Gesetzmäßigkeit, in der Geschichte als »Vernunft in ihrer Entwickelung«. Hier wie in seiner Ästhetik bestimmt C. die »logischen Gesetze der Identität, des Unterschieds und des Grundes« als »Weltgesetze«, die zgl. die Gesetzlichkeit der Kunst ausmachen: als organische Einheit in der Mannigfaltigkeit, als Motivierung u. »lebendige Wechselwirkung« aller Einzelelemente. Klassizistische Grundannahmen über die Homogenität u. Kohärenz des Kunstwerks werden umstandslos der Begrifflichkeit philosophischer Epistemologie angeglichen. Durch Analogieschluss kann dann das schöne Werk der Kunst als Mikrokosmos gelten, der »uns das Universum darstellt« u. den »Sinn des Weltganzen« enthüllt. Kunstphilosophie mutiert zu spekulativer Geschichtsphilosophie: nicht nur, dass das künstler. Werk die Harmonie des Seienden modellieren u. repräsentieren soll, auch die Geschichte selbst wird als »Kunst« vorgestellt: als »Poesie Gottes« u. »sichtbare Gegenwart des tiefsten Seins«; Geschichte fällt so »unter den Begriff der Schönheit«. C.s Methode, Geschichte auf Ästhetik zu gründen, entspricht in panentheistischer Variante generell einer Leitidee historistischen Denkens im 19. Jh. Letztlich aber geht es um eine religiöse Fundierung von Kunst u. Geschichte durch die Annahme einer in »Gott als Geist« ruhenden »sittlichen Weltordnung«. Kunst hat diese »sittliche Weltordnung« zu bestätigen; sie ist Erziehung des Gattungswesens u. darf kein anderes Ziel

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verfolgen als die Beförderung von »Bildung« Weltalter des Geistes im Aufgange. Lit. u. Kunst im u. »Gesittung« durch Schönheit. Dissonan- 18. u. 19. Jh. Lpz. 1863–73. – Lebensbilder. Lpz. zen müssen aufgelöst werden »in voll- 1890. – Lebenserinnerungen. Hg. Wilhelm Diehl. schwellende Harmonie«. C.s Kunstphiloso- Darmst. 1914. Literatur: Brigitte Jaschke: Ideen u. Naturwiss. phie zielt auf programmat. Ausblendung alles dessen, was solche »Harmonie«-Vorstel- Wechselwirkungen zwischen Chemie u. Philosophie am Beispiel des Justus v. Liebig u. M. C. Stgt. lungen stört: das Hässliche, das Formlose, 1996 (Diss.). – Wolfgang Bunzel: ›Muth und OpDefigurierte, Groteske u. Bizarre. Einem ferkraft für die Idee‹. Briefe M. C.s an Arnold Ruge Darstellungsverbot unterliegen Elendszu- u. Theodor Echtermeyer (1839/41). In: Internat. Jb. stände, Verbrechen, Wahnsinn, Krankheit, der Bettina-v.-Arnim-Gesellsch. 8/9 (1996/97), Obszönität u. Sinnlichkeit. In der systemat. S. 39–73. – Renate Werner: ›Gesellschaft der KroAusgrenzung des Hässlichen aus dem Bereich kodile‹ u. ›Münchner Dichterkreis‹. In: Hdb. liteder Ästhetik steht C. in Opposition zu der rarisch-kultureller Vereine, Gruppen u. Bünde zeitgleichen Ästhetik des Hässlichen (1853) von 1825–33. Hg. Wulf Wülfing u. a. Stgt./Weimar Karl Rosenkranz. Die Beschränkung auf das 1998, S. 155–161 u. S. 343–348. – Goedeke Forts. – Nachlass: Familienarchiv Carriere – Liebig im Hess. affirmativ Schöne ermöglicht C. die UnterStaatsarchiv Darmstadt. – Bayer. Staatsbibliothek scheidung von »echter« u. »falscher« Kunst: München. Renate Werner Wahre Kunst spendet »Trost« durch sinnl. Präsenz des »Guten und Vernünftigen«. Als Gegner werden folglich alle Kunstrichtungen Carus, Carl Gustav, * 3.1.1789 Leipzig, ausgemacht, die einem derartigen Versöh- † 28.7.1869 Dresden; Grabstätte: ebd., nungsparadigma nicht entsprechen. C. führt Trinitatis-Friedhof. – Arzt, Naturphiloeinen permanenten Kampf gegen den welt- soph, Naturwissenschaftler, Maler u. anschaul. »Materialismus« der Epoche u. ge- Schriftsteller. gen den programmat. Realismus in Kunst u. Literatur. Der Nähe seiner eigenen Annah- Als Sohn eines Färbereibesitzers wuchs C. in men zum Verklärungspostulat der bürgerl. bescheiden-bürgerl. Verhältnissen auf. BeRealisten in der zweiten Hälfte des 19. Jh. war reits mit 15 Jahren nahm er das Studium C. sich nicht bewusst. Sein ästhet. Projekt verschiedener Naturwissenschaften an der zielt letztlich darauf, in dogmat. Verhärtung Universität Leipzig auf, entschied sich aber die Ästhetik der Kunstperiode, die er eklek- nach zwei Jahren für Medizin. 1811 erwarb er tisch zitiert u. kompiliert, gegen die Erfah- den Titel eines Doktors der Philosophie u. eines Magister liberalium artium; noch im rung der Moderne zu retten. selben Jahr habilitierte er sich, hielt (als Erster Weitere Werke: Die philosoph. Weltanschauvor Ort) Vorlesungen über vergleichende ung der Reformationszeit in ihren Beziehungen zur Gesch. Stgt. 1847. – Das Wesen u. die Formen Anatomie, wurde an der medizin. Fakultät der Poesie. Ein Beitr. zur Philosophie des Schönen promoviert u. begann als Arzt zu praktizieu. der Kunst. Mit literarhistor. Erläuterungen. Lpz. ren. Durch seine Anstellung als Assistent am 1854. In umgearbeiteter Form u. d. T.: Die Poesie. Entbindungsinstitut in Leipzig (1811–1814) Ihr Wesen u. ihre Formen mit Grundzügen der u. seine Berufung zum Professor für Gevergleichenden Literaturgesch. Lpz. 1884. – Aes- burtshilfe an die neu gegründete Lehranstalt thetik. Bd. 1: Die Schönheit, die Welt, die Phanta- für Medizin u. Chirurgie in Dresden sie. Bd. 2: Die bildende Kunst, die Musik, die Poe- (1814–1827) richtete sich sein Interesse in der sie. Lpz. 1859. – Die Kunst im Zusammenhang der Folgezeit verstärkt auf die Frauenheilkunde. Culturentwicklung u. die Ideale der Menschheit. Mit dem Lehrbuch der Gynäkologie (2 Bde., Lpz. Bd. 1: Die Anfänge der Cultur u. das oriental. Al1820. 31838) verfasste er das erste systemat. terthum in Religion, Dichtung u. Kunst. Bd. 2: Hellas u. Rom in Religion u. Weisheit, Dichtung u. Kompendium dieses Fachgebiets. 1827 wurKunst. Bd. 3,1: Das christl. Altertum u. der Islam in de C. zum Kgl. Leibarzt ernannt; als Hof- u. Dichtung, Kunst u. Wiss. Bd. 3,2: Das europ. MA in Medizinalrat im Kollegium der sächs. LanDichtung, Kunst u. Wiss. Bd. 4: Renaissance u. desregierung war er auch für die Verwaltung Reformation in Bildung, Kunst u. Lit. Bd. 5: Das des öffentl. Gesundheitswesens zuständig.

Carus

Trotz ehrenvoller Berufungen auf auswärtige Professuren blieb er bis zu seinem Lebensende in Dresden, mit Ausnahme einiger Reisen, die er in mehreren Büchern schilderte (u. a. Paris und die Rheingegenden. 2 Bde., Lpz. 1836. England und Schottland im Jahre 1844. 2 Bde., Bln. 1845). Mit der Übersiedelung nach Dresden begann zgl. eine Phase intensiver Forschung auf dem Gebiet der vergleichenden Anatomie u. Physiologie, aus der u. a. das Lehrbuch der Zootomie (Lpz. 1818. 21834), die Erläuterungstafeln zur vergleichenden Anatomie (Lpz. 1826–55) u. die dreibändigen Grundzüge der vergleichenden Anatomie und Physiologie (Lpz. 1828) hervorgingen. Auch wenn C. durchaus konkrete Erfolge als Forscher aufzuweisen hatte (so gelang ihm 1826 der Nachweis des Blutkreislaufs der Insekten), blieb sein wiss. Profil doch durchgängig bestimmt von der romant. Vorstellung einer spekulativen Synthese empirischer Einzelbeobachtungen. Sie zielte darauf, alle natürl. Gestaltbildungen als Realisationsformen einer sie bedingenden Idee im Zusammenhang des Naturganzen zu erfassen. Ab etwa 1830 verlagerte C. den Schwerpunkt seiner wiss. Arbeit zunehmend auf psychologische, anthropolog., ästhet. u. philosoph. Fragestellungen. Zu den Teilgebieten der Anthropologie, die er in zahlreichen Einzelveröffentlichungen bis hin zur umfassenden Symbolik der menschlichen Gestalt (Lpz. 1853. 21858. Nachdr. Hildesh. 1977) bearbeitete, gehören Kranioskopie, Physiognomik u. Rassenkunde. Während die einschlägigen Abhandlungen v. a. die kulturellen Normen u. Vorurteile seiner Zeit – etwa über die vermeintlich geistig minderbemittelte schwarze »Nachtrasse« – bestätigen, sind C.s Schriften zur Psychologie, insbes. das Hauptwerk Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele (Pforzheim 1846. 21851. Nachdr. Darmst. 1975), immer wieder u. durchaus zu Recht als wichtige Station in der Entdeckungsgeschichte des Unbewussten vor Freud gewürdigt worden. Dabei zielt der bekannte Eingangssatz seines Hauptwerks – »Der Schlüssel zur Erkenntniß vom Wesen des bewußten Seelenlebens liegt in der Region des Unbewußtseins« – auf eine anthro-

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polog. Begründung der Psychologie in der Einheit von Leib u. Seele. Neben seinen vielfältigen berufl., wiss. u. schriftsteller. Aktivitäten betätigte sich C. seit seiner Jugend als Landschaftsmaler; sein Werk wurde durch die langjährige u. zeitweise enge Freundschaft zu Caspar David Friedrich erkennbar geprägt. Zgl. hat er mit den Neun Briefen über Landschaftsmalerei (Lpz. 1831. 21835. Neudr. Heidelb. 1972) eine Theorie dieser bis dahin kaum theoriewürdigen Gattung vorgelegt, die jedoch gewisse Inkonsistenzen aufweist: So geht es in den ersten Briefen um eine naturphilosophischpsycholog. Begründung der romant. Stimmungslandschaft, in den späteren hingegen um das an Goethe angelehnte Programm einer wissenschaftlich fundierten »Erdlebenkunst«. C. selbst hat mit seinen Zwölf Briefen über das Erdleben (Stgt. 1841. Neuausg. Hg. Ekkehard Meffert. Stgt. 1986) auch eine literarisch-wiss. Darstellung des allgemeinen Naturlebens versucht. Darüber hinaus trat er als Freund, Weggefährte u. Briefpartner bekannter Zeitgenossen wie Goethe, Ludwig Tieck, Alexander von Humboldt u. a. in Erscheinung. Die lebensbestimmende Vorbildfigur war zweifelsohne Goethe, dessen naturwissenschaftlich-dichter. Bestrebungen sich C. zu eigen machte u. kongenial interpretierte (u. a. Briefe über Goethes Faust. Lpz. 1835. Goethe. Zu dessen näherem Verständnis. Lpz. 1843 u. ö.). Weitere Werke: Vorlesungen über Psychologie Lpz. 1831. Neuausg. hg. v. Friedrich Arnold. Darmst. 1958. – Reise durch Dtschld., Italien u. die Schweiz im Jahre 1828. 2 Bde., Lpz. 1835. – System der Physiologie. 3 Tle., Dresden 1838–40. Lpz. 2 1847–49. – C. D. Friedrich der Landschaftsmaler. Dresden 1841. – Ludwig Tieck. Zur Gesch. seiner Vorlesungen in Dresden. Lpz. 1843. – Physis. Zur Gesch. des leibl. Lebens. Stgt. 1851. – Organon der Erkenntniß der Natur u. des Geistes. Lpz. 1856. – Über Lebensmagnetismus u. über die mag. Wirkung überhaupt. Lpz. 1857. – Natur u. Idee oder das Werdende u. sein Gesetz. Wien 1861. – Vergleichende Psychologie oder Gesch. der Seele in der Reihenfolge der Tierwelt. Wien 1866. – Lebenserinnerungen u. Denkwürdigkeiten. 4 Tle., Lpz. 1865/66. Neuausg. hg. v. Elmar Jansen. 2 Bde., Weimar 1966.

379 Literatur: Bibliografien: Rudolph Zaunick: C. G. C., eine hist.-krit. Literaturschau mit zwei Bibliogr.n. Dresden 1930. – Wolfgang Keiper: Ein Gesamtverz. der Werke v. C. G. C. Bln. 1934. – Weitere Titel: Marianne Prause: C. G. C. als Maler. Diss. Köln 1964. – Stefan Grosche: Lebenskunst u. Heilkunde bei C. G. C. (1789–1869). Anthropolog. Medizin in Goethescher Weltanschauung. Mit einer Bibliogr. der Sekundärlit. zu C. G. C. 1900–92. Gött. 1993. – Jutta Müller-Tamm: Kunst als Gipfel der Wiss. Ästhetik u. wiss. Weltaneignung bei C. G. C. Bln. 1995. – Goedeke Forts. – Stefan Grosche: ›Zarten Seelen ist gar viel vergönnt‹. Naturwiss. u. Kunst im Briefw. zwischen C. G. C. u. Goethe. Gött. 2001. Jutta Müller-Tamm

Caselius (seit 1559, zuvor Kesselius, Chesselius Brachtus), Johannes, * 18.5. 1533 Göttingen, † 9.4.1613 Helmstedt. – Verfasser humanistischer Schriften u. Professor für Griechisch, Rhetorik u. Philosophie. C. stammte aus einem in Bracht (Landkreis Kempen-Krefeld) verbürgerlichten Gelderner Adelsgeschlecht van Kessel (Kessel, niederländ. Provinz Limburg). Sein Vater Mathias Bracht († 1580) hatte aus Glaubensgründen als kath. Kleriker Venlo verlassen u. in Göttingen 1530 als Lateinschulrektor Anstellung gefunden. Um 1531 heiratete er dort Katharina Kalebarth. C. besuchte Lateinschulen in Northeim, Gandersheim u. Nordhausen, wo Basilius Faber u. Michael Neander seine »Liebe« zum Griechischen weckten. In Wittenberg immatrikuliert am 3.9.1551 u. magistriert am 3.8.1553, studierte er bes. die griech. Literatur bei Georg Cracov, Veit Örtel u. Melanchthon, den er sehr verehrte, danach in Leipzig bei Camerarius. Gefördert von Herzog Johann Albert von Mecklenburg, konnte er 1560–1563 eine Italienreise unternehmen, die ihn bis Salerno führte u. in Bologna (u. a. bei Carolus Sigonius) u. Florenz studieren ließ. Als seinen weitaus besten Lehrer bezeichnete er Petrus Victorius, dessen Aristoteleskommentierungen die Grundlage für seine späteren Vorlesungen über Aristoteles’ Nikomachische Ethik, Politik u. Rhetorik wurden. 1563–1565 in Rostock als Professor für griech. Philosophie tätig, reiste er, der Pest ausweichend, 1565–1568 zum zwei-

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ten Mal nach Italien, knüpfte neue Verbindungen zu ital. Humanisten, wurde am 28.1.1566 in Pisa Doktor beider Rechte u. erlangte am 14.12.1567 durch Vermittlung des kaiserl. Leibarztes Crato von Craftheim von Maximilian II. ein Diplom, in dem er in den Reichsadelsstand erhoben u. sein altes Wappen bestätigt u. vermehrt wurde. 1568 als Professor der Eloquenz wieder in Rostock, war er 1570–1574 in Schwerin Erzieher des Prinzen Johann von Mecklenburg u. heiratete am 30.9.1571 Gertrud, eine Tochter des mecklenburg. Rates Andreas Mylius, die ihm fünf Söhne u. vier Töchter gebar. 1574–1590 abermals Professor an der Universität Rostock, wechselte er 1590 an die Universität Helmstedt, wo er als Professor für Griechisch, Rhetorik u. Philosophie, zeitweise auch als Prorektor, bis zu seinem Tod wirkte. Theologisch nahm er einen dezidiert irenischen Standpunkt ein (»nulla vera religio sitit sanguinem«). Von radikalen Lutheranern, die eine Verbindung von Philosophie u. Theologie ablehnten, wurde er in Helmstedt vergeblich bekämpft. In der humanist. Personalunion des Pädagogen, Philologen u. Poeten lag C.’ Schwerpunkt auf der Pädagogik, auf die auch seine Philologie u. Poesie ausgerichtet waren. Er war um 1600 der prominenteste dt. Humanist. Sein umfangreiches schriftl. Werk (um die 500 meist wenig umfangreiche Einzelveröffentlichungen u. viele nur teilweise gedruckte Briefe) ist schwer überschaubar, da es nach seinem Tod trotz mehrerer Versuche u. einzelner Teilsammlungen nie zu einer Gesamtausgabe kam. Abgesehen von zahlreichen Prosatexten zu Graduierungen, Hochzeiten u. Todesfällen, veröffentlichte er viele Ausgaben griech. Autoren zu Unterrichtszwecken, griech. u. lat. Gedichte (Poeta laureatus genannt 1563) sowie rhetorische, historiograf., literar., politolog. u. v. a. pädagog. Anleitungen in lat. oder griech. Sprache (meist in einer an Studenten, Freunde oder Gönner gerichteten Briefform). Er korrespondierte mit führenden europ. Humanisten seiner Zeit (z.B. mit Casaubonus, Lipsius, Muretus, Scaliger, Sigonius, Victorius). Berühmt für die Eleganz seines Lateins u. seine Begeisterung für das Griechische, schrieb er

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eine 1579–1669 sechsmal aufgelegte Weg- Cassander, Georgius, eigentl.: Georg Caweisung für das optimale Curriculum einer sant, * 24.8.1513 Pitthem bei Brügge, Lateinschule (De ludo litterario aperiendo), in der † 3.2.1566 Köln. – Humanistischer kaauch die dt. Sprache gepflegt werden sollte, u. tholischer Vermittlungstheologe. propagierte eine nicht theologisch begründete, aber auch für Theologen notwendige C. studierte in Löwen (Magister art. 1532) u. humanist. Bildung. Sie schloss eine sportl. wurde 1541 in Brügge zum Professor erBetätigung u. eine spätere Bildungsreise ein, nannt. 1543 verließ er Brügge u. reiste mit kulminierte in der philosoph. Fakultät im seinem Freund Cornelis Wouters durch EuStudium der homerischen Epen u. der ari- ropa. Ab etwa 1544 wohnte C. in Köln, wegen stotel. Schriften u. sollte moralisch integre, seiner schwachen Gesundheit ohne öffentliglückliche u. politisch fähige Männer her- ches Amt. Den Versuch Hermann von Wieds, vorbringen. Bis ins 18. Jh. beriefen sich Hu- sein Erzbistum zu reformieren, verfolgte er manisten wie Jakob Burckhard auf sein Vor- aus der Nähe. Mehr u. mehr in die konfessionellen Kontroversen der Zeit verwickelt u. bild. oft um Vermittlung gebeten, wurde er zu eiAusgaben: Conrad Horneius (Hg.): I. C. Operum P. I scripta eius politica complectens, P. II [...] nem der wichtigsten Vertreter einer erasmiascripta eius quae ad artem dicendi pertinent. Ffm. nisch geprägten, auf »concordia« innerhalb 1633. – Justus v. Dransfeld (Hg.): Cel. v. I. C. ad der einen Kirche gerichteten Unionspolitik. principes, nobiles, viros celebres propinquos, cives C. unterhielt gute Beziehungen zu vielen ac familiares Epistolae. 2. erw. Aufl. Hann. 1718. – Gelehrten (u. a. Witzel, Hopper, Gropper, Friedrich Koldewey: Jugendgedichte des Huma- Canisius, Castellio u. Bauduin) u. Fürsten. nisten J. C. Braunschw. 1902. – Ders.: Paränet. Als Schriftsteller trat er zuerst mit LehrGedichte des Humanisten J. C. Braunschw. 1905. büchern zur Rhetorik u. Dialektik hervor. Literatur: Jakob Burckhard: De v. cl. I. C. Seit 1550 suchte u. edierte er Texte frühpraeclaris erga bonas litteras meritis [...] epistola. kirchlicher Autoren (Honorius, Prosper von Wolfenb. 1707. – Friedrich Koldewey: Gesch. der Aquitanien, Hilarius u. Vigilius). Seine Hymni Klass. Philologie auf der Univ. Helmstedt. Braunschw. 1895, S. 38–54. – Ders.: Mathias Bracht v. ecclesiastici (1556) sind eine der ersten AusgaKessel, der Vater des Humanisten J. C. Braunschw. ben altliturgischer Texte u. Hymnen. Obwohl 1901. – Otto Tüselmann: Eine Studienreise durch die Löwener theolog. Fakultät das Werk weItalien im Jahre 1562. In: FS der [...] Kgl. Kloster- gen C.s Scholien indizierte, veröffentlichte er schule Ilfeld. o. O. (1896), 6, S. 1–34. – Richard zwei Jahre später den Ordo romanus de officio Newald: C. In: NDB. – Dieter Harlfinger (Hg.): missae u. die Liturgica de ritu et ordine dominicae Graecogermania. Ausstellungskat. der Herzog-Au- coenae celebrandae (Köln 1558. Internet-Ed.: gust-Bibl. Nr. 59. Wolfenb. 1989, S. 193–201. – Slg. Hardenberg). Merio Scattola: Gelehrte Philologie vs. Theologie: J. Von Antoine von Navarra um Mitwirkung C. im Streit mit den Helmstedter Theologen. In: am Colloquium von Poissy (1561) gebeten, Die europ. Gelehrtenrepublik im Zeitalter des Konfessionalismus. Hg. Herbert Jaumann. Wiesb. verfasste C. sein wohl berühmtestes Werk, das 2001, S. 155–181. – Walther Ludwig: Paideia bei J. anonyme Traktat De officio pii ac publicae tranC. u. die Rezeption des Isokrates (2003). In: Ders.: quillitatis vere amantis viri, in hoc religionis disMiscella Neolatina. Bd. 1, Hildesh. 2004, sidio ([Basel] 1561. Dt. 1562. Internet-Ed.: Slg. S. 333–355. – Flood, Poets Laureate, Bd. 1, Hardenberg). Es fasst C.s iren. Ideen zusamS. 296–301. Walther Ludwig men. Ziel ist die Erhaltung der Einheit des Corpus christianum: der von C. mit der röCasper, Daniel ! Lohenstein, Daniel Cas- misch-katholischen identifizierten abendländ. Kirche. Mit Witzel bezeichnet er den per von Weg zur Versöhnung der Konfessionen als »via regia«. Der Mittelweg zwischen anticatholici (Protestanten) u. pseudo-catholici (altmodische, »kuriale« Katholiken) müsse ausgehen von den allen Christgläubigen ge-

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meinsamen Fundamenten des Glaubens: der Hl. Schrift u. der traditio catholica. Beide sind für C. aufs Engste aufeinander bezogen: die Schrift als die implizierte Tradition u. die Tradition als die explizierte Schrift. Die Kontroversen zwischen Katholiken auf der einen, Lutheranern u. Calvinisten auf der anderen Seite berühren die fundamentalen Lehrstücke nicht u. sind deshalb keine wesentl. Bedrohung für die Einheit der Kirche. C. selbst sah das Scheitern seiner Vermittlungsbemühungen voraus. Für Reformatoren wie Calvin u. Beza war die irenische Relativierung dogmatischer Unterschiede unerträglich. In seiner Responsio ad versipellem quendam mediatorem (Okt. 1561) suchte Calvin den anonymen Autor, den er zu Unrecht für den Renegaten François Bauduin hielt, zu zerschmettern; er verdiene nicht mehr Kredit als ein Hund oder ein Feind des Kreuzes Christi. Der Verknüpfung von Schrift u. Tradition hält der Genfer Reformator das »sola scriptura« entgegen. Hauptvorwurf war, dass C. an den zentralen Themen seiner Zeit vorbeigehe: der Rechtfertigung, der Messe, der sichtbaren Kirche. Von kath. Seite (z.B. vom Inquisitor Lindanus) erfuhr C. eine kaum mildere Kritik. Von Kaiser Ferdinand aufgefordert, arbeitete C. 1565 in De articulis religionis inter Catholicos et Protestantes controversis consultatio (Köln 1567) seine iren. Gedanken weiter aus. Ausführlicher behandelt er hier die kirchl. Dogmen u. befürwortet eine moralische u. disziplinäre Reform der Mutterkirche. Das Konzil von Trient verhinderte jeden weiteren Einfluss C.s in der kath. Kirche. Für die protestant. Irenik jedoch blieb er von großer Bedeutung. In der Gelehrtenrepublik lebten seine Ideen weiter. Männer wie Jean Hotman, Jean de Cordes, John Dury u. Georg Calixt wurden tief von ihm beeinflusst. Der größte Ireniker des 17. Jh., Hugo Grotius, wiederholte C.s Programm u. edierte die Consultatio mit einem 1641 verfassten ausführl. Kommentar (Via ad pacem ecclesiasticam, in qua continentur [...] Consultatio Cassandri, Annotata H. Grotii in consultationem [...]. o. O. 1642).

Cassander Ausgaben: Opera quae reperiri potuerunt omnia, epistolae CXVII et colloquia II cum Anabaptistis, nunc primum edita. Paris 1616. Literatur: Klaiber, Nr. 598–616. – Index Aureliensis 7, S. 58–63. – VD 16, C 1384–1411. – Weitere Titel: Robert Haaß: G. C. In: NDB. – A. Stegmann: G. C., victime des orthodoxies. Paris 1974, S. 199–213. – Richard Stauffer: Autour du Colloque de Poissy: Calvin et le ›De officio [...]‹. In: Actes du Colloque de Coligny et son temps. Paris 1974, S. 135–153. – Michael Erbe: François Bauduin u. G. C. Dokumente einer Humanistenfreundschaft. In: BHR 40 (1978), S. 537–560. – G. H. M. Posthumus Meyjes: Charles Perrot (1541–1608). His opinion on a writing of G. C. In: Humanism and Reform. The church in Europe, England and Scotland, 1400–1643. Hg. James Kirk. Oxford 1991, S. 221–236 (Forts. in: Nederlands archief voor kerkgeschiedenis 72 (1992), S. 72–91). – David Wright: G. C. and the appeal to the fathers in 16th-century debate about infant baptism. In: Auctoritas patrum. Zur Rezeption der Kirchenväter im 15. u. 16. Jh. Hg. Leif Grane u. a. Mainz 1993, S. 259–269. – Rob van de Schoor: Reprints of C.’s and Witzel’s Irenica from Helmstedt. The meaning of the irenical tradition for Georg Calixtus, Hermann Conring and Johannes Latermann. In: Lias 20 (1993), S. 167–192. – Ders.: De invloed van G. C. op de engelse theologie in de zeventiende eeuw. In: Nederlands archief voor kerkgeschiedenis 77 (1997), S. 158–195. – Ders.: The reception of C. in the Republic in the seventeenth century. In: The emergence of tolerance in the Dutch Republic. Hg. Christiane Berkvens-Stevelinck u. a. Leiden 1997, S. 101–115. – Barbara Henze: Erasmianisch: Die ›Methode‹, Konflikte zu lösen? Das Wirken Witzels u. C.s. In: Erasmianism: Idea and reality. Hg. Marianne E. H. N. Mout u. a. Amsterd. u. a. 1997, S. 155–168. – Heribert Schmolinsky in: RGG 4. Aufl. Bd. 2, Sp. 78 f. – Ders.: Kath. Reformtheologie bei G. C. In: Histor. Anstöße. FS Wolfgang Reinhard. Hg. Peter Burschel. u. a. Bln. 2002, S. 96–111. – B. Henze: G. C. (1513–66). In: Kath. Theologen der Reformationszeit. Bd. 6. Hg. H. Smolinsky u. Peter Walter. Münster 2004, S. 50–68. – Irena Dorota Backus: The early church as a model of religious unity in the sixteenth century: G. C. and Georg Witzel. In: Conciliation and confession. The struggel for unity in the age of reform 1415–1648. Notre Dame 2004, S. 106–133. J. P. Heering / G. H. M. Posthumus Meyjes / Red.

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Cassirer, Ernst, * 28.7.1874 Breslau, † 13.4.1945 New York. – Philosoph. Der Sohn einer wohlhabenden jüd. Kaufmannsfamilie, Vetter des Berliner Verlegers Bruno Cassirer, begann 1892 – obgleich eher an der schönen Literatur interessiert – das Studium der Rechtswissenschaften in Berlin u. wechselte bald zur dt. Literaturwissenschaft, Kunstwissenschaft u. Philosophie. Nach Studiensemestern in Leipzig u. Heidelberg kehrte er im Sommer 1894 nach Berlin zurück, wo ihn Georg Simmel auf den Marburger Neukantianer Hermann Cohen aufmerksam machte. 1896 ging C. nach Marburg u. promovierte 1899 als Schüler von Cohen u. Paul Natorp über Descartes’ Kritik der mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Die Dissertation bildet den ersten Teil seines ersten Buchs Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen (Marburg 1902. Nachdr. Darmst. 1962. Neu hg. v. Marcel Simon in: Gesammelte Werke. Bd. 1, Darmst. 1998). 1902 heiratete C., der als Privatgelehrter bis 1919 vornehmlich in Berlin lebte, seine Cousine Toni, die 1948 wertvolle Erinnerungen verfasste (Mein Leben mit Ernst Cassirer. Privatdr. New York 1950. Hildesh. 1981. Darmst. u. Hbg. 2003). Die Habilitation in Berlin, für die Wilhelm Dilthey sich gegen Widerstände einsetzte, erfolgte mit dem ersten Band von Das Erkenntnisproblem (Bln. 1906. Nachdr. der 2. bzw. 3. Aufl. in insg. 4 Bdn. Darmst. 1995. Übers.en in zahlreiche Sprachen). Erst 1919 erhielt C. einen Ruf an die neu gegründete Universität Hamburg, wo für ihn die geistesu. kulturgeschichtlich reichhaltige private Bibliothek Warburg – 1933 nach London verlegt – größte Bedeutung hatte. 1929/30 Rektor der Hamburger Universität, folgte C. 1933 einer Einladung nach Oxford u. emigrierte aus Deutschland; 1935–1941 lehrte er in Göteborg/Schweden, 1942–1944 an der Yale University in New Haven/Connecticut. Vom Sommer 1944 bis zu seinem Tod war C. Gastprofessor der Columbia University/New York. C. hat neben zahlreichen Aufsätzen über 20 Bücher geschrieben sowie eine Leibniz- u. eine Kant-Ausgabe besorgt. Sein Werk um-

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fasst Arbeiten zur Philosophie der Natur- u. der Geisteswissenschaften, zur gesamten Philosophiegeschichte, zur Literatur u. Ethik. Im Mittelpunkt steht seine dreibändige Philosophie der symbolischen Formen (Bln. 1923–29. Darmst. 21953/54. Neudr. 1977 u. 1997. Übers.en in zahlreiche Sprachen), durch welche der Neukantianismus zu einer Kulturphilosophie als prima philosophia umgestaltet wird: Das Erkenntnis- u. Wahrheitsproblem soll dem allg. Bedeutungsproblem untergeordnet werden. Der Begriff der »Symbolischen Formen« meint einerseits paradigmat. Kulturdimensionen, in denen dem medial sinnbildenden Menschen die Wirklichkeit allererst begegnet; wie Mythos, Religion, Sprache, Kunst, Technik u. Wissenschaften. Andererseits bezeichnet er das Prinzip der symbol. Formung, das von der Trias der Funktionen Ausdruck, Darstellung, reine Bedeutung – wie z.B. mathemat. Kalkül u. Stil – im menschl. Tun bestimmt wird. Sinnlichkeit u. Sinn müssen nach C. im Sinne »symbolischer Prägnanz« als urspr. Korrelation verstanden werden. Entsprechend wird das Leib-Seele-Verhältnis als die erste Form einer symbol. Relation verstanden. Alle Kultur bewegt sich so zwischen den Extremen Ausdruck u. reiner Bedeutung. Für die sich bei C. seit etwa 1917 entwickelnde Konzeption einer symbol. Formung ist das Zusammentreffen des naturwissenschaftlich u. kantisch verstandenen Funktionsbegriffs mit dem des künstlerischen u. geschichtl. Synthesisbegriffs entscheidend. In Freiheit und Form (Bln. 1916. Neudr. Darmst. 1961. 61994. Neu hg. v. Reinold Schmücker in: Gesammelte Werke. Bd. 7, Hbg. 2001), einem Buch zur dt. Geistesgeschichte von Luther bis Hegel, in dessen Mittelpunkt – neben Kant – Lessing, Herder, Goethe, Schiller u. Wilhelm von Humboldt sowie Winckelmann stehen, kündigte sich die Wende zum Begriff der Symbolischen Form an. Vor allem von Goethe wurde C. nachhaltig beeinflusst, was sich in seinen Büchern Idee und Gestalt (Bln. 1921. Neudr. der 2. Aufl. Darmst. 1971 u. ö., zuletzt 1994) u. Goethe und die geschichtliche Welt (Bln. 1932. Mit einem Vorw., Anmerkungen u. Register v. Rainer A. Bast. Hbg.

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1995) zeigt sowie in C.s Aufsatz Thomas Manns rop. Moderne. Bln. 1997. – Barbara Naumann: Goethe-Bild (in: GR 20, 3, 1945, S. 166–194). Philosophie u. Poetik des Symbols: C. u. Goethe. In der Spätphilosophie C.s spielt die Aus- Mchn. 1998. – Michaela Hinsch: Die kulturästhet. arbeitung einer humanist. Ethik eine her- Perspektive in E. C.s Kulturphilosophie. Würzb. 2001. – Susanne Nordhofen: Lit. u. symbol. Forausragende Rolle, die Freiheit u. Verantwormen. Der Beitr. der C.-Tradition zur ästhet. Erzietung als ihre entscheidenden Grundlagen hung u. Literaturdidaktik. Hann. 2003. – Cornelia hervorhebt, aber jeden Formalismus durch Richter: Die Religion in der Sprache der Kultur. die Verwurzelung in einer konkreten philo- Schleiermacher u. C. Kulturphilosoph. Symmetrien soph. Anthropologie (der Mensch als animal u. Divergenzen. Tüb. 2004. – Birgit Recki: Kultur symbolicum) zu vermeiden sucht (An Essay on als Praxis. Eine Einf. in E. C.s Philosophie der Man. New Haven 1944. Dt. u. d. T. Was ist der symbol. Formen. Bln. 2004. – Jonas Hansson u. Mensch? Stgt. 1960. 1966). Obwohl C. mit der Svante Nordin: E. C. The Swedish Years. Bern u. a. szientifischen Begrifflichkeit engstens ver- 2006. – Thomas Meyer: E. C. Hbg. 2006. Ernst Wolfgang Orth / Red. traut war, was seine Bücher Substanzbegriff und Funktionsbegriff (Bln. 1910. 21923. Neu hg. v. R. Schmücker in: Gesammelte Werke. Bd. 6, Cassirer, Paul, auch: P. Cahrs, * 21.2.1871 Hbg. 2000) u. Determinismus und Indeterminis- Görlitz, † 7.1.1926 Berlin (Freitod); mus in der modernen Physik (Göteborg 1934. Grabstätte: ebd., Friedhof Heerstraße. – Neu hg. v. Claus Rosenkranz in: Gesammelte Kunsthändler u. Verleger. Werke. Bd. 19, Hbg. 2004) belegen, entwickelte er im Zuge seiner Sprachphilosophie Mit dem 1898 in Berlin gegründeten u. ab eine literar. Praxis, in der die formalist. Be- 1901 allein geführten Kunstsalon (der Mitgriffssprache aufgesprengt wird u. zuneh- gründer, sein Vetter Bruno Cassirer, konzenmend operative Begriffe mit mannigfachen trierte sich auf seinen Verlag, der – mit literar. Anspielungen eingesetzt werden – wie Christian Morgenstern als Lektor – u. a. Herz.B. Goethes Begriffe der »Metamorphose« u. mann Cohen u. Robert Walser betreute) verdes »Urphänomens«. Damit bewährte sich half C. der gegen die Wilhelminische RepräC.s Theorie von der Metaphorizität der sentationskunst opponierenden »Berliner Secession« (Max Liebermann, Lovis Corinth, menschl. Orientierung. Max Slevogt u. a.) u. den frz. Impressionisten Weitere Werke: Kants Leben u. Lehre. Bln. 1918. – Zur Einstein’schen Relativitätstheorie. Bln. in der Kunstkritik u. beim Publikum zum 1920. – Individuum u. Kosmos in der Philosophie Durchbruch. 1908 gründete er einen eigenen der Renaissance. Lpz./Bln. 1927. – Kant u. das Verlag, in dem Kunstbücher, expressionistiProblem der Metaphysik. In: Kantstudien 36 sche (Heinrich Mann, Ernst Barlach, Else (1931), S. 1–26. – Die Philosophie der Aufklärung. Lasker-Schüler, René Schickele u. a.), ab 1916 Tüb. 1932. – The Myth of the State. London u. New auch pazifistische u. ab 1918 sozialist. LiteHaven 1946. Dt. Zürich 1949. – Symbol, Myth and ratur (Karl Kautsky, Georg Lukács, Ernst Culture: Essays and Lectures of E. C., 1935–45. Bloch u. a.) erschien. Die 1910 von C. geNew Haven 1979. – Symbol, Technik, Sprache. gründete u. zeitweise herausgegebene ZeitAufsätze aus den Jahren 1927–33. Hbg. 1985 (mit schrift »Pan« entwickelte sich v. a. durch die einem Aufs. v. Ernst Wolfgang Orth: Zur KonzepMitarbeit u. Herausgeberschaft von Alfred tion der C.schen Philosophie der symbol. Formen, Kerr zu einem Medium offensiver polit. u. S. 165–201). kultureller Kritik zu einem Organ der neuen Ausgabe: Ges. Werke (Hamburger Ausg.). Hg. »fortgeschrittenen Lyrik«. 1910 heiratete C. Birgit Recki. Hbg. 1998 ff. Tilla Durieux, Schauspielerin am Max-ReinLiteratur: Paul A. Schilpp (Hg.): The Philosohardt-Theater, u. förderte seitdem mit der phy of E. C. New York 1949. – Hans-Joachim Braun u. a. (Hg.): Über E. C.s Philosophie der symbol. »Gesellschaft Pan« die Aufführung unbeFormen. Ffm. 1988. – Andreas Graeser: E. C. Mchn. kannter oder verbotener Dramen Heinrich 1994. – Heinz Paetzold: E. C.: Von Marburg nach Manns, Frank Wedekinds u. a. Ab 1919 war C. New York. Eine philosoph. Biogr. Darmst. 1995. – Verleger u. Herausgeber der seit 1913 besteOswald Schwemmer: E. C.: ein Philosoph der eu- henden Zeitschrift »Die weißen Blätter«, mit

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deren Einstellung 1921 sich das Ende des Expressionismus abzeichnete. Literatur: Wolfgang Frhr. v. Löhneysen: P. C. – Beschreibung eines Phänomens. In: Imprimatur, N. F. 7 (1972), S. 153–180. – Eva Caspers: P. C. u. die Pan-Presse. Ffm. 1989. – Georg Brühl: Die Cassirers. Lpz. 1991. – Christian Kennert: P. C. u. sein Kreis. Ffm. 1996. – Renate Möhrmann: Tilla Durieux u. P. C. Bln. 1997. – Rahel E. Feilchenfeldt u. Markus Brandis: Paul-Cassirer-Verlag, Berlin 1898–1933. Eine komm. Bibliogr. Mchn. 2002. – R. E. Feilchenfeldt (Hg.): Ein Fest der Künste – P. C. Mchn. 2006. Armin Schulz / Red.

Castelli, (Vinzenz) Ignaz Franz, auch: Bruder Fatalis, Kosmas, Rosenfeld, C. A. Stille, Höhler, * 6.3.1781 Wien, † 5.2.1862 Wien. – Unterhaltungsschriftsteller, Dramatiker, Librettist, Übersetzer. Sohn eines Beamten, schlug auch C. nach einem Jurastudium die Beamtenlaufbahn ein, die er, unterbrochen nur durch Amts- u. Bildungsreisen, bis zu seiner Pensionierung 1843 durchlief. Die berufl. Stellung bot ihm Gelegenheit zur Pflege seines früh entdeckten literar. Talents: Die Aufführung seines Schauspiels Die Mühle am Ardennerfelsen nach einem frz. Melodram (1802) begründete seine umfangreiche Tätigkeit als Bühnenschriftsteller. Mit seinem patriot. Kriegslied für die österreichische Armee (Wien 1809), von Erzherzog Karl in Tausenden Exemplaren unter den Truppen verteilt, wurde C. zu einem der ersten Dichter der Napoleonischen Befreiungskriege. Sein nach einer frz. Vorlage entstandenes Libretto zu dem überaus erfolgreichen, sentimental-idyllischen Singspiel Die Schweizer Familie (Wien 1810. Musik: Joseph Weigl) verschaffte ihm 1811 eine Anstellung als Hoftheaterdichter am Kärntnertortheater, die er bis 1814 innehatte. Gleichzeitig entfaltete C. eine rege Tätigkeit als Herausgeber u. Mitarbeiter von Zeitschriften u. Taschenbüchern (z.B. »Der Sammler. Ein Unterhaltungsblatt«, 1809 f. »Thalia. Ein Abendblatt«, 1810–12. »Selam«, 1812–17. »Modenzeitung« bzw. »Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode«, 1816–48 mit Unterbrechungen. »Huldigung den Frauen«, 1823–48). 1840 erwarb sich der

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aus seiner schriftsteller. Tätigkeit u. durch Erbschaften wohlhabend gewordene Junggeselle eine Landvilla in Lilienfeld/Niederösterreich, verbrachte aber seinen Lebensabend wieder in Wien, wo er, mit vielen Auszeichnungen versehen, hochbetagt starb. C. gilt als Inbegriff des harmlos-gemütl. Wiener Biedermeier-»Phäaken«, nicht zuletzt dank seiner Mitgliedschaft in zahlreichen geselligen Vereinigungen: Er war Mitgl. der legendären »Ludlamshöhle« (von der sich sein Pseud. »Höhler« für die Korrespondenzen an die Dresdner »Abend-Zeitung« ableitet) ebenso wie der Künstlerzirkel »Concordia«, »Grüne Insel«, »Soupiritum« u. »Baumannshöhle« u. beteiligt an der Freundesrunde im »silbernen Kaffeehaus«, gemeinsam mit Grillparzer, Bauernfeld, Feuchtersleben, Anastasius Grün u. v. a. Auch sein literar. Profil passt in diesen Rahmen: Seinen Zeitgenossen galt der populäre Dichter wegen seiner humoristisch-geselligen Lyrik u. unbeschwerten Lebensart als der »österreichische Anakreon«. C. bevorzugte die im Biedermeier hochgeschätzten Kleinformen der Unterhaltungsliteratur: Seine Lieder, Balladen, Märchen, Legenden, Fabeln, Anekdoten, Sprichwörter, Genrebilder, Trinksprüche u. Rätsel finden sich in den zeitgenöss. Zeitschriften u. Almanachen, desgleichen seine Kurzprosa, vorwiegend im zeittyp. Gewand als Räuber- u. Gespenstergeschichten, oriental. Märchen u. histor. Novellen. Anteil an der »Witz- und Spaßkultur« des Biedermeier haben auch C.s 199 Theaterstücke, Schablonenarbeiten nach zumeist frz. Vorlagen, deren wesentlicher Teil in dem von ihm herausgegebenen Almanach »Dramatisches Sträußchen« (1809, 1817–35) im Druck erschien, darunter auch die u. a. 1823 von Franz Schubert vertonte Adaption der Lysistrata des Aristophanes, Die Verschwornen. Zu den meistaufgeführten Stücken C.s zählen sein romantisch-historisches Drama Der Hund des Aubri (Urauff. 1816) – im Übrigen Anlass zu Goethes Rücktritt als Weimarer Theaterleiter – u. die zus. mit Alois Jeitteles verfasste Parodie auf die Gattung der Schicksalstragödie Der Schicksalsstrumpf (Lpz. 1818). Der traditionellen Rollenlyrik der Bauernlieder gewann C. einen neuen Ton ab in der

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Kombination von Distichen u. einem Kunst- S. 25–40. – Walburga Litschauer: I. F. C. als Textdialekt; er wurde so zum Anreger der reichen dichter für Schubert. In: Schuberts Lieder nach Mundartliteratur des österr. Biedermeier Gedichten aus seinem literar. Freundeskreis. Ffm. (Gedichte in niederösterreichischer Mundart. Wien 1998. – Hdb. literarisch-kultureller Vereine, Gruppen u. Bünde 1825–1933. Hg. Wulf Wülfing, 1828); viele Nachahmer fand auch seine derbKarin Bruns u. Rolf Parr. Stgt./Weimar 1998, humorist. Skizzendichtung Wiener Lebensbil- S. 311–317. – Schuberts Lieder nach Gedichten aus der (1828), darüber hinaus seine teils porno- seinem literar. Freundeskreis: auf der Suche nach graf. Texte u. Parodien für die Ludlamshöhle. dem Ton der Dichtung in der Musik. Kongressber. Seine Memoiren (4 Bde., Wien 1861. Neudr. Ettlingen 1997. Hg. Walther Dürr, Siegfried Mchn. 1913) stellen ein wichtiges kulturhi- Schmalzriedt u. Thomas Seyboldt. Ffm. u. a. 1999. stor., sozial- u. literaturgeschichtl. Doku- – T. G. Waidelich: Zur Rezeptionsgesch. v. Joseph ment der österr. Verhältnisse in der ersten Weigls Schweizer Familie in Biedermeier u. VorHälfte des 19. Jh. dar. Dem Josephinismus märz. In: Schubert: Perspektiven 2 (2002), verpflichtet sind C.s volksaufklärer. Schrif- S. 167–232. Cornelia Fischer / Till Gerrit Waidelich ten, etwa Über die Cholera (Wien 1831); seinem prakt. Engagement verdankte sich auch die Gründung des Tierschutzvereins (1847). Castellio, Sébastien, eigentl.: ChaC.s bedeutende Sammlung von 12.000 st(e)illon, * 1515 St. Martin du Fresne/SaTheaterstücken in 3000 Bänden u. seine voyen, † 29.12.1563 Basel; Grab u. EpiTheaterzettelsammlung sind heute im Besitz taph im Kreuzgang des Baseler Münsters. der Österreichischen Nationalbibliothek, – Dichter, Philosoph, Professor. Wien, große Teile seines Nachlasses, darunter eine umfangreiche Briefsammlung, verwahrt C.s Vater Claude Chasteillon war Bauer; der Name der Mutter ist unbekannt. Während die Wienbibliothek im Rathaus. Weitere Werke: Poet. Kleinigkeiten. 5 Bde., des Studiums am Collège de la Trinité in Lyon Wien 1816–26. – 100 vierversige Fabeln. Wien (1535–1540) erschienen C.s erste Verse 1822. – Lebensklugheit in Haselnüssen. Eine Slg. v. (griech. u. lat. Distichen) dort 1538 zu Ehren tausend Sprichwörtern in ein neues Gewand ge- des Humanisten Gilbert Ducher. Warum C. hüllt. Wien o. J. [1824]. – Bären. Eine Slg. v. Wiener 1540 zu Calvin nach Straßburg reiste u. kurze Anekdoten. 12 H.e, Wien 1825–32. – Logogryphen- Zeit sein Hausgenosse wurde, ist unbekannt. Ungeheuer, oder Vierhundert Räthsel in Einem. Calvin war nach dem gescheiterten Versuch, Wien 1829. – Erzählungen v. allen Farben. 6 Bde., in Genf die Reformation einzuführen, Haupt Wien 1839/40. – Wörterbuch der Mundart in Oesterr. unter der Enns. Wien 1847. – Zeitklänge. Wien der frz. Flüchtlingsgemeinde in Straßburg, 1850 (L.). – Oriental. Granaten. Dresden 1852. – lehrte am Gymnasium illustre Theologie u. Oesterr.-kath. Volks-Kalender zur Verbreitung v. fand daneben Zeit zum Schreiben, u. a. einer Religiosität u. Vaterlandskenntniß. 1855 u. 1856. erweiterten Fassung der Institutio u. eines Ausgabe: Sämmtl. Werke. 15 Bde., Wien Kommentars zum Römerbrief. Aus C.s Selbstverteidigung gegen die Angriffe Cal1844–46. 31858–59 (in 22 Bdn.). Literatur: Friedrich Bermann: C. als Zeitdich- vins u. Bezas, Defensio ad authorem libri, cui titer. Diss. Wien 1927. – Walter Martinez: I. F. C. als tulus est Calumniae Nebulonis (1558, gedr. Dramatiker. Diss. Wien 1932. – Karl Wache: I. F. C. Gouda 1612), erfährt man Details über das In: Ders.: Jahrmarkt der Wiener Lit. Wien 1966, Straßburger Zusammenleben mit Calvin. S. 13–16. – Lucia Porhansl: Auf den Spuren Schu- Noch bevor Calvin dem Wunsch des Genfer berts in der Ludlamshöhle. In: Schubert durch die Magistrats nach einer erneuten Reformation Brille 7. Tutzing 1991, S. 52–78. – Till Gerrit gehorchte u. 1541 nach Genf zurückkehrte, Waidelich: ›Die Verschwornen‹, ›umsonst komposetzte der Genfer Rat, einem Vorschlag Guilnirt‹? I. F. C.s Libretto-Adaption der ›Lysistrata‹, laume Farels folgend, C. als Rektor der dorvertont v. Franz Schubert u. Georg Abraham Schneider. In: Schubert-Jb. 1996, S. 41–60. – Ders.: tigen Lateinschule, des Collège de Rive, ein. 1543 erschienen dort die ersten drei Teile ›er soll’s Maul aufmachen‹ Schubert im ›Tagebuch aus Wien‹ der Dresdner ›Abend-Zeitung‹ v. I. F. C., der Dialogi sacri, eine szen. Fassung bibl. GeIn: Schubert durch die Brille 18. Tutzing 1997, schichten aus dem AT für den elementaren

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Lateinunterricht, 1545 ergänzt durch Dialoge über das Leben Jesu u. das Wirken des Paulus nach der Apostelgeschichte. Nur bibl. Personen, gelegentlich auch Tiere (z.B. die Schlange [1 Mos 3,1–4] u. Bileams Eselin [4 Mos 22, 28–30]) sind Dialogpartner. In den Sentenzen u. Randargumenten, die in Editionen der Dialogi sacri seit 1562 stehen, kommt C.s Auffassung zum Ausdruck, dass die wenigen wahren Frommen meistens verachtet würden u. Verfolgung leiden müssten. Sein Ziel, die Anfangsgründe des Lateinischen mit einer Einführung in die bibl. Geschichten zu verbinden, sicherte den Dialogi sacri einen längerdauernden Erfolg als Schulbuch als den bewusst zeitkrit. Colloquia familiaria des Erasmus, u. zwar in luth. u. kath. Schulen des 17. u. 18. Jh. Im Dez. 1543 verweigerte die Genfer Compagnie des Pasteurs C. die Ordination u. trachtete danach, für sein Rektorat einen Nachfolger zu finden, weil er in der Deutung des Hohenlieds als weltl. Liebesdichtung u. der Höllenfahrt Christi von Calvins Auslegung abwich. Am 30.5.1544 ging C. vor der Compagnie des Pasteurs zur Konfrontation über, indem er in einer Auslegung von 2 Kor 6 ihr Berufsverständnis mit dem vorbildl. Verhalten des Apostels Paulus kontrastierte. In Basel fand er beim Drucker Johannes Oporin Anfang 1545 als Korrektor eine Anstellung. Dort befreundete er sich mit ital. u. frz. Glaubensflüchtlingen, u. a. Celio Secundo Curione, u. verkehrte mit dem niederländ. Täuferpropheten David Joris, der inkognito in der Nähe von Basel lebte u. dessen Leichnam 1559 zur Abschreckung der Baseler Gläubigen exhumiert u. verbrannt wurde. C. unterrichtete den Sohn des politisch einflussreichen Bonifacius Amerbach. 1546–1551 kamen in Basel mehrere Bibelnachdichtungen C.s heraus. Die lat. Übersetzung der Oracula Sibyllina u. der Auszug aus Flavius Josephus, Mosis institutio reipublicae graeco-latina (beide Basel 1546) dokumentieren erstmals C.s Interesse an religiösen Themen aus komparatist. Sicht. C.s lat. Bibelübersetzung (1551) rief wegen seines literar. Anspruchs, das Hebräische in der Diktion Ciceros u. Ovids wiederzugeben, unter Philologen vielfach Bewunderung hervor. C.

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erntete aber wegen der Einführung »heidnischer« Ausdrücke für Gott (Jova), Heiliger Geist (flamen), Engel (genius), Prophet (vates) u. für »taufen« (abluere u. lavare statt baptizari) u. wegen der Beigabe von Texten aus den Apokryphen u. aus Flavius Josephus’ jüd. Geschichte auch Kritik von Beza u. röm. Katholiken. Da C. in den Annotationes zum 9. Kap. des Römerbriefs Calvins Prädestinationslehre angriff, verlangte Beza, dass die Erstausgabe eingestampft würde; spätere Drucke von C.s Bibelübersetzung erschienen ohne diese umstrittene Auslegung. Gleichwohl wurde C.s Übersetzung wegen ihrer ciceron. Eleganz bis ins 18. Jh. vielfach gerühmt, nachgedruckt u. von protestant. Theologen häufig zitiert. Dieser Frucht neunjähriger philolog. Arbeit verdankte C. seine Berufung als Griechischprofessor an die Baseler Artistenfakultät im Mai 1553, worauf er am 1. Aug. zum Magister promoviert wurde. In der auf Febr. 1551 datierten Widmung der Biblia an Edward VI. von England, das C. als Refugium der aus religiösen Gründen Verfolgten preist, taucht erstmals die Forderung nach Toleranz in Glaubensstreitigkeiten auf, zu deren Anwalt sich C. unter dem Schock der Hinrichtung des span. Arztes u. Antitrinitariers Michel Servet im Okt. 1553 bis zu seinem Lebensende machen sollte. C.s frz. Bibelübersetzung erschien 1555 in Basel, mit einer Widmung an Heinrich II., wurde aber im Unterschied zur lat. Biblia nur einmal, 1572, nachgedruckt. Als Vorkämpfer für die Gleichberechtigung christl. Religionsparteien in einem Staat tritt C. in der anonym u. ohne Angabe des Druckorts herausgegebenen Abhandlung De haereticis an sint persequendi auf. Fünf Monate nach Servets Hinrichtung erschien diese Kompilation älterer u. neuer Zeugnisse gegen die Ketzertötung, auf der C.s Nachruhm gründet; einen Monat später kam die frz. Fassung heraus; die dt. Übersetzung erschien 1554 (Basel). Der Ketzerbegriff wird relativiert: Die als Häretiker verurteilt würden, seien keine Gotteslästerer, sondern Leute, die Gott verehren, der Schrift glauben, aber diese nicht verstehen. Niemand sei als »haereticus« u. »blasphemator« zu diffamieren, der nur in Lehrfragen von einer akzeptierten Meinung

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abweiche. Allein Gott stehe zu, über den Glauben eines Menschen zu richten, gemäß Mt 13,24–30. Beza u Calvin verbreiteten von Anfang an den Verdacht, die publizist. Schriften anlässlich der Hinrichtung Servets seien in Basel gedruckt worden u. C. habe die drei unter Pseudonymen publizierten Texte verfasst. In den Folgejahren versuchte Beza C. an weiteren Publikationen zu hindern, was nur z.T. gelang; Calvin u. Beza verleumdeten ihn als Verbrecher u. verdächtigten ihn, weiterhin anonym publizistisch gegen die Genfer Theologen zu agitieren. Im Conseil de la France désolée (ersch. an. u. ohne Druckort 1562) analysiert C. die Krise Frankreichs in den Jahren 1560–1562. Er führt den Bürgerkrieg auf den von beiden streitenden Parteien praktizierten Gewissenszwang (forcement des consciences) zurück, verurteilt Katholiken u. Protestanten gleichermaßen u. sieht, gestützt auf Etienne Pasquiers Exhortation aux Princes et Seigneurs du conseil privé du Roy (1561), das Mittel zur Erhaltung nat. Einheit in der Gewährung friedl. Koexistenz beider Konfessionen. Im Nov. 1563 wurde C. auf Initiative Adam von Bodensteins vor dem Baseler Rat der Häresie u. Verführung der Jugend angeklagt – diese Vorwürfe hatte schon Beza in mehreren Pamphleten geäußert. C. wies sie in seiner lat. Verteidigung (datiert 24.11.1563) zurück u. forderte Beza auf, ihm mit seinen Beschuldigungen vor dem Rat gegenüberzutreten. Zum Verhängnis wurde C. seine Zusammenarbeit mit Bernardino Ochino, dem ehemaligen Kapuzinerprior, der seit 1554 in Zürich die Locarnesergemeinde leitete. Bodenstein identifizierte C. als Übersetzer der Dialogi triginta Ochinos, die 1562 von Pietro Perna in Basel gedruckt u. nach Zürich ausgeliefert wurden. Als bekannt wurde, dass der 21. Dialog Argumente für die Polygamie enthielt, wurde Ochino vom Zürcher Magistrat verhört u. ausgewiesen, Perna gefangen genommen u. das Buch konfisziert. Schon 1545 hatte C. anonym Ochinos Römerbriefkommentar u. 1558 seine Labyrinthi in lat. Übersetzung herausgegeben, philosoph. Dilemmata gegen die Willensfreiheit, die mit seiner eigenen, erasmian. Auffassung im Widerspruch standen. C.s Verteidigung, die Antwort auf Bezas

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u. Calvins Vorwürfe u. auf deren Rechtfertigung der Hinrichtung Servets (Defensio Orthodoxae Fidei contra Errores Michaelis Serveti), erschien in Gouda 1612, als Appendix zu Contra Libellum Calvini. 1578 brachte Fausto Sozzini, den Bullinger in Zürich protegiert hatte, in Basel, allerdings mit falschem Druckernamen u. fingiertem Verlagsort, zus. mit zwei Verteidigungsschriften von 1557/58, die Summe von C.s philosophisch-theolog. Nachdenken heraus. Diese Dialogi quatuor entstanden 1558 u. z.T. schon früher, wurden aber nicht mehr vollendet. Mit Beispielen aus dem Alltagsleben, in luzider Argumentation u. schnörkellosem Stil widerlegt C. die Theorie der Prädestination u. trägt dagegen seine erasmian. Lesart von Röm 9 vor, verteidigt mit weitgehend traditionellen Argumenten die Willensfreiheit u. verurteilt erneut die Verfolgung Andersgläubiger. Obwohl die Dialogi quatuor zweimal nachgedruckt wurden (Gouda 1612. Ffm. 1696) u. in späteren Auseinandersetzungen über das Erbe der Lehre Calvins ihren Wert behielten, fehlt bis heute eine hist.-krit. Ausgabe, zu der Hans R. Guggisberg historisch-philolog. Vorarbeiten geleistet u. Carla Gallicet Calvetti mit ihrer ital. Übersetzung u. Interpretation wichtige Voraussetzungen geliefert hat. Die Uneinigkeit der christl. »sectae« (so sagt C. für »Kirchen«), die sich über den wahren Sinn der Hl. Schrift stritten u. aus ihr jeweils die Zeugnisse anführten, die für ihre bes. Lehre zu sprechen schienen, veranlasste C. im letzten Lebensjahr zu seiner umfangreichsten Schrift, einer Hermeneutik, De arte dubitandi, deren Manuskript der Bibelphilologe Johann Jakob Wettstein 1730 von Basel nach Rotterdam mitnahm u. in einer Vorlesung 1744 in Amsterdam zitatweise vorstellte (Erstdr. hg. v. Elisabeth Feist Hirsch. Leiden 1981). Aus der Häretikerverfolgungsdebatte seit 1554 entwickelte C. sein Projekt einer rationalist. Hermeneutik mit einer Erörterung, wie Wissen u. Nichtwissen, Wissen u. Glauben, Glauben u. Zweifeln voneinander abzugrenzen seien. Demnach argumentierten Jesus, seine Jünger u. die bibl. Schriftsteller mit der gesunden Vernunft u. aufgrund der zweiwertigen Logik, die auch die Richtschnur für die Interpretation abge-

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be. Von der Alltagserfahrung personeller leranza religiosa in S. Castellion antisignano del Identität in Raum u. Zeit ausgehend, lehnte protestantesimo liberale. In: La tolleranza religiosa. C. z.B. die Lehre von der Ubiquität Christi ab Hg. Mario Sina. Mailand 1991, S. 57–106. – Maxiu. brachte seine Skepsis gegenüber dem milien Engammare: La cantique des cantiques à la Renaissance. Genf 1993. – H. R. Guggisberg: S. C.. Dogma der Trinität, die unter ital. GlauHumanist u. Verteidiger der religiösen Toleranz. bensflüchtlingen verbreitet war, auf den Be- Gött. 1997 (ausführl. Werkverz. u. Forschunggriff. Falsche Lehren, etwa die Behauptung sbibliogr.). Engl. Übers. v. Bruce Gordon. Aldershot des unfreien Willens, der Prädestination u. 2003. – Barbara Mahlmann-Bauer: ›Die Wahrheit Ketzerverfolgung, kämen vom blinden, ver- wird euch frei machen‹ – ›Die Wahrheit geht im nunftwidrigen Glauben u. Missbrauch der Streit verloren‹. Formen des Streitens um den Vernunft, denn der rechte Vernunftgebrauch wahren Glauben bei Erasmus, Luther, Melangerate nie mit dem, was gut u. natürlich ist, in chthon u. C. In: Willibald-Pirckheimer-Jb. 13 (1998), S. 73–122. – C. Gallicet Calvetti: Il TestaWiderspruch. Nach C. ist die Vernunft durch mento dottrinale di Sebastiano Castellion e l’evoden Sündenfall unbeschädigt geblieben. luzione razionalistica del suo pensiero. Mailand Eine Würdigung der nlat. Dichtungen C.s 2005. – B. Mahlmann-Bauer: Protestant. Glaufehlt. Als Philosoph, der die individuelle eth. bensflüchtlinge in der Schweiz (1540–80). In: HeVerantwortung u. das Recht auf Autonomie terodoxie in der frühen Neuzeit. Hg. Hartmut in Gewissensfragen verteidigte, knüpft C. an Laufhütte u. Michael Titzmann. Tüb. 2006, Ideen des Erasmus u. Melanchthons an, von S. 119–160. Barbara Mahlmann-Bauer dem er mit Datum 1.11.1557 einen anerkennenden Brief erhielt. In der Frage der Ab- Cato, entstanden im 3./4. Jh. n. Chr., breite grenzung der Jurisdiktion von Kirche u. Staat Wirkung bis ins 18. Jh. – Sammlung von u. des Verhältnisses der Untertanen zur Ob- Lebensweisheiten. rigkeit nimmt C. Argumente Spinozas u. Lockes vorweg. Mit seiner exeget. Methoden- Die der Autorität des Cato Censorius lehre, der »Kunst des Zweifelns«, kann C. als (234–149 v. Chr.) verpflichtete Sammlung ist Wegbereiter der historisch-krit. Bibelexegese das Werk eines spätantiken Autors des 3./4. Jh. n. Chr. Den gut 140 Distichen wurden bezeichnet werden. später ein Einleitungsbrief (Vater-Sohn-LehAusgaben: De l’impunité des hérétiques – De ren als Rahmen) u. über 50 kurze Sentenzen Haereticis non puniendis. Hg. Bruno Becker. Frz. vorgeschaltet. Mittelalterlich ist die EinteiÜbers. v. M. Valkhoff. Genf 1971. – Contre le libelle de Calvin après la mort de Michel Servet. Traduit lung der Distichen in vier inhaltlich nicht du latin, présenté et annoté par Etienne Barilier. deutlich geordnete Bücher. Die Sentenzen Genf 1998. – La genèse 1555, traduit par Sébastien sind knappe imperativische HandlungsanCastellion. Hg. Jacques Chaurand u. Maximilien weisungen (z.B. »Liebe deine Eltern!«), während die Distichen an die Imperative ein beEngammare. Genf 2003. Literatur: Ferdinand Buisson: S. Castellion. Sa gründendes Argument anfügen. Die stoizisvie et son œuvre (1515–63), 2 Bde., Paris 1892 tische Grundhaltung des C. ist den Lehren der (Abdr. handschriftl. Quellen u. Werkverz.). – Ro- alttestamentl. Weisheitsbüchern nicht unland H. Bainton u. a.: Castellioniana. Quatre études ähnlich; sie ließ sich problemlos an mittelalsur S. Castellion et l’idée de la tolérance. Leiden terlich christliche oder weltl. (z.B. höf.) 1951. – Heinz Liebing: Die Schriftauslegung Seb. Wertvorstellungen anschließen, was die C.s. Diss. Tüb. 1953. In: Ders.: Humanismus, Re- Kontinuität des didakt. Werkes sicherte. formation, Konfession. Hg. Wolfgang Bienert u. Die Sammlung war seit karolingischer Zeit Wolfgang Hage. Marburg 1986, S. 11–124. – Hans Grundlagenwerk des mittelalterl. LateinunR. Guggisberg: S. C. im Urteil seiner Nachwelt vom terrichts u. zählte zu den am meisten verSpäthumanismus bis zur Aufklärung. Basel/Stgt. 1956. – Carla Gallicet Calvetti: Sebastiano Castel- breiteten Schulbüchern des MA u. der Frühen lion, il riformato umanista contro il riformatore Neuzeit bis ins 17./18. Jh., dabei offen für Calvino. Per una lettura filosofico-teologica dei Bearbeitung u. Zusammenstellung mit ähnDialogi IV postumi di Castellion. Con la prima lichen didakt. Texten. Der C. wurde glossiert, traduzione italiana. Mailand 1989. – Dies.: La tol- kommentiert u. in ausgeklügelten Layouts

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präsentiert. Er wurde in nahezu alle europ. Volkssprachen bearbeitend übersetzt (erste anglonormann. Bearbeitung 12. Jh., erste dt. 13. Jh.). Frühneuzeitliche dt. Übersetzer waren Sebastian Brant u. Martin Opitz. Erasmus von Rotterdam edierte den lat. Text zus. mit einer mittelalterlich-griech. Übersetzung. Der Einfluss auf die mlat. u. volkssprachl. Literatur in Zitaten u. Anspielungen war beträchtlich. Ausgaben: Friedrich Zarncke: Der dt. C. Lpz. 1852. Nachdr. Osnabr. 1966. – Marcus Boas u. Hendrik Johann Botschuyver (Hg.): Disticha Catonis. Amsterd. 1952. – Leopold Zatocˇil: Cato a Facetus. Brünn 1952. Literatur: Peter Kesting: C. In: VL. – Nikolaus Henkel: Beitr. zur Überlieferung der ›Disticha Catonis‹ in dt. Übers. I. In: ZfdA 107 (1978), S. 298–318. II. Ebd. 109 (1980), S. 152–179. – David A. Wells: Fatherly Advice. The Precepts of ›Gregorius‹, Marke, and Gurnemanz and the School Tradition of the ›Disticha Catonis‹. With a Note on Grimmelshausen’s ›Simplicissimus‹. In: FMSt 28 (1994), S. 296–332. – Guntram Haag: Kulturfilter in mittelalterl. dt. Übers.en der ›Disticha Catonis‹. In: LiLi 137 (2005), S. 146–156. – N. Henkel: Was soll der Mensch tun? Literar. Vermittlung v. Lebensnormen zwischen Latein u. Volkssprache u. die ›Disticha Catonis‹. In: Lit. u. Wandmalerei II. Hg. Eckart Conrad Lutz u. a. Tüb. 2005, S. 23–45. – Michael Baldzuhn: C. u. ›Facetus‹ im Hausbuch Michaels de Leone. Zum handschriftl. Nach-, Neben- u. Ineinander v. Latein u. Deutsch im 14. Jh. In: Archiv 158 (243) (2006), S. 96–104. – Ders.: Schulbücher im Trivium des MA u. der Frühen Neuzeit. Die Verschriftlichung v. Unterricht in der Text- u. Überlieferungsgesch. der ›Fabulae‹ Avians u. der dt. ›Disticha Catonis‹. Habil.-Schr. Münster. Bln./New York 2008. Christoph Huber

Cavelty, Gion Mathias, * 4.4.1974 Chur. – Schriftsteller u. Moderator.

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Titel Quifezit oder Eine Reise im Geigenkoffer (Ffm. 1997) birgt noch autobiogr. Referenzen an C.s Jugend in Chur, dekonstruiert jedoch auf Referenzialität zielende Lektüren durch die Hineinnahme von fantastisch-absurden Elementen. Die Parallelwelten, die der Erzähler mit seinem schwarzen Pudel Dante nach Verlassen Churs durchreist, widersprechen nicht nur physikal. Gesetzen, sondern verzichten auf jede Handlungslogik. Der Erzähler wird so zum Schöpfer eines eigenen Universums, dem Lewis Carroll oder Douglas Adams Pate gestanden haben. In ad absurdum oder Eine Reise ins Buchlabyrinth (Ffm. 1997), dem zweiten Teil der Triologie, radikalisiert C. sein poetologisches Konzept der Weltschöpfung durch Spachschöpfung: Mehrdeutigkeit u. Handlungsdiffusion zeugen sich aus der Verwertung literarischer (Jorge Luis Borges) oder filmischer (Peter Greenaway) Vorbilder. Gleichzeitig demaskiert C. die Mechanismen des Literatur- u. Kulturbetriebes, indem er die Geschichte eines Autors auf der Suche nach seinem Buch zeichnet. Der letzte Teil der Roman-Trilogie, tabula rasa oder Eine Reise ins Reich des Irrsinns (Ffm. 1998), dekonsturiert das Medium der Sprache in dadaistisch anmutenden Wortkaskaden, erweist gleichzeitig Sprache als der Realität vorgängig. Themen u. Motive seiner Trilogie adapierte C. auch für das Theater, wo seine verschlungene Prosa ihre durchschlagend Sinn zersetzende Kraft beweist. Dagegen rechnet C. in seinem im Stil eines Sachbuches gehaltenen Roman Endlich Nichtleser. Die beste Methode, mit dem Lesen für immer aufzuhören (Ffm. 2000) auf unterhaltsame Weise mit dem Literaturbetrieb ab. Weitere Werke: Das verlorene Wort. Ffm. 1998 (CD). – Der letzte Fall. Solothurn 2000 (CD).

C. lebt, nach dem Studium der Italianistik u. Literatur: Thomas Widmer: G. M. C. In: LGL. Ladinistik in Fribourg u. Zürich, als freier Christoph Schmitt-Maaß Autor u. Moderator der »Literaturshow« in Zürich. Zugesprochen wurden ihm das Celan, Paul, eigentl.: P. Antschel, auch: Suhrkamp-Stipendium 1996, der Förderpreis Anczel, * 23.11.1920 Czernowitz, † verdes Kantons Graubünden 1997, der Hucklemutlich Ende April 1970 Paris (Freitod). – berry-Finn-Preis (Hessen) 1998 sowie der Lyriker u. Übersetzer. Förderpreis der Stadt Chur 2004. C. erlangte durch eine Romantrilogie grö- C. wuchs als das einzige Kind deutschspraßere Bekanntheit. Deren erster Teil mit dem chiger Juden in der damals kulturell bedeu-

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tenden, kaiserlich-österreichisch geprägten Vielvölkerstadt Czernowitz (heute: Tschernowtzy) auf, die nach dem Zerfall des Habsburger Reiches 1918 mit der gesamten Bukowina Rumänien zufiel. Sein Vater, der Bautechniker Leo Antschel-Teitler, verdiente den Unterhalt der Familie als Brennholzmakler. Maßgebend geweckt u. stimuliert wurde C.s Interesse für die dt. Sprache u. Literatur von seiner Mutter Friederike Schrager. Die Hälfte der 110.000 Einwohner der Stadt waren deutschsprachige Juden; Rumänen u. Ukrainer teilten sich in die andere Hälfte. Die sprachl. u. kulturelle Vielfalt der Bukowina, die jüd. Kulturtradition u. nicht zuletzt die reiche literar. Tradition dieses Gebiets haben tiefgreifender u. nachhaltiger C.s dichter. Entwicklung bestimmt, als es die umfangreiche C.-Forschung bis vor Kurzem berücksichtigen wollte. Nach Besuch des Oberrealgymnasiums von Czernowitz, das C. 1934 wegen des sich auch hier verschärfenden Antisemitismus verlassen musste, absolvierte er 1938 das dortige rumän. Staatsgymnasium. Seine literar. Interessen standen im Zeichen von Hölderlin, Rilke, Trakl, Jean Paul, der frz. Symbolisten u. der modernen rumän. Lyrik; sozial u. politisch machte sich C. die anarcho-kommunist. Ideale von Peter Kropotkin u. Gustav Landauer zu eigen. 1938 begann er das Studium der Medizin in Tours/Frankreich, da es für dieses Fach an rumän. Universitäten für Juden einen Numerus clausus gab. Nach den Sommerferien 1939 verhinderte der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die Fortsetzung des Studiums in Frankreich, u. C. nahm noch im selben Jahr ein Studium der Romanistik an der Universität von Czernowitz auf. Am 20.6.1940 wurden Bessarabien u. die Nordbukowina mit Czernowitz von der Sowjetunion annektiert. Es entwickelte sich C.s Freundschaft mit der Schauspielerin Ruth Lachner; die ersten bedeutenden Gedichte entstanden (Schlaflied, Prinzessin Nimmermüd, Sternenlied). Nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion zogen am 5.7.1941 rumän. u. dt. Truppen in die Stadt ein. C. musste als Jude Zwangsarbeit unter rumänischer Aufsicht verrichten, seine Eltern wurden von den Deutschen in ein Arbeitslager am südl. Bug

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verschleppt. 1942 starb der Vater an Typhus, die Mutter wurde ermordet. Im Febr. 1944 wurde C. aus dem Arbeitslager entlassen u. kehrte nach Czernowitz zurück, das im März wieder sowjetisch wurde. Er hatte Umgang mit Rose Ausländer u. den Dichtern Alfred Kittner u. Immanuel Weißglas. In dieser Zeit entstand das Typoskript 1944 (Gedichte 1938–1944. Ffm. 1986), eine Sammlung von 93 Gedichten, darunter die berühmte Todesfuge. C. nahm das Studium, diesmal der Anglistik, wieder auf. 1945 begann er in Bukarest eine Tätigkeit als Verlagslektor u. Übersetzer; er gehörte zum Kreis der Surrealisten um Gerasim Luca u. war mit den Dichtern Alfred Margul-Sperber u. Peter Solomon befreundet. Erste Veröffentlichungen erschienen in der literar. Zeitschrift »Agora«. Während des Krieges u. in den Bukarester Jahren entstanden auch mehrere Gedichte in rumänischer Sprache, acht surrealist. Texte u. KafkaÜbersetzungen. Unter dem wachsenden Druck des Stalinismus floh C. im Dez. 1947 über Ungarn nach Wien. Dort Freundschaft mit Edgar Jené, Ingeborg Bachmann, Milo Dor u. a. 1948 erschien in Wien der erste Gedichtband Der Sand aus den Urnen u. die poetologisch wichtige Einleitung zu Jenés Lithografien Edgar Jené oder der Traum vom Traume. Schon im Juli 1948 verließ C. Österreich, um sich endgültig in Paris niederzulassen. Im selben Jahr begann er das Studium der Germanistik u. Sprachwissenschaft. 1952 Heirat mit der aus dem frz. Hochadel stammenden Künstlerin Gisèle de Lestrange. Von 1959 bis zu seinem Freitod 1970 in der Seine war C. Lektor für Deutsche Sprache u. Literatur an der École Normale Supérieure. 1958 erhielt er den Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen, 1960 den GeorgBüchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, 1964 den Großen Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen. Auf den ersten Gedichtband Der Sand aus den Urnen, den C. von Paris aus u. a. wegen der vielen sinnentstellenden Druckfehler zurückgezogen hatte u. bis auf wenige Exemplare einstampfen ließ, folgte der Band Mohn und Gedächtnis (Stgt. 1952), in den er auch 30 Gedichte jenes ersten Bandes aufnahm. Der

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Schock des Unerhörten, den schon diese frühen Gedichte auslösten, hält noch heute an. Ihr elegischer Versbau u. die dunkle, surrealistisch anmutende Bilderflut veranlassten die Kritiker u. Interpreten, C. in die Nähe von Rilke u. Trakl zu rücken u. seine Poesie als »symbolistische« oder »reine«, ja selbst als »Drogendichtung« (Curt Hohoff) zu charakterisieren. Nur langsam setzte sich die Einsicht in den eben nicht surrealistischen, sondern sehr konkreten Wirklichkeitsbezug dieser Gedichte durch. Es werden hier Bestände der lyr. Tradition aufgeboten, ihre Poetismen u. Artikulationsmuster in befremdenden u. scheinbar surrealist. Zusammenhängen organisiert, nicht aber, um jene Tradition fortzusetzen u. das bereits Gesagte nur anders zu sagen. Schon die Todesfuge macht klar, wohin dieses poet. Verfahren zielt: Indem beinahe alle Register des Poetisierungsrepertoires der sog. hohen Lyrik gezogen werden, um mit den Mitteln »poetischen Wohlklangs« u. »erlesener Wortwahl« über Auschwitz zu sprechen, werden Versagen u. Mitschuld von Dichtung u. Zivilisation am Geschehenen von innen heraus, d.h. im Medium eben dieser Kultur entblößt, u. zwar in einer Art u. Weise, die das krit. Vermögen der sog. engagierten Lyrik weit hinter sich lässt. Nach Mohn und Gedächtnis entfernte sich C. »wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend« (Bremer Preisrede 1958) schnell von diesem poet. Verfahren. Deutsch war seine Muttersprache u. die Sprache der Mörder seiner Mutter. Dennoch blieb C. als Dichter bei der dt. Sprache. Dies hatte aber tiefgreifende, unerbittliche Konsequenzen für seine Suche nach authentischem dichter. Ausdruck, denn »Welches der Worte du sprichst – / du dankst / dem Verderben« (Von Schwelle zu Schwelle. Stgt. 1955). Die getragenen daktyl. Verse, das erlesene Vokabular u. die üppigen metaphor. Fügungen werden schon in diesem Gedichtband einer zunehmenden Reduktion unterworfen zugunsten des Verschwiegenen u. der Negation als konstitutiven dichter. Prinzips. Das Schweigen dringt in das dichter. Sprechen ein, indem es sich als Fermate u. Leerzeile an der Komposition des Gedichts beteiligt u. vom Gesagten her seine

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nicht ausgesprochene Bedeutsamkeit erlangt. Auf das Unsagbare u. Unaussprechliche hinsteuernd u. es einkreisend, stellen die Gedichte aus Von Schwelle zu Schwelle einen Gipfel poetologischer Dichtung u. Sprachkritik dar. Repräsentativ für diese Art von Lyrik ist das Gedicht Argumentum e silentio: Angesichts der fundamentalen Schuld der Sprache mit ihren »umhurten Worten« ist nur »das erschwiegene Wort« imstande, ein gültiges Zeugnis vom Geschehenen abzulegen. Im Aug. 1959 entstand Gespräch im Gebirg, der einzige deutschsprachige Prosatext C.s (Erstveröffentlichung in: Die Neue Rundschau 2, 1960). Im Modus eines mehrstimmigen u. vielschichtigen Selbstgesprächs, verteilt im sprachl. Rollenspiel der »Geschwisterkinder Klein und Groß«, wird hier die von mystischer, geolog. u. botan. Metaphorik getragene Geschichte einer Identitätssuche u. Selbstbegegnung erzählt – die Geschichte des von Natur u. Gesellschaft ausgestoßenen Juden »unterm Stern«. Während die Gedichte aus Mohn und Gedächtnis u. Von Schwelle zu Schwelle, obgleich oft missverstanden, Beunruhigung bis Faszination hervorriefen, fand der Gedichtband Sprachgitter (Ffm. 1959) viel ablehnende Kritik. So nannte z.B. Peter Rühmkorf diese Gedichte »etwas besonders Schmalspuriges, strotzend oder besser starrend von Programmatik«, u. Günter Blöcker sprach von »selbstbesessener Kombinatorik« u. »Bildersprache von eigenen Gnaden«. Zweifellos überforderte Sprachgitter den Geschmack u. die Leseerwartungen vieler Kritiker. Konsequent wird aber hier die Suche nach sprachlicher Präzision u. Differenz von der vorgegebenen Sprache fortgeführt. Eine Art dieser Präzisierung wird im Modus des Oxymorons erwirkt: des paradoxalen Aufeinanderprallens u. der gleichzeitigen Geltung von Position u. Negation. Mit zunehmender Kargheit des Ausdrucks werden der Funktionswert des einzelnen Worts u. die produktive Spannung zwischen ausdrücklich Gesagtem u. ausdrücklich Verschwiegenem intensiviert. C. trennt sich von dem vertrauten, d.h. beschreibenden u. narrativen Sprachgebrauch. Das Gedicht Sprachgitter, das programmatisch zum Buchtitel wurde, ist die Gestaltung eines

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radikal anderen poet. Prinzips. Schon im Titel verschränken sich mindestens drei Bedeutungsschichten: das Gitter, das trennt u. verbindet; eine literar. Anspielung auf Jean Paul; die strukturale Vorstellung von der Sprache mit ihren Skansionen u. Differenzen. Das Gedicht spricht von der Schwierigkeit des Zueinandersprechens, indem es im Vollzug der Lektüre zgl. die Struktur des Gedichts davon sprechen lässt. Es wird nicht mehr eine textexterne Realität beschrieben, vielmehr entwirft u. begründet sich in seinem Nachvollzug der Text selbst als diese Realität. Dies erfordert vom Leser u. vom Interpreten eine prinzipiell andere Einstellung zum Text. Peter Szondi nannte diese (in Anlehnung an Jacques Derrida) »Lektüre«, u. seine Interpretation der Engführung, des letzten großen Gedichts aus Sprachgitter, ist ein heute noch gültiges Exempel für einen Umgang mit C.s Dichtung, der sich auf das Sich-Entwerfen der Textur als Wirklichkeit richtet u. nicht auf die Entschlüsselung einer textexternen Repräsentanz. C.s dichterische Tätigkeit wurde schon seit seinen Jugendjahren von Übersetzungen aus mehreren Sprachen begleitet, sie entwickelte sich neben u. an seinen Übertragungen. Dabei stand für ihn die Übersetzung eines Dichters immer im Zeichen der »Begegnung« im emphat. Sinne – ein Schlüsselwort C.s. Sein Übersetzungsprinzip lautete: »[...] bei größter Textnähe das Dichterische am Gedicht zu übersetzen, die Gestalt wiederzugeben, das Timbre des Sprechenden [...].« (Brief an Gleb Struve). Insg. hat C. Einzelgedichte u. Gedichtsammlungen von 42 Dichtern aus dem Französischen, Russischen, Englischen, Rumänischen, Italienischen, Portugiesischen u. Hebräischen ins Deutsche übertragen. Aus der neueren Forschung geht deutlich hervor, wie sehr C.s eigene Lyrik ein Gespräch mit den von ihm übersetzten Dichtern ist u. wie fördernd es auch für das Verständnis seiner Gedichte ist, sie im Lichte seiner Übertragungen zu lesen. Der Band Die Niemandsrose (Ffm. 1963) wurde als Überwindung einer »Enggasse«, ja einer »absoluten Grenze« begrüßt, als die man im Nachhinein Sprachgitter bewertet hat. Allgemein wurden die Gedichte der Nie-

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mandsrose als zugänglicher u. ästhetisch wertvoller von der Kritik aufgenommen. Tatsächlich handelt es sich aber um eine konsequente Fortführung der bisher entwickelten u. erprobten Kunstmittel. Darüber hinaus ist die Niemandsrose in Zusammenhang mit C.s intensiver Übersetzungstätigkeit ein vielstimmiges, durch Widmungen, literar. Zitate u. Anspielungen geführtes Gespräch mit Dichtern der lyr. Tradition (Hölderlin, Heine, Rilke), zeitgenöss. Dichtern (Ossip Mandelstam, Marina Zwetajewa, Nelly Sachs) u. mit der eigenen vorausgegangenen Dichtung (Zwölf Jahre, ... rauscht der Brunnen). Die zitathaften Überblendungen der Rede sind jedoch kein ästhetischer Selbstzweck, sondern markieren den Versuch, jenseits des immer schon Gesagten einen Raum für ein echtes u. unverbrauchtes Wort offen zu halten. Jüdisches u. Judentum bilden wie schon in vorausgegangenen Zyklen den Bezugsrahmen mehrerer Gedichte, ohne dass sich diese allerdings auf diesen Bereich reduzieren lassen. Unabdingbar für das Verständnis von C.s Poesie ist seine Poetik, wie er sie 1960 in seiner Büchner-Preis-Rede Der Meridian (in: Jb. der Dt. Akademie für Sprache u. Dichtung, 1960, S. 74–88) entworfen hat. In ihr wird Dichtung als Weg zu einer Begegnung von Ich u. Du begriffen, die trotz aller Flüchtigkeit eine immer wieder neu einzulösende Hoffnung auf ein wirkliches Wort jenseits aller Künstlichkeit enthält. Das Gedicht als »Flaschenpost«, »Atemwende«, »Gegenwort«, als eine für die Gegenwart des Menschlichen zeugende »Majestät des Absurden«: Diese ihrerseits interpretationsbedürftigen u. dennoch erhellenden Grundbegriffe des poet. Selbstverständnisses C.s sind die Orientierungspunkte für jede verantwortungsvolle Auseinandersetzung mit seinem Werk. Obgleich Die Niemandsrose heute vielfach als Höhepunkt von C.s lyr. Werk gilt, ist in der Forschungsliteratur auch die Auffassung vertreten, mit dem Band Atemwende (Ffm. 1967) beginne die bedeutendere Hälfte seiner Lyrik. C. setzt auch hier sein Verfahren der extremen Verknappung u. Verdichtung zur Präzisierung des Gesagten – der »aus der Wortwand / freigehämmerten Wahrheit« –

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fort. Die Ausdruckspotenz des Worts, seine akustische u. graf. Körperhaftigkeit, die geschichtl. Ablagerungen in seiner Morphologie u. selbst seine artikulationsmotor. Natur werden aktualisiert u. für das zu Sagende bedeutsam gemacht. Die semant. Zwischenräume der dt. Sprache werden ausgelotet, um ungeahnte u. abgründige Bereiche für das Sagbare zu erschließen. Im darauf folgenden Gedichtband Fadensonnen (Ffm. 1968) artikuliert sich mit diesem poet. Verfahren ein Sarkasmus von ungekannter Schärfe u. Aggressivität. Neben dem deutl. Zurücktreten botanischer Bildlichkeit u. dem zunehmendem Zweifel an der sprachl. Möglichkeit einer Begegnung weisen die Texte einen bei aller Vieldeutigkeit unverkennbaren Wirklichkeitsbezug auf. Das nationalsozialist. Deutschland bleibt ein bevorzugtes Objekt dieses Sarkasmus: »die / Freigeköpften, die / zeitlebens hirnlos den Stamm / der Du-losen besangen«. C.s unverhüllter Hohn gilt auch dem Fortschrittsglauben an eine zum Höheren strebende Menschheitsgeschichte: »Ausgerollt dieser Tag: / der vieltausendjährige Teig / für den späteren / Hunnenfladen«. In schonungslosem Selbstverletzungstrieb richtet sich dieser Sarkasmus nicht zuletzt gegen die eigene Dichtung, indem er die Sinnfülle u. Dignität von deren Kernworten mit ätzender Ironie zersetzt u. dementiert. Das Leid des psychisch schwer erkrankten Lyrikers, verschärft oder gar mitbewirkt durch die schändl. Plagiatsaffäre, die Claire Goll, die Witwe des dt.-frz. Dichters Ivan Goll, 1960 anzettelte, hat sicherlich den existentiellen Entstehungshorizont dieser Gedichte mitbestimmt. Die drei nach C.s Freitod erschienenen Gedichtbände lassen jedoch erkennen, wie sehr auch dieser selbstverletzende Sarkasmus eine Steigerung des dichter. Anspruchs bedeutet. Die Mischung aus Ratlosigkeit u. Faszination, die C.s Lyrik, diese »epochale Trauerarbeit eines europäischen Juden im Medium des deutschen Gedichts« (Peter Horst Neumann), im Leser hervorruft, ist eine durchaus adäquate Reaktion. Sie gründet nicht nur in der avancierten Poetik dieser Texte, die sehr hohe Rezeptionsanforderungen stellt, sondern v. a. in der Unfassbarkeit jener Wirk-

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lichkeitserfahrung, in der sie wurzeln. Nachdem ein Großteil der Forschung lange bemüht war, C.s Œuvre als poet. Umformulierung philosophischer, semiot. oder myst. Theoreme zu interpretieren, hat dieses Bedürfnis in den 1980er Jahren sichtbar nachgelassen. Seitdem richtet sich das Interesse auf thematisch-motiv. Untersuchungen sowie auf die Ermittlung der Quellen vieler Bilder, Wortschöpfungen u. Zitate, um die individuelle Art der von C. gestalteten sprachl. Präzision im Kontext der vorangegangenen u. zeitgenöss. Lyrik zu erforschen. Weitere Werke: Lichtzwang. Ffm. 1970. – Schneepart. Ffm. 1971. – Zeitgehöft. Späte Gedichte aus dem Nachl. Ffm. 1976. – Übersetzungen: E. M. Cioran: Lehre vom Zerfall. Hbg. 1953 (Ess.s). – Arthur Rimbaud: Das trunkene Schiff. Wiesb. 1958 (L.). – Drei russ. Dichter. Alexander Block, Ossip Mandelstam, Sergej Jessenin. Ffm. 1963 (L.). – Henri Michaux: Dichtungen, Schr.en 1. Ffm. 1966. – Jean Daive: Décimale blanche. Weiße Dezimale. Mit einer Vorbemerkung v. Rolf Bücher. Faks. der handschriftl. Übertragung. 2 Bde., Paris 1967. Ffm. 1977 (L.). – Giuseppe Ungaretti: Das verheißene Land. Das Merkbuch des Alten. Ffm. 1968 (L.). – William Shakespeare: Einundzwanzig Sonette. Mit einem Nachw. v. Helmut Viebrock. Ffm. 1975. – Mitherausgeber: L’Éphémère. Paris 1968–70. Ausgaben: Werke. Hist.-krit. Ausg., begr. v. Beda Allemann. Hg. Andreas Lohr u. a. 12 Bde., Ffm. 1990–2006 (Bonner Ausg.). – Werke. Hg. Jürgen Wertheimer. 8 Bde., Ffm. 1996–2004 (Tübinger Ausg.). – Ges. Werke in fünf Bänden. Hg. B. Allemann u. Stefan Reichert. Ffm. 1983. – Das Frühwerk. Hg. Barbara Wiedemann. Ffm. 1989. – Die Gedichte aus dem Nachl. Hg. Bertrand Badiou u. a. Ffm. 1997. – Die Gedichte. Komm. Gesamtausg. Hg. B. Wiedemann. Ffm. 2003. – Korrespondenz: P. C. – Nelly Sachs: Briefw. Hg. B. Wiedemann. Ffm. 1993. – P. C. – Franz Wurm: Briefw. Hg. dies. Ffm. 1995. – P. C. – Gisèle C.-Lestrange: Correspondance. Hg. B. Badiou u. Eric Celan. Paris. 2001. – P. C. – Peter Szondi. Briefw. Hg. Christoph König. Ffm. 2005. Literatur: Bibliografien: Christiane Heuline: Bibliogr. zu P. C. In: Text + Kritik 53/54. 2., erw. Aufl. Mchn. 1984. – Uta Werner in: P. C. Hg. Werner Hamacher u. Winfried Menninghaus. Ffm. 1988. – Jerry Glenn u. Jeffrey D. Todd: P. C. Eine Auswahlbibliogr. der Primär- u. Sekundärlit. 1997–2001. In: C.-Jb. 8 (2001/02), S. 391–439. – Biografien: Israel Chalfen: P. C. Eine Biogr. seiner

Cellarius Jugend. Ffm. 1979. – John Felstiner: P. C. Eine Biogr. Mchn. 1997. – Sammelbände: Dietlind Meinecke (Hg.): Über P. C. 2., erw. Aufl. Ffm. 1973. – Texte zum frühen C. Bukarester C.-Kolloquium 1981. In: Ztschr. für Kulturaustausch, 32. Jg., 3. Vj. 1982. – P. C. In: Text + Kritik 53/54. 2., erw. Aufl. Mchn. 1984. – Amy D. Colin (Hg.): Argumentum e Silentio. Internat. P. C.-Symposium. Bln./New York 1987. – Joseph P. Strelka (Hg.): Psalm u. Hawdalah. Zum Werk P. C.s. Bern u. a. 1987. – Chaim Shoham u. Bernd Witte (Hg.): Datum u. Zitat bei P. C. Bern u. a. 1987. – Hans-Michael Speier (Hg.): C.-Jb. 1 (1987). – Werner Hamacher u. Winfried Menninghaus (Hg.): P. C. Ffm. 1988 (darin versch. Briefe C.s u. a. an Nelly Sachs u. Gleb Struve). – Weitere Titel: Dietlind Meinecke: Wort u. Name bei P. C. Zur Widerruflichkeit des Gedichts. Bad Homburg 1970. – Peter Szondi: C.-Studien. Ffm. 1972. – D. Meinecke (Hg.): Über P. C. Ffm. 21973. – Hans-Georg Gadamer: Wer bin ich u. wer bist Du? Ein Komm. zu P. C.s Gedichtfolge ›Atemkristall‹. Ffm. 1973. – Joachim Schulze: C. u. die Mystiker. Motivpoetolog. u. quellenkundl. Kommentare. Bonn 1976. – Marlies Janz: Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik u. Ästhetik P. C.s. Ffm. 1976. – GeorgMichael Schulz: Negativität in der Dichtung P. C.s. Tüb. 1977. – W. Menninghaus: P. C. Magie der Form. Ffm. 1980. – Germinal Cˇivikov: Interpretationsprobleme moderner Lyrik am Beispiel P. C.s. Amsterd. 1984 – Leonard Moore Olschner: Der feste Buchstab. Erläuterungen zu P. C.s Gedichtübers.en. Gött./Zürich 1985. – Barbara Wiedemann-Wolf: Antschel Paul – P. C. Studien zum Frühwerk. Tüb. 1985. – Otto Pöggeler: Spur des Worts. Zur Lyrik P. C.s. Freib. i. Br. 1986. – Gerhard Buhr u. Roland Reuß: Materialien zu P. C.s ›Atemwende‹. Würzb. 1991. – Otto Pöggeler u. Christoph Jamme (Hg.): Der glühende Leertext. Annäherungen an P. C.s Dichtung. Mchn. 1993. – Monika Schmitz-Emans: Poesie als Dialog. Vergleichende Studien zu P. C. u. seinem literar. Umfeld. Heidelb. 1993. – Lydia Koelle: P. C.s pneumat. Judentum. Gott-Rede u. menschl. Existenz nach der Shoah. Mainz 1997. – Uta Werner: Textgräber. P. C.s geolog. Lyrik. Mchn. 1998. – Joachim Seng: Auf den Kreis-Wegen der Dichtung. Zykl. Komposition bei P. C. am Beispiel der Gedichtbände bis ›Sprachgitter‹. Heidelb. 1998. – B. Wiedemann (Hg.): P. C. – Die Goll-Affäre. Dokumente zu einer ›Infamie‹. Ffm. 2000. – Anja Tippner: P. C. In: LGL. – Marcel Krings: Selbstentwürfe. Zur Poetik des Ich bei Valéry, Rilke, C. u. Beckett. Tüb. 2005. – Jürgen Lehmann (Hg.): Komm. zu P. C.s ›Sprachgitter‹. Heidelb. 2006. – Jean Bollack: Dichtung wider Dichtung. P. C. u. die Lit. Gött. 2006. – Eric Kli-

394 german: Sites of the Uncanny. P. C., Specularity and the Visual Arts. Bln./New York 2007. Germinal Cˇivikov / Marcel Krings

Cellarius, Christoph, eigentl.: C. Keller, * 22.11.1638 Schmalkalden, † 4.6.1707 Halle/Saale. – Bibelphilologe, Altertumswissenschaftler u. Historiker. Der Sohn eines Superintendenten studierte Theologie, alte Sprachen, Geschichte u. Mathesis in Jena (1656–1659, erneut 1661–1663 u. 1666) u. in Gießen (1659–1661), in Jena v. a. bei dem Historiker Johann Andreas Bose u. dem Mathematiker, Philosophen u. Techniker Erhard Weigel, dessen Bedeutung als Universalgelehrter seit dem 19. Jh. ganz zu Unrecht in den mächtigen Schatten von Leibniz geraten ist. Es folgte eine rasche Karriere im Schul- u. Universitätsbereich: 1667 wurde C. Professor für Hebräisch u. Ethik am Gymnasium in Weißenfels, seit 1673 amtierte er als Rektor des Gymnasiums in Weimar; 1676 übernahm er auf Empfehlung Veit Ludwig von Seckendorffs die Leitung der Stiftsschule in Zeitz u. 1688 die der Domschule in Merseburg. Seit 1693 lehrte er Rhetorik, Latein u. Geschichte in Halle u. gehörte wie Christian Thomasius u. August Hermann Francke zu den Gründungsprofessoren der 1694 formell eröffneten neuen Brandenburgischen Universität, deren Gründung Seckendorff als Kanzler seit 1691 mit vorbereitet hatte. C. arbeitete maßgeblich an den Statuten der neuen Philosophischen Fakultät mit u. wurde zum Verwalter der Universitätsbibliothek bestellt. Seine gelehrte Tätigkeit umfasste – kein Einzelfall an den Universitäten dieser Zeit – einen weiten Bereich zwischen Theologie, Philologie u. Sprachwissenschaft, Geografie – die C. als Lehrfach einführte – u. Geschichte. Während seiner Tätigkeit in Zeitz u. Merseburg lag der Schwerpunkt auf der Philologia sacra, der Bibelphilologie, u. den sog. Bibelsprachen (Hebräisch, Syrisch, Chaldäisch, daneben auch Arabisch). In Halle lehrte er v. a. lat. Philologie, also Philologia profana, aber in einem weiteren Horizont, der dem nahe kommt, was man seit F. A. Wolf »Altertumswissenschaften« nannte. Eine Disser-

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tation über die Entstehung des Italienischen (1694), eine kommentierte Ausgabe der Briefe von Giovanni Pico della Mirandola (1682) u. Anmerkungen zu einer berühmten Satire des niederländ. Späthumanisten Petrus Cunaeus (1693) zeigen sein Interesse an der humanist. Kultur der Neuzeit. Die meisten seiner grundlegenden Bücher u. Abhandlungen erreichten zahlreiche Auflagen bis ins späte 18. Jh., darunter Editionen lat. Autoren, die Sprachlehrbücher (darunter eine lat. Grammatik auf Deutsch) u. v. a. seine historiograf. Werke, in erster Linie die erstmals 1702 (Jena) u. bis 1753 in elf Auflagen gedruckte Historia Universalis, eine durch den Jenaer Historiker Burkhard Gotthelf Struve besorgte Zusammenstellung von drei Arbeiten zur alten, mittleren u. neueren Geschichte, die die Grundlage seiner Vorlesungen gewesen waren. Jenseits der Verständnisbarriere des späten 18. u. des 19. Jh., die uns heute von der alten Gelehrtenkultur trennt, ist dieses im Einzelnen wenig anspruchsvolle Kompendium das einzige Werk geblieben, das von C. noch gelegentlich genannt wird, wenn auch nur als wissenschaftsgeschichtliches Kuriosum: Erst durch dieses weit verbreitete Lehrbuch des C. nämlich wurde in Deutschland die noch heute übliche u. ebenso triviale wie meist geradezu als Naturgesetz missverstandene Dreigliederung der Geschichte in Antike, Mittelalter u. Neuzeit zumindest im gelehrten Unterricht durchgesetzt. Weitere Werke: Nucleus Geographiae Antiquae et Novae. Jena 1676. – Antibarbarus Latinus. Zeitz 1678. Jena 61733. – Sciagraphia Philologiae sacrae, difficiliores quaestiones plerasque et linguarum orientalium usum genuinum delineans. Jena u. Zeitz 1678. – Grammatica Ebraea, in tabulis synopticis. Jena u. Zeitz 1681. 1684. – Ioannes Picus Mirandula: Epistolarum liber. Jena u. Zeitz 1682 (Hg.). – Chaldaismus, sive Grammatica nova linguae Chaldaicae. Jena 1683. – Glossarium Syro-Latinum. Zeitz 1683. – An haeretici aut in religione dissentientes interficiendi sint. Zeitz 1685 (Diss.). – Geographia Antiqua iuxta et Nova. 2 Bde., Zeitz 1686–87. – Isagoge in linguam Arabicam. Zeitz 1686. – Erleichterte Lat. Grammatica oder kurtze, doch zulängl. Anweisung zur Lat. Sprach, um mehren Nutzens willen bey der Jugend Teutsch abgefast. Merseburg 1689. 1749. – Diss. de origine

Celtis linguae Italicae ex barbarorum incursionibus natae. Halle 1694. Dr. 1703. 1712. – Oratio de meliorum litterarum restitutione sub initium collegii elegantioris litteraturae in Fridericiana Academia publice habita. Halle 1697. – De fide et religione Judaeorum recentium. Specimen Anti-Judaicum de gemino, quem Judaei praestolantur, Messia. o. O. 1700. – Orthographia Latina ex vetustis monumentis [...] excerpta. Halle 1700. 81778. – Antiquitates Romanae. Halle 1710 u. ö. – Dissertationes academicae. Hg. Johann Georg Walch. Lpz. 1712 (darin: J. G. Walch: Diss. de vita et scriptis Christophori Cellarii, mit Werk-Verz.). – Orationes academicae. Lpz. 1714. – Epistolae. Lpz. 1715. Literatur: Andreas Julius Dornmeier: Oratio funebris clarissimo meritissimoque viro, Christophoro Cellario [...]. Halle 1707. – Heinrich Keil: Oratio de Christophori Cellarii vita et studiis. In: Index scholarum in Universitate Halensi 1875/76. Halle 1876. – Conrad Bursian: Gesch. der class. Philologie in Dtschld. v. den Anfängen bis zur Gegenwart. Mchn./Lpz. 1883. Nachdr. Hildesh. 1977. – Friedrich Paulsen: Gesch. des gelehrten Unterrichts. Bd. 1, Lpz. 31919. – Emil Clemens Scherer: Gesch. u. Kirchengesch. an den dt. Univ.en. Freib. i. Br. 1927. – Victor Klemperer: Das romanist. Katheder u. Seminar. In: 450 Jahre Martin-LutherUniv. Halle-Wittenberg. Halle 1952, S. 315–320. – Adalbert Klempt: Die Säkularisierung der universalhistor. Auffassung. Gött. 1960. – Notker Hammerstein: Jus u. Historie. Gött. 1972. – Reinhart Koselleck: ›Neuzeit‹. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtl. Zeiten. Ffm. 1979, S. 300–48. – Helmut Keipert: C. in Rußland. In: Russian Linguistics. International Journal for the Study of the Russian Language 11 (1987), S. 297–317. – Daniel Droixhe: ›Es bilde keine Philologen‹ [sic]. C. C. et sa Dissertation sur l’origine de la langue italienne (1694). In: Kunst u. Kommunikation. FS Richard Baum. Hg. Maria Lieber u. Willi Hirdt. Tüb. 1997, S. 81–91. Herbert Jaumann

Celtis, Conrad(us), Beiname: Protucius (Celtis: Latinisierung von Bickel, Pickel; Protucius: Graezisierung von Pickel = Meissel), * 1.2.1459 Wipfeld bei Schweinfurt, † 4.2.1508 Wien. – Neulateinischer Dichter, Kosmograf, Literatur-, Bildungsu. Wissenschaftstheoretiker, Herausgeber. Der Sohn eines Winzers studierte in Köln an der Kuckana-Burse die Artes liberales (Bac-

Celtis

calaureat 1479) u. anschließend Theologie. 1480 oder 1481 verließ er die Hochschule ohne theolog. Abschlussexamen. Eine Bildungsreise führte ihn 1482 nach Buda, wo er sich um Kontakte zu dem Gelehrtenkreis um König Matthias Corvinus bemühte. Mit dem Schwerpunkt Poetik u. Rhetorik nahm er seine Artes-Studien Mitte Dez. 1484 in Heidelberg wieder auf. Er erwarb nicht nur Grundkenntnisse im Griechischen u. Hebräischen, sondern wurde als Schüler Rudolf Agricolas auch mit der humanist. Gedankenwelt u. Programmatik vertraut. 1485 legte er das Magisterexamen ab. Bis 1487 lehrte er Poetik an den Universitäten Erfurt, Rostock u. Leipzig. Am 18. April 1487 krönte Kaiser Friedrich III. C. in Nürnberg als ersten Deutschen zum Poeta laureatus. Eine zweite, längere Bildungsreise führte C. zunächst nach Italien. Im Austausch mit Gelehrten wie Marsilius Ficinus, Philippus Beroaldus, Pomponius Laetus u. Marcus Antonius Sabellicus vertiefte er in Padua, Ferrara, Bologna, Florenz, Venedig u. Rom seine Studien. Im Frühjahr 1489 ging er über Dalmatien, Kroatien u. Ungarn nach Krakau, um sich an der Jagiellonen-Universität der Mathematik u. Astronomie zuzuwenden. Abstecher führten ihn nach Preußen u. ins Weichselland, bevor er sich über Prag u. Nürnberg nach Ingolstadt begab, wo er ab 1491/92 eine a. o. Professur für Rhetorik u. Poetik innehatte. Im Winter 1492/93 war er in Regensburg Leiter der Domschule; 1495/ 96 ist er als Lehrer der Söhne des Kurfürsten Philipp von der Pfalz in Heidelberg bezeugt. Zwischen 1491 u. 1497 waren außerdem Nürnberg u. das Kloster Sponheim mit seinem mit C. befreundeten Abt Johannes Trithemius gern besuchte Stätten. Sein letztes Lebensjahrzehnt verbrachte C. mit wenigen Unterbrechungen in Wien. Ab Herbst 1497 wirkte er, von König Maximilian I. berufen, an der dortigen Universität als o. Professor. Am 31. Okt. 1501 berief ihn Maximilian zum Vorstand des neu gegründeten Collegium poetarum et mathematicorum. Die Leitung des auf seine Anregung hin errichteten Kollegs, das eine neue, dem Ganzheitsideal des C. verpflichtete Bildungselite heranbilden sollte, stellte für C. den Höhepunkt sei-

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ner berufl. Laufbahn dar. Es wurde an seinem 43. Geburtstag eröffnet. 1503 wohnte C. der ersten Baccalaureatspromotion von ArtesStudenten der 1502 neu gegründeten Universität Wittenberg bei. 1504 sammelte er in Böhmen Material für seine Germania illustrata. C. begann seine Publikationstätigkeit als Fachschriftsteller. Für den Universitätsunterricht bestimmt war die Ars versificandi et carminum (Lpz. 1486. 21492). In ihrem Anhang erschien die Ode an Apoll, sein heute bekanntestes Gedicht. Der Wiederbelebung der röm. Beredsamkeit diente die Epitoma in utramque Ciceronis rhetoricam cum arte memorativa nova et modo epistolandi utilissimo (Ingolst. 1492). Die nur handschriftlich verbreitete griech. Grammatik (Schlussredaktion 1500) sollte seinen Landsleuten den Zugang zum griech. Altertum eröffnen. Passend zu dem, was im Folgenden zum Jahre 1500 noch aufzuführen ist, publizierte er u. d. T. Economia ein Lehrbüchlein über die Beschaffenheit, die der Haushalt eines Philosophen haben muss. Als Herausgeber trat C. 1487 in Leipzig durch die Publikation von zwei Tragödien Senecas hervor, durch die er die Zeitgenossen mit der antiken Tragödie bekannt machen wollte. Die Germania des Tacitus edierte er 1500 in Wien, um die Beschäftigung mit der Kultur u. Vergangenheit Deutschlands zu fördern. Ganz im Zeichen dieses Anliegens stand auch die 1501 in Nürnberg erfolgte Edition der von C. 1493 im Kloster St. Emmeram in Regensburg entdeckten Schriften Hrotsvithas von Gandersheim. Den im Kloster Ebrach entdeckten Ligurinus, den ein Dichter Gunther (nicht G. von Pairis!) 1186/ 87 zur Verherrlichung der Taten Kaiser Friedrichs I. (Barbarossa) verfasst hatte, ließ er 1507 durch die »Sodalitas Augustana« mit Konrad Peutinger an der Spitze herausgeben. Auch naturphilosophische u. philosoph. Schriften fanden seine Aufmerksamkeit. 1497 gab er die Schrift De Mundo des PseudoApuleius in Wien heraus u. begann mit einer Vorlesung darüber seine dortige Lehrtätigkeit. Zus. mit seinem Carmen saeculare verbreitete er 1500 die Leitsätze, die Nikolaus Cusanus seiner Schrift über das Nicht-Andere (De Li Non Aliud) mitgegeben hatte.

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Eigene poet. Werke ließ C. vor 1500, von der Ode an Apoll, einigen Flugblatt-Publikationen u. den Epigrammen der Economia etwa abgesehen, nur zögernd u. wenn, dann eher handschriftlich an die Öffentlichkeit gehen. Er machte deutlich, dass seine Vorbilder in diesem Zögern Vergil u. Horaz sind. Zwar schloss er im Erscheinungsjahr der Schedelschen Weltchronik 1493 mit deren Mäzen Sebald Schreyer einen Vertrag über eine von ihm völlig neu zu gestaltende Neuauflage ab, doch gelangte das Vorhaben nie zur Ausführung. Als Einstiegsarbeit ist die Norimberga, eine der Gattung des Städtelobs verpflichtete Beschreibung Nürnbergs, zu sehen. Die Prosaarbeit wurde 1495 den Nürnberger Stadtvätern in einer handschriftl. Fassung vorgelegt. Im gleichen Jahr erschien in Basel die Ode auf St. Sebald erstmals als Einblattdruck mit einem Holzschnitt Michel Wolgemuts. Die weiteren Auflagen (ersch. etwa 1501–03 in Nürnberg) stattete Albrecht Dürer mit einem Bildnis des Heiligen aus. Hinweise in der Norimberga sowie in weiteren danach veröffentlichten Werken lassen den Eindruck entstehen, C. habe die ganze Zeit über intensiv an einer Beschreibung Deutschlands mit dem Titel Germania illustrata gearbeitet. Zum Abschluss gebrachte Werke wie die Norimberga, die Germania Generalis u. die Amores deklariert er als Vorstudien u. Nebenprodukte. Obwohl der Titel auf einer Zusammenstellung vollendeter Werke von 1500 verzeichnet ist u. auf C.’ Sterbebild von 1507 zu den Hauptwerken gezählt wird, dürfte die Germania illustrata nie vollendet worden sein. Gleiches gilt für das zweite, von Sebald Schreyer finanzierte Großprojekt, eine umfassende Enzyklopädie des Altertums u. d. T. Archetypus triumphantis Romae, an dem C. wohl nur beratend beteiligt war. Nicht zuletzt auf Drängen seiner Freunde hin plante C., im Jahr 1500 alle seine wichtigen poet. Werke mit einem Male zu veröffentlichen. Vier Bücher Elegien, vier Bücher Oden mit einem Buch Epoden u. dem Carmen saeculare sowie fünf Bücher Epigramme stellte er zu diesem Zweck zusammen. Es kam jedoch nur zu einer handschriftl. Gesamtausgabe in drei Pergamentbänden zu je einem Exemplar, von denen nur einer in der Mur-

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hardtschen Bibliothek in Kassel die Zeiten überdauert hat (Libri quinque Epigrammatum). 1502 konnte wenigstens eine Auswahlausgabe repräsentativer Werke in Nürnberg im Druck erscheinen. Sie umfasst die Amores (Elegien), die Germania Generalis, die Norimberga, die Ode auf St. Sebald, das bereits im Jahr zuvor in Nürnberg separat gedruckte Festspiel Ludus Dianae, die Stiftungsurkunde des Wiener Mathematiker- u. Poetenkollegs u. eine wichtige an Maximilian I. gerichtete Widmungsvorrede. Die Oden u. Epoden wurden erst nach C.’ Tod 1513 in Straßburg gedruckt. Andere Werke wie die Epigramme u. das von C. planmäßig zusammengestellte Briefkorpus fanden erst im 19. u. 20. Jh. Herausgeber. C.’ Lebenswerk umfasst auch die Ton- u. die Bildkunst. Durch seine 1501 u. 1504 zum Ruhme Kaiser Maximilians aufgeführten Festspiele Ludus Dianae (Nürnb. 1501) u. Rhapsodia (Augsb. 1505) erhielt das Musiktheater nördlich der Alpen zukunftsweisende Anstöße. 1507 gab C. die Odenvertonungen seines Schülers Petrus Tritonius in Augsburg heraus, deren Melodiensätze streng den Längen u. Kürzen des Metrums folgen, sodass nach antikem Vorbild Versmaß u. Melodie eine Einheit bilden. Beginnend mit den 1499/ 1500 in Zusammenarbeit mit Dürer u. dem »Meister der Celtis-Illustrationen« entstandenen Holzschnitten zur Amores-Ausgabe sowie dem Bildprogramm der Ausgabe der Werke Hrotsvithas verwendete C. die Schaffenskraft seiner letzten Jahre ausschließlich auf den Entwurf von Bildprogrammen. 1506/ 07 entwarf er das ikonograf. Konzept zu dem von Burgkmair künstlerisch umgesetzten allegor. Reichsadler, der als Programmbild des Wiener Kollegs anzusehen ist. Hinzu kommen der Holzschnittentwurf seiner in Metall nicht zur Ausführung gelangten Porträt-Medaille, sein Sterbebild, ebenfalls ein Holzschnitt Burgkmairs, mit dem er die leitenden Ideen seines Lebens u. Wirkens bei der Nachwelt in Erinnerung halten will, die das musische Programm vertiefenden Holzschnitte im Tritonius-Druck u. die Anweisung für seinen Grabstein. Zu den Leistungen des C. gehört ferner die Gründung mehrerer »Sodalitäten« nach dem

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Vorbild der ital. Akademien. Sie hatten die Aufgabe, die im Sinne des C. auszurichtende literar. u. wiss. Tätigkeit ihrer Mitglieder durch Gespräch u. Diskussion zu fördern sowie ihre Publikationsvorhaben durch Textbeigaben u. finanzielle Hilfen zu unterstützen, u. sind als Vorläufer der barocken Sprachgesellschaften anzusehen. C. darf als der bedeutendste dt. nlat. Dichter u. Humanist (»Erzhumanist«) der vorreformatorischen Zeit gelten. Die innige Verknüpfung von Sprachpflege u. Erkenntnissuche ist von Anfang an für seinen Bildungsweg, sein berufl. Selbstverständnis u. seine Werke maßgeblich. Bereits in seiner Ars versificandi von 1486 erklärt er die sprachlich angemessene u. wohlgefällige Darbietung von Sachwissen zur Aufgabe der Dichtkunst. In seiner Ingolstädter Programmrede, vor Juristen gehalten, Oratio in gymnasio Ingolstadio habita, wiederholt er die Bestimmung 1492, ebenso 1497 in der Widmungsvorrede zu seiner Ausgabe von De mundo des PseudoApuleius. Quelle, Inbegriff u. Ziel allen Wissens ist für C. die Philosophie als Universalwissenschaft. Von der Philosophie geführt, soll sich der menschl. Geist von der Betrachtung der Natur zur Betrachtung der geschichtl. Welt des Menschen u. zur Betrachtung des in Natur u. Menschenwelt wirkenden Gottes erheben. Das prägnanteste Manifest dieser Überzeugung stellt der von Dürer gestaltete Philosophia-Holzschnitt von 1499/1500 dar, den er 1502 mit den Amores publizierte: Durch die Anfangsbuchstaben der Artes liberales auf der Schärpe der das Bild beherrschenden Allegorie der Philosophie, durch die Exempelfiguren auf den Medaillons, durch die Textzeilen am oberen u. unteren Bildrand u. auch durch die Analogien zwischen den dargestellten Pflanzenarten, den personifizierten Winden, den Temperamenten, Elementen u. Jahreszeiten verkündet das Bild die Idee des Aufstiegs vom sinnlichen zum geistig-kontemplativen Leben durch die sieben freien Künste. Im Gegensatz zum gängigen Humanismus-Klischee wird dabei das sprachlich orientierte Trivium nicht aufgewertet; es bildet eine Einheit mit dem naturwissen-

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schaftlich-mathemat. Quadrivium, zu dem es hinführt. Die Naturforschung ruht für C. auf den zwei Säulen des in Büchern überlieferten Wissens u. des selbst erworbenen Erfahrungswissens. Dem Empirieanspruch versuchte er durch seine zehnjährige philosoph. Reise (1487–1497), bei der er sich in der Nachfolge von Moses, Plato u. Pythagoras sieht, u. in der Arbeit als Kosmograf durch kulturgeograf. Schriften gerecht zu werden. Neben der Beschreibung Nürnbergs u. der Germania generalis sind hier C.’ Elegien zu nennen, die u. d. T. Quatuor libri amorum, verkürzt Amores, 1502 in Nürnberg erschienen. Sie sind ein landeskundl. Lehrgedicht in Form einer stilisierten Reisebeschreibung mit autobiogr. Einschlägen. Zu den vier dt. Regionen, die C. den vier Himmelsrichtungen zuweist, gehört jeweils eine Geliebte, die ein altersabhängiges Stadium der Liebe verkörpert. Die Verknüpfung von Landeskunde u. Liebeskasuistik gibt C. Gelegenheit, in der Vorrede eine allg. Liebesphilosophie zu entwickeln. Danach stellt die Liebe das den ganzen Kosmos einende Band dar. Das durch zahlreiche Missverständnisse an seiner modernen Rezeption gehinderte Werk ist der eigenständigste Beitrag des dt. Humanismus zur literar. Renaissancekultur. Ideell eingeholt wird es erst von Goethe in dessen Überlegungen zum Lehrgedicht als Weltgedicht. Die Weltformel liegt für C. u. seine geistigen Weggefährten in der Zahl beschlossen. In ihr drückt sich die Harmonie aus, nach deren Gesetzen Gott die Schöpfung geordnet hat. C.’ Beschäftigung mit der Zahlensymbolik ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Runde Zahlen wie 10, 100, 500 oder Summen u. Produkte aus 3, 4 oder 7 (12, 28, 49 etc.) bestimmen den Aufbau des Philosophia-Holzschnitts u. der Amores ebenso wie Schlüsselereignisse seines Lebens: Mit 28 Jahren wird er zum Dichter gekrönt. Im gleichen Alter schafft Dürer im freundschaftl. Kontakt mit C. sein berühmtes christomorphes Selbstbildnis von 1500, dem wiederum gleichen symbolträchtigen Jahr, in dem C. sein Gesamtwerk publizieren will. Das Gewicht, das dieser seinem Zeugungstag, seinem Geburtshoroskop u. dem Horoskop aus Anlass

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seiner Dichterkrönung beimisst, hängt ebenso mit dem Glauben an die Zahl als Bedeutungsträger zusammen. Was als Ausweis höchster Vollkommenheit zum Leben Platos überliefert ist, dass dieses an dessen Geburtstag Vollendung gefunden habe, erstrebte C. anscheinend auch für sich: Er starb nur drei Tage nach seinem 49. Geburtstag, nach 7 x 7 Lebensjahren. Nach C.’ Auffassung haben Dichter u. Bildkünstler die Aufgabe, die Natur ihrem immanenten Gesetz gemäß nachzuschaffen. Sprachrhythmus u. Verszahl kommen dabei dem Dichter, Proportionen dem Maler als adäquate Gestaltungsmittel zu. Die so begründete Zusammengehörigkeit von Zahl u. Kunst wird im neu gegründeten Collegium poetarum et mathematicorum institutionell verankert. Die Holzkiste zur Aufbewahrung der Insignien des Kollegs zeigt u. a. eine Abbildung der Philosophia, die Dürers Holzschnitt als Vorbild hat. Mit seinen landeskundl. Schriften will C. ebenso wie mit einigen seiner Editionen zur Erschließung der Gegenwartskultur u. großen Vergangenheit Deutschlands beitragen. Auf eigene Anschauung gestützte Beschreibungen sollen die Lücken schließen, die die antiken Autoritäten gelassen hatten, u. zeigen, dass die Bewohner des dt. Sprach- u. Kulturraums in ihren kulturellen u. sittl. Leistungen der Antike u. der Romania in nichts nachstanden u. nachstehen. Das traditionelle Konzept der »translatio studii« wandelt C. dahingehend ab, dass er im Gegensatz zu sonstiger Auffassung die Deutschen auf kulturell-geistigem Gebiet die Nachfolger der Römer sein lässt. Davon zeugen nicht nur die Medaillons u. Texte des Philosophia-Holzschnitts, sondern auch die bereits 1486 publizierte Ode an Apoll. Im Hinblick auf alle Bereiche der Kultur strebt C. im Rückgriff auf antikes u. nachantikes Wissen dessen planvolle Ergänzung u. Überbietung an. Der gebildeten Frau lässt er bei der Beschäftigung mit dem eigenen Kulturkreis u. im Wettstreit mit den Italienern auffallend viel Beachtung zukommen. In den Amores wird sie als geistige Partnerin des Mannes anerkannt u. eine entsprechende Mädchen-

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bildung gefordert. Überaus erfreut über die Verfasserschaft einer Frau zeigt sich C. in der Widmungsvorrede zu den Werken der Hrotsvitha von Gandersheim. In ihre Nähe rückt C. die Nürnberger Ordensfrau Caritas Pirckheimer. Neben vielen Freunden überall im Reich durfte sich C. von zwei Herrschern bes. gestützt empfinden: von Kurfürst Friedrich dem Weisen von Sachsen u. v. a. von Kaiser Maximilian I. Gemeinsam verfolgten sie das Ziel einer umfassenden geistigen Erneuerung, deren Kennzeichen der Ausgleich aller Gegensätze sein sollte: Natur, Kultur u. Staat; Altertum, MA u. Gegenwart; Trieb u. Geist, Erkenntnis u. Weisheit, Mikrokosmos u. Makrokosmos, Mensch u. Gott sollten versöhnt u. dadurch eine neue Stufe der Würde des Menschen erreicht werden. Die Aufhebung aller Grenzen sollte ein neues goldenes oder apollinisches Zeitalter anbrechen lassen. In ihm hat der poeta u. philosophus als Weltweiser u. Ratgeber seinen Platz an der Seite des Friedens- u. Endkaisers. Diese Vision wird im allegor. Reichsadler von 1507 als im Zeitalter Maximilians bereits verwirklicht hingestellt. C.’ harmonikale, auf Zusammenführung u. Integration zielende Auffassung schließt die Versöhnung von Antike u. Christentum ein. Seine Anrufung mythologischer Gottheiten darf keinesfalls als Kirchen- u. Glaubensfeindschaft missverstanden werden, ebenso wie sein Eintreten für eine neue Würde u. Sensibilisierung des Menschen weit entfernt von dem Renaissance-Klischee individualistischer Selbstverwirklichung ist. Ihm geht es ethisch-moralisch um das rechte Maß u. wissenschaftlich um die Erkenntnis der objektiven Wahrheit, die in den Naturgesetzen liegt. Er sieht in ihnen Gott als höchste schöpferische Potenz manifestiert. Der Mensch, der zu dieser Erkenntnisleistung fähig ist, zeigt sich darin als Ebenbild Gottes u. erfüllt so seine edelste Bestimmung. Die letzte Mitteilung des C. an seine Nachwelt bringt diese Überzeugung in äußerst verdichteter Form zum Ausdruck. Von seinem Grabstein aus richtet er das Wort VIVO, »ich lebe«, an die Vorübergehenden. Er hat das Wort in ein Kreuz einmeißeln lassen u. spricht es auf seine Bü-

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cher gestützt aus, sodass die Botschaft in Integration u. Abwandlung von Ovid, Metamorphosen XV, 871–9, Vergil, Aeneis VI, 637 ff. u. Apokalyse des Johannes 14, 13 lautet: Mit meinem Lebenswerk lebe ich im Gedächtnis der Nachwelt u. im Kreuze Christi. Die Bestrebungen des C., die »Aetas Maximiliana« durch kulturelle Erneuerung zum Beginn eines neuen Zeitalters zu machen, lassen sich zusammenfassend folgenden Schwerpunkten zuordnen: 1. Wiederherstellung der röm. Sprachkultur (»eloquentia«), Verbreitung der Kenntnis des Griechischen u. Hebräischen; 2. Wiederbelebung der antiken Kultur (z.B. Theater u. Musik) u. der Wissenschaften; 3. Entdeckung kultureller Leistungen der nat. Vergangenheit; 4. Schaffung eigener Werke im Bereich von Kunst u. Wissenschaft, die Antike oder ital. Vorbilder erreichen oder übertreffen bzw. Neuland erschließen u. einen Wertekanon übermitteln; 5. Überwindung von Einseitigkeiten u. Defiziten im Bildungssystem; 6. Propagierung u. Nobilitierung der die Buchwissenschaft ergänzenden Erfahrung u. damit der Bildungsreise; 7. Überhöhung der auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation gekommenen »translatio imperii« durch die translatio studii; 8. Schaffung von Personenverbänden (»Sodalitäten«) u. Institutionen, die das Erneuerungswerk mittragen. Ausgaben und Übersetzungen: Karl Hartfelder: Fünf Bücher Epigramme v. K. C. Bln. 1881. Hildesh. 21963. – Ders.: Zu C. C. In: Vjs. für Kultur u. Lit. der Renaissance 2 (1887), S. 253–262. – H. Holstein: Ungedr. Gedichte oberrhein. Humanisten. In: Ztschr. für vergleichende Literaturgesch. u. Renaissancelit. N. F. 4 (1891), S. 459–462. – Albert Werminghoff (Hg.): C. C. u. sein Buch über Nürnb. Freib. i. Br. 1921. – Hans Rupprich (Hg.): Oratio in gymnasio Ingelstadio publice recitata. Lpz. 1932. – Ders. (Hg.): Der Briefw. des K. C. Mchn. 1934 (enthält auch die Epitoma in utramque Ciceronis rhetoricam cum arte memorativa nova et modo epistulandi vtilissimo, das Testament, die Vita, Vorreden v. Werken u. Ed.en sowie Rezeptionszeugnisse). – Felicitas Pindter (Hg.): C. C.: Libri odarum quattuor, liber epodon, carmen saeculare. Lpz. 1937. – Virginia Gingerick (Hg.): The Ludus Diane of C. C. In: GR 15 (1940), S. 159–180. – F. Pindter (Hg.): C. C.: Ludi scaenici. Lpz. 1945. – Selections from C. C. Hg. mit Übers. u. Komm.v.

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Ceram zum Gedenken. Hg. Uwe Müller, Georg Drescher u. Ernst Petersen. Schweinfurt 2001, S. 261–298. – Peter Luh: Kaiser Maximilian gewidmet. Die unvollendete Werkausg. des C. C. u. ihre Holzschnitte. Ffm. u. a. 2001 (Lit.). – Roland Stieglecker: Die Renaissance eines Heiligen. Sebastian Brant u. Onuphrius eremita. Wiesb. 2001 (Index). – Edgar Bierende: Lucas Cranach d.Ä. u. der dt. Humanismus. Tafelmalerei im Kontext v. Rhetorik, Chroniken u. Fürstenspiegeln. Bln. 2002 (Index). – Peter Luh: Der Allegor. Reichsadler v. C. C. u. Hans Burgkmair. Ein Werbeblatt für das Collegium poetarum et mathematicorum in Wien. Ffm. u. a. 2002. – Christoph J. Steppich: Numine afflatur. Die Inspiration des Dichters im Denken der Renaissance. Wiesb. 2002. – Claudia Wiener, Jörg Robert, Günter u. Ursula Hess (Hg.): Amor als Topograph. 500 Jahre Amores des C. C. Ein Manifest des dt. Humanismus. Schweinfurt 2002. – Albrecht Dürer. Das druckgraph. Werk. Bd. 2: Holzschnitte u. Holzschnittfolgen. Bearb. v. Rainer Schoch, Matthias Mende u. Anna Scherbaum. Mchn. u. a. 2003. – J. Robert: K. C. u. das Projekt der dt. Dichtung. Studien zur humanist. Konstitution v. Poetik, Philosophie, Nation u. Ich. Tüb. 2003 (Lit.). – Franz Fuchs (Hg.): K. C. u. Nürnb. Wiesb. 2004. – Peter Orth: Rom an der Regnitz, Babylon an der Pegnitz. Beobachtungen zur ›Norimberga‹ des K. C. In: Nova de veteribus. FS Paul Gerhard Schmidt. Lpz. 2004, S. 809–822. – Iuliana Va˘tui: Le privilège de Collegium Poetarum et Mathematicorum Viennois (1502–08) à couvrir de laurier ses diplômés: Sur une forme humaniste de remis des diplômes. In: Annuario. Istituto Romeno di cultura e ricerca umanistica 6/7 (2004/05), S. 321–336. – Zita Ágota Pataki: nympha ad amoenum fontem dormiens. Ekphrasis oder Herrscherallegorese? Studien zum Nymphenbrunnen sowie zur Antikenrezeption u. zur polit. Ikonographie am Hof des ungar. Königs Matthias Corvinus. 2 Bde., Stgt. 2005 (hier S. 71, 74–77, 81 f., 133, 309). – Franz Josef Worstbrock: Ausgew. Schr.en. Bd. 2: Schr.en zur Lit. des Humanismus. Stgt. 2005. – Flood, Poets Laureate, Bd. 1, S. 303–311 (Lit.). – Thomas Maissen u. Gerrit Walther: Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanist. Kultur. Gött. 2006. – J. Robert: K. C. In: VL Dt. Hum. – Harald Müller: Habit u. Habitus. Mönche u. Humanisten im Dialog. Tüb. 2006. – F. Matsche: ›Nympha super ripam Danubii‹. Cranachs Quellnymphen u. ihr Vorbild. In: Lucas Cranach 1553/ 2003 [...]. Hg. Andreas Tacke u. a. Lpz. 2007, S. 159–203. Dieter Wuttke

Ceram, C. W. ! Marek, Kurt W.

402

Chamberlain, Houston Stewart, * 9.9. 1855 Southsea bei Portsmouth, † 9.1.1927 Bayreuth; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof. – Kulturhistoriker, Publizist u. Dramatiker. Der Sohn eines Admirals der brit. Flotte u. der Tochter des Reiseschriftstellers Basil Hall verbrachte nach dem frühen Tod der Mutter seine Kindheit in Versailles (1856–1866) u. anschließend in England (1866–1869), wo sehr negative Erfahrungen in dortigen Schulen zu einem Nervenzusammenbruch beitrugen. Aus gesundheitl. Gründen hielt sich C. in den folgenden Jahren in mittel- u. südeurop. Ländern auf, meist in der Obhut seiner Tante Harriet Mary Chamberlain. 1878 heiratete er Anna Horst, die Tochter eines Breslauer Staatsanwaltes. Ab 1879 studierte C. Naturwissenschaften in Genf. Die Arbeit an einer botan. Dissertation bei dem materialistisch orientierten Carl Vogt in Genf wurde zunächst abgebrochen. Seit 1878 war C. tief beeinflusst von den Musikdramen Richard Wagners; er engagierte sich im »Bayreuther Patronatsverein« u. publizierte Aufsätze in der »Revue Wagnérienne« u. später auch in Deutschland, was ihm ab 1888 Zugang zur Wagnerfamilie, v. a. zu Cosima Wagner, verschaffte. Nach geschäftl. Fehlschlägen an der Pariser Börse (1883/84) zog C., gesundheitlich angeschlagen, nach Dresden (1884–1889), wo er, fasziniert von der Philosophie des dt. Idealismus – insbes. Immanuel Kants – u. von der dt. Klassik, intensive philosophisch-literar. Studien betrieb. Die Lektüre der botan. Schriften Julius Wiesners führte zur Wiederaufnahme der Arbeiten an der Dissertation (eingereicht in Genf 1897: Recherches sur la sève ascendante. Neuchâtel 1897) u. zur Übersiedlung nach Wien, der Wirkungsstätte Wiesners (1889–1909). Hier entwickelte er eine vielseitige publizist. Tätigkeit; hier geriet aber auch seine Ehe in eine Krise. (Eine mutmaßlich illegitime Tochter entsprang einer Affäre mit einer Nagelpflegerin.) Nach seiner Scheidung von Anna heiratete C. 1908 Eva von Bülow, Tochter von Richard Wagner u. Cosima von Bülow, u. übersiedelte nach Bayreuth, wo er bis zu seinem Tod lebte. 1916 nahm er die dt. Staats-

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bürgerschaft an. Zu etwa derselben Zeit verschlechterte sich C.s Krankheit (Multiple Sklerose oder parkinsonsche Krankheit), sodass er von da an meist bettlägerig war. Seit einer Begegnung mit Hitler (1923) gehörte C. bis zu seinem Tod zu den enthusiast. Anhängern des Nationalsozialismus, die ihrerseits C. als »Prophet[en] des Dritten Reiches« zu vereinnahmen wussten. C.s geistige Entwicklung wurde nachhaltig von dem »Genius« u. der »göttlichen Kunst« Wagners, für ihn Höhepunkt dt. Kultur, geprägt. In ihm glaubte C. zum ersten Mal das »vollkommen entwickelte Deutschbewußtsein« zu finden, welches als Zielvorstellung leitmotivisch seine Schriften durchzieht, so auch Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts (2 Bde., Mchn. 1899. 301944), eine kulturhistor. Programmschrift, die ihn schlagartig berühmt machte. Mit unverhülltem Pathos der Tendenz folgend, komplexe kulturgeschichtl. Sinnzusammenhänge willkürlich zu vereinfachen u. teilweise zu verfälschen, entwickelte C. eine kulturgeschichtlich grundierte Rassenlehre, die ihm als hermeneutisches Raster zur Geschichtsdeutung diente. In Ablehnung der Dekadenztheorie Joseph Arthur de Gobineaus betrachtete C. »Rasse« nicht als vorgegebenes »Urphänomen«. Sie müsse durch »Zuchtwahl« erzeugt werden, lasse sich durch fortgesetzte Inzucht konsolidieren u. bringe so die »wirklich schöpferischen Genies« u. »Helden« hervor, als die er Kant (Immanuel Kant. Die Persönlichkeit als Einführung in das Werk. Mchn. 1905. 51938) u. Goethe (Goethe. Mchn. 1912. 91939) stilisierte. Anstelle allgemeiner Menschheitsideale postulierte C. die quasireligiöse Hingabe an eine Rassegemeinschaft. Rationalismus, Kapitalismus u. westl. Demokratie, aber auch der materialistisch gedeutete Darwinismus wurden als eigentl. Zerstörer einer ganzheitlich gewachsenen, völkisch-german. Kultur verurteilt u. das Ideal einer bäuerlichen, natürl. Gesellschaftsordnung beschworen. Die literar. Umsetzung der Kulturprogrammatik in C.s Drei Bühnendichtungen (Mchn. 1902) blieb ohne Erfolg. Die konservativ-organolog. Rassen- u. Kulturtheorie, das Bekenntnis zum Deutschtum u. der Antisemitismus beherrschen auch

Chamberlain

seine Nachfolgeschriften (z.B. Arische Weltanschauung. Mchn. 1905. 81938). Während des Ersten Weltkriegs kulminierte sein Kulturchauvinismus in mit Hasstiraden angefüllten Kriegsaufsätzen (Mchn. 1914. 121916. Neue Kriegsaufsätze. Mchn. 1915. 61916. Hammer oder Amboß. Mchn. 1+21916), die ihm das Eiserne Kreuz, aber auch einen Prozess wegen Verleumdung der »Frankfurter Zeitung« (verloren) einbrachten. Mit seiner Rassen- u. Kulturtheorie fand C. weltweit Beachtung. Zu seinen Bewunderern gehörten Kaiser Wilhelm II. u. Autoren der völkisch-nationalen Literaturbewegung (Richard von Kralik, Adolf Bartels) ebenso wie später Hitler u. Alfred Rosenberg, der C. als »Verkünder und Begründer einer deutschen Zukunft« (so der Titel seiner 1927 in München erschienenen C.-Gedenkschrift) apostrophierte. Weitere Werke (in Auswahl): Das Drama Richard Wagners. Wien 1892. 61921. – Richard Wagner’s echte Briefe an Ferdinand Praeger. Bayreuth 1894. 21908. – Richard Wagner. 2 Bde., Mchn. 1896. 111942 (Biogr.). – Parsifal-Märchen. Mchn. 1900. 41923. – Worte Christi. Mchn. 1901. 10 1941. – (mit Friedrich Poske:) Heinrich v. Stein u. seine Weltanschauung. Lpz./Bln. 1903. – Polit. Ideale. Mchn. 1915. 31916 (Aufs.). – Von dt. Wesen (= Deutsches Wesen). Mchn. 1916. 31942. – Demokratie u. Freiheit. Mchn. 1917. 61918. – Der Wille zum Sieg u. a. Aufsätze. Hbg. 1917 / Mchn. 1–31918. – Lebenswege meines Denkens. Mchn. 1919. 31942 (Autobiogr.). – Mensch u. Gott. Betrachtungen über Religion u. Christentum. Mchn. 1921. 61943. – Rasse u. Persönlichkeit. Mchn. 1925. 41942 (Aufs.). – Briefe 1882–1924 u. Briefw. mit Wilhelm II. Hg. Paul Pretzsch. 2 Bde., Mchn. 1928. – Natur u. Leben. Hg. Jakob v. Uexküll. Mchn. 1928. – Cosima Wagner u. H. S. C. im Briefw. 1888–1908. Hg. P. Pretzsch. Lpz. 1934. Ausgabe: Gesamtausg. der Hauptschr.en. 9 Bde., Mchn. 1923. Literatur: Albert Vanselow: Das Werk H. S. C.s. Eine Bibliogr. Mchn. 1927. – Jutta Schmidt: Jakob v. Uexküll u. H. S. C. Ein Briefw. in Auszügen. In: Medizinhistor. Journal 10 (1975), S. 121–129. – Geoffrey C. Field: Evangelist of Race. The Germanic Vision of H. S. C. New York 1981 (grundlegende Biogr.). – Hans-Heinrich Wilhelm: H. S. C. u. Karl Kraus. Ein Ber. über ihren Briefw. 1901–04. In: Zeitgesch. 10 (1983), S. 405–437. – Hildegard Châtellier: H. S. C. ou le vernis raciste du discours

Chamisso

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religieux dans les fondements du XIXe Siècle. In: Revue d’Allemagne et des Pays de Langue Allemande 32 (2000), S. 189–204. – David Clay Large: Ein Spiegelbild des Meisters? Die Rassenlehre v. H. S. C. In: Richard Wagner u. die Juden. Hg. Dieter Borchmeyer, Ami Maayani u. Susanne Vill. Stgt. 2000, S. 144–159. – Karina Urbach u. Bernd Buchner: Prinz Max v. Baden u. H. S. C. Aus dem Briefw. 1909–19. In: Vierteljahresh.e für Zeitgesch. 52 (2004), S. 121–177. – Wolfram Kinzig: Der Kaiser u. der ›Evangelist des Rassismus‹. H. S. C.s Brief an Anne Guthrie über seine erste Begegnung mit Wilhelm II. In: Ztschr. für neuere Theologiegesch. 11 (2004), S. 79–125. – Ders.: Harnack, Marcion u. das Judentum. Nebst einer komm. Ed. des Briefw.s Adolf v. Harnacks mit H. S. C. Lpz. 2004. Andreas Schaffry / Wolfram Kinzig

Chamisso, Adelbert von, eigentl.: Louis Charles Adélaïde de C. de Boncourt, * 30.(?)1.1781 Schloss Boncourt/Champagne, † 21.8.1838 Berlin; Grabstätte: ebd., Friedhof der Jerusalems- u. Neuen Kirchengemeinde. – Erzähler, Lyriker u. Naturforscher. Die zum ältesten lothring. Adel gehörende, seit Ende des 16. Jh. in der Champagne ansässige Familie sah sich 1792 wegen der Revolution gezwungen, Frankreich zu verlassen, u. befand sich während der folgenden Jahre auf rastloser Flucht, die sie über die Niederlande, Lüttich u. Würzburg nach Berlin verschlug. Dort wurde C. 1796 Page im Gefolge der Königin Friederike Luise, auf deren Veranlassung hin er Privatunterricht erhielt u. das Frz. Gymnasium in Berlin besuchen konnte. 1798 trat C. als Fähnrich ins preuß. Heer ein (seit 1801 Leutnant), empfand aber bald schon Widerwillen gegen die Stumpfheit des Militärdienstes u. die Borniertheit im Offizierskorps. Auch beherrschte er die dt. Sprache erst sehr unvollkommen u. fühlte sich wegen seiner Herkunft einem steigenden Misstrauen ausgesetzt, je mehr Preußen gegen Napoleon aufrüstete. »Ich war ein obskurer Subaltern und noch mehr ein Geächteter aus dem Volke des Feindes«, urteilte er rückblickend. Um seine bislang vernachlässigte Bildung zu erweitern, lernte C. als Autodidakt Griechisch, beschäftigte sich eingehend mit Rousseau, Epiktet, Kant u.

vertiefte sich in dt. Dichtung (Klopstock, Bürger, Wieland, Goethe, Schiller). August Wilhelm Schlegels Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1801–03) gaben den Anstoß zur Gründung des »Nordsternbundes«, dem neben C. u. a. Varnhagen von Ense, Julius Eduard Hitzig, Wilhelm Neumann u. Johann Ferdinand Koreff, später auch Fouqué angehörten. Gemeinsam mit Varnhagen gab C. einen Musenalmanach (den sog. »Grünen Almanach«. Lpz. 1804. Bln. 1805 u. 1806) heraus, der aber nur mäßige Beachtung fand u. allg. als recht unreifes Produkt in frühromantischer Manier eingestuft wurde. 1806 entstand Adelberts Fabel (Erstdr. in Werke. Lpz. 1836), ein im Stile Novalis’ aus Traumsymbolen u. Naturallegorien zusammengesetztes Kunstmärchen, u. das Dramenfragment Fortunati Glückseckel und Wunschhütlein (Stgt. 1895), das nach Tiecks Vorbild den Stoff aus Volksbüchern schöpfte u. bereits die für den Schlemihl so entscheidende Dialektik von Glück u. Geld zum Thema machte. Die geschichtl. Ereignisse von 1806, die zur Zerschlagung der preuß. Armee durch Napoleon führten, bedeuteten für C. zwar eine Erlösung vom Soldatendasein, doch verbrachte er die folgenden Jahre, mehrfach den Aufenthalt zwischen Frankreich u. Berlin wechselnd, in zunehmender Ungewissheit über seine nat. Zugehörigkeit u. Unentschlossenheit über seinen weiteren Lebensweg. Trotz anhaltender literar. Studien gab er eigene dichter. Pläne fast völlig auf. 1810 traf er in Paris außer Varnhagen auch A. W. Schlegel wieder, der ihn in den Kreis um Madame de Staël einführte. Im Frühjahr 1811 folgte er ihr ins Exil nach Schloss Coppet am Genfer See u. blieb dort mehr als ein Jahr. In den Alpen erwachte sein Interesse an der Botanik. Im Herbst 1812 kehrte er nach Berlin zurück u. begann im Alter von fast 32 Jahren mit einem naturwiss. Studium. Der Ausbruch der Befreiungskriege u. die damit einhergehende patriotisch aufgewühlte Stimmung in Preußen ließen es ihm im Frühjahr 1813 ratsam erscheinen, Berlin zeitweilig zu verlassen. Auf Gut Kunersdorf als Gast des Grafen Itzenplitz entstand aus »Langeweile und Muße« Peter Schlemihls wundersame Geschichte (Nürnb. 1814 u. ö.

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Neudr. mit einem Komm. v. Thomas Betz u. Lutz Hagestedt. Ffm. 2003, zahlreiche Übers.en), die zu einer der populärsten deutschsprachigen Erzählungen des 19. Jh. wurde. Die Deutungsbemühungen um das Motiv des verkauften Schattens haben bis heute nicht nachgelassen. Im Allgemeinen stehen biografisch u. sozialgeschichtlich argumentierende Ansätze im Vordergrund. Der Verlust des Schattens als Verlust einer ausweisbaren, anschaulich-konkreten Identität versinnbildlicht unverkennbar C.s eigenes »Leiden eines Gezeichneten und Ausgeschlossenen« (Thomas Mann), das er als frz. Emigrant in Preußen, noch dazu als ein dubioser Dichter erfahren hatte. Das an den Faust-Stoff gemahnende Motiv der Preisgabe eines als unveräußerlich angesehenen Ich-Attributs weist in Peter Schlemihl die sozialgeschichtlich bedeutsame Variation auf, dass das Schicksal des Helden durch einen Tauschvorgang besiegelt wird, in dem soziale Identität gegen das fetischisierte Glücksäquivalent der bürgerl. Gesellschaft, gegen das Geld aus dem »Glückssäckel«, veräußert wird. Das Problem der Schuld verlagert sich damit von der Ebene der individuellen Verfehlung oder gar der metaphys. Verblendung auf die Frage nach dem gesellschaftl. Preis für das, was Geld an Autonomie u. Freiheit verheißt. Peter Schlemihl zahlt mit dem Los des Außenseitertums, der geächteten u. gefährdeten Existenz, womit der Schatten sich als ein Symbol »aller bürgerlichen Solidität und menschlichen Zusammengehörigkeit« (Thomas Mann) erweist. Die Lösung des Konflikts in den Schlusskapiteln, in denen der Held mit Siebenmeilenstiefeln buchstäblich über gesellschaftl. Grenzen hinweggeht u. als Naturforscher zu seiner Bestimmung findet, hat einen gewissen rousseauistischen Einschlag, doch stützt sie sich v. a. auf eine Ethik des (natur-)wiss. Handelns im aufklärer. Geiste. Für C.s eigene Zukunft wurde diese Lösung richtungweisend. Im Herbst 1813 war C. wieder in Berlin u. setzte sein Studium fort. Der neuerl. Feldzug gegen Frankreich verschärfte in ihm den Eindruck von der Unerträglichkeit seiner Lage, u. er ergriff die sich durch Hitzigs Vermittlung bietende Möglichkeit, als Na-

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turforscher auf einem russ. Expeditionsschiff unter Kapitän Otto von Kotzebue an einer Weltumseglung (1815–1818) teilzunehmen. Die wiss. Auswertung des auf dieser Reise gesammelten botanischen, zoolog. u. ethnolog. Materials beschäftigte ihn bis an sein Lebensende. Im 19. Jh. galt C. als weithin anerkannte Autorität auf dem Gebiet der Pflanzengeografie u. als Repräsentant einer strikt empirisch-deskriptiv verfahrenden Botanik. Neben der für die Geschichte der Zoologie bedeutsamen Entdeckung des Generationswechsels bei den Salpen (Manteltieren) lieferte C. wichtige Beiträge zur Natur, Kultur u. Geschichte der Südsee. Anknüpfend an Wilhelm von Humboldts Untersuchungen, verfasste er eine Abhandlung Über die Hawai’sche Sprache (Bln. 1837). Seine Reise um die Welt in den Jahren 1815–1818. Tagebuch (Bln. 1836) darf als eines der hervorragenden Werke der deutschsprachigen Reiseliteratur angesehen werden. C. wurde 1819 zum Ehrendoktor der Universität Berlin u. 1835 (auf Vorschlag Alexander von Humboldts) zum Mitgl. der Berliner Akademie der Wissenschaften ernannt. Beruflich war er ab 1819 als Kustos am Herbarium u. Botanischen Garten in Schöneberg tätig. Obwohl C. nach der Weltreise wieder in den Berliner literar. Kreisen verkehrte (er gehörte dem Freundschaftsbund der »Serapionsbrüder« um Hitzig u. E. T. A. Hoffmann an), trat er als Dichter kaum noch in Erscheinung. Die im Anhang zur zweiten Auflage des Peter Schlemihl (Bln. 1827) veröffentlichten Lieder u. Balladen fanden jedoch so großen Anklang, dass er Zutrauen zu den eigenen Fähigkeiten schöpfte u. sich in den folgenden Jahren als ein bemerkenswert vielseitiger u. produktiver Lyriker erwies, dessen Beliebtheit erst um die Jahrhundertwende nachließ. Viele seiner Gedichte (etwa der von Schumann vertonte Zyklus FrauenLiebe und Leben) sind repräsentativ für die Transformation romant. Denk- u. Ausdrucksformen ins Biedermeierliche. Eine liberale polit. Haltung, die eigenen Erfahrungen als Emigrant u. nicht zuletzt sein naturwissenschaftlich geschulter Realitätssinn ließen ihn aber ebenso zu einem nüchtern-krit. Beobachter der gesellschaftl. Wirklichkeit

Chargaff

seiner Zeit werden. Mit seiner sozialen Lyrik stand er den Dichtern des Vormärz nahe, die er auch als Herausgeber des »Deutschen Musenalmanachs« (zus. mit Gustav Schwab. Lpz. 1833–39) förderte. Seine viel gelobten Balladen u. Terzinen sind inhaltlich wie in der formalen Ausführung das Ergebnis eines Bemühens um lyrisch-epische Klarheit der Anschauung u. des Urteils. Ausgaben: Werke. 4 Bde., Lpz. 1836. 6 Bde., hg. v. Friedrich Palm. Bln. 51864. – Werke. Hg. Oskar F. Walzel. Stgt. o. J. [1892]. – Ges. Werke in 4 Bdn. Hg. Max Koch. Stgt. o. J. [1898–1906]. – Sämtl. Werke in 2 Bdn. Hg. Volker Hoffmann u. Jost Perfahl. Mchn. 1975. – Sämtl. Werke in 2 Bdn. Hg. Werner Feudel. Lpz. 1981. Mchn./Wien 1982. – Einzelausgaben: Der Doppelroman der Berliner Romantik. Hg. Helmuth Rogge. 2 Bde., Lpz. 1926. – Naturwiss. Schr.en. Hg. Ruth Schneebeli-Graf. Bln. 1983. Literatur: Bibliografien: Philipp Rath: Bibliotheca Schlemihliana. Bln. 1919. – Günther Schmid: C. als Naturforscher. Lpz. 1942. – Forschungsbericht: Dörte Brockhagen: A. v. C. In: Lit. in der sozialen Bewegung. Hg. Alberto Martino u. a. Tüb. 1977, S. 373–423. – Gesamtdarstellungen: Thomas Mann: C. (1911). In: Ders.: Ges. Werke. Bd. 10, Ffm. 1974, S. 35–57. – C. Actes des journées franco-allemandes. Saint-Menehould 1982. – Christine Schlitt: C.s Frühwerk. Würzb. 2007. – Biografisches: Julius Eduard Hitzig: Leben u. Briefe v. A. v. C. 2 Bde., Lpz. 1839. – René Riegel: A. de C., sa vie et son œuvre. 2 Bde., Paris 1934. – Werner Feudel: A. v. C. Leben u. Werk. Lpz. 1971. 31988. – Norbert Miller: C.s Schweigen u. die Krise der Berliner Romantik. In: Aurora 39 (1979), S. 101–119. – Peter Lahnstein: A. v. C. Mchn. 1984. – Robert Fischer: A. v. C.: Weltbürger, Naturforscher u. Dichter. Bln./ Mchn. 1990. – René-Marc Pille: A. v. C. vu de France: 1805–40. Genèse et réception d’une image. Paris 1993. – Helmut Koopmann: C., Börne, Heine: Exil in Dtschld., Exil in Frankreich. In: Vormärzlit. in europ. Perspektive. Hg. ders. u. Martina Lauster. Bd. 1, Bielef. 1996, S. 91–110. – Mit den Augen des Fremden. A. v. C. – Dichter, Naturwissenschaftler, Weltreisender. Hg. Gesellsch. für interregionalen Kulturaustausch. Bln. 2004. – Lyrik: Hermann Tardel: Quellenstudien zu C.s Gedichten. In: Archiv N. F. 14 (1905), S. 273–292. – Werner Feudel: A. v. C. als polit. Dichter. Diss. Halle 1965. – Volker Hoffmann: ›Drücken, unterdrücken – drucken‹. Zum Neubeginn v. C.s polit. Lyrik. In: JbDSG 20 (1976), S. 38–86. – ›Schlemihl‹: (im Folgenden ›P. S.‹): Thomas Mann: ›P. S.‹. In: Ders.: Ges. Werke. Bd. 13, Ffm. 1974, S. 398–407. – Benno v. Wiese: A.

406 v. C.s ›P. S.‹. In: Ders.: Die dt. Novelle v. Goethe bis Kafka. Düsseld. 1956, S. 97–116. – Paul Neumarkt: C.s ›P. S.‹. A literary approach in terms of analytical psychology. In: Literature and Psychology 17 (1967), S. 120–127. – Martin Swales: Mundane magic: some observations on C.s ›P. S.‹. In: Forum for Modern Language Studies 12 (1976), S. 250–262. – Gero v. Wilpert: Der verlorene Schatten. Varianten eines literar. Motivs. Stgt. 1978. – Winfried Freund: A. v. C: ›P. S.‹. Paderb. 1980. – Dagmar Walach: A. v. C.: ›P. S.‹. Mchn. 1982. – Dies. (Hg.): ›P. S.‹. Erläuterungen u. Dokumente. Stgt. 1982. – Gonthier-Louis Fink: ›P. S.‹ et la Tradition du conte romantique. In: RG 12 (1982), S. 24–54. – Marke Pavlyshyn: Gold, guilt and scholarship. A. v. C.s ›P. S.‹. In: GQ 55 (1982), S. 49–63. – Jürgen Schwann: Vom ›Faust‹ zum ›P. S.‹. Kohärenz u. Kontinuität im Werk A. v. C.s. Diss. Mannh. 1982. Tüb. 1984. – Alice A. Kunizar: ›Spurlos [...] verschwunden‹. P. S. u. sein Schatten als verschobener Signifikant. In: Aurora 45 (1985), S. 189–204. – Klaus Gille: Die Schatten des P. S. In: DU 39 (1987), S. 74–83. – Rolf Günter Renner: Schrift der Natur u. Zeichen des Selbst: ›P. S.‹ im Zusammenhang v. C.s Texten. In: DVjs 65 (1991), S. 653–673. – Gernot Weiß: Südseeträume: Schlemihls Suche nach dem Glück. In: Aurora 56 (1996), S. 111–126. – Fritz Breithaupt: Urszenen der Ökonomie: v. ›P. S.‹ zur ›Philosophie des Geldes‹. In: Singularitäten. Lit. – Wiss. – Verantwortung. Hg. Marianne Schuller u. Elisabeth Strowick. Freib. i. Br. 2001, S. 185–205. – Sarah FraimanMorris: A. v. C.s ›P. S.‹ u. Heinrich Heines ›Der Doktor Faust‹: ›Faust‹-Parodien zweier Außenseiter. In: GRM 56 (2006), S. 185–199. – Naturwissenschaft: Brockhagen 1977 (s. o.). – Paul Hiepko: Der Naturwissenschaftler A. v. C. u. das Herbarium am Botan. Garten in Schöneberg. In: Mit den Augen des Fremden 2004, S. 107–116. Jochen Fried / Marcel Krings

Chargaff, Erwin, * 11.8.1905 Czernowitz, † 20.6.2002 New York. – Biochemiker; Essayist. Nach einer Kindheit in einer Provinzstadt der untergehenden österreichisch-ungar. Monarchie u. einer Jugend im Wien des Ersten Weltkriegs studierte C., Sohn eines Bankiers, seit 1923 Chemie, daneben Literaturgeschichte u. engl. Philologie; als seinen einzigen intellektuellen Lehrer nennt er Karl Kraus, dessen Vorlesungen zur Literatur u. Sprachkritik er regelmäßig besuchte. Nach

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der Promotion 1928 ging er an die Yale Uni- scheu vor der Weltgeschichte. Fragmente vom versity (USA) u. 1930 – »der seltene Fall einer Menschen (Stgt. 1988), Vermächtnis (Stgt. 1992) Ratte, die das sinkende Schiff betritt« (Char- u. Die Aussicht vom 13. Stock (Stgt. 1998) entgaff) – als Assistent für Chemie an die Uni- wickelte C., der auch Gedichte schrieb (Geversität Berlin. 1933 emigrierte C. nach dichte. Stgt. 1985), seine krit. Weltsicht: in Frankreich, war am Institut Pasteur in Paris Aphorismen u. Reflexionen über die Naturtätig u. arbeitete seit 1935 an der Columbia auffassung der vor-naturwiss. Welt; in PoleUniversity in New York. Seit 1938 Assistant miken gegen den arbeitsteiligen Wahnsinn Professor, baute er ein Laboratorium für der Großforschung u. die Tendenzen der Zellchemie auf, wurde 1946 zum Associate Neuzeit zur Beschleunigung, EnthumanisieProfessor, 1952 zum Professor ernannt u. rung u. letztlich Weltzerstörung. Diese übernahm 1970 die Leitung des Biochemi- pointenreichen, bewusst aporet. Polemiken, Glossen u. Predigten versuchen, die Tradition schen Instituts. C. hat mehr als 300 wiss. Aufsätze veröf- der nicht bemächtigenden, sondern liebenfentlicht. Seine Arbeiten über die Basenkom- den Naturbetrachtung nicht abreißen zu lasplementarität der Nukleinsäuren haben ent- sen. Öffentlich gewirkt hat C. v. a. durch seine scheidend zur Entdeckung der Doppelhelix- Polemik gegen den Angriff der Gentechnik struktur der DNS (Desoxyribonukleinsäure) – auf das Leben. Er wandte sich gegen eine des Trägers der genet. Information – beige- »ausschließlich mechanomorphische Vorstellung von der lebendigen Natur« u. plätragen. Einem weiteren Publikum ist C. durch dierte für Demut, Selbstbeschränkung, weiseine wiss. Essays u. seinen öffentl. Einspruch sen Verzicht u. »kleine Wissenschaft«, war gegen die Risiken u. gesellschaftl. Folgen der aber realistisch genug zu erkennen, dass die biochem. Technologie bekannt geworden. In Entwicklung über diese Einsprüche hinwegseinen kulturkrit. Aufsätzen unterwirft er die gehen wird. europ. Neuzeit, den rastlosen FortschrittsWeitere Werke: Alphabetische Anschläge. Stgt. willen u. die Eigendynamik der Naturwis- 1989. – Vorläufiges Ende. Ein Dreigespräch. Stgt. senschaften einer ebenso radikalen u. galli- 1990. – Über das Lebendige. Ausgew. Ess.s. Stgt. gen wie gelehrten Kritik. Dabei wird sein 1993. – Armes Amerika – Arme Welt. Stgt. 1994 »wüster Pessimismus« nur gelegentlich (Ess.). – Ein zweites Leben. Autobiogr. u. a. Texte. durch Einschübe utop. Hoffnung aufgehellt, Stgt. 1995. – Brevier der Ahnungen. Eine Ausw. aus dem Werk. Zusammengestellt v. Simone Kühn. die ihre Energie aus der Religion u. den groStgt. 2002. – Stimmen im Labyrinth. Drei Dialoge ßen literar. Werken v. a. der europ. Tradition über die Natur u. ihre Erforsch. Mit einem Nachw. ziehen. v. Benno Müller-Hill u. einem Portrait v. Peter Seine Autobiografie Heraclitean Fire. Sketches Stephan Jungk. Stgt. 2003. from a Life before Nature (New York 1978. Dt. Literatur: Lothar Jaenicke: The Torch of E. C. Das Feuer des Heraklit. Skizzen aus einem Leben and the Fire of Heraklitus Devour Their Children. vor der Natur. Stgt. 1979) verbindet die liebe- In: Angewandte Chemie (2002), 114, Nr. 22, volle Schilderung einer untergehenden eu- S. 4213–4216. Mathias Greffrath / Bruno Jahn rop. Welt mit einer unerbittl. Polemik gegen die destruktive Technisierung der NaturforChelidonius, Benedictus, auch: Hirundo, schung. Beiname: Musophilus, eigentl.: SchwalIn den folgenden Essaybänden Unbegreiflibe, * um 1460 wohl in Nürnberg, † 8.9. ches Geheimnis. Wissenschaft als Kampf für und 1521 Wien. – Neulateinischer Dichter. gegen die Natur (Stgt. 1980), Bemerkungen (Stgt. 1981), Warnungstafeln. Die Vergangenheit spricht Als Benediktinermönch im Kloster St. Egizur Gegenwart (Stgt. 1982), Kritik der Zukunft dien in Nürnberg hatte C. Kontakte zum (Stgt. 1983), Zeugenschaft. Essays über Sprache Kreis um Conradus Celtis u. gilt als typischer und Wissenschaft (Stgt. 1985), Serious Questions. Vertreter des sog. Klosterhumanismus. Verse An ABC of Skeptical Reflections (Boston/Basel/ über die Gründung des Egidien-Klosters mit Stgt. 1986. Dt. Ernste Fragen. Stgt. 2000), Ab- Äbtekatalog für den Kreuzgang des Klosters

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u. das in der Abschrift Hartmann Schedels (München, BSB, 48 inc.c.a.1813, 248r-252r) erhaltene Elegiacum in vitam S. Benedicti aus 65 Einzeldistichen auf die Vita des hl. Benedikt stehen einerseits in thematischer Beziehung zu C.’ Heimatkloster, demonstrieren aber bereits seine Ambitionen, etwa in Konkurrenz zu Jakob Lochers Carmina in vitam sancti Benedicti, die Schedel im selben Kontext überliefert. Um 1508 trat C. ambitioniert mit seinem Erstdruck der Passio Jesu Christi salvatoris mundi (Straßb. bei Joh. Knobloch. VD 16, S 4586) an die Öffentlichkeit. Der Passionszyklus verbindet die Artifizialität pagan-antiker Lyrik in verschiedensten Versmaßen u. Stilen mit den zeitgenöss. Meditationstechniken christlicher Andachtsliteratur. C. sprach in diesen Jahren in einer sapphischen Ode zu Tritonius’ Melopoiae (wohl 1507) u. in einer Elegie auf den Tod des Celtis im Febr. 1508 (München, BSB, Rar. 1585, 279r-280r) dezidiert seinen Anspruch auf Anerkennung als »poeta« in der Nachfolge seines Lehrers aus. Albrecht Dürer hat C.’ Dichtungen im Sinne einer humanist. Kontextualisierung seiner Holzschnittreihen für drei prominente Druckprojekte in Anspruch genommen: Neben der Kleinen Passion, die C.’ Passionszyklus erneut zum Druck brachte, wurden 1511 auch die Holzschnittfolgen des Marienlebens u. der Großen Passion in Buchform publiziert. Für das Marienleben verfasste C. eine eleg. Kurzfassung der Parthenice Mariana des hochgeschätzten Literaten u. Theologen Johannes Baptista Mantuanus; für die Große Passion entstand eine ungewöhnliche hexametr. Passsionsdichtung, die aus vier Bibelepikern (Sedulius, Hieronymus de Vallibus, Dominicus Mancinus u. Baptista Mantuanus) zu einer neuen poet. »Evangelienharmonie« kompiliert ist. Gegenseitige Empfehlungsgedichte u. -schreiben für Publikationen bis 1513 zeigen C. in engem Kontakt zu Johannes Cochlaeus, Peter Stahel u. Willibald Pirckheimer. Ab 1514 demonstrieren solche Begleitbeiträge in Wiener Drucken, dass C. den Wechsel an das Wiener Schottenkloster erfolgreich vollzogen hatte: Nicht nur dass er 1518 zur Übernahme der Prälatur berufen wurde, dass er dort editorisch aktiv wurde, indem er aus einer

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Handschrift des Klosters das Sentenzenbuch des Petrus Lombardus (De sacrosancta trinitate) zum Druck brachte; v. a. konnte er seine literar. Tätigkeit in enger Beziehung zum dortigen Hof fortsetzen. Im Febr. 1515 wurde im Vorfeld des »Wiener Kongresses« sein Schulspiel Voluptatis cum virtute disceptatio in Anwesenheit von Prinzessin Maria aufgeführt, die in Wien als Braut Ludwigs von Ungarn auf den Ausgang der Verhandlungen in Pressburg wartete. Protagonist des Stücks ist der spätere Kaiser Karl V., der wie Herakles am Scheideweg oder Scipio im antiken Epos vor die Lebensentscheidung für Tugend oder für Lust gestellt wird; Panegyrik u. Komik (Prügelszenen mit Satyrn u. dem betrunkenen Epikur) sind in Sprechpartien u. Gesangseinlagen wie in Celtis’ Singspielen eng verbunden. Im Dienst von Maximilians »memoria« stehen u. a. C.’ Beteiligung am Riesenholzschnitt der Ehrenpforte, für den C. die lat. Fassung der Tituli u. der Clavis erstellte, u. die literar. Gestaltung der Vorgänge um den »Wiener Kongress« in der Hexameterdichtung De conventu divi Caesaris Maximiliani Regumque Hungariae, Boemiae et Poloniae, die Panegyrik mit Geo- u. Ethnografie verbindet; das Werk ist jedoch unpubliziert geblieben u. nur im Autograf mit zahlreichen Überarbeitungsspuren erhalten (Stiftsarchiv Heiligenkreuz, Rubr. 80). Literatur: Margret Dietrich: C.’ Spiel ›Voluptatis cum virtute disceptatio‹. Wien 1515. Versuch einer Rekonstruktion der Inszenierung. In: Maske u. Kothurn 5 (1959), S. 44–59. – Maria Kisser: Die Gedichte des B. C. zu Dürers Kleiner Holzschnittpassion. Ein Beitr. zur Gesch. der spätmittelalterl. Passionslit. (Diss. masch.) Wien 1964. – Franz Machilek: Klosterhumanismus in Nürnb. um 1500. In: Mitt.en des Vereins für Gesch. der Stadt Nürnb. 64 (1977), S. 10–45. – Franz Posset: B. C. O.S.B. (c. 1460–1521), a forgotten Monastic Humanist of the Renaissance. In: The American Benedictine Revue 53 (2002), S. 426–452. – Claudia Wiener: Hochmittelalterl. Marienlob? B. C.’ Elegien in ihrem Verhältnis zu Baptista Mantuanus’ ›Parthenice Mariana‹ u. Dürers ›Marienleben‹. In: Lat. Lyrik der Frühen Neuzeit. Poet. Kleinformen u. ihre Funktionen zwischen Renaissance u. Aufklärung. Hg. Beate Czapla, Ralf Georg Czapla u. Robert Seidel. Tüb. 2003, S. 96–131. – Anna Scherbaum: Albrecht Dürers ›Marienleben‹. Form, Gehalt,

409 Funktion u. sozialhistor. Ort. Wiesb. 2004. – Katrin Lipowsky u. C. Wiener: Pia carmina cum figuris. Dürers Zusammenarbeit mit dem Dichter B. C. In: Andachtslit. als Künstlerbuch. Dürers Marienleben. Ausstellungskat. Bearb. v. Georg Drescher u. a. Schweinfurt 2005, S. 39–55. – C. Wiener: C. In: VL Dt. Hum. – Katrin Lipowsky-Mader: Strategien der Textproduktion. Die Passionen des B. C. (Diss. masch.). Mchn. 2007. Claudia Wiener

Chemnitz, Bogislaw(-laus) Philipp von, auch: Hippolithus à Lapide, * 9.5.1605 Stettin, † 17.5.1678 Gut Halsstaed, Westmanland/Schweden. – Reichspublizist u. Historiograf. C. wurde 1605 als Enkel des Theologen Martin Chemnitz u. Sohn des Theologen Martin Chemnitz d.J. geboren, der Kanzler zunächst in Stettin bei Herzog Bogislaus XIII. von Pommern u. danach seines Nachfolgers Philipp II. war u. dieses Amt schließlich in Schleswig bei Herzog Friedrich von HolsteinGottorp bekleidete. C. studierte Jurisprudenz u. Geschichte in Rostock u. Jena, u. a. bei dem Staatsrechtler Dominicus Arumaeus. 1627 begab er sich als Offizier in holländische, 1630 dann in schwed. Dienste. Nach dem Ende der Militärlaufbahn arbeitete er in Schweden ab 1644 als Hofhistoriograf u. wurde 1648 durch Königin Christina geadelt sowie mit einem Gut beschenkt, auf dem er 1678 starb. Der Prägung durch schwed. Dienste u. seiner Stellung als Hofhistoriograf verdankt sich die umfangreiche Darstellung der schwed. Kriegsgeschichte in Form einer Aktenkompilation (Königlich schwedischer in Teutschland geführter Krieg). Sie erschien ab 1648 in Stettin bzw. Stockholm u. war Grundlage für Samuel von Pufendorfs spätere Geschichte des Schwedenkrieges. Einige unbedeutende Kleinschriften schließen ein übersichtliches Œuvre ab. Anders als die vorgenannten, heute wenig bekannten Bücher hat ihm sein Hauptwerk bleibenden Ruhm verschafft. Die Dissertatio de ratione status in imperio nostro Romano-Germanico erschien zuerst 1640 unter dem Pseud. »Hippolithus à Lapide«, ohne Orts-, Jahresu. Verlegerangabe. 1647 folgten weitere

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Ausgaben in höheren Auflagen mit dem fingierten Druckort »Freystadt«. In Wien wurde das Buch alsbald verboten u. vom Henker verbrannt; auch der Reichstag erließ 1653 ein Verbot. Formell gehört es zu einem Ensemble von Werken des 17. u. 18. Jh., die sich dem politisch ebenso heiklen wie staatsrechtlich komplizierten Thema der Reichsverfassung widmeten u. ebenfalls vielfach anonym oder pseudonym erschienen (siehe v. a. Samuel von Pufendorf alias »Severinus de Monzambano« 1667). Inhaltlich ging es immer um die Systematisierung der bestehenden Hoheitsrechte im Heiligen Römischen Reich unter die seit der Antike tradierten u. durch die Bodin’sche Souveränitätslehre revolutionierten polit. u. jurist. Kategorien, die freilich für ein solches Gebilde weder geschaffen worden waren noch seine klare Einordnung ermöglichten. Zgl. nahm das Buch das Reizwort der »ratio status« programmatisch in seinen Titel auf u. trug somit dazu bei, diese Formel in Deutschland zu popularisieren. Damit knüpfte C. bewusst an die sich seit dem späten 16. Jh. von Italien ausbreitende Gattung der Staatsräson-Literatur an, die für eine interessengeleitete, von tradierten vertragl., eth. oder religiösen Bindungen freigesetzte, gewissermaßen »realpolitische« Betrachtungsweise stand. Die inhaltl. Brisanz des in schwedischem Interesse geschriebenen Werks lag in der pointierten, aggressiven Stellungnahme zu diesem Problem: C. sprach dem Kaiser die Souveränität (»maiestas«) ab u. argumentierte, das Reich sei eine Aristokratie der Reichsstände. Dabei ritt er heftige Attacken gegen das Haus Habsburg. Betrachtet man die Struktur seiner Argumentation, so erkennt man in der Dissertatio neben der Geringschätzung des Römischen Rechts eine untergründige Zweiteilung in der Zuweisung der Hoheitsgewalt. Denn C. identifiziert zwar einzelne Vorrechte, die der Kaiser innehat, u. konzediert nüchtern ihre Existenz. Diese Rechte, etwa die Titulaturen, sind ihm zufolge aber rein symbolisch-zeremonieller Natur, womit sie in ihrer prinzipiellen Bedeutung zgl. herabgewürdigt werden. Demgegenüber findet er alle stärker juristisch geprägten Befugnisse bei den Ständen. Das

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Literatur: Friedrich Wrede: Hippolithus a LaBuch fußt insofern bei seiner Analyse der Reichsverfassung auf der eher modern als pide. In: HZ 29 (1873), S. 254–306. – Roderich v. vormodern anmutenden Gegenüberstellung Stintzing u. Ernst Landsberg: Gesch. der Dt. von repräsentativ-symbol. Ehrenzeichen u. Rechtswiss. Bd. 2, Mchn./Lpz. 1884. Neudr. Aalen 1978, S. 46–54. – Frieda Gallati: ›Der Königlich jurist. Befugnissen. Bei Letzteren schließlich Schwedische in Teutschland geführte Krieg‹ des weist C. dem Kaiser wenig selbständig aus- Bogislav P. v. C. u. seine Quellen. Diss. Zürich 1902. gestaltete Regierungs- u. Verwaltungskom- – Rudolf Hoke: Staatsräson u. Reichsverfassung bei petenzen zu. Der Analyse des Reichssystems Hippolithus a Lapide. In: Staatsräson. Studien zur folgen im Buch Reformvorschläge zur Gesch. eines polit. Begriffs. Hg. Roman Schnur. Reichsverfassung, die nicht minder anti- Bln. 1975, S. 407–425. – Bernd Roeck: Reichssyshabsburgisch gestimmt waren, darüber hin- tem u. Reichsherkommen. Die Diskussion über die aus aber auch Vorstöße zur Aufwertung des Staatlichkeit des Reiches in der polit. Publizistik des 17. u. 18. Jh. Stgt. 1984, S. 32 f., S. 77 f. – Karl Reichstags als vormodernem Parlament entOtmar v. Aretin: Das Alte Reich 1648–1806. Bd. 1: hielten. Föderalist. oder hierarch. Ordnung (1648–84). Stgt. Das Werk wird weit über das 17. Jh. hinaus 1993, S. 27, 37, 41, 63, 374, 352, 360. – R. Hoke: vielfach rezipiert u. gehört zum Kanon der Hippolithus a Lapide. In: Staatsdenker in der Früwichtigsten reichsverfassungsrechtl. Diskus- hen Neuzeit. Hg. Michael Stolleis. Mchn. 31995, sionsbeiträge; es hat die fürstl. Interpretation S. 118–128. – M. Stolleis: Gesch. des öffentl. Rechts der Reichsverfassung geprägt (Würdigungen in Dtschld. Bd. 1: Reichspublizistik u. Policeywiss. bei J. J. Moser: Bibliotheca iuris publici. Bd. 3, 1600–1800. Mchn. 1998, S. 197–207, 235. – Wolfgang Burgdorf: Reichskonstitution u. Nation. VerStgt. 1734, S. 898–923; J. S. Pütter: Litteratur fassungsreformprojekte für das Hl. Röm. Reich Dt. des Teutschen Staatsrechts. Bd. 1, Gött. 1776. Nation im polit. Schrifttum v. 1648 bis 1806. Mainz Neudr. Ffm. 1965, S. 207–213; C. F. Häber- 1998, bes. S. 56–62. – Julia Haas: Die Reichstheorie lin: Handbuch des Teutschen Staatsrechts. Bd. 1, in Pufendorfs ›Severinus de Monzambano‹. MonsBln. 21797, S. 21). Eine erste frz. Übersetzung trositätsthese u. Reichsdebatte im Spiegel der poerschien 1712, auch sie trägt den Druckort »a litisch-jurist. Lit. v. 1667 bis heute. Bln. 2006, Freistade«; 1761 wurde in »Mainz und Co- S. 63–66. Milosˇ Vec blenz« eine zweibändige Ausgabe in dt. Sprache mit ausführl. Anmerkungen publiziert, die wohl 1745 von Friedrich dem Gro- Chemnitz, Martin, * 9.11.1522 Treuen† 8.4.1586 ßen in Auftrag gegeben worden war. Als de- brietzen/Kurbrandenburg, ren Übersetzer u. Kommentator wurde zu- Braunschweig; Grabstätte u. Epitaph mit nächst Johann Heinrich Gottlob Justi, später Porträt: ebd., St.-Martini-Kirche. – EvanJohann Philipp Carrach vermutet. Aktuali- gelischer Theologe. sierender Hintergrund ist wohl der Sieben- Seine theolog. Kenntnisse erwarb der zujährige Krieg. 1762 folgt eine weitere frz. nächst für das auf Melanchthons Rat hin unÜbersetzung. Sogar das Pseud. des Hippoli- ternommene Studium der Mathematik u. thus wird von nachfolgenden Schriftstellern Astrologie Begeisterte hauptsächlich autodimehrfach aufgegriffen, was die an Sprich- daktisch, während er in Königsberg (seit wörtlichkeit grenzende Bekanntheit der Dis- 1550) als Horoskopschreiber, Kalendermasertatio in gelehrten Kreisen belegt. Die letz- cher u. Bibliothekar tätig war. Seit 1554 Coten polit. Streitschriften, deren Autoren sich adjutor in Braunschweig, löste er sich immer als »Hippolithi« ausgeben u. damit oft anti- mehr von seinem Wittenberger Praeceptor, österr. Haltungen signalisieren, erscheinen bis er Anfang der 1570er Jahre zu einem im frühen 19. Jh. Heute wird die Schrift v. a. kämpferischen Verteidiger der luth. Abendals eine zentrale histor. Quelle zu einer Sys- mahlslehre u. Christologie wurde, auf die er tematisierungsdiskussion um ein Gebilde den ganzen niedersächs. Reichskreis einherangezogen, das in seiner Irregularität schwor. durchaus Parallelen zu modernen transnat. Seit 1567 Braunschweiger StadtsuperinVerfassungskonstruktionen aufweist. tendent, wirkte C. auch außerhalb der Stadt

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als Mitreformator u. kirchenpolit. Berater im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel, als theolog. Gutachter, als Redaktor verschiedener »Corpora Doctrinae«, als Mitverfasser der Konkordienformel, des Konkordienbuchs u. von dessen Apologie. Der Anschluss der welf. Territorien u. der norddt. Hansestädte an die luth. Konkordie ist sein Werk. Daneben engagierte er sich seit der frühen Kritik am Jesuitenorden (Theologiae Iesuvitarum praecipua capita. Lpz. 1562. Vom newen Orden der Jesuwider. Lpz. 1562) als Kontroverstheologe u. lieferte in seinem Examen decretorum Concilii Tridentini (4 Tle., Ffm. 1566–73) die bis heute gründlichste theolog. Auseinandersetzung mit der nachreformatorischen kath. Theologie. Doch nicht nur zum Verwalter des luth. Erbes unter Zuhilfenahme der Melanchthon’schen Methodik fühlte sich C. berufen, sondern auch zum Wächter gegenüber Cäsaropapie u. fürstl. Fehlverhalten. Dabei kam es zum Bruch mit Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel, der unter dem Einfluss der Christologie seiner Helmstedter Theologen die Weichen für die Nichtrezeption der Konkordienformel ausgerechnet in ihrem Ursprungsland stellte. Der Prediger C. wird in zahlreichen zeitgenöss. Drucken sowie in postum herausgegebenen Sammlungen greifbar. Mit dem aus Gesundheitsgründen 1584 zur Amtsniederlegung gezwungenen C., der sich im Dienst der spätreformator. Konfessionalisierung verzehrt hatte, verlor die Braunschweiger Kirche einen ihrer bedeutendsten Superintendenten u. das Luthertum einen seiner einflussreichsten Theologen zwischen Luther u. Johann Gerhard. Weitere Werke: Loci theologici [...] quibus et loci communes D. Philippi Melanthonis perspicue explicantur. 3 Tle., hg. v. Polycarp Leyser. Ffm. 1591–92 (10 Gesamtausg.n bis 1690). Ausgaben: Examen decretorum Concilii Tridentini. Hg. Eduard Preuss. Bln. 1861. Darmst. 3 1972. Engl. v. Fred Kramer. 4 Bde., St. Louis 1971–86. – De duabus naturis in Christo (1570). Engl. v. J. A. O. Preus. St. Louis 1971. – Fundamenta sanae doctrinae de vera et substantiali praesentia [...] corporis et sanguinis Domini (1570). Engl. v. J. A. O. Preus. St. Louis 1979. – Internet-Ed.

Chemnitz diverser Texte in: The Digital Library of Classic Protestant Texts (http://solomon.tcpt.alexanderstreet.com/). Literatur: VD 16, C 2148–2231 (Bibliogr.). – Weitere Titel: Ernst Wolf: M. C. In: NDB. – Theodor Mahlmann in: TRE. – Ders.: M. C. In: Gestalten der Kirchengesch. Hg. Martin Greschat. Bd. 6, Stgt. 1981, S. 315–331. – Der zweite Martin der Luth. Kirche. FS zum 400. Todestag v. M. C. Hg. Wolfgang A. Jünke. Braunschw. 1986 (mit Bibliogr.). – Inge Mager: Die Konkordienformel im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel. Gött. 1986. – Dies.: Das Testament des [...] M. C. In: Braunschweigisches Jb. 68 (1987), S. 121–132. – Bernt Torvild Oftestad: Harmonia Evangelica: Die Evangelienharmonie v. M. C. Theolog. Ziele mit methodolog. Voraussetzungen. In: Studia Theologica: Scandinavian Journal of Theology 45 (1991), S. 57–74. – Jacob Aall Ottesen Preus: The Second Martin. The life and theology of M. C. St. Louis 1994. – Paul Strawn: Kyrill v. Alexandrien als eine Quelle der Christologie v. M. C. In: Luth. Theologie u. Kirche 19 (1995), S. 61–88. – Oliver K. Olson: Robert Bellarmine and M. C. on the antiquity of the roman canon. In: Die Diözese Hildesheim in Vergangenheit u. Gegenwart. Jb. des Vereins für Gesch. u. Kunst im Bistum Hildesh. 64 (1996), S. 425–435. – Thomas Kaufmann: M. C. (1522–86). Zur Wirkungsgesch. der theolog. Loci. In: Melanchthon in seinen Schülern. Hg. Heinz Scheible. Wiesb. 1997, S. 183–253. – J. Francis Watson: Robert Vaux and M. C. An anglican-lutheran encounter. In: The anglican theological Review 79 (1997), S. 38–45. – T. Mahlmann in: RGG 4. Aufl. Bd. 2, Sp. 127 f. – Torbjörn Johansson: Reformationens huvudfrågor och arvet från Augustinus: En studie i M. C.’ Augustinusreception. Göteborg 1999 (mit dt. Zusammenfass.). – Albrecht Beutel: Gewissensnot u. Glaubensstand. Der locus ›De justificatione‹ in M. C.’ ›Examen concilii Tridentini‹. In: Zur Rechtfertigungslehre in der luth. Orthodoxie. Hg. Udo Sträter. Lpz. 2002, S. 9–26. – Robert Kolb: The Braunschweig resolution. The ›Corpus Doctrinae Prutenicum‹ of Joachim Mörlin and M. C. as an interpretation of Wittenberg theology. In: Confessionalization in Europe, 1555–1700. FS Bodo Nischan. Hg. John M. Headley u. a. Aldershot 2004, S. 67–89. Inge Mager / Red.

Chézy

Chézy, Helmina von, eigentl.: Wilhelmine Christiane von C., auch: Sylvandra, Hermine Hastfer, Helmina, * 26.1.1783 Berlin, † 28.1.1856 Genf. – Lyrikerin, Erzählerin, Publizistin, Dramatikerin. Die Tochter der Schriftstellerin Karoline Louise u. des preuß. Offiziers Karl Friedrich von Klencke u. Enkelin der berühmten Dichterin Anna Louisa Karsch bewies wie ihre Mutter u. Großmutter schon früh schriftstellerisches Talent. Denn bereits im Alter von 14 Jahren verfasste sie ihren ersten Roman. Nach der frühen Trennung der Eltern wurde C. von der Mutter großgezogen u. unterrichtet. Diese vermittelte auch im Jahr 1799 die Heirat mit Baron von Hastfer, doch bereits nach einem Jahr wurde die Ehe wieder geschieden. 1801 folgte C. der Einladung der Comtesse Stéphanie de Genlis, Schriftstellerin u. Prinzenerzieherin in Chartres u. Orléans, nach Paris. Dort kam sie u. a. mit Friedrich u. Dorothea Schlegel, Achim von Arnim, den Brüdern Boisserée u. Adelbert von Chamisso in Kontakt. In zahlreichen Zeitschriftenbeiträgen, u. a. in der von ihr herausgegebenen u. von Cotta finanzierten Zeitschrift »Französische Miscellen« (Tüb. 1803–07), sowie in selbständigen Publikationen bemühte sie sich um die Vermittlung zwischen der dt. u. frz. Kultur. Dabei brachte ihr das Werk Leben und Kunst in Paris seit Napoleon I. (2 Tle., Weimar 1805/06) Schwierigkeiten mit den napoleon. Behörden. Nach einem Zerwürfnis mit der Comtesse de Genlis wohnte sie bei Friedrich u. Dorothea Schlegel, die C. mit dem Orientalisten Antoine Léonard de Chézy bekannt machten. Mit ihm, den sie 1805 heiratete, hatte sie zwei Söhne: den Schriftsteller Wilhelm Theodor u. den Maler Max von Chézy. Doch bereits 1810 wurde auch diese Ehe wieder geschieden u. nach einer unglückl. Liebesbeziehung mit Chamisso kehrte C. 1810 wieder nach Deutschland zurück, wo sie an wechselnden Wohnsitzen lebte (u. a. in Heidelberg, Frankfurt/M. u. Darmstadt). Während u. nach den Befreiungskriegen engagierte sie sich sozialpolitisch u. arbeitete in Lazaretten in Köln. Dort musste sie sich gegen den Vorwurf der Verleumdung der Invaliden-Prüfungs-Kommis-

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sion wehren, von dem sie jedoch das Berliner Kammergericht unter dem Vorsitz von E. T. A. Hoffmann freisprach. Seit 1817 lebte C. in Dresden, wo sie sich dem Dresdner Liederkreis (vertreten durch Heinrich von Loeben, Friedrich Kind u. Carl Maria von Weber) anschloss. Nach Aufenthalten in Wien u. München kehrte sie im Jahr 1832, dem Todesjahr ihres geschiedenen Mannes, für kurze Zeit noch einmal nach Paris zurück. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie schließlich bei einer Großnichte in Genf, wo sie von einer kleinen Pension der Tiedge-Stiftung für sächs. u. preuß. bedürftige Schriftsteller u. Künstler lebte. Das Spektrum ihres Œuvres ist umfassend, reicht es doch von der einfachen Gebrauchsüber die populäre Unterhaltungs- bis zur sog. Hochliteratur. Dabei fühlte sich C., die sich schon früh als Verehrerin des Werks von Jean Paul zu erkennen gegeben hatte, dem spätromant. Ideal (»Pseudoromantik«) u. der Liedkultur der Epoche verpflichtet. Zahlreiche ihrer Gedichte wurden vertont, u. a. von Franz Schubert u. Charles Ives. Schubert komponierte auch die Musik zu ihrem Drama Rosamunde, von dem heute nur noch die Ouvertüre bekannt ist. Ferner verfasste C. 1824 das Libretto zu Carl Maria von Webers Oper Euryanthe. Darüber hinaus publizierte sie mit den Erinnerungen aus meinem Leben, bis 1811 (in: Aurikeln. Bd. 1, Bln. 1818, S. 1–190) schon früh autobiogr. Schriften. Ihnen folgte 40 Jahre später eine Fortsetzung, die C., halb erblindet, ihrer Großnichte diktiert hatte (Unvergessenes. Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Helmina von Chézy. 2 Tle., Lpz. 1858). Weitere Werke: Gesch. der schönen u. tugendsamen Euryanthe. Lpz. 1804. – Gedichte der Enkelin der Karschin. 2 Tle., Aschaffenburg 1812. – Neue Auserlesene Schr.en der Enkelin der Karschin. Heidelb. 1817. – Emma’s Prüfungen. Heidelb. 1817. – Erzählungen u. Novellen. 2 Bde., Lpz. 1822. – Stundenblumen. 4 Bde., Wien 1824–27. – Herzenstöne auf Pilgerwegen. Sulzbach 1833. – Adelbert v. Chamisso u. H. v. C. Bruchstücke ihres Briefw.s. Hg. Julius Petersen u. Helmuth Rogge. Bln. 1923. – ›Kommen Sie, wir wollen ’mal Hausmutterles spielen‹. Der Briefw. zwischen den Schriftstellerinnen Therese Huber (1764–1829) u. H. v. C. Hg. Jessica Kewitz. Marburg 2004.

Chiellino

413 Literatur: Wilhelm v. Chézy: Erinnerungen aus meinem Leben. 2 Bde., Schaffhausen 1863/64. – Eva Reitz: H. v. C. Diss. (masch.) Ffm. 1923. – Ingeborg Meyer-Lüdtke: H. v. C.s Stellung in der Pseudoromantik. Diss. (masch.) Bln. 1944. – Chryssoula Kambas: Zwischen Kosmopolitismus u. Nation. H. v. C. als Pariser Chronistin. In: Autobiogr.n v. Frauen. Hg. Magdalene Heuser. Tüb. 1996, S. 247–274. Helene M. Kastinger Riley / Katrin Korch

Chiavacci, Vincenz, * 15.6.1847 Wien, † 2.2.1916 Wien; Grabstätte: ebd., Alserkirche. – Journalist, Wiener Lokal- u. Bühnenschriftsteller. C. schrieb für zahlreiche Wiener Tageszeitungen Skizzen u. Feuilletons, er war Mitarbeiter des »Figaro« u. der »Deutschen Zeitung« sowie Herausgeber der »Wiener Bilder«. Seine Vorbilder in der Wiener Skizze waren Ferdinand Kürnberger u. Friedrich Schlögl, Freundschaft verband ihn u. a. mit Anzengruber, Ganghofer, Carl Karlweis, Peter Rosegger, Eduard Plötzl, Hermann Bahr; er gründete den Verein für Literaturfreunde, mit dem er erfolgreiche Leseabende veranstaltete. Selbst aus dem Kleinbürgertum stammend – der Vater war ein Pfeifenschneider, die Mutter Spitzennäherin, er selbst war 1868–1886 Eisenbahnbeamter –, schildert C. in den mundartlich gefärbten Skizzen u. Erzählungen das Wiener Volkstum. Liebenswürdiger, gemütvoller Humor u. genaue Beobachtung zeichnen seine Arbeiten aus. Als Schöpfer zweier Volkstypen hatte C. großen Erfolg: Mit »Frau Sopherl«, Besitzerin eines »Standls« am Naschmarkt (vgl. die Posse Frau Sopherl vom Naschmarkt. Stgt. 1890), begründete er eine Feuilletonreihe, in der die Tagesneuigkeiten mit schlagfertigem Witz kommentiert werden; mit der Figur des biederen, von sich selbst eingenommenen »Herrn Adabei« (Seltsame Reisen des Herrn Adabei. Wien 1908), eines Fleischhauers, hielt C. dem überhebl. Bürgertum einen satir. Spiegel vor. Weitere Werke: Aus dem Kleinleben der Großstadt. Wien 1884 (Skizzen). – Einer vom alten Schlag. Wien 1886 (Posse). – Bei uns z’Haus. Wien 1888 (Skizze). – Kleinbürger v. Groß-Wien. Stgt.

1893 (Skizze). – Wiener vom alten Schlag. Stgt. 1895 (Skizze). – Der Herr Adabei. Ausw. v. Otto Schenk. Wien 1986. Literatur: Eleonora Pokorny: Die mundartl. Elemente in den Prosawerken V. C.s. Diss. Wien 1958. Cornelia Fritsch / Red.

Chiellino, Gino, auch: Carmine C., * 11.7. 1946 Carlopoli/Süditalien. – Lyriker u. Essayist. C. wurde in einem Bergdorf Kalabriens geboren, hat in Rom Italianistik u. Soziologie studiert u. das Studium mit einer Arbeit über ital. Arbeiter in Deutschland abgeschlossen. Seit 1970 lebt er in Deutschland, war 1970–1972 Lehrer für ital. Schüler in Mannheim, 1972–1976 Lektor für ital. Sprache u. Kultur an der Universität Gießen, wo er 1976 promovierte. Seit 1978 arbeitet er an der Universität Augsburg, wurde 1993 in Vergleichender Literaturwissenschaft habilitiert u. ist dort nach einer Poetikdozentur an der Technischen Universität Dresden als a. o. Professor für Komparatistik tätig. C. schreibt Gedichte u. Essays, gibt Anthologien heraus u. arbeitet auch literaturwissenschaftlich über interkulturelle Literatur in dt. Sprache. Sein Gedichtband Mein fremder Alltag (Kiel 1984) reflektiert den Alltag von Arbeitsmigranten in Deutschland aus einer politisch bewussten Migrantenperspektive, der nicht die Befindlichkeit in den Blick nimmt, sondern mit lyr. Mitteln eine dominanzkrit. Gesellschaftsanalyse leistet u. die »Veränderung« im Leben der Betroffenen folgendermaßen charakterisiert: »ein Gastarbeiter / besteht aus vier Teilen / dem Ausländergesetz / der Aufenthaltserlaubnis / der Arbeitserlaubnis / und / einem Ausländer« (S. 13). In Sehnsucht nach Sprache (Kiel 1987) führt er Gespräche mit Hölderlin, Celan, Brecht u. anderen, indem er ihr Schreiben in einen minderheitenspezif. Kontext rückt u. etwa Jandeln für Ausländer inszeniert: »ich wandel / du handelst / er jandelt / oder sie jandelt / wir mandeln / ihr gandelt / sie jandeln / oder auch nicht« (S. 83). Seine »Sehnsucht nach Sprache« erfüllt er in dreisprachigen Gedichten, in denen er die verschiedenen Sprachen seines

Chladenius

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Literatur: Cornelia Zetzsche: G. C. In: LGL. Lebens (Kalabresisch, Italienisch u. Deutsch) nebeneinander stehen u. miteinander interHeidi Rösch agieren lässt. In diesem zweiten Band, der, wie Erich Fried in seiner Laudatio (1992, Chladenius, Chladni, Chladny, Johann S. 89) feststellt, an Tiefe gewonnen hat, wird Martin, * 17.4.1710 Wittenberg, † 10.9. die Trennung zwischen Normalität u. Mi1759 Erlangen. – Lutherischer Theologe, grationsspezifischem aufgehoben: C.s Lyrik Geschichtstheoretiker u. Philologe. legt die verdrängte u. verschüttete Geschichte der Migrationsbewegungen offen u. drängt Nach Privatunterricht in Wittenberg u. gleichzeitig nach gesellschaftlicher, kulturel- Schulausbildung in Coburg studierte C. ler u. sprachl. Veränderung in der Aufnah- Theologie, Geschichte, klass. Philologie u. megesellschaft. Dabei setzt er auf Provokati- Mathematik in Wittenberg u. lehrte anon u. schafft mit Gedichten wie Sklavensprache schließend dort bis 1741, danach als Professor Irritationen: »mit mir willst / du reden / und / für Kirchenaltertümer bis 1744 in Leipzig, ich / soll / deine Sprache / sprechen« (S. 71). 1744–1747 am Coburger Gymnasium (zuSich die Fremde nehmen (Kiel 1992) zeigt er- letzt als Direktor) u. seit 1748 als Professor neut einen Zuwachs an Integrität. Das lyr. Ich der Theologie, Rhetorik u. Poesie in Erlandes Autors erscheint persönlicher. Auch wenn gen. er auch »im Jahr 20 seiner Fremde« (S. 11) als Theologisch ist C. durch die luth. Orthoindividuell, politisch u. gesellschaftlich Be- doxie geprägt. Methodisch u. in der Art des troffener die Folgen der (Arbeits-)Migration gelehrten Vortrags steht er unter dem Einnach Deutschland reflektiert, Stellungnah- fluss der Leibniz-Wolff’schen Schule. Zu C.’ men zur dt. Vereinigung oder Kommentare Hauptanliegen gehört die Bekämpfung des zur Etablierung nationalistischer Parteien in historischen u. hermeneut. Pyrrhonismus u. Deutschland aus einer bewussten Migran- des sich ausbreitenden Wahrscheinlichkeitstenperspektive abgibt, überprüft C. auch, ob denkens (Idolum saeculi: probabilitas. Coburg ihn die Anpassung bereits eingeholt hat u. 1747. Vernünftige Gedanken von dem Wahrhält dagegen: »wenn das Schweigen / gegen scheinlichen und desselben gefährlichen Mißbrauuns sich weiß färbt / me spagnu / ja ich che. Stralsund 1748. Lpz. 1748. Nachdr. Waldeutsche mich sehr« (S. 53). Dass er in der dt. trop 1989). Neben zahlreichen kleinen akaSprache angekommen ist, zeigt der Band In dem. Schriften verfasste er eine Reihe von Sprachen leben. Meine Ankunft in der deutschen systemat. Lehrbüchern: eine allg. HermeSprache (Dresden 2003), der neben wenigen neutik (Einleitung zur richtigen Auslegung vereigenen Gedichten v. a. Prosatexte u. auch nünftiger Reden und Schriften. Lpz. 1742. Texte von anderen an C. enthält. C. doku- Nachdr. Düsseld. 1969), eine Einführung in mentiert auch die Aneignung der Sprache, zu die systemat. Theologie (Logica sacra. Coburg der er nach wie vor ein ungebrochen kriti- 1745) u. ein Lehrbuch der Geschichtswissensches Verhältnis hat: »Nach dem Schweigen / schaft (Allgemeine Geschichtswissenschaft. Lpz. werde ich mich / dem Weiß anvertrauen« 1752. Nachdr. Wien 1985). (S. 14). In seiner Hermeneutik von 1742 konzentriert sich C. auf die Regeln zur richtigen Weitere Werke: Die großen Mythen um das Wort. Drei Grafiken v. Gjelosh Gjokaj u. drei Ge- Auslegung vernünftiger Berichte (»historidichte v. G. C. Augsb. 1997. – Liebe u. Interkultu- sche Nachrichten u. Bücher«) u. Lehrschriften ralität. Ess.s 1998–2000. Tüb. 2001. – Weil Rosa die (»allgemeine Wahrheiten und Lehrbücher«). Weberin ... Ausgew. Gedichte 1977–91. Dresden Ziel ist es, eine Rede oder Schrift vollkommen 2003. – Ich in Dresden. Eine Poetikdozentur. zu verstehen; der Ausleger hat die Aufgabe, Dresden 2003. – Herausgeber: Interkulturelle Lit. in anderen die dazu erforderl. Begriffe beizuDtschld. Ein Hdb. Stgt./Weimar 2000. Sonderausg. bringen. Wie C. betont, müssen zur Inter2007. – Es gab einmal die Alpen. Anthologie. pretation der Hl. Schrift u. zur Interpretation Dresden 2005. »sinnreicher« (z.B. poetischer) Texte zusätzl. Regeln beachtet werden.

Chobot

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In der allg. Geschichtswissenschaft betont C. zwar, dass keine histor. Erzählung einer Gegebenheit frei von »Sehe-Punkten« des Erzählers ist; er unterscheidet jedoch streng zwischen den vielfältigen, womöglich einander widersprechenden Vorstellungen von der Geschichte u. der einen Geschichte, um deren unverdrehte Erkenntnis sich der Historiker bemühen muss. Ein Perspektivismus, der zur Relativierung historischer Objektivitäts- u. Wahrheitsansprüche führt, lag C. fern. C.’ Werk beeinflusste die Göttinger Schule (Johann Christoph Gatterer; August Ludwig von Schlözer), geriet dann jedoch in Vergessenheit. Erst seit dem Ende des 19. Jh. (Wilhelm Dilthey; Ernst Bernheim; Hans Müller; Joachim Wach) werden C.’ Verdienste um die Erkenntnistheorie der Geschichtswissenschaft u. die Hermeneutik allgemein anerkannt. Weitere Werke: Opuscula academica varii generis. Bde. 1–2, Lpz. 1750. Literatur: Hans Müller: J. M. C. (1710–59). Ein Beitr. zur Gesch. der Geisteswiss., bes. der histor. Methodik. Bln. 1917. Nachdr. Vaduz 1965. – Christoph Friedrich: Sprache u. Gesch. Untersuchungen zur Hermeneutik v. J. M. C. Meisenheim am Glan 1978. – Friedrich Gaede: C. u. die Folgen: Einwände zur hermeneut. Diskussion. In: Digressionen. FS Peter Michelsen. Hg. Gotthardt Frühsorge u. a. Heidelb. 1984, S. 71–78. – Alexandre Escudier: L’historisme allemand – De C. à Droysen. Théorie et méthodologie de l’histoire de langue allemande (1750–1860). In: Annales 58 (2003), 4, S. 743–780. – Thomas Sturm: J. M. C. In: Dictionary of Eighteenth-Century German Philosophers. Hg. M. Kuehn u. H. Klemme (in Vorb.). Oliver R. Scholz

Chlumberg, Hans von, eigentl.: H. Bardach Edler von C., * 30.6.1897 Wien, † 25.10.1930 Leipzig. – Dramatiker. Der Offizierssohn besuchte eine Militärschule u. war im Ersten Weltkrieg Leutnant; nach Kriegsende arbeitete er zunächst als Bankbeamter, dann als freier Schriftsteller. Bei einer Theaterprobe kam er durch einen Sturz in den Orchestergraben ums Leben. C. ist in erster Linie als Dramenautor hervorgetreten; nach Anfängen, in denen er zwischen naturalistischem Stil (Die Führer.

Wien 1919) u. bürgerlicher Theaterkonvention (Eines Tages... Wien 1922) schwankte, fand er seinen eigenen Ton mit Wunder um Verdun (Urauff. Lpz. 1930. Gedr. Bln. 1931), einer der seltenen dramat. Gestaltungen des Weltkriegsstoffes in der österr. Literatur. Der Konflikt entwickelt sich in 13 Bildern aus der visionären Auferstehung von gefallenen Soldaten verschiedener Nationalität, die den Lebenden – einer Reisegruppe zu den Soldatenfriedhöfen an der Marne – als Mahner zu Frieden u. Versöhnung entgegentreten, aber kein Gehör finden. Die Bühnenwirksamkeit dieses letzten u. zgl. bedeutendsten Dramas C.s beruht auf der Eindringlichkeit des Hauptmotivs, daneben auch auf der Spannung zwischen Volksstück-Elementen u. Szenen, die von nachexpressionistischem Pathos getragen werden. Als pazifistischer Appell war das Stück heftigen Attacken von rechtsextremer Seite ausgesetzt, hat jedoch international beachtl. Resonanz erzielt. Weiteres Werk: Das Blaue vom Himmel. Bln. 1931 (D.). Literatur: Elisabeth Pablé: Der vergessene Welterfolg: H. v. C. In: LuK, H. 36/37 (1969), S. 382–394. Ernst Fischer / Red.

Chobot, Manfred, * 3.5.1947 Wien. – Verfasser von Lyrik u. Kurzprosa, Hörspielen u. Features; Satiriker u. Herausgeber. Nach dem Studium der Kulturtechnik u. Wasserwirtschaft an der Universität für Bodenkultur schlug C. eine literar. Laufbahn ein: zuerst als Autor von experimenteller Lyrik, Wiener Dialektgedichten, als Herausgeber der kurzlebigen Zeitschrift »Astma« u. als Mitgl. des Arbeitskreises österreichischer Literaturproduzenten. Mit seiner Frau gründete er Anfang der 1970er Jahre die bis heute bestehende Galerie Chobot. Bekannt wurde C. durch seine satir. Texte Der Gruftspion (Wiener Neustadt 1978), reformprojekte (Wien 1980) u. Spreng-Sätze (Wiener Neustadt 1987), die von sozial- u. sprachkritischem Engagement, aber auch von verspielter Heiterkeit geprägt sind. Sein Werk lebt von der Spannung zwischen dem Ottakringer Brunnenmarkt, in dessen Nähe er lebt u. dessen nicht deutschsprachige Ver-

Chodowiecki

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Literatur: Wendelin Schmidt-Dengler: käufer u. Lokalbesitzer er in seinem Band Der Wiener Brunnenmarkt (Wien 2003) porträtierte, 1,568.923.000 Sekunden. Dem zarten Satiriker M. u. den fernen Ländern, durch die er reiste u. C. zum 50. Geburtstag. In: morgen 114 (1997), deren ausgefeilte Schnappschüsse er in an- S. 46–48 [1997, 24]. – Zdeneˇk Marecˇek: Kosmopolit. Weltkonzept oder Reiselit.? Zum Werk M. C.s sichtskarten. statt/stadt-bilder (St. Pölten 1977) aus dem letzten Jahrzehnt. In: Der Dichter als zu Gedichten ausgestaltete. Die meisten Bü- Kosmopolit. Zum Kosmopolitismus in der neuescher von C. erscheinen seit 1992 in der »Bi- ten österr. Lit. Wien 2003, S. 127–145. – Wolfgang bliothek der Provinz«. In Dorfgeschichten Müller-Funk u. Karin Zogmayer (Hg.): C. bleibt. (Weitra 1992) werden der Alltag u. verdrängte Weitra 2007. Zdeneˇk Marecˇek Geschichten aus einem burgenländ. Dorf erzählt, Der ertrunkene Fisch (Weitra 1996) entChodowiecki, Daniel Nicolaus, * 16.10. hält Autobiografisches von C. u. Absurdes aus 1726 Danzig, † 7.2.1801 Berlin. – Maler, dem Leben von Gescheiterten. Protokollartig Radierer, Illustrator. u. durch Kurzkommentare wird das abgewandte Gesicht Wiens in den Stadtgeschichten Aus einer Danziger Kaufmannsfamilie stam(Weitra 1999) festgehalten. C.s Dialektge- mend, kam C. nach dem frühen Tod des Vadichte in kumm haam in mei gossn (Weitra ters 1743 als Gehilfe in den Haus- u. Kurz2000) fesseln durch Anschaulichkeit u. warenhandel seines Onkels nach Berlin. Sein Derbheit, seine Reisegeschichten (Weitra 2003) gestalterisches Talent zeigte sich hier zum spiegeln reiche Reiseerfahrungen des Autors, ersten Mal in Entwürfen für Mode- u. v. a. aus Hawaii u. Lateinamerika, wider. C.s Schmuckwaren. Nach Unterricht in der exot. Sujets ergeben sich aus seiner Abnei- Emailmalerei bei dem Augsburger Maler gung gegen Die Enge der Nähe (Wiener Neu- Haid u. einer Ausbildung bei Christian stadt 1992) in Österreich, wie auch sein Pro- Bernhard Rode sowie dem Radierer Johann saband heißt. Seine Bücher leben z.T. von Wilhelm Meil schien sich C.s Wunsch, Maler hervorragenden Illustrationen u. Fotos zu werden, zu erfüllen, als er durch sein Bild (Henri Michaux, Alfred Hrdlicka, Paul Flora, im Stil von Jean Baptiste Greuze, »Les Adieux Karl Anton Fleck; Jindrˇ ich Sˇtreit oder Man- de Calas à sa famille« (1767), als einfühlsafred Horvath); seine Dialektgedichte errei- mer, der Aufklärung verpflichteter »Seelenchen ihr Publikum auch als Liedertexte (CD: zeichner« berühmt wurde. Die obligate entschuidigns mit Musik von Marwan Abado). Künstlerreise aber nach Italien oder Paris C. ist Mitgl. der Grazer Autorinnen Auto- unternahm C. nie. Sein kaufmänn. Gespür renversammlung, war von 1992 bis 1999 Re- lenkte die künstler. Begabung auf die Buchdakteur der Literaturzeitschrift »Podium«, illustration. Das Lesevergnügen, das das Puvon 1991 bis 2004 Herausgeber der reprä- blikum damals erfasst hatte, forderte für die sentativen Reihe »Lyrik aus Österreich« u. inneren Bilder der Fantasie eine äußere Enterhielt mehrere Preise u. Stipendien. Es gibt sprechung für das Auge, sodass illustrierte Übersetzungen seiner Lyrik u. Prosa in ein Bücher zur Massenware wurden. C. befrieDutzend Sprachen. digte diese Schaulust. Die techn. Herstellung Weitere Werke: Projekte. Gersthofen 1973 (P.). seiner Produkte bewerkstelligte C. mit einem – Waunst in Wean. Mchn. 1978 (L.). – Krokodile Stab von Kupferstechern. Am Ende seines haben keine Tränen. Baden bei Wien 1985 (L.). – Lebens hatte er ein Werk von 2075 radierten Lesebuch. Wien 1987 (P.). – Ich dich u. du mich Blättern (allein 1905 sind Buch- oder Kalenauch. Baden bei Wien 1990 (L). – Röm. Elegien. derillustrationen), dazu mehr als 2000 Wien 2000 (L.). – Maui fängt die Sonne. Mythen aus Handzeichnungen vorzuweisen. Hawaii. Wien 2001 (P.) – Nach dirdort. St. Pölten Nach Publikationen im »Gothaischen 2005 (L.) – Herausgeber: M. C. u. Bernhard Bunker Hofkalender«, im »Berliner Historisch-Ge(Hg.): Dialekt. Anthologie 1970–80. Wien 1982. – Lyrik aus Österr. Bd. 51–100, Baden bei Wien nealogischen Kalender« u. im »Königlichen Großbritannischen Genealogischen Kalen1991–2004. der« avancierte er zum gesuchten Illustrator, als 1774 Georg Christoph Lichtenberg eine

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Serie von C.s Stichen in seinem »Göttinger Lehrerin, meine Wohltäterin‹. Zeichnungen v. D. Taschen-Calender« veröffentlichte u. diese N. C. im Berliner Kupferstichkabinett. Bln. 2000. Literatur: Charlotte Steinbrucker (Hg.): D. C. selbst kommentierte. Zustände u. Beschäftigungen des gesellschaftl. Lebens werden in Briefw. zwischen ihm u. seinen Zeitgenossen. Pendants gezeigt, von denen eines das Bd. 1: 1736–86. Bln. 1919 (mehr nicht ersch.). – schlechte alte, nämlich das aristokratische, Maria Lanckoronska u. Richard Ochler: Die Buchillustration des 18. Jh. in Dtschld., Österr. u. der das andere das gute neue, bürgerl. Benehmen Schweiz. Lpz. 1932–34. – Paul Dehnert: D. C. Bln. u. Empfinden zeigt. C.s Illustrationen wur- 1977. – Maria Ledderhose: D. C. u. die Pädagogik den so zum Lehrbuch der bürgerl. Gesell- im 18. Jh. Diss. Köln 1982. – Ursula Fuhrich-Gruschaft. Als Illustrator der bedeutendsten in- bert u. Jochen Desel (Hg.): D. C. Ein hugenott. u. ausländ. Literatur der Zeit ist C. zgl. auch Künstler u. Menschenfreund in Berlin. Bad Karlsals ihr Interpret zu verstehen. Seine kargen hafen 2001. Hannelore Schlaffer Bildchen geben eine erste, mit Augen schnell erfassbare Wertung der Figuren. Das Ver- Cholander, Franciscus Dermasius ! Felständnis von Goethes Werther (1774) ist durch ler, Joachim C.s Illustrationen geprägt, ebenso wie das von Cervantes’ Don Quijote (Bln. 1789. Chotjewitz, Peter O(tto), auch: Rolf Rog1799–1801), Goldsmith’ Landprediger (1767), genbuck, * 14.6.1934 Berlin. – RomanSmolletts Peregrine Pickle (1789), Friedrich cier, Erzähler, Hörspielautor u. ÜbersetNicolais Sebaldus Nothanker (1774–76). Danezer. ben illustrierte C. pädagogische u. philosoph. Werke wie etwa Johann Bernhard Basedows Nach einer Maler- u. Anstreicherlehre beElementarwerk (1774. Faks. 1922) u. Johann suchte C. die Abendschule (Abitur 1955). Kaspar Lavaters Physiognomische Fragmente 1965 beendete er sein Jurastudium mit der zweiten Staatsprüfung. Während seiner Re(1775–78). Seine unermüdl. Arbeit hielt C., mit der ferendarzeit studierte er in Berlin Publizistik, Ausnahme einer einzigen Reise nach Danzig Philosophie, Geschichte u. Musik. 1967–1973 (1773, dokumentiert durch ein illustriertes lebte er in Italien, ein Jahr davon als StipenJournal [...]. Faks. Bln./DDR 1961), in Berlin diat der Villa Massimo in Rom. 1975 eröffnete fest, wo den Künstler schließlich auch die er eine Anwaltspraxis in Kruspis/Hessen. C. Ehrungen der bürgerl. Öffentlichkeit er- war Wahlverteidiger des RAF-Mitglieds Anreichten: 1764 wurde C. Mitgl. der Königlich dreas Baader u. des Schriftstellers Peter Paul preußischen Akademie der Künste und Me- Zahl. Seit 1995 lebt er in Stuttgart. Er ist chanischen Wissenschaften, 1790 ihr Vizedi- Mitgl. des Verbandes Deutscher Schriftsteller rektor u., nach Bernhard Rodes Tod, 1797 ihr u. des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland. 1969 erhielt er den Georg-MaDirektor. Ausgaben: Wilhelm Engelmann (Hg.): D. C.s ckensen-Literaturpreis, 2001 den Literatursämtl. Kupferstiche. Lpz. 1857. Nachträge u. Be- preis der Stadt Stuttgart. 1965 erregte sein erster Roman Hommage à richtigungen. Lpz. 1890. – Wolfgang v. Oettingen (Hg.): D. C.s Handzeichnungen. Bln. 1907. – Paul Frantek. Nachrichten für seine Freunde (StierLandau (Hg.): C.s Illustrationen zu den dt. Klassi- stadt/Ts.) Aufmerksamkeit. C. unterminiert kern. Bln. 1914. – Ingrid Sommer (Hg.): Der Fort- in diesem immerhin noch »Roman« gegang der Tugend u. des Lasters. D. C.s Monats- nannten Text spielerisch die bekannten likupfer zum Göttinger Taschenkalender mit Erklä- terar. Muster aus Lyrik, Prosa, Bericht, Errungen v. Georg Christoph Lichtenberg. 1778–83. zählung, Essay u. versetzt sie in neue KonFfm. 1977. – Jens-Heiner Bauer (Hg.): D. N. C. Das stellationen. Das Ergebnis ist eine Art »Indruckgraph. Werk. Hann. 1982. – Susanne Netzer u. Hein Stünke (Hg.): D. N. C. 1726–1801. Zeich- termedia« (Dick Higgins) innerhalb des einen nungen aus dem Besitz der Kunstslg. der Veste Mediums Buch. Auch in dem 1968 erschieCoburg. Coburg 1989 (Kat.). – Wille Geismeier nenen Band Die Insel. Erzählungen auf dem (Hg.): Die Reise v. Berlin nach Danzig. Die Bilder. Bärenauge (Reinb.) geht der Autor den eingeBln. 1994. – Rebecca Müller: ›Die Natur ist meine schlagenen Weg weiter, wenn auch hier be-

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reits wieder das Stoffliche stärker ins Zentrum des Interesses rückt: Berlin als Sammelbecken von Outcasts, deren verlustreiche Erprobung neuer Lebensformen sich heute als gesellschaftl. Pionierarbeit liest. Der Parodist C., der virtuos mit vielen Formen, Sprachebenen u. Stilen spielt, gleichsam prüfend, was er gebrauchen kann, übt sein Talent zur Aneignung von Vorgefundenem auch in dem Stereotexte untertitelten Buch Vom Leben und Lernen (Darmst. 1969). Nach dem Vorbild Oswald Wieners, den C. auch ausdrücklich nennt, verschränkt er einen kurzen Hauptteil durch Indexzahlen mit zwei umfangreichen »Anmerkungsteilen«, deren Verbindung untereinander u. mit dem Hauptteil bewusst aphoristisch bleibt. C. konterkariert mit seinen frühen Arbeiten den Roman als »bürgerliche Epopöe« (Hegel) mit seinem psychologisch durchkonstruierten Personal, dem ungestörten Nebeneinander von Reflexion u. Handlung sowie dem Einheit stiftenden Erzählen. Mit seinen 1976 erschienenen Erzählungen aus zehn Jahren u. d. T. Durch Schaden wird man dumm (Düsseld.) kündigt sich die Veränderung seines literar. Interessenschwerpunkts an. Von nun an steht bei C. wieder ein realistisches Erzählen auf der Basis genau recherchierter gesellschaftl. u. privater Vorgänge im Mittelpunkt. Die Widerspiegelung politischer Prozesse u. Ereignisse in der Bundesrepublik als Ansammlung verpasster Gelegenheiten für einen Neubeginn nach Faschismus u. Krieg, das Fortwirken von Untertanengeist u. Provinzialität, der Interessengegensatz von Kapital u. Arbeit kennzeichnen den Roman Der dreißigjährige Friede. Biographischer Bericht (Düsseld. 1977. Reinb. 1979). Das Kafkas Roman Der Prozeß verpflichtete Fragment Die Herren des Morgengrauens (Bln. 1978. Hbg. 1997) schildert eindringlich, changierend zwischen Alptraum u. Wachsein, die Zerstörung der Existenz eines linken Strafverteidigers. Das Weiterwirken des Nationalsozialismus sowie des Antisemitismus ist Thema des 1979 erschienenen »Heimatromans« Saumlos (Königst./Ts. u. ö. Zuletzt Bln. 2004). Aus den Realien dieses Romans, Dokumenten über Juden, die in den 1930er Jahren

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aus dem hess. Dorf Rhina vertrieben worden sind, entsteht Ende der 1970er Jahre ein Israel-Projekt. Zus. mit Renate ChotjewitzHäfner geht C. an Ort u. Stelle dem Schicksal jener Vertriebenen nach u. veröffentlicht das Ergebnis der Recherchen 1980 u. d. T. Die mit Tränen säen. Israelisches Reisejournal (Mchn.). Der Widerspruch gegen die Übermacht des Staates, gegen die Gewalt, die von ihm ausgehe, charakterisiert das literar. Schaffen C.’ bis zum Ende der 1970er Jahre ebenso wie die konkrete, auch außerliterar. Parteinahme für Widerständige, deren Motive er auch dann zu begreifen sucht, wenn er sich im Einzelfall mit ihren Zielen u. Aktionen nicht mehr identifizieren kann. Nach experimentellen Anfängen entscheidet C. sich für die Verfahrensweise eines Ermittlers von Sachverhalten u. Tatbeständen; dennoch sind seine Arbeiten nicht umstandslos der dokumentar. Literatur zuzurechnen. Vielmehr ist das entsprechende Material für ihn Vorwurf zu eigener und/oder bewusst adaptierter literar. Imagination. In den Romanen oder »Romanstudien« der 1980er u. 1990er Jahre reflektiert C. die dt. Geschichte seit 1933 u. die Gegenwart auf eine erzählerisch experimentelle Weise, in der viele Stimmen u. Geschichten zusammenwirken u. ein kaleidoskopartiges Bild der gesellschaftl. Entwicklung entstehen lassen. Auch als Hörspielautor ist C. hervorgetreten. Einen polit. Skandal rief sein Hörspiel Die Falle, oder Die Studenten sind nicht an allem schuld (SDR, SR, WDR 1969) hervor, in dem er die Demonstrationen vom 2.6.1967 anlässlich des Schah-Besuchs in West-Berlin collagierte. Seit seinem mehrjährigen Italienaufenthalt hat C. sich intensiv auch mit den dortigen polit. u. kulturellen Verhältnissen auseinandergesetzt. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang sein Buch über die Mafia Malavita. Mafia zwischen gestern und morgen (Köln 1973), seine Nacherzählung der 1969 in Italien erschienenen Dokumentation von Aldo de Jaco über die südital. Rebellen des 19. Jh. Die Briganten (Bln. 1976) sowie seine Übersetzungen der Theaterstücke Dario Fos. Weitere Werke: Ulmer Brettspiele. Stierstadt/ Ts. 1965 (L.). – Sechzehn Jahre Artmann. In: Lit. u. Kunst 1,3 (1966), S. 18–32 (Ess.). – Der Hut. 1966 (Kinofilm). – Was heißt ›experimentelle Literatur‹.

419 (Wie schreibe ich weiter?) In: Akzente, H. 5 (1968), S. 412–428 (Ess.). – Roman – Ein Anpassungsmuster. Darmst. 1969 (R.). – Abschied v. Michalik. Stierstadt/Ts. 1969 (E.). – Weltmeisterschaft im Klassenkampf. Urauff. Stadttheater Bremen 1971 (D.). – Die Trauer im Auge des Ochsen. Stierstadt/ Ts. 1972 (E.). – Der Tod der Minjotta. WDR 1974 (Hörsp.). – Wie konnte das passieren? Über den Gebrauch v. Kafka beim Abfassen v. Romanen. In: manuskripte 22,78 (1982), S. 28–31. – Mein Mann ist verhindert. Ein Anfall. Düsseld. 1985 (E.). – Die Herren des Morgengrauens. Mit einem Nachw. v. Kurt Groenewold. Hbg. 1997 (Romanfragment). – Kannibalen. Satiren. Bln. 1997. – Das Wespennest. Hbg. 1999 (R.). – Als würdet ihr leben. Hbg. 2001. – Machiavellis letzter Brief. Hbg. 2003 (R.). – Alles über Leonardo aus Vinci. Hbg. 2004 (Dokumentation). – Fast letzte Erzählungen. Bln. 2007. Literatur: Heinrich Vormweg: Spätbürgerl. Epopöe. In: Merkur 22 (1968). – Klaus Hartung: Die Repression wird zum Milieu. Die Beredsamkeit der linken Lit. In: Lit. Magazin 11 (1979), S. 52–79. – Bernd Neumann: ›Als ob das Zeitgenössische leer wäre...‹ Über die Anwesenheit der 50er Jahre in der Gegenwartslit. In: LiLi 9,35 (1979), S. 82–95. – Olav Münzberg: Literar. Realismus. In: FH 35,6 (1980), S. 66–68. – Andrzej Talarczyk: Das Mißtrauensvotum an den Staat. P. O. C. Die Herren des Morgengrauens. In: Colloquia Germanica Stetinensia 3 (1991), S. 41–51. – Peter Bekes: P. O. C. In: KLG. – Gerd Holzheimer: P. O. C. In: LGL. – Helmut Eisendle: Die Wirklichkeit der 60er Jahre in BerlinWest. P. O. C. Hommage à Frantek. In: Strukturen erzählen. Hg. Herbert J. Wimmer. Wien 1996, S. 114–132. – Daniela Görke: Sexualität im westdt. Roman der späten 60er u. frühen 70er Jahre. Tönning 2005. Michael Schäfermeyer / Red.

Christ, Johann Friedrich, * 26.(?)4.1700 Coburg, † 2.9.1756 Leipzig. – Philologe u. Historiker. Der Sohn eines Coburger Konsistorialrats u. Schuldirektors erwarb sich bereits in jungen Jahren gute Kenntnisse in der frz. u. ital., dann auch in der lat. Sprache, Kunst u. Literatur; 1720 begann er in Jena mit philosophischen, histor. u. jurist. Studien; nach seiner Rückkehr wurde er zunächst Hofmeister u. Geheimer Kabinettsekretär in Meiningen. 1726 setzte er sein Studium in Halle fort u. hielt hier, noch vor der Promotion zum Magister 1728, öffentl. Vorlesungen. 1729 siedelte er nach Leipzig über, wo er erneut eine

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Stelle als Hofmeister annahm. 1731 erhielt er in Leipzig eine von August dem Starken eigens eingerichtete a. o. Professur für Geschichte; nach Begleitung seines adligen Zöglings auf dessen »grand tour« durch verschiedene europ. Länder (1733–1735) wurde er 1739 in Leipzig o. Professor für Dichtkunst. C. hinterließ nach seinem Tod 1756 eine bedeutende Bibliothek u. eine Sammlung von Kupferstichen u. Altertümern. C. gilt durch das von ihm gehaltene »collegium litterarium«, in welchem er neben den schriftlichen auch die bildl. Kulturdenkmäler der Antike behandelte, als Begründer des kunstarchäolog. Studiums an den dt. Universitäten; insbes. auf dem Gebiet der Gemmen- u. Münzkunde, der Inschriften, Reliefe u. der Malerei hat er Pionierleistungen vollbracht. Aus Mitschriften seines Kollegiums ist auch das redaktionell stark überarbeitete Supra re litteraria. Abhandlungen über die Litteratur und Kunstwerke vornemlich des Alterthums hervorgegangen (an. Hg. Johann Karl Zeune. Lpz. 1776). Zu den bedeutendsten Schülern C.s zählte neben dem Begründer der Göttinger neuhumanist. Schule, Christian Gottlob Heyne, auch Gotthold Ephraim Lessing, der sich seines Lehrers stets mit großem Respekt erinnerte u. als Fabeldichter wie auch als Verfasser von »Rettungen« angefochtener histor. Persönlichkeiten an C. anknüpfen konnte. Weitere Werke: Noctes academicae. Bde. 1–4, Halle 1727–29 (Abh.en zur Rechts-, Kunst- u. Literaturgesch. v. a. der Antike). – De Nic. Machiavello. Halle/Lpz. 1731. – Villaticum libri III. Lpz. 1746. – Anzeige u. Auslegung der Monogrammatum [...], unter welchen berühmte Mahler, Kupferstecher u. a. dergleichen Künstler auf ihren Werken sich verborgen haben. Lpz. 1747. – Fabularum veterum Aesopiarum libri II. Lpz. 1749. Literatur: Edmund Dörffel: J. F. C., sein Leben u. seine Schr.en. Ein Beitr. zur Gelehrtengesch. des 18. Jh. Diss. Lpz. 1878. – J. F. C. In: Archäologenbildnisse. Porträts u. Kurzbiogr.n v. klass. Archäologen dt. Sprache. Hg. Reinhard Lullies u. Wolfgang Schiering. Mainz 1988, S. 3 f. – Hans-Peter Müller: J. F. C. Zum 250. Todestag am 2. Sept. 2006. In: Jubiläen 2006. Personen. Ereignisse. Hg. vom Rektor der Univ. Leipzig. Lpz. 2006, S. 109–114. Ernst Fischer / Udo Roth

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Christ, Lena, eigentl.: Magdalena Pichler, * 30.10.1881 Glonn/Oberbayern, † 30.6. 1920 München (Freitod); Grabstätte: ebd., Waldfriedhof. – Erzählerin. Die uneheliche Tochter der Magdalena Pichler u. eines vermuteten Karl Christ verbrachte unter der liebevollen Zuwendung des Großvaters heitere Kinderjahre in ihrem Geburtsort, bis die nunmehr verheiratete Mutter die Achtjährige v. a. als Mithilfe in ihre Gastwirtschaft nach München holte. Die hasserfüllte, grausame u. ausbeuterische Behandlung durch die Mutter deformierte C.s Entwicklung; ihre musikal. Begabung konnte sich nicht entfalten. Mit Ohnmachten, Depressionen u. schweren Krankheiten reagierte sie auf den Entzug jeglicher Zuwendung, auf die sie stets aufs Neue hoffte. Anders ist nicht zu erklären, warum C. ihre Fluchtversuche immer wieder abbrach. Durch ihre Heirat mit Anton Leix 1901 geriet sie in eine Ehe mit einem Trinker von brutalstem Charakter, die, als sie nach acht Jahren u. sechs Geburten (nur drei Kinder überlebten) mit der Trennung endete, ihr gesamtes Vermögen u. ihre Gesundheit aufgezehrt hatte. Die Wende trat ein, als C. 1911 dem Schriftsteller Peter Jerusalem (später nannte er sich Peter Benedix) begegnete, der auf ihr Erzähltalent aufmerksam wurde u. sie zur Niederschrift ihres autobiogr. Romans ermunterte. Durch die Vermittlung Ludwig Thomas erschien dieser 1912 u. d. T. Erinnerungen einer Überflüssigen im Verlag Albert Langen in München. Ob u. in welchem Ausmaß Benedix in Anlage, Stil u. Sprachgebung an diesem Werk u. allen folgenden Arbeiten C.s Anteil hat, lässt sich nicht mehr ermitteln. Mindestens aber sind der Titel des ersten Buchs u. das Pseudonym »Lena Christ« Vorschläge von ihm. Nach der Eheschließung mit Benedix u. der Beachtung, die C. durch die literar. Kritik erfuhr, schrieb sie in erstaunlichem Tempo die weniger gelungenen Lausdirndlgeschichten (Mchn. 1913), den Roman Mathias Bichler (Mchn. 1914; ein literar. Denkmal für den Großvater), die Kriegsskizzen Unsere Bayern anno 14 (1. Tl., Mchn. 1914) u. Unsere Bayern anno 14/15 (2. u. 3. Tl., Mchn. 1915), die Erzählung Rumplhanni (Mchn.

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1916), die bayer. Geschichten Bauern (Mchn. 1919) u. den Roman Madam Bäuerin (Lpz. 1919). Daneben versuchte sie sich an Theaterstücken. Am Ende des Krieges begann sich die Bindung zu Benedix zu lösen; ihre Erkrankung an Tuberkulose verstärkte sich, u. literar. Erfolge blieben aus. C.s wirtschaftl. Situation nahm derart bedrohl. Formen an, dass sie durch plumpe Fälschungen klangvoller Namen auf unbedeutenden Bildern im Kunsthandel zu Geld zu kommen versuchte. Der Presseskandal u. eine drohende Gefängnisstrafe gaben wohl den letzten Ausschlag für ihren Selbstmord durch Gift auf dem Münchner Waldfriedhof. Die auffälligsten Merkmale von C.s Prosa sind in ihrem ersten Buch schon ausgeprägt: die nachtwandlerische Sicherheit, mit der sie ihre Lebenserfahrungen in authentischer Weise beschreibt; der direkte Zugriff auf die wesentl. Dinge, der nicht kommentiert, nicht anklagt, nicht verklärt; schließlich ein außerordentliches Geschick im Umgang mit der Ökonomie von Raum u. Zeit, von Dehnung u. Raffung in der Gliederung ihrer Lebensgeschichte. Josef Hofmiller würdigte als einer der ersten C.s Schreibweise: »Nicht si e schreibt, es schreibt« (in: »Der Kunstwart« 44, 1931, S. 647). C.s Werk mit seinem Reichtum an »natürlichen« Schilderungen des ländl. Lebens wie des Münchner Kleinbürgertums, mit seiner Fülle heute vergessener farbiger Ausdrücke u. Wendungen, mit seinen dialektgefärbten Dialogen (nur Rumplhanni ist derb mundartlich geprägt) sollte man dennoch nicht als Heimatdichtung bezeichnen, da jede kalkulierte Stilabsicht fehlt. In der journalistischen, aber auch der wiss. Rezeption hat stereotyp weniger das Werk der Schriftstellerin im Zentrum gestanden als ihre Biografie. Darin folgte die Rezeption den Vorgaben der autobiogr. Selbstdeutung der C., ihr Leben »nach den Formprinzipien eines Heimatromans« zu stilisieren. Ausgaben: Ges. Werke. Mit einem Nachw. v. Johann Lachner. Mchn. 91988. 1997. – Walter Schmitz (Hg.): Sämtl. Werke. 3 Bde., Mchn. 1990. Literatur: Peter Benedix: Der Weg der L. C. Wien 1940. – Adelheid v. Gugel: L. C. Diss. Mchn.

421 1959. – Günter Goepfer: Das Schicksal der L. C. Mchn. 1971. – Günther Lutz: Die Stellung Marieluise Fleißers in der bayer. Lit. des 20. Jh. Bern/Ffm. 1979 (darin ausführlich zu L. C.). – Ghemela Adler: Heimatsuche u. Identität. Das Werk der bair. Schriftstellerin L. C. Diss. Ffm. 1991. – Monika Nienaber: Der ›Fall‹ L. C. oder Das Leben der Schriftstellerin als Heimatroman. In: Kein Land in Sicht. Heimat – weiblich? Hg. Gisela Ecker. Mchn. 1997, S. 93–110. Hiltrud Häntzschel / Renate Werner

Christ, Richard, * 30.12.1931 Speyer. – Erzähler, Reiseschriftsteller u. Herausgeber. C. studierte 1951–1956 Germanistik, Ästhetik u. Philosophie in Halle u. Berlin. Danach arbeitete er als Redakteur, Theaterkritiker u. Lektor für Belletristik im Verlag der Nation in Berlin, wo er auch heute lebt. C.s Vorliebe gilt journalist. Formen: dem Feuilleton, der Kurzprosa, der Satire u. dem Reisebericht. Seine Feuilletons – präzise u. elegant formuliert – fasste er zusammen in den Sammlungen Monologe eines Fußgängers (Bln./DDR 1975), Die Sache mit dem Haken (Bln./DDR 1980) u. Ganz wie daheim (Bln./ DDR 1984). Besondere Anerkennung fanden seine sachlich geschriebenen Reisebücher Taschkent, Buchara, Samarkand (Bln./DDR 1979), Alt-Delhi, Neu-Delhi (Bln./DDR 1983) u. Mein Indien (Bln./DDR 1983. 41990). Daneben schrieb C. Kinderbücher, gab Anthologien der DDR-Literatur (Fünfzig Erzähler der DDR. Bln./Weimar 1974. 21976) u. Werke von Erich Kästner (Da samma wieda. Bln./DDR 1969) u. Franz Werfel (Menschenblick. Ausgewählte Gedichte. Bln./Weimar 1967) heraus. Weitere Werke: Das Chamäleon oder die Kunst, modern zu sein. Bln./DDR 1973 (E.en). – Reisebilder. Bln./DDR 1974. – Nichts als Ärger. Bln./DDR 1978 (E.en). – Adieu, bis bald. Bln./DDR 1979 (Reisebriefe). – Mein Freund Ziberkopf. Bln./ DDR 1980 (E.en.). – Die Zimtinsel. Begegnung mit Buddha. Bln. 1987 (Reiseber.). – Küstenspaziergänge. Rostock 2000. – Der Tag, die Nacht u. ich dazwischen. Rostock 2001. Literatur: Dubja Welke: Zwischen erfahrener Wirklichkeit u. erfundener Wahrhaftigkeit. Zum reiseliterar. Schaffen v. R. C. In: WB 34 (1988),

Christaller S. 1137–1155. – Bärbel Maciy: Funktion u. Gestalt der künstler. Reiselit. v. R. C. Erfurt 1989. Sylvia Adrian / Red.

Christaller, Helene, geb. Heyer, * 31.1. 1872 Darmstadt, † 24.5.1953 Jugenheim/ Bergstraße; Grabstätte: ebd., Friedhof. – Erzählerin, Romanautorin. C., Tochter eines Rechtsanwalts, lebte mit ihrem Mann, Pastor Erdmann Gottreich Christaller, in verschiedenen Schwarzwalddörfern. Hier kam sie als Leiterin der Schulgottesdienste zu ihrer schriftsteller. Tätigkeit. Für Kinder verfasste sie Erzählungen u. Kurzgeschichten, die – wie ihre späteren Arbeiten – nahezu durchgehend persönl. Erfahrungen enthalten. Neben Magda. Geschichte einer Seele (Jugenheim 1905) begründete v. a. der autobiogr. Roman Gottfried Erdmann und seine Frau (Basel 1908. 281927. Neudr. Marburg 1984) ihren Ruhm als Autorin mit einer ausgeprägten religiösen Weltansicht. In rascher Folge erschienen dann Novellen, Skizzen, Reisebeschreibungen u. zahlreiche Romane, die – in mehrere europ. Sprachen übersetzt – in Pfarrhäusern spielen oder dörfliches Familienleben zum Thema haben. Belletristisches lieferte C. für die von Helene Lange herausgegebene Zeitschrift »Die Frau«; mit ihren Büchern Tagebuch der Annette. Ein Stück aus dem verborgenen Leben der Annette von Droste-Hülshoff (Basel 1926) u. Albert Schweitzer. Ein Leben für andere (Bln. 1933) setzte sie die Reihe ihrer biogr. Erzählungen fort, die sie mit dem Lebenswerk des Franz von Assisi (Heilige Liebe. Basel 1911) eröffnet hatte. In späteren Jahren folgten bes. autobiogr. Skizzen, die – aufgrund nationalsozialistischer Repressionen – überwiegend in der Schweiz verlegt wurden. Mit ihrem Schreiben musste C. für den Lebensunterhalt der Familie sorgen, nachdem ihr Mann aufgrund seines 1901 erschienenen satir. Romans Prostitution des Geistes vom Pfarrdienst suspendiert worden war. 1917 erhielt C. den Rheinischen Dichterpreis. Weitere Werke: Als Mutter ein Kind war. Basel 1926. Marburg 1981. 21988. Holzgerlingen 2000. – Peterchen. Basel 51930. Marburg 1983. – Das blaue

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Haus. Basel 51934. Marburg 1986. Holzgerlingen 2002. – Meine Mutter. Basel 31939. Marburg 1987. Reinhard Tenberg / Red.

Christelius, Christel(i), Bartholomäus, * 11.8.1624 Müglitz/Nordmähren, † 11.5. 1701 Prag. – Jesuit; Verfasser von Erbauungs- u. Predigtliteratur.

Weitere Werke: Via Spino-rosea, seu de septem doloribus, et totidem gaudiis beatissimae Matris Dei. Prag 1668 (auch dt.). – Verba, et Opera. Raht, u. That [...]. Prag 1673. – P. Antonii Foresti annona coelestis, d. i. Himmel-Proviant christl. Soldaten wider die Türken. Prag 1688. Literatur: Backer/Sommervogel, Bd. 2, Sp. 1159–1163 (Bibliogr.). – Weitere Titel: Franz Tietze: B. C. Ein Beitr. zum Barockschrifttum im Sudetengebiet. Diss. (masch.) Prag 1937. – Heiduk/ Neumeister, S. 22 f., 153 f., 307 f. – Franz M. Eybl: Poesie u. Meditation. Zur Vorredenpoetik des B. C. In: Ztschr. für bayer. Landesgesch. 47 (1984), S. 255–276. – DBA 188,312–315. – SL [Walther Lipphardt] in: MGG 2. Aufl. Bd. 4, Sp. 1034. Franz Günter Sieveke / Red.

Nach dem Schulbesuch in Olmütz trat C. 1642 in Brünn in die Gesellschaft Jesu ein. Zunächst lehrte er die Humaniora in Neiße, Eger, Prag, Breslau u. Glatz, später Philosophie u. Kontroverstheologie. Nach Rektoratstätigkeit in den Kollegien in Breslau (1663–1666), Komotau (1667) u. Teltsch (1669–1676) wurde er Regent des Konvikts in Christen, Ada, geb. Christi(a)ne von Olmütz (1677–1679) u. Superior des Prager Fr(i)ederik, verh. von Neupauer; von Professhauses. Die Ordenslaufbahn führte Breden, * 6.3.1839 Wien, † 23.5.1901 ihn schließlich bis ins Amt des Provinzials der Wien. – Dramatikerin, Erzählerin u. Lyböhm. Provinz. rikerin. C. schrieb in lat. wie in dt. Sprache. Vertraut mit der poetolog. Diskussion der Zeit, Nachdem ihr Vater, der Wiener Großkaufsetzte er das »delectare« als Mittel der Glau- mann Friderik, wegen Beteiligung an der bensverkündigung ein. Anfangs der oberdt. 48er-Revolution verurteilt worden war u. die Sprachnorm verpflichtet, wandte er sich spä- Familie daraufhin verarmte, musste C. frühter einer gemäßigten Opitz-Nachfolge zu. zeitig ihren Lebensunterhalt selbst bestreiIn Werken wie Alimonia menstrua, Monatliche ten: als Blumenverkäuferin, Näherin u., erst Seelen-Nahrung (Breslau 1666) oder Annus Se- 15-jährig, als Schauspielerin auf dt. Wanderraphicus Seraphisches Lieb-Jahr, oder anmuttige bühnen. 1860 entstand die Posse mit Gesang [...] Lieder, auf alle Tage deß gantzen Jahrs (Ol- Das Loch in der Wand, der sie 1867 das Volksmütz 1678) versuchte C., Meditation u. stück Die Häuslerin folgen ließ. Ferdinand von Dichtung miteinander zu verbinden. Unter Saar vermittelte 1868 den Druck ihrer Lieder seinen zahlreichen Übersetzungen sind die einer Verlorenen (Hbg.), die das Motiv des soder ordensapologet. Schriften seines Ordens- zialen Elends u. der eigenen Leiderfahrung bruders Adam Tanner hervorzuheben: Die schonungslos verwerteten. Sie stießen – Gesellschaft Jesu bis zur Vergiessung ihres Bluttes ebenso wie die Folgebände Aus der Asche (Hbg. wider den Götzendienst, Umglauben und Laster 1870) u. Aus der Tiefe (Hbg. 1878) – wegen (Prag 1683) u. Die Gesellschaft Jesu Nachfolgerin ihrer erot. Offenheit, aber auch durch die der Aposteln (Prag 1701). Bibelübersetzungen darin zum Ausdruck kommende Abgrundwie sein Psalterium amoris, oder Liebs-Psalter stimmung auf vielfachen Widerstand bei (Prag 1673) verfasste C. in vorgegebenen ba- Kritik u. Publikum. 1871 erscheint ihre genrocken lyr. Formen. Der Zodiacus laetofatalis. derkritische Faustina. Drama in fünf Akten Lustiges Sterb-Jahr (Prag 1690) weist ihn auch (Wien). In der »nuancierte[n] Schilderung der als arguten Autor aus. Ein Dokument christl. Lebenswirklichkeit im proletarischen Milieu Judenhasses ist Johann Eders Virilis constantia sowie in der Veranschaulichung von [sozialen pueri duodennis Simonis Abeles, die C. u. d. T. u. psychischen] Kausalszusammenhängen« Mannhaffte Beständigkeit des zwölfjährigen Kna- (Meyer) im Roman Jungfer Mutter. Eine Wiener bens Simeon Abeles (Prag/Nürnb. 1698) ins Vorstadtgeschichte (Dresden 1892) zeigen sich Deutsche übersetzte. C.s Offenheit zum Naturalismus u. ihre er-

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zähltechn. Experimentierfreudigkeit, die nicht immer frei von Sentimentalität war. Seit 1873 war C. in zweiter Ehe mit dem Offizier u. Militärschriftsteller Adalmar von Breden verheiratet. In ihrem Haus in Wien verkehrte u. a. Anzengruber. Weitere Werke: Ella. Wien u. Pest 1869. – Schatten. Hbg. 1872. – Vom Wege. Skizzen. Hbg. 1874. – Aus dem Leben. Skizzen. Lpz./Bln. 1876. – Unsre Nachbarn. Wiener Sittenbilder. Dresden 1884. Ausgabe: Ausgew. Werke. Hg. Wilhelm Artur Hammer. Teschen 1911. Literatur: Oskar Katann (Hg.): Theodor Storm als Erzieher. Seine Briefe an A. C. Wien 1948. – Ingrid Rathner: Zwischen Provokation u. Resignation. Salzb. 1991. – Goedeke Forts. – Christa Gürtler u. Sigrid Schmid-Bortenschläger (Hg.): Eigensinn u. Widerstand. Wien 1998, S. 77–91. – Christa Bittermann-Wille u. Helga HofmannWeinberger: Erotik – Theoret. Diskurs u. literar. Chiffren in der Frauenlit. des Fin-de-siècle. In: Der verbotene Blick. Hg. Michael Brodl. Klagenf. 2002, S. 146–180, bes. 146–148 u. 156 f. – Anne-Rose Meyer: Faustina. Drama in 5 Akten. In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb. 2006, S. 85 f.; Jungfer Mutter. Eine Wiener Vorstadtgesch. Ebd., S. 86–88. – Helen Chambers: Humor and Irony in Nineteenth-Century German Women’s Writing. Studies in Prose Fiction 1840–1900. Rochester/New York 2007, S. 125–137. Eda Sagarra

Christherre-Chronik, Mitte 13. Jh. – Biblische Geschichtsdichtung. Die von einem anonymen Kleriker verfasste Reimbibel wird nach ihrem Anfangsvers »Christ herre keiser über alle kraft« Christherre-Chronik, nach der Widmung an den Landgrafen Heinrich von Thüringen (Heinrich Raspe IV., um 1204–1247, oder Heinrich III. der Erlauchte, 1218–1288) auch Thüringische Weltchronik genannt. Wie die Weltchronik Rudolf von Ems unvollendet, bricht sie nach 24.330 Versen im Buch der Richter ab. Nur selten ist die C. in reiner Textgestalt überliefert. Wohl schon im 13. Jh. in zwei verschiedenen Redaktionen mit Rudolfs Chronik verbunden, ist sie in den Handschriften entweder mit Rudolfs Schluss bis zum Buch der Könige fortgesetzt oder als Ein-

Christherre-Chronik

leitung dem Rudolf-Text vorangestellt. In weiteren Mischredaktionen, die sich wiederum in mehrere Untergruppen von graduell unterschiedlichster Verbindung der Textelemente aufgliedern lassen, wurden C.-Passagen mit Teilen aus Jans Enikels Weltchronik oder aus Rudolfs u. Jansens Chroniken zusammengefügt. Für die Weltchronik Heinrichs von München bildet eine solche Kompilation aus Rudolf-, C.- u. Jans-Teilen (Erweiterte Christherre-Chronik) den chronikal. Basistext. Diese für die Weltchroniken gattungstypische Überlieferungssituation gestattet es kaum, die genaue Zahl der sicher mehr als 100 Handschriften des Texts anzugeben. Die C. schöpft aus den gleichen lat. Quellen wie Rudolf, v. a. aus der Bibel, daneben aus Gottfrieds von Viterbo Pantheon u. Petrus Comestors Historia scholastica, folgt dabei jedoch den Vorlagen enger, auch in der Darstellung der heidn. Geschichte, die nicht wie bei Rudolf nach dem augustinischen Modell synchroner Exkurse die bibl. Geschichte begleitet, sondern nach der Historia scholastica in Form knapper »incidentia« über den Text verstreut ist. Mit Rudolfs Chronik bildet die C. die Grundlage vieler späterer Weltchroniken; in Prosa aufgelöst, geht sie in die Historienbibeln des Spätmittelalters ein. Ausgaben: Eine vollständige Ausg. v. Kurt Gärtner u. a. erscheint demnächst in DTM. Vgl.: K. G., Ralf Plate u. Monika Schwabbauer: Zur Ausg. der C. nach der Göttinger Hs. In: Editionsber.e zur mittelalterl. dt. Lit. Hg. Anton Schwob. Göpp. 1994, S. 43–56. – Teileditionen: Hans Ferdinand Massmann (Hg.): Der keiser u. der kunige buoch. Bd. 3, Quedlinburg 1854, S. 118–150. – Gottfried Schütze (Hg.): Die Histor. Bücher des AT. 2 Theile, Hbg. 1779–81 (Abdr. der Hamburger Hs. Cod. 40b in scrin.). – Ausgabe der ›Erweiterten Christherre-Chronik‹: Ralf Plate (Hg.): C. Linz, Bundesstaatl. Studienbibl., Cod. 472, Farbmikrofiche-Ed. Mchn. 1994. – Teiledition: Johannes Rettelbach: Von der ›Erweiterten Christherre-Chronik‹ zur Redaktion alpha. 2 Bde., Wiesb. 1998. Literatur: Karl Schröder: Zur C. In: Germanist. Studien 2 (1875), S. 159–197. – Ewald Gleisberg: Die Historienbibel (Merzdorffs I) u. ihr Verhältnis zur Rudolfin. u. Thüring. Weltchronik. Diss. Lpz./ Gera 1885. – Norbert H. Ott: C. In: VL. – Kurt Gärtner: Überlieferungstypen mhd. Weltchroni-

Christophorus

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ken. In: Geschichtsbewußtsein in der dt. Lit. des MA. Hg. Christoph Gerhardt, Nigel F. Palmer u. Burghart Wachinger. Tüb. 1985, S. 110–118. – Ders.: Der Landgraf Heinrich v. Thüringen in den Gönnerzeugnissen der C. In: Von wyßheit würt der mensch geert. FS Manfred Lemmer. Hg. Ingrid Kühn u. Gotthard Lerchner. Ffm. 1993, S. 65–86. – Ders.: Die Auslegung der Schöpfungsgesch. in der C. In: Die Vermittlung geistl. Inhalte im dt. MA. Hg. Timothy R. Jackson. Tüb. 1996, S. 119–151. – Dorothea Klein: Heinrich v. München u. die Tradition der gereimten dt. Weltchronistik. In: Studien zur Weltchronik H.s v. M. Hg. Horst Brunner. Wiesb. 1998, S. 1–112. – J. Rettelbach: Erw. Christherre-Chronik; Ralf Plate: Leipziger Schluß der C. In: VL (Nachträge u. Korrekturen). – R. Plate: Die Überlieferung der C. Wiesb. 2005. Norbert H. Ott / Red.

Christophorus. – Kult- u. Legendenfigur seit dem 5. Jh.

te. Zwischen dem 13. u. dem 15. Jh. entstanden neben den abbreviierten C.-Legenden der Legendare davon unabhängige selbständige dt. Vers- u. Prosalegenden. In der Neuzeit tritt C. fast nur in katholisch-devotioneller Literatur auf (bis heute: C. als Patron der Autofahrer); in der Lyrik z.B. im volksliedhaften Fuhrmannlied Joseph Weinhebers. In der Religionsphilosophie Alains (Les dieux) steht C. für die Unterwerfung unter Gottes Willen. Der spätromantisch-impressionist. Komponist Franz Schreker verfasste 1925/27 das Libretto zu seiner eigenen Oper Christophorus oder Die Vision einer Oper, in der es um das Komponieren eines Musikdramas über diese Gestalt geht. Literatur: A. Masseron: Saint Christophe. Paris 1933. – Hans Rosenfeld: Der hl. C. Lpz. 1937. – Josef Kunstmann: hol über. Leben, Bild u. Kult des hl. C. Ettal o. J. [1961]. – Tue Gad: Kristoffer. In: Kulturhistorisk Leksikon for nordisk middelalter 9 (1964), Sp. 356–363 – Gertrud Benker: C. Patron der Schiffer, Fuhrleute u. Kraftfahrer. Mchn. 1975. – Hans-Friedrich Rosenfeld: C. In: VL (auch: Nachträge u. Korekturen). – J. Szövérffy: C. In: LexMA. – Werner Williams-Krapp: Die dt. u. niederländ. Legendare des MA. Tüb. 1986. – Friedrich Wilhem Bautz: C. In: Bautz. – Maria v. Stritzky: C. In: LThK. – Edith Feistner: Histor. Typologie der dt. Heiligenlegende des MA. Wiesb. 1995. – Werner Chrobak: C. Kehl/Rhein 2004. – Michael Schneider: Die C.-Legende in Ost u. West. Köln 2005.

Griechisch christophoros bedeutet »Christusträger« u. war in der Alten Kirche Ehrentitel für Märtyrer allgemein. Spätestens seit dem 5. Jh. begann sich die Legende eines Heiligen dieses Namens zu entwickeln, der, ein hundsköpfiger Riese, durch die Taufe die menschl. Sprache erhielt u. nach vielen Martern enthauptet wurde. Im Westen dominierte das Motiv vom Riesen, der nur dem Stärksten dienen will u. für Christus Pilger Peter Dinzelbacher über einen Strom übersetzt, schließlich auch Jesus selbst in Gestalt eines Kindes, schwer als die Welt. Christus und die minnende Seele. – Im Vergleich zu der großen bis in die GeDidaktischer Text u. Bilderbogen des genwart andauernden Präsenz des Heiligen Spätmittelalters. in der Ikonografie erscheint die literar. Produktion eher gering: lateinische (z.B. Walther Aus einem Bedürfnis heraus, asket. Praktiken von Speyer: Vita et passio S. Christopheri marty- u. myst. Bestrebungen für Nonnen leichter ris, 984) u. volkssprachl. Legenden in Vers u. verständlich aufzubereiten, entstanden Versin Prosa finden sich neben liturgischer Dich- u. Prosatexte sowie Bildgedichte, die in Form tung (Hymnus O beate mundi auctor aus dem eines Gesprächs zwischen Christus u. einer mozarabischen Brevier), Gebeten u. zwei zur »unio mystica« strebenden Klostermittelfrz. Dramatisierungen des Stoffes schwester den Weg zur Vereinigung mit Gott (Mystères de S. Christophe, 14. Jh. ohne Prove- illustrieren. Rekonstruieren lässt sich ein nienz bzw. 1464, Compiègne). Durch die Le- Bilderbogen, der wahrscheinlich im 14. Jh. genda Aurea des Jacobus a Voragine u. deren hergestellt wurde u. in 20 Szenen in fünf spätmittelalterliche volkssprachl. Übertra- Reihen von unten links nach oben rechts mit gungen wurde C. zu einem der beliebtesten je zwei Dialogreimpaaren den Weg der minNothelfer des Spätmittelalters, dessen Bild zu nenden Seele zur »unio« darstellt: Askese, sehen vor jähem unbußfertigem Tod schütz- Buße, Meditation führen über Visionen zur

Christus und die sieben Laden

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angestrebten Vereinigung. Der Bilderbogen war wohl für die Wand der Klosterzelle gedacht. Im 15. u. 16. Jh. wurde der Bogen auch gedruckt. Durch Aufgabe des Bilderbogenkonzepts konnten die Dialoge zur Buchform umgestaltet werden; dabei wurden sie erweitert u. redigiert. Ein 222 Verse umfassendes dialogisches Gedicht, Bartschs Minnende Seele (14. Jh.; benannt nach dem Herausgeber), ersetzt die Bilder durch Zwischentitel. Hier sind 20 Szenen des Bilderbogens übernommen u. ergänzt. Die Seele wird stufenweise von allem Irdischen entblößt. Sie entbrennt in Liebe zu Gott, der aber flieht; sie vermag ihn jedoch zu fangen u. zu fesseln. Er spielt zum Tanz auf, bindet sie an sich. Sie umarmen sich, die Seele bekommt die Krone des ewigen Lebens. Eine von Romuald Banz herausgegebene Dichtung (15. Jh.) umfasst 2112 Verse mit 21 Illustrationen. Der Text des Bilderbogens wird stark durch eine Verfasserin, die wohl im Konstanzer Raum gearbeitet hat, erweitert, z.T. mit Versen aus dem alemann. Gedicht Des Teufels Netz. Die Handlung orientiert sich zwar an den ältesten Vorbildern, das ursprüngl. Anliegen ist jedoch durch naturalist. Schilderungen vergröbert; z.B. wird den Nonnen drastisch geschildert, wie schlecht es ihnen ginge, wenn sie verheiratet wären. Ausgaben: Karl Bartsch: Die Erlösung. Quedlinburg/Lpz. 1858. Neudr. Amsterd. 1966, S. 216–224. – Romuald Banz: C. u. d. m. S. Breslau 1908, S. 259–363. Literatur: Romuald Banz 1908 (s. o.). – Hellmut Rosenfeld: C. u. d. m. S. In: VL. – Werner Williams-Krapp: Bilderbogenmystik. Zu C. u. d. m. S. Mit Ed. der Mainzer Überlieferung. In: FS Kurt Ruh. Tüb. 1989, S. 350–364. – Hildegard Elisabeth Keller: Von ehel. Privation zu erotischer Privatheit? Allegorese der Geschlechterbeziehung. Ein Beitr. zu C. u. d. m. S. In: Das Öffentliche u. das Private in der Vormoderne. Hg. Gert Melville u. Peter v. Moos. Köln 1998, S. 461–498.

schichte von Jesus u. der Samariterin (Joh 4, 6–20). Es wurde im 10. Jh. in eine Handschrift der Lorscher Annalen (cod. Wien 515) eingefügt, kann aber schon gegen Ende des 9. Jh. entstanden sein. In der Sprache sind alemann. u. fränk. Merkmale gemischt, was eine Herkunft aus der Reichenauer Schreibschule nahelegen könnte. Darstellung u. Metrum werden häufig mit dem die Samaritergeschichte erzählenden Kapitel bei Otfrid von Weißenburg (II, 14) verglichen, zumal die Form der Langzeile mit der Otfrids verwandt ist: Während Otfrid aber ausführlich u. kommentierend erzählt, ist die Darstellung hier sehr knapp. Der Dialog zwischen Christus u. der Samariterin wird ohne Einführung der redenden Personen wiedergegeben, ist aber durchaus nicht formlos (Symmetrien). Eine Einteilung in Strophen unterschiedlichen Umfangs kann angenommen werden. Ausgaben: Wilhelm Braune (Hg.): Ahd. Lesebuch. 15. Aufl. bearb. v. Ernst A. Ebbinghaus. Tüb. 1969, S. 136. – Hans Joachim Gernentz (Hg.): Ahd. Lit. Eine Ausw. Bln. 1979, S. 188–191 (mit Übers.). – Walter Haug u. Benedikt K. Vollmann (Hg.): C. u. d. S. In: Frühe dt. Lit. u. lat. Lit. in Dtschld. 800–1150. Ffm. 1991, S. 138–141 (mit Übers.). – Horst Dieter Schlosser (Hg.): Ahd. Lit. Bln. 1998, S. 128 f. (mit Übers.). Literatur: Dieter Kartschoke: Altdt. Bibeldichtung. Stgt. 1975, S. 72–74. – J. Knight Bostock: A Handbook on Old High German Literature. Oxford 2 1976, S. 214–218. – David R. McLintock: C. u. d. S. In: VL. – Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen MA (Bd. 1, Tl. 1 der Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit). Ffm. 1988, S. 377–379. – Cyril W. Edwards: C. u. d. S. In: German Writers and Works of the Early Middle Ages: 800–1170. Hg. Will Hasty u. James Hardin. Detroit 1995, S. 169–172. Elisabeth Wunderle / Red.

Christus und die sieben Laden, auch: Christus als Kaufmann, Christus als Krämer, Von sieben köstlichen Laden u. Ä. – Christus und die Samariterin, Mitte des Erbaulicher Traktat aus der ersten Hälfte 10. Jh. aufgezeichnet. – Althochdeutsches des 15. Jh. Langzeilengedicht. Werner Williams-Krapp / Red.

Das ahd. Gedicht, von dem nur die ersten 31 Verse erhalten sind, erzählt die bibl. Ge-

Der Text, der in 32 zwischen 1425 u. 1494 geschriebenen Handschriften, einem Wiegendruck u. acht Drucken des 16. Jh. tradiert

Chronik im Weißen Buch von Sarnen

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ist, dürfte – dem Zentrum der Überlieferung Chronik im Weißen Buch von Sarnen, nach – im Elsass entstanden sein. 1470/72. – Gründungsgeschichte der Ausgangspunkt der Darlegungen bildet Lk Eidgenossenschaft. 14, 33, wo Christus lehrt, dass nur derjenige sein Jünger sein könne, der sich von seinem Die C. im Umfang von 25 Seiten wird am Besitz lossage. Als ein Kaufmann diesen Schluss eines Kanzleihandbuchs überliefert, Spruch in einer Predigt hört, entschließt er das der langjährige Obwaldner Landschreiber sich, als Einsiedler zu leben. Doch wird er in Hans Schriber 1470/72 im Hauptort Sarnen der Abgeschiedenheit beständig vom Teufel angelegt u. niedergeschrieben hat u. das bedrängt, der ihm die Weltlichkeit, auch mit aufgrund seines Einbands als »Weißes Buch« Beispielen aus der Bibel, schmackhaft zu bezeichnet wird. Im Hauptteil von über 400 machen sucht. Dies gelingt ihm schließlich: Seiten enthält die Papierhandschrift Kopien Der Kaufmann verlässt die Einsiedelei. Auf der wichtigsten Bündnisse u. Verträge des dem Weg begegnet ihm Christus, als Krämer Landes Obwalden (zus. mit Nidwalden einer verkleidet. Er führt sieben Laden mit sich, die der acht alten Orte der Eidgenossenschaft). Den Kern der deutschsprachigen C. bildet er nacheinander öffnet. Jede enthält einen anderen Schatz: einen Palast, ein reiches die älteste schriftl. Fixierung der eidgenöss. Land, einen Garten, einen Tisch mit köstl. Gründungsgeschichte mit Rütlischwur, BurSpeisen, einen Springbrunnen, einen Spiegel genbruch u. Tellsage angeblich in der Zeit um mit dem Bild Gottes u. die Zeichen der kai- 1300, gefolgt von Berichten über Ereignisse serl. Macht. Der Kaufmann will diese Dinge bis 1426. Die Erzählung beruht unbestritten für einen zunächst sehr niedrig scheinenden auf älterer Überlieferung, die sich aber nicht Preis erwerben; doch jedesmal stellt sich früher als 1420 fassen lässt. Alle Versuche, die heraus, dass mit den Preisen, die der verklei- Überlieferungslücke von rd. 120 Jahren zu dete Christus verlangt, nicht materielle Werte schließen u. einen »historischen Kern« der gemeint sind, sondern Eigenschaften, die in Erzählung zu retten, sind als gescheitert zu den Seligpreisungen der Bergpredigt (Mt 5, betrachten. Die C. hat ihren Platz in der zweiten Hälfte 3–11) von den Menschen gefordert werden. Als Christus weggeht, erkennt der Kaufmann, des 15. Jh. als eine glaubwürdige, in literar. wen er vor sich hatte, u. kehrt in seine Ein- Form gekleidete Antwort auf die Frage nach den Ursprüngen der Eidgenossenschaft. In siedelei zurück. Der Traktat ist ein Aufruf zu einem welt- der militärisch u. propagandistisch geführten abgewandten, an den Lehren Christi orien- Auseinandersetzung mit Habsburg um die tierten Leben. Die Einkleidung der christl. Rechtmäßigkeit der Eidgenossenschaft beLehre verwendet Mittel, die – wie die symbol. gegnet sie dem Vorwurf des Unrechtsstaats Deutung von Gegenständen des tägl. Lebens mit dem Argument des legitimen Wider– für die religiöse Literatur des 15. Jh. typisch stands gegen die tyrann. Herrschaft der sind. Da mindestens zehn der Handschriften Landvögte. Entdeckt u. für die Geschichtsaus Frauenklöstern stammen, dürfte der schreibung rezipiert wurde die C. 1569 durch Traktat häufig für die Unterweisung von den Gelehrten Aegidius Tschudi, dann erneut 1854 durch den Zürcher Staatsarchivar GeNonnen benutzt worden sein. Ausgaben: Albert Bachmann u. Samuel Singer rold Meyer von Knonau (Erstedition 1857). (Hg.): Dt. Volksbücher aus einer Zürcher Hs. des 15. Die wirkungsmächtige Rezeption des ErJh. Tüb. 1889, S. 247–258, 390–398. zählstoffes durch Friedrich Schiller (Wilhelm Literatur: Walter Muschg: Die Mystik in der Tell. 1804) geschah indirekt über Tschudi u. Schweiz. 1200–1500. Frauenfeld 1935, S. 274 f., Johannes von Müller. 425. – Wieland Schmidt: Kleine Schr.en. Wiesb. 1969, S. 198–215 (zuerst 1950). – Kurt Ruh: C. u. d. s. L. In: VL. Elisabeth Wunderle / Red.

Ausgabe: Hans Georg Wirz (Bearb.): Das W. B. v. S. Aarau 1947. Literatur: Guy P. Marchal: C. In: VL. – Bruno Meyer: Weisses Buch u. Wilhelm Tell. Weinfelden 3 1985. – Walter Koller: Wilhelm Tell – ein huma-

427 nist. Märchen. In: Aegidius Tschudi u. seine Zeit. Hg. Katharina Koller-Weiss u. Christian Sieber. Basel 2002, S. 237–268. Christian Sieber

Churer Weltgerichtsspiel schungsber.e, Überlieferung, Analyse der Chroniktexte. Zürich 1984. – Katalog: Ernst Gagliardi: Ausstellung v. Chroniken u. verwandten Quellen zur Gesch. Zürichs u. der Schweiz: Veranstaltet zur Jahres-Versammlung der Allg. Geschichtforschenden Gesellsch. der Schweiz 10./11. Sept. 1911 [v. der] Stadtbibl. Zürich. Zürich 1911.

Chroniken der Stadt Zürich, auch: Zürcher Chroniken, verfasst Ende des 14. Jh. – Spätmittelalterlicher volkssprachliMichael Jucker cher Chronikkomplex, bestehend aus verschiedenen Zürcher Stadtchroniken u. Churer Weltgerichtsspiel, Anfang des der Klingenberger Chronik. 16. Jh. – Geistliches Spiel. Die C. sind für die Erforschung der Geschichte Zürichs, der Eidgenossenschaft u. des süddt. Raumes grundlegend. Es handelt sich um die ersten volkssprachl. Chroniken in der Eidgenossenschaft, die Vorbildcharakter für andere Stadtchroniken hatten. Der Chronikkomplex erlaubt Einsichten in die städt. Politik, Herkunftsvorstellungen, Kriegsführung, Rechtszustände, Adelsgeschichte u. in das politische u. kulturelle Selbstverständnis Zürichs wie in die eidgenöss. Geschichte. Die C. decken die Zeit von den Stadtheiligen Felix u. Regula (basierend auf der Legenda Aurea) bis Mitte des 15. Jh. ab. Die verschiedenen Chroniktexte waren verbreitet rezipiert worden, u. a. durch die Konstanzer Chronistik. Die ältere Forschung ging von einer einzigen »Zürcher Chronik« mit diversen Abschriften aus, während seit Gamper klar ist, dass es sich um verschiedene Redaktions- u. Bearbeitungsstufen handelt, die eigenständige Gruppen bildeten u. immer wieder den zeitgenöss. Bedürfnissen angepasst wurden. Die sog. erste Redaktionsstufe A ist um 1390 verfasst worden, während andere Redaktionsstufen ins 15. Jh. zu datieren sind. Die C. sind in zwei mangelhaften Editionen herausgegeben. Ausgaben: Chronik der Stadt Zürich mit Forts.en. Hg. Johannes Dierauer. Basel 1900. – Die Klingenberger Chronik, nach der v. Tschudi besessenen u. 4 anderen Hss. Hg. Anton Henne. Gotha 1861. Literatur: Albert Büchi: Art. Chroniken. In: Histor.-Biogr. Lexikon der Schweiz, Bd. 2 (1924), S. 578–590. – Jean-Pierre Bodmer: Chroniken u. Chronisten im SpätMA. Bern 1976. – Guy P. Marchal: C. In: VL. – Richard Feller u. Edgar Bonjour: Geschichtsschreibung in der Schweiz. Bd. 2, Basel 2 1979. – Rudolf Gamper: Die Zürcher Stadtchroniken u. ihre Ausbreitung in die Ostschweiz. For-

Der Text (1545 vierhebige, paargereimte Verse mit kurzen lat. u. dt. Rubriken) ist anonym in einer Papierhandschrift, Ms B 1521 des Staatsarchivs Graubünden in Chur überliefert. Sie umfasst 17 Blätter im Format 44 cm x 15,5 cm u. 1 Blatt 43 cm x 15,5 cm, einspaltig beschrieben, die Verse sind abgesetzt. Das Ochsenkopf-Wasserzeichen entspricht Baseler Papieren vom Ende des 15. Jh. Die Anfangsrubrik fol. 1r nennt das Thema u. das Aufführungsjahr des Spiels: »Anno millesimo quingentesimo decimo septimo hat man gehept das jungst gricht«. 1517 ist wahrscheinlich auch das Jahr der Niederschrift des Textes. Verschiedene Indizien, insbes. das Auftreten des Diözesanheiligen Florinus, sprechen für die Entstehung der Textfassung in Chur. Als Aufführungsort kommen ein Kirchenraum (die Kathedrale oder St. Luzius in Chur) oder der Vorplatz der Kathedrale in Frage. Als Aufführungstermin nennt der Prolog die Osterzeit. Das C. W. gehört zu einer Gruppe von zwölf in Aufbau u. Textkonstitution verwandten, seit der zweiten Hälfte des 15. Jh. überlieferten Weltgerichtsspielen. Auf der bibl. Grundlage von Matth. 25, 31–46 gestalten sie dialogisch das Erscheinen Christi als Richter der Menschheit, die Scheidung der auferweckten Toten in Gerettete u. Verdammte, das Gespräch des Richters mit beiden Gruppen u. die Zuweisung der Gerichteten an ihre ewigen Bestimmungsorte (Himmel u. Hölle). Die Spiele differieren in Einzelheiten u. im Umfang, eine direkte Textentwicklung lässt sich nicht ermitteln, wohl aber verschiedene Typen. Das C. W. stellt einen erweiterten Typ mit über 80 Personen verschiedener Provenienz (biblisch, legendär, allegorisch) dar. Es ist in fünf Akte

Churer Weltgerichtsspiel

untergliedert (die Bezeichnung »actus« ist hier erstmals in einem dt. Drama nachweisbar). Die Gliederung wird durch Auftritte eines Prelocutors oder Precursors (die Bezeichnung wechselt) u. durch liturg. Gesänge (Carmina scripturarum) performiert. 1. Akt: Vier alttestamentl. Personen (Johel, Sophonias, Job, Salomon) u. zwei christl. Kirchenlehrer (Gregorius, Jheronimus) kündigen das Jüngste Gericht mit seinen 15 Vorzeichen an. – 2. Akt: Vier Engel rufen die Toten zur Auferstehung u. zum Gericht. Christus verkündet u. begründet das Urteil über die Guten. Maria, Apostel, Propheten, Patriarchen, Märtyrer, Bekenner u. Jungfrauen werden zu Beisitzern für das weitere Gerichtsverfahren berufen. – 3. Akt: Fünf Engel (der vier Elemente sowie einer für Sonne u. Mond) erheben Anklage gegen die Menschen wegen Missbrauch der Schöpfung. Bibl. Sünder (Judas, Herodes, Pilatus, ein Reicher) bezichtigen sich selbst, ebenso sieben Todsünder. Der Teufel klagt wegen Übertreten der Zehn Gebote u. wegen Superbia an. – 4. Akt: Christus verdammt die Sünder. Fünf Verurteilte bitten vergeblich um Strafmilderung. Es folgen die Begründung des Urteils u. die Übergabe der Verdammten an Luzifer. Erfolglos bitten Maria u. Johannes der Täufer um Gnade für die Verdammten. Der Teufel führt sie ab, der Erzengel Michael verschließt die Hölle. – 5. Akt: Zehn namhafte Gerettete (David, Petrus, Paulus u. a., Katharina, Magdalena u. a.) sowie die »pueri« (die unschuldigen Kinder) u. eine »anima salvata« (als Repräsentantin der einfachen, geretteten Seelen) sprechen Lobpreisungen. Ohne Parallele in einem der verwandten Spiele tritt dann der Antichrist auf, verführt viele Menschen u. scheitert beim Versuch der Himmelfahrt. Elias u. Enoch schließen warnend das Spiel ab. Die Performanz des C. W. verbindet mehrere Darstellungs- u. Zeitebenen. Dabei wird der Spielcharakter des Vorgeführten bewusst gemacht. Der Prelocutor besitzt eine doppelte Funktion: Als geistlicher Lehrer wendet er sich an das Publikum, als Spielleiter ruft er Personen zum Auftritt. Die in Szene gesetzten Bilder verschiedener biblisch vorausgesagter, zukünftiger Ereignisse (Vorzeichen

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des Weltendes – das Gericht – die anbrechende Ewigkeit) sind auf die Zuschauer perspektiviert. Im Zuge dieses Verfahrens wirkt die Antichristszene am Schluss konzeptionell durchaus sinnvoll, auch wenn sie von der Chronologie der Letzten Dinge abweicht. Das Churer Spiel endet nicht mit dem Lobpreis der Geretteten, sondern führt die Verblendung durch den Antichrist vor, der den Sündern antithetisch zu dem richtenden Christus Gnade verspricht. Elias u. Enoch übernehmen am Schluss die Rolle des Prelocutors. Sie ermahnen das Volk (»populus«), sich dem rechten Glauben zuzuwenden, Gott zu ehren u. die Gebote zu halten. Als Ziel des Spiels wird für die Zuschauer explizit formuliert: innerer Nachvollzug des vorgeführten Geschehens, reinigende Buße u. Handlungskonsequenzen im Leben. Gerechtigkeit statt Gnade im Jüngsten Gericht ist die zentrale Botschaft dieses wie anderer Weltgerichtsspiele. Sie weisen die Hoffnung auf postmortale Vergebung zurück u. ermahnen zu einem angemessenen Leben mit Selbstreflexion, rechtzeitiger Buße u. Inanspruchnahme der Fürsprache Marias u. anderer Heiliger zu Lebzeiten. Das C. W. repräsentiert eine konzeptionell eigenständige, ästhetisch relativ anspruchsvolle Typvariante in der eschatolog. Subgattung der Geistlichen Spiele. Die Beziehung zum Münchner Weltgerichtsspiel von 1510 mit ähnl. Erweiterungen ist ungeklärt: Vielleicht gehen beide auf eine gemeinsame Vorstufe zurück, oder das überlieferte C. W. basiert auf einem älteren Churer Text, den der Münchner Redaktor benutzt hat. Ausgaben: C. W. Nach der Hs. des Staatsarchivs Graubünden Chur Ms. B 1521. Hg. Ursula Schulze. Bln. 1993. – Die dt. Weltgerichtspiele des späten MA. Synopt. Gesamtausg. Hg. Hansjürgen Linke. 3 Bde., Tüb./Basel 2002. – Teileditionen: 4. Akt bei Ochsenbein 1986 (s. u.), S. 590–603. – 5. Akt bei Georg Jenschke: Untersuchungen zur Stoffgesch., Form u. Funktion mittelalterl. Antichristspiele. Diss. Münster 1971, S. 385–399. Literatur: Rudolf Jenny: Hss. aus Privatbesitz im Staatsarchiv Graubünden. Repertorium mit Regesten. Chur 1974, S. 343–404. – Hellmut Rosenfeld: C. W. In: VL. – Rolf Bergmann: Mittelalterl. geistl. Spiele. In: RL 2. Aufl., Bd. 4, S. 64–100. –

429 Ders.: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986, Nr. 31. – Peter Ochsenbein: Marias Fürbitte im C. W. v. 1517. In: Gesch. u. Kultur Churrätiens. FS Pater Iso Müller OSB. Hg. Ursus Brunold u. Lothar Deplazes. Disentis 1986, S. 583–615. – Bernd Neumann: Geistl. Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterl. religiöser Dramen im dt. Sprachgebiet, Bd. 2, Mchn. 1987, Nr. 3619. – Ursula Schulze: C. W. Einl. zur Ed. (s. o.), S. 9–36. – Hansjürgen Linke: Bündner Teufeleien. In: ZfdA 124 (1995), S. 265–271. – U. Schulze: Geistl. Spiel. In: RLW, Bd. 1, S. 683–688. – Dieter Trauden: Gnade vor Recht? Untersuchungen zu den deutschsprachigen Weltgerichtsspielen des MA. Amsterd./Atlanta 2000, S. 18–23 u. 334–356. – Hildegard Elisabeth Keller: ›losendt obenthv¨ ‹. Weltgerichtsspiele als Aktualisierungsmedien der Zeit. Am Beispiel des ›Berner Weltgerichtsspiels‹ u. ›C. W.‹. In: Ritual u. Inszenierung. Geistl. u. weltl. Drama des MA u. der Frühen Neuzeit. Hg. Hans-Joachim Ziegeler. Tüb. 2004, S. 49–70. – U. Schulze: Zur Typologie der Weltgerichtsspiele im 16. Jh. In: Textsorten u. Textallianzen im 16. bis 18. Jh. Unter Mitarb. v. Claudia Wich-Reif hg. v. Peter Wiesinger. Bln. 2007, S. 237–258. Ursula Schulze

Chytraeus, David, eigentl.: D. Kochhaf(e), * 26.2.1530 Ingelfingen/Kocher, † 25.6. 1600 Rostock. – Lutherischer Theologe u. Historiker. Den Sohn eines der Reformation zuneigenden Pfarrers u. Bruder des Nathan Chytraeus unterrichteten zuerst im Gemmingen Wolfgang Busius u. der Historiker Franciscus Irenicus. Neunjährig bezog C. die Universität Tübingen u. studierte u. a. bei Jakob Schegk, Erhard Schnepf, Jakob Heerbrand u. dem Gräzisten Joachim Camerarius (Magister 1544). Anschließend hörte er in Wittenberg Luther u. Melanchthon. Vom Schmalkaldischen Krieg vorübergehend aus Wittenberg vertrieben, konnte C. dort 1548 seine Lehrtätigkeit mit einer Vorlesung über Melanchthons Loci communes eröffnen. Später las er u. a. über Rhetorik, Geschichte u. Astronomie. 1551 beriefen ihn die Mecklenburger Herzöge an das Pädagogium der Universität Rostock. 1561 erwarb er den theolog. Doktorgrad u. wurde 1563 Rektor der Rostocker Universität, an deren Reform er sich beteiligt hatte. Ehrenvolle Berufungen lehnte er ab,

Chytraeus

wirkte aber beim Aufbau der luth. Landeskirche Mecklenburgs, der Organisation luth. Bildungsstätten u. bei der Agende für die niederösterr. Protestanten mit. Unter dem Einfluss von Tilemann Heshusius wandelte sich C. vom Philippisten (Anhänger Melanchthons) zu einem gemäßigten Gnesiolutheraner. Selbst kein origineller Denker, wurde der Verfasser zahlreicher Lehr- u. Handbücher, der Bibelkommentator u. Autor wissenschaftspropädeut. Schriften eine der maßgebl. Autoritäten des dt. Luthertums. An der Konkordienformel der Lutheraner hatte er großen Anteil. Am nachhaltigsten wirkte er als Geschichtsschreiber. Neben zahlreichen Reden über geschichtl. Gegenstände (hg. v. C.’ gleichnamigem Sohn. Hanau 1615), darunter für die Geschichte der dt. Topografie bedeutende Arbeiten über den Kraichgau (Wittenb. 1561), Rostock u. Schwerin sowie Westfalen (Rostock 1584), veröffentlichte C., unterstützt von zahlreichen Kennern der lokalen Verhältnisse u. Überlieferungen, mehrere große Geschichtswerke. So veranstaltete er die erste große Sammlung von Aktenstücken zur Geschichte der Augsburger Konfession, die er in einer dt. (Ffm. 1576) u. einer erweiterten lat. Darstellung (Ffm. 1578) verarbeitete. Bis ins 19. Jh. las man die Fortsetzung der Geschichte Norddeutschlands von Albert Krantz: Die Vandaliae et Saxoniae Alberti Crantzii continuatio (zuerst Wittenb. 1586) bildete ein norddt. Gegenstück zu den Commentarii des Johannes Sleidanus. Mit seiner oft aufgelegten Rede über den Zustand der christl. Kirchen des Ostens De statu ecclesiarum hoc tempore in Graecia, Asia, Ungeria Boemia [...] (Straßb. 1574), einer Frucht seiner Österreichreisen, prägte C. lange das Bild der Ostkirchen im dt. Protestantismus. Zur Ausbildung der Geschichtswissenschaft als Universitätsdisziplin trugen mehrere hilfswiss. u. methodolog. Schriften über die Chronologie von Herodot u. Thukydides (Rostock 1562) u. über die Einrichtung des Geschichtsstudiums (De lectione historiarum recte instituenda. Rostock 1563 u. ö.) bei. Weitere Werke (kleine Auswahl): Catechesis. Rostock 1554. – Regulae vitae. Wittenb. 1555. – Praecepta rhetoricae inventionis=Vorschr.en der

Chytraeus

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Rhetorik. Wittenb. 1556 (zus. mit einer Leichenrede auf Herzog Heinrich V. v. Mecklenburg u. Lobreden auf die Städte Schwerin u. Rostock neu hg. mit Einl., Text u. Übers. v. Nikolaus Thurn u. a. Rostock 2000). – Onomasticon theologicum. Wittenb. 1557. – Oratio de Studio Theologiae recte inchoando. Wittenb. 1560. Ausgaben: Kraichgau / De Creichgoia (Wittenb. 1561). Neudr. mit Übers. u. Nachw. hg. v. Reinhard Düchting u. Boris Körkel. Ubstadt-Weiher 1999. – Praecepta rhetoricae inventionis / Vorschr.en der Rhetorik. Einl., Text u. Übers. hg. v. Nikolaus Thurn. Rostock 2000. Literatur: Bibliografie: Index Aureliensis. – VD 16. – Klatt 1911. – Weitere Titel: Otto Krabbe: D. C. Rostock 1870. – Detloff Klatt: C. als Geschichtslehrer u. Geschichtsschreiber. In: Beitr. zur Gesch. der Stadt Rostock 5 (1911), S. 1–202 (mit Bibliogr.). – Walter Thüringer: D. C. In: Kraichgau, F. 6 (1979), S. 161–173 (Lit.). – Peter F. Barton: C. In: TRE (Lit.). – Rudolf Keller: Die Confessio Augustana im theolog. Wirken des Rostocker Professors D. C. (1530–1600). Gött. 1997 (Lit.). – Karl Heinz Glaser u. Steffen Huth (Hg.): D. C. Norddt. Humanismus in Europa, zum 400. Todestag des Kraichgauer Gelehrten. Ubstadt-Weiher 2000. – Daniel Benga: D. C. (1530–1600) als Erforscher u. Wiederentdecker der Ostkirchen. Seine Beziehungen zu orthodoxen Theologen, seine Erforsch.en der Ostkirchen u. seine ostkirchl. Kenntnisse. Wettenberg 2006 (Lit.). – Harald Bollbuck: Geschichts- u. Raummodelle bei Albert Krantz (um 1448–1517) u. D. C. (1530–1600). Ffm. 2006 (Lit.). Hermann Wiegand

Chytraeus, Nathan, eigentl.: N. Kochhaf(e), * 15.3.1543 Menzingen, † 25.2. 1598 Bremen. – Rektor; neulateinischer Lyriker u. Gelehrter. C. besuchte 1553 die Sturmsche Schule in Straßburg, 1555 folgte er seinem Bruder David nach Rostock; danach wechselte er nach Tübingen. 1564 wurde er Professor der lat. Sprache in Rostock. 1565–1567 führte ihn eine peregrinatio academica durch die Niederlande, Frankreich, England, Italien u. die Schweiz. Nach einem Aufenthalt bei Georg Fabricius in Meißen wurde er an Bocers Stelle Professor der Poesie u. 1580 Rektor der Stadtschule in Rostock. Der Ausschluss von der Abendmahlgemeinschaft wegen angeblicher kryptocalvinist. Neigungen, gegen den er sich in einem Christlichen und richtigen

Glaubensbekendnüs (Rostock 1592) erfolglos wehrte, ließ ihn eine Berufung auf das Rektorat des Bremer Gymnasiums annehmen, in das ihn Christoph Petzel am 15.10.1593 einführte. C.’ Dichtung überragt an Quantität u. Bedeutung die der meisten dt. Neulateiner der Generation nach Petrus Lotichius Secundus. Neben zahlreichen panegyr. Gedichten auf Angehörige des Mecklenburger Herzogshauses finden sich in der Sammelausgabe der Poematum praeter sacra omnium libri XVII (Rostock 1579), der zahlreiche Einzeldrucke (zuerst Rostock 1557) vorangegangen waren, Reisegedichte in der Tradition des Georg Fabricius, Elegien auf Freunde u. Universitätskollegen, Hochzeitsgedichte, erste Teile einer später wiederaufgenommenen Weltschau (Cosmoscopiae Christianae librorum VI Gustus. Bremen 1593) u. moralsatir. Epigramme. Von hohem kulturgeschichtl. Wert ist C.’ Versuch, in der Nachfolge von Ovids Fasten u. als Gegenstück zu kath. poet. Heiligenkalendern des MA einen Festkalender der protestant. Kirche zu geben (Fastorum ecclesiae Christianae libri XII. Hanau 1594. Zuerst sechs Bücher: Rostock 1578), in dem nicht nur der Geburtsu. Todestage Melanchthons u. Luthers, sondern auch des von C. als »Deutscher Horaz« gefeierten Celtis gedacht wird. Wichtig ist eine zuerst 1578 in Rostock erschienene Satire gegen die Pest (Contra pestem epistola satyrica. Zweisprachige Ausg. mit Komm. in: HL, S. 693–705, 1356–1364). C.’ lat. religiöse Gedichte inspirierten noch Paul Gerhardt. Seine dt. Kirchenlieder dagegen wurden bald vergessen. C. war ein bedeutender Vermittler u. Kommentator nlat. u. ital. Literatur in Deutschland, so für die poet. Psalmparaphrasen des Schotten George Buchanan (Herborn 1586) u. den Galateo des Giovanni della Casa, von dem er dt. u. lat. Ausgaben besorgte (zuerst lat. Ffm. 1579. Neudr. der dt. Übers. Das Büchlein von erbarn, höflichen und holdseligen Sitten, hg. v. Klaus Ley. Tüb. 1984). Fabeln Luthers, Johannes Mathesius’, Äsops u. anderer vereinigte C. in seinen Hundert Fabeln aus Esopo (Rostock 1571 u. ö.). Als Vorgänger der Polyhistoren des 17. Jh. erweist er sich in Werken zur Lexikografie

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(Nomenclator Latinosaxonicus. Rostock 1582 u. ö. Neudr., hg. v. Gilbert de Smet. Hildesh. 1974), zur nlat. Reisedichtung (Hodoeporica sive Itineraria. Ffm. 1575. Mit frz. Übers. u. Komm. hg. v. Michel Bastiaensen. Brüssel 1994) sowie einer groß angelegten Sammlung von Inschriften, deren Grundstock er während seiner Europareise gelegt hatte (Variorum in Europa itinerum deliciae collectae. Zuerst Herborn 1594). Zahlreiche autobiogr. Mitteilungen bietet das Viaticum itineris extremi (o. O. 1594). Weitere Werke: (Auswahl): Imaginum et meditationum sacrarum libri III. Rostock 1573. – Libellus de religione et sacrificiis idolatricis veterum Borussorum. Rostock 1573. – Ludi litterarii ab amplissimo senatu Rostochiensi [...] nuper aperti Sciographia. Rostock 1580. Neudr., hg. v. Gustav Timm, in: Programm des Gymnasiums u. der Realschule Rostock 1888. – Creutz u. Trostbüchlein. Görlitz o. J. – Gallina glocciens, Christo salvatori comparata. Rostock 1587. – Colloquiorum [...] libellus. Henricopolis 1596. – Zahlreiche Gedichte in: Janus Gruterus (Hg.): Delitiae poetarum Germanorum. Bd. 2, Ffm. 1612, S. 284–411 (auch in: CAMENA). Literatur: Bibliografien: VD 16. – Index Aureliensis. – Weitere Titel: Gunter Heidorn u. a.: Gesch. der Univ. Rostock 1419–1969. Rostock 1969. – Hermann Wiegand: Hodoeporica. Baden-Baden 1984. – Michel Bastiaensen: Les Pays-bas méridionaux dans la relation versifiée de N. C. In: Latomus 46 (1987), S. 432–442. – Thomas Elsmann (Hg.): N. C. 1543–98. Ein Humanist in Rostock u. Bremen. Bremen 1991 (mit Primärbibliogr.). – Karl-Heinz Glaser, Hanno Lietz u. Stephan Rhein (Hg.): David u. N. C. Humanismus im konfessionellen Zeitalter. Ubstadt-Weier 1993. – Timothy Sodmann: Der alte Todtentantz Sächsisch, N. C. 1597. In: Der Totentanz der Marienkirche in Lübeck u. der Nikolaikirche in Reval (Tallinn). Hg. Hartmut Freytag. Köln u. a. 1993. – Christina Prowatke: Seid den Sprachen günstig! N. C.’ Verdienste um die niederdt. Sprache. In: Mecklenburg. Jbb. 109 (1993), S. 85–94. – Sabine Pettke (Hg.): N. C. Quellen zur zweiten Reformation in Norddtschld. Köln 1994. – Paul Gerhard Schmidt: Transformation u. Substitution v. Ovids Fasten im 16. u. 17. Jh. In: Acta Conventus Neo-Latini Hafniensis. Proceedings of the 8th International Congress of Neo-Latin Studies. Hg. Rhoda Schnur. Binghamton 1994, S. 113–120. – Michel Bastiaensen: N. C. (1543–98): Voyages en Europe (Hodoeporica). Poèmes latins de la Renaissance. Brüssel 1994. – Thomas Fuchs: N. C.

Cibulka (1543–98). Zum 450. Geburtstag eines Kraichgauer Humanisten. In: Bad. Heimat 74 (1994), S. 113–120. – Thomas Elsmann: N. C.’ Hodoeporicon itineris dantiscani (1590). In: Mecklenburg. Jbb. 111 (1996), S. 101–114. – HL, S. 693–705 (Text u. Übers.), S. 1356–1364 (Bio-Bibliogr., Komm.). – William Jervis Jones: German lexicography in the European context. A descriptive bibliography of printed dictionaries and word lists containing German language (1600–1700). Bln./New York 2000, S. 176–181, Nr. 295–305. – Walther Ludwig: Leges convivales bei N. C. u. Paulus Collinus u. andere Trinksitten des 16. Jh. In: Ders.: Miscella Neolatina. Ausgew. Aufsätze 1989–2003. Bd. 1, Hildesh. u. a. 2004, S. 77–95 (zuerst 2001). – Flood, Poets Laureate, Bd. 1, S. 317–319. Hermann Wiegand

Cibulka, Hanns, * 20.9.1921 Jägerndorf/ Tschechoslowakei (heute: Krnov/Tschechische Republik), † 20.6.2004 Gotha. – Lyriker, Tagebuchautor, Erzähler. C. war Soldat im Zweiten Weltkrieg, legte nach seiner Rückkehr aus ital. Kriegsgefangenschaft das Bibliothekarsexamen ab u. leitete von 1953 bis zu seiner Pensionierung Mitte der 1980er Jahre die Stadt- u. Kreisbibliothek in Gotha. Ausgangspunkt von C.s Schreiben ist, wie er selbst sagte, das »Kraftfeld eigener Erlebnisse«. Dieser subjektive Ansatz bleibt jedoch nicht in der Aufzeichnung zufällig-privater Begebenheiten stecken, sondern zielt darauf ab, individuelle Lebenserfahrung weltanschaulich einzuordnen u. in poet. Bildern darzustellen. Die Gedichte in C.s Lyrikbänden haben gemeinsame Wurzeln im Erlebnis der Landschaft u. persönlicher Erinnerung. Neben Lyrik verfasste C. v. a. Tagebücher u. tagebuchähnl. Notizen. Die Texte entwickelten sich dabei von echten Aufzeichnungen (Sizilianisches Tagebuch. Halle 1960. Umbrische Tage. Halle 1963. Neu hg. v. Günter Gerstmann in: Jedes Wort ein Flügelschlag. Radebeul 2005) zu kompliziert strukturierten u. schließlich in Swantow. Die Aufzeichnungen des Andreas Fleming (Halle 1982, ersch. mit zensurbedingter Verzögerung. 41989) zu einem fiktiven Diarium. Gegenstände sind die Kriegserlebnisse in Italien, die Vertreibung der Familie aus dem Sudentenland, die nicht

C¸ırak

zufriedenstellende Entwicklung des DDRSozialismus, das befürchtete globale Debakel. C. erhielt für seine Werke mehrere Preise, so den Louis-Fürnberg-Preis (1973), den Andreas-Gryphius-Preis (1995), den Brandenburgischen Literaturpreis Umwelt u. den Erwin-Strittmatter-Preis (beide 2000). Weitere Werke: Märzlicht. Halle 1954 (L.). – Arioso. Halle 1962 (L.). – Windrose. Halle 1968 (L.). – Sanddornzeit. Halle 1971 (Tagebuchbl.). – Dornburger Bl. Halle 1972 (Briefe u. Aufzeichnungen). – Lichtschwalben. Halle 1973 (L.). – Lebensbaum. Halle 1977. Neu hg. v. Günter Gerstmann in: Jedes Wort ein Flügelschlag. Radebeul 2005 (L.). – Seedorn. Halle 1985 (Tgb.-E.en). – Losgesprochen. Gedichte aus drei Jahrhunderten. Lpz. 1986. – Nachtwache. Tgb. aus dem Kriege Sizilien 1943. Halle 1989. – Dornburger Blätter. Briefe u. Aufzeichnungen. Bln. 1992. – Thüringer Tagebücher. Lpz. 1993. – Am Brückenwehr. Zwischen Kindheit u. Wende. Lpz. 1994. – Die Heimkehr der verratenen Söhne. Lpz. 1996 (Tgb.-E.en). – Tgb. einer späten Liebe. Lpz. 1998. – Sonnenflecken über Pisa. Lpz. 2000 (R.). – Späte Jahre. Tagebuchaufzeichnungen. Lpz. 2004. Literatur: Wolfgang Ertl: ›Des Wortes sichere Küste‹. Zu H. C.s Lyrik. In: DDR-Lyrik im Kontext. Hg. Christine Cosentino. Amsterd. 1988, S. 273–295. – Gerhard Wolf: Losgesprochen v. der Natur. Zu den Gedichten v. H. C. In: Wortlaut, Wortbruch, Wortlust. Hg. ders. Lpz. 1988, S. 255–272. – Günter Wirth: Heimat in dreifach gebrochener Perspektive: Böhmen – DDR – Dtschld. Zur Rolle der Vertriebenen in der DDR-Lit. am Beispiel v. H. C. In: Böhmen. Hg. Frank-Lothar Kroll. Bln. 2000, S. 151–165. – Martin Jankowski: H. C. In: LGL. – Ulf Heise: H. C. In: KLG. Sylvia Adrian / Red.

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gen Walter; das Künstlerpaar tritt mit audiovisuellen Performances auf, bei denen C¸. ihre Gedichte zu Colourslides von Walters Plastiken u. Collagen liest. Thema ihrer künstler. Zusammenarbeit ist das Fliegen als Menschheitstraum: Es steht bei C¸. als Chiffre für die Befreiung aus festgefahrenen Identitätszuweisungen. Ihre »Porträts« von Männern u. (bes. dt.-türk.) Frauen im Band Fremde Flügel auf eigener Schulter (Köln 1994) sind vielschichtig u. subversiv. Ironisch unterläuft C¸. die Erwartungen an bekannte Muster. Bemerkenswert ist ihre lyrische Sprache, die sich durch einen originellen, höchst kreativen Gebrauch des Deutschen auszeichnet: Unzählige Wortneuschöpfungen u. humorvolliron. Brechungen rücken die dt.-türk. Lyrikerin, die sich hintersinnig als »Dramatürkin« inszeniert, in die Nähe von Ernst Jandl. Ihr Gedicht Ichden Duden (1991), eine sprachlich raffinierte Reflexion der dt. Sprache, wurde in zahlreiche Anthologien, u. a. auch in Karl Otto Conradys Großes deutsches Gedichtbuch aufgenommen. Neben Zafer S¸enocak u. José F. A. Oliver zählt sie zu den wichtigsten Lyrikern der in Deutschland aufgewachsenen Einwanderergeneration. Weitere Werke: Vogel auf dem Rücken eines Elefanten. Köln 1991. – Leibesübungen. Köln 2000. Literatur: Heidi Rösch: Interkulturell unterrichten mit Gedichten. Zur Didaktik der Migrationslyrik. Ffm. 1995, S. 58–60 u. 64–67. – Kadriye Öztürk: Orte u. Sprachen der Erinnerung in der dt.türk. Migrantenlit. – am Beispiel v. Z. C¸.s Gedichten. In: Die andere dt. Lit. Hg. M. Durzak u. N. Kuruyazıcı. Würzb. 2004, S. 154–161. – K. E. Yes¸ilada: Poesie der Dritten Sprache (in Vorb.). Karin E. Yes¸ ilada

C¸ırak, Zehra, * 26.11.1960 Istanbul/Türkei. – Lyrikerin. C¸. kam 1963 nach Deutschland u. wuchs in Karlsruhe auf, zog 1982 nach Berlin, wo sie als Kosmetikerin arbeitet. Seit 1983 erschienen Gedichte u. kurze Prosatexte in Anthologien u. Zeitschriften. C¸. erhielt mehrere Arbeitsstipendien, den Adelbert-von-Chamisso-Preis (Förderpreis 1989, Hauptpreis 2001) sowie den Friedrich-Hölderlin-Preis (1993). Bereits ihr erster Gedichtband Flugfänger (Karlsr. 1987) enthält Illustrationen von Jür-

Cisek, Oscar Walter, * 6.12.1897 Bukarest, † 30.5.1966 Bukarest; Grabstätte: ebd., Evangelischer Friedhof. – Verfasser von Erzählungen, Romanen, Gedichten u. Essays. Väterlicherseits entstammte C. einer zwei Generationen zuvor aus Böhmen eingewanderten Kaufmannsfamilie, die es in Bukarest zu bürgerl. Wohlstand gebracht hatte. Die Familie der Mutter war in Crossen/Oder beheimatet. Nach dem Besuch der dt. Evange-

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lischen Schule in Bukarest studierte C. Germanistik u. Kunstgeschichte in München. Seit 1923 wirkte er in Bukarest als Kunstkritiker für namhafte rumän. Zeitschriften. Er trat 1930 in den diplomat. Dienst der rumän. Monarchie ein u. war bis 1940 als Presse- bzw. Kulturrat in Wien, Prag, Berlin u. 1946/47 als Generalkonsul in Bern tätig. Nach dem Sturz der Monarchie kam C. ins Gefängnis, wurde rehabilitiert u. lebte als Schriftsteller in Bukarest. Kurz vor seinem Tod erhielt er den Ion-Creanga-Preis der Rumänischen Akademie. C. war korrespondierendes Mitgl. der Deutschen Akademie der Künste Berlin/DDR. In Samuel Fischers »Neuer Rundschau« erschien 1927 Die Tatarin (Hbg. 1929. Bln./ Weimar 1974), die Geschichte eines Emanzipationsversuchs. In einfacher, präziser Sprache schildert C. das bittere Schicksal der jungen Muhibe, die, von ihrem Mann verlassen, in der Männerwelt des damals noch islamisch geprägten Hafenstädtchens Balcic ums Überleben kämpfen muss. Sie verliert ihre schwer erkämpfte Selbständigkeit, als sich der Ehemann nach langer Abwesenheit wie selbstverständlich wieder einfindet. Um ihrer Selbstachtung willen verlässt sie aber noch in derselben Nacht mit ihrer kleinen Tochter den Ort, um sich fortan als Tagelöhnerin bei einem bulgar. Bauern zu verdingen, der ihre Lage ausnutzt u. sie zu seiner Geliebten macht. Die Tatarin gehört zum Besten, was C. geschrieben hat. Aber auch seine anderen Erzählungen, in denen er die Exotik der Bukarester Vorstädte, die trüger. Idylle ungarischer Provinzstädtchen in Siebenbürgen u. die Welt der jüd. Kaufmannsviertel in den Hafenstädten der unteren Donau beschreibt, eignen sich dazu, ihn aus heutiger Sicht neu zu erschließen. Die großen Romane: Der Strom ohne Ende (Bln. 1937. Ffm. 1981), der das Leben der Störfischer im Donaudelta beschreibt, u. Vor den Toren (Ffm. 1950), der das Leben rumänischer Bauern in seiner archaischen Zeitlosigkeit einfängt, fanden die Anerkennung beispielsweise Oskar Loerkes u. Peter Härtlings. Der myth. Realismus seiner beiden Romanepen, weit entfernt von aller heimattümelnden »Blut- u. Boden«-Mystik, stellt C. zum einen an die Seite der »großen

Cisek

Vertreter des Landschafts- und Siedlungsromans in der Weltliteratur, eines Alexis Kiwi und Wladislaw Reymont, eines Laxness, Ramuz und Jean Giono« (Alfred Kittner), zum anderen reiht er ihn ein in die typisch rumän. Tradition einer Weltanschauung ohne Sinn für Geschichte. Mit dem zweibändigen Romanfresko Das Reisigfeuer (Bukarest 1960 u. 1963), das ganz im Sinne des Sozialistischen Realismus den Aufstand der rumän. Bauern u. Bergleute von 1784 beschreibt, fand C. als einziger rumäniendt. Autor der Gegenwart Eingang in die rumän. Literaturgeschichtsschreibung. Zgl. erfuhr sein episches Œuvre im Rahmen der Regionalismusdebatte in der Bundesrepublik Deutschland neue Beachtung; wie Norbert Mecklenburg urteilt, darf es als »einziges in der deutschsprachigen Literatur des Auslands den Anspruch erheben, in den Kanon großer deutscher Erzählkunst des 20. Jahrhunderts aufgenommen zu werden.« Weitere Werke: Unbequeme Liebe. Hbg. 1932 (R.). – Die andere Stimme. Dresden 1934 (L.). – Gedichte. Eine Ausw. Nachw. v. Alfred Kittner. Bukarest 1972 (L.). – Im Verweilen vor Goethes Gesichtsmaske. Bukarest 1972 (Ess.). – Das entfallene Gesicht. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Peter Motzan. Mchn. 2002 (E.en). Literatur: Oskar Loerke: Der Strom ohne Ende. In: Die neue Rundschau 4 (1937), S.437- 447. – Dieter Schlesak: Versuch über O. W. C.s Roman ›Vor den Toren‹. In: Neue Lit. (1965), H. 6, S. 121–128. – Alfred Kittner: O. W. C. – Eine Dokumentation. In: O. W. C.: Die Tatarin. Bukarest 1971, S. 271–287. – Michael Markel: O. W. C. – Das Opfer. In: Interpr.en dt. u. rumäniendt. Lyrik. Klausenburg 1971, S. 291–295. – Joachim Wittstock: Distanz u. Bindung. O. W. C., Erwin Wittstock – Beziehungen, Gegensätze. In: Neue Lit. (1972), H. 3, S. 41–45. – Gertrud Chirit¸ a˘ : Structura fonica˘ a prozei lui O. W. C. Diss. Bukarest 1977. – Emmerich Reichrath (Hg.): Reflexe. Krit. Beiträge zur rumäniendt. Gegenwartslit. Bukarest 1977, S. 99–122. – Heinrich Stiehler: Paul Celan, O. W. C. u. die deutschsprachige Gegenwartslit. Rumäniens. Ffm./Bern/Cirencester 1979. – Peter Motzan: Ein Einzelgänger: Der Lyriker O. W. C. In: Ders.: Lesezeichen. Klausenburg 1986, S. 7–30. – Roxana Nubert: O. W. C. als Mittler zwischen dt. u. rumän. Kultur. Regensb. 1994. – P. Motzan: Identität als Vielfalt. Versuch über O. W. C. (1897–1966). In: Südostdt. Vierteljahresbl. 48 (1999), S. 131–143. –

Cisner(us) Ders.: Expressionist. Synkretismus: O. W. C.s unveröffentlichter Roman ›Vermenschung‹ (1920/21). In: Brücken schlagen. Hg. Anton Schwob. Mchn. 2004, S. 285–301. – Monica Wikete: O. W. C. u. Goethe. In: Südostdt. Vierteljahresbl. 53 (2004), 2, S. 99–108. Klaus Hensel / Red.

Cisner(us), Kistner, Nikolaus, * 31.3.1529 Mosbach, † 6.3.1583 Heidelberg. – Rechtsgelehrter, Historiker u. neulateinischer Lyriker.

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Gelehrsamkeit u. Lauterkeit (Posthius u. Schede anagrammatisieren C.s Namen zu »sincerus«) des Pfälzer Gelehrten. Literatur: VD 16 (Bibliogr.). – Roderich v. Stintzing: C. In: ADB. – Ellinger 2. – Renate Neumüllers-Klauser: Die Inschr.en der Stadt u. des Landkreises Heidelb. Stgt. 1970, S. 212 f., Nr. 364. – Günther Dickel: N. Kistner. In: NDB. – Bibliotheca Palatina. Heidelb. 1986 (Kat.). – Hermann Wiegand: N. Kistner aus Mosbach u. der kurpfälz. Humanismus. In: Ders.: Der zweigipflige Musenberg. Studien zum Humanismus in der Kurpfalz. Ubstadt-Weiher 2000, S. 103–126 (Lit.). – Dagmar Drüll: Heidelberger Gelehrtenlexikon 1386–1651. Bln. u. a. 2002, S. 76 f. (Lit.). – Kurt Schneider: Der kurpfälz. Humanist N. Kistner aus Mosbach über Konradin v. Hohenstaufen. In: Strenae Nataliciae. Nlat. Studien Wilhelm Kühlmann zum 60. Geburtstag. Hg. H. Wiegand. Heidelb. 2006, S. 193–202.

C. studierte nach Schulbesuch in Heidelberg auf der dortigen Universität ab 1544 die Artes liberales u. alte Sprachen (Magister 1547) u. kehrte 1552 nach Studienaufenthalten in Straßburg (um Martin Bucer) u. Wittenberg (um Melanchthon) nach Heidelberg als Professor der Ethik zurück; dann studierte er die Reinhard Düchting / Hermann Wiegand Rechte im humanist. Bourges u. in Italien (14.3.1559 Dr. jur. Pisa) u. lehrte seit 1559 Jus (bis 1561 über die Pandekten, 1561–66 Co- Claes, Astrid, eigentl.: A. Gehlhoff-C., dex) in Heidelberg, wurde Beisitzer (Assessor) * 7.1.1928 Leverkusen. – Lyrikerin, Eram Reichskammergericht in Speyer zählerin, Übersetzerin. (1567–1580), kurfürstl. Ratgeber u. Vizehof- Die Tochter des Oberbürgermeisters von Lerichter, Stifter eines »stipendium Cisneria- verkusen wuchs in Köln auf, nachdem ihr num«. Als Reichsgerichtsassessor bemühte er Vater von den Nationalsozialisten abgesetzt sich intensiv um eine Reform des Gerichts u. worden war. Ihr Studium in Köln u. London verfasste eine Cammergerichts-Ordnung (1580). schloss C. mit einer Dissertation über Den lyNeben seinen professionellen Studien u. rischen Sprachstil Gottfried Benns (Köln 1956. Commentarii zu den röm. Institutionen u. Düsseld. 2003) ab. Gottfried Benn ermutigte Pandekten erschienen postum Opuscula histo- u. förderte sie. C. veröffentlichte erste Gerica et politico-philologa (Ffm. 1611), kleine dichte in den Zeitschriften »Akzente« u. Schriften zur dt. Kaisergeschichte – gedacht »Merkur«. 1957/58 erhielt sie ein Stipendium bes. zur Verherrlichung des pfälz. Hauses u. der DFG für eine wiss. Arbeit über Else Lasseiner Ahnen (über Otto III., Friedrich II. u. ker-Schüler, deren Briefe an Karl Kraus sie Konradin). Von literar. Interesse sind u. a. ein 1959 herausgab. 1975 gründete sie den VerHymnus De die natali Jesu Christi, De veris et ein »Mit Worten unterwegs – Schriftsteller autumni comparatione, die von Caspar Scheidt arbeiten mit Inhaftierten« u. ist seitdem ehins Deutsche übertragen wurde, ein Gedicht renamtl. Betreuerin u. Lektorin von Gefanauf die »Göttin Gelegenheit« (»Occasio«) ein genen. Der Roman Abschied von der Macht Epithalamium auf die Hochzeit des David (Krefeld 1987) spiegelt ihre Erfahrungen wiChytraeus u. eine Gedenkschrift auf Kurfürst der. Friedrich III. (Heidelb. 1576). C. übersetzte auch Lyrik aus dem EngliMehr noch als das nur mehr literarisch er- schen, u. a. Werke von Wystan Hugh Auden, haltene Epitaph in Heidelberg preisen die James Joyce u. Henry James. Elogien von Johannes Posthius, Paulus MeWeitere Werke: Der Mannequin. Wiesb. 1956 lissus Schede u. a., welche Nicolaus Reusner (L.). – Meine Stimme, mein Schiff. Köln/Bln. 1962 seinen Icones sive Imagines virorum literis illu- (L.). – Didos Tod. Köln/Bln. 1964 (Schausp.). – strium (Straßb. 1587. Neudr. hg. v. Manfred Erdbeereis. Düsseld. 1980 (E.en). – Gegen Abend Lemmer. Lpz./Gütersloh 1973) beigab, die ein Orangenbaum. Düsseld. 1983 (L.). – Nachruf

435 auf einen Papagei. Krefeld 1989 (E.en). – Inseln der Erinnerung. Düsseld. 2002 (E.en). Ausgabe: Abrahams Opfer. Didos Tod. 2 Dramen. Düsseld. 2004. Maria Frisé

Clajus, Clai, Clay, Klaj, Johann, * 24.6.1535 Herzberg a. d. Elster/Sachsen, † 11.4.1592 Bendeleben/Thüringen. – Lehrer, Theologe, Dichter u. Grammatiker. Nach Besuch der Fürstenschule in Grimma (1550) u. Studien in Leipzig, die unter Joachim Camerarius bes. dem Griechischen galten (1555), wirkte C. auf Empfehlung Melanchthons als Schullehrer in Herzberg (1558), dann im schles. Goldberg (1559) u. Frankenstein (1569). Darauf studierte er in Wittenberg Theologie (Magister 1570), lebte als Schulrektor in Nordhausen (1570) u. seit 1572 als Pfarrer in Bendeleben (bei Frankenhausen). C. wurde zeitweilig von Graf Johann von Hardeck unterstützt u. unterhielt Beziehungen zu dem Schulhumanisten Michael Neander (Ilfeld). Sein umfangreiches dichter. Werk ist hauptsächlich lateinisch abgefasst, doch bediente sich C. auch der griech., hebr. u. dt. Sprache. Carmina sacra (Görlitz 1568), Hieropoedia (Lpz. 1587) u. weitere Dichtungen dienten lutherisch-religiösen Zielsetzungen. Unter den sehr wenigen deutschsprachigen Werken ragt die Altkumistica (Lpz. 1586 u. ö.) hervor, eine Reimpaarsatire wider die paracelsist. Transmutationsalchemie, der zwei anonyme Autoren (Colloquium Philosophicum. Von der waren Chimia, Sapientia, vnd Natura rerum. Köln o. J. Corrector fatuorum, Straffe der Thoren. o. O. 1589) u. Alexander Lauterwald (Widerlegung Der Altkuhmisterey. o. O. u. J.) dt. Lehrdichtungen entgegensetzten. C. lebt in der neueren Historiografie hauptsächlich als Grammatiker fort, der sich zus. mit Albert Ölinger u. Lorenz Albertus (Albrecht) um eine eigenständige dt. Grammatik Verdienste erwarb. C.’ Grammatica germanicae linguae [...] ex bibliis Lutheri germanicis et aliis eius libris collecta (Lpz. 1578 u. ö.) hinterließ Spuren im Werk von Stephan Ritter, Wolfgang Ratke, Christian Gueintz oder Justus Georg Schottelius u. ging teilweise in den Thesaurus fundamentalis quinque linguarum des

Clajus

Johann Angelus a Sumaran (Ingolst. 1626) ein. Zum einen lehrt das für die Frühgeschichte des Deutschunterrichts belangvolle Werk auf der Grundlage der Lutherbibel von 1545 die unbedingte Vorbildlichkeit der Sprache Luthers, wobei C. unter Einfluss der Grammatica Latina Melanchthons Einsichten formulierte, die »dauernd oder eine Zeitlang für die deutsche Grammatik typisch geworden« sind (Jellinek). Zum anderen fand C. mit Blick auf Luthers Liederdichtung u. unter Assimilation des antiken Skansionsbegriffs zu der metrikgeschichtlich bedeutsamen Regel, nach der man in der deutschsprachigen Dichtung die gewöhnl. Aussprache berücksichtigen u. beachten solle, sodass sich z.B. Jamben u. Trochäen nach dem natürl. Wortakzent bestimmten; in der Nachfolge Paul Rebhuns vertrat C. damit prosod. Lehren, denen erst das opitzianische Regelprogramm zu allgemeiner Anerkennung verhalf. Weitere Werke: De origine [...] scholae Goldbergensis. Görlitz 1563. – Precationes. Wittenb. 1568 u. ö. – Varia carmina. Görlitz 1568. – Epithalamia honoris causa [...] Paulo Ebero. Wittenb. 1570. – Graecorum poematum libri IV. Wittenb. 1570. – Prosodiae libri tres de cognoscenda syllabarum quantitate et carminum ratione apud Latinos, Graecos et Hebracos. Wittenb. 1576 u. ö. – Elementa linguae hebraeae. Wittenb. 1577. – Grammaticae graecae erotemata. Lpz. 1580. – Epicedia (auf den Tod v. Kurfürst August). Lpz. 1587. Ausgaben: Die dt. Grammatik des J. C. Nach dem ältesten Druck v. 1578 mit den Varianten der übrigen Ausg.n hg. v. Friedrich Weidling. Straßb. 1894. – Grammatica Germanicae Lingvae. Lpz. 1578. Nachdr. Hildesh./New York 1973. Literatur: Ernst Höpfner: Reformbestrebungen auf dem Gebiet der dt. Dichtung des 16. u. 17. Jh. In: K. Wilhelms-Gymnasium in Bln. Jahresber. 6 (1866), S. 3–45. – Theodor Perschmann: J. C. des Aelteren Leben u. Schr.en. FS Gymnasium Nordhausen 1874 (mit Bibliogr.). – J.C. Eckstein: C. In: ADB. – Max Hermann Jellinek: Gesch. der nhd. Grammatik v. den Anfängen bis auf Adelung. 2 Bde., Heidelb. 1913/14, hier Bd. 1, S. 44–48, 73–80. – Georg Baesecke: Zur Metrik des 16. u. 17. Jh. In: Euph. 13 (1916), S. 435–445. – Ellinger 2, S. 258 f. – Otto Basler: C. In: NDB. – Kosch, Bd. 2 (1969), Sp. 638 f. – Christian Wagenknecht: Weckherlin u. Opitz. Zur Metrik der dt. Renaissancepoesie. Mchn. 1971 (mit Textprobe aus der

Clapis ›Grammatica‹). – Gerald Höfer, Petra Lange u. Andreas Schaller: FS zum 400. Todestag des Theologen, Wissenschaftlers u. Pädagogen Magister J. C. d.Ä. Sondershausen/Bendeleben 1992. – Melanchthons Briefw. Bd. 11: Personen A-E. Bearb. v. Heinz Scheible u. a. Stgt.-Bad Cannstatt 2003, S. 288. Joachim Telle

Clapis, Petrus Antonius de, auch: P. A. Finariensis, * um 1440 Finale/Italien, † 14.5.1512 Köln. – Humanist; Verfasser staatstheoretischer Traktate.

436 7057). Internet-Ed.: http://diglib.hab.de/inkunabeln/53-quod-14/start.htm. Literatur: Gerhard Ritter: P. A. Finariensis. In: AKG 26 (1936), S. 89–103. – Guido Kisch: Petrus Antonius Finariensis’ Lobrede auf Basel. In: Ders.: Gestalten u. Probleme des Humanismus u. Jurisprudenz. Bln. 1969, S. 243–279. – Veit Probst: P. A. C. (ca. 1440–1512). Ein ital. Humanist im Dienste Friedrich des Siegreichen v. der Pfalz. Paderb. u. a. 1989 (mit krit. Ed. der Fürstenspiegel u. der Briefe). – DBA 191,364. – Gerhard Fouquet: Mit dem Blick des Fremden. Stadt u. Urbanität in der Wahrnehmung spätmittelalterl. Reise- u. Stadtbeschreibungen. In: Bild u. Wahrnehmung der Stadt. Hg. Ferdinand Opll. Linz 2004, S. 45–65. Veit Probst / Red.

Nach Lehrtätigkeiten an den Universitäten Dole u. Basel sowie der Promotion zum Dr. legum gehörte der ehemalige Schüler des Mario Filelfo seit 1465 zum Kreis humanisClapmarius, Arnold, auch: Clapmar, Clatisch interessierter Gelehrter (Matthias von pmaier, * 1574 Bremen, † 1.6.1604 Kemnat, Jodocus Eichmann u. a.) am pfalzNürnberg. – Reformierter Jurist u. Hisgräfl. Hof in Heidelberg. Ab 1469 war er als toriker. Gesandter dt. Fürsten an der röm. Kurie u. als Vertreter päpstlicher Interessen in Deutsch- C., der Sohn eines Bremer Advokaten, beland tätig. Etwa 1476 zum Priester geweiht, suchte das städt. Gymnasium u. studierte ab erhielt C. zahlreiche Pfründe in Speyer, 1591 in Helmstedt, Heidelberg u. Marburg Worms, Mainz u. Köln. Jurisprudenz, Geschichte u. Politik. Nach eiDie drei staatstheoret. Traktate C.’ zählen ner Reise nach England u. Leiden wurde er zu den frühesten humanist. Fürstenspiegeln Erzieher im Hause des braunschweig. Kanzin Deutschland. Der Friedrich dem Siegrei- lers Eberhard von Weihe. 1600 empfahl ihn chen zugeeignete Dialog De dignitate principum der hess. Landgraf Moritz der Gelehrte als (1464. Hg. Marquard Freher. Heidelb. 1602) Nachfolger von Christophorus Coler in Altbehandelt ein zentrales Thema der humanist. dorf, wo er den Lehrstuhl für Geschichte u. Ethik: die Legitimation des Fürsten allein Politik erhielt. Er starb aber nach vier Jahren durch Tüchtigkeit (»virtus«). In seinem Karl u. konnte nur einige akadem. Disputationen dem Kühnen gewidmeten Traktat De prin- veröffentlichen, darunter die Disputatio de iure cipatus conservacione (1466) untersucht C. die publico (Nürnb. 1602. Amsterd. 51644. InterRegierungskunst im Allgemeinen u. entwirft net-Ed.: CAMENA). In dieser Schrift, die sich das Idealbild eines vollkommenen Fürsten stark an Tacitus anlehnte, entwickelte C. die (»princeps optimus«). In dem Panegyrikus Grundlinien seiner Auffassung vom Staatsauf Herzog Johann I. von Kleve De civitate recht, die das Gemeinwesen u. das öffentl. virtutum (1466) begegnet der Autor auf einer Recht eher im Lichte von Geschichte u. Politik fiktiven Reise zur Stadt des Ruhms den 20 als mit den Mitteln der jurist. Interpretation Tugenden Johanns, die ihre Bedeutung für betrachtete. Aus dem Nachlass gab sein Brudie Staatsführung darlegen. Das humanist. der Johann die De arcanis rerumpublicarum libri Genre des Städtelobs pflegt C. in Panegyrizi sex (Bremen 1605. Amsterd. 41644. Internetauf Basel (1464. Hg. Guido Kisch. Bln. 1969) Ed.: CAMENA. 81673) heraus, welche im 17. u. Heidelberg (1465. Hg. Johannes Gallinari- Jh. als eine Autorität in der dt. Diskussion us. o. O. 1499). C.’ Briefe charakterisieren die über die Ausnahme-Lehren (»ratio status«, Atmosphäre des Heidelberger Fürstenhofs, »arcana imperii«, »potentia politica«) wirkeines der Zentren des dt. Frühhumanismus. ten. 1611 wurde auch eine Anleitung zur Ausgabe: Oratio [...] in laudem civitatis univer- polit. Bildung höherer Amtsträger, das Nobilis sitatisque Heydelbergensis [...]. (Mainz) 1499 (GW adolescentis triennium (Wittenb. 1611. 41699),

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veröffentlicht, die ebenfalls in den Kanon der propädeut. Schriften aufgenommen wurde. Weitere Werke: Disputatio politica de philosophia eiusque partibus et fine. Nürnb. 1601. – Disputatio politica de summo bono. Nürnb. 1601. Literatur: Hermann Hegels: A. C. u. die Publizistik über die ›arcana imperii‹ im 17. Jh. Bonn 1918. – Gerhard Oestreich: C. A. In: NDB. – Hans Liermann: A. C. In: Gelehrte der Univ. Altdorf. Hg. Horst Claus Recktenwald. Nürnb. 1966, S. 61–76. – Michael Stolleis: Staat u. Staatsräson in der frühen Neuzeit. Ffm. 1990, S. 37–72. Merio Scattola

Clauberg, Johannes, Johann, * 7.3.1622 Solingen, † 8.2.1665 Duisburg. – Philosoph u. Theologe. C. wurde als ältester Sohn von Johannes u. Katharina Clauberg (geb. Caspers) in Solingen im Herzogtum Berg (Rheinland) geboren. Seine vorschulische Zeit verbrachte er in Solingen u. wurde dort mit den örtl. konfessionellen Konflikten konfrontiert. Mit diesen Konflikten dürfte zusammenhängen, dass er nicht in Solingen, sondern zwei Jahre lang in dem kurz zuvor restituierten Gymnasium in Moers unterrichtet wurde. 1640 begann C. sein Studium im Gymnasium Illustre in Bremen, das nach dem Niedergang Heidelbergs u. Herborns die anerkannteste Ausbildungsstätte der Reformierten im dt. Sprachraum war. Dort studierte er Theologie, Philosophie u. oriental. Sprachen u. wurde zus. mit seinem lebenslangen Freund Christoph Wittich geprägt durch namhafte Theologen, Philosophen u. Naturwissenschaftler wie Conrad Bergius, Johannes Combach, Ludovicus Crocius, Gérard de Neufville u. Johann Willius, was sie, wie beide selbst explizit bekunden, für die Aufnahme der neuen cartesian. Philosophie vorbereitet habe; freilich dürften beide längst noch nicht Cartesianer in irgendeinem spezif. Sinn gewesen sein. Die intensivere Beschäftigung C.s mit dieser Philosophie begann im Rahmen seines Studiums in Groningen (1644–1646), veranlasst v. a. durch den ebenfalls in Bremen ausgebildeten Tobias Andreae, der später mit seinem Werk Methodi Cartesianae assertio von 1653/54 eine 2000 Seiten umfassende Verteidigung des Cartesianismus unternahm. C.s »peregrinatio

Clauberg

academica« (1646–1648) führte nach Paris, wo er in Kontakt mit Philosophen u. Theologen unterschiedlicher Konfession trat, v. a. mit Cartesianern – u. a. Claude de Clerselier, Louis de la Forge u. Jacques du Roure. Vorausgegangen war ein einjähriger Aufenthalt an der hugenott. Akademie in Saumur. Hier wurde die moderate Haltung, die ihm seine theolog. Lehrer in Bremen vermittelt hatten, im Richtungsstreit innerhalb der Reformierten, der auf der Synode von Dordrecht 1618/ 19 u. mit dem Ausschluss der Remonstranten (Arminianern) einen Höhepunkt erlebte, aber weiterhin schwelte, verstärkt durch die von Reformierten weithin boykottierte »nouvelle theologie de Saumur«. Von seinen dortigen ebenso namhaften wie umstrittenen Lehrern – neben Josua de la Place, kritisiert wegen seiner Sündenlehre, auch Ludovicus Cappellus, umstritten als Hebraist u. wegen seiner »critica sacra« – scheint C. v. a. von Moyse Amyraut beeinflusst worden zu sein, der aufgrund seiner moderaten Prädestinationslehre (universalismus hypotheticus) angegriffen wurde. Der andere prägende theolog. Einfluss war die Föderaltheologie des ebenfalls in Bremen ausgebildeten Johannes Coccejus, der zu einer allerdings nicht sehr langlebigen Verbindung von Coccejanismus u. Cartesianismus führte. 1647, also in C.s Abwesenheit, erschienen in Groningen seine Elementa Philosophiae sive Ontosophia, die er bereits 1645 noch in Bremen fertiggestellt hatte u. die in ihrem dritten Teil ausführlich auf die Beziehung zwischen Logik u. Metaphysik eingehen. Dieses Werk erschien später teilweise gekürzt u. v. a. umgearbeitet als Ontosophia nova (Duisburg 1660) u. in dritter Fassung als Metapyhsica de ente (Amsterd. 1664). Seine »peregrinatio« beendete C. in London u. immatrikulierte sich danach 1648 in Leiden. Dort erhielt er privaten Unterricht von einem der bedeutendsten Anhänger Descartes’, Johann de Raey, mit dem er trotz Differenzen in der cartesian. Ausrichtung freundschaftlich verbunden blieb (ihm widmete er seine Physica von 1664). Befreundet war C. mit Frans Burmann, dessen Gespräche mit Descartes C. zumindest redigierte. Einen Ruf auf eine ordentl. Professur für Philosophie sowie auf

Clauberg

eine außerordentliche für Theologie in Herborn nahm C. an, u. es begann die im Zeichen des Streits um die cartesian. Philosophie stehende kurze Herborner Zeit (1649–1651). C. akzeptierte dann den Ruf als Rektor des Duisburger Gymnasiums, heiratete 1652 die verwitwete Katharina Mercator, eine Urenkelin des Geografen, u. wurde 1655 erster Rektor der neu gegründeten Universität in Duisburg, wo er sowohl in der theolog. Fakultät als auch in der philosophischen unterrichtete; mit der Berufung wurde C. (zus. mit Wittich u. Martin Hund) in Theologie promoviert. Hier entfaltete er eine rege Unterrichts- u. Forschungstätigkeit, die sich in zahlreichen Werken sowie Disputationen theologischen wie philosoph. Inhalts niederschlug. Zu Lebzeiten erschienen De cognitione Dei et nostri (Duisburg 1656), postum die Disputationes selectae (Duisburg 1665) zus. mit Disputationen von Hund, der C. auf nahezu allen Lebensstationen begleitet hatte, sowie Chilias Thesium ad Philosophiam naturalem pertinentium (Groningen 1668). In Erinnerung geblieben ist C. vornehmlich als »erster Cartesianer« im dt. Sprachraum, als »bester Vermittler und eifrigster Interpret der cartesianischen Philosophie«, als den ihn Wolff wie Leibniz schätzten. Dies führte dazu, dass lange Zeit ausschließlich seine die cartesian. Philosophie kommentierenden u. verteidigenden Schriften Beachtung gefunden haben. Seine Defensio cartesiana (Amsterd. 1652) bietet dabei zgl. einen Kommentar zum Discours. Unter Anwendung der (alten) Unterscheidung von exoterischer u. akroamat. Darstellungsweise auf die cartesian. Schriften versucht C., die immer wieder monierten Diskrepanzen durch ihren unterschiedl. Adressatenbezug u. die entsprechende Intention zu erklären. Daran schließt sich eine zweite Verteidigungsschrift Initiatio philosophi (Leiden 1655) als »akroamatische« Fortsetzung an sowie die fortlaufenden Kommentierungen (Paraphrasis) der cartesian. Meditationes (Duisburg 1658). Hierzu gehört auch die Schrift Vnterschejd zwischen der Cartesianischer, und der sonst in Schulen gebräuchlicher Philosophie (Duisburg 1657), die nach C. die philosoph. Differenzen auch denjenigen verdeutlichen soll, die des Latei-

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nischen nicht mächtig sind. Postum wurde diese Schrift mehrfach ins Lateinische übersetzt u. wie andere Schriften C.s auch ins Niederländische. Seine Logica Vetus & nova (Amsterd. 1654), »Aristotelico-cartesiana«, gehört zu seinen eigenständigsten u. erfolgreichsten Werken. Neben der Logica contracta, die zu Lebzeiten C.s immer anonym erschien u. die, mit Kommentierungen, 24 Ausgaben erlebte, brachte sie es auf sieben Ausgaben. In vielen Logiken der zweiten Hälfte des 17. Jh. finden sich mehr oder weniger ausgeprägte Adaptationen des Aufbaus der Logica vetus & nova oder ihrer Behandlung bestimmter Lehrstücke. Nicht nur setzt sie gegen die ramist. Logik als eine Logik des (nur) Wahrscheinlichen das, was als cartesian. Logik der Gewissheit angesehen wird, sondern erscheint seit ihrer ersten verschollenen einteiligen Auflage immer in vierteiliger Gestalt. Sie stellt damit eine der beiden Ausprägungen dar – für die andere ist die Logik von Port-Royal am bekanntesten –, in die Versuche mündeten, die von Descartes selbst nicht verfasste »logica cartesiana« zu entwickeln. Ihr angesichts des cartesian. Hintergrunds auf den ersten Blick wohl erstaunlichstes Merkmal ist, dass sich in dieser »logica quadripartita« die Auslegungslehre (»analytica hermeneutica«) als integraler Teil findet u. nicht nur im Rahmen der »logica practica« als »analysis logica«, die sich vornehmlich in der ramist. Tradition ausgebildet hat. 1663 erschien in Duisburg die Ars etymologica teutonum, von der Leibniz nicht unbeeindruckt war u. eine neue Auflage veranlasste (Collectanea Etymologica. Hann. 1717). Bei der Ars handelt es sich um eine Untersuchung zur Etymologie, deren Regeln begründet sein sollen »ex Philosophiae fontibus«. In den Beispielen sieht C. gelegentlich eine Überlegenheit der deutschen gegenüber der griech. u. lat. Sprache – damit durchaus ein Kind der Zeit. Unter anderem hält C. als eine der Regeln für die Etymologie fest, dass unsere philosoph. Ausdrücke durchweg »a sensibilibus ad intelligentia« übertragen seien – einen Gedanken, den er bereits in seiner Logica vetus & nova formulierte, aus der ihn dann wohl Locke entlehnt haben dürfte. C. verweist in seinen Werken gelegentlich auf wei-

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tere sprachwiss. Arbeiten (wie Libri de causis linguae Germanicae), von denen aber nichts veröffentlicht wurde. Nach kurzer Krankheit starb C. Von Leibniz stammt die Nachricht, C. habe den modus, die Natur der Seele auszusprechen, gekannt, habe ihn aber nicht mitteilen wollen. Bei seinem Nachdenken darüber sei er nicht selten in tiefe Ekstasen verfallen; eine solche habe dann auch zu seinem Tode geführt (Otium Hannoveranum. Lpz. 1718, S. 146 f.). Freilich ist unklar, in welchem Sinn Leibniz das verstanden wissen wollte, auch wenn es hierfür einen Kern in Hunds Oratio funebris gibt, auf die Leibniz’ Aussage wohl fußt. Ironie lässt sich dabei nicht ausschließen angesichts eines der intrikatesten Probleme, das die cartesian. Auffassung von Körper u. Geist hinterlassen hat: Immerhin gibt C. in seiner Schrift Corporis et animae in homine Conjunctio pleniùs descripta (Amsterd. 1664) eine vergleichsweise eigenständige Lösung dieses Problems. 1691 erschienen die Opera omnia mit z.T. noch ungedruckten Texten aus dem Nachlass u. gelegentlich mit Ergänzungen aus den Handexemplaren C.s. Literatur: Heinrich Christian Hennius: Johannis Claubergii [...] Vita. In: J. C., Opera Omnia [...]. Amsterd. 1691. Neudr. Hildesh. 1968. Bd. 1, unpag. – Martin Hundius: Oratio funebris In obitum [...] Johannis Claubergii [...]. Duisburg 1665. – Gerlach v. Gostorff: Leichpredigt bey der Begrebnuß deß [...] Herrn Johannis Claubergii [...]. Duisburg 1665. – Albert G. A. Balz: C. and the Development of Occasionalism [1933/34]. In: Ders.: Cartesian Studies. New York 1951, S. 158–194. – Italo Mancini: L’ontosophia di J. C. e i primi tentativi di sostituzione cartesiana. In: FS H. J. de Vleeschauwer. Pretoria 1960, S. 66–83. – Winfried Weier: Die Stellung des Johann C. in der Philosophie. Diss. Mainz 1960. – Wolfgang Hübener: Descartes-Zitate bei C. In: Studia Leibnitiana 5 (1973), S. 233–239. – John T. Watermann: Johann C.’s ›Ars Etymologica Teutonum‹ (1663). In: JEGPh 72 (1973), S. 390–402. – Eugenio Viola: Scolastica e Cartesianesimo nel pensiero di J. C. In: Rivista di filosofia neo-scolastica 47 (1975), S. 247–266. – W. Weier: Der Okkasionalismus des J. C. u. sein Verhältnis zu Descartes, Geulincx u. Malebranche. In: Studia Cartesiana 2 (1981), S. 43–62. – Gerhard Menk: Omnis novitas periculosa. Der frühe Cartesianismus an der Hohen Schule Herborn. In: Comenius. Hg. Klaus Schaller.

Clauberg St. Augustin 1985, S. 135–163. – Ulrich Leinsle: Reformversuche protestant. Metaphysik im Zeitalter des Rationalismus. Augsb. 1988, S. 88–105. – Jacqueline Lagrée: C. et Spinoza, de la logique novantique à la puissance de l’idée vraie. In: Méthode et metaphysique. Paris 1989, S. 19–45. – Francesco Trevisani: Descartes in Germania. La ricezione del cartesianesimo nella Facoltà filosofica e medica di Duisburg 1652–1703. Mailand 1992. – Theo Verbeek: Descartes and the Dutch: Early Reactions to Cartesian Philosophy 1637–50. Carbondale/Edwardsville 1992. – F. Trevisani: J. C. e l’Aristotele riformato. In: L’interpretazione nei secoli XVI e XVII. Hg. Guido Canziani u. Yves Charles Zirka. Mailand 1993, S. 103–126. – Dieter Scheffel: Zur Grundlage der Ontologie bei Wolff u. C. In: Aufklärung u. Erneuerung. Hg. Günter Jerouschek u. a. Halle 1994, S. 157–162. – Detlev Pätzold: J. C. – het caussaliteitsprobleem in de eerste en derde editie van zijn Ontosophia. In: Zeer kundige professoren: Beoefening van de filosofie in Groningen van 1614 tot 1996. Hg. Henri A. Krop u. a. Hilversum 1997, S. 85–96. – F. Trevisani: Einflüsse des Cartesianismus an der Univ. Duisburg. In: Zur Gesch. der Univ.: Das ›Gelehrte Duisburg‹ im Rahmen der allg. Universitätsentwicklung. Hg. Irmgard Hantsche. Bochum 1997, S. 85–105. – T. Verbeek (Hg.): J. C. (1622–65). Dordrecht 1999. – Fosca Mariani Zini: De la colomnie. In: Descartes et la renaissance. Hg. Emmanuel Faye. Paris 1999, S. 389–405. – W. Weier: Leibnitiana bei J. C. In: Studia Leibnitiana 33 (2000), S. 21–42. – Lutz Danneberg: Logik u. Hermeneutik im 17. Jh. In: Theorie der Interpr. vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswiss., Philosophie, Theologie. Hg. Jan Schröder. Stgt. 2001, S. 75–131. – Edgar Papp: Dt. Etymologie im 17. Jh. Johann C. ›Ars Etymologica Teutionum‹ 1663. In: Die dt. Sprache der Gegenwart. Hg. Stefan J. Schierholz. Ffm. 2001, S. 81–95. – J. Lagrée: Sens et vérité chez C. et Spinoza. In: Philosophiques 29 (2002), S. 121–138. – Massimiliano Savini: Le développement de la méthode cartésienne dans les Provinces-Unies (1643–1556). Thèse de Doctorat. Paris 2002. – Ettore Lojacono: La point extrême de la transgression cartésienne: la logique ›introuvable‹. In: Les Études philosophiques 2005, S. 503–519. – Jean-Claude Gens (Hg.): La logique herméneutique du XVIIe siècle – J.-C. Dannhauer et J. C. Argentueil 2006. – M. Savini: L’insertion du cartésianisme en logique: la ›Logica vetus & nova‹ de J. C. In: Revue de métaphysique et de morale 111 (2006), S. 73–88. – Guillaume Coqui: L’obscurité du sens chez C. In: Methodos 7 (2007) [http://methodos.revues.org/document656.html]. Lutz Danneberg

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Claudius, Eduard, eigentl.: E. Schmidt, Claudius, Georg Carl, auch: Franz Ehauch: Edy Brendt, * 29.7.1911 Buer (heute renberg, * 21.4.1757 Zschopau/Sachsen, Stadtteil von Gelsenkirchen), † 13.12. † 20.11.1815 Leipzig. – Unterhaltungs- u. 1976 Berlin/DDR. – Diplomat; Roman- Jugendschriftsteller, Sachbuchautor, Lischriftsteller u. Reporter. brettist u. Komponist. Der gelernte Maurer war in den 1920er Jahren Arbeiterkorrespondent, wurde 1932 KPD-Mitgl., nahm als Kriegskommissar am Spanischen Bürgerkrieg teil u. wurde nach illegaler Einwanderung 1939–1945 in Schweizer Arbeitslagern interniert. 1945 wurde C. Pressechef der Entnazifizierungsstelle in München; 1947 zog er nach Potsdam. Er vertrat später die DDR als Diplomat in Syrien u. Vietnam. C. schrieb Romane, Erzählungen u. Reportagen, deren Stoff auf eigenen Erlebnissen beruht. So ist sein erster nach dem Krieg erschienener Roman Grüne Oliven und nackte Berge (Zürich 1945. Halle/S. 31976. 1986. Ffm. 1986) eine Darstellung des Spanischen Bürgerkriegs. Das Buch wendet sich, wie auch der Roman Von der Liebe soll man nicht nur sprechen (Bln./DDR 1957. Halle/S. 21980), gegen einen falsch verstandenen Begriff vom positiven sozialist. Helden. Der Roman Menschen an unserer Seite (Bln./DDR 1951. Stgt. 1984. Lpz. 11 1987) wurde als Musterbeispiel des Sozialistischen Realismus gerühmt u. brachte im selben Jahr dem überzeugten, aber niemals unkrit. Sozialisten den Nationalpreis der DDR (III. Klasse) ein. Weitere Werke: Salz der Erde. Bln. 1948 (R.). – Wintermärchen auf Rügen. Halle/S. 1965 (E.). – Ruhelose Jahre. Halle/S. 1968. 21977 (Autobiogr.). Literatur: Ortrud Heßke: Untersuchungen zur ästhet. Realisierung internationalist. Weltsicht im literar. Werk v. E. C. Diss. Potsdam 1985. – Marcel Reich-Ranicki: E. C. Der proletar. Draufgänger. In: Ders.: Ohne Rabatt. Über Lit. aus der DDR. Stgt. 1991, S. 53–58. – O. Heßke: Von ›Mensch(en) auf der Grenze‹ zu ›Menschen an unserer Seite‹. E. C. In: ›Hoffnung und Erinnerung‹. Milow 1998, S. 206–216. – Boris Pawlowski: Die Rhetorik des Vorurteils: sprachkrit. Untersuchungen zur dt. Lit. über den Span. Krieg 1936–39. Diss. Kiel 2000. – Helmut Peitsch: Die Position kommunist. Schriftsteller in der ›Jungen Generation‹. E. C., Stephan Hermlin, Hans Mayer. In: ›Uns selbst mussten wir misstrauen‹. Hg. Hans-Gerd Winter. Hbg. u. a. 2002, S. 178–189. Sylvia Adrian / Red.

Nach dem Jurastudium in Leipzig u. Zwickau lebte C. als Privatgelehrter u. Schriftsteller in Leipzig. Er schrieb Schauspiele (Der Fürst und sein Volk. Teutsches Nationaldrama mit Gesängen. Lpz. 1791) u. Romane (Justus, Graf von Ortenburg, ein Gemälde menschlicher Glückseligkeit. 4 Tle., Tüb. 1786–93), gab Zeitschriften heraus (»Leipziger Taschenbuch für Frauenzimmer«. 1784–1816) u. verfasste zahlreiche Lehrbücher, Erzählungen u. Spielsammlungen für Kinder u. Jugendliche (Fibel oder ABCBuch für den ersten häuslichen Unterricht. Lpz. 1802. Kleine Kinderwelt oder Neues Lesebuch zur ersten Bildung des Menschenverstandes für das Alter von fünf bis acht Jahren. 2 Bde., Lpz. 1800/ 01). Später verlegte er sich häufig auf Gebrauchstexte in der Form des Hausbuchs u. Briefstellers (Der Rathgeber bei den vorzüglichsten Geschäfts- und Handelsangelegenheiten. Lpz. 1805). Themen u. Stil seiner belletrist. Werke lehnen sich an engl. Vorbilder an u. sind offensichtlich auch von dem gleichzeitig lebenden Modeerzähler August Heinrich Julius Lafontaine beeinflusst; ihre Anliegen übersteigen den durch Aufklärung u. Empfindsamkeit geprägten Horizont bürgerl. Tugendverständnisses nicht. C. war ein sehr produktiver u. zu seiner Zeit beliebter Autor, sein Allgemeiner Briefsteller [...], ein Handbuch zum Selbstunterricht für die mittlern und niedern Stände (Lpz. 1808. 131818) u. sein Taschenbuch für das Verdauungsgeschäft (Spashausen, recte Lpz. 1785. Neudr. Prag 1906) haben ihn überlebt. In der Forschung zur Jugendliteratur sind u. a. sein Kinder-Theater (Ffm. u. Lpz. 1782) mit fünf stark moralisierenden Stücken u. die Erzählung Ludwig Helmann, eine Geschichte zur Beherzigung für die Jugend (Lpz. 1788), die vor dem Nachahmen der RobinsonAbenteuer warnt, noch präsent. Literatur: Klaus Doderer (Hg.): Lexikon der Kinder- u. Jugendlit. Erg.-Bd. Weinheim/Basel 1982. – HKJL. Von 1750–1800. Stgt. 1982. Wolfgang Biesterfeld / Red.

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Claudius, Hermann, * 24.10.1878 Langenfelde bei Altona, † 8.9.1980 Grönwohld bei Trittau/Holstein. – Lyriker, Erzähler, Märchenspielautor, Biograf u. niederdeutscher Mundartdichter.

Claudius Weitere Werke: Hörst du nicht den Eisenschritt? Hbg. 1914 (L.). – Lieder der Unruh. Hbg. 1920 (L.). – Heimkehr. Lieder v. Gott, Ehe u. Armut. Braunschw. 1925 (L.). – Meister Bertram van Mynden. Hbg. 1927 (E.). – Ulenbüttler Idylle. Gütersloh 1948 (L.). – Mien Weg na Huus. Hbg. 1958 (L.). – Karge reiche Kinderzeit. Heilbr. 1960 (Autobiogr.). – Matthias Claudius. Stgt. 1938 (Biogr.). – Das Kain- u. Abelspiel. Kassel/Basel 1951 (Bühnenspiel). – Peter Arp u. ich. Hbg. 1959. Ausgabe: Ges. Werke in 2 Bdn. Hbg. 1957. – Ihr habt mein Lied gesungen. Gedichte aus dem Nachl. Hbg. 1998. – Unkruut. Plattdt. Gedichte aus dem Nachl. Neumünster 2000.

C., ein Urenkel von Matthias Claudius, war Sohn eines Bahnmeisters. Er lebte ab 1885 in Hamburg, später in Grönwohld bei Trittau. Politisch stand er anfangs der Sozialdemokratie nahe, wandelte seine Einstellung aber allmählich zu einer humanist. Grundhaltung. Bis zu seiner Pensionierung 1934 infolge eines Verkehrsunfalls arbeitete er als Literatur: G. Clasen: Plattdt. Lyrik seit Groth. Volksschullehrer, danach lebte er als freier In: Quickborn 18 (1925). – Numme Numsen: H.C. Schriftsteller. 1933 erschien sein Name auf Mchn. 1938 (Biogr.). – Walter Schäfer: Sendung, einem Treuegelöbnis von 88 Schriftstellern Weg u. Werk des Dichters H. C. Münster 1943. – M. für Hitler. Im gleichen Jahr wurde C. Mitgl. Weitmann: H. C. zum 85. Geburtstag. In: KlausGroth-Gesellsch. Jahresgabe 1963. – Claus Schupder Preußischen Akademie der Dichtung, penhauer: H. C. Über einen großen pattdt. Lyriker. 1936 der Erfurter Akademie der gemeinnüt- In: Quickborn 89 (1999), H. 3, S. 28–64. zigen Wissenschaften. 1941 u. 1956 erhielt er Wolfgang Weismantel / Red. den Klaus-Groth-Preis, 1942 den Hamburger Lessingpreis. 1958 wurde ihm die Ehrenme- Claudius, Matthias, auch: Asmus, * 15.8. daille der Universität Kiel verliehen. 1740 Reinfeld/Holstein, † 21.1.1815 Mit Mank Muern (Hbg. 1912), einem Band Hamburg; Grabstätte: Hamburg-Wandsniederdt. Großstadtlyrik, machte C. erstmals bek, an der Christuskirche. – Journalist, auf sich aufmerksam u. begründete seinen Lyriker, Übersetzer. Ruf als sozial engagierter Mundartdichter. Von seinen plattdt. Gedichten fand die 1920 C. wurde als Sohn eines Pastors aus alter erschienene Gedichtsammlung für Kinder Pfarrerfamilie im Holsteinischen geboren, das damals zum dän. Gesamtstaat gehörte. Hamborger Kinnerbok (Hbg.) bes. Beachtung. In Die Herkunft aus einem Pfarrhaus, die den folgenden Jahren veröffentlichte er vornorddt. Heimat, ferner das Selbstverständnis wiegend volksliedhafte, gefühlvolle Lyrik als deutschsprachiger Untertan der dän. ohne krit. Anspruch, schlichte Erzählungen Monarchie prägten sein Leben nachhaltig. u. autobiogr. Texte. Da seine heimatverbunDie erste Ausbildung erhielt C. durch den denen, naiven Werke auch den Grundton Vater. Im Lauf des Jahres 1751 starben drei nationaler Begeisterung anklingen ließen, seiner Geschwister. Zur Vorbereitung auf ein einzelne Gedichte den Ersten Weltkrieg ge- Theologiestudium besuchten C. u. sein ein radezu glorifizierten, wurde C. von den Na- Jahr älterer Bruder Josias 1755–1759 die Lationalsozialisten geschätzt u. vereinnahmt. teinschule in Plön u. gingen dann an die Er bedankte sich mit einem »Führergedicht«. Universität Jena. Hier starb Josias am Berühmt wurde er als Autor des Liedes Wann 19.11.1760; C. hielt ihm eine akadem. Trauwir schreiten Seit an Seit. Von seinem umfang- errede. In Jena, wo C. sich neben der Theoreichen Werk findet heute noch die Mund- logie auch mit Jurisprudenz, Philosophie u. artdichtung Beachtung; auch seine Mär- Volkswirtschaft befasste, war er Mitgl. der chenspiele, wie etwa Rumpelstilzchen (Lan- dortigen Teutschen Gesellschaft u. begegnete gensalza 1928), von denen einige 1941 als seinem ersten literar. Vorbild, Heinrich WilRundfunkbearbeitungen gesendet wurden, helm von Gerstenberg. werden noch aufgeführt. Vor allem LaienOhne Studienabschluss kehrte C. 1762 von Jena zurück, veröffentlichte 1763 seinen spielgruppen spielen seine plattdt. Stücke.

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Erstling Tändeleyen und Erzählungen (Jena. Neudr. hg. v. Jörg-Ulrich Fechner. Hbg. 1998), eine Gerstenberg-Nachahmung, die von der Kritik weitgehend abgelehnt wurde. 1764/65 war C. dann Sekretär des Grafen Holstein in Kopenhagen u. kam so in Berührung mit dem deutschsprachigen Kreis am dän. Hof um den Staatsminister Johann Hartwig Ernst Graf Bernstorff u. um Klopstock. 1765–1768 lebte C. erneut im Elternhaus u. wandte sich dann nach Hamburg, um selbständig zu werden. Hier wurde C. im Sommer 1768 Redakteur der »Hamburgischen Addreß-ComtoirNachrichten« (1768–70), einem Handels- u. Wirtschaftsblatt, dessen freien Druckraum C. als Feuilletonist mit kleinen Prosastücken u. Gedichten ausfüllte. Neben Klopstock wurden jetzt auch Lessing u. Herder, die er in Hamburg kennenlernte, zu den bestimmenden Vorbildern seines Lebens. Nach dem Verlust seines Arbeitsplatzes übernahm C. 1770 die Redaktion des »Wandsbecker Bothen« (Wandsbek 1771–75. Nachdr. v. Karl Heinrich Rengstorf u. Hans-Albrecht Koch. 5 Bde., Hildesh. 1978. Zuletzt Ffm. 1997), einer Zeitung, die Heinrich Karl Graf Schimmelmann damals im Verlag von Johann Joachim Christoph Bode neu gründete. C. zog nach Wandsbek, wo er am 15.3.1772 Rebecca Behn, die 16-jährige Tochter eines Zimmermeisters, heiratete. Der »Bothe« wurde zu einer originellen dörfl. Zeitung für Leser u. Kenner im ganzen deutschsprachigen Gebiet. C. gelang es, Lessing, Klopstock, Gerstenberg, Herder, Goethe, Gleim, Boie, Voß, Hölty u. Miller als Beiträger zu gewinnen. C. trug seinerseits zu den von Freunden herausgegebenen Musenalmanachen bei. Als 1775 wegen geringer Verkaufsziffern der »Bothe« eingestellt werden sollte, legte C. einen ersten Band seines ASMUS omnia sua SECUM portans vor (Tle. 1 u. 2, Hbg. 1775. Tl. 3, Breslau 1778. Tl. 4, Breslau 1783. Tl. 5, Hbg. 1790. Anhang zum 5. Tl., Hbg. o. J. Tl. 6, Hbg. 1798. Tl. 7, Hbg. 1803. Tl. 8, o. O. 1812), ein buntscheckiges Mosaik, das frühere Zeitungsbeiträge mit neuen Aufsätzen u. Gedichten zu einem bewusst komponierten Ganzen vereinigte. Mit diesem Werk schuf C. sich neben seinem Schriftstellernamen einen

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bleibenden Platz in der dt. Literaturgeschichte. Erneut arbeitslos, gelang es C., dank der Vermittlung von Herder eine gut besoldete Anstellung bei der eben gegründeten Landkommission in Hessen-Darmstadt zu erhalten. Das Jahr in der hess. Residenz (1776/77) brachte C. in Kontakt mit Johann Heinrich Merck u. Friedrich (Maler) Müller, aber auch in Konflikt mit der Hierarchie u. mit den Intrigen bei Hof u. in der ministeriellen Verwaltung. Seine Gründung u. anfängl. Redaktion der »Landzeitung« (Neuausg. v. J.-U. Fechner. Darmst. 1978), der ersten u. wohl einzigen Zeitung, die sich in Deutschland vornehmlich an die Landbevölkerung wandte, erfüllten C.’ Erwartungen von einer sozial engagierten u. reformerischen Tätigkeit nicht. »Ich bin hergekommen, nicht ehrlich und schön zu schreiben, sondern ehrlich und schön zu handeln«, schrieb C. im Frühjahr 1777 an Friedrich Karl von Moser, quittierte den Dienst u. kehrte nach Wandsbek zurück. Ohne Amt u. Anstellung, dazu bei wachsender Kinderzahl, wagte es C. nun voll Zuversicht auf Gott u. in der Hoffnung auf Unterstützung durch Gönner u. Freunde, sein Leben als »homme de lettres«, als Privatmann u. Schriftsteller, zu führen. Der Lebensentwurf gelang; getragen von der glückl. Ehe zus. mit den Kindern, unterstützt von mancher Seite (Schimmelmann; Christian August Heinrich Kurt Graf von Haugwitz; Gustav Graf von Schlabrendorff; Jacobi; Kronprinz Friedrich, dem späteren König Friedrich VI. von Dänemark), konnte C.’ Alltag in Wandsbek zwar entbehrungsreich, aber stetig u. ruhig verlaufen. Reisen waren dabei kaum möglich (1775 nach Berlin, 1784 nach Schlesien). Wenn das Geld es erlaubte, fuhren C. u. Rebecca einmal jährlich zur Badekur nach Pyrmont. Die folgenden, in unregelmäßigen Abständen erschienenen Bände des Asmus, kleine Einzelveröffentlichungen, mit denen C. zu aktuellen Tagesfragen Stellung nahm, u. größere Übersetzungen, die angesichts der konfessionellen Auseinandersetzungen das mystische u. esoter. Gedankengut, bes. aus Frankreich (Terrasson, Ramsay, Saint Martin, Fénelon u. Pascal), verbreiten sollten, schufen C. eine Autorität, die nicht ohne Anfechtun-

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gen seitens seiner Gegner blieb. Als Sehenswürdigkeit wurde C. seit damals von vielen Reisenden aufgesucht. Eine anonyme Schrift bezeichnete ihn 1783 so: »Geheimer Rath seiner guten Frau und ordentlicher Professor seiner schönen Kinder in Wandsbeck«. 1785 setzte der dän. Kronprinz für C. eine Jahrespension aus u. ernannte ihn 1788 zum Revisor der Altonaer Bank, eine Tätigkeit mit erträgl. Einkünften u. mit nur überaus geringen Aufgaben. Mit Beginn der Französischen Revolution – Hamburg wurde von einer Flut von Emigranten überschwemmt – verstärkten sich die Kontakte zu Friedrich Heinrich Jacobi wie zu den Mitgliedern des Emkendorfer Kreises. Johann Caspar Lavater wie Amalie von Gallitzin besuchten C.; Jacobi blieb für mehr als ein Jahr als Nachbar in Wandsbek. Sein Sohn Max heiratete 1798 C.’ Tochter Anna. Eine andere Tochter von C. wurde die Frau des Buchhändlers u. Verlegers Friedrich Christoph Perthes. Der Streit, den Goethes u. Schillers Xenien 1797 auslösten, bezog auch C. mit ein, ebenso die Streitschriften aus Anlass der Konversion des Grafen Friedrich Leopold zu Stolberg zum Katholizismus. Der alternde C. trat noch in Kontakt zu literarischen, publizist. u. künstler. Vertretern der Romantik: zu Friedrich Schlegel, zu Philipp Otto Runge, zu Johann Friedrich Overbeck. Die Kriegswirren des Jahres 1813 veranlassten C. u. seine Frau zur Flucht nach Holstein, Kiel u. Lübeck. 1814 nach Wandsbek zurückgekehrt, war C. alt u. erschöpft. Bald danach starb er im Haus seines Schwiegersohns Perthes in Hamburg. Das Werk von C. ist vielschichtig, vielseitig u. nutzt viele Kleingattungen der Prosa u. Lyrik. Der Verfasser verfügt über eine breite Bildung, auf die sein Werk unaufdringlich anspielt. Wichtiger als solche Einsprengsel ist die bestimmende Grundlage dieses Werks: der Einsatz von Literatur als einer prakt. Ethik. »Ich mag auch von keiner Distinction zwischen Schriftsteller und Menschen Proben ablegen, und meine Schriftstellerey ist Rea li t ät bey mir, oder solt es wenigstens seyn, sonst hohl’s der Teufel« (an Herder, 5.12.1775). Die Betonung der menschl. Existenz u. des positiven Christentums ermög-

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licht diese Haltung u. begründet eine Toleranz gegenüber dem Nächsten, unabhängig von Alter, Geschlecht, Volk u. Religion. Diese Offenheit schafft C. die Freiheit zur Sprache des Alltags, des Körperlichen, des Familiären u. des Kindlichen. Die Verantwortlichkeit für sich u. den Nächsten bleibt die verbindl. Richtschnur: im Brief an den Sohn Johannes, der das apokryphe Buch Jesus Sirach aufnimmt, wie im Besuch in St. Hiob, einer Visite im Irrenhaus, wie in Paul Erdmanns Fest, einer nicht unkrit. Parteinahme für den hergebrachten hierarch. Ständestaat, oder in der sowohl übermütigen als auch tiefernsten Nachricht über meine Audienz beim Kaiser von Japan. Ebendiese Haltung liegt auch den Gedichten zugrunde, unter denen das Abendlied, Das Kriegslied, Der Mensch, An – als ihm die – starb, Wiegenlied bei Mondschein zu singen, Christiane u. Der Tod und das Mädchen herausragen. In den deutlich komponierten, Korrespondenzen wie Kontraste bildenden Sammlungen seiner Asmus-Bände gestaltete C. diese Grundhaltung zum literarisch vermittelten, mit bewusster Naivität auftretenden Ganzen. Die populäre C.-Rezeption, die früh einsetzte u. bis heute fortdauert, hat demgegenüber nur Teilstücke u. Einzelzüge herausgelöst; sie verfälscht so das Bild des C. als des »Wandsbecker Bothen« wie des Asmus. Weitere Werke: Übersetzungen: Twiss’s Reise nach Spanien u. Portugal. Lpz. 1776. – Fénelons Werke religiösen Inhalts. Aus dem Frz. 3 Bde., Hbg. 1800. 1809. 1811. Ausgaben: Sämtl. Werke. Nach dem Text der Erstausg.n (Asmus 1757–1812) u. den Originaldr.en (Nachlese). Nachw. u. Bibliogr. v. Rolf Siebke. 6., überarb. Aufl. Mchn. 1987. Zuletzt Mchn. u. Darmst. 1996. – Briefe: M. C. Briefe an Freunde. Hg. Hans Jessen. Bln. 1938. 2., veränderte Aufl. u. d. T.: M. C. Botengänge. Briefe an Freunde. Hg. ders. Witten/Bln. 1965. Zuletzt Bln. 1967. – M. C. Asmus u. die Seinen. Briefe an die Familie. Hg. ders. u. Ernst Schröder. Bln. 1940. – Hans-Albrecht Koch u. Rolf Siebke: Unbekannte Briefe u. Texte v. M. C. nebst einigen Bemerkungen zur C.-Forsch. In: JbFDH 1972, S. 1–35. – Dies.: Nachträge. In: JbFDH 1973, S. 481–483. Literatur: Wilhelm Herbst: M. C. der Wandsbecker Bote. Ein Lebensbild. Gotha 1857. 41878. – Wolfgang Stammler: M. C. der Wandsbecker Bote. Ein Beitr. zur dt. Literatur- u. Geistesgesch. Halle/

Clauren S. 1915. – Urban Roedl (d. i. Bruno Adler): M. C. Sein Weg u. seine Welt. Hbg. 31969. Zuletzt 1990. – Peter Berglar: M. C. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1972. 62003. – Rolf-Christian Zimmermann: M. C. In: Dt. Dichter des 18. Jh. Ihr Leben u. Werk. Hg. Benno v. Wiese. Bln. 1977, S. 429–445. – Reinhard Görisch: M. C. u. der Sturm u. Drang. Ein Abgrenzungsversuch. Vergleiche mit Goethe, Herder, Lenz, Schubart u. a. am Beispiel eschatolog. Vorstellungen im Kontext des Epochenbewußtseins. Ffm. 1981. – Helmut Glagla u. Dieter Lohmeier (Hg.): M. C. 1740–1815. Heide in Holstein 1990. – Friedhelm Debus (Hg.): M. C. 250 Jahre Werk u. Wirkung. Gött. 1991. – Jörg-Ulrich Fechner (Hg.): M. C. 1740–1815. Leben – Zeit – Werk. Tüb. 1996. – Zu Einzelaspekten: F. J. Curt Hoefer: Der Wandsbecker Bothe. Ein Beitr. zur Gesch. der dt. Publizistik des 18. Jh. Diss. Lpz. 1944. – Annelen Kranefuss: Die Gedichte des Wandsbecker Boten. Gött. 1973. – J.-U. Fechner: M. C. u. die Literatursoziologie? Überlegungen u. unvollst. Anmerkungen zum Abschiedsbrief des Adreßcomptoirnachrichtenschreibers. In: Geist u. Zeichen. FS Arthur Henkel. Hg. Herbert Anton u. a. Heidelb. 1977, S. 57–74. – Ders.: Lit. als prakt. Ethik. Das Beispiel des ›Wandsbecker Bothen‹ v. M. C. In: Aufklärung u. Pietismus im dän. Gesamtstaat 1770–1820. Hg. Hartmut Lehmann u. Dieter Lohmeier. Neumünster 1983, S. 217–230. – Ders.: M. C.’ ›Neujahrswunsch‹ – ›Des alten lahmen Invaliden sein Neujahrswunsch‹: Literar. Text u. mediale Vermittlung. In: Wege der Literaturwiss. Hg. Jutta Kolkenbrock-Netz u. a. Bonn 1985, S. 88–99. – Wolfgang Preisendanz: M. C.’ ›naiver launigter Ton‹. Zur Positivierung v. Naivität im 18. Jh. In: MLN 103 (1988), S. 569–587. – Siobhán Donovan: Der christl. Publizist u. sein Glaubensphilosoph: zur Freundschaft zwischen M. C. u. Friedrich Heinrich Jacobi. Würzb. 2004. – Anna KoziolScherner: ›Meine Schriftstellerei ist Realität bei mir‹: prakt. Ethik in den Werken u. Briefen v. M. C. Themen – Traditionen – Darstellungsformen. Aachen 2005. Jörg-Ulrich Fechner

Clauren, H(einrich), Anagramm zu Carl (Gottlieb Samuel) Heun, * 20.3.1771 Dobrilugk/Niederlausitz, † 2.8.1854 Berlin; Grabstätte: ebd., Friedhof der Jerusalemsu. Neuen Kirchengemeinde. – Erzähler u. Publizist. Der Sohn eines kursächs. Amtmanns absolvierte in Göttingen u. Leipzig ein Jurastudium. Anschließend war er Privatsekretär des preuß. Staatsministers Heinitz u. Assessor bei

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der westfäl. Bergwerks- u. Hüttenadministration. 1801–1810 verwaltete er das poln. Gut eines preuß. Adligen, zgl. betätigte er sich als Buchhändler u. Mitherausgeber der »Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung«. 1811 trat C. in die Dienste Hardenbergs, wurde 1813 zum Hofrat ernannt, nahm am Feldzug von 1813/14 teil u. leitete die Feldzeitung im preuß. Hauptquartier. Nach seiner Teilnahme am Wiener Kongress war er 1815–1819 preußischer Geschäftsträger in Sachsen. Wieder in Berlin, übernahm er 1820 die »Allgemeine Preußische Staatszeitung« u. daneben verschiedene öffentl. Ämter. C. zählt neben Autoren wie Lafontaine u. Kotzebue zu den meistgelesenen Unterhaltungsschriftstellern des beginnenden Biedermeier. Er tat sich v. a. im Erzählgenre hervor. Seinen Erfolg begründete die Erzählung Mimili, die ab 1815 zunächst in der Zeitschrift »Der Freimüthige« in Fortsetzungen, danach in verschiedenen Buchausgaben erschien (vollständiger Text: Dresden 3 1819). Diese sentimentale Liebesgeschichte zwischen einem Schweizer Naturkind u. einem preuß. Offizier wirkte prägend auf C.s weiteres Werk, das er zum großen Teil in der von ihm herausgegebenen Sammlung Scherz und Ernst (40 Bde., Dresden 1818–28) u. seinem jährlich erscheinenden Taschenbuch Vergißmeinnicht (Lpz. 1818–34) veröffentlichte. Am Geschmack eines breiten Publikums orientiert, verwendete C. immer wieder die gleichen Grundmuster: stereotype Figurenzeichnung u. Naturkulisse, kaum verschleierte Erotik, vaterländisch-konservative Inhalte, religiös-erbaul. Elemente, literar. Reminiszenzen, spannungsreichen, harmonisch ausklingenden Handlungsverlauf. Angegriffen wurde diese »Mimili-Manier« von Wilhelm Hauff in seiner Romansatire Der Mann im Mond (Stgt. 1825), die er unter Verwendung von C.’schen Versatzstücken aufbaute u. unter dessen Namen veröffentlichte, u. in seiner Controvers-Predigt über H. Clauren (Stgt. 1827). War C. v. a. aufgrund seiner Pikanterien bei den Zeitgenossen »so berühmt, daß man in keinem Bordell eingelassen wird, wenn man ihn nicht gelesen hat« (Heine), so tat Hauffs Vorwurf ästhetischer Niveaulosig-

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keit u. moralischer Verkommenheit seine Wirkung auf das negative C.-Bild der Folgezeit u. seine schwindende Popularität. Ausgaben: Lustspiele. 2 Bde., Dresden 1817. – Erzählungen. 6 Bde., Dresden 1818–20. – Schr.en. 80 Bde., Stgt. 1827–29. – Ges. Schr.en. 25 Bde., Lpz. 1851. Literatur: Heinz Liebing: Die Erzählungen H. C.s als Ausdruck der bürgerl. Welt- u. Lebensanschauung in der beginnenden Biedermeierzeit. Diss. Halle 1931. – Ursula Fritzen-Wolf: Trivialisierung des Erzählens: C.s ›Mimili‹ als Epochenphänomen. Ffm. 1977. – Joachim Schöberl: Trivialität als Streitobjekt. H. C.s ›Mimili‹ u. die Folgen. In: H. C.: ›Mimili‹. Wilhelm Hauff: Kontrovers-Predigt über H. C. u. den ›Mann im Monde‹. Hg. ders. Stgt. 1984, S. 129–178. – Altrud Dumont: H. C.s ›Mimili‹. In: WB 32 (1986), S. 1868–1882. – Dieter Gentsch: Carl Heuns (H. C.s) Taschenbuchreihe ›Vergißmeinnicht‹ 1818–34. Diss. Erfurt 1990. – Michael Niehaus: Autoren unter sich. Heidelb. 2002. – Uwe Hentschel: Von Hallers ›Alpen‹ bis zu C.s ›Mimili‹. Zur Stilisierung u. Funktionalisierung einer Landschaft in der dt. Lit. In: Jb. der Rückert-Gesellsch. 14 (2002), S. 45–65. Andrea Hahn / Red.

Clausewitz, Carl von, * 1.6.1780 Burg bei Magdeburg, † 16.11.1831 Breslau; Grabstätte: Burg bei Magdeburg, Ostfriedhof. – Verfasser eines bedeutenden Werkes zur Theorie des Krieges sowie zahlreicher kriegshistorischer Studien. Der Kontrast zwischen C.’ eher bescheidener Herkunft sowie seinem unsicheren Adelsnachweis im Verhältnis zu seiner intellektuellen Überlegenheit u. dem Milieu, in dem er verkehrte, führten zu einer spannungsreichen Persönlichkeit: Oftmals wirkte er auf seine Zeitgenossen sarkastisch u. unnahbar u. ließ seine liebenswürdige Seite, wie sie im Briefwechsel mit seiner Frau sichtbar wird, eher in den Hintergrund treten. Nach dem Eintritt in die preuß. Armee im Alter von nur zwölf Jahren (1792) u. der Teilnahme an den Kriegen gegen die frz. Revolutionsarmeen (1793/94) lebte er acht Jahre in der Garnison der kleinen Stadt Neu-Ruppin, in denen der junge Leutnant sich autodidaktisch fortbildete, bis er die Aufnahmeprüfung an der Allgemeinen Kriegsschule in Berlin bestand. Die Jahre an der Kriegsschule (1801–1803/04)

waren ein Wendepunkt in seinem Leben, denn dort wurde er von Gerhard Scharnhorst gefördert u. wurde schließlich Bester seines Jahrgangs. Auf Empfehlung Scharnhorsts wurde C. Adjutant des Prinzen August, den er während des Feldzuges 1806 u. in die frz. Gefangenschaft nach den Niederlagen bei Jena u. Auerstedt begleitete. Seit dieser Zeit ist C.’ Werdegang bestimmt durch das Wechselspiel einer relativen Nähe zu den Mächtigen seiner Zeit (viele Rundbriefe u. Instruktionen der preuß. Heeresreformer stammen aus seiner Feder), seiner eigenen Fortbildung, der Teilnahme an den Befreiungskriegen sowie der theoret. Ausarbeitung seines Werkes Vom Kriege während seiner Zeit als Verwaltungsleiter der Allgemeinen Kriegsschule (1818–1830), eine Tätigkeit, die ihm die nötige Zeit hierzu ließ. C. hörte die Vorlesungen Alexander von Humboldts (1827), die eine neue Blütezeit der Naturwissenschaften in Deutschland einleiteten, las den Briefwechsel Goethes mit Schiller u. war bes. durch die Vorlesungen des Romantikers Henrik Steffens (1824/25) beeindruckt, dessen Hervorhebung der Dreieinigkeit wahrscheinlich zu C.’ Konzeption der wunderl. Dreifaltigkeit beigetragen hat. Es ist wahrscheinlich, dass C. durch Gustav von Griesheim auch Kenntnis von den Vorlesungen Hegels an der Berliner Universität hatte, denn Griesheim gehörte zu denjenigen, die dessen Vorlesungen am genauesten mitschrieben, sodass seine Aufzeichnungen noch heute als Grundlage von Hegels Veröffentlichungen dienen. Gleichzeitig zählte Griesheim in dieser Zeit zu den Schülern der Kriegsschule u. wurde nach C.’ Tod dort Taktiklehrer. Dieses Spannungsverhältnis zwischen unterschiedlichen geistigen Strömungen kennzeichnet auch sein theoretisches Hauptwerk, Vom Kriege. Dieses unvollendete Werk ist getragen von dem Versuch, die Siege (etwa Jena u. Auerstedt 1806), das Scheitern (Russlandfeldzug 1812) u. die Niederlagen Napoleons (Völkerschlacht bei Leipzig 1814 sowie Waterloo 1815) zu reflektieren u. hieraus in Verbindung mit C.’ Analysen historischer Feldzüge eine allg. Theorie des Krieges zu entwickeln. C. verzweifelte gegen Ende seines

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Lebens nahezu daran, eine Synthese zu finden, weil die Kriegführung Napoleons einerseits in zahlreichen Fällen zum Erfolg geführt hatte, sie andererseits nicht verallgemeinert werden konnte, da sie nicht in allen Fällen durchschlagend war u. Napoleons Strategie der »Entgrenzung der Gewalt« in C.’ Sicht sogar zu seiner endgültigen Niederlage bei Waterloo beigetragen hatte. C.’ Resultat für die Theorie des Krieges ist denn auch nicht die weltberühmte Formel vom Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern die »wunderliche Dreifaltigkeit« als Versuch, seine widerstreitenden Kriegserfahrungen in einem Gedankengebäude zusammenzufassen. Die ursprünglich rein religiös bestimmte Dreifaltigkeit bot sich für ihn deshalb an, weil sie es erlaubte, Unterschiedliches als (z.T. sogar widerstreitende) Tendenz in einem Ganzen zu denken. In ihr ist Krieg zusammengesetzt aus den drei Tendenzen seiner ursprüngl. Gewaltsamkeit, aus dem Hass u. der Feindschaft, die wie ein blinder Naturtrieb anzusehen seien, aus dem Spiel der Wahrscheinlichkeiten u. des Zufalls, wodurch das Handeln im Krieg zu einer freien Seelentätigkeit wird, sowie der untergeordneten Natur des Krieges als eines polit. Instrumentes, wodurch der Krieg dem reinen Verstand angehört. Der entscheidende Gegensatz innerhalb der wunderl. Dreifaltigkeit ist derjenige der ursprüngl. Gewaltsamkeit des Krieges in Verbindung mit Hass u. Feindschaft wie ein blinder Naturtrieb auf der einen Seite, der Instrumentalität, wodurch der Krieg dem »reinen Verstand« anheimfällt, auf der anderen. In der Geschichte der C.-Interpretation wurde nahezu immer eine dieser drei Tendenzen im Krieg verabsolutiert, während C. ihr Zusammenspiel wie ihren Widerstreit hervorhob. Während die dt. Militärs bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges das mit der ursprüngl. Gewaltsamkeit verbundene Vernichtungsprinzip hervorhoben, betonten die Marxisten genauso wie die Theoretiker der nuklearen Abschreckung das Prinzip der Rationalität des Krieges. C. jedoch betrachtete jeden Krieg als aus diesen drei unterschiedlichen, widerstreitenden Gegensätzen gleichermaßen zusammengesetzt, wenn sie auch im konkreten Fall in Abhän-

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gigkeit von den sozio-politischen u. histor. Bedingungen die jeweiligen Kriege unterschiedlich bestimmen. Während C. die prinzipielle Gleichrangigkeit u. die Variabilität der drei Tendenzen hervorhob, werden sie im sog. trinitarischen Krieg in eine Hierarchie eingeordnet, eine Konzeption, die derjenigen von C. grundlegend widerspricht. Zudem wird in der Konzeption des trinitarischen Krieges, die C. fälschlich zugeschrieben wird, ein von ihm genanntes Anwendungsbeispiel der Dreifaltigkeit (Nation, Feldherr, Regierung als histor. Ausprägung von ursprünglicher Gewaltsamkeit, Spiel der Wahrscheinlichkeiten u. des Zufalls sowie »reiner Verstand«) als seine eigentl. Theorie missverstanden. Obwohl die Interpretation der »wunderlichen Dreifaltigkeit« immer umstritten bleiben wird (etwa als Gewalt, Kampf u. Gemeinschaft) ist sie der Ausgangspunkt einer allg. Theorie des Krieges. Ausgaben: Vom Kriege. Bln. 1832–34 (in: Hinterlassene Werke. 10 Bde., 1832–37). 181973. 19 1980. Seit der 16. Aufl. hg. v. Werner Hahlweg. – Schr.en, Aufsätze, Studien, Briefe. Hg. ders. Bd. 2, Gött. 1966. 1990. Übersetzung: On War. Hg. Peter Paret u. Michael Howard. Princeton 1976/84. Literatur: Werner Hahlweg: Das Clausewitzbild einst u. jetzt. In: Vom Kriege 1973 (s. o.), S. 1–172. – Raymond Aron: Penser la guerre. Paris 1976. Dt. C. – Den Krieg denken. Ffm. 1980. – Peter Paret: C. and the State. Princeton 1976. Dt. C. u. der Staat. Bonn 1993. – C. in Perspektive. Materialien zu C. v. C.’ ›Vom Kriege‹. Hg. Günther Dill. Ffm./ Bln. 1980. – Michael J. Handel: C. and Modern Strategy. London 1986. – E. Grawert-May: Das Drama Krieg. Zur Moralisierung des Politischen. Tüb. 1987. – Christopher Daase: Kleine Kriege – Große Wirkung. Baden-Baden 1999. – Andreas Herberg-Rothe: Das Rätsel C. Polit. Theorie des Krieges im Widerstreit. Mchn. 2001. Engl. C.’s puzzle. The political theory of war. Oxford 2007. – Beatrice Heuser: Reading C. London 2002. Dt. C. lesen! Mchn. 2005. – Hugh Smith: On C. A Study of Military and Political Ideas. London 2005. – Hew Strachan: C. v. C.’s ›On War‹: a Biography. London 2007. Dt. C. Vom Kriege. 2008. – Ders. u. A. Herberg-Rothe (Hg.): C. in the Twenty-first century. Oxford 2007. Andreas Herberg-Rothe

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Clausnitzer, Tobias, * 5.2.1619 Thum bei Annaberg, † 4.5.1684 Weiden/Oberpfalz. – Evangelischer Theologe; geistlicher Dichter.

chen- u. Hochzeitspredigten für Nürnberger Bürger. Weiteres Werk: De habitu intelligentiae (Resp. T. C., Praes. Ulrich Meyer). Lpz. 1643. Ausgabe: Fischer-Tümpel 5, S. 217–219.

Nach ärmlicher Kindheit – sein Vater Hans Literatur: Franz Heiduk: Magister T. C. Clausnitzer, ein Kärrner, starb vor der Geburt (1619–84): Verz. der Werke. In: Ztschr. für bayer. des Sohnes – ermöglichten Stipendien C. den Kirchengesch. 40 (1971), S. 260 f. – Weitere Titel: Besuch der Lateinschule in Freiberg/Sachsen Albert Fischer: T. C.s Passions Blume. In: Blätter u. des berühmten Magdalenengymnasiums für Hymnologie (1885), S. 18 f. – P. Pressel: T. C. In: in Breslau. Im Sommersemester 1637 imma- ADB. – Johannes Schluttig: T. C. (1619–84), der trikulierte er sich an der Universität Leipzig Dichter des Kirchenliedes ›Liebster Jesu, wir sind (Baccalaureus 30. Sept. 1643, Magister 25. hier‹. In: Herbergen der Christenheit. Jb. für dt. Kirchengesch. 3 (1959), S. 62–70. – Helene HoffJan. 1644). 1644 wurde er Feldprediger im mann: T. C. u. die Einf. des Simultaneums im GeHeer des schwed. Generalmajors Douglas. meinschaftsamt Weiden-Parkstein. In: Ztschr. für 1648 war er als Garnisonsprediger in Diens- bayer. Kirchengesch. 29 (1960), S. 186–218. – Heiten des Grafen Königsmarck, der ihm im duk/Neumeister, S. 24 f., 155 f., 312. – Manfred selben Jahr auch das schwierige Amt eines Knedlik: T. C. (1619–84). Ein Weidener Prediger u. ersten evang. Predigers in Weiden verschaff- Poet der Barockzeit. In: Die Oberpfalz – Brücke te. 1650 wurde C. durch Herzog Christian zum Osten. Kallmünz 1992, S. 107–111. – Ders.: August von Pfalz-Sulzbach zum Kirchen- u. Unbekannte Gelegenheitsgedichte u. Leichenpredigten T. C.s (1619–84). In: Wolfenbütteler BarockSchulinspektor des Gemeinschaftsamtes Nachrichten 20 (1993), S. 20–28. – Claudia StoWeiden-Parkstein ernannt. ckinger: Kasuallyrik. In: Die Lit. des 17. Jh. Hg. C. begann sein literar. Wirken unter dem Albert Meier. Mchn. 1999, S. 436–452. Eindruck der Verwüstungen des DreißigjähRenate Jürgensen / Red. rigen Kriegs in Leipzig u. Meißen, die er in 15 Gedichten beschrieb (Friedens-Traum, des Clauß, Isaac, auch: Clajus von der Ill, Meißnischen Zions, aus dem 126. Psalm. Lpz. * 1613 Straßburg, † 1662 oder 1663 Hei1645). Seine Hoffnungen galten den Schwe- delberg. – Übersetzer. den, deren Königin Christine er eine Lob- und Als Sohn eines aus Lothringen eingewanderDanck-Rede (Lpz. 1645) zum Regierungsantritt ten Großkaufmanns reformierter Konfession, widmete. Den Frieden von 1649 feierte C. mit der 1601 das Bürgerrecht in Straßburg ereiner Friedens-Predigt (Dreyfaches Friedensworben hatte, besuchte C. wohl das GymnaKleinodt. Lpz.). In Weiden entwickelte sich C. sium in Straßburg u. scheint danach Gehilfe unter dem Eindruck der heftigen konfessioin der Handlung des Vaters geworden zu sein. nellen Auseinandersetzungen u. der Lektüre Er heiratete 1636 Margarethe Barbet, Tochter jesuitischer Schriften zum Dichter von eines Juweliers reformierter Konfession. Er schlichten Passions- u. Klageliedern mit trat mehrfach als Wortführer der reformiermystisch-pansophischen Tendenzen, die z.T. ten Gemeinde Straßburgs auf, verließ aber 1663 in das Altdorfer Gesangbuch Eingang 1655 die Stadt u. ließ sich in Heidelberg als fanden u. bis heute in luth. Gesangbüchern Verwalter eines Hospitals nieder. (EKG 127) einen festen Platz behaupten Mit frz. Sprache u. Kultur vertraut, überkonnten. Im Zeichen der Meditation über die setzte C. Pierre Corneilles Cid (in: Teutscher Passion stand auch sein Predigtband Passions- Schau-Bühnen Erster Teyl. Straßb. 1655. Blume, oder trauriges Schau-Bild, der gantz mit- Neudr., hg. v. Robert J. Alexander. Bern u. a. leidigen Natur, über dem hoch-schmertzlichen Lei- 1986) in Prosa. Seine Übersetzung von Franden und Sterben, unsers gekreutzigten Herrn Jesu çois Hédelin d’Aubignacs Moralsatire Le (Nürnb. 1662). Zeitlebens unterhielt C. enge Royaume de la Cocqueterie (Beschreibung des NewVerbindungen zum Pegnesischen Blumenor- entdeckten Schnäblerlandes. Heidelb. 1659) ist den in Nürnberg u. verfasste zahlreiche Lei- eine scharfe Satire auf die höf. A-la-mode-

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Kultur. Sie ist Graf Friedrich Casimir von Hanau-Münzenberg gewidmet. Einblicke in C.’ polit. Auffassungen geben seine Kommentare zur Übersetzung von Georges de Scudérys Traktat Discours politiques des rois (Entdeckte Grufft Politischer Geheimnüssen. o. O. u. J. [1662]). Literatur: Wilhelm Scherer: I. C. In: ADB. – Kenneth Graham Knight: Johann Klays ›Royaume de la Cocqueterie‹. In: Neoph. 27 (1953), S. 99–104. – F. J. Fuchs: Bourgeois de Strasbourg, propriétaires ruraux au XVIIe siècle. In: Paysans d’Alsace. Publ. Société Savante d’Alsace et des Régions de l’Est 7 (1959), S. 106. – NDA. – Robert J. Alexander: Der Übersetzer I. C. (1613–63). In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins 123 (1975), S. 215–222. – Ders.: Acht Schriftstücke v. I. C. an Prof. Johann H. Hottinger (1660 u. 1662). Ebd. 127 (1979), S. 281–294. – Ders.: Utopia inverte: A contemporary German translation of François Hédelin d’Aubignacs ›Royaume de la Cocqueterie‹ (1654). In: Neoph. 84 (2000), S. 87–96. – Walter E. Schäfer: I. C. ›Le Royaume de la Cocqueterie‹ oder ›Beschreibung des new-entdeckten Schnäblerlandes‹ (1659). In: Daphnis 31 (2002), S. 319–348. Robert J. Alexander / Walter E. Schäfer

Clavius, Christoph, * 25.3.1538 Bamberg, † 6.2.1612 Rom. – Jesuit; Pädagoge, Mathematiker, Astronom. Der Professor für Mathematik am Collegium Romanum hat das Niveau der mathemat. Ausbildung im Orden u. in seinen Schulen zur Zeit der Galileiprozesse europaweit geprägt u. als Schriftsteller auf allen Gebieten der Mathematik, der sich von der Kommentierung antiker Texte löste, wegweisend gewirkt. Im April 1555 trat C. in Rom in den Jesuitenorden ein, ein Jahr später begann er mit dem Studium in Coimbra, setzte es 1561 am 1551 gegründeten Collegium Romanum fort u. lehrte dort seit 1563 Mathematik; 1567–1578 war er Mathematikprofessor. Daneben studierte er seit 1562 Theologie, wurde 1564 zum Priester geweiht u. leistete im Sept. 1575 die vier Ordensgelübde. C. schrieb 13 Lehrbücher, die im 17. Jh. mehrfach nachgedruckt wurden, u. edierte u. kommentierte vier antike Texte. Er korrespondierte mit führenden Mathematikern, Astronomen u.

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Politikern seiner Zeit. Schon Tycho de Brahe erkannte seine Bedeutung, Galilei zollte ihm Respekt, u. Marin Mersenne, René Descartes u. Leibniz profitierten von seinen mathemat. Schriften. Giambattista Riccioli lobte in seinem noch im 18. Jh. auch in protestant. Ländern gelesenen Lehrbuch Almagestum novum astronomicum (Bologna 1651, X, sectio 32) C.’ mathemat. Sachverstand; man habe C. in Rom wie ein »Orakel« konsultiert. Pierre Gassendi hält ihn in seiner Biografie des Claude Nicolas de Peiresc für den größten Mathematiker der Gesellschaft Jesu. 1570 erschien in Rom erstmals C.’ Kommentar zur Sphaera des Johannes von Sacrobosco (John of Halifax), der in sechs weiteren Auflagen bis 1611 kontinuierlich neuesten Forschungen angepasst wurde. Aus Beobachtungen der Nova-Erscheinungen 1572, 1600 u. 1604 schloss C., dass sie supralunare Phänomene seien u. demnach die aristotel. Theorie von der Unzerstörbarkeit u. Unveränderlichkeit der supralunaren Sphären revidiert werden müsse. Conrad Aslacius, der C.’ Sphaera-Kommentar an Tycho de Brahe schickte, drückte in einem Brief an ihn (23.10.1594) seine Verwunderung darüber aus, wie leicht es C. falle, sich über die Schulautorität des Aristoteles hinwegzusetzen (Tycho de Brahe: Opera omnia. Hg. I. L. E. Dreyer. Bd. 7, Kopenhagen 1919, S. 367). 1605 u. 1609 beobachtete C. zwei Mondfinsternisse, im Sept./Okt. 1607 den Halleyschen Kometen. 1610 u. 1611 bezeugte er gemeinsam mit jesuit. Kollegen die Richtigkeit von Galileis im März 1610 publizierten Entdeckungen. 1581 setzte er sich erstmals kritisch mit der copernican. Hypothese auseinander u. lieferte dank seiner sachverständigen Urteile die begrifflichen u. method. Grundlagen für die kosmolog. Debatten der folgenden Generation. Erst nach C.’ Tod wurde die heliozentr. Kosmologie aus theolog. Gründen verboten. C. arbeitete seit 1577 in der päpstl. Kongregation zur Reform des Kalenders mit. Er begründete die Notwendigkeit u. Vorzüge der gregorian. Kalenderreform 1582 u. verteidigte sie, u. a. gegen Michael Mästlin u. Joseph Scaliger, in mehreren Schriften 1588–1612.

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Gut erforscht sind C.’ Stellungnahmen zu Copernicus u. der heliozentr. Hypothese. C. zitiert Copernicus in seinem Commentarius in Sacroboscum (18 Erwähnungen in der letzten erweiterten Auflage), ebenso in seiner Abhandlung über die gleichseitigen Dreiecke, in der Explicatio Calendarii Romani (Rom 1603) u. in der Apologia Calendarii Romani contra Maestlinum (Rom 1588). Er lobt in der Kalenderreformschrift Copernicus’ Gelehrsamkeit u. würdigt ihn als neuen Ptolemaios u. Reformator der Astronomie, übernimmt dessen Angaben über die Periodizität der Präzession u. die ungleiche Jahreslänge, weist ihm jedoch auch Rechenfehler nach. Die copernican. Kosmologie lehnte er als »hypotheseis absonae et absurdae, temerariae« ab, weil sie im Widerspruch mit der Erfahrung u. den Lehrmeinungen der Philosophen u. Astronomen stünde u. dem Wortlaut der Bibel widerspräche. Falls Copernicus’ Position nichts Falsches oder Absurdes enthielte, wäre es dennoch bedenklich, sich seiner Meinung anzuschließen, denn die heliozentr. Annahme enthalte im Unterschied zum ptolemäischen Systema »suppositiones absurdae«. Gegenüber Galilei erklärte C., es sei nicht ausgeschlossen, dass man später einmal die Himmelsbewegungen durch andere Methoden erklären könnte. C. bestätigte die Richtigkeit von Galileis Entdeckungen in seinem Brief an diesen vom 17.12.1610. In der letzten Version des Sphaera-Kommentars (Op. math. III, S. 75) nimmt C. noch deutlicher positiv Stellung zu Galileis Entdeckung, dass die Venus ihr Licht von der Sonne erhalte. Die Kalenderreform machte C. die Dringlichkeit einer neuen Planetentheorie (Theoricae planetarum) bewusst. Die jahrelange Arbeit daran wurde aber vermutlich deshalb nicht vollendet, weil die Forschungen Tycho de Brahes u. anderer ihn davon überzeugten, dass Fortschritte in der Planetenastronomie nur aufgrund neuer Beobachtungsdaten möglich wären, u. diese wurden in der Tat erst mit Keplers Marsbeobachtungen erzielt. C.’ dogmatische u. seit 1572 offenbare method. Offenheit ist mit dem jesuit. Wissenschaftsverständnis der Astronomie als »scientia media« zu erklären, wonach nur ihr mathemat. Teil sichere Ergebnisse liefere u.

Clavius

der Astronom, anders als der Naturphilosoph, nicht die Ursachen dessen kenne, was er berechne (Weichenhan). Folglich hielt er es für unnötig, zu jeder beobachtbaren Erscheinung auch naturphilosoph. Gründe anzuführen. Probleme der Mechanik, die Galilei behandelte, gehörten nach jesuitischer Auffassung in die Naturphilosophie u. Metaphysik, wurden in C.’ Lehrbüchern also nicht behandelt, sondern z.B. von Gabriel Vazquez in seinem Thomas-Kommentar. Das fast ausschließl. Interesse der Wissenschaftsgeschichte am Anteil der Jesuiten an der »Galilei-Affäre« verstellte Baldini zufolge lange den Blick für die Stärken der jesuit. Mathematik bis 1612, die in der theoret. Mathematik, der Geometrie, Trigonometrie u. Algebra lagen u. bedeutende ausländ. Mathematiker an das Collegium Romanum lockten. C.’ lat. Ausgabe der Elementa Euklids, die 1574 in Rom erschien u. ebenfalls bis 1611 mehrmals überarbeitet wurde, begründete bis ins 18. Jh. seinen Ruf als christl. Euklid. Er arbeitete Euklids Beweise erneut durch, ergänzte sie u. stellte eigenständige Lösungen euklidischer Probleme vor. Die euklidische Geometrie empfahl er als Basis für das Studium der Mechanik u. Planetenastronomie. Auf die Elementa folgte 1583 die Epitome arithmeticae practicae (Rom), 1604 die Geometrica practica (Rom) u. 1608 die Algebra (Rom). Als einflussreicher »scriptor« international anerkannt, wurde C. von der Pflicht, verschiedene Artes-Fächer zu unterrichten, befreit. Mit bildungspolit. Schriften engagierte er sich im Zuge der Vorbereitung einer einheitl. jesuit. Studienordnung für die Aufwertung der Mathematik als Grundlagenfach für praktische u. techn. Berufe. C. ist es zu verdanken, dass die Mathematik 1599 in der »Ratio studiorum« zur Vorbereitung junger Adeliger auf eine Militärlaufbahn u. zur Schulung von Missionaren hohen Stellenwert erhielt. 1580 schlug er der Ordensleitung neben dem öffentl. Mathematikkurs (in dem Euklids Elementa u. die Sphaera studiert werden sollten) für alle noch einen zwei- bis dreijährigen Spezialkurs vor. Erst 1594 vermochte er beim Rektor des Collegium Romanum Robert Bellarmin, seinem ehemali-

Clavius

gen Studienkollegen u. Freund, diesen Vorschlag durchzusetzen. Unter C.’ Führung wurden in dieser röm. »Academia rerum mathematicarum privata« Spezialisten ausgebildet, die den ordenseigenen Bedarf an Architekten u. Verwaltungspersonal decken u. außerdem auch mit ihrem Fachwissen den Ruf des Ordens über die religiösen Ziele hinaus u. im Wettstreit mit protestant. Hochschulen fördern sollten. Mitglieder von C.’ Akademie boten z.B. 1604 u. 1611 Kurse über aktuelle Beobachtungen u. Entdeckungen an. Aus dieser Elite-Akademie – hauptsächlich, aber nicht nur für Ordensmitglieder –, gingen u. a. Odo van Maelcote, Giuseppe Biancani u. Christoph Grienberger hervor. Alle drei waren von Galileis frühesten Entdeckungen beeindruckt u. suchten sie zu verbreiten: Biancani brachte 1606 als Mathematikprofessor in Parma C.’ Sphaera-Kommentar durch die Aufnahme der Forschungen Galileis u. Keplers auf den neuesten Stand. Van Maelcote begrüßte mit Unterstützung von C. u. Grienberger Galilei am 18.5.1611 mit einem Panegyricus im Collegium Romanum. Grienberger vertrat C. im öffentl. Mathematikkurs u. übernahm 1612 seine Nachfolge, also in einer entscheidenden Phase der wiss. Profilierung u. dogmat. Normierung am Collegium Romanum. Wegen ihrer Affinität zu Galileis Thesen blieben Grienbergers interessanteste Arbeiten unveröffentlicht. Absolventen dieser Akademie unter C.’ Leitung waren es auch, die sich um Abschwächung der beiden Urteile der röm. Glaubenskongregation gegen den Heliozentrismus 1616 u. gegen Galilei 1632 bemühten. Ihre Schuld war es so wenig wie diejenige des C., dass die Academia mathematica nach 1612 ihren singulären Ruf einbüßte, vielmehr wurden freie Forschung u. Lehre am Collegium Romanum mit Rücksicht auf die beiden Urteile gegen den Heliozentrismus u. gegen Galilei 1616 u. 1633 stranguliert. Weitere Werke: Opera mathematica. 5 Bde., Mainz 1611/12. Bd. I,1: Commentaria in Euclidis Elementa geometrica. Nachdr. hg. v. Eberhard Knobloch. Hildesh. 1999; Bd. I,5: Triangula sphaerica; Bd. II,2: Geometria practica; Bd. III,1: In sphaeram Ioannis de Sacro Bosco commentarius. Hildesh. 1999; Bd. V,1: Romani calendarii a Gre-

450 gorio XIII. [...] restituti explicatio; Bd. V,2: Novi calendarii Romani apologia. Hildesh. 1999 (weitere Nachdr.e sind nicht vorgesehen). – Ugo Baldini u. P.D. Napolitani (Hg.): Corrispondenza di Cristoforo Clavio. 14 Tle., Pisa 1992. – Varia de rebus mathematicis discendis et tradendis. In: Monumenta Paedagogica SJ. Hg. Ladislaus Lukacs SJ. Bd. 5, Rom 1986, S. 109 f., 177; Bd. 7, Rom 1992, S. 109–122. Literatur: Ladilaus Lukacs SJ (Hg.): Monumenta Paedagogica Societatis Iesu. 7 Bde., Rom 1965–92 (bes. Bd. 7, S. 110–115). – Ugo Baldini: C. C. and the Scientific Scene in Rome. In: Gregorian Reform of the Calendar. Hg. George V. Coyne SJ u. a. Rom 1983, S. 137–169. – Frederick A. Homann SJ: Christopher C. and the Renaissance of Euclidean Geometry. In: Archivum Historicum Societatis Iesu 52 (1983), S. 233–246. – Eberhard Knobloch: Sur la vie et l’œuvre de Christophore C. (1538–1612). In: Revue d’histoire 41 (1988), H. 3–4, S. 331–356. – Ders.: C. C. Ein Namens- u. Schriftenverz. zu seinen Opera Mathematica. In: Bollettino di storia delle Scienze Matematiche 10 (1990), S. 135–189. – U. Baldini: Legem Impone Subactis. Studi su filosofia e scienza dei Gesuiti in Italia, 1540–1632. Rom 1992. – Albert Krayer: Mathematik im Studienplan der Jesuiten. Stgt. 1992. – James M. Lattis: Between Copernicus and Galileo: C. C. and the Collapse of Ptolemaic Cosmology. Chicago 1994. – U. Baldini: C. C. e l’attività scientifica dei gesuiti nell’età di Galileo. Rom 1995. – Ders.: Cristoforo Clavio insegnante e teorico di astronomia. In: Saggi sulla cultura della Compagnia di Gesù. Padua 2000. – Ders.: The Academy of Mathematics of the Collegio Romano from 1553 to 1612. In: Jesuit Science and the Republic of Letters. Hg. Mordechai Feingold. Boston 2002, S. 47–98 (C.’ Werkverz. S. 74–76). – Martha Baldwin: Pious Ambitions: Natural Philosophy and the Jesuit Quest for the Patronage of Printed Books in the 17th Century. Ebd., S. 285–330. – E. Knobloch: La connaissance des mathématiques arabes par C. In: Arabic sciences and philosophy 12/2 (2002), S. 257–284. – Michael Weichenhan: ›Ergo perit coelum...‹ Die Supernova des Jahres 1572 u. die Überwindung der aristotel. Kosmologie. Wiesb. 2004, S. 217 f. u. 258–260. – Porträt: Gemälde v. Francisco Villamena (1606) in: Archivum Romanum Societatis Jesu, Hist. Soc. 149, fol. 116. Barbara Mahlmann-Bauer

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Clemens von Burghausen, Klemens v. B., bürgerlich: C. Harderer, Harter, * 2.12. 1693 Burghausen, † 20.4.1732 oder 1734 Regensburg. – Kapuzinerprediger. C. trat am 8.10.1709 in den Kapuzinerorden ein. Während seiner langjährigen Tätigkeit in Regensburg fand er großen Zulauf, sogar aus protestant. Kreisen. Außer Übersetzungen erschienen fünf vollständige Sonn- u. Feiertagszyklen, vier u. d. T. Seraphisch- Buß- und Lobanstimmendes Wald-Lerchlein (Bd. 1, Murnau/Burghausen/Stadtamhof 1732. Augsb. 2 1734. Bde. 2–4, Augsb. 1734–37), der fünfte u. d. T. Seraphisches Jäger-Horn (Mchn. 1740); jeweils beigebunden sind Arme-Seelen- u. Fastenpredigten. Die postume Drucklegung besorgte der Ordensbruder Venantius Hueber von Etzenhausen. C. wollte »sowohl hoh- als niedere Stands-Persohnen, Stadt- und DorffsLeuth« ansprechen. Er predigte noch ganz im Stil vieler Amtsbrüder des 17. Jh. mit bildhafter Sprache u. häufigem Gebrauch von Erzählungen; in einem schwankhaften Ostermärlein brachte er Dialoge in der Mundart. Ausgaben: Hans Pörnbacher (Hg.): Bayer. Bibl. Bd. 2: Die Lit. des Barock. Mchn. 1986, S. 481–484, 1242. Literatur: Elfriede Moser-Rath: Predigtmärlein der Barockzeit. Bln. 1964, S. 412–427 u. 504–509. – Werner Welzig: Kat. gedr. deutschsprachiger kath. Predigtwerke. Bd. 1, Wien 1984, S. 430–435. Bd. 2, Wien 1987, S. 682. – DBA 194,11–12. – Johann Dorner: Der Kapuzinerpater C. Harter, ein Barockprediger aus Burghausen. In: Oettinger Land, Altötting 10 (1990), S. 198–203. – E. Moser-Rath: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen. Alltag im Spiegel süddt. Barockpredigten. Stgt. 1991, passim. – Urs Herzog: Anna Morgin: Hinrichtung u. Erlösung einer barocken Malefiz-Persohn. Zur Bußpredigt des C. v. B. OFM Cap (1693–1723). In: Rottenburger Jb. für Kirchengesch. 20 (2001), S. 155–173. Elfriede Moser-Rath † / Red.

Clément, Bertha, * 25.8.1852 Ludwigslust/Mecklenburg, † 22.8.1930 Ludwigslust/Mecklenburg. – Jugendbuchautorin. Angeregt durch die Erzählungen u. Reisebeschreibungen ihres Vaters, eines Malers, begann C. spät (1893), aber dann in rascher

Clodius

Folge, Erzählungen v. a. für junge Mädchen vorzulegen. In ihren häufig illustrierten Schriften erleben »höhere Töchter« die bürgerl. Zeit wilhelminischer Prägung. Die literarisch wenig anspruchsvollen Werke bewegen sich im Umfeld der »Backfischbücher«, zu deren namhaftesten Vertreterinnen neben C. noch Clementine Helm, Emmy von Rhoden u. Else Ury zu rechnen sind. Einen großen Teil ihres Œuvres nahm der Leipziger Union Verlag in seine Reihe »Kränzchen-Bibliothek« auf. Trotz kritischer Einwände seitens der Erzieher erzielten mehrere ihrer Veröffentlichungen hohe Auflagen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden C.s Bücher nur noch wenig gelesen. Weitere Werke: Tage des Glücks. Erzählung für Mädchen v. 10–12 Jahren. Stgt. 1893. – Komtess Wally. Neues vom ›Silbernen Kreuzbund‹. Gütersloh 1898. – Libelle. Bd. 1: Backfischzeit. Bd. 2: Lenz u. Brautzeit. Stgt. 1901/02 (E.). – Lebensziele. Stgt. 1907 (E.). – Liesel ohne Sorgen. Stgt. 1912 (E.). – O du mein gülden Krönlein. Lpz. 1919 (E.). – In Treue fest. Erzählung für Knaben. Bln. 1929. Literatur: Harro Kieser: B. C. In: Gedenktage des mitteldt. Raumes. Bonn 1980, S. 137–139. – Ders.: B. C. In: LKJL 4, S. 124. – Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen 1800–1945. Hg. Gisela Brinker-Gabler u. a. Mchn. 1986. Reinhard Tenberg / Red.

Clodius, Christian August, * 5.1.1737 Annaberg/Erzgebirge, † 30.11.1784 Leipzig. – Akademischer Lehrer, Dichter u. Poetologe. Als Sohn eines Schulrektors genoss C. eine gediegene humanist. Ausbildung; von 1756 an studierte er in Leipzig Literatur u. klass. Altertumskunde u. schlug, gefördert von Gellert, dort die Universitätslaufbahn ein: 1760 wurde er a. o., 1764 o. Professor der Philosophie, 1778 Professor der Logik, 1782 Professor der Dichtkunst u. Rektor der Universität. C. machte sich einen Namen durch seine 1767 erschienenen Versuche aus der Literatur und Moral (Lpz.), eine Sammlung von Abhandlungen, v. a. über die Literatur der griech. Antike, von vermischten Gedichten u. einem (1768 in Leipzig auch separat gedruckten) Drama Medon, oder die Rache des

Clodius

Weisen. Seit 1780 erschienen seine Neuen vermischten Schriften (Tle. 1–4, Lpz. 1780. Tle. 5/6 hg. v. seiner Frau Julie Clodius, geb. Stölzel, Lpz. 1787), bestehend aus dialogischen Erzählungen, Fabeln, lyr. Gedichten, freien Übersetzungen u. Aufsätzen über Gegenstände der Philosophie u. Literatur. Als Dichter selbst von geringer Originalität, war der akadem. Lehrer C. als Vermittler poetolog. Grundlagenwissens von Bedeutung: Zu den Besuchern seines Praktikums im prosaischen u. poet. Stil, deren dichterische Versuche er akribisch genauen Korrekturen unterzog, zählte auch der junge Goethe, der seinem Missmut über C.’ Kritik an einem von ihm verfassten Hochzeitspoem mit einem parodist. Gedicht An den Kuchenbäcker Händel Luft machte u. später in Dichtung und Wahrheit (2. Tl., 7. Buch) ein Bild von C. zeichnete, das dessen Verdiensten nur bedingt gerecht wird. Weitere Werke: Gedichte auf die Huldigung Seiner Durchlaucht des Churfürsten zu Sachsen. Lpz. 1769 (Oden, allegor. Ballett). – Demopater u. Augusta, ein Drama. Lpz. 1769. – Odeum. 2 Tle., Lpz. 1784 (Period. Schr. mit vermischten Beiträgen). – Dissertationes et Carmina. Lpz. 1787 (lat. Abh.en u. Gedichte). Ernst Fischer / Red.

Clodius, Christian August Heinrich, * 21.9.1772 Altenburg, † 30.3.1836 Leipzig. – Akademischer Lehrer, Dichter u. Philosoph.

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religiösen Prinzips gestellt, dem evidenten Dasein eines »absolutnothwendigen Wesens«, aus dessen Einheit alle gesetzmäßigen Erscheinungen in ihrer Idealität abzuleiten sind, so wandte er sich nachfolgend mit dem Grundriß der allgemeinen Religionslehre (Lpz. 1808) ganz der Religionsphilosophie zu. In seinem Hauptwerk Von Gott in der Natur, in der Menschengeschichte und im Bewußtsein (2 Bde. in 5 Abt.en, Lpz. 1811–22) vertrat er – nunmehr in entschiedener Gegnerschaft zur kantischen Philosophie – eine Position, die in der Nachfolge Schleiermachers Religion mit Bewusstsein identisch setzte u. diesen Begriff gleichermaßen gegen aufklärerischen Rationalismus u. Materialismus wie gegen verabsolutierende Formen des Supranaturalismus verteidigte. Verdienste erwarb sich C. auch als Herausgeber von Johann Gottfried Seumes Mein Leben (Lpz. 1813), dessen Gedichten (o. O. 1815) u. einer neuen Auflage von dessen Spaziergang nach Syracus im Jahr 1802 (Lpz. 1817–19) sowie einer Auswahl aus Klopstocks nachgelassenem Briefwechsel und übrigen Papieren (2 Bde., Lpz. 1821). Weitere Werke: Gedichte. Lpz. 1794. – La Fontaine’s Fabeln. Lpz. 1803 (freie Bearb. der Fabeln für die Jugend). – Fédor, der Mensch unter Bürgern. Bruchstücke aus dem Leben eines Officiers. 2 Tle., Lpz. 1805 (R.). – Eros u. Psyche. Ein Gedicht in zwölf Gesängen. Hg. Wilhelm Crusius. Lpz. 1838. Literatur: Ulrich Tadday: C. A. H. C.’ ›Entwurf einer systematischen Poetik‹ v. 1804 u. die Anfänge einer Ästhetik der romant. Oper. In: Die Musikforsch. 51 (1998), S. 25–33. Ernst Fischer / Red.

Der Sohn des Christian August Clodius studierte ab 1787 als frühreifes Genie in Leipzig Philologie u. Jurisprudenz; 1795 durch eine Abhandlung De poeseos generibus (Lpz.) Privatdozent geworden, wurde er 1800 a. o. sowie Closener, Klosener, Fritsche, † zwischen 1811 o. Professor der prakt. Philosophie in 1390 u. 1396. – Geistlicher, Lehrer u. BeLeipzig. amter der Stadt Straßburg, Verfasser des Auf literarhistorischer Ebene ist C. – abgeersten lateinisch-deutschen Wörterbuchs, sehen von einigen unbedeutenden Dichtuneiner der ältesten Chroniken in deutscher gen seiner Jugendzeit – v. a. durch einen bisProsa u. einer lateinischen Gottesdienstlang zu Unrecht kaum beachteten Entwurf eiordnung. ner systematischen Poetik, nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung (2 Bde., Lpz. 1804) hervor- Geburts- u. Todesjahr des möglicherweise getreten, dem eigenständigen Versuch einer mit der gleichnamigen Straßburger Patriziphilosoph. Poetik auf der Grundlage der erfamilie verwandten Klerikers u. städt. Bekantischen Transzendentalphilosophie. Hat- amten C. sind unbekannt, ebenso seine klete C. schon die Poetik auf die Spitze eines rikale Ausbildung u. seine Tätigkeiten vor

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Mitte des 14. Jh.; biogr. Anhaltspunkte liegen erst für die Zeit danach vor. 1349 zum »custos« ernannt, erhielt C. eine Pfründe am Marienaltar des Straßburger Münsters; spätestens seit 1358 ist er als Besitzer der lukrativen ersten Pfründe am Altar der Katharinenkapelle nachweisbar, seit 1366 als Vikar u. Benefiziat des großen Chores im Münster. Bevor C. in kirchl. Ämtern aufstieg, dürfte er an Straßburger Lateinschulen unterrichtet haben. Das macht seine Autorschaft am Wörterbuch wahrscheinlich. Anders als C.s Directorium chori, eine nur in zwei Handschriften überlieferte, 1364 vom Domkapitel genehmigte Zusammenstellung der liturg. Gebräuche des Münsters, realisieren Vokabular u. Chronik ein bildungspolit. Programm, das den Interessen der politisch maßgebl. Schicht, den Bürgern im Rat, entsprochen haben muss. Das in fünf Handschriften erhaltene Wörterbuch ist das erste lat.-dt. Vokabular, das seine Stichwörter, ausschließlich Nominalia (Substantive, Adjektive, Namen), nicht nach Sachgruppen, sondern in alphabetischer Reihenfolge ordnet. C. hat es vermutlich vor oder parallel zu seiner 1362 abgeschlossenen Chronik, v. a. auf der Basis spezieller Sachwortschatzsammlungen, auch versifizierter, zusammengestellt. Über weite Strecken dominieren einfache Wortgleichungen vom Typus »Abies Danne« oder Mehrfachangaben entsprechend der Polysemie des lat. Lemmas, gelegentlich kommen kurze lat. oder dt. Sacherklärungen hinzu. Hauptanliegen ist die Vermittlung der Bedeutung u. der Bedeutungsunterschiede lat. Wörter, der auch zahlreiche lat. Merkverse Rechnung tragen. Erläuterungen zur Grammatik u. a. treten dahinter ganz zurück. Dem Vokabular war v. a. in der Neufassung durch Jakob Twinger von Königshofen eine größere Wirkung beschieden, beiden erwuchs aber nach 1410 mit dem Vocabularius Ex quo, der den Typus des alphabetisch organisierten Universalglossars vertrat, erhebl. Konkurrenz. Vielleicht geht auf C. auch ein dt.-lat. Register zu seinem Vokabular, das sog. Abgrúnde-profundum-Glossar, zurück, das in vier Handschriften überliefert ist.

Closener

Die 1362 fertiggestellte Chronik begründet die dt. Chronistik in Straßburg u. verknüpft als eine der ersten volkssprachigen Chroniken Papst- u. Kaiser- mit Stadt- u. Bistumsgeschichte. Nur in einer einzigen Handschrift aus der zweiten Hälfte des 14. Jh. überliefert, beginnt sie, darin Martin von Troppau folgend, mit einer in zwei unabhängigen Reihen durchgeführten Papst- u. Kaisergeschichte, die sich auch auf die Erste Bairische Fortsetzung der Sächsischen Weltchronik stützt. Der knappe Papstkatalog reicht bis Clemens V. (1309), die Kaiserchronik von Caesar bis Karl IV. (1355), mit ausführlicheren Einträgen ab Friedrich II. Etwa die Hälfte des Umfangs nimmt der zweite Teil, die Geschichte des Bistums Straßburg, ein, dessen Zentrum C.s Übersetzung des Bellum Waltherianum bildet (Kampf Bischof Walthers von Geroldseck mit der Stadt 1260–1262). Anfangs weitgehend auf dem zwischen 1290 u. 1299 angelegten lat. Ellenhard-Codex fußend, bringt C. für die Jahre 1302–1358 größtenteils selbstständige Berichte. Die daran anschließenden zeitgeschichtl. Notizen zu städt. Ereignissen (Kriegszüge, Zunftkämpfe, Auseinandersetzungen im Domkapitel, Bautätigkeit, Ernten u. Preise, Naturkatastrophen, Pest, Judenverfolgung, Geißlerzüge) sind nicht chronologisch geordnet, sondern eher als sachlich gegliederte Materialsammlung aneinandergereiht. Der Schlussabschnitt kehrt wieder zur Reichsgeschichte – von Philipp von Schwaben bis zur Wahl Rudolfs von Habsburg – zurück. Der Umstand, dass C.s Chronik im Verwaltungsgebäude der Münsterfabrik aufbewahrt wurde, lässt Schlüsse auf ihren offiziösen Gebrauchscharakter zu. Ihre Wirkung ist, ähnlich wie im Falle des Wörterbuchs, durch Jakob Twingers von Königshofen Nachfolgeunternehmung erheblich eingeschränkt worden. Ausgaben: F. C.s Chronik 1362. Hg. Carl Hegel. Lpz. 1870. Neudr. Gött. 1961, S. 1–151. – Die Vokabulare v. F. C. u. Jakob Twinger v. Königshofen. Hg. Klaus Kirchert zus. mit Dorothea Klein. 3 Bde., Tüb. 1995. Literatur: Vokabular: Gerhardt Powitz: Zu dem Glosar des Straßburger Chronisten F. C. In: ZfdPh 83 (1964), S. 321–339. – Klaus Kirchert: Text u. Kontext. Zu den ›Wörterbüchern‹ v. F. C. u. Jakob

Cober

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Cober, Gottlieb, * 21.6.1682 Altenburg, † 12.4.1717 Dresden. – Verfasser von Erbauungsschriften.

tha sein erstes Werk, das Andachtsbuch Epistolisch-evangelisches Praeservativ wider den zerstreueten Sinn in des Herrn Heiligthum (21722 u. d. T. Moral- und Sittenprediger im Cabinet). Großen Erfolg hatte Der auffrichtige CabinetPrediger (Gotha 1711. Altenburg 1712 u. ö.). Darin zeigt C. soziale u. sittl. Missstände seiner Zeit auf u. kritisiert, zuweilen zornig u. schonungslos, Hofleben u. Adel ebenso wie Richter u. Geistliche. Weil verschiedene Personen sich getroffen fühlten u. gegen ihn vorgingen, wurde C. am 10.9.1711 verhaftet. C. war nicht zum Widerruf zu bewegen u. wurde 1712 zur Landesverweisung u. Urfehde verurteilt. Dem entzog er sich durch Flucht nach Leipzig. Dort u. anschließend in Dresden setzte er seine schriftsteller. Tätigkeit fort. Wiederum hatte er mit Schwierigkeiten wegen seiner scharf formulierten Schrift Antwort des Narren auf die Narrheit Joh. Fr. Lauterweins (Glückstadt 1713) zu kämpfen. Denkweise u. sprachl. Eigenarten C.s treten im Cabinet-Prediger am deutlichsten hervor. Eine kämpferische theolog. Gesinnung verbindet sich mit einer bemerkenswerten Ausdrucksgabe, die ihre Wirkung nicht zuletzt der Kürze u. Anschaulichkeit der Sätze verdankt. Seine Predigten versieht C. mit anekdotenhaften Geschichten, histor. Anspielungen u. eigenen Versen von z.T. minderer poet. Qualität. Sprichwörtliche Wendungen, Neologismen u. Wortspiele prägen seinen Stil, ferner Sentenz, Antithese, Reim u. Alliteration. Die Wortspielereien erinnern an Abraham a Sancta Clara, dem C. in seiner Gesinnung nahestand, ohne jedoch seine sprachl. Virtuosität zu erreichen. Weitere Vorbilder waren Johann Lassenius u. Philipp Jacob Spener. C.s Schriften waren wegen ihrer prägnanten Sprache gerade beim einfachen Volk beliebt u. erreichten hohe Auflagen. Jean Paul kannte C.s Werk u. erwähnte es im Schulmeisterlein Wuz. Wilhelm Raabe spielt in seiner Erzählung Hastenbeck (1898) auf C. an u. verarbeitet Zitate aus dem Cabinet-Prediger.

Der Sohn eines Steinsetzers besuchte das Gymnasium in Altenburg u. studierte ab Wintersemester 1702 in Jena Theologie. Nach dem Examen war er mehrere Jahre Hauslehrer in Schlesien. Bereits 1710 erschien in Go-

Weitere Werke: Sonn- u. festtägl. Vesper-Glocke. Lpz. 1712 (zuletzt 1738). – Sonn- u. festtägl. Früh-Glocke. Lpz. 1712. 61750. – Hertz-erquickende Blumen u. Gemüths-labende Äpfel, aus dem anmuthigen Lust-Garten der Hl. Schrifft frisch abgebrochen. Lpz. 1713 u. ö. – Der bußfertige

Twinger v. Königshofen. In: Brüder-Grimm-Symposion zur histor. Wortforsch. Hg. Reiner Hildebrandt u. Ulrich Knoop. Bln./New York 1986, S. 222–241. – Ders.: Vocabularium de significatione nominum. Zur Erforsch. spätmittelalterl. Vokabularlit. In: La Lexicographie au moyen âge. Hg. Claude Buridant. Lille 1968, S. 47–70. – Dorothea Klein: Ad memoriam firmiorem. Merkverse in lat.dt. Lexikographie des späteren MA. In: Überlieferungsgeschichtl. Ed.en u. Studien zur dt. Lit. des MA. Hg. Konrad Kunze u. a. Tüb. 1989, S. 131–153. – Textausg. (a. a. O.), Bd. 1, S. 66*-69*. – Chronik: Margarethe Neumann: Die sog. ›Erste Bairische Fortsetzung‹ der Sächs. Weltchronik u. ihre Beziehungen zum Oberrhein. Greifsw. 1925. – Franz Hofinger: Studien zu den dt. Chroniken des F. C. v. Straßburg u. des Jakob Twinger v. Königshofen. Diss. Mchn. 1974. – Dieter Mertens: Der Straßburger Ellenhard-Codex in St. Paul im Lavanttal. In: Geschichtsschreibung u. Geschichtsbewußtsein im späten MA. Hg. Hans Patze. Sigmaringen 1987, S. 543–580, bes. S. 576–579. – Rolf Sprandel: Chronisten als Zeitzeugen. Forsch.en zur spätmittelalterl. Geschichtsschreibung in Dtschld. Köln u. a. 1994, S. 147–149. – Norbert Warken: Mittelalterl. Geschichtsschreibung in Straßburg. Studien zu ihrer Funktion u. Rezeption bis zur frühen Neuzeit. Diss. Saarbr. 1995, S. 124–136. – Harald Tersch: Unruhe im Weltbild. Darstellung u. Deutung des zeitgenöss. Lebens in deutschsprachigen Weltchroniken des MA. Köln u. a. 1996, S. 33–35 u. ö. – Markus Müller: Die spätmittelalterl. Bistumsgeschichtsschreibung. Überlieferung u. Entwicklung. Köln u. a. 1998, S. 45 f. – Johannes Grabmayer: Zwischen Diesseits u. Jenseits. Oberrhein. Chroniken als Quellen zur Kulturgesch. des späten MA. Köln u. a. 1999, S. 26–28 u. ö. – Weitere Titel: Gisela Friedrich u. K. Kirchert: F. Klosener. In: VL. – K. Kirchert: Städt. Geschichtsschreibung u. Schullit. Rezeptionsgeschichtl. Studien zum Werk v. F. C. u. Jakob Twinger v. Königshofen. Wiesb. 1993. – Susanne Schedl: Straßburg als Literaturstadt. Ein Grundriß in literarhistor. Längsschnitten. Diss. Mchn. 1996, S. 20–25 u. ö. Norbert H. Ott / Dorothea Klein

455 Zöllner zu Hause u. im Tempel [...]. Lpz. 1714 u. ö. – G. C.s bewegl. Paßions-Prediger im Cabinet. Lpz. 1717 (seit 1724 mindestens 14 Aufl.n). – Der mit dem göttl. Gesetz donnernde Catechismus-Prediger. Ffm./Lpz. 1725. 31739. Ausgaben: Der auffrichtige Cabinet-Prediger. Aufs Neue hg. v. M. J. Lange. 2 Tle., Halle 1854. – Weiland G. C.s [...] Blumen u. Äpfel aus dem Lustgarten der Heiligen Schrift [...]. Aufs Neue hg. Eckartsberga 1856. – Der Passions- u. Osterprediger. Vorrede v. Franz Delitzsch. Ffm. 1865. – ›Die geschminkte Jesabel‹ u. ›Die Sau mit dem güldenen Haarband‹. In: Die Sau mit dem güldenen Haarband. Herzhafte Predigten aus alter u. neuer Zeit. Hg. Gerd Heinz-Mohr. Düsseld. 1973, S. 152–160. Literatur: Moritz Geyer: G. C., ein Moralprediger des vorigen Jh. [...]. Altenburg 1885. – Georg Müller: Ein theolog. Injurienprozeß des 18. Jh. In: Neues Archiv für Sächs. Gesch. u. Altertumskunde 10 (1889), S. 334 f. – Rudolf Löbe: Zur Erinnerung an G. C. In: Mancherlei Gaben u. ein Geist. Homilet. Vjs. für das evang. Dtschld. 34 (1895), S. 375–388, 567–580. – Lucian Müller: C. u. Raabe. in: Mitt.en. für die Gesellsch. der Freunde Wilhelm Raabes 21 (1931), Nr. 2, S. 76 f. – Reinhold Jauernig: G. C. In: NDB. – Renate Moser: Das Substantiv bei G. C. (1682–1717) am Beispiel seines Hauptwerkes ›Der aufrichtige Cabinetprediger‹. Diss. (masch.) Univ. Wien 1985. Gabriele Henkel / Red.

Coccejus, Johannes (Johann Cock), * 9.8. 1603 Bremen, † 5.11.1669 Leiden. – Reformierter Theologe, Verfasser philologischer, exegetischer u. theologischer Werke. C. war ein führender Bibelforscher des 17. Jh., dessen Arbeit in der Tradition humanistischer Gelehrsamkeit u. reformierter Theologie stand. Er studierte ab 1620 Philologie, Theologie u. Philosophie am Gymnasium illustre in Bremen u. ab 1626 oriental. Sprachen in Franeker (Friesland). 1630 wurde er in Bremen zum Professor ernannt (für »Philologia Sacra«), 1636 in Franeker (für Hebräisch, seit 1643 für Theologie); seit 1650 wirkte er als Ordinarius der Theologie an der Universität Leiden, ein Amt, das er bis zu seinem Tod bekleiden sollte. Vor seiner akadem. Ausbildung nahm C. privaten Hebräisch-Unterricht bei einem jüd. Lehrer in Hamburg. Zudem stand er in Kontakt mit Rabbi Jakob Abendana, der zus. mit

Coccejus

seinem jüngeren Bruder Isaac an der ersten Übersetzung der Mishna in europ. Sprachen arbeitete. In Bremen wurde C.’ Frühreife von Matthias Martini erkannt, der ihn Latein, Griechisch, Chaldäisch, Syrisch u. Arabisch lehrte. In Franeker studierte C. bei dem bekannten Orientalisten Sixtinus Amana, auf dessen Initiative er eine Edition zweier Mishna-Traktate, Sanhedrin u. Makkot (1629), anfertigte. C.’ Antrittsvorlesung in Leiden (1650) befasste sich mit den Gründen des jüd. Unglaubens bzgl. des Christentums (Oratio de causis incredulitatis Judaeorum. 1650) u. bekräftigte die traditionelle christl. Überzeugung von der bevorstehenden Bekehrung der Juden. C. war ein überaus produktiver Autor. Seine Schriften umfassen Kommentare zu allen bibl. Büchern, ein Lexikon des Hebräischen u. Aramäischen, Werke zur Philologie, Dogmatik u. Ethik sowie zur Theologie, darunter seine berühmte Summa doctrinae de foedere et testamento Dei, die dreimal aufgelegt wurde (1648, 1653 u. 1660). Dies ist ein deutlicher Hinweis auf die Popularität von C.’ theolog. Denken in der zweiten Hälfte des 17. Jh. Die Summa doctrinae wurde der »Klassiker« der (niederländ.) Bundes- oder Föderaltheologie. Diese Bundestheologie C.’ lässt sich am besten beschreiben als eine Theologie, in der der bibl. Begriff des Bundes ein Schlüsselelement der Hermeneutik darstellt. C. definiert diesen Bund als »nichts anderes als eine göttliche Erklärung, wie die Liebe Gottes empfangen und die Vereinigung und Gemeinschaft oder Freundschaft mit ihm erreicht wird« (Summa doctrinae, § 5). Dies ist das letzte Ziel der Heilsgeschichte. Die Begriffe, die diesen Bund bezeichnen, sind »berith« (hebr.), »diathéke« (griech.), »foedus«, »pactum« u. »testamentum« (lat.). Die eigentl. Bedeutung von »berith« beinhaltet Gegenseitigkeit zwischen den Parteien, jedoch kann der Ausdruck nach Meinung C.’ unterschiedl. Bedeutungen haben. Im Bund Gottes mit den Menschen steht die einseitige Handlung Gottes an erster Stelle. Der Begriff »diathéke«, der in testamentar. Sinne verstanden wurde, entspricht exakt der zuletzt genannten Bedeutung von »berith«. Somit ist in lat. Übersetzung »testamentum« dem Begriff

Coccejus

»pactum« vorzuziehen, da »pactum« das wechselseitige Verhältnis von »berith« impliziert. Auf diese Weise unterstreicht C. die grundlegend einseitige oder monopleurische Natur des Bundes. Er betont jedoch, dass dieser auch dipleurische Züge habe, die das Geschöpf zum Gehorsam verpflichten u. durch die es berechtigt ist, Forderungen an den Gott des Bundes zu stellen. »Der Bund war ursprünglich einseitig oder monopleurisch, aber zweiseitig oder dipleurisch in dem Moment, in dem er geschlossen war« (Summa doctrinae, § 6 u. 7). Traditionell unterschied C. zwei grundlegende Formen des Gottesbundes in der Heilsgeschichte: den Werkbund (»foedus operum«) vor dem Sündenfall (»ante lapsum«) u. den Gnadenbund (»foedus gratiae«) nach dem Sündenfall (»post lapsum«). Ersterer wurde durch Adams Ungehorsam gebrochen, Letzterer unmittelbar nach dem Sündenfall verkündet. Den Gnadenbund teilt C. in zwei Abschnitte, vor u. nach Christi Geburt. Der Abschluss des Gnadenbundes bringt jedoch nicht das abrupte Ende des ursprünglichen, im Paradies gescheiterten Bundes mit sich. C. beschreibt die gesamte bibl. Geschichte nach dem Sündenfall als eine Reihe von Ereignissen, durch die der ursprüngl. Werkbund nach u. nach außer Kraft gesetzt u. aufgehoben wird: durch die menschl. Sünde (1), durch den Beschluss Gottes, den Gnadenbund zu schließen (2), durch das Versprechen des neuen Bundes (3), durch die Loslösung vom u. den Tod des alten Menschen in der Heiligung, die der Gläubige empfängt (4), u. durch die Auferstehung der Toten (5) werden schrittweise alle bösen Auswirkungen beseitigt, die der Bruch des Werkbundes zeitigte, bis schließlich die Erlösung, die der Gnadenbund verspricht, in voller Pracht u. Freiheit zum Vorschein kommt. Durch dieses Element der Aufhebung gab C. seinem Konzept des Bundes eine kraftvolle Dynamik u. eine eschatolog. Perspektive. Diese Doktrin löste jedoch in der niederländ. reformierten Theologie hitzige Debatten über den Sabbath u. die Doktrin der Rechtfertigung u. der Vergebung der Sünden aus. Nach C. wurde das Sabbathgebot eines wöchentlich wiederkehrenden Ruhetags

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nicht im Paradies gegeben; sein Ursprung lag in der Wüstenperiode Israels, die zum (aufgehobenen) Werkbund gehört. C.’ Ablehnung des Sabbatarianismus der reformierten Orthodoxie war eigentlich ein Protest gegen den Einfluss der puritan. Doktrin in der reformierten Kirche. Zudem hielt C. eine Unterscheidung zwischen der Vergebung der Sünden im Sündenerlass des AT u. des NT für möglich. Er stützte diese Unterscheidung auf zwei griech. Ausdrücke für Vergebung, »páresis« u. »áphesis«, die im Brief an die Römer (3,25) bzw. an die Hebräer (10,18) gebraucht werden. Unter der Heilsökonomie des AT kann man von »páresis« (»praetermissio«) oder Nichtanrechnung der Sündenschuld sprechen, während »áphesis«, d.h. die eigentl. Beseitigung der Sünde, die auf die Erfüllung des Sühneopfers Christi als einer in der Geschichte herbeigeführten Realität folgt, die heutige Ordnung bezeichnet. Daraus folgerten orthodox-reformierte Gegner C.’ wie z.B. Gisbertus Voetius, dass C. zufolge die Gläubigen des AT keine Rechtfertigung im Vollsinn des Wortes erlangen könnten. Die eschatolog. Dimension in C.’ Bundestheologie tritt auch in seiner Auslegung der bibl. Prophezeiung hervor. Auf der Grundlage einer angenommenen Analogie der Prophezeiungen in der Schrift – v. a. der Prophezeiungen Daniels u. der Offenbarung – interpretiert C. im Weiteren die Bibel als eine einzige große Prophezeiung der christl. Kirche bis ans Ende aller Zeiten. Prophezeiung u. Weltgeschichte sind in seiner »prophetischen Theologie« eng miteinander verknüpft. Zus. mit seiner Bundestheologie schuf er so eine dynam. Theologie des Reiches Gottes: Gottes Herrschaft offenbart sich schrittweise im Laufe der Geschichte, die C. in sieben Perioden einteilte, ist doch seiner Auffassung nach die Sieben die bedeutendste Zahl der bibl. Prophezeiung. C. versuchte dafür allg. Regeln zur Erklärung der bibl. Prophezeiung zu formulieren u. verfasste ausführliche theoret. u. methodolog. Abhandlungen zu diesem Thema. Bei der Interpretation bibl. Gestalten u. Ereignisse machte er Gebrauch von typologischer u. allegor. Schriftauslegung. Weiter ausgearbeitet wurden Elemente dieser prophet. Theologie

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in den Werken einer späteren Generation von Coccejanern. Einige Historiker (McCoy, Faulenbach) sehen in C.’ histor. Ansatz eine radikale Abkehr vom protestant. Scholastizismus. Sie präsentieren ihn primär als Exegeten mit einer Abneigung gegen spekulative Theologie, u. sie stellen seine »biblische Theologie« der trockenen log. Theologie der Scholastiker gegenüber. Jedoch war C.’ Abkehr vom Scholastizismus nicht so absolut wie in der Literatur häufig dargestellt. Bei seiner Ausarbeitung des Bundesbegriffs in der Summa doctrinae nutzt er z.T. (auf krit. Weise) die Technik der scholast. Argumentation. Darüber hinaus erscheint der Begriff »biblische Theologie«, angewandt auf C., wie ein Anachronismus, da er eine Bewegung bezeichnet, die tatsächlich erst mit dem dt. Theologen Johann Philipp Gabler einsetzte. Und schließlich ist rationales Argumentieren nicht zu verwechseln mit »Rationalismus«: Obgleich C. eine Theologie anstrebte, die fest in der Bibel gründet, behielt er in Methodik u. Doktrin vieles von den reformierten Scholastikern bei. Es gibt keine radikale Trennung zwischen C. u. seinem Umfeld. Gleichwohl lehrte C., dass Theologie u. Philosophie ihre jeweils eigenen Bereiche hätten u. die Bibel nicht mit philosoph. Begriffen verstanden werden dürfe. Er war gut vertraut mit der akadem. Philosophie seiner Zeit, die zum Aristotelismus neigte, sowie mit dem Cartesianismus. Von seinen Studenten forderte er, sich mit der Philosophie Platons, Aristoteles’ u. Descartes’ vertraut zu machen, jedoch unter der Bedingung, dass die Philosophie als Dienerin u. Schülerin von Gottes Wort fungieren müsse (»philosophiam verbo Dei ancillam imo et discipulam praestare«). C.’ Schriften liefern zwar keine systemat. Darstellung des Verhältnisses von cartesian. Philosophie u. Theologie, doch äußert er sich an einigen Stellen ausführlich zu Lehrstücken Descartes’. In seinen Considerationes de ultimis Mosis (Betrachtungen zu den letzten sechs Kapiteln des Deuteronomium. 1650) widmete C. dem cartesian. Prinzip des Zweifels einen Absatz (§ 74). Zwar erkannte u. anerkannte C., dass für Descartes der Zweifel das Mittel ist, gesichertes Wissen zu erlangen,

Coccejus

er vertrat jedoch die Auffassung, Descartes habe unglückl. Formulierungen dafür gewählt: Es löse große Verwirrung aus, dass die Anhänger Descartes’ beständig den Ausdruck »dubitatio« verwendeten. Angesichts dieser Haltung C.’ ist es umso beachtlicher, dass sich später eine Verbindung zwischen coccejanischer Theologie u. cartesian. Philosophie entwickelte, u. dies trotz C.’ eigener Ansichten. Viele seiner Anhänger fühlten sich durchaus zur »neuen Philosophie« des Descartes hingezogen. Einige von ihnen, z.B. Abraham Heidanus in Leiden, Franciscus Burmannus in Utrecht, Johannes Braunius in Groningen u. Christophorus Wittichius in Duisburg, entwickelten eine Art »cartesio-coccejanischer« Theologie, die zus. mit ihrer prophet. Theologie gegen Ende des 17. Jh. heftige Debatten in der niederländ. reformierten Kirche auslösen sollte. Während diese Anhänger C.’ Elemente der cartesian. Philosophie in das coccejanische System integrierten (u. daher als »Tolerante« oder »Leidener Coccejaner« bezeichnet wurden), entwickelten andere, darunter Campegius Vitringa u. Johannes d’Outrein, ein stärker pietistisch gefärbtes Modell der Bundestheologie (weshalb man sie als »Ernste Coccejaner« bezeichnete). Dieses beeinflusste reformierte pietist. Kreise in Norddeutschland, repräsentiert durch Friedrich Adolf Lampe u. Theodore Undereyck. Lutherische pietist. Theologen wie Philipp Jakob Spener u. Johann Albrecht Bengel entwickelten C.’ Exegese der bibl. Prophetie u. ihre chiliast. Ausrichtung weiter. Obwohl der Begriff »Heilsgeschichte« erst im 19. Jh. durch den dt. luth. Theologen Johann Christian Konrad von Hofmann u. die Erlanger Schule geprägt wurde, kann C. als Begründer dieses Konzepts innerhalb der reformierten Tradition gelten. Werke: Opera omnia theologica, exegetica, didactica, polemica, philologica. 1. Aufl. in 8 Bdn., Amsterd., 1673–75. 2. Aufl. in 8 Bdn., Ffm. 1689 u. nochmals 1702. 3. Aufl. in 10 Bdn., Amsterd. 1701. – Opera anecdota. 2 Bde., Amsterd. 1706. – Versch. Werke C.’ wurden auch einzeln veröffentlicht: Duo tituli Thalmudici: Sanhedrin et Maccoth. Amsterd. 1629. – Summa doctrinae de foedere et testamento

Coccejus Dei. Franeker 1648. – Ad ultima Mosis, hoc est, sex postrema capita Deuteronomii considerationes, in quibus [...] fundamentales veritates religionis christianae ac canon prophetiae perspicue proponuntur. Franeker 1650. – Summa theologiae ex scripturis repetita, adjecta eiusdem autoris Doctrina de foedere et testamento Dei. Genf 1665. – Moreh Nebochim. Utilitas distinctionis duorum vocabulorum páreseos et ápheseos. Amsterd. 1665. – Lexicon & commentarius sermonis Hebraici et Chaldaici veteris testamenti. Accedunt interpretatio vocum Germanica, Belgica ac Graeca et LXX interpretibus et necessarii indices. Amsterd. 1669. Literatur: Bibliografien: Gottlob Schrenk: Gottesreich u. Bund im älteren Protestantismus, vornehmlich bei J. C. Gütersloh 1923. Neudr. Darmst. 1967, S. 348–350. – Charles S. McCoy: The Covenant Theology of J. C. Ph. Diss. Yale University 1956, S. 359–364. – Ders.: J. C.: Federal Theologian. In: Scottish Journal of Theology 16 (1963), S. 352–70. – Heiner Faulenbach: Weg u. Ziel der Erkenntnis Christi. Eine Untersuchung zur Theologie des J. C. Neukirchen-Vluyn 1973, S. 236–237. – Ders.: J. C. In: TRE. – David A. Weir: The Origins of the Federal Theology in Sixteenth-Century Reformation Thought. Oxford 1990, S. 160–195. – Willem J. van Asselt: The Federal Theology of J. C. (1603–69). Leiden/Boston/Köln 2001, S. 341 f. – Estermann/Bürger 1, S. 273–286; 2, S. 244 (Verz. gedr. Briefe). – Weitere Titel: Jürgen Moltmann: Geschichtstheologie u. pietist. Menschenbild bei J. C. u. Theodor Undereyck. In: Evang. Theologie 19 (1959), S. 343–361. – Thomas A. McGahagan: Cartesianism in the Netherlands, 1639–1676. The New Science and the Calvinist Counter-Reformation. Ph. Diss. University of Pennsylvania 1976. – Caroline L. Thijssen-Schoute: Nederlands Cartesianisme, avec sommaire et table des matières en Français. Hg. Theo Verbeek. Utrecht 1989. – T. Verbeek: Descartes and the Dutch. Early Reactions to Cartesian Philosophy, 1637–50. Carbondale 1992. – W. J. van Asselt: The Doctrine of the Abrogations in the Federal Theology of J. C. In: Calvin Theological Journal 29 (1994), S. 101–116. – Ders.: Ultimum tempus nobis imminet. Eschatologische structuren in de theologie van J. C. In: Nederlands Archief voor Kerkgeschiedenis/Dutch Review of Church History 76 (1996), S. 189–226. – Ders.: Amicitia Dei as Ultimate Reality: An Outline of the Covenant Theology of J. C. (1603–69). In: Ultimate Reality and Meaning 21 (1998), S. 35–53. – Ders.: C. AntiScholasticus? In: Reformation and Scholasticism: An Ecumenical Enterprise. Hg. W. J. van Asselt u. Eef Dekker. Grand Rapids 2001, S. 227–251. – Richard A. Muller: Post-Reformation Reformed

458 Dogmatics: The Rise and Development of Reformed Orthodoxy, ca. 1520 to ca. 1725. Bd. 2: Holy Scripture: The cognitive Foundation of Theology. Grand Rapids 22003, S. 119–123. – Adina M. Yoffie: C. and the Jewish Commentators. In: Journal of History of Ideas 65 (2004), S. 383–398. Willem J. van Asselt

Coccejus, Samuel von, * 20.10.1679 Heidelberg, † 4.10.1755 Berlin. – Jurist u. Staatsmann. C., Sohn des aus Bremen stammenden Professors Heinrich von Coccejus, studierte Jura in Frankfurt/O., wo der Vater seit 1690 Natur-, Völker- u. Pandektenrecht lehrte. Hier verteidigte er 1699 die Inauguraldisputation De principio iuris naturalis unico, vero et adaequato (Frankf./O. 31712) u. wirkte ab 1702 als o. Professor der Jurisprudenz. 1704 unterbrach er die akadem. Laufbahn u. trat als Rat u. dann als Regierungsdirektor in den preuß. Dienst ein. 1713 ließ er den ersten Teil seines Ius controversum civile (Ffm. u. Lpz. 1713–18. 5 1791–99) drucken, der die strittigen Fragen des Zivilrechts erörterte, um die Justizpraxis durch ein gesichertes Recht zu verbessern. Mit diesem Werk empfahl er sich für die Reformen, die in Preußen mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. einsetzten. 1714 wurde C. zum Geheimen Justizrat ernannt u. erhielt mehrere Aufträge zur Revision der Rechtspflege in den preuß. Territorien, damit die Prozesse schneller, effizienter u. sparsamer aufgearbeitet wurden. Da aber eine erfolgreiche Reform der Rechtsprechung die Rationalisierung der Gesetze voraussetzte, widmete sich C. der Systematisierung des preuß. Landrechts, die er 1721 mit dem Projekt Verbessertes Land-Recht des Königreichs Preußen (Königsberg) lieferte. 1722 wurde C. Präsident des Kammergerichts, 1727 Etats- u. Kriegsminister, 1731 Präsident des Ober-Appellationsgerichts u. 1738 Justizminister. In den darauffolgenden Jahren kamen aber seine Reformbestrebungen zum Erlahmen, was sowohl am Widerstand der gefährdeten Juristen als auch an der Ungeduld des Königs lag. Ab 1740 wandte sich C. wieder der wiss. Tätigkeit zu u. veröffentlichte das Novum systema iurisprudentiae naturalis et Romanae

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Weitere Werke: Grotius illustratus seu com(Bln. 21750), das die Übereinstimmung von Natur- u. römischem Recht beweisen u. die mentaria ad Hugonis Grotii de iure belli et pacis. 4 theoret. Grundlage für die Erneuerung des Tle., Breslau 1744–52. – Project eines Codicis Fridericiani oder Sr. Kgl. Majestät in Preussen Selbst Zivilrechts anbieten sollte. vorgeschriebene Neuverfaßte Proces-Ordnung. Mit der Thronbesteigung Friedrichs II. Stettin 1747. wurde die zweite, erfolgreiche Phase in den Literatur: Adolf Trendelenburg: Friedrich der Reformbestrebungen von C. eröffnet. Er Große u. sein Großkanzler S. v. C. Bln. 1864. – wurde mit der Reorganisation Ostfrieslands Roderich v. Stintzing: C. v. S. In: ADB. – Herman u. Schlesiens beauftragt, wo er das Territori- Weill: Frederick the Great and S. v. C. Madison alprinzip gegen die kath. Kirche durchsetzte. 1961. – Gerd Kleinheyer: S. v. C. In: Dt. u. europ. 1746 leitete er die Justizreform in Preußen. Juristen aus neun Jahrhunderten. Hg. ders. u. Jan Die Aktenversendung an die Spruchkollegien Schröder. Heidelb. 41996, S. 95–99. Merio Scattola der Fakultäten wurde abgeschafft, sodass die Gerichtsbarkeit nur den staatl. JustizbehörCoccinius, Michael ! Köchlin, Michael den vorbehalten blieb; alle rechtsprechenden Instanzen wurden unter staatl. Aufsicht geCochlaeus, Cochläus, Johannes, eigentl.: J. stellt u. in eine strenge Hierarchie angeordDobeneck, * 1479 Raubersried, Pfarrei net. 1747 wurde C. zum Großkanzler oder Wendelstein, † 10. oder 11.1.1552 BresJustizminister ernannt, dem alle Justizorgane lau; Grabstätte: ebd., Dom. – Humanist, unterstanden. Daraufhin folgte die Reform katholischer Theologe. des Justizwesens in Pommern, Brandenburg u. in den anderen Provinzen. Der ursprüngl. Der Bauernsohn studierte in Köln, wurde Idee, dass die Rechtspflege der Kodifikation dort 1507 Magister u. 1509 Professor. Wohl des geltenden Rechtes bedurfte, ging C. er- auch auf Empfehlung Willibald Pirckheimers neut nach. Schon 1746 hatte er vom König die berief man ihn 1510 zum Leiter der St.-LoAufgabe erhalten, ein allg. Landrecht in dt. renz-Schule in Nürnberg. 1515 begleitete er Sprache zu verfertigen, das sich auf die Ver- Pirckheimers Neffen nach Italien, wo er seine nunft u. die bestehenden Landesverfassungen Studien in Bologna u. Ferrara (dort Dr. theol. gründen sollte. Bereits 1749 erschien der 1518) fortsetzte u. in enger Verbindung mit erste Teil des Projekts des Corporis iuris Fride- Ulrich von Hutten stand. 1518 empfing er in riciani (Halle), das vom König zugelassen Rom die Priesterweihe, 1519 kehrte er nach werden sollte. Auch in diesem Werk bestand Deutschland zurück u. wurde Dekan der C. auf der Identität von Naturrecht u. röm. Stiftskirche Unserer Lieben Frau in FrankRecht. In der Absicht, ein »ius naturae pri- furt/M. 1525 vertrieben die antikath. Unruvatum« zu verfassen, suchte er im Corpus iuris hen C. aus Frankfurt/M.; er wandte sich zucivilis nach den allg. Prinzipien des Natur- nächst nach Köln. 1527 wurde C. Nachfolger rechts u. brachte durch sie die gesamte Ma- von Hieronymus Emser am Hof Herzog Geterie des röm. Rechtes in eine vernünftige orgs von Sachsen. Als Teilnehmer am Ordnung. 1751 folgte der zweite Teil über Reichstag zu Augsburg 1530 hatte er bedeudas Sachenrecht, während das Manuskript tenden Anteil an den Religionsverhandlundes dritten Teiles über das Obligationsrecht gen. Nach dem Scheitern der Einigungsbe1754 verloren ging. Kurz darauf starb C. Der mühungen kritisierte C. enttäuscht die verKodifikationsversuch blieb aber nicht nur schleiernde Haltung, die Melanchthon auf durch einen bösen Zufall Fragment. Das dem Reichstag praktiziert habe. 1535 siedelte Übergewicht der röm. Jurisprudenz er- er nach Meißen über, musste aber nach dem schwerte eine unmittelbare Anwendung auf Tod von Herzog Georg 1539 die Stadt verdie preuß. Verhältnisse, u. nur wenige Teile lassen u. ging nach Breslau. Als er 1543 auf wurden tatsächlich rezipiert. Die Aufgabe, der Reise zum Konzil von Trient von dessen das preuß. Landrecht auf neuer, echt natur- Vertagung erfuhr, folgte er einer Einladung rechtl. Basis zu kodizifieren, blieb damit von Bischof Moritz von Hutten nach EichSvarez vorbehalten. stätt. Beim Zusammentritt des Konzils 1545

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war er an einer Teilnahme durch einen kaiserl. Ruf nach Regensburg verhindert, um am zweiten Regensburger Religionsgespräch teilzunehmen. Den Verlauf der Trienter Religionsverhandlungen verfolgte er mit Spannung. 1549 nahm er am Mainzer Provinzialkonzil teil, kehrte aber im Juli 1544 nach Breslau zurück. Mehr als 200 Titel des sehr produktiven Autors sind nachgewiesen. Die vor 1517 entstandenen Werke stehen im Dienst der humanist. Reform des Bildungswesens. Für den Lateinunterricht bestimmt war das Quadrivium grammatices (Straßb. 1511), das erstmals umfassender die dt. Sprache vergleichend einbezieht. In Lehrbüchern für den Musikunterricht an der Lateinschule (Tetrachordum Musices. Nürnb. 1511) u. an der Universität (Musica. Köln 1507) verbinden sich mittelalterliche mit humanist. Elementen. C.’ Brevis Germanie descriptio, ein Anhang zu einer Edition der Cosmographia des Pomponius Mela (Nürnb. 1512), war das erste Deutschland behandelnde Geografielehrbuch. Die späteren Schriften verteidigen die Einheit der Kirche. C. stand Luther anfangs wohlwollend gegenüber, aber Luthers Schrift De captivitate Babylonica ecclesiae veranlasste einen Gesinnungswechsel. Er publizierte eine große Zahl gegen die Reformation gerichtete Flugschriften (z.B. Sieben Köpffe Martini Luthers. Lpz. 1529). Erasmus von Rotterdam, mit dem C. 1525–1535 korrespondierte, kritisierte den Ton der polem. Schriften. C.’ Lutherkommentare (Commentaria de actis et scriptis M. Lutheri. Verf. 1532–35, gedr. Mainz 1549) prägten das kath. Lutherbild der folgenden Jahrhunderte. Der Gedanke an ein allg. Konzil, dessen Einberufung er früh erhoffte, veranlasste die Abfassung. C. suchte eine Gesamtschau Luthers u. der religiösen Gesinnung der Zeit vorzulegen, um den Konzilsvätern Hintergrundwissen über Luther u. seine Folgen zu vermitteln u. ihnen einen Einblick in entscheidende Phasen der Kirchenspaltung zu bieten, über die er als einer der führenden kath. Theologen der Reformationszeit oft aus eigener Erfahrung berichten konnte. Sein Lutherbild ist von kritischer Schärfe. Er sah in Luther den Zerstörer der Einheit der Kirche u. wertete ihn

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als Revolutionär. Trotzdem bewahrte er sich die Fähigkeit, anerkennende Worte über den Reformator zu finden. Auch mit seiner Hussitengeschichte (Historia Hussitarum. Mainz 1549) machte sich C. einen Namen. Er verwertete eine Fülle von Quellen, verfolgte jedoch keine histor. Absichten. Hus u. die nachfolgenden Hussitenkriege sind für ihn ein warnendes Beispiel für das 16. Jh. C.’ theolog. Auffassungen sind bisher nur unzureichend untersucht. Er betonte die Bedeutung der Ekklesiologie in den theolog. Auseinandersetzungen der Zeit. Die Kirche ist für ihn Säule u. Fundament der Wahrheit, sie besitzt die Autorität der Unterscheidung von wahrem u. falschem Evangelium. Das Konzil ist nach C. die Repräsentation der kath. Kirche, die Konzilsberufung Aufgabe des Papstes. Die Lehrautorität des Konzils hat er nachdrücklich verteidigt. Der Gedanke der Einheit der Kirche war für C. vordringlich. Die Einheit gehört für ihn zum Wesen der Kirche. Er starb in der Hoffnung auf ihre Verwirklichung durch das Konzil von Trient. Ausgaben: Adversus cucullatum Minotaurum Wittenbergensem 1523. Hg. Josef Schweizer. Münster 1920. – In obscuros viros qui decretorum volumen infami compendio Theutonice corruperunt expostulatio. 1530. Hg. Joseph Greven. Münster 1925. – Aequitatis discussio super consilio delectorum cardinalium. 1538. Hg. Hans Walter. Münster 1931. – Drei Schr.en gegen Luthers Schmalkald. Artikel v. C., Witzel u. Hoffmeister. Hg. Hans Volz. Münster 1932. – Brevis Germaniae descriptio. Hg. Karl Langosch. Darmst. 1960. 3 1976. – Tetrachordum musices. Neuausg., hg. v. Clement A. Miller. Rom 1970. Neudr. der Ausg. Nürnb. 1512. Hildesh./New York 1971. – Responsio ad Johannem Bugenhagium Pomeranum. Hg. Ralph Keen. Nieuwkoop 1988. – Philippicae I-VII. Hg. ders. 2 Bde., Nieuwkoop 1995/96. – InternetEd. diverser Texte in: The Digital Library of the Catholic Reformation (http://solomon.dlcr.alexanderstreet.com//). Literatur: Bibliografie: Martin Spahn: J. C. Bln. 1898, S. 341–372. – Monique Samuel-Scheyder: J. C. Humaniste et adversaire de Luther. Nancy 1993, S. 717–729. – Weitere Titel: C. Otto: J. C. als Humanist. Breslau 1874. – Hubert Jedin: Des J. C. Streitschr. ›De libero arbitrio hominis‹ (1525). Breslau 1927. – Adolf Herte: Die Lutherkomm.e

461 des C. Münster 1935. – Ders.: Das kath. Lutherbild im Bann der Lutherkomm.e des C. 3 Bde., Münster 1943. – Franz Machilek: J. C. In: Fränk. Lebensbilder 8 (1978), S. 51–69. – R. Bäumer: J. C. Münster 1980. – Ders.: J. C. u. die Reform der Kirche. In: FS Erwin Iserloh. Paderb. 1980, S. 333–354. – Ders.: J. Cochläus. In: TRE (Lit.). – Ders.: Die Religionspolitik Karls V. im Urteil der Lutherkomm.e des J. C. In: FS Konrad Repgen. Bln. 1983, S. 31–47. – Ders.: J. C. In: Kath. Theologen der Reformationszeit. Bd. 1, Münster 1984, S. 72–81 (Lit.). – Gerhard Philipp Wolf: J. C. zwischen Humanismus u. Reformation. In: Jb. für fränk. Landesforsch. 62 (2002). – Gernot M. Müller u. J. Klaus Kipf: J. C. In: VL Dt. Hum. Remigius Bäumer † / J. Klaus Kipf

Coelde, Dietrich ! Kolde, Dietrich Colberg, Ehre Gott (Ehregott) Daniel, * 26.1.1659 Kolberg/Pommern, † 30.10. 1698 Wismar. – Protestantischer Kontroverstheologe.

Colbov

gilt C.s Verdikt der Virulenz mystischer »Platonismen« bzw. bestimmter Konzepte der »Kabbala« in der Theologie, sodass sich im Lichte luth. Dogmatik lehrreiche Einblicke in den myst. Spiritualismus darbieten. Friedrich Christian Bücher (Plato mysticus. 1699), Johann Christoph Adelung (Geschichte der menschlichen Narrheit. 1785/89) u. andere Autoren knüpften an C.s Häresienkompendium an; einen kraftvollen Verteidiger fand die Theologia mystica der »häretischen« Platoniker bald in dem Werk Gottfried Arnolds. Weitere Werke: Delineatio monarchiae SueoGothicae. Greifsw. 1686. – De origine et progressu haeresium et errorum in ecclesia specimen historicum. o. O. 1694. – Sciagraphia juris naturae. Greifsw. o. J. – De tolerantia diversarum religionum politica. De Sapientia veterum Hebraeorum. Greifsw. 1694 (Diss.-Slg.). Literatur: Häckermann: E. D. C. In: ADB. – Hans Schneider: Das ›Platonisch-hermetische Christenthum‹ – E. G. D. C.s Bild des frühneuzeitl. Spiritualismus. In: Hermetik. Literar. Figurationen zwischen Babylon u. Cyberspace. Hg. Nicola Kaminski u. a. Tüb. 2002, S. 21–42. – Christine Maillard: Alchimie et hétérodoxie. Critiques et mises en cause du ›Christianisme chymique‹ dans l’espace Germanique au XVIIe siècle. In: Aries 3 (2003), S. 1–24, hier S. 8–11. – Frank van Lamoen: Sporen van Hermes Trismegistus in de vroege achttiende eeuw. In: Spiegel der Letteren 46 (2004), S. 327–340. – Sicco Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgesch. Philosophiegesch. zwischen Barock u. Aufklärung. Tüb. 2004, S. 112–186, 223–236. – Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hg. Hartmut Laufhütte u. Michael Titzmann. Tüb. 2006, hier S. 224–226 (Wilhelm Kühlmann), 277–284 (C. Maillard). Joachim Telle

Nach Erwerb der Magisterwürde u. theolog. Studien an der Universität Greifswald, Aufenthalt in Rostock u. Bildungsreise lehrte C. seit den 1680er Jahren an der Universität Greifswald Moral u. Geschichte; seit 1694 wirkte er dann als Pfarrer in Wismar. Nachruhm sicherte C. eine dickleibige Streitschrift, gerichtet gegen heterodoxe Strömungen (»Secten«) des frühneuzeitl. Protestantismus: Das Platonisch-Hermetisches [!] Christenthum/ Begreiffend Die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie, unterm Namen der Paracelsisten/ Weigelianer/ Rosencreutzer/ Quäcker/ Böhmisten/ Wiedertäuffer/ Bourignisten/ LabadisColbov, Colbovius, Peter, eigentl.: P. Kolten vnd Quietisten (Tle. 1/2, Ffm./Lpz. 1690/91. bow (?), * um 1620 Gadebusch/MecklenLpz. 1710). C. weitete seine Polemik gegen burg, † nach 1667 Dresden (?). – Dichter, religiöse »Schwärmer« (»Enthusiasten«, Alchemiker u. Pädagoge. »Fanatiker«) bzw. gegen die »Myst-Theologie« protestantischer Dissidenten zu einer Über C.s Leben ist nur bekannt, dass er seit umfängl. Beschreibung wichtiger heterodo- 1642 an der Universität Leipzig unter der xer Gruppierungen des 16. u. 17. Jh. (Wie- Ägide des Mediziners u. Dichters Andreas dertäufer, Paracelsisten, Weigelianer, Böh- Rivinus (Bachmann) u. des Hebraisten Martin misten, Rosenkreuzer, Quäker, Labadisten) u. Geier studierte, nach Studienabbruch als ihrer Lehren; vorab wird am »platonischen Hauslehrer tätig war, nachweislich noch 1653 Christentum« eine »Vermengung philoso- zu Leipzig im Paulinerkollegium lebte u. sich phischer Lehren« des Renaissanceplatonis- dann in Dresden (dokumentiert 1654–1660) mus mit dem »Wort Gottes« gebrandmarkt, aufhielt.

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Bekanntheit in der neueren Historiografie Coler, Cöler, Colerus, Johann, * 19.9.1566 sicherte C. sein Briefwechsel mit Johann Adelsdorf bei Goldberg/Schlesien, Amos Comenius, der C. einen »glänzenden † 23.10.1639 Parchim. – Theologe u. Zensor«, »fleißigen Reformer« u. »besorgten Agrarschriftsteller. Mitarbeiter« nannte (Leszno, 5.8.1650). Sein ungedruckt gebliebenes Send-Schreiben an [...] Der Sohn des protestant. Streittheologen JaComenium, betreffend etliche deßen neuester Lehr/ kob Coler († 1612) wirkte nach Jugendjahren Künstlicher Schul-Bücher (Lpz., 21.6.1650), ein in Berlin (1575), medizinischen u. theolog. bedeutsames Zeugnis für die Rezeption der Studien in Frankfurt/O. (1588) u. Jena (1595) Sprachlehrwerke des Comenius (Janua lingua- u. Erlangen der Magisterwürde als luth. rum, Vestibulum) unter pädagog. Praktikern Pfarrer zunächst in Doberan (1601), dann in seiner Zeit, zeigt, dass C. eine lat. Grammatik Parchim (1602), wo er zum Superintendenten verdeutscht (1639) u. seit den 1640er Jahren aufstieg (1618). In den Bahnen der luth. Streittheologie zwei sprachpädagog. Schriften ausgearbeitet richtete C. an »Einfeltige vnnd Layen« eine hatte (Lectorium Germano-latinum, Clavis zum OECONOMIA ECCLESIASTICA, Das ist / EIN Vestibulum des Comenius). C. verband in sich den reformer. Sprachdi- Geistlich vnd Nützlich HaußBuch (Wittenb. daktiker mit dem paracelsist. Alchemiker. Er 1616). Dauerhaften Nachruhm sicherte ihm verfasste im Anschluss an den pseudopara- aber nicht diese Kampfschrift wider den cels. Traktat De tinctura physicorum (1570 u. ö.) »Bapstischen/ Calvinischen vnd Türckischen eine dt. Fachschrift (Aureum vellus et Tinctura Glauben«, sondern ein in Fortsetzung erphysicorum Theophrasti Paracelsi, wohl hand- schienenes haus- u. landwirtschaftl. Werk, schriftlich geblieben) u. schuf eine dt. Lehr- das sich aus einem zweiteiligen Calendarium dichtung (Wolmeynendliches Chymisch Carmen. (Tl. 1, Wittenb. 1591. Tl. 2, Wittenb. 1606 Von [...] Universal-Alkahest-Menstruis. Dresden u. d. T. Liber quodlibeticus) u. einer sechsteili1667), die in C. einen frühen Anhänger der gen Oeconomia oder Hausbuch (Tle. 1–6, Witauf Gewinn eines Universalheilmittels zie- tenb. 1593–1601) zusammensetzt. Das additiv-enzyklopädisch angelegte lenden Alchemia medica Johann Rudolf Werk bietet zur Leitung der vorindustriellen Glaubers kenntlich macht. Weitere Werke: Briefe alchem. Inhalts an den Sozial- u. Wirtschaftseinheit »Haus« nötiges sächs. Kurfürsten Johann Georg II. u. Heinrich v. Wissen. Im Anschluss an antike Autoren u. Friesen (Leipzig 1653-Dresden 1660). In: Dresden, die luth. »Oeconomia christiana«-Lehre beHauptstaatsarchiv. Geheimes Archiv. Loc. 4419/4. – lehrt es »Gelerte« u. »vngelerte« über StelFreudiger Glückwunschungs-Segen. Dresden 1662 lung u. Pflichten des »Hausvaters« u. aller (Epithalamion anlässlich der Hochzeit v. Erdmuthe zum »Hause« gehörigen Menschen (»HausSophie v. Sachsen mit Markgraf Christian Ernst v. mutter«, Kinder, Gesinde). Zum anderen Brandenburg). enthält es zahlreiche Arbeitsanleitungen u. Ausgaben: Jan Kvacˇala (Hg.): Korrespondence gewährt damit manche Einblicke in die Jana Amosa Komenského a vrstevníku8 jeho. Bd. 1, frühneuzeitl. Haushaltsführung, in KochPrag 1898, S. 139–146, Nr. 114 (auszügl. Wiederkunst, Ackerbau u. Viehzucht, Wein- u. Gargabe des Sendschreibens). – Sendschreiben des P. C. an J. A. Comenius (1650) u. Brief des J. A. Comenius tenbau, in Holzwirtschaft, Jagd u. Laienmean Colbovius (1650). Eine pädagog. Korrespondenz dizin. Den textl. Grundstock bilden von C.s Vater aus dem 17. Jh. Hg. Franz Hofmann. Ratingen u. a. 1974. stammende agrartechn. Kollektaneen, die der Literatur: Milada Blekastad: Comenius. Oslo/ Sohn ordnete, bearbeitete u. weiterführte. Prag 1969, S. 458 f. – Heiduk/Neumeister, S. 313 f. Intensiv verarbeitet wurde die antike Agrar– Helen Watanabe-O’Kelly: Court Culture in Dres- literatur; ferner schlugen sich sowohl zeitden. From Renaissance to Baroque. Basingstoke/ genöss. Schrifttum (Martin Grosser: Anleitung Hampshire 2002, S. 116 f. Joachim Telle zu der Landwirtschaft. Görlitz 1590. Abraham von Thumbshirn: Oeconomia. 16. Jh., gedr. 1616; grundherrl. Wirtschaftsinstruktionen)

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Colerus

Literatur: Löbe: C. In: ADB. – Max Güntz: als auch eigene Erfahrungen u. Beobachtungen von Vater u. Sohn nieder. Bei aller Ge- Hdb. der Landwirtschaftl. Litt. Tl. 1, Lpz. 1897, bundenheit an die agrarliterar. Tradition sind S. 120–122. Tl. 3, Lpz. 1902, S. 26–28. – Ernst Johansson: Hygien. u. medizin. Ratschläge im ewihäufig Traditionskritik u. Rücksichtnahme gen Kalender des J. C. In: Sudhoffs Archiv 33 auf die landwirtschaftl. Verhältnisse be- (1940), S. 55–103 (mit Textproben). – Otto Brunstimmter dt. Landschaften (Brandenburg, ner: Adeliges Landleben u. europ. Geist. Leben u. Mecklenburg, Kursachsen, Schlesien) spür- Werk Wolf Helmhards v. Hohberg 1612–88. Salzb. bar, sodass C. zus. mit Abraham von Thu- 1949, S. 268–270. – Heinz Haushofer: C. In: NDB. mbshirn u. Konrad Heresbach (Rei rusticae li- – Julius Hoffmann: Die ›Hausväterliteratur‹ u. die bri. Köln 1570) zu den Pionieren einer eigen- ›Predigten über den christl. Hausstand‹. Weinständigen dt. Agrarlehre gehört. Indem C. die heim/Bln. 1959, S. 65–74. – Kurt Lindner: Das Hausbuch des J. C. Druckgesch. u. Bibliogr. In: FS traditionelle Trennung zwischen der ethisch Claus Nissen. Wiesb. 1973, S. 503–564. – Gertrud geprägten Ökonomik (Lehre vom rechten Schröder-Lembke: Die Genesis des C.schen Haus»Regiment« des »ganzen Hauses«) u. prak- buches u. die Frage seines Quellenwertes (zuerst tisch-techn. Agrarlehre aufhob, Sittenlehre u. 1967). In: Dies.: Studien zur Agrargesch. Stgt. Realienlehre miteinander verband, brach er 1978, S. 93–101. – Gotthardt Frühsorge: Die Gateinem neuartigen Sachbuchtypus Bahn: Auf- tung der ›Oeconomia‹ als Spiegel adligen Lebens. bau u. Zielsetzung der Gattung »Hausbuch« In: Arte et marte. Hg. Dieter Lohmeier. Neuwurden bis in das 18. Jh. von C.s Hausbuch münster 1978, S. 85–107. – Manfred P. Fleischer: Die ersten landwirtschaftl. Handbücher in dt. maßgeblich geprägt. Sprache (zuerst 1981). In: Ders.: Späthumanismus Bereits 1606 lagen die acht Teile des Haus- in Schlesien. Mchn. 1984, S. 213–235. – Erich Egbuchs in mindestens 36 Einzelausgaben vor. ner: Der Verlust der alten Ökonomik. Bln. 1985, Weitere Teilnachdrucke, dazu mindestens 14 S. 103. – Helga Brandes: Frühneuzeitl. Ökonogeschlossene Gesamtausgaben aus den Jahren mielit. In: Die Lit. des 17. Jh. Hg. Albert Meier. 1609–1692, eine 1643–1654 entstandene Mchn. 1999, S. 470–484, hier S. 474–478. Joachim Telle Übersetzung ins Schwedische (Stockholm 1683 u. ö.) u. eine niederländ. Ausgabe (Jaerbeschryver. Amsterd. 1659–61) zeigen, dass das Hausbuch in der sog. »Hausväterliteratur« Colerus (von Geldern), Egmont, * 12.5. des 17. Jh. eine führende Stellung einnahm. 1888 Linz, † 8.4.1939 Wien. – RomanEs wurde hauptsächlich in der grundherrlich- schriftsteller. ländl. Oberschicht rezipiert, vom landgutbe- Im Anschluss an ein Jurastudium an der sitzenden Adel, von Verwaltern (Meier, Vor- Universität Wien war der Sohn eines Offiziers werksmänner, Vögte) oder Pfarrern. Auch zunächst an einer privaten Rechtsschule, dawenn es nicht nur literar. Hilfen zur Führung nach im Staatsdienst tätig. von »vornehmen grossen Haußhaltungen« In seinen Romanen griff C. teils gegenbzw. von »gemeinen Adelichen oder Bürger- wartsbezogene, teils historisch-biogr. Stoffe lichen Haußhaltungen« bot, sondern gele- auf. Während die frühen Werke – Antarktis u. gentlich auch die »Baurenhaußhaltungen« Sodom (beide Wien 1920) – stilistisch u. moberücksichtigte, »darinnen sich die Bawren tivisch noch expressionist. Einflüssen vervnd andere gemeine Leute [...] teglich zu haftet sind, überwiegt später die Neigung vben haben« – in untere Sozial- u. Bildungs- zum philosophisch-zivilisationskrit. Diskurs schichten drang C.s Hausbuch mit ziemlicher aus entschieden rechtskonservativer Perspektive. C. entwickelt seine ProblemstelSicherheit nicht. Ausgaben: Calendarium oeconomicum & per- lungen meist aus der Konfrontation eines petuum. Wittenb. 1591. Nachdr. mit einem Nachw. geistigen u. eines materialist. Prinzips, so in v. Gotthardt Frühsorge. Lpz. 1988. – Gesch. der Zwei Welten. Ein Marco-Polo-Roman (Wien Ökonomie. Hg. Johannes Burkhardt u. Birger P. 1926), ähnlich auch in Kaufherr und Krämer Priddat. Ffm. 2000, S. 35–75 (Textprobe aus: (Bln./Wien/Lpz. 1929); seine Romane kreisen vielfach auch um Fragen von Sinnlichkeit u. ›Oeconomia‹ 1632), dazu S. 692–720, 958 f.

Collibus

Sexualmoral: Die neue Rasse (Bln./Wien 1928), Matthias Werner oder Die Zeitkrankheit (Bln./ Wien/Lpz. 1932). Durch gedankl. Überfrachtung sowohl der Dialoge als auch der Erzählerreflexion droht bei C. immer wieder die innere Stringenz der Darstellung verloren zu gehen; dennoch werden v. a. seine histor. Romane (Leibniz. Der Lebensroman eines weltumspannenden Geistes. Bln./Wien/Lpz. 1934. Neuausg.n Hbg. 1958 u. Wien 1986) bis in die Gegenwart neu aufgelegt. Weitere Werke: Weiße Magier. Wien 1922. Bearb. Fassung mit Einl. v. Max Brod. Graz/Wien/ Lpz. 1931 (R.). – Wieder wandert Behemoth. Roman einer Spätzeit. Wien 1924. – Politik. Drama in sechs Bildern. Wien 1927. Urauff. Wiener Burgtheater 15.3.1928. – Vom Punkt zur vierten Dimension. Geometrie für jedermann. Bln./Wien/ Lpz. 1935. Neuausg.n Wien 1973 u. 1987. Augsb. 1990. – Von Pythagoras bis Hilbert. Die Epochen der Mathematik u. ihre Baumeister. Gesch. der Mathematik für jedermann. Bln./Wien/Lpz. 1937. Neuausg.n Wien 1987 u. Augsb. 1990. – Vom Einmaleins zum Integral. Mathematik für jedermann. Bln./Wien/Lpz. 1937. Neuausg. Augsb. 1990. Literatur: Adalbert Schmidt: E. C. Zur Erinnerung an seinen 100. Geburtstag. In: Vierteljahresschr. 37 (1988), F. 1/2, S. 89–95. – Blanca Colerus: E. C. Schriftsteller, Humanist, Mathematiker. Linz 2006. Ernst Fischer / Red.

Collibus, Hippolytus a, eigentl.: Ippolito de Colli, auch Colle, auch: Sinibaldus Ubaldus, Johann Werner Gebhart, Pompejus Lampugnanus, * 20.2.1561 Zürich, † 2.2.1612 Heidelberg. – Jurist, Diplomat, Verfasser von politisch-höfischer Gebrauchs- u. Anleitungsliteratur. Der Sohn eines ital. Emigranten besuchte die Schule in der Pfalz (Neuhausen bei Worms), studierte zeitweilig in Italien, erwarb in Basel den jurist. Doktorgrad (1583), lehrte kurzfristig als Juraprofessor in Heidelberg (1586–1588) u. nahm dann die Stelle eines Syndicus in Basel an. Anschließend trat er in die Dienste Christian I. von Anhalt-Bernburg (1591), kehrte 1593 nach Heidelberg als Hofgerichtsrat zurück. Hier avancierte er zum Oberamtmann u. kurfürstl. Rat, stand bald auch in regem Kontakt mit namhaften Heidelberger Späthumanisten (Briefwechsel

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mit Georg Michael Lingelsheim), darunter Julius Wilhelm Zincgref, der Collis witzige Aussprüche in seine Sammlung von Apophthemata aufnahm. Seine vielfältigen diplomat. Aufgaben führten C. in fast alle Nachbarländer (Frankreich, England, Schweiz, Niederlande, Polen). Als Autor profilierte sich der polyglotte Weltmann weniger mit spärlichen jurist. Thesen als mit seinerzeit sehr gefragten Handbüchern der modernen Regimentslehre u. höf. Verhaltenskultur. Adressaten waren, wie die Titel bezeugen, der Adel (De Nobilitate Axiomata LXI. Zuerst unter dem Pseud. Sinibaldus Ubaldus. Speyer 1588, dann u. d. T. Nobilis. Basel 1589. Insg. 11 Aufl.n bis 1670), u. die fürstl. Beamtenschaft (Consiliarius. Heidelb. 1596. 16 Aufl.n bis 1670). Direkt an den Fürsten wandte sich sein Princeps (Basel 1593), der mit den älteren u. neuen Traktaten (Palatinus sive Aulicus) ebenfalls bis 1670 immer wieder neu verlegt wurde. Aus der moralist. Tradition der älteren Fürstenspiegel löste sich C. insofern, als er in pragmatischer Rationalität die innen- wie außenpolit. Bedingungen u. Handlungsmaximen der modernen Staatlichkeit behandelte, dabei auch auf Bodin u. Machiavelli Bezug nahm. Unter dem Pseudonym Werner Gebhart publizierte C. seine dem Typus nach in Deutschland neuartigen Fürstlichen Tischreden (zuerst Heidelb. 1597. Weitere Drucke 1614 bis 1642, dabei bearbeitet u. fortgesetzt durch den Pfarrer Georg Draudius). In bewusster themat. Abwechslung u. in essayartiger Kompilation, für das Gespräch abseits der gelehrten Disziplinen bestimmt, werden darin verschiedenste Bereiche des öffentl. u. privaten Lebens zur Unterhaltung u. unsystemat. Belehrung angesprochen, mancherlei Hinweise zur Zeitgeschichte u. polit. Theorie nicht ausgespart. Eine monograf. Untersuchung zu C. bleibt ein Desiderat. Literatur: Werkverzeichnis: Johann Friedrich Jugler: Beyträge zur jurist. Biogr. Bd. 3, Lpz. 1777, S. 195–206. – Weitere Titel: Steffenhagen: Hippolyt v. Colli. In: ADB. – Volker Press: Calvinismus u. Territorialstaat. Regierung u. Zentralbehörden der Kurpfalz 1559–1619. Stgt. 1970. – Klaus Conermann: H. a C. Zur Ars politica et aulica im Hei-

Collin

465 delberger Gelehrtenkreis. In: Europ. Hofkultur im 16. u. 17. Jh. Hg. August Buck u. a. Hbg. 1981, S. 693–700. – Bruno Singer: Die Fürstenspiegel in Dtschld. im Zeitalter des Humanismus u. der Reformation. Mchn. 1981, S. 133–136. – Walter (2004), bes. S. 274–276. – Cornel A. Zwierlein: Heidelberg u. ›der Westen‹ um 1600. In: Späthumanismus u. Reformierte Konfession. Hg. Christoph Strohm u. a. Tüb. 2006, S. 27–92. Wilhelm Kühlmann

Collin, Heinrich Joseph von (geadelt 1803), * 26.12.1771 Wien, † 28.7.1811 Wien. – Dramatiker, Lyriker u. Publizist. Der Sohn eines angesehenen Wiener Arztes luxemburgischer Herkunft erhielt seine Erziehung am Löwenburgischen Piaristenkollegium. Nach Abschluss seiner Rechtsstudien an der Wiener Universität (1790–1794) schlug er eine Beamtenlaufbahn in seiner Heimatstadt ein. Auf der frühen Begeisterung für Klopstock u. Metastasio wie auch für die Bühne (Josef Lange, Friedrich Christian Schröder u. a.) basierten C.s spätere Erfolge als rhetorisch-klassizistischer Bühnenautor. Die Liebe zum klassizist. Kunstideal wurde 1799 durch eine Aufführung von Goethes Iphigenie befestigt. Um 1800 entwickelte sich C.s Tragödienkonzeption, die den »Sieg der inneren Willensfreiheit des Menschen über den Andrang der äußeren Naturnotwendigkeit« zur Darstellung zu bringen sucht, wobei der antikrömische Begriff der »vaterländischen Tugend« bewegendes Prinzip ist, hochtönende Sprache das stilist. Medium. Die glänzende Aufnahme seines dritten Stücks Regulus (Urauff. Wien 1801. Ersch. Bln. 1802) begründete seinen kurzzeitigen Ruhm als »österreichischer Corneille« (Johannes von Müller). Es folgte eine Reihe theatergeschichtlich beachtenswerter Stücke: Coriolan (Urauff. Wien 1802. Ersch. Bln. 1805) mit Lange in der Titelrolle (Shakespeares Tragödie war C. noch unbekannt); die weniger erfolgreiche, doch stilistisch glatte, an Opern Spontinis erinnernde lyr. Tragödie Polyxena (Urauff. Wien 1803. Ersch. Bln. 1804); der beifällig aufgenommene Balboa (Urauff. Wien 1805. Ersch. Bln. 1806), ein im Lateinamerika der Conquistadores spielendes melodramat.

Stück, das mit humanitärem Idealismus pulsiert (»Mensch bleibt doch Mensch, von welcher Farb’ er sei«) u. von heroischen Attitüden strotzt (»das ist die Art der großen Männer: wo Gefahr sich zeigt, im Schlachtgewühl [...] da stehen sie wie Gottes Cherubim!«). Trotz seiner Begeisterung für Werners Luther u. Tiecks Genoveva konnte C. seine Pläne zu einem historisch-sagenhaften OttokarDrama nicht verwirklichen. Bianca della Porta (Urauff. Wien 1807. Ersch. Bln. 1808) weist eher auf die sentimental-romant. Dramatik des frühen 19. Jh., das in der trag. Konfiguration Schillers Don Carlos nicht unähnl. Zenobia-Stück Mäon (Urauff. Wien 1807. Ersch. Bln. 1809) u. das zur Namensfeier des Kaisers verfasste Trauerspiel Die Horazier und Curiatier zeigen C.s Vorliebe für das klass. Altertum. Bradamante u. Macbeth (unvollst.) waren als opernästhetisch ambitionierte Libretti für Beethoven gedacht, wurden aber anders als Coriolan – die bekannte Ouvertüre datiert von 1807 – von diesem nicht vertont. Mit den Liedern Oesterreichischer Wehrmänner (Wien 1809) trat C. als Lyriker u. vaterländ. Dichter (»Habsburgs Thron soll dauernd stehen; Oestreich soll nicht untergehen!«) hervor u. pflegte auch die Balladenform (Kaiser Max auf der Martinswand in Tyrol). Seine Prosaischen Aufsätze u. Zerstreuten Blätter nehmen z.T. Schillers dramen- u. theaterästhet. Positionen auf (Ueber den Chor im Trauerspiel). Sie lassen in C. einen prägenden Teilhaber am zeitgenöss. Wiener Theaterleben erkennen, der in seinen zukunftsweisenden Ideen zur Verbesserung der Wiener Bühne (1806) für die Trennung u. Spezialisierung des Sprech- u. Musiktheaters eintrat. Ausgaben: H. J. v. C. s Sämmtl. Werke. Hg. Matthäus v. Collin. 6 Bde., Wien 1812–14 (mit den o. g., nicht selbständig ersch. Werken). – Ausw. aus dem Werk. Eingel. u. hg. v. Kurt Adel. Wien 1967. – Dramen. Faksimiledr. nach den Erstausg.n. Hg. u. mit einer Einl. v. Christian Grawe. 2 Bde., Bern u. a. 1990. Literatur: Matthäus v. Collin: Ueber H. J. Edler v. C. u. seine Werke. In: Sämmtl. Werke. a. a. O. Bd. 6, S. 251–447. – Max Lederer: H. J. v. C. u. sein Kreis: Briefe u. Aktenstücke. Wien 1921. – William Kirk: Die Entwicklung des Hochstildramas in

Collin Oesterr. v. Metastasio bis C. Diss. Wien 1978. – Gerhard Jungmayer: H. J. v. C.: Theoret. Schr.en. Diss. Wien 1979. – Herbert Seidler: Oesterr. Vormärz u. Goethezeit. Wien 1982, passim. – Peter Skrine: C.’s Regulus reconsidered. In: Bristol Austrian Studies. Hg. Brian Keith-Smith. Bristol 1990, S. 49–72. – Dieter Martin: Beethovens ›verhinderter Librettist‹ H. J. v. C. In: Österr. Oper oder Oper in Österr.? Die Libretto-Problematik. Hg. Pierre Béhar u. Herbert Schneider. Hildesh. u. a. 2005, S. 133–156. Peter Skrine / Dieter Martin

Collin, Matthäus (Kasimir) von (geadelt 1803), * 3.3.1779 Wien, † 23.11.1824 Wien. – Literaturkritiker, Dramatiker u. Lyriker. Nach dem Rechtsstudium in Wien (Promotion 1804) wurde C. (Bruder von Heinrich Joseph von Collin) Professor der Ästhetik u. Philosophiegeschichte in Krakau u. später in Wien, wo er als Zensor (1812–1823), Lehrer am Hof u. Erzieher von Napoleons Sohn, dem Herzog von Reichstadt, amtierte. C. ist v. a. als Verfasser patriotisch-geschichtlicher Versdramen zu würdigen. Abgesehen von der in Aufbau u. Charakterzeichnung gelungenen Römertragödie Marius, ist es sein »Babenbergerzyklus«, eine Folge von sechs chronologisch zusammengehörenden Versdramen zur vaterländ. Geschichte, der seine künstler. Ansprüche überzeugend veranschaulicht. Beginnend mit Bela’s Krieg mit dem Vater (Tüb. 1808), erstreckt sich C.s groß angelegter Dramenzyklus über Die feindlichen Söhne u. den eindrucksvollen trag. Einakter Der Tod Heinrich des Grausamen bis zur »Babenberger«-Trilogie. Diese als »Bruchstück eines großen Ganzen« konzipierte Folge darf als C.s dichter. Hauptleistung angesehen werden. Sie besteht aus dem vorspielartigen Streit am Grabe, dem sprachlich u. psychologisch eindrucksvollen, auch komische Elemente enthaltenden histor. Drama in fünf Aufzügen Die Kunringer u., als Abschluss, dem von dunkler Untergangsstimmung geprägten Trauerspiel Der Tod Friedrich des Streitbaren. Dass diese Dramen nie zur Aufführung gekommen sind, lässt nicht auf ihre Bühnenuntauglichkeit schließen: Als großartiger Versuch, »die Geschichte als organisches Ganzes zu erfassen«, gehören sie

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wohl zum Besten, was auf diesem Gebiet vor Grillparzer in Österreich geleistet wurde. Literaturgeschichtlich bedeutsam war C.s journalistisches u. publizist. Wirken, das er in zahlreichen Aufsätzen u. Rezensionen entfaltete, die seine theoretischen u. ästhet. Anschauungen zu erkennen geben. Den Beginn seiner Tätigkeit als freier Schriftsteller u. Herausgeber der »Wiener Allgemeinen Litteratur-Zeitung« (1816) u. der »Jahrbücher der Litteratur« (1818–21) markiert die Abhandlung Ueber die nationale Wesenheit der Kunst (1811 in Hormayrs »Archiv«), in der es C. darum geht, den »innern Zusammenhang mannigfaltiger Erscheinungen zu ergründen und die große Einheit der Literatur aus dem Charakter des Volkes aufzuzeigen«. In dem Aufsatz Über das historische Schauspiel (1812 in Friedrich Schlegels »Deutschem Museum«) befasst er sich mit der antiken Tragödie, v. a. aber mit den histor. Dramen Shakespeares, um zentrale Gedankengänge herauszuarbeiten, die dessen dramatischem Schaffen zugrunde liegen: »Die Darstellung der Begebenheit selbst ist überall das Hauptstreben; die Charaktere, groß gehalten, doch nur mit wenigen kühnen Umrissen bestimmt bezeichnet, treten nirgends aus dem Strome der Handlung hervor.« Höhepunkt seiner Rezensionstätigkeit ist die groß angelegte Besprechung von Dramen Kleists, Uhlands, Goethes, Schillers, Werners, Arnims u. a., die u. d. T. Über neuere dramatische Literatur in den »Jahrbüchern der Litteratur« (1822) erschien u. sich mit Thomas Carlyles German Playwrights (1829) vergleichen lässt. Als Literaturkritiker überragt C. seine österr. Zeitgenossen durch Weitblick u. geistige Schärfe. Als Lyriker hat C. Bescheidenes geleistet; einige seiner stimmungsvollsten Gedichte wurden von Schubert vertont, u. a. Der Zwerg (»Im trüben Licht verschwinden schon die Berge«) u. Nacht und Träume (»Heil’ge Nacht, du sinkest nieder«), der C. aber darüber hinaus vielfältige literar. Anregungen verdankte. Weitere Werke: Dramat. Dichtungen. 4 Bde., Pest 1813–17. – Nachgelassene Gedichte. Hg. Joseph v. Hammer. 2 Bde., Wien 1827. Literatur: Josef Wihan: M. v. C. u. die patriotisch-nat. Kunstbestrebungen in Oesterr. zu Beginn

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467 des 19. Jh. In: Euph., Erg.-H. 5 (1901), S. 93–199. – Roger Bauer: La Réalité royaume de Dieu. Mchn. 1965, passim. – Silvester Lechner: M. v. C.s Rezensionen in den Wiener ›Jahrbüchern der Literatur‹ (1818–24). In: Zeman, Tl. 1, S. 257–288. – Herbert Seidler: M. v. C.s Literaturkritik. Ebd., S. 653–673. – Peter Skrine: M. v. C. and Historical Drama. In: MLR 78 (1983), S. 597–616. – Hans Hübner: Gesch. im Drama. M. v. C. ›Der Babenbergerzyklus‹ (1808–17). – Hans Sassmann: ›Die österreichische Trilogie‹ (1929–32). Diss. Wien 1991. – Lucjan Puchalski: Zwischen romant. Tradition u. österr. Staatsdenken. Der Fall M. v. C. In: Vita pro litteris. FS Anna Stroka. Hg. Eugeniusz Tomiczek u. a. Warschau 1993, S. 133–140. – Gudrun Busch: Zwischen Frauentb. u. Literaturkritik. Therese Grob u. M. v. C. In: Schubert u. seine Freunde. Hg. Eva Badura-Skoda u. a. Wien u. a. 1999, S. 145–167. Peter Skrine / Dieter Martin

Conlin, Joseph Albert, auch: J. A. Loncin von Gominn, * um 1665 Meersburg, † 20.1.1753 Kutzenhausen bei Augsburg. – Katholischer Priester u. Verfasser moraltheologisch-satirischer Schriften.

abrahamischer Schriften weidlich aus. Ungeachtet der damals allg. lässigen Handhabung des Plagiatbegriffs erregten die wörtl. Übernahmen ganzer Passagen nicht nur bei Abraham selbst Ärgernis: C. wurde beim zuständigen Generalvikariat verklagt u. nach Augsburg zitiert, was ihn jedoch nicht hinderte, im gleichen Stil fortzufahren u. später noch einen Band u. d. T. Glückliche Narren-Cur (Augsb. 1725) erscheinen zu lassen. Mit weitschweifigen Diskussionen verfolgte C. teils moralisierende, teils unterhaltende Absichten, glossierte, »mit sittlicher Lehr und Hl. Schrifft untermischet«, menschliches Fehlverhalten u. bot dazu häufig Historien, drast. Schwänke, Witze u. Anekdoten, auch typisch abrahamische Wortspielerei. Die Bände sollten nach den Empfehlungen des Autors auf den Titelblättern seinen Amtsbrüdern Anregungen für die Ausgestaltung ihrer Predigten liefern, aber auch der häusl. Lektüre »bey ehrlichen Gesellschaften« dienen. Literatur: J. Franck: C. In: ADB. – E. MoserRath: Erzähler auf der Kanzel. Zu Form u. Funktion des barocken Predigtmärleins. In: Fabula 2 (1959), S. 1–26. – Dies.: C. In: EM, Bd. 3 (1981), Sp. 126–128. Elfriede Moser-Rath † / Red.

Nach dem Studium bei den Jesuiten in Dillingen u. kurzem Aufenthalt in Nördlingen wurde C. 1693 Pfarrer in Munningen/Ries – aus »Conlin von Monning« leitete er sein Pseudonym ab –; von 1722 an versah er das Conrad, Michael Georg, * 5.4.1846 GnodPfarramt in Kutzenhausen. Ein Visitationsstadt (heute Stadtteil von Marktbreit)/ bericht von 1699 tadelte seine liederl. KleiUnterfranken, † 20.12.1927 München; dung u. den Hang zum Trinken; die SterbeGrabstätte: Gnodstadt, Friedhof. – Pumatrikel seiner Pfarre hingegen pries ihn als blizist u. Romancier. gelehrten Mann u. als »vir jovialis«. Sein schriftstellerischer Eifer ist für einen Dorf- C., Sohn eines Landwirts, war vier Jahre im pfarrer beachtlich. Mit dem fünfbändigen bayer. Schuldienst, bevor er 1868 nach Genf Werk Der christliche Welt-Weise beweinent die übersiedelte, wo er als Lehrer u. Organist an Thorheit der neu-entdeckten Narrn-Welt (Augsb. der deutsch-luth. Schule wirkte. 1871–1878 1706–09) u. zwei weiteren Bänden über lehrte er kurze Zeit in Rom, dann in Neapel. Närrinnen unter fast dem gleichen Titel (Der Dort trat er der Freimaurerloge Pestalozzi bei christliche Welt-Weise beweinet die Thorheit derer u. studierte Philologie u. Philosophie (Pro[...] Närrinnen [...]. Oettingen/Augsb. 1710/11) motion zum Dr. phil.). 1878 zog er nach Paris folgte C. der von Abraham a Sancta Clara in- u. erwarb sich einen Ruf als journalistischer itiierten Neubelebung der Narrenthematik. Mitarbeiter mehrerer dt. Zeitungen. Er war Der Wiener Hofprediger hatte beim Augs- Gründungsmitgl. der Association littéraire burger Verleger Daniel Walder Kupferstiche internationale u. schloss sich dem Kreis um für ein geplantes größeres Narrenbuch be- Zola an, der seine Kunstauffassung entscheistellt, kam jedoch nicht zur Abfassung des dend beeinflusste. 1882 ließ sich C. in MünTextes, u. C. erhielt den Auftrag. Er walzte chen nieder u. gründete dort 1885 »Die Gedas Thema unter ausgiebiger Benutzung sellschaft: realistische Wochenschrift für Li-

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teratur, Kunst und Leben«, die bis 1902 regelmäßig erschien u. zum wichtigsten Organ des frühen Naturalismus in Deutschland wurde. 1887 heiratete er in zweiter Ehe die Hofschauspielerin u. Schriftstellerin Marie Ramlo (Pseud. L. Willfried). 1896–1898 war er Reichstagsabgeordneter der Demokratischen Volkspartei, wandte sich aber später wieder seiner Tätigkeit als Anreger u. Förderer auf literarischem Gebiet zu. In späteren Jahren, als die Hochphase der naturalist. Bewegung abgeebbt war, nahm auch C.s Einfluss als Literaturkritiker ab. C. war ein sehr erfolgreicher Vorkämpfer des neuen Stils u. zog durch seine starke Persönlichkeit auch andere Talente an. »Die Gesellschaft«, deren Mitherausgeber zeitweilig Karl Bleibtreu war, verschaffte vielen später bekannten Autoren (Hauptmann, Kretzer, Hille, Conradi, Bierbaum, Bertha von Suttner, Thomas Mann) erstmals ein Publikum. Befehdet wurde v. a. Paul Heyse als Inkarnation des »idealistischen Epigonentums«. Allerdings sollte C.s Naturalismusbegriff weder mit dem Programm Zolas noch mit dem Berliner »konsequenten Naturalismus« eines Arno Holz verwechselt werden. Er vertrat vielmehr eine Art »Realismus« Münchener Prägung, d.h. gemäßigt durch den Idealismus, wie er sich in dem Kreise um die »Gesellschaft«, etwa bei Bleibtreu u. Alberti, bis 1890 entwickelte. Sein Hauptanliegen war eine Neubewertung der Kunst, deren Bedeutung er v. a. in ihrer gesellschaftl. Wirkung sah. Er verstand sich weitgehend als Erzieher u. Aufklärer, indem er die Begriffe »Freiheit«, »Fortschritt«, »Humanität« u. »Wahrheit« propagierte. In der »Gesellschaft« erschienen Essays mit freidenkerischer, antiklerikaler Tendenz über die veränderte Stellung der Frau, Liebe u. Moral oder über die demokrat. Staatsform; daneben Kunstkritik im Stil Georg Brandes’ u. Mustertexte des neuen »Realismus«. Zwar wurde das Drama vernachlässigt (nur Max Halbe wurde gedruckt, Hauptmanns Vor Sonnenaufgang dagegen abgelehnt), Erzählkunst (auch in Übersetzungen fremdsprachiger Autoren wie Zola u. Maupassant) u. Lyrik wurden hingegen ausgiebig präsentiert. Das Niveau der diversen Beiträge war aber so unter-

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schiedlich, dass »Die Gesellschaft« nie ein scharfes Profil gewann. C.s eigene schriftsteller. Tätigkeit war breit gefächert u. umfasste neben essayistisch-krit. Stellungnahmen zu aktuellen Themen auch konventionelle Lyrik u. Dramen, v. a. aber Erzählungen (z.B. Lutetias Töchter. Bln. 1883) u. Romane, insbes. den Romanzyklus Was die Isar rauscht, der auf 10 Bände projektiert war, aber nach dem 3. Band aufgegeben wurde (Was die Isar rauscht. 1888. Die klugen Jungfrauen. 1889. Die Beichte des Narren. 1893. Alle Lpz.). Mit einer stilistisch innovatorischen, die filmische Montage vorwegnehmenden Erzähltechnik – Gesellschaftsszenen, Briefe, Vorträge, Stadtbilder, theoret. Erwägungen in raschem Wechsel – wollte C. das Münchener Großstadtleben facettenreich einfangen. Jede Romanfigur ist repräsentativ für eine bestimmte Gesellschaftsschicht, aber das fragmentarisierte Handlungsgefüge läuft der realist. Kunstauffassung eigentlich zuwider, die dem Roman intentional zugrunde liegt. Zudem sind hier Gesellschaftskritik u. messian. Zukunftsbilder locker miteinander verflochten. C.s spätere »Roman-Improvisation aus dem 30. Jahrhundert« In purpurner Finsterniß (Bln. 1895) war auch als Auseinandersetzung mit der Kunst u. dem geistigen Leben des 19. Jh. gedacht. C. scheiterte beim wiederholten Versuch, die Bühne zu erobern, u. ein großer Teil seiner Lyrik blieb ungedruckt. Den wohl wichtigsten Beitrag zum Kulturleben seiner Zeit stellen seine zahlreichen Kritiken u. Essays dar. Darin richtete er sich unter dem Einfluss Nietzsches an ein geistesaristokrat. Zielpublikum, z.B. in Die Sozialdemokratie und die Moderne (Mchn. 1893). Gleichwohl machte er sich auch um die Reform des Bildungswesens u. speziell um die kulturelle Erziehung der Arbeiterschaft verdient, z.B. mit dem Essay Zur Volksbildungsfrage im Deutschen Reich (Nürnb. 1871). Von bleibendem Wert ist seine autobiogr. Schrift Von Emile Zola bis Gerhart Hauptmann (Lpz. 1902). Hier handelt es sich weder um eine Autobiografie im eigentl. Sinn noch um reine Literaturkritik: Beides wird essayistisch vermischt zu einer subjektiven Auseinandersetzung mit den großen Persönlichkeiten (Nietzsche, Wagner, Hauptmann)

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u. geistigen Strömungen u. Gruppierungen (etwa der Heimatkunst oder der Darmstädter Künstlerkolonie) der Epoche. C. versuchte, den Naturalismus als sein artistisches Credo literarhistorisch zu fundieren wie auch ideell zu begründen. Der »Realismus« wird als Kunstrichtung über die Zeiten hinweg definiert, als – idealistischer – Versuch, dem »Gesunden und Natürlichen« vor dem »Künstlichen« den Vorzug zu geben. Von Interesse sind auch C.s Vergleiche zwischen dem Kulturleben in Frankreich u. Deutschland wie auch sein Abriss der Geschichte der »Gesellschaft« u. seine Fehleinschätzung Hauptmanns, dem er »einen fatalen Zug zu melodramatischer Gefühlsduselei« nachsagte u. nur »Meisterschaft im Technischen« zuerkannte. Nietzsches in dieser Epoche fast allgegenwärtiger Einfluss schlägt sich auch hier nieder: Idealisiert wird, was »Lebenswert« hat. Zgl. spiegelt dieses Werk auch C.s eigenen, heute noch anregend wirkenden Enthusiasmus getreu wider. Mit der Gründung der »Freien Bühne für modernes Leben« 1890 u. der Verlagerung literarischer Aktivitäten von München nach Berlin trat C. aus der Avantgarde zurück. Ab Ende der 1890er Jahre wandte er sich der Heimatdichtung zu, schrieb Dorfgeschichten, einen »Königsroman« über Ludwig II. (Majestät. Bln. 1902) u. einen fränk. Dorfroman (Der Herrgott am Grenzstein. Bln. 1904). C. griff in seinen Schriften zunehmend auf irrationale Begriffe wie »Kraft«, »Gesundheit«, »Scholle« zurück (er gehört zu den Initiatoren des fragwürdigen Zusammenhangs von »Blut« u. »Boden« in der Kunst). Er bekannte sich auch als Christ u. fühlte sich immer stärker vom Katholizismus angezogen. 1911 gründete er nochmals eine eigene Zeitschrift das »Deutsche Literaturblatt«, dessen Rolle aber marginal blieb. Das Blatt, das 1914 einging, rezensierte vorwiegend zweitrangige Literaten, es wurden darin sowohl die ausländ. Einflüsse, denen die dt. Literatur ausgesetzt war, angeprangert als auch völkischrassische u. lebensreformer. Themen entwickelt. Trotz seiner Kontakte mit verschiedenen Autoren des Expressionismus sprach sich C. prinzipiell gegen diese Bewegung aus.

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Er benutzte zahlreiche Pseudonyme: Hans Frank, Fritz Hammer, Erich Stahl, Erwin Sturm, Arthur Feldmann, Vult, Ignotus, Johanna Freiin v. Caudern etc. Der Nachlass ist in der Münchener Stadtbibliothek (Monacensia) aufbewahrt. Weitere Werke: Erziehung des Volkes zur Freiheit. Lpz. 1870 (Briefess.). – Die Loge im Culturkampf. Zürich 1875 (Ess.). – Die letzten Päpste. Ketzerbriefe aus Rom. Breslau 1878. – Die Musik im heutigen Italien. Breslau 1879 (Ess.). – Pariser Kirchenlichter. Zürich 1880 (Skizzen). – Frz. Charakterköpfe. Lpz. 1881 (Studien). – Madame Lutetia. Lpz. 1883 (Studien). – Totentanz der Liebe. Münchener Novellen. Lpz. 1885. – Die Emanzipirten. Lpz. 1887 (D.). – Firma Goldberg. Lpz. 1889 (D.). – Das Recht, der Staat, die Moderne. Mchn. 1891 (Rede). – Der Übermensch in der Politik. Stgt. 1895 (Ess.). – Salve Regina. Bln. 1899 (L.). – Wagners Geist u. Kunst in Bayreuth. Mchn. 1906 (Ess.). – Emile Zola. Bln. 1906 (Biogr.). – Am hohen Mittag. Mchn. 1916 (L.). – Franziska Hager. Mchn. 1924 (Biogr.). Literatur: Ottokar Stauf v. der March: M. G. C. Zeitz 1925. – Hedwig Reisinger: M. G. C. Diss. Mchn. Würzb. 1939. – Karl-Heinz Salzmann: M. G. C., Wilhelm Friedrich u. die ›Gesellschaft‹. In: Börsenblatt für den dt. Buchhandel 116 (1949), Nr. 29/30/31, S. 241 f., 252 f., 261 f. – Stanley R. Townsend: A Modern Prophecy by M.G.C. In: GQ 31 (1958), S. 259–268. – Jochen Lobe: M. G. C. 1846–1927. In: Fränk. Klassiker. Hg. Wolfgang Buhl. Nürnb. 1971, S. 573–587. – Manfred Hellge: Der Verleger Wilhelm Friedrich u. das ›Magazin fur die Literatur des In- und Auslandes‹. In: AGB 16 (1976), Sp. 791–1216. – Agnes Strieder: ›Die Gesellschaft‹ – Eine krit. Auseinandersetzung mit der Ztschr. der frühen Naturalisten. Ffm. 1985. – Hans Mahr: M. G. C. Ein Gesellschaftskritiker des dt. Naturalismus. Marktbreit 1986. – Gerhard Stumpf: M. G. C. Ideenwelt, Kunstprogrammatik, literar. Werk. Ffm. 1986. – Gerhard R. Kaiser: M. G. C. als Vermittler Zolas u. Münchner Romancier. In: International Comparative Literature Association: Plenary sessions. Mchn. 1990, S. 176–184. – Michel Durand: M. G. C. à Paris (1878–82). ›Années d’apprentissage‹ d’un intellectuel critique. Bern 2004. Mary E. Stewart / Michel Durand

Conradi

Conradi, (Heinrich Gottlieb) Hermann, auch: H. Costo, * 12.7.1862 Jeßnitz/Anhalt, † 8.3.1890 Würzburg; Grabstätte: ebd., Hauptfriedhof. – Erzähler, Essayist u. Lyriker. C., Sohn eines Zigarrenfabrikanten, der im dt.-frz. Krieg sein Vermögen verlor, verlebte eine unglückl. Jugend. Drückende Familienverhältnisse u. häufige Krankheit wirkten sich destabilisierend auf Bildungsgang u. seelisches Gleichgewicht des äußerst sensiblen jungen C. aus. Er verließ das Gymnasium in Magdeburg zunächst 1880 mit dem Einjährig-Freiwilligen-Abitur. Die begonnene Buchhändlerlehre brach er ab u. besuchte abermals das Gymnasium. Gemeinsam mit Johannes Bohne u. Johannes Schlaf gründete er dort den »Bund der Lebendigen«. Aufsehen erregten seine 1881 im »Magdeburger Tageblatt« erschienenen Skizzen, die im proletar. Milieu angesiedelt waren. Nach dem Abitur 1884 widmete er sich im Elternhaus in Magdeburg dem privaten Studium von Philosophie u. Literatur. Besonderen Einfluss auf sein Werk gewannen Byron, Dostojewski u. Nietzsche. Von Magdeburg aus knüpfte er Verbindungen zu literar. Größen der älteren Generation (Wolfgang Kirchbach, Julius Grosse) u. zum Kreis der Zeitschrift »Die Gesellschaft« in München; er schrieb Gedichte, Kritiken u. Essays. Zwei geplante Romanzyklen (Die Lebendigen und die Toten; Jungdeutschland), in denen C. ein »Charakterbild der Jünglingsgeneration« geben wollte, kamen nicht zur Ausführung. 1884 kam er nach Berlin, wo er ein Studium der Philosophie, Nationalökonomie u. Germanistik begann. Gemeinsam mit Wilhelm Arent u. Karl Henckell gab er 1885 die Anthologie Moderne Dichter-Charaktere (Bln.) heraus, als Gegenschlag zu Paul Heyses 1882 erschienenem Neuen Münchener Dichterbuch. In seiner programmat. Einleitung Unser Credo verwarf C. das »epigonenhafte Schablonentum« u. die raffinierte Überkultur der zeitgenöss. Lyrik u. propagierte eine Dichtung »der großen Seelen und tiefen Gefühle«, die »das reine unverfälschte Menschentum« repräsentieren u. ein starkes Gemeingefühl zeitigen sollte. Das Ziel, »Titanisches und

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Geniales, Hartkantig-Soziales« ins Leben zu rufen, verwirklichte sich zwar nur ansatzweise, aber im feierlich-pathet. Ton nahmen einige der hier versammelten Gedichte den Expressionismus vorweg. Auch in C.s eigener Lyrik (z.B. Lieder eines Sünders. Lpz. 1887), die seine Lebensangst u. Verletztheit schonungslos preisgab u. an die Grenze des Artikulierbaren vorstoßen wollte, deuten sich schon expressionist. Spannungen u. Rhythmen an. In seiner Rede über Expressionismus in der Lyrik würdigte ihn Gottfried Benn als einen Vorläufer dieser Bewegung. Daneben betätigte sich C. als Herausgeber des satir. Jahrbuchs Fasching-Brevier (1885–86). 1886 erschien der Novellenband Brutalitäten (Zürich), der viel radikaler u. eigenwilliger als etwa Karl Bleibtreus Schlechte Gesellschaft (1885) die Heuchelei bürgerlicher Moral, ihre Verklärung des Sexuellen aufzudecken suchte. Beachtenswert ist v. a. die novellist. Studie Karlchen, die den psych. Auswirkungen der sozialen Unterprivilegierung nachgeht. Die einprägsam dargestellten überhitzten Fantasiebilder eines vernachlässigten Kindes werden zur Anklage gegen seine abgestumpfte Umwelt. Literarische Konventionen sprengte C. durch seine Psychogramme überreizter Individuen wie durch die Intensität seines in Dialogform umgesetzten Erzählens. Im Mai 1886 siedelte C. in die Buchhandelsmetropole Leipzig über, wo er sich die Zusammenarbeit mit Karl Bleibtreu u. dem Verleger Wilhelm Friedrich erhoffte. Gemeinsam mit Otto Erich Hartleben plante er ein Jahrbuch für realistische Dichtung, das als Fortsetzung u. Überbietung der DichterCharaktere gedacht war. Obwohl zahlreiche Beiträge, u. a. von namhaften älteren Autoren (Gottfried Keller u. Friedrich Theodor Vischer), gesammelt wurden, scheiterte das Vorhaben aus buchhändlerischen Gründen. Während der Leipziger Zeit wandte sich C. vornehmlich Roman u. Essayistik zu. In seinen Romanen Phrasen (Lpz. 1887) u. Adam Mensch (Lpz. 1889) versuchte er – wohl z.T. autobiografisch – die Zerrissenheit u. Krankhaftigkeit extremer Individualität festzuhalten. Die etwas amorphen Hauptfiguren v. a. des zweiten Romans sind an der Schwelle von Fortschrittsglauben u. Deka-

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denz, von Realismus u. Neuromantik ste- Zwischen Naturalismus u. Dekadenz. In: Dekadenz hende Übergangsgestalten, die aus der Ne- in Dtschld. Beiträge zur Erforsch. der Romanlit. um gation leben. In C.s Darstellung des Unter- die Jahrhundertwende. Hg. Dieter Kafitz. Ffm. u. a. gangs dieser entwurzelten, sensiblen Exis- 1987, S. 39–56. – Christoph Forderer: Die Großstadt im Roman. Berliner Großstadtdarstellungen tenzen wird die Verlogenheit der Epoche zwischen Naturalismus u. Moderne. Wiesb. 1992. – heftig angeprangert. Die fieberhaft erregte, Wolfgang Bunzel u. Uwe Schneider: H. C.s u. Otto zwischen Genialität u. Haltlosigkeit schwan- Erich Hartlebens Anthologieprojekt ›Jahrbuch für kende Manier dieser Romane erinnert eher an realistische Dichtung‹: eine Fallstudie zum ZuNietzsche als an die am naturwiss. Denken sammenhang von Schriftstellerkonkurrenz, Publiorientierten Zeitgenossen C.s. Von größerer kationsverhalten u. Gruppenbildung in der mittBedeutung sind einige literaturkrit. u. zeit- leren Phase des dt. Naturalismus. In: IASL 30 diagnost. Aufsätze, die C. als begabten Es- (2005), S. 118–166. Mary E. Stewart / Björn Spiekermann sayisten zeigen (z.B. Das sexuelle Moment in der Litteratur. 1889. Wilhelm II. und die junge Generation. Eine zeitpsychologische Betrachtung. 1889. Conring, Hermann, auch: Irenaeus EuEin Kandidat der Zukunft – Übergangsmenschen. bulos, Hector Johann Mithobius, Ludwig 1890) u. in denen sich die ästhetischen u. de Monte Sperato, Cyriacus Thrasymaweltanschaul. Tendenzen der Zeit beispielchus, Eberhard Wassenbergius, * 9.11. haft bündeln. »Die Gegensätze der Zeit in 1606 Norden/Ostfriesland, † 12.12.1681 ihrer ganzen tragischen Wucht und Fülle, in Helmstedt. – Professor für Naturphilosoihren herbsten Aeußerungsmitteln zu empphie, Physik, Medizin u. Politik; Arzt, finden«, schreibt C. einmal über sich selbst, Staatsrat u. Polyhistor. »dafür bin ich nun einmal besonders disponiert.« Zu Lebzeiten zählte C. zu den wenigen dt. Seine Gesundheit war schon stark ange- Gelehrten von europ. Rang. An Einfluss auf griffen, als er 1889 nach Erscheinen des Ro- die prakt. Politik übertraf er Pufendorf, mans Adam Mensch (Lpz.) im Leipziger Rea- Leibniz u. Thomasius. Zwar verknüpft sich listenprozess (neben Conrad Alberti) wegen kein epochaler Begriff oder Prozess mit seiVerbreitung unsittlicher Schriften angeklagt nem Namen, doch ist C. ein herausragendes wurde. In Würzburg, wo er zu promovieren Beispiel für den Gelehrten u. die Gelehrtenhoffte, verstarb er an einer Lungenkrankheit, kultur seiner Zeit. Der Vater war luth. Pastor bevor er vor Gericht gezogen werden konnte. zu Norden. Sechs Geschwister starben 1611 C.s Nachlass liegt in der Anhaltischen an der Pest, an der auch C. als Fünfjähriger erkrankte. Lebenslang blieb er anfällig für Landesbücherei Dessau. Weiteres Werk: Liebes-Beichte. Zwölf Briefe u. Krankheiten, war von schwacher Konstitutizwei Postkarten an Margarethe Halm. Hg. Michael on u. kleiner Statur. Der Schüler gewann die Georg Conrad. Eisenach 1909. Aufmerksamkeit des Philosophen Cornelius Ausgaben: Ges. Schr.en. Hg. Paul Szymank u. Martini, als dessen Schützling er 1620 die Gustav Werner Peters. 3 Bde., Lpz./Mchn. 1911 Universität Helmstedt bezog. Wegen des (mit Biogr.). – Ich bin der Sohn der Zeit. Ausgew. Krieges musste er 1623/24 seine Studien unSchr.en. Hg. Rüdiger Bernhardt. Lpz./Weimar terbrechen; Anfang 1625 vertrieben Krieg u. 1983. Pest die Studenten vollends. C. ging nach Literatur: Josef Polacek: Zum ›hyperbolischen‹ Leiden u. studierte dort bis 1631 v. a. Medizin Roman bei C., Conrad u. Hollaender. In: Natura- u. die neuen Naturwissenschaften, aber auch lismus. Hg. Helmut Scheuer. Stgt. 1974, S. 68–92. – Politik u. Staatenkunde. In der weltoffenen Heinz Linduschka: Die Auffassung vom DichterAkademie der republikan. Niederlande disberuf im dt. Naturalismus. Diss. Würzb. 1978. – putierte er zum ersten Mal: De calido innato Charles V. Miller: Weltschmerz in the writings of Carl Bleibtreu & H. C. Diss. Indiana 1979. – Werner (Über die Körperwärme) im Nov. 1627. 1631/ Poscharnigg: H. C. – ein Vertreter der literar. Mo- 32 war er Privatlehrer in Braunschweig; im derne v. 1884–1900. Diss. Graz 1980. – Peter Arens Herbst 1632 wurde er Professor der Naturu. Sabine Moll: H. C.s Roman ›Adam Mensch‹. philosophie in Helmstedt. 1636 erwarb er die

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Doktorgrade der Medizin u. der Philosophie, 1637 erhielt er die Professur für Medizin, 1650 auch die der Politik (»Politices seu Civilis philosophia«). Auswärtige Rufe u. einträgl. Beraterstellen an Königshöfen lehnte er ab u. wurde zum berühmtesten u. begütertsten Professor der kleinen Helmstedter Universität, an der er bis zu seinem Tod 49 Jahre lehrte. Lutherischer Protestantismus; empir. Naturforschung, Medizin u. ärztl. Heilkunde; aristotel. Grundbegriffe u. zeitgemäße Praxis in Politikberatung u. Recht; Staatenkunde u. Ökonomie; Staatsrechtslehre u. Rechtsgeschichte; iren. Kontroverstheologie u. Kirchenpolitik nach der Art seiner Helmstedter Lehrer: Wo immer C. als Schriftsteller, akadem. Lehrer oder Fürstenberater tätig war, ist nicht Verwaltung theoret. Wissens, sondern Durchdringung der historischen, sozialen u. polit. Wirklichkeit mithilfe dieses Wissens der wohl stärkste Impuls. Der pragmat. Gestaltungswille schließt auch den persönl. Vorteil ein: als Statusverbesserung auf akademischem u. diplomat. Parkett, als polit. Einfluss, als finanzielle Zuwendung. Sicher mussten zusätzliche emolumenta das niedrige Professorengehalt aufbessern. Aber für den Gelehrten dieses Typs ist entscheidend, dass der persönl. Status nicht nur Ergebnis, sondern auch Bedingung der polit. Wirksamkeit war. Der nachträgl. Vorwurf, als »Polyhistor« habe C. lediglich zusammenhangloses Wissen angehäuft, geht fehl. Gerade die heute bekannten Autoren des späteren 18. Jh. haben die alte Gelehrtenkultur oft schon nicht mehr verstanden u. sind für viele noch immer geläufige Vorurteile verantwortlich. Polyhistorie war – seit dem 16. Jh. – etwas wie ein Rekonstruktionsunternehmen, das die Trümmer des zerbrechenden, biblisch fundierten Weltbilds neu aufschichtete, nun allerdings mit praktischen, säkularist. Zwecken: die eklektische, dilator. Arbeitsweise einer Übergangszeit, ähnlich der synchron entstehenden »Philosophia eclectica« – systemlos, aber deshalb nicht ohne Zusammenhang u. konzeptionelle Schwerpunkte. C. suchte überall – wenn auch ohne Rigorismus – »moderne« Positionen zu vertreten: Als Mediziner setzte er sich als einer der

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Ersten für William Harveys angefochtene Lehre vom Blutkreislauf ein, die 1628 zum ersten Mal publiziert worden war. C. hatte sich durch eigene Vivisektionen von deren Plausibilität überzeugt. Er unterstützte den Kampf gegen den Hermetismus u. gegen die magischen u. astrolog. Tendenzen bei den Paracelsisten. Fürstin Juliane von Ostfriesland u. Königin Christine von Schweden ernannten ihn zu ihrem Leibarzt; C. s Lehre ging stets mit ärztl. Praxis einher. Politik, die man gerne als ärztl. Dienst an der Res publica sah, lehrte C. schon in den 1630er Jahren nebenher. Eine selbständige »politica«, unter dem Titel der »Prudentia civilis«, die noch nicht als Teil der Philosophie oder der Jurisprudenz betrachtet wurde, hielt er für ein wichtiges Desiderat in der zerklüfteten Situation Mitteleuropas im Krieg u. danach. Im Anschluss an Machiavelli vertrat C. mit Nachdruck, wenn auch mit anderen Argumenten u. ohne den anthropolog. Pessimismus der Machiavellisten, die Autonomie des Politischen. Die neuen Konzeptionen der Lipsius, Grotius, Pufendorf u. Chiaramonte, der Bodin, Botero u. Scioppius, deren Hauptschriften er herausgab, integrierte er in den protestant. Aristotelismus. Die ältere Lehre einer »Politica christiana« lehnte er ab. Die Traditionen der Regimentstraktate u. der Staatsklugheitslehre bis zu Veit Ludwig von Seckendorff konnte seine »Scientia politica« durch höhere Komplexität u. analyt. Kraft hinter sich lassen, wie die theoret. Hauptwerke De civili prudentia (Helmstedt 1662) u. Propolitica sive brevis introductio in civilem philosophiam (Helmstedt 1663) ausweisen. Die Praxis als Fürstenberater jedoch bildete die eigentl. Basis für C.s europ. Ansehen, Ludwig XIV. zahlte ihm 1663–1673 jährlich eine Gratifikation, um sich seines Wohlwollens zu versichern. C. setzte sich sogar für Ludwigs Prätentionen auf die dt. Kaiserkrone ein. Im Ganzen hielt er wohl die absolute Monarchie für die zeitgemäße Regierungsform, allerdings mit einer stark territorialstaatlichen, d.h. nicht vorrangig am Kaiserreich orientierten Akzentuierung. Er vertrat kein widerspruchsfreies System, von dem die einzelnen Consilia etwa zu deduzieren gewesen wären. Einander wi-

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dersprechende Positionen oder gar der Vorwurf der »Charakterlosigkeit«, gewöhnlich aus bürgerlich-moralistischer Rückprojektion geäußert, setzen diese Politikauffassung nicht ins Unrecht. Das ostfries. Fürstenhaus der Cirksena in Aurich beriet er wie den Großen Kurfürsten, die Stadt Lindau, das schwed. u. das dän. Königshaus. Intensiv waren die Beziehungen zum kurmainzischen Fürsterzbischof Johann Philipp von Schönborn, dessen leitender Minister Christian von Boineburg zu seinen berühmtesten Schülern gehörte. Für die Entwicklung der histor. Disziplinen bedeutsam waren die Entwicklung u. Erprobung einer krit. Urkundenlehre (Diplomatik), noch vor Jean Mabillon, u. einer neuen Richtung der dt. Reichs- u. Rechtsgeschichte. Maßgeblich sind hier De Germanorum imperio Romano (Helmstedt 1644), De finibus imperii Germanici (Helmstedt 1654) u. De origine iuris Germanici commentarius historicus (Helmstedt 1643). Die Kontinuität der mittelalterl. Reichsidee sei zerbrochen; das Schema der »translatio imperii« wird ins Reich der Fabel verwiesen. Dem röm. Recht komme keinerlei sakraler Charakter zu. Die germanisch-dt. Rechtsquellen werden der Rezeption der Institutionen gleichgestellt. Im Geist der humanist. Traditionskritik dient die histor. Rekonstruktion dem Nachweis illegitimer Deutungen, Fiktionen u. Fälschungen; Traditionsprüfung wird zu einer Bedingung für realitätsgerechtes, der »salus publica« verpflichtetes polit. Handeln. In der engen Beziehung zu Herzog August d.J. von Braunschweig u. Lüneburg zeigte sich C. als barockzeitlicher Bücherliebhaber, der »res litteraria«, der natürlich auch Gelegenheitsgedichte verfasste. Als Geheimer Rat beriet er den Herzog v. a. in Angelegenheiten der Bibliothek in Wolfenbüttel. Selbst über ein Projekt Athanasius Kirchers vermochte er sich sachverständig zu äußern. Seine Schrift De Bibliotheca Augusta (Helmstedt 1661), in der Form eines Briefes an den passionierten Büchersammler Boineburg gehalten, stellt einen bedeutenden Beitrag zur Bibliotheksgeschichte dar.

Conring Weitere Werke: Introductio in naturalem philosophiam. Helmstedt 1638. – De sanguinis generatione et motu naturali. Helmstedt 1643. – De hermetica Aegyptiorum vetere et Paracelsicorum nova medicina. Helmstedt 1648. – (Pseud. Irenaeus Eubulus:) Pro pace perpetua Protestantibus danda consultatio Catholica. Helmstedt 1648. – (Pseud. Cyriacus Thrasymachus:) De justitia armorum Suecicorum in Polonos. o. O. 1655. – Opera. Hg. Johann Wilhelm Göbel. 7 Bde., Braunschw. 1730. Neudr. Aalen 1970–73. – Herausgeber: Niccolò Machiavelli: Princeps. Helmstedt 1663. – Gaspar Scioppius: Paedia politices. Gabriel Naudaeus (Naudé): Bibliographia politica. Helmstedt 1663. – Giovanni Botero: De ratione status. Helmstedt 1666. Ausgabe: Textausw. in: CAMENA: Abt. Poemata u. CERA. Literatur: Gerold Meyer v. Knonau: Das bellum diplomaticum Lindaviense. In: HZ 26 (1871), S. 75–130. – Erik Wolf: H. C. (1606–81). In: Ders.: Große Rechtsdenker der dt. Geistesgesch. Tüb. 4 1963, S. 220–252. – Notker Hammerstein: Jus u. Historie. Gött. 1972. – Hans Haase: Die Univ. Helmstedt 1576–1810. Wolfenb. 1976. – Dietmar Willoweit: H. C. In: Staatsdenker im 17. u. 18. Jh. Hg. Michael Stolleis. Ffm. 1977, S. 129–147. – Hartmut Wardemann: H. C. s Gutachtertätigkeit für das Frankreich Ludwigs XIV. Diss. Mchn. 1981. – Patricia Herberger (Mitarb. M. Stolleis): H. C. 1606–81. Wolfenb. 1981 (Kat.). – M. Stolleis (Hg): H. C. Beiträge zu Leben u. Werk. Bln. 1983 (mit Werkverz. u. Bibliogr.). – Anthony Grafton: The World of the Polyhistors: Humanism and Encyclopedism. In: Central European History 18 (1985), S. 31–48. – Dt. Juristen aus 5 Jh.en. Hg. Gerd Kleinheyer u. J. Schröder. Erw. Aufl. Heidelb. 31989, S. 62–64. – Herbert Jaumann: Was ist ein Polyhistor? Gehversuche auf einem verlassenen Terrain. In: Studia Leibnitiana 22 (1990), S. 76–89. – William Ashford Kelly: H. C. (1606–81). A Study in Versatility. East Linton 1993. – R. J. M. van de Schoor: Reprints of Cassander’s and Witzel’s Irenica from Helmstedt. The Meaning of the Irenical Tradition for G. Calixtus, H. C. and J. Latermann. In: Lias 20 (1993), S. 167–92. – Constantin Fasolt: A Question of Right: H. C.’s New Discourse on the Roman-German Emperor. In: Sixteenth Century Journal 28 (1997), S. 739–58. – Constance Blackwell: Vocabulary as a Critique of Knowledge: Zabarella and Keckermann – Erastus and C.: Eclipses, Incantations, Hieroglyphics, and the History of Medicine. In: Philologie u. Erkenntnis. Beitr. zu Begriff u. Problem frühneuzeitl. Philologie. Hg. Ralph Häfner. Tüb. 2001, S. 131–149. – C. Fasolt:

Consbruch Author and Authenticity in C.’s New Discourse on the Roman-German Emperor: A Seventeenth-Century Case Study. In: Ren. Quarterly 54 (2001), S. 188–220. – Ders.: H. C. and the Republic of Letters. In: Die europ. Gelehrtenrepublik im Zeitalter des Konfessionalismus. Hg. H. Jaumann. Wiesb. 2001, S. 141–53. – Ders.: The Limits of History. Chicago 2004. Herbert Jaumann

Consbruch, Florens Arnold, * 8.7.1729 Bielefeld, † Dez. 1784 Herford. – Verfasser lyrischer Werke u. Nachdichtungen.

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1750; spätere Arbeiten sah dieser weit kritischer. Unter den Verfasserkürzeln E. C. u. F. A. C. veröffentlichte C. 1751 u. 1756 in Frankfurt/M. die Sammlungen Versuch bzw. Versuche in Westphälischen Gedichten; einzelne datierte Gedichte beziehen sich teils auf aktuelle Ereignisse, teils auf Freunde oder Freundeskreise, u. a. in Jena. Daneben finden sich Nacherzählungen frz. Fabeln in Gedichtform u. Verse im Stil der Anakreontiker. In diesen Umkreis gehört die kleine Sammlung Scherze und Lieder (Ffm. u. Lpz. 1752). Weitere anakreont. u. Gelegenheitsgedichte sowie Fabeln in Versform erschienen in den »Westphälischen Bemühungen zur Aufnahme des Geschmacks und der Sitten« (Lemgo 1753, T. 2, S. 194 ff., 259 ff., 349 ff.).

C. stammte aus einer bekannten minden-ravensbergischen Beamtenfamilie. Der Vater war Advocatus Fisci u. Justizrat in Minden; er lebte später in Bielefeld. Nach dem Jurastudium in Berlin u. Halle/S. u. dem ReferenLiteratur: Bibliografien: Westfäl. Bibliogr. zur dariat in Minden wurde C. Richter in Her- Gesch., Landeskunde u. Volkskunde. Bd. 3, Münsford, dann Bürgermeister (1772–1784) u. als ter 1977, S. 45. – Weitere Titel: Ernst Kelchner: F. A. Landsyndikus Sekretär der ravensbergischen C. In: ADB. – Paul Eickhoff: Ein vergessener MinRitterschaft. Sein Sohn, der gelehrte Biele- den-Ravensbergischer Dichter. In: Ravensberger Bielef. 1910, S. 20–22. – Goedeke 4,1 felder Arzt Georg Wilhelm Christoph Cons- Blätter. (31916), S. 30 f. – Wilhelm Schulte: Westfäl. Köpfe. bruch, schildert ihn als bedeutenden RechtsMünster 31984, S. 48 f. – Gustav Engel: F. A. C. gelehrten u. kenntnisreichen Schöngeist, sein Anakreon in Westfalen. In: Ders.: Aus 60 Jahren. Haus, in dem ihn die »damals berühmten Bielef. 1985, S. 177–183. – Westf. Autorenlex. und zum Theil noch lebenden schönen GeisReinhard Vogelsang ter Deutschlands« besuchten, als einen »Tempel der Musen und der Grazien« (Westphäl. National-Kalender. Lpz. 1801, Contessa, Salice-Contessa, Carl Wilhelm, S. 234). Vorbilder C.s waren Johann Wilhelm * 19.8.1777 Hirschberg, † 2.6.1825 BerLudwig Gleim u. Friedrich von Hagedorn. lin; Grabstätte: ebd., St.-Hedwigs-Fried1744 veröffentlichte er in Frankfurt/M. unter hof. – Erzähler u. Lustspieldichter. eigenem Namen seine erste Nachdichtung Die Religion. Nach einer freien Übersetzung ins teutsche C. war der zweite Sohn eines reichen Leingebracht, ein Lehrgedicht Louis Racines (La wandhändlers ital. Herkunft. Er absolvierte Religion, 1742). 1746 wurde das erste eigene das Hirschberger Gymnasium, zog 1795 nach Gedicht, ein titelloses mehrseitiges Loblied auf Halle an das Franckesche Pädagogium u. den so lang erwünschten Frieden und dessen Urhe- lernte Hitzig u. Houwald kennen. In Halle ber, Friedrich II., in Bielefeld anonym gedruckt. heiratete er 1802 u. zog mit seiner Frau nach 1747 (21752) machte er wiederum mit einer Weimar, wo er, finanziell von seinem älteren Übersetzung von Racines umfangreichem Bruder Christian Jacob unterstützt, ein sorGedicht Die Gnade (La Grâce, 1720) auf sich genfreies u. unauffälliges Leben führte; den aufmerksam. In Frankfurt/M. erschienen literar. Größen Weimars begegnete er nicht. 1750 anonym seine Nachdichtungen frz. Er schrieb Erzählungen, übersetzte Stücke Autoren u. eigene Gedichte u. d. T. Poetische aus dem Französischen u. verfasste seinen Erzählungen; C. widmete sie »Der Königlichen bekanntesten Einakter Das Räthsel (Bln. 1808), Teutschen Gesellschaft in Göttingen wie auch in dem eine Briefintrige eine zentrale Rolle der Teutschen Gesellschaft in Jena«; rezen- spielt; Goethe nahm C.s Lustspiel ins Repersiert wurden sie als »wohl geraten« von Les- toire des Hoftheaters auf (Urauff. am sing in der »Berliner Privilegierten Zeitung« 18.9.1805).

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Der seit 1803 verwitwete C. war kurz vor u. die gelungene Verarbeitung romantischer der Premiere seines Räthsels nach Berlin Motive sprechen jedoch auch noch heutige übergesiedelt. Hier verheiratete er sich aufs Leser an. neue u. verfasste die Künstlernovelle Meister Weiteres Werk: Fantasiestücke eines SerapiDietrich u. die Teufelshumoreske Magister onsbruders. Hg. Klaus Günzel. Bln./DDR 1977. Rößlein (in: Dramatische Spiele und Erzählungen. Ausgaben: C. W. C.s Schr.en. Hg. Ernst v. HouBde. 1 bzw. 2, Hirschberg 1811 bzw. 1814). wald. 9 Bde., Lpz. 1826. – Erzählungen u. MärEr trat aber kaum an die Öffentlichkeit, bis er chen. Mit Nachw., Zeittaffel, Anmerkungen u. 1814 durch Hitzig in Kontakt mit seinen Ausw.-Bibliogr. hg. v. Henk J. Koning. Würzb. schles. Landsleuten Eichendorff, Holtei u. 1990. Literatur: Hans Meyer: Die Brüder C. Diss. Bln. Alexis kam u. Fouqué, Chamisso, Koreff u. E. T. A. Hoffmann kennenlernte. Hoffmann, der 1906. – Gerhard Pankalla: Karl W. C. u. E. T. A. wiederholt C.s dichter. Talente hervorhob, Hoffmann. Diss. Würzb. 1938. – Volker Klotz: Das europ. Kunstmärchen. Stgt. 1985. – Henk J. Koverewigte ihn unter dem Decknamen Sylvesning: C. W. S. – C. Ein Schriftsteller aus dem Kreis ter in seinem Erzählzyklus Die Serapions-Brü- um E. T. A. Hoffmann. Diss. Utrecht 1987. – Winder (1819–21). C. figurierte hier als Musik- fried Freund: Todesgrauen u. Liebestod: C. W. C., kenner, Lustspieldichter u. Novellist, der vor ›Der Todesengel‹ (1814). In: Ders.: Literar. Phander Gemeinschaft u. a. Das Fräulein von Scuderi tastik. Stgt. 1990, S. 66–74. – Cezary Lipinski: Der zu Gehör brachte. Nach längerer Schaffens- Triumph des Mythos. Zur mythisch-archetyp. Dispause von Hoffmann erneut zu schriftstelle- tribution im narrativen Werk v. C. W. S. C. Breslau rischer Arbeit angeregt, schrieb C. ab 1815 2001. – Rainer Hillenbrand: Eine Literatursatire v. gemeinschaftlich mit Hoffmann, Hitzig, C. W. S. C. In: E.-T.-A.-Hoffmann-Jb. 14 (2006), Chamisso u. Fouqué an dem Roman des Frei- S. 142–148. Henk J. Koning / Red. herrn von Vieren (Erstdr. in: Der Doppelroman der Berliner Romantik. Hg. Helmuth Rogge. Lpz. Contessa, Salice-Contessa, Christian Jakob, 1926. Neudr. Hildesh. u. a. 1999). Auch die auch: Ryno, * 21.2.1767 Hirschberg, Kinder-Mährchen (2 Bde., Bln. 1816/17; darin † 11.9.1825 Gut Liebenthal/Greifenberg; von C. Das Gastmahl u. Das Schwert und die Grabstätte: ebd., Kloster, katholischer Schlangen) waren ein Gemeinschaftsprojekt Friedhof. – Lyriker, Epiker, Dramatiker. mit Hoffmann u. Fouqué. 1817 vollendete C. das Opernlibretto Der Liebhaber nach dem Tode, Der ältere Bruder Carl Wilhelm Contessas zu der E. T. A. Hoffmann die Musik kompo- kam nach dem Besuch der Breslauer Jesuinieren sollte. tenanstalt 1784 nach Hamburg, wo er eine 1816 zog C. mit seinem Sohn, nach dem Handelslehre absolvierte. Hier entstanden Tod seiner zweiten Frau, auf das Hou- seine ersten, von Klopstock u. Ossian beeinwald’sche Gut Sellendorf/Niederlausitz. Hier flussten Sonette. Nach einer längeren Ausinspirierte er Houwald u. a. zu seinen Rie- landsreise kehrte er 1788 nach Hirschberg sengebirgsmärchen (C. tritt darin als Augen- zurück u. übernahm 1793 das väterl. Gearzt Dr. Mißpickel u. Lustspieldichter auf) u. schäft. Zuvor hatte er bereits den Briefroman setzte sich für die Verbreitung von Houwalds Das Grabmahl oder Liebe und Freundschaft Schriften u. Stücken ein. Nach 1821, als C. (Breslau/Hirschberg 1792) sowie das Rittermit Houwald das Gut Neuhaus bei Lübben/ drama Hermann von Hartenstein (Breslau/Lpz. Spreewald bewohnte, fuhr er noch regelmä- 1793) veröffentlicht. ßig nach Berlin u. besuchte dann auch E. T. A. Zus. mit Josef Zerboni u. a. GleichgesinnHoffmann. Ein längeres Beisammensein er- ten begann sich C. jetzt für freiheitlich-regab sich (der kränkelnde C. litt an Tuberku- publikan. Ideen zu begeistern. Aufgrund eilose) im Sommer 1819 im schles. Badeort nes Briefs Zerbonis an den schles. OberpräsiWarmbrunn. denten Karl Georg Heinrich Graf von Hoym Von C.s Bedeutung als Novellist legen wurde C. festgenommen u. 1797 in Spandau zahlreiche lobende zeitgenöss. Rezensionen u. Stettin interniert, ein Jahr später jedoch Zeugnis ab; die Schlichtheit seiner Märchen von Friedrich Wilhelm III. begnadigt.

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In Hirschberg übernahm C. nun – neben seiner Tätigkeit im eigenen Handelshaus – auch die Stelle eines Direktors der Zuckerfabrik. Auf Anregung seines Bruders, der inzwischen als Lustspieldichter erfolgreich gewesen war, entstand zehn Jahre später das Drama Alfred (Hirschberg 1808). 1811–1814 erschienen zwei Bände Dramatische Spiele und Erzählungen von den Brüdern C. J. und C. W. Salice-Contessa (Hirschberg). Als Vertreter der Stadtverordnetenversammlung Hirschbergs unterstützte C. mit namhaften Geldbeträgen die schles. Landwehr im Kampf gegen die napoleon. Besatzung. 1814 wurde er zum Königlichen Kommerzienrat ernannt. In seinen letzten Lebensjahren entstanden Erzählungen, die schles. Sagengut – etwa die Gestalt Rübezahls – in Anlehnung an E. T. A. Hoffmann mit Elementen fantastischer Dichtung u. Beschreibungen des Warmbrunner Badelebens verbinden. Gedichte erschienen in der Dresdener »Abendzeitung« u. im »Schlesischen Taschenbuch«. 1826 gab C. W. L. Schmidt postum C.s Gedichte (Hirschberg) heraus. Weitere Werke: Saint Amand. Breslau/Lpz. 1801 (E.). – Almanzor. Lpz. 1804. 21808 (N.). – Das Bild der Mutter u. das blonde Kind. Zwei Erzählungen (zus. mit Carl Wilhelm Contessa). Bln. 1818 (darin v. C. J. C.: Das blonde Kind). – Drei Erzählungen. Ffm. 1823. – Der Frhr. u. sein Neffe. Breslau 1824 (R.). Literatur: Hans Meyer: Die Brüder C. Diss. Bln. 1906. – Arno Lubos: Schles. Schrifttum der Romantik u. Popularromantik. Mchn. 1978, S. 115 f. Henk J. Koning / Red.

Contius, Christian Gotthold, * 19.11.1750 Hauswalde bei Dresden, † 8.11.1816 Dommitzsch bei Torgau/Elbe. – Pastor, Publizist u. Unterhaltungsschriftsteller. C. entstammte einer Pastorenfamilie. Er studierte zwischen 1764 u. 1772 Theologie am »Halleschen Waisenhaus« u. in Leipzig; dort nahm er am literar. Leben der Stadt teil. Danach bekleidete C. das Predigeramt in Dollänchen (Diözese Dobrilugk) u. wirkte dann als Diakon, Archidiakon (ab 1799) u. Hauptpastor (ab 1806) in Dommitzsch.

Ungeachtet zahlreicher Anfeindungen seitens seiner Amtskollegen entfaltete C. eine rege belletrist. Tätigkeit als Unterhaltungsschriftsteller u. freier Mitarbeiter meist kurzlebiger Zeitschriften. Seine mit selbstgefertigten Vignetten geschmückten Gedichtsammlungen (u. a. Lyrische Gedichte und Erzählungen. Breslau 1773) enthalten Gelegenheitsgedichte, Bukolik, Oden, Balladen u. Romanzen in bunter Folge. Eine seltsame Verknüpfung anakreontischer Motivik mit empfindsam-moralisierenden Aussagen kennzeichnet C.’ lyr. Versuche. Nur seine patriot. Kriegslieder in der Nachfolge Gleims (Lieder zum Feldzuge. Dresden 1778) bilden hier eine Ausnahme; freilich entbehren auch sie – wie C.’ konventionelles Erzählwerk (Klagen des jungen Blendheim im Schattenreiche. Ein Roman. Dresden 1780) – jeglicher Originalität. Dieser Tatsache zeigte sich der bescheidene Autor jedoch stets bewusst. Kurzzeitiges Aufsehen erregte dagegen trotz ihrer literar. Unzulänglichkeit C.’ satir. Farce Wieland und seine Abonnenten. Ein musikalisches Drama (Weimar 1775); sie persifliert den Herausgeber des »Teutschen Merkur« u. seine Parteigänger Friedrich Nicolai, Friedrich Heinrich Jacobi u. a. schonungslos, spart aber auch nicht mit Kritik an der literar. Avantgarde (»die Herdersche Partei«). Dennoch wurde C. in der Folge weder literaturwissenschaftliche noch öffentl. Aufmerksamkeit zuteil. Weitere Werke: Das Mädchen. Eine Wochenschr. Bautzen 1774. – Zur Ehre der teutschen Lektüre. Eine Monatsschr. Bautzen 1774. – Der Marquisin v. Floredo Klagen in der Unterwelt. Dresden 1781 (R.). – Gedichte. Dresden 1782. Adrian Hummel / Red.

Contzen, Adam, * 17.4.1571 Monschau/ Eifel, † 19.6.1635 München. – Jesuit, Hofbeichtvater, Verfasser theologischer u. staatstheoretischer Schriften, Romanautor. Über C.s Ausbildung ist nur bekannt, dass er 1588 sein Philosophiestudium am Jesuitenkolleg Tricoronatum in Köln begann. Über den vorausgehenden Lebensabschnitt ist nichts bekannt. Nach dem Magisterabschluss

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(1591) bat er um Aufnahme in die Societas Jesu, absolvierte das erste Noviziatsjahr in Trier, ab 1592 erhielt er Lehraufgaben an den Kollegien in Köln u. Münster, 1599 folgte das Theologiestudium an der Mainzer JesuitenAkademie. Seine Lehrer waren Nicolaus Serarius (Bibelwissenschaften) u. Martin Becanus (Kontroverstheologie). Noch vor der Promotion zum Dr. theol. (1603) empfing er die Priesterweihe. Nach dem Tertiat in Trier wirkte er als Professor für Philosophie u. bibl. Sprachen am Kölner Kolleg, ab 1606 an der Universität Würzburg, bis er 1609 als Nachfolger von Serarius nach Mainz berufen wurde. Durch zahlreiche konfessionspolit. Publikationen im Reich bekannt, wurde C. 1622 als Hofbeichtvater vom Fürstbischof von Bamberg u. Würzburg angefordert. Nach dessen Tod Ende 1622 übernahm er eine Professur an der Jesuitenakademie in Molsheim. 1623 wählte ihn Kurfürst Maximilian I. von Bayern zu seinem Hofbeichtvater. C. versah dieses Amt bis zu seinem Tod u. bestärkte seinen Fürsten im kompromisslosen gegenreformator. Kurs. Als wortgewandter lat. Schriftsteller mit spitzer Feder verteidigte C. als Mainzer Professor Bellarmins Gnadenlehre gegen die Angriffe des Heidelberger calvinist. Theologen David Pareus (Defensio libri de gratia [...] Roberto Bellarmino conscripti. Mainz 1613. Crudelitas et idolum Calvinistarum revelatum. Mainz 1614). Das machtpolitisch motivierte Unionsangebot der Calvinisten an die Lutheraner veranlasste C.s Wendung zur Politik (De Vnione et Synodo generali Evangelicorum [...] Consultatio. Mainz 1615. De Pace Germaniae libri duo. Mainz 1616). Einzig die Anerkennung der Beschlüsse des Trienter Konzils durch die Protestanten könne Frieden in Deutschland u. Europa schaffen. Zum Reformationsjubiläum 1617 erschienen seine sarkast. Darstellungen der Geschichte der Reformation (Jubilum Jubilorum, Jubilaeum Evangelicum. Mainz 1618. Dt. Jubel der Jubel. New Euangelisch Jubeljahr. Mainz 1618. Chronologia Jubilaei Evangelici. Mainz 1618. Dt. Hundertjähriges Zeitregister der Evangelischen Jubelfreude. Neuhausen 1618. Coronis omnium Jubilorum anno saeculari Evangelico scriptorum. Mainz 1619).

Contzen

Nachhaltigeren Einfluss auf die Politik im Frühabsolutismus gewann C. mit seinem enzyklopädisch angelegten u. Kaiser Ferdinand II. gewidmeten Hauptwerk Politicorum libri decem, in quibus de perfectae Reipublicae forma, virtutibus, et vitiis, institutione Civium, Legibus, Magistratu ecclesiastico, civili, potentia Reipublicae, itemque seditione et bello, ad usum vitamque communem accomodate tractantur (Mainz u. Köln 1621. 21629. Internet-Ed.: CAMENA: Abt. Historica et Politica). Diese gegenwartsnahe kath. Staatslehre, die den Fürstabsolutismus antimachiavellistisch beschränkte u. die Vereinbarkeit von Moral u. erfolgreicher Machtpolitik lehrte, durchmustert alle Bereiche der Politik in ihrer Bedeutung für die Durchsetzung des Endzwecks des Staates (Wohlstand u. Seelenheil): Bildungspolitik, Schulwesen (u. a. Funktion der Literatur u. des Theaters im Staat), Gesetzgebung, staatskirchl. u. staatl. Verwaltung u. Behördenorganisation, Beraterwesen, Mittel der Machtbildung (Wirtschafts- u. Steuerpolitik, Sicherung des Staates nach Innen u. Außen durch Polizei u. Armee). Die Theorie hat C. nach dem Vorbild von Barclays Argenis durch einen histor. Roman veranschaulicht, den er mit einer programmat. Vorrede über das Wirken der göttl. Vorsehung in der Geschichte seinem Kurfürsten widmete: Methodus Doctrinae Civilis, Seu Abissini Regis Historia (Köln 1628. Dt. v. Matthias Abele. Sulzbach 1672). Die für die absolutist. Regierungspraxis zentrale Frage der Beratung des Regenten diskutiert C. in seinem Hofleutespiegel Daniel, Aulae Specium sive de statu, vita, virtute Aulicorum atque Magnatum (Köln 1630. 2 1686). Neben ständiger polit. Berater- u. Gutachtertätigkeit am Münchner Hof konnte er auch noch seine in Mainz begonnenen umfangreichen Bibelkommentare abschließen, auch hier die protestant. Gegner im Visier behaltend (Commentaria in Quatuor Sancta Jesu Christi Evangelia. Köln 1626. 21707. Commentaria in Epistolam S. Pauli ad Romanos. Köln 1629. Commentaria in Epistolas S. Pauli ad Corinthios et ad Galatas. Köln 1631). Weitere Werke: Disceptatio de Secretis Societatis Jesu. Mainz 1617. Dt. v. Johann Jung. Mainz 1617. – Consilium de Nova Archiducali Vniversitate

Conz Molshemiana 1618.

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augendaque.

Molsheim

Ausgabe: – Internet-Ed. diverser Texte in: The Digital Library of the Catholic Reformation (http:// solomon.dlcr.alexanderstreet.com//). Literatur: Bibliografie: Backer/Sommervogel 2, Sp. 1399–1403. – Weitere Titel: Heinrich Günter: Das Restitutionsedikt v. 1629. Stgt. 1901. – Bernhard Duhr: Gesch. der Jesuiten in den Ländern dt. Zunge. Bd. 2,2, Freib. i. Br. 1915, S. 250–256. – Ernst Albert Seils: Die Staatslehre des Jesuiten A. C. Hbg./Lübeck 1968. – Robert Bireley: Maximilian v. Bayern, A. C. S. J. u. die Gegenreformation in Dtschld. 1624–35. Gött. 1975. – Dieter Breuer: Oberdt. Lit. 1565–1650. Mchn. 1979, S. 145–218. – R. Bireley: The Counter-Reformation Prince. Chapelhill/London 1990, S. 136–161. – Stefan Dieter: Bemerkungen zum Einfluß A. C.s SJ auf die bair. Religionspolitik zu Beginn des 17. Jh. In: Ztschr. für bayer. Kirchengesch. 65 (1996), S. 14–31. Dieter Breuer

Conz, Karl Philipp, * 28.10.1762 Lorch/ Rems, † 20.6.1827 Tübingen. – Altphilologe, Übersetzer u. Lyriker.

erschienen in namhaften Zeitungen u. Zeitschriften u. wurden in mehreren Bänden gesammelt (Gedichte. Tüb. 1792. Weitere Slg.en. 1806, 1818/19, 1824. Mikrofiche-Ed. Mchn. 1990–94). C.’ einfühlende Begabung kam seinen zahlreichen Übersetzungen klass. Literatur (Aischylos, Euripides, Aristophanes, Lukrez, Seneca u. Racine) zugute. Für die Entstehung des Griechenland-Kults spielt er eine wichtige Rolle. C.’ Vermittlung u. Erklärung griech. Literatur u. Philosophie war für Hölderlin von großer Bedeutung. Weitere Werke: Schildereyen aus Griechenland. Reutl. 1785. – Nicodemus Frischlin, der unglückl. Wirtembergische Gelehrte u. Dichter. Ffm./ Lpz. 1791. – Analekten oder Blumen, Phantasien u. Gemälde aus Griechenland. Lpz. 1793. – Abh.en für die Gesch. oder das Eigenthümliche der späteren stoischen Philosophie, nebst einem Versuche über christl., kantische u. stoische Moral. Tüb. 1794. – Kleinere prosaische Schr.en vermischten Inhalts. 2 Bde., Tüb. 1821/22. – Kleine prosaische Schr.en oder Miscellen für Lit. u. Gesch. Neue Slg. Ulm 1825. Literatur: Karl Klüpfel: K. P. C. In: ADB. – Georg Cleß: Der schwäb. Dichter K. P. C. 1762–1827. Diss. Tüb. 1913. – Herbert Meyer: K. P. C. Dichter, Philologe 1762–1827. In: Schwäb. Lebensbilder. Hg. Hermann Haering. Bd. 5, Stgt. 1950, S. 107–114. – Adalbert Elschenbroich: K. P. C. In: NDB. – Rachid Lamrani: K. P. C. (1762–1827). Leben, Werk u. literaturgeschichtl. Leistung. Diss. Lpz. 1982. – Ders.: K. P. C. u. Friedrich Hölderlin. In: Philologica Pragensia 28 (1985), S. 11–23. – Rachid Lamrani: Der schwäb. Dichter K. P. C. u. die Frz. Revolution. In: Euph. 83 (1989), S. 198–213. Gerhard Kurz

Seine theolog. Ausbildung, entsprechend der Familientradition (auf den Seminaren in Blaubeuren u. Bebenhausen 1777–1781, im Tübinger Stift 1781–1786), betrachtete C. eher als Brotstudium. Sein eigentl. Interesse galt der klass. u. der neueren dt. Literatur. Nach der Vikarszeit wurde C. Repetent am Tübinger Stift (1789), wo er Lehrer u. a. von Hölderlin, Hegel u. Schelling war. Danach wirkte er als Prediger u. Diakon an der Karlsschule in Stuttgart, in Ludwigsburg u. in Vaihingen/Enz. 1804 wurde er zum Professor für klass. Literatur an die Universität Copernicus, Nicolaus (latinisiert aus: Tübingen berufen. Er las über griech. u. röm. Niklas Koppernigk; im Deutschen auch Literatur, über Ästhetik u. dt. Literaturgeunrichtig: Kopernikus), * 19.2.1473 schichte. 1812 erhielt er auch die Professur Thorn (Torun´), † 24.5.1543 Frauenburg für Eloquenz. Für viele war C. ein Freund, (Frombork); Grabstätte: ebd., Dom (Lage Anreger u. Förderer, u. a. für Schiller, Hölunbekannt). – Arzt, Ökonom, Astronom. derlin, Gustav Schwab, Justinus Kerner u. Uhland. C.’ Eltern entstammten dt., urspr. schles. In seinem literar. Werk folgt er den The- Familien; sein Vater war 1450 aus Krakau in men u. Formen seiner Zeit, von der Ana- die reiche Handels- u. Hansestadt Thorn kreontik, der Aufklärung über den Klassizis- übergesiedelt. Nach dem Abfall der zum mus bis in die schwäb. Romantik. Aus Antike Preußischen Bund zusammengeschlossenen u. Bibel, der schwäb. Heimat u. ihrer Ge- dt. Städte u. Stände vom Deutschen Orden schichte wählte er seine Stoffe. C.’ Gedichte (1454) u. dem zweiten Thorner Frieden

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(1466) unterstanden das »Königliche Preußen« mit Thorn u. Kulm, in denen C. aufwuchs, sowie das Bistum Ermland, seine spätere Wirkungsstätte, aus eigenem Entschluss der poln. Krone. Allerdings sprach C. selbst nicht Polnisch u. musste sich eines Dolmetschers bedienen; er schrieb wiss. Werke u. Briefe lateinisch u. fasste verwaltungstechnische u. polit. Briefe sowie seine Denkschriften zur preuß. Münzreform deutsch ab. Nach dem Tod des Vaters (1483) nahm der Onkel Lukas Watzenrode, ab 1463 Kanonikus an der Bischofskirche zu Kulm, ab 1479 Domherr in Frauenburg u. seit 1489 Bischof des Ermlands, C. in seine Obhut. C. besuchte vermutlich die Lateinschule in Kulm. In Kulm wurde er Kanonikus, bevor er 1491 an der Krakauer Artistenfakultät zu studieren begann. Nach kurzer Unterbrechung studierte er 1496 bis 1501 in Bologna, nach Erwerb des Magister artium (spätestens 1499) v. a. die Rechte zur Vorbereitung auf die ihm zugedachte Domherrenstelle in Frauenburg. Doch widmete er sich auch weiterhin mathemat. Studien u. stellte bei Dominicus Maria di Novara astronom. Beobachtungen an. Bereits 1497 war ihm die Domherrenstelle übertragen worden; Mitte 1501 erlaubte ihm das Domkapitel ein Weiterstudium nur unter der Bedingung, dass er sich der Medizin widme. Hierzu ging er nach Padua. Am 31.5.1503 erwarb er in Ferrara den Doktor des kanon. Rechts. Ende des Jahres kehrte er ins Ermland zurück, vorerst jedoch als persönl. Sekretär u. Leibarzt seines bischöfl. Onkels nach Heilsberg. Erst 1510 trat C. seine Domherrenstelle in Frauenburg selbst an, war dann 1516–1521 mit kurzer Unterbrechung Administrator des Domkapitels mit Residenz in Allenstein, zuletzt als Festungskommandant gegen die eindringenden Ordensheere, danach Kommissar des Ermlands bei den Friedensverhandlungen u. 1523 als Generaladministrator des gesamten Bistums interimistischer Vertreter des zu wählenden Bischofs. Den Zeitgenossen bekannt war C. v. a. als juristischer Berater des Bischofs u. Domkapitels (zwischen 1517 u. 1526 verfasste er im Auftrag des Bistums drei Denkschriften zur anste-

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henden preuß. Münzreform, die bezeugen, dass er auch als Ökonom seiner Zeit voraus dachte) sowie als umsichtiger Verwalter des Domkapitels, als angesehener Arzt, der bis an den poln. Königshof gerufen wurde, schließlich als Humanist, der mit seiner lat. Übersetzung der Briefe des (damals noch als »klassisch« geltenden) Theophylaktos Simokates (Epistolae morales, rurales et amatorie interpretatione latina. Krakau 1509) die erste in Polen erschienene Übersetzung eines griech. Autors überhaupt besorgte. Um den Astronomen C. wussten nur wenige, wenn er auch schon als solcher im Widmungsgedicht des mit ihm befreundeten Humanisten Laurentius Corvinus zur Simokates-Übersetzung (noch ohne Wissen um das neue Weltbild) gefeiert u. 1514/15 durch Paul von Middelburg, den Leiter der vom 5. Laterankonzil einberufenen Kalenderreformkommission, zu einer Stellungnahme aufgefordert wurde. Die erste »Skizze der von ihm selbst aufgestellten Hypothesen der Himmelsbewegungen« (De hypothesibus motuum coelestium a se constitutis commentariolus), die zwischen 1510 u. 1514 entstand, kursierte nur in wenigen handschriftl. Exemplaren. Das ab 1515 erarbeitete Hauptwerk De revolutionibus (»Die Umwälzungen«), um dessen Herausgabe sich Georg Joachim Rheticus ab 1539 bemühte, erschien erst in C.’ Todesjahr in Nürnberg im Druck – mit einer anonymen Vorrede des für die Druckerlaubnis verantwortl. Tübinger Theologen Andreas Osiander, in der das neue Weltbild entgegen der Absicht C.’ als bloße Hypothese zur einfacheren Berechnung der Planetenörter deklariert wird. (Von Osiander stammt auch die Erweiterung des Titels zu De revolutionibus orbium coelestium – »Die Umwälzungen der Himmelssphären«.) Auch Rheticus’ Narratio prima über das neue System in Form eines offenen Briefs an Johannes Schöner, die weitere Verbreitung fand u. größere Wirkung erzielte als C.’ Werk selbst, erschien erst 1540 in Danzig. C.’ Versuch, die Astronomie über die angeblich verfälschende Tradition des MA hinweg wiederherzustellen, folgt humanist. Motiven. Keineswegs fühlte sich C. mit seinem neuen Weltsystem, in dem gegenüber

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der aristotelisch-ptolemäischen Astronomie die Plätze von Erde u. Sonne vertauscht sind, als Revolutionär der Wissenschaft im späteren Sinne, vielmehr als Restaurator im damaligen, urspr. Sinne von »revolutio«. Er war bemüht, endlich die der mathemat. Astronomie seit Beginn zugrundeliegende Forderung nach ausschließlich kreis- u. gleichförmigen Bewegungen am Himmel zu erfüllen, gegen die Ptolemaios mit seiner Annahme von »Ausgleichsbewegungen« verstoßen hatte (Revolution als Rephysikalisierung). Dazu benutzte er die mathematisch-kinemat. Hilfsmittel (Epizykel u. Exzenter), die seit Ptolemaios üblich waren, ordnete sie aber geschickter an, sodass die ungleichförmige Ausgleichsbewegung durch einen gleichförmig kreisenden (Doppel-)Epizykel wiedergegeben wurde. Die bis dahin mittels des Epizykels beschriebene Anomalie der Schleifenbewegung der Planeten musste er daraufhin für scheinbar erklären; er fasste sie als bloßen optischen (parallaktischen) Effekt der Bewegung des Beobachters (mit der Erde) auf. Die Erscheinungsbilder erforderten dann als Konsequenz die Ruhe der Sonne u. der Fixsternsphäre (sowie deren unermessl. Entfernung). Nachträglich ergab sich für C. hieraus eine viel größere Harmonie der Schöpfung u. aufgrund der Zusammenfassung der Schleifenbewegung aller Planeten in der einen Bewegung der Erde eine größere Ökonomie der Astronomie. Allein hierdurch wurden auch C.’ spätere Anhänger von der Richtigkeit seiner Theorie überzeugt; denn während C. der Meinung war, dass die Wiedererneuerung der alten theoret. Grundlagen die Astronomie von ihren über die Jahrhunderte angewachsenen Fehlern befreie, entstanden wegen der Übernahme der ptolemäischen Daten auch bei Zugrundelegung seiner Theorie rasch ähnl. Diskrepanzen zwischen Theorie u. Beobachtung. C. hatte sich in seinem Hauptwerk als in Italien geschulter Humanist nicht nur formal eng an den Almagest des Ptolemaios gehalten, der v. a. durch die Bemühungen Georg Peurbachs u. Johannes Regiomontanus’ wieder über das Original zugänglich geworden war, sondern auch inhaltlich weitgehend bloß dessen Daten transformiert, sodass bei ihm

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entsprechend der geozentr. Sonnentheorie nicht die wahre, sondern nur die mittlere Sonne das Zentrum einnimmt; erst Kepler machte das heliostatische zu einem heliozentr. Weltsystem u. schuf die dafür notwendige neue Astronomie. Die Anerkennung des neuen Weltbilds erfolgte allerdings letztlich erst durch die Anerkennung der Kepler’schen Gesetze im Rahmen der Newton’schen Physik zu Beginn des 18. Jh. – weil sich die Konsequenzen im Rahmen des neuen theoret. Konzepts einer Mechanisierung der Physik bewährten. Die Begründer dieser neuen Wissenschaft von der Natur sahen jedoch mit Recht in C. denjenigen, der durch sein die triviale Anschaulichkeit aufgebendes Denken diesen Weg eingeleitet hatte. Ausgaben: Gesamtausg. Hg. Heribert M. Nobis u. Menso Folkerts. Mchn. (urspr. Hildesh.) 1974 ff. (bisher 6 Bde.). – Einzeltitel: N. Coppernicus: Über die Kreisbewegungen der Weltkörper. Übers. u. mit Anmerkungen v. C. L. Menzler. Thorn 1879. Neudr. Lpz. 1930. – N. K.: Erster Entwurf seines Weltsystems. Übers. u. erl. v. F. Rossmann. Mchn. 1948. – Die Geldlehre des N. C. Hg. Erich Sommerfeld. Bln. u. Vaduz 1978. – N. C.: Das neue Weltbild. Drei Texte: Commentariolus, Brief gegen Werner, De revolutionibus I. Übers., hg. u. mit einer Einl. vers. v. Hans Günter Zekl. Hbg. 1990. Literatur: Bibliografie: Henryk Baranowski: Bibliografia Kopernikowska. 2 Bde., Warschau 1958–73. – Weitere Titel: Leopold Prowe: N. Coppernicus. 2 Bde. in 3 Tln. 1883/84. Neudr. Osnabr. 1967. – Ernst Zinner: Entstehung u. Ausbreitung der coppernican. Lehre. Erlangen 1943. Neudr. hg. u. erg. v. Heribert M. Nobis u. F. Schmeidler. Mchn. 1988 (mit neuerer Lit.). – Marian Biskup: Regesta Copernicana. Wroclaw 1973. – Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikan. Welt. Ffm. 1975. – Noel M. Swerdlow u. Otto E. Neugebauer: Mathematical Astronomy in C.’s ›De revolutionibus‹. 2 Bde., Bln. 1984. – Fritz Krafft: N. C. – Astronomie u. Weltbild an der Wende zur Neuzeit. In: Lebenslehren u. Weltentwürfe im Übergang vom MA zur Neuzeit (Abh. Akademie der Wiss. Göttingen, Phil.-hist. Kl. [3] 179). Gött. 1989, S. 282–335. Fritz Krafft /

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Cordan, Wolfgang, eigentl.: Heinrich Wolfgang Horn, auch: Hendrik van Hoorn, * 3.6.1909 Berlin, † 29.1.1966 Guatemala. – Lyriker, Romanautor, Archäologe.

Cordatus

Nach seiner Schulausbildung in Schulpforta siedelte C. nach Paris über. Der Kontakt mit den Surrealisten u. die Freundschaft mit Yvan Goll, dem der Gedichtband Das Jahr der Schatten (Rijswijk 1940) gewidmet ist, prägten die Metaphorik seiner Lyrik bis in die 1940er Jahre. Ende 1933 emigrierte er nach Amsterdam, wo er 1934–1937 die holländ. Literaturzeitschrift »Het Fundament« redigierte. Ab 1940 beeinflusste die intensive Beschäftigung mit dem Werk Stefan Georges, die durch die Bekanntschaft mit Wolfgang Frommel u. dem Castrum-Peregrini-Kreis angeregt wurde, seine Lyrik. Neben mythisierender Naturlyrik stand thematisch die Verarbeitung des Krieges im Vordergrund. Nach dem Krieg siedelte C. in die Schweiz über. Hier entstand aus dem Studium der Antike heraus der histor. Roman Julian der Erleuchtete (Tüb. 1950). 1953 reiste C. nach Mexiko, um sich bis zu seinem Tod archäolog. Studien zur Erforschung der Mayakultur zu widmen. Aufgrund seines Exilschicksals ist C.s literarisches Werk heute fast in Vergessenheit geraten.

Ferrara (Lic. theol.) fort. Als Prediger in Buda u. in den oberungarischen Bergstädten trat er für Luthers Reformation ein, musste deshalb weichen u. kam im Juni 1524 erstmals nach Wittenberg. Schon im Frühjahr 1525 predigte er wieder in Kremnitz, wurde in Gran (Esztergom) eingekerkert, konnte aber nach 38 Wochen fliehen. Luther verschaffte ihm 1527 ein Lehramt in Liegnitz. 1529–1532 war C. Prediger in Zwickau. Dann wohnte er mehrere Monate bei Luther, u. auch als er 1532 Pfarrer in Niemegk wurde, kam er immer wieder zu Luthers Tischrunde. Spannungen mit Melanchthon, dessen Rechtgläubigkeit C. bezweifelte, konnten beigelegt werden; Melanchthon edierte postum C.’ Auslegung der Evangelien an Sonntagen und fürnembsten Festen (Nürnb. 1556). 1540 wurde C. Superintendent in Stendal. C.’ literaturgeschichtl. Bedeutung liegt einzig darin, dass er es – nach eigenem Zeugnis als Erster – wagte, die Tischreden des Reformators aufzuschreiben u. damit die Bahn für andere, namentlich Veit Dietrich u. Johannes Schlaginhauffen, brach. Seine abschriftlich überlieferten Aufzeichnungen sind aber keine unmittelbaren Nachschriften, sondern eine 1536/37 angefertigte, durch Aufzeichnungen anderer ergänzte, stark von C.’ eigenem Stil geprägte Bearbeitung.

Weitere Werke: Landschaften u. Entrückungen. Lpz. 1931 (L.). – Das Muschelhorn. Amsterd. 1941 (L). – Ernte am Mittag. Tüb. 1951 (L.). – Mayakreuz u. rote Erde. Zürich/Stgt. 1960. – Übersetzung: Popol Vuh. Das Buch des Rates. Mythos u. Gesch. der Maya. Aus dem Quiché übertragen u. erl. Düsseld. 1962. Mchn. 91995. Sonderausg. 1998.

Weitere Werke: Ursach, warumb Ungern verstöret ist u. ytzt Osterreich bekrieget wird. o. O. [Zwickau] 1529. Neudr. Budapest 1928. – Anzeigung etlicher ketzerischen Artikel u. jrthumben D. Johan. Codes u. Georgii Witzels. Wittenb. 1537. – Weimarer Lutherausg., Tischreden. Bd. 2, S. XXIXXXII, 273–700. Bd. 3, S. 1–308.

Literatur: Karlhans Kluncker (Hg.): W. C., Jahre der Freundschaft. Castrum Peregrini 153/ 154. Amsterd. 1982. Heiner Widdig / Red.

Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Gustav Hammann: Conradus C. Leombachensis. Sein Leben in Österr. In: Jb. des Oberösterr. Musealvereins 109 (1964), S. 250–278. – Friedrich Wilhelm Bautz: C. In: Bautz. – Imre Bencze: K. C., Luther Budáról indult küzdötársa. In: Tanulmányok a Lutheri Reformáció Történetéböl. Hg. Tibor Fabiny. Budapest 1984, S. 132–149. – Martin Brecht: Martin Luther. Bd. 3, Stgt. 1987, S. 150–154, 397. – Uwe Czubatynski: Vier ›apokryphe‹ Lutherworte u. ihre Überlieferung. In: Lutherjb. 58 (1991), S. 71–74. – Heinz Scheible: Melanchthons Briefw. Bd. 11, Stgt. 2003, S. 303 (Lit.). Heinz Scheible

Cordatus, Konrad, eigentl.: K. Hertz, * 1480 oder 1483 Leombach bei Wels/ Oberösterreich, † 25.3.1546 bei Spandau; Grabstätte: Dom zu Stendal. – Pfarrer u. Schreiber von Tischreden Luthers. Der Sohn eines Großbauern studierte ab 1502 in Wien, u. a. bei Celtis. Er wurde Kantor in Böhmen, setzte sich mit dem Hussitismus auseinander u. setzte sein Studium in Rom u.

Cordes

Cordes, Alexandra, auch: Christa Bach, Jennifer Morgan, eigentl.: Ursula Schaake, * 16.11.1935 Bonn, † 28.10.1986 Chateauneuf-du-Pape. – Verfasserin von Unterhaltungsromanen. Schon während ihrer Ausbildung als Journalistin u. Dolmetscherin schrieb C. als freie Mitarbeiterin für namhafte Zeitungen u. Zeitschriften. 1958 veröffentlichte sie ihren ersten Roman Die entzauberten Kinder (Bayreuth. Mchn. 111986). Seitdem erschienen in rascher Folge weitere Romane (insg. 56 mit einer Gesamtauflage von etwa 12 Millionen), darunter nicht wenige auch international erfolgreiche Bestseller (Sag mir auf Wiedersehen. Mchn. 1975. 2003. Geh vor dem letzten Tanz. Mchn. 1976. 2004). Charakteristisch für die Bücher der »Millionen«-Autorin sind Liebesu. Ehegeschichten, die im gehobenen Milieu, oft an exot. Schauplätzen, spielen u. meist aus der Perspektive einer Frau die Gefahren u. Anfechtungen schildern, in denen sich Liebe u. Ehe bewähren müssen. C. Werke werden auch heute immer wieder nachgedruckt oder erscheinen in Neuauflagen. Die anhaltende Faszination, die sie auf ein breites Publikum ausüben, beruht »auf Fakten, die allen Trivialromanen eigen sind: Verniedlichung, Simplifizierung. Zwangsharmonisierung« (Armgard Seegers in: Die Zeit, 13.11.1981). C. wurde von ihrem Ehemann, dem Schriftsteller Michael Horbach, umgebracht. Weitere Werke: Liebe, die zu früh begann. Mchn. 1964. Bergisch Gladbach 1989. – Das Haus im Marulabaum. Mchn. 1977. 91990. – Frag nie nach dem Ende. Mchn. 1978. 71993. Peter König / Red.

Cordus, Euricius, * 1486 Simtshausen bei Marburg, † (24.12.?) 1535 Bremen. – Neulateinischer Epigrammatiker; Verfasser medizinischer Fachschriften. Der Sohn eines Müllers erlangte offenbar 1507 (obgleich sich ein vorheriger Universitätsbesuch nicht nachweisen lässt) in Erfurt das Bakkalaureat. Aus seiner wohl im folgenden Jahr geschlossenen Ehe gingen acht Kinder hervor, darunter der v. a. als Botaniker bedeutende Valerius. 1509–1511 Rektor der Altstadtschule in Kassel, dann bis 1512

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Rentschreiber in Felsberg, wandte sich C. 1513 erneut nach Erfurt, wo er (wie der ihm freundschaftlich verbundene Eobanus Hessus) dem Humanistenkreis um Mutianus Rufus angehörte; dort erwarb er 1516 den Magistergrad u. übernahm 1517 oder 1518 das Rektorat der Marienstiftsschule, bevor er sich aus finanziellen Gründen zum Studium der Medizin entschloss. 1521 reiste C. nach Ferrara, wo er noch im Herbst desselben Jahres zum Dr. med. promoviert wurde. Wieder zurück in Erfurt, war er ab 1523 als Stadtarzt in Braunschweig tätig, bis ihn 1527 Landgraf Philipp von Hessen an die neu gegründete Universität in Marburg berief; als erster Professor der Medizin wirkte er dort sieben Jahre, um schließlich 1534 als Stadtarzt u. Gymnasiallehrer nach Bremen zu gehen. Sein literar. Werk eröffnete C. mit Hirtengedichten: dem überraschend realistisch-sozialkrit. Bucolicon (Erfurt 1514. Verändert Lpz. 1518), während die folgenden zwei bzw. drei Bücher Epigramme (Erfurt 1517 bzw. 1520) seinen Ruf als bissiger Satiriker begründeten. In diese erste Schaffensphase fallen neben einigen kleineren Gelegenheitswerken ferner die Gratulatio (Erfurt 1522), die er drei Jahre später stark erweitert als Antilutheromastix (Wittenb. 1525) herausgab, sowie die Exhortatio (Wittenb. 1525), die um einen Anhang vermehrt als Paraeneticon (Marburg 1527) desgleichen nochmals im Druck erschien: ein mehr als 1500 Hexameter umfassender Appell, in dem der überzeugte Lutheraner Kaiser Karl V. u. die dt. Fürsten zur Unterstützung der reformator. Bewegung auffordert. Hatte sich C. bis dahin als satir. Dichter u. politisch-religiös engagierter Autor einen Namen gemacht, so wandte er sich während der Marburger Jahre u. damit in einer zweiten Schaffensperiode hauptsächlich der medizinischen, fast durchweg in dt. Sprache gehaltenen Fachprosa zu. Aus aktuellem Anlass schrieb er zunächst Ein Regimennt Wie man sich vor der Newen Plage/Der Englische Schweis genant/bewaren[...] sall (Marburg 1529 u. ö.); hierauf das Büchlein Von der vielfaltigen tugent unnd waren bereitung/Deß rechten edlen Theriacs [...] (Marburg 1532), das bes. die Verfälschungen dieses damals häufig gebrauchten

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Arzneimittels anprangert. Zwei Jahre später Cordus, Valerius, * 18.2.1515 Erfurt, veröffentlichte er dann sein medizinisches † 25.9.1544 Rom. – Verfasser botanischer Hauptwerk: das in Form eines lat. Dialogs u. pharmazeutischer Fachschriften. abgefasste Botanologicon (Köln 1534. Paris Schon früh durch seinen Vater Euricius bo1551), wodurch er – wiewohl nur für kurze tanisch-pharmazeutisch unterrichtet, erwarb Zeit – auch als Botaniker bekannt geworden C. in Marburg 1531 das Bakkalaureat. 1533 ist. Aus dem Nachlass herausgegeben wurde setzte er sein Studium in Leipzig fort, wobei dagegen seine Schrift Von der kunst, auch er sich zgl. in der Apotheke seines Onkels missbrauch und trug des harnsehens (Magdeb. praktisch weiterbildete. Spätestens seit 1539 1536. Ffm. 1543), die speziell das Kurpfuin Wittenberg, hielt er an der Universität schertum in der Uroskopie entlarvt. Postum Vorlesungen über die »Materia medica« des erschienen sind des Weiteren die letzten vier Dioskurides u. unternahm mehrfach naturder insg. 13 Bücher seiner (rd. 1300) lat. kundl. Exkursionen in die nähere UmgeEpigramme, deren vollständige Ausgabe erst bung, aber auch größere Forschungsreisen; im Rahmen der Opera poetica (o. O. u. J. [verderen letzte führte ihn ab Herbst 1543 bis mutlich Lpz. 1550]. Ffm. 1564. Zuletzt nach Rom, wo er wahrscheinlich an den FolHelmstedt 1614 u. 1616) erfolgte. gen eines Unfalls oder an der Malaria geDer bleibende Ruhm des Humanisten C., storben ist. der als ärztl. Autor – trotz neuartiger Ansätze Der bereits von seinen Zeitgenossen hoch v. a. im Botanologicon – schon bald in Vergesgeschätzte junge Gelehrte hinterließ ein senheit geriet, beruht denn auch im Wesentvielseitiges, erst postum veröffentlichtes u. lichen auf diesen meist zeitkritischen, ebenso namentlich durch Konrad Gesner betreutes scharfzüngigen wie oft humorvollen EpiWerk, das ihn hauptsächlich als bedeutenden grammen, die seinem unbeugsam-wahrBotaniker u. Pharmakognosten ausweist: so heitsliebenden Charakter u. reizbar-kämpfedie Annotationes in [...] Dioscoridis [...] de medica rischen Temperament das angemessene Bemateria libros V (zunächst Ffm. 1549) u. bes. tätigungsfeld boten. Noch Lessing z.T. als die auf eigenen Beobachtungen basierenden, Vorlage dienend, weisen sie C. in der Tat als mustergültigen Pflanzenbeschreibungen der einen der hervorragendsten Vertreter dieser Historiae stirpium libri IV (Straßb. 1561), denen literar. Gattung im 16. Jh. aus. dann noch ein [...] liber quintus (Straßb. 1563) Ausgaben: E. C. Epigrammata (1520). Hg. Karl folgte. Seinen speziell unter Pharmazeuten Krause. Bln. 1892 [Die ersten drei Bücher samt den Epigrammen gegen Thiloninus Philymnus (1515)]. bis heute nachwirkenden Ruhm verdankt C. – E. C. Der Engl. Schweiß 1529 [Faks.]. Hg. u. mit hingegen dem in zahlreichen Ausgaben u. einem Nachw. vers. v. Gunter Mann. Marburg Bearbeitungen verbreiteten Pharmacorum [...] 1967. – Armgard Müller: Das ›Bucolicon‹ des E. C. conficiendorum ratio. Vulgo vocant Dispensatorium u. die Tradition der Gattung. Text, Übers., Inter- [...] (Nürnb. o. J. [1546]): Als erstes amtl. Arzpr.en. Trier 1997. – Ioanna Paschou: E. C., ›Bu- neibuch im dt. Sprachraum 1547 für das colicon‹. Krit. u. komm. Ausg. Hbg. 1997. – Opera Gebiet der Freien Reichsstadt Nürnberg verpoetica omnia. o. O. u. J. Internet-Ed.: CAMENA: bindlich eingeführt, wurde es Prototyp u. Abt. Poemata. Maßstab der späteren Pharmakopöen. Literatur: Carl Krause: E. C. Eine biogr. Skizze aus der Reformationszeit. Diss. Marburg 1863. – Hans Vogel: E. C. in seinen Epigrammen. Diss. Greifsw. 1932. – Peter Dilg: Das Botanologicon des E. C. Ein Beitr. zur botan. Lit. des Humanismus [mit dt. Übers.]. Diss. Marburg 1969. – Ders.: C., E. In: DBE, Bd. 2 (22005), S. 407 f. – Ders.: C., E. In: VL Dt. Hum. (mit einer Bibliogr. der Primär- u. Sekundärlit.). Peter Dilg

Ausgaben: Das Dispensatorium des V. C. Faks. des [...] ersten Druckes [...]. Mit einem Geleitworte v. Ludwig Winkler. Mittenwald 1934. – Dispensatorium [...]. Nürnb. 1598. Neudr. Mchn. 1969. Literatur: Georg Edmund Dann: Leben u. Leistung des V. C. aus neuerer Sicht. In: Pharmazeut. Ztg. 113 (1968), S. 1062–1072. – Peter Dilg: Zur Ed. der botanisch-pharmazeut. Schr.en des V. C. (1515–1544). In: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Beiträge zur Tagung der Kommission für die Ed. v. Texten der Frühen Neuzeit. Hg. Hans-

Cornelius Gert Roloff. 2. Tl., Amsterd./Atlanta 1997, S. 975–982. – Ders.: C., V. In: DBE, Bd. 2 (22005), S. 408 (mit weiterer Sekundärlit.). Peter Dilg

Cornelius, (Carl August) Peter, * 24.12. 1824 Mainz, † 26.10.1874 Mainz; Grabstätte: ebd., Hauptfriedhof. – Dichterkomponist. C. wuchs als Schauspielerkind im Rheinland auf, verließ mit 14 Jahren die Bürgerschule u. sollte auch Schauspieler werden. Nach dem frühen Tod des Vaters wurde C. von seinem Onkel, dem Maler Peter von Cornelius, in Berlin betreut, wo er Musik studierte. Er wurde dann Musiklehrer, Rezensent u. Mitgl. des Liszt-Kreises in Weimar (1853–1858). Mit Heyse, Hoffmann von Fallersleben, Wagner, Berlioz, Hans von Bülow, Hebbel, Bonaventura Genelli u. a. eng befreundet, spielte C. eine »wichtige Nebenrolle« im Kulturleben der Zeit. Nach sechs in Wien verbrachten Jahren wurde er 1865, von Wagner nach München gerufen, Professor für Harmonie u. Rhetorik an der Königlich Bayrischen Musikhochschule. Von Anfang an drehte sich C.’ Leben »um zwei Pole: Wort und Ton«, u. sein Streben war, beide zu vereinigen. Heute ist er in Deutschland v. a. bekannt als Komponist der selbstgedichteten kom. Oper Der Barbier von Bagdad (Urauff. Weimar 1858). Das vor Reimu. Wortspielereien sprudelnde Libretto widersteht der Übersetzung. Weltweit bekannt wurde sein Weihnachtslied Die Könige (»Drei Kön’ge wandern aus dem Morgenland«) aus dem 1856 gedichteten u. vertonten Weihnachtslieder-Zyklus (Op. 8, umgearbeitet u. publiziert: Lpz. 1870). Sein literar. Schaffen konzentrierte sich auf den Bereich der Lyrik. Von der großen Anzahl kurzer Liebesgedichte u. intimer Gelegenheitsgedichte, die C. geschrieben hat, ist der größere Teil unveröffentlicht. Sein der berühmten Sängerin Rosa von Milde gewidmeter, höchst origineller Sonettenkranz (Weimar 1859) nimmt als Ausgangspunkt für die zwölf Sonette jeweils die Psyche einer weibl. Opernheldin (u. a. Leonore, Senta u. Elsa). C. war Meister einer innigen Kurzlyrik (Versteckte Liebe. Ich pflückt’ im Wald einen Erdbeer-

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strauß. Ich war ein Blatt an grünem Baum), die Liebe u. Humor oder eine fromme Lebensanschauung mit leichter Selbstironie verbindet. Der in mehreren Sprachen bewanderte C. übersetzte u. a. die Textbücher zu GluckOpern u. zu Berlioz’ Benvenuto Cellini sowie Petrarca-Gedichte u. eine Reihe polnischer Sonette. Als Rezensent bewies er in seinen Aufsätzen unabhängige Urteilskraft: Seine begeisterte Lohengrin-Kritik etwa erschien zu einer Zeit (1867), als Wagner manchen noch fremd vorkam. In seinem literar. Schaffen wie in seinem Unterricht an der Musikhochschule legte C. größten Wert auf »Erlebtes, Empfundenes und Geschautes«. Stetiger Geldmangel u. der Zwang zum Broterwerb durch Stundengeben u. Übersetzen hinderten ihn jedoch daran, seinen künstler. Neigungen ausschließlich zu folgen. Seine Briefe u. Tagebücher bezeugen C.’ impulsives, großzügiges Gemüt u. geben einen teils humorvollen, teils betrübl. Einblick in ein Künstlerleben im 19. Jh. Weitere Werke: Lieder. Pest 1861. – Gedichte. Hg. Adolf Stern. Lpz. 1890. – Literar. Werke. Hg. Carl Maria Cornelius u. a. 4 Bde., Lpz. 1904/05. Neudr. New York 1970. – Ges. Aufsätze. Gedanken über Musik u. Theater, Poesie u. Bildende Kunst. Hg. Günter Wagner. Mainz 2004. Literatur: Hermann Kretzschmar: P. C. Lpz. 1880. – Adolf Sandberger: Leben u. Werk des Dichterkomponisten P. C. Lpz. 1887. – Edgar Istel: P. C. Lpz. 1906. – Max Hasse: Der Dichtermusiker P. C. Lpz. 1922/23. – Carl Maria Cornelius: P. C. der Wort- u. Tondichter. Regensb. 1925. – Hellmut Federhofer u. Kurt Oehl (Hg.): P. C. als Komponist, Dichter, Kritiker u. Essayist. Regensb. 1977. – Klaus Günther Just: P. C. als Dichter. Ebd., S. 19–30. – Günter Wagner: P. C. Verz. seiner musikal. u. literar. Werke. Tutzing 1986. – James Andrew Deaville: The music criticisms of P. C. Diss. Evanston 1986. – Orville Timothy Lawton: The operas of P. C. Diss. Gainesville 1988. – Hans-Josef Irmen: Vergangene Zukunftsmusiker in ihrer Gegenwart. Zülpich 1992. – Reinald Chraska: Der Mainzer Dichter-Komponist P. C. in Salzburg u. Trier. Trier 1992. – Ulrich Lenz: Der ›Cid‹ v. P. C. – ein span. Lohengrin? Mag.-Arbeit Mainz 1996. – Goedeke Forts. – Dirk Uka: Untersuchungen zum Chorschaffen v. P. C. Examens-Arbeit Lübeck 2001. Celia Skrine / Red.

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Corner, David Gregor, * 1585 Hirschberg/ Schlesien, † 9.1.1648 Göttweig. – Benediktinerabt; Gesangbuchherausgeber.

Cornova Brahms u. die geistl. Lieder aus D. G. C.s GrossCath. Gesangbuch v. 1631. In: Brahms Congress. Wien 1983, S. 67–80. – Clemens Anton Lashofer OSB: Professbuch des Benediktinerstiftes Göttweig. Zur 900-Jahr-Feier der Gründung des Klosters. St. Ottilien 1983, S. 148, 151–154 (mit Werkverz. u. Mss.). – Josef Schultes: D. G. C. [...] im Dienste der kath. Erneuerung Österr.s. In: Jb. der Schles. Friedrich-Wilhelms-Univ. zu Breslau (1985), S. 75–88. – SL [Walther Lipphardt] in: MGG 2. Aufl. Bd. 4, Sp. 1627 f. – Walter Lipphardt u. Dorothea Schröder in: The New Grove 2. Aufl. Bd. 4, S. 479 f. – Rudolf Walter: D. G. C. In: Schles. Lebensbilder. Bd. 7: Schlesier des 15. bis 20. Jh. Hg. Josef Joachim Menzel. Stgt. 2001, S. 52–56. Franz Günter Sieveke / Red.

Nach Schulbesuch vermutlich in Breslau oder Glatz erhielt C. seine philosoph. Ausbildung bei den Jesuiten in Prag (Magisterpromotion 28.4.1609), seine theologische in Graz (Bacc. theol. 1614) u. seine Priesterweihe 1614 in Wien. Von Juli 1615 bis 1620 war er Pfarrer in Mautern, gleichzeitig u. a. auch in Hainfeld (ab 1616) u. Retz (1619–1624). Nach dem theolog. Doktorat 1624 in Wien (Promotion 21.4.1625) trat C. 1625 als Novize in das Benediktinerkloster seines Freundes Georg Falb in Göttweig/Niederösterreich ein. Hier wurde er am 21.1.1629 Prior u., nach dem Tod Falbs, am 15.7.1631 zum neuen Abt gewählt. Cornova, Ignaz, * 25.7.1740 Prag, † 25.7. Im Wintersemester 1638/39 erfolgte seine 1822 Prag. – Lyriker, Dramatiker u. Historiograf. Wahl zum Rektor der Universität Wien. In der Zeit seiner Pfarrseelsorge sammelte C. trat 1759 nach dem Besuch des Prager C. Texte für sein Groß Catholisch Gesangbuch, Collegium Clementinum in den Jesuitenordarinnen in die vier hundert andächtig alte [...] und den ein, wurde 1770 zum Priester geweiht, newe Gesäng [...] und Ruff in eine gute [...] und anschließend Präses des Jesuitenseminars in richtige Ordnung zusambgebracht (Fürth 1625. Komotau. Er unterrichtete an verschiedenen Wien 71676; vgl. EKG 5). Das Werk kam dem böhm. Gymnasien u. war 1784–1795 Profespraktischen gottesdienstl. Bedürfnis entge- sor für allg. Geschichte an der Prager Unigen u. stand zgl. im Dienst der religiösen versität. Sein lyrisches u. dramat. Werk, das durchErneuerung u. demonstratio fidei in Österwegs in den 1770er u. frühen 1780er Jahren reich. Weitere Werke: Promptuarium catholicae de- entstand (später verfasste er eine große Zahl votionis [...]. Prag 1610. Ingolst. 1614. Wien 51635 historiografischer Schriften), ist stark didaku. ö.). – Feriae paschales, sive commentarii ascetici tisch geprägt u. sollte einerseits das Entstede descensu ad inferos [...]. Wien 1639. – Vita D. N. hen eines österr. Patriotismus fördern, andeJesu Christi divino-humana [...]; commentariis rerseits das josephin. Reformprogramm proasceticis [...] elucidata. Wien 1642. pagieren: 1775 veröffentlichte er die formal Ausgaben: Kath. Kirchenlieder, Hymnen, Psal- u. inhaltlich an der Hochstillyrik der dt. men. Aus den ältesten dt. gedr. Gesang- u. Gebet- Aufklärung orientierten Gedichte (Prag), 1777 büchern [...] vereinigt v. Joseph Kehrein. 4 Bde., erschien in Prag die Sammlung von KriegsWürzb. 1859–65. Neudr. Hildesh. 1965, Bd. 1–3: liedern Die Helden Oesterreichs, eine VerherrliDie ältesten kath. Gesangbücher v. Michael Vehe, chung österreichischer Herrscher u. FeldherJohann Leisentrit, D. G. C. u. a. ren des 17. u. 18. Jh., u. 1783 das im BlankLiteratur: Georg Westermayer: C. In: ADB. – R. vers abgefasste Lehrgedicht in vier Gesängen Johandl: D. G. C. u. sein Gesangbuch. In: AfMW 2 An Böhmens junge Bürger (Prag u. Wien). Meh(1920), S. 447–464. – Margarete Kummer: D. G. C.s rere Lustspiele wie Henriette von Blumenau Groß Cath. Gesangbuch. Diss. Wien 1927. – Peter (Prag 1777) oder Der junge Menschenfreund Platzer: Dr. D. G. C., kath. Reformator u. Abt des Stiftes Göttweig (1585–1648). Ein Beitr. zur Gesch. (Prag 1779) verbinden Elemente des rührender kath. Erneuerung u. des 30-jährigen Krieges. den Lustspiels mit satir. Engagement für die Diss. Wien 1964. – Ernst Tittel: D. G. C. u. sein josephinische Aufklärung. Kirchengesangbuch. In: Ztschr. für kath. Kirchenmusik 15 (1967/68). – George S. Bozarth: Johannes

Weitere Werke: Unterhaltungen mit jungen Freunden der Vaterlandsgesch. 4 Bde., Prag

Corrodi 1799–1803. – Leben Josephs des Zweyten. Prag 1801. Wynfrid Kriegleder / Red.

486 A. C. In: Helvet. Steckbriefe. Hg. Werner Weber u. a. Zürich 1981, S. 41–47 (Bibliogr.). – Goedeke Forts. Rémy Charbon / Red.

Corrodi, (Wilhelm) August, * 27.2.1826 Zürich, † 15.8.1885 Zürich. – Maler, Ly- Corti, Egon Caesar Conte, * 2.4.1886 Agram (Zagreb), † 17.9.1953 Klagenfurt. riker, Erzähler u. Dramatiker. – Autor historischer Romane. Seine Jugend verbrachte der Pfarrerssohn C. in Töss bei Winterthur. Auf Wunsch des Vaters studierte er (fünf Semester) Theologie in Zürich u. Basel, ehe er zur Münchner Kunstakademie überwechselte (1847–1851; mit Kontakten zum Münchner Dichterkreis). 1852–1856 arbeitete C. als Dessinateur u. Schriftsteller in St. Gallen, dann im elterl. Haus in Töss, 1862 bis zum krankheitsbedingten Rücktritt 1881 als Zeichenlehrer in Winterthur. C.s umfangreiches literar. Werk umfasst Gedichte in der Nachfolge Eichendorffs (mit dem er auch einen Briefwechsel führte), Erzählungen, Dramen u. selbstillustrierte Kinderbücher. Seine hochdt. Werke sind von einer epigonalen Romantik u. biedermeierlichem Geist geprägt. Von eigenständigem Wert sind dagegen die drei Mundartidyllen in Hexametern, Genrebilder aus dem ländl. Bürger- u. Bauerntum, z.T. in der Tradition Usteris (De Herr Professer. Winterthur 1857. 21872. De Herr Vikari. Winterthur 1858. De Herr Dokter. Winterthur 1860. Neuausg. Zürich 1974) sowie die Übertragungen ins Zürichdeutsche (Lieder von Robert Bums. Winterthur 1870. Liedli. Neuausg. Fällanden 1971. De Vatter chunnt! Übertragung der Mostellaria des Plautus. Hg. Rudolf Hunziker. In: Beilage zum Ber. über das Gymnasium in Winterthur 1911). Weitere Werke: Lieder. Kassel 1853. – Eine Pfarrwahl. Aarau 1877 (E.). – Gesch.n. Zürich 1881. – Onkel Augusts Geschichtenbuch [...] für die Jugend. Hg. Otto v. Greyerz. Winterthur 1922. Literatur: Rudolf Hunziker: A. C. In: FS zur Feier des 50jährigen Bestehens des Gymnasiums Winterthur. 3. Tl., Winterthur 1912, S. 11–14 (Bibliogr.). – Otto v. Greyerz: A. C.s Kinderschr.en. In: Jb. der literar. Vereinigung Winterthur 1921, S. 42–69. – R. Hunziker u. Paul Schaffner: A. C. als Dichter u. Maler. Winterthur 1930. – Ewald Reinhard: Joseph v. Eichendorff u. sein Schweizer Freund A. C. In: Aurora 16 (1956), S. 52–55. – Hans Jürg Kupper: Robert Burns im dt. Sprachraum. Bern 1979. – Ueli Bachmann u. Elisabeth Rohner:

Der Sohn eines k. u. k. Feldmarschallleutnants, der einer lombardischen Adelsfamilie entstammte, absolvierte die Militärakademie in der Wiener Neustadt u. studierte ab 1918 Geschichte an der Universität Wien (Dr. phil.). Anschließend lebte er als freier Schriftsteller in Wien; 1937 trat C. dem nationalsozialist. »Bund der deutschen Schriftsteller in Österreich« bei. C. veröffentlichte von 1920 an eine Reihe beliebter, vielfach aufgelegter histor. Monografien – Ludwig I. von Bayern (Mchn. 1927. Mchn/Zürich [1982]), Vom Kind zum Kaiser. Kaiser Franz Josef I. und seine Geschwister (Salzb./ Wien 1951) –, deren Festschreibung des habsburgischen Mythos an der ideolog. Wiederbelebung der österr. Heimatidee u. der ständestaatl. Legitimation mitwirkte. In seinem bekanntesten Roman Elisabeth. Die seltsame Frau (Graz/Wien/Köln 1934. 431998. Augsb. 2003) verarbeitete er, wie auch in zahlreichen anderen Romanen, unbekanntes, von ihm erschlossenes Quellenmaterial aus dem schriftl. Nachlass der Kaiserin, den Tagebüchern ihrer Tochter u. anderen unveröffentlichten zeitgenöss. Tagebüchern u. Dokumenten. Weitere Werke: Die Tragödie eines Kaisers. Maximilian v. Mexiko. Lpz. 1933. – Der Aufstieg des Hauses Rothschild. Wien 1944. – Der Zauber v. Homburg. Ffm. 1951. Literatur: Friedrich Wallisch: Die Wahrheit spricht das Urteil: E. C. C. C. Leben u. Werk. Graz/ Wien/Stiasny 1957. Eva Weisz / Red.

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Corvinus (Rabe), Antonius, * 27.2.oder 11.4.1501 Warburg/Bistum Paderborn, † 5.4.1553 Hannover; ehem. Grabstätte in der Marktkirche. – Reformatorischer Theologe, Kirchenordner u. Postillenschreiber.

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nach seiner Entlassung starb. Eine im Gefängnis geschriebene Dogmatik in Gebetsform stellt gleichsam sein Testament dar. C. hat als Kirchenpolitiker, Schriftsteller u. bekennender Christ nachhaltig für die Ausbreitung u. Festigung der Reformation gewirkt. Auf Melanchthons Nachgiebigkeit dem Interim gegenüber antwortete er mit Luthers Kreuzestheologie. Das landesherrl. Kirchenregiment hat er bejaht u. unterstützt.

C.’ familiäre Herkunft ist unsicher. Sicher sind sein Eintritt in das Zisterzienserkloster Loccum im Jahr 1519 u. der Besuch der Ordensschule in Riddagshausen. Ein früher Ausgaben: Zeitgenöss. Drucke. – Gerhard UhlUniversitätsaufenthalt ist ungewiss. 1523 horn (Hg.): Ein Sendbrief v. A. C. an den Adel v. musste C. den Riddagshäuser Konvent wegen Göttingen u. Kalenberg. Gött. 1853. – Paul reformatorischer Neigungen verlassen. Er Tschackert: Briefw. des A. C. Hann 1900. – Emil trieb theolog. Privatstudien in Braunschweig Seling (Hg.): Die evang. Kirchenordnungen des u. pflegte den Kontakt zum Erfurter Huma- XVI. Jh. Bd. 6,1–2, Tüb. 1955. 1957. Bd. 7,2,1, Tüb. nistenkreis. Mitte der 1520er Jahre ging er 1980. – Wilhelm Radtke (Hg.): Confutatio Augusnach Hessen, hielt sich zeitweilig in Marburg tani libri quem Interim vocant (1548). Gött. 1936. – auf u. heiratete eine Witzenhäuserin. 1528 Robert Stupperich (Hg.): A. C.: De miserabili Monasteriensium anabaptistarum obsidione (1536). empfahl Nikolaus von Amsdorf ihn als PreIn: Schr.en der münster. Täufer u. ihrer Gegner. diger zur Festigung der Reformation nach Bd. 3, Münster 1983, S. 206–220. – Postilla [...] in Goslar. Ende 1529 berief ihn Landgraf Phil- Epistolas et Evangelia [...]. Straßb. 1540. Internetipp auf die Pfarre in Witzenhausen, wo er bis Ed. in: Slg. Hardenberg. 1542 blieb. Hier verfasste u. veröffentlichte er Literatur: Bibliografie: Georg Geisenhof: Corvimit Luthers Empfehlung seine viel ge- niana II. In: Ztschr. der Gesellsch. für niedersächs. brauchten Postillen: Kurtze Auslegung der Kirchengesch. 5 (1900), S. 1–222. – Weitere Titel: Euangelien (1535); Kurtze Auslegung der Episteln Paul Tschackert: A. C. Hann. 1900. – Gerhard (1537. Bald ins Niederdeutsche, Lateinische Heintze: Die Bedeutung des A. C. für die Erneueu. in viele andere europ. Sprachen übersetzt rung der Predigt des Evangeliums. In: Jb. der Geu. oft nachgedruckt). Nebenbei erwarb er sellsch. für niedersächs. Kirchengesch. 54 (1956), S. 11–17. – TRE. – Inge Mager: A. Corvins Kam1536 den Magistertitel in Marburg u. nahm pagne gegen das Augsburger Interim im welf. an mehreren Ereignissen der hessischen u. Fürstentum Calenberg-Göttingen. In: Das Interim auswärtigen Reformationsgeschichte teil 1548/50. Hg. Luise Schorn-Schütte. Gütersloh (u. a. 1537 Bundestag in Schmalkalden, 1541 2005, S. 331–341. – Dies.: ›Man mus Got mehr Regensburger Religionsgespräch). 1535/36 gehorsamen denn den menschen‹. A. Corvins Kirdisputierte C. mit den gefangenen Münste- chenreformation in Calenberg-Göttingen zwischen raner Täuferführern. Als Reformator u. Kir- ird. u. himml. Obrigkeit. In: Jb. der Gesellsch. für chenordner betätigte oder beteiligte C. sich niedersächs. Kirchengesch. 104 (2006), S. 273–289. Inge Mager 1539 in Northeim, 1541/42 in der Grafschaft Lippe, 1542 in Calenberg-Göttingen, 1543 in Braunschweig-Wolfenbüttel, 1544 in HildesCorvinus, Gottlieb Siegmund, auch: heim. Im Dienst der Herzogin Elisabeth von Amaranthes, * 15.5.1677 Leipzig, † 27.1. Calenberg-Göttingen, die während ihrer 1746 Leipzig. – Gelegenheitsdichter, LyVormundschaftsregierung den kirchl. Umriker. schwung einleitete, diesen aber durch die Konversion ihres Sohnes Erich II. (Regie- Nach dem Studium der Rechte in Leipzig rungszeit 1546–1584) u. das Augsburger In- (Immatrikulation Sommermester 1694) war terim (1548) nicht vollenden konnte, endete C. dort als kaiserlicher Notar u. Advokat tätig. auch C.’ Leben tragisch. Die Opposition ge- Er zählte zu den fruchtbarsten Gelegengen das kaiserl. Interim führte 1549 zu seiner heitsdichtern seiner Zeit. Angeregt durch den Verhaftung, an deren Folgen er kurze Zeit Erfolg zeitgenössischer Gedichtsammlungen,

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wie etwa denen seines Freundes Johann Bur- Corvinus, Laurentius, eigentl.: Lorenz chard Mencke oder Christian Weises, publi- Rabe, * um 1465 Neumarkt/Niederschlezierte C. Proben eigener Casualcarmina: Pro- sien, † 21.07.1527 Breslau. – Frühhumaben der Poesie in galanten- verliebten- vermischten- nistischer Gelehrter u. Dichter. Schertz- und satyrischen Gedichten (2 Bde., Ffm./ Lpz. 1710/11) u. Reiffere Früchte der Poesie in C., Sohn eines Kürschners u. Ratsherren, unterschiedenen vermischten Gedichten (Lpz. studierte ab 1484 in Krakau. 1489 zum magister artium promoviert, lehrte er dort bis 1720). Wenngleich C.’ z.T. etwas derbe u. barock 1494 u. a. über Aristoteles, Boethius u. Vergil. anmutende Ausdrucksweise die Kritik Leip- Als Celtis 1489 für zwei Jahre nach Krakau ziger Dichterkollegen provozierte, galt er kam, wurde C. dessen Schüler. Hierauf standennoch als renommierter Schriftsteller. So den beide bis zu Celtis’ Tod in Briefkontakt. wurde ihm das Amt eines sächs. Hofpoeten Zu C.’ eigenen Schülern zählten Heinrich angetragen, das er jedoch ablehnte. Ein frü- Bebel u. möglicherweise auch Nikolaus Kohes Zeugnis für die aufklärerischen Bemü- pernikus, der sich 1491 in Krakau immatrihungen um die Erziehung u. Bildung des kulierte. 1494 wurde C. Lehrer u. Notar in weibl. Geschlechts stellt sein Nutzbares, ga- Schweidnitz, im folgenden Jahr dort auch lantes und curiöses Frauenzimmer-Lexicon (Lpz. Stadtschreiber. 1497 siedelte er nach Breslau 1715. Neudr. hg. u. mit einem Nachw. vers. v. um, wo er Rektor der Pfarrschule von St. Manfred Lemmer. Lpz. 1980. Auch Ffm. Elisabeth wurde. Dort führte er mit seinen Schülern 1500 den Eunuchus des Terenz u. 1980. Microfiche-Ed. Erlangen 1993) dar. 1502 die Aulularia des Plautus auf, womit er Weitere Werke: Das Carneval der Liebe, oder der in allerhand Masquen sich einhüllende Amor. die ersten röm. Komödien nördlich der Alpen Lpz. 1712. Neudr. Ffm. 1970. – Teutsche Reden v. auf die Bühne brachte. Von 1502 bis zu seinem Tod war C. Breslauer Stadtschreiber, unterschiedener Gattung. Lpz. 1734. Literatur: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 2, abgesehen von einer zweijährigen Tätigkeit S. 977–982 (Bibliogr.). – Weitere Titel: Lathrop Park im selben Amt zwischen 1506 u. 1508 in Johnson: The poetry of G. S. C. A study of gallant Thorn, wo er Kontakt zu Kopernikus hatte. poetry in the early eigtheenth century. Diss. John 1523 war C. wesentlich an der Einführung Hopkins Univ. 1973. – DBA 19,232 u. der Reformation in Breslau beteiligt, indem 203,154–158. – L. P. Johnson: G. S. C. In: German er die Berufung des Nürnberger Reformators Baroque Writers, 1661–1730. Dictionary of Literary Johann Heß zum Pfarrer von St. Maria MagBiography 168. Hg. James Hardin. Detroit 1996, dalena unterstützte. S. 91–97. – Helga Brandes: Das ›FrauenzimmerC. literar. Schaffen, das v. a. humanist. Lexicon‹ v. Amaranthes. In: Das achtzehnte Jh. 22 (1998), S. 22–30. – Katherine R. Goodman: Am- Lehrschriften, aber auch Gedichte umfasst, azons and apprentices. Women and the german beginnt in der Krakauer Zeit mit einem kosparnassus in the early enlightenment. New York/ mograf. Handbuch (Cosmographia. Basel um Suffolk 1999, S. 11–39 u. passim. – Helga Meise: 1496). Dieses folgt in Anlage u. Gehalt den Galanterie u. Gründlichkeit. Der galante Diskurs einschlägigen antiken Geografen, reflektiert im Spiegel der Lexika v. Somaize, Lehms u. Ama- aber auch die Kenntnis humanistischer Lanranthes. In: Der galante Diskurs. Kommunikatidesbeschreibungen wie der Europa Enea Silvio onsideal u. Epochenschwelle. Hg. Thomas BorgPiccolominis. Zu den Besonderheiten der stedt u. Andreas Solbach. Dresden 2001, S. 127–145. – Moira R. Rogers: Newtonianism for Schrift zählen drei Gedichte über Polen u. the ladies and other uneducated souls. The popu- Krakau, Schlesien sowie C.’ Heimat Neularization of science in Leipzig, 1687–1750. New markt, mit denen dieser die ersten poet. York u. a. 2003. Katharina Festner / Red. Landesbeschreibungen der Neuzeit nördlich der Alpen geschaffen hat. Auf den Krakauer Unterricht geht des Weiteren eine Dichtungslehre (Carminum structura) zurück, die C. allerdings erst als Lehrer in Schweidnitz fertigstellte u. 1496 in Krakau drucken ließ.

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Costenoble

Weitgehend auf früheren u. v. a. ital. Vers- Breslau gedruckten Ausgabe des Cursus s. lehren fußend bietet sie neben einigen Vor- Bonaventurae de passione domini kam C. aber schriften zur Stilistik u. einer kleinen Proso- einer anderen Forderung nach, die Mens im die v. a. eine kurze Formenlehre ausgewählter Dialogus an C. gerichtet hatte. In ihr ersetzte lat. Metren. Diese hat C. durch eigene Ge- er die Hymnen Bonaventuras zu den acht dichte illustriert, die den größten Teil des Horen durch eigene Gedichte, denen er noch Werks ausmachen. Abgesehen von einem ein neuntes canticum Pindaricum anfügte. Die Propempticon, einem satirischen u. zwei pane- Vorrede fällt v. a. durch die Auseinandersetgyr. Gedichten sind dies v. a. solche bukoli- zung mit Platon auf, bei dem C. wesentliche christl. Glaubenselemente vorgebildet sieht. schen u. erot. Inhalts. Weitere Lehrschriften entstanden in Bres- Hierbei folgt er entschieden wie niemand zu lau. Das für den Schulunterricht gedachte dieser Zeit nördlich der Alpen Ficinos KonLatinum ydeoma (1498/1500) umfasst sechs zept einer Versöhnung von Platonismus u. kleine Dialoge, die zum Gebrauch des Latei- Christentum. nischen in Alltagssituationen anleiten. Der Literatur: G. Bauch: L. C. der Breslauer Stadt1503 gedruckte Hortulus elegantiarum, dessen schreiber u. Humanist. In: Ztschr. für Gesch. Widmung an die Krakauer Studenten eine Schlesiens 17 (1883), S. 230–302. – H.-B. Harder: universitäre Wirkabsicht nahe legt, belehrt Die Landesbeschreibung in der Lit. des schles. über den korrekten Gebrauch verschiedener Frühhumanismus. In: Landesbeschreibungen Mitlat. Verben, der v. a. an den Briefen Ciceros teleuropas vom 15. bis 17. Jh. Hg. ders. Köln u. a. 1983, S. 29–45. – J. Glomski: Poetry to Teach the vorgeführt wird. Größtenteils in die Krakauer Writing of Poetry: L. C.’ Carminum structura u. die frühe Breslauer Zeit datieren auch ei- (1496). In: Poets and Teachers: Latin Didactic Poenige selbständig überlieferte Gedichte. Hier- try from the Renaissance to the Present. Hg. Y. zu gehören Gelegenheitsgedichte (z.B. ein Haskell u. P. Hardie. Bari 1999, S. 155–166. – Epicedium auf den Tod Königs Kasimir Jagiello Gernot Michael Müller: L. C. In: VL Dt. Hum. am 7. Apr. 1492 oder ein Epithalamium auf die Gernot Michael Müller Hochzeit Königs Sigismund mit Bona Sforza im Jahr 1518, bei der C. als Breslauer Ge- Corycius, Johannes ! Goritz, Johannes sandter selbst zugegen war) sowie poetolog. Gedichte, wie das nur handschriftlich überCostenoble, Carl Ludwig, * 28.12.1769 lieferte Carmen de novem Musis, in dem die Herford, † 28.8.1837 Prag. – Schauspieler Musen C.’ lyrisches Ich über ihr Wesen u. ihre u. Lustspielautor. Kompetenzen belehren, u. das darauf aufbauende Carmen de Apolline et novem Musis Der Predigersohn C. war Nachkomme einer (1503). Hugenottenfamilie. Er erlernte zunächst das In C.’ letzte Schaffensphase fallen zwei Bäckerhandwerk, führte seit 1792 das unstete Werke platon. Inhalts. Der sich an Boethius’ Leben eines Wanderschauspielers mit kurzConsolatio philosophiae orientierende prosime- fristigen Verpflichtungen u. brachte sich trische Dialogus de mentis saluberrima persuasi- zwischenzeitlich als Silhouettenschneider one (Lpz. 1516) inszeniert ein Gespräch zwi- durch. In der Zeit seines Hamburger Engaschen C. u. der Mens, die diesem eine auf den gements 1801–1818 profilierte C. sich als ein Lehren des Marsilio Ficino basierende plato- bedeutender Charakterschauspieler im »nienisch-christl. Lebensdoktrin entwirft. Dabei deren Fach«. Der Wechsel an das Wiener empfiehlt sie entschieden das Studium Pla- Burgtheater bedeutete dennoch keinen tons. Als Hilfestellung dazu kündigt sie ih- künstler. Bruch in C.s Entwicklung, da er rem Gesprächspartner an, die wichtigsten schon zuvor Stücke von Bäuerle u. DeinLehren Platons in einigen kurzen Abhand- hardstein für die Hamburger Bühne bearlungen zusammenzufassen. Hierin scheint beitet hatte. C.s z.T. ungedruckte dramat. sich der Plan einer umfassenden Platon-Fici- Arbeiten, zumeist einaktige Lustspiele, Adno-Vermittlung anzudeuten, den C. indes aptionen u. Übersetzungen (Goldoni, Marinicht umgesetzt hat. Mit seiner 1521 in vaux) kamen dem Tagesbedarf des Reper-

Cotta

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toiretheaters nach. Sie nehmen beliebte Motive der zeitgenöss. Bühnenliteratur auf (u. a. Zauberflöte. Hbg. 1810. Vatertreue. Hbg. 1811. Die Drillinge oder: Verwirrung über Verwirrung. Urauff. 1812) u. fügen sich damit dem am Burgtheater programmatisch gepflegten Konzept einer Literarisierung der possenhaften Improvisationskunst. Von theatergeschichtlichem Interesse sind C.s nur auszugsweise publizierte Tagebücher (u. a. in Aus dem Burgtheater 1818–1837. Hg. Karl Glossy u. Jacob Zeidler. 2 Bde., Wien 1889), die in der Wiener Stadtbibliothek verwahrt werden. Weitere Werke: Dramat. Spiele. Hbg. 1809, 1811, 1816. – Lustspiele. Wien 1830. – Tagebücher v. seiner Jugend bis zu seiner Übersiedlung nach Wien. Hg. Alexander v. Weilen. 2 Bde., Bln. 1912. Literatur: Eleonore Schneck: K. L. C.s Leben u. Wirken am Wiener Hofburgtheater (1818–37). Diss. Wien 1934. – Felix Czeike: Histor. Lexikon Wien. 5 Bde., Wien 1992–97. Cornelia Fischer / Red.

Cotta, Friedrich Christoph, * 7.(?)8.1758 Stuttgart, † 21.9.1838 Trippstadt/Pfalz. – Politischer Publizist.

des alten Vaters Gerhard. Mainz 1793. Freie Übertragung des frz. Volkskalenders von Collot d’Herbois). Als Mitstreiter von Eulogius Schneider war C. am Jakobinerregiment Straßburgs beteiligt, wurde 1794 wegen seines Einsatzes für die Rettung des Straßburger Münsters u. den Erhalt der deutschsprachigen kulturellen Tradition des Elsass in Paris inhaftiert. Nach seiner Befreiung (1794) veröffentlichte C. 1795/96 Protestschriften gegen die Ausbeutung besetzter dt. Gebiete durch die frz. Armeeverwaltung (»Rheinische Zeitung« mit Georg Wedekind u. Matthias Metternich). 1796 fungierte er als frz. Zivilkommissar in Schwaben u. förderte bis 1799 wechselnde Pläne zur Begründung einer Süddeutschen Republik. Die napoleon. Zensur beendete die Laufbahn C.s als polit. Publizist. Zuletzt lebte er im bayer. Rheinkreis, wo er als Mitgl. des Historischen Vereins der Pfalz u. als Retter der Traditiones Wizenburgenses (vier Codices, u. a. Urkunden des 9. Jh., zwei Handschriften Otfrids) hervortrat. Literatur: Guido Sautter: F. C. General-Postdirektor der Frz. Republik in Dtschld. 1796. In: Histor. Jb. 37 (1916), S. 98–121. – Monika Neugebauer: Der Bauernkalender des Jakobiners F. C. C. In: Jb. des Instituts für Dt. Gesch. 14 (1985), S. 75–111. – Dies.: Revolution u. Constitution. Die Brüder C. Bln. 1989.

C., Abkömmling einer bedeutenden Verlegerdynastie, strebte zunächst die Laufbahn des württembergischen Staatsbeamten an. Nach dem Jurastudium (Promotion Heidelberg 1786) wandte er sich Themen des dt. Monika Neugebauer-Wölk / Red. Staatsrechts u. des Naturrechts zu, arbeitete als Redakteur im väterl. Verlag u. als Dozent an der Stuttgarter Karlsschule (1788–1791). Cotta, Johann Friedrich Frhr. (seit 1822) Unter dem Einfluss der polit. Spätaufklärung von Cottendorf (seit 1817), Bruder von publizierte er anonyme staatskrit. FlugChristoph Friedrich C., * 27.4.1764 schriften u. die Monatsschrift »Teutsche Stuttgart, † 29.12.1832 Stuttgart. – VerStats-Literatur« (1790–1792). Unter dem leger, Politiker, Industrieller. Eindruck der Revolution emigrierte er 1791 nach Straßburg (Mitgl. des Jakobinerklubs, Nach dem Besuch des Gymnasium illustre in Herausgeber des »Straßburgischen Politi- Stuttgart u. einem Jura-Studium erwarb C. schen Journals«, 1792). zum 1.12.1787 die väterl. J.G. Cotta’sche Für die dt. Literaturgeschichte des Revo- Buchhandlung in Tübingen, die er in wenilutionsjahrzehnts wurde C. wichtig durch gen Jahren zum bedeutendsten dt. Universeine volkstümlichen polit. Flugschriften zur salverlag seiner Zeit machte. Dessen Profil Agitation der breiten Bevölkerung in der umfasste die epochalen Tendenzen der EntMainzer Republik, wohin er als Propagandist stehung der dt. »Nationalliteratur« u. der im Stab der frz. Rheinarmee gegangen war »öffentlichen Meinung« wie der wiss. u. in(Von der Staatsverfassung in Frankreich [...]. dustriellen Revolution. Besondere Akzente Mainz 1792. Handwerker- und Bauern-Kalender setzten die Periodika, durch die er mit nahe-

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Courths-Mahler

zu allen Schriftstellern u. Gelehrten bindungen zum bayer. u. württemberg. KöDeutschlands in Berührung kam, u. a. die von nig wie zu den Spitzen der preuß. Behörden, Ernst Ludwig Posselt gegründeten »Euro- um Verhandlungen über einen BayerischZollverein päischen Annalen« (1795), die »Allgemeine Württembergisch-Preußischen Zeitung« (1798), die 1803 wegen Zensur- einzuleiten, die 1829 zum Abschluss eines streitigkeiten ins bayer. Ulm u. 1810 nach Handelsvertrags führten. Augsburg verlegt wurde, das »Morgenblatt Ausgaben: Briefw. zwischen Schiller u. Cotta. für gebildete Stände« (1807), Dinglers »Po- Hg. Wilhelm Vollmer. Stgt. 1876. – Briefe an C. Hg. lytechnisches Journal« (1821), die Berliner Maria Fehling u. Herbert Schiller. 3 Bde., Stgt./Bln. »Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik« 1925–34. – Goethe u. Cotta. Briefw. 1797–1832. (1827) sowie das »Ausland« (1828). C. be- Textkrit. u. komm. Ausg. Hg. Dorothea Kuhn. 3 gründete den legendären »Klassikerverlag« Bde., Stgt. 1979–83. – Varnhagen v. Ense u. Cotta. Briefw. 1810–48. Textkrit. u. komm. Ausg. Hg. des 19. Jh. Vor allem die Verbindung zu Konrad Feilchenfeldt, Bernhard Fischer u. Dietmar Schiller seit den »Horen« (1795–1798) Pravida. 2 Bde., Stgt. 2006. brachte ihm die wichtigsten zeitgenöss. AuLiteratur: August Ludwig Reyscher: J. F. C. In: toren wie Goethe, Herder, Jean Paul, Höl- ADB. – Liselotte Lohrer: J. F. C. In: NDB. – Dies.: derlin, Kleist, A. W. Schlegel, Voss, A. von Cotta. Gesch. eines Verlags. 1659–1959. Stgt. 1959. Humboldt, Fichte, Schelling, J. von Müller in – Helmuth Mojem: Der Verleger J. F. C. Repertoden Verlag, der dann die Romantiker Uhland, rium seiner Briefe. Eine Veröffentlichung des CotKerner, Fouqué u. Tieck, aber auch Varnha- ta-Archivs (Stiftung der Stuttgarter Ztg.). Hg. B. gen von Ense, Immermann, Platen u. Lenau Fischer. Marbach 1997 [1998]. – Der Verleger J. F. verlegte. Nachdem C. sein Unternehmen C. Chronolog. Verlagsbibliogr. 1787–1832. Aus den 1810 nach Stuttgart verlegt hatte, errichtete Quellen bearb. v. B. Fischer. 3 Bde., Marbach/ er 1827 die Literarisch-artistische Anstalt in Mchn. u. a. 2003. Bernhard Fischer München; das im Verlag erwirtschaftete Vermögen nutzte C. zum Kauf mehrerer LandCourths-Mahler, Hedwig (Ernestine güter sowie von Beteiligungen an Fabriken u. Friederike Elisabeth), auch: Relham (H. an von ihm selbst initiierten DampfschiffRelham, C. Relham), H. Brand, Gonda fahrtsgesellschaften. Haack, Rose Bernd, * 18.2.1867 Nebra/ C. erwarb sich durch großzügige Honorare Unstrut, † 26.11.1950 Tegernsee; Grabu. eine ausgefeilte Vertragspraxis den Ruf stätte: ebd. – Verfasserin von Liebesroeines Vorkämpfers für die Autorenrechte; manen, Jugendliteratur, Erzählungen, zudem wirkte er für Reformen der BuchhanTheateradaptionen u. Gedichten. delsorganisation, weshalb er als Deputierter des Deutschen Buchhandels auf dem Wiener Als nichteheliche Tochter eines vor ihrer GeKongress Gesetze gegen den Nachdruck u. für burt verstorbenen Unteroffiziers u. der aus »Preßfreiheit« betrieb. C., der 1799 für die einer Seilerfamilie stammenden Henriette württemberg. Stände in diplomat. Mission Mahler wuchs C. in schwierigen sozialen nach Paris reiste, war als gewähltes Mitgl. der Verhältnissen auf. Von ihrem Stiefvater Jowürttemberg. Ständeversammlung einer der hann Friedrich Brand wurde sie nicht als führenden Köpfe im Verfassungskampf Tochter akzeptiert, doch das Schusterehepaar (1815–1819), in dem er früh zwischen dem Birkner in Weißenfels nahm sie als PflegeKönig u. den »Altrechtlern« vermitteln kind zu sich. 1879 zog sie zu ihrer Mutter wollte. C., dessen Familienadel 1817 unter nach Leipzig u. ging früh von der Schule ab, Anerkenntnis seiner Verdienste restituiert um als Dienstmädchen, Gesellschafterin u. wurde, gehörte in der Folge den Landtagen Verkäuferin zu arbeiten. Sie las die »Gartenals gewählter Abgeordneter der Ritterschaft laube« u. entwickelte ein dauerhaftes Interan; 1826–1830 fungierte er als Vizepräsident esse für das Theater. Bereits in den 1880er der Zweiten Kammer. C. erhielt 1817 den Jahren schrieb sie Erzählungen. 1889 heirapreuß. Geheimratstitel, 1822 die bayer. Frei- tete sie den Dekorationsmaler Fritz Courths herrnwürde. 1828 nutzte er seine engen Ver- u. zog mit ihm nach Halle. Sie hatte zwei

Courths-Mahler

Töchter: Margarethe Anna Elisabeth (geb. 1889) u. Hedwig Gertrud Frieda (geb. 1891), die als Margarete Elzer u. Friede Birkner ebenfalls erfolgreiche Schriftstellerinnen wurden. 1893 siedelte die Familie nach Leipzig über u. 1897 nach Chemnitz. 1904 erschien im »Chemnitzer Tageblatt« C.s erster Roman Licht und Schatten in Fortsetzungen (Ausg. Rheydt [1953]), 1905 ihr erstes Buch Scheinehe (Bln. u. ö. Bergisch Gladbach 1997) In den folgenden Jahren veröffentlichte sie zahlreiche Romane sowohl in Zeitschriften, die durch Kolportage vertrieben wurden, als auch in Büchern. Hinzu kamen kürzere Erzählungen, u. a. für die Wochenzeitung »Welt am Montag«. Von 1905 bis 1935 lebte sie im Berliner Raum u. erreichte mit ihren schriftsteller. Arbeiten einen hohen Bekanntheitsgrad u. große Verkaufserfolge. Die Popularität ihrer Liebesromane rief nicht zuletzt auch abfällige Bemerkungen hervor: Die Werke wurden parodiert u. verlacht in Kabaretts, Zeitschriften u. Büchern, wie Hans Reimanns H. C. Schlichte Geschichten fürs traute Heim (Hann. 1922), u. so zum Inbegriff des »Kitsches«. Trotz dieser Herabsetzungen hatte C. zahlreiche persönl. Kontakte in Künstlerkreisen u. konnte u. a. in der angesehenen Zeitschrift »Die literarische Welt« 1925 einen Artikel »Zum 100. Geburtstag der Marlitt« veröffentlichen, in dem sie, auf den Spott über diese Schriftstellerin eingehend, indirekt auch die eigene Position reflektierte. 1935 zog sie an den Tegernsee. Ihre Arbeit als Autorin wurde in den folgenden Jahren von der NS-Zensur erschwert. 1948 erschien ihr letzter Roman Flucht in den Frieden (Nürnb.) mit einem zeitbezogenen Vorwort. Die Liebesromane, mit denen C. v. a. bekannt geworden ist, bezeichnet sie in einer Antwort an Reimann als »harmlose[...] Märchen, mit denen ich meinem Publikum einige sorglose Stunden zu schaffen suche«. Damit formuliert sie ein Programm, Unterhaltung in der Freizeit zu bieten. Die Romane greifen zahlreiche Märchenmotive auf, nicht nur mit Titeln wie Aschenbrödel und Dollarprinz (Lpz. 1928. New York ca. 1940), sondern auch in den Texten selbst. In dem Roman Die Bettelprinzeß (Bln. 1914 in der Reihe »Mädchenbücher« u. ö. Zuletzt Bergisch Gladbach 1996)

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z.B. wächst die Titelheldin, ein Waisenkind, gemeinsam mit einer Adligen auf, von der es wegen seiner vermeintlich niederen Herkunft missachtet wird. Das zurückgesetzte, aber fleißige u. schöne Mädchen u. das hochnäsige, faule u. weniger hübsche werden mit Goldmarie u. Pechmarie aus dem Märchen »Frau Holle« verglichen; damit deutet sich bereits an, dass die Geschichte für Ersteres einen guten Ausgang nimmt. Später kann die »Bettelprinzeß« ihren Wohnsitz mit einem »Königsschloß im Märchen« vergleichen, sie erweist sich als vermögend, adlig u. heiratet einen Junker. Solche Bezüge der Texte auf bekannte Märchen u. ihre Erzählverfahren versprechen dem Publikum eine sichere Orientierung in den Fiktionen u. bereiten ihm das Vergnügen, vertraute Motive wiederzuerkennen. Zgl. ermöglichen die Verweise auf Märchen eine Abweichung vom Alltag; das Erzählte ist in seiner Eigengesetzlichkeit gerahmt, die nicht an gewöhnl. Auffassungen der Wirklichkeit gebunden ist. Auch die Bildhaftigkeit u. Stilisierung der Sprache sowie die Anspielungen vieler Romane auf Literatur u. Theater tragen zu dieser Abgrenzung bei. Angesichts der Herausstellung des Poetischen erweist sich die Kitsch-Kritik als fragwürdig, die Romane böten dem Publikum Illusionen über seinen Alltag. Die durch die Texte aufgebauten Erwartungen glücklicher Ausgänge sind keine (richtigen oder falschen) Annahmen über die außerliterar. Welt, sondern erzeugen in erster Linie Spannung innerhalb der Freizeitlektüre. Neben den Liebes-Handlungen halten in einigen Romanen, wie Durch Liebe erlöst! (Werdau 1915 u. ö. Zuletzt Bergisch Gladbach 2005. U.d.T. Die Gouvernante 1909 in der Zeitschrift »Freya«), auch Kriminal-Episoden diese Spannung bis zum Schluss aufrecht. Die in der Kitsch-Diskussion übl. Unterscheidung von »echten« u. »unechten« Gefühlen findet sich bei C. selbst. Der Roman Das Drama von Glossow (Lpz. 1919 u. ö. Bergisch Gladbach 31990) etwa handelt von einer Intrigantin, deren »süßliches Lächeln« u. »weinerliche«, »rührselige[...]« Worte nicht über ihr »falsches, berechnendes Wesen« hinwegtäuschen können. Durchschaut wird sie u. a. von »einfache[n]« Menschen, denen

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Cramer

ein »sichere[r] Instinkt« für die Bösartigkeit ches narratologiques de l’œuvre romanesque de H. oder Güte anderer zugeschrieben wird. Ähn- C. (1867–1950). Bern 2005. Thomas Küpper lich werden Sein u. Schein bei der Darstellung des wahren, aber verborgenen Adels oder Craigher de Jachelutta, Jacob Nikolaus, Edelmuts in den Romanen voneinander ge- auch: Nicolaus, * 17.12.1797 Lipossullo/ trennt. Friaul, † 17.5.1855 Cormons bei Görz/ C. zählt zu den auflagenstärksten Istrien. – Lyriker u. Übersetzer. deutschsprachigen Autorinnen. Bereits die Parodie Kurts Maler von Prinzessin Lonkadia Neben seiner erfolgreichen Tätigkeit als Wengerstein (d.i. Alfred Hein. Freib. i. Br. selbständiger Kaufmann dilettierte C. als 1922) spielt auf diesen Erfolg an, indem in Gelegenheitslyriker. Während seines Aufentder Titelei eine Auflage des Buches von halts in Wien um u. nach 1820 geriet er in den 999.000 angegeben wird. Das anhaltende In- restaurativ-kath. Kreis um Klemens Maria teresse an C. zeigt sich nicht nur in fortge- Hofbauer u. Friedrich Schlegel sowie in den setzten Heftserien u. neuen Taschenbuch- Künstlerzirkel um Franz Schubert. Er machte ausgaben, sondern auch in Verfilmungen wie sich einen Namen als Übersetzer v. a. engl. der zweiteiligen Fernsehproduktion Durch empfindsamer Lyrik u. veröffentlichte eigene Gedichte in Taschenbüchern u. Wiener ZeitLiebe erlöst (D 2005). Nicht zuletzt im Zuge der schriften. Später ging er als Konsul der belg. heutigen Umwertung des Kitsch-Begriffs Krone nach Triest, wurde dort Stadtrat u. wird C. aufgegriffen, etwa wenn Hella von unternahm 1843 im Auftrag seiner RegieSinnen Die Bettelprinzess im Hörbuch (Berrung eine Reise durch den Orient, deren Begisch Gladbach 2003) spielerisch-ironisch schreibung Erinnerungen aus dem Orient (Triest liest. 1847) auch die letzte schriftsteller. Arbeit C.s Weitere Werke: Über 200 Romane, u. a.: Der ist. Sohn des Tagelöhners. Erzählung aus dem Leben v. In seinem lyr. Werk blieb C. eng der TraRelham. Dresden 1910. – Ich lasse dich nicht! Lpz. dition des Göttinger Hains verbunden; ent12 1912 u. ö. Bergisch Gladbach 1996. – Unser Weg sprechend seinen religiös-myst. Neigungen ging hinauf. Lpz. 1914. – Die Testamentsklausel. Reutlingen 1915. Bergisch Gladbach 1997. – Gri- gestaltete er bevorzugt empfindsam-schauriseldis. Lpz. 1917 u. ö. Augsb. 2003. – Willst du dein ge Stimmungen. Die Protektion des konvertierten Friedrich Schlegel, der die Vorrede zu Herz mir schenken? Lpz. 1925. Literatur: Walter Krieg: ›Unser Weg ging hin- C.s Poetischen Betrachtungen in freyen Stunden auf‹. H. C. u. ihre Töchter als literar. Phänomen. (Wien 1828) schrieb, erklärt sich aus diesem Wien 1954. – Gustav Sichelschmidt: H. C. – Umstand ebenso wie Franz Schuberts AffiniDtschlds. erfolgreichste Autorin. Eine literatur-so- tät zu seinen Gedichten, von denen er Die ziolog. Studie. Bonn 1967. 21985. – Ingrid Müller: junge Nonne, Totengräbers Heimweh sowie Der Untersuchungen zum Bild der Frau in den Roma- blinde Knabe vertonte. nen v. H. C. Bielef. 1978. – Roland Opitz: H. C. in literaturwiss. Sicht. In: WB 39 (1993), 4, S. 534–551. – Alphons Silbermann: Von der Kunst, unterhaltsam zu schreiben. Die Liebe bei H. C. In: IASL 18 (1993), 1, S. 69–85. – Andreas Graf: H. C. Mchn. 2000. – Gunnar Müller-Waldeck: Die ›große Realistin‹. H. C. oder Die Wahrheit der Märchen. In: NDL 49 (2001), 1, S. 140–155. – Sigrid Töpelmann: Flucht in den Frieden. Wie ›wahr‹ sind die ›harmlosen Märchen‹ der H. C.? Eine Entgegnung auf G. Müller-Waldeck. In: NDL 49 (2001) 4, S. 142–152. – Eva Ochs: Männergesch. Kurseinheit 3: ›Herrenmenschen‹ u. ›Vollnaturen‹. Das Männerideal in den Romanen v. H. C. Hagen 2004. – Régine Atzenhoffer: Ecrire l’amour kitsch. Appro-

Literatur: Wurzbach 3, S. 24 f. – Franz Xaver Zimmermann: Dt. Romantik in Görz (1820–35). In: Carinthia 145 (1955), S. 792 f. – Zeman, Bd. 3, S. 534 f. Cornelia Fischer / Red.

Cramer, Carl Friedrich, * 7.3.1752 Quedlinburg, † 8.12.1807 Paris. – Lyriker, Biograf, Musik- u. Reiseschriftsteller, Homiletiker u. Übersetzer aus dem Französischen, Dänischen u. Englischen. Der älteste Sohn von Johann Andreas Cramer studierte 1772–1774 in Göttingen, anschließend in Leipzig Theologie; im Febr. 1773

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wurde er auf eigenes Betreiben Mitgl. des Göttinger Hainbundes. Er war begeisterter Anhänger Klopstocks u. mit Bürger befreundet (Briefwechsel). Bereits 1775 wurde er a. o., 1780 o. Professor der griech. u. oriental. Sprachen u. der Homiletik in Kiel. Seine in Kopenhagen verbrachte Kindheit prädestinierte ihn für eine enge literar. u. mus. Verbindung mit dem Kopenhagener Kreis (Friederike Brun, Jens Baggesen, Heinrich Wilhelm von Gerstenberg, August von Hennings, Klopstock, Friedrich Ludwig Aemilius Kunzen, Johann Gottlieb Naumann, Johann Abraham Peter Schulz) u. die Wertschätzung der relativen geistigen Freiheit im dän. Gesamtstaat, wozu auch Kiel gehörte. Neben Klopstock, seinem literar. Ideal, war Christoph Willibald Gluck seine musikal. Leitfigur. C. begeisterte sich jedoch schon früh für die Ideale der Französischen Revolution u. die Schriften ihrer aufgeklärten Vordenker, die er, sehr zum Missfallen konservativer Kreise, in der Kieler Universitätsbibliothek (vgl. sein Gutachten 1791) vermisste. Aufgrund der 1793 in Hamburg erfolgten Ankündigung seiner Übersetzung der Werke Pétions, den er als großen »Menschenfreund« u. »Märtyrer seiner Rechtschaffenheit« bezeichnete, obwohl dieser im Konvent für die Enthauptung Ludwig XVI. gestimmt hatte, wurde er am 6.5.1794 durch kgl. Resolution wegen monarchiefeindlicher Einstellung seines Amtes enthoben u. aus Kiel verwiesen (Ueber mein Schicksal. Kiel 1794). Nachdem er kurze Zeit im Kreis der Hamburger Frankreich-Freunde (u. a. Georg Heinrich Sieveking) verbrachte, emigrierte er mit deren finanzieller Unterstützung samt seiner Familie nach Paris, wo er bis zu seinem Tode als Korrespondent, Schriftsteller, Buchhändler u. Verleger tätig war. C.s Name ist literaturgeschichtlich u. a. mit Klopstocks Ode An Cramer, den Franken (1790) zur Hamburger Feier des Bastille-Sturms u. Goethes überzogenen Xenien (1796) gegen »Cramer, den Krämer« verbunden. Dabei ist C. ein Autor von erstaunlicher Vielseitigkeit; seine literar. Produktion vor dem Pariser Exil umfasste u. a. Predigten (1775), lyrische u. prosaische Beiträge (bes. für den Göttinger »Musenalmanach« u. den »Wandsbecker Bo-

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then«) u. v. a. die zwei monumentalen Dokumente seiner Klopstock-Verehrung: Klopstock. In Fragmenten aus Briefen von Tellow an Elisa (2 Tle., Hbg. 1777/78) u. Klopstock. Er, und über ihn (5 Tle. mit Nachlese, 1780–93). C.s musikgeschichtl. Bedeutung ist seiner literarischen durchaus ebenbürtig, v. a. durch die Herausgabe der Zeitschriften »Magazin der Musik« (2 Jgg., 1783–86. Nachdr. Hildesh. 1971–74) u. »Musik« (1788/89) u. die bes. der zeitgenöss. Oper u. dem Oratorium gewidmeten 8 mutigen Editionen der Polyhymnia (1783–92), mit denen er die musikal. Frühklassik Norddeutschlands nachhaltig beeinflusste (auch hier ein Brückenschlag nach Kopenhagen). Mit seinem Interesse für opernästhet. Probleme wirkte er, dank seiner Libretto-Übersetzungen u. Editionen, zus. mit Naumann, Schulz u. dem dän. Dichter Baggesen auf die Herausbildung einer dän. Nationaloper. Bahnbrechend waren außerdem seine Bemühungen im »Magazin der Musik«, die musikal. Analyse als eine neue sprachl. u. ästhet. Kategorie zu entwickeln. Während seines 13-jährigen Pariser Exils (das jedoch durch häufige Reisen nach Deutschland unterbrochen wurde) erwies sich der liberale Republikaner C. als wacher Beobachter der politischen, gesellschaftl. u. kulturellen Verhältnisse in Frankreich. Seine Korrespondenten-Berichte für Johann Friedrich Reichardts u. Peter Poels Zeitschrift »Frankreich« (1795–1805, tatsächlich jedoch nur bis ca. 1800), die er in zwei eigenen Publikationen zusammenfasste (Vertraulichkeiten aus dem Lande der Gleichheit. Paris 1797. Tagebuch aus Paris. 2 Bde., Paris 1799/1800), harren noch der literatur- u. musikgeschichtl. Auswertung. Vor allem als Übersetzer aus dem Französischen leistete C. einen kaum zu überschätzenden Beitrag als kultureller Vermittler, indem er bedeutende Werke von Racine, Rousseau, Diderot, Emmanuel Joseph Sieyès, Chateaubriand, Louis-Sébastien Mercier u. a. in Deutschland bekannt machte; Revolutionsbegeisterung u. pädagogischer Impetus (vgl. die Neuübersetzungen von Rousseau für Campes Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens. 4 Bde., 1789–91) halten sich dabei die Waage. In der Gegenrichtung machte er das frz. Publikum

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durch Übersetzungen ins Französische mit Cramer, Carl (auch: Karl) Gottlob, * 3.3. Werken wie Klopstocks Hermanns Schlacht, 1758 Pödelitz/Naumburg, † 7.6.1817 Schillers Jungfrau von Orleans u. a. vertraut. Dreißigacker/Meiningen. – Forstbeamter, »Ein Mann von Feuer und Talenten« (vgl. Verfasser von Ritter- u. Schauerromanen. der Titel des gleichnamigen Sammelbandes 2005) wie C., zu Lebzeiten oft belächelt u. C. entstammte einer Pastorenfamilie im kritisiert, findet erst in neuester Zeit, auch im Thüringischen. Nach dem Besuch des GymGefolge der Revolutionsforschung, eine ad- nasiums Schulpforta/Naumburg begann er 1777 in Wittenberg (ab 1778 in Leipzig) ein äquate Würdigung. Theologiestudium, das er ohne Examen beWeitere Werke: Vier Predigten. Lpz. 1775. – endete. Anstatt der anvisierten PredigerlaufUeber den Prolog. Lpz. 1776. – Scyth. Denkmähler in Palästina. Kiel, Hbg. 1777. – Kurze Uebersicht bahn machte C. die Literatur zu seiner Proder Gesch. der frz. Musik. Bln. 1786. – Baggesen. fession. Nach seinem Debütwerk Geschichte Kiel 1789. – Ueber die Kieler Universitätsbibl. Kiel Karl Saalfelds (Lpz. 1782) veröffentlichte C. in 1791. Altona/Lpz. 1794. – Annalen der frz. Lit. u. atemberaubendem Tempo Roman auf RoKunst. Paris 1797. – Herausgeber bzw. Mitherausgeber: man. Er versuchte sich in allen Sparten des Flora. Stücke für Gesang u. Klavier. Kiel/Hbg. 1787. Trivialromans, der im ausgehenden 18. Jh. – Menschl. Leben. 1–20. Altona/Lpz. 1791–98. – seine erste Blütezeit erlebte. Begierig griff das Bibliothèque Germanique. Paris 1799–1801. – Inrasch anwachsende Lesepublikum nach der dividualitäten aus u. über Paris. 4 Bde., Paris 1806/ Modelektüre aus der C.’schen »Romanfa07. – Ansichten der Hauptstadt des frz. Kayserreichs vom Jahre 1806 an. 2 Bde., Amsterd. 1807/ brik«. Seine größten Erfolge erzielte C. im Genre 08. des »sozialkritischen« Zeitromans u. des Literatur: Bibliografie: Frank-Peter Hohmann in: Schütt 2005 (s. u.), S. 315–334. – Weitere Titel: Ritterromans. In Werken wie Leben und MeiLudwig Krähe: C. F. C. bis zu seiner Amtsenthe- nungen [...] Erasmus Schleichers (4 Bde., Lpz. bung. Bln. 1907. – Bernhard Engelke: C. F. C. u. die 1789–91) oder Der deutsche Alcibiades (3 Bde., Musik seiner Zeit. In: Nordelbingen 8 (1930/31), Weißenfels/Lpz. 1791) konfrontierte C. die S. 334–367, 13 (1937), S. 434–459. – Jürgen Main- dekadenten Auswüchse höf. Lebens mit dem ka: J. A. P. Schulz u. die mus. Entwicklung im Gegenbild bürgerl. Tugend bzw. dem Ideal Zeitalter v. Sturm u. Drang. Habil.-Schr. HU Berlin vom aufgeklärt-humanen Herrscher. C.s 1969 (masch.). – Alain Ruiz: Le destin franco-alleNeigung, seine Werke reichlich mit pikantmand de Karl F. C. 2 Bde., Thèse Université de Paris 1979. – Heinrich W. Schwab: Friedrich Ludwig erotischen u. deftig-humorist. Ingredienzien Aemilius Kunzen (1761–1817). Heide 1995 (Kat.). – zu »würzen«, dürfte maßgeblich zum großen Lisa-Aldis Fishman: Critical Text as Cultural Ne- Erfolg dieser Romane beigetragen haben. xus. The Journalistic Writings of J. N. Forkel, C. F. Dies gilt auch für diejenigen Romane C.s, die C., and J. F. Reichardt. Diss. State University NY. im mittelalterl. Rittermilieu angesiedelt sind, Ann Arbor 1997. – Jürgen Mainka: C. F. C. In: MGG wie Adolph der Kühne (3 Bde., Weißenfels/Prag 2. Abt., Personentl. Bd. 5 (2002), Sp. 33–36. – Petra 1792. Nachdr. Hildesh./New York 1979) oder Blödorn-Meyer, Michael Mahn u. Rüdiger Schütt Hasper a Spada (2 Bde., Lpz. 1792/93): publi(Hg.): C. F. C. Revolutionär, Professor u. Buchkumswirksame Konglomerate aus effektvolhändler. Nordhausen 2002 (auch in: Auskunft – Mitteilungsbl. Hamburger Bibl.en, H. 4, 2002). – R. ler Schauerromantik u. derb-sinnl. GenreSchütt (Hg.): ›Ein Mann von Feuer und Talenten‹. szenen, die Goethes Götz von Berlichingen im Genre des Trivialromans kolportierten. Leben u. Werk v. C. F. C. Gött. 2005. 1795 fand C. in Herzog Georg von SachsenReiner Marx / Gudrun Busch Meiningen einen Gönner, der ihn zum Forstrat in Meiningen machte. 1809 wechselte C. in das Amt eines Lehrers an der Forstakademie in Dreißigacker. Zu Lebzeiten konnte C. den Anfeindungen der zeitgenöss. Literaturkritik im selbstgefälligen Brustton des Erfolgreichen entgegentreten. Dies ver-

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hinderte jedoch nicht, dass er als schillerndfragwürdige Gestalt in die dt. Literaturgeschichte einging (siehe Ludwig Tieck: Schriften. Bd. 6, Bln. 1828, S. XLV f.). Weitere Werke: Meppen Bocksbart oder wundersame Abentheuer eines peregrinirenden Kandidaten. 2 Bde., Lpz. 1783–85 (R.). – Leben u. Meinungen [...] Paul Ysops. 2 Bde., Lpz. 1792/93 (R.). – Leben, Thaten u. Sittensprüche des lahmen Wachtel-Peters. 2 Bde., Lpz. 1794–96 (R.). – Der kluge Mann. 3 Bde., Lpz. 1795–97 (R.). – Rasereien der Liebe. 2 Bde., Arnstadt/Rudolstadt 1801 (R.). – Leiden u. Freuden des edlen Baron Just Friedrich auf der Semmelburg. 2 Bde., Lpz. 1817 (R.). Literatur: Johann Wilhelm Appell: Die Ritter-, Räuber- u. Schauerromantik [...]. Lpz. 1859, S. 13–34. – Cari Müller-Fraureuth: Die Ritter- u. Räuberromane. Halle 1894, S. 38–54. – Adelheid Chlond: C. G. C.s Romane [...]. Diss. Halle 1957. – Hans-Friedrich Foltin: K. G. C.s ›Erasmus Schleicher‹ [...]. In: Studien zur Triviallit. Hg. Heinz Otto Burger. Ffm. 1968, S. 57–81. – Ders.: Nachw. zum Reprint v. K. G. C.: Adolph der Kühne. Hildesh./ New York 1979, S. 273–295. – Michael Olderdißen: C. G. C: Verz. der selbständig erschienenen Werke. Bielef. 1994. Walter Weber / Red.

Cramer, Daniel, auch: D. Candidus, * 20.1. 1568 Reetz/Neumark, † 5.10.1637 Stettin. – Lutherischer Theologe; Exeget, Chronist, Emblembuchautor. Der Sohn eines luth. Predigers besuchte die Schulen in Reetz, Landsberg/Warthe, Stettin u. Danzig sowie die Universität Rostock. Im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Professor für Logik an der Universität Wittenberg legte er propädeut. Schriften zu den Werken des Aristoteles vor (u. a. Synopsis trium librorum rhetoricorum. o. O. 1597). 1595 wurde er an das Gymnasium in Stettin berufen; von 1597 an war er dort Hofprediger an der Marienkirche, 1613–1617 pommerscher Generalsuperintendent. 1598 verlieh ihm die Universität Wittenberg die theolog. Doktorwürde. Rufe auf eine Professur nach Rostock u. in das Bischofsamt in Preußen lehnte er ab. Als erster Kirchenhistoriker Pommerns verfasste C. streitbar lutherisch die Pommersche Kirchenchronik (Das Grosse Pomrische Kirchen Chronicon. Ffm. 1602. Stettin 1602. 1618. 1628 u. ö.), die sich durch die Beach-

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tung vielfältiger, z.T. nur durch sie bekannter Archivalien u. Berichte auszeichnet. Die zahlreichen Auflagen wurden jeweils aktualisiert. Im Mittelpunkt öffentlicher konfessioneller Auseinandersetzungen stand C. durch seine Kritik an dem Verhalten des brandenburg. Generalsuperintendenten Christoph Pelargus, als 1613 in Brandenburg die calvinist. Lehre eingeführt wurde (u. a. Bedenken auf C. Pelargi deutsche Confession. Wittenb. 1615). C.s zahlreichen bibelexeget. Arbeiten (u. a. Biblische Außlegung. Straßb. 1627) stehen seine Emblembücher nahe; die Emblemata sacra (zuerst Ffm. 1622) u. die viersprachig publizierten Octoginta emblemata moralia nova (Ffm. 1630. Neudr. Hildesh. 1994) erreichten weite Wirkung, u. a. auch in Form von Nachahmungen (Hieronymus Ammon: Imitatio Crameriana sive Exercitium pietatis domesticum. Nürnb. 1649. Neudr. Turnhout 1999. Johann Mannich: Sacra emblemata. Nürnb. 1625; weitere Nürnberger Emblematik um Harsdörffer u. Dilherr) sowie in der Umsetzung in Malereien in pommerschen, schles., schwed. u. dän. Kirchen. Mit dem Titel der ersten Fassung seiner Emblemata sacra von 1617, Societas Jesu et roseae crucis vera (Ffm.), knüpfte C. an seine antijesuit. Streitschriften an (u. a. Inserenda apologetica ad inserenda Jac. Gretseri. Wittenb. 1612). Ein Jahr vor seinem Tod erblindete er während einer Predigt. Weitere Werke: Areteugenia. De Aretino et Eugenia [...] Fabula ficta et comice descripta. Lpz. 1602. Literatur: Hellmuth Heyden: Pommersche Geistl. vom MA bis zum 19. Jh. Graz 1965, S. 173–179. – Ruth Kastner: Geistl. Rauffhandel. Ffm./Bern 1982, S. 96–100, 312–319. – Sabine Mödersheim: ›Domini Doctrina Coronat‹. Die geistl. Emblematik D. C.s (1568–1637). Ffm. u. a. 1994. – Dies.: Die Emblematik am Hof der pommerschen Herzöge: Martin Marstaller u. D. C. In: Pommern in der Frühen Neuzeit. Hg. Wilhelm Kühlmann u. Horst Langer. Tüb. 1994, S. 267–279. – Dies.: ›Imitatio Crameriana‹. Polyvalenz in der Übernahme v. Motiven aus D. C.s ›Emblemata sacra‹. In: Polyvalenz u. Multifunktionalität der Emblematik. Hg. Wolfgang Harms u. Dietmar Peil. Tl. 2, Ffm. u. a. 2002, S. 597–613. Wolfgang Harms

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Cramer, Heinz (Tilden) von, * 12.7.1924 Stettin. – Regisseur, Komponist, Erzähler, Verfasser von Gedichten, Drehbuch- u. Hörspielautor.

Cramer – Die Ohrfeige. BR 1959. – Der große Gesang (v. Pablo Neruda). WDR 1974. – Alice im Wunderland 1 u. 2. WDR 1975. – Oktober-Poem. WDR 1979. – Popol Vuh – Schöpfungsmythos der Maja. WDR 1983/84. 3 CDs, Freib. i. Br. u. a. 1995. – Nordwestpassage (v. Guntram Vesper). WDR 1987. – Das Sterneberg-Concert. SDR 1988. – Luftangriff. SFB 1988. – Das Märchen nach J. W. v. Goethe. SWF 1988. – Nachtmahr-Abtei (v. Thomas Love Peacock) NDR 1991. – Die Verwandlung (v. Franz Kafka) NDR 2002. Rosemarie Inge Prüfer / Red.

Der Sohn eines balt. Gutsbesitzers begann noch während des Zweiten Weltkriegs mit einem Kompositionsstudium bei Boris Blacher in Berlin, das er infolge seines Militärdienstes erst 1947 beendete. 1947–1952 arbeitete C. als Regisseur u. Dramaturg beim RIAS Berlin. Ab 1952 lebte er als freischaffender Autor in Rom, auf der Insel Procida/ Cramer, Johann Andreas, * 29.1.1723 Italien u. in München. Bekannt wurde C. Jöhstadt/Sachsen, † 12.6.1788 Kiel. – durch seinen Roman Die Kunstfigur (Köln/Bln. Theologe, Übersetzer, Lyriker. 1959. Hbg. 1961), der eine unerbittl. Kritik Der Sohn von Caspar Anton Cramer (seit 1721 an Anpassung u. Opportunismus der dt. In- Pfarrer in Jöhstadt) besuchte nach dem Untellektuellen darstellt. terricht durch den Vater die Fürstenschule in C. gilt als führender Autor u. Regisseur Grimma 1736–1742 u. begann im Anschluss neuer, experimenteller Hörspiele. Er ist für ein Theologiestudium in Leipzig. Nach dem nahezu alle bundesdeutschen, öffentlich- Tod des Vaters musste er seinen Lebensunrechtl. Rundfunkanstalten tätig u. hat zahl- terhalt durch Privatunterricht u. die Mitarreiche, vorwiegend eigene Hörspiele reali- beit (Übersetzen, Exzerpieren, Korrigieren) siert. Die Basis seiner Stücke ist Musik. Mu- an der von Gottsched besorgten dt. Ausgabe sikalische Stimmführung u. Geräusche bil- des Bayle’schen Wörterbuchs sowie die Täden eine dialekt. Ergänzung des gesproche- tigkeit als Korrektor u. Exzerptor für nen Textes, wobei strenge musikal. Struktu- Gottscheds Verleger Breitkopf verdienen. In ren oft symphon. Charakter haben. Bei der dieser Zeit lernte er Johann Arnold Ebert, Tonmontage verwendete C. anstelle der Johann Elias Schlegel, Gellert u. Klopstock Blende den von ihm wiederentdeckten kennen u. schrieb seine ersten Beiträge für Schnitt als kompositor. Möglichkeit. Er ar- Gottscheds Zeitschrift. Mit Gottlieb Wilhelm beitete nach vergessenen klass. Texten, die er Rabener u. Karl Christian Gärtner, die er von häufig selbst aus dem Italienischen, Franzö- der Schule her kannte, Gellert, J. E. Schlegel sischen u. Englischen übersetzte, u. übertrug u. Johann Joachim Spalding lieferte er BeiVariationen des frühen Barock u. Mutationen träge für die seit 1741 erscheinende Zeitheutiger Komponisten in das neue Medium. schrift »Belustigungen des Verstandes und C. erhielt verschiedene literar. Auszeich- des Witzes« von Johann Joachim Schwabe. nungen, u. a. 1968 den DGB-Fernsehpreis in Bald trennte sich C. von diesem GottscheGold für den Film Dieser Mann und Deutschland dianer u. gab zus. mit Wilhelm Christlob (WDR 1967), 1984 den Hörspielpreis der Mylius die Zeitschrift »Bemühungen zur BeKriegsblinden für die Inszenierung des Hör- förderung der Critik und des guten Gespiels Nachtschatten von Friederike Roth (SDR schmacks« (Halle 1743) sowie mit den Brü1984) u. den Robert-Geisendörfer-Preis 1988 dern Schlegel, mit Ebert, Just Friedrich Wilfür sein Hörspiel Aus den letzten Tagen künftiger helm Zachariä u. a. die Zeitschrift »Neue Erde (SDR 1987), das nach Texten von Chris- Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes« (1744) heraus, die als »Bremer Beitian Wagner entstand. Weitere Werke: Swing-Sonette. Bln. 1949 (L.). träge« Literaturgeschichte machten. 1745 wurde C. Magister u. hielt Vorlesun– Das preuß. Märchen (v. Boris Blacher). Dt. Oper gen an der Universität. Die Abkehr von den Bln. 1950 (Funkoper). – Leben wie im Paradies. Hbg. 1964 (E.). – Schlamm (nach Eugène Ionesco). Themen weltlicher Lyrik vollzog C. schon WDR 1971 (Film). – Hörspiele: Die Flut. RIAS 1947. während der Leipziger Dozententätigkeit.

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Die wenigen Naturgedichte, Satiren u. Fabeln dieser Zeit nahm er später nicht in seine Gedichtsammlung mit auf. Nach einem guten theolog. Examen 1746 erhielt er ein zweijähriges kurfürstl. Stipendium. Er gab nun ein eigenes moralisches u. satir. Wochenblatt »Der Schutzgeist« (Hbg.) heraus, das vom 12.5.1746 bis zum 6.4.1747 in 52 Nummern in Hamburg erschien. Beiträge lieferte, neben den Freunden, auch seine Braut Johanna Elisabeth Radicke. 1747/48 edierte er gemeinsam mit Ebert, Gärtner u. Nikolaus Dietrich Giseke den »Jüngling« (Lpz.). Nach Ablauf des Stipendiums verließ er die Universität u. wurde 1748 Dorfpfarrer in Cröllwitz/Sachsen. Hier lebte er eineinhalb Jahre mit Johann Adolf Schlegel zusammen; 1749 heiratete er Charlotte Radicke (1726), die Schwester seiner 1747 verstorbenen Braut. Aus der Ehe gingen zehn Kinder hervor, darunter Karl Friedrich Cramer. Die Abgeschiedenheit ermöglichte es C., seine bereits in Leipzig begonnene Übersetzung von Bossuets Einleitung in die allgemeine Geschichte der Welt (7 Tle., Hbg./Lpz. 1748–86) neben der Arbeit an der Übersetzung u. Herausgabe der Predigten u. Schriften von Chrysostomus (10 Bde., Lpz. 1748–51) fortzuführen. 1750 ging C. als Oberhofprediger u. Konsistorialrat nach Quedlinburg, 1754 folgte der Ruf als dt. Hofprediger Friedrichs V. nach Kopenhagen; Klopstock hatte sich für diese Berufung nachdrücklich beim dän. Außenminister Bernstorff eingesetzt. Die rednerischen Talente, die C. während seiner 17 Jahre in Kopenhagen entfaltet haben soll, lassen sich an seinen publizierten Predigten u. Schriften nur schwer ermessen. Seine Vielschreiberei (allein 450 gedruckte Predigten) u. Weitläufigkeit, sein unermüdliches Anmahnen von Moral u. christl. Tugend hatten unstrittig großen Einfluss auf seine Zeit, doch schon nach 1800 war vielen Lesern der moralisierende u. trockene Ton unzugänglich geworden. Literaturhistorische Bedeutung kommt C. als Herausgeber u. Mitautor (u. a. neben Klopstock) des »Nordischen Aufsehers« (Kopenhagen/Lpz.) zu. Die erste Nummer erschien am 5.1.1758. Die ersten 60 Nummern wurden als 1. Jahrgang in Buchform nachge-

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druckt (3 Bde., Kopenhagen/Lpz. 1759/60 u. 1770); über C.s Beiträge, die meist geistlichen oder moral. Inhalts sind, informiert das Verzeichnis im dritten Band (wiederabgedruckt in: Jördens I, S. 337–342). »Verbesserung des Herzens und der Sitten«, die C. seine »liebste Beschäfftigung« (120. Stück) nennt, kennzeichnen Stil u. Programmatik dieser Zeitschrift. 1765 wurde C. zum Professor der Theologie an der Universität Kopenhagen ernannt, 1767 promovierte er zum Doktor der Theologie. Infolge einer innenpolit. Krise (Bernstorffs Sturz 1770) gab C. 1771 das Hofpredigeramt auf u. verließ Kopenhagen. Er erhielt eine neue Stellung als Superintendent in Lübeck. 1774 erschien C.s Katechismus in einer Erwachsenen- u. einer Kinderfassung. 1774 nahm C. einen Ruf als Theologieprofessor u. Prokanzler der Universität Kiel an. Hier setzte er nicht nur seine ungeheure Produktion pastoraler Schriften u. geistl. Lieder fort, sondern engagierte sich auch in der Verwaltungsarbeit: 1780 gab er für die schleswig-holsteinische Kirche ein Allgemeines Gesangbuch (Altona 1780) heraus, das 225 seiner eigenen Lieder u. viele seiner Umdichtungen älterer Lieder enthält (z.T. von Carl Philipp Emanuel Bach vertont) u. bis 1887 benutzt wurde; 1781 richtete er das erste Kieler Schullehrerseminar ein; 1784 zum Kanzler der Universität ernannt, sorgte er für die stattl. Vergrößerung der Bibliothek u. stiftete eine Professorenwitwenkasse. Seine 1782/83 erschienenen Sämmtlichen Gedichte (3 Bde., Lpz.) haben, nach C.s Worten, allein »Religion und christliche Tugenden« (Vorrede zum 1. Tl.) zum Gegenstand, die weltl. Lieder wurden nicht mit aufgenommen, – gemäß seinem Urteil, dass ein großer Dichter nur der sei, der »die Hoheit und die Würde der Religion und Tugend preist, und so zu sagen, aus den Wolken die Laster niederdonnert« (69. Stück des »Nordischen Aufseher«). Nach dem Tod seiner Frau 1777 heiratete C. 1783 (?) noch einmal. Obwohl C.s geistl. Gedichte, seine moralisch-didakt. Beiträge in den Zeitschriften, seine religiösen Oden u. poet. Übertragungen einiger Psalmen, die Kirchenlieder u. patriot. Gedichte auch Leser außerhalb des Publi-

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kums erbaul. Literatur fanden, kritisierten Cranz, August Friedrich, auch: Pater schon Zeitgenossen seine literar. Massenpro- Gaßner d.J., * 26.9.1737 Marwitz bei duktion. »Viel zu rhetorisch, um poetisch zu Landsberg/Warthe, † 19.10.1801 Berlin. – seyn«, schrieb Herder (Sämtliche Werke 4, Satiriker u. Publizist. S. 230), u. über C.s Luther-Ode (Kopenhagen 1771): »Mehr ist der Wahrheit Kämpfer, als Der Sohn eines luth. Predigers studierte wer Schlösser, / Wer Welten durch sein dürf- Theologie u. Jura in Halle, wo er nach eigenen tig Schwert gewinnt. / O Luther! Luther! Angaben mit Samuel Gotthold Lange Hoher Name! größer, / Als aller Helden Na- freundschaftlich verkehrte. Nach Tätigkeiten men sind! [...]« sagte er: »Ein Fortschreiten als Hofmeister in Berlin u. Kriegs- u. Steuerauf trockenen Allgemeinörtern [...] eine Kette rat im preuß. Kleve versuchte er sich als freier Schriftsteller zu behaupten. von O’s! und Fragezeichen«. Seine publizist. Laufbahn begann C. 1773 Weitere Werke: Die Auferstehung. Eine Ode. als Herausgeber u. Verfasser des »Freundes Lpz. 1748. – Slg. einiger Predigten. 10 Tle., Koder Wahrheit und des Vergnügens am Niepenhagen 1755–60. – Poet. Übers. der Psalmen mit Abh. über dieselben. 4 Bde., Lpz. 1755–64. – Ver- derrhein«, dem weitere kurzlebige Periodika mischte Schr.en. Kopenhagen/Lpz. 1757. – Erklä- folgten. Bis 1778 erschien unter seinem rung des Briefs Pauli an die Hebräer. 2 Bde., Lpz. Pseudonym die fünfteilige Gallerie der Teufel 1757. – Neue geistl. Oden u. Lieder. Lübeck (Ffm. u. Lpz.). Im Rückgriff auf Motive u. 1766–75. – Evang. Nachahmungen der Psalmen Stoffelemente der »Teufelsliteratur« des 16. Davids u. a. geistl. Lieder. Kopenhagen 1769. – Jh. konnte C. hier Vorgänge in Politik u. Melanchthon. Eine Ode. Lübeck 1772. – Christian Hofleben satirisch als Auswirkungen hölliF. Gellerts Leben. Karlsr. 1774. – Ascet. Betrachtungen über die rechte Erkenntniß u. Bereuung der scher Machenschaften darstellen. Thematisch Sünden u. ihre heilsamen Wirkungen. Hbg./Kiel u. stilistisch breit gefächerte Sammelwerke 1787. – Eine christl. Sittenlehre für Kinder. Kiel wie Meine Lieblingsstunden in Briefen (2 Bde., 2 1788. – Vermischte Übungen des Verstandes, Wit- Bln. 1786), die auch eine Werther-Parodie zes u. Nachdenkens. Kiel 1788. – J. A. C.s hinter- enthalten, schließen sich an. »Politische, lassene Gedichte. Hg. Carl Friedrich Cramer. Alto- theologische, gelehrte und kunstmäßige na/Lpz. 1791. – Slg. zur Kirchengesch. u. theolog. Gaukelspiele« wollen die Charlatanerien in alGelehrsamkeit. Lpz. 1748–51. phabetischer Ordnung entlarven (Bln. 1781. Literatur: Franz Muncker: Dt. National-Litt. Neudr. Dortm. 1968. Nachw. v. Horst MölBd. 44, Bln./Stgt. o. J., S. 65–73 (Bremer Beiträger ler). Die Nachricht von einer Schönen That (Bln. 2. Einl.). – Phoebe M. Luehrs: Der Nordische Auf1781. Neudr. Bln. 1905) zeichnet im moraliseher. Diss. Heidelb. 1909. – Adolf Blümcke: Beiträge zur Kenntnis der Lyrik J. A. C.s (1742–61). sierenden Exempelstil ein Modell sozial vorDiss. Greifsw. 1910. – Gustav Stoltenberg: J. A. C., bildl. Verhaltens. In mehreren Schmähseine Persönlichkeit u. seine Theologie. In: Schr.en schriften gegen den Theologen Johann Meldes Vereins für Schleswig-Holstein. Kirchengesch. chior Goeze attackierte C. die protestant. Or2. Bd. 9,4, Kiel 1935, S. 1–68. – E[berhard] Reich- thodoxie. Am »Xenienstreit« beteiligte er mann: J. A. C. u. die dt. Geschichtsprosa der Auf- sich 1797 mit der Ochsiade, die wie die Bockiade klärung. In: Monatshefte 54 (1962), S. 59–67. – Tonfall u. Gangart der Debatten in der »GeBautz (mit Bibliogr.) – Jürgen Overhoff u. Franklin lehrten-Republik« monierte. Kopitzsch: Der dt.-dän. Kulturaustausch im BilIm Gegensatz zu späterem Urteil galt C. bei dungswesen (1746–1800). In: Das achtzehnte seinen Zeitgenossen trotz des Vorwurfs der Jahrhundert 25 (2001), S. 184–196. »Vielschreiberei«, der gezielten Indiskretion Matthias Luserke / Red. u. überzogenen Polemik als seriöser Autor. Die ihm gewährte Zensurfreiheit wurde auf Anweisung Friedrichs II. von Preußen vorübergehend bestätigt. Weitere Werke: Beyträge zur Chronika v. Berlin [...]. Bln. 21781. – Ein Wort der Beherzigung an die Fürsten u. Herren Teutschlands. Bln. 1790.

Crescentia Literatur: Paul Bensel: Niederrhein. Geistesleben [...]. Bonn 1912. – Dieter Reichelt: A. F. C. Ein Kgl. Preuß. Kriegsrath als Schriftsteller v. Profession. Zeugnisse aus seinem merkwürdigen Leben u. Wirken in Berlin. Bargfeld 1996. Josef Morlo / Red.

Crescentia. – Mittelalterliche Verslegende in drei Fassungen des 12. u. 13. Jh.

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Rückkehr auf dem Landweg) unterstreichen die Wirksamkeit des Providentiellen im scheinbar Kontingenten. Vor dem Hintergrund des Modells des hellenist. Familienromans entsteht ein komplexes Spannungsfeld von Gewalt u. Gewaltüberwindung, Krankheit u. Heilung, weltlich-genealogischen u. überweltlich-heilsgeschichtl. Bindungen, das über die Sächsische Weltchronik u. die Gesta Romanorum im Spätmittelalter weiterwirkte.

Die im orientalischen u. okzidental. MA in Ausgaben: Edward Schröder (Hg.): Kaiserchroüber 100 Versionen verbreitete Geschichte nik. Hann. 1892 (MGH Dt. Chron. 1, I). – Frühe dt. von der unschuldig verfolgten Frau ist mhd. u. lat. Lit. in Dtschld. 800–1150. Hg. Walter Haug in drei verschiedenen Fassungen überliefert. u. Benedikt Konrad Vollmann. Ffm. 1991, Die älteste u. wichtigste findet sich in der S. 930–1013, 1557–1566 (mit Übers.). Literatur: Karen Baasch: Die Creszentialegende Kaiserchronik (um 1150), eingeschoben zwischen die Kaiser Heraclius u. Justinianus u. in der dt. Dichtung des MA. Stgt. 1968. – Eberhard herausgehoben durch reinere Reime, straffe- Nellmann: C. In: VL. – Markus Stock: Kombinationssinn. Tüb. 2002, S. 54–72. – Christian Kiening: ren Rhythmus u. kompositor. GeschlossenVersuchte Frauen. In: Text u. Kontext. Hg. Janheit (1460 Verse). Ausgangspunkt der Hand- Dirk Müller. Mchn. 2007, S. 77–98. lung ist hier ein kritischer Moment des GeChristian Kiening nerationenübergangs an der Spitze des Römischen Reichs: Zunächst fehlt ein Erbe, dann werden Zwillinge geboren, die, heranCreutz, Creuz, Friedrich Carl Casimir von, gewachsen, um die Hand der gleichen Frau * 24.11.1724 Homburg, † 6.9.1770 Homwerben. Crescentia nimmt von den beiden burg. – Diplomat u. philosophischer Gleichnamigen den »hässlichen« Dietrich Schriftsteller. zum Gemahl u. hat sich, kaum ist dieser abwesend, den Avancen ihres Schwagers zu wi- C. entstammte einem verarmten Adelsgedersetzen. Des Ehebruchs bezichtigt u. zum schlecht schlesisch-sächsischer Herkunft. C.’ Wassertod verurteilt, wird sie von einem Fi- Vater siedelte 1720 nach Homburg über u. scher gerettet u. gelangt an den Herzogshof, gewann das Vertrauen der dortigen Landwo sich die Situation wiederholt: Der von ihr grafen; sein Tod (1732) stürzte die Familie in abgewiesene Vicedominus beschuldigt sie schwere finanzielle Krisen. Wissenschaftliche fälschlich des Kindermordes, u. diesmal ist es Kenntnisse erwarb sich C. daher notgedrunPetrus selbst, der sie aus dem Wasser rettet u. gen als Autodidakt; dennoch bestellte ihn ihr überdies die Gabe verleiht, vor ihr beich- sein landgräflicher Gönner Friedrich IV. von tende Kranke zu heilen; auf diese Weise Hessen-Homburg zum Hof- u. Staatsrat schenkt sie den von Gott mit Aussatz ge- (1746–1751). Tatsächlich gelang dem hochstraften Männern, die für ihr Unglück ver- begabten Diplomaten u. Rechtsexperten trotz antwortlich waren, die Gesundheit wieder; zeitweiliger Inhaftierung (1755/56) die Beiam Ende tritt sie nach Aufdeckung der Iden- legung dauernder Querelen zwischen den tität zus. mit ihrem Gatten in ein Kloster ein; Häusern Hessen-Darmstadt u. Hessen-Homder andere Dietrich übernimmt die Herr- burg. C.’ geschickte Interventionen in Berlin schaft. (1751, 1754, 1767) u. Wien (1756) verhalfen Im Zentrum der Geschichte steht eine vor- der Sache Hessen-Homburgs zum Sieg u. bildl. Demutshaltung. Stärker aber als in ei- trugen ihrem Initiator die Ernennung zum nem etwas älteren lat. Marienmirakel geht es Geheimen Rat u. zum Reichshofrat (1756) auch um eine strukturelle Heiligung. Wie- ein. Von seinem hohen Ansehen zeugen auderholungen, Kontraste u. Steigerungen (z.B. ßerdem Berufungen an mehrere WissenEntfernung vom Hof auf dem Wasser-, schafts-Akademien.

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C.’ staats- u. rechtswiss. Schriften (z.B. Der wahre Geist der Gesetze. Ffm. 1766) fußen auf dem Gedankengut Montesquieus u. dienten hauptsächlich der Verteidigung seines Herrscherhauses. Daneben betätigte sich C. allerdings auch als Hofpoet u. philosophierender Gelegenheitsschriftsteller (Versuch über die Seele. 2 Tle., Ffm./Lpz. 1753/54); neben Huldigungsgedichten u. einem Trauerspiel in der Manier Gottscheds (Der sterbende Seneca. Ein Trauerspiel. Ffm. 1754) verfasste er viel gelesene Oden traditionellen Stils (Oden und Lieder. Ffm. 1750 u. ö.). Die meiste Resonanz fanden jedoch seine elegisch gestimmten Lehrgedichte in der Nachfolge Hallers u. Youngs (u. a. Die Gräber. Ein philosophisches Gedicht. Ffm. 1760. Lucrezische Gedanken. Ffm. 1769). Auf eigentüml. Weise verbinden sich darin moralisierend-didakt. Tendenzen der Frühaufklärung mit metaphys. Kosmogonie-Vorstellungen neuplatonisch-pythagoreischen Zuschnitts (Stufenlehre der Geister, Seelenwanderung), stoizist. Gedankengut u. psychologisch angereicherter Vergänglichkeits-/ (Vanitas-)Motivik spätbarocker Prägung. Höfische Existenz, konservative Dichtungsmaximen u. die elitäre Gleichsetzung von Dichter- u. Philosophenexistenz entfremdeten den bekannten Autor der folgenden Schriftstellergeneration; bes. Herder äußerte sich häufig abfällig über den »metaphysischen Dichter [...] von der traurigen Gestalt« (Allgemeine Deutsche Bibliothek 1772, Bd. 16, S. 127 f.). Neuere literaturwiss. Forschungen konnten dieses Bild unter Hinweis auf C.’ Gedankenreichtum u. künstler. Gestaltungskraft teilweise revidieren. Literatur: Ursula Bürgel: Die geistesgeschichtl. Stellung des Dichters C. in der Lit. der dt. Aufklärung. Marburg 1949 (Werkregister). Adrian Hummel / Red.

Creutziger, Cruciger, Elisabeth, * um 1500, vielleicht 1504 auf Meseritz bei Schivelbein/Rega, † Mai 1535 Wittenberg. – Kirchenlieddichterin. C. entstammte dem Geschlecht der pommerschen Edlen von Meseritz. Johannes Bugenhagen machte die Nonne des Prämonstratenserklosters Treptow/Rega mit der Refor-

Creutziger

mation bekannt. 1522 floh sie zu ihm nach Wittenberg. 1524 wurde sie mit dem vermögenden Caspar Cruciger (1504–1548) verheiratet, der zu den engsten Mitarbeitern Luthers gehörte. C. stand mit Luthers Frau Katharina in freundschaftlicher Beziehung; ihre Tochter heiratete in zweiter Ehe Luthers Sohn Johannes. Als erste Frau verfasste C. mit dem bereits vor ihrer Heirat gedichteten Eyn Lobsanck von Christo (EKG 46) ein evang. Kirchenlied, zgl. wohl das erste evang. Jesuslied überhaupt. Das aus fünf Strophen zu je sieben Zeilen bestehende Lied ist nach der Barform (AAB) gebaut. Thematisch liegt der zweite Artikel des Nicänums zugrunde. Das Motiv »Christus aus Gottvaters Herz entsprossen« geht auf die Hymnenstrophe »Corde natus ex parentis« des Prudentius zurück. Der Hinweis auf den »Morgenstern« (Off. 22,16) hat wohl zur Aufnahme unter die Epiphaniaslieder geführt. Die theolog. Aussage ist mit myst. Sprachgestus verknüpft. Der Melodie liegt ein Volkslied zugrunde. Dieses einzige überlieferte Kirchenlied C.s ist bereits in Luthers erstem Gesangbuch, dem Erfurter Enchiridion (Erfurt 1524), anonym enthalten. Wegen der Reime des Liedes hat man eine ursprünglich niederdt. Sprachform erwogen, in der sich zudem das Akrostichon »HULDE« ergibt. Die erste niederdt. Version findet sich in einem Gesangbuch von 1526. Ausgaben: Wackernagel 3, Nr. 67–69. – Epochen der dt. Lyrik. Bd. 3: Gedichte 1500–1600 [...] in zeitl. Folge hg. v. Klaus Düwel. Mchn. 1978, S. 80 f. Literatur: VD 16, C 5836. – Weitere Titel: Christhard Mahrenholz u. Oskar Söhngen: Hdb. zum EKG 1, 2. Gött. 1965. II, 1.2. Gött. 1957. – Hans Volz: Woher stammt die Kirchenlied-Dichterin E. C.? In: Jb. für Liturgik u. Hymnologie 11 (1966), S. 163–165. – DBA 208,391–396. – Allan Arvastson: E. C. Den evangeliska Kristenhetens första Psalmförfattarinna. In: Svensk teologisk Kvartalskrift 62 (1986), S. 109–120. – Robin A. Leaver: E. C., the Magdeburg Enchiridion 1536 and reformation theology. Atlanta 1995. – Martin Petzoldt: J. S. Bach, ›Herr Christ, der einig Gottes Sohn‹, BWV 96. Analyse des Kantatentextes. In: Sprache u. Kommunikation im Kulturkontext. FS Gotthard Lerchner. Hg. Volker Hertel u. a. Ffm. 1996, S. 47–61. – Mary Jane Haemig: E. C. (1500?-

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1535). The case of the disappearing hymn writer. In: Sixteenth Century Journal 32 (2001), S. 21–44. Klaus Düwel / Red.

Creuzer, (Georg) Friedrich, * 10.3.1771 Marburg, † 16.2.1858 Heidelberg. – Philologe u. Mythologieforscher. Der Buchbindersohn C. studierte ab 1789 Theologie in Marburg u. Jena, wo er sich, angeregt durch Karl Leonhard Reinhold u. Schiller, verstärkt philosophischen u. histor. Fragen zuwandte. Er war zunächst Pädagoge an einer von ihm mitgegründeten Privatschule, entschied sich dann aber für die Altertumswissenschaft u. habilitierte sich, gefördert von Savigny, 1799 in Marburg als Privatdozent (ab 1800 Professor) für alte Geschichte, klass. Literatur u. Eloquenz. Mit einer Schrift über Die historische Kunst der Griechen in ihrer Entstehung und Fortbildung (Lpz. 1803) fand C. größere Beachtung u. erhielt 1804 einen Ruf auf einen Lehrstuhl der Philologie u. alten Geschichte nach Heidelberg. Hier gehörte er zum Kreis der Romantiker um Görres, Brentano u. Arnim u. beteiligte sich seit 1807 als »Generalredakteur« an der Herausgabe der »Heidelbergischen Jahrbücher der Literatur«, eines wichtigen Forums der jüngeren Romantik, das später (ab 1810) von den rationalist. Vertretern der Universität beherrscht wurde. Zus. mit dem Theologen Carl Daub war C. Herausgeber der »Studien« (6 Bde., Heidelb. 1805–10), eines wiss. Jahrbuchs, in dem bedeutende Beiträge zur Mythologie, Altertumskunde, Philosophie u. Theologie publiziert wurden u. in dem C.s programmatischer Aufsatz Idee und Probe alter Symbolik (1806) erschien. Auch zwei Dramen von Karoline von Günderrode (Udohla u. Magie und Schicksal) hat C. hier 1805 veröffentlicht. Günderrodes Liebe zu C., der mit einer 13 Jahre älteren Professorenwitwe verheiratet war, fand 1806 durch Günderrodes Selbstmord ein tragisches Ende. Ihre Briefe wurden weitgehend vernichtet. C. unterband auch die Publikation der MeleteDichtungen, die er zuvor gefördert hatte. In seiner Autobiografie Aus dem Leben eines alten Professors (Lpz./Darmst. 1848) wird Karoline von Günderrode, die seine »romantische«

Lebensphase in Heidelberg entscheidend mitgeprägt hatte, nirgendwo genannt. Eine Berufung an die Universität Leiden 1809 machte C. nach nur drei Monaten rückgängig u. setzte die Lehrtätigkeit in Heidelberg bis zu seiner Emeritierung 1845 fort. Hochverehrt, aber von manchen Kollegen seiner Zunft auch angefeindet, starb C. 1858 86-jährig in Heidelberg. Sein Grab auf dem Bergfriedhof ist heute nicht mehr auffindbar. Mit seinem ebenso einflussreichen wie umstrittenen Hauptwerk Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen (4 Bde., Lpz./Darmst. 1810–12. 31836–43. Zuletzt Hildesh. 1990) begründete C. die Mythologie als Wissenschaft. Es ging ihm darum, die »inneren Bildungsgesetze des symbolischen und mythischen Ausdrucks« zu begreifen, die den religiösen Anschauungen der unchristl. Antike zugrunde lagen. C. wollte in seiner Symbolik »den Zusammenhang und Geist des alten Glaubens, Dichtens und Bildens« erforschen u. in den Werken des Altertums »den religiösen Mittelpunkt, worin sie sich vereinigen«, aufspüren (Vorrede). Seine Hauptthese ist, dass die griech. Mythen aus den oriental. Symbolen herzuleiten seien, dass aber der Weg zu den geheimnisvollen Urbildern des Orients nur über die bekannten Mythen erschlossen werden könne. Der »symbolischen« Erkenntnisweise, die unmittelbar in einem Augenblick die Geheimnisse des Lebens hieroglyphisch erfasse, weist C. einen deutl. Vorrang vor der rational-diskursiven Erkenntnis zu. Jene sei den morgenländischen Priestern eigen gewesen, die ihre esoter. Wahrheiten an die Griechen vermittelt hätten. In deren fantasiereichen Mythen seien die ursprüngl. Religionswahrheiten anthropomorphisiert u. ästhetisiert worden. Der C.’schen Symbol- u. Mythentheorie ist somit ein deutliches Kulturgefälle eingeschrieben. Dem klass. Schönheitsideal, das seit der Renaissance das europ. Denken bestimmte, folgt C. nicht mehr, auch wenn er ihm nicht ausdrücklich widerspricht. Doch lassen seine Wertungen klar erkennen, dass er den oriental. Göttersymbolen eine höhere Würde zugestand als dem »Gewimmel« der griech. Götter (F. Schlegel).

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C. suchte nachzuweisen, dass alle Religionen u. vielgestaltigen religiösen Kulte des Altertums Modifikationen nur einer monotheist. Urreligion darstellen: des vedischen Brahmanismus der frühesten ind. Hochkultur, der über Vorderasien u. Ägypten zu den Pelasgern nach Griechenland vorgedrungen sei. Die deutlichsten Anklänge an eine urspr. indische Metaphysik entdeckte C. in esoter. Geheimlehren wie den eleusinischen, orphischen oder dionysischen Mysterien, aber auch in der pythagoreischen u. der neuplaton. Philosophie. Den Polytheismus der griech. Mythologie hingegen hielt er für einen selbständigen Ausdruck des griech. Geistes, der sich seinen oriental. Ursprüngen entfremdet hatte. Dass sowohl die philolog. Prämissen über den Einfluss der indischen auf die früheste griech. Mythologie als auch die histor. Konstruktion der Symbolik sich noch zu C.s Lebzeiten als unhaltbar erwiesen, tat der Wirkung des Werks keinen Abbruch. Es trug dem Autor Anerkennungen u. Ehrungen aus ganz Europa ein. Besonders in Frankreich (bei Cousin, Quinet, Michelet u. Flaubert) hat C.s Lehre Anklang gefunden. In Deutschland empfingen v. a. Wilhelm von Humboldt u. Goethe (für die Klassische Walpurgisnacht u. Urworte, orphisch) Anregungen aus C.s Symbolik. Allerdings äußerte sich Goethe 1819 sehr kritisch, als er die zweite Auflage der Symbolik in Händen hatte: »das bißchen Heiterkeit was die Griechen hiernach sollen in’s Leben gebracht haben, wird von den tristen ägyptischindischen Nebelbildern ganz und gar verdüstert«. Und er fügte hinzu: »Was soll man sagen, den dunkel-poetisch-philosophischpfäffischen Irrgang zu einer Zeit zu schauen, wo das alles doppelt und dreifach schon wieder einmal dagewesen und wo sich unsere letzten Ansichten wahrhaftig schön und ehrwürdig gereinigt haben.« (Brief an J. H. Meyer, 25.8.1819). Auch Hegel orientierte sich in seiner Ästhetik an C.s Symbolbegriff, den er freilich als eine unfertige Seinsweise des absoluten Geistes abwertete. Nicht zuletzt greift Schelling in seiner Philosophie der Mythologie in wesentl. Teilen auf C.s Symbolik zurück.

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Ganz entschieden gegen C. stellte sich der klass. Philologe u. Homerübersetzer Johann Heinrich Voß, der eine polem. Antisymbolik (2 Bde., Stgt. 1824 u. 1826. Mikrofiche-Ausg. Mchn. 1994) verfasste. Dass Homer nicht mehr das Maß der Literaturkritik sein sollte, war für Voß untragbar. Die von C. ausgelöste Debatte über den Rang des symbol. Denkens, in der sich die Differenz zwischen den ästhetisch-geschichtsphilosoph. Grundprämissen der Klassik u. der Romantik spiegelte, hatte nachhaltige Wirkung nicht nur auf die Altertumskunde u. Religionsphilosophie des 19. Jh., sondern auch auf die Philosophie u. die Entwicklung der vergleichenden Religionswissenschaft bzw. Kulturanthropologie (Karl Otfried Müller, Johann Jakob Bachofen, Walter F. Otto, Karl Kerényi) sowie die Psychoanalyse (Carl Gustav Jung). Neben seinen fortgesetzten Studien zur Mythologie widmete C. sich vornehmlich der neuplaton. Philosophie (Mitherausgeber der Werke Plotins, Oxford 1835) u. der Archäologie. Weitere Werke: Epochen der griech. Literaturgesch. Marburg 1802. – Das akadem. Studium des Altertums. Heidelb. 1807. – Gesch. der class. Philologie. Heidelb. 1854. Ausgaben: Dt. Schr.en. 13 Bde., Lpz./Darmst./ Ffm. 1836–58. – F. C. u. Karoline v. Günderode. Briefe u. Dichtungen. Hg. Erwin Rohde. Heidelb. 1896. – Die Liebe der Günderode. Hg. Karl Preisendanz. Mchn. 1912. Neudr. Bern 1975. – Briefe F. C.s an Savigny. Hg. Hellfried Dahlmann. Bln. 1972. Literatur: Oswald Floeck: G. F. C. u. Karoline v. Günderode. In: GRM 3 (1911), S. 452–461. – Ernst Howald: Der Kampf um C.s Symbolik. Tüb. 1926. – Johannes Hoffmeister: Hegel u. C. In: DVjs 8 (1930), S. 260–282. – Oswald Dammann: C. u. die Brüder Boisserée. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins N. F. 51 (1937), S. 237–258. – Joachim Schneider: Goethe u. die Mythenforscher der Romantik, insbes. sein Verhältnis zu Schelling, Görres u. C. Diss. Heidelb. 1961. – Hans-Georg Gadamer: Hegel u. die Heidelberger Romantik. In: RupertoCarola 30 (1961), S. 97–103 (auch in: Ders.: Hegels Dialektik). Tüb. 1971. – Max Preitz: Karoline v. Günderode in ihrer Umwelt. Briefe an C. u. a. In: JbFDH 1962, S. 208–306. – Ulrike Angsüsser: Symbol, Mythos u. Griechentum bei G. F. C. Diss. Wien 1962. – Ernst Behler: Das Indienbild der dt. Romantik. In: GRM N. F. 18 (1968), S. 21–37. – Werner Paul Sohnle: G. F. C.s ›Symbolik und Mythologie‹ in Frankreich. Göpp. 1972. – Marc-Ma-

Croissant-Rust

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thieu Münch: La ›symbolique‹ de F. C. Paris 1976. – Manfred Frank: Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie. Ffm. 1982. – Christoph Jamme: Einf. in die Philosophie des Mythos. Darmst. 1991. – Eva Kocziszky: Samothrake. Ein Streit um C.s Symbolik u. das Wesen der Mythologie. In: Antike u. Abendland 43 (1997), S. 174–189. – Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln dt.-morgenländ. Imagination im 19. Jh. Bln./New York 2005. – Barbara Becker-Cantarino: Mythos u. Symbolik bei Karoline v. Günderrode u. F. C. In: 200 Jahre Heidelberger Romantik. Hg. Friedrich Strack. Heidelb. 2008, S. 281–298. – C. Jamme: ›Göttersymbole‹. F. C. als Mythologe u. seine philosoph. Wirkung. Ebd., S. 487–498. – E. Kocziszky: Das Konzept u. die Rolle der Orients in C.s Werk im Vergleich zu Görres. Ebd., S. 299–320. Jochen Fried / Friedrich Strack

Croissant-Rust, Anna (Flora Barbara), * 10.12.1860 Bad Dürkheim, † 30.7.1943 München; Grabstätte: ebd., Friedhof Pasing. – Erzählerin.

ger, spiegelt sich eine Stilentwicklung, die vom reinsten Jugendstil bis zu vorexpressionist. Ansätzen reicht. In C.s Erzählsammlungen nach der Jahrhundertwende ist die naturalist. Schärfe ihrer Anfänge durch Ironie u. Humor gemildert. Weitere Werke: Lebensstücke. Ein Novellen- u. Skizzenbuch. Mchn. 1893. – Der Bua. Oberbayr. Volksdrama in 4 Akten. Bln 1897. – Aus unseres Herrgotts Tiergarten. Stgt./Lpz. 1906 (E.en). – Arche Noah. Mchn./Lpz. 1911. Neudr. u. d. T. Lebenswege. Dachau 1982 (E.en). – Kaleidoskop. Mchn. 1921 (E.en). – Lebenswege. Gesch.n u. Erzählungen. Dachau 1982. – Gesch.n. Hg. Rolf Paulus u. Bruno Hain. Landau 1987. Literatur: Gustav Morgenstern: A. C. In: Die Gesellsch. 13 (1897), Bd. 2, 3. Quartal, S. 211–219. – Paul Bornstein: A. C. In: Das literar. Echo 9 (1906/ 07), Sp. 924–933. – Rolf Paulus u. Bruno Hain: Leben u. Werk der A. C. In: Gesch.n, a. a. O., S. 223–274 (mit Bibliogr.). – Bernhard Setzwein: Naturalistin im Biedermeierhäuschen: die bayerisch-pfälz. Erzählerin A. C. In: Käuze, Ketzer, Komödianten. Literaten in Bayern. Pfaffenhofen 1990, S. 107–142. – Monika Beckerle: A. C. In: Dachkammer u. Literar. Salon. Schriftstellerinnen in der Pfalz. Landau 1991, S. 155–159. – Annette Kliewer: A. C. In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb. 2006, S. 88–90. Rolf Paulus / Annette Kliewer

In Bad Dürkheim u. ab 1866 in Amberg als Tochter eines Salineninspektors aufgewachsen, kam C. 1884 nach München, wo sie Privatunterricht in Sprachen u. Musik gab. Hier fand sie Kontakt zum Naturalistenkreis um Michael Georg Conrad u. wurde das einzige weibl. Mitgl. in dessen »Gesellschaft für modernes Leben«. Sie war befreundet mit LiliCroll, Crollius, Oswald, * um 1560 Wetter encron, Bierbaum u. Dehmel. 1890 erschien bei Marburg/Lahn, † vor dem 21.12.1608 Feierabend. Münchner Arbeiter-Novelle (SamPrag. – Arzt, Alchemiker u. paracelsistimelbd. mit dieser Titelnovelle: Mchn. 1893), scher Sachschriftsteller. eine für den Münchner Naturalismus sehr krasse Milieuschilderung. Seit 1888 verhei- C. besuchte die Stiftsschule in Wetter u. sturatet, zog C. mit ihrem Mann 1895 nach dierte in Marburg/L. (1576). Seit den 1580er Ludwigshafen, 1904 kehrten sie nach Mün- Jahren diente er der frz. Familie D’Esne als chen zurück. Präzeptor; dabei Aufenthalte in Paris (1585) 1901 erschien die autobiografisch gefärbte u. Italien (1589). Spätestens seit 1591 stand C. pfälz. Geschichte Pimpernellche (Bln./Lpz.), als Erzieher Maximilians von Pappenheim1906 Die Nann (Stgt./Lpz.), ein Heimatroman Stühlingen in Brot. Um 1600 stieg er aus Tirol von großer Milieutreue. Winkel- schließlich zum »medicus ordinarius« u. diquartett (Mchn. 1908) schildert humorvoll plomat. Agenten Christians I. von Anhaltskurrile Typen aus Amberg, der Stadt ihrer Bernburg auf, des späteren Führers der proKindheit. Der Roman Felsenbrunner Hof testant. Union; er vertrat nun Christians In(Mchn./Lpz. 1910) zeichnet den rapiden teressen in Prag u. verhandelte insbes. mit wirtschaftl. u. moral. Zerfall einer Gutsbe- dem böhm. Magnaten Peter Wok von Rosensitzerfamilie in der Westpfalz nach. Im Zy- berg. Aufgrund seiner Präzeptorentätigkeit klus Der Tod (Mchn./Lpz. 1914), einem literar. u. diplomat. Aufgaben wurde C.s Lebensgang Totentanz mit Illustrationen von Willi Gei- zunächst von ungewöhnlich häufigen Orts-

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wechseln geprägt; seit 1599 lebte C. dann hauptsächlich in Prag. C. gehörte zur paracelsist. Respublica alchemica u. unterstützte Anhänger Valentin Weigels, reihte sich also ein in die frühneuzeitl. Opposition wider aristotel. Schulwissenschaft u. luth. Orthodoxie. Er unterhielt Beziehungen mit Paul Schede Melissus u. Ulrich Bollinger, stand Angehörigen des Prager Dichterkreises nahe, war mit Peter Woks Sekretär, dem Dichter Theobald Hock, aber auch mit Michael Sendivogius u. vielen anderen Alchemikern näher bekannt u. trat in das engere Blickfeld von Rudolph II., der den Nachlass C.s beschlagnahmen ließ. Erhalten blieben Reste aus C.s Briefwechsel u. a. mit Christian I., Caspar Bauhin, Joseph Duchesne, Martin Crusius, Hock, Elizabeth Jane Weston u. Franz Kretschmer. Das Hauptwerk C.s, die Basilica chymica (Ffm. 1609), eröffnet eine umfängliche paracelsist. Naturkunde, die in myst. Bereiche ausgreift u. in C. einen religiösen Dissidenten kenntlich macht (»Praefatio«). Der präparative Teil vereinigt zahlreiche Vorschriften zur Herstellung u. Anwendung chemischer Heilmittel. Er führt teilweise paracels. Erbe fort. C.s Traktat De signaturis internis rerum seu de vera et viva anatomia majoris et minoris mundi (Ffm. 1609) gilt einer medizin. Semiotik, die das »Buch der Natur« mit »Augen des Gemüts« lesen lehrt. In den Bahnen eines in Ähnlichkeiten (similitudines) verstrickten Denkens leitet er dazu an, aufgrund sichtbaräußerer Merkmale die unsichtbar-inneren Kräfte u. Tugenden der natürl. Dinge zu erkennen; insbes. wird eine »angeborene Verwandtschaft« zwischen bestimmten Pflanzen u. menschl. Körperteilen statuiert u. das tertium comparationis zwischen dem »Wahrzeichen« einer Arznei u. dem »Wahrzeichen« einer Krankheit festgestellt, damit der Arzt dann nach dem similia similibus-Prinzip (Gleiches heilt Gleiches) Krankheiten bekämpfen kann. C.s »Anatomia harmonica« bietet eine ärztl. »Magia inventrix« (Findekunst), die im Anschluss an paracels. Gedankengut u. die Signaturenlehre Giambattista della Portas auf der Sympathie- u. Influenzenlehre der neuplaton. Kosmosophie aufbaut u. eine hermet. Alternative zur Arznei-

Croll

mittellehre der aristotelisch-galenist. Schulmedizin bot. Zwar verfiel C.s Werk nicht zuletzt aus theolog. Erwägungen schulwiss. Verdikten (Andreas Libavius, Daniel Sennert, Hermann Conring). Gleichwohl erlebten Basilica u. De signaturis im 17. Jh. mindestens 15 gemeinsame lat. Abdrucke u. zwei dt. Übersetzungen (Ffm. 1623. Nürnb. 1684), die in mindestens sechs Ausgaben vorlagen. Ferner entstanden französischsprachige Abdrucke (Lyon 1624 u. ö.) u. eine engl. Übersetzung (London 1670), der eine Übersetzung der Basilica-Vorrede voranging (in: Philosophy reformed. London 1657). Die Basilica wurde von dem Marburger Chemiater Johann Hartmann (Lpz. 1634 u. ö.) u. dem Arzt Johann Hiskia Cardilucius (Nürnb. 1684 u. ö.) annotiert. Sie übte auf das Fachschrifttum frühneuzeitl. Mediziner u. Pharmazeuten einen starken Einfluss aus u. hat den Aufschwung der Chemiatrie als angewandter präparativer Chemie zur Arzneimittelherstellung maßgeblich gefördert. Auch De signaturis blieb bis in das 18. Jh. aktuell u. wurde von den Anhängern einer paracelsistisch-»hermetischen« Pflanzenkunde zu ihren Hauptschriften gezählt; in der neuzeitl. »Außenseitermedizin« blieb C.s Signaturenlehre unvergessen. Ausgaben: Traité des signatures. In: François Jollivet Castelot: La médecine spagyrique. Paris 1912. – Traicté des signatures. Mailand 1976. – Tratado de las Signaturas. 1629. Aus dem Frz. ins Neuspan. übers. v. Dolores Lucía, eingel. v. Julio Peradejordi. Barcelona 1982. – Basilica Chymica [...] Tractatus novus de Signaturis rerum internis. Ffm. o. J. (nicht vor 1611). Nachdr. Hildesh. 1996. – De signaturis internis rerum. Die lat. Editio princeps (1609) u. die dt. Erstübers. (1623). Hg. u. eingel. v. Wilhelm Kühlmann u. Joachim Telle. Stgt. 1996. – Alchemomedizin. Briefe 1585 bis 1597. Hg., übers. u. erl. v. dens. Stgt. 1998. Literatur: Josef Maria Eder (Hg.): Quellenschr.en zu den frühesten Anfängen der Photographie bis zum 18. Jh. Halle 1913, S. 6–11, 39–54 (mit Textproben). – Hans Butzmann.: O. C. In: Bernburger Kalender 12 (1937), S. 155–166. – Gerald Schröder: C. In: NDB. – Ders.: O. C. In: Die Pharmazeut. Industrie 21 (1959), S. 405–408. – James Riddick Partington: A history of chemistry. Bd. 2, London 1961, S. 174–177. – Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Ffm. 21978. – Will-Erich Peu-

Cronberg ckert: Gabalia. Bln. 1967, S. 274–295. – Gerald Schröder: C. In: DSB, Bd. 3 (1971), S. 471 f. – Monika Klutz: Die Rezepte in O. C.s ›Basilica Chymica‹ (1609) u. ihre Beziehungen zu Paracelsus. Braunschw. 1974. – Owen Hannaway: The chemists and the word. Baltimore/London 1975. – Wolfram Kaiser: O. C. In: Zahn-, Mund- u. Kieferheilkunde 64 (1976), S. 716–727. – Guido Jüttner: Alchemie u. Sympathielehre in der Therapie der frühen Neuzeit. In: Der Übergang zur Neuzeit u. die Wirkung v. Traditionen. Gött. 1978, S. 134–140. – Wolfgang Schneider: Mein Umgang mit Paracelsus u. Paracelsisten. Ffm. 1982. – Wolf-Dieter Müller-Jahncke: Ordnung durch ›Signatur‹. In: Dt. Apothekerztg. Jg. 124 (1984), S. 2184–2189. – Wilhelm Kühlmann: O. Crollius u. seine Signaturenlehre. Zum Profil hermet. Naturphilosophie in der Ära Rudolphs II. In: Die okkulten Wiss.en in der Renaissance. Hg. August Buck. Wiesb. 1992, S. 103–123. – Claus Priesner: C. In: Alchemie, S. 102 f. – Friedrich Ohly: Zur Signaturenlehre der Frühen Neuzeit. Hg. Uwe Ruberg u. Dietmar Peil. Stgt./Lpz. 1999, s. v. – Jaroslava Hausenblasová: O. C. and his Relation to the Bohemian Lands. In: Acta Comeniana 15/16 (2002), S. 169–182. – Jaumann Hdb. – Hiroshi Hirai: Le concept de semence dans les théories de la matière à la Renaissance: de Marsile Ficin à Pierre Gassendi. Turnhout 2005, S. 295–323 (mit frz. Textprobe S. 596–608). Joachim Telle

Cronberg, Kronberg, Hartmuth von, * 1488, † 7.8.1549 Kronberg. – Reformatorischer Publizist.

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(Wittenb. 1523), an die Stände des dt. Reichs (Zwickau 1523) – ergriff er vehement die Partei Luthers. Seinen Standpunkt prägt ein glaubenseifriger, aber theologiefeindl. Biblizismus. Bezeichnend ist das Urteil Luthers in einem Brief an C., dass bei diesem das Wort Christi »nicht alleyn uff der tzungen schwebe, sunder ernstlich und grundtlich ym hertzen wone«. Die Etablierung der Reformation u. die folgenden Richtungskämpfe, v. a. aber die polit. Rücksichtnahme in den Verhandlungen um seinen Besitz ließen C. schon 1523 wieder verstummen. Äußerungen von Freunden wie Capito u. Bucer bezeugen aber sein weiteres engagiertes Eintreten für die Reformation. Ausgaben: Ableynung des vermeinl. unglimpffs [...]. Straßb. 1524. Internet-Ed.: http://diglib.hab. de/drucke/108-5-quod-3/start.htm. – Die Schr.en H.s v. C. Hg. Eduard Kück. Halle 1899. – An die Bettel orden (Wittenb. 1522). In: Martin Luthers Werke. Krit. Gesamtausg. Bd. 10/2, Weimar 1907, S. 47–50 (S. 53–60: Luthers ›Missive an H. v. C.‹, 1522). – ›Der brieff an romische keyszerl. maiestat‹ (1521) u. ›Ein treüwe vermanung an alle Ständ‹ (1523). In: Flugschr.en der frühen Reformationsbewegung (1518–24). Bd. 2. Hg. Adolf Laube u. a. Bln. 1983, S. 748–759. Literatur: VD 16, C 5903–5942. – Hans-Joachim Köhler: Bibliogr. der Flugschr.en des 16. Jh. Tl. 1, Bd. 1, Tüb. 1991, Nr. 619–641. – Weitere Titel: Eduard Hufnagel: H. v. C. Eine biogr. Skizze, vorgetragen im Museum zu Frankfurt. In: Morgenblatt für gebildete Stände Nr. 167 (1819). – Wilhelm Bogler: H. v. K. Eine Charakterstudie aus der Reformationszeit. Halle 1897. – Günther Franz: C. In: NDB. – Ilse Günther in: Contemporaries 1, S. 361 f. – Helmut Bode: Hartmut XII. v. C., Reichsritter der Reformationszeit. Ffm. 1987 (mit Luthers ›Missive‹ u. dem H.-Kapitel aus C. Spangenbergs ›Adels-Spiegel‹ v. 1591/94).

Der Reichsritter hatte sich früh seinem Verwandten Franz von Sickingen angeschlossen u. an dessen Fehdezügen teilgenommen. Die Niederlage Sickingens gegen den Erzbischof von Trier betraf auch C.; er verlor Stadt u. Burg Kronberg 1522 an den Landgrafen Philipp von Hessen. Die folgenden Jahre verbrachte er v. a. in Basel, ständig bestrebt, Frank Fürbeth / Red. seinen Besitz zurückzuerlangen; es gelang ihm erst 1541. Cronegk, Johann Friedrich Reichsfrhr. Auf der Ebernburg Sickingens machte C. von, auch: Johann Martin Moromastix, erste Bekanntschaft mit der luth. Lehre. Die * 2.9.1731 Ansbach, † 1.1.1758 Nürnberg. 1521 gegen Luther verhängte Reichsacht war – Dramatiker u. Lyriker. wohl der Anstoß für C.s publizist. Tätigkeit: In seinem Sendschreiben an Karl V. (Eyn Aus altem Adelsgeschlecht stammend, genoss hüpsch cristenliche und götliche erinnerung und C. als einziges Kind des Generalfeldmarwarnung. Straßb. 1522) wie auch in den fol- schall-Leutnants des Fränkischen Kreises die genden Flugschriften – u. a. an die vier Bet- beste Privaterziehung. Früh zeigte sich eine telorden (Wittenb. 1522), an Papst Hadrian ungemeine Begabung für Fremdsprachen. C.

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sprach u. schrieb fließend Latein, Französisch, Italienisch u. Spanisch. Er studierte Jura u. Schöne Literatur in Halle (1749), 1750–1752 in Leipzig, wo er sich eng an Gellert, Johann Friedrich Christ, Abraham Gotthelf Kästner, Gottlieb Wilhelm Rabener u. Christian Felix Weiße anschloss. Auf Reisen lernte er in Braunschweig die »Bremer Beiträger« Karl Christian Gärtner, Johann Arnold Ebert, Nikolaus Dietrich Giseke u. Just Friedrich Wilhelm Zachariae kennen u. befreundete sich in Dresden mit dem Intendanten des sächs. Hoftheaters, Graf Moritz von Brühl. Nach der Rückkehr in die Heimatstadt wurde er zum Justiz- u. Hochfürstlichen Hofrat ernannt, trat diese Ämter jedoch erst nach einer längeren Kavaliers- u. Studienreise durch Italien u. Frankreich an. Als er im Dez. 1757 seinen Vater in Nürnberg besuchte, erkrankte er an Pocken u. starb im Alter von 26 Jahren. Zu seinen Lebzeiten war C. als Begründer u. Mitarbeiter an der Moralischen Wochenschrift »Der Freund« (Ansbach 1754–56) bekannt geworden. Nur seine Freunde kannten die dramatischen u. poet. Pläne dieses trotz seiner hohen gesellschaftl. Stellung u. finanziellen Unabhängigkeit liebenswürdig-bescheidenen Jünglings. Berühmt wurde C. erst nach seinem Tod, genauer: durch sein frühzeitiges Sterben. 1757 hatte Friedrich Nicolais »Bibliothek der schönen Wissenschaften« einen Preis für das beste dt. Trauerspiel ausgesetzt u. C. seine schon in Leipzig begonnene, nach detaillierten Vorschlägen von Gellert u. Graf Brühl verbesserte Alexandrinertragödie Codrus anonym eingeschickt. Da Weiße u. Lessing mit ihren Dramen nicht rechtzeitig fertig wurden, siegte C. über den Freigeist von Joachim Wilhelm von Brawe. Der Preis wurde ihm allerdings erst zugesprochen, nachdem die Jury seinen Namen u. von seinem Tod erfahren hatte. Der nach den Regeln der frz. Tragödie abgefasste Codrus wurde 1758 im Anhang zum ersten u. zweiten Bands der »Bibliothek der schönen Wissenschaften« gedruckt (Einzeldr. Bln. 1760) u. trotz Lessings bösem Wort vom Wettlauf der Hinkenden mit großem Erfolg in ganz Deutschland u. Wien aufgeführt, wobei der Umstand keine geringe Rolle spielte, dass die

Cronegk

Nachricht der Preisverleihung den jungen Autor nicht mehr erreicht hatte. C.s Ruhm als Dramatiker währte jedoch nur kurze Zeit. Als das Hamburger Nationaltheater 1767 mit seinem nachgelassenen Fragment Olint und Sophronia eröffnet wurde (ein christl. Märtyrerdrama in Alexandrinern, der 5. Akt wurde von dem Wiener Cassian Anton von Roschmann-Hörburg ergänzt), war es v. a. Lessings ausführliche, scharfe, jedoch gerechte Kritik in der »Hamburgischen Dramaturgie«, die eine Übernahme durch andere Bühnen verhinderte. Schon 1766 war das ebenfalls postum veröffentlichte rührende Lustspiel Der Mißtrauische durchgefallen. Bedeutsam für C.s Nachruhm wurde eine von der Familie geförderte, vom befreundeten Ansbacher Johann Peter Uz herausgegebene Prachtausgabe seiner Schriften (2 Bde., Lpz. 1760/61 u. ö.), die im ersten Band alle Schauspiele u. Dramenfragmente zusammenfasste. Wichtiger ist der zweite Band, der die Versdichtungen enthält. Hier stehen ernste u. geistl. Gesänge unverbunden neben galanten Tändeleien u. Rokokoscherzen (nur von Uz in zwei »Bücher« getrennt): dort Hymnen an Gott, Christus, Klagen einer reumütigen Seele u. Kirchenlieder, Oden auf Krieg u. Frieden, Lob des Landlebens, der Ruhe, der Weisheit; hier anakreont. Scherze, Carpe diem, Lieder auf Bacchus u. Amor. Teils in Reimen mit Refrain, teils in antiken Metren, teils in ungereimten dreihebigen Jamben oder vierhebigen Trochäen abgefasst, ist C.s Lyrik von erstaunlichem Formenreichtum. Am längsten hat C.s moralphilosophische u. christl. Lehrdichtung nachgewirkt. Neun Episteln in Alexandrinern folgen zwar noch weitgehend Vergil, Horaz, v. a. Haller u. dem jungen Wieland, doch zeigen sich schon hier elegische Züge, die als individueller Ausdruck einer empfindsamen Seele verstanden werden konnten. Namentlich in der Epistel An sich selbst, eine religiös-moral. Selbstprüfung, u. in dem in Prosa gefassten Gebet Am Tage meiner Geburt, in dem der 25-Jährige um Vergebung seiner Sünden u. Aufnahme ins himml. Reich bittet, glaubten die Zeitgenossen echte christl. Gesinnung zu erblicken, die

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sich (laut Uz) auf C.s Sterbebett bestätigt [...] in Entwicklungsreihen. Aufklärung. Bd. 7. Hg Fritz Brüggemann u. Helmut Paustian. Lpz. 1935. hatte. Am berühmtesten wurden die Einsamkeiten, Neudr. Darmst. 1966. – Der Mißtrauische. Text u. die C. zweimal besungen hat. Der Entwurf zu Materialien zur Interpr. bes. v. Sabine Roth. Bln. 1969. – Szenar zum ›Codrus‹. In: Das Breslauer den in alexandrin. Reimpaaren verfassten Schultheater im 17. u. 18. Jh. Einladungsschr.en zu Einsamkeiten in sechs Gesängen entstand schon den Schulactus u. Szenare zu den Aufführungen 1752: Ein widriges Geschick hat den Dichter ›förmlicher Comödien‹ an den protestant. Gymnavon dem unersetzl. Freund »Alcipp« u. der sien. Hg. u. eingel. v. Konrad Gajek. Tüb. 1994, geliebten »Zemire« getrennt. Er gibt sich nun S. 249–252. – Des Freyherrn J. F. v. C. Schr.en. 2 in ländl. Umgebung (locus terribilis) dem Bde. Die Ausg. v. Johann Peter Uz ergänzend neu Trennungsschmerz u. wehmütigen Erinne- hg. v. Werner Gundel. 7., verm. Aufl. Ansbach rungen hin. In 100 Variationen wird die Lo- 2003. Literatur: Henriette Feuerbach: Johann Peter gik der Empfindsamkeit vorgeführt: »Alcipp, rührt dich ein Schmerz, so mußt du ihn nicht Uz u. J. F. v. C. Zwei fränk. Dichter aus dem vorigen scheuen; / [...] Nein! bleib in dich versenkt Jh. Ein biogr. Versuch. Lpz. 1866. – Walther Genund fühle deinen Schmerz: / Je zärtlicher es sel: J. F. v. C. Sein Leben u. seine Schr. Lpz. 1894. Neudr. Ann Arbor 1980 u. ö. – Frels, S. 52. – Harold fühlt, je größer ist ein Herz.« Wehmütige Potter: J. F. v. C. Diss. Zürich 1950. – Adalbert ElTränen fließen in Strömen, die ganze Natur schenbroich: C. In: NDB. – Klaus Briegleb: Zu J. F. trauert. Sehnsucht nach dem Tod durchzieht v. C.s Lyrik. Mit einem Neudr. aus der moral. Wodas Gedicht. Am Ende steht jedoch trotzdem chenschr. ›Der Freund‹ (1754). In: Unterscheidung die Hoffnung auf ein mögl. Wiedersehen. u. Bewahrung. FS Hermann Kunisch. Hg. Klaus Äußerer Anlass zu den zweiten Einsamkei- Lazarowicz u. Wolfgang Kron. Bln. 1961, S. 46–62. ten in zween Gesängen (Zürich 1757) soll der – Sabine Roth: Die Dramen J. F. C.s. Diss. Ffm. Tod der Mutter C.s (5.3.1757) gewesen sein, 1964. – Dies.: J. F. v. C.s ›Olint u. Sophronia‹. In: Jb. dessen jedoch an keiner Stelle des Gedichts des Wiener Goethe-Vereins 71 (1967), S. 5–34. – Leif Ludwig Albertsen: Das Lehrgedicht. Aarhus gedacht wird. Fiktiver Anlass ist diesmal der 1967. – S. Roth: J. F. v. C.s Trauersp. Codrus. In: Jb. Tod einer geliebten »Serena«, die dem Dich- des Wiener Goethe-Vereins 77 (1973), S. 23–43. – ter als Vision erscheint. Todessehnsucht u. Alison Scott: ›Kerl, du bist toll!‹. The Servant in Todesahnung beherrschen dieses Gedicht Enlightenment Comedy. In: Seminar. A Journal of vollkommen, das ganz in der Tradition der Germanic Studies 12 (1976), S. 199–214. – RaiNachtgedanken Edward Youngs (1742–45) so- mund Neuß: Tugend u. Toleranz. Die Krise der wie eines missverstandenen Klopstock steht. Gattung Märtyrerdrama im 18. Jh. Bonn 1989, Diese zweiten Einsamkeiten wurden in holp- S. 117–188. – Hans-Georg Kemper: Dt. Lyrik der rigen Hexametern geschrieben, die eine frühen Neuzeit. Bd. 6/1: Empfindsamkeit, Tüb. Überfülle von Gedankenstrichen zerreißt. 1997. Alfred Anger / Red. Dieses Gedicht wurde von keinem krit. Freund verbessert. Wehmütige EinsamkeitsCroner, Else, * 4.5.1878 Beuthen, † 20.12. klagen wie auch eine zweifelnde Seele, Me1940. – Pädagogin; Verfasserin von Rolancholie u. Todessehnsucht sind Hauptmomanen u. Aufsätzen zur Frauenbildung; tive der Empfindsamkeit. Unbeherrschte Märchenerzählerin. Syntax, stolpernde Metrik, wirre Motivsprünge, die einem Lessing als sprachl. Un- Wie bei vielen schreibenden Frauen des ausvermögen erscheinen mussten, deutete der gehenden 19. Jh. begann auch C.s berufl. Empfindsame als Zeichen unmittelbaren Ge- Ausbildung in einem Lehrerinnenseminar. 1896 legte die Tochter eines Geheimen Jusfühlsausdrucks. Weiteres Werk: Blüthen des Geistes des Frhrn. tizrats ihr Examen ab; anschließend studierte v. C. in zweyen v. seinen bisher nie gedr. Schr.en. sie 1897–1900 Philosophie, Literaturgeschichte u. Germanistik in Breslau u. arbeiStraßb. 1775. Ausgaben: Olint u. Sophronia. Ein Trauersp. In: tete nach ihrer Heirat als Dozentin an der Lessings Jugendfreunde. Hg. Jakob Minor. Bln./ Humboldt-Hochschule in Berlin. Ihre erste Stgt. 1883, S. 137–199. – Gedichtausw. in: Dt. Lit. Veröffentlichung war eine Studie zu Fontanes

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Frauengestalten (Bln. 1906). Später zog sie nach Flammersfeld/Westerwald. C.s u. a. in der »Deutschen Romanzeitung«, einer »Wochenschrift für Unterhaltung, Familie und Kultur«, in Berlin erschienene Fortsetzungsromane sind in Stoff u. Erzählweise ganz dem 19. Jh. verpflichtet: Prinzeß Irmgard (Bln. 1916) beschreibt die Läuterung einer verwöhnten, verarmten Prinzessin, die als Lehrerin in einer kleinstädt. höheren Mädchenschule die tradierte gesellschaftl. Rolle der Frau erkennt u. annimmt. Der Konflikt zwischen Widerstand u. Anpassung wird als persönlicher, moral. Entwicklungsprozess hin zur Akzeptanz vorgegebener Weiblichkeitsmuster dargestellt. Ob in ihren Romanen oder den zahlreichen Büchern zur »Lebenshilfe« (Wege zum Glück. Ein Führer zur Lebensweisheit. Bln. 1928. Herz-Trost für Trauernde. Pfullingen 1931) – C. gestaltet u. beschreibt vornehmlich die Problematik weibl. Identitätsbildung. Im Mittelpunkt stehen immer wieder Fragen der Sittlichkeit, der Charakterbildung u. der weibl. Psyche, wie sie beispielhaft in ihrer Schrift Die Frauenseele in den Übergangsjahren (Langensalza 1928) entfaltet werden. Die pädagogisch-psycholog. Ausrichtung ihres Schreibens bezeugt auch C.s Arbeit über den großen Volkserzieher Eduard Spranger. Persönlichkeit und Werk (Bln. 1933). Weitere Werke: Romane: Die Büste. Bln. 1916. – Der Herr Direktor. Bln. 1917. – Der Herr Handelskammersyndikus. Dresden 1926. – Märchen: Der Schutzengel u. 15 andere Bildermärchen, den schönsten Meisterbildern dt. Gemäldeslg.en nacherzählt. Bln. 1929. Literatur: Petra Budke u. Jutta Schulze (Hg): Schriftstellerinnen in Berlin 1871 bis 1945. Recklinghausen 1995. Sabine Geese / Red.

Crotus Rubeanus, Johannes, J. C. Rubianus, auch: Dornheim, Venator, -toris, -torius, eigentl.: Jäger, * um 1480 Dornheim bei Arnstadt/Thüringen, † um 1545 (?) Halberstadt (?). – Humanistischer Satiriker, katholischer Theologe. Aus bäuerlicher Familie stammend, immatrikulierte sich C. im Sommersemester 1498 an der Universität Erfurt, wo er 1500 Bac-

Crotus Rubeanus

calaureus wurde. 1501 lernte er Martin Luther kennen. Zus. mit Ulrich von Hutten, mit dem er bereits 1503 Freundschaft geschlossen hatte, studierte er im Wintersemester 1505/ 06 in Köln. Nach Erfurt zurückgekehrt, wurde C. 1507 Magister artium. Als Mitgl. des Humanistenkreises um Mutianus Rufus stand er bes. Eobanus Hessus nahe. Für dessen Preisgedicht auf die Universität Erfurt De laudibus et praeconiis [...] gymnasii litteratorii apud Erphordiam (Erfurt 1507) schrieb er das Titelepigramm (Ioannes Dornheim Venatorius ad lectorem, 6 Distichen). Auch für Eobanus’ Bucolicon (Erfurt 1509) steuerte er ein Geleitgedicht bei (Salillum Croti Rubiani, 13 Distichen). Hier benutzt C. erstmals öffentlich seinen endgültigen Humanistennamen (Crotus = das Sternbild Sagittarius, der Schütze; Rubianus = aus Dornheim). C., ab 1506 nebenbei Erzieher der Grafen Georg u. Berthold von Henneberg, leitete seit dem Herbst 1510 die Stiftsschule der Reichsabtei Fulda. 1513/14 wurde er zum Priester gesalbt, was er jedoch bald wieder bereute. Von Eobanus Hessus u. anderen Freunden angeregt, schrieb er im Frühling 1515 den Löwenanteil der Dunkelmännerbriefe [1. Teil: Hagenau, Okt. 1515] (Weiteres im Art. Epistolae obscurorum virorum). In demselben mimet. Stil verfasst ist die anonym erschienene Oratio haec est funebris in laudem Ioannis Cerdonis, eine fingierte Leichenpredigt auf »Magister noster« Cerdonis [Mainz 1518]. Von den vielen C. zugeschriebenen Satiren ist nur diese ihm mit Sicherheit zuzuweisen. Die Rede ist angeblich von Grillus Porcarius (»Schweinzikade«) u. Ioannes Dormisecure (»Johannes Schlafgut«) ediert u. mit deren Widmungschreiben an Petrus Tardesurgerius (»Peter Spätaufsteher«) versehen. Eine Reihe barbarischer Epigramme beschließt dieses »Vademecum« für Dunkelmänner. Im Herbst 1516 verließ C. Fulda. Nach Aufenthalten in Mainz u. Bamberg reiste er im folgenden Frühjahr als Praeceptor der Gebrüder Andreas u. Jakob Fuchs nach Bologna. Dort promovierte er 1519 zum Dr. theol. Von Luthers Schriften beeindruckt, kehrte C. im Frühjahr 1520 aus Italien zurück. Vorerst verblieb er in Bamberg, wo ihn

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Hutten besuchte. Im Aug. war er in Fulda. Jh. Elberfeld 1875, Nr. 4, 7, 13 (an Johannes Heß). – Mit einem Brief Huttens an Wolfgang Capito Carl Krause (Hg.): Epistolae aliquot selectae viro(28.8.1520) begab er sich hierauf nach Mainz. rum doctorum Martino Luthero aequalium. Zerbst Mitte Okt. reiste er nach Erfurt, um die vielen 1883, Nr. 11 (an Johannes Lang). – Epigramme: Harry Vredeveld (Hg.): The Poetic Works of Helius dortigen Freunde aufzusuchen. Zwei Tage Eobanus Hessus. Bd. 1, Tempe 2004, S. 140, nach seiner Ankunft wurde er da am 374–376. 18.10.1520 überraschend zum Rektor geLiteratur: Gustav C. Knod: C. R. In: Dt. Stuwählt. Als Universitätsrektor u. Professor der denten in Bologna (1289–1562). Bln. 1899, Theologie empfing er am 6.4.1521 feierlich S. 463–464. – Walther Brecht: Die Verf. der Episden nach Worms reisenden Luther. Die dar- tolae [...]. Straßb. 1904. – Paul Kalkoff: Humanisauf folgenden Studentenunruhen, die in das mus u. Reformation in Erfurt. Halle 1926. – Ders.: Pfaffenstürmen vom 10. bis 12. Juni gipfel- Die C.-Legende u. die dt. Triaden. In: ARG 23 ten, erbitterten ihn jedoch u. veranlassten (1926), S. 113–149. – Heinrich Grimm: C. R. In: NDB. – Kurt Forstreuter: J. C. R. in Preußen. In: FS ihn, sofort nach Fulda zurückzukehren. Ab 1524 stand C. im Dienst Albrechts von Hermann Heimpel. Gött. 1972, Bd. 2, S. 293–312. – Universitas studii Erffordensis. Preußen in Königsberg; von 1526 bis 1530 Erich Kleineidam: Bd. 2, Lpz. 21992, S. 251–264. – Eckhard Bernstein: wirkte er als Rat des nun zum ProtestantisDer Erfurter Humanistenkreis am Schnittpunkt v. mus übergetretenen Herzogs. 1531 wandte er Humanismus u. Reformation. Das Rektoratsblatt sich wieder der alten Kirche zu, »darinne ich des C. R. In: Pirckheimer-Jb. 12 (1997), S. 137–165. getauft, erzogen und gelernet wäre.« Er trat – Gerlinde Huber-Rebenich: C. R. In: VL Dt. Hum. in den Dienst des Kardinal-Erzbischofs AlHarry Vredeveld brecht von Magdeburg u. Mainz u. wurde Kanonikus an der neuen Stiftskirche in Halle. Cruciger, Elisabeth ! Creutziger, ElisaIm Aufrag Albrechts veröffentlichte er gegen beth die luth. Lehren eine Apologia qua respondetur temeritati calumniatorum (Lpz. 1531). Von den Crüger, Krüger, Johannes, * 9.4.1598 Großalten Freunden blieb nur Eobanus Hessus Breesen bei Guben/Niederlausitz, † 23.2. ihm treu; noch 1536 gedenkt er C. mit 1662 Berlin. – Kantor, Komponist, MuWohlwollen (Sylvae 7.5). Luther aber besiktheoretiker u. Gesangbuchherausgeschimpfte ihn als »des Kardinals zu Mainz ber. Tellerlecker, Doktor Kröte genannt« u. veranlasste C.’ ehemaligen Fuldaer Schüler Jus- Der Sohn eines wohlhabenden Gastwirts u. tus Menius, anonym eine Responsio zu dessen einer Pfarrerstochter ging 1613 auf eine ausApologia zu schreiben (1532). Menius’ Schrift gedehnte Schulwanderung, im Sommerseenthüllt C. als Verfasser der Epistolae obscuro- mester 1614 wurde er als noch Minderjährirum virorum. Um 1537 siedelte C. als Domherr ger (»non iuravit«) in die Matrikel der Uninach Halberstadt über. Über sein weiteres versität Frankfurt/O. aufgenommen. Noch im selben Jahr wandte er sich nach Regensburg, Leben ist nichts Sicheres bekannt. Ausgaben: Aloys Bömer (Hg.): Epistolae obscu- wo er für ein Jahr das Gymnasium poeticum rorum virorum. 2 Bde., Heidelb. 1924. Neudr. Aa- besuchte. Ab 1615 arbeitete C. als Hauslehrer len 1978. – Oratio haec est funebris in laudem Io- bei Christoph von Blumenthal in Berlin, wo annis Cerdonis quam nominavimus Vade mecum 1619 u. 1620 zwei achtstimmige Hochzeits[Mainz: Peter Schöffer d.J., 1518]. Neudr. in: gesänge im Druck erschienen. Ab Okt. 1620 Eduard Böcking (Hg.): Ulrichi Hutteni Operum studierte er in Wittenberg Theologie. Im Juli supplementum, Bd. 1, Lpz. 1864, S. 451–460. – 1622 wurde C. als Kantor der luth. NikolaiBriefe: E. Böcking (Hg.): Ulrichi Hutteni Opera. kirche u. Lehrer am Grauen Kloster nach Bd. 1, Lpz. 1859, Nr. 8, 14, 84, 140, 160, 207. – Karl Berlin berufen. Gillert (Hg.): Der Briefw. des Conradus Mutianus. C.s musiktheoret. Schriften, seine Praecepta Halle 1890, Nr. 118, 119, 260–262, 267, 507, 581, musicae practicae figuralis u. sein Kurtzer und 614. – Luthers Briefw. Bd. 1, Nr. 213, 214; Bd. 2, Nr. 281, 358. – Karl u. Wilhelm Krafft (Hg.): Briefe verstendtlicher Unterricht, recht und leichtlich sinu. Documente aus der Zeit der Reformation im 16. gen zu lernen (beide Bln. 1625) sowie die

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Ausgaben: Paradisus musicus. Musical. LustQuaestiones musicae practicae (Bln. 1650) u. die Musicae practicae praecepta (Bln. 1660) sind gärtelein [...]. Bln. 1622. Neudr. in: Hoffmeister. – Elementarlehren vornehmlich für den schul. Acht dt. Magnificats (= Meditationum musicarum Gesangsunterricht. Seine Synopsis musica (Bln. paradisus secundus, oder Ander musical. LustGärtlein, neuer dt. Magnificat [...]. Bln. 1626). Hg. 1630. 21654) ist eine Kompositionslehre, die, Alexander Steinhilber. Bln. 2000. – Musicae pracobzwar weitgehend aus Vorgängerschriften ticae praecepta brevia. Der rechte Weg zur Singekompiliert, durch ihre Herausstellung von kunst (Bln. 1660). In: Dt. Gesangstraktate des 17. Dur-Moll-Tonalität, Dreiklangsharmonik u. Jh.: Daniel Friderici, Johann Andreas Herbst, J. C. Affektenlehre geschichtlich von Bedeutung Hg. Florian Grampp. Kassel 2006. ist. Literatur: Elisabeth Fischer-Krückeberg: J. C. Das kunstvoll polyfone Schaffen tritt bei C. als Musiktheoretiker. In: Ztschr. für Musikwiss. 12 in den Hintergrund. Zu nennen sind nur der (1929). – Otto Brodde: J. C. Sein Weg u. sein Werk. zweiteilige Meditationum musicarum paradisus Lpz. 1936. – Otto Michaelis: J. C., Paul Gerhardts (Bln. 1622 u. 1626) u. die Laudes dei vespertinae Wegbereiter. Zur Erinnerung an C.s 1647 erschienenes Werk ›Praxis pietatis melica‹. Bln. 1947. – (Bln. 1645). Am bedeutendsten war C. zweifellos auf Hans Heinrich Eggebrecht: C. In: NDB. – Walter Blankenburg in: MGG II, Sp. 1799–1814. – Joachim dem Gebiet des evang. Kirchenlieds (vgl. Hoffmeister: Der Kantor zu St. Nikolai. BeschreiEKG). Im Mittelpunkt steht hier die auf Ver- bung des Lebens v. J. C. [...]. Bln. 1964. – Christian anlassung der Kurfürstin Luise Henriette von Brunners: C. In: TRE. – Ders.: Philipp Jakob Spener ihm besorgte Gesangbuchausgabe Praxis pie- u. J. C. Ein Beitr. zur Hymnologie des Pietismus. In: tatis melica (Bln. 1647 als 2. Aufl. von: Newes Theolog. Versuche 14 (1985), S. 105–130. – Werner vollkömliches Gesangbuch, Augspurgischer Confes- Braun: Dt. Musiktheorie des 15. bis 17. Jh. Von sion. Bln. 1640), die, unter beständiger in- Calvisius bis Mattheson (= Gesch. der Musiktheorie. haltl. Veränderung, bis ins 18. Jh. hinein Bd. 8/2). Darmst. 1994, passim. – J. C. 1598–1998. mehr als 40 Auflagen erfuhr. Die Melodien FS zu seinem 400. Geburtstag. Hg. v. der evang. sind hier erstmals durchgängig mit General- Kirchengemeinde zu Guben. Guben 1998. – C. Bunners: Der Berliner Musiker J. C. (1598–1662). bass versehen, bestimmt zur Begleitung Seine Wege, Werke u. Wirkungen im europ. Zudurch den Organisten u. für die häusl. An- sammenhang. In: Jb. für Berlin-Brandenb. Kirdacht. In seinen rd. 70 neuen Choralmelodien chengesch. 62 (1999), S. 63–75. – Christoph Alwusste C. Volkstümlichkeit u. Erbaulichkeit, brecht in: RGG 4. Aufl. Bd. 2, Sp. 501 f. – Wolfgang Affektdarstellung u. sinnvolle Textdeklama- Herbst: Wann starb J. C.? Zur Gesch. eines Irrtums. tion gültigst miteinander zu verbinden. Als In: Forum Kirchenmusik 51 (2000), S. 18–19. – Dichter bevorzugte er Johann Heermann, Jo- Noack/Splett 1, S. 103–117 (mit Werkverz.). – C. hann Rist, Johann Franck u. v. a. Paul Ger- Brunners in: MGG 2. Aufl. Bd. 5, Sp. 140–148. – hardt, der ab 1657 Diakon an der Berliner George J. Buelow in: The New Grove 2. Aufl. Bd. 5, Nikolaikirche war. Nachdem C.s Lieder nach S. 735–737. – Judith P. Aikin: The ›Vaterunser‹ in all shapes and sizes: a poetical-musical-devotional 1660 anderen, hauptsächlich pietist. Geexercise in the works of J. C. and Caspar Stieler. In: schmacksrichtungen hatten weichen müssen, Gebetslit. der frühen Neuzeit als Hausfrömmiggehören zu den heute wieder bekannten keit. Funktionen u. Formen in Dtschld. u. den Melodien Herzliebster Jesu, was hast du verbro- Niederlanden. Hg. Ferdinand van Ingen u. Cornelia chen (Heermann), Jesu, meine Freude (Franck) u. Niekus Moore. Wiesb. 2001, S. 207–226. Lobet den Herren, alle die ihn ehren (Gerhardt). Hans Heinrich Eggebrecht † / Red. Zu den mehrstimmigen Bearbeitungen von Kirchenliedsammlungen für vier Stimmen, Cruselius, Salomon, auch: Küsel(ius) u. a., zwei oder drei konzertierende Instrumente u. * um 1565 Quenstedt/Sachsen-Anhalt, Generalbass gehören v. a. die Geistlichen Kir† nach 1637. – Neulateinischer Dichter. chen-Melodeien (Lpz. 1649) mit dem Repertoire der Praxis pietatis melica u. die zweiteilige Nach seiner Immatrikulation in Wittenberg Psalmodia sacra (Bln. 1657 u. 1658), deren 1584 u. vor der in Tübingen 1591 begab sich zweitem Teil die Psalmentexte von Ambro- C. auf eine Italienreise. 1594 war er in Witsius Lobwasser zugrunde liegen. tenberg, 1595 in Jena als studiosus juris ein-

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geschrieben. Um 1600 ist er als Gerichtsbeamter in Weimar nachweisbar. C. verfasste neben Arbeiten zur geograf. Namenskunde lat. Dichtungen. Die seit Celtis im dt. Kulturraum beliebte lat. poetische Reisebeschreibung bereicherte er durch die Aufnahme abenteuerlicher Elemente aus der volkssprachl. Reiseliteratur. Sein Romreisegedicht Iter Romanum, in der ersten Auflage (Tüb. 1591) noch ganz den Darstellungsmustern der Bildungsreisegedichte im Stil von Georg Fabricius’ Itinerum liber verpflichtet, wird in späteren Auflagen seit 1602 zu einem poet. »Türkenfahrtbericht«. C.’ konfessionelle Stellung als Lutheraner, zunächst noch in massiver Polemik sichtbar, zeigt sich in den späteren, ganz umgearbeiteten u. wesentlich reizvolleren Ausgaben auch in indirekter Charakteristik der röm. Kirche im Spiegel des Fehlverhaltens ihrer Repräsentanten. Eine breite Palette der Formen u. Gattungen späthumanistischer Dichtung weist die Sammelausgabe der poet. Produktion der »Nebenstunden«, Horarum Succisivarum libellus (o. O. 1625. Schleusingen 2 1635), auf: Neben Gelegenheitsdichtungen finden sich hier poet. Paraphrasen lutherischer Gebete u. Lieder sowie Fabeln u. Schwänke als Iocoseria. Weitere Werke: (Auswahl): Regionum quarundam & Insularum [...] nomina. Weimar 1626. Erw. als ›Dictionariolum Geographicum‹. Weimar 1637. – Onomasticum Geographicum Syriae. Jena 1628. Literatur: P. E. Richter: C. In: ADB 51, S. 453–455. – Hermann Wiegand: Hodoeporica. Baden-Baden 1984. – Walther Ludwig: Die abenteuerl. Reise des S. Küsel alias C. u. ihre poet. Verarbeitungen. In: Humanistica Lovaniensia. Journal of Neo-Latin Studies 53 (2004), S. 263–298. Hermann Wiegand

Crusius, Balthasar, eigentl.: B. Krause, * um 1550 Werdau bei Zwickau, begraben 26.3.1630 Chemnitz; Grabstätte: ebd., St. Jakobi-Friedhof. – Lyriker u. Dramatiker. Der Sohn von Wolf Krause besuchte 1568–1575 die Fürstenschule in Grimma, dann die Universität Tübingen, wo er als Hofmeister für die Brüder Heinrich u. Hildebrandt von Einsiedel auch Poesie- u.

Theologiestudien betrieb. Zu seinen Professoren in Tübingen u. Leipzig gehörten Martin Crusius u. Johann Albinus. Dank seines Jugendfreundes Busso Clamer von Alvensleben konnte C. 1585 das Amt des Rektors in Gardelegen übernehmen. Schon zwei Jahre später folgte er einem Ruf nach Chemnitz, wo er zehn Jahre blieb, um dann 1597 für kurze Zeit als Schulrektor nach Schneeberg zu gehen. Er betätigte sich auch als Lehrer u. Pfarrer in Syhra bei Kohren, Bockau u. Auerbach bei Zwickau, bis er 1611 wegen seiner unorthodoxen religiösen Ansichten gezwungen wurde, beide Ämter niederzulegen. Die letzten Lebensjahre verbrachte C. in Kohren u. Chemnitz. Neben zahlreichen Gelegenheitsgedichten schrieb er drei Kirchenliedsammlungen (Praecipuorum anni festorum hymni ecclesiastici latini graeco carmine redditi et melodijs quatuor vocum accommodati [...]. Lpz. 1591. Introitus sive cantica, quibus sacra in ecclesia inchoari solent [...]. Praemissa est menologia ecclesiastica perpetua, ostendens festa tam mobilia, quam stata [...]. Lpz. 1618. Cantica novi testamenti, quae in ecclesia fere quotidie matutinis et vespertinis sacris adhiberi solent [...]. Lpz. 1619), eine dramentheoret. Abhandlung (De dramatibus, tractatus brevis et necessarius. Altenburg 1609) sowie vier geistl. Schuldramen: Tobias comoedia sacra et nova (Lpz. 1585. 1605), Iuditha (Lpz. 1585 [?], verschollen), Exodus tragoedoa sacra et nova (Lpz. 1605) u. Paulus naufragus tragoedia sacra et nova (Altenburg 1609). Den aktuellen Konflikt zwischen Kaisertum u. Papsttum schildert das von C. in dt. Knittelversen verfasste Theaterstück Tragoedia nova, von eim gedenckwirdigen Venedischen Vertrage, zwischen Keyser Friderich dem Ersten, und Pabst Alexander dem Dritten (Altenburg 1607). Durch sein fast pedantisches Bestehen auf den klass. Einheiten der Zeit u. des Ortes hebt sich der kaisertreue C. von seinen Zeitgenossen ab. Seinen Stücken fehlt nahezu jedes Gespür für das Dramatische. Viele Einschübe u. Wiederholungen lockern die Struktur allzusehr auf; die Dialogführung wirkt unecht, u. Konflikte werden abgeschwächt. Weitere Werke: Kurtze u. tröstl. Erinnerung von Gottes Wolthaten [...]. Lpz. 1601. – Iesu Christi veri dei, verique hominis, regis regum et vindicis

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513 nostri triumphus, carmine heroico descriptus. Lpz. 1601.

die verstreute lyr. Produktion (Epigramme, Kasualgedichte).

Literatur: VD 16, A 204, C 6088, 6089, E 1596, ZV 4134, 4135, 17977, 20489. – Weitere Titel: Wilhelm Scherer: C. In: ADB. – Robert J. Alexander: B. C. (1550?-1630). Zu seinem Leben u. einem unbekannten Drama. In: Wolfenbütteler Barocknachrichten 7 (1980), S. 106–112. – Reimund B. Sdzuj: Adiaphorie u. Kunst. Tüb. 2005, S. 224 f.

Literatur: Wilhelm Scherer: J. P. C. In: ADB. – Werner Westphal: C. In: NDA. – Flood, Poets Laureate, Bd. 1, S. 388–390. – Vgl. auch die Lit. zu Caspar Brülow. Wilhelm Kühlmann

Crusius, Martin, * 19.9.1526 Walkersbrunn/Oberfranken, † 14.2.1607 Tübingen; Grabstätte: ebd., Stiftskirche. – PhiCrusius, Johannes Paul(us), * 19.2.1588 lologe. Straßburg, † 25.10.1629 Straßburg. – C. wurde als Sohn von Martin Kraus, einem Autor von Dramen für das Straßburger protestant. Pfarrer (u. vormaligem kath. Schultheater. Robert J. Alexander / Red.

Als Sohn des Straßburger Diakons Paul Crusius verlebte C. seine Jugendjahre u. die erste Zeit seines Studiums in der Heimatstadt (Baccalaureus 1604). Den Magistertitel erwarb er in Jena (1606). Wieder in Straßburg, studierte er Rechtswissenschaften (ohne Abschluss) u. reiste dann mit einem Adligen (Johann Stephan von Auersberg) nach Frankreich (1612). Zurückgekehrt (1613), wurde er in Straßburg zum Gymnasiallehrer ernannt, 1616 zum Poeten gekrönt. Als Nachfolger von Caspar Brülow wurde er 1627 Professor für Poesie. Mit zwei Dramen trug C. zum Repertoire des Straßburger Schultheaters bei. Sein Croesus (aufgef. 1611. Dt. v. Isaac Fröreisen. Straßb. 1617) zeigt exemplarisch den Sturz eines mächtigen Königs vom Glück ins Unglück. Vorgebildet wird hier ein typisches Handlungsmodell des barocken Trauerspiels u. des Jesuitentheaters. Auf einen bibl. Stoff (2. Makkabäer, Kap. 3) griff C. in seinem Heliodorus zurück (aufgef. 1617). Er folgte dabei einem Hinweis Melanchthons auf die »varietas consiliorum, occasionum, eventuum et affectuum« (Vielfalt der Absichten, Anlässe, Ereignisse u. Affekte) der Quelle. C. gliederte das Geschehen in Haupt- u. Nebenhandlungen, erzählende u. deutende Szenenfolgen. Komische Einlagen, allegor. Figuren u. zeichenhafte Requisiten machten aus dem humanist. Wortdrama ein sinnenfreudiges Spektakelstück. Wie auch zu anderen Textvorlagen des Straßburger Schultheaters fehlen detaillierte Forschungen. Unbeachtet blieb auch bisher

Priester), geboren. Er besuchte 1540–1545 die Lateinschule in Ulm. 1545–1551 studierte er an dem von Jakob Sturm geleiteten Gymnasium in Straßburg die Artes Liberales, die lat. u. insbes. auch die griech. Sprache; außerdem lernte er Hebräisch, Italienisch u. Französisch. 1552–1554 war er dort als Lehrer tätig. Vom Frühjahr 1554 bis zum Sommer 1559 war er Rektor der Lateinschule in Memmingen. Vom Aug. 1559 bis zu seinem Tode war er an der Universität Tübingen Professor für Alte Sprachen. Von 1564 an las er zusätzlich auch Rhetorik. Im Laufe seiner 3712 Jahre währenden Professur bekleidete er fünfmal das Amt des Dekans der Artistenfakultät. C. ist einer der wichtigsten Vertreter des griech. Humanismus in Deutschland u. der erste dt. Philhellene. Er verfügte über hervorragende Kenntnisse der griech. Sprache. Davon zeugen nicht nur seine Kommentare zu antiken griech. Texten, seine viel beachteten Vorlesungen über Homer, seine Poemata Graeca (Basel 1566/67) u. seine oftmals gedruckte griech.-lat. Grammatik, sondern auch die 6588 Predigten, die er während 42 Jahren in der Tübinger Stiftskirche resümierend zunächst (1562/63) auf Lateinisch, dann stets auf Griechisch simultan mitgeschrieben hat. C. war auch Verfasser zahlreicher Gelegenheitsgedichte u. einer lat. Grammatik; außerdem war er Herausgeber der Grammatiku. Rhetoriklehrbücher Melanchthons. Einer seiner bekanntesten Schüler war der Philologe u. Dichter Nikodemus Frischlin, mit dem er sich um 1578 wegen verschiedener Auffassungen zur griech. Grammatik u. persönl.

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Animositäten völlig überwarf u. bis zu dessen ger. Tüb. 1958; Bd. 4: Gesamtregister. Bearb. v. E. Tod (1590) eine heftige, unerbittliche Fehde Staiger. Tüb. 1961. Literatur: Karl Klüpfel: M. C. In: ADB. – Hans führte. C. legte sich eine große Bibliothek zu, von Widmann: M. C. In: NDB. – Wilhelm Göz: M. C. u. der heute noch rd. 800 Drucke sowie zahl- das Bücherwesen seiner Zeit. In: ZfB 50 (1933), reiche lat. u. griech. Handschriften (davon S. 717–737. – Manfred Faust: Die Mehrsprachigkeit des Humanisten M. C. In: Homenaje a Antonio viele eigene) vorhanden sind. Die Drucke sind Tovar. Madrid 1972, S. 137–149. – Thomas Wiloft reich annotiert u. legen Zeugnis von seiner helmi: M. C. als Benützer griech. Hss. der Univerweitreichenden, gründl. Lektüre griech. sitätsbibl. Basel. In: Codices manuscripti 6 (1980), (auch spätantiker, byzantinischer u. neu- S. 25–40. – Dorothea Wendebourg: Reformation u. griech.) Texte u. auch Literatur aus vielen Orthodoxie. Der ökumen. Briefw. zwischen der anderen Wissensgebieten ab. Das zeitgenöss. Leitung der Württemberg. Kirche u. Patriarch JeGriechenland war für ihn von großem Inter- remias II. v. Konstantinopel in den Jahren 1573–81. esse. Er sammelte eifrig alle diesbezügl. In- Gött. 1986. – T. Wilhelmi: M. C., der erste dt. formationen u. ließ sich von Studenten u. Philhellene (1526–1607). ›Barbarograeca‹ in Tübingen. In: Mitt.en der Dt.-Griech. Vereinigung Flüchtlingen aus Griechenland auch mündl. bildender Künstler Tübingen 1 (1996/97), S. 3–9. – Bericht über die Sprache u. Kultur der Egidius Schmalzriedt: M. C. (1526–1607). In: 500 »Graecia hodierna« geben. 1573–1581 stan- Jahre Tübinger Rhetorik. 30 Jahre Rhetor. Seminar. den die Tübinger Theologen (insbes. der Hg. Joachim Knape. Tüb. 1997. – Walther Ludwig: Kanzler Jakob Andreae) im Auftrag des Her- M. C. u. das Studium des Griechischen im 16. Jh. zogs von Württemberg mit dem Patriarchat In: Humanist. Bildung 20 (1998), S. 1–13. – Ders.: in Konstantinopel in engem Kontakt. Der Hellas in Dtschld. Darstellungen der Gräzistik im Tübinger Theologe Stephan Gerlach wurde deutschsprachigen Raum aus dem 16. u. 17. Jh. für einige Jahre als Gesandtschaftsprediger Gött. 1998. – T. Wilhelmi: Die griech. Hss. der Universitätsbibl. Tübingen. Sonderbd.: M. C. nach Konstantinopel zu Patriarch Jeremias II. Handschriftenverz. u. Bibl. Wiesb. 2001 (enth. u. a. geschickt. C. war an diesen Kontakten stets Verz. der griech. Predigten, Verz. der Hss., Primärbeteiligt. Er berichtete davon in seiner Turco- u. Sekundärbibliogr., Verz. der Bibl.). graecia (Basel 1584) u. der Germanograecia (BaThomas Wilhelmi sel 1585). Über 30 Jahre lang führte C. Tagebuch (überliefert in neun Bänden u. weiteren Auf- Csokor, Franz Theodor, * 6.9.1885 Wien, zeichnungen). Diese Diarien stellen eine † 5.1.1969 Wien; Ehrengrabstätte: ebd., wichtige Quelle für die Tübinger Universi- Zentralfriedhof. – Dramatiker, Erzähler täts- u. auch Stadtgeschichte dar. Sie enthal- u. Lyriker. ten auch viele Informationen über das alltägl. Leben, polit. Ereignisse, das Wetter u. vieles Der Sohn eines Veterinärmediziners u. andere mehr. Die Tagebücher der Jahre Hochschulprofessors studierte von 1905 an 1596–1605 sind veröffentlicht, diejenigen Kunstgeschichte u. Germanistik in Wien u. der ersten 20 Jahre jedoch noch nicht. Viele war 1913/14 Dramaturg der Ida-Orloffdieser Nachrichten finden sich indessen in Truppe in St. Petersburg. 1915 diente C. als der Germanograecia u. den Annales Suevici (Ffm. Soldat, ab 1916 arbeitete er im Pressebüro des 1595/96), die für die Gelehrten- u. Landes- k. u. k. Kriegsarchivs. 1922–1928 wirkte er als geschichte außerordentlich ergiebige Quellen Dramaturg am Raimundtheater u. am Deutschen Volkstheater in Wien. Nachdem C. darstellen. 1933 auf dem Kongress des Internationalen Ausgaben: Schwäb. Chronick [...]. Aus dem Lat. PEN-Clubs in Ragusa (Dubrovnik) öffentlich übers. [...] nebst einer Vorrede, dem Leben des Autoris [...] v. Johann Jacob Moser. Ffm. 1733 u. gegen die Verfolgung von Schriftstellern im 1738. – Diarium Martini Crusii. Bd. 1: 1596–97. Dritten Reich protestiert hatte, wurden seine Hg. Wilhelm Göz u. Ernst Conrad. Tüb. 1927; Werke in Deutschland verboten. Im März Bd. 2: 1598–99. Hg. dies. Tüb. 1931; Bd. 3: 1938 emigrierte C., der mit Egon Friedell, 1600–05. Hg. Reinhold Stahlecker u. Eugen Stai- Felix Braun, Ferdinand Bruckner, Ödön von

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Horváth u. Carl Zuckmayer befreundet war, aus Gewissensgründen u. kam über Polen, wo er sich als Übersetzer der Ungöttlichen Komödie von Zygmunt Krasin´ski (Urauff. Wien 1936) einen Namen gemacht hatte, Rumänien u. Jugoslawien 1944 nach Rom u. arbeitete dort für die BBC. 1946 kehrte C. nach Wien zurück. 1947 zum Präsidenten des Österreichischen PEN-Clubs, 1967 zum Vizepräsidenten des Internationalen PEN gewählt, spielte der »streitbare Humanist« (Otto Basil) eine wichtige Rolle im Nachkriegskulturbetrieb. C. erhielt u. a. 1926 u. 1953 den Preis der Stadt Wien, 1937 den Burgtheaterring u. den Grillparzer-Preis, 1951 den Professorentitel u. 1955 den Ehrenring der Stadt Wien sowie den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur. Der Erste Weltkrieg wurde für C. zum bestimmenden Erlebnis: An die Stelle seiner romantisch-balladesken Gedichte (Die Gewalten. Bln. 1912) tritt eine expressive Dichtung, in der C. (»verpflichtet zur dauernden Aussage«) leidenschaftlich für Freiheit u. Menschenwürde eintritt (Der Dolch und die Wunde. Wien 1918. 21920). Krieg, Gewaltherrschaft u. ihre Folgen für das Selbstverständnis des Einzelnen, die Spannung zwischen individueller u. kollektiver Verantwortung bleiben die Hauptthemen von C.s Werk; ebenso hält er an seinem überhöhten, kämpferischen Sprachgestus fest. Auch als Dramatiker begann C. im Zeichen des Expressionismus; das Künstlerdrama Die Sünde wider den Geist (Wien/Lpz. 1918. Urauff. Wien 1919) u. das Stationendrama Die rote Straße (Weimar 1918. Nachdr. Nendeln 1973. Urauff. Brünn 1921) mit ihren typisierten Gestalten u. dem Ineinander von realem u. irrealem Bühnengeschehen lassen Einflüsse Strindbergs u. Wedekinds erkennen. Es folgen viel gespielte Stücke, in denen C. soziale u. histor. Ereignisse humanistisch deutet: Gesellschaft der Menschenrechte (Bln./Wien/Lpz. 1929. Emsdetten [1957]. Urauff. Mchn. 1929) kreist um die Gestalt Georg Büchners. Besetztes Gebiet (Bln./Wien/Lpz. 1930. 2. durchges. Aufl. Wien/Hbg. 1967. Urauff. Mannh. 1930) behandelt den Ruhrkampf 1922/23 u. bildet den ersten Teil von C.s Europäischer Trilogie (Wien 1952. Engl. A critical edition and

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translation of Franz Theodor Csokor’s European trilogy. Hg. Katherine McHugh Lichliter. New York u. a. 1995). Sie wird fortgesetzt von seinem als österreichisches Nationaldrama u. »Requiem für Altösterreich« bezeichneten Hauptwerk Dritter November 1918. Ende der Armee Österreich-Ungarns (Wien 1936. 1993 u. ö. Urauff. Wien, Burgtheater 1937); an der konfliktreichen Auflösung einer Gruppe österr. Offiziere in einem Sanatorium hinter der Isonzofront führt C. symbolisch den Zerfall des habsburgischen Vielvölkerstaates vor. Die Idee des Opfertods verfolgt C. im dritten Teil, dem 1943 geschriebenen Partisanendrama Der verlorene Sohn (Wien 1947. Mchn. [1973?]. Tschechisch Ztraceny´ syn. Prag 1967). In der »Trilogie einer Weltwende« Olymp und Golgatha (Hbg. 1954) – sie enthält Kalypso (Wien 1946), Caesars Witwe (Wien 1954. Urauff. ebd. 1955) u. Pilatus (Wien 1954. Urauff. NWDR Köln 1952) – deutet C. den Wandel von der polytheist. Antike zur christl. Kultur. Die späten Stücke C.s stehen dem antiken Drama nahe u. beschäftigen sich exemplarisch mit eschatolog. u. ethischen Problemen (Hebt den Stein ab! Hbg./Wien 1957. Das Zeichen an der Wand. Hbg./Wien 1962). C., der auch Prosa, Essays, Hörspiele u. Übersetzungen verfasste u. als Herausgeber tätig war, steht als Dramatiker neben Ferdinand Bruckner u. Carl Zuckmayer. Vor 1938 ein bekannter Theaterautor, heute außerhalb seiner Heimat nahezu vergessen, gilt C. als wichtigster Vertreter des österr. Bühnenexpressionismus. Weitere Werke: Hildebrands Heimkehr. Mödling 1905 (D.). – Der große Kampf. Bln. 1915 (D.). – Der Baum der Erkenntnis. Wien 1919 (D.). – Schuß ins Geschäft. Der Fall Otto Eißler. Bln. 1925 (P.). – Ewiger Aufbruch. Lpz. 1926 (L.). – Ballade v. der Stadt. Wien 1928 (D.). – Die Weibermühle. Wien 1932 (D.). – Gewesene Menschen. Wien 1932 (D.). – Über die Schwelle. Lpz./Wien 1937 (E.en). – Gottes General. Bilthoven 1939 (D.). – Als Zivilist im poln. Krieg. Amsterd. 1940 (Autobiogr.). – Das schwarze Schiff. Jerusalem 1944. Wien 21947 (L.). – Als Zivilist im Balkankrieg. Wien 1947. Zus. mit ›Als Zivilist im poln. Krieg‹ u. d. T. ›Auf fremden Straßen 1939–45‹. Mchn./Wien/Basel 1955 (Autobiogr.). – Immer ist Anfang. Gedichte 1912–52. Innsbr. 1952. – Der Schlüssel zum Abgrund. Hbg./Wien 1955 (R.). – Der zweite Hahnenschrei. Hbg./Wien 1959

Cube

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(E.en). – Treibholz. Hbg./Wien 1959 (D.). – Zeuge einer Zeit. Briefe aus dem Exil 1933–50. Mchn./ Wien 1964. – Ein paar Schaufeln Erde. Mchn./Wien 1965 (E.en). – Die Kaiser zwischen den Zeiten. Wien 1965 (D.). – Alexander. Wien/Hbg. 1969 (D.). Literatur: Lilly Adler: Die dramat. Werke v. C. Diss. Wien 1950. – Paul Wimmer: Der Dramatiker C. Innsbr. 1981. – Brygida Brandys: C. Identität v. Leben u. Werk. Lódz´ 1988 (Acta Universitatis Lodziensis). – Harald Klauhs: F. T. C.: Leben u. Werk im Überblick. Stgt. 1988. – Lebensbilder eines Humanisten: ein F.-T.-C.-Buch. Hg. Ulrich N. Schulenburg. Wien u. a. 1992. – Lieder auf Gedichte v. F. T. C.: für tiefere Stimme u. Klavier. Hg. Karel Reiner. Wien [1995]. – F.-T.-C.-Symposion. Wien 1995. Ursula Weyrer / Red. /

Cube, Hellmut von, * 31.12.1907 Stuttgart, † 29.9.1979 München; Grabstätte: Tegernsee, Alter Friedhof. – Lyriker, Feuilletonist, Erzähler u. Hörspielautor. Der Sohn eines Arztes studierte nach dem Abitur Germanistik, brach sein Studium jedoch nach einigen Semestern ab u. lebte fortan als freier Schriftsteller. 1935 erschien im Berliner Fischer Verlag seine erste Veröffentlichung, das von Hermann Hesse hochgelobte Tierskizzenbüchlein (Neuausg. Ffm. 2005. 2007). Die Sammlung liebenswürdigverträumter, an Jean Paul u. Mörike erinnernder Idyllen aus der Tierwelt zeigt C. als einen Meister der kleinen Form. Seine Kindheitserinnerungen Das Spiegelbild (Bln. 1935. Mchn. 1982) wurden wegen ihrer genauen, schlichten u. zgl. poet. Sprache mit großer Zustimmung aufgenommen. Neben 40 Hörspielen u. Funkfeuilletons schrieb C. Gedichte, Essays u. Erzählungen. Bekannt wurde er durch regelmäßige Beiträge in den Feuilletons der Tageszeitungen u. in seinen letzten Lebensjahren durch die in der Tradition Morgensterns u. der Dadaisten stehenden, heiter-hintersinnigen Mürßl Gedichte (Mchn. 1967) sowie durch seine schrulligen Geschichten vom Herrn Polder (Mchn. 1982), einem skurrilen Hypochonder, der literarisch verwandt ist mit Palmström, Korff u. Keuner. Weitere Werke: Mein Leben bei den Trollen. Mchn. 1961 (R.). – Mitleid mit den Dingen u. a. Prosa. Mchn. 1982. Peter König / Red.

Culmann, Kulman, Leonhard, * um 1497/ 98 (oder 1500/01) Crailsheim/Württemberg, † vor dem 7.11.1561 Bernstadt bei Ulm. – Verfasser pädagogischer, erbaulicher u. theologischer Schriften, Schuldramatiker. C. führte ein bewegtes Leben. Nach dem Schulbesuch in Schwäbisch Hall, Dinkelsbühl u. Nürnberg studierte er in Erfurt (1514–1517), wo er kurzzeitig als »Baccalaureus Sententiarius« lehrte, u. Leipzig. Danach wirkte er als Kantor in Bamberg u. Ansbach, bevor er sich 1519 auf längere Zeit in Nürnberg niederließ. C. unterhielt Kontakte zu Reformatoren, u. a. zu Andreas Osiander u. Veit Dietrich; als Protokollant des reichsstädt. Rates, der sich zur Lehre Luthers bekannte, nahm er im März 1525 am Nürnberger Religionsgespräch teil. Ab 1525 Rektor der Spitalschule zum Hl. Geist, sorgte C. mit publizistischem Nachdruck für die Verwirklichung des reformator. Schulprogramms. Als prakt. Leitfaden für den Unterricht verfasste er den Zuchtmayster für die jungen Kinder (Nürnb. 1529 u. ö. Faks.Ausg. Nürnb. 1979), der gleichermaßen der katechetischen, sittlich-moral. u. formellen Unterweisung diente. Große Resonanz fanden die für den lat. Elementarunterricht bestimmten Sententiae pueriles (Nürnb. 1540), die bis in die zweite Hälfte des 18. Jh. an die 50 Nachdrucke u. Übersetzungen ins Englische erlebten. In den fünf erhaltenen Schuldramen implizierte die lehrhafte Tendenz oft eine konfessionspolitische Stoßrichtung, wenn z.B. das Christenlich Teutsch Spiel, wie ein Sünder zur Buß bekärt wirdt, Von der sünd Gsetz und Evangelion (Nürnb. 1539 u. ö. Neudr. Senger 1982) zu einem Plädoyer für die luth. Rechtfertigungslehre geriet. In zahlreichen, z.T. mehrfach aufgelegten Traktaten bot C. in verständlicher Sprache geistl. Lebensregeln für die Laienbevölkerung (u. a. Tröstung für wytwen waysen und frembdlingen auß Gottes wort gezogen. Nürnb. 1538). 1549 wurde er vom Rat der Stadt zum Prediger an St. Sebald berufen, jedoch 1555 als Anhänger der Lehre Osianders wieder entlassen. Auf Empfehlung des schwäb. Reformators Johannes Brenz fand C.

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eine Anstellung als Pfarrer u. Superintendent zu Wiesensteig in der Grafschaft Helfenstein, u. schließlich 1558 in Bernstadt, wo er in dem Traktat Zeucknuß [...] Was des Menschen gerechtigkeit sey (Augsb. 1558) die Frage der Rechtfertigung behandelte. Weitere Werke: Den knaben u. Mägdlein so teutsch lern, frag u. antwort über die Epistel S. Paulus zu tito verteutscht u. geordnet. Nürnb. 1533. – Teutsche Kindertafel. Nürnb. 1534. Neudr. ABC-Bücher des 15., 16. u. 17. Jh. Hg. Heinrich Fechner. Bln. 1906. – De praeparatione christiana ad crucem et mortem, deque sub cruce et morte consolatione. 2 Tle., Nürnb. 1538. – Ein teutsch spil, von der auffrur der Erbarn weiber zu Rom wider jre männer. Nürnb. o. J. [um 1539]. Neudr. Senger 1982. – In divi Pauli ad Titum epistolam quaestiones. Nürnb. 1546. – Von der Hochzeyt Isaacs u. Rebecce. Nürnb. 1547. Neudr. Senger 1982. – Wie man die krancken trösten, u. den sterbenden vor beten sol, auch wie man alle anfechtung des teuffels uberwinden sol, unterrichtung auß Gottes wort. Nürnb. 1551 u. ö. – Breves aliquot formulae examinandorum sacerdotum. Nürnb. 1552. Literatur: Bibliografien: VD 16 C 6228-C 6308. – Senger 1982 (s. u.), S. 721–750. – Weitere Titel: Julius Hartmann: L. C. In: ADB. – Reformation in Nürnberg. Umbruch u. Bewahrung. Ausstellungskat. Nürnb. 1979, S. 216–218. – Matthias W. Senger: L. C. A literary biography and an edition of 5 plays. Nieuwkoop 1982. – Ders.: The Fate of an Early American School Book: L. C.’s ›Sententiae Pueriles‹. In: Harvard Library Bulletin 32 (1984), S. 256–273. – Wolfgang F. Michael: Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern u. a. 1984, S. 310–317. – Manfred Knedlik. L. C. In: Bautz (Lit.). Manfred Knedlik

Cumart, Nevfel, * 31.5.1964 Lingenfeld/ Rheinland-Pfalz. – Lyriker, Übersetzer.

Cunrad

eine Autorenförderung der Stadt Stade. Ab 1990 erschienen C.s Gedichtbände im fast jährl. Rhythmus beim Grupello Verlag (Düsseld.), z.T. in türkischer oder engl. Übersetzung, meist als Zusammenstellung älterer u. neuer Texte. 1992 erhielt C. den Literaturförderpreis Rheinland-Pfalz, 1993 ein Autorenstipendium der Stadt Bamberg. Der Band Das Lachen bewahren (1993) versammelt Gedichte der letzten zehn Jahre; die Liebesgedichte Schlaftrunken die Sterne (1997) u. die Erzählungen Hochzeit mit Hindernissen (1998) entstanden während eines Aufenthaltes im Literarischen Colloquium Berlin. Seit Ende der 1990er Jahre übersetzt u. ediert C. türk. Autoren, u. a. Fazıl Hüsnü Dag˘larca. C.s Lyrik ist thematisch breit gefächert u. umfasst nahezu alle Bereiche menschl. Lebens. In seinen polit. Gedichten wendet er sich gegen Gewalt u. Unrecht; bes. bemerkenswert sind seine Solingen-Poesie u. Porträts von Menschen in Anatolien. Die Türkei ist Topografie nostalgischer Verklärung; die mytholog. Thematik fungiert als Gegenentwurf zur Realität. Motive aus der türk. Lyrik tauchen auf, ebenso wie intertextuelle Bezüge zur Gegenwartsliteratur. Weitere Werke (in Auswahl, Erscheinungsort jeweils Düsseldorf): Zwei Welten. 1996. – Waves of Time / Wellen der Zeit. 1998. – Auf den Märchendächern. 1999. – Ich pflanze Saatgut in Träume. 2000. – Seelenbilder. 2001. – Unterwegs zu Hause. 2003. – Jenseits der Worte / Beyond Words. 2006. Literatur: Ilyas Meç: Wider die tribalist. Einfalt: Die zweite Generation. In: Diskussion Deutsch 143 (Sept. 1995), S. 176–185. – Eoin Bourke: ›Die Bürde zweier Welten‹. Die Lyrik N. C.s. In: ›Denn du tanzt auf einem Seil‹. Positionen deutschsprachiger MigrantInnenlit. Hg. Sabine Fischer u. Moray McGowan. Tüb. 1997, S. 71–86. – Stefan Neuhaus: N. C. In: LGL. – Karin E. Yes¸ilada: Poesie der Dritten Sprache (in Vorb.). Karin E. Yes¸ ilada

C. wuchs in Stade auf u. studierte nach einer Zimmermannslehre Turkologie, Arabistik u. Islamwissenschaften in Bamberg (1986 bis 1993). Heute lebt er dort als Bildungsreferent Cunrad, Caspar, auch: Cunradi, Conradus, (Themen: Migration, Türkei u. Islam), Über* 9.10.1571 Breslau, † 15.11.1633 Breslau. setzer (aus dem Türkischen) u. Autor von – Mediziner, Gelehrten-Historiker, LyriLyrik, kürzeren Prosatexten u. journalist. ker. Beiträgen für Zeitungen u. Zeitschriften. Erste Gedichte erschienen Anfang der 1980er C. war der berühmteste Vertreter eines über Jahre in Anthologien u. Selbstverlagen; auf die Grenzen Schlesiens hinaus bekannten die offizielle Erstveröffentlichung Ein Gelehrtengeschlechts. Nach der ImmatrikuSchmelztiegel im Flammenmeer (Ffm. 1988) folgt lation an der Universität Frankfurt/O. 1591 u.

Cunrad

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dem Studium in Wittenberg 1594 erwarb er Centuriae I-IV. Oels 1609–11. – Prima-Decima 1595 in Leipzig den Magister. Nach Haus- Qvarta [+] Ultima Psalmodiae Davidicae Decas. 2 lehrertätigkeiten in Breslau u. der Dichter- Frankfurt/O. u. Liegnitz: 1602–06. Oels 1607. – krönung im Jahr 1601 brach er in den Süd- Parodiarum Ad Horatii Flacci Melpomenen Variorum Auctorum, & argumenti varij Centuria Integra. westen auf, wo er 1604 in Basel den medizin. Oels 1606. 2. veränderte Aufl. nebst zweiter CenDoktortitel erwarb. Er ließ sich in Breslau als turie Lpz. 1614. – Tetrasticha Latino-Germanica Arzt nieder, folgte 1621 dem Opitz-Gönner Super Evangelica. Oels 1606. – Paraphrasis LatinoDaniel Bucretius (Rindfleisch) als Stadtphy- Germanica. Oels 1615. – Periocharum Evangelicasikus u. starb in seiner Heimatstadt an der rum Latino-Germanicarum Ogdoas. Brieg 1631. – Pest. Delitiae poetarum Germanorum. Hg. Janus Gruter. C. darf als einer der Repräsentanten des Bd. 2, Ffm. 1612. Internet-Ed.: CAMENA. – Ara schles. Späthumanismus gelten. Als Poeta Christiana. 1616. – Ara manalis Christianae Tilesiae laureatus Caesareus – 1608 krönte er den Conjugi meritissimae posita. Oels 1626. – Strena geistl. Liederdichter Johann Heermann in natalitia. Oels 1631. – Casparis Cunradi Silesi Epigrammatum Liber I[-]XI (Hs. Bernhardiner-Bibl. Brieg – ausgestattet mit weitreichendsten Breslau: B 1916). Verbindungen, sorgte er, wie vor ihm Crato Literatur: Bibliografien: Enchiridion renatae von Crafftheim oder die Rhedigers, unerpoesis Latinae in Bohemia et Moraviae cultae. Bd. 1, müdlich für die jungen Dichter der Opitz- Prag 1966, S. 516–518. – Heiduk/Neumeister, Generation. Er hinterließ Dutzende zumeist S. 316 f. – Flood. Poets Laureate, Bd. 1, S. 395–401. lat. Gelegenheitsgedichte u. poet. Zuschriften – Komm. Bibliogr. in: Klaus Garber: Die Reise in zu den Werken der Freunde, u. a. zum den Osten. Martin Opitz, Paul Fleming u. Simon Strenarum Libellus (1616), dem Erstling Opit- Dach. Köln/Wien 2008. – Weitere Titel: A. Gillet: zens, der ihm ein Jahr vorher bereits gehul- Crato v. Crafftheim u. seine Freunde. Bd. 2, Ffm. digt hatte. Neben Psalmen- u. Horaz-Para- 1860, S. 404 f. – Briefe G. M. Lingelsheims, M. phrasen, Anagrammen u. Epigrammen liegt Berneggers u. ihrer Freunde. Nach Hss. [...] hg. u. seine eigentl. Leistung in der unermüdl. erl. v. Alexander Reifferscheid. Heilbr. 1889, passim. – Paul Pfotenhauer: Schlesier als kaiserl. Sammlung von Gedichten aus dem FreunPfalzgrafen u. schles. Beziehungen zu auswärtigen deskreis. 1616 veröffentlichte er das Pratum Pfalzgrafen. In: Ztschr. des Vereins für Gesch. u. evangelicum (Freiberg) mit den lat. Distichen Alterthum Schlesiens 26 (1892), S. 319–363, hier: u. dt. Versen von 15 Dichtern auf die Evan- S. 327 f. – George Schulz-Behrend (Hg.): Martin gelien der Sonn- u. Festtage des Kirchenjahrs. Opitz. Ges. Werke. Bd. 1, Stgt. 1968, S. 3–5. – Ihr folgte eine Sammlung von Gedichten aus Manfred P. Fleischer: Späthumanismus in Schlesider Feder von etwa 1000 Gelehrten zu seinem en. Mchn. 1984 (Register). – Robert Seidel: SpätWahlspruch: »Domini est Salus«, die er in humanismus in Schlesien. Caspar Dornau seinem Theatrum Symbolicum zwischen 1606 u. (1577–1631). Leben u. Werk. Tüb. 1994, S. 252, 1615 sowie zwischen 1622 u. 1632 veröf- 454–456 u. Register. – Stefan Folaron: Polen u. poln. Kultur im Werk des Breslauer Gelehrten u. fentlichte. Den größten Ruhm jedoch verPhilosophen [sic] C. Cunradus. In: Kulturraum dankte er seinem Prosographia melica (3 Tle., Schlesien. Ein europ. Phänomen. Hg. Walter Engel Ffm. u. Hanau 1615–32) betitelten »Litera- u. Norbert Honska. Wroclaw 2001, S. 221–225. – turkalender« (Hippe). Das Werk enthält 3000 Klaus Garber 2008 (s. o.: Register). Klaus Garber Distichen auf Gelehrte u. a. bedeutende Männer, deren Geburts- u. Todesdatum sowie Beruf C. jeweils angibt. Er »hat damit ein Cunrad, Christian, * 28.1.1608 Breslau, Buch geschaffen, dessen Bedeutung noch bis † 5.1.1671 Troppau. – Mediziner u. in unsere Tage hineinragt und ihm den NaDichter. men eines Begründers der schlesischen Gelehrtengeschichte für immer sichert« (Hip- Der älteste Sohn Caspar Cunrads besuchte das Beuthener Gymnasium Georg von Schönaichs pe). Weitere Werke: Prima-Nona Anagrammati- u. trat dort schon 1621 mit zwei lat. Distichen smorum decas. Liegnitz 1600–05. – Anagramma- zum Theatrum Symbolicum seines Vaters hertismorum centuria. Oels 1606. – Epigrammatum vor; 1624 (im Jahr der Opitz’schen Poetik) /

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folgten an gleicher Stelle die ersten dt. Verse. 1628 zeichnete C. als Student der Philosophie u. Medizin; er wird das Danziger Gymnasium ilustre besucht haben. Im gleichen Jahr – zwei Jahre vor Opitz’ Hercinie – erschienen in Oels zwei selbstständige Schäfergedichte geistl. Inhalts in dt. u. lat. Sprache: Hirten Gespräch Von des Hl. Geistes [...] Gaben u. Gloriosus Jesu Christi [...] Triumfus per Eclogam decantatus. Ihnen schloss sich 1630 die deutschsprachige Dafnis Ecloga zur dritten Hochzeit seines Vaters an (abgedr. bei Hippe, S. 277–288). Von Opitz 1629 zum Dichter gekrönt, brach C. auf den Spuren des Vaters zum Medizinstudium in Basel auf, kam jedoch nur bis Straßburg u. verharrte im Umkreis Matthias Berneggers, musste die Stadt hochverschuldet verlassen u. kehrte über Nürnberg nach Breslau zurück. Er übernahm nach dem Tod des Vaters dessen ärztl. Praxis. Später ist er als Physikus in Teschen, Ratibor u. Troppau bezeugt. Er war zum Katholizismus übergegangen u. dichterisch verstummt. Weitere Werke: Der XCI. Psalm. Breslau 1633. – Winter-Rose. Breslau 1637. Literatur: Briefe G. M. Lingelsheims, M. Berneggers u. ihrer Freunde. Nach Hss. [...] hg. u. erl. v. Alexander Reifferscheid. Heilbr. 1889, S. 856 f. (Bibliogr.). – Max Hippe: C. C., ein vergessener schles. Dichter. In: Silesiaca. FS Colmar Grünhagen. Breslau 1898, S. 253–288. – Leonard Forster: C. C.’s ›Hirtengespräch‹. In: The German Book 1450–1750. FS David Paisey. Hg. John L. Flood and W. A. Kelly. London 1999, S. 193–202. – Flood, Poets Laureate, Bd. 1, S. 401 f. Klaus Garber

Cunrad, Johann Heinrich, * 4.8.1612 Breslau, † 24.5.1685 Liegnitz. – Jurist, Gelehrten-Historiograf. Der zweitälteste Sohn Caspar Cunrads studierte in Frankfurt/O. Rechtswissenschaften, Moralphilosophie u. Griechisch, praktizierte in Militsch u. Breslau u. stand in den Diensten u. a. des Fürsten von Lichtenstein, des Breslauer Fürstbischofs u. des Herzogs von Oels. Sein Lobgesang Auff das Triumphierende Fest des Ertz-Engels Michaelis Wider Den Fürsten der Finsternüß (Oels 1630) ist bezeichnenderweise Reinhard Rosen von Rosenigk, dem Kanzler der Herzöge von Liegnitz u. Brieg, u.

Cureus

Sebastian Gepfhard, dem Kanzler der Herrschaft Trachenberg, gewidmet. Später zog sich C. zum ungestörten Studium nach Liegnitz zurück u. widmete sich dem Nachlass seines Vaters. In die Historiografie Schlesiens ging er mit seiner Silesipoliographia u. insbes. mit seiner Silesia togata ein, in der er die 3000 von seinem Vater verfassten Distichen auf 10.000 vermehrte. Bis auf die etwa 1500 auf Schlesien bezogenen Distichen aus der Silesia togata, die Caspar Theophil Schindler 1706 in Liegnitz publizierte, blieben beide Werke ungedruckt. Die großen Werke Friedrich Lucaes u. a. zur schles. Gelehrtengeschichte u. Landeskunde wären ohne C. (u. Nicolaus Henel) undenkbar. Literatur: Christian Stieff: Lebensbeschreibung. In: Silesia togata. Liegnitz 1706. – Manfred P. Fleischer: Späthumanismus in Schlesien. Mchn. 1984 (Register). – Klaus Garber: Reise in den Osten. Martin Opitz, Paul Fleming, Simon Dach. Köln/ Weimar/Wien 2008 (Register). Klaus Garber

Cureus, Curaeus, Achatius, eigentl.: Scherer, * 1531/32 Marienburg/Ostpreußen, † 16.7.1594 Osterwyk bei Danzig. – Verfasser pädagogischer Schriften; neulateinischer Lyriker. C. besuchte die Schule in seiner Heimatstadt u. bezog dann mit einem Ratsstipendium die Universitäten Frankfurt/O. (1548) u. Wittenberg (1553). Als Lehrer (Rektor?) wirkte C. wohl einige Jahre in Marienburg (etwa seit 1555), wurde 1558 an das akadem. Gymnasium von Danzig berufen u. erhielt hier 1576 die Stelle eines Predigers. Im Zuge der konfessionellen Konflikte schlug sich C. demonstrativ auf die Seite der Calvinisten u. musste 1590 auf die Stelle eines Dorfpfarrers in Osterwyk ausweichen. Neben einer Reihe von Kasualgedichten besteht C.’ Werk vornehmlich aus Adaptionen antiker Literatur, in denen der moralist. Erziehungsauftrag des reformator. Humanismus entwickelt wird. Für die Geschichte der poet. Lehrdichtung beachtenswert ist das Carmen de discentium gradibus (Danzig 1559. Übers. in Gerss 1875). Mit der wiederholt in Danzig grassierenden Pest befasst sich eine theokratisch fundierte, jedoch im Einzelnen

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realistisch schildernde Threnodia, qua deplorantur miseriae tempore grassantis pestis Dantisci (Danzig 1564). Weitere Werke: Praecepta Moralia ex oratione Isocratis ad Demonicum [...] versu reddita. Frankf./ O. 1557. – Historia conversi Pauli, carmine reddita. Königsb. 1562. – Mimesis Xenophontis Herculis, continens descriptionem virtutis et voluptatis. Danzig 1565. – Dialogus de Podagra. Danzig 1566. – Argumentum de fabricatione, destructione atque discessu Concordiae. Danzig 1567. – Erotema in libellum Aristotelis de Virtutibus et Vitiis. Danzig 1567. – Elegiae duae [...] una Antidotum adversus mortis terrores: Altera de Adae et Evae. Danzig 1569. – Diadema regium omnibus viris Principibus ac magistratum gerentibus commodum. Danzig 1570. Literatur: Dr. Gerss: A. C., der erste Rektor v. Marienburg. In: Programm des Kgl. Gymnasiums zu Marienburg. Marienburg 1875. Wilhelm Kühlmann

Curio, Johann Carl Daniel, auch: Jocosus d.J., Hans Sachs der Fünfte, Theophilantropus, * 3.11.1754 Helmstedt, † 30.1. 1815 Hamburg; Grabstätte: HamburgOhlsdorf, Ehrenfriedhof. – Verfasser von pädagogischen Schriften u. Gelegenheitsdichtungen. Der unehel. Sohn eines Helmstedter Diakons kam früh ins Waisenhaus. Aufgrund seiner Begabung wurde ihm der Besuch der Helmstedter Lateinschule (1769–1771) bezahlt. Ab 1772 besuchte er das Johanneum in Hamburg u. war Mitgl. der Freundschaftlichen Literarischen Gesellschaft. Nach viereinhalbjährigem Studium in Helmstedt (Theologie u. Philosophie) arbeitete C. zunächst als Privatlehrer u. trat 1780 eine Stelle am Martini Gymnasium in Braunschweig an. In seine Braunschweiger Zeit (bis 1796) fallen neben einer Reihe von Dichtungen anlässlich herzoglicher Familienfeste (Karl Wilhelm Ferdinands Wiederkehr. Braunschw. 1794) erste Herausgeberschriften: die »Zeitung für die Jugend« (Braunschw. 1786 f.), die »Braunschweigische Zeitung für alle Stände« (Braunschw. 1787–89) u. das pädagog. Buch Der Kinderfreund. Ein Lesebuch für Stadtschulen (Braunschw. 1782), das Informationen u. Übungen zu den The-

men Biologie, Religion, Latein, Tugendlehre u. Handwerk gibt. Ab 1797 bis zu seinem Tod lebte C. in Hamburg, arbeitete als Privatlehrer u. gründete 1804 eine eigene Lehranstalt für die männl. Jugend. Aus finanziellen Gründen blieb C. als Schriftsteller u. Redakteur sehr produktiv: Neben einem Geschichtsbuch (Hamburgische Chronik für die Freunde und besonders für die Jugend des Vaterlandes. Hbg. 1803) u. einer aufklärerisch-psycholog. Studie (Rüsaus Leben und Hinrichtung in pragmatischer, moralischer und psychologischer Hinsicht. Hbg. 1804) lieferte C. zahlreiche Beiträge zu Zeitschriften wie dem »Wandsbecker Bothen«, dem »Leipziger Musenalmanach« u. gab v. a. 1805–1807 die Zeitschrift »Hamburg und Altona« heraus, die nach dem Vorbild engl. Moralischer Wochenschriften konzipiert war. Im 4. Jahrgang (1805) machte C. den Vorschlag, eine Lehrervereinigung zu gründen. Diese »Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens« feierte 2005 ihr 200-jähriges Bestehen. Weitere Werke: Beelzebub u. Wittenberg. Ffm./Lpz. 1775 (Kom.). – Gedichte. Hbg. 1780. – Lob der Windbeutelei [...]. o. O. 1791. – Friedrich Wilhelm Jerusalem. An seinem Begräbnistage den 7. Sept. 1789. 2. Aufl. Braunschw. o. J. – Unterhaltungen für Jedermann. Eine Wochenschr. Braunschw. 1793. – Die Einwilligung. Ein Lustspiel [...]. o. O. 1794. – Das Blatt der Wohlthätigkeit. Hbg. 1806–09. Literatur: Carl Heinz Dingedahl: Die Familie C. in Otterndorf u. Hamburg. In: Ztschr. für niederdt. Familienkunde 52 (1977), S. 103–110. – Ders.: J. C. D. C., Lehrer, Schriftsteller u. Redakteur. In: Hamburgische Geschichts- u. Heimatblätter 10, H. 1–2, Okt. 1977, S. 1–17. – Franklin Kopitzsch: Der Aufklärung verpflichtet [...]. In: 175 Jahre Gesellsch. der Freunde [...]. Hbg.: GEW Landesverb. 1980, S. 16–33. – Ders.: Von J. C. D. C, Peter Breiß, der ›Gesellschaft der Freunde‹ u. ihrer Bibl. In: Mitteilungsbl. Förderkreis Bibl. für Bildungsgeschichtl. Forsch. 13 (2002), S. 10–15. Andrea Ehlert / Red.

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Curtius, Ernst, * 2.9.1814 Lübeck, † 11.7. 1896 Berlin; Grabstätte: ebd., Friedhof der St. Matthäi-Gemeinde. – Historiker u. Archäologe.

Curtius Philhellenism in Germany, 1750–1970. Princeton 1996, S. 77–91. – Goedeke Forts. Cornelia Lutz / Red.

C. – Großvater von Ernst Robert Curtius – Curtius, Ernst Robert, * 14.4.1886 Thann/ studierte klass. Philologie in Bonn, Göttingen Elsass, † 19.4.1956 Rom; Grabstätte: u. bei August Boeckh in Berlin. Nach der Freiburg i. Br. – Literatur- u. KulturwisPromotion in Halle (1841) u. der Habilitation senschaftler. in Berlin (1843) war C. 1844–1849 Erzieher C. entstammte väterlicherseits einer norddt. des preuß. Kronprinzen Friedrich Wilhelm u. Beamten- u. Gelehrtenfamilie, mütterlicherbis 1855 a. o. Professor an der Universität in seits einem Altberner Grafengeschlecht. Seine Berlin. In diesen Jahren entstand Peloponnesos Jugend verbrachte er in Straßburg, wo er mit (2 Bde., Gotha 1851/52), ein Standardwerk Albert Schweitzer u. Ernst Stadler verkehrte. der historisch-geograf. Landesbeschreibung, 1903–1912 studierte er in Straßburg, Berlin das auf seinen Erfahrungen während eines u. Heidelberg Neuere Philologie u. Philosomehrjährigen, zeitweise gemeinsam mit dem phie. In Berlin fand die erste prägende Bebefreundeten Emanuel Geibel verbrachten gegnung mit Stefan George u. Friedrich Griechenland-Aufenthalts (in seiner Eigen- Gundolf statt. 1913 habilitierte sich C. in schaft als Hauslehrer ab 1837) basiert. Bonn über den frz. Literaturkritiker Ferdi1852 wurde C. Mitgl. der Königlichen nand Brunetière. 1920–1924 war er OrdinaAkademie der Wissenschaften in Berlin. rius für Romanische Philologie in Marburg, Während seiner Lehrtätigkeit als Ordinarius 1924–1929 in Heidelberg, von 1929 an bis zu für klass. Philologie an der Universität Göt- seiner Emeritierung 1951 in Bonn. Die tingen (1856–1867) publizierte C. eine drei- Rheinschiene blieb bestimmend. Mit der akadem. Karriere ist C.’ Leben albändige Gesamtdarstellung der Griechischen Geschichte (Bln. 1857–67. 61887–89). 1868 lerdings nur unzulänglich gekennzeichnet. kehrte C. als Professor für klass. Archäologie Unmittelbar nach Kriegsende warb er in Die u. Direktor des Königlichen Museums nach literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich 3 Berlin zurück. 1871 betraute ihn die Reichs- (Potsdam 1919. 1923) für André Gide, Paul regierung mit der Leitung der von ihm seit Claudel, Romain Rolland u. a. Sein Engage1852 nachhaltig propagierten Ausgrabungen ment für eine Aussöhnung mit dem »Erbin Olympia, eines erstmals von Archäologen feind«, sein enthusiastischer Gestus, aber u. Architekten gemeinsam durchgeführten auch die bloße Beschäftigung mit noch leProjekts, das zur Auffindung von Skulpturen benden Autoren löste innerhalb u. außerhalb des Zeustempels u. des Hermes des Praxiteles des Fachs heftige Kontroversen aus. Auf vielen Reisen u. Zusammenkünften sowie in führte. zahllosen literaturkrit., kultur- u. gemeinWeitere Werke: Klass. Studien (zus. mit Emapolit. Vorträgen u. Zeitungsartikeln setzte er nuel Geibel). Bonn 1840. – Die Kunst der Hellenen. seine Verständigungsbemühungen trotzdem Bln. 1853 (Vortrag). – Abh.en über griech. Quell- u. Brunneninschriften. Bln. 1859. – Altertum u. Ge- fort, auch mithilfe der Beziehungen des begenwart. Ges. Reden u. Vorträge. 3 Bde., Bln. kannten Luxemburger Großindustriellen 1875–89. – Die Altäre v. Olympia. Bln. 1882. – Die Mayrisch. Eine Krönung war Die französische 2 Stadtgesch. v. Athen. Bln. 1891. – Ein Lebensbild in Kultur (Bln. 1930. Bern/Mchn. 1975), eine Einführung im Sinne der damaligen WeBriefen. Hg. Friedrich Curtius. Bln. 1903. Neuausgabe: Griech. Gesch. v. den Uranfängen senskunde, in Frankreich selbst noch 1995 bis zum Tode des Perikles. Gekürzte Ausg. hg. v. neu aufgelegt. Zgl. erarbeitete sich C. in den 1920er Jahren die Moderne insgesamt, sofern Alexander Heine. Essen 1997. Literatur: Charlotte Broicher: Erinnerungen an sie nicht radikal mit der Tradition gebrochen E. C. In: Preuß. Jbb. 86 (1896). – Suzanne L. hatte: Valéry, Proust u. Aragon, Unamuno u. Marchand: Down from Olympus. Archaeology and Ortega y Gasset sowie, die Fachgrenzen

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überschreitend, Thomas Mann u. Hofmannsthal, Joyce, T. S. Eliot u. a. Von den Autoren als kongenialer Interpret u. Mittler anerkannt, trat er mit ihnen in einen regen persönl. Austausch u. wurde so einer der bedeutenden dt. Briefschreiber des 20. Jh. Mit André Gide, dem frz. Literaturkritiker Charles du Bos u. dem Schweizer Publizisten Max Rychner verband ihn eine lebenslange Freundschaft. Seine Streitschrift Deutscher Geist in Gefahr (Stgt. 1932) markiert eine Wende. Zur Weimarer Republik ebenso auf Distanz wie zur Wissenssoziologie eines Karl Mannheim, diagnostizierte C. Bildungsverfall u. Entwurzelung u. propagierte eine Erneuerung aus dem Geist des MA, nicht des germanischen, sondern des romanischen u. christlichen. Mit der wiss. Ausarbeitung seines Programms zog er sich im Dritten Reich aus der Öffentlichkeit zurück. Dabei entdeckte der Protestant eine andere Klammer für Kontinuität u. Einheit der abendländ. Kultur, nämlich das übernationale mlat. Schrifttum der einstigen Bildungselite, von den Kirchenvätern bis zu den Humanisten. Die Summe des Philologenfleißes, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, erschien erst in der Nachkriegszeit (Bern 1948) u. kam damals den konservativen u. kleineurop. Kräften entgegen. 1993 zum elften Mal aufgelegt (Tüb.) u. inzwischen in neun Sprachen übersetzt, zuletzt ins Polnische, dürfte dieses Hauptwerk erheblich dazu beigetragen haben, dass sich das Mittellatein seit den 1950er Jahren vielerorts als eigenständiges Universitätsfach etablieren konnte u. von den Nachbardisziplinen zur Kenntnis genommen werden musste. Damals meldete sich auch der Publizist u. Polemiker C. wieder zu Wort, 1949 in einer Verteidigung Goethes gegen Karl Jaspers u. zuletzt im Büchertagebuch (Bern 1960), einem Zeugnis universaler Belesenheit. In seiner Literaturkritik verfuhr C. werkimmanent. Fluchtpunkt seiner Deutung war jedoch nicht das Werk, sondern die Persönlichkeit des Autors. Im Aufbau, nicht in der Konzeption unsystematisch, im Stil knapp, präzise u. apodiktisch, setzte seine Essayistik ein Bildungspublikum voraus, das sich willig

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führen ließ. Das Mittelalterbuch, angeregt auch durch die ikonograf. Schule von Aby Warburg, sieht die abendländ. Kontinuität in der Fortdauer von Topoi, d.h. von bestimmten antiken Denk-, Ausdrucks- u. Anschauungsformeln, etwa dem »locus amoenus«. Durch die Hervorhebung von Konstanten unterscheidet es sich von dem etwa gleichzeitig erschienenen u. gleichermaßen willkommenen Längsschnitt eines anderen Romanisten, Erich Auerbachs Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (Bern 1946). Nicht zuletzt durch die Kritik an Unschärfe u. Ungeschichtlichkeit von C.’ Toposbegriff wurde aus der Toposforschung ein eigener Zweig der Literaturwissenschaft. Seitdem man über die Identität der Europäischen Union nachdenkt, wird C. auch wieder politisch diskutiert, u. wieder kontrovers. C. fühlte sich einer Geistesaristokratie zugehörig, nicht dem akadem. Milieu. So war es durchaus in seinem Sinne, wenn die bedeutendsten seiner Schüler sich außerhalb der Universität umtaten, v. a. haupt- oder nebenberuflich in der Publizistik: Rudolf Walter Leonhardt (»Die Zeit«), Gustav René Hocke (u. a. »Kölnische Zeitung«), Walter Böhlich (Suhrkamp Verlag), Werner Ross (u. a. Deutsche Schule in Rom). Hockes Studien zum europ. Manierismus u. Heinrich Lausbergs Handbücher der Rhetorik folgten gleichwohl dem Forschungsinteresse des Lehrers. Weitere Werke: Maurice Barrès u. die geistigen Grundlagen des frz. Nationalismus. Bonn 1921. Nachdr. Hildesh. 1962. – Balzac. Bonn 1923. Bern 2 1951. – Frz. Geist im neuen Europa. Stgt. 1925. ca. 1938. – Ges. Aufsätze zur roman. Philologie. Bern 1960. – Dt.-frz. Gespräche 1920–50: La Correspondance de E. R. C. avec André Gide, Charles Du Bos et Valery Larbaud. Ffm. 1980. Literatur: Earl Jeffrey Richards: Modernism, Medievalism and Humanism. A Research Bibliography of the Works of E. R. C. Tüb. 1983. – Walter Berschin u. Arnold Rothe (Hg.): E. R. C. – Werk, Wirkung, Zukunftsperspektiven. Heidelb. 1989. – Wolf-Dieter Lange (Hg.): In Ihnen begegnet sich das Abendland. Bonner Vorträge zur Erinnerung an E. R. C. Bonn 1989. – Heinrich Lausberg: E. R. C. (1886–1956). Stgt. 1993. – Joseph Jurt: E. R. C. Von dt.-frz. Verständigung zum lat. MA. In: Interkulturelle Lebensläufe. Hg. Bernd Thum u. Thomas

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Curtius, Michael Conrad, * 28.8.1724 Techentin bei Schwerin/Mecklenburg, † 22.8.1802 Marburg/Lahn. – Akademischer Lehrer, Historiker, Philologe, Arnold Rothe Übersetzer u. Lyriker.

Keller. Tüb. 1998, S. 173–189. – Frank-Rutger Hausmann: E. R. C.: ›Europ. Lit. u. lat. Mittelalter‹. Sechzig Jahre danach. In: Kulturwissenschaftler des 20. Jh. Hg. Klaus Garber. Mchn. 2002, S. 77–88.

Curtius, Ludwig Michael, * 13.12.1874 Augsburg, † 10.4.1954 Rom; Grabstätte: ebd., Campo Santo Teutonico, St. Peter. – Klassischer Archäologe. Nach dem Besuch des Augsburger Benediktinergymnasiums nahm der Sohn des Arztes Ferdinand Curtius zuerst das Studium der Volkswirtschaft in München u. Berlin auf, bis ihn Adolf Furtwängler für die Archäologie gewann. Der Promotion (1903) u. Habilitation (München 1907) folgten Lehraufträge in Erlangen (1912) sowie Freiburg i. Br. u. 1920 der Ruf nach Heidelberg. Von 1928 bis zur Entlassung 1937 leitete C. das Deutsche Archäologische Institut in Rom; die Absetzung durch das NS-Regime empfand er »wie einen Ritterschlag«. C. gilt als hervorragender Kenner des Altertums. In seinen Studien zur antiken Kunst Ägyptens (1913), eine der ersten modernen Kunstgeschichten, hat er neben der umfassenden histor. Dimension den Eigencharakter der Kunst – literarisch gewandt – aufgezeigt. Es folgten zahlreiche Reden u. Abhandlungen zur klass. Kunst Griechenlands u. bes. zur römischen Ikonografie. Dabei hat C. nicht nur grundsätzl. Erkenntnisse zur Archäologie vorgelegt, sondern auch immer wieder die Rezeption der Antike über Goethe bis zur Gegenwart hervorzuheben gewusst. Deutliche Anklänge an Goethes Autobiografie Dichtung und Wahrheit durchziehen C.’ Lebenserinnerungen Deutsche und antike Welt (Stgt. 1950. Sonderausg. 1958). Weitere Werke: Humanistisches u. Humanes. Fünf Essays u. Vorträge. Basel 1954. – Zwei Zeitalter. Vier Erzählungen. Mchn. 1955. – Torso. Verstreute u. nachgelassene Schr.en. Hg. Joachim Moras. Stgt. 1957. 1958. Literatur: Corolla: L. C. zum 60. Geburtstag. 2 Bde., Stgt. 1937. – Guido Kaschnitz-Weinberg: L. C. Das wiss. Werk. Baden-Baden 1958. – Reinhard Lullies: Schr.en v. L. C. (1874–1954). Eine Bibliogr. Mainz 1979. Reinhard Tenberg / Red.

C. entstammte einer luth. Pastorenfamilie. Nach einer gründlichen Schulausbildung (1732–1742) besuchte er die Universität Rostock u. studierte dort Theologie, Philosophie, Rhetorik u. Geschichte (1742–1745). Finanzielle Schwierigkeiten zwangen ihn 1745 zur Annahme einer Hauslehrerstelle in Stralsund. Die viel beachtete Veröffentlichung Schilderung des Reichs der Beredsamkeit (Stralsund 1746) verschaffte C. eine lukrative Position als Hauslehrer u. Privatsekretär beim hannoverschen Staatsminister August Wilhelm von Schwicheldt (1748). 1759 avancierte er zum Dozenten an der Ritterakademie in Lüneburg. Danach bekleidete C. (seit 1768) eine Professur für Geschichte, Dichtkunst u. Rhetorik an der Marburger Universität. Der anerkannte Universalgelehrte u. Rechtsexperte beeindruckte auch durch sein soziales Engagement. Als Wissenschaftler war C. einer enzyklopädisch-faktenkundl. Methode u. der rationalistischen Aufklärungs-Philosophie verpflichtet. Dabei galt sein Hauptinteresse welt-, kirchen- u. regionalgeschichtl. Themen (u. a. Comentarii de senatu Romano sub imperatoribus. Halle 1768. Geschichte und Statistik von Hessen. Marburg 1793). Unter den 95 Publikationen des arbeitsamen Autors erregten neben theologischen, agrarwissenschaftlichen (Columella. Zwölf Bücher von der Landwirthschaft, ins Deutsche übersetzt mit Anmerkungen. Hbg./Bremen 1769) u. jurist. Schriften auch belletrist. Versuche einige Aufmerksamkeit (u. a. Von den Schicksalen der Seele nach dem Tode. Ein philosophisches Lehrgedicht. Hann. 1754. Kritische Abhandlungen und Gedichte. Hann. 1760); ihnen widmete der junge Lessing eine anerkennende Rezension (»Berlinische Privilegierte Zeitung«, 10.1.1754). Die moderne Literaturwissenschaft betont darüber hinaus die Wegbereiterrolle der poetolog. Auffassungen des Autors: Seine Übersetzung u. Kommentierung der Dichtkunst des Aristoteles (Aristoteles’ Dichtkunst, ins

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Teutsche übersetzt, mit Anmerkungen und eigenen Abhandlungen versehen. Hann. 1753) bildet einen ständigen Bezugspunkt für die dramentheoret. Überlegungen Lessings u. antizipiert mit zaghaften Verbesserungsvorschlägen dessen programmat. Neuerungen. Weitere Werke: Abh. v. den Gleichnissen u. Metaphern [...]. Hann. 1750. – Histor. u. polit. Abh.en. Marburg 1793. Literatur: Kurt Wölfel: Moral. Anstalt. Zur Dramaturgie v. Gottsched bis Lessing. In: Dt. Dramentheorien 1. Hg. Reinhold Grimm. Wiesb. 1971, S. 113–117. Adrian Hummel / Red.

Curtz, Curz, Kurz, Albert von, * 1600 München, † 19.12.1671 Neuburg/Donau. – Jesuit; Astronom, Mathematiker u. Kirchenlieddichter.

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1662) behandelt u. a. auch die »Architectura militaris«. Dem dt. Kirchengesang widmete C. seine Harpffen Davids mit teutschen Saiten bespannet (3 Tle., Augsb. 1659. 21669. Mikrofiche-Ausg. Wildberg 1994) – eine Psalmenübersetzung im sermo humilis, die sprachlich Johann Khuen verpflichtet ist u. im Gegensatz zu den Reformbemühungen der Fruchtbringenden Gesellschaft steht. Weitere Werke: Antitheses politicae [...] adversus Nicolaum Machiavellum etc. (Praes. A. C., Resp.: Georg Heinrich v. Werdenstein). Dillingen 1628. – Disputatio philosophica de De republica, ex libb. poll. Arist. [...] (Praes: A. C., Resp.: Franz Pecchius). Dillingen 1629. – (Ps.) Lucii Veronensis Dissertatio de successione in iura et ditiones. Iuliae, Cliviae [...]. Editio emendata. o. O. 1646 u. ö. Literatur: Backer/Sommervogel, Bd. 2, Sp. 1742–1744 (Bibliogr.). – Weitere Titel: Georg Westermayer: C. In: ADB. – Duhr, Jesuiten, Bd. 2, Tl. 1, S. 241 f; Tl. 2, S. 269 f., 535–540. – Dieter Breuer: Oberdt. Lit. 1565–1650. Dt. Literaturgesch. u. Territorialgesch. in frühabsolutist. Zeit. Mchn. 1979 (Register). – SL [Walther Lipphardt] in: MGG 2. Aufl. Bd. 5, Sp. 186 f.

Der aus dem Geschlecht der Grafen von Curtz von Senfftenau stammende C. wurde 16-jährig in das Landsberger Noviziat aufgenommen. In Dillingen u. Ingolstadt lehrte er v. a. Mathematik u. Moralphilosophie. Auch als Prediger – zeitweise als Domprediger in Wien Franz Günter Sieveke / Red. – trat er hervor. Der Orden bestimmte ihn zum Rektor der Kollegien in Eichstätt, Lu- Cusanus ! Nikolaus von Kues zern u. Neuburg (1646). Enge Beziehungen, verbunden mit beratender Tätigkeit nicht Cuspinianus, Johannes, eigentl.: J. nur in religiösen, sondern auch in polit. AnSpießheimer, Spießham, Spieshaymer, gelegenheiten, verbanden C. mit dem Pfalz* vor Okt. 1473 Spiesheim bei Schweingrafen Wolfgang Wilhelm. Für ihn übernahm furt, † 29.4.1529 Wien; Grabstätte: ebd. er – vielleicht durch seine Herkunft dazu Stephansdom. – Humanist, Arzt, Hochprädestiniert – auch diplomat. Aufgaben, die schullehrer u. Diplomat; Verfasser histonicht unbedingt die Zustimmung des Orriografischer Werke. densgenerals in Rom fanden. Zu seinen Freunden zählte Johannes Kepler. C. studierte ab 1490 an der Universität LeipEinen Schwerpunkt der literar. Tätigkeit zig u. wechselte im folgenden Jahr an die des vielseitig Interessierten bildete die Domschule in Würzburg. 1492 ging er nach Astronomie. Er besorgte nicht nur eine Wien, wo er rasch Kontakt mit dem Humaprachtvolle, mit Stichen Philipp Kilians il- nistenkreis um C. Paulus Amaltheus fand. lustrierte Edition der Werke Tycho Brahes Maximilian I. verlieh ihm am 7.12.1493 den (Historia coelestis [...]. Augsb. 1666), sondern Dichterlorbeer. Neben seiner humanist. Ausverfasste auch selbst astronom. Arbeiten: No- bildung studierte C. auch Medizin u. provum coeli systema (Dillingen 1627) u. Beobach- movierte 1499 zum Doktor der Medizin. An tungen der Cometen von 1645 (Leiden 1681). der Artistenfakultät hielt er humanist. VorSein mathemat. Hauptwerk Amussis Ferdi- lesungen u. unterrichtete bis 1500 an der nandea, ad problemata universae matheseos Bürgerschule von St. Stephan. Im gleichen (Mchn. 1654. 2. Aufl. u. d. T.: Mathesis Cae- Jahr war er Rektor der Universität Wien u. in sarea, sive amussis Ferdinandea [...]. Würzb. den folgenden Jahren mehrmals Dekan der

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medizin. Fakultät. Er war Mitgl. der von ven. In: MIÖG 30 (1909), S. 280–326. – J. C.’ Briefw. Conrad Celtis geleiteten Sodalitas litteraria Hg. Ders. Mchn. 1933. Literatur: Hans Ankwicz-Kleehoven: Der WieDanubiana u. übernahm nach dessen Tod 1508 die Leitung dieses bedeutenden Wiener ner Humanist J. C. Gelehrter u. Diplomat zur Zeit Humanistenkreises. Im gleichen Jahr folgte Kaiser Maximilians I. Graz/Köln 1959. – Harald Tersch: Österr. Selbstzeugnisse des SpätMA u. der er Celtis auch auf dessen Lehrstuhl für Poetik Frühen Neuzeit. Wien 1998, S. 160–171. – Winu. Rhetorik u. wurde damit unumstrittenes fried Stelzer: C. In: VL Dt. Hum. – Flood, Poets Oberhaupt des Wiener Humanistenkreises. Laureate, Bd. 1, S. 404–407. Monika Maruska Neben diesen Aufgaben war C. auch als Arzt u. ab 1510 im Auftrag Maximilians I. im diplomat. Dienst tätig, eine Verpflichtung, Cysat, Renward, * 11.10.1545 Luzern, die ihm hohes Ansehen u. viel Anerkennung † 25.4.1614 Luzern; Grabstätte: ebd., einbrachte u. bald sein gesamtes Schaffen Hofkirche. – Dramatiker u. Gebrauchslydominierte. So war u. a. das Zustandekom- riker, Verfasser fachliterarischer Prosa u. men der Doppelhochzeit von 1515 in Wien chronikalischer Aufzeichnungen. seinem Verhandlungsgeschick zu verdanken. Für seine Verdienste wurde er vom Kaiser C. war der Sohn des aus Mailand gebürtigen, mehrmals ausgezeichnet (z.B. 1512 durch die 1549 verstorbenen Luzerner Bürgers Johann Ernennung zum kaiserl. Rat u. 1515 zum Baptist Cysat u. der Ratsherrentochter Anna Margarethe Cysat geb. Göldlin. Seine weitWiener Stadtanwalt). gefächerte Bildung erwarb er sich als AutoAls leidenschaftl. Sammler von Handdidakt. Im erlernten Beruf des Apothekers schriften u. Drucken brachte C. von seinen war C. bis zu seiner Wahl zum Unterschreiber vielen Reisen im In- u. Ausland wertvolle 1570 tätig. 1568 heiratete er die RatsherrenManuskripte mit (u. a. bes. aus der Bibliothek tochter Elisabeth Bosshardt, mit der er 14 des Matthias Corvinus). Durch seine quelKinder hatte. 1573 erhielt C. die Mitgliedlenkrit. Editionsmethode war er schon zu schaft im Großen Rat, 1575 wurde er zum Lebzeiten ein geschätzter Herausgeber wichStadtschreiber ernannt. In dieser Funktion tiger Werke. Aber auch als Autor machte er begründete er das Luzerner Stadtarchiv u. sich einen Namen, wobei sein Hauptinteresse eine bis 1252 zurückreichende Gesetzesder Geschichtsschreibung, der zeitgenöss. sammlung. Als »Protonotarius apostolicus« Politik sowie der Kartografie galt. In dem am pflegte der entschiedene Vertreter der kath. 20.8.1515 in Wien gedruckten Congressus [...] Restauration rege Beziehungen zu Kardinal Caesaris Maximiliani et trium regum Hungariae, Carlo Borromeo, dem päpstl. Visitator der Boemiae et Poloniae schildert er ausführlich den Schweiz. Er förderte die Kanonisation des Verlauf der Doppelhochzeit in Wien. Ein Nikolaus von der Flüe u. unterstützte aktiv flammender Aufruf an die Fürsten des Rei- die 1574 erfolgte Berufung der Jesuiten nach ches ist die anlässlich der Schlacht von Luzern. Antireformatorische Bündnispolitik Mohács 1526 verfasste Oratio protreptica [...] ad betrieb C. als Wortführer der Katholiken Sacri Romani Imperii principes et proceres, ut bel- beim Zustandekommen u. a. des savoyischen lum suscipiant contra Turcum [...]. Seine (1577), des borromäischen (1586) u. des spaHauptwerke liegen im Bereich der Ge- nischen (1587) Bundes. Seine Papsttreue schichtsschreibung: 1) Catalogus caesarum ac wurde mit der Verleihung des Titels »Comes imperatorum... (Wien 1527); 2) [...] de Consuli- palatinus« durch Gregor XIII. (1576) u. der bus Romanorum Commentarii (Basel 1553); 3) Ernennung zum »Eques aureatus« durch [...] de Caesaribus atque Imperatoribus Romanis Clemens VIII. (1593) honoriert. opus insigne (Straßb. 1540); 4) Austria (eine Die fast durchweg handschriftlich erhalteFragment gebliebene Geschichte Österreichs; ne fachliterar. Prosa umspannt so unterBasel 1553). schiedl. Themenbereiche wie Numismatik, Ausgaben: Opera Cuspiniani. Ffm. 1601. Lpz. Heraldik, Pflanzen- u. Heilkunde, Geografie, 2 1669. – Das Tgb. C.’ Hg. Hans Ankwicz-Kleeho- Landes- u. Stadtgeschichte. Auch mit

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Rechtstexten, Reisebeschreibungen u. volkskundl. Materialien wie Lokalsagen u. einheim. Brauchtumsdarstellungen liegen Zeugnisse seines ausgeprägten Dokumentationswillens vor. Sprachgeschichtlich wichtig sind C.s Anteil an der formalen Ausbildung der Luzerner Kanzleisprache u. sein Dictionarius vel Vocabularius Germanicus, ein um 1600 entstandenes Polyglottenwörterbuch. Als Gelegenheitslyriker verfasste er u. a. den Spruch des Walliser Bruderschwurs. Zu den Pflichten des Schreiberamtes gehörte auch die Leitung der schon im 15. Jh. eingeführten, in der mittelalterl. Tradition des geistl. Dramas verwurzelten Luzerner Oster-/Passionsspiele. Die biblisch überlieferten Ereignisse um Christi Leben, Tod u. Auferstehung wurden in mehrjährigem Turnus von den Bürgern im Konsens mit der Kirche zur Osterzeit an jeweils zwei Folgetagen aufgeführt. Als Spielfläche der spektakulären, personenreichen u. aktionsaufwendigen Freilichtveranstaltung diente der damalige Fischmarkt (heute: Weinmarkt), auf dem nach dem mittelalterl. Simultanbühnenprinzip die Handlungsorte in signifikantem Bezug zu den Polen Himmel u. Hölle angeordnet waren. Die für das 16. Jh. maßgebliche, in vierhebigen Reimpaarversen abgefasste Textversion des Hans Salat erweiterte C. um theaterwirksame alt- u. neutestamentl. Episoden, sodass schließlich die heilsgeschichtl. Spanne von der Schöpfung bis zum Pfingstgeschehen erfasst war. Unter seiner Regie standen die Spiele von 1583 u. 1597; sein Tod verhinderte die für 1614 vorbereitete Aufführung. Theatergeschichtlich wertvoll sind C.s umfangreiche inszenierungstechn. Aufzeichnungen (u. a. Bühnenpläne für 1583). Wie sein polit. Engagement, so ist auch C.s dramat. Schaffen von seiner gegenreformator. Gesinnung geprägt. Mit dem auf Kirchengeschichtsschreibung (bes. Flavius Josephus, Antiquitates Judaicae, u. Nikephorus, Historia ecclesiatica) u. Legendenstoff basierenden Spil deß Heiligen Crützes erfindung von 1575 setzt er das bibl. Geschehen des Oster-/ Passionsspiels fort. Die im histor. Zeitraum vom 1. bis 4. Jh. angesiedelte Handlung enthält die Vergrabung des Christuskreuzes

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durch die Juden u. seine wunderbare Auffindung durch Kaiser Constantinus u. seine Mutter Helena. Der in Stil, Metrum u. szenischer Disposition am Oster-/Passionsspiel orientierte Text ist nur zur Hälfte erhalten, doch informieren C.s Regienotizen über den Gesamtverlauf. Der von den Reformatoren verworfene Heiligen- u. Reliquienkult der Altgläubigen wird mit dem hier dargestellten Mirakelgeschehen um das hl. Kreuz demonstrativ bestätigt. Das zur Fastnacht 1593 aufgeführte allegor. Schauspiel Convivii Process (Die Verurteilung des Gastmahls) legt die frz. Moralität La Condamnation de Bancquet des Nicolas de la Chesnaye vom Ende des 15. Jh. zugrunde, die von C. übersetzt, umgestaltet u. erweitert wird. Er stellt das Stück durch Einbezug religiöser Elemente (z.B. Teufels- u. Engelsauftritte) in den Kontext des geistl. Dramas u. überführt es in die Publikumsgegenwart, indem er einige Allegorien zgl. als Repräsentanten typischer Stände u. sozialer Gruppierungen seiner Zeit agieren lässt. Im heilsgeschichtl. Verständnishorizont vermittelt C. nach dem Schema der Tugend-Laster-Konfrontation christl. Morallehre, die er mit strenger Sittenkritik verbindet. Am Beispiel der Todsünde Gula (Völlerei), die in der Personifikation des Convivium ein Wirtshaus führt, wird gezeigt, wie ihre hemmungslos prassenden Gäste, vertreten von Müßiggang u. seinen Kumpanen, nach zwei Überfällen durch Krankheiten (wie Colica, Lungensucht, Podagra), vom Tod zugrunde gerichtet u. von Teufeln in die Hölle geschleppt werden. In der sich anschließenden Gerichtsverhandlung unter Vorsitz der Experientia (Prüfung) wird Convivium zum Tod durch den Strang verurteilt u. exekutiert. Ausgaben: Joseph Schmid: R. C. Collectanea u. denkwürdige Sachen pro Chronica Lucernensi et Helvetiae. Luzern 1961–77. – Heinz Wyss: Das Luzerner Osterspiel. 3 Bde., Bern 1967. – Das Luzerner ›Spil deß Heiligen Crützes erfindung‹ v. R. C. In: Elke Ukena: Die dt. Mirakelspiele des SpätMA. Studien u. Texte. Bern/Ffm. 1975, S. 562–771. – Heidy Greco-Kaufmann: ›Spiegel dess uberflusses und missbruchs‹: R. C.s ›Convivii Process‹. Komm. Erstausg. der Tragicocomedi v. 1593. Zürich 2001. – Judith Gut: R. C., ›Dictionarius vel Vocabularius

527 Germanicus diversis Linguis respondens‹. Ed. u. Untersuchung. Münster u. a. 2006. Literatur: Walter Frei: Der Luzerner Stadtschreiber R. C. 1545–1614. Luzern 1963. – Heinrich Biermann: Die deutschsprachigen Legendenspiele des späten MA u. der frühen Neuzeit. Köln 1977. – Heinz Horat u. Thomas Klöti: Die Luzernerkarte v. Hans Heinrich Wägmann u. R. C. 1597–1613. In: Der Geschichtsfreund 139 (1986), S. 47–100. – Daniel Karbacher: R. C. (1545–1614). In: Sagenerzähler u. Sagensammler der Schweiz. Hg. Rudolf Schenda. Bern 1988, S. 139–160. – Heidy GrecoKaufmann: Sinneslust u. Eschatologie in R. C.s ›Convivii Process‹. In: Homo medietas. FS Alois Maria Haas. Hg. Claudia Brinker-v. der Heyde u. Niklaus Largier. Bern u. a. 1999, S. 367–379. – Judith Gut: Die ›begird der erkantnuß frömbder sprachen‹. Zu den Sprachforsch.en des Luzerner Stadtschreibers R. C. (1545–1614). In: Bausteine der Sprachgesch. Hg. Edith Funk. Heidelb. 2000, S. 121–135. Elke Ukena-Best

Czechowski, Heinz, * 7.2.1935 Dresden. – Lyriker u. Essayist. Der gelernte grafische Zeichner u. Reklamemaler besuchte 1958–1961 das Johannes R. Becher-Literaturinstitut in Leipzig, arbeitete 1961–1965 als Verlagslektor u. war 1971–1973 Mitarbeiter des Magdeburger Theaters. C. war Gründungsmitgl. der Freien Akademie der Künste zu Leipzig u. lebte von 1978 bis 1994 in Leipzig. Dann siedelte er nach Limburg an der Lahn über, von dort nach Schöppingen in Westfalen u. schließlich nach Frankfurt/M. Er erhielt u. a. 1977 den Heinrich-Heine-Preis der DDR u. 1984 Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste der DDR. 1990–1991 war er Stadtschreiber von Bergen-Enkheim, 1998 Stadtschreiber von Dresden. 1996 erhielt er den Hans-Erich-Nossack-Preis, 2001 den BrüderGrimm-Preis der Stadt Hanau. C. gehört zur sog. mittleren Generation der DDR-Literatur, zur »sächsischen Dichterschule«, der sich auch Volker Braun, Sarah u. Rainer Kirsch, Karl Mickel, Bernd Jentzsch in lockerer Weise zugehörig fühlten: Klopstock, Hölderlin, Erich Arendt waren ihre literar. Vorbilder, Georg Maurer ihr Lehrer. Der angemessene Ausdruck, die handwerkl. Präzision bei der Darstellung einer kritisch den

Czechowski

DDR-Sozialismus bejahenden Haltung galten ihnen als poet. Ziel. »Wir haben unsere gesellschaftliche Funktion begriffen und nehmen sie und uns ernst« (Georg Maurer). C. versucht, in seinen Gedichten Elemente der Natur- u. der Gedankenlyrik in subjektiven Konfessionen miteinander zu verbinden (Nachmittag eines Liebespaares. Halle/S. 1962. 2 1963. Wasserfahrt. Halle/S. 1967). Dabei sind die Stadt Dresden, ihr Untergang im Krieg, ihre Umgebung oft Thema seiner Gedichte. Aus dem »Lob des Hierseins« in den frühen Arbeiten entwickeln sich »komponierte biographische Ausschnitte« (Czechowski), die ihren Reiz durch den Widerspruch zwischen Ich-Verlust u. Weltgewinn erhalten. Landschaften, Städte u. deren Geschichte sind Anlass zu zeigen, was den Autor u. seine Generation gebildet hat (Schafe und Sterne. Halle/ S. 1974). In den folgenden Jahren wuchs die Skepsis: »Spektakuläre Durchbrüche / Gelingen uns nicht«, heißt es in einem Gedicht. C. u. seine Generation fühlten sich nicht angenommen, nicht verstanden – die Gedichte suchen Entsprechungen in anderen Ländern, bei fernen Leidensgenossen, sie reden von Schmerz u. Tod, ihr Ton wird härter (Was mich betrifft. Halle/Lpz. 1981). Die nach der Mitte der 1980er Jahre entstandenen Gedichte zeigen wachsendes Interesse an historisch-philosophischem Denken: »Ich habe nicht Geschichte gemacht, Geschichte hat mich gemacht, ich bin Objekt gewesen« (aus: Ich und die Folgen. Reinb. 1987). Seine letzten Gedichtbände (u. a. Mein Westfälischer Frieden. Ein Zyklus 1996–1998. Köln 1998. Seumes Brille. Aschersleben 2000. Düsseld. 2002) zeigen C. als einen Autor, der zunehmend unter Heimatlosigkeit leidet u. sich in einem »schalltoten Raum« zu einer »echolosen Existenz« verurteilt fühlt; der Ton ist jedoch nicht klagend, sondern eher lakonisch u. sarkastisch. Zu den Themen, mit denen sich seine jüngeren Texte befassen, zählen die Entwicklung der Nach-Wende-Gesellschaft, der Verfall der Kultur u. die harte, ernüchternde Wirklichkeit des Alltags. In Pole der Erinnerung (Düsseld.), seiner 2006 vorgelegten Autobiografie, berichtet C. offen u. schonungslos von seiner Kindheit, seinem Werdegang u. seiner sich im

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steten Widerstreit zur polit. u. gesellschaftl. Czepko, Daniel (D. von Czepko und ReiWirklichkeit entwickelnden Schriftsteller- gersfeld), * 23.9.1605 Koischwitz bei karriere. Liegnitz, † 8.9.1660 Wohlau/Schlesien; Weitere Werke: König Drosselbart. Urauff. 1969 (Kinderstück nach Grimm). – Dresden. Landschaft der Kindheit. Halle 1969 (Reportage). – Rumpelstilzchen. Urauff. 1972 (Kinderstück nach Grimm). – Spruch u. Widerspruch. Aufsätze u. Besprechungen. Halle 1974. – Von Paris nach Montmartre. Erlebnis einer Stadt. Halle 1981. – Herr Neithardt geht durch die Stadt. Landschaften u. Porträts. Halle 1983. – An Freund u. Feind. Halle u. Mchn. 1983 (Lyrikausw.). – Der Meister u. Margarita. Urauff. 1986 (D. nach Michail Bulgakow). – Ich, beispielsweise. Lpz. 1986 (L.). – Mein Venedig. Bln. 1989 (L., P.). – Auf eine im Feuer versunkene Stadt. Gedichte u. Prosa 1958–88. Halle 1990. – Nachtspur. Zürich 1993 (L., P.). – Wüste Mark Kolmen. Zürich 1997 (L.). – Das offene Geheimnis. Liebesgedichte. Düsseld. 1999. – Die Zeit steht still. Düsseld. 2000 (L.). – Der Garten meines Vaters. Landschaften u. Orte. Düsseld. 2003. Literatur: Gerd Labroisse: Reflexionen eines lyr. Ich. Bemerkungen zum Werk v. H. C. In: Studies in GDR culture and society 5. Lanham 1985, S. 293–307. – Adrian Stevens: Dichtung u. Gesch. Bemerkungen zur Lyrik H. C.s. In: Ein Moment des erfahrenen Lebens. Hg. John L. Flood. Amsterd. 1987, S. 36–50. – Gerd Labroisse: Verwortete ZeitVerflechtungen. Zu H. C.s neuen Texten. In: Ders. u. Anthonya Visser: Im Blick behalten. Lyrik der DDR. Amsterd. 1994, S. 29–85. – Jürgen Serke: H. C. Gefangen in den Ruinen des Anfangs. In: Ders.: Zu Hause im Exil. Dichter, die eigenmächtig blieben in der DDR. Mchn. 1998, S. 187–215. – Ian Hilton: H. C.: a paradise lost. In: Lit. u. Ökologie. Hg. Axel Goodbody. Amsterd. 1998, S. 101–122. – Massimo Bonifazio: H. C. u. Richard Pietraß. Zwei Poetiken im Vergleich. In: Zehn Jahre nachher. Poet. Identität u. Gesch. in der dt. Lit. nach der Vereinigung. Hg. Fabrizio Cambi. Trento 2002, S. 351–365. – Dorothea v. Törne: H. C. In: LGL. – Wolfgang Emmerich u. Hermann Korten: H. C. In: KLG. Konrad Franke / Red.

Grabstätte: bei der Friedenskirche in Schweidnitz. – Verfasser weltlicher u. geistlicher Lyrik u. zeitgeschichtlicher Schriften. C.s Vater, der luth. Pastor Daniel Czepko d.Ä., wurde 1606 Pfarrer in Schweidnitz. Hier besuchte C. seit 1612 die Lateinschule. 1623/24 studierte er ein Semester Medizin in Leipzig, um dann in Straßburg zur Jurisprudenz überzuwechseln. Besonderen Einfluss übte auf ihn sein Geschichtsprofessor Matthias Bernegger aus, der sich für den konfessionellen Ausgleich einsetzte. Nach einer Tätigkeit am Reichskammergericht in Speyer kam C. Ende 1626 in seine Heimatstadt zurück. Auf der Suche nach besseren Arbeitsbedingungen ging er Mitte 1628 nach Brieg, 1630–1632 war er Hauslehrer auf Gutshöfen in Oberschlesien. Zwei Jahre lebte C. in Dobroslawitz bei Cosel bei dem Katholiken Baron Czigan von Slupska, in dessen Freundeskreis Böhme-Anhänger Pansophie, Quietismus u. Mystik propagierten. Dort schuf C. den größten Teil seiner frühen Dichtungen. Nach Schweidnitz zurückgekehrt, heiratete er 1637 Anna Catharina Heintze, eine Arzttochter, die vier Landgüter in die Ehe brachte. C. setzte sich nun mit großem Eifer für die Sache der Protestanten ein. Nachdem Schweidnitz am 3.6.1642 vor den Schweden kapituliert hatte, kam er auf die »Rebellenliste« der Habsburger. C. antwortete mit einer Verteidigungsschrift. Bereits drei Jahre nach dem Abzug der Schweden arbeitete er, der als Lutheraner immer seine Kaisertreue betonte, für den Landeshauptmann Georg Ludwig Graf von Stahremberg. Nach einer Inspektionsreise nach Striegau u. Landeshut verfasste C. den Bericht Von Ursachen der Verterbung und Auffrichtung der Städte (1648). In den 1650er Jahren schloss er zwei historischgeograf. Werke ab, die Schweidnitzische JahrGeschichte u. den Kurzen Begriff der Fürstentümer Schweidnitz und Jauer. Seit dem Friedensschluss galt C.s ganze Kraft dem Bau der Friedenskirche in Schweidnitz, deren erste Pastoren er persön-

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lich auswählte u. deren Kirchenordnung er entwarf. Erst nach dem Tod seiner Frau nahm er 1657 eine Ratsstelle am Hof zu Ohlau an. Im Okt. 1658 ging er im Auftrag der Piastenherzöge als Gesandter nach Wien u. wurde dort, nachdem bereits 1656 sein Anspruch auf ein Adelsprädikat anerkannt worden war, zum Kgl. Rat ernannt. Während einer Inspektion der Reichensteiner Bergwerke erlitt C. eine Gasvergiftung u. starb an ihren Folgen. Über zwei Jahrzehnte arbeitete C. an seiner umfangreichsten Dichtung Coridon und Phyllis (1647). Humanist. Gelehrsamkeit, antiorthodoxe Irenik u. antihöf. Haltung verbinden sich mit C.s Lob des Landlebens. Im ersten Buch nimmt Coridon (Czepko) Abschied von Daphnis (Czigan) u. Phyllis (dessen Schwester). Die Verse handeln von Abschiedsschmerz, Freundschaft, Liebe, aber auch von der Sehnsucht nach Ruhe u. Frieden. Nach Kriegsende hofft Coridon auf Aussöhnung, Amnestie u. Aufhebung des Gewissenszwanges. Das zweite, umfangreichste Buch stellt die Zeitverhältnisse aus der Sicht des freien Landmanns kritisch dar. Fürsten, Höflinge, Beamte, Geistliche u. Bürger werden eines lasterhaften Lebens beschuldigt. Coridon verurteilt die Poesiefeindlichkeit des Hofes, das A-la-mode-Wesen, den konfessionellen Streit, den Krieg u. seine Verbrechen. Im letzten Buch entwirft C. anhand der Fach- u. Hausväterliteratur das Bild eines musterhaften Meierhofs. In den Drey Rollen Verliebter Gedancken (verf. 1634) benutzt C. Wendungen, die später in seinen myst. Monodisticha auftreten. Auch die anderen Liebesgedichte verzichten nicht auf fromme Spekulation u. Reflexion, obwohl der Poet galant sein kann u. die Petrarkisten kennt. Gewagt dagegen sind die Erotica in den Satyrischen Gedichten, die Satiren, Maximen, Widmungen, mehrstrophige Gedichte mit Pointe u. Epigramme, darunter Entlehnungen aus Martial, enthalten. Zahlreiche dieser satir. Einfälle hat C. in dt. u. lat. Fassung ausgestaltet; die von sokratischem Spott geprägte lat. Gelegenheits- u. FreundschaftsDichtung ist von ihm selbst in den Poematum fasciculi variorum arrangiert u. die einzelnen

Czepko

Abschnitte den Freunden, allen voran Martin Opitz, gewidmet worden. C.s einziger dramat. Versuch Pierie (Breslau 1636) entstand in der Nachfolge von Opitz’ Daphne u. Judith. Das dreiaktige Stück, aus Anlass der Hochzeit des Herzogs Heinrich Wenzel zu Münsterberg veröffentlicht, ist wohl nicht zuletzt die Situation Schlesiens im Dreißigjährigen Krieg in die Antike zurückprojiziert. Es entwirft eine utop. Versöhnung: Der Kampf der Milesier u. Myuntier findet durch Heirat des Prinzen von Milet mit Pierie aus dem gegnerischen Lager einen friedl. Ausgang. Zu den frühen Sammlungen geistlicher Gedichte C.s zählt die Gegenlage der Eitelkeit. Von der Eitelkeit zur Wahrheit (verf. 1632). Sowohl die Vergänglichkeitsthematik u. -metaphorik als auch die Zahl der Gedichte verweisen auf Andreas Gryphius’ Sonnete (Lissa 1637). Die Gedichte der Sammlung C.s spiegeln den im Titel angedeuteten myst. Gedanken, die Sache könne nur aus ihrem Gegensatz erkannt werden. Die Sexcenta Monodisticha Sapientum (verf. 1640–47) sollten in ihrer neuartigen Knappheit Vorbild der Sinngedichte des Cherubinischen Wandersmanns von Angelus Silesius werden. In den geistl. Epigrammen tritt die Metapher zugunsten des direkten Benennens weitgehend zurück. C. bemüht sich um ein »wesentliches« Sprechen u. Lesen. Erst durch ein Lesen »mit dem Herzen« werden die Wunder, die die Gedichte enthalten, »empfunden« u. vermitteln die Erkenntnis Gottes, die zur »unio mystica«, zur Einheit von Seele u. Gott führen soll. Die sechs Bücher sollen als sechs Stufen der myst. Erleuchtung zur inneren Erneuerung führen. Das Werk endet in Analogie zum siebenten Schöpfungstag mit dem Hinweis auf das ungeschriebene siebente Buch: die letzte Stufe, die der Ruhe u. Beschauung. Das nach Breslau zum Druck gesandte Werk bekam keine Druckgenehmigung vom Rat, da der zuständige Zensor Ananias Weber, Kircheninspektor zu S. Elisabeth, darin calvinistisches Gedankengut witterte u. das Manuskript dem Autor retournierte. Der Gedichtzyklus Semita Amoris Divini (1657) mit dem Untertitel Das Heilige Drey Eck

Czepko

handelt über die wichtigsten Tage im Leben Christi: über die Menschwerdung, im Mittelteil über die Kreuzigung u. im dritten Teil über die Auferstehung, die Himmelfahrt u. das Pfingstfest. Die Dichtung ist ein Aufruf zur Nachfolge Christi. C. verbindet seine Naturspekulation nicht mit der Mystik, sondern mit der Rechtfertigungslehre Luthers. Der Grund dürfte darin liegen, dass Das Heilige Drey Eck ursprünglich als Chorwerk für die Einweihung der Schweidnitzer Friedenskirche (1657) gedacht war, worauf die Texte für Chöre u. Solostimmen des Mittelstücks hindeuten. Weniger die Theologie als Alchemie, Magie u. Kabbala liefern C. die Argumente. Nach der Offenbarung der Natur gilt C. die Dreizahl als Grundgesetz der Schöpfung, so wie das Dreieck das Gesetz der Einheit in der Dreiheit in sich birgt. »Wenig Tage vor seinem [...] Hintritt« verfasste C. ein 33 Strophen zählendes Gedicht, die Rede aus meinem Grabe (Breslau 1660); der Schwiegersohn Christian Tralles ließ diesen selbstverfassten Nachruf C.s bei seiner Beerdigung verteilen. Gryphius veröffentlichte das Werk seines »Freundes und Schwagers« wenig später im Anhang zu den Kirchhoffs-Gedancken (in: Freuden- und TrauerSpiele. Breslau 1663). Postum erschienen auch C.s sieben Psalmenparaphrasen als Siebengestirne Königlicher Buße (Brieg 1671). C. hatte in den letzten Lebensjahren sein Werk – wohl für eine geplante Drucklegung seiner Dichtung – mit Überlegung neu geordnet u. z.T. geschickt umarrangiert. Die Amtsgeschäfte für den Ohlauer Hof u. sein unversehener Tod (weniger die Schwierigkeiten mit der Zensur) haben eine Publikation des Werks noch zu Lebzeiten des Autors u. damit eine (sicher nicht geringe) Nachwirkung verhindert. Erst im 20. Jh. haben mehrere literaturhistor. Studien über den Dichter sowie die Veröffentlichung seiner Geistlichen Schriften (1930) u. Weltlichen Dichtungen (1932) aus dem umfangreichen, in Abschriften überlieferten Nachlass das Interesse an seinem Werk belebt. Ausgaben: Geistl. Schr.en. Hg. Werner Milch. Breslau 1930. – Weltl. Dichtungen. Hg. Ders. Breslau 1932. Nachdr. Darmst. 21963. – Sämtl. Werke. Unter Mitarb. v. Ulrich Seelbach hg. v.

530 Hans-Gert Roloff u. Marian Szyrocki. 6 Bde. in 8 Tln., Bln. 1980–97. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 2, S. 983–995. – Milch 1934 (s. u.), S. 211–275. – Weitere Titel: Carl Theodor Strasser: Der junge C. Mchn. 1913. – Werner Milch: D. v. C. Persönlichkeit u. Leistung. Breslau 1934. – Marian Szyrocki: Sozial-polit. Probleme in der Dichtung C.s. In: Germanica Wratislaviensia 2 (1959), S. 57–67. – Theodorus Cornelis van Stockum: Zwischen J. Böhme u. J. Scheffler: Abraham v. Franckenberg u. D. C. v. Reigersfeld. Amsterd. 1967 – Hugo Föllmi: C. u. Scheffler. Diss. Zürich 1968. – Annemarie Meier: D. C. als geistl. Dichter. Bonn 1975. – Bernard Gorceix: Mystique, spéculation et poésie chez D. C. In: Ders.: Flambée et Agonie. Mystiques du XVIIe siècle allemand. Sisteron 1977, S. 47–93. – Sibylle Rusterholz: Rhetorica mystica. Zu D. C.s Parentatio auf die Herzogin Louise. In: Leichenpredigten als Quelle histor. Wiss.en. Bd. 2, Marburg 1979, S. 235–253. – Wilhelm Kühlmann: Ein schles. Dichter am Oberrhein. Unbekannte Gedichte aus der Straßburger Studienzeit D. v. C.s (1981). In: Kühlmann/Schäfer (2001), S. 61–76. – Siegfried Sudhoff: D. v. C. In: Dt. Dichter des 17. Jh. Hg. Harald Steinhagen u. Benno v. Wiese. Bln. 1984, S. 227–241. – Ulrich Seelbach: Hohberg u. C. In: Daphnis 16 (1987), S. 711–716. – Hans-Gert Roloff: D. C.s ›Poema Germanicum‹. Ed. u. Interpr. In: Textkritik u. Interpr. Hg. Heimo Reinitzer. Bern 1987, S. 95–141. – Ders.: D. C.s ›Pierie‹. In: Chloe 7 (1988), S. 599–613. – Ders.: D. C. In: German Baroque Writers, 1580–1660. Hg. James Hardin. Detroit 1996, S. 81–87. – Niklaus Largier: Die Mitte der Zeit. Apokatastasis als Naturerfahrung in D. C.s ›Consolatio ad Baronissam Cziganeam‹. In: Homo Medietas. FS Alois Maria Haas. Hg. Claudia Brinker-v. der Heyde u. ders. Bern 1999, S. 221–239. – Ferdinand van Ingen: D. v. C.s ›Consolatio ad Baronissam Cziganeam‹. Tröstung, Rhetorik u. Psychologie. In: Daphnis 29 (2000), S. 197–220. – Dietmar Peil: Krieg u. Frieden in C.s ›Coridon u. Phyllis‹. In: Memoria Silesiae. Hg. Miroslawa Czarnecka u. a. Breslau 2003, S. 91–101. – Misia Sophia Doms: Zufluchtsorte u. fließende Räume. Betrachtungen zur (Zeit)Räumlichkeit der Seele in der geistl. Dichtung D. C.s. In: Daphnis 35 (2006), S. 673–699. – F. van Ingen: ›Mich hält dein Wort, dich mein Gemüthe‹. Zu D. C.s Bußpsalmen. Ebd., S. 701–736. /

Marian Szyrocki † / Ulrich Seelbach

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Czernin, Franz Josef, * 7.1.1952 Wien. – Verfasser von Gedichten, Übersetzungen, Aphorismen u. Essays, Literaturtheoretiker. Nach der Reifeprüfung 1971 in Wien studierte C. an der Indiana University (Bloomington, USA), ohne einen Abschluss zu machen. Seit 1978 veröffentlicht er Lyrik, Prosa, Theaterstücke u. Aphorismen sowie Essays u. wiss. Aufsätze. Für sein Werk wurden ihm zahlreiche Preise verliehen, darunter zuletzt der Heimito-von-Doderer-Preis für literarische Essayistik (1998), der HeimradBäcker-Preis (2003), der Literaturpreis des Landes Steiermark (2004) sowie der GeorgTrakl-Preis für Lyrik (2007) u. der Österreichische Staatspreis für Literaturkritik (2007). C. lebt seit 1980 überwiegend in Rettenegg/ Steiermark u. in Wien. C.s Dichtung entfaltet sich in vielen literar. Genres; seine Texte greifen unterschiedl. Formen u. Traditionen des Schreibens auf u. entwickeln sie weiter. Literatur u. Ästhetik des Barock u. der Frühromantik werden dabei ebenso zum Bezugspunkt wie jene des Symbolismus u. der Avantgarde. Neben deren sprachmaterialen Ansätzen verbindet seine Arbeit manches mit der Literatur Mallarmés, Trakls u. Georges; auch C. ist auf der Suche nach einer poet. Sprache, die die Dinge nicht direkt ausspricht, sondern andeutet, u. die durch eine strenge Organisation Züge des Zufälligen hinter sich lässt. In der Lyrik arbeitet C. an einem nicht auf einen Abschluss hin angelegten Projekt einer »Enzyklopädie des Dichtens«: Er erkundet traditionelle Gedichtformen, z.B. Terzinen, Sestinen oder auch freie, aufgebrochene Formen, etwa in gedichte. (aus: die kunst des dichtens) (Graz/Wien 1992), sowie das Sonett, so in der dreiteiligen kunst des sonetts (Graz 1985–93), einem potenzierten Sonettenkranz aus 196 Texten, der u. a. die Begriffsfelder des Pflanzlichen, der Körperlichkeit, des Denkens, Fühlens u. der Zeitlichkeit variiert. Ebenso fragt C. nach der Rolle von Übersetzung der Lyrik anderer in diesem enzyklopäd. System, v. a. in seinen Übertragungen von Shakespeare-Sonetten (Sonnets, Übersetzungen. Mchn./Wien 1999), die auf die Über-

Czernin

führung der inneren poet. Form über die Sprach- u. Epochengrenzen hinweg abzielen. Einzelne zuvor nicht veröffentlichte Übersetzungen sind in den Band elstern. versionen (Düsseld. 2006) eingegangen, der v. a. im Hinblick auf die Gegenstände u. die »Höhe« des poet. Tones als eine Vorausdeutung auf das künftige Werk C.s gesehen werden kann. Der Band elemente. sonette (Mchn./Wien 2002) ist auch als die Zusammenführung von Moderne u. Tradition zu lesen; das Besondere an den die vier Elemente bedichtenden Sonetten ist das ebenso unauflösbare Wechselspiel zwischen den poet. Mitteln (der Versform, der Strophenform, dem Metrum, der Vokalführung, der Prosodie) u. dem das Gedicht leitenden Gedanken. Dieser Gedanke greift oftmals Motive aus der Religion, der Mythologie, auch Klischees u. Stereotype auf. Diese sind im Fall der elemente, sonette häufig Redewendungen u. Phrasen, die aus ihrer demotivierten, bildvergessenen Bedeutung remotiviert werden: zurück in das Bild versetzt, das sie ursprünglich bedeutet haben. Aus diesem prozesshaften Moment ergibt sich ein weiterer charakterist. Zug der elemente, sonette: ihr Selbstbezug, der durchaus modernistisch zu nennen ist (z.B. wenn ein Gedicht über die Schmuck- u. Kleidhaftigkeit der eigenen Rede nachdenkt). Einen zentralen Platz in C.s Werk nimmt die Aphoristik ein; einen frühen Höhepunkt bildet der Band die aphorismen. eine einführung in die mechanik (Wien 1992). Die einzelnen Aphorismen werden hier mit einem Klassifikationssystem versehen, dessen Zahlencodes Haupt- u. Nebenbegriffe bilden u. die Aphorismen verschiedenen Perspektiven u. Haltungen zuordnen. Diesem mechanist. Weltbild steht mit dem 2005 erschienenen Band das labyrinth erst erfindet den roten faden. einführung in die organik (Mchn./Wien) eine antithetische Antwort aus dem Geist der Organik entgegen: Hier ist jeder einzelne Aphorismus stärker in sein eigenes Recht gesetzt. Übertragungen zwischen dem in den einzelnen Texten Ausgedrückten folgen hier nicht den Gesetzen von Kausalität u. Induktion, sondern eine gestalthafte »Organik« leitet die Verweiskraft der einzelnen Knotenpunkte in einem imaginären Netz des poet. Denkens.

Czurda

C. veröffentlichte Essays u. Studien zum Werk anderer Dichter (darunter Clemens Brentano u. Paul Wühr). Über die Analyse ihrer Poesie u. Poetik gelangt er zu eigenen Reflexionen über den Zusammenhang von Poesie u. Erkenntnis. In den letzten Jahren hat sich C. v. a. mit der Theorie der poet. Metapher beschäftigt, zu der er Essays, aber auch wiss. Aufsätze publiziert. Das Ziel ist dabei nicht ein allg. Verständnis der Metapher, sondern etwas Spezifischeres: zu verstehen, was oder wann Metaphern in literar. Texten sind. Gerade systematisch-wiss. Metapherntheorien, so C., lassen zentrale Momente des Umgangs mit literar. Texten außer Acht u. damit auch wesentl. Aspekte der spezifisch poet. Form von Erkenntnis. Erste Einblicke in die mit der Methode der analyt. Philosophie verfassten Aufsätze C.s finden sich in seinen Beiträgen in dem Band Zur Metapher (Hg. C. u. Thomas Eder. Mchn./Paderb. 2007); eine große Monografie ist in Vorbereitung. Weitere Werke: ossa u. pelion. Linz/Wien 1979. – anna u. franz. mundgymnastik u. jägerlatein. fünf sonette. Linz/Wien 1982. – Glück? ein fragment der maschine. Linz/Wien 1984. – gangan buch 6. jahrbuch 1989 für zeitgenöss. lit. Hg. zus. mit Ferdinand Schmatz. Graz/Wien 1988. – Sechs tote Dichter (Hausmann, Kafka, Kraus, Musil, Trakl, Priessnitz). Wien 1992. – Apfelessen mit Swedenborg. Ess.s zur Lit. Düsseld. 2000. – Voraussetzungen. Vier Dialoge. Graz/Wien 2002. – Briefe zu Gedichten. Zus. mit Hans-Jost Frey. Basel u. a. 2003. – Der Himmel ist blau. Zur Poesie. Basel u. a. 2007. Literatur: Thomas Eder: F. J. C. In: KLG. – Ders.: F. J. C. In: LGL. – F. J. C. Akzente. Hg. Michael Krüger. H. 4 (2004). Thomas Eder

Czurda, Elfriede, * 25.4.1946 Wels/Oberösterreich. – Verfasserin von Prosa, Lyrik, Hörspielen u. Essays. Nach dem Besuch der Handels- u. der Arbeitermittelschule (Matura 1968) u. einem einjährigen Aufenthalt in London studierte C., die als lediges Kind in dörflicher Armut aufgewachsen war, Kunstgeschichte u. Archäologie in Salzburg u. Paris; 1974 wurde sie mit einer Arbeit über Eugène Fromentin zum Dr. phil. promoviert. Sie lebte danach in Wien,

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war 1975/76 Generalsekretärin der Grazer Autorenversammlung, 1978–1983 deren Vizepräsidentin, arbeitete 1976–1981 als Lektorin für den Autorenverlag »edition neue texte« in Linz u. ging 1980 nach Berlin. Dozenturen führten sie in den neunziger Jahren nach Wien, Tokio u. Bowling Green (Ohio, USA), 2005 an die Universität Nagoya. Seit 2007 lebt sie wieder in Wien. C. forscht nach Möglichkeiten weiblicher Erfahrungen u. Identitätsbildung in einer männlich geprägten Denk- u. Lebenswelt. Ihre Texte befragen kritisch u. humorvoll die Grundlage des Systems »Sprache« zur Ausbildung sozialen Verhaltens. In ihrer Prosa löst sie das – nach de Saussure – bindende Verhältnis von Bezeichnendem u. Bezeichnetem des sprachl. Zeichens. Diotima oder Die Differenz des Glücks (Reinb. 1982), eine Montage aus Traumvorstellungen u. Erinnerungsstücken, Monologen u. Schilderungen von Konflikten, zeigt anhand der Beziehung von Diotima u. Abälard die Notwendigkeit, Liebe als weibl. Strategie des Überlebens zu konstruieren. Die Konstellation von weiblichem Ich u. männl. Gegenüber macht das System wechselseitiger Projektionen als Vorbedingung wie auch Verhinderung von Glück sichtbar. Im Roman Signora Julia (Reinb. 1985) ist der Liebesort von Arkadius u. Julia eine paradiesische Landschaft. Der Plan des Mannes, gemeinsam als großes Liebespaar in die Geschichte einzugehen, scheitert. Die Außenwelt dringt mit Theorien u. Zitaten in das Idyll ein u. fordert Trennung. Beeinflusst vom frz. Poststrukturalismus, geht es C. um die »Inversion der Sprache« (Preußer). Im »Abenteuerroman« Kerner (Reinb. 1987), in dem Klischees der Männlichkeit im Mittelpunkt stehen, versucht der Masseur Kerner während eines Urlaubs in den Bergen, in der Idealwelt erhabener Natur, vergeblich, seine Erinnerung an die von ihm unterdrückte Frau, die »gute dürre Anna«, u. seine von ihm vergewaltigte elfjährige Tochter Edith loszuwerden. Nach anfänglichem krankhaften Streben nach Glück der Protagonistinnen kommt es in den beiden bisher erschienenen »Romanen« der geplanten Trilogie mit dem Arbeitstitel Drei Doppelleben zu Gegenwehr in einer grundle-

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gend gewalttätigen Ordnung: Else vergiftet ihren Ehemann Hans (Die Giftmörderinnen. Reinb. 1991), Magdalena ertränkt ihren Liebhaber Paul in der Badewanne u. zerteilt ihn, bevor sie sich in den Fluss stürzt (Die Schläferin. Reinb. 1997). Nach den Anagrammen der späten 1980er Jahre (Fälschungen. Bln. 1987) veröffentlichte C., für die Sprache »der Gedankenlosigkeit ein System von sprachlichen Reflexen als Antwort auf außer- und innerkörperliche Vorfälle zur Verfügung« stellt, die Gedichtbände Voik. Gehirn Stockung Notat Stürme 10.10.1989 – 29.12.1990 (Graz/Wien 1993), UnGlüxReflexe. Strategien Starrsinn Stimmungen Strophen (Graz/Wien 1995) u. Wo bin ich wo es ist. sindsgedichte (Graz/Wien 2002). C. wurde u. a. mit dem Hörspielpreis des Österreichischen Rundfunks (1980), dem Theodor-Körner-Preis (1984), dem Alexander-Sacher-Masoch-Preis (1997) u. dem Kulturpreis für Literatur des Landes Oberösterreich (2000) ausgezeichnet. Weitere Werke: ein griff = eingriff inbegriffen. Bln. 1978. – Fast 1 Leben. Ein Fragment. Wien 1981. – Der Fußballfan oder Da lacht Virginia Woolf. Baden 1982. – Das Confuse Compendium. Bln. 1991 (L., mit Zeichnungen v. Thomas Horne-

Czurda mann). – Buchstäblich: Unmenschen. Graz/Wien 1995 (Ess.s). – Gemachte Gedichte. Wortkörper, Weltkörper, Wörterkörper. Grafiken u. Gestaltung v. Stefanie Roth. Bln. 1999. – Krankhafte Lichtung. 3 wahnhafte Lieben. Bln. 2007 (E.en). – blätter, weiß wie weiß. Wien 2008. Literatur: Detlef Kremer: Schnittstellen. Erhabene Medien u. groteske Körper. Elfriede Jelineks u. E. C.s feminist. Kontrafakturen. In: Vergangene Gegenwart – Gegenwärtige Vergangenheit. Hg. Jörg Drews. Bielef. 1994, S. 139–174. – Heinz Müller-Dietz: Die Metapher der Wirklichkeit. Anmerkungen zu E. C.s Roman ›Die Giftmischerin‹. In: West-östl. Divan zum utop. Kakanien. Hg. Annette Daigger, Renate Schröder-Werle u. Jürgen Thöming. Bern u. a. 1999, S. 187–217. – Bettina Fraisl: Auf-Bruch u. Ab-Gesang. E. C.s rebellische Tonfolgen. In: Schreibweisen. Poetologien. Die Postmoderne in der österr. Lit. v. Frauen. Hg. Hildegard Kernmayer u. Petra Ganglbauer. Wien 2003, S. 19–41. – Dies.: E. C. In: LGL. – Heinz-Peter Preußer: E. C. In: KLG. – Ders.: Dekonstruktion des Mannes im Klischee. E. C.s ›Abenteuerroman‹ ›Kerner‹. In: Weiblichkeit als polit. Programm? Sexualität, Macht u. Mythos. Hg. Bettina Gruber u. H.-P. Preußer. Würzb. 2005, S. 139–152. – Florian Neuner u. Christian Steinbacher (Hg.): Porträt E. C. Linz 2006 (Die Rampe). Sabine Scholl / Bruno Jahn

D Dach, Simon, im Königsberger Dichterkreis auch: Chasmindo, Sichamond, Ischmando, * 29.7.1605 Memel, † 15.4. 1659 Königsberg. – Lyriker. In Memel wuchs D. als Sohn eines Gerichtsdolmetschers für das Litauische, Polnische u. Kurländische im Haus seiner Eltern auf. Obwohl die Mutter aus einer ratsfähigen Memeler Familie stammte, lebte die Familie in beschränkten Verhältnissen. Seine Schulbildung erhielt D. zunächst in Memel, bis ihm Verwandte die Übersiedlung nach Königsberg u. den Besuch der dortigen Domschule ermöglichten. Als Famulus des jungen Theologen Martin Wolter, eines Verwandten, zog er 1620 nach Wittenberg, wo er bis 1623 die Stadtschule besuchte. Von dort siedelte er zu einem dreijährigen Gymnasiumsbesuch nach Magdeburg über. Nach dem Tod seines dortigen Mentors Christian Vogler, auch er ein Verwandter, u. wegen der Pest- u. Kriegsgefahr kehrte D. 1626 endgültig nach Königsberg zurück u. immatrikulierte sich hier als Student der Theologie. Allerdings widmete er sich bald den klass. Sprachen, der Rhetorik u. Poesie, jedoch ohne sein Studium mit einem akadem. Grad abzuschließen. Nach einer Anstellung als Hauslehrer bei einem Kneiphöfischen Ratsherrn wurde er 1633 Kollaborator (vierter Lehrer) an der Domschule; 1636–1639 war er deren Konrektor. Beziehungen seines Freundes Robert Roberthin u. geschickt lancierte Gratulationsgedichte für den Kurfürsten u. Kurprinzen bereiteten 1638 den Absprung aus dem Schuldienst vor. Am 1.8.1639 wurde D. zum Professor der Poesie ernannt, 1640 zum Magister promoviert. Als Fakultätsmitgl. der Königsberger Universität übernahm D. fünf-

mal das Dekanat u. einmal das ehrenvolle Amt des Rektors (1656). Zwei Jahre nach seiner Beförderung zum Professor heiratete D. Regina Pohl, die Tochter eines Königsberger Hofgerichtsadvokaten. Aus der Ehe mit »Pohlinchen« gingen fünf Kinder hervor, um deren künftige Versorgung er sich in den letzten Lebensjahren Sorgen machte. Trotz einer freien Wohnung, die ihm der Rat 1644 zugestanden hatte, u. ungeachtet der zeitweise beachtl. Nebeneinkünfte durch Auftragsdichtungen blieben D.s wirtschaftl. Verhältnisse bescheiden. Wie für einen »poeta doctus« seiner Zeit selbstverständlich, dichtete D. in dt. u. lat. Sprache. Mehr als ein Fünftel seiner insg. weit über 1400 Dichtungen verfasste er auf Neulateinisch. Noch ganz in der nlat. Dichtungstradition aufgewachsen, schätzte D. zunächst seine lat. Carmina höher ein als seine dt. Dichtungen. Bekannt aber wurde er für seine dt. Gedichte u. Lieder. Sein poet. Schaffen bestand v. a. aus personalen Gelegenheitsdichtungen. Auch die beiden Liederspiele D.s, für die Heinrich Albert die (größtenteils verschollenen) Partituren schrieb, sind Anlassdichtungen (Erstdr. in der Chur-Brandenburgischen Rose). Sie stehen am Beginn der Königsberger Oper. Das erste dieser Singspiele, Cleomedes, wurde 1635 anlässlich des Aufenthalts des poln. Königs Wladislaw IV. aufgeführt. Es verherrlicht in Form eines Hirtenspiels die polit. Erfolge Wladislaws. Das zweite Werk, Sorbuisa, wurde 1644 im Rahmen der aufwendigen Hundertjahrfeier der Königsberger Universität konzipiert u. in Szene gesetzt. Gegenstand sind Kolonisierung u. Zivilisierung Ostpreußens. Gesittung u. Kultur veredeln die barbar. »Sorbuisa« (Borussia = Preußen), dramatisch

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sinnfällig gemacht durch das Heimischwerden der Musen u. Apolls auf dem Königs-Berg als einem nördl. Helikon. Hier wird wie in zahlreichen Gedichten Preußen als identitätsstiftender Bezugsraum für D.s Dichtung u. poet. Selbstpositionierung erkennbar. Eine bedeutende Rolle in D.s poet. Werk spielte die Lieddichtung. Durch seine Zusammenarbeit mit dem ihm freundschaftlich verbundenen Albert u. anderen Königsberger Komponisten gelangten viele seiner Casualcarmina zur Vertonung. Andere fanden in die Preußischen, Frankfurter u. Hamburger Gesangbücher des 17. Jh. Aufnahme. Daneben schrieb D. zahlreiche Lieder auch eigens für zeitgenöss. Sammlungen u. Gesangbücher. Bis heute finden sich einige seiner Lieder in litauischen Gesangbüchern. D.s frühste bekannte Schrift war eine in der Magdeburger Gymnasialzeit als rhetor. Schulübung entstandene griechischsprachige Sammlung mit Zitaten zur Astrologie (1625). Mit Ausnahme der Einladung zu seiner Antrittsvorlesung (1639) u. der von ihm als Präses verteidigten Magisterdisputation (1640) hinterließ D. keine akadem. Schriften. Als Professor poëseos gehörte es aber zu seinen Aufgaben, jährlich zu Ostern, Pfingsten u. Weihnachten Festdichtungen in lat. Sprache vorzulegen. Die umfangreichsten Gedichte, die von D. als Einzeldrucke erschienen, waren mehrere geistl. Dichtungen in dt. Sprache, darunter eine Übersetzung des jesuit. Passionsgedichts Christus Patiens von Carolus Malapertus (1651). Selbst der luth. Reformorthodoxie zuneigend, nahm D. in dem zu seinen Lebzeiten in Königsberg heftig geführten Synkretismus-Streit eine offenbar vermittelnde Position ein. Mit Albert u. Roberthin bildete D. den Mittelpunkt des sog. Königsberger Dichterkreises. Sozialgeschichtlich handelte es sich um einen auf persönlichen Beziehungen u. gemeinsamen literarisch-musikal. Interessen beruhenden losen »Freundschaftsbund« etwa gleichaltriger Angehöriger des städt. Bürgertums, der insbes. das freundschaftlichgesellige Lied pflegte; u. a. sind Christoph Kaldenbach, Johann Stobaeus, Christoph Wilkow, Georg Mylius, Andreas Adersbach u. Valentin Thilo dazu zu zählen. Ihnen allen

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galt Opitz, der 1638 auf Einladung Roberthins Königsberg besucht hatte, als Vorbild. Man traf sich bei Mitgliedern u. Kunstgönnern, oft auch im Gärtchen des Komponisten u. Domorganisten Albert auf der Lomse-Insel vor der Stadt. Es war eine Art poetisches Refugium, dessen »Untergang« D. später in einem seiner heute bekanntesten Gedichte beklagen sollte u. das durch Alberts Arien (1638–54) als Musical. Kürbs-Hütte weithin bekannt wurde. Roberthin, der auf ausgedehnten »peregrinationes« Kontakte zum europ. Späthumanismus geknüpft hatte, war der »spiritus rector«, Albert der wichtigste Komponist, D. der begabteste u. führende Dichter dieses Königsberger Freundeskreises. D.s Dichtungen erschienen ganz überwiegend in Einzeldrucken mit geringer Auflage u. erfuhren so nur eine geringe Verbreitung über Königsberg u. das Herzogtum hinaus. Überregional bekannt wurden v. a. die 126 von Albert vertonten Lieder D.s. In zahlreichen Auflagen erschienen sie in dessen Arien u. sicherten D. zeitgenöss. Ansehen sowie – bis in die Gegenwart – eine durchgehend wohlwollende Rezeption durch bedeutende Dichter (Gryphius, Gottsched, Herder, Bobrowski, Grass). In den Arien erschien auch das Lied Anke van Tharaw, das D. zuzuschreiben ist. Es ist seit Herders hochdt. Fassung (1778/79) als »Volkslied« bekannt. Eine zeitgenöss. Ausgabe von D.s Gedichten kam nicht zustande. Nur seine Panegyrik auf den Kurfürsten u. dessen Familie ließ die Witwe des Dichters 1680 zum 40-jährigen Regierungsjubiläum des Kurfürsten Friedrich Wilhelm u. d. T. Chur-Brandenburgische Rose, Adler, Löw und Scepter in Königsberg drucken. D. erfreute sich zeit seines Lebens der bes. Wertschätzung Friedrich Wilhelms u. begleitete dessen Regierungsjahre zu den verschiedensten Anlässen mit Gedichten. Er nahm damit quasi die Funktion eines inoffiziellen Hofdichters ein. Im Jahr vor D.s Tod beschenkte ihn der Kurfürst, allerdings nicht ohne poet. Drängen von Seiten des Dichters, mit einem kleinen Landgut. D.s unprätentiöser, biederer Art kam Opitz’ »vorbarocker Klassizismus« (Alewyn) in so starkem Maße entgegen, dass D. von der späteren Entwicklung der dt. Lyrik, die mit

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der Einführung des Daktylus durch Zesen u. die Nürnberger um 1640 einsetzte, kaum beeinflusst wurde. Die Anfänge von D.s Dichtung fallen in die Magdeburger Jahre, in Königsberg nahm seine poet. Produktion seit 1630 kontinuierlich zu. D.s schlichte Diktion u. die oft volksliedhafte Form seiner Liebesu. Freundschaftsgedichte sowie die ungeheuchelte Teilnahme an den Leiden u. Freuden seiner poet. Auftraggeber machten ihn von etwa 1640 bis zu seinem Tod zum gesuchtesten Verfasser der beliebten Kasuallyrik in Königsberg. Sein besonderer poet. Ton war an der Lieddichtung geschult. D. verfügte über ein für die Dichtung des 17. Jh. bemerkenswert breites Spektrum von Gattungen u. Stilen, die er den jeweiligen Adressaten u. Anlässen anzumessen wusste. Oft erschienen zu den gleichen Anlässen dt. u. nlat. Gedichte. Durch seine Gelegenheitsdichtung war D. fest in den gesellschaftl. Kommunikationsstrukturen der sozialen wie intellektuellen Eliten Königsbergs u. des Herzogtums Preußen verankert. Mehr als bei anderen Dichters des 17. Jh. fand in D.s Dichtung biografische u. gesellschaftl. Lebenswirklichkeit Eingang. Die beredtesten Zeugnisse sind zwei erst 1924 aufgefundene Gedichte, die Danckbarliche Auffrichtigkeit an seinen Freund u. Förderer Roberthin sowie die Klage über den endlichen Untergang [...] der Musicalischen KürbsHütte und Gärtchens. Beide Gedichte zeigen D.s liebenswerte menschl. Offenheit, seine Fähigkeit zu echter Freundschaft wie auch das Gefühl der Dankbarkeit für Geborgenheit im gewohnten Umfeld. Für die sozialgeschichtl. Forschung bieten D.s dt. u. seine weitgehend unerforschten lat. Gedichte wertvolles Quellenmaterial. Obwohl seine Dichtungen meist unter Zeitdruck entstanden u. der Dichter sich im letzten Lebensjahrzehnt bei zunehmend schlechter Gesundheit oft wie ein »Arbeitsmann« abmühte, war er – wie die meisten Renaissance- u. Barockpoeten – vom Ewigkeitswert des dichter. Worts überzeugt. Trotz liebenswerter Bescheidenheit im öffentl. Auftreten u. persönl. Umgang konnte er mit Stolz von sich sagen: »Mein Lied sol mit der Zunfft der Götter sich vermengen, / Darauß mich weder Fall noch Zeit noch Tod soll

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drengen« (Klage, vv. 227 f.). D. konnte selbstbewusst für sich deklarieren, Preußen als Erster die »Kunst der Deutschen Reime« (Letzte Fleh-Schrifft) gelehrt zu haben. Dieser Rang wird ihm auch seit Bayers erstem biogr. Lebensabriss für die dortige Literaturgeschichte zu Recht zugewiesen. Ausgaben: Fischer-Tümpel 3, S. 60–98. – Poet. Werke [...] Denen beygefüget zwey seiner verfertigten Poet. Schau-Spiele. Königsb. 1696. Neudr. Hildesh. 1970. – S. D. Hg. Hermann Oesterley. Stgt. 1876. Neudr. Stgt. 1977. – S. D. Gedichte. Hg. Walther Ziesemer. 4 Bde., Halle 1936–38. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt. 2. Aufl. Bd. 2, S. 996–1230 (unvollst.). – Weitere Titel: Theophil Siegfried Bayer: Das Leben Simonis Dachii eines Preuß. Poeten. In: Erleutertes Preußen. Königsb. 1723, Bd. 1, S. 159–195, 855–857. – Walther Ziesemer: Neues zu S. D. In: Euph. (1924), S. 591–608 (mit Erstdr. der ›Klage‹ u. des Dankgedichts an Roberthin). – Hans-Henrik Krummacher: Das barocke Epicedium. In: JbDSG (1974), S. 89–147. – Albrecht Schöne: Kürbishütte u. Königsberg. Mchn. 21982. – Wulf Segebrecht: S. D. u. die Königsberger. In: Dt. Dichter des 17. Jh. Hg. Harald Steinhagen u. Benno v. Wiese. Bln. 1984, S. 242–269. – Alfred Kelletat: S. D. u. der Königsberger Dichterkreis. Stgt. 1986 (mit Rezeptionsgesch. u. ausführl. Bibliogr.). – Johann Anselm Steiger: Der Mensch in der Druckerei Gottes u. die imago Dei. Zur Theologie des Dichters S. D. (1605–59). In: Daphnis 27 (1998), S. 263–290. – Michael Schilling: S. D. in Magdeburg. Ein unbekanntes Epicedium aus der Schulzeit des Königsberger Poeten. In: Memoria Silesiae. Leben u. Tod, Kriegserlebnis u. Friedenssehnsucht in der literar. Kultur des Barock. Hg. Miroslawa Czarnecka, Andreas Solbach u. a. Breslau 2003, S. 367–377. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 413–415. – Axel E. Walter: S. D. – der preuß. Archeget der dt. Dichtung des 17. Jh. In: Ostpreußen – Westpreußen – Danzig. Eine histor. Literaturlandschaft. Hg. Jens Stüben. Mchn. 2006, S. 205–233. – Ders. (Hg.): S. D. Leben – Werk – Wirkung. Akten der Internat. S. D.Tagung in Klaipe• da 2005. Tüb. 2007. – Klaus Garber: Ein Sammler im Breslau des 18. Jh. u. seine Verdienste um die dt. Lit. des 17. Jh. Johann Caspar Arletius u. seine Slg. der Dichtungen S. D.s. In: Aufklärung. Stationen – Konflikte – Prozesse. FS Jörn Garber. Hg. Ulrich Kronauer u. Wilhelm Kühlmann. Eutin 2007, S. 63–104. – Ders.: Reise in den Osten. Martin Opitz – Paul Fleming – S. D. u. die Überlieferung ihres Werkes. Köln/Weimar/ Wien 2008. Ulrich Maché / Axel E. Walter /

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Däniken, Erich (Anton Paul) von, * 14.4. 1935 Zofingen/Schweiz. – Autor spekulativer populärer Sachbücher.

Däubler Weitere Werke: Zurück zu den Sternen. Düsseld. 1969. Bergisch Gladbach 1990. – Prophet der Vergangenheit. Düsseld. 1979. Mchn. 71994. – Wir sind alle Götterkinder. Mchn. 1987. – Die Götter waren Astronauten. Mchn. 2001. 2003. Literatur: Gerhard Gadow: Erinnerungen an die Wirklichkeit. E. v. D. u. seine Quellen. Bln. 1969. – Peter Rocholl u. Wilhelm Roggersdorf: Das seltsame Leben des E. v. D. Düsseld. 1970. – E. v. D. im Kreuzverhör. Düsseld. 1978. – Markus Pössel: Phantast. Wiss. – Über E. v. D. u. Johannes v. Buttlar. Reinb. 2000. Stephan Porombka

D. zählt zu den erfolgreichsten Autoren populärer Sachbücher in dt. Sprache. Sein erstes Buch (Erinnerungen an die Zukunft. Düsseld. 1968. Ffm. 1989. Mchn. 1992) war ein Sensationserfolg, der das Fantasy-Sachbuch als Genre auf dem Buchmarkt etablierte u. in den ersten Jahren eine sprichwörtl. »Dänikenitis« auslöste. D.s Behauptungen wurden von Wissenschaftlern immer wieder scharf kritiDäubler, Theodor (Johannes Adolf), siert. Er selbst wurde mit Hinweis auf seine * 17.8.1876 Triest, † 13.6.1934 St. Verwandlung vom Kellner u. verurteilten Blasien/Schwarzwald; Grabstätte: BerlinBetrüger zum Bestseller-Autor als notorischer Westend, Waldfriedhof Heerstraße. – LyFantast vorgestellt. Die fehlende Anerkenriker u. Epiker, Verfasser von Erzählunnung hat D. dazu veranlasst, in allen Büchern gen u. autobiografischen Schriften. eine einzige These zu variieren. Mit eigenwilligen »Enträtselungen« v. a. archäologi- Der Sohn einer wohlhabenden, aus Augsburg Kaufmannsfamilie wuchs scher Fundstücke will er beweisen, dass das stammenden menschl. Leben Ergebnis einer Versuchsan- zweisprachig im damals österr. Triest auf. ordnung ist, die Außerirdische auf der Erde Privatlehrer förderten seine Vertrautheit mit initiiert haben. Dementsprechend beruht der der ital. Literatur; auf Italienisch wollte er Erfolg von D.s Büchern nicht nur darauf, dass zunächst, an Tommaso Campanellas Città del er mit Motiven u. Gefühlslagen des in den Sole anknüpfend, ein Epos mit dem Titel 1960er u. 1970er Jahren grassierenden UFO- L’Impero del Sole verfassen. Nachdem sich D. Kultes operiert. Auch fasziniert er seine Leser für die dt. Sprache entschieden hatte, begann dadurch, dass er die Menschen selbst in er mit der Niederschrift seines Haupt- u. LeNachfahren außerirdischer Wesen verwan- benswerks, Das Nordlicht (1897 in Eberndorf/ Kärnten erster Entwurf zum Venedig-Kap.). delt, die sich mit seiner Hilfe ihrer unheiml. Bis 1900 lebte D. in verschiedenen ital. StädHerkunft u. ihrer höchst ungewissen Zukunft ten u. setzte seine Arbeit am Nordlicht fort. bewusst werden. 1900 übersiedelte er nach Paris, wo er vier D. hat in dreißig Jahren knapp dreißig Jahre verbrachte. Er verkehrte in der Boheme Sachbücher u. sechs Unterhaltungsromane des Quartier Latin, lernte die Pariser Avantveröffentlicht, dazu sechs weitere Bände garde um Matisse u. Picasso kennen u. verherausgegeben. Seine Werke wurden in schaffte sich dadurch die direkte Kenntnis der zahlreiche Sprachen übersetzt. Er hat 1973 modernen europ. Malerei vom späten Imeine eigene Forschungsgesellschaft gegrün- pressionismus über den Kubismus bis zum det u. 2003 einen Mystery-Erlebnis-Park in Expressionismus u. Futurismus (vgl. dazu: der Schweiz initiiert, der allerdings nach drei Der neue Standpunkt. Dresden 1916. Lpz. Jahren wieder schließen musste. D.s Bücher 21919. Im Kampf um die moderne Kunst. Bln. u. Thesen werden seit den 1990er Jahren nur 1919. Zuletzt Darmst. 1988). Für kurze Zeit noch von einer sehr kleinen Fangemeinde bestand enger Kontakt zu d’Annunzio, dazu wahrgenommen. Doch steht sein Name für kam die Freundschaft mit Arthur Moeller van das Programm einer fantast. Archäologie, die den Bruck u. Ricciotto Canudo. nicht nur Stoff für Sachbücher hergibt, sonIm Frühjahr 1907, nach längerer Krankdern auch Science-Fiction-Autoren, Filme- heit, zog D. nach Florenz um; hier begann die macher u. Erfinder von Computerspielen in- enge Beziehung zu Ernst Barlach, der ihn später in seinem unvollendeten Roman Seespiriert hat.

Däubler

speck, aber auch in verschiedenen Plastiken treffsicher porträtierte. Im Juni beendete D. die Abschrift des ersten Teils des Nordlichts. 1910 erschien das Epos in der dreibändigen »Florentiner Ausgabe« (Mchn./Lpz.). Im selben Jahr entstand in Forte dei Marmi/Toskana D.s erstes Prosawerk Wir wollen nicht verweilen (Mchn. 1914) mit autobiogr. Fragmenten. 1911 erfolgte die erste Besprechung des Nordlichts in der Literaturzeitschrift »Der Brenner«. D. hielt sich damals in Florenz u. Rom auf. Ein Jahr später reiste er mit Carl Schmitt, Fritz Eisler u. dem Kunstsammler Albert Kollmann durch das Rheinland ins Elsass. Im »Berliner Tagblatt« erschien eine Rezension des Nordlichts von Johannes Schlaf. 1913–1914 folgten Reisen nach Sizilien, Forte dei Marmi, Rom u. Florenz, wo D. sich bis April 1914 aufhielt; im Literaten-Kaffeehaus »Le Giubbe Rosse« bestand enger Kontakt zu den ital. Futuristen. Während des Krieges arbeitete D. in Dresden, dann – vom Militär freigestellt – in Berlin als Kunstberichterstatter für den »Berliner Börsen-Kurier«. 1915 Begegnung mit Paul Klee. In den Avantgarde-Zeitschriften »Die Aktion« u. »Der Sturm« erschienen 1915–1916 Übersetzungen von Palazzeschis futurist. Gedichten; in der Reihe »Die Aktions-Lyrik« gab Franz Pfemfert eine Sammlung von D.’schen Übertragungen frz. Dichter heraus (Der Hahn. Bln. 1917). 1919 verlor D. die österr. Staatsbürgerschaft u. nahm die italienische an. Aufenthalt in Berlin u. Dresden. Kontakt zu Harry Graf Keßler u. Gerhart Hauptmann, dem er einige seiner Bücher zueignete. 1920 schrieb D. an der zweibändigen »Genfer Fassung« des Nordlichts (Lpz. 1921). Zurückgekehrt nach Deutschland, erhielt er eine Einladung nach Griechenland, wo er sich bis 1925 aufhielt. Dazwischen Reisen nach Konstantinopel, Syrien, Palästina u. Ägypten. Durch die Lektüre von Platons Werken angeregt, verfasste er in Griechenland Attische Sonette (Lpz. 1924), in denen die »Entfaltung des Menschen zur Sonne« im Mittelpunkt steht. Sein Griechenlandbuch, an dem er in diesen Jahren arbeitete u. in dem er »eine neue Auseinandersetzung mit der Antike wagen« wollte, blieb unvollendet;

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zwei Teile erschienen u. d. T. Der heilige Berg Athos. Eine Symphonie III u. Sparta. Ein Versuch (beide Lpz. 1923). Darüber hinaus begann D. erneut, Das Nordlicht umzuarbeiten. Diese dritte, bisher ungedruckte »Athener Fassung« (Teile davon bei Kemp 1956), vollendete er erst 1930. 1925 zweimonatiger Aufenthalt auf Capri. Zusammenarbeit mit Eckart Peterich, der ihm von nun an beim Verfassen von Unterhaltungsromanen half. Ab 1927 war wieder Berlin D.s ständiger Wohnsitz. Er wurde zum Präsidenten der 1926 gegründeten Deutschen Sektion des PEN-Clubs gewählt u. fand Aufnahme in die Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste (im März 1933 unterschrieb er die von der Akademie erforderte Loyalitätserklärung für die nationalsozialist. Regierung). 1928 Annahme der preuß. Staatsbürgerschaft. Der in materieller Not lebende »ungetümliche Wanderpoet« (Barlach) unternahm weiterhin Reisen, hielt Vorträge u. pendelte trotz seines schlechten Gesundheitszustandes 1931/32 wieder zwischen Italien, Deutschland u. Österreich. 1932 wurde bei D. eine schwere Tuberkulose diagnostiziert, der er zwei Jahre später erlag. Dem literar. Expressionismus zugerechnet, zeigt sich D. mehr als schöpferischer, wortgewaltiger Erneuerer romant. u. klass. Dichtkunst. Das Nordlicht konstituiert eine »herrliche Absage an den Naturalismus des alltäglichen Verständigungsmittels« (Carl Schmitt). Thematisch geprägt durch D.s Italien- u. Griechenlanderlebnis, enthält das Epos die bestimmenden Formelemente u. Themen von D.s Poesie: die Liebe zu Reim, Rhythmus u. Versform u. einen großen Bilderreichtum. Es verschmilzt fernöstlich-antike Mythologeme u. christlich-gnost. Elemente zu einem kosmischen Lichtmythos, dessen Wurzeln bis in die Jugendjahre des Autors zurückreichen. Die Identifizierung von Geist u. Licht evoziert wortmächtig im poetisch-metaphys. Diskurs die Erlösung von einem menschlich-allzumenschl. Zustand, der die ursprüngl. Einheit von Sonne u. Erde rückgängig gemacht hat. Die stilist. Merkmale dieser monumentalen Dichtung sind nicht nur »expressionistische« Ekstatik, hymn. Sprache u. eine überwuchernde Sym-

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bolik als äußere Form von D.s kosmogonischem Weltentwurf, sondern auch – und v. a. – die Suche nach einem absoluten Ausdruck, in dem sich tendenziell der visionäre Gehalt der Dichtung als reiner Klangwert restlos auflöst. Die Unzulänglichkeit der Verse, die nicht durch eine einheitl. »Handlung« verbunden sind, sondern allein durch das lyr. Ich zusammengehalten werden, bestimmte die zunächst eher ablehnende Kritik. Wollte man D.s künstler. Standort zusammenfassend bestimmen, dann könnte man wohl – im Einverständnis mit Ernst Osterkamps These – den Autor als »Repräsentant[en] einer konservativen Avantgarde« bezeichnen. Weitere Werke: Ode u. Gesänge. Bln. 1913. – Der sternhelle Weg. Dresden 1915. Lpz. 31923. Zuletzt Mchn. 1985 (L.). – Hesperien. Eine Symphonie. Mchn./Bln. 1915. Lpz. 21918 (L.). – Hymne an Italien. Mchn./Lpz. 1916. Lpz. 31924 (L.). – Das Sternenkind. Lpz. 1916. 51930. Zuletzt Lpz. 1986 (L.). – Lucidarium in arte musicae des Ricciotto Canudo aus Gioia del Colle. Hellerau 1916. Lpz. 2 1919. Zuletzt Lpz. 1921 (Ess.s). – Mit silberner Sichel. Dresden 1916. 21920. (P.). – Hymne an Venedig. Bln. 1918. – Die Treppe zum Nordlicht. Eine Symphonie II. Lpz. 1920. – Der unheiml. Graf. Der Werwolf. Die fliegenden Lichter. Hann. 1921 (N.n.). – Päan u. Dithyrambos. Eine Phantasmagorie. Lpz. 1924 (L.). – Der Schatz der Insel. Bln./ Wien/Lpz. 1925 (E.). – Aufforderung zur Sonne. Chemnitz 1926 (Autobiogr.). – Bestrickungen. Novellen. Bln. 1927 (vermutlich v. Eckart Peterich verf.). – L’Africana. Bln. 1928 (R., verf. v. E. Peterich). – Der Fischzug. Hellerau 1930 (Ess.s). – Der Marmorbruch. Lpz. 1930. 41944 (E., verf. v. E. Peterich). – Die Göttin mit der Fackel. Roman einer kleinen Reise. Bln. 1931 (verf. v. E. Peterich). – Can Grande della Scala. Ein Fragment. Lpz. 1932 (D.). Selbständige Neudrucke und Veröffentlichungen aus dem Nachlass: Griechenland, aus dem Nachl. hg. v. Max Sidow. Bln. 1946. 1947. – T. D. Eine Einf. in sein Werk u. eine Ausw. v. Hanns Ulbricht. Wiesb. 1951. – Dichtungen u. Schr.en. Hg. Friedhelm Kemp. Mchn. 1956 (hier auch, aus dem Nachl., der bedeutende Essay ›Gleichgewicht im Kosmos‹, 1931). – Echo ohne Ende. Eingel. u. ausgew. v. Theodor Sapper. Graz u. Wien 1957 (L. u. P.). – Der neue Standpunkt. Hg. u. eingel. v. Fritz Löffler. Dresden 1957. – Ein Lauschender auf blauer Au. Mchn. 1963 (G.e). – Gedichte. Ausw. u. Nachw. v. Werner Helwig. Stgt. 1965. – Der neue Standpunkt [Nachdr.]. Nendeln/Liechtenstein 1975. – Der sternhelle Weg u. andere Gedichte. Hg.

Däubler u. mit einem Nachw. v. Harald Kaas. Mchn. u. Wien 1985. – Im Kampf um die moderne Kunst u. andere Schr.en. Hg. F. Kemp u. Friedrich Pfäfflin. Darmst. 1988 (enth., außer ›Der neue Standpunkt‹ u. ›Im Kampf um die moderne Kunst‹, verstreute Aufsätze zu Künstlerpersönlichkeiten aus den Jahren 1916–29). – D.s Werke, Übers.en, Briefe u. Tagebücher erschließt jetzt die Krit. Ausg. in 7 Bdn. Hg. Paolo Chiarini, Stefan Nienhaus u. Walter Schmitz. Dresden 2004 ff. (bisher erschienen: Bd. 6: Das Nordlicht. Hg. S. Nienhaus u. Dieter Werner. Zwei Textbde. u. ein Apparatbd. 2004). Literatur: Arthur Moeller van den Bruck: Gestaltende Deutsche. Mchn. 1907. – Carl Schmitt: T. D.s ›Nordlicht‹. Drei Studien über die Elemente, den Geist u. die Aktualität des Werkes. Bln. 1916. 2 1991. – Erhard Buschbeck: Die Sendung T. D.s. Wien u. a. 1920. – Kasimir Edschmid: T. D. u. die Schule der Abstrakten. In: Die doppelköpfige Nymphe. Bln. 1920, S. 116–125. – A. Moeller van den Bruck: T. D. u. die Idee des Nordlichts. In: Dt. Rundschau 186 (1921), S. 20–34. – Hans Eggert Schröder: Geist u. Kosmos bei T. D. In: Preuß. Jbb. 233 (1933), S. 63–78. – Toni Sussmann: T. D. Ein Requiem. London 1943. – Werner Hüllen: Die Sonne als Kristall. In: Euph. 47 (1953), S. 173–193. – Rudolph Pannwitz: T. D. In: Merkur 10 (1956), S. 1106–1120. – Clemens Heselhaus: T. D.s Nordlicht-Gnosis. In: Dt. Lyrik der Moderne. Von Nietzsche bis Ivan Goll. Hg. ders. Düsseld. 21962, S. 63–73. – Joachim Müller: Die Akte T. D. Bln./ Weimar 1967. – Bernhard Rang: T. D. In: Expressionismus als Lit. Hg. Wolfgang Rothe. Bern 1969, S. 251–261. – Dieter Haenicke: T. D.s ›Das Nordlicht‹. Anmerkungen zum gattungspoet. Aspekt. In: Essays in Honor of Paul K. Whitacker. Lexington 1974. – Giuseppe Bevilacqua: Letteratura e società nel Secondo Reich. Mailand 1977, S. 85–92. – Herbert Wehinger: Mythisierung u. Vergeistigung. In: Untersuchungen zum ›Brenner‹. FS Ignaz Zangerle. Hg. W. Methlagl u. a. Salzb. 1981, S. 201–217. – Walter Huder: Else Lasker-Schüler u. T. D. Zwei trag. Monster des poet. Expressionismus. In: NDH 31 (1984), S. 696–716. – T. D. 1876–1934. Hg. Friedhelm Kemp u. Friedrich Pfäfflin. Marbach 1984 (Ausstellungs-Kat.). – Thomas Rietzschel: T. D. Eine Collage seiner Biogr. Lpz. 1988. – Ders.: Dichtung des Mythos, Mythos der Dichtung. In: SuF 41 (1989), S. 201–209. – Peter Demetz: Worte in Freiheit. Der ital. Futurismus u. die dt. literar. Avantgarde. Mchn./Zürich 1990. – T. D. – Biogr. u. Werk. Vorträge des Dresdener D.Symposions 1992. Hg. Dieter Werner. Mainz 1992. – Stefan Nienhaus: T. D.s ›Nordlicht‹ u. die Kunst der Renaissance. In: WW 42 (1992), S. 468–477. –

Dahlmann Dies.: Carl Schmitt fra poeti e letterati. Einf. zur ital. Ausg. v. Schmitts T. D.s ›Nordlicht‹. Hg. ders. Neapel 1995, bes. S. 8–23. – Ernst Osterkamp: D. oder die Farbe / Einstein oder die Form: Bildbeschreibung zwischen Expressionismus u. Kubismus. In: Bildbeschreibung – Kunstbeschreibung. Ekphrasis v. der Antike bis zur Gegenwart. Hg. Gottfried Boehm u. Helmut Pfotenhauer. Mchn. 1995, S. 543–568, bes. S. 543–554. – T. D.: zum Erscheinen der geistigen Landschaft Europas in der Kunst. Vorträge des Berliner D.-Symposions 1996. Hg. D. Werner. Dillenburg 2000. – Carola v. Edlinger: Kosmogon. u. myth. Weltentwürfe aus interdiskursiver Sicht. Untersuchungen zu ›Phantasus‹ (Arno Holz), ›Das Nordlicht‹ (T. D.) u. ›Die Kugel‹ (Otto zur Linde). Ffm. u. a. 2002. Kristina Pfoser-Schewig / Paolo Chiarini

Dahlmann, Friedrich Christoph, * 13.5. 1785 Wismar, † 5.12.1860 Bonn; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof. – Historiker, Politiker u. Staatsrechtler. D. entstammte Rats- u. Gelehrtenfamilien des Ostseeraums: Sein Vater war Syndikus u. Bürgermeister im damals noch schwed. Wismar, seine Mutter die Tochter eines dän. Hofgerichtsadvokaten, Landsyndikus u. Etatrates. 1802 begann D. sein Studium der Philologie in Kopenhagen, das er 1804 in Halle fortsetzte, wo er u. a. Schleiermacher hörte; 1809 führte ihn eine gemeinsame Wanderung mit Kleist zusammen. 1810 promovierte er in Wittenberg, 1811 schloss sich in Kopenhagen die Habilitation an. Die guten Beziehungen seines Onkels, eines Professors der Rechte in Kiel, brachten ihn bereits ein Jahr später auf eine a. o. Professur für Geschichte. In Kiel pflegte er enge Kontakte zu Niebuhr u. Welcker. 1815 wurde D. als Nachfolger seines Onkels Sekretär der »Fortwährenden Deputation der schleswig-holsteinischen Prälaten und Ritterschaft«. Sein Eintreten für die ritterschaftl. Privilegien gründete auf der Überzeugung, dass die Bewahrung der schleswig-holstein. Sonderstaatlichkeit notwendig sei. Es ist D.s Verdienst, dass sich die nationale u. Verfassungsbewegung im fast unpolitischen, dem dän. Absolutismus zuneigenden schleswig-holstein. Bürgertum durchsetzte.

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1829 folgte D. einem Ruf als Professor für Politik, Kameral-, Finanz- u. Polizeiwissenschaft sowie Nationalökonomie u. dt. Geschichte nach Göttingen. Unter dem Eindruck der frz. Julirevolution kehrte er als Beirat der Hannoverschen Regierung in die Politik zurück. Er war an den Beratungen des Staatsgrundgesetzes beteiligt u. erarbeitete im ministeriellen Auftrag den Entwurf eines kgl. Hausgesetzes. Unter D.s Führung protestierten am 8.11.1837 sieben Göttinger Professoren gegen den Verfassungsbruch durch König Ernst August, was zu ihrer Amtsenthebung führte. D., Gervinus u. Jacob Grimm wurden darüber hinaus des Landes verwiesen. Das unerschrockene Handeln der »Göttinger Sieben« fand in ganz Deutschland starke Resonanz u. wirkte nachhaltig zugunsten der bürgerlich-freiheitl. Bewegung des Vormärz. Nach kurzem Aufenthalt in Leipzig lebte D. 1838–1842 als Privatgelehrter in Jena. Hier entstand seine auf fundierter Quellenarbeit basierende Geschichte von Dännemark (3 Bde., Hbg. 1840–43). Sie war die zweite große Monografie nach Die Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt (Gött. 1835. Lpz. 2+31847. Neuausg.n Ffm. 1968 u. Hbg. 1997), in der D. unter strikter Ablehnung des Naturrechts die Funktion der Geschichte als »Lehrerin der Politik« betont hatte. 1842 erhielt er einen Ruf auf den Lehrstuhl für dt. Geschichte u. Staatswissenschaft nach Bonn. Auch hier beschäftigte ihn vornehmlich die Verfassungsfrage, die ihm historisches u. polit. Anliegen zgl. war. Unter dieser Fragestellung schrieb D. seine Geschichte der englischen Revolution (Lpz. 1–31844. 7 1885) u. die Geschichte der französischen Revolution bis auf die Stiftung der Republik (Lpz. 1845. 3 1853). Der Ausbruch der 1848er-Revolution führte D. in die aktive Politik zurück. Als Vertrauensmann Preußens saß er im Bundestag u. erarbeitete dort den »Verfassungsentwurf der Siebzehn«. Er wurde Mitgl. des Vorparlaments u. als Abgeordneter des holstein. Wahlkreises Segeberg auch Mitgl. der konstituierenden Nationalversammlung in der Paulskirche. Droysen, Georg Waitz, Georg Beseler u. D. bildeten zus. die norddt. Führungsgruppe der kleindt., gemäßigt li-

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beralen »Kasinopartei« (später »Erbkaiserli- Dahn, (Julius Sophus) Felix, auch: Ludwig che«). Am 21.5.1849 trat D. aus der Natio- Sophus, * 9.2.1834 Hamburg, † 3.1.1912 nalversammlung aus, nachdem er noch der Breslau; Grabstätte: ebd., MagdalenenDeputation angehört hatte, die dem preuß. friedhof. – Romanautor u. RechtshistoriKönig Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone ker. anbot. 1850 zog er sich wie zahlreiche AltliD. war der älteste Sohn eines prominenten berale ins Privatgelehrtentum zurück. D. begründete sein politisch bedeutsames deutsch-frz. Schauspielerehepaars. In MünEngagement für den Verfassungsstaat im chen, wohin seine Eltern kurz nach seiner Unterschied zur jüngeren nationalliberalen Geburt zogen, begann er ein Jura- u. PhiloGeneration der Treitschke u. Sybel nicht na- sophiestudium, wechselte vorübergehend an tionalpolitisch, sondern primär verfassungs- die Universität Berlin u. promovierte nach politisch. Den revolutionären Umsturz der seiner Rückkehr zum Dr. jur. In Berlin Monarchie lehnte er ebenso ab wie die abso- knüpfte D. Kontakte zu dem bekannten lilutist. Auflösung ständischer Freiheiten. terar. Verein »Tunnel über der Spree«. Sein Diese politisch-gegenwartsbezogene Position Aufenthalt dort war durch sein publizist. prägte seine Geschichtsschreibung. Zu Recht Engagement für seinen Lehrer Carl Prantl kann D. deshalb als »politischer Historiker« nötig geworden, der von katholisch-konsercharakterisiert werden, was sich am deut- vativen Kräften wegen seiner angeblich antilichsten an den beiden Revolutionsgeschich- christl. Haltung angegriffen wurde. Nach ten zeigt. Ihre Wirkung war dementspre- seiner Habilitation bei dem Rechtshistoriker chend im gebildeten Publikum größer als in Konrad Maurer (Studien zur Geschichte der gerder Fachwelt. Obgleich bewusst politischer manischen Gottes-Urtheile. Mchn. 1857) erhielt Historiker, hat D. auch die historisch-quel- D. eine Dozentur für Deutsches Recht an der lenkrit. Methode nachhaltig weiterentwi- Universität München. Er wurde Mitgl. des ckelt. Seine berühmt gewordene Quellenkunde auch politisch einflussreichen »Münchner der deutschen Geschichte (Gött. 1830), nach sei- Dichterkreises«, der von König Maximilian nem Tod durch Waitz weitergeführt, wird II. von Bayern inauguriert worden war u. dem u. a. auch Geibel, Heyse u. Lingg angehörten. heute noch aufgelegt. Weitere Werke: Forsch.en auf dem Gebiet der Nach seiner Scheidung von der Malerin SoGesch. 2 Bde., Altona 1822/23. – Briefw. zwischen phie Fries heiratete D. 1873 Therese von Jacob u. Wilhelm Grimm, Gervinus u. D. Hg. Droste-Hülshoff, eine Nichte der bedeutenEduard Ippel. 2 Bde., Bln. 1885/86. – Kleine den Dichterin. 1863 wurde D. zunächst a. o. Schr.en u. Reden. Hg. Carl Varrentrapp. Stgt. 1886. Professor in Würzburg, zwei Jahre später Literatur: Springer: F. D. In: ADB. – Erich dann Ordinarius für Rechtswissenschaften Angermann: F. D. In: NDB. – Karl Dietrich Bra- ebd. 1872 erhielt er einen Lehrstuhl in Köcher: Über das Verhältnis v. Politik u. Gesch. Ge- nigsberg, 1888 schließlich in Breslau. 1869 denkrede auf D. Bonn 1961. – Hermann Heimpel: wurde er korrespondierendes Mitgl. der Zwei Historiker: D., Jacob Burckhardt. Gött. 1962. Akademie der Wissenschaften zu München u. – Manfred Riedel: Der Staatsbegriff der dt. Ge1885 Geheimer Justizrat. schichtsschreibung des 19. Jh. In: Der Staat 2 D. publizierte in der Tradition seines (1963), S. 41–63. – Reimer Hansen: D. In: Dt. Historiker. Hg. Hans Ulrich Wehler. Bd. 5, Gött. 1972, zweiten akadem. Lehrers Maurer seit seiner S. 27 ff. (ausführl. Lit.). – Wilhelm Bürklin u. Ru- Habilitation stets zgl. auf wissenschaftlichem dolf Kaltefleiter (Hg.): Freiheit verpflichtet. Ge- u. literar. Gebiet. Sein literar. Werk diente danken zum 200. Geburtstag v. D. Kiel 1985. – dabei oft der Popularisierung von Themen, Rudolf v. Thadden: Gesch. u. Politik. D. u. Gervi- die im german. Frühmittelalter angesiedelten nus. In: Geschichtswiss. in Göttingen. Gött. 1987. – waren. Er wurde damit zu einem prototyp. Peter Schumann: F. D. In: DBE. Vertreter des historisch angesiedelten sog. Luise Schorn-Schütte »Professorenromans«, der in der Gründerzeit sehr beliebt war. Sein rechtshistor. Hauptwerk ist die Darstellung Die Könige der Ger-

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manen (12 Bde., Mchn./Würzb./Lpz. 1861–1909). D. gilt außerdem als Begründer der modernen Prokopius-Forschung. In rascher Folge veröffentlichte er daneben eine große Fülle an Fachliteratur, die von rechtsgeschichtlichen u. histor. über völker- bis hin zu handelsrechtl. Themen reicht. Obwohl er bereits in den 1860er Jahren als Lyriker »Hausautor« der »Gartenlaube« war – der seinerzeit auflagenstärksten dt. Zeitschrift –, begründete doch v. a. der voluminöse Roman Ein Kampf um Rom (Lpz. 1876) seinen schriftsteller. Ruhm. In sieben Büchern umfasst er den Untergang des Ostgotenreiches in Italien in den Jahren 526–552 n. Chr. Sein äußerer Rahmen wird durch die chronolog. Abfolge der verschiedenen Gotenherrscher ausgefüllt. Die Schreibtechnik bedient sich oft kolportagehafter u. theatral. Stilmittel. Der (fiktive) röm. Antagonist der Goten, Cethegus, sucht diese durch Intrigen zu spalten u. ein weström. Kaiserreich wiederzuerrichten. Sieger aber bleibt letztlich der byzantin. Kaiser Justinian, der aus Eigeninteresse Heere unter Belisar u. Narses nach Italien schickt. Der Roman folgt nur bedingt den quellenmäßig verbürgten histor. Vorgängen. Er hat dagegen vielfältige Bezüge zu den polit. Ereignissen in D.s Gegenwart während des Italienischen Krieges von 1859/ 60 u. der Bismarck’schen Reichsgründung, ist zgl. ein polit. Schlüsselroman u. einer der wichtigsten literar. Vertreter des auf histor. Sinnstiftung bedachten, germanenmythisch konnotierten nationalliberalen Gründerzeitnationalismus. Mit seinen genuin sozialdarwinistischen Implikationen weist er jedoch zgl. auch über die Gründerzeit hinaus. Sogar dezidierte Gegner gründerzeitlicher Ästhetik wie Arno Holz u. Gerhart Hauptmann spendeten dem Kampf um Rom höchstes Lob u. Anerkennung. In seinen Kleinen Romanen aus der Völkerwanderungszeit (13 Bde., Lpz. 1883–1901) versuchte D. in den folgenden Jahren mit immer geringerer Resonanz den großen Erfolg zu wiederholen. Auch D.s thematisch ähnlich gelagerte Dramen, Lustspiele u. Opernlibretti blieben erfolglos. Als Lyriker schuf D. außerdem bis ins hohe Alter eine Vielzahl von Gelegenheitsgedichten. Zwi-

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schen 1890 u. 1895 veröffentlichte er in mehreren Bänden zudem eine rd. 3000-seitige Autobiografie. Der Roman Ein Kampf um Rom wurde allein bis 1900 in 30 Auflagen verbreitet. Feierte man ihn anfangs teilweise als neues dt. Nationalepos, so unterzog ihn der Literaturkritiker Oscar Klein bereits 1886 einer ebenso eingehenden wie vernichtenden Kritik. Um 1900 sank D.s berühmtester Roman schließlich in der öffentl. Rezeption zum Jugendbuch herab – überlebte in dieser Funktion jedoch alle Stürme der Zeiten u. ist als »Longseller« bis heute erhältlich. Völkische Kreise sorgten in den 1920er u. 1930er Jahren freilich für eine vorübergehende nationalist. Revitalisierung des Werkes. 1968/69 wurde der Stoff von Robert Siodmak verfilmt – mit Orson Welles in der Rolle des byzantin. Kaisers Justinian. Mit diesem Film setzte sich in der öffentl. Wahrnehmung endgültig eine entpolitisierte Interpretation des Werkes durch. Weitere Werke: Prokopius v. Caesarea. Ein Beitr. zur Historiographie der Völkerwanderung u. des sinkenden Römertums. Bln. 1865. – Erinnerungen. 5 Bde., Lpz. 1890–95. Ausgaben: Sämtl. Werke poet. Inhalts. 21 Bde., Lpz. 1898/99. – Ges. Werke. Erzählende u. poet. Schr.en. Neue Gesamtausg. 16 Bde., Lpz. 1912. 2., völlig veränderte Aufl. 10 Bde., Lpz. 1921–24. Literatur: Oscar Klein: D.s ›Kampf um Rom‹. Eine Kritik. Hagen 1886. – Kurt Frech: F. D. Die Verbreitung völk. Gedankenguts durch den histor. Roman. In: Hdb. zur ›Völk. Bewegung‹ 1871–1918. Hg. Uwe Puschner, Walter Schmitz u. Justus H. Ulbricht. Mchn. u. a. 1996, S. 685–698. – Goedeke Forts. – Rainer Kipper: Der Germanenmythos im Dt. Kaiserreich. Formen u. Funktionen histor. Selbstthematisierung. Gött. 2002. – Stefan Neuhaus: ›Das Höchste ist das Volk, das Vaterland!‹ F. D.s ›Ein Kampf um Rom‹ (1876). In: Ders.: Lit. u. nat. Einheit in Dtschld. Tüb. u. a. 2002, S. 230–243. – Hans Rudolf Wahl: Die Religion des dt. Nationalismus. Eine mentalitätsgeschichtl. Studie zur Lit. des Kaiserreichs: F. D., Ernst v. Wildenbruch, Walter Flex. Heidelb. 2002. – Peter Rietbergen: Besinnung auf F. D. In: Im Schatten der Literaturgesch. [...]. Hg. Jattie Enklaar u. a. Amsterd./New York 2005, S. 56–73. Detlef Haberland / Hans Rudolf Wahl

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Dalberg, Carl Theodor Anton Maria von, * 8.2.1744 Mannheim, † 10.2.1817 Regensburg; Grabstätte: ebd., Dom. – Kurfürst von Mainz; Verfasser philosophischästhetischer Schriften.

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u. in den »Horen« (1795), stießen z.T. auf harsche Kritik. D.s aus verschiedenen Quellen u. eigenen Überlegungen kompilierte, allerdings nicht konsequent zu Ende gedachten Abhandlungen finden in der modernen Geschichtswissenschaft bei der Interpretation seines polit. Handelns verstärkt Beachtung.

Der einem mittelrheinischen Adelsgeschlecht entstammende D. wurde 1787 zum Koadjutor des Erzbischofs von Mainz u. Worms beWeitere Werke: Verhältnisse zwischen Moral u. rufen (ab 1802 Erzbischof u. Kurfürst von Staatskunst. Erfurt 1788. – Grundsätze der AesMainz). D.s bis heute in der Geschichtswis- thetik, deren Anwendung u. künftige Entwicksenschaft umstrittene Politik als Kurfürst, lung. Erfurt 1791. – Von dem Einflusse der Wiss.en durch eine enge Anlehnung an Frankreich u. schönen Künste in Beziehung auf öffentl. Ruhe. den Bestand des Deutschen Reichs zu sichern, Erfurt 1793. Literatur: Karl Frhr. v. Beaulieu-Marconnay: scheiterte, obwohl ihn Napoleon zum Fürstprimas des Rheinbundes ernannte (ab 1810 Karl v. D. u. seine Zeit. 2 Bde., Weimar 1879. – Heinrich Huber: Aus den Nachlaßakten des Fürstmit dem Großherzogtum Frankfurt/M.). primas Karl v. D. Regensb. 1926. – Ewald Reinhard: Nach dem Sturz Napoleons zog sich D. als Karl v. D. als Schriftsteller. In: Histor. Jb. 58 (1938), Erzbischof nach Regensburg zurück. S. 440–462. – Wolfgang Vulpuis: Goethe u. Karl T. Vor allem in seiner Erfurter Zeit suchte D. v. D. In: GoetheJb 90 (1973), S. 212–232. – Antje den Kontakt zu Künstlern u. befreundete sich Freyh: Karl T. v. D. Ein Beitr. zum Verhältnis v. u. a. mit Wieland, Herder, Schiller, den er polit. Theorie u. Regierungspraxis in der Endphase materiell u. ideell förderte, u. Wilhelm von des Aufgeklärten Absolutismus. Diss. Ffm. 1978. – Humboldt. Goethe, den er in Weimar oft be- Klaus Rob: Karl T. v. D. (1744–1817). Eine polit. Biogr. für die Jahre 1744–1806. Diss. Ffm. 1984. – suchte, nannte ihn seinen »Freund und Dalberger Urkunden 1165–1843. Bearb. v. FriedGönner«, erkannte allerdings schon früh rich Battenberg. 3 Bde., Darmst. 1981–86. – Hans(1780 in einem Brief an Frau von Stein), dass Bernd Spies (Hg.): C. v. D. Beiträge zu seiner Biogr. D.s Pläne »einer nach dem anderen scheitern« Aschaffenburg 1994. – Karl Hausberger (Hg.): C. v. müssen. Das galt auch für D.s schriftsteller. D. Regensb. 1995. – Nils Hein: Der Staat Karl T. v. Versuche, seine tief in der Klassik verwurzel- D.s. Diss. Ffm. 1996. – Reinhard Grütz: Erfurt im ten humanist. Ideale mit den polit. Ideen des Schatten der Frz. Revolution. Regierungspraxis u. Staatstheorie C. T. v. D.s (1744–1817). Lpz. 2000. – aufgeklärten Absolutismus zu verbinden. Heinz Duchhardt: Napoleons u. D.s Mainzer TrefNur eine seiner philosophisch-ästhet. Ab- fen im Sept. 1804. Mainz 2004. handlungen, die Betrachtungen über das UniHans Sarkowicz / Red. versum (Erfurt 1777. 71821), stieß auf eine positive Resonanz bei seinen Zeitgenossen. D. hatte als Antwort auf die selbstgestellte Fra- Dalberg, Johann Kämmerer von, * 14.8. ge, worin der Zusammenhang aller Wesen 1455 Oppenheim, † 27.7.1503 Heidelbestehe, das »Gesetz des Universums« ge- berg. – Humanistischer Gelehrter u. Mäfunden: »Einheit ist vollkommen in Gott. Die zen. Schöpfung strebt, sich der Einheit zu nähern. Als zweitgeborener Sohn einer angesehenen Religion ist Weg zu dieser Annäherung.« Fast mittelrheinischen Adelsfamilie war D. für euphorisch feierten Merck, Herder u. Fried- den geistl. Stand bestimmt. Nach dem Abrich Schlegel dieses Buch; Schiller übernahm schluss des Baccalaureats an der Erfurter Areinige Thesen in seine Philosophischen Briefe tistenfakultät wechselte er zum Studium der (1786). D.s spätere Veröffentlichungen, v. a. Rechtswissenschaften an die Universität PaPériclès (Paris 1806), ein im antiken Grie- via, wo er 1474 zum Rektor gewählt wurde. chenland angesiedelter Dialog über das Ver- Der Aufenthalt in Italien weckte sein Interhältnis der Künste zum Staat sowie seine esse an den humanist. Studien u. machte ihn Aufsätze im »Deutschen Merkur« (1773/74) mit Rudolf Agricola sowie den Brüdern

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Dietrich u. Johann von Plieningen bekannt, nachweislich nicht von D., sondern von Rumit denen ihn eine lebenslange Freundschaft dolf Agricola. verband. Nach Deutschland zurückgekehrt, Literatur: Karl Morneweg: J. v. D., ein dt. ernannte ihn Kurfürst Philipp zum Kanzler Humanist u. Bischof. Heidelb. 1887. – Peter Walder Kurpfalz u. betrieb 1482 zgl. seine Er- ter: J. v. D. u. der Humanismus. In: 1495 – Kaiser, wählung zum Bischof von Worms. Während Reich, Reformen – Der Reichstag zu Worms. Hg. seiner Heidelberger Zeit wurde D. zum Mit- Claudia Helm. Koblenz 1995, S. 139–171. – Gerold Bönnen u. Burkard Keilmann (Hg.): Der Wormser telpunkt eines humanist. Freundeskreises, Bischof J. v. D. (1482–1503) u. seine Zeit. Mainz dem außer den Genannten Johannes Reuch- 2005. Martina Backes lin, Conrad Celtis, Jakob Wimpfeling, Adam Werner von Themar u. Johann Vigilius angehörten. Darüber hinaus unterhielt er Ver- Dalberg, Wolfgang Heribert (Tobias Otto bindungen zu Trithemius, Brant, Pirck- Maria Johann Nepomuk) Reichsfrhr. von, heimer u. anderen Humanisten. Er stellte Bruder von Carl Theodor u. Friedrich ihnen seine umfangreiche Bibliothek wie Hugo Dalberg, * 18.11.1750 Schloss auch sein Haus zur Verfügung, in dem 1497 Herrnsheim/Worms, † 27.9.1806 Manndie Uraufführung von Reuchlins Henno heim; Grabstätte: ebd., Hauptfriedhof. – stattfand, u. unterstützte die Gründung der Theaterintendant, Bühnenschriftsteller u. »Sodalitas litteraria Rhenana« durch Celtis. badischer Staatsminister. Das histor. Interesse der humanist. FreunNach einem Jurastudium wurde D. 1770 zum de teilend, spürte D. in Bibliotheken alte Kammerherrn am kurpfälz. Hof in MannHandschriften auf, legte eine Sammlung röheim ernannt. Als Obristsilberkämmerling, mischer Altertümer an u. betrieb numismat. Vizepräsident der Hofkammer, Präsident des Studien. Auf sprachwiss. Gebiet bemühte er Oberappellationsgerichts u. schließlich als sich v. a. um die Erforschung u. Pflege der badischer Staatsminister (1803) übernahm er damals noch wenig verbreiteten griech. in der Folge bedeutende VerwaltungsaufgaSprache u. stellte ein heute verlorenes Wörben. Wichtiger jedoch war seine Tätigkeit als terbuch zusammen, das sinn- u. lautmäßig Intendant des Mannheimer Nationaltheaters, übereinstimmende Begriffe der dt. u. griech. die D. seit der Gründung durch den KurSprache verzeichnete: Der Rückgriff auf die fürsten Karl Theodor 1779–1803 ausübte. griech. Antike sollte nicht zuletzt den PrioMit der Idee des Nationaltheaters als einer ritätsansprüchen ital. Humanisten durch den dt. Musterbühne verknüpft waren zum einen Nachweis älterer griechisch-german. Ge- die theaterreformerischen Bestrebungen Lesmeinsamkeiten entgegentreten. Von der li- sings, dessen Berufung nach Mannheim 1776 terar. Tätigkeit D.s, der Heidelberg zu einem scheiterte, zum anderen die auf Förderung Zentrum des frühen Humanismus in der dt. Sprache zielende Arbeit der »KurDeutschland machte, sind nur einige Briefe u. pfälzischen Teutschen Gesellschaft«, deren kürzere lat. Gedichte auf das Erscheinen der Vorsitzender D. war. Bes. durch die Verersten Hrotsvith-Ausgabe u. zum Empfang pflichtung hervorragender Schauspieler, UrKaiser Friedrichs III. in Maulbronn erhalten aufführungen deutscher u. Bearbeitungen (abgedr. bei Morneweg). Die größeren Ab- englischer, frz. u. ital. Theaterstücke erlebte handlungen über das Münzwesen, die ge- die Mannheimer Bühne im ersten Jahrzehnt heimen Mysterien der Zahlen u. den Ur- ihre Blütezeit. Nach der Truppe von Abel sprung des Adels sind nur durch Berichte des Seyler hatte D. 1779 die Ekhof-Schüler Trithemius bekannt. Die unter D.s Namen Heinrich Beck, Johann David Beil u. August 1485 in Rom gedruckte Rede, die er im glei- Wilhelm Iffland aus Gotha engagiert. 1780 chen Jahr im Auftrag des Kurfürsten vor gastierte Friedrich Ludwig Schröder in Papst Innozenz VIII. gehalten hatte u. die Mannheim. In Ausschusssitzungen des Enunter den Zeitgenossen seinen Ruhm als hu- sembles arbeitete man gemeinsam an Promanistischer Redner begründete, stammt blemen der Dramaturgie u. einer weitgehend

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»realistischen« Darstellung. Bes. bedeutsam war D.s Verbindung zu Schiller, der 1783/84 Theaterdichter in Mannheim war u. dessen erste Stücke hier uraufgeführt wurden: Die Räuber (1782), Fiesco, Kabale und Liebe (1784), Don Karlos (1788). Neben wenigen selbständigen Stücken wie dem Drama um den Schwedenkönig Gustav Adolf Walwais und Adelaide (Mannh. 1778) oder der Oper Cora (Mannh. 1780) übersetzte u. bearbeitete der Theaterpraktiker D. eine Vielzahl von Bühnenwerken. Als Beispiele für seine nachhaltige Bemühung um Shakespeare, der während D.s Intendanz 58-mal gespielt wurde, sind hier seine Bearbeitungen des Julius Cäsar (Mannh. 1785) u. des Timon von Athen (aufgeführt 1789, gedr. im Shakespeare-Jb. 25, 1890) zu nennen. Häufig gespielt wurden seine Bearbeitungen nach Thomas Southerne (Oronooko. Mannh. 1786), nach Richard Cumberland (Der Mönch von Carmel. Bln./Lpz. 1787) u. nach Joseph Pilhes (Montesquieu, oder die unbekannte Wohlthat. Mannh. 1787). Weitere Werke: Elektra eine musical. Declamation. Mannh. 1780. – Die Brüder (bearb. nach Richard Cumberland). Mannh. 1785. – Der weibl. Ehescheue. Augsb. 1786. Literatur: Wilhelm Koffka: Iffland u. D. Gesch. der class. Theaterzeit Mannheims. Lpz. 1865. – Johann Heinrich Meyer: Die bühnenschriftsteller. Tätigkeit des Frhrn. W. H. v. D. Diss. Heidelb. o. J. [1904]. – Fritz Alafberg: W. H. v. D. als Bühnenleiter u. als Dramatiker. Diss. Bln. 1907. – Herbert Stubenrauch: W. H. v. D. Lebensskizze u. Lebenszeugnisse. Mannh. 1956. – Luise Gilde: Persönlichkeiten um Schiller: Der Mannheimer Kreis. London 1973. – Michael Embach: Rheinischer Adel u. Dt. Klassik: Die Beziehungen der Dalberg-Brüder zum ›Weimarer Musenhof‹. In: Klassik-Rezeption: Auseinandersetzung mit einer Tradition. Hg. Peter Ensberg u. Jürgen Kost. Würzb. 2003, S. 19–33. Christoph Weiß / Red.

Dalhofer, Dalhover, Marcellian(us), * um 1655 München, † 6.3.1707 Landshut. – Franziskaner-Reformat, Prediger. D. wirkte nach seiner Approbation (1677) zunächst in Regensburg (1679–1680), Landshut (1680–1682) u. München (1683–1684), 1685–1695 als Domprediger in

Dalhofer

Freising, wurde 1696 als Guardian nach Ingolstadt berufen u. 1705 zum Concionator Generalis erhoben. Im Druck erschienen ein zweibändiger Sonn- u. Feiertagszyklus Areolae oder Garten-Bethlein, bestehend von unterschidlichen Blumen (Mchn. 1687–89) u. zwei Konvolute Miscellanea, oder allerhand Bueß-, Passions-, Oster-, Possessions-, Nemmung-, Primizen-, Kirchtag- [...] Joco-Serien und Todten-Reden (Mchn. 1700/01). Im Gegensatz zum volkstüml. Predigtstil mancher Amtsbrüder seiner Zeit hielt sich D. meist strenger an theolog. Konzeptionen u. benutzte viele Vergleichsbilder aus der bibl. Geschichte, den Schriften der Kirchenväter u. der Heiligenlegende. Nur in Osterpredigten, deren Hintergrund der im Barock neu belebte Kirchenbrauch des »risus paschalis« (Ostergelächter) bildet, erweist er sich auch als Humorist. Sie sind nach Art der Schwankbücher des 16. u. 17. Jh. Joco-Seria, oder: Schimpff und Ernst betitelt u. bringen, z.T. in Form von Rahmenerzählungen, mit häufiger Dialogisierung u. der sonst seltenen Wir-Perspektive Serien von Lügengeschichten, Schilderungen der Verkehrten Welt, ferner unter der gängigen Formel »Ehestand – Wehestand« drast. Beispiele vom Ehekrieg, v. a. aber auch von vermeintlicher Bosheit aufmüpfiger Ehefrauen, deren Verhalten patriarchal. Normen widersprach. Literarisch bedeutsam ist D.s allegor. Darstellung der weltweiten Suche nach dem Erznarren, der laut Testament der Königin von Schlaraffenland nach deren Tod die Herrschaft über Utopia einnehmen soll. Sie liefert den Rahmen für eine Kette von Narrengeschichten: Beweise für die Verbreitung fataler Dummheit in aller Welt. Wie Abraham a Sancta Clara, Joseph Albert Conlin u. a. leistete D. so einen Beitrag zu der um 1700 neuerlich aktualisierten Narrensatire des Spätmittelalters. Weitere Werke: Sig- u. Danck-Predig wegen preyß-würdigst, von der christl. Miliz, wider den Ertz-Feind, zwischen Siclos u. Mohaz [...] 1687. erhaltener Victori [...]. Mchn. 1687. – Virgo Nazarea oder Die Jungfrau v. Nazareth, bestehend in ain u. zwaintzig fest-tägl. Marianischen Lob-Reden [...]. Mchn. 1695. Literatur: Elfriede Moser-Rath: Münchener Volksprediger der Barockzeit. In: Bayer. Jb. für Volkskunde (1958), S. 85–102, hier S. 90–93. –

Dallago Dies.: Predigtmärlein der Barockzeit. Bln. 1964, S. 332–346 u. 488–491. – Volker Wendland: Ostermärchen u. Ostergelächter. Brauchtüml. Kanzelrhetorik u. ihre kulturkrit. Würdigung seit dem ausgehenden MA. Ffm./Bern/Cirencester 1980, S. 238–244. – DBA 218,334–335. – Urs Herzog: Geistl. Wohlredenheit. Die kath. Barockpredigt. Mchn. 1991. – Manfred Knedlik: D. In: Bautz. Elfriede Moser-Rath † / Red.

Dallago, Carl, * 13.1.1869 Bozen, † 18.1. 1949 Innsbruck; Grabstätte: InnsbruckMühlau. – Kulturphilosoph. D. entstammte einer Kaufmannsfamilie. Er absolvierte die Handelsakademie in Innsbruck u. übernahm 1892 das väterl. Geschäft in Bozen. Im selben Jahr heiratete er die Bozener Kaufmannstochter Adelheid Auckentaler (fünf Kinder). Das Jahr 1900 markierte den Bruch mit dem bürgerl. Leben u. zgl. den Beginn seiner schriftsteller. Arbeit. Dallago verließ seine Familie u. verkaufte das Geschäft. Er lebte seit 1902 mit seiner zweiten Frau Fanny Moser (drei Kinder) als freier Schriftsteller in Riva, später in Nago u. Varena. In rascher Folge erschienen mehrere Gedichtbände (Gedichte. Dresden 1900. Ein Sommer. Bln. 1901. Strömungen. Innsbr. 1902. Spiegelungen. Bln. 1903), die formal der Tradition verhaftet sind, thematisch aber schon sein Programm erkennen lassen: Kampf gegen die bestehende Ordnung mit ihren Lügen in Politik, Religion u. Moral. Seine lyr. Dramen (Erich Tagusen oder Die Kinder des Lichts. Lpz. 1905. Die Musik der Berge. Lpz. 1906) gelangten nie zur Aufführung. Erst in seinen kulturkrit. Essays (Der Süden. Lpz. 1905. Geläute der Landschaft. Lpz. 1906. Das Buch der Unsicherheiten. Lpz. 1911. Der große Unwissende. Innsbr. 1924) fand er seinen unverwechselbaren Stil. Seine »kulturlichen Streifzüge« beginnen immer mit Landschaftsschilderungen, wechseln dann in kulturphilosoph. Überlegungen über u. enden wieder in der (Re-)Konstruktion einer Landschaftsstimmung. In ausgedehnten Wanderungen durchstreifte D. die Gegenden des Gardasees u. des Fleimstals u. schrieb seine Werke vorwiegend im Freien. Die innige Verbindung mit der Landschaft – er bezeichnete sich selbst als Landschaftsmenschen –

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ließ ihn immer klarer den Abstand von der Welt fühlen, von der er sich abgewandt hatte u. die sich seiner Ansicht nach immer weiter von ihrem vollkommenen Urzustand entfernte. In eigenwilliger Abwandlung des ersten Satzes des Johannesevangeliums prägte D. den Leitsatz: »Im Anfang war die Vollendung«. Die »Weltbildung«, also Zivilisation, Institutionen, Herrschaftsformen (D. stand der Anarchistenbewegung nahe), der Fortschritt in der Technik, das alles war für ihn »Sündenfall«. Sein höchstes Wissen suchte u. fand er in der »Unwissenheit«. Anfänglich stark von Nietzsche, Segantini u. Whitman beeinflusst, galt sein Interesse ab 1910 verstärkt fernöstl. Lebensformen, in denen er verwandte Anschauungen fand. Laotse war für D. einer der »reinen Menschen der Vorzeit« (Laotse. Der Anschluß an das Gesetz oder der große Anschluß. Versuch einer Wiedergabe des Taoteking. Innsbr. 1921), Jesus der letzte reine Mensch dieser Vorzeit (Jesus von Nazareth. Betrachtungen eines Einsamen. Lpz. 1913); die kath. Kirche schien ihm hingegen bes. verweltlicht u. blieb zeitlebens Zielpunkt seiner Polemik (Das römische Geschwür. Wien 1929). 1910 gründete Ludwig von Ficker mit u. für D. die Zeitschrift »Der Brenner«, die sich stark an Karl Kraus (Nach dreißig Jahren. Rückblick des Nicht-Schriftstellers. Wien 1929) orientierte u. mit Unterbrechungen bis 1954 erschien. Mit dem Essay Der Christ Kierkegaards (Innsbr. 1922), der Laotse u. Kierkegaard unter eine gemeinsame weltanschaul. Perspektive zu bringen versucht, u. einer Reihe weiterer Aufsätze geriet D. in heftigen Widerspruch zu anderen Autoren des »Brenner«, insbes. zu Theodor Haecker u. Ferdinand Ebner. Er schied daher 1926 als Mitarbeiter aus. In seinem letzten »Brenner«-Beitrag (Die rote Fahne. Innsbr. 1926) polemisierte er scharf gegen das faschist. Regime Mussolinis; eine zweite Polemik erschien in Buchform (Die Diktatur des Wahns. Wien 1928). Aus Angst vor Verfolgung durch die Faschisten emigrierte D. Ende 1926 nach Nordtirol, wo er zuerst in Barwies, seit Ende 1930 in Arzl bei Innsbruck lebte. Seine wirtschaftl. Lage war nun so prekär, dass er von 1931 bis 1945 – unterbrochen durch mehrmalige Arbeitslosigkeit – eine Stelle als Schreiber bei ver-

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schiedenen Baufirmen in Tirol annehmen musste. 1932 arbeitete er an der in Berlin von Wilhelm Kütemeyer herausgegebenen u. gegen den Nationalsozialismus gerichteten Zeitschrift »Der Sumpf« mit, zgl. erschien sein letztes Buch (Die katholische Aktion. Dresden 1932). Später schrieb er nur noch für die Schublade, auch nach 1945 konnte er kein Werk mehr in einem Verlag unterbringen. Weitere Werke: Wintertage und Anderes. Lpz. 1902. – Neuer Frühling. Lpz. 1906. – Ein Mensch. Roman in Bildern. Stgt./Bln./Lpz. 1909. – Philister. Innsbr. 1912. – Otto Weininger u. sein Werk. Innsbr. 1912. – Die böse Sieben: Essays. Innsbr. 1914. – Ueber eine Schrift: Sören Kierkegaard u. die Philosophie der Innerlichkeit. Innsbr. 1914. – Mensch u. Dasein. Wien 1930. – Der Begriff des Absoluten. Hg. Ernst Knapp u. Hans Haller. Innsbr. 1964. Ausgabe: Im Anfang war die Vollendung. Ausgew. Schr.en. Hg. Walter Methlagl u. Judith Nesensohn. Innsbr. 2000. Literatur: Hans Haller: Der südtirol. Denker C. D. Innsbr. 1936. – Gertrude Bitter: C. D.s Werk. Diss. Wien 1937. – Walter Methlagl: ›Der Brenner‹. Weltanschaul. Wandlungen vor dem Ersten Weltkrieg. Diss. Innsbr. 1966. – Gerald Stieg: ›Der Brenner‹ u. ›Die Fackel‹. Ein Beitr. zur Wirkungsgesch. v. Karl Kraus. Salzb. 1976. – Margareth Graf: C. D. Die Auseinandersetzung mit Christentum u. Kirche. Dipl.-Arbeit Innsbr. 1993. – Wilhelm Kühlmann: D. L. u. Laotse. Projektionen moderner Kulturkritik im ›Brenner‹-Kreis. In: Dt.-chines. Literaturbeziehungen. Hg. Wei Maoping u. ders. Shanghai 2005, S. 41–59. – C. D. Il grande inconoscente. Hg. Silvano Zucal u. Luisa Bertolini. Brescia 2006. – C. D. Der große Unwissende. Hg. Karin Dalla Torre u. a. Innsbr. 2007 (mit umfangreicher Bibliogr.). Anton Unterkircher

Damen, Hermann, Herman. – Spruchdichter um 1300. Die Herkunft D.s ist umstritten. Man suchte sie im Geschlecht der Herren von Dahmen (Stammsitz Dahmen am gleichnamigen Flüsschen im Brandenburgischen). Andererseits wurde ein H. D. aus einer begüterten Rostocker Familie in Urkunden von 1302 u. 1307 nachgewiesen. Das Fehlen von Bettelstrophen u. von Angriffen gegen konkurrierende Sänger kann darauf hindeuten, dass D. sesshaft u. finanziell unabhängig u. somit der

Damen

übl. Existenzsorgen der fahrenden Sänger enthoben war. Seine Dichtungen, ein Leich (als Ton 1 gezählt) u. 39 Sprüche in fünf Tönen, sind nur in der Jenaer Liederhandschrift (Mitte 14. Jh., mit Melodien) überliefert, im Mittelpunkt des Leichs steht ein ausgedehnter Marienpreis, in dem die Gottesmutter mit der Sapientia Salomonis identifiziert u. mit besonderen Vollmachten (z.B. bei der Sündenvergebung) ausgestattet wird. In den geistl. Sprüchen ragen Aussagen zur Erlösungstheologie u. zur Vergänglichkeit des menschl. Lebens heraus. Die Behandlung von moral. Leitbegriffen (z.B. »êre«) zeigt Sensibilität gegenüber Sprachregelung u. wirtschaftl. Zwängen. Die Herrenstrophen (darunter die drei umfangreichen, 36-zeiligen Sprüche in Ton 5) reflektieren die artist. Verfertigung des Lobs. Bemerkenswert sind D.s kunsttheoret. Sprüche. Die verklärende Klage über »rechter meister kunst«, die einst von Königen gefördert u. von aller Welt geehrt wurde, ebenso wie eine Liste der toten u. lebenden Sänger (unter den Letzteren der Meißner u. Konrad von Würzburg, um 1287) bescheinigen Ansätze eines geschichtl. Kunstverständnisses. Eine Vierergruppe von Mahnstrophen richtet sich an den jungen Frauenlob, der vor Überheblichkeit gewarnt u. dessen selbstbewusste Namenswahl in das traditionelle Frauenlob der Spruchdichtung zurückgebunden wird. D.s Lieder wirkten nicht weiter. Der Meistersang nahm keinen seiner Töne auf. Ausgaben: Friedrich H. v. der Hagen: Minnesinger. Lpz. 1838. Neudr. Aalen 1963, Bd. 3, S. 160–170. – Paul Schlupkoten: H. D. Untersuchung u. Neuausg. seiner Gedichte. Breslau 1913. – Reinhard Bleck: Der Rostocker Liederdichter H. D. (ca. 1255–1307/09). Göpp. 1998. Literatur: Eva Kiepe-Willms: ›Sus lêret hermann Dâmen‹. In: ZfdA 107 (1978), S. 33–49. – Dies.: D. In: VL. – Ulrike Wabnitz: ›Sanc ist der kvnst eyn gespiegelt trymz‹. Herman der D. u. seine Dichtung. Amiens 1992. – Reinhard Bleck 1998 (s. o.). – Ders.: Sängerwettstreit vor Rostock. Die Treffen Frauenlobs mit Herman D. (1302) u. mit Regenbogen (1311/12) auf Rostocker Ritterfesten. In: Beiträge zur Gesch. der Stadt Rostock 23 (1999), S. 23–64. Christoph Huber / Red.

Damm

Damm, Christian Tobias, auch: Theodor Klema, * 9.1.1699 Geithayn/Leipzig, † 27.5.1778. – Theologe u. Übersetzer.

548 [...] Roscius u. fuer [...] Ligarius. Bln. 1758. – Claudii Rutilii [...] de reditu suo [...]. Bln. 1760. – Das Evangelium Johannis Deutsch [...] (Pseud. Theodor Klema). Bln. 1762. – Einl. in die Goetterlehre u. Fabelgesch. der ältesten Griechen u. Roemer. Bln. 1763. – Novum Lexicon Graecum etymologicum et reale. Bln. 1764. – Des Maximus Tyrius philosoph. Reden [...]. Bln. 1764. – Einige allg. Bemerkungen ueber viele sog. Pruefungen der neulich herausgekommenen Uebersetzung des neuen Testamentes [...]. o. O. 1766. – Des Homerus Werke [...]. 4 Bde., Lemgo 1769–71. – Versuch einer prosaischen Uebers. der Griech. Lieder des Pindar [...]. Bln. u. Lpz. 1770/71.

D. studierte 1717–1719 in Halle, versah dann mehrere Hauslehrerstellen, war ein Jahr Lehrer am Halleschen Waisenhaus (1724), bis er 1730 zum Conrector am Cöllnischen Gymnasium in Berlin berufen wurde (1742 Rector). Während seiner Amtszeit bestätigte er sein Ansehen als Schulmann u. Philologe durch zahlreiche Übersetzungen antiker Texte. Seine erste Arbeit, Griechisches ComenianiLiteratur: Bio-bibliogr. Hdb. zur Sprachwiss. sches Vestibulum, mit beygefügter deutscher Uber- des 18. Jh. Hg. Herbert E. Brekle u. a. Bd. 2, Tüb. setzung, erschien 1732 in Berlin u. Potsdam. 1993, S. 195–198. – Weitere Titel: G. Frank u. ConAls D. 1735 Des Roemischen Consuls Caius Pli- rad Bursian: D. In: ADB. – George Alexander Konius Caecilius Secundus Lobrede auf den Kaiser hut: Moses Mendelssohn and Rector D.: A contriTrajanus (Lpz.) publizierte, sandte er eine bution to the biography of Moses Mendelssohn [...]. Reprinted from the Reform Advocate. Chicago Abhandlung über seine Übersetzungsprinzi1892. – Thomas Huber: Studien zur Theorie des pien an die Deutsche Gesellschaft in Leipzig Übersetzens im Zeitalter der dt. Aufklärung u. fand bei deren Leiter Gottsched Zustim- 1730–70. Meisenheim/Glan 1968. – Anneliese mung. Zeitlebens blieb D. als Übersetzer in Senger: Dt. Übersetzungstheorie im 18. Jh. Übereinstimmung mit der Theorie der (1734–46). Bonn 1971. – Friedmar Apel: SprachFrühaufklärung, wie sie Gottsched repräsen- bewegung. Eine historisch-poetolog. Untersutierte. Seine in ihrem Streben nach sachlicher chung zum Problem des Übersetzens. Heidelb. Genauigkeit z.T. kuriosen Formulierungen 1982. – DBA 219,270–282 u. 660,284. Sabine Beußel / Red. erweckten bei Gottsched jedoch den Eindruck, D. hänge dem Gedanken einer vom gewöhnlichen dt. Sprachgebrauch abweichenden Übersetzersprache an. D.s Rechtfer- Damm, Sigrid, * 7.12.1940 Gotha. – tigung in C. T. D. antwortet auf die ganz unge- Schriftstellerin u. Literaturwissenschaftgründete Beurtheilung seiner übersetzten Ciceroni- lerin. schen Briefe (Bln. 1739) macht seine konzep- Nach dem Studium in Jena u. der Promotion tionelle Übereinstimmung mit Gottsched 1970 über Die Dramenkonzeption bei Wedekind, deutlich. Hauptmann und Hofmannsthal publizierte D. in Dieses Missverständnis war auch für die den 1970er Jahren literaturkrit. Arbeiten Beurteilung D.s durch Friedrich Nicolai (in: insbes. zur DDR-Literatur. Sie war Mitarbei»Neue Berlinische Monatsschrift«, 1801, terin an den Bänden neun u. elf der Geschichte S. 371–373) bedeutungslos. Stattdessen erin- der deutschen Literatur (Bln./DDR 1974 u. nerte der Artikel daran, welch großen Anstoß 1976). Gleichzeitig mit der Vorbereitung eiDas Neue Testament, von neuem uebersetzt u. mit ner dreibändigen Ausgabe der Werke von JaAnmerkungen begleitet (Bln. 1764/65) erregt kob Michael Reinhold Lenz (Sämtliche Werke hatte, weil diese Publikation D. als Anhänger und Briefe in drei Bänden. Lpz. 1987) verfasste der Sozinianer offenkundig machte. Mögli- sie eine Romanbiografie über Lenz (Vögel, die cherweise ihr zufolge wurde D. 1765 aus dem verkünden Land. Bln./Weimar 1985. Ffm. 1989. Schuldienst entlassen, wobei er jedoch sein 2005). Zu diesem Buch wurde sie nach eigener Auskunft motiviert durch die »unterGehalt bis zu seinem Tod weiterbezog. Weitere Werke: Gesamte Briefe des [...] Cicero gründige Beunruhigung«, die von Lenz’ an unterschiedene Staats- u. vertraute Personen. 4 Texten ausgeht. D.s Buch ist eine behutsame Bde., Bln. 1737–47. – Zwei Reden des Cicero fuer Beurteilung des Dichters, die trotz halbfik-

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Danella

tionaler Form erfundene Handlungen ver- schienene Schiller-Biografie (Das Leben des meidet u. auf gesicherte Daten u. Zitate zu- Friedrich Schiller. Eine Wanderung. Ffm. Erneut rückgreift. Die Autorin lehnt das Klischee 2006) ein großer Erfolg, wenngleich einige vom erfolglosen Nacheiferer Goethes ab u. Rezensenten sie als zu »betulich« kritisierten. D. ist Mitgl. des P.E.N.-Zentrums der unternimmt keine literaturgeschichtl. Einordnung des Dichters. Da D. v. a. an der Re- Bundesrepublik Deutschland u. der Mainzer konstruktion der Sozial- u. Milieugeschichte Akademie der Wissenschaften und der Litegelegen ist, bemüht sie für das Scheitern von ratur. Für ihre Arbeiten wurde sie mit zahlLenz keine individualpsycholog. Erklärungs- reichen Preisen ausgezeichnet, u. a. 1993 mit dem Förderpreis zum Hans-Erich-Nossackmuster. In D.s zweiter, viel beachteter Romanbio- Preis, 1994 mit dem Mörike-Preis u. dem grafie über Cornelia Goethe (Bln./Weimar 1987. Theodor-Fontane-Preis, 1997 mit der OttoFfm. 1988 u. ö. Zuletzt 2005) wird das Miss- Braun-Ehrengabe der Deutschen Schillerstifverhältnis zwischen sozialer Enge – die sich tung u. 2005 mit dem Thüringer Literaturv. a. in der unabwendbaren Festlegung auf preis. die traditionelle Frauenrolle zeigt – u. der Weitere Werke: Begegnung mit Caroline. angeborenen Neugier u. weltläufigen Bil- Briefe der Caroline Schlegel-Schelling. Mit einem dung von Goethes Schwester für deren Un- Ess. Lpz. 1979. 31989. – Lieber Freund, ich komme glück u. frühen Tod verantwortlich gemacht. v. weit her schon an diesem frühen Morgen. CaroZu einem Bestseller wurde Christiane und line Schlegel-Schelling in ihren Briefen. Darmst. Goethe. Eine Recherche (Ffm. 1998. 191999 u. ö.). 1980. 4. erw. u. bearb. Aufl. 1988. – Hyacinth u. Rosenblüt’. Märchen der dt. Romantik. Bln./DDR Hierin befasst sich D. mit Christiane Vulpius, 1984. 31990. – Ich bin nicht Ottilie Ffm. 1992 u. ö. der langjährigen Gefährtin u. späteren Ehe- Zuletzt 2005 (R.). – Diese Einsamkeit ohne Überfrau Goethes, u. ihrer schwierigen Rolle in fluß. Ffm. 1995. 2000. – Atemzüge. Ffm. 1999 der Weimarer Gesellschaft u. in ihrem Ver- (Ess.s). – Tage- u. Nächtebücher aus Lappland. Ffm. hältnis zu Goethe. Christiane wird hier nicht 2002. als das naive Dummchen dargestellt, als das Literatur: Monika Schneikart: ›Nicht viel wersie lange galt, sondern als eine lebenskluge, den wir mehr von Liebe reden‹. Liebesauffassung u. tatkräftige u. insg. verkannte Frau. Auf der Geschlechterbeziehung im Werk der Schriftstelleanderen Seite zeigt D.s Blick »hinter die Ku- rin u. Germanistin S. D. In: Brüche. Hg. Hannelore lissen« Goethe als eine durchaus wider- Scholz. Bln. 1999, S. 105–117. – Andreas Nentsprüchl. Persönlichkeit: Hinter der Fassade wich: Gespräch mit S. D. In: SuF 54 (2002), H. 4, des großen Dichterfürsten wird ein Mann mit S. 505–531. Ritt Seuß / Red. menschl. Schwächen erkennbar. Das hervorragend recherchierte Buch (D. wertete neben Danella, Utta, auch: Sylvia Groth, Stephan Briefen u. Hofakten auch scheinbar belangDohl, eigentl.: U. Schneider, geb. Dennelose Zeitdokumente wie Wäschelisten u. ler, * 18.6. in den 1920er Jahren. – AutoPreiszettel aus u. entdeckte bei den Arbeiten rin von Romanen, Erzählungen, Jugendein bis dahin kaum beachtetes Tagebuch von literatur, Sachbüchern. Christiane) wurde in mehrere europ. Sprachen übersetzt. In Goethes letzte Reise (Ffm./ Die Autorin mit dem auflagenstärksten Lpz. 2007) macht D. erstmals Goethe selbst Œuvre der dt. Gegenwartsliteratur (ca. 70 zur Hauptfigur eines ihrer Bücher. Mio. Exemplare) kam nach einer trotz Krieg Die detaillierten, nach eingehenden Quel- u. Nachkriegselend heiteren »Höhere Tochlenstudien genau analysierenden Lebensbe- ter-Jugend« über den Journalismus zum schreibungen D.s lassen sich dem Bereich der Schreiben. Nach dem Erscheinen des ersten halbbelletrist. Literatur zuordnen, die in der Buchs Alle Sterne vom Himmel (Mchn. 1956. DDR in den 1980er Jahren einen regelrechten 191989. 2005) schrieb sie fast jedes Jahr einen Boom erlebte, die aber auch in der Bundes- umfangreichen Roman. Das Erfolgsrezept: republik ein großes Publikum fand u. immer Eine Geschichte wie aus dem Leben, nur viel noch findet. So wurde auch D.s 2004 er- dramatischer zugeschnitten als der Alltag der

Dangkrotzheim

Leser; ein reiches Personal unterschiedlicher Charaktere u. Typen, das jedem Leser (2/3 Frauen, 1/3 Männer) seine passende Identifikationsfigur anbietet; eine geschickte Ökonomie von dramatischer Raffung u. breiten Rückblenden in die Vergangenheit, meist in die Familiengeschichten besserer Kreise, ausführl. Beschreibungen schicker Garderoben u. eleganter Orte; hier ernsthafte Problematik mit tragischem Ausgang, etwa das ungesühnte NS-Verbrechen, das die nächste Generation auf verhängnisvolle Weise einholt (in: Vergiß, wenn Du leben willst. Mchn. 1966. 23 1988 u. ö. Sonderausg. 2005), dort eine eher schadenfrohe, mit dem Leser kumpanierende Heiterkeit, wenn den feinen Leuten (meist Adel u. Industrie) etwas danebengerät (in: Die Hochzeit auf dem Lande. Hbg. 1975. 151995 u. ö. Augsb. 2005). In keinem ihrer Romane aber fehlt die »echte« Liebe. D. verfasst Frauenliteratur im traditionellen Sinn, die trotz aller Hinweise auf Emanzipation herkömml. Rollenklischees festschreibt. So werden ihre Leser nicht zur krit. Auseinandersetzung herausgefordert, sondern in ihrem Selbstbild u. in ihren Illusionen bestätigt. Weitere Werke: Über 40 Romane, z.T. in Forts.en. – Begegnung mit Musik. Betrachtungen. Mchn. 1985. Literatur: Werner Ross: Das Leben ist ein Roman. Die Unterhaltungsschriftstellerin U. D. In: FAZ Nr. 82 (1.4.1983). – U. D.: ›Wir Frauen sind doch das stärkere Geschlecht‹. In: Ich geh meinen Weg. Frauen auf der Suche nach sich selbst. Interviews v. Heidemarie Lammert. Mchn. 1986, S. 18–24. – Hartmut Panskus: U. D., ihre Bücher, ihre Verleger, ihre Erfolge. In: Börsenblatt für den dt. Buchhandel (Frankfurter Ausg.) 45 (1989), 8, S. 262 f. Hiltrud Häntzschel / Red.

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eines Neujahrswunsches zahlreiche Geräte, Waffen, Haustiere usw. aufgezählt werden, die man in einem gehobenen Haushalt braucht; am Schluss handelt D. über Kinderpflege. Ein zweites Gedicht in Reimpaaren (556 vv.), das Heilige Namenbuch, entstanden 1435 (gedr. Basel um 1520), bietet mit Heiligennamen, Bauern-, Wetter- u. Gesundheitsregeln ein Kalendarium durch das Jahr hindurch. D. ist ferner Autor zweier langer Lieder in Sangspruchtönen, durch die er sich in den Zusammenhang der zeitgenöss. Meisterlieddichtung stellt. Beide sind in der Kolmarer Liederhandschrift (um 1460) überliefert. Das erste Lied, Dang hab der anbegynne, abgefasst in Muskatbluts Fröhlichem (oder Neuem) Ton, umfasst 13 Strophen; die Autorschaft D.s geht nicht nur aus der Autorsignatur am Schluss, sondern auch aus dem Strophenakrostichon hervor. Das mit lat. Wörtern u. Wendungen durchsetzte Lied handelt in den Strophen 1–5 von der Schöpfung; die Strophen 6–13 enthalten ein Marienlob, in dem der Autor die Septem artes zu Hilfe ruft. Das 15-strophige zweite Lied Nym war du vngelerte frau und auch du man in Heinrichs von Mügeln Langem Ton, das ebenfalls mit einer Autorsignatur versehen ist, beschreibt u. erklärt im Detail die Messordnung für den Laien; wörtl. Zitate werden lateinisch u. deutsch geboten. Die Entstehungszeit der Lieder u. ihr Gebrauchszusammenhang sind unbekannt. Ausgaben: Konrad Pickel: Das Hl. Namenbuch des K. D. Straßb. 1878. – Cramer, Bd. 1, S. 122–151, 441–443. Literatur: Hellmut Rosenfeld: Der Hagenauer Dichter K. D. (1372–1444) in neuer Sicht. In: RG 8 (1978), S. 129–142. – Hellmut Rosenfeld: K. D. In: VL. – RSM 3 (Verz. der Lieder mit Hinweisen auf weitere Lit.). Horst Brunner

Dangkrotzheim, Konrad, * um 1372, † 4.3.1444 Hagenau/Elsass. – Gelegen- Daniel, entstanden um 1331. – Reimheitsdichter. paardichtung. D., der adliger Herkunft war, amtierte seit 1402 als Schöffe in Hagenau. Der Dichtkunst wandte er sich anscheinend erst in höherem Alter zu. Erhalten haben sich ein 1431 verfasstes Reimpaargedicht (536 vv.) Hausrat (gedr. Hagenau 1531), in dem in der Form

Der unbekannte Autor des 8348 Verse umfassenden D. (zwei Handschriften) gehörte wohl dem Deutschen Orden an, war Geistlicher u. stammte aus dem thüringischen oder ostfränk. Sprachgebiet. Der D. zählt zur Literatur des Deutschen Ordens: Er ist den

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Daniel von Soest

Herren »von deme dutsche huse« (v. 46) ge- turleben im Dt. Ritterorden. Köln/Wien 1969, widmet; als Initiator des D. wird Luder von passim. – Ders.: D. In: VL. Elisabeth Wunderle / Red. Braunschweig gepriesen (vv. 8304–8323), der bei Vollendung des Werkes Hochmeister des Deutschen Ordens war (vv. 8322 f.); die vom Daniel von Soest. – Pseudonym eines Deutschen Orden bes. verehrte hl. Elisabeth Verfassers antireformatorischer Kampfist mehrfach hervorgehoben (vv. 2167 ff., schriften aus der ersten Hälfte des 16. Jh. 8308 ff.); Sprache, Metrum u. Stil zeigen große Ähnlichkeit mit anderen Dichtungen Hinter dem Pseudonym verbirgt sich, wie des Deutschen Ordens, bes. den Makkabäern Norbert Eickermann gezeigt hat, weder GerLuders von Braunschweig. So verwendet der vin Haverland noch Johannes Gropper, sonDichter des D. eine geblümte Sprache, wie sie dern sehr wahrscheinlich der seit 1550 als auch in den Makkabäern anzutreffen ist, u. das Guardian des Soester Franziskanerkloster amtierende Patroclus Boeckmann, Verfasser Prinzip der Silbenzählung. Der D. ist eine Übersetzung der 14 Kapitel der szenischen Verssatire Ein gemeyne Bicht des bibl. Buches Daniel einschließlich der oder bekennung der Predicanten to Soest (entstanapokryphen Stücke Susanna im Bade u. Bel. Am den 1534. Erstdr. o. O. [Köln] 1539). D.s AnEnde eines jeden Kapitels steht eine Glosse, liegen ist die polem. Diskreditierung der Red.h. Auslegung. Vorlage für die Übersetzung formationsgeschehnisse in Soest 1531–1534. war eine Vulgata mit stark von der gängigen Die evang. Protagonisten werden als Prediger Fassung abweichenden Lesarten. Die Über- im Dienst des Teufels dargestellt; D. macht setzung wird an manchen Stellen von den sie zu den Figuren eines dramatisch gestalbenutzten Kommentaren beeinflusst. Die teten Dialogs, die in ihrer Rede über Planung größten Freiheiten gestattet sich der Dichter u. Gelingen der Reformation sich selbst u. v. a. bei Gebeten u. Lobgesängen. Die Glossen ihre ketzerische, eigennützige u. unkeusche Motivation entlarven sollen. Die Gemeyne bieten eine tropolog. Ausdeutung, die häufig Bicht folgt in ihrem chronolog. Aufbau weitPredigtcharakter annimmt. So werden in der gehend dem Verlauf der Soester Reformation; Pflanzenallegorie nach dem dritten Kapitel der Verfasser erweist sich als ein intimer zunächst Blumen auf verschiedene MenKenner der Geschehnisse. schengruppen hin ausgedeutet u. dann deren Wie die Gemeyne Bicht sollten auch die Entartung u. Sünden vorgeführt. Wie die weiteren Werke D.s als antireformator. immer wiederkehrenden Aufrufe zu Buße u. Kampfschriften in die spezif. Soester SituatiUmkehr zeigen, sieht sich der Dichter als on eingreifen. Das Dialogon (1537. Erstdr. zus. Seelsorger. Während die Glossen zu den Ka- mit der Gemeynen Bicht) stellt die folgenden piteln 1–6 sehr ausführlich sind, werden sie Ereignisse bis 1537 dar, hier allerdings in gegen Schluss immer knapper u. verweisen Form einer Erzählung D.s im Gespräch mit z.T. nur noch auf andere Werke. Als Quellen Philochristus. Das Apologeticon (entstanden für die Glossen sind die Historia scholastica des 1538), hauptsächlich eine Rückschau u. WiePetrus Comestor u. die Postillen des Nikolaus derholung von D.s Argumenten, ist nicht von Lyra u. Hugo a St. Caro nachweisbar. Der zum Druck gelangt, der 1533 entstandene Dichter kannte neben den Makkabäern noch Ketterspegel erst vor wenigen Jahren. Nur aus andere Dichtungen des Deutschen Ordens Erwähnungen im Apologeticon sind die wohl wie die Apokalypse Heinrichs von Hesler u. die verschollenen Schriften gegen die 1532 in Martina Hugos von Langenstein. Soest eingeführte evang. Kirchenordnung Ausgaben: Arthur Hübner (Hg.): Die poet. Be- (Pareneticon) u. gegen die lutherische Sakraarbeitung des Buches D. Bln. 1911. mentenlehre (Sendbrief) zu erschließen. Literatur: Arthur Hübner: D., eine Deutschordensdichtung. Bln. 1911. – Karl Helm u. Walther Ziesemer: Die Lit. des Dt. Ritterordens. Gießen 1951, S. 100–107. – Günther Jungbluth: Litera-

Ausgaben: Der Soester D., oder: Das Spottgedicht [= Ein gemeine bicht u. Dialogon] Gerhard Haverlands. Nach dem Originalmanuscript d. Dichters hg. u. mit histor. erläuternden Anmer-

Dannhauer kungen vers. v. Ludwig Friedrich v. Schmitz. Soest 1848. – D. v. S. Ein westfäl. Satiriker des 16. Jh. Hg. Franz Jostes. Paderb. 1888 (darin: Gemeyne Bicht, Dialogon u. Apologeticon). Paderb. 1902. Neudr. Walluf bei Wiesb. 1972. – Responsio ad B. Rothmannum (1532). In: Die Schr.en der Münsterischen Täufer u. ihrer Gegner. Tl. 2: Schr.en v. kath. Seite gegen die Täufer. Bearb. v. Robert Stupperich. Münster 1980, S. 8–25. – Der ›Ketterspegel‹ des D. v. S. (1533). Bearb. v. Ulrich Löer. Münster 1991. Literatur: VD 16, D 87–88. – Eduard Vorwerck: D. v. S. Soest 1856. – Franz Jostes: D. In: ADB. – Hubertus Schwartz: Gesch. d. Reformation in Soest. Soest 1932. – Arnold E. Berger: Satir. Feldzüge wider die Reformation. Thomas Murner, D. v. S. Lpz. 1933. Neudr. Darmst. 1967. – Norbert Eickermann: Miscellanea Susatensia. [...] III. Wer schrieb den D. v. S.? In: Soester Ztschr. 86 (1974), S. 34–41 u. 58 f. – Alois Walter Teodoruk: D. v. S.: Ein gemeyne Bicht. Anmerkungen zum Forschungsstand. In: Soester Ztschr. 96 (1984), S. 14–38. – Heinz-Dieter Heimann: Der Ketzerspiegel des D. v. S. Ein Beitr. zur mittelalterl. Haeresieverständnis in der kirchlich-theolog. Auseinandersetzung der Reformation. Ebd., S. 39–58. – Ders.: D. v. S. Ein Satiriker als Kontroverstheologe. In: ZKG 95 (1984), S. 98–107. – H.-D. Heimann: ›Buoch um buoch. Ich wil mich rechen u. sie mit büchlin uberstechen‹. Das öffentl. Agitieren v. Mendikanten gegen reformator. Bestrebungen als Ausdruck kirchl. u. sozialen Wandels. In: Bettelorden u. Stadt. Bettelorden u. städt. Leben im MA u. in der Neuzeit. Hg. Dieter Berg. Werl 1992, S. 235–248. Frank Fürbeth / Red.

Dannhauer, Dannhauerus, Johann(es) Conrad(us), * 24.3.1603 Köndringen/Baden, † 7.11.1666 Straßburg. – Lutherischer Theologe. D.s Vater besaß das Straßburger Bürgerrecht. Mithilfe von Stipendien schickte er seinen Sohn auf das dortige Gymnasium (1610), von dort auf das Predigerkolleg u. die Akademie (Baccalaureus 1619, Magister 1621). Schon früh bewährte sich der Schüler in den Fächern der Artistenfakultät (bes. Logik u. Poesie). Als einer der Ersten in Straßburg ließ er sich zum Poeten krönen (1622), legte eine Sammlung lat. Lyrik vor (Poematum Pars Prima-Secunda. Straßb. 1624) u. gehörte auch in den späteren Jahren zu den bewährten Verfassern zahlreicher Kasualgedichte. Nach weiteren philosoph., bes. hebräischen Studien begann D.

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1624 das Studium der Theologie, zunächst an den Universitäten Marburg, Altdorf u. Jena. Bald war er – z.B. bei Johann Gerhard u. Johann Major in Jena – als eifriger Disputant bekannt, der sich auch philosophischer Themen annahm (aus dieser Zeit: Collegium Exercitationum Ethico-Politicarum. Marburg 1627. Disputationes Theologicae. Lpz. 1627). Als D. in Jena eine Stelle angeboten wurde, beeilte sich die Stadt Straßburg, ihn auf den Lehrstuhl für Rhetorik zu berufen (1627–1633). Obwohl D. erst 1634 den theolog. Doktorgrad erwarb, konnte er bereits ein Jahr vorher auf eine theolog. Professur überwechseln. In dieser Position sowie in seiner Würde als Straßburger Kirchenpräsident (1658) bestimmte er durch sein persönliches Wirken, dokumentiert in einem weitläufigen Lebenswerk, die Geschicke des elsäss. Luthertums. D. profilierte sich als der wohl größte Streittheologe der Straßburger Orthodoxie; beflügelt von einem sich an Luther orientierenden Sendungsbewusstsein, kämpfte er gegen Katholiken, Calvinisten, humanistische u. iren. Vermittlungstheologen, gegen Wiedertäufer u. »Enthusiasten«. Persönliche Frömmigkeit verband sich bei ihm mit rhetorischer u. dialekt. Schulung. Der Methodik der Disputation galten nicht zuletzt mehrere viel gelesene Schriften zum Lehrstoff der akadem. Logik u. Rhetorik: Idea boni disputatoris et malitiosi sophistae (Straßb. 1629. 41656. Neudr. Hildesh. 2006), Epitome Dialectica. Item: Rhetorica (Straßb. 1634), Decas diatribarum logicarum (Straßb. 1653). Mittlerweile gilt D. mit seiner Schrift Idea boni interpretis et malitiosi calumniatoris (Straßb. 1630. Neudr. der Ausg. 1652: Hildesh. u. a. 2004) u. mit seiner Hermeneutica sacra (Straßb. 1654) als Mitbegründer der neuzeitl. Hermeneutik, die er als »modus sciendi« aus dem method. Instrumentarium der aristotel. Logik entwickelte u. dabei auch die Kritik möglicher Vorurteile einschloss. Im Sinne der zeitgenöss. Bemühungen um eine christl. Reform des öffentl. u. privaten Lebens wandte D. seine Aufmerksamkeit auch den Fragen der Ethik zu. Die reformator. Gewissenstheologie erweiterte er im Hinblick auf eine praxisbezogene Kasuistik u. nahm zur Frage der Sonntagsheiligung einen den Puritanern an-

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Dantiscus

genäherten Standpunkt ein. Einblick in D.s Straßb. 1883. – Hans Leube: Die Reformideen in seelsorgerische Tätigkeit gewährt ein um- der dt. luth. Kirche zur Zeit der Orthodoxie. Lpz. fangreiches Predigtschrifttum, u. a. gesam- 1924. – Ders.: Kalvinismus u. Luthertum im Zeitmelt u. d. T. Katechismusmilch oder [...] Erklä- alter der Orthodoxie. Bd. 1, Lpz. 1928. – KarlHeinz Möckel: Die Eigenart des Straßburger orrung des christlichen Catechismi (Bde. 1–10, thodoxen Luthertums in seiner Ethik. Dargestellt Straßb. 1642–73). In der Auslegung des Lu- an J. C. D. Diss. Greifsw. 1952. – Johannes Wallther’schen Katechismus befasste sich D. hier mann: Philipp Jacob Spener u. die Anfänge des in z.T. volkstümlicher u. drast. Sprache nicht Pietismus. Tüb. 1970. 21986. – Claus v. Bormann: nur mit den dogmat. Problemen der »reinen Hermeneutik. In: TRE. – Werner Westphal: D. In: Lehre«, sondern auch mit den aus seiner Sicht NDA. – J. Wallmann: Straßburger luth. Orthodoxie tadelnswerten Erscheinungen der Alltagswelt im 17. Jh. J. C. D. Versuch einer Annäherung. In: (Polemik z.B. gegen den heidn. Weihnachts- Revue d’histoire et de philosophie religieuse 68 baum). Maßgeblichen Einfluss übte D.s (1988), S. 55–71. – Ders: Die Eigenart der Straßburger luth. Orthodoxie im 17. Jh. Apokalypt. glaubensstrenge Haltung auf den jungen Endzeitbewußtsein u. konfessionelle Polemik bei J. Philipp Jacob Spener, den Begründer des C. D. In: Ders.: Theologie u. Frömmigkeit im Pietismus, aus. Spener schätzte bes. D.s to- Zeitalter des Barock. Tüb. 1995, S. 87–123. – Reipologisch geordnete Dogmatik, die von D. als mund Sdzuj: Histor. Studien zur Interpretations»Wegweiser« auf der Wanderung zur himml. methodologie der frühen Neuzeit. Würzb. 1997. – Heimat verstanden wurde (Hodosophia Chris- Lutz Danneberg: Logik u. Hermeneutik im 17. Jh. tiana seu Theologia Positiva. Straßb. 1649. In: Theorie der Interpr. vom Humanismus bis zur Neudr. Hildesh. in Vorb.). Dieser Aufriss des Romantik. Hg. Jan Schröder. Stgt. 2001, S. 75–131. »positiven« Luthertums wurde von polem. – Peter Rusterholz: Andreas Gryphius u. der Straßburger Theologe J. C. D. In: Aedificatio. ErKompendien ergänzt (Hodomoria Spiritus Pabauung im interkulturellen Kontext in der Frühen paei [...]. 2 Bde., Straßb. 1653. Hodomoria Spi- Neuzeit. Hg. Andreas Solbach. Tüb. 2005, ritus Calviniani [...] examinati. 2 Bde., Straßb. S. 285–297. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, 1654). Speners dogmat. Reserven gegen Cal- S. 417–428. Wilhelm Kühlmann vinisten u. die von Calixt repräsentierte Helmstedter Theologie wurden v. a. der Nachwirkung D.s zugeschrieben. Dantiscus, Johannes, eigentl.: J. FlachsWeitere Werke (Erscheinungsort jeweils Straßburg): Collegium psychologicum [...] Aristotelis de anima. 1630. – Pathologia rhetorica. 1632. – Tractatus de memoria. 1635. – Christeis, sive Drama sacrum. 1646. – Mysterium syncretismi detecti. 1648. – Polemosophia seu Dialectica sacra. 1648. – Praeadamita utis, sive Fabula primorum hominum. 1656. – Evang. Memorial oder Denckmal der Erklärungen uber die Sonntägl. Evangelien. 1661. – Liber conscientiae apertus sive Theologiae conscientariae. Bde. 1–2, 1666/67. – Engl. ChristenSchutz, wider den erbfeindl. Türcken-Trutz. 1664. – Panegyricus uranius Christi solis [...] Sampt einem Anhang fünff Predigten v. dem Cometen, der Anno 1661 ersch. 1664. – Ilex et obex pacis ecclesiarum sanctae. 1666. – Hagiologium festale, oder Hl. Fest-Legenden, d.i.: Fest-Predigten. 1667. Ausgabe: Predigten der Barockzeit. Texte u. Komm. Hg. Werner Welzig. Wien 1995, S. 15–26 (Predigtbeispiel). Literatur: August Tholuck: Das akadem. Leben des 17. Jh. Bd. 2, Halle 1854. – Wilhelm Horning: Der Straßburger Universitätsprof. [...] J. C. D.

binder oder von Höfen (latinisiert: de Curiis), auch: Linodesmon, * 1.10.1485 Danzig, † 27.10.1548 Heilsberg. – Bischof, Humanist, Diplomat, neulateinischer Lyriker. Der Sohn eines Bierbrauers studierte seit 1499 in Greifswald, möglicherweise seit 1500 in Krakau u. trat noch im gleichen Jahr in den Dienst des poln. Hofes. 1502/03 nahm er an einem Feldzug gegen die Tataren teil, 1504/ 05 reiste er nach Italien u. ins Heilige Land. Danach setzte er seine Studien fort, erhielt 1505 die niederen Weihen u. wurde 1507 Sekretär u. Notar am Hof Sigismunds I. in Krakau. Dem poln. König diente er auch in den folgenden Jahren als Diplomat. Kaiser Maximilian I. krönte ihn 1516 zum Dichter u. erhob ihn nach Erwerb des Doktorgrades beider Rechte in den Adelsstand. Seit 1522/23 vertrat D. die poln. Interessen an den habsburg. Höfen in Spanien u. den Niederlanden

Dantiscus

u. nahm 1530 an der Krönung Kaiser Karls V. in Bologna teil; danach residierte er, seit 1530 Bischof von Kulm, in den Niederlanden, von wo aus er einen ausgedehnten Briefwechsel mit Gelehrten in ganz Europa unterhielt (u. a. mit Erasmus von Rotterdam, Alfonso de Valdés, Eobanus Hessus). 1532 kehrte er in seine Heimat zurück u. wurde 1538 Bischof von Ermland. Von seiner Residenz Heilsberg aus bemühte er sich, den Bildungsstand der Kleriker zu heben; als Förderer der Künste stand er in hohem Ansehen. Obwohl altkirchlich gesinnt, stand er mit führenden Humanisten des reformator. Lagers wie Georg Sabinus in regem Gedankenaustausch u. versuchte sogar, Melanchthon der röm. Kirche zurückzugewinnen. Mit Copernicus, dessen Lehre er unterstützte, war er befreundet. Das dichter. Werk des D. umfasst nahezu alle Formen der Dichtung des dt. Hochhumanismus. Neben Freundschaftsbilletts stehen zahlreiche panegyr. Dichtungen zum Preis Sigismunds I., Liebesdichtungen u. v. a. ein umfangreiches zeitkrit. Werk (De nostrorum temporum calamitatibus sylva. Bologna 1529 u. ö.), das angesichts der ungar. Katastrophe bei Mohácz (1526) u. der türk. Belagerung Wiens (1529) Papst Clemens VII. u. Karl V. auffordert, nach Überwindung der Ketzerei die europ. Völker zum Kampf gegen die Türken zu führen. Hier wie schon in einer ähnlich gerichteten Gruppe von Gedichten, die mit den Taten König Sigismunds gegen die Moskowiter u. dem Wiener Fürstenkongress von 1515 in Zusammenhang stehen (u. a. De profectione Serenissimi Sigismundi Regis Poloniae [...] Sylva. Wien 1515), hängt D. stark von Ovid, Vergil u. Horaz ab. Ein umfangreiches, recht eigenständiges Carmen paraeneticum, iuvenibus huius temporis non inutile (o. O. u. J.), das an Eustachius von Knobelsdorff gerichtet ist, verbindet autobiogr. Rückblicke mit vehementer Kritik an der von Luther verursachten Kirchenspaltung. Dem Alterswerk gehören Gedichte zum Lob des Weines u. Bieres sowie D.’ umfangreichste Dichtung an, ein Hymnenbuch in Nachahmung des Prudentius (aus dem Todesjahr), das von altkirchlicher Seite zus. mit der Hymnenüberarbeitung Heinrich Bebels die Erneuerung der altchristl. Dichtung

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durch die Protestanten Georg Fabricius u. Adam Siber präludiert. Ausgaben: Ioannes Gottlob Boehmius (Hg.): Ioannis de Curiis Dantiscani Poemata et Hymni e Bibliotheca Zalusciana. Breslau 1764. – Franz Hipler (Hg. u. Übers.): Des ermländ. Bischofs J. D. u. seines Freundes Nikolaus Kopernicus Gedichte. Münster 1855. – Stanislaus Skimina (Hg.): Joannis Dantisci Poetae Laureati Carmina. Krakau 1950. – Ioannes D.’ Latin letters, 1537. Transcription from manuscript, commentary and annotations by Anna Skolimowska. Warschau u. a. 2004 (= Corpus epistolarum Ioannis Dantisci. Tl. 1, Bd. 1). Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Ellinger 2, S. 295–303. – Stanislaus Skimina: Twórzósc´ poetycka Jana Dantyska. Krakau 1948. – Henry de Vocht: D. and his Netherlandish friends. Löwen 1961. – Inge Brigitte Müller-Blessing: J. D. v. Höfen. In: Ztschr. für die Gesch. u. Altertumskunde Ermlands 31/32 (1967/68), S. 59–238. – Conradin Bonorand: Joachim Vadian u. J. D. Ebd. 35 (1971), S. 150–170. – Antoine de Smet: La correspondance de J. D. et le mouvement scientifique de son temps. In: Acta Conventus Neo-Latini Amstelodamensis. Hg. P. Tuynman u. a. Mchn. 1979, S. 321–329. – H. Wiegand: Hoedoeporica. Baden-Baden 1984. – Stephan Füssel: Riccardus Bartholinus Perusinus. Baden-Baden 1987. – Contemporaries. – Mieczyslaw Mejor: Die Reste der Heilsberger Bibl. v. J. D. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgesch. 24 (1999), S. 133–140. – Wilhelm Kühlmann u. Werner Straube: Zur Historie u. Pragmatik humanist. Lyrik im alten Preußen: Von Konrad Celtis über Eobanus Hessus zu Georg Sabinus. In: Kulturgesch. Ostpreußens in der Frühen Neuzeit. Hg. Klaus Garber, Manfred Komorowski u. Axel E. Walter. Tüb. 2001, S. 657–736. – Tomasz Ososinski: Die Korrespondenz des J. D. Editionsfragen. In: Matthias Minnser u. Janusz Tandecki: Editionswiss. Kolloquium 2002/03: Historiographie – Briefe u. Korrespondenzen – Editor. Methode. Torun 2005. – Martin Krzoska: J. D. (1485–1548) – ein Humanist u. Politiker v. europ. Rang. In: ›Mein Polen...‹ Dt. Polenfreunde in Porträts. Hg. Krzystof Ruchiniewicz u. Marek Zybura. Dresden 2005, S. 29–54. – Ann Moss: J. D. (1485–1548): Hyms in Context; Anna Skolimowska: The Epitaph for Alfonso de Valdes in St. Stephen Cathedral in Vienna. Beide in: Pietas Humanistica. Neo-Latin Religious Poetry in Poland in European Context. Hg. Piotr Urban´ski. Ffm. u. a. 2006. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 429–431. /

Hermann Wiegand

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Dasypodius

Danzel, Theodor Wilhelm, * 4.2.1818 Dasypodius, Petrus, wohl: Hasenfratz, Hamburg, † 9.5.1850 Leipzig. – Philologe viell. Häsli, * um 1490 in oder bei Frauu. Literaturhistoriker. enfeld (Ueßlingen?)/Thurgau, † 28.2. 1559 Straßburg. – Lehrer u. Lexikograf. Der einer Arztfamilie entstammende D. studierte von 1837 an Philosophie u. Klassische Philologie in Leipzig, Halle u. Berlin u. promovierte 1841 in Jena mit einer Arbeit über Platon. Anschließend lebte er, immer mit finanziellen Schwierigkeiten kämpfend, bis 1845 als Privatgelehrter in Hamburg. Mit Erfolg hielt er hier eine Reihe von öffentl. Vorlesungen zu literaturgeschichtlichen u. kunsttheoret. Themen. Gleichzeitig entstanden seine bedeutende Abhandlung Über Goethe’s Spinozismus (Hbg. 1843) u. eine krit. Arbeit Über die Ästhetik der Hegelschen Philosophie (Hbg. 1844). Seine Leipziger Habilitationsschrift von 1845 befasste sich erneut mit Platon. Bis zu seinem frühen Tod lehrte D. nun als Privatdozent in Leipzig. 1848 veröffentlichte er, ganz im Gegensatz zum aktuellen literaturgeschichtl. Interesse, Auszüge aus Gottscheds Briefen (Gottsched und seine Zeit. Lpz. 1848). D.s Hauptwerk ist seine unvollendet gebliebene Lessingbiografie (Gotthold Ephraim Lessing, sein Leben u. seine Werke. 1. Bd., Lpz. 1850. 2. Bd. bearb. v. Gottschalk Eduard Guhrauer. Lpz. 1853/54). D. führte ein asketisches Gelehrtenleben u. ruinierte, ständig zu Brotarbeit für Zeitungen u. Zeitschriften gezwungen, früh seine Gesundheit. D.s Arbeiten verbinden auf bemerkenswerte Weise philolog. Akribie mit fundiertem ästhetisch-philosoph. Wissen. Nach seinem Tod geriet die Neugermanistik des 19. Jh. zunehmend in ein mikrologisches Fahrwasser.

Ausgabe: Zur Lit. u. Philosophie der Goethezeit. Ges. Aufsätze zur Literaturwiss. Hg. u. mit einem Vorw. v. Hans Mayer. Stgt. 1962 (mit Bibliogr.). Literatur: Otto Jahn: Biogr. Aufsätze. Lpz. 1866, S. 165–220 (Wiederabdr. bei Mayer). – HansMartin Kruckis: Goethe-Philologie als Paradigma neuphilolog. Wiss. im 19. Jh. In: Wissenschaftsgesch. der Germanistik im 19. Jh. Hg. Jürgen Fohrmann u. Wilhelm Voßkamp. Stgt./Weimar 1994, S. 451–493. – Goedeke Forts. Hans-Martin Kruckis

Im Juni 1527 wurde der Frauenfelder Kaplan, der nach Aussage zeitgenössischer Briefe hohes Ansehen im Kreise Huldrych Zwinglis genoss, an die Lateinschule an der Zürcher Fraumünsterschule berufen. 1530 kehrte D. als reformierter Prediger u. Schulmeister in seine Heimatstadt zurück, die er aber wie sein Freund Heinrich Bullinger nach der Schlacht bei Kappel (Okt. 1531), begleitet von seiner Frau Veronika u. seinem Sohn Konrad (1531–1601, dem späteren v. a. für die astronom. Uhr in der Kathedrale zu Straßburg bekannten Mathematiker), wieder verlassen musste. Erst 1533 wurde ihm auf Empfehlung von Thomas Blaurer u. seinem Bruder Ambrosius von Martin Bucer die Leitung der Lateinschule am Straßburger Karmelitenkloster anvertraut. In den nächsten zwei Jahren kompilierte er sein alphabetisch-etymologisch organisiertes Dictionarium Latinogermanicum (Straßb. 1535. Internet-Ed.: http://diglib.hab.de/drucke/n-77-4f-helmst2/start.htm [1.12.2006]), dessen zweite Auflage (1536) er sowohl um ein lat.-dt. Sachglossar als auch um dt.-lat. Indexteile erweiterte (Neudr. hg. v. Gilbert de Smet. Hildesh./ New York 1974). In dieser für den dt. Markt innovativen vierteiligen Gestalt, die auf das Konzept des span. Humanisten Antonius Nebrissensis (Elio Antonio de Nebrija/Lebrija) zurückgreift, erlebte es als das meistgebrauchte Schulwörterbuch des 16. Jh. zwischen 1536 u. 1600 bis zu 29 Drucke. Im 17. Jh. folgten weitere sechs Drucke u. 17 Auflagen des sog. Dasypodius Catholicus (Köln, ab 1633), der zuletzt noch 1709 erschien. Am berühmten, von Johann Sturm geleiteten Gymnasium Argentinense lehrte D. seit 1538 die klass. Sprachen in den oberen Klassen, was ihn vielleicht auf den Gedanken gebracht hat, ein billiges u. handl. griechischlat. Lexikon für Schüler zu veröffentlichen. Aus dem Vorwort zum Dictionarium Latinogermanicum, das nachweislich auf den neuen lat. Wörterbüchern des Stephanus (1531) u. Calepinus (1510) fußt, geht hervor, dass es D.

Dath

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Weitere Werke: Lexikon graecolatinum in v. a. darum ging, seine Schüler an den klaren Quell des klass. Lateins heranzuführen u. die usum iuventutis Graecarum literarum studiosae, Übersetzungstheorie Juan Luis Vives’ in die diligenter congestum. Straßb. 1539. – De schola Praxis umzusetzen, indem er lat. Fachwörter urbis Argentoratensis (Straßb. 1556). Hg. Dieter Launert. Transkription u. Übers. v. Dominique durch selbst nach lat. Wortbildungsmustern Brabant. Meldorf 2006. – Philargyrus comoedia: geprägte Lehnübersetzungen u. Lehnschöp- Lusus adolescentiae. Straßb. 1565. fungen wiedergegeben hat. Literatur: René Verdeyen: P. D. en Ant. SchoAuch wenn seine Bedeutung für die lat. rus. Lüttich 1939. – Frans Claes: Bibliogr. Verz. der Lexikografie nicht sonderlich groß gewesen dt. Vokabulare u. Wörterbücher, gedr. bis 1600. sein mag (die Zielsprache des Wörterbuchs Hildesh./New York 1977. – Sylva Wetekamp: P. D., bleibt zeitgemäß Latein), erlaubt die lange Dictionarium Latinogermanicum. Göpp. 1980. – Druckgeschichte Längsschnittuntersuchun- Klaus-Peter Wegera (Hg.): Arno Schirokauer. Stugen des dt. Wortguts, die neues Licht z.B. auf dien zur frühnhd. Lexikologie u. zur Lexikogradie Entwicklung der Straßburger Drucker- phie des 16. Jh. Heidelb. 1987. – Jonathan West: sprache u. das »Werden der Gemeinsprache« Lexical Innovation in D.’ Dictionary. Bln./New werfen. In Bezug auf die volkssprachl. Lexi- York 1989. – Ders.: Synonyms in D.’ Dictionary. In: ›Das unsichtbare Band der Sprache‹. Studies in kografie dagegen wirkte der Dasypodius German language and linguistic history. Hg. John nachhaltig sowohl auf dt. Wörterbücher des L. Flood u. a. Stgt. 1993, S. 127–147. – Ders.: Zu 16. bis 19. Jh. als auch auf die Lexikografie den Kompositionstypen im Wörterbuch des D. In: der Niederlande, Böhmens, Schwedens u. Vielfalt des Deutschen. FS Werner Besch. Hg. Klaus Polens. Beispielsweise hat Serranus (Dictiona- J. Mattheier u. a. Ffm./Bln. 1993, S. 127–147. – rium latinogermanicum. Nürnb. 1539) reichlich Frédéric Hartweg: P. D. Un lexicographe suisse fait daraus geschöpft, weitere Spuren D.’scher école à Strasbourg. In: EG 50 (1995), S. 397–412. – Wörter hat man sogar bis Frisch (Teütsch-La- Peter v. Polenz: Dt. Sprachgesch. 3 Bde., Bln. teinisches Wörterbuch. Bln. 1741) verfolgt. Au- 1990–99. – William J. Jones: German Lexicography ßerhalb Deutschlands hat ihn v. a. Antonius in the European Context. Bln./New York 2000. – Peter O. Müller: Dt. Lexikographie des 16. Jh. Tüb. Schorus von Hoogstraaten für eine nieder2001. – J. West: Reassessing Serranus. In: ›Vir inländ. Leserschaft adaptiert. Diese Lexikogra- genio mirandus‹. Studies presented to J. L. Flood. fen haben viele Verdeutschungen lat. Wörter, Hg. W. J. Jones u. a. Göpp. 2003, S. 773–791. – Jean von denen fast 2000 zum ersten Mal bei D. Rott: D. In: NDA. Jonathan West belegt sind, übernommen (ca. 31%). Weil Generationen von Schülern das Wörterbuch benutzt haben, sind fast 30% der D.’schen Dath, Dietmar, * 3.4.1970 Rheinfelden. – Neologismen in die nhd. Schriftsprache einSchriftsteller, Journalist, Übersetzer. gegangen. Bis heute seit D. kontinuierlich in Gebrauch sind in kleiner Auswahl: Ableser, D. veröffentlicht seit 1990 journalistische u. Abscheulichkeit, Angeklagte, Bargeld, Bauernhof, literar. Texte. Er übersetzt daneben kontiBedauern, Bimsstein, Brotkasten, Einkäufer, Er- nuierlich Romane, theoret. Werke, Essays u. nährung, Eroberung, Erzieher, Feldherr, Finger- Artikel aus dem Englischen ins Deutsche. ring, Folterung, Fürstenhaus, Hässlichkeit, Halb- 1998–2000 war er Chefredakteur der Zeitinsel, Hülsenfrucht, Konsonant, Krampfader, schrift für Popkultur »Spex«, 2001–2007 Landrat, Langeweile, Missgeburt, Niederträchtig- Sachbuchredakteur der »Frankfurter Allgekeit, Oberarzt, Passport, Poltergeist, Raubvogel, meinen Zeitung«. Rechtschreibung, Schreibstube, Schrotsäge, SinnloDas Themenspektrum seiner journalist. sigkeit, Sonnenaufgang, Sonnenschirm, Sonnenuhr, Arbeiten reicht von polit. Aspekten der JuSubstantiv, Überschwemmung, Unbeständigkeit, gend- u. Popkultur (Heavy Metal, Techno, Verblendung, Verkleinerung, Verleumdung, Verlo- Science-Fiction, Drogen) über Wissenschaftsbung, Zuordnung, Zusammenziehung u. Zuschau- kritik (Nanotechnik, Computerwissenschafer. Seine unbewusste wortschöpfer. Tätigkeit ten, Biotechnologie) bis zur Kultur- u. Wismacht ihn somit zu einem der erfolgreichsten senschaftsgeschichte. Mit Am blinden Ufer Sprachgestalter der frühen Neuzeit. (Bln. 2000) bewegt D. sich in der Tradition

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Daub

der Speculative fiction (Delany, Ellison, derverzauberung der Welt sowie dem Horror Moorcock). Genauso wie der gemeinsam mit als Analogon für gesellschaftl. Ängste. Horror der Chemikerin Barbara Kirchner verfasste u. Science-Fiction erscheinen D. grundsätzNear-Future-Science-Fiction Schwester Mitter- lich in der Lage, die Wirklichkeit bürgerlichnacht (Bln. 2002) weist der Roman einen ge- kapitalistischer Gewaltverhältnisse im Sinne schlossenen Handlungsrahmen auf. Für die der Aufklärung »zur Kenntlichkeit zu entmeisten anderen fiktionalen Texte D.s ist stellen«. Drastischen Darstellungen in- u. außerhalb dagegen ihr formal u. thematisch heterogener Charakter kennzeichnend. So handelt dieser Genres widmet sich D. in seinem Buch sein erster Roman Cordula killt Dich! oder Wir Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik sind doch nicht Nemesis von jedem Pfeifenheini und Deutlichkeit (Ffm. 2005) u. proklamiert sie (Bln. 1995) von einem Freiburger Freundes- als Formen einer Genauigkeit mit aufklärekreis zu Beginn der 1990er Jahre, ist passa- rischer Funktion. Strikt wendet er sich gegen genweise aber auch ein politischer Traktat, die Ansicht poststrukturalistischer Theoretieine wissenschaftstheoret. Polemik u. eine ker von Bataille über Foucault bis Baudrilästhet. Standortbestimmung. Viele seiner lard, bei Drastik in der Kunst wie im Leben Motive werden von D. in späteren Romanen zeige sich etwas der Vernunft Entgegengeaufgegriffen, variiert u. fortgeschrieben. »Ein setztes. D.s Apologie der Drastik ist eingeRoman ist ein Matsch«, heißt es in Cordula bettet in einen erzähler. Kontext, an den er in killt Dich! mehrmals. Er entstehe aus dem seinem Roman Dirac (Ffm. 2006) anknüpft. Er Bedürfnis, fehlgeschlagenes Leben zu kom- handelt vom Scheitern des fiktiven Schriftpensieren. Für D. stellt er zgl. die adäquateste stellers David Delak, ein Buch über den MaForm der Darstellung komplexer gesell- thematiker Paul Dirac (1902–1984) zu schreiben, u. der damit einhergehenden zuschaftl. Zusammenhänge dar. Cordula killt Dich! sollte den ersten Teil ei- nehmenden Entfremdung von seinen Freunner Hexalogie bilden, deren Abschluss für den. Auch Dirac enthält zahlreiche diskursive 2010 projektiert war. Keiner der weiteren u. reflexive Passagen. So dient dieser Roman fünf Teile wurde indes veröffentlicht. Das D. u. a. dazu, seine Figuren die Parallelen u. Vorhaben ging vielmehr in dem 971 Seiten Differenzen zwischen der Wahrheit der Maumfassenden Roman Wie immer in Honig (Bln. thematik u. der Wahrheit der Literatur aus2005) auf, der in der Manier eines Thrillers loten zu lassen. u. a. von gewalttätigen Rechtsradikalen in der Weitere Werke: Braut. Kontingenz. Bruckner. bad. Provinz, einem ungewöhnl. Experiment Kevillismus. Offenbach 1993. – Liz Disch u. der eines Berliner Journalisten, von Zombies u. Hermit King. [Offenbach] 1994. – Die Ehre des Dämonenjägern erzählt. Ausflüge in gesell- Rudels. Bln. 1996. – Skye Boat Song. Bln. 2000. – 2 schaftstheoretische, musik- u. literarästhet. Phonon oder Staat ohne Namen. Bln. 2001. 2004. – Schöner rechnen. Die Zukunft der Computer. Bln. Debatten sind wiederum inbegriffen, ebenso 2002. – Höhenrausch. Die Mathematik des XX. Jh. Anspielungen auf Alben von Pop-, Rock- u. in zwanzig Gehirnen. Ffm. 2003. – Heute keine Heavy-Metal-Bands oder Anleihen bei ame- Konferenz. Texte für die Ztg. Ffm. 2007. – Wafrikan. Fernsehserien, die zwischen Fantasy u. fenwetter. Ffm. 2007 (R.). Gunther Nickel Science-Fiction changieren, allen voran Buffy, the Vampire Slayer. Diese Fernsehserie unterzieht D. in seinem Daub, Carl, * 20.3.1765 Kassel, † 22.11. Essay Sie ist wach. Über ein Mädchen, das hilft, 1836 Heidelberg. – Protestantischer schützt und rettet (Bln. 2003) einer eingehenTheologe. den Analyse u. verteidigt ihren kulturindustriellen Charakter gegen ideologiekrit. Ein- Der Sohn armer Eltern besuchte das Caroliwände. Er differenziert dabei zwischen drei num-Gymnasium in Kassel u. studierte von Grundmodi »unwirklicher« Künste: der Sci- 1786 an Philologie, Philosophie, Geschichte ence-Fiction als Säkularisierung des Numi- u. evang. Theologie an der Universität Marnosen, der Fantasy als märchenhafter Wie- burg, wo er 1789 vorzeitig das theolog. Ex-

Daudistel

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amen ablegte u. 1790 in Philosophie promo- der Theologie als Wissenschaft, womit er ihr vierte. Als Stipendiatenmajor u. Privatdozent zgl. die Funktion der Begründung der christl. lehrte er von 1791 an in Marburg, wurde aber Religion zuschreibt. Aus dieser von der zeit1794 wegen seines Eintretens für die Philo- genöss. u. späteren Theologie nicht geteilten sophie Kants an die Hohe Landesschule nach Einsicht in die Begründungsfunktion der Hanau strafversetzt. Aus dieser unerfreul. Theologie für die Religion resultierte D.s Situation wurde er jedoch schon 1795 durch scharfe Auseinandersetzung mit den theolog. die Berufung als Ordinarius für Theologie an Positionen seiner Zeit in seinem Buch Die die Universität Heidelberg befreit, wo er bis dogmatische Theologie jetziger Zeit oder die Selbstzu seinem Tod, der ihn wunschgemäß als sucht in der Wissenschaft des Glaubens und seiner Folge eines Schlaganfalls auf dem Katheder Artikel (Heidelb. 1833). Diese Positionen verereilte, wirkte. Abgesehen von seiner Neben- fielen den Einwänden der Religionskritik, da tätigkeit als Badischer Geheimer Kirchenrat sie jeweils eine Spielart der singulär-»selbstu. seiner Förderung der 1828 vollzogenen süchtigen« Subjektivität zur Basis der ReliUnion der evang. Kirchen in Baden, hat sich gion erklärten. D. suchte der Kritik dadurch D. zeitlebens auf seine akadem. Lehr- u. zu entgehen, dass er seine methodisch reForschungsaufgabe konzentriert. Die flektierte spekulative Theologie in die Form Freundschaft mit dem 1804 nach Heidelberg einer trinitarisch konzipierten Theorie des berufenen Georg Friedrich Creuzer u. die Gottesgedankens fasste. Obwohl D. von seiAnlehnung an den Heidelberger Romanti- nen Schülern Philipp Konrad Marheineke, kerkreis um Achim von Arnim, Clemens Karl Rosenkranz, Richard Rothe, Ludwig Brentano u. Joseph Görres bestimmten sein Feuerbach u. a. ebenso verehrt wurde wie von Leben für viele Jahre ebenso wie die Ausein- David Friedrich Strauß, war es ihm nicht andersetzungen mit den Rationalisten Jo- vergönnt, die spätere Theologie nachhaltig hann Heinrich Voß, seit 1805 Berater der zu beeinflussen; er gehört so zu den zu UnUniversität, u. Heinrich Eberhard Gottlob recht vergessenen Theologen des 19. Jh. Paulus, Fakultätskollege seit 1811. Noch Weitere Werke: Einl. in das Studium der entscheidender war für D. die von ihm ge- christl. Dogmatik. Heidelb. 1810. – Judas Ischariot förderte Berufung Hegels nach Heidelberg oder das Böse im Verhältniß zum Guten. 2 Tle., (1816), mit dem er auch nach dessen Weg- Heidelb. 1816–18. – Philosoph. u. theolog. Vorlegang nach Berlin (1818) freundschaftlich u. sungen. 8 Bde., Bln. 1838–44. Literatur: Ehrhard Pfeiffer: K. D. u. die Krisis im Bewusstsein philosophisch-theolog. Geder spekulativen Theologie. Lpz. 1943. – Klaus meinsamkeiten verbunden blieb. D.s erste Publikation Predigten nach Kanti- Krüger: Der Gottesbegriff der spekulativen Theologie. Bln. 1970. – Friedrich Wilhelm Graf: Kritik schen Grundsätzen (Königsberg, Gießen, Maru. Pseudo-Spekulation. David Friedrich Strauß als burg 1794) u. sein Lehrbuch der Katechetik Dogmatiker im Kontext der positionellen Theolo(Heidelb. 1801) sind von der prakt. Philoso- gie seiner Zeit. Mchn. 1982, S. 308–367. – Falk phie Kants abhängig. Aber nach 1801 war D. Wagner: Die vergessene spekulative Theologie. Zur um die Rezeption der Philosophie Schellings Erinnerung an C. D. anläßl. seines 150. Todesjahu. Hegels bemüht. Das bedeutet jedoch nicht, res. Zürich 1987. – Ewald Stübinger: Die Theologie dass er die jeweils zeitgemäßen Philosophien C. D.s als Kritik der positionellen Theologie. Ffm. bloß auf die Theologie angewandt hätte. 1993. Falk Wagner / Red. Vielmehr hat D. nicht nur als eigenständiger Vertreter u. theolog. Seitengänger des DeutDaudistel, Albert, * 2.12.1890 Frankfurt/ schen Idealismus, sondern ebenso als InauM., † 30.7.1955 Reykjavik/Island. – Autor gurator einer spekulativen Theologie zu gelvon Romanen u. Erzählungen. ten, die er seit seinen Theologumena von 1806 konsequent u. beharrlich ausbaute. Der Sohn eines Metzgermeisters vagabunAngesichts der Herausforderung durch die dierte bereits als Jugendlicher durch Europa. neuzeitl. Religionskritik u. den gelebten Als Marinesoldat engagierte er sich 1918 in Atheismus fragt D. nach der Notwendigkeit der Novemberrevolution u. 1919 beim Auf-

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bau der Münchner Räterepublik. Nach deren Scheitern begann er während einer fünfjährigen Festungshaft seine Erlebnisse literarisch zu verarbeiten, zunächst in dem Erzählungsband Die lahmen Götter (Bln. 1924). Am meisten beachtet wurde sein Roman Das Opfer (Bln. 1925 u. ö. Mchn. 1981), der in naturalistischer Manier, reich an histor. Details, vom Widerstand gegen den Krieg in der dt. Marine erzählt. Mit diesem Text reiht sich D. ein in die Gruppe proletarisch-revolutionärer Literaten, die überwiegend spontane Erlebnisberichte verfassten u. sich auflehnten gegen Unterdrückung u. Ausbeutung. Kritik an seinem nicht überzeugenden Klassenstandpunkt führte 1930 zum Ausschluss aus dem BPRS (Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands). Nach 1925 schrieb D. vorwiegend Reiseliteratur. 1935 verließ D. Deutschland u. emigrierte nach Island. Weitere Werke: Wegen Trauer geschlossen. Bln. 1926 (Kriminalr.). – Eine schön mißglückte Weltreise. Bln. 1926 (E.). – Noch einmal Frühling. Bln. 1927 (R.). – Der Bananenkreuzer. Bln. 1935 (R.). Literatur: Leo Rein: Der Roman des Revolutionärs. In: Heimstunden. Proletar. Tribüne für Kunst, Lit. u. Dichtung 4 (1926), S. 116 f. – Alfred Klein: Im Auftrag ihrer Klasse. Weg u. Leistung der dt. Arbeiterschriftsteller. Bln. 1972, S. 666 f. – Hansjörg Viesel (Hg.): Literaten an der Wand. Die Münchner Räterepublik u. die Schriftsteller. Ffm. 1980, S. 593–640. Wolfgang Weismantel / Red.

Daum, Christian, * 29.3.1612 Zwickau, † 15.12.1687 Zwickau. – Polyhistor u. Philologe. Der Sohn des Wundarztes David Daum († 1633) studierte nach dem Besuch des Zwickauer Gymnasiums ab 1633 bei Caspar Barth in Leipzig, musste seine Studien infolge der Kriegsereignisse jedoch bereits 1634 aufgeben u. eine Privatlehrerstelle antreten. 1642 kehrte er nach Zwickau zurück u. lehrte als Tertius am Gymnasium, bevor er 1662 das Rektorat der Schule übernehmen konnte. D. galt Zeitgenossen als bedeutender Polyhistor. Er unterhielt intensive Gelehrtenkontakte v. a. nach Leipzig (Caspar Barth, Bene-

Daum

dict Carpzov, Gottfried Wilhelm Leibniz), Nürnberg (Christoph Arnold, Johann Sechst, Johann Christoph Wagenseil) u. Wien (Petrus Lambecius), aber auch in die Niederlande (Nicolaus Heinsius, Johann Friedrich Gronov) u. nach Italien (Antonio Magliabechi). Seine umfangreiche Korrespondenz wird heute zus. mit seiner berühmten, ca. 7680 Bde. umfassenden Büchersammlung in der Ratsschulbibliothek seiner Heimatstadt verwahrt; einiges wurde nach seinem Tod publiziert (Christiani Daumii Epistolae Latinae ad Jo. Fridric. Hekelium scriptae. Dresden/Torgau 1697. Epistolae philologico criticae ad Jo. Andr. Bosium. Chemnitz 1709). Als Autor erregte D. 1646 Aufsehen durch seinen Vertumnus poeticus, eine gelehrt-spielerische 3000-fache Variation des Spruches »fiat justitia aut pereat mundus« nach der Mode der Zeit. Den Schwerpunkt seines Schaffens bildeten neben Hunderten von lat. u. dt. Gelegenheitsgedichten u. sprachtheoret. Abhandlungen seine reich annotierten philologisch-editor. Schriften. Seine Kommentare zu Autoren der Antike u. des frühen MA fanden noch Mitte des 18. Jh. das Interesse der gelehrten Welt. D. edierte u. kommentierte u. a. die Disticha de moribus (Lpz. 1656. Erw. 1662. 1672. 1697) des Marcus Porcius Cato, ein Gedicht des Neuplatonikers Publius Optatianus Porphyrius, Panegyricus Constantino Augusto (Lpz. 1682), theolog. Schriften des Kirchenvaters Sophronius Eusebius Hieronymus (Dialogus de S. trinitate. Lpz. 1677. Duo dialogi graeci. 1772) u. das im 5. Jh. entstandene Epos des Paulinus von Périgueux, De vita B. Martini libri sex (Lpz. 1681). Eine 1653 begonnene Anthologie frühmittelalterlicher Dichtung wurde nicht fortgeführt. Unvollendet blieben auch zwei groß angelegte lexikal. Arbeiten u. Glossarien. Bes. verdient machte sich D. um das Werk seines Lehrers u. Freundes Caspar Barth, dessen handschriftlich hinterlassene Ausgabe der Werke des Publius Papinius Statius er 1664 mit Annotationen veröffentlichte. Weitere Werke (in Auswahl): De causis amissarum quarumdam linguae latinae radicum. Zwickau 1642 (Grammatik). – Strenae, seu vota metrica, vario carminum genere. Zwickau 1646. – Versiculus ex anthologia graeca latinis hexametris plus

Daumer trecentis redditus. Zwickau 1652. – Homiliae ac meditationes in festum nativitatis Jesu Christi ex patrum operibus collectae. Zwickau 1670. – Felix poetarum subsidium certissimum. Lpz. 1710. – Herausgeber: Caspar Barth: Orationes matutinae, ac vespertinae. Zwickau 1648. – Ders.: Hymni festivales. Zwickau 1649. – Ders.: Geronticon libri duo. Zwickau 1674. – Hieronymus (Hierosolymitanus): De S. trinitate. Zwickau 1677. – Aesopus: Fabellae Aesopicae quaedam notiores. Lpz. 1679. 1689. – Marcus Welser: Opera historica et philologica. Lpz. 1682. – Paulinus v. Périgueux: Poemata et alia quaedam sacrae antiquitatis fragmenta. Lpz. 1686. – Bearbeitung: Jacob Weller: Grammatica graeca nova. Lpz. 1700. 21708. Literatur: Christian Feustel: Anathema Diis manibus [...] Christiani Daumii. Lpz. 1688. – David Wagner: Christianus Nobilitatus, oder eines rechtschaffenen Christen Adel u. Hoheit [...]. Zwickau 1689 (Leichenpredigt). – Jöcher. – Zedler. – Heinrich Kämmel: D. In: ADB. – Richard Beck: Leibnizens Beziehungen zu C. D., Rektor zu Zwickau. In: Mitt.en des Altertumsvereins für Zwickau u. Umgegend 2 (1888), S. 52–56. – Ders.: Aus dem Leben Joachim Fellers. Ebd. 4 (1894), S. 24–77. – Ders.: M. C. D. Rektor zu Zwickau u. seine Leipziger gelehrten Freunde. In: Schr.en des Vereins für die Gesch. Leipzigs 5 (1896), S. 1–30. – Ders.: Die gelehrten Beziehungen des Leipziger Ratsherrn Friedrich Benedict Carpzov zu C. D. In: ZfB 20 (1903), S. 493–512. – Estermann/Bürger 1, S. 349–353 (Verz. gedr. Briefe). – Dietrich Nagel: Der handschriftl. Nachl. v. C. D. in der Ratsbibl. Zwickau. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 23 (1996), S. 28–32. – Lutz Mahnke: Der Nachl. C. D.s (1612–87): Möglichkeit seiner Edierung. In: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Hg. HansGert Roloff. Amsterd. 1997, S. 341–348. – Epistolae ad Daumium. Kat. der Briefe an den Zwickauer Rektor C. D. (1612–87). Erarbeitet v. L. Mahnke. Wiesb. 2003. Renate Jürgensen

Daumer, Georg Friedrich, auch: Eusebius Emmeran, Amadeus Ottokar, * 5.3.1800 Nürnberg, † 13.12.1875 Würzburg; Grabstätte: ebd., Hauptfriedhof. – Religionsphilosoph u. Lyriker. Nachdem der Vater, ein Kürschnermeister, mit Pelzhandel falliert hatte, ermöglichte die sparsame Mutter D. den Besuch des Nürnberger Ägidien-Gymnasiums, an dem Hegel als Rektor alle Klassen in Religion u. Philosophie unterrichtete. Mit Stipendien u. Pri-

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vatstunden finanzierte sich D. ein Studium der evang. Theologie in Erlangen (u. a. bei Gotthilf Heinrich Schubert) u. Leipzig. Als Altphilologe kehrte er 1823 an das Nürnberger Gymnasium zurück, wurde aber schon 1826 suspendiert, weil er in der Schrift Über den Gang und die Fortschritte unserer geistigen Entwicklung seit der Reformation [...] (Nürnb.), mit der er gegen einseitige Verstandes- u. Gefühlskultur anging, die Kluft zwischen Glauben u. Wissen als unüberbrückbar darstellte; später suchte er in seiner Mythendeutung die beiden Bereiche zu vereinen. Im Juli 1828 vertraute der Nürnberger Rat D. den »sprachlosen Findling« Kaspar Hauser an, dessen Erziehung er nach einem Attentat an Hauser im Okt. 1829 aufgab. D.s vier Publikationen zu Hausers mysteriöser Herkunft u. zu seiner Entwicklung (u. a. Mittheilungen über Kaspar Hauser. 2 Bde., Nürnb. 1832) trugen nur teilweise zur Erhellung bei. In Andeutung eines Systems speculativer Philosophie (Nürnb. 1831) stellte er die Entwicklung des Christentums aus dem Judentum dar u. postulierte, dass auf das Christentum die absolute Religion folgen müsse. Da ihn die soziale Blindheit der Kirchen ebenso abstieß wie deren Erklärung von Katastrophen (Cholera 1830) als Strafgerichte Gottes, wurde D. ein vehementer Gegner des von ihm als lebensfeindlich abgewerteten Christentums. In aggressiven Werken wie Sabbath, Moloch und Tabu (Nürnb. 1839) scheute er nicht davor zurück, das Christentum anhand von Märtyrerbildern, Kinderreimen u. Ä. auf Molochkulte zurückzuführen. Erst der Gedanke des von Gott geschaffenen höheren Menschen, des »Engels der Zukunft« (Jean Paul), als »Eremitalphilosophie« im einsamen Kronberger Tal entwickelt, führte ihn 1858 wieder zum Christentum zurück; das Urbild der »neuen Gattung« sah er in Christus. Überdauern werden D.s – von Brahms vertonte – Gedichte aus Hafis (Hbg. 1846 u. Nürnb. 1852). Unabhängig von Goethe u. Rückert fand D. in Hafis die Loslösung von Erdenschwere u. Sündenverstrickung. Weitere Werke: Urgesch. des Menschengeistes. Bln. 1827. – Glorie der hl. Jungfrau Maria. Nürnb. 1841. – Mahomed u. sein Werk. Hbg. 1848.

Dauthendey

561 Ausgabe: Ges. poet. Werke. Hg. Leopold Hirschberg. Bln. 1924. Literatur: Hans Effelberger: G. F. D. u. die westöstl. Dichtung. Diss. Marburg 1923. – Agnes Kühne: Der Religionsphilosoph G. F. D. Diss. Bln. 1936. – Karlhans Kluncker: G. F. D. Leben u. Werk. Bonn 1984. – Mohsen El-Demerdasch: Die Welt des Islam im Werk G. F. D.s. In: Jb. der Rückert-Gesellsch. 8 (1994), S. 123–153. – Goedeke Forts. – Sibylle Ihm: Antike Fundstellen zu D.s ›Polydora‹. Hellas I-III. In: Euph. 94 (2000) S. 435–449. – M. El-Demerdasch: G. F. D.s Hafis. In: Jb. der RückertGesellsch. 16 (2004/05), S. 149–172. Werner Dettelbacher / Red.

Dauthendey, Elisabeth, * 19.1.1854 St. Petersburg, † 18.4.1943 Würzburg. – Essayistin, Roman- u. Märchenautorin. D. war die Tochter Karl Dauthendeys, des Fotografen am Zarenhof Nikolaus’ I., u. Stiefschwester des Schriftstellers Max Dauthendey. Von Nietzsche beeinflusst, widmete sie sich in ihren Romanen, Novellen u. Essays sowohl ethischen u. psycholog. Themen als auch zeitweilig dem Aspekt des veränderten Frauenbilds in der Gesellschaft. Bis 1934 erreichten ihre mehr als 20 Bücher z.T. beachtl. Auflagen, ehe ihr literarisches Schaffen durch den Nationalsozialismus unterbunden wurde (ihre Mutter war die Tochter eines Hanauer Rabbiners). Die noch zu ihren Lebzeiten veröffentlichten Märchenbücher (z.B. Akeleis Reise in den goldenen Schuhen und andere Märchen. Mchn. 1922) wie die aus dem Nachlass von Michael Gebhardt herausgegebene Sammlung Märchen (Gerabronn 1976) beschreiben in schlichten Worten die Beziehung des Menschen zu Natur u. Mitmensch, die Spannung zwischen dem Guten u. dem Bösen, den Armen u. den Reichen. Weitere Werke: Im Lebensdrange. Minden 1898 (R.). – Vom neuen Weibe u. seiner Liebe. Ein Buch für reife Geister. Bln. 1900 (Ess.). – Die schöne Mauvaine. Ein Königswille. Zwei romant. Balladen. Lpz. 1904. – Erot. Novellen. Bln. 1919. – Frühlingstrunkenheit. Frau Lollas sieben Lieben. Der nie geküßte Mund. Bln. 1920 (L.). Literatur: Anicet Spendier: Nietzsche bei Helene v. Monbart, Sophie Hochstetter u. E. D. Ein Beitr. zur literar. Nietzsche-Rezeption um 1900. Diss. Salzb. 1980. – Gisela Brinker-Gabler u. a. (Hg.): Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerin-

nen 1800–1945. Mchn. 1986. – Walter Roßdeutscher (Hg.): E. D.: Lebensbild – Werkproben. Würzb. 1998. Reinhard Tenberg / Red.

Dauthendey, Max(imilian Albert), * 25.7. 1867 Würzburg, † 29.8.1918 Malang/ Java; Grabstätte: Würzburg, Hauptfriedhof. – Lyriker u. Erzähler. D.s autoritärer u. sehr nüchtern denkender Vater, ein Pionier der Fotografie in Deutschland, verwehrte ihm den Jugendwunsch, Kunstmaler zu werden. 1891 floh D. aus dem familiären »Zellengefängnis« nach Berlin, nicht zuletzt vor dem übermächtigen Vater, von dem er sich noch in seiner autobiogr. Schrift Der Geist meines Vaters (Mchn. 1912) zu befreien versuchte. Es folgte ein unstetes Wanderleben als freier Schriftsteller quer durch Europa: München, Paris u. bes. Skandinavien waren nur einige der Stationen. In diese Zeit fallen auch D.s erste schriftsteller. Erfolge. Sein erster Roman Josa Gerth (Dresden/Lpz. 1893) steht noch stark unter dem Eindruck Jens Peter Jacobsens. In dieser psycholog. Entwicklungsstudie beschreibt D. einen fehlgeschlagenen Reifeprozess. Die Unzufriedenheit der Protagonistin mit sich selbst, der unlösbare Widerstreit zwischen Weltfremdheit u. Weltsehnsucht verhindern alle wichtigen Entscheidungen in ihrem Leben. Die Rückkehr an den Ort der Kindheit am Ende der Erzählung symbolisiert ihr Scheitern. D. machte 1893 die Bekanntschaft mit George u. Dehmel, den literar. Vorbildern seiner Lyrik, so auch der Gedichtbände Ultra Violett (Mchn. 1893) u. Die Schwarze Sonne (Mexiko 1897. Lpz. 21910). D.s ebenso farbige wie verfremdete Bildersprache der frühen Arbeiten stand nicht nur im bewussten Gegensatz zu den naturalist. Tendenzen vor der Jahrhundertwende, sie ging schon über die impressionist. Formen hinaus. Seine Sprachdynamik u. die stellenweise radikale Abstraktion erweisen sich als frühe Vorwegnahme des literar. Expressionismus in Deutschland. In den späteren Gedichten finden sich allerdings häufig verflachte, ornamental-dekorative Muster, deren Motive noch an den späten Jugendstil erinnern. D.s epische Werke dieser

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»Das Andenken an den Dichter« sucht die Zeit sind geprägt durch Stilisierung sowie Summierung u. Variation intensiver Stim- 1934 in Würzburg gegründete D.-Gesellschaft wachzuhalten. mungsbilder. Vielfältige themat. Anregungen fand D. auf Weitere Werke: Reliquien. Mexiko 1897. Lpz. einer Reise, die ihn nach Asien u. in den 31913 (L.). – Die ewige Hochzeit. Liebeslieder. Stgt. Südpazifik führte (1905/06). Das Epos Die ge- 1905. – Singsangbuch. Liebeslieder. Mchn. 1907. – flügelte Erde (Mchn. 1910) ist in einfachem, Lusamgärtlein. Frühlingslieder aus Franken. Bln. volksliednahem Stil gehalten. Das Lied der 1909. – Die Spielereien einer Kaiserin. Mchn. 1910 (D.). – Gedankengut aus meinen Wanderjahren. Weltfestlichkeit (Tosari/Java 1917) gestaltet in Mchn. 1913. – Gesch.n aus den vier Winden. Mchn. hymnisch-pathet. Ton ein kosmisches Wel- 1915 (E.). – Erlebnisse auf Java. Mchn. 1924 (Tgb.). terleben, die emphatisch beschworene – Letzte Reise. Aus Tagebüchern, Briefen u. Auf»Weltharmonie«. Auch der Abenteuer- u. zeichnungen. Mchn. 1925. – Sieben Meere nahmen Liebesroman Raubmenschen (Mchn. 1911) mich auf. Ein Lebensbild mit Dokumenten aus dem steht ganz im Zeichen der um die Jahrhun- Nachl. Hg. Hermann Gerstner. Mchn./Wien 1957. 2 dertwende beliebten exot. Reiseerzählung. Er Mchn. 1987. Ausgabe: Ges. Werke. 6 Bde., Mchn. 1925. schildert die Begegnung eines Europäers mit Literatur: Hermann Georg Wendt: M. D. Poetdem urwüchsigen, fremdartigen Leben in 2 Mexiko. Der Bericht des Weltenbummlers philosopher. New York 1936. 1966. – Klaus SeyRennewart ist über weite Strecken die auto- farth: Das erzähler. Kunstwerk M. D.s. Diss. Marburg 1960. – Hermann Gerstner: M. D. In: Fränk. biogr. Skizze einer gescheiterten ÜbersiedKlassiker. Hg. Wolfgang Buhl. Nürnb. 1971, lung D.s nach Mittelamerika (1897/98), wie S. 596–607. – Ders.: M. D. im Spiegel der Literadie zahlreichen aus seinen Tagebüchern turgesch. In: Les littératures de langues européübernommenen Passagen belegen. Im im- ennes au tournant du siècle; Série B. Ottawa 1981, pressionist. Farbenreichtum der Schilderun- S. 61–68. – Gert Ueding: Weltfremdheit u. Weltgen vermittelt sich ein rauschhaftes Natur- sehnsucht. In: Ders.: Die anderen Klassiker. Mchn. empfinden. Mexiko erscheint als unheimlich- 1986, S. 184–197. – Elisabeth Veit: Fiktion u. Reagrausame Naturszenerie, die Stadt wird zum lität in der Lyrik. Diss. Mchn. 1987. – Daniel Osthoff: M. D. Eine Bibliogr. Würzb. 1991. – Gabriele ungeheuren »Höllenkessel«, ihre Bewohner Geibig: Der Würzburger Dichter M. D. Sein Nachl. werden zu »Raubmenschen«, das ganze Land als Spiegel v. Leben u. Werk. Würzb. 1992. – wird zu einer einzigen Monstrosität. Über Günter Hess (Hg.): M. D. Reden zu seinem 125. allen Ereignissen liegt eine drückende, mor- Geburtstag. Würzb. 1992. – Walter Roßdeutscher bide Atmosphäre. Der Protagonist macht die (Hg.): Japan im literar. Werk M. D.s. Würzb. 2003. Erfahrung, dass dem Europäer der innere Clemens Ottmers / Red. Zugang zu dieser Welt versperrt bleibt. Diese Perspektive prägt auch zahlreiche Novellen D.s. Pointiert u. zielsicher erzählt er in den David von Augsburg, † 15.11.1272 Erzählsammlungen Lingam (Mchn. 1909) u. Augsburg. – Franziskanertheologe. Die acht Gesichter am Biwasee (Mchn. 1911) Zus. mit dem ihm nahestehenden Berthold Geschichten aus dem fernen Indien u. Japan, von Regensburg gehört D. der ersten Genein denen ein reizvoller Kontrast zwischen der ration der dt. Franziskanertheologen an. Er Exotik der beschriebenen Welt u. der nüch- dürfte im ersten Jahrzehnt des 13. Jh. geboternen Darstellung entsteht. ren sein, ist um 1240 als Novizenmeister in Auf seiner zweiten Weltreise wurde D. in Regensburg u. 1246 als päpstlicher Visitator Südostasien vom Ausbruch des Ersten Welt- der dortigen Kanonissenstifte Niedermünster kriegs überrascht. Da ihm die Erlaubnis zur u. Obermünster bezeugt. Ob D. in der FolRückfahrt nach Deutschland verwehrt wurde, gezeit auch an Waldenserprozessen beteiligt war er vier Jahre einem für ihn furchtbaren war, muss fraglich bleiben. Klima ausgesetzt, von Tropenkrankheiten Unter D.s lat. Werken ragt zwischen kleiausgemergelt u. verzweifelt vor Sehnsucht neren seelsorgerisch-unterweisenden Traktanach seiner Frau. Er starb interniert auf Java. ten die Schrift De exterioris et interioris hominis

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compositione hervor. Die Beliebtheit des Textes, der bald Lehrbuchcharakter erlangte, wird unterstrichen nicht nur durch die stattl. Zahl von über 400 Handschriften, sondern auch durch Zuschreibungen an Bonaventura, Bernhard von Clairvaux u. sogar Thomas von Aquin, daneben durch zahlreiche Adaptationen im Deutschen u. Niederländischen. In Anlehnung an Wilhelm von St. Thierry u. bekanntes Traditionsgut werden hier in drei, z.T. selbständig überlieferten Traktaten drei Phasen des Weges zur Vollkommenheit entfaltet. Geht es im ersten, zwischen 1240 u. 1250 geschriebenen Traktat noch primär um Fragen religiöser Lebensgestaltung (hier werden etwa Anweisungen für Novizen gegeben), so beschreibt der zweite Bedingungen geistl. Vollendung, Möglichkeiten, den Zustand der sündhaften Natur zu verlassen. Der letzte Traktat führt schließlich über sieben Stufen asketischer Entwicklung auf eine myst. Theologie zu u. behandelt in diesem Zusammenhang Fragen von Gebet, Offenbarung u. Vision. Wohl noch bedeutender als das in vielem nicht zu letzter Präzision geführte Werk De compositione sind D.s volkssprachige Schriften. Sie markieren den Beginn einer »deutschen Theologie« u. stellen ein wichtiges Moment in der Geschichte der dt. Sprache dar. Noch vor Einsatz der dt. Dominikanermystik versucht z.B. der Traktat Von der Offenbarung und Erlösung des Menschengeschlechtes die einem spekulativen Denken adäquate Begrifflichkeit zu entwickeln. Zurückgreifend auf Anselm von Canterbury (Liber de fide Trinitatis) beschreibt D. die Selbstentfaltung der Gottheit im innertrinitar. Prozess als Hervorgang (»emanatio«) aus dem Einen. Ständig bewusst gehalten ist dabei das Problem einer für das Göttliche unzureichenden Sprache: »uns gebristet worte, swâ wir von götelîcher nâtûre reden süllen«. Nur bildhaft lässt sich die sprachl. Annäherung an das Eine vollziehen; im Mittelpunkt steht die Metaphorik des Ausströmens u. Fließens (»brunne«, »fluz«, »sê«), die prägenden Einfluss auf die weitere dt. Mystik ausüben sollte. D.s andere deutschsprachige Werke sind der Anschauung Gottes, der Wahrheitserkenntnis, dem »tugentlîchen leben« oder

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dem Weg des Geistes gewidmet (der beschrieben wird als Aufstieg aus einem »engen tällin« zu den »wîten landen«). Auch sie treten, ungeachtet der Fülle an Metaphern u. Vergleichen, durch hohe sprachl. Prägnanz u. Klarheit hervor. Themen u. Gedankenführung stehen dabei durchaus im Kontext einer als philosophisch verstandenen Mystik, auch wenn gegenüber dem Ziel einer »unio« mit Gott der Gedanke des Weges eindeutig in den Vordergrund tritt. Fast alle Schriften D.s wurden bezüglich ihrer Echtheit in Frage gestellt. Nur für De compositione u. den dt. Traktat Die sieben Vorregeln der Tugend ist die Autorschaft gesichert; doch scheint es sinnvoll, auch die weiteren, schon von der früheren Forschung D. zugeschriebenen Werke zumindest als »davidisch« (Ruh) zu bezeichnen. Die hohe Fluktuation der Texte (v. a. in Franziskanerkreisen) u. deren Gebrauchscharakter für die Laienunterweisung ließen die Autorbindung in den Hintergrund treten. Deutlich wird aber aus der Überlieferung von D.s lat. Hauptwerk wie seiner dt. Schriften das konstante u. weit verbreitete Bedürfnis nach Anleitung zu religiöser Lebenspraxis u. innerer Vervollkommnung in einer zunehmend unruhigeren Zeit. Ausgaben: Lateinische Schriften: Teilweise hg. v. Eduard Lempp. In: ZKG 19 (1899), S. 15–46, 340–359. – Deutsche Schriften: Teilweise bei Franz Pfeiffer: Dt. Mystiker des 14. Jh. Bd. 1, Lpz. 1845, S. 309–347. – ›Staffeln B‹. Hg. Kurt Ruh. Bln. 1964. – ›De compositione‹. In: Franziskan. Schrifttum im dt. MA 1. Hg. ders. Mchn. 1965, S. 140–146. – Die sieben Staffeln des Gebets. Ebd., S. 221–247. – ›Geistlicher Herzen Bavngart‹. Hg. Helga Unger. Mchn. 1969. – Ave-Maria-Auslegung. In: Franziskan. Schrifttum im dt. MA 2. Hg. K. Ruh u. a. Mchn. 1985, S. 283–289. Literatur: Dagobert Stöckerl: Bruder D. v. A. Mchn. 1914. – Kurt Ruh: D. v. A. u. die Entstehung eines franziskan. Schrifttums in dt. Sprache. In: Augusta 855–1955. Hg. Hermann Rinn. Mchn. 1955, S. 71–82. – Gerhard Bauer: D. v. A. u. das St. Trudperter Hohe Lied. In: Euph. 56 (1962), S. 410–416. – K. Ruh: Zur Grundlegung einer Gesch. der franziskan. Mystik. In: Altdt. u. altniederländ. Mystik. Hg. ders. Darmst. 1964, S. 240–274. – S. Francis Schwab: D. of Augsburg’s ›Paternoster‹ and the Authenticity of His German

David Works. Mchn. 1971. – K. Ruh: D. v. A. In: VL. – Georg Steer: D. v. A. u. Berthold v. Regensburg. In: Hdb. der Lit. in Bayern. Hg. Albrecht Weber. Regensb. 1987, S. 99–110. – Ders.: Die Passion Christi bei den dt. Bettelorden im 13. Jh. D. v. A., ›Baumgarten geistlicher Herzen‹, Hugo Ripelin v. Straßburg, Meister Eckharts ›Reden der Unterweisung‹. In: Die Passion Christi in Lit. u. Kunst des SpätMA. Hg. Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tüb. 1993, S. 52–75. – Ders: Gesch. der abendländ. Mystik. Bd. 2, Mchn. 1993, S. 524–537. – F. N. M. Diekstra: The Indebtedness of ›XII Frutes of the Holy Goost‹ to Richard Rolle’s ›The Form of Living‹ and to D. of A.’s ›De Compositione‹. In: English Studies 83/3 (2002), S. 207–238; 83/4 (2002), S. 311–337. Christian Kiening / Red.

David, Christian, * 31.12.1690, getauft am 17.2.1692, Senftleben (heute: Zenklava/ Tschechische Republik), † 3.2.1751 Herrnhut. – Zimmermann; Mitbegründer der Herrnhuter Brüdergemeine.

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zehn Lieder von ihm, unter denen noch heute Sonne der Gerechtigkeit verbreitet ist (EKG 218). Zinzendorf nennt ihn in seiner sonst krit. Würdigung einen »Apostel«, auch den »Kaleb (Jos 14,6) der ganzen Böhmisch-Mährischen Emigration« (Summarischer Unterricht. London 1755, S. 65 f.). Weitere Werke: Evang. Betrachtungen über Die Acht Seligkeiten Mt 5,3–10. Bln. 1752 (an.; Ex.: Herrnhut). Literatur: Bio-bibliogr. Hdb. zur Sprachwiss. des 18. Jh. Hg. Herbert E. Brekle u. a. Bd. 2, Tüb. 1993, S. 206–210 (mit Verz. des handschriftl. Nachl.es). – Weitere Titel: Gräfin v. Zinzendorf: C. D. u. Leonhard Dober in kurzen Umrissen dargestellt. Rothenburg 1841. – Otto Uttendörfer: Die Entstehung der ›Beschreibung u. zuverl. Nachr. von Herrnhut [...]‹. In: Ztschr. für Brüdergesch. 6 (1912), S. 220–232. – Theodor Bechler: C. D. 1690–1751. Des Herrn Knecht. Der Erbauer Herrnhuts [...]. Herrnhut 1922. – Gerhard Mayer: D. In: NDB. – Vernon H. Nelson (Hg.): C. D. Servant of the Lord. Bethlehem/Pennsylvania 1962 (Briefe, Würdigung durch Zinzendorf). – Bautz 1, Sp. 1234–1236. – Zinzendorf u. die Herrnhuter Brüder. Hg. Hans Christoph Hahn u. Hellmut Reichel. Hbg. 1977 (Lebenslauf). – Steffen Klug: C. D. Ein Forschungsber. Lpz. 1993 (Dipl.-Arb., Ex.: Unitätsarchiv). – Tilo Kirchhoff: Zum Briefcorpus v. C. D. Lpz. 1994 (Dipl.-Arb., Ex.: Unitätsarchiv). – Gesch. Piet., Bd. 2 (Register). – Dietrich Meyer in: RGG 4. Aufl. Bd. 2, Sp. 600. – Ludmila PlechácˇováMucalíková: Kristián D. (1692–1751). Suchdol nad Odrou 2006. Dietrich Meyer / Red.

Als Sohn des böhm. Zimmermanns Johannes David erlernte D. das Handwerk des Vaters, war anfangs »sehr eifrig römisch-katholisch«, entdeckte mit etwa 20 Jahren die Bibel u. trat 1715 schließlich in Berlin zum evang. Glauben über. Nach schwerer Krankheit fand er 1717 durch Pfarrer Melchior Scheffer in Görlitz Anschluss an pietist. Kreise (Johann Andreas Rothe, Johann Christoph Schwedler) u. bat den Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf um Asyl für evangelisch gesinnte mähr. Exulanten. Auf Genehmigung des David, Ernst, eigentl.: E. Eichler, * 3.2. Grafen legte er die Siedlung Herrnhut an 1932 Wien. – Lyriker, Essayist. (17.6.1722). Die erste Darstellung der schnell wachsenden Gemeinde u. ihrer Struktur D. wuchs in Wien u. Gars am Kamp (Waldstammt von D.: Beschreibung und zuverlässige viertel) auf, wo er bis zum Ende des Zweiten Nachricht von Herrnhut in der Ober-Lausitz (Lpz. Weltkriegs lebte. 1954 promovierte er zum 1735. Neudr. mit einer Einf. v. Peter Zim- Dr. jur. Zunächst als Beamter bei der Wiener merling. Hildesh. u. a. 2000). Justizbehörde beschäftigt, ging D. später als Mehrfach besuchte D. seine Heimat, wo er Richter nach Niederösterreich. Ende der eine Erweckungsbewegung auslöste. Dane- 1960er Jahre übersiedelte er mit seiner Faben unterstützte er die Arbeit der Herrnhuter milie wieder nach Wien. Missionare als Zimmermann u. war in LivSeit 1960 veröffentlicht D. Lyrik u. Essays land (1729/30, 1738–1740, 1742–1746), in Zeitschriften, Jahrbüchern u. Anthologien Grönland (1733–1735, 1747/48, 1749), Hol- verschiedener Länder; besondere Bedeutung land (Herrendyk 1737/38) u. Pennsylvanien für sein Werk gewann dabei die seit 1970 (1748/49) an der Gründung neuer Herrnhuter intensiv einsetzende Beschäftigung mit fernKolonien beteiligt. Das Gesang-Buch der Ge- östlicher Literatur u. Philosophie, v. a. aber meine in Herrn-Huth (Herrnhut 1735) enthält die prakt. Erfahrung mit diversen Meditati-

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onstechniken. Der Titel seines ersten Gedichtbands Erfahrungen (Baden bei Wien 1976) umreißt bereits das daraus resultierende Konzept von D.s Lyrik: Seine Gedichte »berichten« vom myst. Erleben während der Meditation, geben existentielle Hoffnungen u. Sehnsüchte wieder. In den Essays Probleme mystischer Dichtung (in: Podium 15, 1975, S. 21 f.) u. Meditation und Gedicht (in: Bodhibaum 3, 1984, S. 149–152) verweist D. auf den Zeichencharakter von Lyrik, die die Tiefe des Erfahrenen nur annähernd wiedergeben könne. Immer wieder appelliert er daher an den Leser, in eigener meditativer Praxis zu einer sinnvollen, solidarischen Lebensgestaltung zu gelangen. So plädieren etwa die Gedichte des Bandes Tag um Tag (Baden bei Wien 1982) für eine Rückkehr in die Wirklichkeit des Lebens gegen alle Widerstände der »Welt des Tuns«. D. ist Mitgl. des Österreichischen Schriftstellerverbands u. des Literaturkreises Podium. Er erhielt 1980 den Förderpreis des Landes Niederösterreich. Weitere Werke: Atemholen. Lahnstein 1977 (L.). – Eintreten durch die gegenwärtige Türe. St. Georgen/Gusen 1986 (L.). – Leeres Haus. Wien 1993 (L.). – Reisen ohne zu reisen. Bukarest 1996 (L.). Johannes Sachslehner / Red.

David, Jakob Julius, * 6.2.1859 MährischWeißkirchen, † 20.11.1906 Wien; Grabstätte: ebd., Zentralfriedhof. – Lyriker, Dramatiker, Erzähler u. Journalist. Der Sohn eines jüd. Pächters verbrachte seine Gymnasialzeit überwiegend in Kremsier. Ein 1877 in Wien begonnenes Studium der Germanistik u. Geschichte schloss er 1881 mit dem Absolutorium, 1889 mit der Promotion ab. Durch eine Typhuserkrankung hör- u. sehbehindert u. daher für den Schuldienst ungeeignet, war D. gezwungen, seinen Lebensunterhalt als Journalist zu verdienen; er arbeitete seit 1894 als Redakteur beim »Neuen Wiener Journal«, seit 1903 bei der »Wiener Zeitung«. Obwohl D. auch Gedichte, Dramen u. Essays schrieb, erlangte er literar. Bedeutung v. a. wegen seiner Erzählprosa; die mähr. Heimat u. Wien bilden stofflichthematisch die Schwerpunkte seines Schaf-

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fens. Neben der mit gesellschaftskrit. Zügen ausgestatteten realist. Dorfgeschichte (Das Höfe-Recht. Dresden 1890. Neuausg. Heidelb. 1964) u. dem Aspekte von Vererbung u. Umweltdeterminierung aufnehmenden Roman (Das Blut. Dresden 1891) konzentrierte sich D. auf histor. Novellen. Die auffallend figurenarme Darstellung führt in die Zeit der ital. Renaissance sowie in das Mähren des Reformationszeitalters u. des Dreißigjährigen Krieges zurück, wobei D. menschl. Schicksale in den Vordergrund rückt, für welche die Geschichte als Kulisse dient (Frühschein. Geschichten vom Ausgang des großen Krieges. Lpz. 1896). In der Wendung zur Problemnovelle (Vier Geschichten. Lpz. 1899), gekennzeichnet durch die Neigung zur Rahmenerzählung u. zu einer düster-melanchol. Grundstimmung, bereitet sich D.s Auseinandersetzung mit seiner zweiten Heimat vor: Die beiden »Wiener Romane« Am Wege sterben (Bln./Lpz. 1900) – die zeitdokumentar. Schilderung der Lebensläufe von fünf sudetendt. Studenten in Wien – u. Der Übergang (Bln. 1902. Neuausg. Bln. 1966) – ein Gesellschaftsroman über den Niedergang einer alten Wiener Kaufmannsfamilie, der als Gegenstück zu Thomas Manns Buddenbrooks bezeichnet worden ist – kennzeichnet ein resignativer Ton u. ein knapper, realist. Sprachduktus. D. kehrte schließlich zur mähr. Dorfgeschichte zurück, die im Falle der Novelle Hanna mit der Künstlerproblematik allerdings ein typisches Thema des Fin-de-Siècle verarbeitet, u. erreichte hier durch seine farbigen Charakterzeichnungen u. Landschaftsdarstellungen die größte atmosphär. Dichte (Die Hanna. Erzählungen aus Mähren. Bln./Lpz. 1904. Mchn. 1917. Neuausg. hg. v. Peter Goldammer. Bln. 1960. Bln. 1984). Auch wenn bald nach seinem Tod eine große Werkausgabe erschien, muss D. als einer der »großen Vergessenen« der österr. Literatur bezeichnet werden. Das mag damit zusammenhängen, dass sich sein Werk als Ganzes einer literaturwiss. Klassifikation entzieht, denn es kann weder ausschließlich dem Realismus noch dem Naturalismus u. auch nicht dem »Jungen Wien« zugeordnet werden. In mehreren Neuausgaben der No-

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vellen deutet sich allerdings eine Wiederentdeckung des Erzählers D. an.

dem Widerstand gegen den absoluten Herrscher Tschingis-Chan.

Weitere Werke: Die Wiedergeborenen. Dresden 1890 (N.n). – Gedichte. Lpz. 1892. – Probleme. Dresden 1892 (E.en). – Ein Regentag. Dresden 1896 (D.). – Die Troika. Bln./Lpz. 1901 (E.en). – Ludwig Anzengruber. Bln./Lpz. 1904 (Monogr.). – Vom Schaffen. Jena 1906 (Ess.). – Stimmen der Dämmerung u.a. Erzählungen. Lpz. 1908 (mit Einl. u. Bibliogr.). – Essays. Mchn. 1909. Gesamtausgabe: Ges. Werke. Hg. Ernst Heilborn u. Erich Schmidt. 7 Bde., Mchn. 1908/09. Literatur: Ella Spiero: J. J. D. Lpz. 1920 (mit Bibliogr.). – Gerlinde Schruf: J. J. D. als Journalist u. Kulturkritiker. Diss. Wien 1952. – Peter Goldammer: J. J. D., ein vergessener Dichter. In: WB 5 (1959), S. 323–368. – Bramy Resnik: The Role of women in J. J. D.s Novellen. Diss. Ann Arbor 1972. – Roman Rocek: J. J. D. oder die Vorweggenommene Moderne. In: Ders.: Neue Akzente. Essays für Liebhaber der Lit. Wien/Mchn. 1984, S. 59–73. – Konrad Paul Liessmann: J. J. D. u. die Kunst der Novelle im Fin de siècle. In: J. J. D. Novellen. Hg. ders. Salzb./Wien 1995, S. 259–291. – Lieselotte Pouh: Wiener Moderne u. Psychoanalyse. Felix Dörmann, J. J. D. u. Felix Salten. Ffm. u. a. 1997. – Wolfgang Beutin: Subversive Potentiale in den Dichtungen J. J. D.s. In: Radikalismus, demokrat. Strömungen u. die Moderne in der österr. Lit. Hg. Johann Dvorák. Ffm. u. a. 2003, S. 175–196.

Weitere Werke: Im Land der Bogenschützen. Bln./DDR 1962 (Reportagen). – Poln. Etüden. Bln./ DDR 1963 (Reportagen). – Der Spielmann vom Himmelspfortgrund. Bln./DDR 1964. 141986 (R. über Franz Schubert). – Begegnung mit der Unsterblichkeit. Bln./DDR 1970. 141987 (R. über Beethoven). – Rosamunde, aber nicht v. Schubert. Bln./DDR 1982. 21984 (E.en). – Das weiße Pony. Bln. 1989 (E.en).

Ernst Fischer / Bernd Zegowitz

David, Kurt, * 13.7.1924 Reichenau/Oberlausitz, † 2.2.1994 Görlitz. – Erzähler u. Jugendbuchautor. D. machte eine kaufmänn. Lehre. Seinen Plan, Musiker zu werden, musste er wegen einer Kriegsverletzung aufgeben. Seit 1954 lebte er als freier Schriftsteller. D.s vielseitiges Werk ist geprägt von der Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus. So erzählt sein erster Roman Die Verführten (Halle 1956) von der Entwicklung eines empfindsamen jungen Mannes im Krieg u. in Gefangenschaft. Die Novelle Die Überlebende (Bln./DDR 1972. 121987) berichtet von einem jungen Autor, der eine Episode aus dem poln. Partisanenkampf untersucht. D.s Jugendromane Der schwarze Wolf (Bln./DDR 1966. 141990) u. Tenggeri, Sohn des schwarzen Wolfes (Bln./DDR 1968. 121989) beschäftigen sich – vor historischem Hintergrund – mit

Literatur: Karin Kögel: Internationalist. Ideengehalt zu Werken Horst Beselers, K. D.s, Günter Görlichs u. Aldres Wellms. Bln./DDR 1980. Sylvia Adrian / Red.

Davidis, Henriette, * 1.3.1801 WetterWengern, † 3.4.1876 Dortmund. – Verfasserin pädagogischer Schriften, Kochbuchautorin. In einem kleinen westfäl. Dorf geboren, ging die Pfarrerstochter D. einen für die Frau des 19. Jh. eher ungewöhnl. Lebensweg, gelang ihr doch der Aufstieg zu Deutschlands erfolgreichster Verfasserin hauswirtschaftlicher Literatur. Nach ihrer Ausbildung zur Pädagogin versuchte sich D. in den 1820/30er Jahren zunächst im familiären Bereich als Erzieherin, um dann die Öffentlichkeit zu suchen. Die industrielle Revolution leitete im 19. Jh. einen Umbruch der Gesellschafts- u. Sozialordnung ein. Auch die Rolle der Frau wollte neu definiert sein, war doch die Frau ihrer Funktionen in den vorindustriellen Produktionsgemeinschaften (»Frau Meisterin«) verlustig gegangen. D. sollte es zukommen, ein neues Frauenbild entscheidend mitzuentwerfen, dessen Einfluss bis in die Gegenwart kaum überschätzt werden kann. 1841 übernahm D. die Leitung der Mädchenarbeitsschule zu Sprockhövel, versuchte junge Frauen dem biedermeierl. Ideal hauswirtschaftlicher Vollkommenheit näherzubringen. Sie schuf erstmals ein Leh rk o ch b uc h (Zuverlässige und selbstgeprüfte Recepte. Bielef. 1844), legte mit diesem Musterkochbuch zgl. eine Sammlung facettenreicher Rezepte aus allen dt. Regionen vor, um damit zur Schöpferin einer überregionalen »deutschen« Küche zu werden. 1848 verließ D.

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Sprockhövel, lebte an wechselnden Orten (um 1998. – Eckehard Methler: Von H. D. bis Erna »persönliche Anschauungen von verschie- Horn. Wetter 2001. – Ders.: H. D. Biogr. – Bibliogr. denartigen Lebensverhältnissen zu gewin- – Briefe. Wetter 2001. – Alice Arndt: Culinary nen«), u. behandelte Fragen der neuen Zeit in Biographies. Houston 2006, S. 129–136. Eckehard Methler / Walter Methler weiteren Lehrbüchern: Gemüse-Garten (Elberfeld 1850), entstanden während ihres Aufenthaltes in Bremen (1848–1852); in Witten De Heinrico. – Altdeutsch-lateinischer (1853–1856) erfand sie die Buchgattung Fürstenpreis auf einen Herzog von Bay»Kinderkochbuch« (Puppenköchin Anna. ern, überlieferte Abschrift Mitte 11. Jh. Dortm. 1856); als freie Schriftstellerin in Dortmund (ab 1857) verfasste sie die Schrift Gegenstand des Modus oder Liedes ist das Der Beruf der Jungfrau (Bielef. 1857), ein Kin- Treffen eines bayr. Herzogs Heinrich in Bederhaushaltungsbuch (Puppenmutter Anna. gleitung seines Sohnes mit einem Kaiser Otto Dortm. 1858), Natur- und Lebensbilder (Wesel unter Betonung von Ritualen wie dem eh1860), Die Hausfrau (Essen 1861) – ein um- renvollen Empfang durch Otto. Es handelt fassendes Bildungsprogramm für ein neues sich wohl um eine fiktive Begegnung Kaiser weibl. Selbst- u. Weltverständnis christlicher Ottos III., Herzog Heinrichs II. »des Zänkers« Prägung mit Hochschätzung von Nächsten- u. seines Sohnes (»aequivocus«), des späteren Königs u. Kaisers Heinrich II. Die Entstehung liebe u. Toleranz. Erhob die unverheiratet gebliebene D. ist zwischen 995 (Todesjahr Heinrichs »des (zwei Verlobte starben) in ihrem Ratgeber- Zänkers«) u. 1002 (Todesjahr Ottos III.) anschrifttum einerseits die Rolle der Frau als zunehmen. D. H. ist einzig in den Carmina CantabriHausfrau, Mutter u. Gattin zum Ideal, so giensia überliefert (CC 19 – Hs.: Cambridge, stellte sie zgl. – Ideen der frühen Frauenbewegung konform – die Forderung nach Be- Univ. Library, Gg. 5.35, fol. 437r-437v) u. rufsausbildung der Mädchen u. eröffnete gehört mit dem Liebesantrag (CC 28) zu den damit Frauen sozial anerkannte Lebensmög- sonst nur aus der frühen altirischen u. altlichkeiten auch außerhalb von Ehe u. Familie. engl. Tradition, später aus den Carmina BuraMit der Herausgabe ihrer letzten Publikation na bekannten Mischdichtungen. Die 27 binKraftküche von Liebig’s Fleischextract (Braun- nengereimten Langzeilen mit regelmäßig schw. 1870) machte D. sich zur Wegbereiterin lat.-altdt. wechselnden Halbversen verteilen einer die Küchenarbeit revolutionierenden sich auf acht Strophen. Die nichtlateinischen Industrie der Nahrungsmittelfertigprodukte, Anteile lassen auf einen ursprünglich altwarb für das erste Lebensmittelfertigprodukt sächsisch-altbairisch gemischten, durch mit»Liebigs Fleischextrakt« u. schuf damit neu- telfränkische Überlieferung beeinflussten en zeitl. Raum für weibl. Berufsarbeit. Mit Text schließen (Klein). Ausgaben: Wilhelm Braune u. Ernst Albrecht Justus von Liebig stand D. in freundschaftliEbbinghaus (Hg.): Ahd. Lesebuch. Tüb. 1979, Nr. chem Briefwechsel. Die Werke der Bestsellerautorin D. wurden XXXIX. – Jan M. Ziolkowski (Hg.): The Cambridge bis in die Gegenwart immer wieder neu auf- Songs (Carmina Cantabrigiensia). New York/London 1994 (mit engl. Übers.). – Horst Dieter gelegt, Übersetzungen ins Holländische, Schlosser (Hg.): Ahd. Lit. Bln. 1998, S. 138 f. (mit Englische, Dänische, Norwegische, Serbo- nhd. Übers.). – Jens Schneider 2002 (s. u.), S. 40. kroatische u. Polnische erschienen. Ihr GeÜbersetzung: Jens Schneider u. Eike Schmidt: burtsort ehrte die Autorin mit einem Denk- D. H. In: Edel u. Frei. Franken im MA. CD-ROM mal u. Museum. zur Ausstellung. Hg. v. Haus der Bayer. Gesch. Weitere Werke: Arrangements. Bielef. 1847. – Bereitung des Rossfleisches. Iserlohn 1848. – Gedichte. Elberfeld 1848. Literatur: Willy Timm: H. D. Münster 1979. – Gisela Framke: Beruf der Jungfrau. Oberhausen 1988. – Anke Killing: H. D. u. ihre Zeit. Münster

Augsb. 2004. Literatur: David R. McLintock: D. H. In: VL. – Thomas Klein: ›D. H.‹ u. die altsächs. Sentenz Leos von Vercelli. Altsächsisch in der späten Ottonenzeit. In: FS Johannes Rathofer. Hg. Ulrich Ernst u. Bernhard Sowinski. Köln/Wien 1990, S. 45–60. –

Dean Mathias Herweg: Ludwigslied, D. H., Annolied. Wiesb. 2002. – Jens Schneider: Heinrich u. Otto. Eine Begegnung an der Jahrtausendwende. In: AKG 84 (2002), S. 1–40 (mit Forschungslit.). – Ders.: Latein u. Ahd. in der Cambridger Liederslg.: CC 19 u. 28. In: Volkssprachig-lat. Mischtexte u. Textensembles in der ahd., altsächs. u. altengl. Überlieferung. Hg. Rolf Bergmann. Heidelb. 2003, S. 297–314. Jens Schneider

Dean, Martin R., * 17.7.1955 Menziken/ Kt. Aargau. – Freier Schriftsteller, Publizist; Gymnasiallehrer. D. studierte Germanistik, Ethnologie sowie Philosophie u. wohnt in Basel. Er engagiert sich regelmäßig in literarisch-philosoph. Gesprächen u. Tagungen im In- u. Ausland. Mitte 2005 entwarf er zus. mit Thomas Hettche, Matthias Politycki u. Michael Schindhelm das Positionspapier Die zeitgemäße Form des Romans: Der Roman solle die Welt erkennen, nichts weiter. Die Altvorderen u. mit ihnen die ganz jungen Literaten würden nur noch selbstbezogen u. weltfremd schreiben. Das Papier wurde hitzig diskutiert u. vom Feuilleton wie von Autorenkollegen teilweise als Manifest abgetan. D. debütierte mit dem Roman Die verborgenen Gärten (Mchn./Wien 1982), der Geschichte eines jungen Schriftstellers, der das Angebot eines Unbekannten annimmt, ein Jahr lang in einer Villa in Südfrankreich zu wohnen. Einsamkeit u. das Verbot, sich zu erinnern, sind zwei Bedingungen, die der Gönner an das Geschenk knüpft. Seine Besuche führen zu enzyklopäd. Gesprächen über Gartenarchitektur, über das historisch sich wandelnde Verhältnis von Kunst u. Natur. Das Gezänk der Stimmen im Kopf u. der wuchernde Garten sind für den Autor aber nur schreibend, erinnernd zu ertragen. Erst durch eine List erfährt er, dass sein Wohltäter das Gedächtnis verloren hat u. nun die Geschichten anderer sammelt, die er durch seine paradoxen Anweisungen provoziert. D. gestaltet die philosoph. Gedankengänge ebenso spannend wie Erscheinungsformen des Sinnlichen. Dabei ließ er sich durch Jorge Luis Borges (Labyrinth, Zeit, Bibliothek) u. Marcel Duchamp (Junggesellenmaschine) inspirieren.

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In den 1980er Jahren wird D. als junger Autor wahrgenommen, der, wie andere seiner Generation, gewissen Prinzipien der Postmoderne treu bleibt, wie etwa dann, wenn er seinen Protagonisten Loder, einen längst verstummten, einst aber berühmten Autor, in Der Mann ohne Licht (Mchn./Wien 1988) Kritik am Kapitalismus in Monologform aufsagen lässt. Nachdem D. etliche Auszeichnungen erhalten hat, beginnt sich die Literaturkritik zu fragen, ob sie es am Ende mit einem Epochenwerk der Schweizer Literatur zu tun hat (Jürg Scheuzger: Der Mann ohne Licht. In: Beatrice v. Matt: Antworten. Die Literatur der deutschsprachigen Schweiz in den achtziger Jahren. Zürich 1991, S. 186–189). Sprachlich höchst präzise Notate, filigrane Kleinstgeschichten stecken in Außer mir. Ein Journal (Mchn./Wien 1990). Sie entstanden auf Reisen, am Schreibpult u. im Kopf. Heute beeindrucken sie als Zeitdokument, zeigen sie doch z.B. auf, wie die unterdessen meist gut integrierten tamilischen Asylbewerber Ende der 1980er Jahre in der Schweiz wahrgenommen wurden. D. beweist mit seinen kaleidoskopischen Beobachtungen, wie sich Biografien u. Schicksale verändern, die Einzelgeschichte wird mit der Allgemeingeschichte verknüpft. In Meine Väter (Mchn./ Wien 2003), wie bereits in Der Guayanaknoten (Mchn./Wien 1994), findet D.s Auseinandersetzung mit der eigenen Bikulturalität explizit statt. Auf der Spurensuche lässt er sich auf das Abenteuer einer komplizierten Verwandtschaftsbeziehung ein, zwischen Trinidad, Indien, Großbritannien u. der Schweiz. Lesereisen führten D. u. a. nach Skandinavien, in die USA, nach Japan u. Indien. 1988/ 89 war D. Stipendiat im Istituto Svizzero in Rom. 1992/93 lebte er als Stadtbeobachter in Zug. Seine Werke wurden u. a. ins Französische, Englische, Schwedische u. Norwegische übersetzt. Für sein Werk erhielt D. u. a. folgende Auszeichnungen: Rauriser Literaturpreis 1983, Werkbeitrag der Stiftung Pro Helvetia 1987, Werkjahr des Kantons Luzern 1993, Förderpreis der Akademie der Künste, Berlin, Kunstpreis Berlin 1999, Einzelwerkpreis der Schillerstiftung 2003.

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569 Weitere Werke: Die gefiederte Frau. Fünf Variationen über die Liebe. Mchn./Wien 1984 (P.). – Die Ballade v. Billie u. Joe. Mchn./Wien 1997 (R.). – Monsieur Fume oder Das Glück der Vergeßlichkeit. Mchn./Wien 1998 (P.). – Schlaflos. Ffm. 1999 (Theater). – Reisende mit kleinem Gepäck. Nachdenken über den Roman. In: NZZ, 19.11.2005 (Ess.). – Zwischen Fichtenbaum u. Palme. Kommentierte Textslg. für den interkulturellen Deutschunterricht an Mittelschulen. Bern 2005 (Lehrmittel). Literatur: Nicola Bardola: M. R. D. In: LGL. – Rainer Landvogt: M. R. D. In: KGL. Rudolf Käser / Katharina Kienholz

Debs, Benedikt ! Tiroler Spiele Decius (latinisiert aus Tech, Dech, Deeg), Nikolaus, * um 1485 Hof/Saale, † nach 1546. – Kirchenlieddichter.

Novizinnen-Unterricht bestimmt. 1522 war er für kurze Zeit wiederum Lehrer am Ägidienkloster, musste aber wegen Sympathisierens mit den Ideen Luthers die Stadt verlassen. Auf ein erneutes Studium in Wittenberg (1523) folgten Pfarrstellen in Stettin (1524) u. in verschiedenen Orten Ostpreußens (1530–1546), u. a. in Königsberg, wo er am Hof Herzog Albrechts als Unter-Kantor der Hofkantorei vorstand u. einer der Hofprediger war (1540–1542). Nach 1546 verliert sich seine Spur. Literatur: Wackernagel 3, S. 565–568. – Hans Hofmann: N. Tech – der Dichter v. ›Allein Gott in der Höh sei Ehr‹. In: Monatsschr. für Gottesdienst u. kirchl. Kunst 24 (1919), S. 201–206. – Siegfried Fornaçon: D. In: MGG. – Friedrich Wilhelm Bautz: N. D. (Tech). In: Bautz. – Nils Niemann: Die ersten evang. Kirchenlieder u. ihr Verfasser N. D. Wolfenb. 2002. Herbert Blume

D. darf als Dichter der drei ältesten evang. Kirchenlieder Aleyne God yn der hoege sy eere, Dedecius, Karl, * 20.5.1921 L/ ódz´. – ÜberHyllich ys Godt de vader u. O Lam Gades vnsetzer, Herausgeber, Essayist. schüldich gelten, die für das Gloria, das Sanctus u. das Agnus Dei der lat. Messe stehen. Als prägend erwies sich für den polnisch- u. Vermutlich 1522 hat er sie als Lehrer an der deutschsprachig aufgewachsenen Sohn eines Schule des Braunschweiger Ägidienklosters Angestellten das polyglotte Völkergemisch (dort damals Keimzelle der Reformation) ge- seiner Geburtsstadt sowie die humanist. schrieben. Zwar wurden sie zunächst anonym Ausbildung am dortigen Stefan-Zeromskigedruckt (niederdt. 1525 in Joachim Slüters Gymnasium, an dem er 1939 die ReifeprüRostocker Gesangbuch; hochdt. Lpz. 1539), fung ablegte, worauf die sofortige Einberudoch bezeugte bereits um 1600 ein Geistli- fung zur Wehrmacht erfolgte. Nach siebencher der Ägidienkirche D. als Verfasser. Dass jähriger Kriegsgefangenschaft u. AnstellunD., obwohl hochdeutschsprachig von Geburt, gen in Weimar u. Landau arbeitete D. seit durchaus Verse in der von ihm erlernten 1954 für ein Frankfurter Versicherungsunniederdt. Sprache zu schreiben vermochte, ternehmen, das er jedoch 1979 als Abteizeigt das einzige von ihm überlieferte ge- lungsdirektor im Ausbildungswesen wieder druckte Buch, die Summula doctrinarum Jhesu verließ, um das Deutsche Polen-Institut in Christi ex Codice Mathei per Nicolaum Thecium Darmstadt zu leiten (bis 1999). [...] coacta (Braunschw. 1522). Es bietet 111 D. gilt als bester Kenner u. Förderer polKernstellen des Matthäusevangeliums im lat. nischer Literatur in der Bundesrepublik. Seit Vulgata-Zitat dar; jedes Zitat ist von D. zu- 1959 erschienen rd. 100 Bücher von ihm, u. a. sätzlich mit zwei poet. Paraphrasen versehen: Anthologien mit Übertragungen aus dem einem lat. Distichon sowie einem Vierzeiler in Polnischen, aus dem Russischen (z.B. Majaniederdt. Sprache. kowskij) u. dem Serbokroatischen (Vasko Nach Schulbesuch in Hof u. Studium Popa). 1959, 1965 u. 1973 stellte er als Erster (1501–1506) in Leipzig war D. vermutlich von dt. Nachdichtungen von Texten der späteren 1515 an als Lehrer an Braunschweiger La- Nobelpreisträger Czeslaw Milosz, Joseph teinschulen tätig. 1519–1522 war er Propst Brodsky u. Wislawa Szymborska vor. Seine des Jungfrauenstifts Steterburg bei Braun- bes. Vorliebe gilt den Werken des Aphoristischweig. Seine Summula war für den dortigen kers Stanislaw Jerzy Lec sowie der Lyriker /

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Julian Przybos, Zbigniew Herbert u. Tadeusz Rózewicz. In zahlreichen Essays reflektiert D. kritisch Theorie u. Praxis des Übersetzens, wobei ihm der hl. Hieronymus, der Kirchenvater u. Schöpfer der »Vulgata«-Bibel, als »Übersetzer-Urbild, Vorbild und Schutzpatron« gilt. 1982–2000 gab D. die fünfzigbändige »Polnische Bibliothek« des Suhrkamp Verlags heraus, einen repräsentativen Querschnitt durch die poln. Literatur seit dem MA, sowie 1996–2000 das siebenbändige Panorama der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts (1996–2000), dessen 7. Bd. Panorama. Ein Rundblick eine Autobiografie darstellt. D.’ Arbeit wurde im In- u. Ausland ausgezeichnet u. a. durch den Übersetzerpreis des poln. PEN-Clubs in Warschau (1965), den Übersetzerpreis der Akademie für Sprache u. Dichtung (1967), das Bundesverdienstkreuz am Bande (1976), Ehrendoktorwürden der Universitäten Köln (1976) u. Lublin (1987), den Gebrüder-Grimm-Preis (1986), den Friedenspreis des deutschen Buchhandels (1990), den Samuel Bogumil Linde-Preis (1997) u. v. a. Seit 2003 verleiht die Robert-Bosch-Stiftung einen nach D. benannten, mit je 10.000 Euro dotierten Preis für je einen dt. u. einen poln. Übersetzer. Weitere Werke: Deutsche u. Polen in ihren literar. Beziehungen. Stgt. 1973. – Überall ist Polen. Ffm. 1974. – Poln. Profile. Ffm. 1975. – Zur Lit. u. Kultur Polens. Ffm. 1981. – Vom Übersetzen. Ffm. 1986. – Von Polens Poeten. Ffm. 1987. – Erinnerungen. Ein Europäer aus Lodz. Ffm. 2006. Literatur: Bibliophilen-Gesellsch. Thorn (Hg.): Polonica Dedeciana. Thorn 1986 (mit Bibliogr.). – Suche die Meinung. K. D., dem Übersetzer u. Mittler, zum 65. Geburtstag. Wiesb. 1986. – M. Mack (Hg.): K. D. u. das Dt. Polen-Institut. Laudationes, Ber.e, Interviews, Gedichte. Darmst. 1991. – H. Orlowski: K. D. In: Mein Polen.... Dt. Polenfreunde in Porträts. Hg. K. Ruchniewicz u. M. Zybura. Dresden 2005. Klaus-Peter Walter /

Dedekind, Constantin Christian, auch: ConCorD, * 2.4.1628 Reinsdorf/Anhalt, begraben 2.9.1715 Dresden. – Komponist, Lyriker u. Librettist. D. stammte aus einem angesehenen luth. Predigergeschlecht. Er wurde in der Reichs-

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abtei zu Quedlinburg ausgebildet u. dort von der Äbtissin Anna Sophia Landgräfin von Hessen-Darmstadt unterrichtet. Bereits hier zeigte sich seine Neigung zu Dichtung u. Musik. Vermutlich 1646 begab sich D. nach Dresden, wo er Kompositionsunterricht bei Christoph Bernhard, einem Schüler von Heinrich Schütz, erhielt. 1654 wurde er Bassist in der von Schütz geleiteten kurfürstlichsächs. Kapelle. 1653 krönte ihn Johann Rist zum Dichter; Anfang der 1660er Jahre trat D. als ConCorD in den Elbschwanenorden ein. 1666 wurde er zum Konzertmeister der Dresdner Hofkapelle befördert. Seit etwa 1672 führte den »Kaiserlich-römischen Poeten und Kurfürstlich-sächsischen Musikus« eine hauptberufl. Tätigkeit als kurfürstl. Steuereinnehmer zu einigem Wohlstand. Gleichzeitig versuchte er sich für kurze Zeit – ohne Glück – als Musikverleger. Wohl teils wegen der außermusikal. Beanspruchungen, teils wegen der Querelen zwischen dt. u. ital. Musikern am Dresdner Hof gab D. 1675 seine Konzertmeisterstellung auf. 1680 floh er vor der Pest nach Meißen, wo er Wegen allgemeiner Päst-Noth gepflogen und entworfne Buuss- und Dank-Bäht- und Loob-Ahndachten [1680] schrieb. Nach 1683 erschien kein musikal. Werk mehr; nach 1696 versiegte auch sein poet. Schaffen. Das wohl bedeutendste Werk D.s ist die Aelbianische Musen-Lust (Dresden 1657. Faks.Nachdr. hg. u. eingel. v. Gary C. Thomas. Bern u. a. 1991), 146 geistl. u. weltl. »Lust-, Ehren-, Zucht- und Tugend-Lieder«, Sologesänge mit Generalbassbegleitung, meist strophisch geformt u. syllabisch vertont, z.T. mit Violinbegleitung u. instrumentalen Ritornellen, nach Texten u. a. von Simon Dach, Paul Fleming, Johann Rist u. D. selbst. In ihrer volkstüml. Einfachheit u. empfindungsreichen Melodik stehen sie der von Rist geprägten Hamburger Liederschule nahe; die Ausdruckskraft des Liedschaffens seines Dresdner Zeitgenossen Adam Krieger erreichte D. jedoch nicht. Die 20 beigefügten, teilweise kantatenhaft durchkomponierten Kanzonetten huldigen in ihrem Ariosostil u. Koloraturenwerk dem ital. Geschmack, wie D. überhaupt eine Integration des ital. u. dt. Musikstils kaum gelungen ist. D.s Begabung

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als Komponist war auf die kleinen Formen Dedekind, Dedekindus, Friedrich, * 1524 des Lieds u. der Arie beschränkt. Neustadt am Rübenberge, † 21.2.1598 Als Dichter schuf D., vornehmlich orien- Lüneburg. – Theologe, Satiriker u. Dratiert an Simon Dach, Johann Rist u. Johann matiker. Klaj, Liedertexte, Psalmübersetzungen, Sinnsprüche, lyr. u. satir. Gedichte, geistl. Der Sohn eines Fleischers studierte ab 1543 in Spiele, Libretti für Opern u. Singspiele, auch Marburg u. Wittenberg Theologie (MagisterÜbersetzungen des niederländ. Dichters Joost Promotion 1550). Seit 1553 war er als Pfarrer van den Vondel; auffallend ist sein man- in seiner Heimatstadt tätig; 1576 wurde er als gelnder Sinn für Bühnenwirksamkeit. Selbst Pfarrer an die Michaeliskirche in Lüneburg u. vor dem Hintergrund der hochbarocken Ly- zum Inspektor der luth. Kirchen in den Bisrik bleibt hingegen seine Neigung zu Wort- tümern Lübeck u. Verden berufen. Noch als Student verfasste D. in lat. Distischöpfungen bemerkenswert. Wichtig für die chen den Grobianus, De morum simplicitate libri Überlieferungsgeschichte der Bergreihen ist duo (Grobianus: Zwei Bücher über einfältige die Sammlung u. Bearbeitung Eine halbe Schicht christlich-andächtiger auch erbaulicher Sitten. Ffm. 1549 u. ö.), eine der wirkungsvollsten Satiren des 16. Jh., die diesem das Berg-Lieder und Reigen (Dresden? 1688). Etikett »grobianisches Zeitalter« aufgeprägt Weitere Werke: A. et O.: Jesus! Zehn andäch2 tige Buss-Gesänge. Lpz. 1652. 1655. – Geistl. hat. Sie wurde noch im Erscheinungsjahr Erstlinge u. Musikal. Spätlinge. Dresden 1662. – dreimal nachgedruckt u. 1552 bzw. 1554 Doppelte Sangzälle zur geistl. Hausmusik. Dresden unter dem Einfluss von Kaspar Scheidts 1662. – Davidische geheime Musik-Kammer. Übersetzung um eine Grobiana u. auf drei Dresden 1663. – Süsser Mandel-Kärnen erstes »Bücher« erweitert. Beide Fassungen erlebPfund v. ausgekärneten Salomonischen Liebes- ten bis zu Beginn des 18. Jh. mehr als 20 Worten, in 15 Gesängen. Dresden 1664. – Davidi- Auflagen. 1551 erschien die erste dt. Übersches Harfen-Spiel, das ist der ganze Psalter. Ffm. setzung Scheidts; weitere dt. Übersetzungen 1665. – Myrrhen-Blätter. Dresden 1666. – Sonderfolgten 1567 (Wendelin Hellbach), 1607 (Pebare Seelen-Freude. 2 Tle., Dresden 1670 u. 1672. – Musical. Jahrgang u. Vesper-Gesang. 2 Tle., Dres- ter Kienheckel) u. 1640 (Wenzel Scherffer). den 1673/74. – Singende Sonn- u. Fest-Tags un- Ende des 16. Jh. wurde der Grobianus auch ins Ungarische, im 17. Jh. ins Polnische, Tscheterlägete Andachten. Dresden 1683. Ausgabe: Neue geistl. Schauspiele 1670. Hg. chische u. zweimal, 1605 u. 1739, ins Englische übersetzt. In der engl. Literatur lassen Mara R. Wade. Stgt. 2003. Literatur: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 2, sich, ähnlich wie in der deutschen, seine S. 1231–1255. – Hermann Kretzschmar: Gesch. des Spuren bis in die Zeit der Aufklärung verfolneuen dt. Liedes. Lpz. 1911. Neudr. Hildesh. 1966. gen. – Fritz Stege: C. C. D. Ein Dichter u. Musiker des D.s Satire ist eine Anstandslehre unter ne17. Jh. Diss. Bln. 1922. – Ders.: C. C. D. In: Ztschr. gativem Vorzeichen: Das zu Unterlassende für Musikwiss. 8 (1925/26). – Heiduk/Neumeister, kleidet sie in die Form von Geboten u. verS. 320 f. – Anthony J. Harper: German secular songsieht diese mit Erläuterungen u. Rechtfertibooks of the mid-seventeenth century. Aldershot gungen. Damit steht sie inhaltlich in der 2003. – Werner Braun: Thöne u. Melodeyen, Arien u. Canzonetten: zur Musik des dt. Barockliedes. Tradition der mittelalterl. Anstands- u. Tüb. 2004. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, Tischzuchtenliteratur u. deren parodistischer Umkehrung in der spätmittelalterl. BauernS. 435–438. Hans Heinrich Eggebrecht † / Werner Braun satire u. knüpft formal an die satir. Technik der von den Humanisten wiederbelebten Gattung der iron. Enkomien an. Anregungen für die Titelfigur bot das 72. Kapitel von Sebastian Brants Narrenschiff (1494), das unter dem Motto »Eyn nuwer heylig heisszt Grobian« von den groben Narren der Schlemmer u. Säufer handelt. Als direkte Quelle D.s gilt

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die von einem unbekannten niederdt. Autor ihnen hat das belehrende Wort Vorrang ge(Pseud.: Laurentz Wytbrod) verfasste Schrift genüber dramatischer Handlung u. theatral. Grobiani Dischtücht (Braunschw. um 1526. Wirksamkeit – entsprechend den Intentionen Hochdt. Übers. 1538 u. ö.: Grobianus Tisch- des Reformationsdramas, in dessen Nachfolzucht), die eine Reihe von Statuten für die ge sie stehen. Als konfessionspolem. Dramen Brüder vom neu gegründeten »Sauorden« haben sie – bes. der Miles christianus – in ihrer Zeit jedoch durchaus Wirkung entfaltet. Das enthält. Als literar. Figur ist der Grobianus, dessen geistl. Spiel Hochzeit zu Cana in Galilea (Mgf. Tagesablauf D. unter besonderer Hervorhe- 1398 der SB Berlin) blieb zu Lebzeiten des bung seines Benehmens bei Tisch detailliert Autors ungedruckt; der didakt. Impetus des beschreibt, der Typus des unflätigen, ganz handlungsarmen Stücks äußert sich in breiauf sein Ego bezogenen Menschen, der von ten Monologen zur protestant. Ehelehre u. seinen Körperfunktionen ungehemmten Ge- Ermahnungen zur Tischzucht. brauch macht u. sie, um des persönl. Vorteils Ausgaben: ›Grobianus‹. Hg. Aloys Bömer. Bln. willen, rücksichtslos gegenüber seinen Mit- 1903. – Nachdr. der Ausg. 1903 u. der Übers. v. menschen ausspielt. Den Eigennutz als Leit- Kaspar Scheidt [Worms 1551]: Mit einem Vorw. v. motiv seines Verhaltens heben die iron. Barbara Könneker. Darmst. 1979. – Vigliano 2006 Kommentare des Autors bes. hervor. D. (s. u.). – ›Papista conversus‹ (Nachdr.). In: Flugwollte seinen Zeitgenossen ein abschrecken- schr.en des späteren 16. Jh. Hg. Hans-Joachim Köhler. Serie 3, Leiden 1992, Nr. 815 (Mikrofiche). des Spiegelbild vorhalten, da die »rusticitas Übersetzungen: F. D.: ›Grobianus‹. Présenté et morum« selbst unter den Gebildeten nie zutraduit par Tristan Vigliano. Paris 2006 (lat. u. frz.). vor so verbreitet gewesen sei. Tatsächlich Literatur: Willi Flemming: F. D. In: NDB. – stand er mit dieser Klage nicht allein, da in Britta-Juliana Kruse u. Ulrike Gaebel: Ein unbeder Literatur dieser Zeit die Vorliebe für das kanntes Spiel v. F. D.: ›Hochzeit zu Cana in GaliDrastische u. Unflätige, für alles, was mit lea‹. In: Daphnis 19 (1990), S. 715–719. – Barbara Nahrungsaufnahme, Verdauung u. Latrine Könneker: Satire im 16. Jh. Mchn. 1991, zusammenhängt, so ausgeprägt war wie in S. 118–129. – Barbara A. Correll: The end of conkeiner anderen Epoche. Trotzdem dürfte die duct: ›Grobianus‹ and the Renaissance text of the Thematisierung dieses Phänomens bei D. subject. Ithaca 1996. – Eberhard Doll: F. D. In: weniger auf einen wirkl. Sittenverfall hin- Bautz. Barbara Könneker / Ulrich Seelbach weisen als ein Indiz dafür sein, dass sich im Zuge eines fortschreitenden Prozesses der Degen, Johann Friedrich, * 16.12.1752 Zivilisation ein Wandel des sozialen VerhalAffalterthal, † 16.1.1836 Bayreuth. – Pätens im Sinne einer zunehmenden gegenseidagoge, Philologe, Übersetzer, Lyriker. tigen Anpassung durch Fremd- u. Selbstkontrolle vollzog, der Abweichungen von den D. entstammt einer alten fränk. Pfarrfamilie. neu sich etablierenden Verhaltensnormen ei- Sein Vater, seit 1760 Pfarrer in Trumsdorf bei nerseits bes. auffällig machte u. sie anderer- Bayreuth, unterrichtete den Sohn bis zum 15. seits – als Provokationen des noch nicht fest Lebensjahr selbst in den klass. Sprachen. etablierten neuen Verhaltenskodex – gerade1768 trat D. als Stipendiat in das »Casimizu herausforderte. rianum« im Herzogtum Sachsen-Coburg ein, Weniger bedeutend sind die beiden späte- wo er durch die Chrestomathia graeca poetica ren deutschsprachigen Dramen D.s. Der Miles (1768) seines Lehrers u. späteren Freundes christianus (Uelzen 1576. Wittenb. 21580. Lü- Gottlieb Christoph Harleß mit den fortneb. 31590) behandelt in Anlehnung an Eph. schrittlichen neuhumanist. Auffassungen 6,11 ff. in allegorisierendem Stil den siegrei- von antiker Poesie in Berührung kam. 1772 chen Kampf eines Christen gegen moralische schrieb er sich an der Erlanger Universität u. religiöse Anfechtungen. Der Papista conver- ein, an der Harleß antike u. dt. Poesie untersus (Hbg. 1596) schildert unter dem Eindruck richtete. Durch seinen Lehrer drang D. jetzt der Gegenreformation die Bekehrung eines tiefer in die klass. Poesie ein: Die heiteren Katholiken durch Luther u. Melanchthon. In Oden des (Pseudo-)Anakreon, Horaz u. die

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röm. Elegiker standen dabei an erster Stelle. Klassische Philologie, Übersetzungskunst u. die zeitgenöss. Grazienpoesie beeinflussten sich von nun an wechselseitig u. bestimmten hauptsächlich D.s literarisches Werk. Sein aufklärerisches Engagement für die dt. Sprache u. Literatur bewog ihn, 1774 in das Erlanger Institut der Moral u. der schönen Wissenschaften einzutreten, für das er im selben Jahr sein im engeren gelehrten Kreis beachtetes literaturtheoret. Erstlingswerk Ueber das poetische Interesse (verschollen) verfasste. Frucht seiner frühen gelehrten Kenntnis der antiken Literatur ist seine Dissertation Specimen urbanitatis Horatianae (Erlangen 1774), die ihm einen Ruf an das berühmte Dessauer Philanthropin einbrachte. 1776 nahm er jedoch eine Lehrstelle am Ansbacher Carolo-Alexandrinum an. Auf diese Weise lernte er den seit 1743 in Ansbach lebenden Dichter Johann Peter Uz u. dessen Zechgesellschaft kennen. Dieser gelehrte Kreis philologisch geschulter Männer trug wesentlich zur Entstehung von D.s Übersetzungen u. Ausgaben der als heiter-empfindsam verstandenen antiken Poesie bei: Tibulls Elegien (Ansbach 1781), Anakreons Lieder – aus dem Griechischen (Ansbach 1782. Altenburg 1787), die Deutsche Anthologie der römischen Elegiker (Nürnb. 1784), eine Ausgabe Anacreontis Carmina (Erlangen 1781) u. die Anthologia elegiaca romana (Nürnb. 1785). Im Sinne des aufklärer. Freundschaftskults schuf sich D. von Ansbach aus einen Kreis gleichgesinnter poetisch interessierter Freunde aus dem mittleren Beamtentum, der das aufklärer. Lebens- u. Tugendideal in eigenen Dichtungen propagierte: Die Episteln (Altenburg 1793) stammen durchweg aus der Ansbacher Zeit u. vermitteln interessante Einblicke in das literaturgesellschaftl. Leben in Franken u. die ihm zugrunde liegende Haltung. Das poet. Engagement des fränk. Bildungsbürgertums, das auf eine Propagierung des aufklärer. Dichtungs- u. Lebensideals abzielte, spiegelt sich im Fränkischen Musenalmanach, den D. 1785–1787 herausgab. 1791 übernahm D. das Direktorat an der Fürstenschule in Neustadt/Aisch, das als Kreisstadt über ein gebildetes bürgerl. u. adeliges Beamtentum verfügte. Dort konnte

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D. seinen bisherigen Wirkungskreis erweitern, was sich v. a. in der Mitarbeit an verschiedenen gelehrten Zeitungen ausdrückte. Hauptsächlich widmete sich D. in dieser Zeit seinem Übersetzungsprogramm, zu dem die Anakreon-Übertragung den Grundstein gelegt hatte. Sein Versuch einer vollständigen Litteratur der teutschen Uebersetzungen der Römer [...] (2 Tle., Altenburg 1794 u. 1796) u. die Litteratur der teutschen Uebersetzungen der Griechen [...] (2 Tle., Altenburg 1797/98) mit Nachträgen (Erlangen 1799 u. 1801. Nachdr. Hildesh. 1999) greifen über den literar. Aspekt hinaus nach kultur- u. geistesgeschichtl. Zusammenhängen. Die Sammlung wurde in Fachkreisen entsprechend gewürdigt. Durch die Umwandlung der Neustädter Fürstenschule in eine Bürgerschule wurde D. 1803 als Direktor an das Bayreuther Christian-Ernestinum versetzt. Hier hatte er das Glück, als Mitgl. der Harmonie-Gesellschaft die Bekanntschaft Jean Pauls zu machen. Noch einmal wandte sich D. seinem Lieblingsdichter, dem (Pseudo-)Anakreon, zu: 1821 erschien seine letzte revidierte Prachtausgabe des spätgriech. Dichters, deren Vorwort nachdrücklich auf die ältere AnakreonPhilologie verweist. Sie diente über ein Vierteljahrhundert später Eduard Mörike als Vorlage, der aus verwandter Geisteshaltung, aber vor dem Hintergrund der fortgeschrittenen Altphilologie die Anakreonteen 1864 erneut übertrug. Mit seinem dichterischen, bes. aber seinem philolog. Werk blieb D. der von Uz in Franken eingeführten Aufklärungsliteratur u. der mit ihr verbundenen Lebens- u. Geisteshaltung treu. Seine Werke nahmen über August von Thümmel in Coburg u. Jean Paul in Bayreuth Einfluss auf die Dichter des Biedermeier (August Graf von Platen, Friedrich Rückert). Seine Sammlung der dt. Übersetzungen der griech. u. röm. Literatur bietet dem Literaturwissenschaftler eine detaillierte Rezeptionsgeschichte der antiken Literatur bis zum Ende des 18. Jh. sowie wichtige Einblicke in Fragen von Stilautorität, sprachkünstlerischer Entwicklung u. geistesgeschichtl. Zusammenhängen.

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Weitere Werke: Einige Gedanken über den Roman. Onolzbach o. J. [1777]. – Ueber die redende Grazie. 3 Stücke, Onolzbach o. J. [1779, 1782, 1783]. – Gedichte v. J. F. D. Ansbach 1786. – Vorträge über Gegenstände der Erziehung u. Bildung. Erlangen 1800. 21818. Literatur: Hellmuth Rössler: Fränk. Geist – Dt. Schicksal. Kulmbach 1953. – Walter Buhl (Hg.): Fränk. Klassiker. Nürnb. 1971. – Herbert Zeman: Die dt. anakreont. Dichtung. Stgt. 1972. – Karin Reimer-Sebald: J. F. D. Versuch einer Monogr. Ein Beitr. zur fränk. Literaturgesch. des späten 18. u. frühen 19. Jh. Diss. Wien 1981. Karin Reimer-Sebald / Red.

Degenhardt, Franz Josef, * 3.12.1931 Schwelm/Westfalen. – Liedermacher, Sänger, Schriftsteller; Jurist. D. studierte nach dem Abitur (1952) Rechtswissenschaft in Freiburg i. Br. u. Köln bis 1956. Nach dem Zweiten Staatsexamen 1960 ging D. 1961 als wiss. Assistent an das Institut für Europäisches Recht der Universität Saarbrücken u. promovierte 1966 mit der Dissertation Die Auslegung und Berichtigung von Urteilen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft. Als Liedermacher (1963 Debüt Radio Bremen) wie als Jurist zunehmend politisch engagiert, ließ er sich 1969 als Anwalt in Hamburg nieder, war in »Antidemonstrationsprozessen« für die APO tätig u. wurde 1971 aufgrund des »Unvereinbarkeitsbeschlusses« des SPD-Parteivorstandes vom Nov. 1970 wegen eines Wahlkampfaufrufes zugunsten der neu gegründeten DKP bei der Landtagswahl von Schleswig-Holstein aus der SPD ausgeschlossen. In den Folgejahren verstand sich D. als »parteiloser Angehöriger eines Volksfrontbündnisses«. 1978 trat er der DKP bei. Seit 1983 war D. als korrespondierendes Mitgl. der Akademie der Künste der DDR tätig. Im Zuge des Auslaugens der globalen linken Vorwärtsepoche (1965–1975), des wiederaufgeheizten Kalten Krieges, der sich im Tschernobyl-Reaktorunfall manifestierenden Krisensymptome im realexistierenden Sozialismus bis zu dessen Zusammenbruch wurde D. von den öffentlichrechtl. u. später auch den privaten Medien zunehmend ausgegrenzt (in Unser Land singt D. 1980: »Aus diesem Land sind meine Lie-

der, die der Rundfunk nicht mehr bringt«). Nichtsdestotrotz zählt D. bis heute zu den bekanntesten Liedermachern Deutschlands mit internat. Ruf u. ist auch als Romanautor erfolgreich. 1970 erhielt er den Deutschen Schallplattenpreis, 1980 den Preis der dt. Schallplattenkritik, 1983 den dt. Kleinkunstpreis u. 1986, 1988 sowie 1995 den SWF-Liederpreis (für Die Lehrerin, Lied für die ich es sing sowie Ja, es gibt diese Abende noch). D. begann als »Grotesk-Sänger« (Kofler) mit Balladen, Chansons u. Grotesken in der Tradition Villons, des alten Bänkelgesangs u. der Vagantenlieder. D.s Frankophilie, die sich in der bes. Zuneigung zum Werk des Chansonniers Georges Brassens verdichtet hat, stand im Gegensatz zur verbreiteten Orientierung der krit. Jugend der 1950er u. 1960er Jahre an der Jazz-, Rock- u. Protestkultur der angloamerikan. Welt. Durch die später gelegentlich kritisierte Melodiosität insbes. seiner frühen Lieder wurde D. bald bekannter als die ihn beeinflussenden Liedermacher Hanns-Dieter Hüsch, Dietrich Kittner, Hannes Stütz u. Dieter Süverkrüp u. entwickelte sich zu einer der Leitfiguren der Protestbewegung in der Bundesrepublik. In der DDR erschienen zahlreiche seiner Schallplatten. In seiner frühen expressionist. Ästhetik behandelte D. satirisch, ideologiekritisch u. mit psycholog. Sensibilität (vgl. v. a. das spätere Original und Kopie u. die Autoritarismuskritik in Glasbruch) die kleinbürgerl. Normen der »spätkapitalistischen« Gesellschaft seiner Epoche, die von dem einstweiligen Aufstieg der Arbeiterklasse in die sog. »Wohlstands-« bzw. »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« geprägt ist. D. reflektierte hier ein in den 1950/60er Jahren verbreitetes u. in der Frankfurter Schule u. dem frz. Strukturalismus theoretisch gefasstes Epochengefühl des gesellschaftl. Stillstands u. Verlusts der revolutionären Kräfte, v. a. der organisierten Arbeiterbewegung. Er kritisierte damals die »individualistische« Konsumkonkurrenz der Kleinbürger untereinander sowie ihre opportunist. Untertanenmentalität u. die Ausgrenzung des Andersartigen u. Unangepassten (Nachruf auf ein hohes Tier, Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, Deutscher Sonntag, So sind hier die Leute, Du bist anders als die andern). Die

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idealtyp. Figur des sozial aufgestiegenen, untertänigen u. anpassungsfähigen Opportunisten ist der fiktive Charakter Horsti Schmandhoff, der zum ersten Mal 1966 u. zuletzt 1998 auftritt (Horsti Schmandhoff, Der Stenz). Gegen die dominierende kleinbürgerl. Mentalität machte D. das Rebellische, Ausbrechende stark, blieb dabei aber zgl. der Dialektik des Unbehagens in der Kultur, die auch barbar. Charakter annehmen kann, eingedenk (vgl. bes. Tarantella u. Der Bauchladenmann). Die antikleinbürgerl. Lebensfreude steht häufig im Zusammenhang mit dem Genuss alkoholischer Getränke, v. a. Wein u. Schnaps (z.B. in Adieu Kumpanen u. Alla Kumpanen – Sangesbrüder). Die Hinwendung zu unmittelbar polit. Fragen – NPD u. Neofaschismus (Wölfe mitten im Mai), Vietnamkrieg, Aufrüstung u. Ostermarschbewegung (Ein schönes Lied, Diesmal, P.T. aus Arizona), Neue Linke (Vatis Argumente, Notar Bolamus) u. Antiimperialismus (Fiesta Peruana) – vollzog sich parallel zur Radikalisierung der Studentenbewegung. Um 1968 wandelte sich die ursprünglich expressionist. Form zum »Schmählied« (Wenn der Senator erzählt), zu didakt. Ballade oder Moritat u. zum polit. Kampflied, bei dem »Zwischentöne« als »Krampf im Klassenkampf« erschienen. Diese Wende war auch Folge von Gesprächen u. a. mit Dutschke, Kittner, Wolfgang Neuss, Biermann u. Süverkrüp. D. erschienen seine Texte seinerzeit zunehmend als »bildungsphiliströs«, u. er versuchte, ihnen eine »Brechtische Nutzanwendung« zu verleihen. Später meinte er, dass seine Texte hierdurch an Qualität eingebüßt hätten. Die Kritik an dieser Wende u. an Form u. Inhalt seiner Lieder griff D. regelmäßig persiflierend auf. Formästhetisch griff D. nun auch auf die politkabarettist. Kleinkunst der 1920/ 30er Jahre zurück u. adaptierte zahlreiche Lieder der Arbeiterbewegung dieser Zeit (Mehring, Ernst Busch u. a.). Inhaltlich entfaltete sich 1967/68 ein deutl. Bruch mit dem antiautoritären u. kulturell-jugendrevoltierenden Flügel der 68er-Bewegung (Landleute nageln tote Eulen oft an ihre Scheunen, Die Wallfahrt zum Big Zeppelin, vgl. auch das spätere Reggae) u. die Hinwendung zur sozialen Frage, zum Marxismus (Ballade von den Weißma-

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chern) u. (Traditions-)Kommunismus mit einer Nähe zum vormals kritisierten Realsozialismus (z.B. Fast autobiographischer Lebenslauf eines westdeutschen Linken, Ja, dieses Deutschland meine ich). Das jenseits der strohfeuerartigen, kapitalistisch integrierbaren Kulturrevolte dauerhaft Dissidente erschien D. nun in der im Westen verfolgten kommunist. Tradition. D. erschuf in seinen Liedern u. Romanen aufrechte Kommunisten, denen – teilweise fiktiv, teilweise auf histor. Personen beruhend – er zahlreiche »Porträts« widmete (z.B. Rudi Schulte, Natascha Speckenbach). Teilweise verwendete er auch die Balladenform u. histor. Vorbilder zur Darstellung idealrevolutionären Verhaltens (Ballade vom Bauernführer Joß Fritz [...]). Der »neoliberalen« Zeitenwende u. der Rolle der Kulturrevolte der 1960er Jahre für ihr spezif. Zustandekommen begegnete D. mit einer bes. Sensibilität, u. er reflektierte sie auf verschiedene Weise: als Fabel (Fabel von den Hirten u. den Wölfen), als polit. Aufruf (Arbeitslosigkeit) u. als ideologiekrit. Rollenspiel (Drumherumgerede, auch das spätere Die Party ist vorbei). In den Vordergrund rückten inhaltlich nun die historisch-polit. Selbstverortung als Kommunist, die Vergegenwärtigung der Geschichte (v. a. des Faschismus als einer »Form bürgerlicher Herrschaft«) u. der kommunistisch orientierte Kommentar zu den Neuen Sozialen Bewegungen als den Vorläufern der Grünen, welche die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt abzulösen beabsichtigten: Friedensbewegung (Es denken die Leute von damals wieder an gestern u. a.), Umweltbewegung (Im Gonsbachtal), autonome Bewegung (Von der letzten autonomen Selbstbestimmungsrepublik) u. die explizite Gegnerschaft zur RAF (Bumser Pacco). Ab 1982/83 u. verstärkt seit 1985 zeigte sich D. verinnerlichter. In dieser Phase wandte er sich bes. der linken Romantik Brassens zu u. nahm ein Album mit Coverversionen seiner Lieder auf (Junge Paare auf Bänken. 1986). Der Expressionismus der Anfangsphase kehrte zurück u. mischte sich mit wehmütig-trotzigen Eindrücken des gesellschaftl. Wandels. Ein zentraler Topos hierbei ist die Dialektik der system. Identität u. phänomenologisch permanenten Veränderung kapitalist. Klassengesellschaften u. die

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Lust u. das Leiden am permanenten dialekt. Wandel des Bestehenden (Heimweh-Blues, Brunnen-Rondo). Weitere Topoi bilden nun die gesamtgesellschaftl. Entpolitisierung (Wie weiter?) u. polit. Rechtswende (z.B. Herbstlied, Die Lehrerin, Da sitzt sie nun, Auf der Heide), der neue Nationalismus u. Rassismus der 1980er u. frühen 1990er Jahre (Deutscher zu sein, Danse Allemande, An der Haltestelle), die »Remilitarisierung« der dt. Außenpolitik u. die Auslandseinsätze der Bundeswehr (Eigentlich unglaublich, Nachhilfestunde, So sind die Zeiten), der postmodern-iron. Relativismus, Nihilismus u. Autoritarismus (Warum denn auch nicht, vgl. das spätere Cafe nach dem Fall) u. der Appell an die u. die Zelebrierung der Standhaftigkeit des Kommunisten auch nach dem Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus. Die Hoffnung ruht auf der »Urenkelgeneration«, die es gemäß des Geyer-Lieds »besser ausfechten wird« (Botschaft an eine Enkelin, So weit so gut, Später, Am Fluß). Eine konkrete Reflektion der histor. Fehler u. spezif. Bedingungen für einen neuen »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« findet nur am Rande statt (Am Grab sowie z.T. in Ich ging im letzten Mai). Die neue soziale Frage in Deutschland u. Osteuropa reflektiert D. seit Ende der 1990er Jahre (So what, Go East). Eine gewachsene Bedeutung erlangte in dieser Phase der erzählende Sprechgesang, häufig in Begleitung einer seit den 1960er Jahren verwendeten Akkordzerlegung. Auch die Verarbeitung der Minnegesang-, Bänkelgesang- u. historischpolit. Liedtradition gewinnt an Bedeutung. D.s Romane sind Appelle an die Solidarität der »Linksdenker«, geschrieben aus autobiogr. Perspektive. Die Titelfiguren sind häufig Liedermacher oder Rechtsanwälte. Die Romane sollen die Möglichkeit zeigen, »von unten« einzugreifen, die geforderte Anpassung zu verweigern. Der teilautobiogr. Bestseller-Roman Zündschnüre (Hbg. 1973 u. ö. Zuletzt Bln. 1996. Fernsehverfilmung v. Reinhard Hauff. BRD 1974) stellt proletar. Jugendliche dar, die sich 1944/45 einer antifaschist. Widerstandsgruppe anschließen. Brandstellen (Mchn. 1975 u. ö. Zuletzt Bln. 1997. Fernsehverfilmung v. Horst E. Brandt, DDR 1977) beschreibt den vergebl. Kampf einer Bürgerinitiative gegen einen NATO-

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Truppenübungsplatz im Emsland. Petroleum und Robbenöl oder wie Mayak der Eskimo kam und mein verrückter Vater wieder gesund wurde (Mchn. 1976. 1991) ist D.s einzige Kindergeschichte, die später auch als Hörbuch veröffentlicht wurde. Die Mißhandlung oder Der freihändige Gang über das Geländer der S-Bahn-Brücke (Mchn. 1979 u. ö. Zuletzt Bln. 1997) zeigt den Bewusstseinswandel eines Staatsanwalts, der einen Fall von Kindesmisshandlung zu bearbeiten hat. Der Liedermacher (Mchn. 1982. Reinb. 1985. Bln. 1998) schildert die Geschichte eines Musikers, der versucht, künstlerisch-polit. Anspruch u. wirtschaftl. Überleben in Einklang zu bringen. Die Abholzung (Mchn. 1985 u. ö. Zuletzt Bln. 1999), ein Kriminal- u. Science-Fiction-Roman, schildert die Geschichte eines Zeitreisenden, der in die 1980er Jahre zurückgekehrt u. an einem Protest der Umweltbewegung beteiligt wird. Der Mann aus Fallersleben. Die Lieben des August Heinrich Hoffmann (Mchn. 1991. Bln. 1996) ist eine aufwendig recherchierte Biografie des Autors des Deutschlandlieds. Für ewig und drei Tage (Bln. 1999. Hbg. 2003) ist eine zur Zeit des Zusammenbruchs des Realsozialismus spielende Familiensaga, in der die Geschichte des Kurzen Zwanzigsten Jahrhunderts anhand einer Familie der herrschenden Klasse nachempfunden wird. Die Kritik bestätigte D. erzähler. Begabung u. sensible Beobachtungsgabe insbes. für sich andeutende histor. Umbrüche u. kritisierte z.T. seine Handhabung der Episodentechnik. Weitere Werke: Spiel nicht mit den Schmuddelkindern. Liederbuch mit Illustrationen v. Horst Janssen. Hbg. 1967. – Da habt ihr es! Stücke u. Lieder für ein dt. Quartett (zus. mit W. Neuss, H.-D. Hüsch u. D. Süverkrüp). Hbg. 1968. – Im Jahr der Schweine. 27 neue Lieder mit Noten. Hbg. 1970. – Laßt nicht die roten Hähne flattern ehe der Habicht schreit. Lieder mit Noten. Mchn. 1974. – Kommt an den Tisch unter Pflaumenbäumen. Alle Lieder v. F. J. D. (mit Noten). Zeichnungen v. Gertrude Degenhardt. Mchn. 1979. – Reiter wieder an der schwarzen Mauer. 53 Lieder mit Notierungen. Mchn. 1987. – Die Lieder. Bln. 2006. Literatur: Leo Kofler: Gibt es heute noch Kunst? 1973. In: Ders.: Avantgardismus als Entfremdung. Ästhetik u. Ideologiekritik. Ffm. 1987, S. 17–28. – Karl Riha: Moritat, Bänkelsong, Protestballade. Zur Gesch. des engagierten Liedes in

577 Dtschld. Ffm. 1975. – Peter Werres: Die Liedermacher Biermann u. D. Eine Zwischenbilanz 1960–76. Diss. Washington D. C. 1977. – Ulla Hahn: Lit. in der Aktion. Zur Entwicklung operativer Literaturformen in der Bundesrepublik. Wiesb. 1978. – Thomas Rothschild: F. J. D. In: Ders.: Liedermacher. 29 Porträts. Ffm. 1980, S. 54–63. – Matthias Altenburg (Hg.): Fremde Mütter, fremde Väter, fremdes Land. Gespräche mit F. J. D. Hbg. 1985. – Oliver Tolmein: Wiedergutmachung der 68er. Interview mit F. J. D. In: konkret 9 (1990), S. 54. – Tagesztg. Junge Welt, 2./ 3.12.2006, Sonderausg. zum 75. Geburtstag v. F. J. D. – Ingar Solty: Der Chronist der Schmuddelkinder. F. J. D. zum 75. Geburtstag. In: Das Argument 268,5 (2006), S. 448–451. Ingar Solty

Dehio, Ludwig, * 25.8.1888 Königsberg, † 24.11.1963 Marburg. – Historiker.

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Katholizismus. Nach 1945 trat er für eine von den USA geführte »One World« ein. Sein Briefwechsel mit Friedrich Meinecke u. seine der Familientradition entspringende Liebe zu Kunst u. Kultur weisen den als Außenseiter der Historikerzunft geltenden D. als einen hochgebildeten, nüchternen u. verantwortungsbewussten Repräsentanten des Bürgertums aus. Weitere Werke: Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengesch. Krefeld 1948. 31974. Darmst. 1996. – Dtschld. u. die Weltpolitk im 20. Jh. Mchn. 1955. – Friedrich Wilhelm IV. v. Preußen, ein Baukünstler der Romantik. Mchn. 1961. Bln. 2001. – Aufsätze: Um den Militarismus. In: HZ 180 (1956), S. 43–64. – Herausgeber: Friedrich Meinecke: Ausgew. Briefw. ( = Werke. Bd. 6). Stgt. 1962. Literatur: Walther Kienast: Nekrolog. In: HZ 198 (1964), S. 263 f. – Theodor Schieder: L. D. zum Gedächtnis 1888–1963. In: HZ 201 (1965), S. 1–12. – Volker R. Berghahn: L. D. In: Dt. Historiker. Hg. Hans-Ulrich Wehler. Bd. 4, Gött. 1972, S. 97–116.

Der Sohn des Kunsthistorikers Georg Dehio u. Enkel des klass. Philologen Ludwig Friedländer trat nach dem Studium der Geschichte, der Promotion bei Harry Breßlau u. Einsatz im Ersten Weltkrieg in den preuß. ArMichael Behnen chivdienst ein. 1945–1954 war D. Direktor des Staatsarchivs in Marburg u. HonorarproDehmel, Paula, geb. Oppenheimer, fessor für Neuere Geschichte an der dortigen * 31.10.1862 Berlin, † 9.7.1918 Berlin. – Universität. 1949 wurde er Herausgeber der Kinderbuchautorin. »Historischen Zeitschrift« (1950–56 zus. mit Walther Kienast). D. war die Tochter eines Predigers der BerliD.s fachwiss. Veröffentlichungen u. sein ner jüd. Reformgemeinde. 1889–1898 war sie histor. Denken kreisten um das Problem der mit Richard Dehmel verheiratet; auch nach polit. Hegemonie in der neueren Geschichte. der Scheidung arbeiteten beide literarisch Ohne sozialwiss. Erklärungsmodelle heran- eng zusammen mit dem Ziel, Bücher für zuziehen u. mit Hilfe einer metaphernrei- Kinder zu schaffen, die deren Welterleben chen u. häufig schillernden Terminologie gerecht werden, aber auch künstler. Ansprügelangte D. zu einer prononcierten Kritik an chen genügen. Schon in ihren gemeinsam der seine Generation weitgehend prägenden verfassten Kindergedichten u. d. T. Fitzebutze nationalkonservativen Geschichtsauffassung. (Bln./Lpz. 1900) wurde der Versuch unterD. geriet in einen heftigen Konflikt mit Ger- nommen, die Reden des Kindes an den hard Ritter, dessen Wort von der »militaris- Hampelmann Fitzebutze in eine Art poetitischen Staatsräson« er als ungeeignet für die sierter Kleinkindersprache zu fassen. Die Idee Erklärung der preußisch-dt. Geschichte seit einer Dichtung aus der Blickwarte des Kindem 18. Jh. zurückwies. Stattdessen unter- des, wie sie auch die Jugendschriftenbewestrich D. die Dynamik u. Kontinuität der gung vertrat, hat D. in eigenen GedichtbänHegemonialpolitik seit Friedrich dem Gro- den weiterverfolgt, so etwa in Rumpumpel (mit ßen u. begegnete damit dem Vorwurf Ritters, Illustrationen v. Karl Hofer. Köln 1903. er betreibe eine »Selbstverdunklung der Neudr. Bln. 1978), aber auch in Märchen, deutschen Geschichte«. Geschichten u. Spielen wie Das grüne Haus Pessimistisch gestimmt, suchte D. ange- (Köln 1907), Das Märchenbüchlein (Großborstel sichts des Zweiten Weltkriegs neuen Halt im 1911). 1915–1917 war D. Herausgeberin von

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»Meidingers Kinderkalender«, zu dem neben bekannten zeitgenöss. Autoren auch sie selbst Beiträge beisteuerte. Weitere Werke: Auf der bunten Wiese. Lpz. 1912. Neudr. Ffm. 1988 (Kindergedichte). – Giggag! Schnick-Schnack! (zus. mit Lina Sommer). Lpz. 1917 (Kindergedichte). – Das liebe Nest, Ges. Kindergedichte. Mit Zeichnungen v. Hans Thoma. Hg. Richard Dehmel. Lpz. 1919. – Singinens Gesch.n. Hg. ders. Lpz. 1921 (Märchen). Literatur: Marie Luise Linn: P. D. In: LKJL. – Roland Stark (Hg.): ›Fitzebutze‹. 100 Jahre modernes Kinderbuch. Ausstellungskat. Marbach 18.6.-27.8.2000. Marbach 2000. – Roland Stark: Die Dehmels u. das Kinderbuch. Nordhausen 2004. Bettina Hurrelmann / Björn Spiekermann

Dehmel, Richard (Fedor Leopold), * 18.11. 1863 Wendisch-Hermsdorf/Mark Brandenburg, † 8.2.1920 Hamburg-Blankenese; Grabstätte: ebd., Dehmelhaus. – Lyriker. Der Sohn eines Försters besuchte zunächst ein Berliner Gymnasium, das er wegen Mitgliedschaft in einem darwinist. Verein verlassen musste, u. beendete seine Schulzeit in Danzig. 1882 zog er nach Berlin, wo er Philosophie, Naturwissenschaften (u. a. bei Helmholtz) u. Nationalökonomie studierte u. in den literar. Klubs der frühen Berliner Moderne um die Brüder Hart verkehrte. Wegen der geplanten Heirat mit Paula Oppenheimer schloss er das Studium 1887 überstürzt mit einer Promotion in Nationalökonomie ab, um eine Stelle als Sekretär beim Verband privater dt. Feuerversicherungen annehmen zu können. In diesen Jahren entstanden zahlreiche Liebesgedichte, die, wie er später gestand, noch ganz »unter der Nachwirkung klassischer Lektüre« standen. Die meisten von ihnen nahm er in den ersten Gedichtband Erlösungen. Eine Seelenwandlung in Gedichten und Sprüchen (Stgt. 1891) auf, der außerdem Natur-, Ideen-, spruchhaft didaktische u. soziale Lyrik enthält. Die Anordnung der Gedichte spiegelt den Weg des Individuums vom jugendl. Ungestüm über die Liebe bis zur gereiften Persönlichkeit. Das gleiche Aufstiegs- u. Läuterungsmodell bestimmt auch den Zyklus Die Verwandlungen der Venus, der das Kernstück des zweiten Ge-

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dichtbands Aber die Liebe. Ein Ehemanns- und Menschenbuch (Mchn. 1893) bildet. Stilistisch macht sich dort der Einfluss Liliencrons geltend, zu dem sich eine enge Freundschaft entwickelte. Thematisch überwiegt wie in den folgenden Gedichtbänden die Liebeslyrik. D. verarbeitete hier die quälende Liebe zur Lyrikerin Hedwig Lachmann u. die damit verbundenen ehel. Konflikte. In der atmosphärisch dichten Darstellung der Beziehungskrise löste sich D. von der lyr. Tradition u. ging neue Wege. Auf eine persönl. Krise u. längere Reise, u. a. nach Italien, folgte eine künstler. Neubesinnung, die in einem Tagebuch (1893/94, in: Bekenntnisse. Bln. 1926) dokumentiert ist. Durch Mitwirkung an der Gründung der Zeitschrift »Pan« (mit Meier-Graefe, von Bodenhausen u. Bierbaum) nahm D. Einfluss auf die Entstehung des dt. Jugendstils. Er schloss Bekanntschaft mit dem Künstler Max Klinger u. widmete ihm den 1895 erschienenen Gedichtband Lebensblätter (Bln.), in dem er zu seinem eigenen lyr. Ton fand. Neben Liebes-, sozialer u. satir. Lyrik enthält der Band erstmals eine Reihe von Kindergedichten. In der programmat. Vorrede sowie in dem gleichzeitig publizierten Bericht von der Berliner Kunstaustellung (in: Pan 2, S. 110–117) verbindet D. frühere Überlegungen mit Impulsen von Jugendstil u. Lebensreformbewegung. Laut D. soll die Kunst Fortschritt u. Glück der Menschheit herbeiführen, indem sie die naturgesetzl. Höherentwicklung in kulturelle Bahnen lenkt. Für die unteren Schichten sollen Kunsthandwerk (»Bedarfskunst«), Kleidungsreform u. künstler. Wohnraumgestaltung als Hinführung zur hohen Kunst dienen. Mit der Formel »Kunst fürs Leben« bezog D. entschieden Position gegen die Kunstauffassung des Ästhetizismus. Seinen Beitrag als Lyriker sah er darin, seine Leser über das Wirken der inneren Triebkräfte aufzuklären. Für ihn bestand der Weg zu ethischer Vollkommenheit u. Glück nicht in einer Vorherrschaft von Geist oder Trieb, sondern in der Akzeptanz ihres ewigen Zwiespalts. So erklärt sich die Dominanz der erot. Thematik in D.s Lyrik, die nicht einseitig vitalistisch verstanden werden darf.

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Dass diese Botschaft in der wilhelmin. Öffentlichkeit auf Unverständnis stieß, beweist der Gerichtsprozess um den folgenden Gedichtband Weib und Welt (Bln. 1896) wegen Gotteslästerung u. Vergehens wider die Sittlichkeit. Auch in diesem Gedichtband, der ihm das Ansehen des führenden dt. Lyrikers sicherte, verarbeitete D. biogr. Erlebnisse, nämlich die Bekanntschaft mit Ida Auerbach, die zu einer erneuten Ehekrise u. schließlich zur Trennung von Paula führte. Es folgten längere Reisen mit Ida u. ausgedehnte Aufenthalte außerhalb Berlins, u. a. in Heidelberg, wo D. Alfred Mombert kennenlernte u. Kontakte zur Darmstädter Künstlerkolonie knüpfte. Neben einer zweiten, völlig veränderten Auflage der Erlösungen (ersch. Bln. 1898) arbeitete D. in diesen Jahren an seinem Hauptwerk, dem »Roman in Romanzen« Zwei Menschen (ersch. Bln. 1903). Mit kaum verhohlener Bezugnahme auf D.s Biografie schildert das Epos die zunächst illegitime Liebe zweier Menschen, ihre Prüfung durch schwere Schicksalsschläge u. schließlich ihr Einmünden in das »Weltglück«. Ähnlich wie in den Gedichtbänden wird ein episches Handlungsgerüst punktuell mit situativ angelegten Gedichten besetzt. D. glaubte damit die epische Form der Moderne gefunden zu haben. Die Trivialität vieler Handlungselemente kann durch die aufwendige formale Behandlung nicht aufgewogen werden, eher entsteht der Eindruck unfreiwilliger Komik. In der starken Stilisierung zeigt sich der Einfluss des künstler. Jugendstils, mit dessen bedeutendem Vertreter Peter Behrens D. in Darmstadt bekannt geworden war u. mit dem er Pläne zu einer Theaterreform entwarf. Nach der Veröffentlichung der Zwei Menschen widmete sich D., neben der Edition eines als Anti-Struwwelpeter gedachten Kinderbuchs (Der Buntscheck. Köln 1904), der Formulierung ästhetischer u. weltanschaul. Positionen in zahlreichen Essays, die überwiegend erst in der zehnbändigen Gesamtausgabe (Bln. 1906–09) erscheinen konnten. Die damit verbundene redaktionelle Arbeit, die direkt anschließende Edition von Werken u. Briefen des 1909 verstorbenen Liliencron sowie eine stets wachsende Flut von Briefen begeisterter oder Rat suchender Leser ließen

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kaum Zeit für die dichter. Produktion. Erst 1911 erschien die Komödie Michel Michael (Bln.), 1913 der Gedichtband Schöne wilde Welt (Bln.). Gleichwohl konnte sich D. an seinem fünfzigsten Geburtstag als »größter deutscher Dichter« (Wedekind) feiern lassen. Er korrespondierte mit den literarischen u. künstler. Größen der Zeit, zgl. verfolgte er mit großem Interesse die Entwicklung junger Talente u. wurde zum Förderer für Mitglieder der expressionist. Generation (u. a. Lasker-Schüler, Becher, Brod, Engelke, Winkler u. Zech). Wie viele Intellektuelle u. Künstler empfand D. den Ausbruch des Ersten Weltkriegs als reinigendes Gewitter u. als Chance zu einer ethischen u. kulturellen Neubesinnung. Er meldete sich als Freiwilliger, veröffentlichte Kriegsgedichte u. patriot. Aufrufe. Seine Erfahrungen an der Front hat er in einem Kriegstagebuch festgehalten, das 1919 mit anderen Kriegsschriften in dem Band Zwischen Volk und Menschheit im Druck erschien. 1920 starb er an den Folgen einer Venenentzündung, die er sich im Schützengraben zugezogen hatte. Nach seinem Tod verblasste sein Ruhm rasch, seine Werke sind heute weitgehend vergessen. Trotz seiner hohen kulturgeschichtl. Signifikanz ist sein Werk bislang kaum untersucht, die überaus umfangreiche Korrespondenz nicht annähernd ausgewertet worden. Weitere Werke: Der Mitmensch. Bln. 1895 (D.) – Lucifer. Ein Tanz- u. Glanzspiel. Bln. 1899. – Paula u. R. D.: Fitzebutze. Allerhand Schnickschnack für Kinder. Lpz. 1900. – Fitzebutze. Traumspiel in fünf Aufzügen. In Musik gesetzt v. Hermann Zilcher. Bln. 1907. – Betrachtungen über Kunst, Gott u. die Welt. Bln. 1909. – Schöne, wilde Welt. Bln. 1913 (L.). – Die Menschenfreunde. Bln. 1917 (D.) – Die Götterfamilie. Kosmopolit. Komödie. Bln. 1921. Ausgaben: Ges. Werke. 10 Bde., Bln. 1906–09. – Ges. Werke. 3 Bde., Bln. 1913. – Ausgew. Briefe. 2 Bde., Bln. 1922. – Dichtungen. Briefe. Dokumente. Hg. Paul Johannes Schindler. Hbg. 1963. – Gedichte. Ausgew., komm. u. mit einem Nachw. vers. v. Jürgen Viering, Stgt. 1990. Literatur: Julius Bab: R. D. Die Gesch. eines Lebenswerks. Lpz. 1926. – Harry Slochower: R. D. Der Mensch u. der Denker. Dresden 1928. – Horst Fritz: Literar. Jugendstil u. Expressionismus. Zur

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Kunsttheorie, Dichtung u. Wirkung R. D.s. Stgt. 1969. – Kathryn O. Orth: R. D. A bibliographical study. Ann Arbor/Michigan 1980. – Jürgen Viering: Ein Arbeiterlied? Über R. D.s ›Der Arbeitsmann‹. In: Gedichte u. Interpr.en. Bd. 5. Hg. Harald Hartung. Stgt. 1983, S. 54–66. – Dorothea Gelbrich: R. D.s Gedichte für Kinder. In: WB 33 (1987), S. 104–119. – Sabine Henning u. a.: WRWlt – O Urakkord. Die Welten des R. D. Herzberg 1995. – Lars Kaschke: Aus dem Alltag des wilhelmin. Kulturbetriebs: Börries v. Münchhausens Angriffe auf R. D. In: Text u. Kontext 20 (1997), S. 35–57. – Björn Spiekermann: Literar. Lebensreform um 1900. Studien zum Frühwerk R. D.s. Würzb. 2007. Björn Spiekermann

Deichsel, Wolfgang, * 20.3.1939 Wiesbaden. – Theaterautor, Schauspieler, Regisseur. D. studierte Germanistik, Kunstgeschichte, Psychologie u. Theaterwissenschaft in Mainz, Wien u. Marburg. In Berlin hospitierte er bei Fritz Kortner u. arbeitete mit Curt Bois zusammen. Er verfasste Beiträge für Hörfunk u. Fernsehen, war Mitbegründer des Verlags der Autoren, 1970–1974 Kodirektor des Frankfurter Theaters am Turm, spielte u. inszenierte an mehreren Bühnen u. gehörte dem Ensemble des Frankfurter Schauspiels an. D. inszenierte regelmäßig bei den Burgfestspielen Bad Vilbel mit einem Ensemble um den Schauspieler Michael Quast. Er erhielt 1995 den Großen Preis der Frankfurter Autorenstiftung, 1997 den Binding-Kulturpreis. Er lebt in Oberursel bei Frankfurt u. in Oberwesel im Rheingau. In seinen Psychogrammen des kleinbürgerl. Alltags greift D. auf unterschiedl. Vorbilder zurück: Karl Valentin, Bertolt Brecht, die Schwarze Romantik u. die Fernsehserie über die kleinbürgerl. Familie Hesselbach. Der »hessische Molière« verarbeitet literar. Vorlagen (Molière, Labiche, Dryden), Mythen (König Midas), auch trivialer Art (Frankenstein), u. Science-Fiction-Stoffe. Seine Stücke sind meist in hessischem Dialekt geschrieben. In der Kontrastierung mit dem Hochdeutschen hat der Dialekt enthüllende Funktion: Er soll die Lebenshaltung der Figuren charakterisieren, deren Welt aus den Fugen gerät, sobald das Unerwartete u. Verdrängte in

ihren geordneten Alltag einbricht. Seine Frankenstein-Stücke (beginnend mit Frankenstein, 1969, bis hin zu Rott, 1999) handeln vom geklonten, ferngesteuerten Menschen u. dem alltägl. Wahnsinn einer von Interessengruppen manipulierten Welt. Erfüllen sich die (Allmachts-)Wünsche der Protagonisten, so verkehrt sich vermeintl. Glück in Unheil (Midas. Urauff. 1987). Das Leben wird zur ewigen Strafe u. tragikom. Katastrophe, gegen die sich die Figuren auf aberwitzige Weise wehren. Arrangements von Minidramen zu Szenenfolgen, denen eine nichtfinale Dramaturgie zugrunde liegt, sind für den Stückeschreiber D. charakteristisch. Die Inszenierungen seiner Stücke stehen vor der Schwierigkeit, das Intellektuell-Aufklärerische u. das Obskure mit dem Komischen zu verbinden; wobei das, was D. kritisch geißelt, Konsumterror u. (Gen-)Manipulation etwa, längst Wirklichkeit geworden ist. Mit seinen Molière-Bearbeitungen hat D. nach wie vor Erfolg beim Publikum. Weitere Werke: Agent Bernd Etzel. Der Simulant u. Der falsche Sohn. In: Dt. Theater der Gegenwart. Hg. Karlheinz Braun. Bd. 2, Ffm. 1967, S. 131–199. Urauff. 1968, Dt. Theater Göttingen. – Frankenstein. Aus dem Leben der Angestellten. Urauff. der ersten Fassung 1969, Schauspielhaus Zürich. Bln. 1972. – Bleiwe losse. Urauff. 1971, Landestheater Darmstadt. In: Theater heute H. 12 (1971), S. 45–51. – Es muss mehr Unterhaltung in das westdt. Theater. In: Spielplatz 1. Hg. K. Braun u. Klaus Völker. Bln. 1972 (Ess.s). – Der Tartüff. Nach Molière bearb. u. ins Hess. übertragen. Urauff. 1972, Theater am Turm Frankfurt/M. – Der Menschenfeind. Nach Molière bearb. u. ins Hess. übertragen. Urauff. 1972, Landestheater Darmstadt. – Die Zelle des Schreckens. Urauff. 1974, Theater am Turm, Frankfurt/M. – Loch im Kopf. Urauff. 1976, Wilhelmsbad. Ffm. 1981. – Gespräch über Lenz. Ein Konflikt auf der Höhe der Zeit darf in einem Stück nicht lösbar sein. In: Theaterbuch 1. Hg. Horst Laube u. Brigitte Landes. Mchn. 1978 (Ess.) – Zappzarapp. Die Panik des Clowns hinterm Vorhang. Urauff. 1982, Bayer. Staatsschauspiel München. Bln. 1984. – Midas. Nachtstücke, Urauff. 1987, Schauspiel Frankfurt/M. – Geisterfahrer. In: Mini-Dramen. Hg. K. Braun. Ffm. 1987. – Werkausg. Bd. 1: Etzel, Ffm. 1988. – Werkausg. Bd. 2: Der hess. Molière, Ffm. 1989. – Werkausg. Bd. 3: Frankenstein I, Aus dem Leben der Angestellten.

581 Ffm. 1993. – Otto Nikolai: Die lustigen Weiber v. Windsor. Neufassung des Libr. Urauff. 1993, Staatstheater Darmstadt. – Werkausg. Bd. 4: Frankenstein II. Die Zelle des Schreckens. Ffm. 1994. – Günter Steinke: Die Welt auf dem Mond. Neufassung des Libr. Urauff. 1995, Staatstheater Stuttgart. – Henry Purcell: König Arthur. Neufassung des Libr. Urauff. 1996, Staatstheater Stuttgart. – Werkausg. Bd. 6: Komiker, Ffm. 1997. – Werkausg. Bd. 5: Loch im Kopf, Ffm. 1998. – Rott. Das Monster im Verhör. Urauff. 1999, Hamburger Kammerspiele/Weimar 1999. 3 SAT innerhalb des Festivals Frankenstein. – Der eingebildete Kranke. Nach Molière u. ins Hessische übertragen Urauff. 2001, Burgfestspiele Bad Vilbel. Literatur: Thomas Kraft: W. D. In: LGL. – Michael Töteberg: W. D. In: KLG. Hendrik Markgraf

Deichsler, Heinrich, * 1430, † 1506/07 Nürnberg. – Verfasser einer Nürnberger Stadtchronik. Von Beruf Bierbrauer, gehörte D. mit einem Vermögen von knapp 1000 Gulden zur oberen Mittelschicht seiner Heimatstadt, in der er seit 1486 das Amt des städt. Bettelvogts bekleidete. Als historiografischer Autodidakt begann D. aus eigenem Antrieb in den früheren 1460er Jahren mit der Sammlung von stadtgeschichtl. Manuskripten, die in der Nürnberger Bürgerschaft kursierten. Seit etwa 1470 bis kurz vor seinem Tod im Jahre 1506 setzte D. diesen Materialgrundstock mit der Aufzeichnung von selbst Gehörtem u. Gesehenem sukzessive fort. Parallel dazu nahm er aber auch weiterhin schriftlich überlieferte Notizenreihen zur Stadtgeschichte, Exzerpte aus z.T. gedruckten Weltu. Regionalchroniken sowie gelegentlich auch Urkunden, Schriftverkehr u. Flugblätter in seine Sammlung auf. So entstand schließlich eine mehrere Redaktionen umfassende stadtgeschichtl. Materialsammlung mit mehr als 2400 Seiten, die damit zu den umfangreichsten in der Hand eines städt. Bürgers im 15. Jh. gehört haben dürfte. Kennzeichnend für den autodidaktisch arbeitenden Historiografen war die strenge Orientierung am annalist. Prinzip, also an der chronologisch richtigen Verortung einer jeden Nachricht. Zur thematisch zusammenhängenden Darstellung oder gar zu analyt.

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Schlussfolgerungen drang D. dagegen nicht vor. Hervorzuheben ist vielmehr der kontinuierliche u. dichte Aufzeichnungsrhythmus über mehr als 30 Jahre hin. Indem D. außergewöhnliche oder sensationelle Ereignisse festhielt, entstand ein dichtes Bild des öffentl. Lebens der bedeutenden Reichsstadt, mit Nachrichten über Fehden u. Gewalt v. a. im näheren Umland, über städt. Baumaßnahmen, Wetterereignisse, Unfälle, Verbrechen u. das Walten der Strafjustiz, Prozessionen, Feste u. Besuche hoher Gäste. Als Person tritt D. dabei im Allgemeinen zurück. Doch erwähnt er einige für ihn u. seine Stellung in der Stadt zentralen Punkte wie die Hochzeit seiner Tochter mit einem städt. Kanzleischreiber u. die Übernahme seines städt. Amtes. Vor allem gegen Ende des Textes streute er vermehrt redensartl. Kommentare in seine Schilderungen ein, was mit einer zunehmend anekdotenhaften Berichtsweise einhergeht. Das besondere Hervortreten von Nachrichten über Verbrechen u. die Art u. Weise ihrer Ahndung (Prügelstrafen, Pranger, Hinrichtungen etc.) durch die Nürnberger Strafjustiz hängt einmal mit D.s eigener obrigkeitlich-überwachenden Funktion, aber auch mit der großen Bedeutung der Strafjustiz im öffentl. Leben der Städte jener Zeit zusammen. Kurz nach dem Tode D.s erwarb der Rat die Chronik für die städt. Bibliothek, wodurch sie einer stärkeren Breitenwirkung entzogen wurde. Noch war eine solch intensive, aus eigenem Antrieb hervorgehende historiograf. Produktion im Bürgertum ein besonderer Fall, der dem Rat auch nicht verborgen geblieben war. Erst nach der Reformation sollte die Verbreitung stadtgeschichtlicher Manuskripte ein Massenphänomen in Nürnberg werden. Ausgabe (nur ab 1470 weitgehend vollständig): Jbb. des 15. Jh. (mit Chronik v. H. D. bis 1487). H. D.’s Chronik (Forts.) 1488–1506. Bearb. Theodor v. Kern. In: Die Chroniken der fränk. Städte. Hg. Karl Hegel. Nürnb. Bd. 4, 5. Lpz. 1872/74 (Neudr. Gött. 1961), S. 118–386 (Bd. 4), 545–706 (Bd. 5). Literatur: Helgard Ulmschneider: H. D. In: VL. – Joachim Schneider: H. D. u. die Nürnberger Chronistik des 15. Jh. Wiesb. 1991. – Ders.: Typologie der Nürnberger Stadtchronistik um 1500.

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Deinert, Wilhelm, * 29.3.1933 Oldenburg. – Lyriker, Essayist, Verfasser von Kurzprosa u. Erfinder von »Sprachspielen«; Übersetzer aus acht Sprachen, u. a. dem Joachim Schneider Sanskrit.

Gegenwart u. Gesch. in einer spätmittelalterl. Stadt. In: Städt. Geschichtsschreibung im SpätMA u. in der Frühen Neuzeit. Hg. Peter Johanek. Köln/ Weimar/Wien 2000, S. 181–203.

Deicke, Günther, * 21.10.1922 Hildburghausen/Thüringen, † 14.6.2006 Marienbad/Tschechien; Grabstätte: Berlin, Friedhof Pankow III. – Lyriker, Librettist u. Herausgeber. Nach dem Kriegsdienst war D. 1951/52 Lektor im Aufbau-Verlag, arbeitete dann als Redakteur bei der »Neuen Deutschen Literatur«, dem Organ des Schriftstellerverbands der DDR, u. wurde anschließend Lektor im Verlag der Nation; ab 1970 lebte er als freier Schriftsteller. In D.s Lyrik ist das Bekenntnis zum sozialist. Staat u. zum sozialist. Realismus nicht zu überhören. Anfangs mit bekennendem Pathos, später eher episch-erzählend, überschreiten seine Gedichte die Möglichkeiten traditioneller Muster nur selten. Auch D.s Libretti suchen die »Selbstverwirklichung des Menschen in unserer Gesellschaft im Text konkret u. singbar werden« zu lassen (Deicke). D. gab außerdem Anthologien heraus – so gemeinsam mit Uwe Berger den prominenten Band Lyrik der DDR (Bln./Weimar 1970. 41976) – sowie Werke von Gryphius, Storm, Grimmelshausen, Pasternak u. Johannes R. Becher. Weitere Werke: Traum vom glückl. Jahr. Bln./ DDR 1959 (L.). – Du u. Dein Land u. die Liebe. Bln./ DDR 1960 (L. u. Tagebuchbl.). – Die Wolken. Bln./ DDR 1965 (L.). – Was ihr wollt. (Musik v. K. Fehmel). Urauff. Bln./DDR 1963 (Musical). – Ortsbestimmung. Bln./DDR 1972 (L.). – Reiter der Nacht. (Musik v. Ernst Hermann Meyer). Urauff. Bln./DDR 1973 (Oper). – Die Flamme v. Mansfeld. (Musik v. Fritz Geißler) Urauff. Halle 1979 (Oratorium). Literatur: Klaus Schuhmann: Hans Magnus Enzensberger u. seine Kritiker. Peter Hacks, G. D., Jens Gerlach u. Volker Braun. In: Ders.: Ich bin der Braun, den ihr kritisiert... Lpz. 2004, S. 188–204. Sylvia Adrian / Red.

D. wuchs in der ländl. Gegend zwischen Weser u. Ems auf. Er studierte klass. Philologie, Germanistik u. Kunstgeschichte in Münster, München u. Freiburg i. Br. bis zu einer Promotion über den Parzival Wolframs von Eschenbach. 1958–1963 war er Lehrbeauftragter für Germanistik an der Universität München. Seitdem lebt er als freier Schriftsteller. Schon an D.s lyr. Anfängen – in Triadische Wechsel. Zyklus tonalis u. Gedrittschein in Oden (Mchn. 1963 u. 1964) – zeigen sich Charakteristika seines Œuvres: ein gesteigertes Bewusstsein für die Ausdruckspotentiale von Lyrik sowohl in der Lautlichkeit (Melos u. Metrum) als auch durch typograf. Normabweichungen sowie eine Hinwendung zu zykl. Formen. D. erkundet zunächst »Tonarten« lyr. Sprechens, die Mechanismen syntaktischer Verknüpfung u. Möglichkeiten der Bedeutungsstiftung über das Zeichenmaterial in der Art konkreter Poesie. Aus dieser experimentellen Phase gehen auch seine Sprachspiele hervor – Tausendzüngler (Mchn. 1970), Bricklebrit. Ein Lügenmärchenspiel oder Gnomenstaffel (beide Mchn. 1979) –, die auf einer semantischen u. syntakt. Kombinatorik fantasievoll vor-gefügter Textbausteine beruhen. Mit Missa Mundana (Mchn. 1972) wendet sich D. lyr. Großarchitekturen zu. In Anlehnung an die antike Idee der »musica mundana«, die Weltenmusik, u. formal an musikal. Formen orientiert (Sonate, Terzett, Doppelkonzert), stellt dieses Werk individuelle Gegebenheiten gesellschaftlichen u. naturgesetzl. Ordnungen gegenüber. Mauerschau. Ein Durchgang (Mchn. 1982) schließt mit der Liturgie entlehnten Titeln (Vigil, Matutin etc.) an die Missa an u. entwirft in Form eines lyr. Dialogs eine epische Handlung: Beschrieben wird der Tages-Kreis eines Pendlers (»der Ich«), der – begleitet von seinem iron. Widerpart (»der Lotse«) – von der Peripherie ins Stadtzentrum zu einem »Mauerbesuch« aufbricht. Diese Reise wird ihm zu einer Initiation in den

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Deinert

Facettenreichtum menschl. Erlebens in aus prismatischen vieldeutigen u. eigenstänGroßstadt wie Natur u. führt ihn nach der digen lyr. Momenten erwächst.) Stilistisch Grenzerfahrung eines Blickes ins Totenreich reicht sein Ausdrucksspektrum von müheloan seinen Ausgangspunkt zurück. Einen Stil ser oder satir. Mimesis der Alltagssprache lyrischer u. z.T. surrealist. Prosa erschließt über prägnante Schilderungen von Natursich D. mit Über den First hinaus (Elster 1990); oder städt. Alltagsphänomenen bis hin zum die Erzählungen dieses Bandes spannen the- hohen Ton eines mystagog. Melos. Sein matisch einen Bogen von einem Drogen- breiter Wortschatz umfasst Archaismen, diaSelbstversuch bis zu einer »Unio mystica« lektale oder fach- u. fremdsprachl. Elemente mit der Erde. Vers u. Prosa verbindend, Hes- sowie viele Wortneuprägungen (»selbzwieses Idee des »Glasperlenspiels« sowie Nietz- gespräch«, »sanftmüdig«, »Spinnsel« etc.). sches Konzept einer »heroischen Idylle« auf- Für seine Lyrik kennzeichnend ist insbes. greifend, lässt D.s Silser Brunnenbuch, Ein En- eine Dynamik, die sich maßgeblich aus Vergadiner Glasperlenspiel und lyrischer Umgang ben mit oft ungebräuchl. Präfixen sowie (Chur 1998), ausgehend von einer rätoroman. suggestiven Bewegungsadverbialen speist Brunneninschrift, in einer spiralförmigen (»es hügelt sich auf«, »spiralt«, »aberpocht«, Gedankenbewegung ein gattungsübergrei- »bühnt sich hinauf«, »milchstrassenan«, fendes Inspirationsmodell entstehen, in dem »gang-ein«). die Natur sich der Kultur in all ihrer SchönLiteratur: Paul Konrad Kurz: Gott u. Welt im heit wie ihrer Gefährdung offenbart u. ein- Gedicht. ›Missa Mundana‹ (W. D.). In: Die Neuentdeckung des Poetischen. Ffm. 1975, S. 147–150. verwandelt. D.s autobiografisch grundiertes neuestes – Ders.: Gang durch die Stadt. W. D., ›MauerEpos Das Buch vor Ort ist als Bildungs- bzw. schau‹. In: Zwischen Widerstand u. Wohlstand. Zur Entwicklungsroman eines Künstlers angelegt Lit. der fru¨ hen 80er Jahre. Ffm. 1986. – Jürgen Küster: Gespräch mit W. D. In: Lit. in Bayern 1985/ u. folgt dessen Werdegang von der Geburt bis 2, S. 21–24. – Ingeborg Reichert: ›Mauerschau‹. In: zum Tod. Der erste Teil, Sandelholz und Peter- Das Lächeln des Windes 1990, Sonderausg. zum 30. silie. Eine Umkehr (Ffm. 2002), schildert die März, S. 93–95. – Pia-Elisabeth Leuschner: UnanZeit von der Geburt des Protagonisten Velim fechtbare Ambivalenz. Poiesis der neuen Idylle in über dessen künstler. Lehrjahre, seine erste W. D.s ›Silser Brunnenbuch‹. In: Arcadia 39 (2004), Frauenbeziehung u. deren Scheitern bis zu S. 167–188. Pia-Elisabeth Leuschner einem phys. Zusammenbruch; ein wichtiges Thema ist dabei die Spannung zwischen Deinert, Wolf, * 9.1.1944 Greifswald. – westlichem u. östl. Denken. Im zweiten Teil, Erzähler, Hörspielautor u. Publizist. Almrausch und Schwerbeton. Eine Betrauung (unveröffentlicht), reift Velim zu menschlicher Nach seinem Abitur 1962 arbeitete D. als Mündigkeit u. Beziehungsfähigkeit heran u. Chemielaborant, Bauhilfsarbeiter u. Maurer. lernt, soziale Verantwortung zu überneh- 1968–1972 studierte er Architektur in Dresmen; D. greift hier viele brisante Probleme den, von 1964 an arbeitete er im Nachunserer gegenwärtigen Zivilisation auf wuchsverband des Schriftstellerverbands der (Ökologie; Machtmechanismen der Politik; DDR in Frankfurt/O. u. Dresden. Aus der Terrorismus; AIDS etc.). Haft wegen »versuchter Republikflucht« Entsprechend seinem lebenslangem em- wurde er 1975 freigekauft u. nach Westberlin phat. Bekenntnis zur Versform – als einem entlassen. der Prosa in emotionaler wie perzeptiver Die Deutschlandproblematik steht im Nuanciertheit überlegenen Medium – ent- Vordergrund seiner Erzählungen, die D. von steht D.s lyr. Sprache über z.T. äußerst 1979 an in Zeitungen u. Zeitschriften veröfkomplexe rhythm. Prinzipien, etwa spiegelt fentlichte. Sie beleuchten satirisch gesellDas Buch vor Ort die Entwicklung des Helden schaftl. Strukturen u. kleinbürgerl. Verhalten in den Versfußzahlen der einzelnen Kapitel. in Ost u. West. Auf positive Resonanz traf sein (Auch ist der Begriff »Epos« für seine Werke teilweise autobiogr. Roman um einen Überinsofern irreführend, als darin die Narration siedler (Meine Heimat. Jossa 1980. Überarbei-

Deinhardstein

tete Neuausg. Bln./West 1989). Rasches Erzähltempo, Schärfe der Beobachtungen u. Gespür für Tragisches wie für Komisch-Groteskes kennzeichnen dieses Buch, mit dem D. als einer der Ersten ein umfassendes, krit. Porträt der beiden dt. Staaten in den 1970er Jahren entwarf. Mit dem Ernst-Reuter-Preis als Hörspiel des Monats wurde Wallraff kommt (Urauff. 1984) ausgezeichnet. D.s DDR-Wallraff ist ein Anti-Held, der seine Aufklärerrolle einzig der Aufklärungswut der Staatssicherheitsorgane verdankt. Weitere Werke: Ein Auto, nur 500. In: Dissidenten? Hg. Andreas W. Mytze. In: europ. ideen 54/55 (1982), S. 58–63 (E.). – Die ost-westl. Metamorphose der Veronika M. Ein Protokoll. In: Geh doch rüber! Begegnungen v. Menschen aus Ost u. West. Ein Lesebuch. Hg. Per Ketmann. Darmst. 1986, S. 143–152. – Mutti, wie schreibt man Amerika... In: Rauriser Lesebuch 2. Hg. Erwin Gimmelsberger. Graz 1990, S. 36–65 (E.). – Hörspiele: Der Burschu. Urauff. 1986. – Die Flut. Urauff. 1987. – Das Weihnachtsmonster. Urauff. 1987. Literatur: D. In: Andrea Jäger: Schriftsteller aus der DDR. Ausbürgerungen u. Übersiedlungen v. 1961 bis 1989. Autorenlexikon. Ffm. 1995. Andrea Jäger

Deinhardstein, Johann Ludwig (Ferdinand), auch: Dr. Römer, * 21.6.1794 Wien, † 12.7.1859 Wien. – Bühnenschriftsteller. D. ist ein typischer Vertreter des altösterr. »Beamtenschriftstellertums« u. gilt wegen seiner Tätigkeit in allen Bereichen des literar. Lebens als anpassungsfähiger Kulturfunktionär des Metternich-Staates. Der Sohn eines Advokaten trat als studierter Jurist in den Staatsdienst ein. Seit 1811 wandte er sich als Lyriker in Almanachen u. Zeitschriften u. als Verfasser von Lustspieleinaktern an die Öffentlichkeit. Seine »geniale Keckheit« (Castelli über D.) machte den Bonvivant D. rasch zu einer tonangebenden Figur in den literar. Zirkeln der Hauptstadt. Von seiner berufl. Tätigkeit unbefriedigt, wechselte er ins Lehrfach; er übernahm 1827 den Lehrstuhl für Ästhetik an der Wiener Universität u. als Nachfolger von Lorenz Leopold Haschka die gleiche Professur an der Adelsakademie »Theresianum«. 1829 nahm er seine Tätig-

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keit als Zensor auf, die er zunächst nebenberuflich, nach seiner Direktionszeit am Burgtheater (1832–1841) dann als Regierungsrat an der Polizeihofstelle bis 1848 ausübte. 1829–1849 war D. verantwortlicher Redakteur der »Jahrbücher der Litteratur«, des unter der Aufsicht von Metternich u. Gentz stehenden repräsentativen österr. Wissenschaftsorgans. Unter seiner Leitung orientierte sich die Vierteljahresschrift vorwiegend nach den Geisteswissenschaften u. nahm, trotz der gelegentl. Mitarbeit von Goethe, Fouqué, den Brüdern Grimm, August Wilhelm Schlegel, Wilhelm von Humboldt u. a., ein restaurativ-»vaterländisches« Profil an. In der subalternen Position eines Vizedirektors am Burgtheater u. »Dramaturgen« trug D. mit diplomatischem Geschick den Wünschen der vorgesetzten Stellen u. des überwiegend adeligen Publikums Rechnung. Im Spielplan seiner Direktionsperiode dominierten Konversationslustspiele u. Intrigenstücke à la Kotzebue u. Scribe; Halm u. Bauernfeld mit ihren »Salonkomödien« wurden zu Hausautoren des Burgtheaters. D. selbst war ein routinierter Dramatiker. Seine Stücke pflegen gleichfalls den »guten Ton« im heiteren Genre, sein Stilideal ist die natürl. Eleganz. Die bedeutendsten Erfolge gelangen ihm mit seinen »Künstlerlustspielen« in bühnenwirksamer Mischung aus histor. Lokalkolorit u. sentimentaler Intrige (Boccaccio. Urauff. 1816. Erstdr. in: Dramatische Dichtungen. Wien 1816. Das Bild der Danae. Urauff. 1822. Lpz. 1823. Garrick in Bristol. Urauff. 1832. Wien 1834. Fürst und Dichter. Urauff. 1847. Lpz. 1851), insbes. mit seinem viel gespielten »dramatischen Gedicht« Hans Sachs (Urauff. 1827. Wien 1829), das von Goethe beifällig aufgenommen wurde, Lortzing zur Vorlage seiner gleichnamigen Oper diente u. als Quelle u. Vorläufer von Wagners Meistersingern gilt. Weitere Werke: Theater. 2 Bde., Wien 1827 u. 1833. – Skizzen einer Reise v. Wien über Prag [...]. Wien 1831. – Theater v. Dr. Römer. 3 Bde., Wien/ Lpz. 1837–41. – Gedichte. Bln. 1844. – Erzählungen u. Novellen. Pest 1846. – J. L. D. (Hg.): Dichtungen für Kunstredner. Wien/Triest 1815. Ausgabe: Ges. dramat. Werke. 7 Bde., Lpz. 1848–57.

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585 Literatur: Hans Landsberg: Ein vergessener Burgtheaterdirektor. In: Masken 5 (1910). – Silvester Lechner: Eine Ästhetik der Zensur. J. L. D. als Kritiker. In: Lit. in der sozialen Bewegung. Hg. Alberto Martino u. a. Tüb. 1977, S. 284–326. – Frank Shaw: Garrick in Bristol. In: Maske u. Kothurn 46 (2001), S. 93–104. Cornelia Fischer / Red.

Delbrück, Hans, * 11.11.1848 Bergen/Rügen, † 14.7.1929 Berlin. – Historiker u. politischer Publizist.

Erbe. Bln. 1915. – Gesch. der Kriegskunst im Rahmen der polit. Gesch. Tle. 1–4, Bln. 1900–20. – Ludendorffs Selbstporträt. Bln. 1922. – Weltgesch. 5 Bde., Bln. 1924–28. – Der Friede v. Versailles. Bln. 2 1930. – Der Nachl. H. D. Hg. Horst Wolf. Bln. 1980. Literatur: Emil Daniels u. a. (Hg.): Am Webstuhl der Zeit. Eine Erinnerungsgabe. Bln. 1928. – Anneliese Thimme: H. D. als Kritiker der Wilhelmin. Epoche. Düsseld. 1955. – Klaus Schwabe: Wiss. u. Kriegsmoral. Die dt. Hochschullehrer u. die polit. Grundfragen des Ersten Weltkrieges. Gött. 1969. – Andreas Hillgruber: H. D. In: Dt. Historiker. Hg. Hans-Ulrich Wehler. Bd. 4, Gött. 1972, S. 40–52. – Arden Buchholz: H. D. and the German Military Establishment. Iowa City 1985. – Sven Lange: H. D. u. der ›Strategiestreit‹. Freib. 1995. Michael Behnen / Red.

Der Sohn des späteren Appellationsgerichtsrats in Greifswald war nach der Promotion bei dem Historiker Heinrich von Sybel in Bonn nach Empfehlung seines Onkels, des Präsidenten des Reichskanzleramts Rudolf von Delbrück, 1874–1879 Erzieher des preuß. Prinzen Waldemar. D. war 1882–1885 freiDelius, Friedrich Christian, * 13.2.1943 konservativer, dann parteiloser Abgeordneter Rom. – Verfasser von Lyrik, Dokumentaim preuß. Abgeordnetenhaus, 1884–1890 im tionen, Erzählungen u. Romanen. Reichstag, u. wurde 1896 Nachfolger Heinrich von Treitschkes auf dem Lehrstuhl für D. wuchs in Wehrda/Hessen auf, 1963–70 Allgemeine u. Weltgeschichte an der Univer- Studium der Germanistik in Berlin, 1970 Promotion, Lektor im Wagenbach Verlag, ab sität Berlin. Als überzeugter Anhänger der konstitu- 1973 im Rotbuch Verlag. Seit 1978 lebt er als tionellen Monarchie kritisierte D. deren füh- freier Schriftsteller, zunächst in Nimwegen u. rende Parteien, die Konservativen u. Natio- Bielefeld, seit 1984 in Berlin. D. veröffentlichte 1965 seinen ersten Genalliberalen, verurteilte in seiner Publizistik die Ziele des Alldeutschen Verbands u. des dichtband Kerbholz (Bln. Neuausg. Reinb. Staatssekretärs des Reichsmarineamts Alfred 1983), mit meist kurzen, pointierten, oft revon Tirpitz. Nach Ende des Ersten Weltkriegs flektierten Gedichten gegen den restauratiwandte er sich sowohl gegen die Dolchstoß- ven Zeitgeist. In den folgenden Jahren wurde legende als auch gegen die Kriegsschuldlüge. der an Brecht geschulte aufklärerische u. apSeit 1883 Mitarbeiter u. 1889–1919 Heraus- pellative Ton schärfer, polit. Ereignisse wergeber der »Preußischen Jahrbücher« – der den konkret benannt u. kritisch kommentiert führenden Zeitschrift für Politik, Geschichte, (Wenn wir, bei Rot. Bln. 1969). Die polit. KonStaatswissenschaft u. Literatur –, wirkte D. frontationen nach dem Ende der 68er-Beweals hochangesehener, aber auch angefochte- gung, die wachsende Desillusionierung, aber ner Publizist, der als aufgeklärter Konserva- auch das Festhalten an utop. Hoffnungen tiver v. a. dem Bildungsbürgertum die Not- spiegeln sich ebenso in den weiteren Gewendigkeit des Rechtsstaats u. des selbstge- dichtbänden (Ein Bankier auf der Flucht. Bln. nügsamen nat. Machtstaats verdeutlichte. 1975) wie – bes. in dem repräsentativen Vor allem seine Darlegung der Militärge- Auswahlband Selbstporträt mit Luftbrücke schichte wurde von vielen Fachkollegen u. (Reinb. 1993) – die Selbstkritik gegenüber vom Generalstab nicht akzeptiert, doch wur- einigen Phasen seines früheren Schreibens, de er als gelehrter Publizist in der Öffent- v. a. dem zu direkt Agitatorischen. Für seine aufklärer. Kritik entwickelte D. lichkeit hoch geschätzt. seit den 1960er Jahren eine neue Form der Weitere Werke: Das Leben des Feldmarschalls Graf Neidhardt v. Gneisenau. 2 Bde., Bln. 1882. – Dokumentarsatire. Wir Unternehmer (Bln. Hist. u. polit. Aufsätze. Bln. 1887. – Bismarcks 1966. Bielef. 1983) besteht weitgehend aus

Delius

einer Montage von Protokollpassagen u. Reden, die die Sprache ihrer Repräsentanten u. der sie stützenden Politiker zur Kenntlichkeit entstellt u. – etwa durch Versifizierung – der Lächerlichkeit preisgibt. Dieses Verfahren, ausgeweitet u. verfeinert, prägt auch die Festschrift-Parodie Unsere Siemenswelt (Bln. 1972. Erw. Neuausg. Hbg. 1995). Die satir. Rollenrede wurde zum Anlass eines jahrelangen Rechtsstreites um die Freiheit der Kunst. Der Konzern erzielte zwar einen Teilerfolg – dokumentarisch-satirisches Schreiben unterliege nicht dem Kunstvorbehalt des Grundgesetzes –, aber D. fügte in Neuauflagen Passagen aus den Prozessakten u. eigene Kommentare dazu bei u. führte so die Auseinandersetzung literarisch weiter. Das Element der Selbstentlarvung durch Sprache spielte bei D. auch in der Folgezeit eine große Rolle, als sich das Schwergewicht seines Schreibens immer mehr auf fiktionale – allerdings teilweise von Dokumentarmaterialien u. Realitätselementen durchsetzte – Prosaformen verlagerte. Diese Romane u. Erzählungen befassen sich zum großen Teil mit der dt. Zeit- u. Mentalitätsgeschichte vom Nationalsozialismus bis zur Gegenwart. Dabei stehen meistens symptomat. Ereignisse im Vordergrund – teils von historischer, teils von tagesgeschichtl. Bedeutung –, von denen ein Einzelner (im Titel des ersten dieser Romane heißt er ironisch »ein Held«) betroffen wird. Diese Personen können reale Vorbilder haben, seit den 1990er Jahren erhalten sie gelegentlich autobiogr. Züge. Die Romane Ein Held der inneren Sicherheit (Reinb. 1981), Mogadischu Fensterplatz (Reinb. 1987) u. Himmelfahrt eines Staatsfeindes (Reinb. 1992) – später zusammengefasst in einem Band u. d. T. Deutscher Herbst (Reinb. 1997) – behandeln ein zentrales Ereignis in der Geschichte der Bundesrepublik: den Terror der RAF 1977. Die Werke befassen sich v. a. mit den gesellschaftlichen u. sozialpsycholog. Hintergründen, mit den Befindlichkeiten von Opfern, Tätern sowie von Staatsbeamten, die mit deren Erfassung u. Verurteilung befasst sind. Bes. gelungen ist die Verbindung der persönl. Entwicklung eines Entführungsopfers mit Reflexionen der Terrorismusproblematik sowie einer spannenden

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Handlung in Mogadischu Fensterplatz: Ein spektakulärer Entführungsfall wird Grundlage zur Erörterung zentraler polit. Fragen, ohne didaktisch oder gar indoktrinierend zu wirken. Nach der Wende bezog D. die DDR in seine dt. Mentalitätsgeschichte ein. In der Rolle des protokollierenden Zuhörers erzählt er in Die Birnen von Ribbeck (Reinb. 1991. 1997 u. ö. Bamberg 2003) das Schicksal eines Dorfes nach der Vereinigung, in Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus (Reinb. 1995. 2007 u. ö.) die Geschichte eines Kellners, der in den achtziger Jahren ohne Genehmigung der Behörden nach Italien reisen wollte. Beide Erzählungen vertiefen die Gegenwartshandlung sowohl im Historisch-Politischen als auch im Literarischen – bereits die Titel signalisieren die wichtigsten Bezugstexte im intertextuellen Geflecht: eine Ballade Fontanes u. eine autobiogr. Schrift von Seume. Die Werke zeigen eine wachsende Sicherheit in komplexen Erzählkonstruktionen, die Freude auch am literarischen u. sprachl. Experiment (Die Birnen von Ribbeck besteht aus ei ne m Endlos-Satz). Die Sprachfindung steht im Mittelpunkt der Erzählung Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde (Reinb. 1994 u. ö. Neuausg. 2004): Der sprachgewaltige Pfarrer dominiert seine Familie, schüchtert den jungen autobiogr. Ich-Erzähler ein, dessen Verklemmtheiten sich auch im Stottern zeigen. Die Faszination, die von der Reportage des Fußballweltmeisterschafts-Endspiels 1954 ausgeht, wird zum entscheidenden Schritt der Befreiung. Deren Kehrseite, ein nationalistisches Wir-Gefühl, wird als ironischer Subtext der Zeit nach dem Mauerfall eingeflochten. Andere mehr oder weniger autobiogr. Texte greifen zurück – so die poet. Erzählung (wiederum in einem Text ohne Punkt) über einen Nachmittag der schwangeren Mutter 1943 in Rom, Bildnis der Mutter als junge Frau (Reinb. 2006), – oder führen den Faden weiter: Die Erzählung Amerikahaus oder Der Tanz um die Frauen (Reinb. 1997. 1999) zeigt den jungen Studenten in Berlin, in dessen Leben zwischen Liebschaften u. Schriftstellerei durch die erste Vietnam-Demonstration 1966 das Politische einbricht. Der Roman Mein Jahr

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Delp

Literatur: Ludger Claßen: Satir. Erzählen im als Mörder (Reinb. 2004. 2006) spielt nur wenig später, bezieht aber eine lange Vorge- 20. Jh. Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Martin schichte mit ein. Der Ich-Erzähler, Berliner Walser, F. C. D. Mchn. 1985. – Wilfried F. SchoelLiteraturstudent, erfährt 1968 vom Frei- ler: Kleiner Rückblick auf die Tugend des Zersetzens. Rede auf F. C. D. In: Juni (1988), 2, S. 43–51. – spruch eines früheren Nazirichters, der 1944 Liz Wieskerstrauch: F. C. D. – ›...wenn man die den Widerstandskämpfer Grosscurth zum Wirklichkeit durch die Phantasie verstärkt‹. In: Tode verurteilt hat. Da die Ich-Figur mit dem Dies.: Schreiben zwischen Unbehagen u. AufkläSohn des Ermordeten in Wehrda (wo D. auf- rung. Literar. Porträts der Gegenwart. Weinheim/ wuchs) eng befreundet war, steigert er sich in Bln. 1988, S. 67–84. – Heiko Postma: ›Wir fangen die Vorstellung hinein, er sei zum Mord an erst an‹. Über den Schriftsteller F. C. D. In: die dem Richter berufen. Von der Witwe erfährt horen (1990), 3, S. 169–174. – Karin Graf u. Anneer deren Leidensweg, ihren Kampf gegen die gret Schmidjell (Hg.): F. C. D. Mchn. 1990. – BriNachkriegsjustiz. Nach dem plötzl. Tod des gitte Rossbacher: Unity and Imagined Community. Richters begräbt er die Geschichte, bis er sich F. C. D.’s ›Die Birnen von Ribbeck‹ and ›Der Sonntag an dem ich Weltmeister wurde‹. In: GQ ihr, Jahrzehnte später, als Schriftsteller ge- (1997), 2, S. 151–167. – Manfred Durzak u. Hartwachsen glaubt. mut Steinecke (Hg.): F. C. D. Studien über sein liDer Roman zeigt einmal mehr D.’ Meis- terar. Werk. Tüb. 1997. – Stuart Parkes: The terschaft in der Verbindung von Zeitge- Language of the Past. Recent Prose Works by schichte, Dokumentarischem, Realitätsparti- Bernhard Schlink, Marcel Beyer, and F. C. D. In: keln mit individuellen Schicksalen, Autobio- ›Whose Story?‹ Continuities in Contemporary grafischem u. Fiktionalem. Ohne vom Ziel German-Language Literature. Hg. Arthur Williams politischer Aufklärung abzugehen, erweitert u. a. Bern 1998, S. 115–131. – Osman Durrani: er ständig das Spektrum seiner literar. Aus- From Monologue to Dialogue. The Case of F. C. D.’s ›Die Birnen von Ribbeck‹. Ebd., S. 167–180. – H. drucksweisen. Zunehmend u. geschickt setzt Steinecke: Spaziergang mit Seume. F. C. D.: ›Der D. Elemente der Spannung u. Unterhaltung Spaziergang von Rostock nach Syrakus‹. In: Ders.: ein, um dieses Ziel auch bei politisch weniger Gewandelte Wirklichkeit – verändertes Schreiben? Interessierten zu erreichen. Oldenb. 1999, S. 129–143. – W. F. Schoeller: F. C. Für sein Werk wurde D. mit zahlreichen D. In: LGL. – Gustav Zürcher: F. C. D. In: KLG. Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem GerritHartmut Steinecke Engelke-Preis (1989), dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis u. dem Fontane-Preis für Literatur der Stadt Neuruppin (beide 2004), Delle Grazie, Marie Eugenie ! Grazie, dem Preis des Verbandes der deutschen Kri- Marie Eugenie delle tiker u. dem Joseph-Breitbach-Preis (beide 2007). Delp, Ellen, auch: Delmari-Delp, eigentl.: Weitere Werke: Der Held u. sein Wetter. Ein Kunstmittel u. sein ideolog. Gebrauch im Roman des bürgerl. Realismus. [Diss.] Mchn. 1971. – Die unsichtbaren Blitze. Bln. 1981 (L.). – Adenauerplatz. Reinb. 1984. 1987 (R.). – Einige Argumente zur Verteidigung der Gemüseesser. Eine Denkschr. Bln. 1985. – Konservativ in 30 Tagen. Ein Hand- u. Wörterbuch Frankfurter Allgemeinplätze. Reinb. 1988. 1991. – Japan. Rolltreppen. Tanka-Gedichte. Reinb. 1989. – Die Verlockungen der Wörter oder Warum ich immer noch kein Zyniker bin. Bln. 1996 (Ess.). – Die Flatterzunge. Reinb. 1999. 2000 (E.). – Transit Westberlin. Erlebnisse im Zwischenraum. Bln. 1999 (Ess.). – Der Königsmacher. Bln. 2001. 2003 (R.). – Warum ich schon immer recht hatte – u. andere Irrtümer. Ein Leitfaden für dt. Denken. Bln. 2002 (Ess.).

E. Krafft-Delmari, geb. Schachian, * 9.2. 1890 Leipzig, † 25.2.1990 Insel Reichenau. – Verfasserin von Novellen, Essays u. Übersetzungen. Seit ihrem literarischen u. kunsthistor. Studium in Leipzig, Wien u. München hatte D. Zugang zu Künstlerkreisen, z.B. um Max Reinhardt. Als »Wahltochter« von Lou Andreas-Salomé traf sie mit vielen bedeutenden Persönlichkeiten zusammen, darunter Hugo von Hofmannsthal, Thomas Mann, Gerhart Hauptmann, Sigmund Freud u. Rainer Maria Rilke. Eine lebenslange Freundschaft verband sie mit der Schweizer Schriftstellerin Regina Ullmann, über die sie Eine Biographie

Demantius

der Dichterin (Einsiedeln/Köln/Zürich 1960) schrieb. D.s Novellen sind geprägt von einer bilderreichen, lyr. Sprache u. einem an Adalbert Stifter erinnernden Blick für das kleine Einzelne. Weitere Werke: Vergeltung durch Engel u. a. E.en. Freib. i. Br./Mchn. 1952. Salzb. 1968. – Im Angesichte des Sommers. Neuaufl. Freib. i. Br./ Mchn. 1955 (N.). – Der Blumenkorb. Neuaufl. Freib. i. Br./Mchn. 1968 (N.). – Der Träumende. Neuaufl. Freib. i. Br./Mchn. 1971 (N.). – Briefe: Rainer Maria Rilke: Briefw. mit Regina Ullmann u. E. D. Hg. Walter Simon. Ffm. 1987. Literatur: Rudolph Binion: Frau Lou. Princeton/New Jersey 1968. – Inge Meidinger-Geise: Fast eine Legende. In: Die Horen 30,1 (1985), S. 200–204. Bernhard Iglhaut / Red.

Demantius, (Johann) Christoph, * 15.12. 1567 Reichenberg/Böhmen, † 20.4.1643 Freiberg/Sachsen; Grabstätte: ebd., Grüner Friedhof. – Komponist, Musiktheoretiker u. Liederdichter. Über D.’ Herkunft u. frühe Ausbildung ist fast nichts bekannt. Als ziemlich gesichert darf dagegen gelten, dass er die Lateinschule seiner Heimatstadt besuchte. Um 1592 lehrte er in Bautzen (evtl. Zittau), am 17.2.1593 wurde er an der Universität Wittenberg immatrikuliert u. lebte um die Mitte der 1590er Jahre in Leipzig. 1597 wurde er als Nachfolger von Tobias Kindler zunächst Kantor in Zittau/Lausitz, am 27.4.1604 Nachfolger des Kantors Tobias Praetorius am Dom im sächs. Freiberg. Seine Forma musices. Gründlicher und kurtzer Bericht der Singekunst, für die allererst anfahenden Knaben (Bautzen 1592) kann als Vorläufer seiner zweiten Lehrschrift, der Isagoge artis musicae [...]. Kurtze Anleitung recht und leicht singen zu lernen (o. O. 1602. Nürnb. 1607. Nachdr. Buren 1975), angesehen werden. Beide Schriften stehen in der Tradition der für den Kantoreiunterricht bestimmten Musica practica. Gründe für die hohe Auflagenzahl der Isagoge sind wohl die mitabgedruckte dt. Parallelversion u. der seit der achten Auflage (Freiberg 1632) beigefügte lexikal. Anhang, der das umfangreichste u. bedeu-

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tendste Musikwörterbuch des 17. Jh. darstellt. D. trat auch als Herausgeber deutscher u. lat. Anthologien sowie als Dichter seiner eigenen Lieder u. Gesänge in Erscheinung. Vielseitig zeigte er sich als Komponist, wobei ihn seine weltl. Lieder u. Tänze, seine Messen, Magnifikats, Psalmen u. Motetten eher als Traditionalisten denn als Neuerer ausweisen. Wie sehr er gleichwohl bemüht war, seine kompositor. Fertigkeiten u. musikal. Ausdrucksmittel textinterpretatorisch in den Dienst des Wortes zu stellen – was ihn als einen durchaus zeitgemäßen Komponisten kennzeichnet –, bezeugt insbes. seine sechsstimmige Johannespassion von 1631, wohl die letzte bedeutende in Motettenform komponierte Passion. Weitere Werke: Neue teutsche weltl. Lieder. Nürnb./Breslau 1595. – Tympanum militare. Ungerische Heerdrummel u. Feldtgeschrey [...]. Nürnb. 1600. – Convivalium concentuum, farrago, in welcher teutsche Madrigalia, Canzonette u. Villanellen [...] verfasset. Jena 1609. – Threnodiae, das ist, sehnl. Klag-Lieder, uber den [...] Abschied [...] Christiani II. Hertzogens zu Sachsen. Lpz. 1611. – Luscinia poetica oder lat. u. dt. Gedichte. o. O. 1645. – Magisterium didacticum per S.S. Fac. Theol. locos [...] penetrans [...]. Dresden 1655. – Philosoph. Ariadne der sieben freyen Künste u. deroselbigen Kleinodien [...]. Dresden 1659. Ausgaben: Neue teutsche weltl. Lieder (1595). Convivalium concentuum farrago (1609). Hg. Kurt Stangl. Kassel 1954. – Dt. Tänze. Hg. Johann Dietz Degen. Kassel 1966. – Nürnberger Tanzbuch (1601). Hg. Helmut Mönkemeyer. Mainz 1959. – Conviviorum deliciae (1608). Hg. ders. Zürich 1973. Literatur: Kurt Stangl: C. Demants Lieder 1595 u. Farrago 1606. Diss. Prag 1940. – Ilse Hasak: C. D. als Dichter. Diss. Jena 1951. – Hans Heinrich Eggebrecht: Ein Musiklexikon v. D. In: Die Musikforsch. 10 (1957), S. 48–60. – Ingeline Gallwitz: Die neuen dt. Lieder v. 1584 u. 1586 des Gregorius Langius u. deren Bearb. durch C. D. u. Henning Dedekind. Diss. Wien 1960. – Bernhard Meier: D. In: NDB. – Carlos Rudolph Messerli: The Corona Harmonica (1610) of C. D. and the Gospel Motet Tradition. Diss. 2 Bde., University of Iowa 1974. Ann Arbor 2000. – Bautz. – Heiduk/Neumeister, S. 27, 159, 321 f. – Matthias Brzoska: Die ›Schrulle eines alten Mannes‹. Zur Notationspraxis in der Jesajas-Weissagung v. C. D. In: Musica 40 (1986),

Demme

589 S. 229–233. – Basil Smallman: Pastoralism, Parody and Pathos. The Madrigal in Germany, 1570–1630. In: Miscellanea musicologica 15 (1988), S. 6–20. – K.-P. Koch: C. D. (1567–1643): Böhmisches, Schlesisches, Lausitzisches [...] in Leben u. Werk. In: Die Musik der Deutschen im Osten u. ihre Wechselwirkung mit den Nachbarn. Hg. Klaus W. Niemöller. Bonn 1994, S. 383–392. – Werner Braun: Dt. Musiktheorie des 15. bis 17. Jh. Von Calvisius bis Mattheson (= Gesch. der Musiktheorie. Bd. 8/2). Darmst. 1994, passim. – Thomas Altmeyer in: MGG 2. Aufl. Bd. 5, Sp. 789–793. – Walter Blankenburg u. Dorothea Schröder in: The New Grove 2. Aufl. Bd. 7, S. 189–192 (mit Werkverz.). Rainer Wolf / Red.

Demirkan, Renan, * 12.6.1955 Ankara/ Türkei. – Deutsch-türkische Schauspielerin u. Autorin, Verfasserin von Romanen u. Erzählungen mit stark migrationsgeprägtem Inhalt, auch autobiografisch.

Klinik u. hält Rückschau auf ihr bisheriges Leben. Szenerien des Krankenhauses wechseln sich ab mit der Rückschau auf das dörfl. Anatolien. Während die Eltern noch immer von der Rückkehr träumen, hat sich die junge Türkin trotz aller Schwierigkeiten in der Fremde, die jetzt neue Heimat sein soll, eingerichtet. Es wird Diamanten regnen vom Himmel ist ein in Köln spielender Liebesroman. Protagonisten sind die beiden Einzelgänger Rosa u. Rick, typ. Vertreter der westl. Zivilisation, Nomaden der Großstadt, die eigentlich gar nicht zusammenpassen u. sich dennoch lieben. Über Liebe, Götter und Rasenmähn ist eine Sammlung persönlich gehaltener Gedanken über Liebe u. Erotik, die sich, in präziser Sprache, zwischen philosoph. Ansichten (Kant) u. myst. Vorstellungen (Mevlana Celalettin Rumi) bewegen u. zu individualistisch-existenzialistischen, aus der europ. Moderne u. ihrem Lebensstil abgeleiteten Haltungen gegenüber menschl. Beziehungen führen. Die Sammlung enthält Gedichte u. Prosastücke. D.s Texte sind hauptsächlich Teil einer im Entstehen begriffenen Literatur türkischer Migranten in dt. Sprache, welche die mannigfachen menschl. Probleme des Mulitikulturalismus u. der Akkulturation fern der alten Heimat (»gurbet«) aufgreift. Besonders D.s Erstlingswerk hat unter Türken u. Deutschen Resonanz gefunden.

D. kam schon 1962 mit der ersten Welle der »Gastarbeiter« nach Deutschland. Sie absolvierte die Hochschule für Musik u. Theater in Hannover. Seit 1980 wurde sie vornehmlich als Schauspielerin bekannt, u. zwar auf der Bühne ebenso wie im Fernsehen. Als Journalistin Azade (»Die Freie«) spielte sie eine Hauptrolle in der Serie Reporter. Als Schauspielerin erhielt D. rasch große Anerkennung (u. a. den Adolf Grimme-Preis). Als Literatin trat sie erstmals 1991 in ErWolfgang Günter Lerch scheinung mit dem autobiografisch gefärbten Roman Schwarzer Tee mit drei Stück Zucker Demme, Hermann Christoph Gottfried, (Köln), der noch im gleichen Jahr in Istanbul, auch: Karl Stille, * 7.9.1760 Mühlhausen/ übersetzt von M. Kemal Okan, auf Türkisch Thüringen, † 26.12.1822 Altenburg. – u. d. T. Üç S¸ekerli Demli C¸ay erschien u. ein Evangelischer Geistlicher, Liederdichter beträchtl. Erfolg wurde. 1999 folgte der Rou. Erzähler. man Es wird Diamanten regnen vom Himmel (Köln); schon 1994 hatte D. u. d. T. Die Frau Nach dem Studium der Theologie u. Philomit Bart eine Erzählung publiziert. Im Jahre logie in Jena u. Leipzig wurde D. 1785 Sub2003 veröffentlichte der Münchner Allitera- konrektor am Gymnasium seiner Vaterstadt, Verlag den Band Über Liebe, Götter und Ra- 1796 zum Pfarrer ordiniert u. ebendort noch senmähn, Geschichten und Gedichte über die Liebe, im selben Jahr Superintendent, 1801 Geneder Texte versammelt, mit denen D. auch ralsuperintendent des Herzogtums Altenselbst als Rezitatorin auftritt. burg, 1817 Doktor der Theologie. D.s Erstling ist eine autobiografisch geAls markanter, dabei maßvoller u. toleprägte Familiengeschichte, die insg. vier Ge- ranter Vertreter der protestant. Aufklärung nerationen umspannt. Eine schwangere türk. führte D. in seinen Ämtern Neuerungen im Migrantin lieg im Kreißsaal einer Kölner Kirchen- u. Schulwesen durch u. spielte eine

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wichtige Rolle u. a. bei den zeitgenöss. Gesangbuchreformen; er war renommierter Kanzelredner u. Mitarbeiter an mehreren Zeitschriften, wie dem »Magazin für Prediger« (dort sein Porträt als Frontispiz zu Bd. 8, 1815). Auch als weltl. Schriftsteller (seine einschlägigen Schriften erschienen anonym oder unter Pseud.) steht D. stellvertretend für viele weniger bekannt gewordene aufklärer. Geistliche: Seine Schriftstellerei diente ihm zur Erweiterung seiner geistl. Wirksamkeit über den Bereich der Kanzel hinaus. So ist sein Hauptwerk Der Pächter Martin und sein Vater (2 Bde., Lpz. 1792/93. 3. Aufl.: 3 Bde., Lpz. 1802) auch kein eigentl. Roman, sondern eine lose Sammlung von Reflexionen, moral. Beispielgeschichten u. einzelnen Gedichten, die Lebensweisheit mit religiösem Bezug vermittelt. Mit seinen Erzählungen in der Nachfolge seines literar. Vorbilds Wieland, an dessen »Teutschem Merkur« er mitarbeitete, hatte D. beachtl. Erfolg u. fand Nachahmer; so erschienen Erzählungen in Karl Stilles Manier (1795), Jakob Glatz nannte sich »Jakob Stille«, Charlotte Thiesen »Caroline Stille«. Auch in der Tagespresse betätigte sich D. als Mitarbeiter von Rudolph Zacharias Beckers »Reichsanzeiger« u. »Nationalzeitung«. Weitere Werke: Erzählungen. 2 Bde., Riga 1793/93. 21797. – Sechs Jahre aus Karl Burgfelds Leben. Riga/Lpz. 1793. – Pächter Martin über die moral. Anwendung der Frz. Revolution. Gött. 1796. – Abendstunden im Familienkreise gebildeter u. guter Menschen. 2 Bde., Gotha 1804/05. Literatur: Alexandra Schlingensiepen-Pogge: Das Sozialethos der luth. Aufklärungstheologie am Vorabend der Industriellen Revolution. Gött./Bln./ Ffm. 1967. – Friedrich Wilhelm Bautz: D. In: Bautz. Reinhart Siegert / Red.

Demski, Eva (Katrin), geb. Küfner, * 12.5. 1944 Regensburg. – Romanautorin, Journalistin. Die Tochter eines Bühnenbildners wuchs in Regensburg, Wiesbaden u. Frankfurt/M. auf. Nach dem Abitur 1964 begann D. Germanistik, Philosophie u. Kunstgeschichte in Mainz u. Freiburg i. Br. zu studieren. In den fol-

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genden Jahren arbeitete sie als Dramaturgieassistentin an den Städtischen Bühnen in Frankfurt sowie als freie Lektorin für Theaterverlage. D. schrieb Fernsehfeatures über Joseph Roth, Hans Neuenfels, Tibor Déry, Eleonora Duse, Wolfgang Koeppen, Rose Ausländer, Adolf Wölfli u. Gottfried Benn. Sie verfasste zahlreiche Essays über polit. u. literar. Themen u. veröffentlichte eine Reihe von autobiografisch angelegten Romanen, die viel Beachtung bei der Literaturkritik fanden. Ein Hauptthema bildet das Fortwirken der Vergangenheit in der Gegenwart. In Goldkind (Darmst. 1979 u. ö. Zuletzt Mchn. 2000) u. Karneval (Mchn. 1981 u. ö. Zuletzt Mchn. 1993) schildert sie Menschen, deren Erziehung sich nach den Zielen u. Wertvorstellungen einer vergangenen Welt richtet u. die dadurch unfähig werden, die Aufgaben ihres eigenen Lebens u. ihrer eigenen Gegenwart zu bewältigen. In der scheiternden Sozialisation der Romanhelden spiegelt sich das Schicksal einer Gesellschaft, die unter der bedrückenden Last der Vergangenheit steht u. unter den Schwierigkeiten ihrer Identitätsfindung leidet. Bes. deutlich wird dieser zeit- u. sozialkrit. Aspekt in D.s drittem Roman Scheintod (Mchn. 1984 u. ö. Zuletzt 2002), in dem der Tod eines bekannten linken Anwalts der Erzählerin zum Anlass wird, sich die Geschichte der 68er-Generation zu vergegenwärtigen. In diesem »dreiteiligen Romanzyklus« (so die Rezensentin Sibylle Cramer in der Frankfurter Rundschau, 30.7.1984), habe D. eine »Chronik der Bundesrepublik zwischen Restauration u. taumelndem Wirtschaftswunderkarneval« vorgelegt. Auf immer wieder neue Weise setzt D. den Kunstgriff ein, gesellschaftl. Typen u. Konfliktlagen auf engstem Raum zu verdichten. In Hotel Hölle, guten Tag... (Mchn. 1987. 21991. 1997) kommt eine alleinerziehende Mutter zu Wort, die sich in einem langen Liebesbrief an den abwesenden Vater ihres zehnjährigen Sohnes richtet, um ihn zur Rückkehr zu bewegen. Die Protagonistin hat von einem AltNazi eine Villa geerbt u. zu einem 42-Zimmer-Luxushotel umbauen lassen. Mit Witz u. Entschiedenheit führt sie den Betrieb durch

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eine Welt zunehmender Spannungen; Neo- Journalistenpärchen probt, etwas kraftlos nazis machen sich lautstark breit, eine schon, ein letztes Mal die Geste der krit. Deutsch-Brasilianerin versucht den rätsel- Enthüllung. Wiederum schildert D. persönl. haften Tod ihres Vaters aufzuklären. Auch in Schwächen u. interessenbedingte VerlogenDas Narrenhaus (Ffm. 1997. Mchn. 1999) wird heit, ohne die Lebensbalance u. die Sehndas Zusammenleben gegensätzlicher Grup- süchte ihrer Figuren zu denunzieren. Ein beachtliches Nebenwerk zum Romanpen u. Personen innerhalb eines geschlossenen Schauplatzes zum Modell deutscher Be- schaffen bilden die Reportagen, Reiseberichte findlichkeiten. Um die zentrale Intrige eines u. -feuilletons, in denen sich D. mit Städten u. ungeklärten Todesfalles herum entfaltet D. Landschaften auf betont subjektive Weise die proletarischen, bohemehaften u. klein- auseinandersetzt, um im scheinbar Vertraubürgerl. Bewohner eines vierzehnstöckigen ten das Staunenswerte oder Befremdliche Wohnhauses am Rande einer dt. Großstadt, aufzuspüren – oder um umgekehrt das die in ihren deformierten, doch irgendwie scheinbar Entrückte in verblüffende Nah-Beliebenswerten Zügen alle seltsam ineinander züge einzuordnen. Als Hommage an die verbissen sind. Wie nebenbei entrollt die Dichterin Sappho, die »Edith Piaf der armännl. Hauptfigur, Requisiteur beim Fern- chaischen Welt«, ist das Lesbos-Reisebuch Das sehen, eine kleine Kulturgeschichte dieses Meer hört zu mit tausend Ohren (Ffm. 1995. (der Fernsehautorin D. selbst bestens ver- 22000) angelegt. Eine weibl. Gegenrede zum trauten) Leitmediums der zweiten Jahrhun- Vater-Rhein-Mythos entwirft D. in Mama Doderthälfte. nau (Ffm. 2001. 2007), einem ErinnerungsMit den späteren Werken weitet sich die buch an die Landschaft ihrer Regensburger soziale Bestandsaufnahme nochmals um die Kindheit. für die 1980er u. 1990er Jahre prägenden Weitere Werke: Meine Katze. Hbg. 1987 (P.). – Aspekte von Fremdenfeindlichkeit u. Rassis- Unterwegs. Ffm. 1988 (Ess.). – Land u. Leute. Ffm. mus; auch die globale Perspektive von exot. 1994 (Ess.). – Venedig – Salon der Welt. Ffm. 1996 Paradiessehnsüchten u. ihrer tourist. Ver- (Ess.). – ›Zettelchens Traum‹. Ffm. 1999 (Poetikwertung gerät in den Blick. Der Roman Afra Vorlesungen). – Von Liebe, Reichtum, Tod u. (Ffm. 1992. Mchn. 1–31994. 2004) erzählt die Schminke. Ffm. 2004 (P.). Literatur: Sabine Doering: E. D. In: KLG. – Geschichte einer in der bayer. Provinz aufThomas Kraft: E. D. In: LGL. wachsenden Tochter einer Bäuerin u. eines Peter König / Alexander Honold farbigen GIs. Das schwarze Kind im schwarzen Bayern löst in den Restaurationsjahren rassistisch motivierte Ablehnung, als junge Demus, Klaus, * 30.5.1927 Wien. – Lyriker Frau dann aber enorme erot. Faszination aus. u. Kunsthistoriker. »Afra« wird Schauspielerin in einer Münchner Off-Theatergruppe (deren Schilderung an D.s Vater war der Kunsthistoriker u. Byzandie Anfänge Rainer Werner Fassbinders er- tinist Otto D., seine Mutter Erika, geb. Budik, innert), erobert die linke Kulturszene u. wird Geigerin, beide Eltern stammten aus zur Edelnutte der Schickeria. Am Spiegelbild Deutsch-Böhmen. Der Bruder Jörg D. ist der Exotin entwirft D. ein Sittenbild von der Pianist. D. besuchte die Volksschule in St. Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre. Die- Pölten u. das Humanistische Gymnasium in selbe widersprüchl. Verbindung von tief ein- Wien, 1943–1945 Wehrdienst, 1945–1951 gewurzelter Fremdenfeindlichkeit u. exo- Studium der Kunstgeschichte u. klass. Artisch-erotischer Attraktion führt D. im Ro- chäologie in Wien. 1952 Heirat mit Germaman Das siamesische Dorf (Ffm. 2006. 2007) an nistin Anna Maier, 1959 Geburt des Sohnes einer tourist. Reisegruppe in Thailand vor. Jakob (Bildhauer, Maler, Radierer). D. lebt in Das Glücksversprechen von tropischer Wär- Wien. me, Sinnenlust u. ewiger Jugend lockt beSchon im Frühsommer 1948 begegnete er dauernswerte Opfer u. skrupellose Geschäf- Paul Celan, u. es begann eine jahrelange intemacher gleichermaßen auf den Plan. Ein tensive Freundschaft (Briefwechsel. Ffm. 2008),

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die mit Unterbrechungen bis zu dessen Tod flektiert D. immer wieder die Verpflichtung andauerte. Von gleicher Intensität waren des Dichters, sein Arbeiten als Aufgabe an den auch die Freundschaften mit Ingeborg Bach- Erscheinungen des kosm. Ganzen zu sehen u. mann u. Michael Guttenbrunner. 1953–1987 diese Erfahrung im Gedicht zum Ausdruck Kunsthistoriker in verschiedenen Wiener zu bringen. D. betont die Möglichkeit eines Museen, zuletzt im Kunsthistorischen Mu- poet. Sprechens u. Denkens auch in der seum, sein kunsthistorisches Werk ist aus- postmetaphys. Gegenwart, die er aufgrund schließlich im berufl. Kontext entstanden. ihres Weltverlustes als »Nachwelt« bezeichnet u. gegen die seine Dichtung vehement Seit 1987 ist D. im Ruhestand. D.s Werk steht in einer Traditionslinie, die Einspruch erhebt. Trotz seines recht umvon Pindar über Friedrich Hölderlin bis zu fangreichen Werkes ist D. von der ÖffentHugo von Hofmannsthal u. Rudolf Borchardt lichkeit weitgehend übersehen u. muss noch reicht. Immer stärker übernimmt er dabei die entdeckt werden. Rolle eines Mahners, der die Gegenwart an Weitere Werke: Gedichtbände: In der neuen ihre Seinsvergessenheit erinnert. Zgl. betont Stille. Pfullingen 1974. – Das Morgenleuchten. er in seiner Lyrik den Allgesang (Wien 2005), Pfullingen 1979. – Im Abend dieser Stunde. Pfuldie andauernde Gültigkeit metaphysischer lingen 1987. – Hinausgang. Pfullingen 1990. – Die Wirklichkeitserfahrung auch in der Gegen- Jahrtausende. Stgt. 1994. – Landwind. Wien 1996. wart u. markiert damit eine deutl. Gegenpo- – In der Nachwelt. Wien 1999. – Sternzeit. Kurze Gedichte. Wien 2001. – Gleichartigem Zugeflüster. sition zum Sprachpessimismus u. Nihilismus Wien 2002. – Briefe: Briefw. mit Paul Celan. Ffm. der modernen Dichtung. Schon in seinem 2008. – Herausgeber: (mit Michael Guttenbrunner) erstem Gedichtband Das schwere Land (Ffm. Johannes Lindner: Der Kentaurische Knecht. Wien 1958) beginnt diese lebenslange dichter. 2003. Peter Goßens Auseinandersetzung mit phänomenolog. Dimensionen des Seins. Der kurze zweite Gedichtband, Morgennacht (Pfullingen 1969), Denais, De Nays, Peter, latinisiert: Petrus erschien erst nach einer langen Phase intenDenaisius, * 1.5.1560 Straßburg, † 20.9. siver Arbeit u. führt die poetolog. Parameter 1610 Heidelberg. – Jurist, Verfasser juseiner dichter. Gegenposition programmaristischer Schriften u. konfessioneller Potisch vor. Sowohl in formaler u. stilistischer lemiken, Gelegenheitsdichter. als auch in themat. Hinsicht bewegt sich D. auf einem schmalen Grat pantheistischer D. entstammte einer während der frz. ReliHochlyrik. Dabei arbeitet er an einer moder- gionskriege ins Elsass ausgewanderten lothnen Naturlyrik, die den hymn. Ton ebenso ring. Hugenottenfamilie. Das jurist. Studium wenig scheut wie das Reimgedicht als Form in Padua (hier immatrikuliert am 9.10.1579 (seit Schatten vom Wald. Pfullingen 1983). u. als Procurator Nationis Germanicae 1581 Strukturell weisen die häufig wiederkehren- aktiv) u. in Basel schloss er wie Georg Michael den oder nur leicht variierenden Gedichttitel Lingelsheim am 25.7.1583 mit der Promotion bes. der späteren Bände auf D.s große Le- zum Doktor beider Rechte ab. Bald danach, bensthemen hin: Als »poetisch-pantheisti- Okt. 1584, wurde er – humanistisch gebildet, sche Fragmente und Momente« (Untertitel aber insbes. der Beherrschung der frz., ital. u. zu Das ungemeine Fünkeln des Hen Kai Pan. Wien engl. Sprache wegen in Adams Vitae von 1620 1998) setzen sich seine Gedichte in umfas- gerühmt – am kurpfälz. Hof, der dominiesender Weise mit der metaphys. Gegenwär- renden polit. u. kulturellen Kraft im refortigkeit der Erscheinungen auseinander u. mierten Protestantismus des Dt. Reiches vor greifen dabei immer wieder auf die großen u. dem Dreißigjährigen Krieg, zum Rat ernannt kleinen Zyklen der Natur zurück: Tag u. u. nicht zuletzt mit diplomat. Aufgaben (u. a. Nacht, Sonne u. Mond sind die prägenden in England, Polen) betraut. Am 1.1.1588 erThemen, während sich die zykl. Struktur der hielt er die Berufung zum pfalz-lauterischen Gedichtbände oft am Jahreskreis der Natur Rat u. Diener. Verheiratet seit 1589 mit der orientiert. In seinen poetolog. Gedichten re- Tochter Juliana Maria des pfälz. Oberrats-

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mitgliedes u. Vizekanzlers Ludwig Culmann, freundschaftlich dem Oberratsmitgl. Lingelsheim verbunden (wie die überragende Mehrzahl der 392 noch erhaltenen Briefe belegt), zeitweilig im Hause des Rates Laurentius Zincgref wohnhaft u. wie dieser am Hofgericht tätig, gehörte D. der administrativ, politisch u. kulturell höchsten bürgerl. Beamtenschicht der Pfalz an. Als Vertreter der weltl. Kurfürsten von 1590 bis zu seinem Tod Beisitzer des Kammergerichts in Speyer, verteidigte er mehrfach erfolgreich die Vorrechte des Reichskammergerichts gegen den Speyrer Rat; als Autorität auf dem Gebiet der kameralist. Rechtsprechung anerkannt, veröffentlichte er das wiederholt aufgelegte u. von M. Goldast 1613 sogar in die Collectio consuetudinum et legum imperialium aufgenommene Jus camerale (Straßb. 1599). Streitbar als Calvinist, griff D. in der Dissertatio de Idolo Hallensi (1605) anonym das mariolog. Alterswerk Diva Virgo Hallensis (1604) Justus Lipsius’, des bedeutendsten zeitgenöss. Vertreters der polit. Theorie, an; zudem unterstützte er die antikath. Aktionen des Heidelberger Calvinismus, indem er auf Veranlassung Lingelsheims 1602/03 eine jesuitenfeindl. Kampfschrift des Pariser Parlamentsadvokaten Antoine Arnauld ins Deutsche u. Lateinische übersetzte u. auch in dem anonym veröffentlichten Paarreimgedicht Drey Jesuwiten Latein (o. O. 1607. Textproben bei Zacher, S. 52–55) unter Bezugnahme auf die dt. Reime eines Hildesheimer Jesuiten, PraedicantenLatein von 1607, gegen die Jesuiten polemisierte. Als polit. Publizist vertrat er vor Julius Wilhelm Zincgref am entschiedensten den konfessionspolit. Kurs der Kurpfalz. In seinem Epitaphium Petri Denaisii Iureconsulti (Weidner, S. 188. Wiederabdr. bei Adam, S. 445. Neudr. mit dt. Übers. in: Parn. Pal., S. 194/195) hat ihn Zincgref denn auch als einen gerechten u. standhaften Mann gepriesen. Literarisch trat D. dadurch hervor, dass er früh Anschluss an die Reformbestrebungen fand, auf die sich später Opitz beziehen konnte. Gleich Melissus Schede pflegte er das an der neuen Lyrik eines Ronsard orientierte Gesellschaftslied, so in seinem dt. Epithala-

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mium zur zweiten Eheschliessung Lingelsheims (21.9.1596). J. W. Zincgref, Sohn des Laurentius, überlieferte das Hochzeitlied im »Anhang« seiner Ausgabe Martini Opicii Teutsche Poemata (Straßb. 1624. Neudr. Hildesh. 1975, S. 166–169) als Beispiel der eigenen, von Opitz’ Literaturreform unabhängigen, jungen Heidelberger Dichtungstradition. D. setzte zudem die »von Melissus begonnene vornehme Poesie der Alexandriner« (Höpfner, S. 43) fort. Im Rahmen einer Kurfürst Friedrich IV. von der Pfalz gewidmeten dt. Übertragung des Basilikon Doron (Speyer 1604), eines Fürstenspiegels Jakobs I. von England, gab D. das dem Shakespeare-Typus zugehörige Widmungssonett des absolutist. »Ratgebers« ganz in der Manier des frz. Alexandrinersonetts nach Clément Marot wieder. Die wegweisende Bedeutung der literar. Leistung D.s wurde schon zu seinen Lebzeiten erkannt: Dem Verfasser der »Vita« bei Adam galt er als ein sehr eleganter Dichter in seiner Muttersprache, u. Zincgref reservierte ihm in seinem Apophthegmenwerk von 1626 den Platz für zwei argute Aussprüche (Neudr. Apophthegmata teutsch. Nr. 1111, 1112 in Vorb.). Mit D. lässt sich so zeigen, dass bereits die vorbarocke Welschversdichtung im Einzugsbereich des frühen landesfürstl. Absolutismus u. im Kontext der höf. Kultur der Residenz entstand u. darüber hinaus für die mit Opitz allzu einseitig in Verbindung gebrachten Reformbemühungen auf dem Feld der dt. Kunstpoesie u. -prosa zum wichtigen Impulsgeber avancierte. Weitere Werke: Theses de restitutionibus in integrum. Diss. Basel 1583 (UB Basel: Diss. 204, Nr. 53) (u. andere jurist. Schr.en). – Quellen: Reifferscheid 1889, Register s.v. Literatur: Bibliografie: s. Walter, S. 501–510 (u. a. Nachweise der handschriftl. Korrespondenz). – Weitere Titel: Johann Leonhard Weidner: Triga amico-poetica. o. O. 1619. – Melchior Adam: Vitae Germanorum jureconsultorum et politicorum. Heidelb. 1620, S. 444–447. – Claudius Sincerus: Vitae et scripta magnorum Juris Consultorum Das ist: Vollst. Leben u. Schrifften grosser Juristen. Tl. 1, Wittenb. 1713, S. 98–104 (freie Übers. der Vita bei Adam). – Julius Zacher: Die dt. Sprichwörterslg.en. Lpz. 1852, S. 45–55. – Ernst Höpfner: Reformbestrebungen auf dem Gebiete der dt. Dichtung des 16. u. 17. Jh. Bln. 1866. – v. Lilien-

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cron: Denaisius. In: ADB. – Roderich Stintzing: Gesch. der Dt. Rechtswissensch. 1. Abt., Mchn./ Lpz. 1880, S. 519 f. – Goedeke 2 (1886), S. 518. – Gustav C. Knod: Oberrhein. Studenten im 16. u. 17. Jh. auf der Univ. Padua. In: ZGO N. F. 15 (1900), S. 197–258. – Kurt Hannemann: Denaisius. In: NDB. – Dieter Mertens: Zu Heidelberger Dichtern v. Schede bis Zincgref. In: ZfdA 103 (1974), S. 200–241. – Theodor Verweyen: Über die poet. Praxis vor Opitz – am Beispiel eines Sonetts aus dem Engl. v. P. D. In: Daphnis 13 (1984), S. 137–165. – Kurt Stuck: Personal der kurpfälz. Zentralbehörden in Heidelb. 1475–1685 unter bes. Berücksichtigung der Kanzler. Ludwigshafen 1986, S. 24. – Parn. Pal., S. 256. – Walter (2004), S. 304–306 (P. Denaisius) u. 501–510 (Repertorium zu P. Denaisius). – EH, 1/2, hier S. 788. Theodor Verweyen

Denck, Denckius, Denggius, Dengkius, Johannes, auch: Philalethes, * um 1500 Heybach bei Hugelfing/Oberbayern, † Nov. 1527 Basel. – Spiritualist. Wiedertäufer (Humanist); Übersetzer u. Verfasser von Traktaten, Lyriker.

den Von der wahren Liebe u. Ordnung Gottes. Zuletzt schrieb er seinen Widerruf. Die wichtigsten Arbeiten erschienen postum, so 1528 in Worms der Widerruf, 1531 der Michakommentar in Straßburg. D.s Auffassung von der Widersprüchlichkeit der Bibel forderte Andreas Althamer zu einer umfassenden Gegenschrift heraus, die ihrerseits im Dissens übersetzt wurde durch Sebastian Franck. D. betont in allen Schriften die menschl. Freiheit, die er ähnlich versteht wie Erasmus, dazu die Unbeantwortbarkeit der Frage nach der Herkunft des Bösen. In Anlehnung an mittelalterl. Mystik besteht er auf der Individualität christl. Existenz; dabei lässt er Vertrauen auf die letztl. Gnade Gottes (Apokatastasislehre) erkennen, was zu empörter Polemik durch Vertreter der Reformation führte. D. erkennt in auffälliger Art überall in seinen Schriften auch die Sicht seiner Gegner an; in der zeitgenöss. Umgebung wirkte seine Prosa beispiellos versöhnlich. Folgerichtig nahm er in seinem Widerruf nur seine streitbare Haltung, nicht aber seine Auffassungen zurück.

Nach dem Baccalaureat in Ingolstadt Ausgaben: Schr.en 1–3. Bd. 1: Bibliogr. Hg. (1517–1519) trat der junge Mann unbekann- Georg Baring. Gütersloh 1955. Bde. 2. u. 3: Werke. ter Herkunft im süddt. Raum als Lehrer auf, Hg. Walter Fellmann. Gütersloh 1956 u. 1960. – auch in Basel als Korrektor, Herausgeber u. Edward J. Furcha: Selected Writings of H. D. LeEpigrammatiker (1522). Auf Oekolampads wiston 1989. Literatur: André Séguenny: H. D. et ses disciEmpfehlung wurde D. Rektor der Sebaldusschule in Nürnberg, wo er heiratete u. Be- ples. In: L’humanisme allemand. Mchn./Paris ziehungen zu Humanisten, Künstlern u. 1979, S. 441–454. – Clarence Baumann: The Spiritual Legacy of H. D. Leiden 1991. – Sebastian frommen Konventikeln pflegte. Im ZusamFranck: Sämtl. Werke. Kommentarbd. 1, Stgt.-Bad menhang mit dem Prozess gegen die »gott- Canstatt 2005, S. 9–64. Christoph Dejung losen Maler« im Jan. 1525 entlassen, begann ein Wanderleben unter Sektierern u. Verfolgten. D. hielt sich in Augsburg, Straßburg, Denicke, David, * 31.1.1603 Zittau/OberWorms u. Basel auf, wurde 1526 von Balthalausitz, † 1.4.1680 Hannover. – Jurist; sar Hubmaier getauft, nahm 1526 an der Kirchenlieddichter u. Gesangbuchher»Märtyrersynode« in Augsburg teil, starb ausgeber. aber in Basel an der Pest. Seine ersten Schriften veröffentlichte D. Nach philosophischen u. rechtswiss. Studien 1526 in Augsburg: Was geredt sei, dass die Schrift in Wittenberg (Immatrikulation April 1619), sagt, dann Vom Gesetz Gottes u. Wer die Wahrheit Jena (Sommersemester 1621) u. Königsberg wahrlich lieb hat. Der Augsburger Reformator (20.6.1623) unternahm der Richtersohn D. Urbanus Rhegius blieb der ausweichend-ver- 1625–1628 eine europ. Bildungsreise, trat söhnl. Ketzerei D.s gegenüber ratlos, erwirkte 1629 als Hofmeister in den Dienst Herzog aber die Vertreibung aus der Stadt. In Worms Georgs von Braunschweig-Lüneburg, wurde übersetzte D. in Zusammenarbeit mit Ludwig 1640 Titularabt von Bursfelde u. 1642 KlosHätzer die Propheten, gleichzeitig entstan- ter- u. Konsistorialrat in Hildesheim/Hanno-

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ver. Hier wirkte er am Wiederaufbau der calenbergischen Kirche mit u. gab 1646 u. 1657 zus. mit Justus Gesenius – wie D. Mitgl. der Fruchtbringenden Gesellschaft – das Hannoverische ordentliche, vollständige Gesangbuch heraus, zu dem er selbst mehrere Lieder (u. a. EKG 145) u. zahlreiche Textüberarbeitungen älterer u. zeitgenöss. Lieder (u. a. EKG 87, 187) beisteuerte, die formal nach den Regeln Opitz’ u. inhaltlich im Sinne eines praxisbezogenen Christentums gestaltet sind. Ausgaben: Fischer-Tümpel 2, S. 373–472. Literatur: C. Chr. Heinemann: Gülden Kleinod. Hann. 1680. – Hdb. zu EKG 2, 1. Gött. 1957, S. 185. – Adalbert Elschenbroich: D. In: NDB. – Inge Mager: Die Rezeption der Lieder P. Gerhardts. In: Jb. der Gesellsch. für niedersächs. Kirchengesch. 80 (1982), S. 122–125 (Anmerkung 10: ältere Lit.). – Hans-Christian Drömann: Das Hannoversche Gesangbuch 1646. In: Jb. für Liturgik u. Hymnologie 27 (1984), S. 146–191. Inge Mager / Red.

Denis, (Johann Nepomuk Cosmas) Michael, auch: Sined der Barde, * 27.9.1729 Schärding/Oberösterreich, † 29.9.1800 Wien. – Geistlicher, Bibliothekar u. Lyriker. Der Sohn eines Juristen besuchte 1739–1747 das Passauer Jesuitengymnasium u. trat 1747 in Wien in den Orden ein, 1757 erfolgte die Priesterweihe. D. wirkte als Lehrer der schönen Wissenschaften u. der Rhetorik in Graz, Klagenfurt u. Pressburg (Bratislava), ehe er 1759 an die Wiener Theresianische Akademie – die der Adelsausbildung gewidmete vornehmste Schule der Monarchie – berufen wurde. Nach der Aufhebung des Jesuitenordens (1773) verblieb er zunächst als Lehrer u. Aufseher der Garellischen Bibliothek am Theresianum; 1784 wurde er zum Kustos an der Wiener Hofbibliothek, 1791 zum wirkl. Kaiserlich Königlichen Hofrat ernannt. D.’ literar. Tätigkeit stand zunächst in engem Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Lehrer der Rhetorik u. Poetik. Der jesuit. Tradition entsprechend, verfasste er mehrere lat. Schuldramen sowie das didakt. Hexameterepos Palatium Rhetoricae (1753. Abgedr. in: Carmina quaedam. S. 112–131). Obwohl das lat. Schrifttum in der zweiten Hälfte des 18.

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Jh. stark zurückging, blieb D. dieser Sprache treu: Noch 1794 veröffentlichte er die lat. Gedichtsammlung Carmina quaedam (Wien). Seine (unvollendet gebliebene) Selbstbiografie (Commentarii de vita sua. In: Literarischer Nachlaß. Wien 1801) verfasste er ebenfalls in lat. Sprache. Der deutschsprachigen Literatur wandte D. sich bereits als Lehrer zu. Seine 1762 erschienene Sammlung kürzerer Gedichte aus den neuern Dichtern Deutschlandes für die Jugend (Wien. Neudr. Augsb. 1766 u. 1776), die älteste Schulanthologie dt. Dichtung überhaupt, propagierte entschieden die nord- u. mitteldt. Aufklärungsliteratur (Hagedorn, Gellert), von der D. Impulse für die künftige österr. Literatur erwartete. Diesen bewussten Anschluss an die Hochstilliteratur des protestant. Raums dokumentieren drei Bände von Schülerdichtungen (Jugendfrüchte des k. k. Theresianums. Wien 1772 u. 1774), die D. zus. mit Joseph Burkard herausgab. Aber auch mit seiner eigenen literar. Produktion wirkte D. beispielgebend. 1760 ließ er im Wiener Verlag Kurzböck die Poetischen Bilder der meisten kriegerischen Vorgänge in Europa, seit dem Jahr 1756 erscheinen. Diese Sammlung, ein österr. Gegenstück zur preußisch-patriot. Kriegslyrik eines Gleim u. Ramler, erregte Aufsehen: Erstmals gelang es hier einem österr. Autor, eine den modernen ästhet. Normen des dt. Nordens entsprechende Literatur zu produzieren. (D. selbst verwies in seiner Vorrede auf Gleim u. Gellert als Vorbilder in metrischer Hinsicht.) Entsprechend war auch die Anerkennung im deutschsprachigen Ausland. So stand etwa der Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai dem Wiener Exjesuiten trotz aller konfessionellen Gegensätze zeitlebens freundschaftlich gegenüber – eine Freundschaft, die wohl zu einem guten Teil darauf beruhte, dass sich D. (wie etwa auch Johann Baptist Alxinger oder Joseph von Retzer) ohne Vorbehalte den ästhet. Normen der dt. Aufklärung unterwarf. 1768/69 übersetzte D. als Erster den in ganz Europa äußerst erfolgreichen Ossian (Wien) vollständig ins Deutsche. Seinem normativen Literaturverständnis entsprechend, übertrug D. die Prosa des Originals in den dem erhabenen Epos vorbehaltenen Vers

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– den Hexameter. Diese Entscheidung wurde u. a. von Herder kritisiert; mit dem Ossian jedoch war D.’ Ruf als führender österr. Literat gefestigt. Freundschaftliche Kontakte mit Klopstock u. Ramler folgten (vgl. den Briefwechsel in: Literarischer Nachlaß. 2. Abt., Wien 1802). 1772 veröffentlichte D. eine Gedichtsammlung u. d. T. Die Lieder Sineds des Barden (Wien. 21782). Mit diesen reimlosen Gedichten, die im erhabenen Stil vaterländ. Themen besangen, folgte D. der durch Klopstock ausgelösten Begeisterung für die dt. Vergangenheit; Sined (ein von Karl Friedrich Kretschmann gebildetes Anagramm für D.) wurde im gesamten dt. Sprachraum als einer der wichtigsten Vertreter der Bardenlyrik bekannt. Bei aller Wertschätzung D.’ für Klopstock unterscheidet sich sein dichterisches Selbstverständnis jedoch grundlegend von dem seines Vorbilds. Zeitlebens blieb er dem Ordnungsdenken der kath. Kirche verpflichtet. Davon zeugen auch die von ihm verfassten, noch heute gesungenen Kirchenlieder wie Thauet, Himmel! den Gerechten oder Laß mich deine Leiden singen, die er 1774 anonym erscheinen ließ (Geistliche Lieder zum Gebrauch der hohen Metropolitankirche bey St. Stephan in Wien und des ganzen Wienerischen Erzbisthums). Von modernem bürgerl. Selbstbewusstsein oder auch dichterischem Sendungsbewusstsein im Sinne Klopstocks ist D. weit entfernt. Trotzdem wirkte D. mit seiner Bardendichtung schulbildend. Seine Epigonen (v. a. Lorenz Leopold Haschka) beherrschten die österr. Lyrik bis in die späten 1770er Jahre; dann erst kam im Gefolge des »Wiener Musenalmanachs« durch Alois Blumauer u. Josef

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Franz Ratschky auch die scherzhafte Lyrik im Stil der dt. Anakreontiker zur Geltung. Die Versöhnung dieser beiden literar. Lager, die einander zunächst polemisch gegenüberstanden, war nicht zuletzt D.’ Werk. Seit den späten 1770er Jahren widmete sich D. in erster Linie der bibliogr. Wissenschaft (Einleitung in die Bücherkunde. Wien 1777/78. Wiens Buchdruckergeschichte von Anbeginn bis 1560. Wien 1782). Als er 1800 hochgeachtet starb, galt er jedoch den Schriftstellern der josephin. Generation nach wie vor als Vaterfigur; seinen Literarischen Nachlaß (Wien 1801/ 02) besorgte sein Schüler Joseph von Retzer. Weitere Werke: Ossian u. Sineds Lieder. 5 Bde., Wien 1784. – Nachlese zu Sineds Liedern. Hg. Joseph v. Retzer. Wien 1784. – Ossian u. Sineds Lieder. 6 Bde., Wien 1791/92. Literatur: Paul v. Hofmann-Wellenhof: M. D. Ein Beitr. zur dt.-österr. Literaturgesch. des 18. Jh. Innsbr. 1881. – Wolfgang Martens: Drei Slg.en v. Schülerdichtungen aus dem Wiener Theresianum. In: Die österr. Lit. Ihr Profil an der Wende vom 18. zum 19. Jh. (1750–1830). Hg. Herbert Zeman. Graz 1979, S. 1–22. – Fritz Keller: Rhetorik in der Ordensschule. ›Palatium Rhetoricae‹ v. M. D. Ebd., S. 55–83. – Gisela Herbeck: Studien zur österr. Empfindsamkeit des 18. Jh. Literar. u. soziale Aspekte. Diss. Wien 1980. – Ruprecht Wimmer: M. D. u. seine Ossian-Übers. In: Germanist. Tangenten. Dt.-brit. Berührungen in Sprache, Lit., Theatererziehung u. Kunst. Regensb. 1989, S. 35–47. – Wolf G. Schmidt: ›Homer des Nordens‹ u. ›Mutter der Romantik‹. James Macphersons ›Ossian‹ u. seine Rezeption in der deutschsprachigen Lit. 4 Bde., Bln./New York 2003 (Diss. Univ. Saarbrücken). – Erhard Bahn: Ossian-Rezeption v. M. D. bis Goethe. Ein Beitr. zur Gesch. des Primitivismus in Dtschld. In: Goethe Yearbook 12 (2004), S. 1–15. Wynfrid Kriegleder